Die Erste Neue Wissenschaft (1725) 9783787342327, 9783787342310

Die erste Ausgabe von Vicos »Scienza nuova« von 1725 wird hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorgelegt. Sie is

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Die Erste Neue Wissenschaft (1725)
 9783787342327, 9783787342310

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Philosophische Bibliothek

Giambattista Vico Die Erste Neue Wissenschaft (1725)

GI A M BAT T IS TA V ICO

Die Erste Neue Wissenschaft (1725)

Übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Jürgen Trabant

FELI X MEINER V ER LAG H A MBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BA ND 759

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bi­­­blio­g ra­phi­sche Daten sind im Internet ­abruf bar über ‹https://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-4231-0 ISBN eBook 978-3-7873-4232-7

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2022. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikro­ver­ fil­mun­gen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Gedruckt auf alte­rungsbe­ständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100  % chlorfrei gebleichtem Zell­stoff. Printed in Germany.

INH A LT

Einleitung von Jürgen Trabant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii 1.  SN25 – SN44 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii

2.  SN25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xii

3. Neuheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xx 4. Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxv

5.  Zur Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxvii

6.  Bemerkungen zu einzelnen wichtigen Wörtern . . . . . xxxi 7. Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxxviii

8. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xl Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xlvi GIAMBATTISTA VICO

Prinzipien einer Neuen Wissenschaft von der Natur der Nationen Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Erstes K apitel: Notwendigkeit des Ziels und ­ Schwierigkeiten der Mittel, eine Neue Wissenschaft zu finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Idee des Werks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Zweites K apitel: Prinzipien dieser Wissenschaft nach den Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Drittes K apitel: Prinzipien dieser Wissenschaft vonseiten der Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Viertes K apitel: Grund der Beweise, auf denen diese Wissenschaft beruht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

vi Inhalt

Letztes K apitel: Entwicklung der Gegenstände, in der sich mit einem Mal die Philosophie der Menschheit und die Universalgeschichte der Nationen bilden . . . . . . . . 241 Zusammenfassung

Volkstümliche Überlieferungen . . . . . . . . . . . . . . . 281 Allgemeine Entdeckungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

EINLEIT U NG

1. SN25 – SN44

 G

iambattista Vicos erste Neue Wissenschaft, die Scienza nuova von 1725 (SN25)1, ist bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Das ist merkwürdig, weil es sich um eines der Hauptwerke des wichtigsten italienischen Denkers handelt, des emblematischen Philosophen Italiens. Die Scienza nuova von 1744 (SN44) dagegen, das opus maximum Vicos, ist schon dreimal ins Deutsche übersetzt worden, zuletzt von Vittorio Hösle und Christoph ­Jermann für die Philosophische Bibliothek.2 SN44 ist das Werk, mit dem Vico in der Welt bekannt geworden ist. Es wird oft als dritte Auflage der Scienza nuova bezeichnet. Das erweckt den Eindruck, als sei die Neue Wissenschaft von 1725 nur eine zurückgelassene und überwundene erste Version dieses monumentalen Werks. Indem Vico dem Werk 1744 (fast) denselben Titel gibt wie dem Werk von 1725 und dieses selbst auf dem Titelblatt als »dritte Auflage« (»terza impressione«) bezeichnet, leistet er dieser Auffassung durchaus Vorschub. Sie ist auch insofern richtig, als Vico erst 1744 ans Ende der Entfaltung einer »neuen Wissenschaft« gekommen ist, an der er seit Jahrzehnten arbeitet. Schon in seinem lateinischen Werk De universi juris uno principio et fine uno 1720/1721 hat er eine solche neue Wissenschaft »ver  Paolo Cristofolini, La Scienza nuova di Vico. Introduzione alla lettura, Rom 1995, S. 11, hat vorgeschlagen, die verschiedenen Versionen der Scienza nuova als SN25, SN30 und SN44 abzukürzen, eine Konvention, die sich in der Vico-Literatur international durchgesetzt hat. 2 Giambattista Vico, Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übersetzt von Wilhelm Ernst Weber, Leipzig 1822. Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, übersetzt von Erich Auerbach, München 1924. Giambattista Vico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker, übersetzt von Vittorio Hösle und Christoph Jermann, Hamburg 1990. 1

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Jürgen Trabant

sucht«. Mit der Kapitelüberschrift »nova scientia tentatur«, »eine neue Wissenschaft wird versucht«, verkündet er in einem Teil desselben, in De constantia philologiae 1721, seine Absicht.3 Aber 1725 hat sich dann dieser »Versuch« in einem neuen, italienisch geschriebenen Buch niedergeschlagen mit dem Titel Principj di una scienza nuova intorno alla natura delle nazioni, der nichts Tenta­tives mehr hat. Dieses Buch ist, so stellt Vico es in seiner im gleichen Jahr geschriebenen Vita dar, der Höhepunkt seines gelehrten Lebens, das Ziel, auf das alle seine wissenschaftlichen Bemühungen bis dahin hinauslaufen. »Per la gloria della patria e in conseguenza dell’Italia«, »für den Ruhm der Vaterstadt und folglich Italiens« sei dieser Endpunkt erreicht worden, preist Vico sich selbst.4 Und auch wenn Vico nach 1725 an der neuen Wissenschaft weiterarbeitet, so wird er doch immer an der Neuen Wissenschaft von 1725 festhalten. Die Scienza nuova von 1725 hatte kein leichtes Schicksal, weder vor ihrer Entstehung noch danach. Sie verdankt sich einer leidenschaftlichen Gebärde des Auf begehrens. Vico reagiert mit diesem Buch nämlich auf eine schmerzliche Missachtung seiner wissenschaftlichen Leistung. Er schreibt die Scienza nuova, um sich aus einer tiefen Demütigung in seiner wissenschaft­ lichen Karriere herauszuarbeiten. Er hatte sich 1723 mit dem erwähnten lateinischen rechtsphilosophischen Werk De universi juris uno principio et fine uno um einen juristischen Lehrstuhl an seiner Universität beworben. Durch Ränke und Intrigen bleibt Vico aber die Berufung auf die Professur versagt. Sie hätte ihm nicht nur die verdiente akademische Anerkennung gebracht, sie hätte ihn auch aus ärmlichen Verhältnissen in eine seinem  Vgl. die Darstellung von De uno in Peter König, Giambattista Vico, Mün­ chen 2005, der den Denkweg Vicos von den frühen Werken bis zur Scienza nuova klar und präzise nachzeichnet. Vgl. auch Eugenio Garin, Storia della filosofia italiana, Bd. 2, Turin 1978, S. 920 – 954, Stephan Otto, Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie, Stuttgart/Berlin/Köln 1989 und Ferdinand Fellmann, Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die G ­ eschichte, Freiburg/München 1976. 4  Giambattista Vico, Vita scritta da se medesimo, in: Opere, hrsg. von Andrea Battistini, Bd. I, Mailand 1990, S. 3 – 85, hier S. 53. 3

Einleitung ix

Rang entsprechende bessere ökonomische Lebenssituation befördert. Er wird nun aber sein ganzes Leben lang ein schlecht bezahlter Rhetorik-Professor an der Universität Neapel bleiben. Vico ist zutiefst gekränkt. Aber, wie er in seiner Autobiographie schreibt, er gibt nicht auf, sondern der tiefe Fall stachelt ihn zu wissenschaftlicher Tätigkeit geradezu an. Jetzt erst recht. Und er schreibt, sich auf bäumend gegen ein ungerechtes Schicksal, sein großes Buch. Diesmal, zum ersten Mal, schreibt er auf Italienisch, in der »veneranda lingua d’Italia«, der verehrungswürdigen Sprache Italiens: Principj di una scienza nuova intorno alla natura delle nazioni, Neapel 1725. Und er widmet das Werk den Akademien Europas, »alle ­Accademie dell’Europa«, das heißt insbesondere den Gelehrten des europäischen Nordens. In der Widmung dankt Vico enthusi­ astisch der italienischen Sprache, die ihm, geradezu als MitDenkende, die Schaffung des Werks ermöglicht hat. Die Wahl der Sprache stellt sich dann aber als das große Hindernis für die europäische Rezeption des Werks heraus. In der Gelehrtenwelt Nordeuropas kann am Anfang des 18. Jahrhunderts kaum jemand Italienisch, so wenig, dass der entscheidende nordeuropäische Rezensent, der Herausgeber der Acta eruditorum in Leipzig, das Werk nicht lesen kann und ohne jegliche Kenntnis des Werks 1727 einen bösartigen kleinen Verriss von hundert Wörtern schreibt, der das Buch in der nordeuropäischen lateinischen Welt vernichtet. Gerade diejenigen, denen das Buch gewidmet war, die Gelehrten (Nord-)Europas, weisen es höhnisch zurück. Nach der Niederlage im Wettbewerb um den juristischen Lehrstuhl ist dies die zweite, schwer zu ertragende Demütigung im Gelehrtenleben Vicos. Aber auch jetzt gibt Vico nicht auf. Vico schreibt zunächst eine lange, leidenschaftliche Erwiderung auf den bösen kleinen Text aus Leipzig, den er Wort für Wort widerlegt, die Vici Vindiciae.5 Hier verteidigt ein Vater seine Schöpfung. Dies Werk ist »wirklich mein Kind«, »meus genuinus par5

  Giambattista Vico, Vici Vindiciae, in: Giambattista Vico, Varia, hrsg. von Gian Galeazzo Visconti, Neapel 1996, S. 25 – 109.

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Jürgen Trabant

tus«.6 Stärker kann ein Autor die Bindung an ein Buch nicht ausdrücken. Aber dann schreibt er, nach der schmerzhaften Erniedrigung aus Deutschland, das Buch noch einmal: Das 1730 erscheinende Werk trägt den Titel Cinque libri di Giambattista Vico de’ principi di una scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni. Dies ist keine zweite Auflage des Werks von 1725, sondern ein völlig neues Buch. Die »fünf Bücher« des Titels verweisen schon auf die gänzlich andere kompositorische Struktur des Buchs. Und dieses wird dann 1744 mit einigen Ergänzungen und Korrekturen noch einmal aufgelegt. Die SN44 kann man tatsächlich als eine zweite Auflage der SN30 ansehen. In der Version von 1744 ist die Scienza nuova dann in die Philosophiegeschichte eingegangen. Sie ist das finale Hauptwerk Vicos, das seitdem gelesen wird und seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts in andere Sprachen übersetzt wird, zuerst ins Deutsche und dann – und das ist der internationale Durchbruch – ins Französische (Vico 1827) und im Laufe der Zeit in alle großen Kultursprachen. Das Buch von 1725, »meus genuinus partus«, wird danach fast nur noch von Spezialisten gelesen. Es wird zumeist als »Etappe« zur »eigentlichen« Scienza nuova betrachtet. Daher ist es wohl auch zunächst nicht übersetzt worden. Erst 1941 wird es zum ersten Mal in eine fremde Sprache übertragen, ins Spanische,7 dann 1993 ins Katalanische 8 und 2002 von Leon Pompa ins Englische.9 Aber die SN25 ist eben auch ein Werk eigenen Rechts. Vico selbst hat sie nicht verworfen, sondern als ein Buch betrachtet, das neben der SN44 Bestand hat: Einerseits ruft er aus  V ici Vindiciae, S. 94.   Giambattista Vico, Principios de una Ciencia Nueva en Torno a la Naturaleza Común de las Naciones, prólogo y traducción de José Carner, Mexiko 1941. Dies ist trotz des Titels, der auf die SN44 verweist, eine Übersetzung der SN25. 8  Giambattista Vico, Principis d’una ciència nova sobre la natura de les nacions, traducció i edició a cura de Rossend Arqués i Corominas, Barcelona 1993. 9  Giambattista Vico, The First New Science, edited and translated by Leon Pompa, Cambridge 2002. 6 7

Einleitung xi

drücklich drei Kapitel der SN25 in die SN44 hinein. Es sind die Kapitel 3, XXVIII–XXXI, 3, XXXVI und 3, LXI dieses Buchs. Andererseits empfiehlt er im Nachtrag zu seiner Vita, die SN25 zusammen mit der SN44 zu drucken, wenn dies möglich ist.10 In Italien ist dies in Werkausgaben schon mehrfach geschehen, zum Beispiel in der zweibändigen kommentierten Ausgabe der Opere von Battistini11 und zuletzt in einer neuen Ausgabe aller drei Fassungen der Scienza nuova.12 Indem nun auch der ­Meiner Verlag dieses Werk in seine Philosophische Bibliothek aufnimmt, nachdem er 1990 die SN44 in der ersten vollständigen deutschen Übersetzung publiziert hat,13 schließt er sich Vicos Selbsteinschätzung an. Allein schon der Umfang unterscheidet die SN44 von der SN25. SN44 ist um zwei Drittel umfangreicher als SN25. Und ein Blick auf die Inhaltsverzeichnisse zeigt, dass die beiden Bücher völlig anders aufgebaut sind. Die fünf Kapitel der SN25 stimmen in keiner Hinsicht mit den fünf Büchern der SN30/44 überein. Beiden Werken ist natürlich die emphatische Anrufung einer »neuen Wissenschaft« gemeinsam. Aber wie diese entfaltet wird, ist in beiden Werken durchaus verschieden. Vico meint mit der »neuen« Wissenschaft eine, die Philologie (oder Geschichte) und Philosophie vereint. »Philologie« ist bei Vico nicht nur gelehrte Beschäftigung mit Texten, sondern das Ensemble der gelehrten Bemühungen um das von den Menschen Gemachte, heute würden wir sagen, um die Kultur, Vico nennt das in SN44 den mondo civile (im Gegensatz zur Natur, dem mondo naturale).14 Die Philologie in diesem Sinne ist in der europäischen Tradition Gelehrsamkeit, sie ist doctrina, sie sammelt, studiert und lehrt das   V ita, S. 78.   Giambattista Vico, Opere, 2 Bde., hrsg. von Andrea Battistini, Mailand 1990. 12  Giambattista Vico, La Scienza nuova. Le tre edizioni del 1725, 1730 e 1744, hrsg. von Manuela Sanna und Vincenzo Vitiello, Mailand 2012. 13  Die Übersetzungen von 1822 und 1924 sind – zum Teil erheblich – gekürzte Fassungen des Werks. 14 In SN25 kommt der Ausdruck zwar viermal vor (353, 422, 490, 526), er ist aber noch nicht terminologisch wie in SN44. 10 11

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Besondere, sie ist aber keine Wissenschaft, scientia. Denn scientia handelt vom Universellen und Ewigen: »Scientia debet esse de universalibus et aeternis« (SN44, 163)15, wiederholt Vico seinen Aristoteles. Das Neue an Vicos Wissenschaft ist also, dass sie Universelles in jenem Bereich der Welt sucht, der bisher als nicht wissenschaftsfähig galt: im mondo civile. Anders ausgedrückt, es geht in der neuen Wissenschaft darum, dass die Philosophie die Philologie in die Form von Wissenschaft bringt: »la filosofia … la [die Philologie] riduce in forma di scienza« (SN44, 8). Vico spielt diese Vereinigung von Philologie und Philosophie in der neuen Wissenschaft durch, indem er aus dem riesigen philologischen Korpus der alten mediterranen Welt – aus griechischer Mythologie, Homer, römischem Recht, römischer Geschichte, Livius und lateinischer Sprache  – das Erwachen der Menschheit aus der Tierheit in einer Geschichte der frühen Menschheit konstruiert und daraus »philosophische«, das heißt universelle Konsequenzen zieht. Er tut dies für die beiden aristotelischen Grunddimensionen des Menschseins, für das gesellschaftliche Zusammensein und das Denken, für polis und logos. Aber wie das geschieht, ist in beiden Büchern durchaus verschieden. 2. SN25 Die folgende Skizze des Inhalts versucht, die strukturelle und inhaltliche Besonderheit der SN25 zu verdeutlichen. Das erste Kapitel skizziert Motivation und Zielsetzung des Buchs, die ja schon im Titel und in der Widmung des Werks deutlich ausgesprochen wird. Es geht um eine neue Wissenschaft von der Natur der Nationen, aus der das natürliche Recht hervorgeht. Vico benennt explizit die Autoren und Denkansätze, zu denen er eine Alternative entwickelt. In der Naturrechtsfrage sind das die Modernen Hobbes, Grotius, Pufendorf und Selden, 15

 Die Zahlenangaben geben die in der Vico-Literatur übliche Absatzzählung wieder. Sie wurde von Fausto Nicolini in seiner klassischen Ausgabe der Werke Vicos eingeführt.

Einleitung xiii

bei den Alten Platon und Aristoteles sowie die Epikureer und die Stoiker. Platon ist der einzige positiv dargestellte – wenn auch wegen seines Logozentrismus kritisierte – Philosoph. Vicos philosophischer Haupt-Gegner, Descartes, an dem sich Vico wie an keinem anderen abarbeitet, kommt allerdings in der Scienza nuova nicht explizit vor, er wird – wie auch in SN44 – einmal an einer nicht sehr wichtigen Stelle en passant erwähnt (98). Die Opposition zu Renato delle Carte, wie Vico den französischen Denker italianisiert, agiert Vico in seiner Vita aus, die als philosophische Autobiographie parallel zum Discours de la méthode angelegt ist und dort zu Vicos radikaler philosophischen Alternative führt: Nicht die Gewissheit des reinen Denkens des abstrakten Ich ist die Quelle der sicheren Erkenntnis, sondern die Gewissheit des Selber-Machens, die der Erkennende in der zivilen Welt erfährt. Dieser zentrale Gedanken seiner Philosophie wird in SN25 in einer subtil anticartesischen Passage angedeutet und liegt der im ersten Kapitel entwickelten Zielsetzung seiner neuen Wissenschaft zugrunde. Deren Aufgabe ist es, »certi principi dell’umanità delle nazioni«, »sichere Ursprünge der Humanität der Nationen« (11) zu erforschen. Dies kann nur durch eine Wissenschaft geschehen, »die gleichzeitig Geschichte und Philosophie der Menschheit ist« (23). Mit dieser Wendung der Wissenschaft auf »philologische« Gegenstände, auf die frühe Gesellschaft und das frühe Denken der Menschheit, erkennt Vico, dass in der Kultur sichere Kenntnis, scienza, gefunden werden kann. Denn Vico weiß, dass die von ihm untersuchte Welt »ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist«. Und diese Erkenntnis ist – wie Descartes’ Cogito – das »einzige Licht« in der Nacht eines »Ozeans von Zweifeln« (40). Die »certi principi«, die sicheren Ursprünge oder Prinzipien, findet Vico nun in der Rekonstruktion der Anfänge und der frühen Entwicklung der gesellschaftlichen Organisation (polis) einerseits und der sprachlich-kognitiven Fähigkeit der Menschheit (logos) andererseits. Die Schwierigkeit dieser Rekonstruktion besteht darin, dass der moderne Geist dieses frühe Denken »kaum verstehen kann und sich überhaupt nicht vorstellen kann«, »intendere appena si può, afatto immaginar non si può«

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(42). Die beiden Gebiete des »Philologischen«, Recht und Sprache, behandelt Vico in der SN25 in zwei getrennten Kapiteln. Auch wenn Vico später in einer Selbstkritik glaubt, dass dies ein Fehler seiner ersten Scienza nuova gewesen sei, weil diese beiden Aspekte des Menschlichen »per natura tra lor unite«, »natür­ licherweise miteinander verbunden«16 seien, und wenn er die beiden Aspekte in der SN44 synthetisch miteinander verbindet, ja vermischt, so ist gerade die getrennte Darstellung von polis und logos der grundlegende strukturelle Zug und ein entschiedener Vorteil der SN25. Kapitel zwei, per le idee, rekonstruiert das Entstehen und die frühe Entwicklung der politischen Organisation der Menschen. Die treibenden Kräfte dieser Anfänge sind die göttliche Vorsehung als »Architektin« (45) und der Wille des Menschen als »Macher« (fabbro) (47) der Welt. Der entscheidende Moment des Ursprungs der Polis ist die Erfindung der Religion durch die völlig wilden vereinzelten tierhaften Urmenschen. Die Begegnung mit der gewaltigen Natur als dem Göttlichen setzt die menschliche Gemeinschaft in Gang, die sich durch die Zähmung der Sexualität und durch Eheschließungen in Familien aus der tierischen Wildheit erhebt. Die absoluten Herren dieser Familien sind Väter, das heißt monarchische Herrscher, Priester und Wissende zugleich, deren »göttliche« Herrschaft auf den Auspizien, also auf der Deutung als göttlich vermeinter Naturphänomene, beruht. Die Väter gründen Städte (polis), in denen sie herumirrenden Menschen eine Heimstatt gewähren und damit eine scharfe Klassentrennung zwischen Patriziern und Plebejern etablieren. Diese »heroischen« Gemeinschaften sind aristokratische Republiken, deren Klassentrennung jahrhundertelange Kämpfe um Gleichberechtigung bei den Eheschließungen, der Priesterschaft und der Herrschaft in Gang setzt. Zeichen des politischen Wandels ist die Veränderung des Eigentums der Felder. Die verschie16

  V ita, S. 79.

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denen Formen der Bindung oder Fesselung (nexum)17 der Plebejer an die Felder markieren den politischen Fortschritt. Erst wenn diese Fessel aufgehoben ist, beginnt die »menschliche« Zeit, die auf Rechtsgleichheit basiert, welche dem geistigen Wesen des Menschen entspricht. Die der Natur des Menschen gemäßen politischen Formen sind die demokratische Republik oder die Monarchie. Die politische Entwicklung der Menschheit ist also ein Weg zu Freiheit und Gleichheit der Menschen. Das Korpus für die Einsichten in diese politische Entwicklung besteht für die göttliche Zeit aus den Homerischen Gedichten und für die heroische Zeit im Wesentlichen aus der altrömischen Geschichte und Rechtsgeschichte von Romulus bis zum Zwölftafelgesetz. Das menschliche Zeitalter setzt ein mit der Befreiung der Plebejer von den aristokratischen Fesseln. Den drei Zeitaltern entspricht die dreifache Unterscheidung von göttlichem, heroischem und menschlichem Recht. Die politischen »Ideen«, die in diesem Kapitel im Zentrum stehen – es geht ja um die von den Göttern gesetzten Rechte (iura a diis posita) – werden ergänzt durch Skizzen der Weltauffassungen dieser frühen Zeiten in Astronomie, Chronologie, Geographie, Wissenschaften und Philosophie, also davon, wie die frühen Völker den Himmel, die Erde, den Verlauf der Zeit und die Welt als ganze sahen. Das Kapitel drei heißt zwar per le lingue, »vonseiten der Sprachen«, es geht aber gar nicht primär um »Sprache« im engeren Sinn, sondern um menschliche Zeichen. Das Kapitel enthält also keine »Sprach-Geschichte«, sondern eine Zeichen-Geschichte der frühen Menschheit, und als solche eine Geschichte des menschlichen Denkens. Der logos, der hier in seiner Entstehung beschrieben wird, ist erst in der letzten, der menschlichen Etappe seiner Entwicklung Wort-Sprache. Seine erste Funktion ist die denkende Erfassung der Welt, die aus dem Körper und dessen geistiger Kraft, der Phantasie, hervorgeht und sich in »poeti17

 Zum Nexum vgl. Max Kaser / Rolf Knütel, Römisches Privatrecht. Ein ­Studienbuch. München 202014, S. 230, und Isabella Zambotto, Nexum. Struttura e funzione di un vincolo giuridico, Neapel 2021.

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schen Charakteren« manifestiert. Dieser logos ist Erfindung des Mythos, Erfindung der Götter. Die Göttermythen sind die ersten Gedanken der Menschheit. Dabei projiziert der Mensch ­z unächst seine anima in die Natur. Gegenstände werden mit Bedeutung geladen und als stumme Signifikanten kommunikativ eingesetzt, so wenn ein angegriffener König dem Angreifer­ Gegenstände schickt, die, als Zeichen genommen, eine Antwort auf dessen Angriff darstellen. Umgekehrt kann die Gebärde welthaltige Bedeutungen in den eigenen Körper einschreiben. Die »heroische Sprache« ist das Ensemble von Gegenständen, die semantisch aufgeladen sind, von Bildern dieser Gegenstände oder von abbildenden Gebärden. Wappen und Medaillen sind Bilder einfacher Botschaften, »heroische Impresen«. Das Visuelle überwiegt bei den frühen Zeichen, aber die Stimme ist singend von Anfang an beteiligt, auch wenn sich erst im menschlichen Zeitalter der Laut zur »konventionellen« Sprache entwickelt. Diese ist aber keinesfalls »arbiträr« im Sinne der modernen Sprachtheorie, sondern geht aus der Onomatopöie, aus dem Laut-Bild, hervor, ist und bleibt auch wesentlich ikonisch. Ikonizität ist aber nicht universelle Gleichheit, die Verschiedenheit der Sprachen ist als wesentlich mitgedacht, auf dem Hintergrund der Universalität der menschlichen Natur. Das Kapitel, das diese Gesamt-Intention der Scienza nuova vielleicht am schönsten illustriert, ist der letzte Abschnitt des dritten Kapitels, über »das allen Nationen gemeinsame Diktionär geistiger Wörter« (3, XLI). Vicos neue Wissenschaft will das Philologische mit dem Philosophischen vermählen. Er muss also die Universalität der historischen Gegenstände zeigen, die sich in bunter Verschiedenheit manifestieren. Bei den Verbal-Sprachen ist diese Verschiedenheit besonders evident. So haben die verschiedenen Sprachen verschiedene Wörter für ein und dieselbe Sache in der Welt, zum Beispiel für die »Väter«, die mythischen Begründer der gesellschaftlichen Welt. Wo ist angesichts der vielen verschiedenen Wörter für die Väter das Universelle, das allen Nationen Gemeinsame ? Vicos Lösung dieser Frage ­besteht darin, dass er die verschiedenen (wesentlich abbildenden) Wörter als verschiedene »Ansichten« der Welt betrachtet,

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die alle durch ihren besonderen Blick auf die Welt etwas zur Erkenntnis derselben beitragen. Alle besonderen Ansichten zusammengenommen sind dann das Universelle, die verschiedenen Wörter zusammen sind das »gemeinsame geistige Wort«. Universalität ist also nicht ein von Besonderheit gereinigtes Ab­ straktes, sondern das Ensemble der verschiedenen »Weltansichten«, wie Wilhelm von Humboldt die jeweiligen semantischen Blicke nennt. Das fünfte Kapitel (das im Grunde das Kapitel über das gemeinsame geistige Wörterbuch fortführt) zeigt, dass die Universalität des Herkules im Ensemble der verschiedenen Herkulesse aus verschiedenen Nationen besteht. Wegen seiner fundamentalen philosophischen Bedeutung ist das Kapitel über das gemeinsame geistige Wörterbuch auch eines der drei Kapitel der SN25, die Vico explizit in die SN30/44 übernimmt. Dass die Menschen »Poeten« sind, dass sie also mit der Phantasie ihr Denken in Bildern schaffen, diese Einsicht stellt Vico zu Recht als seine hauptsächliche Entdeckung in der SN25 dar. Der erste Gedanke ist Gott, Iovis (Jupiter). Iovis ist auch das erste Wort, es imitiert den Laut des Donners. Die Götter sind Schöpfungen der Menschen, »poetische Charaktere«. Mit dieser Einsicht sind tatsächlich neue sprachphilosophische Einsichten verbunden: Sprache, logos, ist nicht »rational«, sondern phantastisch; die ersten logoi sind in doppelter Hinsicht Bilder, sie sind primär visuell (aber nicht nur) und sie sind abbildlich, ikonisch; die logoi sind nicht »reines Denken«, sie sind immer körperlich, sei es, dass sie den Gedanken in den menschlichen Körper einschreiben (Gebärden), sei es, dass die Körper der Welt mit Gedanken »animiert« werden. An einer fast versteckten Stelle (97) erinnert Vico an die Etymologie seines zentralen Begriffes des »Charakters«: Er verweist darauf, dass die ersten Zeichen »Einritzungen« gewesen sind, χαράσσειν im Griechischen heißt genau dies: »einritzen«. Das dritte Kapitel ist für Vitiello »il nucleo portante dell’intera Scienza nuova ed il più originale«,18 also der tragende Kern 18

 Vincenzo Vitiello, Introduzione, in: Vico, La Scienza nuova, 2012, S. 7 – 36, hier S. 24.

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der ganzen neuen Wissenschaft und das originellste Kapitel des Buchs. Dieses Urteil nimmt Vicos Selbsteinschätzung ernst, der die Entdeckung der poetischen Charaktere als »erstes Prinzip« der neuen Wissenschaft betrachtet, als Ergebnis einer jahrelangen Bemühung um das Verständnis des (frühen) menschlichen Geistes (261). Sie ist die Einsicht in die semiotische, von der »Sprache« abhängige Verfasstheit des menschlichen Denkens: »so haben wir entdeckt, dass die Poetischen Charaktere die Elemente der Sprachen gewesen sind, mit denen die ersten heid­ nischen Nationen gesprochen haben« (261). Anders gesagt: Hier zeigt sich Vicos Philosophie als erste sprachliche oder besser: semiotische Wende der Philosophie. Nach dem Durchgang durch die beiden Dimensionen der zivi­ len Welt fasst Vico im kurzen vierten Kapitel zwei Praktiken der neuen Wissenschaft ins Auge: eine neue kritische Kunst und eine Diagnostik. Die erste erlaubt die philosophisch-rationale Lektüre der dunklen philologischen Quellen, wie sie Vico hier gerade vorlegt, die zweite eine kritische Einschätzung der gesellschaftlich-politischen Situation für das eigene Handeln, das dann aber im Werk keine Rolle mehr spielt. Das fünfte Kapitel zieht schließlich die wissenschaftlichen Konsequenzen aus dem bisher Dargelegten, das heißt, es stellt die Entwicklung der politischen »Ideen« und der »Sprachen« von der dunklen göttlichen Zeit über die mythische heroische Zeit bis zur sicheren menschlichen Zeit als Universalgeschichte und Wissenschaft dar, also als universelles und ewiges, als sich überall gleich vollziehendes Menschheitsgeschehen. Vico weist die »Gleichförmigkeit« des Laufs der Geschichte in den Nationen nach und damit die Wissenschaftlichkeit der neuen Wissenschaft. Das zeitliche Raster der Universalgeschichte ist die in den vorangegangenen Kapiteln eingeführte Dreiheit von göttlicher, heroischer und menschlicher Zeit, die auch schon die rechtliche und die sprachliche Entwicklung gliederte. Nach einer Ergänzung zur biblischen Anfangsgeschichte (die von Vico immer von seiner Rekonstruktion der heidnischen Vorwelt aus-

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genommen wird) werden die antiken Götter in einer Chrono­ logie der Entstehung der menschlichen Institutionen vorgestellt. Die Götter, angefangen von Jupiter, sind die ersten Gedanken der Menschheit und repräsentieren als Zeichen und Mythen die fundamentalen Elemente der Polis: Die zwölf olympischen Götter erscheinen als »poetische Charaktere«, also als Symbole der menschlichen Institutionen: Religion und Recht, Ehe, Begräbnisse, Feuer und Waffen, Saaten, Kriege, Zeremonien, Schönheit, gesellschaftliche Klassen, Handel, Seefahrt. Jupiter ist der erste Gedanke und steht für Religion und Recht (Ious, Iovis = Ius), Juno für die Ehe, Neptun als letzter der Götter für die Seefahrt, der letzten menschlichen Erfindung. »Wissenschaft« wird diese Sequenz einer Göttergeschichte, sofern Vico ihre »Gleichförmigkeit« bei allen Völkern feststellt. Für das zweite Zeit­a lter werden die Helden-Mythen als gleichförmige »Charaktere« heroischer Dinge skizziert: Sie sind »heroische Impresen« für Völkerwanderungen, Raubzüge, Kriege, Fluchtbewegungen, Klassenkämpfe. Vico deutet vor allem den in allen Nationen auftretenden Herkules-Mythos als Erzählung dieser universellen heroischen Dinge. Die nur kurz behandelte menschliche Zeit ist schließlich die Zeit des römischen Rechts, das sich in der gesamten Menschheit verbreitet. Vico beginnt seine Neue Wissenschaft mit zwei Sätzen über die beiden bewegenden Kräfte der Menschheitsgeschichte, nämlich »dass die Göttliche Vorsehung die Architektin der Welt der Nationen ist« (45) und dass »der Macher der Welt der Nationen, der jener göttlichen Architektin gehorcht, der menschliche Wille« ist (47). Beim Rückblick auf das Gebäude, das die Architektin und der Macher (fabbro) gebaut haben, auf die gesamte iconomia, schreibt Vico gegen Polybios und Bayle: »Denn ohne einen vorhersehenden Gott wäre der Zustand der Welt nichts als Irrtum, Bestialität, Hässlichkeit, Gewalt, Wildheit, Fäulnis und Blut. Und vielleicht – und ohne vielleicht – gäbe es dann heute im großen Wald der furchtbaren und stummen Welt auch kein Menschengeschlecht« (476).

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Nach diesem Schluss werden die »volkstümlichen Traditionen«, also das, was man bisher über die Gegenstände der frühen Welt gesagt hat, den Vico’schen wissenschaftlichen Entdeckungen in Sentenzen gegenübergestellt, die dem Leser die Schöpfungen der Vorsehung und des Menschen noch einmal ins Gedächtnis rufen. Das Werk endet dann definitiv mit dem Terminus, der für die neu gefasste Scienza nuova der zentrale sein wird: mit dem Ausdruck universo civile (526), der als mondo civile in der letzten Fassung der neuen Wissenschaft terminologisch wird. 3. Neuheit Die neue Wissenschaft wendet die Philosophie auf die politischgesellschaftliche Welt oder die Kultur, den mondo civile, sie reduziert die Philologie auf die Form der Wissenschaft und sie weiß, dass menschliches Denken immer durch Zeichen vermittelt ist, deren »Prinzip«, das heißt Anfang und Wesenszug, poetische Charaktere sind. Diese Neuheiten der neuen Wissenschaft sollen noch einmal näher verdeutlicht werden. Vico hatte schon 1721, im zweiten Teil seines der Neuen Wissenschaft vorausgehenden Werks De uno, das erste Kapitel überschrieben mit »nova scientia tentatur«, eine neue Wissenschaft wird versucht. Und es ist dort auch schon klar, dass es sich bei dieser neuen Wissenschaft um die Verbindung von Philologie und Philosophie handeln soll. Aber Vico kritisiert sich selbst in seiner Vita dafür, dass er in De uno noch selbst nicht richtig verstanden habe, wie er das meinte. Erst in der SN25 habe er sich selbst verstanden: »In diesem Werk findet er endlich völlig entfaltet das Prinzip, das er in seinen vorangegangenen Werken noch konfus und nicht in aller Deutlichkeit verstanden hatte«.19 Er entdeckt diese Neue Wissenschaft »aufgrund einer neuen kritischen Kunst, das Wahre in den Autoren der Nationen selbst in den volkstümlichen Überlieferungen der Nationen zu finden, 19

  V ita, S. 54.

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die diese gegründet haben«.20 Die neue kritische Kunst besteht in einer Umkehrung des Blicks auf Dokumente der Vorzeit: Am Anfang stehen nicht die rationalen Ideen, sondern die wilden, völlig unklaren und dunklen Geschichten und Sitten der Völker der alten Zeit, ein wildes Denken, das er sapienza volgare, also »volkstümliche Weisheit«, nennt. Und aus dieser heraus entwickeln sich dann das rationale Denken der späteren Zeit und die Philosophie, die bei ihm sapienza riposta heißen, »verborgene« Weisheit. Die verborgene philosophische Weisheit kommt also nach der sapienza volgare, sie ist eine Folge der Volksweisheit. Und genau dieser widmet sich die neue Wissenschaft. Das schwierige und gewagte Sich-Einlassen auf den Geist der frühen Menschheit, auf das Wilde und Phantastische, ist die neue kritische Kunst. Und das ist wirklich neu am Anfang des 18. Jahrhunderts. Das heißt aber nicht, dass diese neue kritische Kunst nun wieder ganz in der Geschichte, der Darlegung der Sitten und Gebräuche der Vorzeit aufginge, also gleichsam »Philologie« bliebe. Sie ist im Gegenteil eben darin Bedingung von »Wissenschaft«, als sie in den verschiedenen historischen Formen das Universelle findet, wie ich es oben am Beispiel des Gemeinsamen Geistigen Wörterbuchs zu exemplifizieren versuchte. Die neue Wissenschaft ist davon überzeugt, dass die menschliche Geschichte – oder die menschlichen Geschichten – den universellen und ewigen Gesetzen der Vorsehung folgt, dass sie also Wissenschaft sein kann, Wissenschaft bezogen auf die frühe Welt der heidnischen Nationen. Nach den beiden Geschichten des Rechts und der Zeichen läuft die SN25 im fünften Kapitel auf eine universale Geschichte des Politischen und eine universale Geschichte des Sprachlichen hinaus. Mit dem Entdecken des Universalen wird das durch die neue kritische Kunst Gefundene »Wissenschaft«, denn »scientia debet esse de universalibus et aeternis« (SN44, 163). Es gibt also eine radikal wissenschaftliche Wissenschaft von dem, was Vico in seinem Buch »die Welt der heidnischen Nationen« nennt. 20

  V ita, S. 55.

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Indem er im zweiten Kapitel die politische Entwicklung der frühen Menschheit – von der Welt der Götter und Heroen über die frühe römische Geschichte bis zum Ende der Republik  – verfolgt und indem er im dritten Kapitel die Geschichte des menschlichen Denkens und Sprechens in derselben Zeitspanne rekonstruiert, macht Vico seine fundamentale philosophische Entdeckung, seine discoverta, wie er sie 1730/44 nennt (SN44, 34): Das Denken der Menschen entsteht in poetischen Charakteren. Modern gesagt, menschliches Denken ist ursprünglich ein ­»poetisches«, also phantastisches Denken (und bleibt es in gewisser Hinsicht auch), das sich immer in materiellen Zeichen (caratteri) verkörpert (261).21 Diese ziemlich revolutionäre philosophische Einsicht ist schon 1725 in aller Klarheit vorhanden. Sie ist der erste linguistic turn der abendländischen Philosophie oder besser: ihr »sematologischer« turn, da es sich bei Vicos »Sprachen« nicht so sehr um Verbalsprache handelt, sondern viel mehr um Zeichen (semata) von verschiedener Materialität und Struktur (Objekte, Bilder, Gebärden, mythische Figuren, Gesang).22 Das Denken des Menschen ist fundamental »poetisch«, das heißt nicht der reine Geist, sondern die Phantasie ist die entscheidende geistige Kraft des Menschen, und dieses Denken realisiert sich in Zeichen und Wörtern. Das ist eine ganz außerordentliche philosophische Novität zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Das Denken Vicos ist aber 1725 noch nicht an seinem Ende angelangt. Die SN30/44 führt das neue Denken weiter. In einem Zusatz zu seiner Autobiographie aus dem Jahr 1731, also nach dem Erscheinen der (quasi) endgültigen Fassung der neuen Wissenschaft 1730, stellt Vico in einer dramatischen Entstehungsgeschichte dieses neuen Buches dar, dass er sich nach vielem Hin und Her zu einem »anderen Vorgehen«, einer »altra condotta«,  Diese Neuheit gegenüber den Vorgängern stellt Garin in philosophiehistorischer Perspektive eindrucksvoll dar, siehe Garin, Storia, 2, S. 944 ff. 22  Meine Vico-Deutung betrifft vor allem diesen zeichenphilosophischen Aspekt der Vico’schen Philosophie, vgl. Jürgen Trabant, Neue Wissenschaft von alten Zeichen. Vicos Sematologie, Frankfurt am Main 1994 und Giambattista Vico – Poetische Charaktere, Berlin 2019. 21

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entschieden habe.23 Dieses neue Vorgehen bedingt nicht nur einen völlig anderen Aufbau des Buches, mit neuen Kapiteln, die jetzt »Bücher« heißen, mit dem berühmten Frontispiz, mit der herrlichen Erklärung dieses Frontispiz, mit einer ausdrücklichen Chronologie der Welt, mit Abschnitten über Grundsätze, Elemente und Prinzipien, mit Kapiteln über Homer, über den Lauf der Welt (corso) und über den erneuten Lauf der Welt (ricorso). Die »altra condotta« ist vor allem deswegen nötig geworden, weil Vico nun deutlich die philosophischen Konsequenzen seiner Vermählung von Philologie und Philosophie zieht: Vico sieht jetzt, dass seine Philosophie eine radikale Wende der Philosophie überhaupt bedeutet. Die Philosophie bezieht sich seit der Antike auf die Natur, sie ist wesentlich Meta-Physik. Vico wendet sie nun insgesamt weg von der Natur auf die »zivile« Welt, also auf Kultur in einem weiten Sinne, auf das vom Menschen Gemachte. Dies wird von der ersten Seite der SN44 an, in der berühmtem dipintura, der bildlichen Darstellung seiner Philosophie, deutlich gemacht: Auf diesem Bild lenkt die Metaphysik (die auf der Erdkugel, also auf der Natur, der physis, steht) ihren Blick auf die Welt des Menschen, auf den mondo civile, das heißt MetaPhysik wird Meta-Politik. Und – und hier wird die neue Neue Wissenschaft geradezu größenwahnsinnig – gerade nur die zivile Welt gewährt scienza, Wissenschaft. Sicheres Wissen gibt es nur von der Kultur. Die Begründung für diese Wissensgewissheit liegt in einem alten erkenntnistheoretischen Grundsatz, der gar nicht von Vico erfunden wurde, 24 den er aber extrem radikalisiert: Weil man nur von dem sicheres Wissen haben kann, was man selbst gemacht hat: Verum et factum convertuntur. Diesen Grundsatz hatte Vico schon im Liber metaphysicus (Vico 1711) gefasst. Dort war er aber noch auf mathematische Gegenstände bezogen. In der SN25 hat er ihn auf die »heidnischen Nationen«   V ita, S. 77. 24 Vgl. Karl Löwith, Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen (1968), in: Karl Löwith, Gott, Mensch und Welt in der Philosophie der Neuzeit – G. B. Vico – Paul Valéry, Stuttgart 1986, S. 195 – 227. 23

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ausgedehnt: »die einzige Wahrheit […] dass die Welt der heidnischen Nationen ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist« (40). Aber erst 1730/44 sieht Vico in aller Klarheit, dass sich die Gewissheit des Machers, zur Wahrheit vorzudringen, auf den gesamten mondo civile bezieht, den wir Menschen selbst gemacht haben: »daß diese politische Welt [mondo civile] sicherlich von den Menschen gemacht worden ist« (SN44, 331, Übersetzung Hösle/Jermann).25 Die Welt der Natur dagegen hat Gott gemacht, der sie daher auch allein erkennen kann. Die Entdeckung der poetischen Charaktere, die in der SN25 als erstes philosophisches Prinzip hervorgehoben wird, bekommt mit der Wende der Metaphysik auf den mondo civile das Gewicht einer zweiten grundsätzlichen Wende, nämlich einer Wende der Erkenntnistheorie vom reinen Denken zum poetischen Denken in Sprache. Hinsichtlich dieser Entwicklung der Vico’schen Philosophie zur Meta-Politik ist es also schon richtig, in der SN25 eine »Etappe« in Vicos Denken zu sehen. Aber die SN25 ist in Vicos Denken doch von so großem eigenem Gewicht, weil sie nicht nur in ihrer völlig eigenen Struktur und Komposition eigenständig ist, sondern auch, weil sie die beiden ersten Schritte ganz autonom dokumentiert: also die Umkehrung des Denkens der alten Welt auf die alte Welt selbst, aus der dann die »Philosophie« oder das wissenschaftliche Denken, die »verborgene Weisheit«, in der Entwicklung der Menschheit hervorgeht, und die Geschichte des Denkens der Menschheit als einer Geschichte per le lingue. Neu, das darf nicht übersehen werden, ist schließlich in der SN25 auch die Sprache der neuen Wissenschaft. Vicos italienisches Werk ragt wie ein Gebirge aus der Ebene der italienischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Es ist nicht nur der erste Höhepunkt der italienischen Philosophie, sondern auch der literarische Gipfel des Jahrhunderts. Vico, der nicht nur ein Professor der Rhetorik in Neapel war, als der er sich vorwiegend lateinisch äußerte, war auch ein Dichter, hocherfahren und tief verbunden 25

 Ferdinand Fellmann, nennt diese »Wahrheit« das »Vico-Axiom«, vgl. Fell­mann, Das Vico-Axiom, 1976.

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mit der italienischen Literatur seit Dante. Wenn er die »italiana favella« in der Widmung der SN25 preist, wenn er dort sagt, dass er der verehrungswürdigen Sprache Italiens seine Schrift verdankt, so ist das nicht nur eine rhetorische Verbeugung. Er weiß, dass er zum Denken – zum philosophischen Denken, zum meditare – seine Sprache braucht und dass er nur durch sie als neue philosophische Sprache eine neue Wissenschaft entwickeln kann. Wie Galilei hundert Jahre vor ihm aus dem Lateinischen in die Volkssprache, die favella toscana, umgestiegen ist, um die Naturwissenschaft zu erneuern und die Natur – den mondo naturale – neu zu denken, so ermöglicht es nun die veneranda lingua d’Italia dem philologischen Philosophen, den mondo civile und damit die Philosophie neu zu denken. Auf Lateinisch wird die neue Wissenschaft nur versucht, nova scientia tentatur, auf Italienisch wird sie ausgeführt. 4. Perspektiven Vicos Philosophie ist seit ihrer europäischen Entdeckung durch den Historiker Jules Michelet (1827) am Anfang des 19. Jahrhunderts vor allem als »Geschichtsphilosophie« rezipiert worden, nicht so sehr als Wissenschaftsphilosophie und schon gar nicht als Sprachphilosophie (dabei ist ihre Besonderheit, dass sie alles drei auf einmal ist). Der Ablauf, corso, der drei Zeitalter der Menschheitsgeschichte – göttlich, heroisch, menschlich – und dann vor allem der erneute Ablauf der drei Zeitalter, der sogenannte ricorso, sind seit Michelet die bekanntesten Stücke der Vico’schen Philosophie in der weltweiten Rezeption. In der SN25 folgen sowohl die Entwicklung der politischen Dinge als auch die Entwicklung der Zeichen von den nachsintflutlichen Wilden bis zur römischen Republik dem dreistufigen Lauf der Zeiten, der im fünften Kapitel als Universalgeschichte entfaltet wird. Aber der ricorso ist in der SN25 nur angedeutet, wenn Vico nach dem Ablauf von göttlicher, heroischer und menschlicher Zeit die wiedergekehrte Barbarei, die »barbarie ricorsa« oder »ultima barbarie« (also das Mittelalter), erwähnt. Von der Wiederholung des corso ist nicht die Rede.

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Erst Benedetto Croce hat 1911 Vico von der exklusiv geschichtsphilosophischen Interpretation befreit und als Philosophen der Erkenntnis, genauer der ästhetischen Erkenntnis, wiederentdeckt.26 Erich Auerbach, der zweite Übersetzer der SN44, ist auch der Übersetzer von Croces Vico-Buch ins Deutsche. Vico ist in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Erfinder einer Logik der Erforschung der zivilen Welt, das heißt einer Erhöhung der »Philologie« zur »Wissenschaft«, in der wissenschaftstheoretischen Begründung der Geisteswissenschaften rezipiert worden. Die Vico-Lektüre hat seit den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts ihre Aufmerksamkeit auf die Entdeckung der poetischen Charaktere, also auf Vicos Sprach- und Zeichenphilosophie, gelenkt.27 Sofern die SN25 auf eine Universalgeschichte hinausläuft, bedient sie natürlich auch – jedenfalls teilweise – die geschichtsphilosophische Lektüre. Aber sofern die Universalgeschichte »mit einem Mal«, con un getto stesso (wie die Überschrift des fünften Kapitels sagt), »Philosophie der Menschheit«, also Wissenschaft, ist, verdeutlicht sie die fundamentale philosophische Intention der »neuen Wissenschaft«, also der Verbindung von Philosophie und Philologie, die »Verwissenschaftlichung« der Philologie, in großer Klarheit. Und sofern sie ein lebendiges Bild der politischen und symbolischen Vorwelt entfaltet, sofern sie die kognitive Entwicklung der Menschheit per le lingue, getrennt von der politischen Entwicklung, darstellt, befördert die SN25 gewiss die sprachphilosophische oder »sematologische« Interpretation des Vico’schen Denkens.

 Benedetto Croce, La filosofia di Giambattista Vico (1911), Rom/Bari 1980. Deutsche Übersetzung: Die Philosophie Giambattista Vicos, übersetzt von Erich Auerbach und Theodor Lücke, Tübingen 1927. 27 Seit Antonino Pagliaro, La dottrina linguistica di G.B. Vico, in: Atti della Accademia Nazionale dei Lincei, Anno CCCLVI, 1959, Memorie, Serie VIII, Vol. VIII, 6, S. 379 – 486. – Vgl. auch Eugenio Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie, neu bearbeitet von Jörn Albrecht, Tübingen und Basel 2003, S. 273 – 316. 26

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5. Zur Übersetzung Das Vorangegangene möge genügen, die eigene Dignität dieser sogenannten »ersten« Scienza nuova anzudeuten. Dass sie so selten übersetzt wurde, mag vielleicht auch daran liegen, dass sie sprachlich noch komplexer ist als die SN30/44. Paolo Cristo­ folini, der wie kein anderer die verschiedenen Fassungen der Scienza nuova kannte, schrieb, dass die SN25 »une grande force dans son ensemble et une forme d’expression plus courageuse que les rédactions suivantes« habe, »eine große Kraft in ihrem Zusammenhang und eine kühnere Ausdrucksform als die folgenden Fassungen«.28 Vermutlich hat das damit zu tun hat, dass dieses Buch das erste Werk ist, das Vico auf Italienisch statt auf Lateinisch schreibt. Vico wagt ein großes philosophisches Werk in der »italiana favella«, die er in seiner bemerkenswerten Widmung an die Akademien Europas nicht ohne Grund gleich zweimal erwähnt. Ist dieser literarische Schritt der Grund für die erwähnte expressive Kühnheit ? Die Widmung, die aus einem einzigen über zwei Seiten sich erstreckenden Satz besteht, setzt jedenfalls von der ersten Seite an das Maß der syntaktischen und lexikalischen Komplexität dieses Werks. Vico Übersetzen ist eine große Herausforderung. Die deutschen Übersetzer der SN44  – Wilhelm Ernst Weber, Erich Auerbach und Vittorio Hösle und Christoph Jermann – haben meine ganze Bewunderung, nach dem Abschluss meiner Arbeit noch mehr als vorher. Was macht Vico Übersetzen so schwer ? Jede Übersetzung steht natürlich prinzipiell vor denselben Problemen, aber hier sind die sich sperrenden sprachlichen Eigenschaften des Textes doch erheblich. Obwohl sich das Italienische historisch rela­tiv wenig bewegt, hat der Zeitraum von dreihundert Jahren zwischen uns und dem 18. Jahrhundert natürlich Spuren semantischer Veränderungen hinterlassen. Man übersetzt keine einzelnen Wörter, sondern Texte, dennoch sind einzelne Wörter, da sie in philosophischen Texten Termini sind, dort von größerer 28

  Paolo Cristofolini, Vico et l’ histoire, Paris 1995, S. 12.

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Relevanz als in anderen Texten: principio, umanità, volgare, c­ ivile, carattere zum Beispiel. Da die Semantiken der Wörter in verschiedenen Sprachen ja nur selten koinzidieren, stellen sich Fragen, die man oft nicht wirklich eindeutig beantworten kann. Zu einigen wichtigen Wörtern/Termini des Vico’schen Denkens mache ich in meinem kleinen Glossar hier im Anschluss ein paar Bemerkungen. Außergewöhnlich ist sicher Vicos Syntax. Seine Sätze türmen sich oft zu riesigen und verschachtelten Satzungetümen auf, die schwer zu entwirren – und noch schwerer wiederzugeben – sind. Im Erstdruck, den ich zugrunde gelegt habe, hilft die Zeichensetzung oft nicht viel. Es gibt dort zwar Kommata, Semikola, Doppelpunkte zwischen den Punkten, aber nur die Punkte signalisieren eindeutig Satzenden. Zwischen den Punkten finden sich oft mehrere Sätze, ineinander verschlungene Nebensätze, Gerundialkonstruktionen, mehrfach voneinander abhängige Relativsätze, in den großen Satz hineingeworfene Sätze, Inzisen, die den Fortgang des Hauptsatzes vollends verstellen. Fausto Nicolini, der die maßgebliche Edition der Vico’schen Werke im letzten Jahrhundert besorgt hat, 29 hat hier zur Klärung beigetragen. Er hat aufgeräumt, er hat die Interpunktion modernisiert, Sätze aus ihrer Gefangenschaft im übergeordneten Satz befreit, Klammern und Gedankenstriche eingeführt. Aber ist es legitim, die großen Satzungetüme aufzulösen ? Darf man das für größere Klarheit aufdröseln, wenn das komplizierte syntaktische Verwobensein zum Denken des Autors dazugehört ? Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die innertextuellen Verweise bei Vico oft schwer nachzuvollziehen sind: Worauf bezieht sich dieses oder jenes Pronomen ? An einer Stelle, die ich aber für mich behalte, weiß ich immer noch nicht, worauf sich das Pronomen la bezieht. Ich hoffe, dass ich das richtige vorangegangene Wort getroffen habe. Schwer sind auch die Konjunktionen (oder auch die Abwesenheit von Konjunktionen). Es gibt eine Menge onde, quindi, che. Ist der mit onde, »daher«, beginnende Satz nun eine Konse29

  Giambattista Vico, La scienza nuova prima (= Opere, vol. 3), hrsg. von Fausto Nicolini, Bari 1931.

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quenz aus dem vorangegangen ? Manchmal ist er es auch nicht oder es ist zumindest nicht ersichtlich, wieso er es sein sollte. Zur komplizierten Syntax gesellen sich die behandelten Sachen. Vico fährt ja eine ungeheure Gelehrsamkeit auf, um die Vor­ welt zu zeichnen; das Material, das er durchdenkt, ist gewaltig. Die homerischen Gedichte oder die römische Geschichte des Titus Livius sind uns nicht mehr so geläufig wie den Gebildeten vor dreihundert Jahren. Man muss zum Beispiel schon gründlich in der Odyssee forschen, um zu verstehen, wieso Vico meint, dass in der zyklopischen Welt des Polyphem die Frauen und Kinder noch in ihrem eigenen Recht leben und noch nicht im Männerrecht. Was ist die »Fessel«, das nexum, im alten römischen Recht ? Was ist bonitarisches oder eminentes Eigentum ? Wer weiß – außer Kunsthistorikern – noch, was eine »Imprese« ist, die als impresa eroica hier einen großen Auftritt hat ? Wie sieht der Orden vom Goldenen Vlies aus, damit man die Beschreibung korrekt nachvollziehen kann ? Natürlich ist auch das Einleben in die Sachwelt eines Autors eine allgemeine Schwierigkeit des Übersetzens, aber hier ist diese Welt, das große Korpus der griechischen und römischen Antike, des Rechts, der Geschichte und der Mythologie, schon extrem vielfältig. Ich klage natürlich nicht. Im Gegenteil bin ich froh über diese intensive Begegnung mit Vicos Welt, die ich durch meine Vico-Studien schon ganz gut zu kennen meinte, die aber durch die Übersetzung erheblich an Tiefe und Genauigkeit gewonnen hat. Ich bewundere Leon Pompa, der sich vor zwanzig Jahren an die englische Übersetzung gewagt hat.30 Ohne seine kühne Vor­arbeit wäre ich an vielen Stellen nicht weitergekommen, an denen vermutlich auch italienische Kollegen im Verständnis des Originals scheitern. Meine Übersetzung ist natürlich ganz anders als diejenige von Pompa, sie ist – gemäß der deutschen Übersetzungstradition – näher am Ausgangstext als die englische, die freier mit der Vorlage umgeht und »erklärender« ist. Diese Treue macht 30

  Giambattista Vico, The First New Science, edited and translated by Leon Pompa, Cambridge 2002.

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den deutschen Text vielleicht manchmal »fremd«. Aber auch für italienische Leser ist Vicos Prosa fremd – und schwer. Die Nähe zu diesem fremden Original ist zugleich ein Versuch, nicht nur den philosophischen Inhalt genau wiederzugeben, sondern auch den eigenartigen Rhythmus und die poetische Semantik dieses Denkens nachzubilden. Meiner Übersetzung liegt zunächst der Druck von 1725 zugrunde, und sie folgt in vielen typographischen und Gliederungs-Details dieser Originalausgabe (Kapitel, Überschriften), übernimmt aber auch vieles aus der Ausgabe von Fausto Nicolini aus dem Jahr 1931 im dritten Band seiner Werkausgabe, die als »klassische« Grundlage der neueren Editionen und Übersetzungen des Buches gilt. Nicolini hat massiv in den Text eingegriffen: Neben der schon erwähnten Normalisierung der Interpunktion hat er die fünf Teile des Werks, die Vico capi, also »Kapitel« nennt, »Bücher«, libri, überschrieben, weil Vico dies handschriftlich so vermerkt hat und die Teile der SN44 libri nennt. Nicolini hat neue Kapitelzählungen eingefügt. Der radikalste Eingriff N ­ icolinis ist die Nummerierung der Absätze. Nicolini hat dabei neue Absätze geschaffen, die im Original nicht vorhanden sind. Wie die neuen Satzzeichen erleichtern diese Untergliederungen sehr langer Textstücke aber das Textverständnis erheblich. Die Nummerierung der Absätze hat sich für die Sekundärliteratur zur SN44 als außerordentlich nützlich erwiesen: In der internationalen Vico-Forschung weiß man, welche Stellen zum Beispiel mit SN44, 34 oder SN44, 331 gemeint sind. Das ist gerade auch in Publikationen in verschiedenen Sprachen überaus nützlich: SN44, 331 ist auch auf Spanisch oder Deutsch SN44, 331. Ich habe daher die Nicolini’sche Nummerierung der SN25 übernommen, vor allem aber weil Vico sehr oft innerhalb seines Textes auf schon Gesagtes und noch zu Sagendes verweist. Durch die Absatznummerierung wird das Auffinden der entsprechenden Stellen möglich. Nicolini hat die typographischen Markierungen der Originalausgabe nicht übernommen, auf die Vico größten Wert legte. »Charaktere«, caratteri, also graphische Zeichen, sind schließlich ein zentrales Anliegen des Vico’schen

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Denkens. Diese Druckgestaltung habe ich in der deutschen Übersetzung nur teilweise nachgebildet. Vico hebt durch große Anfangsbuchstaben bei Substantiven und durch Kursivierung großer Textteile Wichtiges hervor. Die großen Anfangsbuchstaben haben wir im Deutschen ja ohnehin. Die Kursivierung habe ich aber nicht nachvollzogen, weil sie den Text ungeheuer unruhig macht und meines Erachtens das Verständnis des übersetzten Textes nicht erleichtert, sondern eher eine zusätzliche Schwierigkeit bei der Lektüre schafft. Andere typographische Eigenarten des Originaldrucks sind aber erhalten wie zum Beispiel die Kapitälchen bei bestimmten lateinischen Zitaten, die Zentrierung der Überschriften, ebenso wie die Differenzierung der Schriftgrade bei den Überschriften der Kapitel und der Unterkapitel. Vor allem ist die hübsche V ­ ignette, die 1725 das erste Kapitel abschließt, auch in dieser Ausgabe wiedergegeben. 6. Bemerkungen zu einzelnen wichtigen Wörtern principio Principio bedeutet »Prinzip« und »Anfang, Beginn«. Zumeist kann man ganz gut aus dem Kontext entnehmen, welche der beiden Bedeutungen gemeint ist. Leider muss man sich im Deutschen für das eine oder das andere entscheiden. Es kommt Vico natürlich zupass, dass er sich im Italienischen nicht entscheiden muss, da für ihn der Anfang einer Sache auch ihr Wesen, ihr Prinzip, bestimmt. Einer der zentralen Sätze Vicos besagt, dass das Wesen der Dinge ihr Entstehen sei: »Natura di cose altro non è che nascimento di esse in certi tempi e con certe guise« (SN44, 147), »Die Natur der Dinge ist nichts anderes als ihre Entstehung zu bestimmten Zeiten und auf bestimmte Weise« (Hösle/ Jermann), wobei er die Bedeutung von lat. nasci, »geboren werden«, diesem Grundsatz zugrunde legt. »Il loro nascimento o natura« sagt er hier in Absatz 390. Andere von nasci abgeleiteten Wörter sind nazione und naturale.

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nazione, popolo, gente, plebe, volgo – Volk Die Neue Wissenschaft hat die nazioni zum Gegenstand, genauer die Natur der Nationen. Nazione und popolo sind weitgehend synonym: »popolo o nazione« (46). Populus ist das gewöhnliche lateinische Wort, schließlich heißt das römische Volk populus romanus. Und das Volk Gottes heißt »popolo di Dio« (62). Popolo ist wohl das Volk als politisches Subjekt: Das Volk popolo versammelt sich zum politischen Handeln. Nazione ist eher das Volk als Abstammungsgemeinschaft, die etymologische Verwandtschaft mit nasci verweist darauf. Nazione ist in der SN25 eindeutig das wichtigere Wort, es kommt ja schon im Titel vor und steht fast auf jeder Seite. Die Menschheit tritt auf in verschiedenen Nationen, deren Wesen, natura, hier verhandelt wird. Auch gens/gente ist »Volk« als Abstammungsgemeinschaft. Das Recht, welches in diesem Buch thematisiert wird, heißt ius gentium, das man natürlich mit »Völkerrecht« übersetzen muss. Aber gens/gente ist semantisch vertrackt: Die gente ist nämlich einerseits zunächst eher »Stamm«, also kleiner als die Nation, le genti latine sind »latinische Stämme«. Und die gens ist andererseits im römischen politischen System auch die Sippe, das Geschlecht, also eine noch engere Abstammungsgemeinschaft innerhalb der nazione und dem Stamm, in der sich Familien auf einen Urvater beziehen. Gaius Iulius Caesar war, wie sein zweiter Name besagt, Mitglied der julischen gens, einer Adelsfamilie. Wo dies gemeint ist, habe ich das im Deutschen mit Gens wiedergegeben. Das von gens abgeleitete Adjektiv gentilesco (oder seltener gentile) ist »heidnisch« im Sinne der exkludierenden jüdischen und christlichen Vorstellung von fremden, nicht-jüdischen oder nicht-christlichen Völkern. Den adeligen Gentes stand die Plebs, plebe, gegenüber, also das Volk, das nicht der Adelsklasse angehörte und das mit den Patriziern um Eigentum an Grund und Boden, um Eheschließungen und politische Teilhabe rang. In den Klassenkämpfen der römischen Republik, die Vico zentral beschäftigen, geht es um die angestammten Adelsprivilegien der Gens, welche die

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Plebs begehrt. Plebs ist das Volk im Gegensatz zum Adel, eine soziale Markierung des Volks. Volgo, lat. vulgus, schließlich ist das ungebildete Volk. Volgo hat deutlich auch eine diachronische semantische Komponente, sofern es das unwissende Volk der frühen Zeiten ist. Der volgo kommt nur selten als Substantiv vor, aber auf volgo wird hauptsächlich und ständig mit dem Adjektiv volgare verwiesen. Und dies ist zentral für die Wissenshierarchie: volgare – riposto. Vicos Forschungen betreffen das Wissen des volgo. Das primitive Denken des Anfangs ist sapienza volgare. riposto (verborgen) vs. volgare In Vicos Geschichte des Wissens stehen sich die sapienza volgare und die sapienza riposta, volkstümliche und verborgene Weisheit, gegenüber. Das eine ist das noch rohe und ungenaue Wissen des Volkes (volgo), das andere das Wissen der rationalen Zeit und der Philosophen. In dieser Gegenüberstellung kommt die Opposition zwischen der »niedrigen« Erkenntniskraft, der Phantasie, und der höheren Ratio ins Spiel, aber auch die soziale Opposition zwischen den Vielen (polloi) und den Wenigen, den Eingeweihten. Nur wenige haben das richtige, philosophische Wissen, deswegen ist es »verborgen«. »Esoterisch«, also einer exklusiven Gruppe der Wissenden zugehörig, wäre wohl die richtige Übersetzung. Bergin und Fish nutzen den Ausdruck esoteric für riposto. 31 Aber das ist siebzig Jahre nach dieser großartigen englischen Übersetzung der SN44 nicht mehr möglich: »esoterisch« bezieht sich zwar immer noch auf ein Wissen von Wenigen, aber damit ist heute ein dunkles, nicht-rationales Wissen gemeint. Und das ist die sapienza riposta gerade nicht: Sie ist das rational-aufgeklärte philosophische Wissen der Philosophen. Nicht wegen seiner Dunkelheit, sondern wegen der Zugehörigkeit zu den wenigen Wissenden ist es »verborgen«. Es ist eigentlich auch nicht »geheim«, das wäre ein nicht zugängliches Wissen, sondern bei den Wenigen deponiert, bei diesen »verborgen«. 31

  The New Science of Giambattista Vico (1948), übers. von Thomas G. Bergin und Max H. Fisch, Ithaca/London 2 1986.

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Es geht in der SN darum, die besondere Form der sapienza volgare zu erfassen. Das ist das Besondere der Vico’schen Rekonstruktion der sagenhaften Vorzeit, des göttlichen und des heroischen Zeitalters. Die diesbezügliche Kritik Vicos an seinen Vorgängern – z.B. an Platon oder Bacon – ist gerade die, dass sie die Spezifik und Besonderheit des phantastischen Volkswissens nicht erfassen, sofern sie immer gleich einen rationalen philosophischen Gehalt der alten Geschichten annehmen, der dort aber nicht zu finden ist und der sich erst aus dem Volkswissen ent­ wickeln muss: Das »verborgene« Wissen der Wenigen – der philosophisch Denkenden – basiert aber auf dem Volkswissen, und es soll auch dem Wissen des Volkes wieder zugutekommen. Deswegen habe ich volgare auch nicht mit »gewöhnlich« wiedergegeben – das meint volgare manchmal auch – sondern mit »volkstümlich«. Mit volgare ist der Quellort des Wissens bezeichnet, der vulgus, mehr als die – daraus folgende – Verachtung dieses Wissens als »gewöhnlich«. Das volgo, das »Volk« in volgare, muss im Deutschen volks- erhalten bleiben. Und dies sollte auch geschehen, weil Vico ein etymologisch denkender Schriftsteller ist. Wie er bei nazione und natura das lat. nasci mitdenkt, da die Wörter über ihre Etymologie mitein­ ander verbunden sind, so denkt er auch bei volgare das »Volk« vulgus mit. Und wenn man dies im Deutschen nachmachen kann, das ja eine Sprache ist, in der semantische Zusammenhänge stark durch Wortidentitäten markiert sind, dann sollte man das auch tun. civile vs. naturale Ich habe das Wort civile gleichsam unübersetzt gelassen: zivil. Es steht im Gegensatz zu naturale und bezeichnet, abgeleitet von lat. civis, »Bürger«, das auf die Stadt oder die Gesellschaft, die civitas, Bezogene, also das Politisch-Gesellschaftliche. Der entsprechende griechische Ausdruck wäre politikos von polis und polites. Also wäre auch »politisch« ein gutes deutsches Wort für civile. Aber das moderne Politische ist sozusagen nur ein spezifischer Bereich des Zivilen, das Vico meint, der sich damit ja

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auf die gesamte Welt des Menschen bezieht. Im spezifischen histo­rischen Kontext der Stadt Rom meint zivil auch »römisch«, also auf eine bestimmte civitas bezogen, so dass dem römischen Recht natürliches Recht gegenübersteht: Das bonitarische Eigentum ist kein ziviles, sondern nur ein natürliches Recht, da es nicht an die Eigenschaft als civis romanus gebunden ist. Das quiritische Eigentum dagegen ist zivil, sofern es ein Recht der römi­schen c­ ives ist. Die Bürger der eroberten Gebiete sind keine ­cives ­romani, deswegen haben sie nur natürliche und keine zivilen Kinder, die nur die Römer haben. Die Opposition naturale vs. civile ist grundlegend für die Philosophie Vicos überhaupt: Die Neue Wissenschaft bezieht sich, wie wir gesehen haben, auf die vom Menschen gemachten gesellschaftlich-politischen Dinge, auf den mondo civile, und nicht mehr wie die »alte« Philosophie auf die Natur (physis), den mondo naturale, Meta-Physik wird also Meta-Politik bei Vico. nodo – Fessel, nexum Das italienische Wort nodo, also »Knoten, Fessel, Bindung«, steht für das lateinische Wort nexum. Das Nexum ist für Vico das zentrale Charakteristikum des altrömischen heroischen Rechts. Der Ausdruck erscheint im Zwölftafelgesetz, das Vico obstinat zitiert. Das Nexum bindet bei einem Geschäft einen Schuldner durch eine Selbstverpfändung an den Gläubiger. Wenn der Schuldner nicht zurückzahlt, kann der Gläubiger ihn in Schuldhaft nehmen, ihn also wirklich fesseln, zu Frondiensten zwingen, in Gefangenschaft nehmen, ja sogar töten. Im Zwölftafelgesetz ist aber der Ausdruck nexum schon, wie Vico schreibt, »Fiktion« (201), das heißt nicht mehr unbedingt konkrete Fessel. Das war er aber am Anfang. Romulus bindet die Klientelen, also die eingewanderten Plebejer an Grund und Boden, an bestimmte Felder. Vor allem aber fesseln die Patrizier die Plebejer an das Land, sofern diese durch das bonitarische Eigentum der Felder gezwungen waren, den Patres einen Zehnt zu zahlen, den Herkules-Zehnt. Auch als die Plebejer das zivile Eigentum an Grund und Boden erhalten, bleiben sie gefesselt, nämlich zum

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Kriegsdienst verpflichtet. Das Nexum ist für Vico die Quelle aller politischen Verpflichtungen und Zwänge im Inneren, wie auch der Unterdrückung und Sklaverei bei den äußeren Eroberungen der Römer. Es ist das markante Charakteristikum des heroischen Rechts, das ein Recht der Unfreiheit ist. Erst durch die Lex Poetelia wird das Nexum aufgehoben und es beginnt in Rom eine neue Freiheit, die Freiheit des menschlichen Zeitalters. Vico weitet die Bedeutung des Ausdrucks nodo (der lat. nexum wiedergibt) also aus auf die Rechtsbeziehungen zwischen den Klassen: Das Nexum ist die Fessel, mit der Romulus die Klienten an das Land bindet, es ist der Zensus, durch den die Patrizier die Plebejer an die Felder fesseln. Das Nexum liegt also den Konflikten zwischen den Adligen und den Plebejern zugrunde. Menschliche Freiheit gibt es erst mit der Aufhebung des Nexum. Ich habe nodo durch »Fessel« und durch das lateinische Wort wiedergegeben, für das es steht: nexum. impresa – Imprese Das Wort impresa ist ein heraldischer Begriff, der wappenähn­ liche Selbstdarstellungen in der Kultur der öffentlichen Repräsentation in der frühen Neuzeit bezeichnet. Impresen bestanden aus Bildern von sinnhaltigen Gegenständen, denen ein Sinnspruch (Devise) hinzugefügt wurde, mit denen sich Personen oder Fami­lien (neben den Wappen) schmückten und selbst charakterisierten. Impresen wurden in der frühen Neuzeit durch französischen Einfluss in Italien modern.32 Dort entstand auch der Terminus impresa. Vico weitet den Ausdruck aus und verwendet ihn zur Bezeichnung von bildlichen, vorsprachlichen Zeichen der frühen, heroischen Kultur, also von Sinnbildern überhaupt: imprese eroiche. Durch die Beibehaltung des italienischen Fachbegriffs wollte ich seine heraldisch-kunsthistorische Konnotation bewahren.

32

  Vgl. Mario Praz, La filosofia del cavaliere, in: Studi sul concettismo, Florenz 1946, S. 59 – 98.

Einleitung xxxvii

latino Italienisch und Englisch müssen keinen Unterschied zwischen latinisch und lateinisch machen, beides ist latino oder latin. Im Deutschen machen wir, etwas pedantisch, einen Unterschied zwischen den – die Römer umgebenden – latinischen Stämmen und ihren Sprachen und dem Lateinischen, welches das Römische ist, daher auch zwischen dem latinischen und dem römischen Recht. Ich habe jeweils versucht herauszufinden, ob die Lateiner, also die Römer, gemeint sind oder die Latiner. setta dei tempi – Sekte der Zeiten Der englische Übersetzer lässt die Wendung unübersetzt. Er erläutert sie in seinem Vorwort, schreibt aber dann, dass er sect belässt, weil es keinen passenden englischen Terminus gäbe. Auch im Deutschen gibt es keinen passenden Terminus. »Sekte der Zeiten« ist zwar schön, aber es bedeutet nichts Rechtes im Deutschen. Setta dei tempi, »Sekte der Zeiten«, wird von Vico eingeführt als eine Redeweise der römischen Juristen, die sich mit dem Ausdruck secta temporum auf das in einer bestimmten Zeit Übliche und Charakteristische bezogen. Secta temporum meinte also »Epoche«, »Denkrichtung«, »Geist einer Zeit«. Vico selbst bezieht den Ausdruck einmal auf die »Sitten des Jahrhunderts«. Ich habe also etwas verlegen die »Sekte der Zeiten« als solche belassen oder »Zeitabschnitt« und etwas Erklärendes geschrieben, was jeweils gemeint sein könnte. Das Wort setta bedeutet des Weiteren auch »Sekte«, »Gruppe«. Vico bezieht es auf die Schulen von Philosophen: setta di filosofi. Obwohl Sekte heute im Wesentlichen ein negatives Wort für eine religiöse Gemeinschaft ist, Vico aber die setta eher neutral im Sinne von »Schule« meint, habe ich das Wort »Sekte« beibehalten.

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7. Widmung Vico hat 1725 sein Werk, auf das seine ganze intellektuelle Entwicklung hinauslief, den europäischen Akademien gewidmet, »alle Accademie dell’Europa«, den gelehrten Institutionen Europas, notwendigerweise denjenigen des Nordens. Die Widmung ist Vicos Wort, das emphatisch über Italien hinausweist, eine ausgestreckte Hand. Sie ist ein raffiniertes Kunstwerk, das aus einem einzigen unglaublich komplizierten Satz besteht, ein barockes Spiel. Sie ist aber nicht nur ein raffinierter Paratext. In ihr kristallisiert sich gleichsam auch die Größe und die Tragik des Buches. Die Widmung zeigt den künstlerischen und kon­ struktiven Willen des Autors und enthält in der Art und Weise ihrer Konstruktion die Absicht und den Ehrgeiz des Autors, aber auch seine Bescheidenheit. Auch wenn sie grammatikalisch in der dritten Person steht, so hat die Widmung – als Widmung – eine dialogische Struktur mit einem angesprochenen Du und einem Ich. Im italienischen Original steht das Du ganz am Anfang und das Ich weit am Ende. Die Akademien Europas sind der Adressat, Du. Der Sender der Botschaft, das Ich, wird in der italienischen Fassung erst auf der zweiten Seite genannt: Giambattista Vico (in der deutschen Version konnte ich das Ich nicht ans Ende ziehen, es muss leider in der Mitte stehen). Das performative Verb indirizza, welches die pragmatische Funktion des Sprechakts der Widmung bezeichnet, »er widmet, er bietet dar, er schenkt«, steht ganz im Ende. Der propositionale Gehalt der Widmung, also was geschenkt wird, liegt in der Mitte zwischen Sender und Empfänger: questi principi, »diese Prinzipien«. Die Anfangsstellung des Empfängers und die extreme Endstellung des Gebers geben dem Empfänger ein großes Gewicht und schaffen eine große kommunikative Hierarchie zwischen den Akademien und Vico, der, indem er sich am Ende posi­ tioniert, sich in eine niedrige Position stellt. Natürlich ist eine solche kommunikative Hierarchie in einer Widmung konventionell. Der Widmer ordnet sich traditionellerweise dem Empfänger der Widmung unter. Aber hier ist die Nachstellung und also die Unterordnung des Widmers extrem. Diese Bescheidenheit ist

Einleitung xxxix

umso größer, als dieser Auftritt des Autors auf der zweiten Seite der Widmung eigentlich sein erster Auftritt im Buch ist. Der widmende Autor wird in der Originalausgabe von 1725 nicht auf der Titelseite des Buchs genannt, sein Name erscheint in winzigen Lettern erst auf S. 5 des Widmungsbriefs an den Kardinal Corsini, dessen Name im Gegensatz zum Namen des Autors in riesigen Lettern auf der Titelseite steht. Aber von dieser Widmung hing das Schicksal dieses Buches in »Europa« ab und schließlich auch das weitere Schicksal der Scienza nuova. Die Hintanstellung des widmenden Autors hinter die Akademien Europas ist so extrem, dass der Herausgeber der Leipziger Acta eruditorum, Johann Burckhard Mencke, den Namen des Autors nicht finden konnte. Das machte ihn offensichtlich so missmutig, dass er die erwähnte kleine Besprechung von hundert Wörtern damit beginnt, dass er feststellt, dass der Autor seinen Namen verbirgt und er einen italienischen Freund um Auskunft bitten musste, der ihm sagte, dass es sich dabei um einen neapolitanischen Abbate mit Namen Vicus handele: »cuius libri auctor quamvis nomen suum eruditos celet, certiores tamen facti sumus per amicum quendam italicum, esse eundem abbatem neapolitanum cui nomen Vici sit.« 33 Der deutsche Kritiker, der kein Italienisch konnte, hatte die komplizierte und kunstvolle Widmung nicht gelesen – zumindest nicht bis zum Ende, wo er den Widmer und Autor gefunden hätte: »Giambattista Vico … riverentemente indirizza«. Der Leipziger Kritiker sieht also das freundliche Angebot zum Gespräch nicht, er versteht die Einladung zum Austausch nicht. Die in der Widmung ins Auge gefasste Begegnung findet nicht statt. Vico reagiert, wie wir gesehen haben, mit heftigster Wut in den Vindiciae. Er »rächt« sich in anderen Widmungen, die er nicht mehr an den protestantischen Norden richtet: Die Vindiciae widmet er – auf Lateinisch – dem katholischen Kaiser Karl und das aus Zorn geborene neue Buch, die SN30, Cinque libri di Giambattista Vico de’ principj d’una scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni, widmet er dem Papst. 33

  V ici Vindiciae, S. 42.

xl

Jürgen Trabant

Die Begegnung zwischen dem neapolitanischen Denker und den Gelehrten Europas hat 1725 nicht stattgefunden. Dabei hat der europäische Norden einen Autor verpasst, der die wilden und sagenhaften Anfänge im europaweit bekannten mediterranen Korpus aufsucht, der das Denken auf die Phantasie und das Körperliche stellt und der den Blick der Wissenschaft von der Natur auf die Kultur lenkt. Dieses neue Denken wird erst hundert Jahre später – und dann hundert Jahre lang auch nur sehr partiell – in Deutschland und in Europa wahrgenommen. Ich möchte mit meiner Übersetzung den »Akademien Europas« das ihnen gewidmete und von ihnen zurückgewiesene Buch Vicos gleichsam noch einmal widmen, in der Hoffnung, dass sie dieses Mal seinen Entdeckungen mit Sympathie begegnen. 8. Bibliographie Die Literatur zu Vico ist unübersehbar. Seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich die Vico-Studien sehr dyna­ misch entwickelt, vor allem seitdem man »Vico ohne Hegel« 34, also als Vico und nicht als Vorform eines anderen Denkens, zu deuten versucht. In Neapel ist ein aktives Zentrum für VicoStudien, das Centro di studi vichiani, entstanden, das eine rege Forschungsarbeit betreibt, eine lebendige Zeitschrift herausgibt, das Bollettino del Centro di studi vichiani, und eine neue Werkausgabe betreut. Die Vico-Forschung hat sich in den letzten fünfzig Jahren weltweit entfaltet. Hier sind einige Arbeiten aufgeführt, die für die vorliegende Übersetzung von Bedeutung waren:

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  Pietro Piovani, Vico senza Hegel, in: Pietro Piovani (Hrsg.), Omaggio a Vico, Neapel 1968, S. 553 – 586, ein berühmter Aufsatz, der die Befreiung Vicos von seiner Rolle als Vorgänger fordert.

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Auerbach, Erich 1936: Giambattista Vico und die Idee der Philologie. Jetzt in: ­Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern/München: Francke 1967: 233 – 241. Coseriu, Eugenio 2003: Geschichte der Sprachphilosophie. Neu bearbeitet von Jörn Al­ brecht. Tübingen und Basel: Francke. Cristofolini, Paolo 1995a: Vico et l’ histoire. Paris: PUF. 1995b: La Scienza nuova di Vico. Introduzione alla lettura. Roma: La Nuova Italia Scientifica. Croce, Benedetto (1911): La filosofia di Giambattista Vico. Roma/Bari: Laterza 1980. 1927: Die Philosophie Giambattista Vicos. Übersetzt von Erich Auerbach und Theodor Lücke. Tübingen: Mohr. Fellmann, Ferdinand 1976: Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte. Freiburg/ München: Alber. Garin, Eugenio 1966/1978: Storia della filosofia italiana. 3 Bde. Torino: Einaudi. Kaser, Max/Knütel, Rolf 2014: Römisches Privatrecht. Ein Studienbuch. 20. Aufl. München: Beck. König, Peter 2005: Giambattista Vico. München: Beck. Löwith, Karl (1968): Vicos Grundsatz: verum et factum convertuntur. Seine theologische Prämisse und deren säkulare Konsequenzen. In: Karl Löwith: Gott, Mensch und Welt in der Philosophie der Neuzeit – G.B. Vico – Paul Valéry. Stuttgart: Metzler 1986: 195 – 227. Manthe, Ulrich 2019: Geschichte des römischen Rechts. 6. Aufl. München: Beck.

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Marienberg, Sabine 2006: Zeichenhandeln. Sprachdenken bei Giambattista Vico und Johann Georg Hamann. Tübingen: Narr. Otto, Stephan 1989: Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie. Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer. Pagliaro, Antonino 1959: La dottrina linguistica di G. B. Vico. In: Atti della Accademia Nazionale dei Lincei. Anno CCCLVI. Memorie. Serie VIII. Vol. VIII, 6: 379 – 486. Piovani, Pietro 1968: Vico senza Hegel. In: Pietro Piovani (Hrsg.): Omaggio a Vico. Neapel: 553 – 586. Praz, Mario 1946: La filosofia del cavaliere. In: Studi sul concettismo. Firenze: ­Sansoni: 59 – 98. Sanna, Manuela / Tessitore, Fulvio 2012: La »Scienza nuova« nell’edizione del 1725. In: Vico 2012: 3 – 5. Trabant, Jürgen 1994: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. Vicos Sematologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 2019: Giambattista Vico – Poetische Charaktere. Berlin: de Gruyter. Verene, Donald Phillip 2009: Reception of the First New Science (1725). In: Bayer, Thora Ilin and Verene, Donald Phillip (eds.): Giambattista Vico. Keys to the New Science. Ithaca and London: Cornell University Press: 83 – 135. Vitiello, Vincenzo 2012: Introduzione [in die SN25]. In: Vico 2012: 7 – 36 Zambotto, Isabella 2021: Nexum. Struttura e funzione di un vincolo giuridico, Napoli: Edizioni Scientifiche Italiane.

Einleitung xliii

Werke Vicos 1710

De antiquissima Italorum sapientia. Napoli: Mosca.

1725

Principj di una Scienza Nuova intorno alla natura delle nazioni. Napoli: Mosca.

1720/21 De universi juris uno principio et fine uno. 2 Bde. Napoli: ­Mosca.

(1725 – 28) Vita scritta da se medesimo. In Vico 1990b, I: 3 – 60. (1729)

Vici Vindiciae. In: Vico 1996: 25 – 109.

1744

Principj di scienza nuova di Giambattista Vico d’intorno alla comune natura delle nazioni. Napoli: Stamperia Muziana.

1730

1822 (1827) 1924

1931 (1948) 1971 1979

Cinque libri di Giambattista Vico de’ principj d’una scienza nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni. Napoli: Mosca.

Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaft­ liche Natur der Völker. Übers. Wilhelm Ernst Weber. Leipzig: Brockhaus.

Principes de la philosophie de l’ histoire, traduits de la Scienza nuova de J. B. Vico. In: Jules Michelet: Œuvres complètes. Bd. 1. Paris: Flammarion 1971: 419 – 593.

Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Übers. Erich Auerbach. München: Allgemeine Verlagsanstalt (Taschenbuchausgabe Reinbek: Rowohlt 1966). La scienza nuova prima. A cura di Fausto Nicolini (= Opere. vol. 3). Bari: Laterza.

The New Science of Giambattista Vico. Übers. Thomas G. Bergin und Max H. Fisch. Ithaca/London: Cornell Univ. Press 21986. Opere filosofiche. Introduzione di Nicola Badaloni. Testi, versioni e note a cura di Paolo Cristofolini. Firenze: Sansoni.

Liber metaphysicus. Hrsg. Stephan Otto und Helmut Viecht­bauer. München: Fink.

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1990a Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (Principi di una Scienza Nuova). 2 Bde. Übers. Vitto­rio Hösle und Christoph Jermann. Hamburg: Meiner. 1990b Opere. 2 vol. A cura di Andrea Battistini. Milano: Mondadori. 1996 Varia. A cura di Gian Galeazzo Visconti. Napoli: Guida.

2012 La Scienza nuova. Le tre edizioni del 1725, 1730 e 1744. A cura di Manuela Sanna e Vincenzo Vitiello. Milano: Bompiani.

2004 La Scienza nuova 1730. A cura di Paolo Cristofolini con la collaborazione di Manuela Sanna. Napoli: Guida. 2013 La Scienza nuova 1744. A cura di Paolo Cristofolini e ­Manuela Sanna. Roma: Edizioni di storia e letteratura.

2016 Principj di una Scienza nuova (1725). A cura di Paolo Cristofolini. Pisa: ETS.

Die wichtigsten Editionen der SN25 sind: Vico 1725 Vico 1931 Vico 1990b Vico 2012 Vico 2016

Übersetzungen der SN25 1941 Principios de una Ciencia Nueva en Torno a la Naturaleza Común de las Naciones. Prólogo y traducción de José Carner. Mexiko: El Colegio de México.

1993 Principis d’una ciència nova sobre la natura de les nacions. Traducció i edició a cura de Rossend Arqués i Corominas. Barce­ lona: Edicions 62. 2002 The First New Science. Edited and translated by Leon Pompa. Cambridge: Cambridge University Press.

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Vico verweist oft auf eigene Werke. Die von ihm erwähnten ­Bücher sind: De antiquissima: De antiquissima Italorum sapientia, Neapel 1710.

De uno: De universi juris uno principio et fine uno (Teil I), Neapel 1720.

De const. phil.: De constantia philologiae (= Teil II, 2 von De uno), ­Neapel 1721.

Andrea Battistini, der nicht genug zu preisende Herausgeber einer zweibändigen Werkausgabe (Vico 1990), hat die genauen Stellen dieser Verweise erforscht, die ich in den Fußnoten wiedergebe.

Dank Ohne Hilfe ist ein so komplizierter Text wie der vorliegende nicht zu übersetzen. Ohne die Hilfe bestimmter Bücher wäre diese Übersetzung nicht zustande und voran gekommen. An erster Stelle ist Leon Pompas englischer Übersetzung zu danken. Sie war in vielen Fällen die Rettung, wenn sich der italienische Text einfach nicht öffnen wollte (manchmal erschloss sich auch der englische Text nicht), und sie war Kontrollinstanz, An­ regung für manche Lösungen, aber auch Kontrastfolie. Andrea Battistinis kommentierte Vico-Ausgabe bei Mondadori (Vico, Opere 1990) ist der unersetzliche Schatz der Gelehrsamkeit, der die verwickelte Text-Welt Vicos durch seine Stellenangaben und Erläuterungen begehbar macht. Und wenn weder Pompa noch Battistini weiterhalfen, waren meine drei Vico-Freundinnen zur Stelle: Manuela Sanna, Sanja Roic´ und vor allem Sara Fortuna. Ihnen sei herzlich Dank gesagt. Und ohne die Ermutigung durch Christiane Trabant hätte ich das Unternehmen gar nicht erst in Angriff genommen. Schließlich hat mich das verfluchte Virus im Haus und vor dem Computer gehalten, so dass ich die Übersetzung, die ich vor Jahrzehnten begonnen, von Zeit zu Zeit erneut aufgegriffen und immer wieder verzweifelt abgebrochen hatte, nun tatsächlich zu Ende bringen konnte.

GI A MBAT TISTA V ICO

Die Erste Neue Wissenschaft (1725)

PR INZIPIEN

EINER NEUEN W ISSENSCH AF T

VON DER NAT UR DER NATIONEN

DURCH DIE WIR DIE PRINZIPIEN EINES ANDEREN SYSTEMS DES NATÜRLICHEN RECHTS DER VÖLKER FINDEN

DEN AKADEMIEN EUROPAS, DIE IN DIESER AUFGEKLÄRTEN ZEIT, IN DER NICHT NUR DIE MYTHEN UND DIE VOLKSTÜMLICHEN ÜBERLIEFERUNGEN DER HEIDNISCHEN GESCHICHTE, SONDERN AUCH JEGLICHE AUTORITÄT DER BERÜHMTESTEN PHILOSOPHEN DER KRITIK DER STRENGEN VERNUNFT UNTERWORFEN WERDEN, VON IHREN LEHRSTÜHLEN AUS MIT HÖCHSTEM LOB DAS NATÜRLICHE RECHT DER VÖLKER ZIEREN, VON DEM DAS SPARTANISCHE, DAS ATHENISCHE, DAS RÖMISCHE RECHT IN IHRER AUSDEHNUNG UND DAUER NUR EBENSO KLEINE TEILCHEN SIND WIE SPARTA, ATHEN, ROM ES SIND VON DER WELT, WIDMET GIAMBATTISTA VICO EHRERBIETIG DIESE PRINZIPIEN EINES ANDEREN SYSTEMS, DIE ER DARÜBER AUFGESTELLT UND IN ITALIENISCHER SPRACHE GESCHRIEBEN HAT MIT DER ENTDECKUNG EINER NEUEN WISSENSCHAFT VON DER NATUR DER NATIONEN, AUS DER OHNE ZWEIFEL DIESES RECHT HERVORGEGANGEN IST UND DEREN HUMANITÄT ALLE WISSENSCHAFTEN, DISZIPLINEN UND KÜNSTE,

DIE GEWISS AUS IHR ENTSPRINGEN UND IN IHR LEBEN, HAUPTSÄCHLICH IHRE HANDLUNGEN VERDANKEN, DAMIT SIE IN HÖCHSTEM MASSE DIE LEHRE, DIE SIE VON IHR VERBREITEN, WENN SIE ES VERDIENT, MIT IHRER GELEHRSAMKEIT UND WEISHEIT VORANBRINGEN, ERGÄNZT UND VERBESSERT DURCH DIE ENTDECKUNGEN, DIE ER MACHT IN DER ERNSTEN ABSICHT, DEN BERUF DER GESETZE ZU EHREN, UND IN DANKBARKEIT GEGENÜBER DER VEREHRUNGSWÜRDIGEN SPRACHE ITALIENS, DER ALLEIN SEIN SCHWACHER GEIST DIESE SCHRIFT VERDANKT.

A Iove Principium Musae: Vergil Idee des Werks In diesem Werk entwickeln wir eine Wissenschaft von der Natur der Nationen, aus der die Humanität derselben hervorgegangen ist, die bei allen Nationen mit den Religionen begonnen und sich mit den Wissenschaften, den Disziplinen und den Künsten vollendet hat. Kap. I. Ignari hominumque locorumque erramus [»ohne Kenntnis der Menschen und der Orte irren wir umher«]: Vergil

Notwendigkeit des Ziels und Schwierigkeiten der Mittel, diese Wissenschaft zu finden im tierischen Herumirren der zügel­losen und gewalttätigen Menschen des Thomas Hobbes, der völlig einsamen, schwachen und bedürftigen einfältigen Menschen des Hugo Grotius und der ohne göttliche Sorge und Hilfe in diese Welt geworfenen Menschen des Samuel Pufendorf, aus denen die heidnischen Nationen hervorgegangen sind.

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Kap. II. Iura a Diis posita [»von den Göttern gesetzte Rechte«]: ein gewöhnlicher Ausdruck der Poeten

Prinzipien dieser Wissenschaft aus den Ideen einer vorhersehenden Gottheit, aus deren vermeintlichen Weisungen oder Befehlen alle heidnischen Nationen entstanden sind.

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Kap. III. Fas Gentium [»göttliches Recht der Völker«]: ein von den ­römischen Herolden benutzter Ausdruck

Prinzipien dieser Wissenschaft aus einer allen Nationen gemeinsamen Sprache.

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Idee des Werks

Kap. IV. Leges Aeternae [»ewige Gesetze«]: ein Ausdruck der P ­ hilosophen Grund der Beweise, die wir dort vorlegen über gewisse besondere Weisen und bestimmte erste Zeiten, wie und wann die Sitten entstanden sind, welche das gesamte Gebäude des natürlichen Rechts der Völker mit bestimmten ewigen Eigenschaften bilden, die zeigen, dass ihre Natur oder die Art und Zeit ihrer Entstehung so ist und nicht anders. Kap. V. Foedera Generis Humani [»Verträge des Menschengeschlechts«]: ein Ausdruck der Historiker

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Entwicklung der Gegenstände, in der die Nationen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten aufgrund derselben Prinzipien der Religionen und Sprachen dieselben Ursprünge, Fortschritte, Zustände, Verfall und Ende haben und sich nach und nach in der Welt des Menschengeschlechts verbreiten.

ERSTES K A PITEL

Notwendigkeit des Ziels und Schwierigkeiten der ­Mittel, eine Neue Wissenschaft zu finden I. Beweggründe für das Verfassen dieses Werks

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as natürliche Recht der Nationen ist gewiss mit den gemeinsamen Sitten derselben entstanden. Keine Nation der Welt war jemals eine Nation von Atheisten, denn alle fingen mit irgendeiner Religion an, und alle Religionen hatten ihre Wurzeln in dem Wunsch, den alle Menschen natürlicherweise haben: ewig zu leben. Dieser gemeinsame Wunsch der menschlichen Natur geht hervor aus einem auf dem Grunde des menschlichen Geistes verborgenen gemeinsamen Sinn dafür, dass die menschlichen Seelen unsterblich sind. Dieser Sinn, so geheim er auch in seiner Ursache ist, erzeugt doch offensichtlich die Wirkung, dass wir in den äußersten Todesnöten wünschen, dass es eine höhere Macht geben möge, diese zu überwinden. Diese Macht ist einzig in einem Gott zu finden, der nicht die Natur ist, sondern der Natur überlegen, das heißt in einem unendlichen und ewigen Geist. Wenn die Menschen sich von diesem Gott abwenden, sind sie neugierig auf die Zukunft. Diese von Natur aus verbotene Neugierde – denn die Zukunft ist eigentlich Sache eines Gottes, eines Unendlichen und Ewigen Geistes – gab den Anstoß für den Fall der beiden Ersten des Menschengeschlechts: Weil Gott bei den Juden die wahre Reli­ gion auf den Kult seiner Unendlichen und Ewigen Vorsehung gründete, hat er als Strafe dafür, dass seine ersten Autoren die Zukunft zu wissen begehrten, das ganze Menschengeschlecht zu Mühsal, Schmerzen und Tod verurteilt. Daher entsprangen alle falschen Religionen aus der Idolatrie oder dem Kult von Gottheiten, die phantastisch in dem falschen Glauben geschaffen wurden, dass sie Körper, ausgestattet mit der Natur überlegenen

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Erstes Kapitel

Kräften, seien, die den Menschen in ihren äußersten Nöten zu Hilfe kämen. Und die Idolatrie ist gleichzeitig mit der Divination entstanden, das heißt mit der hohlen Wissenschaft über Zukünftiges aus bestimmten sinnlichen Anzeichen, von denen man annimmt, sie seien den Menschen von den Göttern gesandt. Eine solche hohle Wissenschaft, von der die volkstümliche Weisheit aller heidnischen Nationen ihren Anfang nahm, birgt dennoch zwei große wahre Prinzipien: das eine, dass es eine Göttliche Vorsehung gibt, welche die menschlichen Dinge leitet; das andere, dass es in den Menschen einen freien Willen gibt, durch den sie, wenn sie wollen und sich bemühen, das vermeiden können, was ihnen sonst unvorhergesehen zukäme. Aus dieser zweiten Wahrheit geht hervor, dass die Menschen die Wahl haben, mit Gerechtigkeit zu leben. Dieser gemeinsame Sinn wird bewiesen durch den gemeinsamen Wunsch nach Gesetzen, den die Menschen von Natur aus haben, wenn sie nicht von der Leidenschaft irgendeines Eigeninteresses getrieben werden, diese nicht zu wollen. Dies und nichts anderes ist gewiss die Menschheit, die immer und überall ihre Angelegenheiten auf die folgenden drei gemeinsamen Einsichten des Menschengeschlechts stützte: erstens, dass es eine Vorsehung gibt; zweitens dass sichere Kinder mit sicheren Frauen gezeugt werden, mit denen zumindest die Prinzipien einer zivilen Religion gemeinsam sind, damit die Kinder von den Vätern und von den Müttern in einem Geiste erzogen werden in Übereinstimmung mit den Gesetzen und den Religionen, unter denen sie geboren wurden; drittens, dass die Toten begraben werden. Daher gab es auf der Welt nicht nur keine Nation von Atheisten, sondern auch keine, in der die Frauen nicht zur öffentlichen Religion ihrer Männer übertreten. Und wenn es keine Nationen gab, die völlig nackt herumliefen, so gab es noch weniger eine, die der Liebe nach Art der Hunde oder schamlos in der Gegenwart anderer pflegte und die nur streunende Beilager abhielt, wie es die Tiere tun. Und schließlich gibt es keine noch so barbarische Nation, welche die Leichen ihrer Angehörigen unbestattet auf der Erde verfaulen lässt. Das wäre nämlich ein frevelhafter Zustand oder ein Zustand, der gegen die gemein-



Notwendigkeit des Ziels und Schwierigkeiten der M ­ ittel 11

same Natur der Menschen sündigt. Um nicht in diesen Zustand zu verfallen, hüten alle Nationen mit unverletzlichen Zeremonien die heimischen Religionen und feiern mit erlesenen Riten und Feierlichkeiten vor allen anderen menschlichen Dingen die Eheschließungen und die Begräbnisse. Das ist die volkstümliche Weisheit des Menschengeschlechts, die mit den Religionen und mit den Gesetzen begann und die sich vervollkommnete und vollendete mit den Wissenschaften, mit den Disziplinen und mit den Künsten. II. Nachdenken über eine Neue Wissenschaft

Aber alle Wissenschaften, alle Disziplinen und Künste sind darauf ausgerichtet, die Fähigkeiten des Menschen zu vervollkommnen und zu regeln. Aber es gibt noch keine Wissenschaft, die über sichere Ursprünge der Humanität der Nationen nachgedacht hätte, aus der doch ohne Zweifel alle Wissenschaften, Disziplinen und Künste hervorgegangen sind, und die für solche Ursprünge eine gewisse ἀκμή festgestellt hätte, das heißt einen Zustand der Vollkommenheit, von dem aus man die Stufen und die Endpunkte messen könnte, über die oder innerhalb derer – wie jede andere sterbliche Sache – diese Humanität der Nationen verlaufen und enden muss; eine Wissenschaft also, von der man die Praktiken lernen könnte, wie die Humanität einer Nation diesen Zustand der Vollkommenheit aufsteigend erreichen kann und wie sie, sollte sie niedergehen, aufs neue dorthin zurückfinden kann. Dieser Zustand der Vollkommenheit bestünde einzig darin, dass die Nationen an bestimmten Maximen festhalten, die sowohl durch unveränderliche Gründe bewiesen als auch durch gemeinsame Sitten praktiziert worden sind. Mit diesen Maximen würde die verborgene, das heißt nicht allen zugäng­ liche1 Weisheit der Philosophen der volkstümlichen Weisheit der Natio­nen die Hand reichen und sie stützen. Und solchermaßen 1

 Das italienische Wort für »verborgen« ist riposto, s. dazu die Einleitung des Übersetzers.

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Erstes Kapitel

würden die bekanntesten Gelehrten der Akademien mit allen Weisen der Republiken übereinstimmen. Und die Wissenschaft von den zivilen göttlichen und menschlichen Dingen, das heißt die Wissenschaft von der Religion und von den Gesetzen, die eine Theologie und eine vorgegebene Moral sind, die man durch Gewohnheiten erwirbt, würde unterstützt durch die Wissenschaft von den natürlichen göttlichen und menschlichen Dingen, die eine Theologie und eine vernünftige Moral sind, die man durch rationale Überlegungen erwirbt. Daher wäre ein Austreten aus solchen Maximen der wahre Irrtum oder geradezu wie ein nicht mehr menschliches, sondern tierisches Herumirren. III. Ermangelung einer solchen Wissenschaft wegen der Maximen der Epikureer und der Stoiker und wegen der Praktiken Platons 12

Aber die Epikureer und die Stoiker entfernen sich leider nicht nur auf unterschiedlichen, sondern auf geradezu entgegengesetzten Wegen von der volkstümlichen Weisheit und lassen sie hinter sich. Die Epikureer, weil sie lehren, dass der Zufall die menschlichen Dinge blind regiert, dass die menschlichen Seelen mit den Körpern sterben, dass die Sinne des Körpers, weil sie nichts anderes sind als Körper, die Leidenschaften durch Lust regeln müssen und dass die Nützlichkeit, die sich doch jede Stunde verändert, die Regel der Gerechtigkeit sei. Die Stoiker dagegen, weil sie verkünden, dass eine schicksalhafte Notwendigkeit alles, auch den menschlichen Willen, mitreißt, geben den menschlichen Seelen nach dem Tod ein Leben auf Zeit. Und obwohl sie predigen, dass es eine ewige und unveränderliche Gerechtigkeit gibt und dass die Ehrlichkeit die Norm der menschlichen Handlungen sein soll, machen sie doch die Humanität zunichte, wenn sie diese gänzlich von den Leidenschaften freihalten. Und sie bringen die Menschen zur Verzweiflung, ihre Tugend jemals praktizieren zu können, mit ihrer Maxime, die viel härter ist als Eisen, dass alle Sünden gleich seien und dass man ebenso viel sündigt, wenn man einen Sklaven ein wenig mehr als verdient



Notwendigkeit des Ziels und Schwierigkeiten der M ­ ittel 13

schlägt, wie wenn man seinen Vater tötet. So wie die Epikureer mit ihrer immer sich verändernden Nützlichkeit das erste und hauptsächliche Fundament dieser Wissenschaft ruinieren, nämlich die Unveränderlichkeit des natürlichen Rechts der Völker, so verbannen die Stoiker mit ihrer eisernen Strenge dessen milde Interpretation, welche die Interessen und die Strafen nach den berühmten drei Graden der Schuld reguliert. So sehr stimmen die Sekten dieser Philosophen mit der römischen Jurisprudenz überein, dass die eine deren Maximen zerstört und die andere die wichtigste Praxis ihrer Prinzipien ablehnt !2 Nur der göttliche Platon hat eine verborgene Weisheit erdacht, die den Menschen nach Maximen leitet, die er von der volkstümlichen Weisheit der Religion und der Gesetze gelernt hat. Denn er ist ganz der Vorsehung und der Unsterblichkeit der menschlichen Seelen verpflichtet, er setzt die Tugend in die Mäßigung der Leidenschaften, er lehrt, dass man, gerade als Pflicht des Philosophen, in Übereinstimmung mit den Gesetzen leben muss, auch wenn diese aus irgendeinem Grund äußerst streng sein sollten, gemäß dem Beispiel, das sein Lehrer Sokrates mit seinem eigenen Leben gab, als er, obgleich unschuldig, als schuldig Verurteilter der Strafe Genüge leisten und den Schierlingsbecher nehmen wollte. Platon aber verlor die Vorsehung aus dem Blick, als er durch einen gewöhnlichen Irrtum des menschlichen Geistes, sich selbst zum Maßstab für die unbekannte Natur der anderen zu machen, die barbarischen und rohen Ursprünge der heidnischen Menschheit in den vollkommenen Stand seiner höchsten verborgenen göttlichen Erkenntnisse erhob, wo er doch gerade umgekehrt von seinen Ideen aus zu jenen Tiefen hätte hinabsteigen müssen. Und so will er uns mit einer gelehrten Verblendung, in der man ihm bis heute folgt, beweisen, dass die ersten Autoren der heidnischen Menschheit zutiefst von verborgener Weisheit erfüllt gewesen seien, wo sie doch als Menschengeschlechter ohne Frömmigkeit und Gesittung, wie es vor Zeiten die Geschlechter von Ham und Japhet gewesen sein mussten, nichts anderes gewesen sein konnten als große Tiere, stumpf und voller 2

 Das Ausrufezeichen ist bei Vico auch ein Ironiezeichen.

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Erstes Kapitel

Wildheit. Infolge dieses gelehrten Irrtums hat er, statt die Ewige Republik und die Gesetze einer Ewigen Gerechtigkeit zu ent­ wickeln, mit denen die Vorsehung die Welt der Nationen geordnet hat und nach den gemeinsamen Bedürfnissen des Menschengeschlechts regiert, eine Ideale Republik und eine ebenso Ideale Gerechtigkeit ausgedacht, von denen aus die Na­tio­nen sich nicht nur nicht auf den gemeinsamen Sinn des ganzen Menschengeschlechts stützen und sich diesem gemäß verhalten können, sondern sich sogar davon abwenden und entwöhnen mussten, wie zum Beispiel bei jenem in seiner Politeia gebotenen Recht, dass die Frauen Gemeinbesitz sein sollen. IV. Eine solche Wissenschaft errichten wir auf der Auffassung des ­ atürlichen Rechts der Völker, wie sie die römischen Juristen hatten n 14

Aus allen diesen Gründen wäre die Wissenschaft, die wir hier anstreben, eine Wissenschaft vom natürlichen Recht der Völker, wie es die römischen Juristen definieren, die es von ihren Vorfahren empfangen haben: ein von der Göttlichen Vorsehung befohlenes Recht aus den Geboten menschlicher Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten, das bei allen Nationen gleichermaßen eingehalten wird. V. Ermangelung einer solchen Wissenschaft wegen der Systeme des Grotius, des Selden und des Pufendorf

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Es traten in unseren Zeiten drei berühmte Männer hervor: Hugo Grotius, Johannes Selden und Samuel Pufendorf 3 (von denen Grotius der erste war), die alle drei ein eigenes System des natürlichen Rechts der Nationen entwickelt haben. Boeckler, van der 3

  Hugo Grotius, De iure belli ac pacis, Paris 1625.  – John Selden, De iure naturali et gentium, iuxta disciplinam Ebraeorum, London 1640. – Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium, London 1672.



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Meulen und andere sind nur Kommentatoren des Systems von Grotius. Die drei Fürsten dieser Lehre irrten nun alle drei darin, dass keiner daran dachte, das Recht auf die Göttliche Vorsehung zu gründen. Das ist nicht ohne Affront gegen das Christentum, wo doch sogar die römischen Juristen mitten im Heidentum das große Prinzip der Göttlichen Vorsehung anerkannten. Wegen des allzu großen Interesses, das er an der Wahrheit hat, lehrt daher Grotius – mit einem Irrtum, den man ihm weder in dieser Materie noch in der Metaphysik verzeihen darf –, dass sein System auch abseits von jeder Kenntnis Gottes hält und fest steht, wo doch ohne Glauben an eine Gottheit die Menschen sich niemals zu einer Nation zusammengefunden hätten. Und wie man von den physischen Dingen oder von den Bewegungen der Körper keine sichere Wissenschaft haben kann ohne die Führung der abstrakten Wahrheiten der Mathematik, so kann man auch von den moralischen Dingen keine Wissenschaft haben ohne die Begleitung der abstrakten Wahrheiten der Metaphysik und also ohne den Beweis Gottes. Darüber hinaus setzt er als Sozinianer, der er war,4 den ersten Menschen als gut und nicht böse voraus, mit den Eigenschaften des Einsamen, Schwachen und völlig Bedürftigen. Und erst als der Mensch sich des Übels der bestialischen Einsamkeit bewusst geworden sei, sei er zur Gesellschaft übergegangen. Und folglich sei das erste Menschengeschlecht eines aus einsamen Einfältigen gewesen, die zum gesellschaftlichen Leben übergegangen sind, weil es ihnen die Nützlichkeit befahl, was ja gerade die Hypothese von Epikur ist. Danach kam Selden, der wegen der allzu großen Bewunderung, die er für die jüdische Gelehrsamkeit hegte, die er ausgezeichnet kannte, die wenigen Gebote, die Gott den Kindern Noahs gab, zu Prinzipien seines Systems machte. Von einem von ihnen, von Sem (um hier nicht von den Einwänden zu berichten, die Pufendorf dagegen erhebt), der allein in der wahren Religion des Gottes Adams verblieb, leitete er – statt eines mit den Stämmen des Ham und des Japhet gemeinsamen Rechts – ein so 4

 Der Sozinianismus war eine antitrinitarische Glaubensrichtung des 16. und 17. Jahrhunderts, benannt nach Lelio und Fausto Sozzini.

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eigenes Recht ab, dass davon die berühmte Trennung zwischen den Heiden und den Juden herrührte, die bis zu deren letzten Zeiten andauerte, in denen Cornelius Tacitus die Juden »ungesellige Menschen« nannte. Von den Römern vertrieben, leben sie in beispielloser Verstreuung unter den Nationen, ohne diesen anzugehören. Pufendorf schließlich vertritt, obgleich er die Vorsehung berücksichtigen möchte und sich darum bemüht, doch eine ganz epikureische oder – was hierbei dasselbe ist – Hobbes’sche Hypothese, nämlich dass der Mensch in diese Welt geworfen ist ohne göttliche Sorge und Hilfe. Daher müssen sowohl die Grotius’schen Einfältigen als auch die Pufendorf ’schen Verlassenen mit den lasterhaften Gewalttätern des Thomas Hobbes übereinstimmen, von denen dieser in De Cive lehrt, 5 dass sie keine Gerechtigkeit kennen und nur der Nützlichkeit folgen. So sehr sind also die Hypothesen von Grotius und Pufendorf geeignet, das unveränderliche Naturrecht zu begründen ! Nun, da keiner der drei bei der Aufstellung seiner Prinzipien die Vorsehung beachtete, entdeckte auch keiner der drei die wahren und bisher verborgenen Ursprünge der Teile, welche das gesamte Gebäude des natürlichen Rechts der Völker bilden, als da sind: Religionen, Sprachen, Sitten, Gesetze, Gesellschaften, Regierungen, Besitzverhältnisse, Handel, Stände, Herrschaften, Gerichtswesen, Strafen, Kriege, Frieden, Kapitulationen, Sklaverei, Bündnisse. Und weil sie deren Ursprünge nicht entdeckt haben, geraten sie alle drei gleichermaßen in die folgenden drei schweren Irrtümer: Der erste Irrtum ist, dass sie jenes Naturrecht, das sie auf vernünftige Maximen von Moralphilosophen und Theologen und teilweise von Juristen gründen, da es ja in der Tat in seiner Idee ewig ist, so betrachten, als wäre es niemals zusammen mit den Sitten der Nationen praktiziert worden. Und sie haben nicht bemerkt, dass das natürliche Recht, das die römischen Juristen viel besser kannten als sie, vor allem weil sie es als von der Göttlichen Vorsehung befohlen ansehen, ein natürliches Recht ist, das 5

 Thomas Hobbes, Elementorum philosophiae sectio tertia de cive, Paris 1642.



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mit den Sitten der Nationen entstanden ist. Und dass es bei allen darin ewig ist, dass es aus denselben Ursprüngen stammt wie die Religionen, dass es durch bestimmte Epochen – »Zeiten-Sekten« [sectae temporum], wie die Juristen sie oft nennen6 – bei allen Nationen durch dieselben Stufen fortschreitet und an einem bestimmten Endpunkt der Klarheit ankommt, an dem ihm für die Vervollkommnung seines Zustands nichts anderes mehr fehlt, als dass eine Schule von Philosophen es vollendet und es mit Maximen über die Idee einer Ewigen Gerechtigkeit befestigt. Bei allem, was Grotius bei den römischen Juristen in so vielen einzelnen Hinsichten oder Fällen dieses Rechts glaubt kritisieren zu müssen (viel zu oft, als es einem Philosophen ziemt, der doch über die Prinzipien der Dinge nachdenken soll), gehen daher seine Schläge ins Leere. Denn die römischen Juristen verstanden sich auf das natürliche Recht der Nationen, wie es in ihren Zeiten praktiziert wurde, und Grotius versteht sich nur auf das natürliche Recht, wie es von der Sekte der Moralphilosophen aus Vernunftgründen entwickelt wurde. Der zweite Irrtum ist der, dass die Autoritäten, mit denen jeder sein System absichert (in ihrer Fülle scheint mir Grotius zu übertreiben, der den beiden anderen an Gelehrsamkeit überlegen war), keinerlei Wissenschaft und Notwendigkeit mit sich bringen, jedenfalls diejenigen über die Anfänge der historischen Zeit, die wegen der Barbarei bei allen Nationen allzu sehr mit Mythen verkleidet ist, mehr noch diejenigen über die mythische Zeit und vor allem diejenigen über die dunkle Zeit. Denn sie bedachten nicht, bei welchen Gelegenheiten menschlicher Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten und auf welche verschiedenen Weisen, alle in ihren jeweiligen Zeiten, die Göttliche Vorsehung die Universelle Republik des Menschengeschlechts auf der Idee ihrer Ewigen Ordnung errichtete; und wie sie dort ein Universelles und Ewiges Recht diktierte, das bei allen Nationen gleichförmig ist, wie sehr sie auch jeweils in äußerst verschiedenen Zeiten entstanden sind, weil überall dieselben menschlichen Notwendigkeiten gegeben sind, derentwegen das Recht gleichbleibende 6

 Zu den sectae temporum s. Einleitung.

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Ursprünge und Fortschritte hat. Infolge dessen haben sie nicht gewusst, dass sie, um die angeführten Autoritäten mit sicherem Wissen zu nutzen, unbedingt definieren müssten, welches natürliche Recht der Völker denn zum Beispiel zu Zeiten des den Römern gegebenen Zwölftafelgesetzes galt, damit sie mit sicherem Wissen hätten erkennen können, was das römische Recht mit den anderen Nationen jener Zeiten gemeinsam und was es Eigenes hatte; oder welches natürliche Recht der Völker zu Zeiten des Romulus galt, um mit sicherem Wissen zu erkennen, welches natürliche Recht der anderen Gentes Latiums er in seiner neuen Stadt angenommen und was er an Besonderem angeordnet hatte. Dann hätten sie bemerkt, dass die in Rom von Romulus bis zu den Dezemvirn geltenden römischen Sitten, die in den zwölf Tafeln festgelegt sind, insgesamt das Recht der Gentes gewesen sind, das in jener Epoche in Latium galt, und dass das eigentliche römische Recht die Formeln mit den Interpretationen waren, die zu diesem Gesetz hinzugefügt wurden. Dieses wurde daher »ziviles Recht« genannt, also eigentlich Recht der römischen c­ives [Bürger], nicht so sehr, wie man bisher geglaubt hat, wegen seiner Exzellenz, sondern wegen seiner Besonderheit, wie wir in einem unserer anderen schon gedruckten Werke gezeigt haben.7 Der dritte und letzte gemeinsame Irrtum ist, dass sie das natürliche Recht der Völker nicht einmal zur Hälfte behandeln; denn sie handeln überhaupt nicht von dem, was jeweils Besonderes zur Bewahrung der Völker gehört, sondern nur von dem, was die Bewahrung des ganzen Menschengeschlechts insgesamt angeht. Wo doch das natürliche Recht, das jeweils als besonderes in den Städten eingeführt wurde, auch das gewesen sein muss, was die Völker daran gewöhnte und dazu disponierte, dass sie bei den Gelegenheiten, wo sie sich gegenseitig kennenlernten, fanden, dass sie einen gemeinsamen Sinn hätten, ohne dass die eine Nation irgendetwas von der anderen gewusst hätte, und aufgrund dessen sie Gesetze gaben und empfingen, die ganz ihrer menschlichen Natur gemäß waren. Und mit einem solchen gemeinsamen Sinn erkannten sie die Gesetze als von der Vorse7

  De uno, CX– CXVIII .



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hung diktiert und verehrten sie daher in der richtigen Meinung, dass diese von Gott gegebene Gesetze wären. VI. Gründe, warum diese Wissenschaft bis jetzt bei den Philosophen und bei den Philologen gefehlt hat

Der unglückliche Grund hierfür ist gewesen, dass uns bisher eine Wissenschaft gefehlt hat, die gleichzeitig Geschichte und Philosophie der Menschheit ist. So haben die Philosophen nur über eine menschliche Natur nachgedacht, die schon von den Religionen und den Gesetzen zivilisiert war, aus denen sie – und aus nichts anderem – als Philosophen hervorgegangen waren. Und sie haben nicht über jene menschliche Natur nachgedacht, aus der die Religionen und die Gesetze hervorgegangen sind, aus deren Mitte sie als Philosophen hervorgingen. Die Philologen andererseits haben wegen des üblichen Schicksals des Altertums, dass es bei allzu großer Entfernung von uns aus dem Blick gerät, die volkstümlichen Überlieferungen so entstellt, zerfetzt und verstreut weitergegeben, dass man, wenn man ihr richtiges Aussehen nicht wiederherstellt, die Teile nicht mehr zusammen­ fügen und sie nicht mehr ihren eigentlichen Orten zuordnen kann. Wer darüber mit einiger Ernsthaftigkeit nachdenkt, dem scheint es in der Tat unmöglich, dass die Überlieferungen nur aus den Allegorien, die man ihnen angehängt hat, entstanden sein sollen und nicht aus den volkstümlichen Gefühlen, mit denen sie uns seit langer Zeit durch die Hand roher und schriftunkundiger Völker zugekommen sind. Diese Überlegung lässt uns mit Sicherheit behaupten, dass die Mythen, von denen die ganze heidnische Geschichte ihren Anfang nimmt, nicht von theologischen Poeten auf einmal erfunden werden konnten, die man sich seit Platon bis in unsere Zeiten, das heißt bis zu des berühmten Bacon Lord Verulam De sapientia veterum 8, als individuelle, von verborgener Weisheit erfüllte 8

  Francis Bacon, De sapientia veterum, London 1609.

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und poetisch begabte Männer vorgestellt hat, als erste Autoren der heidnischen Menschheit. Aber volkstümliche Theologie ist nichts anderes als Meinungen des Volkes über die Gottheit. Die theologischen Poeten sind daher also Menschen gewesen, die Gottheiten mit ihrer Phantasie geschaffen haben. Wenn jede heidnische Nation ihre eigenen Götter hatte und wenn alle Nationen mit irgendeiner Religion begonnen haben, so sind sie alle von theologischen Poeten gegründet worden, das heißt von Männern aus dem Volk, die ihre Nationen auf falschen Religionen gegründet haben. Diese Prinzipien der Theologie der Heiden sind den Nationen eigentümlicher als die Ideen, welche die von ihnen herrührenden Wörter erzeugen. Sie entsprechen nämlich den Anfängen der ursprünglich ganz barbarischen Nationen besser als die großartigen und glänzenden Anfänge, wie sie sich Voss De theologia gentilium9 im Gefolge aller Mythologen vorstellt, die zuvor darüber nachgedacht haben. Denn ehrgeizige Männer, welche die Herrschaft in ihren Städten anstreben, bahnen sich den Weg dorthin, indem sie der Menge schmeicheln und sie mit Trugbildern und Vorspiegelungen von Freiheiten loben; und das müssen sie bei schon zivilisierten und an die Knechtschaft der Gesetze und an schlechte Regierung gewöhnten Menschen tun, die sie zu Herrschenden machen. Und wir wollen glauben, dass völlig wilde Menschen, die in ungehemmter Freiheit geboren und an diese gewöhnt sind (um andere, an anderer Stelle gezeigte unüberwindliche Schwierigkeiten10 einmal beiseitezulassen), auf den Klang der Leier hin und indem man ihnen skandalöseste Geschichten von den Göttern singt – vom ehebrecherischen Jupiter, von der hurenden und gebärenden Venus, von der sehr keuschen, kinderlosen und von ihrem Ehemann Jupiter schlecht behandelten Ehefrau Juno und von anderen unsäglichen Schmutzigkeiten (solche göttlichen Vorbilder hätten die Menschen ja eher in ihrer ursprünglichen Bestialität bestärkt) –, dass   Gerhard Johannes Voss, De theologia gentili et physiologia christiana, Amsterdam 1642. Vico bezieht viele seiner Etymologien aus dem Etymologicon linguae latinae, Amsterdam 1662, von Voss. 10  De uno, LX XV. 9



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diese sich deswegen entschieden hätten, ihre Natur zu überwinden und von der tierischen Brunst zur Schamhaftigkeit der Ehen überzugehen, mit denen doch, wie alle Philosophen übereinstimmend sagen, die erste menschliche Gesellschaft begonnen hat ? VII. Jenseits der Notwendigkeit des Glaubens ist es eine menschliche ­Notwendigkeit, die Prinzipien dieser Wissenschaft von der Heiligen Geschichte her zu überdenken

Daher also, weil alle heidnischen Geschichten ähnliche mythische Anfänge haben – wie die römische, die für die Römer mit der Vergewaltigung einer Vestalin beginnt,11 bei denen die Vergewaltigung einer Vestalin dann später die Ursache einer großen Niederlage war –, daher also geben wir die Hoffnung auf, den ersten gemeinsamen Anfang der Humanität bei den, angesichts des Alters der Welt, jüngeren Angelegenheiten der Römer zu fi ­ nden oder bei denen der anmaßenden Griechen oder bei den, wie ihre Pyramiden, ruinenhaften Dingen der Ägypter oder schließlich bei den völlig dunklen Geschichten des Orients, und suchen ihn bei den Anfängen der Heiligen Geschichte. Und dass wir das tun müssen, darin bestätigen uns die Philologen, die wegen des Alters dieser Geschichte alle darin übereinstimmen, dass diese, auch weil sie ein menschheitlicher Glaube ist, älter ist als die mythische Geschichte der Griechen. Dieses allgemein verbreitete Urteil der Philologen wird von uns noch durch folgenden Beweis bestätigt: dass die Heilige Geschichte nämlich viel ausdrücklicher, als es alle heidnischen Geschichten tun, vom Anfang der Welt als einem Naturzustand erzählt oder als einer Zeit der Familien, die von den Vätern unter Gottes Führung regiert wurden, einer Zeit, die man seit Philon eleganterweise ϑεοκρατία nennt. Diese Zeit war gewiss der erste Zustand der Welt, weil – worin gemeinhin auch alle Philosophen über11

 Romulus und Remus, die sagenhaften Gründer Roms, sind die Frucht der Vergewaltigung der Vestalin Rhea Silvia durch den Kriegsgott Mars.

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einkommen, wenn sie von den Prinzipien der Politik oder vom Grund der Regierungen handeln – alle Städte sich auf diesen Zustand der Familien gründeten. Und dann berichtet uns die Heilige ­Geschichte wegen der beiden Knechtschaften, die die Juden erleiden mussten, auch mit größerem Ernst als die Griechen über das Altertum der Ägypter und der Assyrer. Und ohne jeden Zweifel gingen die Nationen aus dem Orient hervor und verbreiteten sich von dort, um die ganze Erde zu bevölkern, wohin sie sich auf denselben Wegen begeben mussten, auf denen die an den Gott Adams Glaubenden in die Gottlosigkeit gegangen waren. Wie also die erste Monarchie in der Geschichte in Assyrien erscheint, so erscheinen in Assyrien auch die ersten Weisen der Welt: die Chaldäer. VIII. Schwierigkeit, den Fortschritt oder die Fortdauer der Geschichte zu finden 26

Aber wie gelangten jene Gottlosen denn aus der Gottlosigkeit in den Zustand der Menschen, die Grotius als einsam und daher als schwach und gänzlich bedürftig annimmt, oder gar in den Zustand der Hobbes’schen Menschen, in dem allen alles gegen alle erlaubt war, oder auch in den Zustand der Pufendorf ’schen Menschen, die in diese Welt geworfen und allein gelassen wurden ohne die Sorge und Hilfe Gottes (welches Prinzip der christliche Philosoph und Philologe aber eigentlich annehmen muss und das, weil christlich, nicht als Hypothese, sondern als Faktum gegeben ist) ? Und wie erhoben sie sich denn dann mit ihren falschen Religionen aus ihrer viehischen Freiheit zu einem zivilen Leben ? Das in der Art und Weise zu finden, wie die Welt der heidnischen Nationen begann, daran hindert uns die Natur dieser alten Zeit, die bei allen ihren Angelegenheiten ihre Ursprünge verbirgt. Denn so ist es nun einmal von der Natur eingerichtet, dass die Menschen zuerst Dinge mit einem bestimmten menschlichen Sinn gemacht haben, ohne auf sie achtzuhaben, und erst danach, und zwar sehr viel später, die Reflexion auf sie



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angewendet haben und, indem sie über die Wirkungen nachdachten, ihre Ursachen betrachtet haben. IX. sowohl bei den Philosophen …

Daher kann man sich im Wesentlichen nur zwei Arten vorstellen, wie die Welt der heidnischen Nationen begonnen hat: entweder durch einige weise Männer, die sie verstandesmäßig eingerichtet haben, oder dadurch, dass tierartige Menschen sich durch einen gewissen menschlichen Sinn zusammengetan haben. Aber an der ersten Auffassung hindert uns das Wesen der Anfänge, die in allen Dingen einfach und roh sind. Und einfach und roh müssen die Anfänge der heidnischen Menschheit gewesen sein, aus der die Zoroaster, Hermes Trismegistos oder Orpheus hervorgegangen sind, auch wenn man bisher geglaubt hat, diese seien voll höchster verborgener Weisheit gewesen und hätten mit dieser die Humanität der Assyrer, der Ägypter und der Griechen begründet. Über diese Anfänge war nachzudenken (wenn man nicht, wie man es nicht soll, an die Ewigkeit der Welt glauben will), um die Wissenschaft von der Menschheit oder der Natur der Nationen auf gewisse erste Prinzipien zu gründen, jenseits welcher es töricht wäre, neugierig weitere erste Prinzipien zu suchen, was die wahre Eigenart von Wissenschaft ist. Weder die Orakel, die man Zoroaster zuschreibt, noch die Orphischen Dichtungen, die als von Orpheus gemacht ausgegebenen Verse, zwingen uns dazu, Männer für deren Autoren zu halten, welche die Begründer der Humanität ihrer Nationen waren. Außer den zahlreichen und schweren Zweifeln, die wir ­anderswo daran geäußert haben 12 – unter anderem wegen der großen Schwierigkeit und der langen Zeit, die es dauerte und die in den schon gegründeten Nationen ablief, um die Sprachen zu bilden, wie man in diesem Buch sehen wird –, kann man nämlich nicht verstehen, dass eine Sprache abstrakte Dinge durch 12

  De uno, CLX X XIII .

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andere abstrakte Termini erklärt, außer wenn sie von einer Nation stammt, in der es über eine sehr lange Zeit erfahrene Philosophen gab. Das beweist die lateinische Sprache, die, weil sie erst sehr spät auf die rationalen griechischen Philosophien hörte, in der Tat arm ist und sich nur höchst unglücklich über Wissenschaftliches ausdrücken kann. Daher drängt sich uns als ein gewichtiges Argument auf, dass auch Moses keinen Gebrauch machte von der verborgenen Wissenschaft der Priester Ägyptens; denn er webte seine ganze Geschichte aus Wörtern, die viel Ähnlichkeit mit denjenigen Homers haben, den wir in die Zeiten des Königs Numa 13 einordnen und der also erst ungefähr achthundert Jahre später kam. Und oft übertrifft er die Priester in der Erhabenheit des Ausdrucks, gleichzeitig aber versteckt er auch Bedeutungen, die in der Erhabenheit ihres Sinns jede Meta­physik übertreffen, wie in jenem Satz, mit dem Gott sich dem Moses darstellt: »sum qui sum«, an dem Dionysius Longinus, der Fürst der Kritiker, die ganze Erhabenheit des poetischen Stils bewundert. Aber Griechenland musste erst zu seiner größten kulturellen Blüte kommen, und aus dem kultivierten Griechenland musste Platon hervorgehen, um die ganze metaphysische Erhabenheit zu jener abstrakten Idee zu erheben, dass er, wo er Gott meint, τὸ ὄν oder ens sagt. Diese Idee erschließt sich aber den Lateinern so spät, dass dieses Wort nicht rein lateinisch ist, sondern aus der späten Latinität stammt, das heißt aus jenen Zeiten, in denen man bei den Römern griechische Metaphysik betrieb. Diese Gegenüberstellung ist ein unwiderlegbarer Beweis für das Alter und die Wahrheit der Heiligen Geschichte. Aus diesen Gründen muss man auch vermuten, dass ähnliche Verse von den letzten griechischen Metaphysikern erfunden worden sind, denn sie enthalten keinesfalls mehr als das, was Platon oder Pythagoras über die Gottheit gedacht haben. Das muss uns lehren, dass dem menschlichen Wissen Grenzen gesetzt sind und dass der Wunsch nach der Entdeckung der Weisheit der Alten eitel ist. Denn diese Verse erweisen sich als in demselben Stil geschrieben, in dem das Carmen aureum des Pytha­goras gehalten 13

 Numa war der zweite König von Rom.



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ist, das aber wohl andere fabriziert haben, um ihre Lehre mit dem Alter und mit der Religion zu beglaubigen. Denn wenn man jene Verse mit dem Platonischen Gesang über die Liebe von Geronimo Benivieni vergleicht, der von Gian Pico della Mirandola kommentiert worden ist, so ist dieser doch viel poetischer. Jene Verse schmecken doch sehr nach Schule ! Aus all diesem schließen wir, dass sie Fälschungen der Gelehrten gewesen sind, als welche man ja auch den Trismegistos und den Berossos des ­A nnius aufgedeckt hat. Daher, weil die Art dieser Sprachen es nicht zulässt und die Kritik es uns versagt, gibt es auch keine Notwendigkeit, über diese Verse zu behaupten, dass die Gründer der heidnischen Nationen im Besitz verborgener Weisheit gewesen wären. Und folglich denken wir auch nicht über die Anfänge der Menschheit der Nationen mit den Gründen nach, welche bisher die Philosophen – von Platon an – angeführt haben. Vielleicht weil er die Welt als ewig betrachtete, setzte Platon seine eigene Zeit voraus, also dass die Philosophen anderer zivilisierter Nationen das Menschengeschlecht schon gezähmt hätten, wo es doch in anderen Gegenden noch ganz wild war. Das veranlasste vielleicht die Gelehrten dazu, sich die Abfolge der Schulen auszudenken, also dass Zoro­aster den Berossos gelehrt habe, der Berossos den Trismegistos, der Trismegistos den Atlas, der Atlas den Orpheus. Und die christlichen Kritiker, denen Selden folgt (und unter denen Pierre Daniel Huet zwar der letzte in der Zeit ist, aber in der Demon­stratio evangelica 14 hinsichtlich der Gelehrsamkeit keinem nachsteht), lassen die Gründer der heidnischen Nationen ganz gelehrt aus der Schule von Noah hervorgehen. Diese Meinungen weisen wir im folgenden Abschnitt als völlig unbegründet nach. Hier sagen wir nur, dass Platon, der allzu leichtgläubig der volkstümlichen Tradition Griechenlands folgt, nicht bedachte, dass er damit die Humanität aus Thrakien hervorgehen lässt, aus dem doch eher der grausame Mars stammt. Thrakien war so wenig ein Land, das Philosophen hervorbrachte, dass es bei den Griechen ein Sprichwort (das ja ein öffentliches Urteil einer ganzen 14

 Pierre Daniel Huet, Demonstratio evangelica, Paris 1679.

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Nation ist) gab, das mit dem Wort »Thraker« einen Menschen mit dumpfem Geist bezeichnete. Dies alles soll gegen Platon und die ganze heidnische Philosophie als philologischer Beweis dafür gelten, dass die Religion der Juden gleichzeitig mit der Erschaffung der Welt durch den wahren Gott begründet wurde. X. … als auch bei den Philologen 32

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Da wir nun also die weisen Männer beiseitelassen können, so bleiben uns nur die Tiermenschen, die, wie Grotius und Pufendorf annehmen, die ersten Menschen sind, mit denen die heidnische Menschheit begonnen hat. Da wir den Gründen nicht folgen können, die die Philosophen vorgebracht haben, so wären wir nun gezwungen, den Autoritäten zu folgen, die die Philologen angeführt haben, unter welchem Namen wir hier Dichter, Historiker, Redner, Grammatiker verstehen, von denen man die letzteren gewöhnlich »Gelehrte« nennt. Aber es gibt nichts, das in so viele Zweifel und Dunkelheiten gehüllt ist wie der Ursprung der Sprachen und der Anfang der Verbreitung der Nationen. Aus solcher Ungewissheit resultiert, was auch alle Philo­logen offen zugeben, dass die heidnische Universalgeschichte weder einen sicheren Anfang noch eine sichere Fortdauer oder eine bestimmte Kontinuität mit der heiligen Geschichte hat. Denn mit Rom hat die Welt bestimmt nicht angefangen, es war ja eine neue Stadt, gegründet inmitten einer großen Zahl kleiner älterer Völker in Latium. Und Titus Livius distanziert sich in der Vorrede15 davon, als Bürge für die Wahrheit der ganzen alten römischen Geschichte einzustehen, und er gesteht im Buch offen, dass er die römische Geschichte erst von den Punischen Kriegen an mit mehr Wahrheit schreiben kann, und offen gibt er zu, nicht 15

 Von Ab urbe condita. Titus Livius ist die Hauptquelle für Vicos Rekon­ struktion der »sicheren« römischen Geschichte, so wie Homer die Quelle für die heroische und Hesiod, Ovid und Homer die Quellen für die göttliche Geschichte sind.



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einmal zu wissen, von welcher Seite der Alpen denn Hannibal den großen und memorablen Einzug nach Italien vollbracht hat, über die Cotti’schen Alpen oder über den Apennin. Die Griechen, von denen wir doch alles haben, was wir über das Altertum wissen, waren extrem unwissend über ihr eigene Vergangenheit. Dafür gibt es drei schwerwiegende Beweise, zwei in Bezug auf Homer, den ersten sicheren griechischen Autor und den ersten sicheren Vater der ganzen griechischen Gelehrsamkeit. Der erste Beweis ist das öffentliche Bekenntnis aller griechischen Völker, dass sie Homers Heimat nicht kennen und dass sie alle ihn als ihren Bürger haben wollen, wenn auch schließlich der lange Streit zugunsten Smyrnas ausgegangen ist. Der zweite ist ein anderes öffentliches Bekenntnis aller Philologen, deren Meinungen über das Zeitalter, in dem Homer lebte, so verschieden sind, dass sich die Differenz auf vierhundertsechzig Jahre berechnet zwischen denen, die ihn der Zeit des Trojanischen Krieges zuordnen, und denen, die ihn dagegen den Zeiten Numas zuordnen wollen. Diese große Unkenntnis über den hochberühmten Homer lassen uns den eitlen und doch so wertlosen Fleiß der Kritiker bemitleiden, die nicht nur grob die Länder, sondern ganz genau die Felsen und die Brunnen, nicht nur die Jahrhunderte und die Jahre, sondern genau die Monate und Tage bestimmen wollen, wann und wo die Ereignisse der letzten und dunkelsten Vorzeit stattgefunden haben sollen. Der dritte Beweis ist ein Zeugnis des Thukydides, des ersten wirklichen und ernsthaften Historikers Griechenlands, der uns zu Beginn seiner Geschichte bestätigt, dass die Griechen seiner Zeit bis zur Epoche ihrer Väter nichts von ihren eigenen Vorzeiten wüssten – und das zur glanzvollsten Zeit Griechenlands in seinen beiden Staaten Sparta und Athen, das heißt zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs, dessen Zeitgenosse der Schriftsteller Thukydides war, zwanzig Jahre bevor den Römern das Zwölftafelgesetz gegeben wurde. Es ist daher nicht schwer zu verstehen, dass die Griechen bis zu diesen Zeiten von fremden Dingen schon gar nichts oder wenig wussten. Gewiss behalten die ersten Nationen lange Zeit vieles von ihrem wilden Ursprung bei und sind folglich nicht daran gewöhnt,

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über ihre Grenzen hinauszugehen, außer wenn sie von Beleidigungen provoziert oder durch Unrecht dazu gedrängt werden. Dass dem so ist, beweist die Ursache des Tarentinischen Krieges: Die Tarenter beschimpften die römischen Schiffe, als diese sich ihrem Gestade näherten, und ebenso auch die Botschafter, weil sie diese für Seeräuber hielten. Und sie entschuldigten sich dafür, als sie – nach Florus – sagten, dass sie nicht wussten, wer diese wären und woher diese kämen, »qui essent aut unde venirent, ignorabant«. Und das bei einer so kurzen Entfernung innerhalb Italiens wie der zwischen Tarent und Rom, wo doch die Römer schon ein mächtiges Reich auf dem Land hatten und mit ihren Flotten das ganze Tyrrhenische Meer befuhren und nun die Adria in Angriff nahmen ! Aber mehr noch als ein einzelnes Volk bestätigen uns ganze Nationen diese uralte Sitte, wie die Nationen Hispaniens, die weder der wilde Brand von Sagunt, der Hannibal so große Schwierigkeiten bereitete, noch die lange, heldenhafte Verteidigung von Numantia, welche die Römer in Erstaunen gesetzt hatte, dazu bringen konnte, sich zu einem Bündnis gegen ihre Feinde zu vereinigen. Damit gaben sie den römischen Historikern Gelegenheit, ihre unglückliche Tugend zu preisen, nämlich dass »die Hispanier ihre unbesiegten Kräfte erst erkannten, nachdem sie besiegt worden waren«. Dieses öffentliche Zeugnis ganzer Völker bekräftigt ganz entschieden auch das private Urteil des Livius über die volkstüm­ liche Überlieferung, dass Pythagoras der Lehrer des Numa gewesen sei. Obwohl Livius den Pythagoras den Zeiten von Servius Tullius16 zuordnet, also einhundertfünfzig Jahre vor dem Tarentinischen Krieg, so urteilt er doch, dass es in jenen Zeiten unmöglich gewesen sei, dass Pythagoras selbst oder auch nur sein Name – auch wenn es der eines großen Philosophen war – von Kroton nach Rom gelangt sein könnte, durch so viele Nationen hindurch, die sich in Sprachen und Sitten unterschieden. Dieses private Urteil des Livius wird mit großem Gewicht von einem anderen erhellenden öffentlichen Zeugnis der römischen Geschichte bestätigt, welches Sallust, nach der Civitas Dei des 16

 Servius Tullius war der sechste König von Rom.



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Augustinus, abgibt, wo er erzählt, dass das römische Volk unter den Königen zweihundertfünfzig Jahre lang Krieg geführt und gut zwanzig und mehr Völker unterworfen habe und doch das Reich nicht auf mehr als zwanzig Meilen – und zwar viel kürzere als unsere – ausgedehnt habe. Diese Stelle zeigt uns erstens ganz offensichtlich, wie unzugänglich die ersten kleinen Völker waren, obwohl sie sich sehr nahe waren, und dann wirft sie, zweitens, alle unsere großartigen Ideen über den Haufen, die wir bisher von den Anfängen Roms und – nach dem Muster Roms – von allen anderen Reichen der Welt gehabt haben. Diese Stelle bei Livius, zusammen mit den Fakten der römischen Geschichte, welche ohne Zweifel die Eigenart der wilden und zurückgezogenen Nationen in ihren Anfängen beweisen, erschüttert auch die Glaubwürdigkeit der Reisen des Pythagoras nach Thrakien zur Schule des Orpheus, nach Babylonien zur Schule des Zoroaster, um von den Chaldäern zu lernen, nach Indien zu den Gymnosophisten und aus dem vorderen Orient nach Ägypten, wo er von den Priestern lernte, und dass er sich quer durch Afrika in den äußersten Westen nach Mauretanien zur Schule des Atlas begeben hätte und dann nach der Überquerung des Meeres auf dem Rückweg bei den Druiden in Gallien gelernt hätte. Das sind nur fiktive Reisen, weil man später gefunden hat, dass einige Lehren des Pythagoras mit den Lehren der volkstümlichen Weisen dieser durch ungeheure Räume des Landes und des Meeres getrennten Nationen übereinstimmen, wie die Lehre von der Seelenwanderung, die immer noch einen Großteil der Religion der Braminen ausmacht, der alten Brahmanen oder Gymnosophisten, der Philosophen Indiens ! Diese schwerwiegenden Zweifel an den Reisen des Pythagoras, die er unternommen haben soll, um in der Welt das Beste der Menschheit zu sammeln und nach Griechenland zu bringen, lassen uns gänzlich an den Reisen des Herkules zweifeln, der, siebenhundert Jahre zuvor, sich einzig für den Ruhm aufgemacht hätte, Ungeheuer zu töten und Tyrannen in den Nationen zu erschlagen, um dort, wie in Gallien, die Beredsamkeit zu verbreiten oder in anderen Nationen die griechische Humanität. Und an den Reisen Homers nach Ägypten erzeugt noch größere Zweifel gerade eine Stelle

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von Homer selbst, wo er die Insel Pharos als so weit vom Festland beschreibt (wo dann Alexandria gegründet wurde), wie ein leeres Schiff einen ganzen Tag brauchen würde, wenn die Tramontana weht, das heißt mit dem Wind von achtern. An dieser so nahen kleinen Insel endete aber später der Hafen von Alexandria, wie man immer noch sieht. Wenn Homer jemals Ägypten gesehen hätte, hätte er sicher niemals eine solche Unwahrheit erzählt. Und wenn die Griechen seiner Zeit dort Handel getrieben hätten, dann hätte er bei ihnen jede Glaubwürdigkeit für alles Übrige, das er erzählt, verloren. Aber darüber hinaus, dass die Nationen sich anfänglich gar nicht kannten außer anlässlich von Kriegen, stört und verwirrt eine weitere Sache, in der doch alle Gelehrten übereinstimmen, nämlich dass Psammetichos der erste König gewesen sei, der Ägypten für die Griechen öffnete, aber nicht für alle, sondern nur für die Griechen aus Ionien und Karien. Wenn also bis in die Zeiten des Tullius Hostilius,17 in denen Psammetichos lebte, eine zivilisierte Nation noch die Sitte aufrechterhalten hatte, die Grenzen für überseeische Völker geschlossen zu halten, was muss man dann erst von den gänzlich barbarischen Nationen denken ? So sagt man uns sicher zu Recht, dass der erste, der mit einigem Durchblick über die Dinge der Perser schrieb, Xenophon gewesen sei, der unmittelbar auf Thukydides folgte, der ja als erster mit Gewissheit über die Griechen geschrieben hatte. Denn Xeno­phon war der erste Heerführer Griechenlands, der griechische Waffen nach Persien trug, von wo er dann den denkwürdigen Rückzug antrat. Und die Dinge Assyriens waren den Griechen nicht bekannt, sie lernten sie erst durch die Eroberungen Alexanders des Großen kennen, mit dem sich Aristoteles dorthin begab, der dann in seinen politischen Büchern bemerkt, dass die Griechen vorher nur Märchen darüber geschrieben hätten. Wir beschließen diese Schwierigkeiten mit der wichtigsten von allen, nämlich dass bei allen alten Nationen die Priesterorden die Dinge ihrer Religionen vor der Plebs ihrer Städte geheim hielten, die deswegen »heilige« Dinge genannt wurden, also »den ge17

 Tullius Hostilius war der dritte König von Rom.



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wöhnlichen Menschen verborgen«. Und selbst die griechischen Philosophen verbargen lange Zeit ihre Weisheit vor dem gemeinen Volk der eigenen Nation, so wie Pythagoras seine eigenen Schüler erst nach langen Jahren zu seinem geheimen Auditorium zuließ. Und wir sollen glauben, dass einzelne ausländische Männer sichere und rasche Reisen hinter die verbotenen Grenzen weit entfernter Nationen gemacht hätten, damit ihnen die Priester in Ägypten oder die Chaldäer in Assyrien ihre Religionen und ihre geheime Weisheit offenlegen, ohne Dolmetscher und ohne einen lange andauernden, durch Sprachen ermöglichten Verkehr zwischen ihnen ? Vor allem die Juden haben sich immer den heidnischen Nationen gegenüber verschlossen verhalten. XI. Notwendigkeit, die Prinzipien der Natur der Nationen mit einer höheren Metaphysik zu erforschen, um einen sicheren gemeinsamen Geist aller Völker denken zu können

Wegen all dieser Ungewissheiten sind wir gezwungen, wie jene ersten Menschen zu werden, aus denen die heidnischen Nationen hervorgegangen sind. Um sich aus der Knechtschaft der Religion von Gott, dem Schöpfer der Welt und Adams, zu befreien, die allein sie bei der Pflicht und folglich in Gesellschaft hätte halten können, verstreuten sich die ersten Menschen mit ihrem gott­ losen Leben in einem tierhaften Herumtreiben im Großen Wald der Erde, der durch das eindringende Wasser der Sintflut sehr dicht geworden war. Sie waren gezwungen, Speise und Wasser zu suchen und, mehr noch, sich vor den Tieren zu schützen, von denen der große Wald übervoll war. Die Männer verließen oft ihre Frauen, die Mütter ihre Kinder, ohne Möglichkeit, diese wiederzufinden. Allmählich verlernte ihre Nachkommenschaft die Sprache Adams. Und ohne Sprache und mit nichts anderem im Sinn, als den Hunger, den Durst und den Drang der Libido zu befriedigen, verloren sie schließlich jeden Sinn von Humanität. So müssen auch wir bei den Überlegungen zu den Prinzipien dieser Wissenschaft gewissermaßen eine solche Na-

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Erstes Kapitel

tur annehmen, nicht ohne eine gewaltige Kraftanstrengung, und uns folglich in einen Zustand höchsten Unwissens der ganzen menschlichen und göttlichen Gelehrsamkeit begeben, als ob es für diese Untersuchung niemals Philosophen oder Philologen gegeben hätte. Aber wer das erreichen will, der muss sich in einen solchen Zustand versetzen, damit er beim Nachdenken nicht gestört und abgelenkt wird von gemeinsamen alten Vorannahmen. Denn alle diese Zweifel, zusammen genommen, können keinesfalls die einzige Wahrheit erschüttern, welche die erste Wahrheit einer solchen Wissenschaft ist, da in dieser langen und dichten Nacht der Finsternis dieses einzige Licht schimmert: nämlich dass die Welt der heidnischen Nationen doch ganz gewiss von den Menschen gemacht worden ist.18 Infolge dieser Wahrheit erscheint in dem ungeheuren Ozean von Zweifeln dieses einzige kleine Eiland, wo der Fuß Halt finden kann: nämlich dass sich die Prinzipien dieser Welt in der Natur unseres menschlichen Geistes und in der Kraft unseres Verstehens finden müssen. Die Metaphysik des menschlichen Geistes, die bisher nur den einzelnen Menschen betrachtete, um ihn zu Gott als ewiger Wahrheit zu führen – die höchste universelle Theorie der Göttlichen Philosophie –, muss also erhöht werden, um den gemeinsamen Sinn des Menschengeschlechts als einen sicheren menschlichen Geist der Nationen denken zu können, um ihn zu Gott als ewiger Vorsehung zu führen; dies wäre die höchste universelle Praxis der Göttlichen Philosophie. Und auf diese Weise, das heißt ohne jedwede Hypothese (da sich in der Metaphysik ja alle Hypo­ thesen verbieten), müssen wir diese Prinzipien tatsächlich in den Modifikationen unseres menschlichen Denkens finden, bei den Nachkommen von Kain vor der Sintflut und von Ham und J­ aphet nach der Sintflut.

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 Vico inszeniert hier das Auffinden des Grundsatzes seiner Philosophie wie Descartes im Discours de la méthode – und gegen Descartes – als einzige Wahrheit und Licht in der Finsternis, vgl. SN44, 331.



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XII. Über die Idee einer Jurisprudenz des Menschengeschlechts

Von der Kenntnis der Teile durch Teilung ausgehend, kommt man durch Zusammenfügung zur Kenntnis des Ganzen, das man erkennen will. Als hellsten Teil aller Teile, die das gesuchte Ganze bilden, nämlich die römische Jurisprudenz, erwähnen wir als Beispiel die Wissenschaft vom Geist der Dezemvirn über die zivilen Notwendigkeiten in den strengen Zeiten des römischen Volkes, die zugleich eine Wissenschaft der Sprache ist, in der diese das Zwölftafelgesetz verfasst haben,19 das Livius die Quelle und Tacitus den Endzweck des ganzen römischen Rechts nennt. Diese Wissenschaft hat dann bei neuen Gelegenheiten der öffentlichen und privaten zivilen Angelegenheiten in Zeiten von aufgeklärteren Ideen und folglich in menschlicheren Zeiten den Geist der Dezemvirn immer weiter entwickelt, die Lücken ergänzt, die Bedeutung ihrer Worte verändert und ihnen durch die Korrektur ihrer Strenge einen milderen Sinn gegeben; und bei alledem hat sie aber den Willen oder die Wahl des öffentlichen Wohls immer gleichbleibend bewahrt, das die Dezemvirn sich vorgenommen hatten, nämlich das Heil der Stadt Rom. So muss man die Jurisprudenz des natürlichen Rechts der Nationen betrachten als eine Wissenschaft vom Geist des Menschen, zunächst des Menschen in Einsamkeit, wie des Grotius’schen und Pufendorf ’schen Menschen, aber im katholischen Sinn, wie wir oben [15 – 19] bemerkt haben, das heißt eines Menschen, welcher seine Natur bewahren will. Eine solche Wissenschaft muss lehren, wie der Geist des einsamen Menschen, bei neuen Gelegenheiten menschlicher Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten durch verschiedene Sitten und folglich durch verschiedene Zeiten und verschiedene Zustände hindurch, dazu gelangt ist, sich über seinen vorrangigen Zweck klar zu werden, seine Natur bewahren zu wollen, zunächst durch die Bewahrung der Familien, dann durch die Bewahrung der Städte, danach durch die 19

  Die Dezemvirn waren das Gremium von zehn Männern, die um 450 v. Chr. die mündlichen Gesetze Roms im Zwölftafelgesetz verschriftlichten.

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Bewahrung der Nationen und schließlich durch die Bewahrung des ganzen Menschengeschlechts. Zu diesem Zweck muss man zeigen, dass die gottlosen Menschen von der Vorsehung aus dem Zustand der Einsamkeit durch sichere Ehen in den Zustand der Familien versetzt worden sind, aus denen die ersten Gentes oder Clans oder Sippen entstanden sind, aus denen dann die Städte hervorgingen. Diese Wissenschaft muss bei den ersten uralten Gentes beginnen, denn diese sind ihr erster Gegenstand. Und alles dies nach jener berühmten Regel, der universellen Grundlage aller Interpretation, die uns der Jurist Ulpian mit dem folgenden sehr weisen Satz vorgeschlagen hat: Quotiens lege aliquid, unum vel alterum introductum est, bona occasio est cetera, quae tendunt ad eandem utilitatem, vel interpetratione, vel certe jurisdictione suppleri [»Wenn etwas durch Gesetz so oder so eingeführt worden ist, dann ist die Gelegenheit gut dafür, Weiteres, das auf dieselbe Nützlichkeit zielt, durch Interpretation oder Rechtsprechung zu ergänzen«]. Er sagt nicht causa, »Ursache«, denn der Grund des Gerechten ist nicht die wandelbare Nützlichkeit, sondern die ewige Vernunft, welche die wandelbaren Nützlichkeiten bei den verschiedenen Gelegenheiten [occasio] der menschlichen Bedürfnisse an unveränderlichen geometrischen und arithmetischen Proportionen misst. Und so muss unser Nachdenken über das natürliche Recht der Nationen mit unentrinnbarer Notwendigkeit nach der natürlichen Ordnung der Ideen ablaufen und nicht so, wie andere es sich einbilden, wenn sie ihren dicken Büchern großartige Titel voranstellen und doch in ihren Werken nicht mehr bringen als das, was man sowieso schon allgemein wusste. XIII. Große Schwierigkeiten, die Entstehung der ersten Ideen zu verstehen 42

Es scheint aber eine hoffnungslose Unternehmung zu sein, die Art und Weise der Entstehung von Ideen auch nur ansatzweise zu verstehen. Denn um sie zu erklären, würde man die Wissenschaft einer Sprache brauchen, die allen ersten heidnischen



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Nationen gemeinsam ist. Dazu muss man das Leben des Menschengeschlechts so betrachten wie das Leben der Menschen, die mit den Jahren alt werden. So wie wir heute die Alten sind, so sind die Gründer der Nationen die Kinder gewesen. Aber die Kinder, die in einer Nation geboren werden, die mit Sprache ausgestattet ist, haben schon mit höchstens sieben Jahren ein so großes Vokabular gelernt, dass sie es beim Aufkommen irgendeiner gewöhnlichen Idee insgesamt schnell durchlaufen und sogleich das konventionelle Wort dafür finden, um sie anderen mitzuteilen. Und bei jedem Wort, das sie hören, kommt ihnen gleich die Idee, die an dieses Wort gebunden ist. Bei der Bildung jeder Rede vollziehen sie also gewissermaßen eine geometrische Synthese, bei der sie alle Elemente ihrer Sprache durchlaufen, diejenigen ergreifen, die sie benötigen, und blitzschnell verbinden. Daher ist jede Sprache eine großartige Schule, den menschlichen Geist geschickt und flink zu machen. Außerdem erwerben auch die Kinder von nur mäßig zivilisierten Nationen die Gewohnheit zu zählen, eine höchst abstrakte und so geistige Handlung, die bei einer gewissen Exzellenz Ratio [»Rechnen«] genannt wird, so dass Pythagoras das ganze Wesen des menschlichen Geistes in die Zahlen legte. Eine Tätigkeit anderer Art, ähnlich wie die Geometrie, ist die Buchstabenkunst oder die Schule des Lesens und Schreibens. Diese diszipliniert mit den feinen und zarten Formen, die wir Buchstaben nennen, wunderbar die Phantasie der Kinder, die beim Lesen und Schreiben der Wörter die Elemente des ABCs durchlaufen, die Buchstaben aussuchen, die sie brauchen, und sie zusammenstellen, um sie zu lesen oder zu schreiben. Und doch ist die Buchstabenkunst viel körperlicher und stabiler als das Vokabular, und die Zahlen sind abstrakter als die Buchstaben und die Laute; denn die Buchstaben hinterlassen Spuren von Eindrücken in den Augen, welche die schärfsten Sinne zum Lernen und Behalten sind. Die Wörter aber sind nur Luft, die an die Ohren dringt und sich auflöst; die gerade oder ungerade Zahl berührt in ihrer Eigenschaft als Zahl aber überhaupt keinen Sinn. Daher kann man kaum verstehen und sich überhaupt nicht vorstellen, wie in jenem Zustand die ersten Menschen der gottlosen Geschlechter eigentlich gedacht haben,

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Erstes Kapitel

die zuvor noch nie eine menschliche Stimme gehört hatten, und wie grob sie ihre Gedanken gebildet und in welcher Unordnung sie die Gedanken verbunden haben müssen. Mit diesen ersten Menschen kann man eigentlich niemanden vergleichen, auch nicht unsere Geisteskranken oder Dörfler, die nicht schreiben können, oder die barbarischsten Bewohner der Länder nahe den Polen und in den Wüsten Afrikas und Amerikas (von denen uns die Reisenden Sitten berichten, die dermaßen von unseren verfeinerten Naturen abweichen, dass sie unser Grauen erregen), da diese doch inmitten von – wenn auch barbarischen – Sprachen geboren werden und wohl auch etwas von Zahlen und Rechnen wissen. Wegen all dieser großen Ungewissheiten und der geradezu verzweifelten Schwierigkeiten dieser Überlegungen und ohne zu wissen, von welchen ersten Menschen oder aus welchen Orten der Welt die heidnischen Nationen anfänglich hervorgegangen sind, fassten wir oben in der »Idee dieses Werkes« dieses Kapitel in folgendem Motto zusammen: … ignari hominumque, locorumque erramus [»ohne Kenntnis der Menschen und der Orte irren wir umher«].

Z W EITES K A PITEL

Prinzipien dieser Wissenschaft nach den Ideen

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m nun also diese erste Welt der heidnischen Nationen zu entdecken, von der wir bisher keine Kenntnis gehabt haben und von der wir uns keine von der uns bekannten Welt ausgehende Vorstellung machen können, schlagen wir hier folgende in zwei Klassen getrennten Prinzipien vor: einerseits die Ideen, andererseits die Sprachen. So wie der Geist alles und auch jeden einzelnen Teil des Körpers beherrscht, so bilden und errichten diese Prinzipien, einzeln oder zu mehreren, getrennt oder zusammen gruppiert, unmittelbar oder aus ihren Konsequenzen, in Teilen oder in ihrem ganzen Komplex, diese Wissenschaft in ihrem System, das heißt in ihrem ganzen Zusammenhang oder aufgeteilt in die kleinsten Teilchen der Teile, aus denen sie sich zusammensetzt. So dass man alle Dinge, die wir schon gesagt haben und die wir, wenn man uns die Muße dazu lässt, jetzt ausführen werden, getrennt eins nach dem anderen verstehen kann, sogar auch im verworrenen Wald eines Wörterbuchs, ohne dass unsere Aufmerksamkeit durch umständliche Methoden oder durch die Abwesenheit jeglicher Methode über Gebühr strapaziert wird; vorausgesetzt, dass man dieses Buch genau in der Ordnung liest, in der es geschrieben ist. Nur hier, um aufgrund dieser Prinzipien die Wirkungen zu bestätigen, werden wir ein, zwei oder höchstens drei Beispiele anführen, die zu jedem Prinzip passen, damit man diese als Prinzipien verstehe. Sie in der fast unzähligen Menge ihrer Konsequenzen bestätigt zu sehen, das muss man in anderen Werken nachlesen, die wir entweder schon publiziert haben oder die gerade dabei sind, im Druck zu erscheinen. Hier möge es genügen, dass diese Prinzipien vernünftig sind hinsichtlich der Ursachen und dass die Beispiele hinsichtlich der Wirkungen passen, um das übrige zu beurteilen. Denn die Prinzipien einer Lehre sind sehr schwer darzustellen und enthalten daher, wie Sokrates sagte, die Hälfte der Wissenschaft.

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I. Die Vorsehung ist das erste Prinzip der Nationen 45

Nun also, um der Wissenschaft einen Anfang zu geben, so ist die erste Idee jeglicher Arbeit, dass die Göttliche Vorsehung die Architektin der Welt der Nationen ist. Denn die Menschen können nicht in einer menschlichen Gesellschaft zusammenkommen, wenn sie nicht die menschliche Einsicht teilen, dass da eine Gottheit ist, die auf den Grund des Herzens der Menschen sehen kann. Die Gesellschaft der Menschen kann daher nicht beginnen oder Bestand haben ohne Mittel, den Versprechungen der anderen zu vertrauen und den anderen die Versicherungen dunkler Fakten zu glauben. Denn sehr oft geschieht es im menschlichen Leben, dass man etwas versprechen muss und dass einem etwas versprochen wird, und es geschehen oft Dinge, die zwar keine Verbrechen sind und die man den anderen versichern muss, von denen wir aber kein menschliches Zeugnis geben können. Wenn man sagte, dass man das mit der Strenge von Strafgesetzen gegen die Lüge erreichen könnte, so könnte man das wohl im Zustand der Städte tun, nicht aber im Zustand der Familien, aus denen die Städte entstanden sind, das heißt als es noch keine zivile oder öffentliche Macht gab, deren bewaffneter Gesetzesgewalt zum Beispiel zwei Familienväter gleichermaßen durch das Recht unterworfen wären. Wenn einige, von denen einer John Locke wäre, dann der Auffassung sind, dass die Menschen sich daran gewöhnen, etwas glauben zu müssen, sobald der andere sagt, dass er es mit Wahrheit verspricht oder erzählt, so haben sie in diesem Fall schon eine Vorstellung von der Wahrheit, und es genügt, das Wahre zu enthüllen, um den anderen zu verpflichten, das Gesagte auch ohne jedes menschliche Zeugnis zu glauben. Das kann nun aber nichts anderes sein als die Idee von Gott als Attribut der Vorsehung, das heißt eines ewigen und unendlichen Geistes, der alles durchdringt und alles vorhersieht. In ihrer unendlichen Güte – sofern das zu diesem Argument gehört – richtet die Vorsehung das, was die einzelnen Menschen oder die besonderen Völker mit ihren besonderen Zwecken verfolgen und womit sie untergehen würden, wenn sie



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diese ausschließlich verfolgen würden, jenseits aller Absicht und wohl oft gegen deren Absicht auf einen universellen Zweck aus, für den sie diese besonderen Zwecke als Mittel benutzt und damit die Völker bewahrt. Wir zeigen in diesem ganzen Werk, dass nach dieser Ansicht die Vorsehung die Schöpferin des gesamten natürlichen Rechts der Nationen ist. II. Die volkstümliche Weisheit ist die Regel der Welt der Nationen

Diese göttliche Architektin hat die Welt der Nationen mit der Regel der volkstümlichen Weisheit gebaut. Diese ist ein gemeinsamer Sinn eines jeden Volkes oder Nation, der unser gesellschaftliches Leben in allen unseren menschlichen Handlungen so regelt, dass sie übereinstimmen in dem, was alle in diesem Volk oder dieser Nation gemeinsam fühlen. Die Übereinstimmung dieser gemeinsamen Sinne aller Völker oder Nationen miteinander ist die Weisheit des Menschengeschlechts.

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III. Der menschliche Wille, geregelt von der volkstümlichen Weisheit, ist der Macher der Welt der Nationen

Der Macher der Welt der Nationen, der jener göttlichen Architektin gehorcht, ist der menschliche Wille. Der menschliche Wille, der ansonsten bei den einzelnen Menschen seinem Wesen nach höchst unsicher ist, wird jedoch von der Weisheit des Menschengeschlechts nach dem Maß menschlicher Nützlichkeiten oder Notwendigkeiten bestimmt, die allen besonderen Naturen der Menschen gleichermaßen gemeinsam sind. Diese so bestimmten menschlichen Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten sind die beiden Quellen, welche die römischen Juristen für das natürliche Recht der Völker insgesamt annehmen.   Daher müssen wir über den Zustand der Einsamkeit nachdenken, in den Grotius den Menschen stellt, der, weil einsam, auch

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Zweites Kapitel

schwach war und dem es an allem mangelte. Vor der Sintflut sind die Kinder Kains ganz plötzlich und die Kinder Seths allmählich in diesen Zustand geraten, und nach der Sintflut die Kinder von Ham und Japhet auf einmal und die von Sem allmählich. Und dann, allein um sich aus der Knechtschaft der Religion zu befreien, als sie von keinem anderen Zügel mehr zurückgehalten wurden, wandten sie sich ab von der wahren Religion ihrer Väter Adam und Noah, die allein sie in der Gesellschaft hätte halten können. Und sie traten ein in die viehische Freiheit, verloren die Sprache und vergaßen jede gesellschaftliche Sitte, verstreuten sich im Großen Wald der Welt. Das wäre der Pufendorf ’sche Mensch gewesen, der, allein gelassen mit sich selbst, in diese Welt gekommen ist, ohne Sorge und Hilfe Gottes. Und man muss darüber nachdenken, aus welchen ersten Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten, die solchen wilden und tierhaften Menschen gemeinsam sind, sie erwachen mussten, um zur menschlichen Gesellschaft zu gelangen. Das ist es, was Selden nicht bedacht hat, weil er Prinzipien annahm, die den heidnischen Nationen und den Juden gemeinsam sind, also ohne das von Gott beschützte Volk von den anderen völlig verlorenen Nationen zu unterscheiden. Pufendorf dachte zwar daran, irrte aber, weil er eine der Heiligen Geschichte widersprechende Hypothese hatte. Aber Grotius irrte am meisten, weil er eine sozinianische Hypothese über seinen einfältigen Urmenschen hatte und dann gänzlich vergaß, diese auch zu beweisen. IV. Natürliche Ordnung der menschlichen Ideen über eine ewige Gerechtigkeit 48

Wir haben gezeigt, dass das natürliche Recht der Völker von der Vorsehung nach den Vorgaben der menschlichen Notwendigkeiten und Nützlichkeiten angeordnet wird. Nun, um den verbleibenden Teil der Definition nachzutragen, welche die römischen Juristen hinterließen, nämlich dass man das Gesetz bei allen Nationen gleichermaßen beachtet, betrachten wir seine beiden



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hauptsächlichen Eigenschaften, das heißt, seine Unveränderbarkeit und seine Universalität. Was die erste angeht, so ist das natürliche Recht der Völker ein ewiges Recht, das in der Zeit verläuft. Aber so wie in uns einige ewige Saatkörner des Wahren gelegt sind, welche von Kindheit an nach und nach kultiviert werden, bis sie mit dem Alter und mit den Disziplinen auf die aufgeklärtesten wissenschaft­lichen Kenntnisse hinauslaufen, so wurden auch ins Menschengeschlecht durch die Sünde die ewigen Saatkörner des Gerechten gelegt, welche sich nach und nach seit der Kindheit der Welt – mit dem allmählichen Klarwerden des menschlichen Geistes über seine wahre Natur – in bewiesenen Maximen über die Gerechtigkeit entfalten. Immer aber gilt natürlich der Unterschied, dass dies beim Volk Gottes einen anderen Weg genommen hat als den gewöhnlichen Weg bei den heidnischen Nationen. Und um hierfür Beispiele anzuführen: In den alten Zeiten Griechenlands, als die Athener das ganze Land Athens dem Zeus geweiht hatten und unter seiner Herrschaft lebten, wie es die Geschichte der dunklen Zeit Griechenlands erzählt, war es, um Eigentümer von Grund und Boden zu werden, nötig, dass die Auspizien des Zeus das erlaubten. In einer anderen, späteren Zeit, bei den alten Römern, war aufgrund des Zwölftafelgesetzes eine feierliche Übergabe, nexum, also »Fessel« genannt, nötig. Und in einer weiteren Zeit, die noch bis in unsere Zeit bei den Völkern andauert, genügt die wirkliche Übergabe von Grund und Boden selbst. Diese drei Arten, Eigentum zu erwerben, sind alle auf die ewige Gerechtigkeitsregel gegründet, dass kein Mensch Herr über die Sache eines anderen werden kann ohne die Zustimmung seines Eigentümers, deren man sich vorher versichern muss. Bis schließlich die Philosophen kamen, die sagten, dass das Eigentum seinem Wesen nach absolut von dem Willen abhängt, der mit ausreichenden Zeichen genügend belegt sein muss, dass der Eigentümer wohl überlegt hat, das Eigentum einer bestimmten Sache einem anderen zu übertragen, sei es durch offene Worte, sei es durch stumme Handlungen. Es ist eine der kontinuierlichen Bemühungen dieser Wissenschaft, genau zu zeigen, wie mit der Entfaltung der mensch-

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lichen Ideen die Rechte und Gesetze aus dem Groben heraustraten, zunächst aus der Rohheit des Aberglaubens, dann aus der Feierlichkeit der Gesetzeshandlungen und dem Zwang der Worte, schließlich aus aller Körperlichkeit, die als erste Sub­ stanz des Rechts betrachtet wurde. Und wie sie zu ihrem reinen und wahren Prinzip geführt wurden, das ihre eigene Substanz ist, zur menschlichen Substanz, unserem Willen, der bestimmt wird von unserem Geist mit der Kraft der Wahrheit, die »Gewissen« heißt. Und alles dies, weil das natürliche Recht der Völker ein Recht ist, das gerade aus den Sitten der Nationen aufgrund der Ideen hervorgegangen ist, die diese über ihre Natur hatten. Über dieses soeben angeführte privatrechtliche Beispiel hinaus sei nun ein anderes, öffentlich rechtliches gegeben: Wenn es je eine uralte Zeit gab, in der es Menschen mit maßlosen Körperkräften und ebenso maßlos schwacher Verstandeskraft gegeben hat, dann hätte ihnen die Idee ihrer so beschaffenen Natur diktiert, dass sie eine Kraft, die stärker ist als ihre menschliche Kraft, als Gottheit fürchten müssen. Und dies hätten sie dann für ihr göttliches Recht gehalten, dem zufolge ihr ganzes Recht auf Kraft beruhen müsste. So wie es Achill verkündet, der größte der griechischen Helden, den Homer mit dem ständigen Beiwort »ohne Fehl« den Völkern Griechenlands als Beispiel heroischer Tugend vorstellt. Aufgrund dieses göttlichen Rechts sagt Achilles dem Apollo, dass er ihn wegen seiner überlegenen Kraft für einen Gott hält, indem er behauptet, dass er sich, wenn er die gleiche Kraft hätte wie dieser Gott, nicht fürchten würde, mit ihm zu kämpfen. Das wird von Achill nicht mit mehr Gottesfurcht gesagt als das, was Polyphem sagt, nämlich dass er, wenn er die Kraft hätte, mit Zeus selbst kämpfen würde. Dabei hatten doch auch die Giganten Auguren, die nicht unter Gottlosen leben konnten und von denen einer dem Polyphem das Schicksal vorhergesagt hatte, das er dann von Odysseus erleiden sollte. Nach diesem Göttlichen Recht schätzt sich sogar Zeus selbst nach Art des Achill und des Polyphem ein, wenn er anbietet, dass er ganz allein mit der Großen Kette an einem Ende alle Menschen und alle auf der entgegengesetzten Seite angehäng-



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ten Götter mit sich ziehen würde, um mit seiner so viel größeren Kraft zu beweisen, dass er der König der Menschen und der Götter ist. Als Konsequenz dieses göttlichen Rechts betrachten wir auch Folgendes: Achill antwortete dem Hektor, der über seine Bestattung verhandeln wollte, wenn er von diesem im Kampf getötet würde, in dem er dann ja auch starb, dass es zwischen dem Schwachen und dem Starken keine Gleichheit des Rechts gäbe, weil Menschen niemals mit Löwen verhandeln würden, noch Lämmer jemals mit Wölfen gleichen Willens seien. Das war das Recht der heroischen Völker, gegründet darauf, dass sie das Wesen der Starken als von anderer Art und für vornehmer hielten als das der Schwachen. Daher stammte auch das Recht des Krieges, dass die Sieger mit Waffengewalt den Besiegten alle Rechte der natürlichen Freiheit nahmen, so dass die Römer die Sklaven wie Sachen betrachteten. Diese Sitte wurde von der Vorsehung eingeführt, damit, da diese wilden Menschen noch nicht von der Herrschaft der Vernunft gezähmt waren, sie die Gottheit wenigstens wegen ihrer Kraft fürchteten und wegen dieser Kraft das Recht untereinander achteten, damit in so wilden Zeiten die Tötungen nicht andere Tötungen auslösten, die das Menschengeschlecht auslöschen würden. Genau das wäre nämlich die Geschichte wie auch die Philosophie der »äußeren Gerechtigkeit der Kriege«, wie Grotius sie nennt. Wenn sich schließlich in Zeiten voll entwickelter menschlicher Ideen die Menschen nicht mehr als von anderen Menschen verschieden und durch Kraft überlegen betrachten, sondern sich alle als gleich in ihrer vernünftigen Natur anerkennen, die ja die eigentliche und ewige Natur des Menschen ist, dann wird unter ihnen das Recht der menschlichen Völker gelten, welches bestimmt, dass die Menschen die Nützlichkeiten untereinander gleich aufteilen müssen und nur da ein gerechter Unterschied bewahrt bleibt, wo es sich um Verdienste handelt, und zwar gerade um ihnen die Gleichheit zu bewahren. Das erweist sich dann als das natürliche Recht der Völker, von dem die römischen Juristen handeln und welches mit großem Gewicht der Worte Ulpian »Recht der menschlichen Völker« nennt, wo er das Recht der

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Völker seiner Zeit definiert, nicht im Unterschied zu den barbarischen Völkern außerhalb des Römischen Reiches, mit denen die römischen Gesetze des privaten Rechts nichts zu tun hatten, sondern im Unterschied zu den ins Imperium eingewanderten barbarischen Völkern. V. Natürliche Ordnung der menschlichen Ideen über eine universelle Gerechtigkeit 55

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So wie wir durch die vorerwähnten Prinzipien des natürlichen Rechts der Völker die eine seiner beiden wichtigsten Eigenschaften beschrieben haben, nämlich seine Unveränderbarkeit, so ­beschreiben wir nun mit denselben Prinzipien die andere Eigenschaft, seine Universalität. Wir denken, dass der Fortschritt der menschlichen Ideen über die natürliche Gerechtigkeit nicht anders stattgefunden haben kann, als dass er in einem Zustand der Einsamkeit – also bei einem einsamen, schwachen und bedürftigen Grotius-Menschen oder bei einem Pufendorf-Menschen ohne Sorge und Hilfe von anderen – von der allernatürlichsten Notwendigkeit begonnen hat, nämlich einzig von der Notwendigkeit, seine Art zu erhalten durch die Verbindung mit einer Frau, die ihm Gesellschaft, Sorge und Hilfe leistet. Das war ein monastisches, das heißt einsames und folglich souveränes natür­ liches Recht. Aufgrund dieses zyklopischen Rechts, das auch Platon beiläufig bei Homers Polyphem bemerkte, würden die Männer die herumstreifenden Frauen zu Recht mit Gewalt ergreifen und sie mit Gewalt bei sich in ihren Höhlen halten. Von dieser Zeit an begann sich mit dem ersten gerechten Frauenraub das erste Prinzip der gerechten Kriege herauszubilden, da die Kriege, die man führte, um das heidnische Menschengeschlecht zu begründen, nicht weniger gerecht waren als jene, die man später führte, um es zu erhalten. Daher beginnt sich hier abzuzeichnen, was Grotius die »innere Gerechtigkeit der Kriege« nennt, welche die wahre und eigentliche Gerechtigkeit der Waffen ist. Durch diesen ersten gerechten Frauenraub gewannen die ersten Männer eine zyklopische Macht über ihre Frauen und dann über



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die Kinder, wie es bei Homer der Polyphem dem Odysseus erzählt. Dabei wurde die erste Sitte der tierischen Verbindungen noch beibehalten, bei der die Kinder zur Familie der Mütter gehören, eine Sitte, die nicht auf einmal verändert werden konnte, bis man dann zu der gänzlich entgegengesetzten Sitte der Völker gelangte, die auch wir noch haben, dass die aus Ehen geborenen Kinder den Familien der Väter zugehören. Danach, im Zustand der Familien, hat sich dieses monastische Recht wegen der familiären Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten zum natürlichen Familien-Recht entwickelt. Dann, als diese Urstämme sich in mehrere Familien verzweigten, hat sich  – wegen der gemeinsamen Bedürfnisse ganzer Sippen, das heißt der alten Häuser oder Stämme, die zuerst und eigentlich bei den Latinern Gentes genannt wurden, die vor den Städten existierten und aus denen dann die Städte hervorgingen – das Familien-Recht ausgeweitet auf ein natürliches Recht dieser eigentlichen Gentes, die die Latiner gentes maiores nannten. Sodann, als die Häuser oder Stämme in Städten vereint waren, ist das natürliche Recht der gentes maiores aufgestiegen zu einem natürlichen Recht der gentes minores, das heißt zu einem Recht der Völker über die besonderen zivilen Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten jeder Stadt. Dieses muss das natürliche zivile Recht sein, das wegen der Gleichheit seiner Ursachen zu jeder Zeit an jedem Ort der Welt gemeinsam entstand, wie zum Beispiel in Latium, und das gleichzeitig jeder Stadt eigen war, wie viele es auch immer waren, in deren Mitte dann Romulus Rom gegründet hat. Schließlich, als die Städte sich untereinander durch gemeinsame Kriegs-, Bündnis- und Handelsangelegenheiten kennengelernt hatten, sind die natürlichen zivilen Rechte in einer weiteren Ausdehnung als je zuvor anerkannt worden in einem natürlichen Recht der zweiten Gentes, das heißt der wie in einer Großen Stadt der Welt zusammen vereinten Nationen. Das ist das Recht des Menschengeschlechts.

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VI. Natürliche Ordnung der heidnischen menschlichen Ideen über die Gottheit, durch die sich die – getrennten oder verbundenen – ­Nationen voneinander unterscheiden oder miteinander ­kommunizieren 57

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Als ersten und hauptsächlichen Teil des natürlichen Rechts der Völker betrachten die römischen Juristen den Glauben an Gott. Denn ohne Herrschaft der Gesetze und ohne Macht der Waffen kann der Mensch nicht in die Gemeinschaft mit anderen Menschen eintreten oder in ihr bleiben. Beide wären dann nämlich in einem Zustand völliger Freiheit, ohne Furcht vor einer der menschlichen Kraft überlegenen Macht und daher ohne Furcht vor einer beiden gemeinsamen Gottheit. Diese Furcht vor der Gottheit nennt man »Religion«. Da nun unsere Wissenschaft, hierin mit Grotius und mit Pufendorf übereinstimmend, mit dem einsamen Menschen beginnt, allerdings nur bei dem Ursprung der Heiden, kann man überhaupt nicht verstehen, wie die Ideen der Gottheit in den Geistern der heidnischen Nationen anfänglich entstanden sind und sich dann entfaltet haben, außer in der folgenden natürlichen Ordnung: Da zunächst eine der menschlichen Kraft überlegene Macht von gänzlich einsamen und isolierten Menschen als Gottheit imaginiert wurde, hat jeder an einen eigenen und besonderen Gott geglaubt. Daher war die erste durch die Religion verbundene menschliche Gemeinschaft diejenige der Ehen bestimmter Männer, die sich aus Furcht vor einer Gottheit aus dem tierischen Herumtreiben zurückzogen und, in Höhlen versteckt, dort Frauen bei sich festhielten, die sie gewaltsam dorthin gezogen hatten, um ihnen beizuschlafen, frei von dem Schrecken, den ihnen der Anblick des Himmels bereitete, den sie aus bestimmten Anlässen, wie wir weiter unten an geeigneter Stelle [105, 411] zeigen werden, als Gottheit imaginiert hatten. Denn der Schrecken vertreibt jede Lust, die man benötigt, um Liebe zu machen. So begann die Vorsehung, beim Gefühl der tierhaften Geschlechtslust das Antlitz der verlorenen Menschen vor Scham rot zu färben. Denn es gibt sicher keine Nation in der



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Welt, die nicht errötete, denn alle treiben ja menschlichen Beischlaf. Jedoch ist das anders bei Adam und Eva, die zur Strafe für ihre Sünde schon aus der Betrachtung Gottes gefallen waren und im Augenblick des Sündenfalls ihren Körper bemerkten und sich ihrer Nacktheit bewusst wurden und sich die Teile bedeckten, die hässlich zu nennen und anzuschauen sind. Und Ham, der lachend die Geschlechtsteile des schlafenden Vaters Noah betrachtet hatte, ging wegen dieser Gottlosigkeit mit dem Fluch Gottes in die tierische Einsamkeit. Und dies ist einer jener Anfänge, jenseits dessen es dumme Neugierde ist, andere, frühere Anfänge zu suchen, was das wichtigste Merkmal für die Wahrheit der Anfänge ist. Denn wenn wir jenseits von Ham und ­Japhet nicht bei Noah nach der Sintflut Halt machen und wenn wir jenseits von Kain nicht bei Adam und einem Gott Halt machen, der ihn und die Welt erschaffen hat, dann fragt man sich: Wann haben denn die Menschen in der Welt begonnen, sich zu schämen in diesem Zustand der tierischen Freiheit, in dem sie sich weder vor ihren Kindern schämen konnten, denen sie von Natur aus überlegen waren, noch vor einander, die gleich waren und gleichermaßen entbrannt vom Reiz der Geschlechtslust ? Wenn wir daher nicht vor Scham vor einer Gottheit Halt machen – aber nicht vor Göttern wie der nackten Venus oder dem nackten Hermes, das heißt Merkur, oder gar vor dem scham­ losen Priapos  – dann hätte die Menschheit niemals mit den Menschen des Hobbes, des Grotius oder des Pufendorf beginnen können. An diesen Anfängen der menschlichen Dinge mussten die ersten Männer die ersten Frauen in der Religion jener Gottheit halten, die sie daran hinderte, unter freiem Himmel Geschlechtsverkehr zu haben. Daher finden wir bei allen Nationen die Sitte, dass die Frauen die zivile Religion ihrer Ehemänner annehmen, so wie es ganz klar bei den Römern in ihren Familienopfern der Fall ist. Von diesem uralten Anfang der ganzen Menschheit an begannen die Menschen, sich untereinander ihre Ideen mitzuteilen; den Anfang machten bei ihren Frauen die Ehemänner, vor allem mit der Idee jener Gottheit, die sie in ihrer ersten Gesellschaft vereint hatte und die sicher die Gottheit der Ehe war. Dann, im

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Zustand der Familien, wurden diese besonderen Gottheiten jedes einzelnen Vaters, zu ganzen Sippen vereint, die Götter der Väter, die im Kapitel De parricidio des Zwölftafelgesetzes durchweg divi parentum genannt wurden. Als dann die Familien in Städten vereint waren, wurden sie die Götter jedes Vaterlandes, welche dii patrii genannt wurden, und sie wurden daher für die eigentlichen Götter der Väter, das heißt des Standes der Patrizier, gehalten. Und als dann mit der Zeit mehrere Städte durch die Gleichheit der Ideen in ein und derselben Sprache zu ganzen Nationen wurden, wurden sie die Götter der Nationen, wie die Götter des Orients, die Götter Ägyptens oder die Götter Griechenlands. Als schließlich die Nationen sich durch Kriege, Bündnisse und Handelsbeziehungen kennengelernt hatten, wurden sie gemeinsame Götter des Menschengeschlechts. Sie waren dann nicht mehr die Juno der Griechen, nicht mehr die Venus der Trojaner, sondern das, was in ihren gegenseitigen Schwüren die Griechen durch ihre Juno und die Trojaner durch ihre Venus verstanden: un Dio che a tutti è Giove [»ein Gott, der für alle Jupiter ist«].20 Daraus ziehen wir zwei Beweise: einen, dass die ganze Menschheit in der Einheit Gottes enthalten ist, die bei allen Nationen getrennt mit einem Gott beginnt, und dass alle Nationen universell bei einem Gott enden. Der andere Beweis ist die Wahrheit, das Alter und die Ewigkeit der christlichen Religion, denn sie begann mit der von einem einzigen Gott geschaffenen Welt und spaltete die Gottheit niemals in viele Götter auf, auch nicht im Wechsel der Jahre, Nationen und Sitten.

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  Vers aus Tassos Gerusalemme liberata.



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VII. Natürliche Ordnung der Ideen über das Recht der Nationen ­hinsichtlich ihrer Religionen, Gesetze, Sprachen, Ehen, Namen, Waffen und Regierungen

Aber wenn die Gentes zuerst und eigentlich in mehrere Familien verzweigte Urstämme waren, dann kann man sich das Recht der Völker überhaupt nicht anders entstanden denken als in der folgenden natürlichen Ordnung der Ideen: dass es vor allem ein Recht war, das mit den Sitten bestimmter Urstämme von den ersten Vätern der Welt ausging, die sich in viele Familien verzweigten, bevor diese sich zu Städten zusammentaten; diese Sippen hießen gentes maiores. Von diesen wurde Jupiter zum Beispiel »Gott der gentes maiores« genannt, weil er von den ersten Vätern ausgedacht worden war und von ganzen Familien für Gott gehalten wurde, deren gemeinsame Urväter und souveräne Fürsten sie waren. Infolgedessen war es nötig, dass jede dieser Sippen eine eigene Sprache hatte, die sie geschaffen hatten, um einander die Gesetze zu kommunizieren. Diese Gesetze konnten, wie wir im vorangegangenen Abschnitt gesagt haben, in diesem Zustand keine anderen sein als die für göttlich gehaltenen Gesetze der Auspizien, derentwegen bei den heidnischen Völkern die Vorsehung ursprünglich divinitas, von divi­nari, genannt wurde. Infolgedessen mussten sie glauben, dass ihre eigenen Gesetze göttliche Gesetze waren, die ihnen von jenem Jupiter, den sich jedes Volk als seinen eigenen Gott imaginiert hatte, über alle menschlichen Angelegenheiten angeordnet worden waren, deren erste und hauptsächliche gewiss die Ehen waren. Kraft und dank solcher eigenen Religionen, eigenen Gesetze und eigenen Sprachen mussten sie natürlich die Ehen mit den Auspizien ihrer Götter eingehen. Nehmen wir hier nun einmal vorübergehend an (was wir bald tatsächlich zeigen werden [116]), dass lange Zeit danach andere Menschen aus tierischen Verbindungen in das gesellschaftliche Leben von Ländern aufgenommen wurden, die vorher von anderen Menschen besetzt und kultiviert worden waren, die das tierische Herumirren vor langer Zeit aufgegeben hatten. Diesen

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fremden herumirrenden Menschen, die ohne Religion und ohne Sprache aufgenommen wurden, ebenso wie deren Kindern, solange sie die Religionen, die Gesetze, die Sprachen derer nicht kannten, die sie aufgenommen hatten, musste es natürlich verboten werden, mit den Sippen Ehen einzugehen, die schon ihre eigenen Sprachen, Gesetze und Götter hatten. Und das muss das erste älteste natürliche Recht der Gentes im Zustand der Familien gewesen sein, das den Heiden und den Juden gemeinsam gewesen ist, das aber von den Juden viel mehr beachtet wurde als von den Heiden, wie ja überhaupt das Volk Gottes das große Verdienst hatte, niemals die wahre Religion gegenüber den gottlosen Vagabunden, die zu ihnen gelangt waren, zu profanieren. Als sich in der Zwischenzeit bei bestimmten Gelegenheiten, die wir später [81, 186–188] zeigen werden, diese Sippen in den ersten Städten vereint hatten, musste das natürliche Recht dieser Gentes ein Recht gewesen sein, das von den Sitten des Standes jener Sippen gehütet wurde, die gentes minores genannt wurden. Daher wurde zum Beispiel Romulus »Gott der gentes minores« genannt, weil dieser Stand ihn als Gott imaginierte, so dass Proculus Sabinus, ein Mann aus dem senatorischen Stand, ihn gewiss vor der römischen Plebs öffentlich als Gott bezeichnete. Infolgedessen musste dieses Recht der Gentes, wie früher, so auch jetzt, lange Zeit nach der Gründung der Städte, das Recht des Standes vornehmer Familien gewesen sein. Dies hat uns geradezu allzu ausführlich die römische Geschichte erzählt, die wir hauptsächlich aus Livius beziehen, die aber wegen falscher Annahmen über die Anfänge der Menschheit bis jetzt ohne jede Wissenschaft und ohne jeden Nutzen geblieben ist. Damit die römische Geschichte sich aber auf die Dinge stützen kann, die wir hier entwickeln, empfiehlt es sich nun, dass wir uns für kurze Zeit auf den Volksglauben beziehen, dass sich viele Menschen von Übersee aus Arkadien und aus Phrygien ins Asyl des Romulus gerettet hätten, Menschen aus unbekannten Ehen, mit unbekannten Sprachen, mit unbekannten Göttern. Wir lassen hier einmal die zahllosen anderen Menschen beiseite, die sich aus der tierischen Einsamkeit in die früher in Latium gegründeten kleinen Städte flüchteten, die manchmal wie die



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Tiere, wegen äußerster Kälte oder von Jägern verfolgt, sich in bewohnte Orte retteten, um zu überleben, sicher aus der größten Not, von der wir weiter unten [225] sprechen, ohne Götter, ohne Sprachen und ohne jede Spur von Menschlichkeit. Die sichere römische Geschichte erzählt nun, dass die Plebs connubia anstrebte, das heißt das Recht, Ehen (connubium in guter Sprache des Rechts) mit den Auspizien der Götter einzugehen, mit denen die Väter oder Adeligen sie feierten, dass diese ihnen aber verweigert oder mit Gründen bestritten wurden, die uns mit der ganzen Eigenart der Worte dieser Zeiten von Livius treu überliefert worden sind: confundi iura gentium, se gentem habere, esse auspicia sua [»die Rechte der Gentes werden in Unordnung gebracht, nur sie haben die gens, und die Auspizien gehören der gens«]. Damit wollten sie sagen, dass die Verwandtschaftsrechte durcheinandergebracht würden, dass sie allein sichere Nachkommen hätten, aufgrund deren sie sicher wären, mit den Hochzeiten keine schädlichen Verbindungen einzugehen, bei denen die Söhne mit den Müttern, die Väter mit den Töchtern oder mehrere Brüder mit derselben Schwester beigeschlafen hätten. Denn nur die feierlichen Hochzeiten bringen sichere Väter und daher sichere Kinder und sichere Geschwister hervor, wie die Jungen wissen, sobald sie das römische Recht zu lernen beginnen. Und dass sie folglich frei wären von den abscheulichen Inzesten, mit denen man die menschliche Gattung nicht verbreitet, sondern beendet, weil durch den Inzest die Kinder zu den Ursprüngen zurückkehrten, aus denen sie hervorgingen, und sich verengten und nicht verzweigten und sich nahes Blut vermischte. Das ist die natürliche Schlechtigkeit solcher inzestuösen Verbindungen, die in diesem Kampf die Adeligen den Plebejern mit folgendem Spruch vorwerfen: agitarent connubia more ferarum, »dass sie die Beilager nach Art der Tiere betreiben«. Und schließlich dass nur sie die Sprache ihrer Götter verstünden, die ihnen mit für göttlich gehaltenen Weisungen und Befehlen der Auspizien alle mensch­lichen Einrichtungen angeordnet hätten, von denen die erste und wichtigste die Ehe war. Aufgrund dieser Art von Ideen stellt sich heraus, dass das natürliche Recht der heroischen Völker auf einer Wesensdifferenz

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beruht, die die Adeligen zwischen sich und den Plebejern der ersten Städte annehmen und für so tief halten wie die Differenz zwischen Menschen und Tieren und die mit dem Unterschied übereinstimmt, den Achill zwischen den Starken und den Schwachen, den Löwen und den Menschen annimmt. Damit entdecken wir den natürlichen Ursprung des Arcanums der Reli­ gionen und der Gesetze im Stand der Adeligen, Weisen oder Priester und der heiligen, für alle Nationen arkanen Sprache, die bis jetzt bei den Römern gewöhnlich für einen Betrug der Patrizier oder Adeligen gehalten wurde. Lange Zeit später gewöhnten sich die Fremden, die in die ersten Städte aufgenommen worden waren, oder, besser gesagt, die Abkömmlinge jener Fremden, nach und nach daran, die Götter der Herren dieser Städte zu verehren und zu fürchten; sie lernten durch langen Gehorsam die Sprache der Religion und der Gesetze und sie verbanden sich, dem Beispiel der Adeligen folgend, natürlich mit Frauen in natürlichen oder faktisch sicheren Ehen. Da sie also durch die Wahrheit der Natur schon in der Menschheit angekommen waren, entstand durch diese ihre Natur der Wunsch, aufgrund des natürlichen Rechts der Nationen den Adeligen für diesen Bereich im Recht gleichgestellt zu werden, nämlich ihre Hochzeiten und ihre Götter mit ihnen zu teilen. Daher gestanden ihnen die Adeligen schließlich per Gesetz die Götter und die Hochzeiten zu, neun Jahre nach dem Zwölf­tafel­ gesetz, wie es die römische Geschichte klar erzählt. Auf diese Weise löst sich im Licht der sicheren römischen Geschichte die Dunkelheit auf, die bis jetzt die mythische Geschichte der Griechen bedeckt hat, und man entdeckt, dass Orpheus aus Furcht vor den Göttern die wilden Tiere gezähmt und in die Städte geführt hat. Dadurch wurde von nun an das natürliche Recht der Gentes ein Recht, das all denen gemeinsam war, die von freien Männern in derselben Stadt geboren waren. Und von dieser »Natur«, das heißt von dieser Art des Geborenwerdens [von lateinisch nasci ], wurde es dann »natürliches Recht der Nationen« genannt. So kann man verstehen, dass die feierlichen Hochzeiten den römischen Bürgern – im Gegensatz zu den besiegten Völkern – vorbehalten waren, so wie sie vorher den römischen Pa-



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triziern – im Gegensatz zu den Plebejern – vorbehalten waren; und zwar weil dies ziviles Recht des römischen Volkes gewesen sein muss, nicht weil in den anderen Nationen die Bürger nicht auch feierliche Hochzeiten miteinander feiern würden aufgrund ihrer eigenen Souveränität und ihrer eigenen zivilen Freiheit. Historisch näher bei uns gewöhnten sich dann die besiegten Nationen in langanhaltendem Gehorsam gegenüber den herrschenden Nationen daran, ihre besiegten Götter zu vergessen und die siegreichen Götter zu fürchten. Und im langen Verlauf der Jahre verwendeten sie dann nicht mehr ihre Sprache, sondern die Sprache der siegreichen Religion. So kamen sie auf natürliche Weise dazu, die Götter und die Hochzeiten mit den herrschenden Völkern zu teilen. Und so wurde das natürliche Recht der Nationen auf die Ideen menschlicher Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten aller Nationen ausgedehnt, die alle mit dem Band ein und derselben Religion und einer und derselben heiligen Sprache verbunden sind. Diese heilige Sprache der Religion, die Sprache der lateinischen und griechischen Kirche, vereint alle christlichen Völker in einer einzigen Nation gegenüber Juden, Mohammedanern und Heiden. Das ist der Grund für die natürliche Schlechtigkeit von Verbindungen zwischen Männern und Frauen dieser verschiedenen Nationen. Aber noch eine Stufe tiefer als diese ist die natürliche Schlechtigkeit, die in fleischlichen Verbindungen mit Christinnen ohne feierliche Hochzeit besteht. Denn aus diesen werden Kinder geboren, deren Eltern mit ihrem Beispiel nicht das erste aller menschlichen Gesetze lehren können, von dem alle Menschlichkeit ausgeht, nämlich die Furcht Gottes, die man haben muss, wenn ein Mann sich mit einer Frau vereinigt. Denn natürlich sündigen sie, wenn sie solch ungewissen Geschlechtsverkehr haben und damit die Kinder, sofern sie von ihnen stammen, in den Stand der Tierheit zurückschicken. Alles dies ist gegründet auf dem zweiten der drei Prinzipien der ganzen Menschheit, die wir oben [10] vorgeschlagen haben, nämlich dass sich die Männer mit den Frauen nur aufgrund der gemeinsamen Prinzipien einer zivilen Religion vereinigen sollen, aufgrund deren die Kinder mit einer gemeinsamen Sprache

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die Dinge ihrer Religionen und ihrer Gesetze lernen und so ihre eigenen Nationen bewahren und weiterführen. Daher müssen einige berühmte Philosophen unserer Zeit einsehen, dass sie aus ungezügelter Liebe für ihre eigenen Philosophien das Studium der gelehrten Sprachen – der orientalischen, der griechischen und der lateinischen – verurteilen, auf denen doch unsere heilige Religion und unsere Gesetze beruhen, und dass sie damit eine vor allen anderen Nationen der Welt gebildete, ja als einzige in höchstem Grade gebildete Nation achtlos ruinieren. Denn für den Gebrauch der Religion und der Gesetze müssen bei den christlichen Völkern diese glanzvollsten Sprachen des ganzen Altertums gepflegt werden. Schließlich, als mehrere Nationen mit verschiedenen Sprachen durch Kriege, Bündnisse und Handelsbeziehungen in gleichen Gedanken vereint waren, entstand in allen Nationen das natürliche Recht des Menschengeschlechts aus gleichförmigen Ideen über die menschlichen Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten jeder Nation. Aus allen diesen Gründen ist das Prinzip des natürlichen Rechts das Eine Gerechte, das heißt die Einheit der Ideen des Menschengeschlechts über die der ganzen menschlichen Natur gemeinsamen Nützlichkeiten oder Notwendigkeiten. Der Pyrrhonismus zerstört die Menschheit, weil er das Eine nicht kennt; der Epikureismus zerstreut die Menschheit, weil er meint, dass der Sinn jedes Einzelnen über die Nützlichkeit entscheidet; der Stoizismus vernichtet die Menschheit, weil er die Nützlichkeit oder Notwendigkeit des Körpers nicht anerkennt, sondern nur die­ jeni­gen des Geistes, über die kein anderer urteilen kann als nur ein stoischer Weiser. Nur Platon befördert das Eine Gerechte, weil er glaubt, dass die Regel des Wahren dem folgen soll, was jedem als eins oder dasselbe scheint. So muss also die natürliche Ordnung der Ideen über das Recht der Völker durch die Religionen, Gesetze, Sprachen und Ehen, die sie gegründet haben, verlaufen sein. Betrachten wir nun die noch nicht behandelten Dinge, als da waren: die Namen, die die Völker unterschieden haben, und die Waffen und Regierungen, die sie bewahren.



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Nun also, wenn die Namen zuerst eigentlich Namen der Gentes gewesen sind, die bei den Römern alle auf -ius endeten, wie das nomen Cornelium, das in viele sehr vornehme Familien verzweigt war, unter denen die berühmteste die Familie des Cornelius Scipio war, und wenn des Weiteren die Namen bei den alten Griechen sich aus Patronymen erklärten, also aus den Namen der Väter, die ihr Alter gerade dadurch erweisen, dass sie sich bei den Dichtern erhalten haben, dann sind notwendigerweise die ersten Gentes allein die Abkömmlinge der adeligen Häuser gewesen, weil nur die Adeligen aus richtigen, also feierlichen Ehen geboren wurden. Infolgedessen sind zum Beispiel das n ­ omen Romanum, das nomen Numantivum, das nomen Cartaginense, in der Bedeutung von gens, Stände von Adeligen dieser Nationen gewesen. Und weil diese allein die heilige Sprache der Auspizien verstanden, mussten auch sie allein die Verwaltung aller öffent­ lichen Angelegenheiten des Friedens und des Krieges innehaben, wie es uns in aller Ausführlichkeit die römische Geschichte in den Kämpfen der Plebs mit den Patres über die Teilhabe an den Hochzeiten, Konsulaten und Priesterschaften gesungen hat. Durch das Recht der Namen bei den Römern und der Patronyme bei den alten Griechen und anderer entsprechender Dinge bei den anderen Nationen entstand und hielt sich das natürliche Recht der ersten Gentes aufgrund aller drei Prinzipien, aus denen, wie wir oben [10] vorgeschlagen haben, die ganze Menschheit hervorgegangen ist: Das erste der drei war der universell richtige Glaube, dass es eine Vorsehung gibt; das zweite, dass die Männer richtige Ehen eingehen sollen mit sicheren Frauen, die mit ihnen Religionen, Gesetze und Sprachen teilen, um sichere Kinder zu zeugen, die sie in den heimischen Religionen erziehen und in den heimischen Gesetzen unterrichten können, durch die sie ihre sicheren Väter mit den Namen und mit den Vatersnamen anzeigen und so die Nationen weiterführen müssen. Diese Kinder wurden daher bei den Lateinern patrici und bei den alten Griechen εὐπατρίδαι genannt, was bei beiden »Adelige« bedeutete. Nur deswegen haben die römischen Patrizier in der Tafel, die man die elfte der zwölf Tafeln nennt, die Auspizien ganz für sich reserviert, im Abschnitt: auspicia incomuni-

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cata plebi sunto [»die Auspizien sollen nicht mit der Plebs geteilt werden«]. Das dritte Prinzip besagt, dass die Toten begraben werden an eigens dafür vorgesehenen Orten, so dass ihnen die Gräber mit der Genealogie, das heißt mit der Reihe der Ahnen, das souveräne Eigentum an ihrem Grund und Boden sicherten, das sie durch die Auspizien ihrer Götter erkannten, mit denen ihre ersten Urväter diesen zuerst besetzt hatten. Daher zeichnete sich das Eigentum an Grund und Boden, das vorher das gemeinsame Eigentum des ganzen Menschengeschlechts im Gebrauch gewesen war, durch die Eigenschaft aus, dass es das ursprüngliche Eigentum ist, Quelle aller souveränen Herrschaften und also aller souveränen Reiche, die alle von diesen ersten uralten Auspizien von Gott kommen. Alle diese Dinge geben Anlass zu der Überlegung, dass bestimmte Menschen vor anderen Menschen vom Grotius’schen oder Pufendorf ’schen Menschen zur Menschheit aufgestiegen sind. Und man findet das große Prinzip der ersten Teilung der Felder, das die Vorsehung mittels der Religion der Auspizien und der Begräbnisse angeordnet hat, und also auch das Prinzip, dass alle Städte aus zwei Klassen, den Adeligen und den Plebejern, hervorgegangen sind. Aber eine erhabenere Entdeckung ist die, dass die Welt der Nationen von Gott angeordnet wurde, der hauptsächlich mit der Eigenschaft der »Vorsehung« gedacht wird, wegen der er überall mit der Idee der divinitas, das heißt des »Geistes, der die Zukunft sieht« (denn das bedeutet divinari), verehrt wird und der so auch die Menschheit die wichtige Sitte gelehrt hat, die Toten zu begraben, welche die Lateiner humare nennen. Von diesen beiden großen Prinzipien muss die Wissenschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen ihren Ausgang nehmen. Infolge der Tatsache, dass beispielsweise der Name »Römer«, das nomen romanum, in den ersten Zeiten nur den Vätern oder Adeligen zukam, musste in Rom die Sitte eines gemeinsamen Rechts der Gentes von Latium entstehen, nämlich dass allein die Adeligen der alten Sippen sich »Quiriten« nennen durften, von quiris, »Speer«, was zweifellos »Versammlung bewaffneter Leute« bedeutet, so wie in unseren barbarischen Zeiten allein



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die Adeligen »bewaffnete Leute« genannt wurden; denn außerhalb der Versammlung oder bei geringer Zahl sagte man niemals quirites. Das überzeugt uns davon, dass, da nur die Adeligen das Recht der Waffen und also das Recht der Gewalt hatten, die sich in den Städten »zivile Herrschaft« nennt, denn nur sie »hatten die gens«, dass also die Adeligen das Recht der Gentes wie ihre eigene Sache behandelten. Dass dieses Recht der gens romana bis zum Gesetz des Diktators Philo21 Bestand gehabt hat, haben wir an anderer Stelle gezeigt.22 Nachdem der Plebs nach langen Kämpfen schon die Ehen, der souveräne Gebrauch der Waffen und die Priesterschaft übertragen worden waren, ist durch dieses Gesetz schließlich dem ganzen Volk der Titel der römischen Majestät in den großen Versammlungen verliehen worden, in denen von da an alle quirites romani genannt wurden. Von dieser Zeit an bedeutete nomen romanum dann »Nation der in Rom von freien Männern Geborenen, die in der Versammlung das Recht des Friedens und des Krieges haben«. Aufgrund dieses Rechts hatten die Provinzen streng genommen eigentlich keinen Namen, denn mit den Siegen der Römer ist ihnen das souveräne Recht der Waffen entzogen worden. Und in der Tat hatten ihre Bürger gegenüber den römischen Bürgern eigentlich auch keinen Namen, so wie früher die römische Plebs gegenüber den Vätern keinen Namen hatte. Und hier zeigt sich der Anfang des Rechts des römischen Volkes, mit dem dieses seine Eroberungen ausdehnte, mit gewissen Unterschieden in Latium, in Italien und in den Provinzen, wie wir später [228–231] zeigen werden. Es bleibt uns also schließlich nur noch, in guter natürlicher Ordnung unsere Ideen über das Recht der Gentes hinsichtlich des äußerst wichtigen Aspekts der Regierungen zu erläutern, was die letzte der sieben Hinsichten ist, die wir uns oben [72] vorgenommen haben. Dies hat uns bei unseren Überlegungen die größte Mühe gekostet, die man braucht, um mit der Kraft des Verstandes in das Wesen der ersten Menschen einzudringen, die keine Sprache hatten. Wir fanden schließlich, dass aus denselben 21

 Quintus Publilius Philo war Diktator im Jahr 339 v. Chr.   De uno, CLXI , CLXII .

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natürlichen Ursachen, die bei allen ersten Nationen die heilige Sprache aus Hieroglyphen oder stummen Charakteren erzeugten (wie wir unten ausführlicher [317 – 328] zeigen werden), die nur die Adeligen kannten und die dem Volk der Plebejer unbekannt war und von der als göttlich betrachteter Sprache die ersten uralten Gesetze abhingen, dass es sich also aus denselben Ursachen natürlich ergab, dass in der ersten Welt der Nationen alle ersten Regierungen aristokratisch waren, das heißt aus dem Stand der Adeligen bestanden, die sowohl bei den Römern als auch bei den Griechen, Ägyptern und Asiaten in den Zeiten ihrer Barbarei Heroen gewesen sind. Aber als nach und nach sich bei den Nationen die Lautsprachen bildeten und die Wortschätze immer größer wurden (was, wie wir oben [42] gesagt haben, eine gute Schule war, den menschlichen Geist geschickt und flink zu machen), da sind die Plebejer zu dem Schluss gekommen, dass sie von gleicher Natur seien wie die Adeligen. Und infolge dieser Erkenntnis der wahren Natur des Menschen durchschauten sie auch die Eitelkeit des Heroismus und wollten im Recht bezüglich der Nützlichkeiten mit den Adeligen gleichgestellt werden. Und daher, weil sie die schlechte Regierung immer weniger ertrugen, die die Adeligen aufgrund des eitlen Rechts ihrer eingebildeten heroischen Natur, das heißt ihrer von Menschen unterschiedlichen Art, über sie ausübten, erhob sich schließlich auf den Ruinen des natürlichen Rechts der heroischen Gentes, das sich ja auf die Überlegenheit der Körperkräfte stützte, das natürliche Recht der menschlichen Völker, wie es Ulpian nennt und definiert, das sich auf die Gleichheit der Vernunft stützt. Folglich wurden die Völker in derselben Zeit, in der sie schon natürlicherweise oder faktisch aus Adeligen und Plebejern bestanden – und zwar aus mehr Plebejern als Adeligen –, mit den Ideen der Menge Herren der Sprachen, und die Völker selbst wurden natürlicherweise Herren der Gesetze in den volkstümlichen Republiken, oder sie gingen natürlicherweise in Monarchien über, welche die Gesetze in der gemeinsamen Sprache des Volkes fassen. So vereinigten sich in den Personen der Monarchen die uralten Auspizien (das nennt man das »Glück der Schlachten«), es ver-



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einigten sich die Namen der Nationen (das ist der »Ruhm der großen Taten«), und durch die Auspizien und die Namen vereinigte sich in ihnen die höchste Gewalt der Waffen, mit denen sie die eigenen Religionen und die eigenen Gesetze verteidigen, durch die sich die Nationen unterscheiden und bewahren. Und die Beherrschung der Hieroglyphen-Sprache der ersten Gentes blieb bei den freien Völkern in der Versammlung als ganze erhalten und später bei den Monarchen beschränkt auf eine gewisse Sprache der Waffen, mit der die Nationen miteinander in den Kriegen, in den Bündnissen und im Handel kommunizierten. Diese Sprache finden wir weiter unten wieder als Prinzip der Wissenschaft von den Wappen [329] und auch als Prinzip der Wissenschaft von den Medaillen [349]. Das ist der tiefe Grund dafür, dass in den Nationen mit konventionellen Sprachen die Regierungen von monarchischen zu volkstümlichen übergehen können und umgekehrt. Aber niemals liest man in der sicheren Geschichte aller Zeiten aller Nationen, dass in menschlichen und zivilisierten Zeiten eine dieser beiden Regierungsformen jemals in die aristokratische Regierung übergangen wäre. Das gibt zu denken, mit wie viel Wissenschaft die Philosophen über die Prinzipien der zivilen Regierungen nachgedacht haben und mit wie viel Wahrheit Polybios über ihre Veränderungen reflektiert hat ! Korollar Praktischer Versuch über den Vergleich der philosophischen Prinzipien mit der volkstümlichen Überlieferung, dass das ­ Zwölftafelgesetz aus Athen gekommen sei 23 Das bisher Gesagte allein würde schon genügen, dass wir uns in Zukunft in Acht nehmen, Autoren zu vertrauen, die auf der Basis von volkstümlichen Überlieferungen über die Anfänge des natürlichen Rechts der Völker und des römischen zivilen Rechts geschrieben haben. Weil es aber die Pflicht dessen ist, der die 23

 Dieser Abschnitt ist als Exkurs nicht nummeriert.

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Systeme anderer kritisiert, ein eigenes vorzuschlagen, in dessen Prinzipien alle Wirkungen sich mit größerem Glück entfalten, so fahren wir mit unserer Betrachtung fort, um dieser Pflicht Genüge zu tun. Aber bevor wir den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen, halten wir es für angebracht, einen Versuch über die Wahrheit und Nützlichkeit dieser Neuen Wissenschaft zu machen, entweder um ihn dann später weiterzuverfolgen oder um ihn gleich hier am Anfang aufzugeben. Der Versuch ist also der folgende: Ob wir durch die Überlegungen, mit denen wir die voranstehenden Prinzipien allein mit der Kraft unseres Verstandes aufgestellt haben, eingedrungen sind in die Natur der ersten Menschen, welche die heidnischen Nationen gründeten, so dass sie die Nationen – mit der von uns aufgestellten Ordnung der Ideen – in jenen Zustand geführt und vollendet haben, in dem wir sie von ihnen aus der Hand unserer Vorfahren erhalten haben. Dabei stellen wir folgenden Vergleich an: Ob wir auf diese Weise, gegen alte gemeinsame Gewohnheiten und indem wir mit gewaltiger Kraft alles ablegten, was die Philosophen und die Philologen früher über die Menschheit der Nationen gedacht und erzählt haben, Prinzipien gefunden haben, die vernünftig in den Ursachen und passend in den Wirkungen waren. Oder ob wir nun, im Gegenteil, mit einer entgegengesetzten Kraft, die im Vergleich mit der ersten sehr sanft sein müsste, gegen diese wenigen neuen und singulären Erkenntnisse versuchen, wenn wir können, jene Prinzipien zu vergessen, und ob wir uns fürderhin – wie wir es vorher gemacht haben – erlauben dürfen, uns mit ruhigem Geist auf die volkstümlichen Überlieferungen zu beziehen, die uns die Alten in ihren Schriften hinterlassen haben. Wenn uns das nicht gelingt, so ist das ein wirklicher Beweis, dass die hier erfassten Dinge sich mit der innersten Substanz unserer Seele vereinigt haben, das heißt dass sie nichts anderes gemacht haben, als unsere Vernunft zu entfalten, so dass wir unser Menschsein aufgeben müssten, wenn wir diese Dinge negieren wollten (das wäre jene innerste Philosophie, aus der Cicero die Wissenschaft eines solchen Rechts erschaffen wollte), und dass die bisher erarbeiteten Prinzipien wahr waren, aber bisher in uns selbst verschlossen oder unterdrückt



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von der Last des Gedächtnisses, so viele unzählige unzusammenhängende Dinge zu erinnern, die unserem Verstand völlig nutzlos oder von unserer Phantasie verunstaltet waren, weil wir sie uns mit unseren gegenwärtigen Ideen und nicht mit den ihnen eigenen uralten Ideen vorgestellt haben. Nun also lassen wir einmal die bisher untersuchten Dinge über die Anfänge der falschen Religionen und der aus diesen hervorgegangenen Götter, der Gesetze und ihrer ersten heiligen Sprache, der heroischen Sitten der Heroen und ihrer Regierungen beiseite, als ob diese völlig unbekannt wären, so wie sie ja Tausende von Jahren tatsächlich unbekannt gewesen sind, und kommen überein über die folgenden Dinge der sicheren römischen Geschichte: Sicher ist der Kampf der Plebejer mit den Vätern um die Eheschließung mit gemeinsamen Auspizien. Dies ist göttliches Recht, dessen Mitteilung der Jurist Modestinus als ersten und hauptsächlichen Teil der gerechten und feierlichen Ehen betrachtet, die die römischen Bürger schließen, wo er sie definiert: sunt omnis divini et humani iuris communicatio [»sie sind die Mitteilung allen göttlichen und menschlichen Rechts«]. Und dieser Kampf findet in Rom dreihundertundsechs Jahre nach seiner Gründung statt, also drei Jahre, nachdem das Zwölftafelgesetz dem Volk gegeben wurde. Hier müssen wir bedenken, dass zu jener Zeit die Plebs noch keine gemeinsamen Götter mit den Vätern hatte, was so viel besagt, wie dass die Plebs eine vom Stand der Adeligen völlig verschiedene Nation war, da doch gewiss erst die Einheit der Religion die Nationen vereint. Aber eine dichte Nacht der Dunkelheit, ein Abgrund an Verwirrung darf unseren Geist nicht verwirren und daran hindern zu erforschen, von welcher Natur, von welchen Sitten, von welcher Regierungsart das Alte Rom gewesen ist, von dem wir uns, von unseren modernen Naturen, Sitten und Regierungen ausgehend, überhaupt kein – und sei es auch noch so fernes – Bild machen können ! Unser Geist muss seinen ganzen Scharfsinn oder eher seinen ganzen Witz anstrengen, um die Ehre unseres schon altgewordenen Gedächtnisses bei folgenden Behauptungen zu wahren: dass die römische Regierung unter den Königen monarchisch, gemischt mit Volksfreiheit, gewesen sei; dass

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Brutus mit der Vertreibung der Könige die völlige Volksfreiheit begründet habe; dass das Zwölftafelgesetz aus Athen gekommen sei, einer in jenen Zeiten gewiss freien Stadt, und dass es in Rom völlig die Gleichheit hergestellt hätte. Dagegen bleibt uns das folgende öffentliche Zeugnis unwidersprochener Geschichte erhalten: dass die Plebejer bis sechs Jahre nach diesem Gesetz nicht nur keine römischen Bürger waren, da sie die göttlichen Dinge nicht mit den Adeligen teilten, sondern dass sie nicht einmal zur römischen Nation gehörten; denn die Väter hielten den Plebejern entgegen, dass nur sie selbst, da sie adelig waren, die gens hätten, die gewiss die römische war; und, was uns ganz fassungslos macht, dass sie die Plebejer für eine von den Menschen verschiedene Art hielten, weil sie agitarent connubia more ferarum, »die Beilager nach Art der Tiere pflegten«, die daher auch nur so lange dauerten, wie der Beischlaf mit ihren Frauen dauerte. Wenn wir dem Modestinus nicht vorwerfen können, dass er die Ehen falsch definiert hat; wenn wir die gemeinsame Sitte der Nationen nicht negieren können, dass keine Stadt je nach Gott in Teile geteilt ist, da jede aufgrund der Religion in Teile geteilte Stadt entweder schon zerstört ist oder kurz vor der Zerstörung steht; wenn wir das in die Augen springende Zeugnis der sicheren römischen Geschichte über ein Recht nicht übersehen können, dem man sich in Rom sechs Jahre lang mit öffentlichen Reden und Volksbewegungen entgegenstellte, dann sehen wir uns notwendigerweise gezwungen – oder eher in eine Freiheit erhoben –, der allzu großen Genauigkeit der Kritiker zu misstrauen, die an jede der Tafeln des Gesetzes eigene Kapitel angeheftet haben: das Kapitel, in dem die Plebejer Familienväter sind, was doch nur Bürger sein konnten; jenes Kapitel, in dem die Plebejer feierliche Testamente machen und den Kindern Tutoren geben, was niemandem sonst erlaubt war als den Familienvätern; und dann jenes Kapitel, in dem ihre Erbschaften ab intestato ihren Erben zukommen, beim Fehlen von Erben ihren männlichen Verwandten und schließlich ihren gentiles, Erbschaften also von Plebejern, die bis sechs Jahren nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes überhaupt noch keine gens oder Haus hatten !



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Aber was für eine vergebliche Mühe, wo doch die Zweifel daran, dass das Gesetz aus Athen nach Rom gekommen ist, so groß sind, dass man sie auf keinen Fall überhören darf. Denn aus dem Innern unseres Geistes drängen uns Warnungen, die immer in unserem Kopf hallen werden, über die wilde und zurückgezogene Natur der ersten Nationen, zwischen denen es erst anlässlich von Kriegen, Allianzen und Handel sprachlichen Verkehr geben konnte. Wenn Livius entschieden verneint, dass sechsundachtzig Jahre zuvor der hochberühmte Name des Pythagoras durch so viele in Sprachen und Sitten verschiedene Nationen in dem kleinen Teil Italiens von Kroton nach Rom gekommen sein kann, wie soll denn dann der Ruhm der Weisheit Solons aus Attika über das Meer zu den Römern gedrungen sein, das der von uns am weitesten entfernte Teil Griechenlands ist ? Wie konnten die Römer die Qualität der athenischen Gesetze so genau kennen, dass sie diese für geeignet hielten, die Kämpfe zwischen Plebejern und Adeligen zu befrieden, und das in einer Zeit, in der gerade einmal zwanzig Jahre früher Thukydides schreibt, dass die Griechen selbst jenseits der Erinnerung an ihre Väter nichts von ihren eigenen Dingen wüssten ? Wie wurden die Römer mit den Griechen bekannt und in welchen Sprachen tauschten sie Botschaften aus, wo doch noch einhundertzweiundsiebzig Jahre später ihre Botschafter, weil sie völlig unbekannt waren und sich sprachlich nicht verständigen konnten, in Italien von den Tarentern misshandelt wurden und erst von diesem Krieg an die ­Römer begannen, sich mit den Griechen bekannt zu machen ? Vermutlich deswegen, weil es keinen sprachlichen Austausch gab, kehrten die römischen Botschafter – wahrhafte Grotius’sche Einfältige und höchst lächerliche Botschafter des Accursius, die leider die berühmte Weisheit der Dezemvirn diskreditierten – mit den griechischen Gesetzen nach Hause zurück, ohne zu wissen, was sie enthielten. Sie hätten auch nicht gewusst, was sie mit den mitgebrachten Gesetzen machen sollten, wenn nicht in der Zwischenzeit die Autoren des Mythos den Griechen Hermodor hätten kommen lassen, sein Exil in Rom zu nehmen. Wie aber übersetzte Hermodor die Gesetze in solch großer lateinischer Reinheit, dass Diodorus Siculus urteilte, dass man kein bisschen

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griechischen Einfluss spüren würde, und wo wir bestätigen können, dass es auch danach keinen im Griechischen bewanderten lateinischen Autor gegeben hat, der mit gleicher Eleganz einen griechischen Schriftsteller übersetzt hätte ? Wie kleidete er griechische Ideen in so zutiefst lateinische Wörter, dass die Griechen, unter ihnen Dio, sagten, dass ganz Griechenland keine ähnlichen Wörter habe, um diese Ideen auszudrücken, wie das Wort auctoritas, das einen der wichtigsten Teile dieses Gesetzes, vielleicht sogar das ganze oder das einzige Anliegen dieses Gesetzes enthält, wie wir hiernach [167 – 173] zeigen werden ? An anderer Stelle haben wir, in zwei ganzen Büchern, gezeigt, 24 dass diese volkstümliche Überlieferung ein Mythos ist, wo wir aufgedeckt haben, dass der Rat der Botschaft, die tatsächlich unter diesem Anschein Rom verlassen hat, in Wirklichkeit die Plebs drei Jahre lang ruhig halten sollte. Nun, gegen die Angriffe einiger, die lieber nicht verstehen wollen als vergessen zu werden, stellen wir uns hier unter den Schutz von Cicero, der diesen Mythos niemals glauben wollte und auch sagte, dass er ihn nicht glaube. Daher erwähnt auch vor Cicero kein lateinischer und kein griechischer Autor dieses Faktum der römischen Geschichte, außer wenn wir dem Brief Glauben schenken wollen, den Heraklit an Hermodor geschrieben hat, in dem er sich mit Hermodor freut, dass dieser geträumt habe, dass alle Gesetze der Welt zu ihm gekommen seien, um seine Gesetze zu bewundern. Dieser Brief ist aber in Wirklichkeit ein Traum, geschrieben aus Ephesus oder aus der Wüste, wohin sich Heraklit später zurückzog, um dem ungerechten Hass der Epheser zu entkommen, und geschickt an jemanden nach Rom über jene Orte, durch die, wie wir sagten [37], Pythagoras seine weiten Reisen durch die Welt gemacht haben soll. Ein Brief, in der Tat unwürdig eines so ernsten Philosophen und unwürdig des Hermodor, eines Fürsten von solchem Verdienst, dass Heraklit fand, alle Epheser sollten bis zum letzten Mann aufgehängt werden, weil sie ihn aus ihrer Stadt vertrieben haben. Dass der eine solch eine schamlose Schmeichelei gemacht und der andere sich da24

  De const. phil., X X XVI f.



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ran erfreut haben soll, dass der Ruhm guter Gesetze der Ruhm eines Übersetzers sei, ist ja wie wenn einer sagte, dass der Ruhm eines großen Friedensschlusses den Dolmetschern zukomme. Und wenn ein solches Lob dem Hermodor gemacht wird, weil er der Autor gewesen sein soll, den man wegen der Rechte der Freiheit nach Athen geschickt habe, wie Pomponius glaubte, so verdient er doch ein solches Lob überhaupt nicht. Denn er war zwar einer der wichtigsten Bürger von Ephesus, wie Diogenes Laertius erzählt, aber er kannte doch zu seinem eigenen Schaden keine Gesetze der Freiheit, wegen deren Inexistenz er ja gerade von den Ephesern verjagt worden war, so wie der gerechte Aristides von den Athenern verjagt wurde und wie wenige Jahre vorher der tapfere Koriolan aus Rom ins Exil geschickt worden war. Daher müssen wir ein solches Geschwätz als Betrug betrachten, ähnlich dem Betrug des Orakels des Zoroaster und der Versfragmente von Orpheus. Im Übrigen sind die ältesten Autoren, die von einem solchen Faktum erzählen, Titus Livius und Dionys von Halikarnassos, so dass man allen anderen nachfolgenden nicht mehr Glauben schenken sollte, als diese beiden Autoren hierbei verdienen. Aber Cicero, der mehr als diese beiden Philosoph und auch Philologe war und viel besser informiert über die Geschichte der Gesetze der Republik, die er als weiser Konsul regierte, als ein Privatmann aus Padua und ein am Ruhm seiner arroganten Nation interessierter Grieche und der ohne Zweifel auch vor diesen beiden lebte, Cicero also führt in einer gelehrten Überlegung, die den Gegenstand der drei Bücher De Oratore ausmacht, den Marcus Crassus ein, der über die römischen Gesetze mit Quintus Mucius Scaevola diskutiert, dem Fürsten der Juristen seiner Zeit, und mit Servius Sulpicius, der – wie auch der Jurist Pomponius in seiner kurzen Geschichte des römischen Rechts erzählt – von Scaevola getadelt wurde, dass er, obwohl er Patrizier sei, die ­Gesetze seines Vaterlandes nicht kenne. Und Cicero, wie kein anderer achtsam auf das Dekorum der Dialoge, lässt den Marcus Crassus in Gegenwart solcher Männer sagen, was sonst eine unglaubliche Unverschämtheit gewesen wäre, dass die Weisheit der Dezemvirn, die den Römern das Zwölftafelgesetz gegeben

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haben, bedeutend größer gewesen sei als diejenige des Lykurg, der den Spartanern die Gesetze gegeben habe, des Drakon und selbst des Solon, der sie den Athenern gegeben hat ! Weiter unten [204 – 207] werden wir die Gründe der Motive aufdecken, aus denen in hässlichem Hin und Her gesagt wurde, dass das Zwölftafelgesetz einmal aus anderen Städten Latiums, etwa von den Aequern, ein andermal aus den griechischen Städten Italiens oder aus Sparta und schließlich aus Athen gekommen sei, wo, wegen des Ruhms seiner Philosophen, dieses Herumirren schließlich endete. Wir werden dort [204] sehen, dass dem Zwölftafelgesetz geschehen ist, was den Reisen des Pythagoras geschah, an die darum geglaubt wurde, weil sich die Meinungen des Pythagoras bei den Griechen und dann ganz ähnlich bei weit und breit in der Welt verstreuten Nationen wiederfanden. Das Gesetz ist aber – wenn auch attische Gleichsetzer es in unwichtigen Dingen mit den athenischen Sitten gleichsetzen, andere es in ebenfalls kleinen Dingen mit denen der Spartaner gleichsetzen und christliche Gelehrte es in anderen ebenfalls geringfügigen Rechten mit den mosaischen Gesetzen gleichsetzen – im ganzen Korpus des römischen Rechts, wie wir in diesem Buch zeigen werden, das vollste und sicherste öffentliche Zeugnis der ganzen heidnischen Antike (das wegen der obigen volkstümlichen Meinung bis jetzt verkannt war), so dass es das Recht der Völker Italiens und Griechenlands und der anderen alten Nationen begründen konnte. Viel hat hierbei der römische Stolz geschadet, der mit der Arroganz der Griechen gleichziehen wollte, die ­Orpheus als den an verborgener Weisheit reichen Gründer ihrer Nation rühmten, die sie mit der Weisheit von Trismegistos und Zoroaster anreicherten, von denen dann, über Atlas, Orpheus als Philosoph herauskam. Aber weil die Römer keinen solchen Orpheus in Italien hatten – Livius verneint, dass Numa von Pythagoras gelernt habe, wie sehr die Römer ihn auch gelobt hatten –, machten sie Solon, den Fürsten der Weisen Griechenlands, zum Autor der Gesetze, die ihnen die Vorsehung diktiert hatte, wie wir später [193, 356] zeigen werden. Durch diese falsche Meinung ist dem Zwölftafelgesetz dasselbe geschehen, was mit der Weisheit des Zoroaster, des Trismegis-



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tos und des Orpheus geschehen ist, denen Werke der verborgenen Weisheit angehängt worden sind, die erst viele Jahre nach der volkstümlichen Weisheit entstanden ist und die ja gerade erst durch die volkstümliche Weisheit des Zoroaster, Trismegistos und Orpheus entstanden ist. Und weil man sich vorgestellt hat, dass die zwölf Tafeln auf einmal aus Athen, damals einer Stadt vollendeter Freiheit, gekommen sind, hängte man auch ihnen noch viele Rechte und Gesetze an, die der Plebs erst nach langer Zeit und nach vielen Kämpfen von den Adeligen zugestanden wurden, wie, sechs Jahre später, zum Beispiel die Eheschließungen, die sich die Väter mit den Auspizien in der Tafel XI vorbehalten hatten und von denen abhängen: väterliche Gewalt, Testamente, Vormundschaften, Rechtsfähigkeit, männliche Blutsverwandtschaft und Gentilität [patria potestas, testamenta, tutela, suitas, agnationes, gentilitas]. Wir müssen uns daher entscheiden: Ob wir uns in dieser dichten Nacht, in so schwerer See, inmitten solch gefährlicher Klippen in ein so grausames Unwetter begeben sollen, das von Grund auf das ganze menschliche Denken umstürzt, um die Schatten der dunklen Zeit und die Mythen der heroischen Zeit zu verteidigen, die ja eher später erfunden worden sind, als dass sie von Anfang an auf einmal entstanden wären. Oder ob wir den Mythen, anstelle der bisherigen launenhaften Interpretationen, mit unserer Vernunft die Bedeutungen geben sollen, die die Vernunft verlangt, indem wir uns die Dinge der dunklen Zeit aneignen, die bisher niemandem gehört haben und die folglich dem Besitzergreifenden legitimerweise überlassen werden. Auf diese Weise können wir jene Nächte aufhellen, jene Unwetter beruhigen, jene Klippen umschiffen, mit den oben [44 – 48] aufgestellten Prinzipien über die heroische Natur, über die nicht rational mit den Ideen der Philosophen reflektiert wird und nicht mit den Ideen der Romanschreiber phantasiert wird, sondern vom ersten Autor der ganzen profanen Gelehrsamkeit, von Homer, treu hinsichtlich dieser Prinzipien erzählt wird und die bei Achill und bei Polyphem gleichermaßen übereinstimmt mit dem Gesetz des Lykurg oder der Sitte von Sparta, nach der den Spartanern die Kenntnis der Schrift verboten war, wodurch diese in ihrer

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Wildheit verblieben und die spartanische Regierung aristokratisch blieb, was im Großen und Ganzen alle politischen Schriftsteller anerkennen. Sparta war im Übrigen eine unseren Repu­ bli­ken völlig unähnliche Republik, auch wenn diese Republiken aus der letzten Barbarei auf uns gekommen sind, die daher in unserer höchst kultivierten gegenwärtigen Menschheit mit vollendeter Weisheit bewahrt werden müssen. Aber die spartanische Republik bewahrte durch ihre Wildheit sehr viel von den alten heroischen Sitten Griechenlands, so dass alle Philologen darin übereinstimmen, dass sie ein herrschender Stand von Herakliden oder von Herkulischen Geschlechtern war, unter zwei Königen, die von diesem Stand auf Lebenszeit gewählt wurden. Wir werden finden, dass gerade auch die römische Regierung diese Form hatte, als in Rom ohne jegliche Schrift die Wildheit herrschte, das heißt solange nur die Adeligen die Schrift kannten. Und dass die zwischen den göttlichen und den menschlichen Dingen liegende heroische Natur der Nationen bisher unerkannt war, weil wir sie nur erinnert oder sie uns ganz anders vorgestellt haben, hat uns die göttlichen Dinge der Nationen verborgen gehalten, die von Anfang an an diesen festhielten, und hat uns die Wissenschaft von den menschlichen Dingen nicht erkennen lassen, die alle aus den göttlichen entstanden sind. Und so ist nicht nur der Stoff zur Erarbeitung von Systemen des natürlichen Rechts der Völker verändert und zerstört auf uns gekommen, sondern die ganze Wissenschaft von der göttlichen und menschlichen heidnischen Gelehrsamkeit. Nach diesem Beispiel einer strengen Prüfung unserer Gedanken über die Dinge, die wir nachher untersuchen werden, nehmen wir jetzt den von uns eingeschlagenen Weg wieder auf.



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VIII. Skizze einer Ewigen Idealen Geschichte, nach der die Geschichte aller Nationen in der Zeit verläuft, mit sicheren Ursprüngen und sicherer Fortdauer

Die Ewigkeit und Universalität des natürlichen Rechts der Völker haben wir nun also mit den oben genannten [48 – 49, 55] Eigenschaften festgestellt. Und da dieses Recht mit den gemeinsamen Sitten der Völker entstanden ist und da die Sitten der Völker zu Konstanten der Nationen geworden sind und da die menschlichen Sitten, zusammengenommen, Praktiken oder Gebräuche der menschlichen Natur sind und da die Natur der Menschen sich nicht auf einmal total verändert, sondern immer einen Eindruck von der besonderen Art oder dem ersten Gebrauch beibehält, muss diese Wissenschaft gleichzeitig sowohl eine Philosophie als auch eine Geschichte der menschlichen Sitten sein. Dies sind die beiden Teile, welche die Art von Jurisprudenz vollenden, um die es sich hier handelt, die Jurisprudenz des Menschengeschlechts, und zwar so, dass der erste Teil eine verkettete Reihe von Gründen entfaltet und der zweite Teil eine kontinuierliche, ununterbrochene Folge von Fakten der Menschheit in Übereinstimmung mit diesen Gründen erzählt, da die Ursachen entsprechende Wirkungen erzeugen. Und auf diesem Weg lassen sich die sicheren Ursprünge und die ununterbrochenen Fortschritte der ganzen Welt der Nationen finden, so dass diese Wissenschaft, nach der gegenwärtigen, von der Vorsehung aufgestellten Ordnung der Dinge, eine Ewige Ideale Geschichte wird, nach der die Geschichte aller Nationen in der Zeit verläuft. Von der allein kann man wissenschaftlich die Universalgeschichte mit sicherem Ursprung und sicherer Fortdauer erlangen, also mit den beiden höchsten Dingen, die in ihr bis zum heutigen Tag so sehr erwünscht sind.

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Und dieselbe Wissenschaft kann daraus eine kritische Kunst über die Gründer der Nationen liefern, welche die Regeln gibt, wie man das Wahre in allen heidnischen Geschichten herausfindet, die an ihren barbarischen Anfängen das Wahre mehr oder minder mit Mythen vermischt haben. Denn auch gebildete Historiker müssen die volkstümlichen Überlieferungen der Völker erzählen, deren Geschichte sie schreiben, damit sie vom Volk für glaubwürdig gehalten werden und den Republiken nützen, für deren Fortdauer sie ja diese Geschichte schreiben. Die Überprüfung der Wahrheit überlassen sie den Gelehrten. Aber die zweifelhaften Fakten müssen in Übereinstimmung mit den Gesetzen verstanden werden, und die zweifelhaften Gesetze müssen in Übereinstimmung mit der Natur gedeutet werden. Daher müssen die zweifelhaften Gesetze und Fakten so verstanden werden, dass sie keine Absurdität oder Verwirrung und, noch weniger, Unmöglichkeiten stiften. Die zweifelhaften Völker müssen in Übereinstimmung mit den Formen ihrer Regierungen gehandelt haben; die zweifelhaften Regie­ rungsformen müssen übereinstimmen mit der Natur der regierten Menschen; die zweifelhafte Natur der Menschen muss von der Natur ihrer Umgebung beeinflusst worden sein, anders auf den Inseln als auf dem Festland, so dass dort die Menschen zurückhaltender, hier aber aufgeschlossener sind; anders in den Binnenländern als in den Küstenländern, dort gedeihen Bauern, hier Händler; anders in warmem, luftigem Klima als in kaltem und starrem, dort werden sie mit scharfem, hier mit stumpfem Geist geboren. Mit diesen Regeln für die Interpretation auch neuer Gesetze und frischer Taten macht man die volkstümlichen Überlieferungen verständlich, die von der Menschheit der dunklen und mythischen Zeiten auf uns gekommen sind und die, wie sie sich bisher dargeboten haben, absurd und sogar unmöglich schienen. Doch die Ehrfurcht, die man ihnen wegen ihres Alters schuldet, bleibt ihnen durch die folgende Maxime erhalten: Dass jede Gemein-



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schaft von Menschen natürlich dazu neigt, die Erinnerung an die Gebräuche, Ordnungen und Gesetze zu bewahren, die sie in dieser oder jener Gesellschaft hatten. Wenn also alle heidnischen Geschichten ihre mythischen Anfänge bewahrt haben – allen voran die griechische, von der wir alles haben, was wir vom Altertum der Heiden wissen –, dann müssen die Mythen einzigartige historische Erzählungen der uralten Gebräuche, Ordnungen und Gesetze der ersten heidnischen Nationen enthalten. Dies ist das hauptsächliche Vorgehen dieses ganzen Werks. X. I. … mit einer bestimmen Art von synchronen Zeugnissen aus den Zeiten, in denen die heidnischen Nationen entstanden sind

Zum ersten: Die in allen Anfängen der heidnischen Geschichte verstreuten mythischen Überlieferungen, die sich in mehreren alten heidnischen Nationen in gleicher Form finden, auch wenn diese durch ungeheure Land- und Meeresräume voneinander getrennt sind, müssen entstanden sein durch Ideen, die ihnen natürlicherweise gemeinsam waren. Diese Überlieferungen sind synchrone Zeugnisse, die mit den Anfängen des natürlichen Rechts der Völker zusammenfallen. Wie es zum Beispiel die Sage von den Heroen ist, die die Götter mit Frauen zeugen; denn diese findet sich in gleicher Form bei den Ägyptern, den Griechen und Römern. Die Letzteren erzählen, dass Romulus der Sohn des Mars gewesen ist, der ihn mit Rhea Silvia gezeugt hat. Das lässt an eine diesen drei Nationen natürlicherweise gemeinsame Idee denken, die ihnen der Anfang der heroischen Zeit gab. Und hier erscheint auch gleich der besondere Unterschied zwischen den Anfängen der Heiligen Geschichte und der profanen Geschichte: Denn wenn die Bibel bei der Erzählung von den Giganten den Ausdruck »Söhne Gottes« enthält, was Bochart 25 erklärt mit »Söhne Seths«, so ist sie ganz rein geblieben vom Schmutz der profanen Geschichte, welche die unzüchtigen Be25

  Samuel Bochart, Geographia sacra, Rouen 1646.

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gegnungen der Götter mit den Frauen erzählt. Daher muss die Interpretation völlig zurückgewiesen werden, dass die Giganten von Incubus-Dämonen gezeugt worden wären, damit die Heilige Geschichte von keinem Hauch des Heidentums kontaminiert wird. Denn im Heidentum, bei den Griechen, wurde der Incubus-Dämon Πάν genannt, das heißt Gott Pan, ein poetisches Monstrum, zusammengesetzt aus Mensch und Ziege, das, wie wir weiter unten sagen werden [271, 279], Menschen bezeichnet, die aus der Verbindung in abscheulichen Beilagern stammen. XI. II. … mit einer bestimmten Art von Medaillen der ersten Völker, mit denen die Sintflut bewiesen wird 96

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Und da die öffentlichen Medaillen die sichersten Dokumente der sicheren Geschichte sind, muss man in der mythischen und dunklen Geschichte einige erhaltene Trümmer aus Marmor für die Medaillen der ersten Völker halten, die deren gemeinsame Sitten beweisen. Die wichtigste davon ist die folgende: Dass alle ersten Nationen aus Mangel an konventionellen Wörtern sich mit Gegenständen ausdrückten, die zunächst ganz fest und dann eingeritzt oder gemalt gewesen sein müssen, wie es Olav Magnus26 von den Skythen erzählt und wie es Diodorus Siculus von den Äthiopiern geschrieben hat und wie wir die Hie­ ro­glyphen an den Pyramiden der Ägypter beschrieben haben. Und überall findet man antike Fragmente mit solchen Charakteren von eingeritzten Gegenständen.27 Von dieser Art mussten von Anfang an die magischen Charaktere der Chaldäer gewesen sein, und auch die Chinesen, die sich eitel des enormen Alters ihrer Anfänge rühmen, schreiben mit Hieroglyphen. Das beweist, dass ihr Ursprung nicht älter ist als viertausend Jahre, was man dadurch bestätigen kann, dass sie, da sie sich bis vor   Olaus Magnus, Historia de gentibus septentrionalibus, Rom 1555.  Das griechische Verb für »einritzen« χαράσσειν liegt dem Wort Charakter zugrunde.

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wenigen Jahrhunderten allen fremden Nationen verschlossen, nicht mehr als dreihundert lautliche Wörter haben, mit denen sie durch Variation der Artikulation sprechen. Das ist ein Beweis für die lange Zeit und die große Anstrengung, die nötig war, bis die Nationen sich Lautsprachen erarbeitet haben, worüber wir gleich ausführlicher sprechen werden [Kapitel 3]. In letzter Zeit haben Reisende beobachtet, dass die Amerikaner mit Hieroglyphen schreiben. Die der ganzen Welt gemeinsame Armut an lautlichen Wörtern der ersten Nationen beweist erneut, dass ihnen zuvor die Sintflut widerfahren ist. Dieser Beweis löst nämlich die verrückte Auflösung der Erde auf, die Thomas Burnet in einer Phantasie imaginiert, 28 deren Motive er zunächst von Van Helmont und dann aus der Physik des Descartes hatte: Durch die Sintflut hätte sich die Erde im Süden mehr als im Norden aufgelöst, so dass der Norden dann im Inneren mit mehr Luft gefüllt gewesen wäre und folglich, weiter oben schwimmend und höher als die ganz vom Ozean bedeckte gegenüberliegende Seite, die Erde aus ihrem Parallelismus mit der Sonne gebracht hätte. [Hätte es lautliche Wörter gegeben,] hätte Idanthyrsus, der König von Skythien, nicht mit Hieroglyphen geantwortet, als Darius der Große ihm mit seinen Botschaftern den Krieg erklärte. Und da die Wissenschaft von solchen Charakteren bei allen alten Nationen in Priester-Orden geheim gehalten wurde (wie wir gleich [198] zeigen werden) und da Moses aber dem ganzen Volk das geschriebene Gesetz Gottes zu lesen gab, entsteht hier ein Beweis von der Wahrheit der christlichen Religion; denn Noah ist mit seiner Familie vor der Sintflut bewahrt worden, die im Volk Gottes, auch in der ägyptischen Gefangenschaft, die vorsintflutliche Literatur auf bewahrt hat. Mit solchen Beweisen aus der gesamten menschlichen Natur begründen wir die Prinzipien dieser Wissenschaft zusammen mit der Wahrheit der christlichen Religion, nicht nur mit der Autorität der Schriftsteller, von denen die Überlieferungen der pro­ fanen Dinge in höchstem Maße verändert worden sind. 28

  Thomas Burnet, Telluris theoria sacra, London 1689.

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XII. III. … mit physischen Beweisen, mit denen die Giganten als erstes Prinzip der profanen Geschichte und ihrer Fortdauer mit der heiligen bewiesen werden 100 101

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Darüber hinaus bringen wir Belege mit physischen Beweisen, auf die dann der Beweis von der Natur der ersten Nationen folgt. So verbietet nichts in der Natur, dass die Giganten Männer mit riesigen Körpern und maßlosen Kräften gewesen sind, wie es in der Tat die alten Germanen waren, die viel von ihrem uralten Ursprung behalten haben, sowohl in den Sitten wie auch in der Sprache, denn sie ließen niemals eine Fremdherrschaft zivilisierter Nationen in ihren Grenzen zu. Und noch heute werden Giganten am Fuße Amerikas geboren. Daher wurde über die physischen und moralischen Ursachen nachgedacht, die zuerst Julius Cäsar und dann Cornelius Tacitus über die alten Germanen anführen. Diese beziehen sich insgesamt auf die tierhafte Erziehung der Kinder, die sie nackt in ihrem eigenen Schmutz sich wälzen ließen, auch wenn sie Kinder von Fürsten waren, und die sie, ohne jegliche Furcht vor Lehrern, frei über sich verfügen ließen, die Kräfte des Körpers zu üben, auch wenn sie Kinder von Armen waren. Und wir entdecken, dass diese Ursachen noch viel wichtiger waren bei den Geschlechtern von Kain vor der Sintflut und von Ham und Japhet nach der Sintflut, die von ihren Vätern in die Gottlosigkeit geschickt wurden und nach einiger Zeit von sich aus in die tierische Freiheit gingen. Wo doch selbst die Kinder der alten Germanen ihre Götter, die ihre Väter waren, fürchteten. So bewahrheitet sich bei den Giganten, von denen die Heilige Schrift erzählt, dass sie aus der Vermischung menschlicher Samen der Söhne Gottes (die Samuel Bochart mit den Abkömmlingen von Seth vor der Sintflut erklärt und wir mit denen von Sem nach der Sintflut) mit den Töchtern der Menschen hervorgehen (die Bochart mit der Abstammung von Kain vor der Sintflut erklärt und wir auch als Abkömmlinge von Ham und Japhet nach der Sintflut). Die Heilige Schrift erzählt, dass die Giganten »Gewaltige in der Welt und berühmte Männer« waren und dass



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Kain der Gründer der Städte vor der Sintflut war und dass der Riese Nimrod den Großen Turm nach der Sintflut errichtete. So stellt sie in voll entfalteter Klarheit die ganze Welt, vor und lange Zeit nach der Sintflut, als in zwei Nationen getrennt dar: Die eine war die Nation von Nicht-Giganten, anständig erzogen in der Furcht Gottes und der Väter, die Nation der an den wahren Gott, an den Gott Adams und Noahs Glaubenden, die verstreut waren in den weiten Ländern Assyriens, wie später in ihren Ländern die alten Skythen, ein sehr gerechtes Volk. Die andere Nation bestand aus götzenanbetenden Giganten, wie die alten Germanen, die auf die Städte verteilt waren, die sich nach und nach mit ihren furchtbaren Religionen und den schrecklichen Herrschaften der Väter (die wir nachher [182, 211] beschreiben) und schließlich durch die Sauberkeit, die »Poliertheit« der Erziehung (vom selben Ursprung stammt vielleicht πόλις für »Stadt« im Griechischen, und polio und politus bei den Römern) von ihrer maßlosen Größe auf unsere richtige Größe verkleinerten. Mit dieser Überlegung eröffnet sich der einzige, bisher verschlossene Weg, den sicheren Ursprung der profanen universellen Geschichte und deren Fortdauer mit der Heiligen Geschichte zu entdecken, die ja älter ist als jede profane Geschichte. Diese beiden Geschichten verbinden sich miteinander durch den Anfang der griechischen Geschichte, von der wir alles haben, was wir vom profanen Altertum wissen. Diese erzählt uns vor allem anderen, dass das Chaos, von dem wir unten erfahren [299], wohl zunächst die Vermischung der menschlichen Samen und dann die Vermischung der Samen der ganzen Natur bedeutet hat. Und sie stellt die Giganten in die Nähe der Sintflut; und, durch den Giganten Prometheus, erzählt sie von Deukalion, dem Enkel von Japhet und Vater von Hellenos, dem Gründer des griechischen Volkes, dem er den Namen »Hellenen« gab. Dies ist wohl das griechische Geschlecht, das von Japhet abstammt und dann ganz Europa bevölkert hat, so wie Ham Phönizien und Ägypten und dann Afrika. Aber wegen der Verderbnis der Überlieferungen, die Homer zur Verfügung standen, ist das Chaos dann für die Vermischung der Samen der Natur gehalten worden, und die Ogyges-Flut und die Deukalion-Flut, die wohl nur unvoll-

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ständige Überlieferungen der Sintflut gewesen sind, wurden für besondere Sintfluten und die Körper und Kräfte der Giganten für in der Natur unmöglich gehalten. Der Ursprung der profanen Geschichte und ihre Fortdauer mit der Heiligen Geschichte ist also bis zum heutigen Tag verkannt worden. XIII. IV. … indem wir den Mythen natürliche Bedeutungen geben, entdecken wir, dass zu einer bestimmten Zeit nach der Sintflut die Prinzipien der Idolatrie und der Divination entstanden sind, die den Römern, Griechen und Ägyptern gemeinsam sind, nachdem diese im Orient durch ein anderes Prinzip entstanden waren 104

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Des Weiteren bestätigen wir diese Ursprünge mit Deutungen aus der Natur-Geschichte dieser Mythen, wie der folgenden: dass es aus natürlichen Gründen vernünftig ist anzunehmen, dass nach der Sintflut die Erde lange Zeit keine Ausdünstungen oder brennende Stoffe in die Luft geschickt hat, die Blitze bilden konnten. Und da bestimmte Gegenden näher bei der Hitze des Äquinox lagen wie Ägypten oder weiter entfernt wie Griechenland und Italien, so hat der Himmel früher oder später gedonnert. Also begannen zahlreiche heidnische Nationen mit Religionen zahlreicher Jupiter, deren ältester der Jupiter Ammon in Ägypten gewesen ist. Die Vielzahl von Jupitern hat die Philologen sehr verwundert, was sich aber durch unsere Prinzipien aufklärt: Denn bei allen Nationen wurde gleichermaßen eine Gottheit im Himmel imaginiert, die Blitze schleudert. Diese vielen Jupiter beweisen die Sintflut auf natürliche Weise, und sie bestätigen den gemeinsamen Anfang der ganzen heidnischen Menschheit. Jupiter schlägt die gottlosen Giganten zu Boden und jagt sie in ihre Höhlen. Daher ist der Krieg der Giganten, in dem diese Berge auf Berge türmten, um Jupiter aus dem Himmel zu vertreiben (wie wir gleich [145] allgemein zeigen werden), sicher eine Phantasie der Poeten gewesen, die nach Homer gekommen sind. Zu dessen Zeiten genügte es den Giganten nämlich noch, den Olymp zu erschüttern, auf dessen Gipfel und Rücken, wie



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es Homer ständig erzählt, sich Jupiter mit den anderen Göttern aufhielt. Es ist möglich  – und von den Wirkungen her, die wir gleich über die Art und Weise der Teilung der Felder zeigen werden [112 – 116], geschah dies tatsächlich –, dass sich bei Jupiters ersten Blitzen nicht alle Giganten in die Erde verkrochen, sondern sich in ihrer Überraschung nur die sensibelsten und also edelsten aus Angst vor dem Blitz in den Höhlen versteckten und menschliche, das heißt schamvolle Liebe zu fühlen begannen. In ihrem Schreck konnten sie den Frauen nicht mehr unter dem offenen Himmel beischlafen, so dass sie die Frauen mit Gewalt ergriffen und sie mit Gewalt in die Höhlen zerrten und dort festhielten. Da beginnt dann die erste Tugend in den Männern zu erscheinen, mit der sie die natürliche Leichtigkeit der Frauen ausgleichen, und folglich der natürliche Adel des männlichen Geschlechts, der Grund für die erste Macht, nämlich die über das Weibergeschlecht. Mit dieser ersten menschlichen Sitte wurden erste sichere Kinder geboren, von denen sichere Familien abstammten, auf denen dann die ersten Städte und also die ersten Königreiche sich erhoben. Die Divination entsteht bei den Ägyptern, Griechen und Römern gleichermaßen durch die Beobachtung der Blitze und der Adler, welche die Waffen und die Vögel Jupiters sind, die beiden sicher am meisten beobachteten Dinge in der Divinität bei den Römern und auch die ersten und hauptsächlichen göttlichen Dinge der römischen Gesetze. Und bei den Ägyptern – von denen es die Etrusker übernommen haben und von diesen schließlich die Römer – befanden sich Adler oben auf den Szeptern. Und bei den Griechen hatte Merkur ein geflügeltes Szepter, und bei den Römern und Griechen gab es gleichermaßen die eingeritzten und gemalten Adler auf den Waffen-Insignien. Aber bei den Orientalen entstand eine feinere Art der Divination: die Beobachtung der fallenden Sterne. Und den Grund für diesen Unterschied findet man einzig darin, dass die Assyrer von den abgefallenen Abkömmlingen des Sem abstammten, die – wegen ihrer Nähe zu den in der Religion vereinten Gläubigen  – die Stärke der Gesellschaft verstehen konnten, bevor der Himmel

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blitzte. Daher traten die Chaldäer früher als Weise hervor als die Ägypter, wie auch die Philologen darin übereinkommen, dass die Chaldäer – über die Phönizier – den Ägyptern den Gebrauch des Quadranten brachten und die Polhöhe. Wenn die Chaldäer die ersten Weisen der heidnischen Welt gewesen sind und von ihnen die verborgene Weisheit nach Phönizien und Ägypten überging und dann nach Griechenland und nach Italien, so wie sich das ganze Menschengeschlecht aus dem Orient über die Erde verbreitete, dann verdankt sich die ganze verborgene Weisheit, wenn auch nicht in ihrem Ursprung, so doch wenigstens in ihrem historischen Werden, der Religion des wahren Gottes, das heißt des Schöpfergottes Adams. XIV. V. … mit metaphysischen Beweisen, mit denen man findet, dass die ganze Theologie der Heiden ihre Prinzipien der Poesie verdankt 108

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Wir verwenden zumeist metaphysische Beweise, jedenfalls immer dann, wenn uns alle anderen Arten von Beweisen fehlen, wie zum Beispiel: dass die falschen Religionen nur entstehen konnten aus der Idee einer Kraft oder einer Macht, die stärker ist als die des Menschen und die von den Menschen, die von Natur aus die Ursachen nicht kennen, als intelligent vorgestellt wird. Das ist der Anfang aller Idolatrie. Entsprechend einer solchen menschlichen Gewohnheit werden die Menschen, die die Ursachen nicht kennen, bei jeder außergewöhnlichen Sache in der Natur, die ihre Verwunderung erregt, durch ihre natürliche Neugier natürlicherweise dazu angeregt, wissen zu wollen, was diese Sache bedeutet. Das ist der universelle Anfang aller Divination, die auf unzählige verschiedene Arten von den heidnischen Nationen betrieben wird. Diese beiden Prinzipien sind, wie man sieht, auf der folgenden metaphysischen Wahrheit gegründet: dass der unwissende Mensch das, was er nicht kennt, nach seiner eigenen Natur be-



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urteilt. So sind die Idolatrie und die Divination Erfindungen einer notwendigerweise gänzlich phantastischen Poesie. Beide sind durch die folgende Metapher entstanden, die erste, die der zivile menschliche Geist bildete, und die erhabenste von allen, die danach gebildet wurden: nämlich dass die Welt und die ganze Natur ein großer intelligenter Körper ist, der mit Realwörtern spricht und der mit solchen außergewöhnlichen Wörtern den Menschen auf das hinweist, was mit mehr Religion verstanden werden soll. Hierin liegt bei allen Heiden der universelle Ursprung der Opfer, mit deren Zeremonien sie die Augurien ­besorgten oder abergläubisch erforschten. XV. Mit einer Metaphysik des Menschengeschlechts findet man das große Prinzip der Teilung der Felder und den ersten Umriss der Herrschaften

Aber wie die besondere Jurisprudenz eines Volkes, wie zum Beispiel des römischen, kraft einer zivilen Metaphysik in den Geist der Gesetzgeber eindringen muss und Kenntnis haben muss von den Sitten und der Regierung dieses Volkes, um die Geschichte des zivilen Rechts zu verstehen, mit dem dieses Volks früher regiert wurde und immer noch regiert wird, so muss auch die Jurisprudenz des Menschengeschlechts gemäß einer Metaphysik und also gemäß einer Moral und Politik des Menschengeschlechts vorgehen, um wissenschaftliche Kenntnis der Geschichte des ­natürlichen Rechts der Nationen zu gewinnen. Und vor allem anderen findet man mit der Metaphysik des Menschengeschlechts das große Prinzip der Teilung der Felder, welche die Quelle des Ur-Eigentums [dominium originarium] ist, wie Grotius es nennt, von dem sich alle Herrschaften und Imperien der Welt ableiten. Auf dieselbe Art und Weise, wie diese Teilung der Felder erfolgte, ist auch, so haben wir gefunden, die Herrschaft ursprünglich entstanden. Von der Teilung der Felder ausgehend beginnt daher verdienstvollerweise Hermogenian, die Summe der Geschichte des natürlichen Rechts der Völker

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zu erzählen. Aber die Art, wie er und die anderen römischen Juristen sie von ihren Vorgängern erhalten und an uns weitergegeben hat, erzeugt unendliche Schwierigkeiten bei der Untersuchung der Art und Weise der Felderteilung. Ob die ersten Menschen sich die Felder im Überfluss der natürlich gewachsenen Früchte geteilt haben oder in ihrer Knappheit ? Wenn im Überfluss, wieso haben sie dann ohne harte Notwendigkeit die Gleichheit aufgegeben und also die ihnen natürliche Freiheit, die uns angesichts der Knechtschaft der Gesetze, unter der wir geboren und aufgewachsen sind, lieblich erscheint wie die ­Natur selbst ? Wenn in der Knappheit, wie konnte dann die Teilung ohne noch mehr Streitigkeiten und Tötungen geschehen als denen, die doch gerade erst die Gemeinschaft hatten entstehen lassen ? Denn wie der Überfluss an lebensnotwendigen Dingen die Menschen natürlicherweise rücksichtsvoll und umgänglich miteinander macht, wenn sie sich um nichts anderes als das Lebensnotwendige sorgen müssen, so macht dagegen die Knappheit, insbesondere bei den letzten Bedürfnissen der lebensnotwendigen Dinge, auch die menschlichen Menschen nicht nur wild wie die Hobbes’schen Gewalttäter, sondern grausam, denn sie müssen ja um ihr Leben kämpfen. Wegen dieser großen Schwierigkeiten konnte man sich die Teilung der Felder bis jetzt vielleicht nur auf eine der drei folgenden Arten zustande gekommen vorstellen: Entweder hätten sich die Grotius’schen Einfältigen freiwillig von einem der Weisen regieren lassen, wie Platon sie sich vorstellt; oder die Pufendorf ’schen Verzweifelten wären aus Angst vor einem der Hobbes’schen Gewalttäter gezwungen worden, sich mit diesem über die Felderteilung zu einigen; oder die mit den Tugenden des goldenen Zeitalters ausgestatteten Menschen sahen, als die Gerechtigkeit auf Erden weilte, die Unordnung vorher, die aus dem Gemeinbesitz hätte entstehen können, und wären wohlwollende Richter beim Teilen ihrer Felder gewesen, so dass nicht die einen nur fruchtbare, die anderen nur unfruchtbare Felder bekommen hätten, die einen nur trockene, die anderen Felder mit reichlich und ständig fließendem Wasser; und so hätten sie die gesetzten Grenzen mit höchster Gerechtigkeit und Glauben bewahrt, bis dann die



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zivilen Herrschaften entstanden wären. Von diesen drei Arten ist die letzte ganz poetisch, die erste ganz philosophisch und die mittlere ist ganz die Art von verbrecherischen Politikern, die, um eine Tyrannei zu gründen, sich Gefolgsleute verschaffen durch Parteinahme für die Freiheit und indem sie die Selbstlosen dazu bringen, der Idee des Gemeinwohls beizutreten. Aber, wie Polyphem dem Odysseus erzählt, die Sitte der schon getrennt voneinander lebenden Zyklopen war es, ganz allein und getrennt in ihren Höhlen zu bleiben, sich jeweils nur um die Familie ihrer Frauen und ihrer Kinder zu kümmern und sich überhaupt nicht in die Angelegenheiten der anderen einzumischen. Daher hielten insbesondere die Römer in Angelegenheiten der Nützlichkeit daran fest, dass niemand ein Recht für eine andere Person erlangen konnte, so dass Verträge durch Procura erst ganz spät denkbar wurden. Die Spanier verstanden sogar in der unmittelbar bevorstehenden Zerstörung von Sagunt und Numantia die Kraft der Bündnisse nicht, um sich gegen die Römer zu verbünden. Das waren Sitten, die dem ersten Anfang der tierischen Einsamkeit entsprachen, in der die Menschen die Kraft der Gesellschaft noch nicht verstanden, für die sie nicht empfänglich waren, und nur darauf achten konnten, was jedem einzeln zukam. Wegen all dieser Schwierigkeiten kann man die Teilung der Felder einzig in der Religion finden. Denn wenn die Menschen wild und grausam sind und alle durch keine andere Gleichheit gleich sind als durch ihre wilde und grausame Natur und wenn sie sich dann ohne Gewalt der Waffen und ohne Herrschaft von Gesetzen miteinander vereinigen, so können sie nur zusammen­ge­ kommen sein dank und kraft eines Wesens, das als dem menschlichen Wesen überlegen betrachtet wird, und in dem Glauben, dass diese höhere Macht sie gezwungen habe zusammenzu­ kommen. Daher denken wir Folgendes über diese lange und trügerische Arbeit der Vorsehung: Grotius’sche Einfältige, die rascher aus ihrer Erstarrung erwachten, wurden erschüttert von den ersten Blitzen nach der Sintflut, die sie für Weisungen der Gottheit hielten, die sie sich mit ihrer Phantasie schufen; sie besetzten die ersten freien Länder, setzten sich dort mit sicheren Frauen fest

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und, einmal festgesetzt, erzeugten dort sichere Kinder, begruben dort ihre Toten und setzten bei bestimmten Gelegenheiten, die ihnen die Religion vorgab, die Wälder in Brand, pflügten sie, säten Getreide; und sie setzten den Feldern Grenzen, die sie mit wüsten abergläubischen Dingen versahen. Mit diesen verteidigten sie in ihren wilden Sippen die Felder mit dem Blut der gottlosen Vagabunden, die die Kraft der Gesellschaft nicht verstanden und ganz getrennt und einzeln das Getreide raubten, und sie töteten sie bei diesem Raub. An diesen Grenzen sind die Gottlosen, die von jenen abstammten, die nicht von Anfang an die Gottheit bemerkt hatten – anders als jene, die erschüttert worden waren und von denen die Herren der Felder abstammten – und die also nicht gewohnt waren, die göttlichen Zeichen zu verstehen, erst zur Menschheit gekommen nach langer Erfahrung vieler Übel, die bei ihnen die tierische Gemeinschaft durch die Gewalt der Hobbes’schen Lasterhaften hervorbrachte. Um vor diesen sicher zu sein, kamen nun die Pufendorf ’schen Einfältigen ganz natürlich dazu, Schutz zu suchen innerhalb der Grenzen, welche die Frommen den Feldern gesetzt hatten. Dank der Vorsehung hatten diese den Vorteil, Herren der Felder zu sein und Wissende der imaginierten Gottheit. Das ist es gerade, was Pomponius in seiner Geschichte des römischen Rechts, wo er den Ursprung der Herrschaften darstellt, so elegant sagt: rebus ipsis dictantibus regna condita [»durch den Befehl der Dinge selbst werden die Reiche gegründet«]. XVI. Der Ursprung des Adels 117

Daher muss in einem solchen Zustand ein natürlicher Unterschied zwischen zwei menschlichen Naturen entstanden sein: einer vornehmen, von intelligenten Menschen, und einer niedrigen, von weniger intelligenten Menschen. Und der erste Adel ist zu Recht als mit verborgener Intelligenz ausgestattet betrachtet worden, das heißt mit dem Verstehen der Gottheit, das den wahren Menschen ausmacht. Wenn manche sich auch wundern, dass



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wir mit der Metaphysik die Ursprünge des natürlichen Rechts der Völker und also des zivilen Rechts der Römer in den Schatten und Mythen finden wollen, so wollen wir doch sehen, um sie nicht zu verwirren, ob wir mit unserer Phantasie und mit der alleinigen Unterstützung des Gedächtnisses aus diesem Labyrinth unentwirrbarer Schwierigkeiten herausfinden können, das eingeschlossen ist in die Grenzen, die den Feldern durch die bis jetzt imaginierte Teilung gesetzt worden sind, wie sie uns erzählt worden ist. Welche Antwort gibt uns die Metaphysik auf die folgenden Fragen: Wie sind alle Städte auf zwei Klassen, der adeligen und der plebejischen, errichtet worden, wenn alle Städte sich doch auf die Familien gründen und wenn die Familien vor den Städten kleine freie und souveräne Republiken gewesen sind, wie wir es soeben [114] den Polyphem dem Odysseus erzählen hörten ? Wieso hatten die einen das Glück, in den Städten die Herren zu sein, andere dagegen das Unglück, Plebejer zu sein ? Wenn man nun sagt, weil die einen reicher an Feldern waren als die anderen, so mussten die reicheren solche gewesen sein, bei denen mehr Leute die Felder anbauten, wenn die Teilung der Felder mit Gerechtigkeit vorgenommen worden war. Denn der Reichtum der Staaten ist niemals aus brachen Feldern hervorgegangen, sondern immer aus angebauten Feldern. Bei gleicher Felderzahl besaßen daher die größeren Familien die angebauten Felder und die kleinen Familien die nicht angebauten. Aber in den Städten sind die Wenigen die Reichen, die Menge ist arm; daher sind jene die Herren, diese bilden die Plebs durch ihre große Zahl. Dass ein Mensch in die Armut absteigt, kann man dann nach der Natur der menschlichen Dinge nur durch folgende Ursachen erklären: entweder dass er sein Vermögen verschleudert oder dass er es vernachlässigt, so dass ein anderer es sich aneignet und durch langen Besitz sein Herr wird, oder dass es ihm von anderen durch Betrug oder Gewalt genommen wird. Es konnte aber eigentlich keine Verschwender geben in diesem ersten Zustand der Dinge, in dem die Menschen ja zufrieden waren mit den lebensnotwendigen Dingen, so dass es auch noch keinen Handel mit Feldern geben konnte, denn der brachte noch keinen Nutzen

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für den Genuss und noch weniger für den Luxus, die es beide ja noch gar nicht gab und für die der Handel mit Feldern eingeführt worden ist. Wenn die Armen die Felder unbearbeitet gelassen hätten, wie hätten sie denn unterdessen leben können und sich in großer Zahl vermehren können ohne Felder, die ihnen den Lebensunterhalt ermöglichten ? Wenn sie sich die Felder durch Betrug hätten wegnehmen lassen, für welchen anderen Nutzen hätten sie denn in den Betrug hineingezogen werden können in diesem einfachen und kargen Leben, in dem man sich zufrieden gab mit den nicht käuflichen Früchten der eigenen Felder ? Also sollen uns Karneades und die Skeptiker 29 sagen, wie denn Herrschaft mit Betrug beginnen konnte, zu dessen Töchtern er die Gesetze macht. Schließlich: Wenn die Reichen die Felder der Armen mit Gewalt besetzt hätten, wie konnte das geschehen, wo doch die Feldreichen wenige waren und die Armen viele ? Also soll uns auch Hobbes sagen, wie denn Herrschaft mit Gewalt anfangen konnte, zu deren Gesetzen er die Waffen macht. Es ist uns unmöglich, im Wesen des zivilen Lebens andere Arten zu erkennen, wie aufgrund unserer Phantasien über die volkstümliche Teilung der Felder die einen als Adelige und die anderen als Plebejer die Städte bilden konnten. Daher müssen die veralteten Gewohnheiten der Meinungen, die ihre Wurzeln nur in der Phantasie und im Gedächtnis geschlagen haben, abgeschüttelt und aufgelöst werden mit der Kraft des folgenden Arguments. Wenn Herrschaft nicht in der eigenen Verderbnis oder Faulheit, nicht im Betrug oder der Gewalt anderer ihren Ursprung hatte, so wurde sie von einem anderen Geist angeordnet, der nicht Epikurs Zufall ist, der sich unter den Lasterhaften und Faulpelzen herumtreibt, und der auch nicht das Fatum der Stoiker ist, das mit der offenen Macht der Gewalt oder mit der verborgenen Gewalt des Betrugs herrscht, die beide den freien Willen ausschalten, sondern von der Vorsehung mittels der Religion. 29

 Der griechische Skeptiker Karneades (2. Jhd. v. Chr.) wird von Grotius in De iure belli ac pacis als Gegner angeführt.



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Allein die wie sehr auch immer vorausgesetzte Auffassung von der Vorsehung erzeugte den Adel mit den folgenden schönen zivilen Künsten, welche die gesamte bessere Menschheit schmücken, als da sind: Scham über sich selbst, welche die Mutter der Vornehmheit ist; Keuschheit der Ehen und, mit ihr verbunden, Pietät gegenüber den Toten, welche die beiden ewigen Quellen der Nationen sind; Fleiß beim Anbau der Felder, welcher die unerschöpfliche Mine des Reichtums der Völker ist; Stärke bei der Verteidigung der Felder gegen die Diebe, welche die uneinnehmbare Festung der Imperien ist; und schließlich Großzügigkeit und Gerechtigkeit, um die Unwissenden und Unglücklichen aufzunehmen, sie zu unterrichten und gegen Unterdrückung zu verteidigen, was die gesunde Grundlage der Herrschaft ist. Wir werden später [422, 488] zeigen, dass Gestalten wie Orpheus aufgrund ihres Verständnisses der Gottheit die ersten Adeligen gewesen sind, die mit ihrem Beispiel, die Götter in den Auspizien zu verehren, die wilden Tiere mit ziviler Weisheit zur Menschheit führten. Diese zivile Weisheit wurde mit so großer, zu Recht verdienter Verehrung den Nachfahren weitergegeben, dass sie später den Gelehrten Grund gab, sie für verborgene Weisheit zu halten.

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XVII. Wir finden den Ursprung des Heroismus

Der Ursprung des Adels stellt sich schließlich als dasselbe heraus wie der Ursprung des Heroismus der alten Nationen, der uns von den Griechen in ihren Mythen ausführlich überliefert ist, der uns von den Ägyptern in großen alten Ruinen angekündigt und der uns von den Römern in der Ursprungsgeschichte des Romulus angedeutet wurde. Aber, in aller Klarheit offenbart in der alten römischen Geschichte, erklärt dieser Ursprung, wie wir später [174] sehen werden, die mythische Geschichte der Griechen, ergänzt die bruchstückhafte Geschichte der Ägypter und deckt die ganz verborgenen Geschichten aller anderen alten Nationen auf.

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XVIII. Diese neue Wissenschaft geht vor gemäß einer Moral des ­Menschengeschlechts, durch die man die Grenzen findet, innerhalb deren die Sitten der Nationen verlaufen 124

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Von einer solchen Metaphysik, deren erstgeborene Tochter die Moral des Menschengeschlechts ist, stoßen wir, beginnend mit der Teilung der Felder, von der an die Nationen sich voneinander zu unterscheiden begannen, zu den folgenden Grenzen vor, innerhalb deren die Sitten der Nationen verlaufen. Dies sind die folgenden: I.

Die Menschen kümmern sich für gewöhnlich zuerst um das Notwendige, dann um das Bequeme, danach um das Vergnügen, sodann um den Luxus und das Überflüssige, und schließlich verderben sie das Erworbene und verschleudern es in ihrem Wahn. II.

Die Menschen, die nichts anderes als das Lebensnotwendige verstehen, sind durch einen gewissen Sinn oder von Natur aus Philosophen. Daher stammt die Mäßigung bei den alten Völkern. III.

Rohe und robuste Menschen finden nur im Üben der Kräfte des Körpers Vergnügen. Daher stammen die Anfänge der Olympischen Spiele bei den Griechen, die Übungen vor den Feldzügen bei den Römern und die Turniere und die anderen Ritterspiele der letzten barbarischen Zeiten und überhaupt die mit Geschicklichkeit verbundenen Spiele in der Kriegsführung. Dagegen lieben die Menschen, die ihren Verstand und ihren Geist gebrauchen, zu ihrer Erholung die Belohnungen und Vergnügungen der Sinne. IV.

Die zunächst wilden, dann ungezügelten, dem Zwang oder der Führung sich widersetzenden Völker werden später geduldig und schließlich auch geneigt, Lasten und Mühen zu ertragen.



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V.

Zunächst sind sie in ihren Sitten barbarisch, dann streng, dann menschlich, danach sanft, später verfeinert, schließlich haltlos und verderbt. VI.

Zunächst dumm, dann roh, dann gehorsam oder fähig, diszipliniert zu sein, danach klug, dann scharfsinnig und erfindungsreich, schließlich spitzfindig, schlau und betrügerisch. VII.

Zunächst wild und einsam, dann mit wenigen in treuer Freundschaft verbunden, danach mit vielen verknüpft für zivile Ziele, schließlich wegen des Verfolgens eigennütziger Ziele und Vergnügungen mit allen überworfen, um dann in der großen Menge der Körper zurückzukehren zur anfänglichen Einsamkeit der Seele.

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XIX. Diese neue Wissenschaft geht vor gemäß einer Politik des ­Menschengeschlechts, mit der die ersten Regierungen im Zustand der Familien sich als göttlich herausstellen

So wie dieses Muster bei der Moral abläuft, wie wir gerade [124] gesagt haben, so verläuft es auch bei der Politik des Menschengeschlechts. Da im Zustand der Familien die Väter als die erfahrensten auch die Weisen sein mussten, als die würdigsten die Priester, als Inhaber der höchsten Macht, von der es in der Welt keine höhere gab, die Könige ihrer Familien, so mussten in der Person dieser Väter Weisheit, Priestertum und Herrschaft ein und dasselbe sein. Weil die Überlieferung im Gefolge Platons dies als verborgene Weisheit der ersten Gründer Griechenlands annahm, ersehnte sie vergeblich einen Stand der Dinge, in dem die Philosophen herrschten oder die Könige philosophierten. Aber die Herrschaft der Väter zusammen mit ihrer Priesterschaft war in Wirklichkeit eine Folge ihrer volkstümlichen Weisheit. Denn als Kundige in den göttlichen Angelegenheit der Auspizien mussten sie opfern, um die Auspizien zu besorgen, und als

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Deuter der Auspizien mussten sie Dinge befehlen, von denen sie glaubten, dass die Götter sie von ihnen verlangten, vor allem, wie wir unten [197, 204–205] zeigen werden, die Strafen, die es erforderten, die Schuldigen den Göttern zu weihen (diese uralte Sitte stand in Gänze im Zwölftafelgesetz, im Kapitel De parricidio), auch Kinder, die unschuldig waren, die aber für schuldig erklärt oder durch Gelübde den Göttern geweiht waren, wie bei dem Gelübde Agamemnons, die unglückliche Iphigenie zu opfern. Aber im Fall von Abrahams Opfer seines Sohnes Isaak erklärte der wahre Gott ausdrücklich, dass ihn unschuldige Menschenopfer überhaupt nicht erfreuen. Über das Gelübde Jephtas gestehen alle Kirchenväter, dass dessen Geheimnis im Abgrund der Göttlichen Vorsehung verborgen sei. Hinsichtlich der Unterschiede, die wir in diesem Werk zwischen den Juden und den Heiden aufzeigen, genügt es aber zu sagen, dass nicht Jephta, sondern Abraham der Gründer des Volkes Gottes gewesen ist. XX. Die Väter erweisen sich als erste monarchische Könige im Zustand der Familien 133

Die letzte der drei Eigenschaften blieb den Vätern lange Zeit bei den Römern, bei denen die Familienväter durch das Zwölftafelgesetz das Recht über Leben und Tod der Personen ihrer Kinder hatten. Und in Folge dieser grenzenlosen Macht über die Personen hatten sie auch eine grenzenlose Macht über deren Besitz, das heißt dass alles, was die Kinder erwarben, sie für ihre Väter erwarben. Und mit despotischer Macht verfügten die Väter in den Testamenten Vormundschaft über die Personen ihrer Kinder wie über Sachen. Diese Macht behielt das Zwölftafelgesetz voll und ganz den Familienvätern vor im Kapitel über die Testamente: Uti paterfamilias super pecunia tutelave rei suae legassit, ita jus esto [»Wie der Paterfamilias über sein Vermögen oder die Obhut seiner Sache testamentarisch verfügt hat, das soll Recht sein«]. Das sind alles nur allzu deutliche Spuren ihrer freien und absoluten Monarchie im Zustand der Familien.



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Die Unkenntnis dieser Art von zyklopischer Herrschaft, die aus der Natur der ersten heidnischen Väter im Zustand der Familien hervorging, bewirkte, dass Platon, wegen seiner Überzeugung von der verborgenen Weisheit der Gründer der Menschheit, dieses große Prinzip der ganzen politischen Wissenschaft nicht mit dem in Verbindung brachte, was er doch bei Homers Polyphem bemerkt hatte, nämlich dass dort der Zustand der Familien beschrieben wird. Grotius bemüht sich, die Art der ersten Monarchien mit Gerechtigkeit zu erklären; und die schlechten praktischen Politiker gründen die Monarchien entweder, mit dem Hobbes’schen Gewaltmenschen, auf Gewalt oder, mit dem Einfaltsmann der Sozinianer, auf Betrug. Aber die ersten Monarchien konnten wegen der unüberwindbaren Schwierigkeiten bei der Teilung der Felder, die wir oben [114] gezeigt haben, auf keinen Fall durch Gewalt oder durch Betrug entstanden sein. Diese Meinungen weisen wir jetzt mit den Fakten der folgenden Entdeckungen zurück, die wir über die Monarchien gemacht haben, die von selbst in den Personen der Väter im Zustand der Familien entstanden sind.

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XXI. Folglich erweisen sich die ersten Königreiche im Zustand der ersten Städte als heroisch

Wenn Männer erst vor kurzem von einer ungehemmten Freiheit zu einer Freiheit übergegangen sind, die von niemandem sonst als von der Gottheit geregelt wird, folglich zu einer Freiheit, die gegenüber anderen Menschen grenzenlos ist, wie diejenige der Väter im Zustand der Familien unter der Herrschaft der Götter, dann behalten sie lange Zeit die wilde Sitte bei, frei zu leben oder zu sterben. Und wenn ihnen dann eine solche grenzenlose Freiheit von ihrem Vaterland bewahrt wird, das die Götter bewahrt, durch die sie diese grenzenlose Macht über andere Menschen haben, dann sind sie natürlich bereit, für ihr Vaterland und ihre Religion zu sterben. Das ist die Natur der alten Heroen, aus der die ersten heroischen Königreiche hervorgingen.

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Und hier entdecken wir das Prinzip, von dessen Wirkungen die römische Geschichte erzählt, dessen Ursache aber weder Polybios noch Plutarch noch Machiavelli aufgedeckt haben, nämlich dass es die Religion war, welche die ganze römische Größe hervorgebracht hat. Denn die Religion der Auspizien, welche die Väter in der Tafel XI des Zwölftafelgesetzes ganz für sich reserviert hatten, schuf auch in der Plebs die große römischen Gesinnung, den Vätern zu Hause in den Rechten der Heroen gleichgestellt zu werden – als da waren feierliche Eheschließungen, Verfügung über Waffen und Priestertum, die alle von den Auspizien abhängen – und dann mit den Heroen im Krieg in Tapferkeit zu wetteifern, um diese Rechte auch zu verdienen. Denn in Friedenszeiten warf sich Marcus Curtius in den fatalen Abgrund, und in Kriegszeiten opferten sich die zwei Decier für die Rettung des Heeres, um der Plebs mit ihrem Leben zu beweisen, dass sie durch die Auspizien herrschten. Es war bei allen alten Nationen gemeinsame Sitte, in jedem Krieg pro aris focisque pugnare [»zu kämpfen für die Altäre und die heimischen Herde«], das heißt, mit den eigenen Göttern zu siegen oder zu sterben. XXII. Das Prinzip der heroischen Tugend

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Und hier entdecken wir das Prinzip der heroischen Tugend, die man bisher überhaupt nicht verstehen konnte, also dass barba­ rische und wilde Männer  – unteilbare Eigenschaften einer menschlichen Natur mit wenigen Ideen und mit geringer Fähigkeit, Universelles und Ewiges zu verstehen – sich ihren Natio­ nen weihten im Wunsch nach unsterblichem Ruhm, den man nur durch große Taten erwirbt, die man für die ganze Nation erbringt. Als solche sind bisher die Taten der alten Heroen von klugen Männern verstanden worden, die bald nach den Philosophen kamen. Aber recht verstanden waren es Taten, die von den Heroen der alten Zeiten nur aus allzu großer individueller Leidenschaft für die eigenen Machtansprüche vollbracht wurden, die ihnen ihr Vaterland durch ihre Familien garantierte.



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Das Vaterland wurde daher patria genannt, das Wort res mitverstanden, also »Angelegenheit der Väter«, so wie es dann in den Volksstaaten respublica, gewissermaßen respopulica, also »Angelegenheit des ganzen Volkes«, genannt wurde. XXIII. Die Prinzipien aller drei Formen von Republik

Zu einer solchen Politik des Menschengeschlechts gehören die folgenden Maximen – oder eher menschlichen Gefühle – über das Regieren und das Regiertwerden: Die Menschen wollen zuerst die Freiheit der Körper; dann die Freiheit des Gemüts, das heißt die Freiheit des Geistes und mit den anderen gleich sein; danach wollen sie über den Gleichen stehen; schließlich sich einer Obrigkeit unterordnen. Entsprechend diesen wenigen menschlichen Gefühlen wurden die ersten Umrisse aller Formen von Regierungen gezogen: aus dem letzten Gefühl kommen die Tyrannen, aus dem vorletzten die Monarchien, aus dem vorvorletzten die freien Republiken und aus dem ersten die heroischen Republiken in ihrer aristokratischen Form. Diese gingen mit den heroischen Kämpfen, von denen wir gleich [161 – 167, 188] erzählen werden, durch die Abfolge dieser menschlichen Gefühle in die freien Republiken über und blieben schließlich bei den Monarchien stehen, womit sie zu den ersten Anfängen der monarchischen Väter zurückkehrten. Mit diesen Prinzipien erscheint die ganze alte römische Geschichte in neuem Licht.

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XXIV. Die Prinzipien der ersten aristokratischen Republiken

Aber die Menschen sind nur bereit, Menschlichkeit zu zeigen, wenn sie sehen, dass dieser Gewinn an Menschlichkeit ihnen selbst nützt. So werden die Starken nur durch Gewalt dazu gebracht, von ihren Besitztümern etwas abzugeben, und auch unter Gewalt geben sie doch nur so wenig wie nötig her und auch nur

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nach und nach und nicht alles auf einmal. Darüber hinaus verlangt die Menge Gesetze und Gleichheit, aber die Mächtigen ertragen Gleiche oder gar Höhere nur mit Schwierigkeiten. Daher kann die aristokratische Republik oder Republik der Adeligen nur aus einer äußersten gemeinsamen Notsituation entstehen, welche die Adeligen gleichmacht und den Gesetzen unterwirft. Schließlich kann eine Form der Regierung, die darauf beruht, dass die Nichtadeligen daran keinen Anteil haben, nicht halten und dauern, wenn die letzteren nicht wenigstens Sicherheit für die natürlichen Mittel zur Aufrechterhaltung ihres Lebens genießen. Aufgrund dieser Prinzipien wird deutlich, dass die hero­ ischen Königreiche aristokratische Regierungen gewesen sind, die durch zwei uralte Agrargesetze aus den Klientelen entstanden sind, wie wir gleich [161, 164] zeigen werden. XXV. Entdeckung der ersten Familien, die nicht nur die eigenen Kinder umfassen 140

Durch die gerade [138] erwähnten fünf politischen Gefühle des Menschengeschlechts finden wir, dass die ersten uralten Familien nicht nur aus ihren eigenen Kindern bestanden, sondern dass andere dazugehörten, die famuli oder Diener genannt wurden oder κυρικοὶ , 30 wie die Griechen diese Diener der Heroen nannten. Diese Familien konnten bisher aufgrund der bisherigen Auffassung von der Teilung der Felder noch nicht verstanden werden wegen der vielen und ernsthaften Schwierigkeiten, die wir nachher [142–143, 436] behandeln. Die Famuli stellen sich als diejenigen heraus, die sich während der Streitigkeiten über die bestialische Gemeinschaft, die in der Tat diese Streitigkeiten verursachte, in die Länder der Starken flüchteten, um sich in der Stunde der Not zu retten.

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 Vico korrigiert κυρικοὶ zu κήρικες in einer Anmerkung zu 339.



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XXVI. Bestimmung der ersten Okkupationen, Usukapionen und ­Manzipationen

Diese Länder der Starken waren schon lange Zeit vorher, nämlich seit den ersten Blitzen des als Gott aufgefassten Jupiters in Ägypten, Griechenland und Italien, von jenen ersten Menschen besetzt worden, die sich aus Furcht vor der Gottheit aus dem bestialischen Herumirren zurückgezogen hatten, von ihren Nachfahren durch Ackerbau gezähmt worden waren und so als Sesshafte durch die Religion keusch und stark geworden waren. Hier entdecken wir die ersten Okkupationen [Inbesitznahme], die ersten Usukapionen [Ersitzung] und die ersten Manzipationen [Ergreifung] der Völker. Denn über die ersten Frauen hinaus, die mit Gewalt von den ersten Männern in die Höhlen gezerrt wurden, die also die ersten »mit der Hand ergriffenen« (manucaptae) Ehefrauen waren, waren auch die ersten Länder manucaptae oder mit Gewalt ergriffen worden. Und die Okkupationen der leeren Länder, die Usukapionen und Manzipationen, das heißt die mit Gewalt gemachten Erwerbungen, sind gewiss alle drei Arten, wie die souveränen Herrschaften bei allen Nationen legitimiert werden.

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XXVII. Entdeckung der ersten Duelle oder der ersten Privatkriege

Die Starken hatten außerdem diese Länder gegen die gottlosen Vagabunden verteidigt, welche die Ernten stehlen wollten. Da sie die Kraft von Gesellschaft nicht verstanden, kamen diese Diebe ganz allein, um zu stehlen, so dass die beherzten Sesshaften mit ihren Clans sie beim Diebstahl leicht töten konnten, wie wir später [179, 197] erklären werden. In dieser uralten Sitte entdeckt man bei den Juden, Griechen und Römern gleicher­ maßen den Ursprung der Duelle, die aber bei den Juden öfter als bei den Römern und den Griechen ausgetragen wurden, weil diese ja wegen des größeren Alters der wahren Religion vor al-

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len Religionen der Heiden ihre Felder früher gegen die Diebstähle gottloser Vagabunden verteidigen mussten. Das ist das Recht, das es erlaubt, den Dieb in der Nacht ohne Umstände zu töten, am Tag aber nur, wenn er sich mit Waffen verteidigt. Es ist aber nicht nötig, dass die Gleichsetzer des athenischen Rechts oder der mosaischen Gesetze mit den römischen Gesetzen dieses Recht aus Griechenland oder gar aus Palästina nach Rom herüberbringen; denn die Natur hat allen Nationen dieses Recht diktiert. Das war bei allen die erste Vorform der Kriege, welche private Kriege waren. Daher wurden bis in Plautus’ Zeiten die öffentlichen Kriege von den Römern duellae genannt, und bei der Rückkehr der barbarischen Zeiten breitete sich diese Art Krieg von Skandinavien wieder über ganz Europa aus. Auf diese Art und Weise wurden also die ersten Grenzen der Felder gesetzt, die mit Gewalt verteidigt werden mussten. So leicht gelang also die Teilung der Felder, die in gütlicher Übereinstimmung zustande gekommen sein soll, wie die Interpreten des zivilen römischen Rechts meinen ! XXVIII. Ursprung der Genealogien und des Adels der ersten Völker

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Auf ihrem eigenen Grund und Boden mussten die Sesshaften schließlich den ekelhaften Schmutz bemerken, in dem die Leichen ihrer Angehörigen schauderhaft auf der Erde verrotteten, und ihre Angehörigen gemäß der Ordnung begraben, die Papinian elegant die »Ordnung der Sterblichkeit« nennt. Und, wie wir andernorts gezeigt haben, 31 legte man bestimmte Baumstämme auf die Leichen. Daher bedeutet φύλαξ bei den Griechen und cippus bei den Römern »Grab«. Durch diesen Akt der Pietät kommt das Wort humanitas [»Menschlichkeit«] bei den Römern von humare [»begraben«]. Daher waren die Athener, bei denen, wie Cicero schreibt, die Sitte begann, die Toten zu begraben, auch die menschlichsten Menschen von ganz Griechen31

  De uno, CLX X XV.



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land und Athen die Mutter und Amme der Philosophie und aller schönen Künste des Geistes. Im Laufe der Jahre konnten dann die Nachkommen von solchen Reihen von Stämmen, die der Länge und der Breite nach angeordnet waren, die Genealogien der Verstorbenen und mit ihnen die Vornehmheit ihrer Geschlechter ablesen. Diese Geschlechter wurden von den Griechen, von φύλαξ, dann φυλὴ, »Stamm«, genannt. Und mit einem für die Kindheit der Sprachen eigenen Ausdruck sagten die Adeligen, dass sie Kinder jenes Landes seien, wo diese Stämme lagen. Die Giganten, erzählen uns die Dichter, seien »Kinder der Erde« gewesen, und die Adeligen nannten sich bei den Griechen »von der Erde Gezeugte«, was »Giganten« bei ihnen bedeutete, so wie bei den alten Römern indigenae fast wie inde geniti klang, was abgekürzt zu ingenui, für »Adelige«, wurde.

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XXIX. Entdeckung der ersten Asyle und des ewigen Ursprungs aller Staaten

Hier entdecken wir den Ursprung der ersten Asyle, über die Titus Livius ein großes uraltes Fragment in den Hain des Romulus geworfen hat, wo es bis jetzt begraben liegt. Dieses besagt, dass das Asyl das primum urbes condentium consilium gewesen sei [»der ursprüngliche Plan der Städtegründer«], mit dem Romulus und die Väter denen, die sich in ihre neue Stadt flüchteten, sagten, dass sie im Hain oder im Heiligen Wald geboren worden seien, wo sie Asyl gefunden hatten. Livius glaubte, dies sei ein raffinierter Trick aller Städtegründer, aufgrund seiner falschen Meinung, alle Herrschaft sei auf Betrug gegründet. Völlig unangebracht hängte er daher dem Romulus auch noch an (was er aber als einen allzu dummen Betrug hätte bemerken müssen), dass er sich und seine Gefährten als Söhne einer Mutter ausgegeben hätte, die nur Knaben gebären konnte, wodurch es dann nötig geworden wäre, die Sabinerinnen zu rauben, um Frauen zu haben. Aber bei den ersten Gründern der Städte Latiums und anderer Städte in der ganzen Welt der Nationen war nie-

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mals Betrug im Spiel, sondern nur Natur, und zwar die großherzige Natur der Heroen, die nicht lügen können, weil Lügen eine feige und gemeine Kunst ist. Denn sie wollten wahrhaftig die Söhne jener bestatteten Toten sein, deren Frauen sie ja noch hatten. Über die eine Seite des Heroismus hinaus, die Diebe zu vernichten, ist es nämlich die andere Seite des Heroismus, den Notleidenden zu helfen, die um Hilfe bitten. Wegen dieser beiden Künste wurden die Römer die Heroen der Welt: parcere subjectis et debellare superbos [»die Unterlegenen verschonen und die Hochmütigen besiegen«]. Und damit verteidigen wir den ewigen Ursprung der Herrschaft gegen die beiden gewöhnlichen Anklagen, gegen die des Betrugs und gegen die Anklage der Gewalt. Denn es war großzügige Menschlichkeit, die ihre ersten Anfänge stiftete, auf die sich später alle anderen Herrschaften (auch wenn sie mit Betrug oder Gewalt erworben waren) berufen müssen, damit sie halten und sich bewahren. Diese Anfänge sahen die politischen Theoretiker nicht, als sie ihre berühmte Maxime aufstellten, dass die Staaten sich mit jenen Künsten halten, mit denen sie sich etabliert haben. Diese haben sich aber immer und überall mit Gerechtigkeit und Milde gehalten, die zweifelsohne weder Betrug noch Gewalt sind. XXX. Entdeckung der ersten Klientelen und Entwurf des Sich-Ergebens im Krieg

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Alle bisher gemachten Entdeckungen waren nötig, um den ersten und wahren Ursprung der Klientelen zu finden, die alle darauf gründen, dass die schwachen Vagabunden, die in die Länder der Starken geflohen waren, dort unter das gerechte Gesetz aufgenommen wurden, dass sie – da sie dorthin kamen, um ihr Leben zu retten – sich dort ihren Lebensunterhalt mit Feldarbeit verdienen können, deren Künste ihnen die Herren beibringen würden. Damit entsprechen die Klientelen einer universellen Sitte aller alten Nationen, von denen insbesondere die römische Geschichte bei Cäsar und bei Tacitus mit großer Ausführlichkeit



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erzählt, nämlich dass Gallien, Germanien und Britannien, die damals noch junge Nationen waren, voller Scharen von Vasallen unter bestimmten Fürsten oder Häuptlingen gewesen wären. Und wir lesen ausdrücklich, dass dies auch die Sitte des Volkes Gottes gewesen ist, das gerechter und großherziger war als die Heiden und zu dessen Patriarchen in Assyrien die Klienten geflohen sind, die von den Chaldäern gepeinigt wurden, um bei ihnen in milderer Knechtschaft zu leben. Denn Abraham mit seiner Familie, die ihm von seinen Vorfahren hinterlassen worden war, führte Krieg mit den angrenzenden Königen. XXXI. Entdeckung der Lehen in den heroischen Zeiten

Dann finden wir als universelles Gesetz der heroischen Völker eine bestimmte Art von Lehen, von denen es zwei ganz offensichtliche Belege bei Homer gibt: den einen in der Ilias, wo Agamemnon dem Achill durch Botschafter die eine seiner Töchter, die ihm am besten gefällt, als Frau anbietet und als Mitgift sieben Dörfer, bewohnt von Bauern und Hirten; den anderen in der Odyssee, wo Menelaos dem Telemach, der seinen Vater Odysseus wiederfinden möchte, sagt, dass er diesem, wenn er in sein Königreich kommen würde, eine Stadt bauen würde und ihm Vasallen aus seinen anderen Dörfern schicken würde, die ihn ehren und ihm dienen würden. Solcherart waren wohl auch die Lehen, wie sie die Völker des Nordens von Anfang an in Europa verbreiteten mit den Eigenschaften, die diese Lehen noch immer in Polen, Litauen, Schweden und Norwegen haben und wie sie in den römischen Gesetzen bei bestimmten Vasallen verblieben sind, die glebae addicti, adscripticii, censiti [»der Scholle verpflichtet, in die Bürgerliste eingetragen, dem Zensus unterstehend«] genannt wurden. Wir haben an anderer Stelle gezeigt, 32 dass mit diesen Lehen das zivile Recht aller Nationen begann. Daher findet auch Jacques Cujas alle diese Ausdrücke der ele32

  De uno, CCCX XIX ; CLX X X XII .

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gantesten römischen Jurisprudenz in höchstem Grade passend, um das Wesen und die Eigenschaften unserer eigenen Lehen zu bezeichnen. Aber Grotius konnte den Grund hierfür nicht erkennen, denn er glaubte, dass das Feudalrecht ein neues Recht der Völker Europas sei, wo es doch in Wirklichkeit ein uraltes Recht ist, das in den Zeiten der letzten Barbarei in Europa nur erneuert worden ist. XXXII. Punkt des Entstehens der heroischen Republiken aus den Klientelen 150

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Hier finden wir nun den Punkt, an dem die ersten Republiken entstanden sind, von deren drei bekannten Arten man sich bisher kein Bild machen konnte. Sie sind aus dem Aufstand der Familien von Klienten hervorgegangen, die es nicht mehr ertragen konnten, unentwegt die Felder für die Herren zu beackern, von denen sie bis aufs Blut gequält wurden, so dass sie sich gegen diese erhoben. Und aus den vereinigten Klienten ging dann die erste Plebs in der Welt hervor. Um sich diesen zu widersetzen, wurden die Adeligen daraufhin natürlich dazu gebracht, sich ihrerseits in Stände zusammenzuschließen, zum ersten Mal in der Welt, unter einem Chef, der sich, um sie zu führen, unter ihnen als stärkster hervortat und als tapferster, um sie zu ermutigen. Dies sind die Könige, von denen wir doch traditionellerweise annehmen, dass sie wegen ihrer Natur gewählt worden sind. Hieraus, aus dem Wunsch der Menge, mit Gerechtigkeit und Milde regiert zu werden, eröffnet sich uns der große gemeinsame Ursprung der zivilen Regierungen, und wir entdecken gleichzeitig die erste Grundlage aller Städte, nämlich dass diese aus zwei Klassen hervorgehen, der Klasse der Adeligen und der Klasse der Plebejer, eine Grundlage, die als nur aus eigenen Kindern bestehende Familien bisher nicht recht verstanden werden konnte. Deswegen sind die Prinzipien so verworren und dunkel gewesen, mit denen die Philosophen bis jetzt über die Politik oder die Lehre von der Gesellschaft nachgedacht haben.



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XXXIII. Entdeckung der ersten Friedensschlüsse und der ersten Tribute in zwei uralten Agrargesetzen, die Quellen des natürlichen und des zivilen Eigentums und beide des souveränen Eigentums sind

Diese uralte Form der Republik verläuft anfänglich auf der Grundlage eines uralten Agrargesetzes, das die Adeligen den Plebejern zugestehen mussten, um sie zu befriedigen: Diese bekamen Felder zugewiesen, mit denen sie ihren Lebensunterhalt bestreiten konnten, allerdings mussten sie die Herren mit einem Teil der Ernte bezahlen oder mit Fronarbeit als Zensus unterstützen. Bei den Griechen ist das der Zehnt des Herkules gewesen. Und hier finden wir auch die Ersten, die den Herren eine Tagesfron leisten mussten und von den Römern capite censi [»nach Häuptern Gezählte«] genannt wurden. Aber da diese Gesetze jahrelang von den Adeligen gegenüber den Plebejern nicht beachtet wurden, endeten schließlich diese Republiken, und neue entstanden auf der Grundlage eines zweiten Agrargesetzes: Nach diesem sollten die Plebejer ein festes und sicheres Eigentum der Felder haben, die ihnen zugesprochen worden waren, mit der Verpflichtung der Herren, sie zu beschützen, und umgekehrt mit der den Plebejern auferlegten Verpflichtung, auf eigene Kosten den Herren bei deren Aufgaben zu dienen, vor allem im Krieg. In der römischen Geschichte unter den Konsuln beklagten sich die Plebejer allerdings hierüber sehr. Auf der Grundlage dieser beiden Gesetze findet man die Ursprünge aller drei Arten von Eigentum: Das erste war das natürliche oder bonitarische Eigentum, das heißt das Eigentum von Sachen oder Ernteerträgen. Das zweite war das zivile oder quiritische Eigentum oder das Eigentum von Grund und Boden, auf Italienisch poderi, bei den Italienern vielleicht von »Gewalt« [potere] so genannt, wie bei den Römern praedia von praeda [»Beute«], das Eigentum des Bodens, den man mit Waffen besetzen kann. Beide Arten des Eigentums sind privat. Die dritte Art des Eigentums war das Eigentum von Grund und Boden, das heute »eminent« genannt wird und tatsächlich zivil oder öffentlich ist, das heißt das souveräne Eigentum der Städte, wel-

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ches im Herzen der zivilen, die Städte regierenden Macht liegt. Dieses ist der Ursprung aller Tribute, Zahlungen und Abgaben. Sowohl das eine wie das andere Gesetz erweisen sich als erste Formen von Friedensschlüssen. XXXIV. Entdeckung der bei den Latinern, Griechen und Asiaten ­gleichartigen heroischen Republiken und der anderen Anfänge der römischen Komitien 155

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Dann finden wir, dass diese uralten heroischen Herrschaften unter dem Namen der »Königreiche der Cureten« bei allen alten Nationen verbreitet waren, und unter dem Namen der »Königreiche der Herakliden« findet man sie im ganzen alten Griechenland verbreitet dank zweier großer Fragmente des Altertums über die Geschichte der dunklen Zeit der Griechen. Das erste Fragment besagt, dass die Cureten, das heißt die mit Speeren bewaffneten Priester, die von den Römern »Quiriten« genannt werden, mit dem Lärm der Waffen das Greinen des Kindes Jupiter übertönten, damit es nicht von Saturn gehört werden konnte, der es verschlingen wollte. Von diesem »Verstecken« [latere], sagten die lateinischen Philologen, aber wohl eher ratend, stamme der Name »Latium«. Die Cureten wanderten aus Griechenland nach Saturnien, das heißt nach Italien aus, dann nach Kreta, wo sie sich, weil dies eine Insel ist, länger hielten, und nach Asien, worunter man das griechische Asien oder Kleinasien verstehen muss. Daher beobachteten die aus Griechenland ausgewanderten Griechen in den alten Nationen der Welt Königtümer, die denen glichen, wie sie Homer mit zwei Arten von heroischen Versammlungen beschreibt: die einen unter dem Namen βουλὴ, in denen nur die Heroen sich versammelten, die anderen, in denen sich die Plebejer versammelten, um die von den Heroen getroffenen Entscheidungen zu erfahren, und die ἀγορά genannt wurden. Eine solche ist die Versammlung, die der für volljährig betrachtete Telemach einberuft, damit seine Untertanen erfahren, was er beschlossen hat, gegen die Freier zu



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tun. Mit den heroischen homerischen Regierungen stimmen die Geschichten der folgenden lateinischen Wörter überaus trefflich überein: comitia curiata wurden die Versammlungen der Priester genannt, um heilige Dinge zu besprechen. Denn zunächst wurden alle menschlichen Dinge unter dem Aspekt göttlicher Dinge betrachtet, nicht nur die Gesetze, wie wir gleich [198– 199] sehen werden. Centuriata wurden die Versammlungen genannt, in denen man die Gesetze beschloss – Centurionen wurden die Hauptleute von hundert [centum] bewaffneten Männern genannt –, weil nur von denen, die das Recht zum Waffentragen hatten, Versammlungen gehalten wurden, auf denen man Gesetze beschloss. Diese gehörten zu der Art von Versammlung, die Homer βουλή nennt, in der sich nur die Heroen versammelten. Schließlich gab es die tributa comitia, die Versammlung der Plebejer, die kein Recht hatten, Waffen zu tragen, aber verpflichtet waren, Tribut zu zahlen; denn als Versammlungen derer, die Tribut zahlten, hatten sie kein souveränes Waffenrecht, sondern versammelten sich nur, um zu erfahren, was ihnen die Gesetze befahlen, so dass sie von den Versammlungen her, den homerischen ἀγοραί , von Anfang an im vollen Wortsinn plebiscita genannt werden mussten, was so viel bedeutet wie plebi nota [»der Plebs bekannt«], wie es Cicero in seinen Gesetzen übersetzen wird. Curia stammt also bei den Römern nicht von curanda republica, was auch wegen der Abfolge der Zeit nicht wahrscheinlich ist, weil die Menschen ja zunächst handeln, bevor sie nachdenken, sondern von quiris »Speer«, das heißt von der Vereinigung der Adeligen, die das Recht hatten, einen Speer als Waffe zu tragen. An anderer Stelle haben wir gezeigt, 33 dass, von χείρ »Hand«, bei den alten Griechen das Wort κυρία wohl dasselbe bedeutete. Von diesen lateinischen Dingen, die wir mit den homerischen, griechischen zusammengebracht haben, kann die schwierige Materie de comitiis romanis [»über die römischen Komitien«] einen ganz anderen Ursprung bekommen, wie wir weiter unten [187] zeigen werden. Aus diesen Gründen erweist sich das Recht der römischen Quiriten als Recht der Völker nicht 33

  De const. phil., X XI , 9.

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nur von Latium, sondern auch von Griechenland und Asien. Von diesem Recht nahm die römische Regierung ihren Anfang, und es erweist sich in seinen ersten Zeiten als von völlig anderer Art, als die späten römischen Juristen glaubten. Das zweite große Fragment besagt, dass die Herakliden, das heißt die vom Geschlecht des Herakles, zunächst in ganz Griechenland verbreitet waren, auch in Attika, wo dann die freie Republik Athen entstand, dass diese sich aber schließlich auf die Peloponnes zurückzogen, wo die Republik Sparta weiter Bestand hatte. Alle politischen Schriftsteller erkennen an, dass Sparta eine aristokratische Republik gewesen ist, und alle Philologen stimmen darin überein, dass Sparta mehr als allen anderen Völker Griechenlands sehr viele heroische Sitten bewahrt hat. Sparta war ein Königreich der Herakliden oder herakleischer Geschlechter, die das Patronym des Herakles bewahrten, in dem zwei Könige auf Lebenszeit gewählt wurden, welche die Gesetze unter der Aufsicht der Ephoren ausführten. XXXV. Entdeckung des heroischen oder aristokratischen römischen Königtums

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Als aristokratisch erweist sich das erste römische Königtum in der Anklage gegen Horatius, wenn der König Tullus Hostilius das Gesetz des Verwandtenmordes gegen den Angeklagten unter der Aufsicht der Duumvirn anwendet, die ihm die Strafe zuteilen sollen, die sie gerecht fänden. Die Berufung, die Tullus dann dem verurteilten Horatier gewährt, nämlich dass er sich an die Volksversammlung wenden kann, ist, da es sicher nicht die Absicht eines monarchischen Königs ist, seine Souveränität mit der Menge zu teilen, gerade die Haltung eines aristokratischen Königs, der die herrschende Ordnung dem Urteil der Menge unterwerfen will. Die Geschichte erzählt, dass die Duumvirn mit diesem Angeklagten beim Volk um die Gerechtigkeit des von ihnen ausgesprochenen Urteils streiten mussten. Da Tullus von kriegerischem Temperament war, dem Romulus nicht unähn-



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lich, wie ihn auch Livius beschreibt, beabsichtigte er, durch Waffen zu herrschen wie Romulus, der erklärt hatte, ganz Hesperien erobern zu wollen. Bei solchen Königen fürchten die mächtigen Optimaten, dass diese, wenn sie einmal ihre militärische Macht etabliert haben, gegen den Staat die Waffen wenden, die sie für seine Verteidigung erhalten haben. In der unwürdigen Verurteilung des berühmten Angeklagten, der mit seiner beispiellosen Tapferkeit und seinem Mut ganz allein die römische Freiheit gerettet und Alba Longa der Herrschaft Roms unterworfen hatte, ergriff Tullus nun also die günstige Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass ihm nicht dasselbe geschehe, was wegen einer ähnlichen Befürchtung dem Romulus von den Vätern angetan worden war, nur wegen dessen manchmal rauem Wesen, das sich nicht so leicht von den Vätern leiten ließ. Das ist es, was das römische Königtum in den Köpfen der Philologen bis jetzt an monarchischen Eigenschaften hatte. Sehen wir nun, wie sehr die Philologen das Monarchische wegen des von Servius Tullius eingeführten Zensus mit der Volksfreiheit vermischt haben. Es ist überhaupt nicht zu bezweifeln, dass den Feldern der Herren hier eher ein Herkules-Zehnter auferlegt wurde als eine Schätzung der Vermögen, wie sie die freie Republik kannte. Denn es war ja nicht die Absicht eines monarchischen Königs, einen Zensus anzuordnen, der die erste und hauptsächliche Grundlage für die Volksfreiheit der Staaten ist, wenn eine bestimmte Höhe ihres Vermögens es den Bürgern ermöglicht, die höchsten Ehren in ihren Städten einzunehmen. Als der Zensus vierzig Jahre nach der Vertreibung der Könige in Rom eingeführt wurde, begann das auch mit einer völlig anderen Idee als jener, die Volksfreiheit zu begründen, wie es später geschah. Denn wie die Geschichte erzählt, lehnten es die Adeligen als unter ihrer Würde ab, den Zensus zu bedienen. Als dann das nach Dignität angesehenste Amt dasjenige des Zensors wurde, haben die Plebejer nicht bemerkt, dass dies das Tor war, das sich ihnen für alle höheren Ämter öffnete. Um dieses Tor den Plebejern verschlossen zu halten, widersetzten sich die Adeligen streitend der Beteiligung der Plebs am Konsulat und wendeten, nachdem das Volk aber doch

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teilhaben konnte, viele Schliche an, damit die Plebejer nicht so reich wurden, dass sie das Konsulat erlangen konnten, wie uns die römische Geschichte erzählt. Daher musste Iunius Brutus, gewiss ein so weiser Mann, wie es uns die Geschichte erzählt, den Staat bei der Neuordnung nach der Vertreibung der Könige an seine Anfänge zurückführen, wie er es dann auch tat. Er verstärkte den Stand der Senatoren, indem er deren Zahl erhöhte, die stark dezimiert worden war durch die Ermordung der Senatoren, die der Superbus34 veranlasst hatte. Aus Hass gegen die Könige schuf er die königlichen Gesetze ab, unter denen auch das Recht der Appellation an das Volk war, das zusammen mit der Einsetzung der Tribunen der zweite Felsen der römischen Freiheit gewesen war. Nach dem Tod des Brutus setzte Valerius Pubblicola aber dieses Gesetz wieder ein. Und es war das populäre Schicksal des Valerianischen Hauses, die von den Adeligen unterdrückte Appellation den Plebejern in den Zeiten der Volksfreiheit noch zweimal zurückzugeben: das zweite Mal, kurz nachdem die Dezemvirn vertrieben worden waren, und ein drittes Mal im Jahr 656 nach der Gründung Roms. Die Strenge der Gesetze, über die sich die jungen Verschwörer beklagten, die den Superbus wieder einsetzen wollten, ist charakteristisch für das Regime der Adeligen, wie diese Unglücklichen – in der von den Philologen eingebildeten Freiheit – an ihren eigenen Häuptern erfahren mussten, unter ihnen Brutus selbst, der als mächtigster Konsul und unglücklichster Vater zwei seiner Söhne enthaupten ließ. Mit diesem glänzenden Verwandtenmord verschloss er sein Haus der Natur und öffnete es der Unsterblichkeit. Denn milde Strafen sind nur den monarchischen Königen eigen, die gern das Lob der Milde hören, oder den freien Repu­bliken. Deswegen verurteilt Cicero auch die Strafe gegen den privaten römischen Ritter Rabirius, welcher der Rebellion schuldig befunden war, als grausam. I lictor, colliga manus« [»gehe Liktor, binde ihm die Hände«], das ist derselbe Schuldspruch wie gegen den Horatius, der, schuldig eines heroischen Zorns, es nicht e­ rtrug, dass seine Schwester angesichts der Leiche des mit ihr verlobten Curiatiers 34

 Tarquinius Superbus war der letzte König Roms.



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über das öffentliche Glück weinte. Das Volk selbst jedoch, das er angerufen hatte, sprach ihn frei mit dem vornehmen Ausdruck des Livius: admiratione magis virtutis quam jure causae [»mehr aus Bewunderung für die Tapferkeit als wegen des Rechts«]. Aber schließlich hat Livius doch klar geschrieben, dass sich mit der Bestellung der jährlichen Konsuln das römische Regime mitnichten verändert habe, denn er sieht libertatis originem inde magis quia annuum imperium consulare factum est, quam quod deminutum quicquam sit ex regia potestate , also »den Anfang der Freiheit daher mehr darin, dass die konsularische Macht jährlich gemacht worden ist, als in der Verkleinerung der königlichen Macht«. Brutus etablierte also zwei spartanische Könige, die aber nicht ein Leben lang, sondern ein Jahr lang herrschen sollten. Cicero nennt daher die Konsuln, die er in seiner Republik nach dem Beispiel der römischen Republik aufstellt, in seinen Gesetzen auch reges annuos [»jährliche Könige«]. XXXVI. Entdeckung der Wahrheit über das Zwölftafelgesetz, auf dem der größere Teil des Rechts, der Regierung und der ­Geschichte Roms beruht

Daher entdecken wir, dass die Klientelen völlig anders gewesen sind, mit denen Romulus die Stadt ordnete, und dass er sie nicht vorfand, sondern von den ältesten Völkern Latiums übernahm; dass der Zensus, den Servius Tullius anordnete, völlig anders gewesen ist als der, den man in der freien Republik einführte und der dort blieb; und dass es sich mit dem Zwölftafelgesetz um etwas völlig anderes handelt, als man bisher geglaubt hat. Romulus etablierte die Klientelen innerhalb des Asyls, das den Flüchtlingen offenstand, mittels des Rechts der Fessel [nexum] des Ackerbaus, durch welches sie mit Feldarbeiten für ihr Leben sorgen konnten. Servius Tullius erließ das erste Agrargesetz mit dem Recht der Fessel des, wie man sagt, bonitarischen Eigentums, also mit der Pflicht des Zensus oder des Herkules-Zehnten, wie die Griechen sagen, der den Herren der ihnen zugewiesenen

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Felder zu bezahlen war. Schließlich wurde das Zwölftafelgesetz mit dem Nexum des sogenannten besten Rechts eingerichtet, das heißt des zivilen oder feierlichen und sicheren Rechts, mit der Pflicht, dass die Plebejer auf eigene Kosten im Krieg dienen mussten, worüber sie sich später laut beklagten. Das ganze Anliegen dieses Gesetzes ist enthalten im ebenso berühmten wie bisher unverstandenen Kapitel, verfasst in den dunklen Worten der Finsternis der barbarischen alten Zeit der Römer: forti sanati nexo soluto idem sirempse jus esto [»ein vom Nexum freier Fremder sollte unbedingt dasselbe Recht haben«], die wohl eher ratend auf die folgende Form reduziert worden sind: de iuris aequalitate [»über die Gleichheit des Rechts«]. Die ansonsten höchst gelehrten Interpreten haben, aufgewühlt von hundert vagen und ungewissen philologischen Autoritäten, das so gedeutet, dass das Kapitel die Gleichstellung der römischen Bürger mit den latinischen Bundesgenossen enthalte, die zunächst rebellierten und dann aufs Neue zum Gehorsam gezwungen worden waren. Aber dies waren in Wahrheit Zeiten von höchster aristokratischer Strenge, in denen, wie wir oben [76] gesehen haben, die römische Plebs eine viel zu große Menge von Nicht-Bürgern war, um auch noch Fremden das Bürgerrecht zu gewähren ! Als dann in der Zeit der Freiheit, die noch nicht ganz verfestigt war und schon wieder zu verfallen begann, Livius Drusus, der aus Ehrgeiz den latinischen Bundesgenossen das Bürgerrecht versprochen hatte, niedergedrückt von der großen Last einer solchen Angelegenheit, starb, hinterließ er als sein Erbe den Bundesgenossenkrieg, welcher der gefährlichste war, den die Römer jemals vor und nachher gekämpft haben ! Servius Tullius hatte bestimmt, dass den Plebejern, die seit Romulus schrecklich darunter litten, immer nur die Felder für die Herren zu beackern, von den Herren Felder zugewiesen werden sollten unter der Last des Zensus. Aber die Adeligen nahmen den Plebejern nach und nach die Felder wieder weg, so dass diejenigen, die das bonitarische oder natürliche Eigentum der Felder hatten, sie nur so viel nutzten sollten, wie sie mit dem Körper besetzen konnten. Seit dem Jahr zweihundertsechsundfünfzig, kaum war der Tod des Tarquinius Superbus bekannt geworden,



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der die Unverschämtheit der Adeligen in Schach gehalten hatte, begann der Kampf um das Nexum zu entbrennen (daher sollen sich die attischen Gleichsetzer auch schämen, das Nexum als Ware aus Athen zu verkaufen). Geizig und grausam wandten die Adeligen das Nexum auf die Plebejer an, nicht nur indem sie ihnen die Felder wieder wegnahmen, die ihnen vorher zugewiesen worden waren, sondern auch indem sie sie wegen ihrer Schulden elend in unterirdischen Arbeitslagern gefangen hielten und dort in ihren Diensten arbeiten ließen. Das Feuer des Kampfs beruhigte sich etwas mit dem Exil, in das die wütende und undankbare Plebs den verdienstvollen Coriolan schickte. Dieser wollte in diesem Kampf die Plebejer, die mit dem natürlichen Eigentum durch den Zensus des Servius Tullius nicht zufrieden waren und das zivile Eigentum der Felder anstrebten, nämlich wieder auf den ganz entgegengesetzten Zustand des von Romulus eingeführten Nexums reduzieren, so dass sie mit Feldarbeiten ihren Lebensunterhalt sichern sollten. Für seinen unvergesslichen Spruch: »Die Plebejer sollen doch harken !« schickten sie ihn aber ins Exil. Aber was für ein dummer Stolz der Plebejer und welche Undankbarkeit – auf die dann, wie jeder weiß, eine große Gefahr für Rom folgte wegen der Rache, die Coriolan genommen hätte, wenn ihn nicht die frommen Tränen seiner Mutter und seiner Schwester besänftigt hätten – sich über einen Spruch über das zu erregen, dessen sich in diesen Zeiten doch die Vornehmsten rühmten, nämlich mit Landarbeit beschäftigt zu sein ! Der Kampf entbrannte dann noch grausamer im Jahr zweihundertsechsundsechzig, als Spurius Cassius das zweite Agrargesetz erließ, das der Plebs die Felder mit aller Feierlichkeit und Sicherheit des zivilen Rechts zuwies. Er wurde dafür vom Senat zum Tode verurteilt als Verschleuderer des Rechts der Väter an die Plebs und, wie einige sagten, als Vater, der den Vätern gottlose Lasten abfordert. Dies ist in der Tat jene Strenge der Gesetze, welche die jungen Verschwörer hassten, die den Superbus wieder einsetzen wollten. Man glaubt gewöhnlich, dass sich dieser Aufruhr mit der Verschickung einer Kolonie von Plebejern durch Fabius Maximus beruhigt hätte. Aber wie das Agrargesetz des Cassius so war auch die Kolonie des Fabius keine Maßnahme der

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sicheren und bekannten römischen Zeiten, wie sie die Gracchen vornahmen, um das verarmte Volk zu bereichern, und womit sich diese Herren brüsteten, wie wir später an geeigneter Stelle [185] zeigen werden. Die Kolonie wurde zwar verschickt, aber die Unruhen hörten nicht auf. Inzwischen ist zu bedenken, dass durch das Agrargesetz so viel Aufregung und Aufruhr entstand und von Coriolan eine so große Gefahr für Rom ausging in einer Zeit, in der Rom vom Fels des Kapitols noch die sehr nahen Grenzen seines entstehenden Imperiums sehen konnte (das sich auch wenige Jahre später noch nicht weiter als zwanzig Meilen erstreckte), in der man das Volk mit einem Blick zählen konnte und in der die Sitten noch einfach und karg waren. Als Rom dann die Eroberungen über Italien und das Meer in die Provinzen hinaus ausgedehnt hatte, war auch das Volk maßlos gewachsen und folglich auch die Zahl der Armen größer geworden. Wenn auch die Armen noch nicht den Luxus erlebten, so bewunderten sie doch die Üppigkeit, und wenn sie auch noch nicht in die Verderbnis geraten waren, so gefielen sie sich doch in lockeren Sitten. Daher musste man die Stadt von den Armen befreien, die den Adeligen Scham, Furcht und Sorge bereiteten, und aus ihnen Festungen der Provinzen machen, indem man sie dort auf eigenen Feldern gut versorgte. Bei alledem, in einem Zeitraum von fast zweihundert Jahren bis hin zu den Gracchen, die ihren Namen ein anderes Mal bekannt machen sollten, hörte man im Gedächtnis der Römer nichts mehr vom Agrargesetz ! Denn die Kolonie des Fabius kam nach dem Agrargesetz des Servius Tullius und war so weit von den bekannten Kolonien entfernt, die nach dem Agrargesetz der Gracchen gegründet worden waren, wie sie nahe war an den früheren Kolonien, die nach den von Romulus eingerichteten Klientelen gegründet wurden, die Coriolan wieder einrichten wollte. Diese Art von Kolonien erklären wir weiter unten [226 – 232]. Die Kolonie in dieser Zeit wurde nur durch Zufall von Fabius geführt, und nach der Erfahrung der letzten Kolonien glaubte man, dass mit dieser Kolonie der Agrarstreit geschlichtet sei. Denn man verstand nicht, dass der Kampf um das Zwölftafelgesetz ging, der durch die Kolonie des Fabius nicht beendet war.



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Denn als schließlich die berühmte Gesandtschaft mit den Gesetzen im Gepäck aus Athen zurückgekehrt war, behandelten der Senat und die Konsuln die Volkstribunen und das Volk in tödlicher Absicht – auch öffentlich – dermaßen schlecht, dass die Plebejer aus Verzweiflung dazu gezwungen waren, dem Appius Claudius die Macht anzutragen, einem Mann aus höchst adelsstolzem Hause, das immer begierig nach höchster Macht strebte und das dem Volk aber immer feindlich gesonnen und seinen Wünschen entgegengesetzt war (das sind die Lobpreisungen, die ihm Livius zukommen lässt). Das bedeutete so viel – um mich des Ausdrucks von Dionys zu bedienen –, wie ihm die Tyrannis anzutragen, die er in der Tat mit neun Gefährten errichtete. So verstehe man, ob die Gesandtschaft ehrlich war oder eine List, das Volk fernzuhalten. Daher kommen wir zu dem Schluss, dass in diesem Kampf nur ein einziges Kapitel diskutiert wurde, und zwar jenes, das von allen am wenigsten verstanden wurde, nämlich ob beim Recht des Nexums Gleichheit bestehen soll zwischen denen, die vom Nexum frei waren, das heißt den Adeligen, und den forti sanati [den Fremden], das heißt den Plebejern, welche, wie wir gleich [183, 227] sehen werden, die ersten socii mit dem Namen »Römer« waren, die sich zunächst auflehnten und dann zum Gehorsam gezwungen wurden, da in dem Kampf um das Nexum die Weisheit des Menenius Agrippa sie in der Stadt zum Gehorsam gezwungen hatte. Daher war die ganze Angelegenheit, die in jenem Gesetz und seinen Anhängen behandelt wird, ganz allein – oder wenigstens hauptsächlich – das Recht, das auctoritas heißt und das in dem berühmten Kapitel geschrieben steht: qui nexum faciet mancipiumque [»wenn jemand ein Nexum oder ein Mancipium macht«]. In ganz Griechenland gibt es kein Wort, das dem Wort auctoritas entspricht, wie oben [83] der Grieche Cassius Dio sagte. Und die auctoritas, die oft in diesem Gesetz erwähnt wird, ist das feierliche, sichere und zivile Eigentum, das die Römer das beste Recht, optimum, nannten, das in der alten Sprache fortissimum, »das stärkste«, bedeutete. Wenn man es ins Griechische übersetzen sollte, müsste man δίκαιον ἄριστον oder ἥρωικόν sagen, also mit den Worten, mit denen die Republiken

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»aristokratisch« oder »heroisch« genannt wurden, wie es vor allen anderen die spartanische Republik war. Mit dieser so beschaffenen und so genannten auctoritas regelten die Römer alle ihre Angelegenheiten, die öffentlichen wie die privaten, zu Hause wie im Äußeren, im Frieden wie im Krieg. Als Erstes war die Autorität, entsprechend der aristokratischen Regierungsform, Autorität des Eigentums, durch welche die Väter die souveränen Herren des ganzen Ager Romanus waren. Daher gewährten die Väter im Interregnum des Romulus der Plebs, für die Bestimmung der Könige, dass sie die Könige wählen durfte, deinde patres fierent auctores [»welche die Väter dann autorisierten«]. Die Wahlentscheidungen der Plebs waren somit eher Wünsche oder Nennungen bestimmter Probleme, die – um entschieden zu werden – ihnen von den Vätern vorgeschlagen werden mussten und die die Plebejer nennen sollten, damit die Zustimmung folgen konnte. Das Glück [die Fortuna] Roms, das sich Plutarch, ziemlich neidisch auf die römische Tugend, als eine Göttin vorstellt, verdankt sich daher in den Wahlen der Könige, die für die Anfänge römischer Größe nötig waren, ganz der römischen Weisheit der Väter. Zweitens war die Autorität, in Übereinstimmung mit der Form der freien Volksherrschaft durch das Gesetze des Philo, der wahrscheinlich deswegen Volksdiktator genannt wurde, Autorität der Vormundschaft [tutela]. Durch diese Autorität, durch welche der Senat die Gesetze konzipierte und dem Volk vorlegte, das sie dann in dieser und keiner anderen Form beschließen musste, waren die Väter auctores in incertum comitiorum eventum, [»Autoren eines ungewissen Ausgangs der Komitien«], also wie Vormünder des Volkes, des Herrn des Imperium Romanum, das gleichsam ihr Mündel war. Schließlich war die Autorität, entsprechend der Form der monarchischen Regierung unter den Kaisern, Autorität der Beratung. Auf dieselbe Weise und in derselben Ordnung regelten die Väter die privaten Angelegenheiten bei den Klientelen: Zunächst verteidigten die Adeligen als Herren die Plebejer bei der Bewahrung ihrer Felder, dann handelten sie als »mit Namen genannte Autoren« [auctores laudati] bei Verkaufsgeschäften und schließ-



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lich als prudentes [»kluge Ratgeber«], die als Juristen auctores genannt wurden. Wie die Römer mit derselben Autorität auch die Eroberungen und die Angelegenheiten der Provinzen regelten, werden wir weiter unten [226–232, 354–358] sehen. Im Übrigen war es diese Sicherheit des privaten Rechts, die die Plebs wünschte und durch das Zwölftafelgesetz auch erhielt. Das war der Grund für den Irrtum des Pomponius, der glaubte, dass das Volk das Gesetz gewollt hätte, um die Freiheit der königlichen Hand zu zwingen, nicht die verborgenen und unsicheren Gesetze, sondern, immer wenn es nötig war, die sicheren und festen Gesetze der Tafeln anzuwenden; wo es doch früher von der Willkür des Tullus abhing, die Duumvirn einzusetzen oder auch nicht, um das Gesetz gegen Horatius anzuwenden. Denn in den öffentlichen Angelegenheiten behielten die Konsuln ja die königliche Hand während der ganzen Zeit der freien Republik. Von deren Willen hing es ab, ob im Senat die öffentlichen Notfälle vorgetragen wurden, so dass der Senat über diese mit seinen Dekreten bestimmen oder Gesetze konzipieren konnte, die das Volk beschließen musste. Durch diese königliche Hand der Konsuln, die im Senat zwar die Briefe Cäsars vorlasen, aber dem Senat nicht den Wunsch Cäsars in diesen Briefen vortragen wollten, entstand ja dann der große Krieg. In den privaten Angelegenheiten auf dem Forum behielten die Prätoren die königliche Hand, die daher auch ministri [von manus »Hand«] und lebende Stimme des zivilen Rechts genannt wurden; denn wenn die Prätoren das Recht nicht mit ihren Formeln verkündeten, konnten die römischen Bürger ihr Recht nicht wirklich erfahren.

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XXXVII. Das ewige Prinzip der menschlichen Regierungen in den freien Republiken und in den Monarchien

Aber in Bezug auf diese historischen Entdeckungen bezüglich der römischen Regierung ist Folgendes hinzuzufügen. Da Rom ja nur ein kleiner Teil der Welt war, ist die Entdeckung des ewi-

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gen Prinzips, auf dem alle Republiken beruhen und sich bewahren, weil sie alle aus ihm entstanden sind, umso wichtiger: Das ist der Wunsch der Menge, mit Gerechtigkeit entsprechend der Gleichheit der menschlichen Natur mit Gleichheit regiert zu werden. Daher hielt der Heroismus im Stand der Adeligen nur so lange, wie sie die Menge damit zufriedenstellen konnten. Aber da die Heroen von keusch verderbt, von stark faul, von gerecht geizig, von großmütig grausam und daher lauter kleine Tyrannen geworden waren, wurden sie entweder aus den freien Republiken vertrieben, in denen sich der Heroismus in den Versammlungen zu einem Körper vereinigt, in dem die freien Völker einen von Empfindungen freien Geist entfalten (wie Aristoteles das gute Gesetz so göttlich definiert), wo der von den Leidenschaften befreite Geist im eigentlichen Sinne ein heroischer Geist ist und wo die Völker die Freiheit stets bewahren, wenn sie mit einem solchen Geist die Gesetze schaffen. Oder die Heroen wurden von den Monarchen ausgeschaltet, als diese begannen, die Menge zu beschützen, und als sich in deren Person der Heroismus konzentrierte, als ob sie von höherer Natur wären als die Untertanen und folglich niemandem unterworfen außer Gott. Und so bewahren die Monarchen den Heroismus, indem sie alle Untertanen gleichermaßen in den Genuss der Gesetze bringen. XXXVIII. Das natürliche Recht der Völker hat eine konstante Einförmigkeit bei den Nationen 175

Andererseits muss jede Jurisprudenz, nicht nur die römische, zum Beispiel, die Geschichte der Gerechtigkeit kennen, die von den Gesetzen ihrer jeweiligen Republik verlangt wird, die je nach der Verschiedenheit der Regierungen variieren mussten. Daher muss die Jurisprudenz des Menschengeschlechts die Geschichte des Rechts kennen, das allen Nationen von der Natur in derselben Form diktiert wurde, zwar zu verschiedenen Zeiten, aber dennoch konstant in der Verschiedenheit der Regierungen, mit denen sie entstanden sind und sich verbreitet haben.



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XXXIX. Entdeckung des ersten natürlichen Rechts der Völker, des göttlichen Rechts

Aber abergläubische und wilde Menschen, die Göttlichkeit nach der Gewalt beurteilen und nicht nach der Vernunft, werden wegen des göttlichen Rechts auch das Opfer für gerecht halten, das der unkluge Agamemnon den siegreichen griechischen Göttern versprach, die unschuldige Tochter Iphigenie. Sie halten auch den Fluch des betrogenen Theseus gegen seinen keuschen, zu Unrecht beschuldigten Sohn Hippolytos für gerecht und von den Göttern erhört. Und viel mehr noch halten sie es für gerecht, ungerechte Gewalttäter den Göttern zum Opfer zu bringen, wenn sie diese bei der Ausübung von Untaten töten, um ihr Recht gegen deren Gewalt zu verteidigen. Diese wurden, weil sie Feinde [hostes] waren, hostiae genannt, und wenn sie besiegt [victi] worden waren, wurden sie victimae genannt, weswegen bei den alten Römern supplicium gleichermaßen Opfer und Strafe bedeutete.

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XL. Prinzip der äußeren Gerechtigkeit der Kriege

Hier finden wir den Ursprung der Duelle in einer Eigenschaft, über die es keine Kontroversen mehr gibt, auch wenn damit deren berechtigter Teil entfällt, weil die Duelle heute, wo öffentliche Herrschaften gegründet worden sind, so verboten sind, wie sie früher, vor dem Entstehen der Gesetze, nötig waren. In jenen Zeiten kam es auf, dass man sich nur unter einem Gottesurteil duellieren durfte, in dem die verletzte Partei eine Gottheit als Zeuge für die erlittene ungerechte Gewalt anrief. Und hier erfand man zum ersten Mal bei den latinischen Stämmen die Formel: audi Iupiter [»höre, Jupiter], die sie später als audi fas aussprachen, wobei sie »Jupiter« als »göttliches Recht« verstanden. Von diesem Punkt an zeichnet sich das berühmte fas gentium ab, welches das Wort für den ganzen Stoff dieser Wissenschaft ist.

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Als dann die öffentlichen Kriege entstanden und der Zustand der Gewalt wiederkehrte, kehrten auch die göttlichen Regierungen wieder zurück und mit ihnen ein göttliches Recht der Völker. Daher rufen die Souveräne in ihren Aufrufen Gott als Zeuge für die Notwendigkeit an, zu den Waffen zu greifen zur Verteidigung ihrer Rechte. Und sie nennen Gott »Richter« und »Rächer des verletzten Rechts der Völker«. Wegen dieser ewigen Fortdauer menschlicher Sitte wurden die Kriege lange Zeit von den Römern duellae genannt. Und weil sie als zivile Reinigung unter dem Urteil Gottes betrachtet wurden, verbreiteten in den letzten barbarischen Zeiten die Nationen des Nordens diese privaten Kriege wieder in ganz Europa. Aber wichtiger ist, dass wir hier beide Seiten des Prinzips der äußeren Gerechtigkeit der Kriege entdecken: einerseits, dass die Kriege von zivilen Mächten geführt werden müssen, die keinen anderen als höher anerkennen als Gott, und andererseits, dass die Kriege mit Kriegserklärungen eröffnet werden müssen. XLI. Das beste Recht als Prinzip der Rache und der Ursprung des ­heraldischen Rechts

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In diesen uralten Duellen findet man den gemeinsamen Ursprung jenes natürlichen Rechts der Völker, das der Gleichsetzer des mosaischen Rechts und die Gleichsetzer des athenischen Rechts mit dem römischen Recht als gemeinsam bei den Juden, Griechen und Römern betrachten: nämlich, wie wir oben [142, 164] gesagt haben, dass man den Dieb töten kann, allerdings mit der jetzt hinzukommenden Besonderheit, dass man, wenn der Dieb sich bei Tag mit Waffen verteidigt, vorher »haltet den Dieb ! haltet den Dieb !« [al ladro ! al ladro !] rufen muss. Diese Sitte war den erwähnten und allen anderen Nationen auf natürliche Weise gemeinsam. Diese Rufe sind notwendigerweise die ersten obtestationes Deorum [»Anrufungen der Götter«] gewesen, um die Ernten und das Getreide vor den gottlosen Dieben zu verteidigen. Als dann die öffentlichen Kriege aufgekommen ­waren,



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gingen diese Hilferufe über in die Aufrufe der Fürsten, wie wir gerade [178] gezeigt haben, so dass wir hier den Ursprung der Kriegserklärung durch Herolde entdeckt haben. Diese verkünden das in der natürlichen Sprache, in der Nationen mit verschiedenen Lautsprachen miteinander kommunizieren können, das heißt in einer bestimmten Sprache der Waffen, die dem Recht der Völker eigen ist. Im nächsten Kapitel werden wir zeigen, dass diese Sprache der Ursprung der heroischen Impresen 35, der Wappen und der Medaillen ist. Und hier entdecken wir auch das Prinzip der Rache, das im besten Recht der Felder der latinischen Stämme gründet, das in der alten Sprache »stärkstes [fortissimum] Recht« bedeutete. Es wurde optimum genannt von der Anrufung von opes Deorum [»Hilfe der Götter«], welche die Starken [fortes] im Gebet von den Göttern erflehten, ihnen Kraft zum Töten der Diebe zu geben. Das kann man auf Griechisch nicht eleganter wiedergeben als mit δίκαιον ἥρωικόν oder ἄριστον, aus dem dann die ersten heroischen Republiken hervorgingen, welche die Griechen »aristokratische« Republiken und die Römer »Optimaten-Repu­ bliken« nannten.

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XLII. Das Recht der Fessel [Nexum] als Anfang der Obligationen und als erste Form der Unterdrückung und der Sklaverei

Der zweite Hauptteil dieses göttlichen Rechts war der, den man das Recht der Fessel nannte, von dem selbst die attischen Gleichsetzer nicht zu sagen wagen, dass es von Griechenland nach Rom übertragen worden sei, und das in der mythischen Geschichte der Griechen selbst »Fessel« genannt wurde, wie wir weiter unten [465–466] zeigen werden, so wie es nexus von den Römern genannt wurde. Nexus hielt sich bei den Römern im berühmten Kapitel des Zwölftafelgesetzes, in der Bedeutung der Wörter »Gefangener« und »Sklave«, qui nexum faciet mancipiumque [»wenn jemand ein Nexum oder ein Mancipium macht«]. Dabei 35

 Zum Ausdruck impresa vgl. Einleitung.

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riefen die Gläubiger zuerst den Schutz der Götter an, dies ist das erste und eigentliche implorare Deorum fidem. Und fides, verstanden als »Gewalt«, war in diesen außerordentlich rohen Zeiten ein Seil aus Weiden. Fides muss also in den Zeiten entstanden sein, in denen es nur bäuerliche Fertigkeiten gab, und es blieb bei den Römern in vimen [»Weide«], von vi [»Gewalt«], erhalten. Mit diesem Weiden-Seil wurden nämlich die Schuldner gewaltsam herumgezerrt und tatsächlich an bestimmte Felder gefesselt, wo sie ihre Schulden durch Feldarbeit abarbeiten mussten. Und in dieser ersten Form von Unterdrückung findet man den Ursprung der Obligationen, die mit der privaten Gefangenschaft im Inneren begannen und sich dann draußen in den Kriegen zur Sklaverei entfalteten. XLIII. Die ersten Rechte der Nationen, betrachtet unter dem Blickwinkel der Religion 182

Schließlich entdecken wir, dass alle menschlichen Gesetze von furchtbaren und grausamen Religionen durchdrungen waren, die mit der Furcht vor den Göttern und mit Waffengewalt verteidigt wurden. Man sagte zum Beispiel dii hospitales [»gastliche Götter«] für das Recht auf Asyl, dii penates [»Götter des Hauses]« für das Recht der Ehe, sacra patria oder paterna [»heiliges Vaterland«] für die väterliche Macht, dii termini [»Götter der Grenze«] für das Eigentum an Grund und Boden, dii lares [»Götter der Laren«] für das Eigentum der Häuser, und im Zwölftafelgesetz stand das ius deorum manium [»Recht der Götter der Verstorbenen«] für das Recht des Begräbnisses. Und in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten entstanden so viele Orte und Befestigungen mit Namen von Heiligen und wurden unzählige Bistümer auf Adelssitzen errichtet, weil in Zeiten, in denen ihnen die Gesetze nicht halfen, da diese von der Barbarei der Waffen ausgelöscht worden waren, die Menschen ihre Rechte mit der Religion beschützten, die ihnen allein geblieben war.



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XLIV. Entdeckung des zweiten natürlichen Rechts der Völker, des heroischen Rechts

Aber Menschen, die sich von göttlicher Herkunft und über ­a nderen Menschen stehend wähnen, die sie als von tierischer Abstammung verachten, werden diese Menschen wie wilde Tiere behandeln. Keiner der Rechtsgelehrten hat bisher bemerkt, dass die römischen Herren kraft natürlichen Rechts der Völker Sklaven für unbelebte Sachen hielten, die, mit dem Ausdruck der römischen Gesetze, loco rerum [»anstelle von Sachen«] standen. Daher sollte man aufhören, sich darüber zu wundern, dass Odysseus sich gegen Antinous, den liebsten aller seiner Gefährten, wegen eines einzigen Wortes, mit dem dieser ihm keine blinde Verehrung gezeigt zu haben schien, das er aber gut gemeint hatte, in einen heroischen Zorn hineinsteigert und ihm den Kopf abschlagen will und dass Äneas seinen Gefährten Misenus tötet, um ein Opfer zu bringen. Denn diese Gefährten der Helden erweisen sich als die Klienten der alten Nationen. Dieses natürliche Recht der barbarischen Völker besteht noch in Norwegen, Schweden, Litauen und Polen, in Nationen, bei denen das Leben der von den Adeligen getöteten Plebejer mit wenig Geld bezahlt wird.

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XLV. Das alte römische Recht erweist sich als gänzlich heroisch und als Quelle der Virtus und der Größe Roms

Aufgrund dieses Prinzips des heroischen Rechts wird ein großer Teil der alten römischen Geschichte gerade dadurch verständlich, dass die römischen Patrizier der Plebs, welche die feierlichen Eheschließungen verlangte, öffentlich entgegenhielten, dass die Plebejer agitarent connubia more ferarum, also die Bei­ lager nach Art der Tiere abhielten. So erzählt Sallust gewiss (nach dem Heiligen Augustinus in der Civitas Dei), dass das Jahrhundert der römischen Virtus bis zu den punischen Kriegen gedauert habe. Und er erzählt (nach denselben Büchern des Hei-

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ligen Augustinus), dass während dieses Jahrhunderts die Plebe­jer von den Adeligen auf äußerst tyrannische Weise mit Ruten auf die nackten Rücken geprügelt wurden. Daher bestimmte dann auch die Lex Porcia, dass kein Römer mehr mit Ruten auf den Rücken geschlagen werden sollte. Die Plebejer ertranken in einem Meer von Wucher, von dem sie zuerst durch ein Kapitel des Zwölf­tafel­gesetzes und dann von der Lex unciaria entlastet wurden. Sie mussten auf eigene Kosten den Herren im Krieg dienen, ­worüber sie nach Livius sehr klagten, wie unsere Vasallen, die perangari genannt werden. Wegen der Schulden wurden sie in private Gefängnisse der Herren eingesperrt, bis diese durch einen Volksaufstand mit der Lex Poetelia sehr spät dazu gezwungen wurden, sie daraus zu befreien. Angesichts all dieser Dinge, was ist da die römische Virtus, wie Sallust sie nennt, wenn man sie nicht als heroische Virtus versteht, wie wir sie bei Achill gezeigt haben, für den sie auf einem Unterschied der Natur beruht, nach dem die Starken von anderer Art seien als die Schwachen ? Welche Virtus, wo so viel Stolz ist ? Welche Milde, wo so viel Wildheit ist ? Welche Kargheit, wo so viel Geiz ist ? Welche römische Gerechtigkeit, wo so viel Ungleichheit ist ? Und, auf der anderen Seite, was ist das für eine törichte Großherzigkeit der römischen Plebs, Eheschließungen nach Art der Adeligen zu fordern und Konsulat und Herrschaft, Priesterschaft und Pontifikat für erbärmliche Menschen zu verlangen, die wie gemeinste Sklaven behandelt werden ? Schließlich, welch falsche Reihenfolge dieser Wünsche ! Menschen unserer Art begehren zuerst Reichtümer, dann Ehren und Ämter, schließlich Adel. Die römischen Plebejer aber begehrten zuerst den Adel mit den feierlichen Eheschließungen nach Art der Adeligen und dann Ämter und Ehren mit den Konsulaten und Priesterschaften, und sehr viel später erst kommen die Gracchen, die die Plebs reich machen wollten mit dem Agrargesetz der Volksfreiheit ! Diese wahren römischen Geschichten scheinen alle noch unglaubwürdigere Mythen zu sein als selbst die der Griechen. Von den griechischen Mythen haben wir bisher noch nicht verstanden, was sie bedeuten sollen, von den römischen verstehen wir aber schon aufgrund unserer menschlichen



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Natur, dass alles, was sie erzählen, falsch ist. Keiner, weder Polybios mit seinen Reflexionen, noch Plutarch mit seinen Problemen, noch Machiavelli mit seinen römischen Lektionen, dachte daran, diese Geschichten wahrscheinlich zu machen, So dass wir allein mit unseren Prinzipien alle diese ansonsten unlösbaren Schwierigkeiten überwinden können: dass die Plebejer, um ihre Körper vom heroischen Recht des Nexums oder vom privaten Gefängnis zu befreien, am heroischen Recht der Auspizien der Adeligen teilzuhaben begehrten, welches diese in der Tafel XI für sich reserviert hatten. Das würde ihnen aber nicht gelingen, wenn sie nicht an den Eheschließungen, den Konsulaten und den Priesterschaften teilhaben könnten, die alle an die Auspizien der Adeligen geknüpft waren. So versteht man nun auch den Satz des Livius, den man bisher nicht deutlich genug verstanden hat, dass mit der Lex Poetelia und der Auflösung des Nexums aliud initium libertatis extitit, ein zweiter Beginn der Freiheit erscheint. Denn von der Gründung Roms bis zur Lex Poetelia galt bei den Römern vierhundertneunzehn Jahre lang das heroische Recht. Von diesem Recht, das Romulus mit den Klientelen angeordnet hatte, wurde zuerst von Servius Tullius der Plebs wegen eines Aufstands das natürliche Eigentum mit Zensus oder Tribut überlassen; dann wurde wegen großer plebejischer Bürgerbewegungen, von denen sich bei Dionysius Halicarnassus noch einige Spuren finden, den Plebejern von den Dezemvirn das private beste Eigentum der Felder mit ihren Anhängen zugestanden; danach wurden ihnen mit den heroischen Kämpfen zuerst um die Eheschließung, dann um das Konsulat und schließlich um die Priesterschaft die Anhänge des öffentlichen heroischen Rechts überlassen, die aus den öffentlichen Auspizien bestanden. Und im Gefolge der Priesterschaft wurde ihnen auch die Wissenschaft von den Gesetzen zuteil, welche in jenen Zeiten großenteils religiös waren. Daher war der erste Lehrer der Gesetze Tiberius Coruncianus auch der erste plebejische Pontifex Maximus. Im Jahr vierhundertsechzehn wurde der Plebs durch das Gesetz des Diktators Philo, der von allen senatorischen Magistraten allein übriggeblieben war, dann noch die Zensur zugestanden. Und

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durch den zweiten Teil dieses Gesetzes, durch das die Autorität des Senats zur Autorität der Vormundschaft [tutela] wurde, wie wir oben [170] gezeigt haben, ging die Regierung von der aristokratischen zur volkstümlichen Form über. Dadurch veränderte sich im dritten Teil des Gesetzes auch das Wesen des Plebiszits, nämlich dass in den tribunarischen Versammlungen, in denen die Plebs durch ihre Zahl vorherrschte, das römische Volk als absoluter Herr die Herrschaft ohne die Autorität des Senats wahrnahm, so dass plebiscita omnes quirites tenerent, »dass die Plebiszite für alle Quiriten bindend sein sollen«. Da sie nicht bemerkt haben, dass dieses Wort »Quiriten« hier mit seiner vollen Bedeutung verwendet wurde, haben die römischen Kritiker aus dem Blick verloren, dass sich mit diesem Gesetz die ganze Form der römischen Regierung veränderte. Daher beklagten die Väter zu Recht, dass sie mit diesem Gesetz in jenem Jahr im Frieden zu Hause mehr verloren hätten, als sie draußen mit den Kriegen erworben hatten, in denen sie doch in jenem Jahr viele und wichtige Siege errungen hatten. Mit diesem Gesetz wurde nämlich bestimmt, dass die Plebiszite nicht durch Gesetze annulliert werden konnten, die von den Adeligen in den Zenturiatskomitien erlassen wurden, in denen sie durch die Patrimonien die Oberhand über die Plebejer hatten. Denn »Quiriten« als »Römer außerhalb der Versammlung« zu verstehen, ist ein Irrtum, den sich keiner erlauben kann, schon gar nicht ein römischer Gesetzgeber, aber auch kein Kind, das die lateinische Sprache erlernt, in der das Wort »Quirite« niemals im Singular benutzt worden ist. Drei Jahre später wurde in der Tat schließlich mit der Lex Poetelia das heroische Recht des Nexums gänzlich aufgelöst. Von da an konnte die Volksfreiheit sich erheben (das bedeutet das existere im LiviusZitat). So viel brauchte es, um das Nexum gänzlich aufzulösen, auf dem Romulus die Stadt mit den Klientelen gegründet hatte ! Es kämpfte also die römische Plebs unter dem Nexum des Romu­ lus für das Leben, das ihm in seinem Asyl sicher war. Sie kämpfte dann unter dem Nexum des Servius Tullius für die natürliche Freiheit, die sie durch den Zensus mit dem natürlichen Eigentum der Felder gewonnen hatte und die ihr durch die Sklaverei weggenommen wurde. Denn für das Leben und für die natür-



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liche Freiheit kämpft man hartnäckige Kriege. Schließlich aber kämpfte die Plebs unter dem Nexum des Zwölftafelgesetzes – in dem die Väter die öffentlichen Auspizien ganz für ihren Stand reservierten, nachdem man der Plebs das beste Eigentum der Felder überlassen hatte – für die zivile Freiheit und für wahrhaft großmütige Ziele. So dass sie sich, angespornt von den hero­ ischen Kämpfen im Inneren, draußen darum bemühte, heroische Taten in den Kriegen zu vollbringen, um den Vätern zu zeigen, dass sie ihrer Eheschließungen, ihrer Befehlsgewalt, ihrer Priesterschaft auch würdig war, wie es bei Livius der Volkstribun Sextius einmal den Vätern entgegnet hat. Denn die heroischen Kämpfe gingen alle um Gerechtigkeit, welche die Plebejer durch das öffentliche Bekenntnis der Adeligen und mit der Autorität der Gesetze der Adeligen erhalten wollten. Daher wuchs mit diesen Kämpfen die römische Virtus im Inneren und die Größe draußen; im Gegensatz zu den Kämpfen zu Zeiten der Gracchen, welche nur Kämpfe um die Macht waren, durch die sich die Freiheit zuerst in Streitparteien entzündete, dann in Tumulten entbrannte und sich schließlich in Bürgerkriegen in Schutt und Asche legte. Der Höhepunkt des römischen Glücks war daher die Zeit, in der sich im Inneren die zivile bürgerliche Freiheit vollendete und in der draußen mit den Siegen über Karthago durch die Herrschaft über das ganze Meer die Grundlagen der Weltherrschaft gelegt wurden. Während dieser ganzen frühen Zeit war der Senat, um das arme Volk zu Hause zu halten, großmütig und mild und gerecht mit den Besiegten, denen er nur die Möglichkeit nahm, Schaden anzurichten, indem er ihnen das souveräne Recht der Waffen entzog. Somit war das Zwölftafelgesetz durch das private beste Recht, das man den Plebejern gegeben hatte, und durch das den Adeligen vorbehaltene öffentliche Recht die Quelle der römischen Virtus und – durch diese – der römischen Größe. Daran sieht man auch, warum – aus Wohlgefallen oder aus Verdienst – Cicero das Büchlein des Zwölfttafelgesetzes allein allen Büchern der philosophierenden Griechen vorzog. Aus den hier verhandelten Dingen erkennt man klar, welche Freiheit die römische Freiheit von Brutus bis zur Lex Poetelia

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war: ob volkstümliche Freiheit der Plebs von den Adeligen, wie es diejenige Hollands ist, oder Freiheit der Herren, wie es die­ jenige von Venedig, Genua oder Lucca ist, also Freiheit der Adeligen von monarchischer Herrschaft. XLVI. Entdeckung des letzten Rechts der Völker, des menschlichen Rechts 191

Aus dem Gesagten folgt im Gegensatz dazu: Menschen, die wissen, dass sie gleich sind in ihrer vernünftigen Natur, welche die eigentliche und wahre Natur des Menschen ist, in allen Zeiten und in allen Nationen (denn in einem mathematischen Beweis ist 6 um 4 größer als 2 und um 4 kleiner als 10, das ist die Proportion der Zahlen, mit der die ausgleichende Gerechtigkeit den jeweiligen Nutzen anpasst; und wie die 1 zur 3, so steht die 4 zur 12, das ist die Proportion der Maße, mit der die verteilende Gerechtigkeit ihre Würden austeilt; in diesen beiden Wahrheiten stimmt der Polyphem mit Pythagoras überein, der schrecklichste Troglodyt mit dem menschlichsten Athener), halten es für ein ewiges und den Menschen eigenes Recht, weil sie von derselben Art sind, dass sie einander die Rechte der Wohlfahrt gleicher­ maßen zuteilen, aufgrund der Überlegung, dass die Schwachen sich Gesetze wünschen und die Mächtigen keine Gleichen wollen. Das ist das Recht der menschlichen Völker, welches zu seiner Zeit Ulpian, als er es mit gewichtigen Worten definieren wollte, ius gentium humanarum nennt. XLVII. Beweis der Wahrheit der christlichen Religion und gleichzeitig ­ iderlegung der drei Systeme von Grotius, Selden und Pufendorf W

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Und dieselbe Verschiedenheit des natürlichen Rechts der heidnischen Nationen ist untrennbar verbunden mit einem unbesiegbaren Beweis der Wahrheit der christlichen Religion. Denn, wie wir unten [293] zeigen werden, in den Zeiten, in denen bei



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den Griechen ein gänzlich abergläubisches und wildes natürliches Recht galt, in der dunklen Zeit Griechenlands, spricht das Volk Gottes eine poetische Sprache, erhabener als selbst diejenige Homers: Gott gibt Moses ein Gesetz so voller Leitsätze für die Dogmen der Gottheit und so voller Menschlichkeit für die Praxis der Gerechtigkeit, dass nicht einmal in den menschlichsten Zeiten Griechenlands Leute wie Platon es verstanden oder Leute wie Aristides es praktizierten. Mit diesem Gesetz ordnete Gott sein in der ägyptischen Gefangenschaft ziemlich verkommenes Volk entsprechend den ersten natürlichen Sitten Adams neu. Die zehn höchsten Gebote dieses Gesetzes enthalten eine ewige und universelle Gerechtigkeit aufgrund der besten Idee einer aufgeklärten menschlichen Natur und können durch Gewohnheit einen Weisen bilden, wie ihn die Maximen der besten Philosophien nur schwer durch rationale Überlegungen hervorbringen könnten. Daher nannte Theophrast die Juden »Philosophen von Natur«. So erlaubte die Vorsehung, dass die Dinge der Heiden geregelt wurden, und machte sie ihrem ewigem Rat dienstbar, so dass sie im langen Lauf der Jahre ihre Sitten ändern mussten, um vom zyklopischen Recht der Polypheme zum menschlichen römischen Recht Papinians zu gelangen. In dessen Einteilung der Dinge erkennt man dieselben ewigen Prinzipien der Metaphysik wie bei den Platonikern über die höchsten Gattungen der Sub­ stanz: dass von allen Dingen die einen körperlich, die anderen unkörperlich sind; dass die körperlichen den Sinnen unterworfen sind und berührt werden können; dass man die unkörperlichen geistig erfasst und sie in intellectu iuris consistunt [»im Verstehen des Rechts bestehen«], wie die Juristen sagen und den Gesetzen die ewige Eigenschaft zuschreiben, unteilbar zu sein, was keine Eigenschaft der Körper sein kann, denn die erste Eigenschaft der Körper, aus der ihre Ausgedehntheit resultiert, ist gerade die Teilbarkeit ihrer Teile. Das ist es, was wir oben [71] sagten: dass nur die platonische Philosophie mit der letzten römischen Jurisprudenz übereinstimmt. Umso mehr ist die göttliche Vorsehung darin zu bewundern, worüber sich Arnold Vinnen, begraben in einer ewigen Nacht über diese Dinge, lustig macht

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und lacht, nämlich dass die Rechte und die Gesetze platonische Ideen sind !36 Aber lassen wir Vinnen, den hochberühmten Interpreten des römischen Rechts, hinter uns und verweilen wir bei Grotius, Selden und Pufendorf, den ersten Rechtsgelehrten des universellen Rechts. Alle drei sagen, dass aufgrund ihrer philosophischen Naturrechts-Systeme das natürliche Recht der Völker vom Beginn der Welt an mit konstanter Einförmigkeit der Sitten einhergegangen sei. Aber das brauchten sie, wie wir oben [86] bewiesen haben, damit Rufinus die mosaischen Gesetze mit den römischen Gesetzen unter den Kaisern gleichsetzen konnte, so dass die christlichen Regierungen glücklich mit den römischen Gesetzen herrschen konnten, so wie die Christliche Theologie gut mit der platonischen Philosophie bis ins 11. Jahrhundert herrschte und danach mit der Philosophie des Aristoteles, sofern sie mit der platonischen übereinstimmt. Idee einer Jurisprudenz des Menschengeschlechts, die nach bestimmten Zeitabschnitten variiert 37

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Auf einer solchen Moral, Politik und Geschichte des Rechts des heidnischen Menschengeschlechts gründet eine entsprechende Jurisprudenz des Menschengeschlechts, mit Prinzipien, die diese auf drei Zeitabschnitte verteilen, welche die der römischen Jurisprudenz eigenen Denkschulen sind und die viel besser passen als die Schulen der Philosophen, welche die Gelehrten so gewaltsam unterschieden haben.

  A rnold Vinnius, In quatuor libros Institutionum imperialium commentarius academicus et forensis, 1646. 37  Dieser kleine Abschnitt ist nicht nummeriert. Er ist wohl auch mehr eine einführende Bemerkung zur Darstellung der drei Jurisprudenzen der abergläubischen, heroischen und menschlichen Zeit in XLVIII , LI und LIV. 36



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XLVIII. Jurisprudenz des abergläubischen Zeitabschnitts

Und das Prinzip, das der Jurisprudenz der abergläubischen Zeiten zugrunde liegt, ist, dass die unwissenden und wilden und von fürchterlichem Aberglauben verschreckten Menschen die Dinge mit erlesenen Zeremonien behandeln, wie man es von denen erzählt, die Hexerei betreiben, vor allem, wenn sie sich in einem Zustand befinden, in dem sie sich überhaupt nicht ausdrücken können, was ja, wie wir gezeigt haben [42], der Zustand aller heidnischen Nationen war in den Zeiten nahe an der vergangenen Sintflut. Entsprechend diesem Zeitabschnitt [secta temporum] mussten alle sehr frühen Juristen Priester gewesen sein, welche die Rechtsangelegenheiten mit heiligen Riten verhandelten. Von diesen sind im Zwölftafelgesetz zwei sehr schöne Spuren zurückgeblieben: eine im Kapitel De furti, über den Diebstahl, wo es heißt orare furti [»Diebstahl beten«], das für agere oder »durch das Recht versuchen« steht. Und die andere Spur findet sich im Kapitel De in ius vocando [»über die Vorladung vor Gericht«], wo man, nach der Lesart des Justus Lipsius, orare pacti [»einen Vertrag beten«] für excipere oder »sich verteidigen« liest. Und diese Priester waren wohl auch die Richter, welche die Verbrecher verurteilten. Darüber gibt es eine goldene Stelle bei Tacitus, der bei den Sitten der alten Germanen beobachtete, dass es nur den Priestern erlaubt war, die Schuldigen zu fesseln, mit Stöcken zu schlagen und andere Strafen zu vollziehen. Das taten sie in Gegenwart ihrer Götter und umgeben von Waffen. So wurden die Strafen ausgeführt, nachdem ihnen die Konsekrationen der Schuldigen vorausgegangen waren. Viele von diesen Konsekrationen gingen dann in das Zwölftafelgesetz ein, wie: der gottlose Sohn war »geweiht [sacer] den Göttern der Väter«, der Getreidedieb zu Nachtzeiten war »sacer der Ceres« und wer den Volkstribun verletzt hatte, war »sacer dem Jupiter«. Diese Konsekrationen [Weihen] der Römer findet man wieder als Exsekrationen [Verfluchungen] der Griechen, die sie wie Gottheiten auf ihre Tempel schrieben. Diese Exsekrationen waren eine bestimmte Art von Exkommu-

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nikation, die alle alten Nationen praktizierten, wie die Gallier, wovon Julius Cäsar einen sehr klaren Bericht gibt. Dieser Art war auch das Verbot des Wassers und des Feuers bei den latinischen Stämmen, das schließlich bei den Römern überlebte. XLIX. Entdeckung des bei allen alten Nationen gleichförmigen Arkanums der Gesetze 198

Hier finden wir den Ursprung der verborgenen Gesetze, die bei allen alten Nationen von Religion durchsetzt waren und die wie heilige Dinge von Kasten ihrer Priester bewacht wurden, von den Chaldäern in Assyrien, den Zauberern in Persien, den Priestern in Ägypten und Germanien, den Druiden in Gallien, und bei allen in heiligen oder geheimen Schriften auf bewahrt wurden. Daher war es anfänglich ganz natürlich und kein Betrug, dass, nach der Erzählung des Pomponius, die Wissenschaft von den römischen Gesetzen bis hundert Jahre nach dem Zwölf­tafel­ gesetz eingeschlossen war im Kollegium der Pontifexe, in das nur Adelige aufgenommen wurden. Denn so lange Zeit dauerte es, bis der Plebs das Priestertum zugestanden wurde. L. Beweis, dass die Gesetze nicht durch Betrug entstanden sind

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Von dieser Jurisprudenz wurden alle menschlichen Gesetze der ersten Welt der Nationen, da sie als göttliche Dinge betrachtet wurden, für Wahrheiten gehalten, wie es der Einfachheit der Kindheit der Nationen entsprach. Da man die Dinge in einem wirklichen Gebrauch [usus] erwarb oder dadurch, dass man wirklich mit seinem Körper lange Zeit auf einem bestimmtem Stück Land stand, blieb die Usukapion [»Ersitzung«], da sie die erste war, bei allen Nationen auch die hauptsächlichste Art, höchstes Eigentumsrecht zu legitimieren. Es ist überhaupt nicht wahr, dass Usukapion nur römischen Bürgern eigen war !



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Diese falsche Meinung hat bis heute alle Autoren dieser Lehre in die Irre geführt. Über den wirklichen Gebrauch hinaus wurden die Dinge mit der wirklichen Hand [manus] oder mit wirklicher Kraft erworben. Das ist das Prinzip der Manzipationen und der »Mancipien« genannten Dinge, das heißt der Kriegsbeuten, von denen man das beste oder stärkste Eigentum erwarb. Und über das Eigentum durch den wirklichen Usus oder durch die wirkliche Hand hinaus schloss man Verbindlichkeiten mit der wirklichen Fessel [Nexum] ab, durch die aus den vincti, den Gebundenen im Inneren, draußen die victi, die im Krieg durch Sklaverei Gefesselten, wurden. Und so findet man als Wahrheit dieser Zeiten, dass das natürliche Recht der Völker keine Fiktionen zulässt und einen gewichtigen Beweis dafür liefert, dass die Gesetze nicht aus Betrug hervorgehen, sondern Töchter einer großzügigen Wahrheit sind.

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LI. Jurisprudenz des heroischen Zeitabschnitts, in dem wir den ­Ursprung der gesetzlichen Handlungen der Römer entdecken

Die menschlichen Regierungen, deren erste die heroischen waren, entstanden jedoch aus dem Prinzip, dass sich aus den priva­ ten Kräften der Väter, der Souveräne im Zeitalter der Familien, die öffentliche Macht der Städte bildete, das heißt die zivile Herrschaft (in welcher die privaten Kräfte endeten, um wahrhaft Teil von dieser zu werden). Und da es von Natur aus so eingerichtet ist, dass sich die Sitten nicht alle auf einmal verändern, schon gar nicht bei rohen und wilden Menschen, kam die hero­ ische Jurisprudenz natürlicherweise dazu, ganz in die Fiktionen überzugehen, von denen die alte römische Jurisprudenz voll ist, und sie fing damit an, die Hand [manus] und die Fessel [nexum] zu fingieren, die beide dann als Fiktionen in das Zwölftafelgesetz Eingang fanden im berühmten Kapitel qui nexum faciet mancipiumque [»wenn jemand ein Nexum oder ein Mancipium macht«]. Und aus beiden entstand die zivile Manzipation, welche die Quelle aller gesetzlichen Handlungen ist, mit denen die alten

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Römer untereinander das ganze römische Recht ausübten. Wer sagt denn da noch, dass das römische Recht aus Athen nach Rom gekommen ist, wo es doch gleichförmige Sitte bei allen anderen alten Nationen war ! LII. Prinzip der starren Jurisprudenz der Alten 202

Diesem Prinzip fügen wir das zweite hinzu, dass abergläubische und wenig geistreiche Menschen höchst achtsam sind auf die Worte in Verträgen, Gesetzen und insbesondere in Schwüren, vor allem in Zeiten, in denen die Nationen noch wenige Wörter haben oder diese nur in ihrer eigentlichen Bedeutung verwenden. Denn es fehlt ihnen noch der Reichtum der Metaphern, so dass sie die Worte ganz genau beachten müssen, sogar wenn aus der Ausführung nicht nur nicht der beabsichtigte Nutzen hervorgeht, sondern schwerster Schaden und sogar Unglück entsteht. So wie es dem Agamemnon durch seine Unvorsichtigkeit mit seinem unglückseligen Opferschwur geschah. Und die Leute glauben, dass dieser richtig war, da der höchst unglückliche König und Vater diesen ja aus eigenem Antrieb getan hatte. Wegen dieser Meinung werden sie sich darum bemühen, sich, soviel sie können, mit bestimmten Wortformeln abzusichern. Und so gelangten natürlich die fingierte Hand und die fingierte Fessel, das Nexum, verbunden mit feierlichen Wortformeln, in die Gewohnheiten der Völker Latiums und, durch weitere Verbreitung, aller heroischen Völker. Und schließlich gingen sie in das Gesetz ein im berühmten Kapitel der zwölf Tafeln, das folgendermaßen formuliert ist: Qui nexum faciet mancipiumque, uti lingua nuncupassit, ita jus esto [»Wenn jemand ein Nexum und ein Mancipium macht, so soll Recht sein, was seine Zunge gesagt hat«]. In der Kapitulation von Collatia formuliert Tarquinius Priscus38 die berühmte heraldische Formel für alle Übergaben, die in den 38

 Der fünfte der altrömischen Könige. Vico schreibt hier irrtümlicherweise: Ancus Martius, so auch in 228, 230, 354, 355, korrigiert diesen Irrtum aber nach dem Druck.



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heroischen Zeiten mit einer feierlichen Formel der Stipulation [Verbalvertrag] und der Tilgung von Schulden vollzogen wurden, wie man bei Livius lesen kann. So sehr waren in jenen Zeiten die Stipulationen für die römischen Bürger charakteristisch, dass die wichtigsten Angelegenheiten des natürlichen Rechts der Völker auf ihnen beruhte. Weil bei den Verträgen der Kapitulation die Worte mit höchster Genauigkeit beachtet wurden, sind in der frühen wie in der späten Geschichte der Barbaren die Sieger oft glücklich getäuscht oder die Besiegten unglücklich verhöhnt worden. Als Beispiel für die heroische Jurisprudenz der alten barbarischen Zeiten stellt Homer den griechischen Völkern den Odysseus vor, der immerzu Geschichten erzählt, Versprechungen macht und mit solcher Kunst Eide schwört, dass er, indem er an deren Wortlaut genau festhält, immer seinen eigenen Nutzen verfolgt. Diese Sitte hatte schon in der Zeit der göttlichen Regierungen Griechenlands begonnen, denn mit dieser odysse­ ischen Klugheit schwört schon Juno dem Jupiter, dass sie von Neptun nicht verlangt habe, ein Gewitter gegen die Trojaner zu schicken, was sie aber in Wahrheit doch vermittels des Schlafs getan hatte. Und so täuschte sie Jupiter, den Zeugen und Garanten der Eide. So wie das gesamte Ansehen der alten römischen Juristen in ihrem berühmten cavere [»Vorsicht !«] verborgen lag, so lag auch in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten das Ansehen der Rechtsgelehrten im Finden von »Kautelen«, die jetzt allerdings größtenteils lächerlich sind.

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LIII. Entdeckung der Gründe, warum man glaubte, das Zwölftafelgesetz stamme aus Sparta

Diese Jurisprudenz war äußerst grausam beim Verhängen menschlicher Strafen, wie jener, die dann in das Zwölftafelgesetz überging, dass der bankrotte Schuldner lebendig in Stücke zersägt werden und die Teile den Gläubigern übergeben werden sollen, eine wahrhaft zyklopische Strafe, die in den Zeiten der

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göttlichen Regierungen vollzogen wurde und, schlimmer noch, sogar an den Personen der eigenen Enkelkinder, wie im Falle von Hippolytos, dessen Pferde von seinem Großvater Neptun so aufgeschreckt wurden, dass sie ihn mitschleiften und elendiglich in Stücke rissen. Diese im Inneren gegen die Wortbrüchigen geübte Strafe wurde draußen gegen die Könige verhängt, wenn sie die Bündnisvereinbarungen nicht einhielten, wie Romulus gegen den König Tatius von Alba, den er von zwei in entgegengesetzte Richtung fahrenden vierspännigen Wagen zerreißen ließ. Eine solche heroische Jurisprudenz entsprach in der Starre der Interpretation wie in der Grausamkeit der Strafen den völlig wilden Nationen. Daher erregten auch die Gesetze Spartas Abscheu bei den schon ganz menschlich gewordenen Athenern und wurden von Platon und Aristoteles getadelt. In einem anderen Buch haben wir das »spartanische Jurisprudenz« genannt mit Bezug auf die berühmteste heroische Republik, von der uns von allen alten Republiken Kunde zugekommen ist. 39 Dies veranlasste allerdings die ältesten Römer, nachdem sie die Griechen kennenzulernen begannen und die spartanischen Gesetze den ihrigen ähnlich fanden, zu glauben, dass die Zwölftafelgesetze aus Sparta nach Rom gekommen seien. Sie waren aber tatsächlich völlig heimatliche Sitten der heroischen Völker Latiums. LIV. Jurisprudenz des menschlichen Zeitabschnitts und der Beginn der milden Jurisprudenz der späten Römer

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Aber einsichtige und, weil einsichtig, von Natur aus menschliche Menschen halten Versprechungen wegen der Dinge selbst und nicht wegen der Worte. Sie gehorchen den Gesetzen, halten Schwüre, entsprechend dem mit wahren und gerechten Gründen geregelten Nutzen. Hier entdecken wir das Prinzip der Billigkeit der Gesetze, das heißt der milden Jurisprudenz der späten Römer, und wir bestimmen den Zeitgeist – die »Zeiten-Sekte« [secta 39

  De uno, CLX X XI .



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temporum], wie die neuen römischen Juristen das oft nennen –, in dem Fälle zweifelhafter natürlicher Billigkeit durch das natürliche Recht der menschlichen Völker definiert werden. Dies ist das Prinzip der neuen Jurisprudenz, die sich insgesamt der Interpretation der Edikte der Prätoren zuwandte, die sich alle darum bemüht hatten, die Mängel des Zwölftafelgesetzes zu beheben und seine Strenge nach natürlicher Billigkeit zu mildern. Dieses natürliche Gesetz nennt Ulpian – wo er es definieren will und da er es von der natürlichen Billigkeit her definiert – mit dem ganzen Gewicht seiner Worte das »natürliche Recht der menschlichen Völker«. So wie die heroische Jurisprudenz in den Zeiten der heroischen Regierung Roms bis zur Lex Poetelia nach dem Zwölftafelgesetz gegolten hatte, so galt von nun an in den Zeiten der menschlichen Regierung Roms, die mit der vollentfalteten Freiheit nach den punischen Kriegen begann, die Jurisprudenz, die wir in einem anderen Werk »athenische Jurisprudenz« genannt haben,40 nach der humansten der Republiken, von denen wir im ganzen Altertum Kenntnis haben. LV. Entdeckung der Gründe, warum man glaubte, das Zwölftafelgesetz komme aus Athen

Diese Jurisprudenz, die seit den Zeiten, in denen die Freiheit vorherrschte, das heißt von den Gracchen an, praktiziert wurde und die völlig mit der Humanität der Athener übereinstimmte, ließ die Römer nun geradezu das Gegenteil glauben, nämlich dass das Zwölftafelgesetz aus Athen nach Rom gekommen sei. Diese Meinung hielt sich, weil sich die letzte Art von Jurisprudenz hielt, insbesondere unter der Monarchie der römischen Fürsten, welche die zweite Art menschlicher Regierungen ist. Die Überlieferung von dem aus Griechenland nach Rom gekommenen Zwölftafelgesetz ähnelt derjenigen, die besagt, dass die Cureten aus Griechenland nach Asien, nach Kreta und Satur­nien, also 40

  De uno, CLX X XVII .

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nach Italien, gekommen seien. Und diese schwankende Meinung ist auch derjenigen über die Heimat Homers ähnlich, wonach jedes griechische Volk in dessen Poemen seine heimatlichen Redeweisen erkannte. Und das Urteil des Tacitus, der sagt, dass bei Homer quicquid usquam gentium [»alles, was irgendwo die Völker angeht«] gesammelt sei, ist ähnlich der Meinung über die Reisen des Pythagoras, wonach dieser die Lehren der Weisen der ganzen Welt nach Kroton gebracht habe. LVI. Entdeckung der wahren Elemente der Geschichte 208

Aber keine Sache liefert uns mehr als das Zwölftafelgesetz einen gewichtigen Beweis dafür, dass, wenn wir die Geschichte der ­a lten Gesetze der Völker haben, wir auch die Geschichte der vergangenen Handlungen der Nationen haben. Denn aus der Natur der Menschen gehen deren Sitten hervor, aus den Sitten die Regierungen, aus den Regierungen die Gesetze, aus den Gesetzen die gesellschaftlichen Gewohnheiten und aus den gesellschaftlichen Gewohnheiten die ständigen öffentlichen Handlungen der Nationen. Und mit einer gewissen kritischen Kunst wie der­jenigen der Juristen können wir Handlungen mit unsicherer oder zweifelhafter Ursache auf die Gewissheit der Gesetze zurückführen. Die wahren Elemente der Geschichte scheinen die Prinzipien der Moral, der Politik, des Rechts und der Jurisprudenz des Menschengeschlechts zu sein, die wir in dieser neuen Wissenschaft der Menschheit finden. Nach diesen Prinzipien verläuft die universelle Geschichte der Nationen, welche deren Ursprung, Fortschritt, Höhepunkt, Verfall und Ende erzählt. Aber um die sicheren Zeiten und die sicheren Orte zu bestimmen, an denen die Nationen entstanden sind, helfen uns die beiden Augen der Geschichte nicht, die wir bisher benutzt haben, die Chronologie und die Geographie.



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LVII. Neue historische Prinzipien der Astronomie

Die Griechen erhoben gewiss ihre Götter zu den Planeten und die Heroen zu den Fixsternen, und das taten sie, nachdem die Götter des Ostens nach Griechenland gekommen waren, die von den Chaldäern an den Sternen festgemacht worden waren. Das bestätigen alle Philologen. Aber das geschah erst nach Homer, in dessen Zeit die Götter Griechenlands nicht höher als auf dem Olymp wohnten. Aber die so unpassende Ansiedelung der Götter auf den Planeten und die der Heroen auf den Fixsternen konnte sowohl bei den Assyrern wie bei den Griechen nicht anders als durch einen Irrtum des Augensinns geschehen sein, durch den die Planeten größer und weit höher als die Fixsterne erscheinen, obwohl astronomische Messungen beweisen, dass sie ungleich weiter unten stehen und kleiner sind. Daher denken wir über die Ursprünge der ersten von allen verborgenen Wissenschaften, der volkstümlichen Astronomie der Chaldäer, die gewiss die ersten Weisen unserer Welt gewesen sind, dass diese ganz roh mit deren Divination begann, das Fallen der Sterne in der Nacht zu beobachten. Je nachdem, in welchem Teil des Himmels die Bahn der Sterne verlief, sagten sie mit diesen für göttlich gehaltenen Zeichen die menschlichen Angelegenheiten voraus. Mit langen und häufigen nächtlichen Beobachtungen, von ihren immensen Ebenen begünstigt, beobachteten die Chaldäer die Bewegungen der Planeten, schließlich die der Fixsterne und fanden am Ende einer langen Zeit die verborgene Astronomie. Zoroaster war ihr Fürst, abgeleitet von ester, das in der persischen Sprache »Stern« bedeutet, und von zor, das Samuel Bochart41 vom Hebräischen schur ableitet, welches »betrachten« bedeutet, also gewissermaßen »Betrachter der Sterne«. Aber in Asien gab es viele Zoroaster: Der erste war Chaldäer oder Assyrer, der zweite Baktrianer, ein Zeitgenosse von Ninus, der dritte war Perser, auch Meder genannt, der vierte war Pamphylier, Er-Armenius genannt, der fünfte war ein Prokonnesier 41

  Samuel Bochart, Geographia sacra seu Phaleg et Chanaan, Caen 1646.

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in den Zeiten von Kyros und Krösus. Es verwundert die Philologen, dass es ebenso viele Zoroaster gab wie Jupiter und Herkulesse ! Aber das veranlasst dazu zu glauben, dass Zoroaster für die Asiaten ein Name für alle Gründer ihrer Nationen gewesen ist und dass bei den Orientalen das Wort Chaldäer »Gelehrter« bedeutete. Das löst den großen Zweifel auf, der die Philologen quält, ob die Chaldäer einzelne Philosophen oder ganze Familien oder eine Gruppe beziehungsweise Sekte von Weisen gewesen sind oder eine Nation. Diese Überlieferungen erweisen sich nämlich alle als wahr aufgrund der folgenden Prinzipien: Zunächst sind die Chaldäer einzelne Männer gewesen, die mit volkstümlicher Magie Familien von Zeichendeutern gründeten, wie die Familien der Haruspices, die sich bis zur Kaiserzeit in Etrurien hielten. Diese Familien vereinigten sich dann mit den herrschenden Klassen in den Städten, von denen sich in Assyrien dann eine als über andere Völker herrschende Nation verbreitete. Aus dem chaldäischen Volk ging das erste Königreich von Assyrien hervor. Und daher blieb das Wort Chaldäer für »Gelehrter«, so wie in den uns nahen barbarischen Zeiten in Italien das Wort Paduaner »Gelehrter« bedeutete. LVIII. Idee einer vernünftigen Chronologie der dunklen und mythischen Zeiten 211

Aber alles dies macht es ungeheuer schwer, die sicheren Zeiten zu finden und den extrem langen Zeitraum zu bestimmen, in dem die Nationen von der volkstümlichen zur verborgenen Astronomie gelangten, von der man allein die Sicherheit der Chronologie beziehen kann. Also muss man die Zeiten der dunklen und mythischen Dinge in unserem menschlichen Geist finden durch die Abfolge derselben menschlichen Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten, die durch die Epochen und über die sicheren Anfänge der Sitten dieser Nationen führt, so wie bei ihren Wohnstätten ganz allgemein in Bezug auf die Natur der Länder und besonders Mesopotamiens, aus dem alle Nationen stammen,



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oder bei den Regierungen der Nationen in Bezug auf ihre Sitten, damit man bestimmen kann, wann diese anfingen, was uns bis zu den gegenwärtigen, zuletzt entdeckten Nationen führt. So ist, zum Beispiel, vor ungefähr viertausend Jahren – und nicht früher – die chinesische Nation entstanden, der noch immer artikulierte Wörter fehlen, von denen sie nicht mehr als dreihundert hat, und die mit Hieroglyphen schreibt. Das ist dem Ring unzugänglicher Berge und der großen Mauer geschuldet, mit der sie sich vor fremden Nationen verschloss. Vor ungefähr dreitausend Jahren begann die japanische Nation, ein noch ganz wildes Volk, das hinsichtlich der Sprache der lateinischen Nation ähnelt. Vor ungefähr eintausendfünfhundert Jahren begann die Nation der Amerikaner, die zur Zeit ihrer Entdeckung noch im Zustand der Familien waren und von furchtbaren Religionen regiert wurden, wie wir herausgefunden haben. Und vor ungefähr tausend Jahren ist am Fuße Amerikas die Nation der Giganten entstanden, die beweisen, dass Männer und Frauen aus dem Norden Europas durch Sturm dorthin verschlagen wurden, wahrscheinlich aus Grönland, sagt man. LIX. Entdeckung neuer Arten von Anachronismen und anderer P ­ rinzipien, um diese zu vermeiden

Um nun den Fortschritt von der dunklen und mythischen Zeit bis zur sicheren historischen Zeit bei den Griechen zu finden, kann uns die Abfolge überhaupt nicht helfen, die uns die Chronologen von den Königen Griechenlands der dunklen und mythischen Zeit so genau beschreiben, und zwar aus dem Grund, auf den auch Thukydides am Anfang seiner Geschichte hinweist, nämlich dass in den ersten Zeiten Griechenlands die Königreiche extrem unbeständig waren und sich die Könige die ganze Zeit gegenseitig vom Thron verjagten, eine Sitte, die man leicht in den Erzählungen von den Königen und Königreichen der letzten barbarischen Nationen Europas wiederfindet. Wegen dieser Zweifel stellen wir zur Korrektur der Anachronismen der My-

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then die folgenden natürlichen Prinzipien auf, die sich auf fünf Arten reduzieren lassen. Erstens: Ereignisse, die in verschiedenen Zeiten geschehen sind, die uns aber als gleichzeitig erzählt werden: Orpheus gründet die griechische Nation, er ist Gefährte von Jason bei der Argonautenfahrt nach Pontus, zu der auch Castor und Pollux als Brüder von Helena hinzukommen, wegen deren Raub durch Paris der Trojanische Krieg ausbricht. So dass in ein und demselben Menschenalter die Griechen von einer wüsten und wilden Nation, wie Orpheus sie vorfand, zu solchem Glanz und solcher Pracht aufsteigen, dass sie ebenso viele berühmte Meerfahrten wie die Trojaner unternehmen konnten. Die Kombination dieser Fakten ist dem menschlichen Geist völlig unverständlich. Die zweite Art von Anachronismen betrifft gleichzeitig geschehene Ereignissen, die als weit in der Zeit voneinander entfernt dargestellt werden: Wie dass Jupiter die Europa raubt fünfhundert Jahre, bevor Minos, der erste Pirat der Ägäis, den Athenern die grausame Strafe auferlegt, ihm jedes Jahr Knaben und Mädchen zu übergeben, die von seinem Minotaurus verschlungen werden; andere glaubten, dass der Minotaurus ein Rennschiff des Minos gewesen sei, mit dem die Kreter im Archipel Seeräuberei betrieben, der seinerseits wegen der vielen Buchten seiner Inseln von uns als das erste Labyrinth betrachtet worden ist.42 Sowohl die eine wie die andere Sage sind Geschichten über die Seeräubereien Griechenlands, die aber erst stattfanden, nachdem die Nationen im Binnenland gegründet worden waren aus Furcht, die alle lange Zeit vor dem Meer hatten, wie es uns Thukydides ganz klar von seinem Griechenland bestätigt. Die letzten Erfindungen der Nationen sind die Schiffe und die Seefahrt. Die dritte Art der Anachronismen ist die, dass man erzählt, die Zeiten seien von jeglichen Ereignissen leer gewesen, wo sie doch ganz voll davon waren: Wie die ganze dunkle Zeit Griechenlands, in der man, wie wir später [409 – 441] sehen werden, alle politischen oder zivilen griechischen Geschichten umdeu42

  De const. phil., X XIX , 9.



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ten muss, die von den Griechen in allen ihren Göttersagen und zu einem guten und großen Teil in ihren Heldensagen bewahrt worden sind. Es muss gewiss jeden in Erstaunen versetzen, der darüber nachdenkt, nicht um sich als Philologe daran zu erinnern, sondern um es als Philosoph zu verstehen, dass  – nach der Gründung der Königreiche in Griechenland, nach der Beschreibung der königlichen Ahnentafeln und nach dem kriegerischen Übergang der Königreiche vom einen zum anderen Haus – Orpheus gekommen sein soll und mit seiner Leier die wilden Menschen Griechenlands zähmte und die griechische Nation gründete ! Der vierte Anachronismus ist derjenige, dass man erzählt, die Zeiten, die leer gewesen sein müssen, seien voller Ereignisse gewesen. Wie die heroische Zeit, die nach den Chronologen bei den Griechen zweihundert Jahr lang dauerte, die aber entweder fünfhundert Jahre gedauert hat oder von der dreihundert Jahre der dunklen Zeit wiedergegeben werden müssen, wegen der soeben erwähnten Schwierigkeit, dass sonst Orpheus, der Gründer der griechischen Nation, Zeitgenosse des trojanischen Kriegs wird. Die fünfte und letzte Art ist die, die man auch gewöhnlich »Anachronismen« nennt in der Bedeutung von »vorweggenommene Zeiten«. Als zwölf kurze Epochen oder feste Punkte der Geschichte setzen wir dagegen die zwölf Götter der gentes maiores, die wir nach einer natürlichen Theogonie darstellen, über die wir weiter unten [411 – 441] sprechen. Und mit diesen zwölf Epochen geben wir den ältesten zivilen Dingen Griechenlands, die ganz gewiss vor denen der Kriege entstanden sind, ganz bestimmte Zeiten.

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LX. Neue historische Prinzipien der Geographie 219

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So wie uns die gewöhnliche Chronologie für unsere universelle Geschichte nicht geholfen hat, über die Gelehrte wie Pétau und Scaliger43 mit unvergleichlicher Gelehrsamkeit gearbeitet haben, so lässt uns hier auch die gewöhnliche Geographie im Stich. Denn so wie die Menschen auf der ganzen Welt über neue und unbekannte Dinge urteilen und sich dabei mit Gedanken und Wörtern ausdrücken, die sie schon kennen und gebrauchen, so mussten es wegen der Eigenart des menschlichen Geistes auch ganze Nationen machen. Gewiss wissen wir von den Römern, dass Latium und Italien am Anfang sehr viel engere Grenzen hatten als jene Weite der Grenzen, in die sie sich mit der Verbreitung des latinischen und italischen Rechts ausdehnten und innerhalb deren wir sie kennen. Dasselbe geschah mit dem »tyrrhenischen« Meer (in dieser Sache verbessern wir das, was wir an anderer Stelle geschrieben haben)44, das anfangs nur das Seegebiet Etruriens gemeint haben kann. Aber mit demselben Namen dehnten die Römer diesen Ausdruck dann vom Fuße der Alpen, heute: Nizza der Provence, wie es Livius beschreibt, bis zur Sizilianischen Meerenge aus, heute: Straße von Messina, wie diese in der Geographie genannt wird. Auf dieselbe Art und Weise mussten die Griechen, von denen wir alles haben, was wir von den alten heidnischen Nationen wissen, in den ersten Zeiten mit ihren ersten heimischen Gedanken und Wörtern fremde Dinge denken, als es noch keine Dolmetscher oder irgendeinen sprachlichen Austausch zwischen ihnen und anderen gab. Daher mussten sie die Orte der Länder in der Welt aufgrund der Ähnlichkeit mit den griechischen Wörtern für ähnliche Orte in Griechenland benennen. Hier finden wir neue historische Prinzipien der Geographie, aufgrund deren Homer von einer großen Anzahl von Irrtümern   Denis Pétau (Dionysius Petavius), Opus de doctrina temporum, Paris 1627. Joseph Justus Scaliger, De emendatione temporum, Paris 1583. 44  D e const. phil., XVI , 8.

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freigesprochen werden kann, die man ihm bisher in dieser Wissenschaft zu Unrecht vorgeworfen hat, so dass die poetische Geographie verständlicher wird aufgrund einer Kosmographie, die zu den Poeten passt. So, dass der erste Olymp der Berg gewesen ist, auf dessen Gipfel und auf dessen Rücken Homer immer die Wohnstätten seiner Götter beschreibt. Dass der erste Ozean jedes für die Augen grenzenlose Meer war, wo man bei Nacht immer den Polarstern auf dem Meer sehen kann, was die Griechen von den Phöniziern gelernt haben müssen, die zu Zeiten Homers schon die Küsten Griechenlands befuhren. So wie Homer die äolische Insel als umgeben vom Ozean beschreibt, so fand man das Wort Okeanos geeignet, das Meer zu bezeichnen, das die ganze Erde umfließt, was aber schließlich erst nach Tausenden von Jahren von unseren Seefahrern entdeckt worden ist. Daher waren das erste Thrakien, das erste Mauretanien, das erste Indien und das erste Hesperien der Norden, der Süden, der Osten und der Westen Griechenlands. Daher ist der Thraker Orpheus auch ein berühmter Heros Griechenlands, und in der anderen Richtung vollbringt Perseus, auch er ein berühmter Heros Griechenlands, alle seine berühmten Taten in Mauretanien, das heißt auf der Peloponnes, die immer noch Morea genannt wird. Herodot aber wusste nicht, dass er von Griechen spricht, wenn er erzählt, dass die Mauren in Afrika einmal weiß und schön gewesen seien. In diesem griechischen Mauretanien lag wohl auch der Berg Atlas, der abgekürzt heute Athos heißt, zwischen Makedonien und Thrakien, wo Xerxes den Kanal durchbohren ließ, und in Thrakien haben die Griechen bis heute einen Fluss mit einem ähnlichen Namen wie Atlas. Dieser Berg, der wegen seiner Höhe für die kindischen griechischen Menschen den Himmel zu stützen schien, wurde »Himmelssäule« genannt. Und das Weltsystem, in dem der Himmel von solchen Säulen gestützt wird, ging dann an Homer über, so wie Mohammed wegen derselben Schlichtheit der Gedanken bei den Arabern dies die Türken glauben machte. Daher war im Zeitalter Homers die höchste Stelle des Himmels der Gipfel des Bergs Olymp. Auf diesem sitzen, so erzählt er immer, seine Götter und schreiten über das von Säulen gestützte

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Dach. Einmal lässt er Thetis dem Achill sagen, dass Zeus mit den anderen Göttern vom Olymp zum Atlas zum Festmahl gegangen sei. Als dann die Griechen die Straße von Gibraltar zwischen den beiden hohen Bergen Abyla und Calpe sahen – also Europa von Afrika durch eine kleine Meerenge getrennt, so wie in der griechischen Welt Attika von der Peloponnes durch eine ähnliche Meerenge getrennt war, durch die Xerxes den Kanal durchstechen ließ, und einen ähnlichen Bergrücken, auf dem der Berg Athos sich erhebt – da klärten sie durch diese Ähnlichkeit der Landschaft ihre Gedanken und dehnten mit den Gedanken ihre ersten Wörter darauf aus, wie wir ganz allgemein im folgenden Kapitel zeigen werden. Und sie nannten Spanien »Hesperien« nach dem Hesperien in Attika, und »Mauretanien« nannten sie diesen Teil Afrikas nach ihrem griechischen Mauretanien, das heute noch Morea genannt wird. Und die Berge Abyla und Calpe mussten sie Atlas nennen, geteilt in zwei Säulen, die dann »Säulen des Herkules« genannt wurden, da Herkules ja die Nachfolge des Atlas beim Stützen des Gewichts des Himmels antrat, das heißt beim Stützen der Religion mit einer anderen Art von Divination, wie wir gleich sagen werden. In diesem griechischen Mauretanien musste es dann auch einen ersten Gründer des griechischen Volkes geben, einen Fürsten der volkstümlichen Astronomie der Griechen, wie es gewiss die Ephoren Spartas, der Hauptstadt der Peloponnes, waren, die aus der Bahn der nächtens fallenden Sterne weissagten, wie Zoroaster bei den Orientalen. Weil Atlas seine Töchter, die Hesperiden, in Griechenland zeugte, hinterließ er das Gewicht des Olymp, den er auf seinen Schultern getragen hatte, dem Herkules als seinem Nachfolger, dem griechischen Heros mit den meisten Gegnern, dessen Geschlecht gewiss in Sparta herrschte. Zwar wurde niemals von den Mythologen über Herkules erzählt, dass er eine ältere Schule der verborgenen Weisheit seiner Ahnen fortgeführt hätte. Aber die Art des Weissagens der Ephoren liefert gewichtige Gründe zu glauben, dass es auf der Peloponnes eine orientalische Kolonie gab, da der Name der Peloponnes sicher von dem Phrygier Pelops kommt, der die Art der Weissagung dorthin trug, die den Orientalen eigen war. Denn alle anderen Griechen



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weissagten ja aus dem Blitz und dem Donner, mit dem Unterschied zu den Römern, dass die rechte Seite die sinistre war und die linke dagegen die rechte. Und so folgte Herkules, aus dessen Geschlecht die vornehmen Spartaner stammten und von dem sie den Vaternamen der Herakliden bewahrten, auf Atlas in der Aufgabe, die Götter ihrer Nation zu stützen. Aber daraus gingen keine gelehrten Astronomen hervor, denn den Spartanern war, wie jeder weiß, das Schreiben und das Lesen von Lykurg verboten worden. Und auf diese Weise kam Zoroaster dazu, der wohl aus Pamphylien kam, das an Phrygien angrenzte, woher auch Pelops stammte, den Atlas in seinem eigenen Haus in Thrakien zu unterrichten. Orpheus musste also nicht nach Marokko reisen, um von Atlas die Astronomie zu lernen. Nach denselben Prinzipien kann, ja muss, Bacchus Indien gezähmt haben, das ja in Griechenland selbst lag, allerdings mit den Schwierigkeiten, wie wir sie oben [35–36] gesehen haben, nämlich dass Pythagoras zu Zeiten von Servius Tullius nicht aus Kroton nach Rom gekommen sein konnte und dass die Tarenter nicht wussten, dass die Römer aus Italien waren. So bringt Herkules den goldenen Apfel aus dem griechischen Hesperien, das bei den Griechen der erste westliche Teil Attikas gewesen sein muss, in dessen viertem Himmelsteil ihnen der Stern Hesperus aufging. Als sie später Italien kennenlernten, nannten sie es ­Hesperia magna im Vergleich zur Hesperia parva, weil der Westen Attikas ein kleiner Teil Griechenlands war. Und Hesperia magna blieb Italien bei den Poeten. Dann, als Spanien bekannt wurde, nannten sie es Hesperia ultima, und so wird es immer noch genannt. Auf die gleiche Weise muss das erste Europa Griechenland gegenüber Asien gewesen sein, und das erste Jonien war jener Teil des westlichen Griechenlands, von dem uns ja immer noch das Jonische Meer geblieben ist. Und Asien, das jetzt »Kleinasien« heißt, muss das zweite Jonien gewesen sein, der westliche Teil Griechenlands im Verhältnis zur Asia maior, das jetzt einfach »Asien« genannt wird. Daher ist es wahrscheinlich, dass die Griechen Italien vor Asien gekannt haben und dass Pythagoras aus diesem westlichen Jonien nach Italien übergesetzt ist.

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LXI. Entdeckung des großen Prinzips der Ausbreitung der Nationen 225

Mit diesen Prinzipien der Chronologie und der Geographie ­nähern wir uns dem großen und höchst dunklen Prinzip der Ausbreitung der Nationen und dem Ursprung der Sprachen, über die Wolfgang Lazius zwei große Bände geschrieben hat,45 mit denen er uns aber nichts Sicheres über den sicheren Ursprung und den Verlauf der Geschichte sagt. Da die Wörter auf die Sachen folgen, werden wir im nächsten Kapitel über den Ursprung der Sprachen nachdenken, hier dagegen von der Ausbreitung der Nationen handeln, gemäß den folgenden vier Wahrheiten, die wir aus der menschlichen Natur ableiten. Die Menschen verlassen das eigene Land aus einem der vier Gründe, von denen nach der Ordnung der menschlichen Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten einer auf den anderen folgt: erstens aus einer absoluten Notwendigkeit, ihr Leben zu retten; zweitens aus einer unüberwindbaren Schwierigkeit, dort ihren Lebensunterhalt zu bestreiten; drittens aus einer großen Begierde, durch Handel reich zu werden; viertens aus einem großen Ehrgeiz, diese Erwerbungen zu bewahren. LXII. Entdeckung des Prinzips der Kolonien und des römischen, ­latinischen, italischen und provinzialen Rechts

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Die Natur der Autorität, mit der die ersten Gründer der Städte den zu ihnen Geflüchteten sagten, dass der Grund und Boden ihnen gehörte, wo diese Asyl gefunden hatten, war es, auf die auch Romulus aufgrund des heroischen Rechts des Nexums seine Autorität bei den Klientelen gegründet hatte und mit der die Römer, wie wir oben [161–162] gezeigt haben, alle öffentlichen und privaten Dinge im Inneren regelten und folglich dann auch 45

  Wolfgang Lazius, De aliquot gentium migrationibus, sedibus fixis, reliquiis, linguarumque initiis et immutationibus ac dialectis, Basel 1557.



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draußen in den Eroberungen regeln mussten. Doch die Natur dieser Autorität lag bis jetzt unerkannt im Zwölftafelgesetz und hat uns lange Zeit die Ausbreitung des römischen Volkes und die Ausdehnung des römischen Rechts in Latium, in Italien und in den Provinzen verborgen, welches ja das Recht der Völker ist, durch welches, wie Plutarch feststellt, das römische Volk Herr der Nationen geworden ist. Und sie hat uns die Einsicht in die Dinge der sicheren Geschichte verstellt, die Wahrheit über die Ausbreitung des Menschengeschlechts aus dem Orient über den Rest der Welt zu erkennen, die bis jetzt im dunklen Schatten und in den Mythen des beklagenswertesten Altertums gelegen hat. Denn am Anfang zerstörten die Römer, entsprechend der Wildheit der ersten Zeiten, die besiegten Nachbarstädte und führten die unterjochten Völker nach Rom in die Menge der Plebs. Das bemerkt Livius so treffend mit dem Satz: crescit interea Roma ­Albae ruinis [»Rom wächst unterdessen auf den Ruinen von Alba«]. So war Alba, zum Beispiel, prope victa, eine »nahe Eroberung«, und die Albaner kamen zur Zahl der ersten römischen Bundesgenossen hinzu, ähnlich wie die Gefährten der Heroen, wie wir es oben [183] bei dem Antinous von Odysseus und dem Misenus von Äneas gesehen haben. Später, als Rom sowohl an Land als auch an Volk zugenommen hatte und dieser nützliche Zuwachs die Barbarei abmilderte, ließen die Römer die weiter entfernten besiegten Städte in Latium bestehen, die sich mit der heraldischen Formel des Tarquinius Priscus ergeben hatten. Mit dieser Formel übergibt in den heroischen Zeiten Griechenlands auch Pterelos, der besiegte König der Teleboer, seine Stadt dem Amphytrion in der gleichnamigen Tragikomödie des Plautus, damit die Besiegten die Stadt auch als wahre und richtige coloni bewohnen konnten. Und diese ersten Kolonien waren die ersten römischen Provinzen, die ersten procul victae, »ferne Eroberungen«, in Latium selbst, wie es auch Florus bemerkte. So war zum Beispiel Corioli von Marcius zur Provinz gemacht worden, der sich dann nach diesem Volk Corio­ lanus nannte. So wie auch zum Beispiel die beiden Scipionen nach dem zerstörten Afrika und dem unterjochten Asien asiaticus und africanus genannt wurden.

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Daher, nachdem ganz Latium besiegt war, wurde Italien die erste Provinz, und Latium wurde vor Italien durch privates ziviles Recht ausgezeichnet. Danach, nach der Ausdehnung der Eroberungen über das Meer, wurden die Nationen außerhalb Italiens Provinzen, was sie dann auch blieben. Und Italien wurde mit dem privaten zivilen Recht über diese erhoben. So dass die Leute aus Latium mit ihren Munizipien wie ein Ritterorden wurden, die nächsten, die mit ihren Verdiensten in den senatorischen Stand übergingen, um dort öffentliche Ämter zu übernehmen. Die Menschen in Italien wurden, wie die römische Plebs nach dem Zwölftafelgesetz, ausgestattet mit dem privaten römischen zivilen Recht der Felder des fundus italicus. Und die Leute aus den folgsamen Provinzen wurden wie die römische Plebs zu Zeiten des Servius Tullius und hatten das natürliche Eigentum der Felder, aus dem sie, statt des ersten Zensus, den Römern Steuern, Abgaben oder Tribut zahlten. Und die Leute aus den wilden Provinzen wurden wie die römische Plebs zu Zeiten des Romulus: Indem man ihnen die letzten römischen Kolonien schickte, zwang man diese Provinzialen dazu, ihren Lebensunterhalt mit ihrer eigenen Hände Arbeit auf Feldern zu verdienen, die nicht mehr ihnen gehörten, entweder nach Art der alten latinischen coloni, welche sich nach der heraldischen Formel des Tarquinius Priscius ergeben hatten, oder nach Art der freiwillig ergebenen coloni, wie es die im Asyl von Romulus Aufgenommenen waren. Auf diese Weise breitete sich, durch die Klientelen des Romulus und die beiden Agrargesetze – das erste das von Tullius und das zweite das Zwölftafelgesetz –, das Recht des römischen Volkes über die besiegten Nationen aus, indem es sein berühmtes ius nexi mancipique [»Recht des Nexums und des Mancipiums«] auf die Eroberungen ausdehnte. Dadurch wurde der Grund und Boden der Provinzialen nec mancipi [»ohne Mancipium zu übereignen«], weil er durch die Siege zu Mancipien der Römer geworden war. Aber da das Recht des Nexums zuerst in Latium, dann in Italien und schließlich von Antoninus Pius in allen Provinzen aufgehoben wurde, indem man diesen nach und nach das römi­ sche Bürgerrecht verlieh, wurde die römische Welt nach und



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nach Rom. Und so wie die Lex Poetelia das letzte Gesetz war, welches das Nexum bei den Römern im Inneren aufhob, so war Justinian der Letzte, der es auch draußen auflöste, indem er den Unterschied zwischen den Dingen mancipi und nec mancipi auch in den Provinzen aufhob. Weil all diese bisher verstreuten Dinge nun aufgrund von drei zivilen Wahrheiten systematisch geordnet sind, scheint sich von nun an alles nach diesen Prinzipien zusammenzufügen, was über das Recht der römischen Bürger, der Kolonien, der Munizipien und über das latinische, italische und provinziale Recht der große Carlo Sigonio, die erste Leuchte der römischen Gelehrsamkeit,46 gesammelt hat und andere nach ihm darüber geschrieben haben.

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LXIII. Entdeckung der Art der ultramarinen heroischen Kolonien

Durch das bisher über die Verbreitung des römischen Volks Gesagte versteht man nun auch die Verbreitung des Menschen­ geschlechts durch zwei Arten von ultramarinen heroischen Kolonien, die beide aus Menschenmengen mit bestimmten Führern bestanden, die entweder besiegt oder unter Druck waren durch entgegengesetzte Parteien in den heroischen Unruhen um das Recht des Nexums. Der erste Grund für die Verbreitung war, dass die Menge mit den Landarbeiten auf den heimatlichen Feldern ihren Lebensunterhalt nicht sicherstellen konnte, der zweite Grund, dass die Plebejer von den Adeligen bis aufs Blut ausgebeutet wurden, wie es uns die alte römische Geschichte von der Plebs von Rom erzählt hat. Diese heroischen Kämpfe sowohl der ersten wie auch der zweiten Art fanden, nach dem Bericht des Petrus Cunaeus in der Republik der Juden,47 oft zwischen den Priestern und den Bauern Ägyptens statt, und immer zum Schaden der Bauern, die, um dem Zorn der Sieger zu entgehen, entweder auf der Landseite   Carlo Sigonio, De antiquo iure Italiae libri tres, Venedig 1650.   Petrus Cunaeus, De republica hebraeorum libri III , Leiden 1617.

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nach Afrika flohen oder sich auf der Meeresseite auf Nilflöße retteten und sich in ihrer Verzweiflung dem ungewissen Schicksal aussetzten, neue Länder zu finden. Und hier, an diesem äußerst wichtigen Punkt, zeigt sich wieder einmal die Wahrheit der Heiligen Geschichte, nämlich dass das jüdische Volk kein aus Ägypten stammendes Volk gewesen ist, sondern gerade das Volk Gottes, das von den Ägyptern versklavt worden ist. Denn, wie wir weiter unten [408] zeigen werden, Ägypten war zu jener Zeit schon zur Monarchie übergegangen, und das heroische Recht der Priester war folglich schon erloschen. Dasselbe wie von den heroischen Unruhen zwischen den Bauern und Priestern Ägyptens muss auch von den Phöniziern und den anderen Nationen Asiens gesagt werden. Und aus diesen Gründen stellt sich heraus, dass Kolonien der zweiten Art von Ägyptern, Phöniziern und Phrygiern nach Griechenland geführt wurden und dass im Jahrhundert der Heroen Griechenlands griechische Kolonien von den östlichen Griechen, das heißt von den Athenern und Äoliern, in das nähere und exponierte Jonien oder Kleinasien geführt wurden und kurz danach griechische Kolonien von den westlichen Griechen in die nächsten exponierten Gegenden, das heißt in die östlichen Gegenden Siziliens und Italiens. Die Natur der Länder, wohin sie geführt wurden, bestätigt die Natur dieser Kolonien. So ist für Strabo zum Beispiel die Rauheit und die Unfruchtbarkeit Attikas der Grund dafür anzunehmen, dass die Athener in Griechenland heimisch sind und dass das Attische einer der ersten griechischen Dialekte war und dass aus diesem Grund das Land auch keine Fremden einladen konnte, sich dort anzusiedeln. Dieses Urteil des Strabo entspricht der Auffassung, dass die Ägypter nur aus der Notwendigkeit sich zu retten nach Griechenland gelangt sind, denn die Magna Graecia ist nicht das üppigste oder lieblichste Land Italiens, wie es das auch der Osten Siziliens nicht ist. Die berühmten Häfen von Athen, von Syrakus und Brindisi beweisen im Gegenteil, dass diese Kolonien vom Schicksal mit dem Wind dorthin getragen wurden. Daher zeigt sich hier offensichtlich ein gemeinsamer Irrtum der Chronologen, die die Kolonien der Griechen in Sizi­



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lien und Italien dreihundertfünfzig Jahre zu spät, das heißt zu Zeiten des Numa, ansetzen. Als von anderer Art stellen sich die Kolonien der Phönizier heraus, die wegen des Handels entlang den Küsten des Mittelmeers bis nach Cadiz verstreut sind, so wie heutzutage die Kolo­nien unserer Europäer entlang den Küsten des Ozeans und Indiens. Sie blieben mit Tyros, ihrer Hauptstadt, in Verbindung, einer Stadt, die von den Chronologen betrachtet wird als schon vor der heroischen Zeit Griechenlands vom Landesinneren an die Küste des phönizischen Meeres verpflanzt und die sehr berühmt ist für die Schifffahrt und für die Kolonien. Bei allen alten Nationen war der Aberglaube verbreitet, dass man nicht an den Küsten des Meeres siedeln sollte. Über diese Sitte der ersten Völker gibt es sehr schöne Stellen in der Odyssee, wenn Odysseus, wo immer er anlegt oder vom Unwetter an Land getragen wird, einen Hügel besteigt, um im Landesinneren nach Rauch Ausschau zu halten, der ihm anzeigt, dass dort Menschen wohnen. Diese Sitte erkennt Thukydides bei seinen alten Griechen am Anfang seiner Geschichte und sieht den Grund dafür in der Angst vor Seeräubern. Daher mussten die Phönizier ihre Kolonien dorthin führen, wo sie Meeresgegenden fanden, die für den Handel günstig waren, zu denen vom ganzen Mittelmeer die Küsten Italiens von Etrurien bis zur Meerenge von Sizilien gehörten. Daher beweist Giambullari, wenn er auch bei den Ursachen einem gewöhnlichen Irrtum erliegt, doch immerhin hinsichtlich der Wirkungen, dass der Ursprung der etruskischen Sprache sowohl im Bau als auch im Klang und in einer riesigen Zahl von Wörtern aramäisch, das heißt aus dem Syrischen hervorgegangen ist.48 So kann es auch wahrscheinlich erscheinen, dass Führer kleiner Trupps, mit wenigen Schiffen und ohne Waffengewalt (wie auch die Römer ihre letzten Kolonien führten), ohne die Fluten ganzer Nationen (wie die aus Skandinavien gekommenen Barbaren), durch das vorher noch nicht erkundete Mittelmeer (das für diese so gewesen sein musste wie jetzt für unsere Europäer der Ozean) Nationen aus Ägypten und aus Asien zu den Küsten des Mit48

  Pierfrancesco Giambullari, Origine della lingua fiorentina, 1549.

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telmeeres geführt haben. Daher verdanken die griechische, die lateinische und die italienische Sprache den östlichen Sprachen sehr viele ihrer Ursprünge. Gewiss führten die Phönizier eine Kolonie dorthin, wo dann Karthago lag, denn sie sahen, dass diese Küste günstig war für den Handel in diesem Teil ihrer Welt. Und die Sprache Karthagos, die, von Phönizien, »punisch« genannt wurde, behielt sehr viel von ihrem orientalischen Ursprung. Und die Karthager gewannen an Macht mit dem Meereshandel. Daher geben wir Vergil, der so gelehrt war, wie man sich keinen anderen denken kann, auch hinsichtlich des heroischen Alters recht, wenn er sich Dido als Phönizierin vorstellt, die sich, bedrängt von der Partei ihres Schwagers, mit ihren Klienten dorthin begeben hat und vor dem Trojanischen Krieg Karthago gegründet hat. Gewiss wurde in Neapel auch der Gott Mithras* angebetet, ein zweifellos ägyptischer Gott. Und die Gründerin Neapels wurde Sirene genannt, was seine Herkunft ohne Zweifel dem Wort Sir verdankt, das »Gesang« oder »Lied« bedeutet. Dasselbe Wort Sir gab Syrien den Namen. Und Neapel wurde später von den Griechen Parthenope genannt. Es zeigt sich daher, dass Vergil niemals glaubte, dass Cumae von den Chalkidern gegründet wurde, weil er es Euboica nennt. Er hätte es dann nämlich A ­ bantica nennen müssen, da Homer die Chalkider immer Abanti nennt, niemals Euboi. Vergil nannte es Euboica wegen der Sibylle. Wegen einer ähnlichen weissagenden Frau, so berichtet Plinius, ist auch die Insel Negroponte Euböa genannt worden. Also erweisen sich die alten Küsten Italiens als sehr viel fortgeschrittener als die Küsten Griechenlands. Denn zu Zeiten des Trojanischen Kriegs findet Odysseus hier an den Küsten des *  Es ist wahr, dass dieser bei den Persern die Sonne gewesen ist. Strab.  lib.  I  5.

Aber Lampridius sagt klar im Commodus, dass sich die Mithriaca Sacra auf Osiris beziehen, ohne Zweifel einen Gott der Ägypter. Daher stellt Casaubon sie auch zusammen mit denen der Isis, auch diese zweifellos eine ägyptische Gottheit. Aber die Perser haben niemals Kolonien über das Meer entsandt, und die Ägypter fürchteten sich in jenen Zeiten abergläubisch vor der Seefahrt. Daher bleibt nur, dass die Tyrer ihn mit einer ihrer Kolonien nach Neapel gebracht haben.



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Meeres Circe, die mit Sinnesfreuden die Männer in Schweine verwandelt, und die Sirenen, welche mit der Melodie ihres Gesangs die Vorüberfahrenden anlocken und töten. Aber das sind schon späte Sitten der Nationen, während Griechenland noch streng war bei Leuten wie Achilles, wenn sie keine Ehefrauen wollen, auch wenn diese große Königinnen sind, weil sie Ausländerinnen sind; streng bei Leuten wie Odysseus, wenn sie die Freier aufhängen. Daher zeigt sich, dass das Wissen Italiens viel älter ist als das Wissen Griechenlands. Denn während hier Pythagoras schon die geheimsten metaphysischen, mathematischen und physischen Wahrheiten über das Weltsystem lehrte (wir setzen ihn nun gern mit den volkstümlichen Chronologen in die Zeiten des Numa), mussten in Griechenland erst noch die sieben Weisen erscheinen, die ungefähr hundert Jahre später hervortraten, von denen einer, Thales von Milet, der erste Naturphilosoph war, der aber nur ein ziemlich grobes Prinzip der Natur aufstellte: das Wasser. LXIV. Entdeckung des ersten Prinzips dieser Wissenschaft

Schließlich finden wir, dass überall zuerst die binnenländischen Nationen und dann erst die Meeresnationen entstanden sind. Das erkennt auch Thukydides als wahr an. Und wenn man den Gründen dafür nachforscht, dann findet man das größte Prinzip der heidnischen Menschheit, für dessen Erforschung wir im ersten Kapitel das folgende Motto vorschlugen: ignari hominumque locorumque erramus [»ohne Kenntnis der Menschen und der Orte irren wir umher«]. Denn wir fanden Folgendes heraus: Von Mesopotamien ausgehend, welches das binnenländischste Land des ganzen bewohnbaren Universums war und folglich die älteste aller Nationen der Welt, begannen, ungefähr zweihundert Jahre vor der Verwirrung der Sprachen in Babylonien, die gottlosen Geschlechter von Ham und Japhet in den großen Wald der Erde einzudringen, um dort Nahrung, Wasser und Schutz vor den wilden Tieren zu finden. Und aus Angst vor den wilden Tieren trennten sich die Männer von den Frauen

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und die Mütter von ihren Kindern, ohne sichere Wege, sich jemals wiederzufinden. Und da die Kinder nun ganz allein geblieben waren, ohne jemals eine menschliche Stimme zu hören oder menschliche Sitten zu lernen, zerstreuten sie sich überall im Wald in tierischer Freiheit. Und durch viel stärkere Ursachen als jene, die Caesar und Tacitus über die riesenhafte Gestalt der alten Germanen anführen, wuchsen sie zu Riesen heran. Und als sie dann Religionen angenommen hatten, entstanden ihre heimatlichen Sprachen. Und dies alles führt schließlich zum Alter der Religion des wahren Schöpfergottes Adams, dessen frommes Geschlecht vor und nach der Sintflut Mesopotamien bewohnte. LXV. Anfänge der verborgenen Weisheit, die wir in den Anfängen der volkstümlichen Weisheit gefunden haben 242

Im Übrigen lieferte allein das Nachdenken über die Völker, die sich schließlich bis zum menschlichen Zeitalter mit der natürlichen Billigkeit der Gesetze entwickelt haben, den Grund dafür, dass unter ihnen die Philosophen entstanden sind, die über die Wahrheit der Dinge nachdenken. Denn den römischen Juristen sind jene Formeln geblieben, die zwar im Laut der Worte verschieden, aber ein und dieselbe Sache in der Bedeutung sind: verum est und aequum est [»es ist wahr« und »es ist gerecht«]. Daher traten unter den Römern die Philosophien erst auf, nachdem sich die Freiheit ganz entwickelt hatte, welche die natürliche Billigkeit der Gesetze entfaltet. Sparta mit seiner heroischen Regierung verbannte alle verborgene Weisheit. Das freie Athen aber wurde die Mutter der Wissenschaften und der Künste der gebildetsten Menschheit, und hier traten die Philosophen auf, von Solon angefangen, dem Fürsten der sieben Weisen von Griechenland, der die Freiheit Athens mit seinen Gesetzen begründete und der dieses Motto voller ziviler Nützlichkeit hinterließ: Γνῶϑι σε αυτόν, nosce te ipsum, [»erkenne dich selbst«], welches in die Giebel der Tempel eingeschrieben und als wahrer göttlicher Leitspruch vorgeschlagen wurde. Dieser ermahnte die Athener



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sehr viel eindringlicher als die eitlen Auspizien, über die Natur ihres Geistes nachzudenken, wodurch sie die Gleichheit der Vernunft in allen Menschen bemerkten, welche die wahre und ewige Natur des Menschen ist. Daher sollen auch alle Menschen gleichermaßen das Recht auf zivile Nützlichkeiten haben, welches die ewige Form aller Republiken und vor allem der volkstümlichen Republik ist. LXVI. Idee einer zivilen Geschichte der Erfindungen der Wissenschaften, der Disziplinen und der Künste

Auf dieselbe Art und Weise, wie sich die Metaphysik aus den politischen Reflexionen über die Gesetze der menschlichen Zeiten herauszuschälen begann, hatte vorher die Astronomie damit begonnen, sich durch häufige Beobachtungen des Himmels und der nächtens fallenden Sterne aus der Religion herauszulösen. Von solchen Anfängen ausgehend kann man eine zivile Geschichte der Wissenschaften, der Disziplinen und der Künste aufstellen, die aus den gemeinsamen Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten der Völker entstanden sind, ohne die sie niemals entstanden wären. So stieg die Wissenschaft der Größen herab von den Größen des Himmels zu denen der Erde, von der die Geometrie dann ja auch ihren Namen erhielt, die bei den Ägyptern wegen der Überschwemmungen des Nils entstand, welche die Grenzen der Felder verwischten. Die Geographie entstand bei den Phöniziern zur Absicherung der Seefahrt. Und was die Medizin angeht, so musste zuvor die Botanik entstehen. Denn die Hobbes’schen, Grotius’schen, Pufendorf ’schen ersten Menschen, die völlig sinnlich waren und so gut wie keinen Verstand hatten, hatten aber wohl einen feinen Sinn, kaum weniger als die Tiere, die Pflanzen zu unterscheiden, die ihnen nützlich waren gegen ihre Krankheiten. Die Anatomie entstand mit der häufigen Beobachtung der Eingeweide der Opfer durch die Haruspices, und die Haruspicina war in Italien bei den Etruskern berühmt. Und wenn es davon auch keinerlei Spur bei Homer gibt, so berichtet

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doch Suidas, dass ein gewisser Telegonus sie den Griechen gebracht hätte. Es ist gewiss, dass die Chirurgie auf der Anatomie basiert. Ohne allen Zweifel entstand die beobachtende Medizin, deren Fürst unter allen Ärzten Hippokrates war, in den Tempeln, wo die geheilten Kranken den Göttern die Geschichten ihrer Krankheiten darbrachten. Und alles dies führt zu unserem Beweis der Vorsehung: nämlich dass, wenn es keine Religionen gegeben hätte, es in der Welt sicher keine Philosophen gegeben hätte. So liefen die θεωρήματα , die zunächst die göttlichen Dinge der eitlen Wissenschaft der Divination gewesen sind, hinaus auf die ewigen Erkenntnisse über den Geist und die Wahrheit in der Metaphysik. Und die μαϑήματα , die zunächst erhabene Dinge der Poesie gewesen sind, das heißt Mythen körperlicher Gottheiten, liefen hinaus auf die abstrakten Erkenntnisse der Mathematik, um die ewigen Maße der Körper zu verstehen, das heißt der Nützlichkeiten der Körper, und daher auf die beiden Proportionen, die arithmetische und die geometrische, die diese richtig messen. Und die Betrachtung des Himmels, aus der die Idolatrie und die Divination als Zwillinge hervorgingen, lief hinaus auf die Betrachtung der universellen Natur. Die Himmelsbetrachtung wurde von den Römern a templis caeli [»von den Tempeln des Himmels«] genannt, welche die von den Auguren bezeichneten Regionen des Himmels waren, von denen sie die Augurien nahmen, die, von schur, contemplari [»betrachten«], auch Zoro­ aster genannt wurden. Und dieser Jupiter (den die Giganten mit höchster poetischer Erhabenheit für den Willen des Himmels hielten, der ihnen mit Blitzen Zeichen gibt, der mit ihnen durch den Donner spricht und durch seine Adler Weisungen und Befehle erteilt) lief bei den Philosophen hinaus auf einen Unendlichen Geist, der den Menschen Ewige Gerechtigkeit vorschreibt. Dies ist der ganze Sinn dieses Kapitels, das wir oben in der »Idee dieses Werkes« wie in einer Summe im Motto iura a diis ­p osita [»von den Göttern gesetzte Rechte«] zusammengefasst haben und das die Prinzipien bezüglich der Ideen enthält und ein Hauptteil dieser Wissenschaft ist, die wir als ganze in dem Motto a iove principium musae [»von Jupiter beginnen die



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­ usen«] enthalten betrachteten. Den anderen Hauptteil über M die Prinzipien, welche die Sprachen betreffen und die wir oben in der »Idee« im Motto fas gentium, das heißt »unveränderliche Sprache der Nationen«, zusammenfassten, werden wir im nächsten Kapitel darstellen. LXVII. Bestimmung des ewigen Punktes des vollkommenen Zustands der Nationen

Auf diese Weise ging aus der volkstümlichen Weisheit, welche die Wissenschaft von den göttlichen Dingen der Religion und von den menschlichen Dingen der Gesetze ist, die verborgene Weisheit von den göttlichen metaphysischen Dingen, den mathematischen Wahrheiten und den Prinzipien der Physik hervor, so wie auch die von den menschlichen Dingen, die von der Moral, der Ökonomie und der zivilen Philosophie behandelt werden. Durch diese bemühten sich alle guten Philosophen gleichermaßen darum, durch Grundsätze ewiger Wahrheiten den heroischen Geist zu bilden, den das Volk von Athen in den Versammlungen mit dem Gemeinsinn der öffentlichen Nützlichkeit entfaltete, mit dem es die gerechten Gesetze erließ, die nichts anderes sind als der Geist von Gesetzgebern, der frei ist von Gefühlen oder Leidenschaften. Und hier findet sich dann auch die ἀκμή, das heißt der vollkommene Zustand der Nationen, den man genießt, wenn die Wissenschaften, die Disziplinen und die Künste – da sie alle ihr Sein von der Religion und den Gesetzen haben – alle den Gesetzen und der Religion dienen. Wenn die Nationen es aber anders machen, wie die Epikureer und die Stoiker, oder mit Gleichgültigkeit gegenüber diesem Zustand, wie die Skeptiker, oder gar im Gegensatz zu diesem Zustand, wie die Atheisten, dann werden sie niedergehen und die bei ihnen herrschenden Religionen verlieren und mit ihnen ihre eigenen Gesetze. Und wenn sie sich nicht darum bemühen, die eigenen Religionen und Gesetze zu verteidigen, werden sie auch ihre eigenen Waffen und ihre eigenen Sprachen verlieren. Und mit

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dem Verlust dieser Eigenschaften werden sie auch die Eigenschaft eines eigenen Namens im Namen vorherrschender Nationen verlieren. Und wenn sie sich durch dies alles als von Natur aus unfähig erwiesen haben, sich selbst zu regieren, werden sie auch die eigene Regierung verlieren. Und so kehrt durch das ewige Gesetz der Vorsehung das natürliche Recht der heroischen Völker wieder, in dem keine Gleichheit des Rechts zwischen den Schwachen und den Starken herrscht.49

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 Ein Rückfall in die Barbarei ist also möglich, von einem ricorso der ­Geschichte ist noch nicht die Rede, vgl. 131.

DR IT TES K A PITEL

Prinzipien dieser Wissenschaft vonseiten der Sprachen Durch die von der Seite der Ideen betrachteten Prinzipien ­haben wir bisher die Philosophie und die Geschichte des Rechts des Menschengeschlechts dargestellt. Nun werden wir, um die andere Seite dieser Jurisprudenz des natürlichen Rechts der Völker auszuführen, mit den folgenden Prinzipien die Wissenschaft ­einer Sprache dieses Rechts finden, die der Welt des ganzen Menschengeschlechts gemeinsam ist.

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I. Neue Prinzipien der Mythologie und der Etymologie

Μῦϑος wird als »wahre Erzählung« definiert und bedeutete aber doch auch noch »Fabel« oder »Sage«, was bisher von allen für eine falsche Erzählung gehalten wurde, ἔτυμον wird als »wahres Sprechen« definiert und bedeutet gewöhnlich Ursprung oder Geschichte des Wortes, und doch befriedigen die Etymologien, wie sie uns bisher bekannt sind, den Verstand ziemlich wenig hinsichtlich der wahren Geschichten über die Ursprünge der von diesen Wörtern bezeichneten Dinge. Daher entdeckt man, wenn man darüber nachdenkt, andere Prinzipien der Mythologie und der Etymologie, und man findet, dass die Mythen und die wahren Worte dasselbe bedeuten und dass sie das Wörterbuch der ersten Nationen gewesen sind. Denn der Mangel an Worten macht die Menschen auf natürliche Weise erhaben im Ausdruck, ernst im Begreifen und scharfsinnig im raschen Auffassen von vielem; dies sind die drei schönsten Tugenden der Sprachen. Hier entdecken wir die Prinzipien der Erhabenheit der Sprüche der Spartaner, des Volkes, dem es durch Lykurgs Gesetz verboten war, die Schrift zu kennen, der Kürze und der Würde der alten Gesetze wie der Zwölftafel­

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gesetze, die für die Römer in ihren noch sehr barbarischen Zeiten geschrieben wurden, und des Scharfsinns der Witze [riboboli] der Florentiner, die alle auf dem alten Markt von Florenz in den barbarischsten Zeiten Italiens im neunten, zehnten, elften und zwölften Jahrhundert entstanden sind. Die drei wichtigsten Tugenden der poetischen Sprache sind, dass sie die Phantasie erhöht und vergrößert, dass sie kurz und bündig die letzten Umstände bemerkt, welche die Dinge definieren, und dass sie den Geist auf völlig entfernte Dinge lenkt und diese dann vergnüglich wie auf einem Band als nach und nach miteinander verbunden zeigt. Sodann machen die Notwendigkeit, sich auszudrücken, um den Anderen die eigenen Ideen mitzuteilen, und der wegen des Mangels an Worten ganz mit dem Gedanken an den Ausdruck beschäftigte Geist die Stummen auf natürliche Weise ingeniös. Sie drücken sich mit Gegenständen und Gebärden aus, welche natürliche Beziehungen zu den Ideen haben, die sie bezeichnen wollen. Daher sind auch die ersten Worte der ersten Nationen stumme Worte gewesen, welche die ältesten Griechen wohl mit dem Wort μῦϑος bezeichneten, das bei ihnen Fabel oder Sage bedeutet und das bei den Lateinern wohl mutus [»stumm«] wäre; und fabula bedeutete bei den Italienern schließlich favella [»Sprache«]; und die Fabeln waren das erste fas gentium, ein unveränderliches Wort, weswegen Varro das Fatum, das ewige Wort Gottes, auch formula naturae nannte, von for [»sprechen«]; und die Römer hatten daher die gemeinsamen fasti [»Gerichtstage«], sowohl für die Prätoren, die mit unveränderlichen Formeln im Frieden Recht sprachen, als auch für die Konsuln, die in den Kriegen mit heraldischen Formeln Recht sprachen. Schließlich bringt der fehlende oder geringe Gebrauch des Verstandes Stärke der Sinne; die Stärke der Sinne bringt Lebhaf­ tigkeit der Phantasie; und die lebhafte Phantasie ist die beste Malerin der Bilder, welche die Gegenstände auf die Sinne einprägen.



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II. Neue Prinzipien der Poesie

Aufgrund dieser Wahrheiten, die dem Grotius’schen, Pufendorf ’schen und Hobbes’schen Menschen entsprechen, entdeckt man Prinzipien der Poesie, die nicht nur verschieden, sondern denen völlig entgegengesetzt sind, die von Platon und seinem Schüler Aristoteles, ja bis in unsere Tage von Patrizi, Scaliger und Castelvetro50 ausgedacht worden sind. Und man findet, dass die Poesie die allen alten Nationen gemeinsame erste Sprache gewesen ist, auch der jüdischen, mit gewissen Unterschieden allerdings, die auf der Verschiedenheit zwischen der wahren Religion und den heidnischen Religionen beruhen und auf Adam, der, obwohl auch er ohne Worte war, vom wahren Gott erleuchtet wurde.

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III. Bestimmung des Entstehens des ersten Mythos, des Anfangs der ­Idolatrie und der Divination

Wenn die Menschen sich eine Idee von ihnen unbekannten Dingen machen wollen, werden sie natürlicherweise dazu gebracht, diese durch Ähnlichkeiten mit bekannten Dingen zu begreifen. Und wenn es keine solchen Dinge gibt, dann schätzen sie die Dinge nach ihrer eigenen Natur ein. Und weil die uns am besten bekannte Natur unsere eigenen Eigenschaften sind, geben diese den rohen und sinnenlosen Dingen Bewegung, Sinn und Vernunft, die lichtvollste Arbeit der Poesie. Und wenn den Menschen diese Eigenschaften nicht zur Hilfe kommen, dann begreifen sie die Dinge als intelligente Substanzen, die unsere eigene menschliche Substanz ist. Dies ist der höchste göttliche Kunstgriff des poetischen Vermögens, mit dem wir, Gott ähn50

 Francesco Patrizi, Della Poetica, Ferrara 1586, Julius Caesar Scaliger, Poeti­ces libri septem, Lyon 1561, Lodovico Castelvetro, Poetica d'Aristotele vulgarizzata e sposta, Wien 1570.

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lich, aus der Vorstellung von uns selbst den Dingen ein Sein geben, das diese nicht haben. Darin entdecken wir das erste große Prinzip der poetischen Mythen: Sie sind Charaktere körperlicher Substanzen, die als intelligent vorgestellt werden, das heißt deren körperliche Wirkungen mittels der Modifikationen unserer menschlichen Seele erklärt werden. Und wir zeigen den ersten Mythos von allen, und wir erklären die Art und Weise, wie er entstanden ist, und wir bestimmen die Zeit, in der er entstanden ist: Die Menschen der tierischen Einsamkeit geraten ins Staunen, jedenfalls die empfindlicheren, denn sie kannten die Ursache des Blitzes nicht, den sie vorher noch niemals gehört hatten. Ganz wie Kinder waren sie ja ganz Körperkraft und drückten ihre Leidenschaften brüllend, brummend und schnaubend aus, was sie nur unter dem Schub der lebhaftesten Leidenschaften taten. Sie stellten sich daher den Himmel als einen großen beseelten Körper vor, der brüllend, brummend und schnaubend sprach und ihnen etwas sagen wollte. Dann betrachten wir die Art und Weise, wie  – ganz genau wie die Amerikaner jede neue oder große Sache, die sie sehen, für Götter halten – die griechischen Menschen, die mit neuen Entdeckungen dem Menschengeschlecht nützten, in den abergläubischen Zeiten Griechenlands alle Dinge unter dem ­Aspekt der Göttlichkeit betrachteten und sich auf diese Weise ihre Götter mit der Phantasie erschufen. An diesen ersten Anfängen der griechischen Humanität – und nach ihrem Beispiel der Humanität aller anderen heidnischen Nationen – beginnt ein fortwährender Beweis, der sich durch die ganze Zeit hindurchzieht, in der die Nationen gegründet wurden, dafür dass die Menschen auf natürliche Weise dazu gebracht worden sind, die Vorsehung zu verehren, und dass folglich einzig die Vorsehung die Nationen gegründet und eingerichtet hat.



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IV. Erstes Prinzip der göttlichen Poesie oder der Theologie der Heiden

So entstand der erste Mythos, das erste Prinzip der göttlichen Poesie der Heiden oder der theologischen Poeten: Und er entstand, wie es der beste Mythos sein muss, ganz ideell; er gibt, ausgehend von der Idee des Poeten, den Dingen das ganze Sein, das diese nicht haben. Und das ist es, was die Meister dieser Kunst sagen: dass der Mythos völlig phantastisch sein muss, wie von einem Ideen-Maler, nicht ikastisch wie von einem PorträtMaler. Die Poeten werden daher wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Schöpfergott divini [»göttlich«] genannt. Der Mythos entstand mit allen seinen drei Haupteigenschaften. I. Er ist unmöglich glaubhaft: Er ist unmöglich, weil er dem Körper Geist gibt; und gleichzeitig ist er glaubhaft, sofern diejenigen, die ihn sich ausgedacht haben, ihn ja glaubten. II. Er ist im Übermaß wunderbar und verstörend, da er von nun an die Menschen sich schämen ließ, unter freiem Himmel der Liebe zu pflegen, und diese, wenn sie sich lieben wollten, sich im Inneren der Höhlen verbergen hieß. III. Er ist in höchstem Maße erhaben, weil Jupiter, und zwar der blitzende Jupiter, ja der höchste der Götter ist. Und er entstand schließlich als gänzlich dazu bestimmt, das unwissende Volk zu erziehen, was der hauptsächliche Zweck der Poesie ist; sofern sich mit diesem ersten Mythos die ersten und unwissendsten Menschen der heidnischen Welt ja selbst eine zivile Theologie beigebracht haben, welche die Idolatrie und die Divination enthielt. Wir sind davon überzeugt, dass dieser so einfach und schlicht erzählte Ursprung der Poesie vernünftiger ist und den Anfängen der Menschheit, die vor allem auf natürliche Weise roh und grob sind, angemessener als derjenige, den Platon anführt, nämlich dass die theologischen Poeten unter Jupiter einen den Äther bewegenden Geist verstanden hätten, der alles durchdringt, belebt und bewegt. Das passte wohl dem Platon zur Begründung sei-

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nes Staates, aber nicht den Grotius’schen Einfältigen und den Pufendorf ’schen Verlassenen zur Begründung der heidnischen Menschheit. Auch bei den Bewegungen der Körper, die sich die theologischen Poeten als unzählige besondere Gottheiten vorstellten, nimmt Platon einen einzigen unendlichen bewegenden Geist an, der nicht Körper ist, weil Körper ja bewegt und also geteilt werden können, der aber weder bewegen noch teilen kann, was die Eigenschaft von etwas anderem ist als dem Körper. V. Entdeckung des Prinzips der Poetischen Charaktere, des Wörterbuchs der ersten Nationen 261

Wir haben am Anfang [42] gesagt, dass man kaum verstehen und sich überhaupt nicht vorstellen kann, wie die Grotius’schen, Hobbes’schen, Pufendorf ’schen Menschen denn gedacht oder gar gesprochen haben. Nach einem nunmehr fünfundzwanzig Jahre langen kontinuierlichen und anstrengenden Nachdenken haben wir endlich gefunden, was das erste Prinzip dieser Wissenschaft ist, 51 so wie das ABC das Prinzip der Grammatik oder Schreibkunst und wie die geometrischen Formen das Prinzip der Geometrie sind. Denn so wie der Buchstabe A zum Beispiel ein von der Grammatik erfundener Charakter ist, der all die unendlich vielen verschiedenen dunkel oder hell artikulierten vokalen Laute auf eine Form bringt, und wie, um ein anderes Beispiel zu geben, das Dreieck ein von der Geometrie gezeichneter Charakter ist, der all die unzähligen, verschieden großen Figuren auf eine Form bringt, die drei Winkel hat und sich, von drei Linien vereinigt, an drei Punkten zuspitzt, so haben wir entdeckt, dass die Poetischen Charaktere die Elemente der Sprachen gewesen sind, mit denen die ersten heidnischen Nationen gesprochen ­haben. 51

 Dieses »erste Prinzip« der neuen Wissenschaft nennt Vico in SN44 seine »Entdeckung«, seine discoverta, und den »Hauptschlüssel« (chiave maestra) zur neuen Wissenschaft (SN44, 34).



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So kann eine Nation, weil sie nur einen sehr beschränkten Geist hat, eine abstrakte beziehungsweise allgemeine Eigenschaft nicht ausdrücken und nennt daher, wenn sie diese zum ersten Mal bemerkt, einen besonderen Menschen nach dieser Eigenschaft, die sie bei diesem Menschen zum ersten Mal beobachtet hat. So nennt sie zum Beispiel einen Menschen, der eine große Mühe auf sich nimmt, die von einer familiären Notwendigkeit geboten war und mit der er dann berühmt wurde, weil er mit dieser Arbeit sein Haus oder seinen Stamm und gar das Menschengeschlecht bewahrt, Herkules, Herakles, von ῞Ηρας κλέος, »Ruhm der Juno«, die die Göttin der Ehe und folglich der Familien ist. Diese Nation wird dann gewiss wegen all der Taten, die aufgrund derselben Eigenschaft von ganz anderen Männern zu verschiedenen späteren Zeiten vollbracht werden, diesen Männern den Namen dieses Mannes geben, den sie nach jener Eigenschaft zum ersten Mal genannt hat. Und, um bei dem gegebenen Beispiel zu bleiben, sie wird jeden solchen Mann Herkules nennen. Und da eine solche rohe Nation wohl auch ziemlich dumm gewesen ist, bemerkt sie auch nur die auffälligsten Fakten. Sie wird alle sehr auffälligen Handlungen, die von verschiedenen Menschen zu verschiedenen Zeiten mit derselben Art von Eigenschaften vollbracht werden – wie im vorangegangen Beispiel die unter dem Zwang familiärer Notwendigkeiten vollbrachten großen Arbeiten –, mit dem Namen dieses Menschen verbinden, den sie beim ersten Mal nach jener Eigenschaft genannt hat, und im angeführten Beispiel wird sie alle solchen Menschen mit dem gemeinsamen Namen Herkules nennen. Wegen dieses Wesenszugs erweisen sich alle ersten heidnischen Nationen als Nationen von Poeten. Von diesem uralten Wesenszug sind uns offensichtliche Spuren in den Volkssprachen erhalten, in der lateinischen Sprachen zum Beispiel folgende: Die Römer, die weder die Kriegslist kannten noch den Hochmut, noch Luxus und Parfums, als sie die erste Sitte bei den Karthagern, die zweite bei den Kapuanern und die dritte bei den Tarentern kennenlernten, nannten jedermann in der Welt, bei dem ihnen dann diese Sitten begegneten, Karthager, Kapuaner oder Tarenter. Dies hat man bisher für eine

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Antonomasie gehalten, die aus der Laune individueller Poeten erschaffen wurde; es stammte aber aus der Naturnotwendigkeit, so zu denken und sich so auszudrücken, die allen ersten heidnischen Nationen gemeinsam war. Es erweist sich dann, dass aus solchen Charakteren das Wörterbuch aller ersten heidnischen Nationen besteht, das uns die Sprache der Prinzipien des natürlichen Rechts der Völker erklärt. Von Anfang an unterscheidet sich aber gerade hinsichtlich der Sprache das Volk Gottes von den anderen Völkern. Obwohl dessen Autoren sich in derselben Wort-Armut befanden wie die heidnischen Völker, waren sie nämlich erleuchtet von der Erkenntnis eines wahren Gottes, des Schöpfers Adams. Und daher mussten sie alle Dinge, die ihrem Volk nützlich waren, auch wenn sie ihnen nicht ausdrücklich von Gott befohlen waren und auch wenn sie ganz verschiedene Menschen zu verschiedenen Zeiten gemacht hatten, auf eine einzige ewige vorsehende Gottheit beziehen. Daher kommt es, dass, obwohl die hebräische Sprache ganz poetisch ist, so dass sie an Erhabenheit selbst diejenige Homers übertrifft, wie es auch die Philologen anerkennen, sich in der Heiligen Sprache nicht ein einziges Mal eine vielfache Gottheit findet. Und dies allein ist ein Beweis dafür, dass die Väter der Heiligen Geschichte wirklich die vielen Jahrhunderte lang gelebt haben, von denen diese erzählt. VI. Entdeckung der wahren poetischen Allegorien

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Die Bedeutungen solcher Worte müssen an ihrem Anfang eigentlich »Allegorien« gewesen sein, mit dem griechischen Wort, das »Andersrede« bedeutet, das heißt Worte, die andere Menschen, Fakten und Dinge enthalten. Für diese Allegorien mussten also von den Mythologen eindeutige Bedeutungen der Mythen gefunden werden, keine analogen von solcher Vagheit, dass sie uns als Rohstoff für alle möglichen Interpretationen gelehrter Männer in allen ihren verschiedenen Arten – logisch, physisch, metaphysisch – erscheinen. Und wenn sie moralisch, politisch



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oder historisch interpretiert worden sind, so geschah das nach Art der gegenwärtigen Sitten, Regierungen und Fakten, ohne zu bedenken, dass die Sitten, Regierungen und Dinge der von uns so sehr weit entfernten Menschheit mit Naturnotwendigkeit sehr verschieden gewesen sein müssen. Daher scheinen die Mythologen eher Poeten gewesen zu sein, die sich viele unterschiedliche Dinge über die Mythen ausdenken. Dagegen sind doch die Poeten die eigentlichen Mythologen gewesen, die mit ihren Mythen die wahren Dinge ihrer Zeiten erzählen wollten. Denn so wie es eigentlich keine falschen Ideen geben kann, da das Falsche nur in der unpassenden Kombination von Ideen besteht, so kann es auch keine noch so sagenhafte Tradition geben, die anfänglich nicht einen wahren Anlass gehabt hätte. Und da wir oben [93, 215] bewiesen haben, dass die Mythen einzig und allein Geschichten von den uralten menschlichen Angelegenheiten Griechenlands gewesen sein müssen, so ist es der schwierigste Teil unserer Arbeit gewesen, die wahren Anlässe herauszufinden, aus denen diese Mythen hervorgegangen sind. Diese sind gleichzeitig sowohl die wahren Anfänge der Mythologie als auch die Anfänge der Geschichten der barbarischen Zeiten.

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VII. Idee einer natürlichen Theogonie

Und mit der Entdeckung der Poetischen Charaktere denken wir darüber nach, aufgrund welcher Gelegenheiten menschlicher Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten und zu welchen Zeiten der griechische Geist wahre Anlässe fand, sich vor allem anderen die Charaktere seiner falschen Götter mit der Phantasie zu erschaffen. Diese stellen sich dann als Geschichten der ur­a lten abergläubischen Sitten der Völker Griechenlands heraus, von denen wir hier eine natürliche Theogonie schreiben, die die Art und Weise ihrer Erzeugung erklärt, das heißt wie sie – wie wir bei Jupiter gesehen haben – natürlicherweise aus der Phantasie der griechischen Völker entstanden sind.

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VIII. Von den Göttersagen über die Heldensagen bis zu den Dingen der sicheren Geschichte mussten die Ursachen fortdauern, die auf die ­bekannte heidnische Welt einwirken 268

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Mit einer vernünftigen, das heißt nach der natürlichen Ordnung durchgeführten Chronologie, gemäß der Reihenfolge der gemeinsamen Ideen über die menschlichen Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten der dunklen, der mythischen und der geschichtlichen Zeit, die dunkle oder mythische Anfänge hat, ordnen wir den Göttern und Heroen die Zeiten zu, in denen sie aus der Phantasie der Griechen hervorgegangen sein mussten, und zwar zuerst die Götter, dann die Heroen, da uns die Heroen ja als Kinder der Götter überliefert sind. Da wir gefunden haben, dass die heroischen Mythen die Geschichten der heroischen Sitten Griechenlands gewesen sind, enthält unser Werk eine fortwährende Allegorie der gesamten mythischen Geschichte, die sich, beginnend mit den Göttern und weitergehend mit den Heroen, mit der Geschichte der sicheren historischen Zeit der Nationen verknüpft. Das rückt von Anfang an alle Teile ins Licht, die das gesamte Gebäude des natürlichen Rechts der Völker bilden, die fast alle auf einmal entstanden sind – so wie Epikur sich die Menschen wie Grillen entstanden vorstellt oder Hobbes wie Frösche  – und die alle zu einem großen Körper der Monarchie zusammengewachsen sind, in der Monarchie von Ninus, mit der die Geschichte beginnt. Wegen einer riesengroßen Lücke an dieser Stelle scheiterten Grotius, Selden und Pufendorf und behandelten in ihrer Verzweiflung vom natürlichen Recht der Völker ­weniger als die eine Hälfte, nämlich nur das, was ihrer Meinung nach zur Bewahrung des Menschengeschlechts gehört; sie behandelten aber nichts von dem, was zur Bewahrung einzelner Völker gehört, woraus aber doch erst das entstehen konnte, was sie behandeln. Und wegen der Unkenntnis dieser Anfänge behandelten Machiavelli und Hobbes, und beide nach Epikur, nur die andere Hälfte, unfromm gegenüber Gott, skandalös gegenüber ihren Fürsten und ungerecht gegenüber den Nationen. Und



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über diese hinaus haben Platon bei der Grundlegung einer völlig realitätsfernen Republik und Polybios, der über die römische, also über eine schon gegründete Republik nachdenkt, die Vorsehung aus den Augen verloren. Und weil keiner von den beiden bei den Praktiken der menschlichen Dinge die Vorsehung beachtete, irrten sie auch beide gleichermaßen hinsichtlich zweier der drei von uns oben [10] vorgeschlagenen universellen Prinzipien der Humanität der Nationen: Polybios, weil er glaubte, dass es auf der Welt eine Nation von Weisen ohne jede zivile Religion geben könnte, und Platon, weil er wähnte, dass es eine Republik von Weisen geben könnte, bei denen die Frauen gemeinsamer Besitz wären. IX. Sieben Prinzipien der Dunkelheit der Mythen Erstes Prinzip: Von den poetischen Monstren

Aber um ein für alle Mal abzuschließen mit der Wissenschaft von den Ursachen, die verantwortlich sind für die ganze Dunkelheit der Mythen, stellen wir die folgenden sieben Prinzipien auf. Deren erstes ist folgendes: Man stelle sich Menschen im Zustand des Hobbes’schen, Grotius’schen und Pufendorf ’schen Menschen vor, die keine Eigenschaften von Körpern abstrahieren können. Wenn diese nun zwei verschiedene Arten von Eigenschaften von zwei Körpern verschiedener Art vereinigen wollen, dann werden sie diese Körper zu einer Idee verbinden. Zum Beispiel wenn sie die Eigenschaft »Mann mit menschlicher Erscheinung« mit der Eigenschaft »Geschlechtsakt mit der Mutter« vereinigen wollen – einen solchen Akt haben sie öfter beobachtet bei den lüsternsten und daher frechsten oder schamlosesten Haustieren, den Ziegenböcken, protervia nannten die Lateiner gerade den Akt des Ziegenbocks, der sich in Brunst auf die Ziege stürzt – dann werden sie Mann und Ziege vereinigen und dadurch den Pan und die Satyrn erdichten, die als wilde Götter, das ist die übereinstimmende Meinung, die ersten der niederen Götter gewesen sein müssen. Hier entdecken wir also das Prinzip aller poetischen Monstren.

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X. Zweites Prinzip: Von den Metamorphosen 272

Wenn dieselben Menschen nicht erklären können, dass ein Körper die Eigenschaften eines anderen Körpers einer anderen Art angenommen hat, durch die er die Eigenschaft seiner eigenen Art verloren hat, dann werden sie denken, dass sich ein Körper in einen anderen verwandelt hat, weil sie die Eigenschaften nicht von ihren Trägern abstrahieren können. Um zum Beispiel eine Frau zu bezeichnen, die zuerst umherschweifte, sich dann an einem bestimmten Ort festsetzte und sich nicht mehr bewegte, dann werden sie sich diese Frau als in eine Pflanze verwandelt vorstellen. Von dieser Art zu denken stammen sicher die folgenden Metaphern: piantarsi [»sich hinpflanzen«] für anhalten; ­piante di case [»Hauspflanzen«] für Fundamente von Häusern und vor allem piante di famiglie [»Familienpflanzen«] für Familienstammbäume. Hier entdecken wir also das Prinzip aller Metamorphosen beziehungsweise der poetischen Verwandlungen von Körpern. Dies war das zweite Prinzip der Dunkelheit der Mythen. Damit revidieren wir das, was wir woanders geschrieben haben.52 XI. Drittes Prinzip: Von der Verworrenheit der Mythen

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Aus den beiden vorgenannten Prinzipien erklärt sich leicht auch das dritte Prinzip der Dunkelheit der Mythen, nämlich das ihrer Verworrenheit, die aus beschränkten, langsamen und wortarmen Köpfen entsteht. Dies ist die Ursache dafür, dass die in höchstem Maße ausdrucksunfähigen, unglücklichen Menschen die Dinge ungeordnet zusammenwerfen. So ist der folgende Mythos in höchstem Maße unzusammenhängend und unpassend: Kadmos tötet die Schlange, sät deren Zähne aus, aus den Furchen gehen bewaffnete Männer hervor, diese kämpfen und töten sich gegenseitig. Dieser Mythos umfasst, wie wir zeigen werden 52

  De const. phil., XII , xvii, 36.



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[335, 444], einen langen Zeitraum der Geschichte, der sich vom Beginn der politischen Heroen, die die ersten Städte gründeten, bis zu den Helden der Kriege hinzieht. Durch ihn sollen wir verstehen, welche Art von »Charakteren« Kadmos erfunden hat, der seine ganze heroische Geschichte mit solchen Charakteren geschrieben hat. Zu den Zeiten Homers, der wohl in die Zeiten des Numa gehört und daher ungefähr achthundert Jahre nach Kadmos erscheint, waren aber die volkstümlichen »Charaktere«, das heißt die gewöhnlichen Buchstaben, bei den Griechen noch nicht erfunden, ja Familien von Rhapsoden bewahrten seine Gedichte auch noch lange Zeit später im Gedächtnis auf. Dieser Mythos ist ein Beispiel, um zu begreifen, in welchem Abgrund von Dunkelheit die Mythen von den ersten Zeiten Griechenlands an bis zu Homer lagen. XII. Viertes Prinzip: Von der Veränderung der Mythen

Das vierte Prinzip der Dunkelheit der Mythen war dasjenige ihrer Veränderung. Denn der menschliche Geist pflegt wegen seiner unbestimmten Fassungskraft die gehörten und unbestimmt weitererzählten Dinge natürlich vergrößert zu empfangen. Und so muss er die über eine lange Zeitspanne aus den Händen äußerst roher und unwissender Menschen empfangenen Dinge verändern und bis ins Unendliche vergrößern. Daher kommt es, dass uns von den alten oder entfernten Dingen meistens eine sehr falsche Kunde erreicht, die unterwegs anscheinend an Kraft gewinnt und sich vergrößert. Das ist das Prinzip der Veränderung der Mythen, wie beim Mythos von den maßlosen Körpern und Kräften der Riesen und Heroen. Und das ist auch die Ursache dafür, dass die Welt jenseits von Wahrheit und Glauben als sehr alt erscheint. Die Welt, die im Dunkel ihrer Ursprünge den Ungläubigen der Heiligen Geschichte bisher fast wie von unend­ lichem Alter erschien, ist aber, wie wir im Lichte dieser Wissenschaft zeigen können, ganz jung.

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XIII. Fünftes Prinzip: Von der Verfremdung der Mythen hinsichtlich der Ideen 275

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Das fünfte Prinzip der Dunkelheit der Mythen ist, dass die Geister der griechischen Nationen, die sich mehr und mehr unendlich entwickelten, die Mythen gegenüber dem äußerst beschränkten Geist ihrer ersten Gründer vergrößerten und, indem sie sich immer mehr von ihnen entfernten, die ersten Bedeutungen immer mehr verfremdeten. So zum Beispiel, als sie nach Jahrhunderten schließlich die wahre Höhe des Himmels und der Sterne als gewaltige Räume über dem Gipfel des Bergs Olymp verstanden hatten, wo bis zu den Zeiten Homers die Götter gewohnt hatten, erhoben die griechischen Nationen ihre Götter zu den Sternen. Und so wurde der Ausdruck »den Schrei bis zu den Sternen erheben« [innalzare il grido alle stelle], der zuerst durchaus der Wahrheit entsprach, eine Hyperbel. Auf dieselbe Weise geschah es auch mit den Flügeln, um ein anderes Beispiel zu geben: Die Flügel waren heroische Impresen, welche die Taten und Rechte der Heroen bezeichneten, die ja alle ihre Dinge von der Divination, das heißt von ihrer Wissenschaft der Vogelschau, abhängig machten, wie es uns die alte römische Geschichte von den heroischen Kämpfen der ­Adligen mit der Plebs anschaulich erzählt. Die Plebs verlangt darin von den Adligen feierliche Hochzeiten, öffentliche Ämter, militärische Befehlsgewalt, Pontifikate und Priesterschaften, und die Adligen weigern sich, diese dem Volk zuzugestehen, und zwar aus dem Grund, den sie immer wiederholen: auspicia esse sua, also dass die Auspizien ihnen gehören. Dieser Behauptung halten die Plebejer entgegen, dass die Väter, aus denen Romulus den Senat zusammengesetzt hatte und von denen die Patrizier abstammten, non esse de caelo demissos, nicht vom Himmel herabgesandt worden seien, was so viel heißt, wie dass sie keine Heroen oder Kinder der Götter wären. Diese Erwiderung wäre gänzlich irrelevant gewesen, wenn der Heroismus der Adligen nicht gerade in den Auspizien bestanden hätte. Nachdem sich nun dieser Mythos verdunkelt hatte, weil sein Sinn fremd gewor-



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den war, glaubte man, dass die Flügel der Astrea gegeben worden seien, um in den Himmel zu fliegen, dem Merkur, um die Botschaften vom Himmel auf die Erde zu bringen, dem Saturn, um die Geschwindigkeit der Zeit zu bezeichnen, der Fama, um überallhin zu fliegen, der Victoria, um das Ingenium der Musen zu bezeichnen, so wie dem Pegasus, dem Amor und dem Caduceus. Aber dem Hymenäus können die Flügel für keinen anderen Gebrauch gegeben worden sein als dafür, dass er vom Himmel mit den Auspizien herabsteigt, mit denen die adligen Römer, wie sie der Plebs sagen, allein die richtigen Hochzeiten feiern. Die Flügel dienten also den ersten Griechen ebenso zum Fliegen oder zur Bezeichnung der Geschwindigkeit und des Ingeniums, wie in Amerika nur von den Adligen Federn auf dem Kopf getragen werden. Und mit den aus dem Norden stammenden Barbaren verbreitete sich auch bei den anderen Nationen Europas wieder jener uralte Brauch der Völker, dass nur die Adligen die Helme mit Federn schmücken dürfen. Daher sehen wir auf den uralten Marmorbildern nur die Wappen der souveränen Fürsten und Könige oben auf den Schilden mit drei Federn geschmückt. XIV. Sechstes Prinzip: Von der Verfremdung der Mythen durch Wörter

Das sechste Prinzip der Dunkelheit der Mythen ist, dass mit dem Wandel der Sitten im langen Verlauf der Zeiten sich unsere volkssprachlichen Wörter von selbst verändern und verdunkeln, und das ist bei den Mythen noch viel mehr geschehen. Als Beispiele sollen die folgenden drei Wörter gelten: lyra, monstrum und aurum [»Gold«]. Die Lyra war am Anfang die Saite, die bei den Griechen χορδά genannt wird; und die erste Saite musste aus Weiden gemacht sein, die bei den Lateinern – von vi – vimina hießen und fides genannt wurden, das in seinem uralten Casus rectus fis hieß, dessen Obliquus fidis ist, in der Bedeutung von »Kraft« und »Macht«; woher bei den Lateinern implorare fidem »jemandes Kraft zur Hilfe rufen« und recipere in fidem »unter die Macht, Protektion

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oder Befehlsgewalt aufnehmen« stammte. Und mit einer solchen dem strengen Alter der Gründer der Nationen natürlichen und entsprechenden Allegorie werden alle Mythen erklärt, die den heroischen Charakter der Lyra enthalten. Sie war zuerst eine Saite aus Weiden, die die Macht eines jeden Vaters im Zustand der Familien unter der Gewalt oder dem Befehl der Götter bedeutete, was die erste und eigentliche fides Deorum [»Schutz der Götter«] gewesen sein muss. 53 Dann, im Zustand der ersten Städte, war die Lyra aus mehreren Saiten zusammengesetzt; das heißt in jeder Stadt vereinigten sich mehrere starke Väter zu einem regierenden Stand, welcher die Gesetze verordnete. Und das Gesetz ist von den Poeten lyra regnorum genannt worden. Das zweite heroische Wort war monstrum, das am Anfang »ziviles Ungeheuer« bedeutete, dessen einer Teil Mensch und der andere ein wildes Tier war, so wie wir es oben [95, 271] von Pan und den Satyrn gesagt haben. In dem heroischen Kampf um die Hochzeiten, die der Plebs mit den Auspizien der Adeligen zugestanden werden sollten, bestätigt die römische Geschichte bei Livius ganz klar, was wir sagen: Die Väter entgegnen den Plebejern, dass derjenige, der von nun an aus solchen Ehen geboren würde, secum ipse discors [»mit sich selbst uneins«] geboren wäre: nämlich einerseits mit den feierlichen Auspizien der Adligen, aus denen Menschen stammten, das heißt aus Beilagern, in denen es sicher war, dass die Söhne nicht mit den Müttern und die Väter nicht mit den Töchtern schliefen, also aus sicheren Abstammungen; andererseits mit den privaten und unsicheren plebejischen Auspizien, mit denen diese agitabant connubia more ferarum [»Beilager pflegten nach Art der Tiere«]. Und dies sind die Monstren, die nach den spartanischen Gesetzen vom Berg Taygetos gestürzt wurden und die man nach den römischen Gesetzen in einem Kapitel der zwölf Tafeln in den Tiber warf. Dies waren also keine natürlichen Monstren, wie man es sich bis jetzt vorgestellt hat. Denn an diese haben in der Kürze ihrer Gesetze die ersten Gesetzgeber sicher nicht gedacht, wo doch Monstren in der Natur viel zu selten vorkommen, als dass man diese selte53

 Vgl. oben 181.



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nen Dinge in der Natur »Monstren« genannt hätte. Und in der Fülle der Gesetze, an der die Stadt Rom schon unter den Kaisern arbeitete, ist verfügt worden, dass Gesetze nur über jene Dinge verfasst werden sollen, die am häufigsten vorkommen, und dass man der Klugheit der Magistrate die Dinge überlassen soll, die sehr selten geschehen. Mit einer solchen ordentlichen und vernünftigen Mythendeutung kann man alle poetischen Monstren erklären. Gold schließlich – als es nur in Goldklumpen vorkam und es noch nicht die Kunst gab, es in eine Masse zu formen, und noch weniger, ihm Glanz zu geben, und als man noch keinerlei Vorstellung von seiner Nützlichkeit hatte – bedeutete »Korn« in der armen und einfachen Genügsamkeit der ersten griechischen Menschen. Daher wurde der Nil χρυσορρόας »Goldbringer« genannt, und der Paktolos, der Tejo und andere Flüsse wurden »Goldflüssse« genannt, das heißt »Bringer von üppigen Kornernten«. Denn das Goldene Zeitalter der Griechen war dasselbe wie das Zeitalter des Saturn der Lateiner, der von satis so genannt wurde, also »Aussaat«, die mit der Sichel geerntet wird. Im Übrigen verkehrten die Götter in jener Zeit mit den Menschen mit dem Ergebnis, dass die Heroen sich »Kinder der Götter« nannten. Astrea wohnte auf der Erde, weil man glaubte, dass die Götter auf der Erde herrschten und mit ihren Auspizien die menschlichen Dinge bestimmten. Und es herrschte eine solche Unschuld wie diejenige des Polyphem, der dem Odysseus sagt, dass er und die anderen Riesen sich um ihre Familien kümmern und sich nicht in die Dinge der anderen einmischen. Alle anderen Ideen, die man diesen Dingen anhängte, wie die eines galanten Hirten-Heroismus, waren Wunschvorstellungen von Geistern des Zeitalters von Moschos und Anakreon, die von allzu raffinierter Liebe verdorben waren. Dann aber hatte das Gold keinen anderen Gebrauch mehr als den eines Metalls, nicht anders als Eisen. Und mit dieser traditionellen Allegorie erhellt man die Wahrheit aller Mythen, in denen der Charakter des Goldes, des Schatzes oder des Reichtums auftritt. So können die Helden Homers gegen den schweren Vorwurf des Geizes verteidigt werden, wenn sie ihre Schilde aus Eisen gegen die goldenen Schilde der ande-

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ren tauschen wollen, aber nach dem Tausch keinen Gegenwert erstatten wollten. Erst lange Zeit danach wurde das Metall wegen seines Wertes, wegen der Farbe dieser großen Frucht des menschlichen Fleißes und wegen seiner Notwendigkeit für den Bestand der Menschen, »Gold« genannt. Wichtige Entdeckungen des Rechts des Krieges und des F ­ riedens 54 durch dieses Prinzip der Poesie  281

Als man in den barbarischen Zeiten ohne Kriegserklärung Krieg führte, bedeutete das Wort Räuber vor allem »kriegführender Held«; denn die ersten Städte betrachteten sich gegenseitig als ewige Feindinnen. Daher begrüßt auf dem griechischen Theater Aeson, der Vater der Medea, den Jason zum ersten Mal mit diesem Ehrentitel. Einen schönen Beleg hiervon gibt es auch im Zwölftafelgesetz, wo gesagt wird: adversus hostem aeterna aucto­ri­tas esto [»gegenüber dem Fremden soll ewiges Besitzrecht sein«]: das heißt, dass man niemals das Eigentum an den von einem Fremden besetzten Dingen verliert, so dass es einen ewigen Krieg zu ihrer Wiedererlangung geben musste. Daher musste »Fremder« so viel bedeuten wie »ewiger Feind«. Und um ewiger Feind zu sein, genügte es, dass man kein Bürger war, nach jener berühmten Unterscheidung, die die alten latinischen Stämme machten zwischen civis und hostis, das heißt hostis für Leute, die den Latinern in den barbarischen Zeiten äußerst feindlich waren. Solche Art von ewigen Kriegen gibt es auch heute noch zwischen den Völkern der Barbaria und den christlichen Völkern. Vielleicht wird von den christlichen Völkern jene Küste Afrikas wegen der barbarischen Sitte ihres ewigen Piratentums »Barbarei« genannt, so wie bei den Griechen die Küste Afrikas am Roten Meer, wo die Troglodytei war, Βαρβαρία genannt wurde. Aber später waren alle anderen Nationen außer den Griechen Barbaren, auch noch in der Zeit, als sie diese Sitte schon abgelegt 54

 Dieser Abschnitt ist nicht nummeriert, und die kleine Schriftgröße der Überschrift weist ihn als Exkurs aus.



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hatten. Ihre berühmte Unterscheidung zwischen Grieche und Barbar entsprach als weitere, auf die Nation bezogene Unterscheidung der engeren, auf die Stadt bezogenen Unterscheidung der Latiner zwischen civis und hostis. Aber in unvergleichlich weiterer Ausdehnung als die Griechen, gleichsam unendlich, schied das Volk Gottes wegen seiner einmaligen Einheit und Wahrheit die Welt der Nationen in Juden und Heiden. Von hier aus soll man verstehen, mit welchem Scharfsinn Grotius, Pufen­ dorf und vor allem Selden ihre Systeme auf ein Juden und Heiden gemeinsames Recht gründeten ! Dann ging die Bedeutung von Räuber über zu »Schutzsoldat des Königs«, in welcher Bedeutung es bis zu den Zeiten von Plautus hielt. Schließlich bedeutete es »Mörder«. So bedeutete hospis [»Gast«] zuerst »Fremder, betrachtet als ewiger Feind«. Mit dieser Bedeutung töteten die Troglodyten die in ihre Grenzen eingedrungenen hospites, wie es die Sitte aller barbarischen Völker war. Dann bedeutete es »Fremder, geachtet nach den heiligsten Gesetzen der Gastfreundschaft«. Und nach der wiedergekehrten Barbarei blieb oste bei den Italienern für den »Beherberger« und für die »Kriegsquartiere«, die sie oste amica oder oste nemica nennen, Quartier des Freundes oder Quartier des Feindes. Diese in den »Hospizen« des Jason und des Paris so sehr veränderten Wörter verdunkelten die Geschichte von der Fahrt der Argonauten und des Trojanischen Kriegs und letztlich das Kriegsrecht aller heroischen Völker. Ja diese Wörter überlieferten uns sogar, wegen des verderbten Paris, auch Jason und Theseus, die Vorbilder des Äneas bei Vergil, als große Schurken, die den unverheirateten oder verwitweten Königinnen die Ehre rauben. Erst empfangen sie von ihnen unsterbliche Wohltaten und dann verraten sie sie grausam und verlassen sie, was heute nicht einmal mehr die schurkenhaftesten Mörder tun würden. Diese Taten wurden aber durch das Recht der heroischen Völker als voll gerecht angesehen: nämlich gastlich aufgenommene, fremde Heldinnen zu rauben – deren Charaktere Medea, Ariadne und Helena waren – und mit ihnen, in den ersten strengen Zeiten des Heroismus, wie mit Sklavinnen zu schlafen, dann aber Ehen mit Bürgerinnen aus der eignen Stadt einzugehen, wie es Achilles

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den Botschaftern des Agamemnon ankündigt, die ihm im Namen ihres Königs eine unverheiratete fremde Königin als Frau anbieten; oder sie, wie es Paris gemacht hat, unter Missachtung des Heroismus, als Frauen zu nehmen. Und hierbei springt ein sehr erhellender Unterschied zwischen den Juden und den Heiden in die Augen: Denn die Heilige Schrift erzählt, dass die Gastfreundschaft Abrahams von königlicher Menschlichkeit gewesen ist. Was ein weiterer schwerwiegender Beweis für die Heiligkeit des Gesetzes der Natur ist, das die früheren Patriarchen bis zu Abraham beachtet hatten. Dem hinterließen sie eine so große Familie, dass er mit ihr Krieg gegen die benachbarten Könige führen konnte. Und dies ist ein weiterer gewichtiger Beweis dafür, dass bei den Patriarchen die Klientelen voller Güte für diejenigen gegründet wurden, die sich vor der schlechten Regierung der Chaldäer in ihre Länder flüchteten. Außer durch die Macht des Vaters, der Gott keine unschuldigen Kinder opferte, unterschieden sich die Juden somit auch durch ihre Klientelen von den Heiden. Durch diese heroischen griechischen Tatsachen wird nun auch die Erzählung der alten römischen Geschichte sehr zweifelhaft: nämlich ob die Römer die Sabinerinnen raubten, indem sie ihnen mitten in Rom Herberge gewährten oder indem sie im Sabinerland herumstreiften (wo vielleicht die Pferde-Spiele jener Zeiten stattgefunden haben). Ob die Horatische Jungfrau wirklich einem der Curatischen Helden als Gattin versprochen worden war, einem jener Albaner, die es doch kurz zuvor noch abgelehnt hatten, dem Romulus eine Frau zu geben, weil er ein Fremder war, nicht einmal als Dank dafür, dass er sie vom Tyrannen befreit hatte und dass er ihnen ihren König wiedergegeben hatte. Oder ob einer der Curatier jene Jungfrau geraubt hat, wie Paris Helena geraubt hatte, und diese danach den Tod des Gatten beweinte. Daher entstehen Zweifel über die römische und über die griechische Geschichte, die sich immer mehr anhäufen: Ob jemals der Trojanische Krieg neun Jahre vorher erklärt worden ist, wo am Anfang des neunten Jahres Agamemnon und Priamos die Bedingungen des Sieges verhandeln, die der unterlegenen der beiden Seiten auferlegt werden sollen; während der Albaner-



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Krieg erst nach vielen schweren und langen Schäden verhandelt wird, die die Römer und die Albaner sich gegenseitig zugefügt hatten. Und ob es eher die Natur dieser Dinge gewesen ist als die Kunst von Homer, die Anfänge wegzulassen und damit zu beginnen, die Geschehnisse von der Mitte bis zum Ende hin zu besingen. Außerdem, wenn die ersten Kriege im Zweikampf der hauptsächlichen Angegriffenen und Angreifer im Angesicht der beiden Völker geführt wurden – so wie bei den Griechen der Trojanische Krieg verabredet wird als Kampf zwischen Menelaos, dem Gatten der Helena, und Paris, der sie geraubt hat, und bei den Latinern der Albaner-Krieg als Kampf der drei Horatii und der drei Curatii – so entspricht diese Sitte eher den beschränkten Geistern der ersten Völker und auch der Sitte der Duelle, die vorher im Zustand der Familien praktiziert wurden und deren Namen – »Duelle« – die öffentlichen Kriege bis zu den Zeiten des Plautus behielten. Gewiss scheint Veji das Troja der Latiner gewesen zu sein, zehn Jahr lang umkämpft wie das andere, das griechische Troja, so dass es bei beiden eine andauernde Belagerung gab oder ewige Feindschaft, wie es sie heute zwischen den Völkern der Küste der Barbaria und den christlichen Völkern gibt und wie sie bei jenen Feinden herrschte, gegen die, auch noch so lange Zeit später, durch das Zwölftafelgesetz a­ eterna auctoritas erat, das heißt ewiges Besitzrecht erklärt wurde; und wenn durch die ganze spätere Zeit hindurch die Konsuln im Frühjahr mit viel stärkeren Kräften und gegen hartnäckigere Feinde in die Schlacht zogen und sich mit dem Einbrechen des Winters in ihre Häuser zurückzogen. Haben die heroischen Nationen, die beim Zählen und Rechnen noch roh waren, vielleicht »zehn« gesagt, so wie wir heute »Hundert« oder »Tausend« sagen, um eine unbestimmte Zahl zu bezeichnen ?

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XV. Siebtes Prinzip der Dunkelheit der Mythen: das Geheimnis der Divination 285

Das siebte und – mehr als alle anderen – natürliche Prinzip der Dunkelheit der Mythen war das Geheimnis der Divination, weswegen man die Poeten μύστες nannte, was Horaz mit deorum interpretes [»Dolmetscher der Götter«] übersetzte. Die Mythen waren ihre Mysterien und die poetischen Charaktere die heilige Sprache der Griechen. So bedeutete zum Beispiel die Schlange bei den heroischen Poeten die Erde, weil ihre Haut, die sie jedes Jahr in der Sonne wechselt, zwischen schwarz, grün und gelb changiert. Daher ist die Hydra der große Wald der Erde, aus deren Kopf, wenn man ihn abschneidet, mehrere Köpfe hervorsprießen. Hydra kommt von ὕδωρ »Wasser«, das heißt von der vorangegangenen Sintflut. Und Herkules hat den Wald mit dem Feuer niedergebrannt, wie es heute noch unsere Bauern tun, wenn sie die Wälder roden. Daher deutet Kalchas, Homers berühmter Seher, die Schlange, die acht kleine Spatzen und deren Mutter verschlingt, dergestalt, dass das Trojanische Land nach neun Jahren in die Gewalt der Griechen kommen wird, bei denen – von ὄφις »Schlange« – die Kriegsbeute ὠφέλεια genannt wird. Und so kann es wohl wahr sein, dass die Poeten ihre Weisheit in die Schleier ihrer Mythen hüllten. XVI. Prinzip der Verderbnis der Mythen

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Auf diesen Prinzipien der Dunkelheit der Mythen gründet das Prinzip der Verderbnis der Mythen. Denn die Veränderung der Sitten, die sich natürlich in jeder Epoche zum Schlechteren ändern und verderben, zusammen mit der Unkenntnis der eigentlichen Bedeutungen der Mythen, die ja die Geschichten der griechischen Religionen und der heroischen Tugenden und Taten der Gründer ihrer Nationen waren, lenkte die Mythen in die verderbtesten Richtungen, die alle den Religionen und guten Gesetzen und guten ersten Sitten entgegengesetzt waren.



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Folgendes sind geeignete Beispiele für die Prinzipien, über die wir hier nachdenken: In der Zeit, als die griechischen Männer in ihrer Einfachheit keine Abscheu fühlten, immer mit ein und derselben Frau zu schlafen, so wie es auch die Sitte bei unseren Bauern ist, die natürlich mit ihren Frauen zufrieden sind, hörte man in den Dörfern niemals oder sehr selten etwas von Ehebruch. Der Mythos, dass die Heroen Kinder Jupiters waren, konnte daher nur die strenge und ernste Idee bedeuten, die solchen Sitten entspricht, nämlich dass sie sich keinen Ehebruch von diesem Jupiter vorstellen konnten, den man ja auch bei den Menschen noch gar nicht kannte. Daher bedeutet dieser Mythos in der poetischen Kürze, wie sie der Kindheit der Sprachen eigen ist, dass die Heroen Kinder waren, die aus sicheren und feierlichen Ehen geboren waren, die mit dem Willen Jupiters geschlossen worden waren, der ihren Verwandten mit den göttlichen Auspizien angezeigt wurde, von denen die römischen Heroen sagten, auspicia esse sua, »dass die Auspizien ihnen gehören«, und die Plebejer ihnen aber absprachen, esse de caelo demissos, »dass sie vom Himmel herabgeschickt worden seien«. Als dann aber die Zeit der reflexiven Libido gekommen war, weil völlig verderbte Männer gegen die Autorität der Religion und der Gesetze sündigen wollten, stellte dieser Mythos Kinder dar, die Jupiter ehebrecherisch mit Frauen gezeugt hatte. Und in diesem Sinne verstand man dann, dazu passend, die Kinder als die Eifersüchteleien, Händel und Streitereien der Juno mit Jupiter und als die Kümmernisse, die Jupiter der Juno bereitete. Und andere Mythen, die alle die Feier­ lichkeit und Heiligkeit der heroischen Ehen betreffen, stellen nun den Zorn der Juno gegen Herkules dar, die ihn als verhassten Bastard Jupiters vernichten will, wo diese Mythen doch eigentlich die großen Arbeiten der ersten Väter betreffen, die ihnen für diese Familiennotwendigkeiten gerade von Juno, der Göttin der Ehe, befohlen worden waren. Weil sie alle die Allegorien oder ihre eigentlichen Bedeutungen nicht mehr enthalten, enden sie schließlich höchst unpassend damit, dass Herkules – der ῞Ηρας κλέος, »Ruhm der Juno«, genannt wurde und mit Hilfe der Gunst Jupiters alles mit seiner Tugend überwindet – in der Tat der ganze Abscheu der Juno wird.

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XVII. Entdeckung dreier Zeitalter von heroischen Poeten vor Homer 288

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Erhellt von diesen Einsichten geben wir den Mythen ihr Licht wieder und unterscheiden drei Zeitalter heroischer Poeten: Das erste ist das der ganz strengen Poeten, wie es den Gründern der Nationen entspricht. Das zweite, das sich später über mehrere Jahrhunderte nach und nach entwickelte, ist das Zeitalter der völlig verderbten Poeten. Und die ersten wie die zweiten waren Poeten ganzer poetischer oder heroischer Nationen. Das dritte Zeitalter ist das der individuellen Poeten, die von diesen Nationen die Mythen, beziehungsweise deren verderbte Geschichten sammelten und daraus ihre Gedichte machten. In dieses dritte Zeitalter muss man Homer stellen, sofern er von uns als Historiker entdeckt wurde, und zwar unseres Erachtens als erster Historiker, den wir von der griechischen Nation haben. Um nun mit den Beispielen fortzufahren und Proben für die Wirkungen zu geben, die auf diese allgemeinen Prinzipien zurückgehen, muss Apollo gemäß diesen drei Zeitaltern von Poeten als poetischer Charakter der Seher [indovini] angesehen werden, die zunächst im wahren Sinne divini [»göttlich«] genannt wurden, weil sie die Auspizien bei den Hochzeiten vornahmen. Und Apollo verfolgt Daphne durch die Wälder, den poetischen Charakter jener Frauen, die beim Herumtreiben in den Wäldern schändlicherweise mit ihren Vätern und mit ihren Söhnen schlafen. Apollo ist also das Verfolgen eines Gottes, dagegen ist Daphne das Fliehen eines wilden Tieres. Schließlich wird Daphne von Apollo gepackt, sie erfleht die Hilfe, die Kraft und den Glauben der Götter in den Auspizien und wird zur Pflanze, und gerade von der Art des Lorbeers. Das heißt durch die sichere Abfolge der Nachkommenden pflanzt sie die Gentes oder Geschlechter, deren Namen oder Hausnamen die frühen Griechen immer grün, also immer lebendig in den Patronymen bewahrten. Daher blieb Apollo der Verewiger der Namen und der Gott des zivilen Lichts, nach dem sich die Adligen »ruhmreich«, »berühmt« und »illuster« nennen. Er singt, canta, was in schönem Latein ebenso viel bedeutet wie »er sagt voraus«, mit der Lyra,



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mit der Kraft der Auspizien. Und er ist der Gott der D ­ ivinität, nach der die ersten Poeten im wahren Sinne divini genannt wurden. Und ihm helfen die Musen, denn aus den Hochzeiten oder menschlichen Verbindungen entstanden alle Künste der Menschheit. Von den Musen ist Urania die Betrachterin des Himmels, so genannt von ὀυρανός »Himmel«, von dem die Auspizien genommen werden, um die feierlichen Hochzeiten zu feiern. Daher ist Hymenäus, der Gott der Hochzeiten, der Sohn der Urania. Die zweite Muse, Melpomene, bewahrt die Erinnerungen an die Ahnen durch die Begräbnisse. Die dritte, Klio, erzählt die Geschichte ihrer leuchtenden Taten, und sie ist dasselbe wie die  Fama der Heroen, wegen der diese bei allen alten Nationen die Klientelen gründeten, welche sich von dieser fama bei den Latei­nern Familien nannten. Und durch die Übersetzer des Griechischen werden die κυρικοὶ die Knechte der Helden bei Homer – famuli.55 Da Jupiter mit den Auspizien des Blitzes den Lorbeerbaum beschützt, ist er den Verbindungen mit sicheren Frauen gewogen. Und Apollon bekränzt sich mit Lorbeer, denn auf solchen Verbindungen gründeten sich die ersten väterlichen Herrschaften, auf dem Parnass, auf den Bergen, auf deren Rücken sich die ewigen Quellen finden, die nötig waren, um Städte zu gründen, welche, von πηγὴ »Quelle«, am Anfang pagi von den Lateinern genannt wurden. Apollo ist also der Bruder der Diana, und der Pegasus lässt mit seinem Huftritt den hippokrenischen Quell sprudeln, aus dem die Musen trinken. Der Pegasus ist geflügelt, weil das Waffentragen zu Pferd nur den Adligen erlaubt war, wie bei den alten Römern, und zu den Zeiten der wiedergekehrten Barbarei nur die reitenden Adligen bewaffnet waren und daher »Ritter« genannt wurden. Dies scheint eine passende, geordnete, nicht absurde, nicht weithergeholte, nicht verbogene und gewundene Mythendeutung zu sein. Dann aber verdunkelten sich die Charaktere, und von den zweiten Poeten wurde der Mythos dermaßen verdorben, dass die 55

 Vgl. 140. Vico korrigiert κυρικοὶ zu κήρικες in einer Anmerkung zu 339.

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Verfolgung des Apoll als Verfolgung eines schamlosen Mannes und das Fliehen der Daphne als Fliehen einer Göttin, der D ­ iana, bei den Poeten des dritten Zeitalters ankamen, ohne jeden Nutzen, auf einem solchem Beispiel Nationen zu gründen. Und ­Homer wurde von den Kritikern dafür gerügt, dass er die Menschen als Götter und die Götter als Menschen erscheinen lässt. XVIII. Beweis der Wahrheit der christlichen Religion 293

Nicht nur findet man in der Heiligen Geschichte überhaupt keine solchen schmutzigen Verderbnisse der ersten Überlieferungen der Taten, mit denen das Volk Gottes gegründet wurde, sondern dort begegnet man auch einer Fortdauer ziviler Disziplin, die der wahren Gottheit seines Gründers wahrhaft würdig ist: Während Moses die Geschichte mit poetischerer Sprache als Homer erzählt – tausend und dreihundert Jahren vor diesem, der in die Zeiten Numas gehört – bringt er gleichzeitig seinem Volk von Gott ein so gelehrtes Gesetz, das nur einen einzigen Gott anzubeten befiehlt, von dem man sich kein Bild mit der Phantasie machen darf, und ein so heiliges Gesetz, das sogar die geringsten der statthaften Begierden verbietet. Diese Würde der Lehren über die Gottheit und diese Heiligkeit der Sitten übersteigen so sehr die Metaphysik Platons und die Moral des Sokrates, dass sie den Theophrast, den Jünger des Aristoteles und daher auch Schüler des Sokrates und des Platon, vielleicht dazu veranlassten, die Juden »natürliche Philosophen« zu nennen. XIX. Wieso war die erste gesetzgebende Weisheit Weisheit der Poeten ?

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So war Apollo der Charakter der Weisen der ersten »ZeitenSekte« [secta temporum], also der Epoche der göttlichen Poeten, die als divini betrachtet wurden wegen der Divination, der Wissenschaft der Auspizien, das heißt der göttlichen Dinge, die die



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Weisen betrachteten, um zuerst und vor allem die menschlichen Hochzeiten zu regeln, durch welche die Menschen vom tierischen Herumirren zur Menschheit überzugehen begannen. Dieser Zeitabschnitt war wirklich derjenige der theologischen Poeten, welche die Theologie der Heiden, das heißt die Wissenschaft von der Gottheit mit der Betrachtung des Himmels begründeten, von dem sie die Augurien nahmen. Daher kam der Poesie das höchste und absolute Lob zu, das uns Horaz in der Ars Poetica gesungen hat, nämlich dass die erste gesetzgebende Weisheit in der Welt diejenige der Poeten gewesen sei. XX. Von der Weisheit und der göttlichen Kunst Homers

Nachdem im langen Verlauf der Zeit und in der großen Veränderung der Sitten die griechischen Religionen verdorben waren, wie wir es am Mythos von Apollo gesehen haben, erschien der große Homer, der über die Verderbnis seiner Zeiten nachdachte und das ganze Gebäude der Ilias auf die Vorsehung gründete, die wir als das erste Prinzip der Nationen aufgestellt haben, und auf die Religion des Eids. Mit diesem Eid schwor Jupiter feierlich der Thetis, die Ehre des Achilles wiederherzustellen, der von Agamemnon dadurch gekränkt worden war, dass dieser ihm seine Briseis 56 mit Gewalt weggenommen hatte. Damit regelt und lenkt er die Angelegenheiten der Griechen und der Trojaner durch all die vielen verschiedenen und großen Wendungen des Krieges, so dass sich schließlich durch die Dinge selbst die Erfüllung des von ihm geschworenen Versprechens einstellt. Zugleich stellt Homer die Tugend und das Laster vergleichend gegenüber, da die Religionen wenig dazu taugten, die griechischen Völker in der Pflicht zu halten. So macht er deutlich, dass die 56

 Vico schreibt hier irrtümlicherweise: Chryseis. Es war aber Briseis, die Agamemnon dem Achill weggenommen hat, als Ersatz für die Chryseis, die Agamemnon dem Vater zurückgeben musste. Der Verlust der Briseis ist der Grund für den Zorn des Achilles.

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von Paris verletzte Gastfreundschaft und seine Unbeherrschtheit den ganzen Ruin des Königreichs von Troja verursachen. Demgegenüber lehnt Achill, der größte der griechischen Helden, von dem das Kriegsglück abhängt, die jungfräuliche fremde Königin ab, die ihm deren Vater Agamemnon als Frau anbietet, der Führer des vereinigten Griechenland, weil sie keine gemeinsamen Auspizien mit ihm habe. Und er sagt, er wolle in seinem Vaterland diejenige zur Frau nehmen, die ihm sein Vater Peleus geben werde. Auf dieselbe Weise stellt Homer das ganze Gebäude der Odyssee auf die Klugheit und Leidensfähigkeit des Odysseus ab, der sich am Ende rächt und die Freier aufhängt, jene in Völlerei, Spielen und Müßiggang verlorenen Männer, die völlig mit den Gewalttaten und Schäden beschäftigt sind, die sie dem königlichen Erbe des Odysseus zufügen, und mit der Belagerung der keuschen Penelope. Aufgrund dieser Ideen erscheinen beide Gedichte Homers unter einem völlig anderen Licht, als sie bisher immer betrachtet worden sind. Weder sprechen wir dem Homer eine andere Weisheit zu als die zivile Weisheit, die zu seiner heroischen Epoche passt und für die er zwar den Ehrentitel des Begründers der griechischen Humanität verdiente, für die ihm aber in Wahrheit nach unseren Prinzipien der Titel eines Wiederherstellers dieser Humanität gebührt. Noch sprechen wir ihm eine andere Kunst zu als die seines guten Wesens, zusammen mit dem Glück, in den Zeiten der heroischen Sprache Griechenlands gelebt zu haben. Denn (über den Beweis hinaus, den wir oben geführt haben, dass Homer Ägypten überhaupt nicht gesehen hat) die verborgene Weisheit, die – in dieser Hinsicht Platon folgend – Plutarch in ihm sieht, und die Kunst der Poesie, die die Kritiker in ihm entdecken, stehen beide im Gegensatz zur Reihenfolge menschlicher Ideen und der sicheren Geschichte der Philosophen und der Poeten. Denn zuerst kamen die rohen Philosophen, die als Prinzipien der Dinge die Körper setzten, die mit den sekundären Eigenschaften gebildet werden, die man gewöhnlich »Elemente« nennt. Das waren die Naturphilosophen. Der größte von ihnen war Thales von Milet, einer der sieben Weisen Griechenlands. Dann kam



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Anaxagoras, der Lehrer des Sokrates, der unsinnliche Körper angenommen hat, Samen in jedem Stoff von jeder Form als Kraft in jedem Organismus. Dann kam Demokrit, der Körper einzig mit den ersten Eigenschaften der Formen annahm. Schließlich entdeckte Platon die abstrakten Prinzipien in der Metaphysik und setzte das Prinzip der Ideen. Wie aber stürzte so viel von der von Platon ersehnten verborgenen Weisheit auf einmal und geradezu als Schauer vom Himmel herab in die Brust Homers ? Und sicher entstand die dramatische oder darstellende Dichtung erst nach Homer. Und sie begann zweifelsohne so roh, wie man es uns von ihrem Ursprung erzählt, nämlich dass sich die Bauern in der Erntezeit die Gesichter mit dem Bodensatz des Weins die Gesichter färbten und von ihren Wagen herab mit den Leuten scherzten. In welcher Schule also, wenn man doch nur die heroische Poesie unterrichtete, lernte Homer so lange Zeit vorher solche Kunst, so dass, auch als Griechenland in den höchsten Glanz der Philosophen, Historiker und Redner aufgestiegen war, kein anderer Poet mehr erschien, der ihn übertroffen hätte, auch nicht lange Zeit später ? Diese großen Schwierigkeiten können nur durch unsere oben entwickelten Prinzipien der Poesie aufgelöst werden. XXI. Wie die Prinzipien der verborgenen Wissenschaften in den ­Homerischen Mythen gefunden wurden

Damit die Menschen zu den erhabenen Metaphysiken und zu den entsprechend vernünftigen Morallehren kommen konnten, erlaubte die Vorsehung, dass sich die Dinge der Nationen folgendermaßen regelten: Wie die einzelnen Menschen von Natur aus zuerst fühlen und dann nachdenken, und zwar zuerst mit ihrer von Leidenschaften getrübten Seele, dann schließlich mit reinem Geist, so musste wohl auch das Menschengeschlecht zuerst die Modifikationen des Körpers fühlen und dann erst über diejenigen der Seele und schließlich über diejenigen des abstrakten Geistes nachdenken. Hier entdecken wir das wichtige Prinzip, dass jede Sprache, wie reich und gelehrt sie auch immer sein

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mag, der harten Notwendigkeit begegnet, die geistigen Dinge durch den Bezug auf körperliche Dinge zu erklären. Wir zeigen gleich auch die Ursache für die bis heute vergebliche Suche nach der Weisheit der theologischen Poeten. Denn diese Weisheit bemerkt man bei den Gelegenheiten und Möglichkeiten, die – zusammen mit der Ehrerbietung, die man natürlicherweise der Religion und dem Altertum entgegenbringt, je dunkler desto ehrwürdiger  – die Mythen den Philosophen gaben, sich zum Reflektieren und zum Erklären ihrer verborgenen Weisheiten zu erheben. So gaben die Philosophen den Mythen natürliche, moralische, metaphysische oder andere wissenschaftliche Interpretationen, je nachdem, wie ihnen ihr Bemühen oder ihre Laune die Phantasie erregte, so dass sie mit ihren gelehrten Allegorien selber Mythen erfanden. Diese gelehrten Bedeutungen verstanden aber die ersten Autoren der Mythen nicht und konnten sie auch wegen ihrer rohen und unwissenden Natur überhaupt nicht verstehen. Sie fassten im Gegenteil wegen dieser ihrer Natur die Mythen als wahre Erzählungen ihrer göttlichen und mensch­ lichen Angelegenheiten auf, wie wir oben [93] gesagt haben. So sind, um uns bei Beispielen nach unseren eigenen Prinzipien aufzuhalten, die folgenden Beispiele solche für natürliche Interpretation: Das Chaos war für die theologischen Poeten die Verwirrung der menschlichen Samen; dann gab dieses Wort, nachdem sich die eigentliche Idee verdunkelt hatte, den Philosophen Veranlassung, über die Verwirrung der Samen der universellen Natur nachzudenken, und somit die Gelegenheit, sie mit dem Namen Chaos zu erklären. So bedeutete Pan, der für die Poeten das gemischte Wesen vernünftiger und tierischer Menschen bedeutete, für die Philosophen die universelle Natur der Dinge. So gab Jupiter – der bei den Poeten der Himmel war, der Blitze sendet, weswegen es den erschreckten Giganten beim Hinschauen schien, sie sähen Jupiter, worauf sie sich unter den Bergen versteckten – dem Platon die willkommene Gelegenheit, über die Natur des Äthers nachzudenken, der überall eindringt und alles bewegt, und sein Herumtreiben an dem folgenden Motto festzumachen: Iovis omnia plena [»Jupiters ist voll die ganze Welt«].



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Als Beispiel für moralische Interpretation: Der Mythos vom ­Giganten Tityus, an dessen Leber und Herz ewig der Adler frisst, der bei den Poeten den furchtbaren und schreckenerregenden Aberglauben der Auspizien bedeutete, bezeichnete bei den Philosophen die Bisse des schuldigen Gewissens. Schließlich als Beispiele metaphysischer Interpretation: Der Heros der Poeten, der mit den Auspizien des Jupiters erzeugt und daher von den theologischen Poeten für göttlichen Ursprungs gehalten wurde, gab den Philosophen Gelegenheit und Anlass, von ihrem Heros zu denken und zu erklären, dass er durch die Meditation der ewigen Wahrheiten der Metaphysik göttlicher Natur geworden sei, durch die er dann natürlicherweise tugendhaft handeln würde. Doch Jupiter rief mit den ersten Blitzen nur einige wenige Giganten auf und regte nur wenige dazu an, sich aus ihrer Dumpfheit zur Humanität zu erheben. Diese wenigen wurden schließlich Herren über die vielen Dumpfen, die sich zu ihnen begaben in der Flucht vor dem Bösen, das ihnen die wilden Hobbes’schen Gewalttäter antaten, und die dann Knechte dieser Herren wurden. Daher wurden die aristokratischen Republiken »Regierungen der Wenigen« genannt, wie wir oben [139] gesagt haben. Dieser Jupiter verwandelte sich in jenen Jupiter, der den Wenigen die gute Eigenschaft gab, Philosophen zu werden. Und daher veränderte sich auch die eigentliche Bedeutung des Mottos: … pauci, quos aequus amavit Jupiter [»… die Wenigen, die der gerechte Jupiter liebte«]. Auf dieselbe Art und Weise wurde Urania, die für die Poeten die Beobachterin des Himmels war, welche die Auspizien las, um Hochzeiten nach dem Willen Jupiters zu feiern (weswegen der Sohn der Urania Hymenäus ist, der Gott der feierlichen Ehen), in den gelehrten Zeiten zur Astro­nomie, die, wie wir oben [210] gezeigt haben, die erste aller verborgenen Wissenschaften gewesen ist. Aus all diesen Gründen wurde angenommen, dass, wo Platon homerisierte, Homer platonisierte. Denn Platon bemühte sich immer darum, sich in Worten der volkstümlichen Weisheit auszudrücken, damit seine verborgene Philosophie den Gesetzen dienen konnte. Daher gingen aus seiner Akademie auch so viele Schüler hervor, wie es Heroen in Griechenland gab, wohingegen

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aus dem Portikus des Zeno nichts anderes hervorging als Geschwulst und Gepränge und aus dem Gärtchen des Epikur nur guter Geschmack und Feinheit. Und auf diesem Weg beweisen wir auch in anderen Mythen unser Argument, dass, wenn es auf der Welt keine Religionen gegeben hätte, es auf der Welt auch keine Philosophen gäbe. XXII. Art des Entstehens der ersten, der göttlichen Sprache bei den Nationen 303

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Ja ohne die Religionen wären unter den Menschen auch die Sprachen nicht entstanden; und zwar, wie wir oben [45] gesagt haben, weil die Menschen nicht in einer Nation zusammenkommen können, wenn sie nicht in dem gemeinsamen Gedanken einer Gottheit übereingekommen sind. Daher mussten die Sprachen bei allen Nationen notwendigerweise mit einer göttlichen Sprache beginnen. Dabei finden wir, wie wir im vorangegangenen Kapitel vonseiten der Ideen bewiesen haben, auch hier, vonseiten der Sprachen, dass sich die hebräische von der Sprache der Heiden unterscheidet und dass die hebräische Sprache als Sprache eines einzigen Gottes begann und das auch blieb. Die heidnischen Sprachen, obwohl auch sie von einem Gott ausgegangen sein mussten, haben sich dagegen so ungeheuerlich vervielfältigt, dass Varro allein bei den Stämmen Latiums gut dreißigtausend zählen kann. Es gibt kaum ebenso viele konventionelle Wörter in den heutigen großen Wörterbüchern. Die Art und Weise des Entstehens, das heißt die Natur, der Sprachen hat uns ungeheuer viel anstrengendes Nachdenken gekostet. Und, angefangen von Platons Kratylos, mit dem wir uns in einem anderen philosophischen Werk irrtümlicherweise herumgeschlagen haben 57, bis zu Wolfgang Latius, Julius Caesar Scaliger, Franciscus Sanctius58 und anderen konnten wir niemals eine befriedigende Erklärung hierfür finden, so dass Herr Jean   De antiquissima.   Franciscus Sanctius, Minerva seu de causis linguae latinae, Salamanca 1587.

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Leclerc 59 anlässlich unserer Ausführungen über ähnliche Dinge sagte, dass es nichts in der ganzen Philologie gäbe, was größere Zweifel und Schwierigkeiten enthalte. Daher bedurfte es einer ebenso unangenehmen, lästigen und schweren Anstrengung, uns unserer Natur zu entledigen, um in die Natur der Hobbes’schen, Grotius’schen und Pufendorf ’schen ersten Menschen einzudringen, die in der Tat ohne jegliche Sprache waren und aus denen doch die Sprachen der heidnischen Nationen hervorgegangen sind. Aber da wir ja dann doch in sie eingedrungen sind, entdeckten wir andere Prinzipien der Poesie und fanden, dass die ersten Nationen Nationen von Poeten gewesen sind. Und in diesen Prinzipien fanden wir die wahren Ursprünge der Sprachen. Wir entdeckten die Anfänge der Poesie darin, dass die ersten Menschen ohne jegliche Sprache sich zuerst wohl wie die Stummen mit stummen Gebärden oder mit Gegenständen ausdrücken mussten, die natürliche Beziehungen zu den Ideen haben sollten, die sie bezeichnen wollten, wie im folgenden Beispiel: Um das Jahr zu bezeichnen, als sie das Wort Jahr noch nicht vereinbart hatten, dessen sich dann die Astronomie bediente, um den ganzen Lauf der Sonne durch die Häuser des Zodiaks zu bezeichnen, mussten die Menschen es in ihrem bäurischen Zeitalter mit der auffälligsten Tatsache ausdrücken, die bei den Bauern natürlicherweise jedes Jahr anfällt und für die sie sich das ganze Jahr lang abmühen: Im Zeitalter der abergläubischen Völker – wie es heute noch die Amerikaner sind, die jede große Sache entsprechend ihrer Fassungskraft für Gott halten und Gott nennen – war diese Tatsache die Ernte, die eine absolut große Erfindung des menschlichen Fleißes ist. So haben sie mit einer Sichel oder mit der Armbewegung des Sichelns Zeichen gemacht, dass sie so viele Male geerntet haben, wie viele Jahre sie bezeichnen wollten. Und aus den ersten Menschen, die die Ernte erfunden hatten, machten sie – wie wir es oben (261–264) über die Poetischen Charaktere gesagt haben – den göttlichen Charakter 59

 Jean Leclerc war ein zeitgenössischer Gelehrter, Herausgeber der Bibliothèque ancienne et moderne, den Vico gern zitiert, weil er Positives über sein Werk schreibt, vgl. unten 477.

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des Saturn. Und so war Saturn bei den Lateinern in demselben Sinn Gott der Zeit, wie er von den Griechen Χρόνος genannt wurde. Doch die Sichel des Saturn erntet keine Menschenleben mehr, sondern sie erntet Ernten. Und seine Flügel bedeuten nicht, dass die Zeit fliegt. Solche moralischen Allegorien waren den ersten bäurischen Menschen völlig fremd, die einander nur ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten mitteilen wollten. Die Flügel waren Zeichen dafür, dass die Landwirtschaft und daher die bestellten Felder rechtmäßig den Heroen gehörten, denn diese allein hatten die Auspizien. Auf diese Weise erweist sich, dass alle poetischen Tropen – hier von den Erfindern der Dinge für die erfundenen Dinge, die zur Art der Metonymie gehören – aus der Natur der ersten Nationen entstanden sind und nicht aus der Laune einzelner poetisch begabter Menschen. XXIII. Art und Weise der ersten natürlichen oder natürlich bedeutenden Sprachen 306

Wenn man länger darüber man nachdenkt, findet man, dass diese Worte sehr gut für die falschen Ideen der Gründer der heidnischen Nationen geeignet waren, welche die dem Menschengeschlecht notwendigen oder nützlichen Dinge – wegen des oben [254 – 255] über die göttliche Poesie Gesagten – für Substanzen hielten, und zwar für beseelte und göttliche Substanzen. Daher stammten ja dann bei den späteren Poeten Jupiter vom donnernden Himmel, Saturn von der gesäten Erde, Ceres vom Getreide und so auch die dreißigtausend Götter Varros. Angesichts dieser falschen Hypothese oder Meinung kann aber doch jene Überlieferung wahr sein, die die Philologen gewöhnlich anführen, nämlich dass die ersten Wörter Bedeutungen nach der Natur haben. Und davon leiten wir einen weiteren Beweis für die Wahrheit der christlichen Religion ab; nämlich dass Adam, erleuchtet vom wahren Gott, den Dingen gemäß ihrer Natur Namen gab, dass er das aber nicht durch göttliche Substanzen tun konnte, denn er wusste ja, was wahre Gottheit ist, sondern durch natürliche



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Eigenschaften. Daher hat auch die Heilige Sprache niemals die wahre Gottheit repliziert und übertrifft damit gleichzeitig selbst die heroische Sprache Homers an Erhabenheit. XXIV. Art der Entstehung der zweiten, der heroischen Sprache der Nationen

In späteren Zeiten, als sich die falsche Meinung zerstreut hatte, dass sich die Nationen in ihrer Phantasie das Getreide als Gott vorstellten, und als zur Übertragung durch Metonymie geworden war, was für eine natürliche Vokabel gehalten worden war, hätten die heroischen Bauern durch Zufall dieselbe Gebärde so viele Male gemacht, um zuerst so viele Ähren, dann so viele Ernten, schließlich so viele Jahre zu bezeichnen. Denn die Ähren sind konkrete Dinge, die Ernten sind immer noch körperlich, aber das Jahr ist abstrakt. So erweisen sich alle poetischen Tropen vom Teil für das Ganze, die zur Art der Synekdoche gehören, als die ersten Worte der Nationen, welche die Dinge anfänglich nach ihren ersten und hauptsächlichen Teilen benannten. Da diese Dinge sich dann aber immer mehr zusammensetzten, gingen die Vokabeln von den Teilen automatisch zur Bezeichnung des Ganzen über, wie die Synekdoche vom »Gedeckten« [tectum »Dach«] für das Haus; denn bei den ersten Behausungen war für die Dachdeckung nichts anderes nötig als Heu oder Stroh [it. paglia], woher diese bei den Italienern immer noch pagliare genannt werden; genau wie im Zwölftafelgesetz, aus dem die Handlung des tignum iunctum [»des zusammengefügten Balkens«] stammt, der in den ersten Zeiten wohl nur der Balken gewesen ist, den man als Baumaterial für die Hütten brauchte; dann aber ging mit dem Ausbau menschlicher Bequemlichkeit das tignum automatisch dazu über, das ganze Baumaterial zu bezeichnen, das man für den Bau eines Gebäudes benötigte. Später, als bei den Nationen die konventionellen Worte gefunden waren, hätten die Poeten des dritten Zeitalters, die bei den Griechen – und wie wir es auch gleich [376 – 380] bei den Lateinern

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und aufgrund der Einheitlichkeit der Vernunft bei allen alten Nationen beobachten werden – gewiss vor den Prosaschriftstellern schrieben, dann wie Vergil gesagt: post aliquot mea regna videns mirabor aristas [»nach einigen Ähren (Jahren), wundere ich mich beim A ­ nblick meines Reiches«]. Das Beispiel zeigt, wie unglücklich sich die ersten lateinischen Stämme wegen der Beschränktheit ihrer Ideen und ihres Mangels an Worten noch ausdrückten. Schließlich hätten sie aber mit etwas mehr Geschick des Ausdrucks gesagt: tertia messis erat [»das war die dritte Ernte (Jahr)«], so wie zum Beispiel noch heute die Bauern auf dem Lande bei Florenz drei Jahre zählen und sagen: »Wir haben dreimal geerntet«. XXV. Wie sich die poetische Sprache gebildet hat, die auf uns gekommen ist 309

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Auf diese Weise begann sich aus der stummen Sprache der Hobbes’schen Tiermenschen, der Grotius’schen Einfältigen und der Pufendorf ’schen Einsamen, die Menschen zu werden begannen, allmählich die poetische Sprache aller alten Nationen zu bilden, vor den jetzigen Volkssprachen. Diese Sprache fand man bei den ersten Völkern nach dem langen Lauf der Jahrhunderte, jede einzeln in ihrem ganzen Korpus, so wie es auf uns gekommen ist, aus drei Teilen aus drei verschiedenen Arten zusammengesetzt, wie wir nun zeigen. Der erste Teil besteht aus den Charakteren der falschen Gottheiten, zu dem alle Göttermythen gehören. Die Theogonie Hesi­ ods, der sicher vor Homer lebte, ist ein Glossar dieser ersten Sprache Griechenlands, so wie die dreißigtausend Götter Varros ein Wörterbuch der ersten Sprache Latiums sind. Homer selbst nennt sie an insgesamt fünf oder sechs Stellen seiner beiden Gedichte, wo er eine alte Sprache Griechenlands erwähnt, die vor



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seinen Heroen gesprochen wurde, »Sprache der Götter«. Dieser Sprache entsprechen die Hieroglyphen der Ägypter, das heißt deren heilige Charaktere, die nur die Priester verstanden und die Tacitus, gleichsam unsere Gedanken vorausahnend, sermo patrius, also »heimische Sprache« dieser uralten Nation nennt. So mussten wohl bei den Ägyptern, Griechen und Lateinern diese göttlichen Worte von den theologischen Poeten erfunden worden sein, die diese drei Nationen im ersten poetischen Zeitalter gegründet haben. Der zweite Teil besteht aus heroischen Charakteren und enthält alle Heldenmythen, die im zweiten poetischen Zeitalter erfunden worden sind, dem Zeitalter der Heroen-Poeten, die vor Homer gelebt haben. Und während sich die göttliche Sprache und die heroische Sprache bildeten und artikulierte Worte entstanden und sich vermehrten, bildete sich allmählich auch der dritte Teil der dritten Art, der aus Worten mit natürlichen Bezie­hungen beziehungsweise Metaphern besteht, welche die Sachen selbst beschreiben und malen, die man ausdrücken will. Mit dieser Sprache fanden sich schon die griechischen Völker zu Zeiten Homers ausgestattet, aber mit dem Unterschied, den man auch heute noch in den Volkssprachen der Nationen beobachtet, nämlich dass über ein und dieselbe Sache ein Volk in Griechenland poetischer sprach als das andere. Aus allen hat Homer die besten Ausdrücke ausgewählt, um seine Gedichte zu weben. So ist es gekommen, dass fast alle Völker Griechenlands, da sie alle ihre heimischen Worte bei ihm wiederfanden, Homer als ihren Bürger beanspruchten. Ebenso musste es wohl Ennius mit den Sprachen Latiums halten, die noch viel Barbarisches hatten, so wie gewiss auch Dante Alighieri, als sich die Barbarei abzuschwächen begann, die Redeweise seiner Göttlichen Komödie aus allen Dialekten Italiens zusammensammelte. Wie also aus Griechenland kein größerer Dichter als Homer hervorging, so wurde auch in Italien kein erhabenerer Dichter geboren als Dante. Denn beide hatten das Glück, am Ende des poetischen Zeitalters beider Nationen als unvergleichliche Genies hervorzutreten.

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XXVI. Andere Prinzipien der poetischen Vernunft 313

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Und damit die hier behandelten Dinge, insbesondere die über Homer, sich auch als wahr herausstellen durch das Vertreiben allen Nebels, mit dem die Phantasie unsere Vernunft verdunkelt, müssen wir hier wieder etwas von jener Kraft anstrengen, die wir am Anfang [77] auf unsere gelehrten Naturen gerichtet haben, um in die Natur der Grotius’schen Einfältigen einzudringen. Denn dann wird klar, dass wir dem Homer nicht nur keinen Vorwurf machen, sondern dass er sich durch unsere metaphysischen Beweise aufgrund dieser Idee der Poetischen Vernunft verdienterweise als Vater und Fürst aller Poeten aller Zeiten erweist. Denn die Studien der Metaphysik und der Poesie sind natürlicherweise einander entgegengesetzt, da jene ja den Geist von den Vorurteilen der Kindheit reinigen soll, diese ihn dagegen ganz hineintaucht und hineinstürzt; jene sich dem Urteil der Sinne entgegenstellt, diese dagegen aus den Sinnen gerade ihre hauptsächliche Regel macht; jene die Phantasie schwächt, diese gerade eine starke Phantasie verlangt; jene darauf achtet, dass aus dem Geist nicht Körper wird, diese sich gerade an nichts anderem ergötzt als daran, dem Geist Körper zu geben. Daher sind die Gedanken jener ganz abstrakt, die Begriffe dieser dagegen sind umso schöner, je körperhafter sie gebildet sind. Und schließlich studiert man jene, damit die Gelehrten die Wahrheit der Dinge frei von jeglicher Leidenschaft erkennen und, weil sie frei sind von Leidenschaft, die Wahrheit der Dinge erkennen. Diese dagegen bemüht sich, die gewöhnlichen Menschen dazu zu bringen, mit Gemütern voller verwirrtester Gefühle gemäß der Wahrheit zu handeln, die ohne diese verwirrten Gefühle sicher nicht so handeln würden. Daher war auch in der ganzen Zeit danach, in allen uns bekannten Sprachen, niemals ein einziger Mensch gleichzeitig sowohl ein großer Metaphysiker als auch ein großer Dichter, also ein Dichter jener größten Art, von der Homer der Vater und Fürst ist. Daher wagte es Plutarch auch nicht, wo er die Parallele zwischen Cicero und Demosthenes zieht (worin Longin ihm folgt), Homer mit Ver-



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gil zu vergleichen, worin Longin dem Plutarch gefolgt ist, was immer dagegen auch Macrobius sagen möge. Und damit keiner uns entgegenhalte, dass Dante, der Vater und Fürst der toskanischen Dichter, doch auch ein großer Gelehrter in der Theologie gewesen sei, antworten wir, dass er – der ja im Zeitalter der poetischen Dichtungen Italiens gewirkt hat, die in Italiens größter Barbarei im neunten, zehnten, elften und zwölften Jahrhundert entstanden sind, was ja bei Vergil nicht der Fall ist – wenn er weder etwas von der Scholastik noch vom Lateinischen gewusst hätte, ein noch größerer Dichter geworden wäre und dass die toskanische Sprache dann vielleicht mit dem Homer vergleichbar gewesen wäre, was die lateinische niemals war. Und alles dies, was wir hier von den Prinzipien der Poetischen Vernunft gesagt haben, beweist, dass die Vorsehung die göttliche Meisterin der Anfänge der Poeten ist. Um die vielen anderen hierüber andernorts bemerkten Stellen beiseitezulassen, beweisen zwei Stellen in der Odyssee wunderbar, dass Homer in einer Zeit blühte, in der die Reflexion oder der reine Geist noch eine unbekannte Fähigkeit war: nämlich einmal, wo der Geist Telemachs »heilige Kraft«, das heißt verborgene Kraft, genannt wird und zum anderen der Geist des Antinous »geheime Kraft«. Überall denken Homers Heroen in ihrem Herzen, sie reflektieren in ihrem Herzen, und mehr als alle anderen berät sich der kluge Odysseus immer nur mit seinem Herzen. Daher sind uns jene poetischen Ausdrücke geblieben: movere, agitare, versare, volutare corde oder pectore curas, und im volkstümlichen Latein sagten sie bis zu den Zeiten des Plautus: cor sapere [»das Herz weiß«], wovon übriggeblieben sind: cordatus für klug, socors für töricht, vecors für verrückt. Und Scipio Nasica ist bis in die beste Zeit der Sprache hinein corculum senatus [»Herz des Senats«] genannt worden, weil er nach allgemeiner Meinung als der klügste betrachtet wurde. Die Denkweisen der griechischen Heroen und die Redeweisen der Lateiner stimmen notwendigerweise überein aufgrund des Wesenszugs, dass die Heroen nicht ohne Erschütterungen großer und gewalttätiger Leidenschaften dachten und daher glaubten, im Herzen zu denken. Das vermögen wir heute kaum

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mehr zu verstehen, vorstellen können wir es uns schon überhaupt nicht. Und doch ist dies ist ein wichtiger Teil der Natur der ersten noch völlig sprachlosen heidnischen Menschen, in denen wir – als wir diese Wissenschaft begannen – die Prinzipien des natürlichen Rechts der Völker suchten. Aber auch wir heute müssen uns noch mit poetischen Redeweisen durch Übertragungen von den Sinnen helfen, um die Arbeiten des reinen Geistes zu erklären: wie bei intelligere für »mit Wahrheit wissen«, woher Intellekt kommt, das ist »gut auswählen«, von legumi [»Gemüse«], daher legere [»lesen«]; sentire für »urteilen«, sententia »Urteil«, was gerade von sensus »Sinn« kommt; disserere für »sprechen oder argumentieren«, das ist »Samen [semi] auswerfen, um dann zu ernten«; und zum Schluss sapere [»schmecken], woher sapientia, das heißt »dem Gaumen Geschmack geben«. XXVII. Der wahre Ursprung der heroischen Impresen 317

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Wenn wir nun an dem gerade besprochenen Beispiel [307 – 308], wie die bäurischen Heroen in ihrem poetischen Zeitalter die Ernten für die Jahre zählten, den Faden unseres Gewebes wieder aufgreifen, so entdecken wir drei große Prinzipien. Das erste ist das Prinzip der heroischen Impresen, von dem die Kenntnis außerordentlich wichtiger Konsequenzen für die Wissenschaft vom natürlichen Recht der Völker abhängt. Daher muss allen, die über die ingeniösen Impresen geschrieben haben, aber ohne etwas von dieser neuen Wissenschaft zu wissen, die Kraft der Wahrheit aus der Feder strömen, dass sie »heroische Impresen« nennen, was die Ägypter »symbolische Sprache«, beziehungsweise Sprache durch Metaphern, Bilder oder Ähnlichkeiten nannten. Diese Sprache, so berichten auch sie, wurde in der Zeit ihrer Heroen gesprochen. Wir aber beweisen hier, dass sie allen in der Welt verstreuten heroischen Nationen gemeinsam gewesen ist. So sendet Skythiens König Idanthyrsus Darius dem Großen, der ihm durch Botschafter den Krieg erklärt hatte (so wie ihn heute



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der Perser dem Moskoviter erklären würde, die aneinander grenzen), als Antwort einen Frosch, eine Maus, einen Vogel, einen Pflug und einen Bogen, um mit all diesen Dingen zu sagen, dass ihm Darius entgegen dem Recht der Völker den Krieg erklärt habe: I. Weil der Idanthyrsus auf skythischer Erde geboren war, so wie Frösche aus der Erde hervorkommen, wo sie sich befinden; damit bezeichnete er seinen Ursprung aus jenem Land als so alt wie den Ursprung der Welt. Denn der Frosch des Idanthyrsus ist gerade einer von denen, von denen uns die theologischen Poeten berichteten, in die sich die Menschen verwandelt hätten zu der Zeit, als Latona Apollo und Diana nahe beim Wasser gebar, das vielleicht das Wasser der Sintflut bedeuten sollte. II. Dass er sich in Skythien sein Haus gebaut oder seinen Stamm gegründet hatte, so wie sich Mäuse Löcher in die Erde machen, wo sie geboren sind. III. Dass ihm die Herrschaft in Skythien gehörte, weil er dort die Auspizien hatte. Statt wie Idanthyrsus einen Vogel hätte ein heroischer König Griechenlands dem Darius zwei Flügel geschickt, ein lateinischer heroischer König hätte ihm geantwortet: auspicia esse sua [»dass ihm die Auspizien hier gehörten«]. IV. Dann, dass ihm auch das souveräne Eigentum über die Felder Skythiens gehörte, weil er dort die Erde mit dem Pflug bearbeitet hatte. V. Schließlich, dass er daher dort das souveräne Recht der Waffen hatte, um seine souveränen Rechte mit dem Bogen zu verteidigen. Mit einer solchen Sprache, mit der dieses heroische Volk der Tartarei spricht, spricht auch Etearchos, der König von Äthiopien. Etearchos, dem Kambyses ebenfalls durch Botschafter den Krieg (in dem der Kambyses dann umkam) erklärt hatte, die ihm seitens ihres Königs viele Goldgefäße angeboten hatten, für die er aber keinen natürlichen Gebrauch erkennen konnte, wies diese Geschenke zurück und befahl den Botschaftern, ihrem König zu berichten, was er ihnen zu sehen gäbe. Und er spannte einen großen Bogen und lud ihn mit einem schweren Pfeil, womit er

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bedeuten wollte, dass Kambyses ihm seine Kraft in Person hätte zeigen sollen, denn nicht das Gold, sondern Tugend und Kraft mache den ganzen Wert der Fürsten aus. Dies ließe sich auch in eine erhabene heroische Imprese übertragen, die auf der Erde umgestürzte Goldgefäße und einen kräftigen Arm darstellt, der mit einem großen Bogen einen Pfeil abschießt. Diese Imprese erklärt sich durch die Gegenstände selbst, so dass sie überhaupt keine Devise benötigt, die sie erläutert. Das ist die heroische Imprese in ihrer vollkommensten Form, so wie jenes stumme Sprechen mit Gebärden oder körperlichen Zeichen eine Erfindung des Ingeniums beim Mangel an konventionellen Worten ist, das man benötigt, um sich zum Beispiel bezüglich des Krieges auszudrücken. Dem Sprechen des Idanthyrsus und des Etearchos war das gewöhnliche Sprechen der Spartaner ähnlich, denen die Kenntnis der Schrift verboten war und die auch nach der Erfindung der konventionellen Worte und Schriften nur äußerst kurz sprachen, wie jeder weiß. Von den Spartanern sagen die Philologen gemeinhin, dass sie sehr viel von den heroischen Sitten Griechenlands bewahrt hätten. Wie jene Sitte, nach der ein Spartaner einem Fremden, der sich wunderte, dass Sparta nicht von einer Mauer umgeben war, wie es nach dem Zeugnis des Thukydides keine der heroischen Städte Griechenlands war, damit antwortete, dass er auf seine Brust deutete. Womit er, ohne eine menschliche Stimme verlauten zu lassen, dem Fremden den erhabenen Sinn zu verstehen gab, den jeder große heroische Poet vielleicht in die folgenden schönen konventionellen Wörter kleiden würde: »Die Mauern Spartas sind unsere Körper«. Mit gemalten Worten könnte dieser Sinn mit einer Reihe von heroischen Rüstungen als großartige heroische Imprese dargestellt werden, mit der Devise: Mauern von Sparta . Diese Imprese würde nicht nur bedeuten, dass der wahre Schutz der Stadt die starken Bürger sind, sondern auch, dass der sichere Felsen der Herrscher die Liebe ihrer Untertanen ist. Einem anderen Fremden, der wissen wollte, wie weit sich die Grenzen Spartas erstreckten, antwortete ein Spartaner, indem er einen Speer schleuderte: »Bis dahin, wohin dieser Speer fliegt«. Diese Worte



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hätte er sich sparen können, wenn er das nicht sowieso getan hat und sich ohne zu sprechen verständlich gemacht hat. Homer, Vergil, Dante, Ariost und Torquato hätten diesen Sinn in keine größeren Worte kleiden können als in die folgenden: Dove giugne quest'asta, è nostro impero. [»Bis dahin, wohin dieser Speer fliegt, erstreckt sich unser Reich«]. Und gemalt würde sich das in die folgende erhabene Imprese verwandeln: ein Arm, der einen Speer schleudert, mit der Devise: Grenzen von Sparta . Dieser natürlichen Sitte der alten Skythen, Äthiopier und – bei den Griechen – der schriftlosen Spartaner ist die Sitte der barbarischen Latiner nicht unähnlich, die in der römischen Geschichte erscheint: So war gewiss die Darstellung einer Hand, die mit einem Stock Köpfe von Mohn abschlägt, die andere, niedrigere Gräser überragen, eine heroische Imprese, mit der Tarquinius Superbus dem Sohn antwortete, der ihn um Rat gebeten hatte, was man in Gabi machen solle, das heißt ob er die Häupter der Stadt töten solle. Diese Geschichte stammt ent­ weder aus der ältesten Zeit der latinischen Stämme und wird mit dem Superbus verbunden, weil eine solche Antwort in Zeiten konventioneller Worte eher öffentlich als geheim ist, oder aber man sprach in den Zeiten des Superbus in Rom noch in hero­ ischen Charakteren. Das Gesagte beweist zur Genüge, dass in den heroischen Impresen die ganze poetische Vernunft enthalten ist, die sich insgesamt auf das Folgende reduziert: Dass Mythos und Ausdruck ein und dasselbe sind, das heißt eine den Poeten und den Malern gemeinsame Metapher, so dass ein Stummer, der sie nicht sagen kann, sie malen kann.

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XXVIII. Andere Prinzipien der Wissenschaft von den Wappen60 329

Das zweite Prinzip [317] ist dasjenige der Wissenschaft von den Wappen, die sich als die erste Sprache des natürlichen Rechts der Völker herausstellen, von der wir am Anfang [77] sagten, dass wir sie benötigen, um wissenschaftlich von seinen Anfängen zu sprechen. Die Sprache dieses Rechts war das berühmte fas gentium, mit dem die lateinischen Herolde mit lauter Stimme Jupiter als Zeugen bei Kriegserklärungen und Friedensschlüssen anriefen und schrien: Audi Jupiter, audi Fas [»Höre, Jupiter, höre, göttliches Recht«]. Das war eine feierliche und sichere Sprache aus manifesten und natürlichen Zeichen, wie es auch die Sprache aus heroischen Impresen ist, die eine Sprache der Waffen zum Ausdruck der Kriegserklärungen ist, mit denen Idanthyrsus dem Darius und Etearchos dem Kambyses antworteten. Daraus ergibt sich ganz von selbst und enthüllt sich der wahre Ursprung der Geschlechterwappen, die eine sichere bewaffnete Sprache der Familien waren. Diese Wappen entstanden vor den heraldischen, so wie die Namen der Sippen oder der Häuser vor denen der Städte entstanden und die der Städte vor denen der Kriege, in denen die Städte kämpften. So beobachten die neuesten Reisenden bei den Amerikanern, die noch in Familien organisiert sind, gewiss den Gebrauch von Hieroglyphen, mit denen sich die Familienoberhäupter voneinander unterscheiden. Daraus muss man schließen, dass dies auch ihr erster Gebrauch bei den alten Völkern gewesen ist.

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 Das über die Wissenschaft von den Wappen und den Medaillen Gesagte, Kap. 3, X XVIII –X X XI , ist eine der drei Stellen, auf die Vico in der SN44 als besonders gelungen hinweist (SN44, 28).



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XXIX. Neue Entdeckung des Ursprungs der Geschlechterwappen

Und wahrhaftig, hinsichtlich der Anfänge der Wissenschaft von den Wappen haben sich bisher einige Leute phantasiereich damit gebrüstet, dass die Adelswappen aus der Sitte der Turniere in Germanien hervorgegangen seien, die Liebe der edlen Damen durch die Kraft der Waffen zu gewinnen. Das bereitete ­a llerdings Männern mit scharfem Urteil Schwierigkeiten, unter anderem, weil jene Leute sich offensichtlich nicht über die barbarischen Zeiten einigen konnten, in denen diese Wappen entstanden sein sollen, und weil wilde und rohe Völker diesen Hero­ ismus der Romane wohl kaum verstehen konnten und weil sie nicht alle ihre Erscheinungen erklären und weil man, um einige zu erklären, der Vernunft Zwang antun muss. Die Teile, die das gesamte Gebäude dieser Wissenschaft bilden, sind: Schilde, Felder, Metalle, Farben, Waffen, Kronen, Mäntel, Friese, Schildhalter, die sich alle als gemalte Worte der heroischen Zeiten erweisen, um Herrschaftsrechte bezeichnen. Denn erstens war es nötig, dass die alten Sippen oder Häuser, die gentes maiores, die Namen der Länder angenommen haben, wo diese Sippen siedelten. Und dann waren sie durch die Genealogie ihrer Ahnen, die sie dort begraben hatten, als diese starben, abgesichert, dass sie die souveränen Herren dieser Länder waren durch die Auspizien, denen ihre Stammväter gefolgt waren, als sie die leeren Länder besetzten. Daher bedeuteten bei den Athenern terrigenae »erdgeboren« und bei den Römern ingenui »eingeboren« vor allem »adelig«. So nehmen auch in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten ein Großteil der vornehmsten Häuser und fast alle souveränen Häuser den Namen der Länder an, die sie beherrschten. Daher findet man bei den Spaniern den Ausdruck casa solariega, das heißt »Haus von ihrem solaro oder Feld«, um »adeliges Haus« zu sagen. Wegen solcher auf sicherer Erde gegründeten Häuser mit solchen Sippen oder Gentes nannte man bei den Lateinern die Adeligen gentiles, weil nur sie zuerst, wie es auch Livius erzählt, die gens hatten. Und bei den Italienern, Franzosen und Spaniern bedeutet gentiluomo im Übrigen immer

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noch »Adeliger«. Und wegen der Strenge des heraldischen Gesetzes dürfen auch keine anderen als nur die Adeligen Wappen erstellen. Und daher nannte man die Soldaten immer noch genti d’arme, weil zuerst nur die Adeligen [gentiles] das Recht auf Waffen hatten. Daher stand auch später bei uns in den Königlichen Diplomen noch immer miles [»Soldat«] für »Adeliger«. Wegen alledem nennt man im Schild, der die Grundlage der Geschlechterwappen ist, das, was sich dort ausbreitet, das »Feld«. Dieses ist eigentlich »gepflügtes Land«, und dann bedeutete es »von Feldlagern und Schlachten besetztes Land«. Denn die alten Stämme, welche die ersten Länder mit dem Pflug in Saatfelder verwandelt hatten, machten aus diesen Feldern Waffenfelder, als sie diese gegen die gottlosen Getreide- oder Ernteräuber verteidigten und als Herren diese Diebe töteten. Und die Wappen bedeuteten weiterhin gleichermaßen die Namen der vornehmen Häuser und die Waffentaten, und die Schilde nennt man daher auch Wappen [»Waffen«], was sie zur Verteidigung ja auch sind, und »Embleme des Adels«. Nach diesen Prinzipien versteht man natürlich leicht die Bedeutung der Metalle und der Farben, durch die sich die Adelswappen unterscheiden. Das Gold ist das vornehmste der Metalle, aber eben jenes, das zuerst das Gold der Poeten bedeutete, nämlich das Getreide. So blieb es bei den Römern Sitte, tapferen Soldaten als Prämie ein bestimmtes Maß Dinkel [farro] zu geben, der das erste römischen Getreide war. Und so ist die vornehmste aller Farben das Blau, weil es die Farbe des Himmels ist, von dem die ersten Auspizien genommen wurden, mit denen die ersten Länder der Welt besetzt wurden. Aus diesen entstanden in den barbarischen Jahrhunderten die oben mit drei Federn geschmückten königlichen Insignien, und daher stammten die Federn auf den Helmzierden adeliger Insignien, und die Farbe Blau bedeutet die »von Gott erhaltene souveräne Herrschaft«. Die Rechen, die man in großer Zahl auf Schilden der Adeligen findet, bedeuten, dass deren Ahnen in ihren Ländern Ackerbau betrieben haben. Und die Pelzwerke, die ebenfalls häufige Adelsembleme sind, bedeuten die Furchen der gepflügten Erde,



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aus denen die bewaffneten Männer des Kadmos hervorgehen, die er mit den Zähnen der getöteten Schlange säte, das heißt mit krummen harten Hölzern, mit denen die Erde vor der Erfindung des Gebrauchs des Eisens gepflügt wurde und die mit einer schönen Metapher »Zähne der großen Schlange« der Erde genannt wurden; und das Krumme wurde urbum, von urbs [»Stadt«], bei den Lateinern genannt. Die Bündel und die Bänder – so jedenfalls ist es von anderen früher gesagt worden – sind die Kleider der Feinde gewesen, mit ­denen die siegreichen Soldaten ihre Schilde beluden zum Zeichen ihrer Tapferkeit. Bei den Römern pflegten die Soldaten, die sich in Waffentaten ausgezeichnet hatten, die ihnen von ihren Befehlshabern zugeteilten Prämien auf den Schilden wegzutragen. Die am meisten begehrten Prämien waren die reinen, also nicht mit Eisen bewehrten Speere, wie es diejenigen gewesen sind, die die Helden trugen, bevor sie den Gebrauch des Eisens kannten, wie auch die Barbaren mit solchen an der Spitze abgebrannten, tödlich spitzen Speeren aus Holz bewaffnet waren, die die römischen Historiker praeustas sudes [»vorne gebrannte Speere«] nennen und mit denen man in der Tat auch die Amerikaner bei ihrer Entdeckung bewaffnet fand. Bei den Griechen sind Minerva, Pallas und Bellona mit Speeren bewaffnet, bei den Lateinern werden Juno und Mars quirini genannt, von quiris, »Speer«, und Romulus Quirinus, wie auch bei Homer und Vergil die Heroen mit Speeren bewaffnet sind. Und der Speer blieb auch die eigentliche Waffe Spartas, des heroischen Stammes Griechenlands. Und in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten waren nur die Waffenleute, also die Adeligen, mit Speeren bewaffnet. Diese Sitte hält sich heute nur noch in ihren Turnieren. Diese Speere müssen die Pfähle sein, die man oft auf Adelswappen sieht. Daher müssen alle mit solchen Kleidern und Waffen beladenen Schilde die wahren Wappen der Heroen des sprachlosen Zeitalters gewesen sein, die mit diesen Gegenständen sprachen. Von den anderen Farben ist es vernünftiger anzunehmen, dass die Germanen sie seit ihren uralten Anfängen hatten. Von diesen, wie auch von den Galliern und Briten, erzählt die römische

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Geschichte, dass die Fürsten dieser Nationen, vielleicht um in den Schlachten sichtbar zu sein, mit bemalten Schilden und mit Kleidern in verschiedenen Farben kämpften. Wenn sie in solchen Kleidern im Triumph vorgeführt wurden, gewährten sie dem römi­schen Volk den schönsten Anblick. Die Mäntel der Wappen mussten bei den Helden das sein, was die Römer personae nannten – nicht von personare, wie die volkstümlichen Etymologen glauben, vom Tönen der Stimme des Schauspielers im Inneren der Maske, damit diese vom ganzen Theater gehört wird, weswegen die Maske persona genannt worden wäre (dieser Ursprung passt aber nicht für die kleinen Theater der ja noch kleinen Völker), sondern von personari –, das, wie wir anderswo gefunden haben,61 bedeutet »sich mit den Fellen erlegter Tiere kleiden«. So ist ja Herkules mit dem Fell des Löwen bekleidet dargestellt worden, und auch andere Helden bei Homer und Vergil tragen Felle von Bären und von Tigern. Die gefleckten Felle der letztgenannten Tiere veränderten die Souveräne dann vielleicht in Zobelfelle, die mit schwarzen Schwänzchen gekennzeichnet waren, so wie die adeligen Römer ihre weißen Togen mit ähnlichen Purpurschwänzchen kennzeichneten, welche sie von der Form her clavi [»Nägel«] nannten. Und von diesen »Personen« wurden vielleicht in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten die großen Herren Personen genannt. Diese Pelze oder heroischen Mäntel waren Embleme des Adels, die bedeuteten, dass nur die Heroen das Recht der Waffen und folglich der Jagd auf Tiere hatten, welche die erste Schule der zukünftigen Kriege mit Menschen war, wie sich in Deutschland auch heute noch die heroische Sitte hält, dass die Jagd allein ein Vorrecht der Adeligen ist. Daher sind bei Homer die Heroen oft von Hunden umgeben, die die Übersetzer mensales [»Tischgenossen«] nennen und die Jagdhunde gewesen sein müssen, die das Fleisch des Wilds auf den heroischen Tischen besorgt hatten. Die bisher behandelten Dinge können begründen, warum in den letzten barbarischen Zeiten die Schilde anscheinend mit Leder bedeckt waren, deren äußere Ränder Kartuschen bilden, 61

  De const. phil., X X , 69.



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die oben, unten und auf den Seiten einen schön geschmückten Abschluss machen, und warum man am unteren Teil von Statuen verstorbener Adeliger zwei Hunde findet, die deren Adel kundtun. In der Zeit der Familien konnte man sich als Halterin von ­Geschlechterwappen auch die Fama vorstellen, von der, wie wir oben gezeigt haben, die Familien Familien genannt wurden, die aus famuli bestanden. Diese sind Homers κήρικες*, clientes genannt, was cluentes, vom alten cluer, »Glanz der Waffen«, bedeutet, woher sich die Heroen incliti »berühmt« nennen. Daher hießen die Klienten gewissermaßen »glänzend durch den Ruhm ihrer incliti«. Diesem lateinischen Wort cluer, dem das griechische κλἐος »Ruhm« ähnelt, von dem Herkules ῞Ηρας κλέος, »Ruhm der Juno«, genannt wurde, entspricht Klio, die Muse, die mit der Trompete die Geschichten der Heroen besingt, woher das Verb cluere »von Waffen blitzen« stammt; diesem Ursprung verdankt sicher auch der clypeus, der Schild, seinen Namen. Schließlich, als die ersten heroischen Unruhen stattfanden, in denen sich die Klienten als Plebs aufrührerisch erhoben und sich die Adligen in Ständen zusammentaten, auf denen die ersten Städte errichtet wurden, die dann Botschafter finden mussten, um die Plebejer zurückrufen, wurden Ornamente und Kronen auf die Adelswappen hinzugefügt. Denn in dieser Zeit der Einfachheit schickten sie Herolde, den Kopf umwunden und die Schultern bedeckt mit heiligen Kräutern, dem Eisenkraut (mit dem sie sich aus Aberglauben wappneten, denn es war vielleicht *  κήρικες. Wir korrigieren hier, was wir oben [140, 290] mit dem zweiten

Buchstaben gemacht haben und mit υ geschrieben haben, weil wir meinten, dass es sich von κυρία ableitet, das bei den Griechen curia bedeutet und was nach unseren Prinzipien die famuli der Heroen bezeichnet, die das Recht der Waffen im Parlament haben. Aber dieses Wort kommt daher, dass die famuli von ihren Heroen, hier in ihrer Funktion als Priester, durch Zeichen mit Stöcken bewegt wurden, als sie noch stumm waren, und diese Rute wurde κηρικεῖον genannt, was Homer Szepter nennt. Es ist der Stab des Merkur. Und in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten durften nur die Adeligen Stöcke tragen, eine Sitte, die sich heute noch in den picciole terre hält.

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ein Kraut, das zu berühren nur den Adeligen erlaubt war), im Glauben, mit diesen Kräutern versehen wären sie sicher vor den bösen Feinden. Dieses Kraut behielt den Namen des »heiligen, des unverletzlichen Krautes«, durch dessen Heiligkeit die Mauern geheiligt waren, wie es die ersten Einfriedungen der kleinen Städte waren, und wie die Hecken, die man in Amerika fand. Von diesen Mauern pflückte man die Kräuter, so wie die römischen Herolde das Eisenkraut vom Felsen des Kapitols pflückten. Und wegen des heiligen Krauts wurden auch die Botschafter heilig genannt, die mit Eisenkraut bedeckt waren, und heilig die Gesetze, die diese Botschafter brachten. Die Botschafter statteten außerdem den Heroldsstab mit Flügeln aus, und mit Flügeln schmückten sie ihre Schläfen und Füße – so wie dann Merkur beschrieben wird, der Gott der Botschaften –, um zu zeigen, dass sie von den Adeligen geschickt wurden, d ­ eren Auguren sie waren. Und daher erhielten die Wappen ­K ronen mit Strahlen, welche die Seiten und die Ecken von Blättern sind, und belaubte Zweige, die Zweige der Fürsten sind, und Helmdecken, das heißt Laubwerke, welche von der Helmzier fallen und die Schultern der Wappen bedecken, und Federn auf diesen Helmzierden. XXX. Weitere Ursprünge der militärischen Insignien

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Auf diesen Anfängen entwickelten sich die militärischen Insignien, die eine sichere bewaffnete Sprache der Städte sind, mit der sich, da sie keine gemeinsame Sprache hatten, die Nationen untereinander in den wichtigsten Angelegenheiten des natürlichen Rechts der Völker verständigten, als da sind Kriege, Bündnisse und Handel. Daher malte man auf die römischen Insignien Adler, mit deren Auspizien Romulus den Ort einnahm, wo er Rom gründete. Die Adler, seit den Zeiten Homers auf griechischen Insignien, wurden zu einem Körper mit zwei Häuptern vereint, nachdem Konstantin die beiden Rom zu Häuptern des Imperium Romanum gemacht hatte. Auf den Insignien der Ägypter erschienen die



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Adler in der Darstellung des Osiris als ein menschlicher Körper mit einem Adlerkopf. Solchermaßen geleitet kann man auch das Staunen über die vielen Löwen auflösen, die so viele vornehme Häuser Europas, so viele Städte, so viele Völker und Nationen in ihren Wappen führen. Und was einen noch mehr staunen lässt: die einen sind blau, andere golden, wieder andere grün, andere schwarz. Und wie man dies nicht aus der natürlichen Geschichte verstehen kann, so erzählen sie uns auch nur schwer eine zivile Geschichte, außer dass sie Länder bedeuten, die entweder mit den Auspizien des Himmels genommen wurden oder die der Landwirtschaft zugeführt wurden, woher dann die drei Farben stammen: schwarz vom Säen, grün vom Wachsen, golden vom Einsammeln der Ernte. Die ersten Städte wurden in großer Zahl are [»Altäre«] genannt, wie man in der Alten Geographie beobachten kann, wegen der gemeinsamen Idee der »Festung«. Ari bedeutet in der syrischen Sprache »Löwe«, woher Syrien auch Aramia oder Aramea genannt wurde und, wie Cellarius 62 bemerkt, alle Städte Aram genannt wurden mit der Hinzufügung des je Eigenen, entweder davor oder dahinter. Und noch heute werden in Transsilvanien die Städte are de cicoli, »Altäre der Sizilianer«, genannt, die von einem uralten hunnischen Stamm bewohnt werden, der ganz aus Adligen besteht, die zusammen mit zwei anderen Stämmen aus Ungarn und Sachsen eine Nation bilden. Und im Herzen Afrikas sind durch Sallust die are der Philaeni-Brüder berühmt geworden, wie die Grenzen zwischen dem Karthagischen Reich und dem Kyrenäischen Königreich genannt wurden. Von einem ähnlichen ari, dem syrischen Löwen, wurde vielleicht Mars bei den Griechen ῎Αρης genannt. Und wie aram bei den Syrern der allgemeine Name für die Städte war, so wurden sie bei den Lateinern allgemein urbs genannt, von dem das alte Wort urbum stammt, die »Krümmung des Pflugs«, des aratrum, in dessen erster Silben das Wort ara enthalten ist. Wenn also Herkules den Löwen tötete und dessen Fell trug, dann musste der von Her62

 Christophorus Cellarius, Notitia orbis antiqui seu geographia plenior, Leipzig 1701.

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kules getötete feuerspeiende Löwe, der den Nemeischen Wald in Brand setzte, in heroischer Sprache in einem Teil Griechenlands zweifelsohne das bedeuten, was in einem anderen Teil die Schlangen bedeuteten, die Herkules als Kind in der Wiege (also am Anfang des Heroismus) tötete, und in einem wieder anderen Teil die Hydra und in Hesperien den Drachen. Denn der Drache aus Hesperien speit Flammen, die Hydra wird mit Feuer getötet, so wie der Nemeische Löwe mit seinen Flammen den Wald anzündet. Diese Mythen bedeuten alle dieselbe Art von Arbeit verschiedener griechischer Herkulesse, nämlich dass der Wald der Erde mit Feuer dem Ackerbau zugeführt wird, so wie auch heute immer noch unsere Bauern die Wälder, die sie anbauen wollen, mit Feuer roden. Mit dieser uralten Sprache der Waffen kann man die öffentlichen Wappen erklären, auf denen Drachen prangen, stachlig und düster gemalt, wie es der große Wald der Erde war, immer wachsam wie die Hydra, aus deren abgeschlagenem Haupt immer mehr Häupter hervorsprießen und die weiterlebt, den Bauch gefurcht mit den Furchen des Kadmos. Von diesen Wappen ist dasjenige des Staates von Mailand, des berühmten Königssitzes der Goten, das schönste, das Wappen des uradligen Hauses Visconti: ein Drache, der ein Kind verschlingt. Dies ist der Python, welcher der große unbebaute Wald der Griechen ist, und vielleicht der Orkus der Poeten, der die Menschen mit tierischem Leben verschlingt, die ohne sichere Nachkommen keine Erinnerung von sich hinterlassen, der Python, der dann von Apollo getötet worden ist, dem Verewiger der Namen, wie wir oben [289] sagten. Und die Drachen sind auf den Wappen ausgestattet mit Flügeln, die, wie wir so oft [276] gesagt haben, Insignien von Heroen waren.



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Heroische Ursprünge des Hohen Ordens vom Goldenen Vlies und des Königlichen Wappens von Frankreich 63

Mit zwei feuerspeienden Drachen schmückte das Königshaus von Spanien zwei Helmzierden, nachdem es sich im Hause Österreich von den Herzögen von Burgund ableitete. Diese sind zwei Halter des Hohen Ordens vom Goldenen Vlies, welches an einer Kette aus Feuersteinen hängt, die Feuer sprühen und alle an zwei Feuereisen anstoßen. So ist der Orden vom Goldenen Vlies eine heroische Medaille aus der Zeit des skythischen Herkules, als man im Norden mit heroischen Impresen sprach, so wie wir oben [319–324] gezeigt haben, dass Idanthyrsus, der König Skythiens, dem Großen Darius, der ihm den Krieg erklärt hatte, mit fünf Gegenständen oder heroischen Wörtern antwortete. Diese heroische Imprese zeigt, dass die ersten Gründer des Kaiserlichen Hauses aus Skandinavien herabgekommen sind; und dass sie seit dieser Zeit souveräne Herren von Ländern mit Ackerbau waren und das freie Recht hatten, Herden von den Fremden zu rauben, die, wie wir ebenfalls oben (281 – 282) gezeigt haben, zuerst ihre ewigen Feinde gewesen sind, und dass folglich das Kaiserliche Haus Österreich eine Zeitspanne von viertausend Jahren souveräner Herrschaft genießt. Wenn nun aber einer weiterhin sagt, dass dieses Wappen von einem Herzog von Burgund* aus der griechischen Sage von Jason übernommen worden sei, so antworten wir mit der Frage, woher denn den Japanern die griechischen Sagen zugekommen sein sollen, die den Thron ihres Kaisers überall mit Drachen schmü* Auf dieser Imprese gründete, nach Chiflet, Philipp der Gute den Or-

den in Brügge am 10. Januar des Jahres 1429, das heißt vor dreihundert Jahren, als Flandern noch barbarisch war und die pompösen gelehrten Impresen überhaupt nicht verstehen konnte, umso mehr als die gelehrten Geister sich immer noch abmühen, die Allegorie zu finden, so dass man bis jetzt gezweifelt hat, ob die Imprese auf das Goldene Vlies von Jason anspielt, wie Pietrasanta feststellt.

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 Dieser Abschnitt ist durch die kleine Schriftgröße der Überschrift und die fehlende Numerierung als Exkurs markiert.

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cken, und woher den Chinesen, die bis vor zweihundert Jahren ja für Fremde undurchdringliche Grenzen hatten und deren Kaiser aber einen Ritterorden mit dem Mantel des Drachens gegründet hatten ? Wenn man in diesem Sinne weiterdenkt, dann mussten die drei Frösche des Idanthyrsus, von denen wir oben [320] gehandelt haben, von drei Fürsten der Franken in ihre Wappen gebracht worden sein, als diese mit anderen Nationen aus Skandinavien herabkamen. Sie haben sich dann in einem Körper vereinigt, der das Wappen von Frankreich ist. Da die Frösche ganz roh gezeichnet waren, wurden sie für drei Kröten gehalten, die sich in drei goldene Lilien verwandelten, welche sich zur Schale hin in zwei Blätter teilen, entgegen der Natur einer solchen oder ­irgendeiner anderen Blume, denn sie stellen die Hinterfüße der Frösche dar, so wie die oberen drei Blätter die zwei Vorderfüße und den Kopf der Frösche darstellen. Daher erklärt das Wappen von Frankreich, dass dieses Königshaus seit Idanthyrsus, also seit der Geburt Apollos und Dianas bei den Griechen, bei der sich ja Menschen in Frösche verwandelten, wie wir oben gezeigt h ­ aben, viertausend Jahre ununterbrochener Souveränität genießt. XXXI. Weitere Prinzipien der Wissenschaft von den Medaillen

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Das dritte Prinzip [317] ist dasjenige der Wissenschaft von den Medaillen, die Hieroglyphen oder heroische Impresen gewesen sind, mit denen die Heroen ihre Geschichten auf bewahrten. Vielleicht hießen sie bei den Lateinern monete, weil sie die Lebenden an das Alter der Verstorbenen gemahnen sollten [monere »ermahnen«]. Und bei den Griechen wurde die Münze νόμισμα genannt, von welchem Wort Aristoteles, gleichsam ratend, gesagt hat, es käme von νόμος, »Gesetz«, als wären die Münzen die Sprache der ersten Gesetze. Daher (um noch mehr Beispiele für die Dinge zu bringen, über die wir hier sprechen) kann man so viele Medaillen der griechischen Städte sehen, auf denen ein Altar oder eine Schlange oder ein Drache aufgeprägt ist oder ein



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Dreifuß, auf dem die Poeten oder heroischen Wahrsager ihre Orakel verkündeten. Denn die heroischen Königreiche standen ja alle, wie wir in der alten römischen Geschichte sahen, unter dem Gesetz der Auspizien. Und aus dem Griechischen übertrug Horaz das Motto, mit dem er die Dreifüße bezeichnet: virorum praemia fortium [»Preise tapferer Männer«]. XXXII. Mit der Sprache der Waffen werden die Prinzipien des natürlichen Rechts der Völker erklärt, das die römischen Juristen behandeln

Diese Sprache der Waffen entspricht der gewöhnlichen Sitte der alten Nationen, bewaffnet in den Versammlungen zusammenzukommen, und zwar nur die Heroen, die ja allein die Waffengewalt hatten, wie wir es oben [156 – 157] bei den in Italien, in Griechenland und in Asien verstreuten Cureten gezeigt haben; und von den Germanen seiner Zeit erzählt es uns Tacitus. Nun, da allein die Heroen die Gewalt über die Waffen hatten, hatten auch sie allein die Gewalt über die Gesetze, die sie ganz mit ihrem Aberglauben durchdrungen hatten. Folglich waren die Reli­gionen im Inneren ganz kriegerisch, und die Kriege draußen waren ganz von Religion durchdrungen. Daher führten sie für die Götter ihres Vaterlands Kriege, in denen die besiegten Nationen ihre öffentlichen Religionen verloren mit dem Verlust ihrer Götter, welche die Herolde bei der Kriegserklärung vorher mit lauter Stimme zum Herauskommen aufgefordert hatten. Von einer solchen Sitte der heroischen Völker ist vielleicht die Sitte der christlichen Völker, die Glocken der besiegten Städte zur ersten Kriegsbeute zu nehmen, ein Überbleibsel. Infolgedessen konnten die besiegten Völker keine feierlichen zivi­ len Hochzeiten mehr feiern, denn mit dem Verlust der Götter hatten sie auch die öffentlichen Auspizien verloren, mit denen man feierliche zivile Hochzeiten feierte. Und so wurden nur natürliche Ehen geschlossen, da sie ja keine väterliche Macht mehr hatten, wie sie die römischen Bürger hatten. Und tatsächlich schwand in den Provinzen jene zyklopische Gewalt, die die hero­

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ischen Väter über das Leben und das Gut ihrer Familienangehörigen ausübten. Mit dem Verlust der öffentlichen Auspizien – welche sie für den Willen der Götter hielten, den diese dem Stand der Heroen übertragen hatten und der folglich den Willen dieses Standes souverän und absolut frei machte – mit dem Verlust der öffentlichen Auspizien also verloren die besiegten Völker die Gewalt über die Gesetze und die Waffen, so dass sie nicht mehr bewaffnet in den Versammlungen zusammenkommen durften. Daher verloren sie auch jenes bewaffnete Eigentum, das die Römer »quiritisch« nannten. Und da sie im Leben kein Patrimonium mehr hatten, hinterließen sie auch mit dem Tod keine Erbschaft mehr, sondern nur das, was man im römischen Recht bonorum possessio nennt, das heißt eine natürliche Hinterlassenschaft oder die Gesamtheit aller Güter des Verstorbenen. Die bonorum possessio war aber, da sie dem heroischen Recht der Völker, welche die gens hatten, unbekannt war, folglich auch dem Zwölftafelgesetz unbekannt, so dass sie außerhalb der Ordnung von den Prätoren verwaltet wurde. Aus diesen Gründen verloren die besiegten Völker auch das Recht der Fessel, des Nexums, das in den Zeiten der Nationen, die noch keine Lautsprache hatten, ein heroisches Sinnbild war, das bedeutete, dass das private Eigentum, das dem Volk mit einem eigenen Nexum gehörte, abhängig war von einem souveränen öffentlichen Eigentum eigenen Rechts, eigener Herrschaft und eigener Freiheit. Nachdem die konventionellen Wörter erfunden worden waren, ging das dann in die folgendermaßen gefasste Formel der Vindikation über: ajo hunc fundum meum esse ex jure Quiritium [»ich erkläre hiermit, dass dieses Grundstück meines ist nach quiritischem Recht«]. Fundus, in der eigent­lichen Bedeutung dieses Namens des zivilen Rechts, der die wahre Grundlage, der fundus, aller anderen ist, heißt, wie wir oben [154] gezeigt haben: »was im Eigentum der souveränen Macht ist«. Mit der Formel ex iure Quiritium – entweder in der Übergabe eines Grundstücks mit der feierlichen Übergabe des Nexums oder mit der im Vindizieren gemachten Übergabe des Nexums – wollten sie sagen, dass sie durch die Kraft und das Recht des eminenten Eigentums, des



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dominium eminens, das zuerst nur die Väter, dann das ganze versammelte römische Volk über die gesamte Ausdehnung des römischen Bodens hatte, das zivile Eigentum des Grundstücks hatten, das sie übergaben oder vindizierten. Dieses nannten sie praedia mit der ursprünglichen Bedeutung dieses Ausdrucks im zivilen Recht, nämlich dass die Bürger durch das Nexum des Grundstücks praedes rei publicae sind, das heißt mit den immobilen Sachen dem öffentlichen A ­ erarium verpflichtet. Denn aus den ersten hero­ischen Beuten bildete sich ja die Plebs der ersten Städte, wie wir oben [199, 227] gezeigt haben. Das ist der Grund, wie wir später [369] sehen werden, für die Abgaben oder Zölle und darüber hin­aus, warum die Servituten den praedia auferlegt wurden, die von Natur aus unterworfen waren und daher iura praediorum genannt wurden, aber nicht den fundi, die von Natur aus im freien Eigentum der Souveräne sind. Daher gibt es von Natur aus drei und nicht mehr Arten von Herren, mit drei verschiedenen Arten von Eigentum von drei verschiedenen Arten von Dingen: nämlich die nützlichen Herren, das heißt die Herren der aus den Gütern erhaltenen Erträge; die direkten Herren, das heißt die Herren der aus den Fundi erhaltenen Güter; und die Souveräne, also die Herren der Fundi, die diese zivile Welt der Nationen aufrechterhalten. Und alles dies wegen der Autorität, die von Gott den zivilen Mächten anvertraut worden ist, das Eigentum zu regieren. So war das Nexum das heroische Sinnbild für die öffentliche Freiheit bei allen alten Nationen, wie wir in der Mythologie des Herkules im letzten Kapitel [464 – 469] zeigen werden. Denn in der poetischen Zeit konnte man ebenso gut sagen »Volk seines Nexums« wie dann populus suae potestatis, das heißt Volk, dem die δύναμις oder potestas eigen ist, daher δυναστεία , »Volk mit eigener Souveränität«. So wenn der römische Herold mit der Formel des Tarquinius Priscus das Nexum stipuliert: est ne populus Collatinus suae potestatis ? [»handelt das Volk von Collatia aus eigener Macht ?«] und die Bevollmächtigten von Collatia antworten: est. Mit dem Verlust des heroischen Sinnbilds des Nexums verloren die besiegten Völker aber die gens und daher auch die Sippe, welche Teil der gens ist, denn jede Familie ist ja Teil des Hauses, aus dem sie stammt. Nun, da die besiegten Völ-

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ker aber nur natürliche Ehen schlossen und nur natürliche Väter ihrer Kinder waren und nur natürliche Herren der Felder mit der Art des Eigentums, das im römischen Recht »bonitarisch« heißt, blieben sie auch nur cognati, das heißt durchs Blut verwandt und das heißt allein durch die Natur verbunden. Wenn die Provinzen die Götter verloren, verloren sie auch das fas deorum, das heißt die heilige Sprache, mit der die nuncupari vota [»die öffentlichen Eide«] gesprochen wurden, und ­folglich die öffentliche Sprache, die sie immer religiös auffassten. In solcher Sprache verfasste Tarquinius Priscus die Formel der Übergabe von Collatia, um es auf lateinisch zu sagen, nuncupatis verbis, also mit feierlichen Worten der Stipulation und der acceptilatio [Quittierung], wie man bei Livius lesen kann. So waren die besiegten Völker des Rechts der heroischen Gentes beraubt, das im Kapitel des Zwölftafelgesetztes mit dem Titel: qui nexum ­faciet mancipiumque, uti lingua nuncupassit, ita jus esto [»wenn jemand ein Nexum oder ein Mancipium macht, so soll, was seine Zunge gesagt hat, Recht sein«] enthalten ist. So war in den heroischen Zeiten nicht einmal Verkauf und Kauf, der wichtigste der Verträge, durch guten Glauben gesichert. Denn im Akt der Übergabe des Nexums, mit dem man feierlich das verkaufte Grundstück übergab, musste man die dupla [doppelte Bezahlung] stipulieren, damit die Überlassung auch geleistet würde, wie das auch bei der Übergabe der Städte zu beachten war, damit die Verabredungen der Übergabe beachtetet würden. Wegen all dieser Verluste konnten die Provinzen aber keine feierlichen und zivilen Verpflichtungen mittels der Stipulation mehr eingehen. Da die römischen Gesetze im Inneren weder das bloße Faktum des Besitzes sicherten (wie es allerdings die Prätoren außerhalb der Ordnung durch Verbote tun konnten) noch die Verträge, die nicht durch den Akt der Übergabe des Nexums stipuliert waren, so sicherten sie auch draußen durch das Recht der Siege weder die Besitztümer noch die Verträge der Provinzen; die Prätoren unterstützten diese allerdings aus Gründen der Billigkeit. Von hier und nicht anderswoher kommen die Verträge, die die römischen Juristen iuris gentium nennen, und Ulpian fügt mit dem Gewicht seiner Worte hinzu: humanarum, »aus dem Recht



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der menschlichen Völker«. Aber von Interpreten mit ganz entgegengesetzten Ideen ist gesagt worden, dass die Römer die Verträge von freien fremden Nationen erhalten hätten, die alle barbarisch waren. Die griechische Nation, der gegenüber die Römer selbst sich für barbarisch hielten, wie wir oben [117 – 118] gezeigt haben, war eine ihnen unterworfene Nation, mit der das römische Volk aber nicht durch ein gemeinsames Recht verbunden war. Aber die Römer hielten es durch das Recht der Siege doch so, dass die Verträge mit den zu Provinzen gewordenen Nationen allein aufgrund der Einhaltung der Wahrheit, aufgrund des guten Glaubens und aufgrund natürlicher Billigkeit Bestand hatten. Solchermaßen erlaubte die Vorsehung, welche die römischen Juristen als die Ordnerin des natürlichen Rechts der Völker definierten, die Regelung der heidnischen Dinge: So wie aus ihrem göttlichen Recht das heroische Recht durch das Recht der Auspizien entstanden war – allerdings mit der Unterscheidung der beiden Naturen von Adeligen und Plebejern, wie wir [117 – 118] ausführlich gezeigt haben –, so würde aus dem heroischen Recht das Recht der menschlichen Völker entstehen, durch welches dann schließlich das siegreiche römische Volk von den besiegten Provinzen zur Humanität erzogen würde, da ja dann das größte Korpus des Römischen Rechts aus dem in den Provinzedikten gesprochenen Recht bestand, gerade so wie die Heroenväter ihrerseits in den heroischen Kämpfen von der Plebs zu gerechteren Gesetzen erzogen worden waren. Darüber haben wir andernorts bemerkt,64 dass alle tribunarischen Gesetze oder Plebiszite voller natürlicher aequitas sind und dass – da die römische Plebs den Heroismus ablehnte, auf den die Väter so stolz waren, und sie mit den Vätern im zivilem Recht gleich sein wollte (woher dann das Volk Gesetze befahl, die der natürlichen aequitas eher entsprachen) – das siegreiche römische Volk die besiegten Völker des Heroismus beraubte und die Heroen rechtlich mit den Plebejern gleichstellte. Das ist das natürliche Recht, und daraus entstand bei den Nationen ein dem ganzen Menschengeschlecht gemeinsames Recht. 64

  De uno, CL .

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Aber die römischen Fürsten, die in der Monarchie die einzigen sein wollten, die sich in ihrer zivilen Natur unterschieden, wollten schließlich in ihrer Person den ganzen römischen Hero­ ismus vereinigen, das heißt die Auspizien Roms und, mit den Auspizien, die Gewalt der Waffen und der Gesetze, das Glück und den Ruhm der großen Taten und den ganzen Namen und die römische gens, und zwar beginnend mit Kaiser Tiberius, mit dem streng genommen die römische Monarchie begann. Und so nahmen sie den Römern das Recht der heroischen Gentes, in der Volksversammlung mit dem Titel der »Quiriten« zusammenzukommen, mit dem sie sich als »Herren der Waffen« titulierten, ja sie konfiszierten sogar die Waffen. Dies ist die wahre lex regia, mit der sich das römische Volk seiner Souveränität ent­ ledigte und dem römischen Fürsten sein Nexum übergab. Und da das römische Privatrecht nun der Waffen beraubt war, wurde es wirklich nudum ius Quiritium, ein nackter Name, eine bloße Formalität, die fast keine wirklichen und nützlichen Wirkungen mehr hatte, denn die römischen Fürsten wollten die römischen Bürger mit den Menschen der Provinzen gleichstellen. Daher begannen sie, das natürliche Recht der menschlichen Völker in der weiten Welt zu verbreiten, in der sich der römische Fürst rector humani generis nannte – und im volkstümlichen Latein der Zeit des Augustus und des voll entfalteten römischen Glanzes sagte man orbis terrarum [Erdkreis] für das Imperium Romanum – mit demselben Ziel, mit dem auch die christlichen Fürsten gern den Titel des »Milden« hören. Das ist der politische Grund, weswegen die Monarchie der menschlichen Natur am meisten entspricht und daher die haltbarste Form der Staaten ist. So wurde die Weisheit der Völker allmählich darauf vorbereitet, die Weisheit der Philosophen zu empfangen, gerade mittels des Volkes, das die Philosophen zuvor als profan [profanum vulgus] verachtet und von ihrer eitlen Weisheit der Gottheit entfernt gehalten hatten. Denn infolge der natürlichen Freiheit, die die Römer den Provinzen beließen, wurden diese nämlich gerade so, wie es die römische Plebs vor dem Zwölftafelgesetz gewesen war. Daher ließen sie ihnen alle ihre Arten, Eigentum zu erwerben, und nannten sie »aus natürlichem Recht der Völker«, mit Aus-



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nahme der kriegerischen Besatzung und der Usukapion. Dies sind alles Arten, Eigentum zu erwerben, die getrennt bei jedem Volk entstanden sind. Das bemerkt und konzediert von allen anderen auch Grotius. Und von der Okkupation und der Usukapion haben wir es oben [141] gezeigt. Aus all diesen Gründen kann man schließen, dass die Römer mit der Ausweitung ihrer Siege das siegreiche römische Recht über die besiegten Völker verbreiteten und sie an ihr heroisches Recht des Nexums fesselten, mit dem sie die von ihnen unterworfene Welt fest an ihr Imperium gebunden hielten. Da sieht man wieder einmal, mit wie viel Wissenschaft Grotius das Recht der Völker versteht, von dem die römischen Juristen sprechen, die er in allem tadelt, wo doch eher er es verdient, getadelt zu werden: Denn dieses Recht war die einzige, höchste und wirklich souveräne Wissenschaft jenes unsterblichen Volkes über die Gerechtigkeit des Krieges und des Friedens ! Und mit wie viel Wissenschaft ansonsten die Interpreten den Terminus »ziviles Recht« verstehen, wenn sie sagen, dass die Hochzeiten, die patria potestas, die Blutsverwandtschaften [agnationes], die Erbschaften, die Manzipationen, die Usukapionen und die Stipulationen nur den römischen Bürgern eigen seien !

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XXXIII. Die Sprache der Waffen ist zum Verständnis der barbarischen ­Geschichte notwendig

Mit der Sprache bewaffneter Personen  – wie es in den ersten heroischen Zeiten die mit dem Fell getöteter Tiere bedeckten Heroen waren und in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten die in Eisen eingeschlossenen Adligen, welche gerade Waffenleute waren – werden auch Fakten der mythischen Geschichte verständlich, die bisher ganz unmöglich erschienen. So erzählt diese beispielsweise von den maßlosen Kräften der Heroen wie des Ajax, des Turms der Griechen. Nicht weniger unglaublich ist Horatius Cocles, der allein ein ganzes Heer von Etruskern auf der Brücke aufgehalten haben soll. In den wiedergekehrten

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Drittes Kapitel

barbarischen Zeiten berichtet sie über die wunderbaren Kräfte und Körper der verschiedenen Rolande oder Orlandi und anderer französischer Paladine und erzählt die Geschichte des Königreichs Neapel, wo vierzig heroische Guiskarde ganze Heere von Sarazenen schlugen. Denn man sagte, dass diese Fürsten der Städte ganz allein Krieg führten wie heute nur die Monarchen. Und ihre Familien oder die Scharen von Vasallen gerieten ganz aus dem Blick im Glanz der Namen und der Schilde ihrer ruhmreichen Patrone, deren »Klienten« sie sich nannten, also, wie wir oben [339] gezeigt haben, gleichsam cluenti, das heißt »glänzend«, wie bei beleuchteten opaken, nicht selber leuchtenden Körpern. Davon blieb im öffentlichen römischen Recht, dass die Provinzen, in denen die Römer  – wie wir oben [358] gesagt haben – das Recht der heroischen Klientelen verbreiteten, im Krieg mit dem römischen Namen verschmolzen und sich im Glanze der römischen Glorie verloren. Sie wurden daher socii – Genossen – der Römer genannt, so wie die Vasallen des Odysseus oder die Vasallen des Äneas, wie sie uns Vergil beschreibt, wenn Äneas sie zur Abfahrt versammelt, socii dieser Helden genannt wurden. Und im römischen Privatrecht sind die Sklaven und die Kinder der Familien unter den Personen ihrer Väter und Herren versteckt. Daher sind diese die wirklichen zivilen poetischen Charaktere von Personen oder Masken, wie Gattungen, die viele Menschen in der Eigenschaft der gens oder des Hauses umfassen, so wie, wenn man darüber nachdenkt, auch die Geschlechterwappen in Wirklichkeit nichts anderes sind. Als später die individuellen Poeten fähig waren, die Gattungen von Sitten zu verstehen, machten sie daraus moralische poetische Charaktere, um das Volk zu belehren, das unfähig war, diese Sitten durch philosophische Gattungsbegriffe zu verstehen. Wenn die Sache so steht, folgen daraus fünf wichtige Wahrheiten: 361

I.

Dass die Poesie die Skizze war, in der sich die Metaphysik abzuzeichnen begann, die die Königin der verborgenen Wissenschaften ist. Es ist also weit von der Wahrheit entfernt, anzunehmen, dass die Poesie von der verborgenen Wissenschaft herkommt !



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II.

Dass die poetischen Fiktionen dasselbe sind wie die allgemeinen Wahrheiten der Philosophen, mit dem einzigen Unterschied, dass diese abstrakt und jene in Bilder gekleidet sind. Daher muss man darauf aufmerksam machen, wie bösartig es ist, wenn einer absichtlich, und wie ignorant, wenn einer ohne Absicht immer schreibt, dass den Philosophen die Lektion der Poeten nicht passe. Wo doch die Wahrheit der Poeten in gewisser Weise wahrer ist als die Wahrheit der Historiker, denn es ist Wahrheit in ihrer höchsten Form, und die Wahrheit der Historiker ist oft nur durch Laune, Notwendigkeit oder Zufall wahr.

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Dass die Bedeutungen der Charaktere beider Gattungen in Wahrheit poetische Allegorien sind oder Ausdrücke, in denen verschiedene Menschen, Sitten oder Fakten in einem Bild enthalten sind.

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Dass, wenn die durch Kunst gemachten poetischen Charaktere so gebraucht werden, es von der Natur vorgegeben sein muss, dass die ersten Nationen, die unfähig sind, die Gattungen der Dinge zu erfassen, natürlicherweise dazu neigen, diese durch poetische Charaktere zu begreifen, wie wir es ebenfalls oben [261–263] bewiesen haben.

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Und schließlich bestätigt sich, was wir anderswo gesagt haben,65 nämlich dass das alte römische Recht ein ernstes dramatisches Gedicht gewesen ist. Und in Übereinstimmung mit der Wissenschaft, die wir hier entwerfen, sagen wir, dass die dramatische Poesie niemals in die Theater aufgestiegen wäre, wenn sie nicht zuerst auf der Straße aufgeführt worden wäre.

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III.

IV.

V.

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  De uno, CLX X XII .

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XXXIV. Vom dritten Teil der poetischen Sprache, also von den ­konventionellen Redeweisen 366

Während sich die beiden Hauptteile der poetischen Sprache bilden, einerseits die göttlichen Charaktere, andererseits die hero­ ischen Charaktere, bildete sich allmählich auch ihr dritter Teil, aus konventionellen Redeweisen, so wie sich allmählich auch die lautlichen Wörter bildeten. Ihr ganzes Korpus besteht aus aktiven Metaphern, lebendigen Bildern, evidenten Ähnlichkeiten, passenden Vergleichen, Ausdrücken von Wirkungen für Ursachen, von Teilen für Ganze, feinen Umschreibungen, besonderen Attributen und geeigneten Abschweifungen. Dies sind alles Weisen, wie sich der verständlich machen kann, der die Sachen nicht mit den eigentlichen Wörtern benennen kann, beziehungsweise der mit einem anderen spricht, mit dem er keine vereinbarten Wörter teilt, um sich verständlich zu machen. Überdies sind Abschweifungen den einfachen Frauen und den Bauern eigen, die das Eigentliche der Dinge nicht sagen können, das sie sagen wollen, und die nicht weglassen können, was nicht zu ihrer Rede gehört. Aber die häufigen Ellipsen oder unvollständigen Redeweisen, die Pleonasmen oder überflüssigen Worte, die Onomatopöien oder Lautnachahmungen, die Wortverkürzungen, die man immer noch in der italienischen Dichtung benutzt, die zusammengesetzten Wörter, die man in der deutschen Sprache sehr häufig findet, alle diese Dinge erscheinen dem, der gründlich darüber nachdenkt, als Ausdrucksweisen, die der Kindheit der Sprache eigen sind. So kann man die alten Redeweisen, deren sich die Dichter bedienen, in der lateinischen Sprache in den Redeweisen der Komödien finden und in den feierlichen Formeln und den alten Gesetzen, die ohne Zweifel mitten aus der lateinischen Volkssprache genommen sind. Verzerrtes Reden ist ein natürlicher Effekt bei dem, der unfähig oder gehindert ist, sich richtig auszudrücken, wie man es bei Zornigen oder ängstlich Ehrfürchtigen beobachten kann, die zwar das Subjekt und das Objekt eines Satzes aussprechen, aber die Verben auslassen. Und sicher ist die deutsche Sprache umständlicher als die lateinische,



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so wie die lateinische umständlicher ist als die griechische. Damit korrigieren wir das, was wir anderswo hierüber geschrieben haben.66 XXXV. Entdeckung der gemeinsamen Anfänge aller artikulierten Sprachen

Durch diesen von uns entdeckten Ursprung der Poesie entdecken wir auch die allen artikulierten Sprachen gemeinsamen Anfänge mit der folgenden Beobachtung der Menschheit: Die in die Fülle der Sprachen hineingeborenen Kinder beginnen, kaum geboren, menschliche Stimmen zu hören, und, obwohl sie mit sehr weichen und höchst dehnbaren Fibern ausgestattet sind, beginnen sie doch erst damit, die Wörter einsilbig auszusprechen, und zwar mit großer Mühe. Nun, wie viel größer muss man sich erst die Mühe bei der Aussprache vorstellen, welche die ersten Hobbes’schen, Grotius’schen und Pufendorf ’schen Menschen hatten und noch mehr die Menschen aus den entmenschten Geschlechtern von Kain vor der Sintflut und von Ham und Japhet nach der Sintflut, ja sogar Adam, der den Dingen ihren Namen gab. Denn sie hatten alle harte Stimm-Organe, da sie ja robuste Körper hatten. Diese Annahme bestätigen die Interjektionen und die Pronomina. Die Interjektionen sind die ersten artikulierten Wörter beim Ausbruch gewaltiger Leidenschaften, der Furcht oder der Freude, des Schmerzes oder des Zorns. Die Pronomina sind die ersten Wörter zur Bezeichnung menschlicher Gedanken, welche die Menschen noch nicht mit konventionellen Wörtern benennen konnten. Die Wörter beider Arten sind fast alle einsilbig in allen Sprachen. Sicher ist die deutsche Sprache, ohne Zweifel eine Ursprache, ganz aus einsilbigen Wurzeln hervorgegangen. Und hier entsteht auch wie von selbst ein Beweis für das hohe Alter der Heiligen Sprache, deren Korpus, unverändert seit ihren ersten Anfängen, fast ganz aus einsilbigen oder zweisilbigen Wörtern besteht. 66

  De const. phil., XII , xiv, 28.

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XXXVI. Entdeckung der wahren Ursachen der lateinischen Sprache und, nach ihrem Beispiel, aller anderen Sprachen67 368

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Da Einfachheit und Rohheit die Eigenart von Elementen ist, ist die Rauheit und Einfachheit der Wörter, die zuerst in den Nationen entstehen, ein großer Beweis für die Ursprünglichkeit von Sprachen. Daher erweisen sich hier die Ursachen der lateinischen Sprache als völlig verschieden von denen, die Julius Caesar Scaliger sich so ingeniös ausgedacht hat.68 Die Anfänge sind auch gänzlich anders als jene, die Franciscus Sanctius so scharfsinnig dargelegt hat.69 Und dasselbe muss man auch von den Anfängen des Griechischen sagen, die sich Platon im Kraty­ los ausgedacht hat, in dessen Nachfolge wir in einem anderen Werk geirrt haben,70 wie wir jetzt offen zugeben. Wir finden nämlich alle Wörter der lateinischen Sprache einsilbig und von rauer Aussprache, und sie stammen alle aus Latium, so dass sie in ihrem Ursprung überhaupt nichts fremden Sprachen verdanken. Es war der blitzende Himmel, den man in der großen Zahl der Dinge der Natur zuerst bemerkte. Bevor man übereinkam, ihn mit einem eigenen Wort zu benennen, wurde er hoc genannt: Aspice hoc sublime cadens quem omnes invocant Iovem [»Schau auf DIES erhaben Untergehende, das alle Jupiter nennen«]. Und das blieb auch so in der alten Volkssprache, wie man sie aus den Komödien kennt: luciscit hoc jam [»DIES wird schon hell«], hier hoc in der Bedeutung von »Himmel«. Dann begann man, seinen eigentlichen Namen zu vereinbaren, mit dem einsilbigen Wort cel, das seit der Barbarei Italiens bei den italienischen Dichtern als ciel geblieben ist. Der Vater und König der Götter und der Menschen wird durch Onomatopöie vom Krachen des Donners bei den Lateinern Ious genannt und bei den Griechen vom Pfeifen  Kap. 3, X X XVI ist die zweite Stelle aus der SN25, die Vico in SN44 als gelungen hervorhebt (SN44, 33). 68  Julius Caesar Scaliger, De causis linguae latinae, Lyon 1540. 69  S anctius, Minerva. 70  D e antiquissima. 67



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des Blitzes Ζεύς. Das auffälligste der geschaffenen Dinge heißt sol und das angenehmste und aufweckende lux, welches im Maskulin zuerst »Tag« bedeutete wie in hoc luci für hoc die, und sein Gegenteil nox. Die auffälligsten Teile des Menschen waren os oris (für das Gesicht und den Mund), os ossis, dens, frons, cor, crus, pes, calx, cus. Und notwendigerweise hat man am Anfang auch pen penis gesagt, wie auch ren renis. Die Hand war wegen dem, was wir hier sagen werden, anfangs man. Die dem Menschen am meisten eigenen Dinge: vox, mens, spons spontis, woher mea, tua sponte »der Wille« kommt. Die notwendigsten Dinge, fons, das ewige Wasser, frux für die Äpfel, das dann für die Ernte genommen wurde; glans, nux. Das Feuer war fax oder auch lux, wie es noch heute von den Weibern in Neapel genannt wird, die zu abergläubisch sind, um fuoco sagen. Das Brot hieß wegen des hier Gesagten sicher anfangs pan. Die einfachste und roheste der gekochten Speisen lens, die roheste zusammengesetzte Speise puls, ein Lebensmittel aus Mehl und Käse. Die erste Jahreszeit ver. Über Blitz und Donner hinaus, der wegen unserer Prinzipien ious hieß, gab es nubs nubis, nix, ros, was am Anfang wohl »Regen« bedeutet hat. Die Köstlichkeiten des goldenen Zeitalters lac, mel und das Gegenteil davon fel. Die Teile, die den Organismus der Pflanzen bilden, stirps, tralx, flos, frons, frux, woher fructus und frutex und daher frui und schließlich fruticari kommt. Die nützlichsten Tiere bos, sus, vielleicht hieß ovis bei den Lateinern ja auch zuerst einsilbig ous aufgrund dessen, was wir hier sagen. Die erste Tugend der ganz wilden und stolzen Männer wurde mit einer göttlichen Vokabel Mars genannt, woher vielleicht mas gesagt wurde. Die Gattung aller Handwerke ars. Der Stoff aller Hirtenkunst grex, aller Landwirtschaft rus und ihr berühmtestes Werkzeug falx, die Umzäunung der Felder seps, gemeinsam mit dem Griechischen σῆψ. Das Haus wurde mit göttlicher Vokabel Lar genannt, das hauptsächliche Material der Baukunst trabs, calx und der Schiff baukunst trabs, pix, und vom Kalk und vom Pech die Gattung glus, woher gluten und glutinum. Kinder sagen res für alles. Das erste Getreide far, das erste Gewürz sal. Das erste Küchengerät vas, woher convasare kommt, ein militärischer Terminus für »zusammenpacken«, und unter seinen notwendigs-

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ten Teilen lanx. Das erste Metall aes, die erste Münze as, und as, »das Ganze«, ist geteilt pars. Der roheste der Götter Pan. Der private Lohn der Tugend laus, die einfachste der Götterehrungen thus. Das erste der Gefühle spes, das letzte der furchtbaren Dinge mors. Styx begründet die Gesellschaft der Götter, das tiefe Wasser oder das Wasser der Quellen, auf die jene feierlich schworen. Die Unebenheit der Orte, die von den Einfältigen gefühlt werden konnte, mons und scrobs. Der Stein, aus dessen Anschlagen die ersten Helden das Feuer hervorbrachten, cos, die Gattung jedweden Schmutzes fex. Der Anfang von Gesellschaft war vir, was bei den Römern immer »Ehemann«, »Priester« und »Magistrat« bedeutete. Dos, womit die Heroen die Frauen kauften, und es blieb bei den alten Römern die feierliche Ehe, die sie coemptione et farre schlossen. Des Weiteren gens, urbs, arx, rex, dux. Das Gebet der in die Asyle Geflohenen, prex, woher precium, was zuerst die Kost für die Flüchtlinge für ihre Landarbeit gewesen ist. Ops wurde mit göttlicher Vokabel die Hilfe genannt, die die Heroen den auf ihre Länder Geflohenen gewährten, weswegen sie optimi in der Zeit der Familien und optimates in den ersten Republiken genannt wurden. Merx, woher mercari, und der erste Kommerz war der Handel mit Feldern. Denn man nehme einen Zustand von einfachen und rohen Menschen an, die auf nichts anderes achten als auf das Lebensnotwendige, und die einen haben viele Felder und die anderen haben keine, so werden die ersten Kommerze zwischen diesen also die census gewesen sein, wie es der census von Servius Tullius gewesen ist. Und mit der Wiederkehr der barbarischen Zeiten, nachdem die Felder wegen der Zerstörungen der Kriege unbebaut geblieben waren und nachdem die Eroberer Herren weiter Ländereien geworden waren, die Menge aber ohne Lebensunterhalt geblieben war, waren die ersten Verträge, die wieder aufkamen, die emphyteusis, die census und die Lehen, die man rustici nennt. Pax, woher pacisci und pactum kommt. Außerdem fraus, vis, nex, fur, sons, lis, die alle Stoff für Urteile sind, und ius, fas, mos, lex, der ganze Gegenstand der Jurisprudenz. Fis, daher fidis und fides, vielleicht vom Pfeifen des Blitzes, bedeutet »Schnur«, »Kraft«, »Gewalt« und »Macht«. Sors »der Zufall«, fors »die Nützlichkeit«, woher fors Fortuna »das gute



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Gelingen«, und das alte fortus für bonus »nützlich«. Trux ist der zyklopischen Wildheit eigen. Crux, eine Art uralter Strafe und der Galgen, war ein »unglücklich« genannter Baum, zu dem Horatius von den Duumviren verurteilt wurde. Praes praedis, woher praeda und praedari und praedium kommen, ist die Haftung bei der nichtbeweglichen Sache, denn aufgrund unserer Prinzipien hatten die Plebejer zuerst den Besitz der Felder, von denen die Adeligen die Grundherren waren. Und der Reichtum wurde mit göttlicher Vokabel Dis genannt, denn der erste Reichtum kam aus den bebauten Feldern, und Dis war der Gott der tiefen Erde, der dann als Gott der Unterwelt verstanden wurde, das heißt als Pluto, der Ceres oder Proserpina raubt, die Saat des Korns; und Ceres kehrt dann mit den Ernten wieder zurück, um den Himmel zu sehen. So bildeten die Reichen, die die Herren des Grund und Bodens im Zustand der Familien waren und sich dann in den Republiken vereinten, allmählich das eminente Eigentum, das die zivilen Mächte vom Grund und Boden, den fundi, ihrer Staaten haben, aufgrund dessen sie bei den öffentlichen Notwendigkeiten über alles verfügen dürfen, was aus den fundi kommt, in den fundi gründet und mit den fundi sich aufrechterhält: Das ist das bis jetzt mit jenem Dis unter der Erde verborgene Prinzip der Steuern, der Tribute und der Stipendien. Der Gebrauch des eminenten Eigentums ist die souveräne Macht, den Untertanen Aktivitäten für öffentliche Notwendigkeiten anzuordnen und über deren Leben im Frieden mit den Strafen und im Krieg mit dem Kriegsdienst zu verfügen. Und schließlich, um diesen Gedanken zu beenden, vas vadis, genauso bei den Griechen βάς und bei den Deutschen Was, daher Wassus und Wassallus, die persönliche Gefolgschaft, welche Verpflichtung vadimonium genannt wird. Was beweist, dass die Lehen bei den Griechen, Lateinern und Deutschen vor den Sprachen entstanden sind. Aufgrund all dieser Ursprünge wird verständlich, dass die Sub­ stantive am Anfang alle einsilbig gewesen sein mussten, und vor allem diejenigen, bei denen der Rectus genau so ist wie der Obliquus, wie vestis von vest, hostis von host, sudis von sud und so ous ovis, zuerst »das Schaf«, wie Ious Iovis, so fis fidis, die »Schnur« oder »Kraft«, und quir »der Speer«, woher die quirites bei den

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Lateinern sowie, von χείρ »Hand«, die curetes bei den Griechen kommen. Man sieht also, dass die lateinische Sprache in ihren Anfängen der deutschen sehr ähnlich gewesen ist. So war bene, canis, donum, filum, finis, solus, verum, vinum, unus und ebenso panis, manus bei den frühen Lateinern sicher ben, can, don, fil, fin, sol, ver, vin, un und auf dieselbe Art pan und man, wie man diese Wörter ja seit den zweiten barbarischen Zeiten solchermaßen abgekürzt immer noch bei den italienischen Poeten findet. Bei den Verben dann bedeutet sum alles Sein, sto ist Verb der Substanz, und das Sein und die Substanz sind die höchsten Gattungen der Dinge. Fio war wahrscheinlich am Anfang fo, dessen Analoga fis, fit sind, blieb als fo bei den Italienern erhalten und hat sich wahrscheinlich anfangs eher fio angehört, was »leiden« ist, als facio. Das Verb for ist jenes Sprechen, von dem fas gentium kommt, was ja der ganze Gegenstand dieses Kapitels ist. Das Verb flo betrifft das Leben, woher vielleicht flos, gleichsam »Atem der Pflanze«, gesagt wurde. No, weil aufgrund unserer Prinzipien das erste natare [»Schwimmen«] die Bewegungen der Kinder auf der Erde gewesen sind, aus denen sie stark und groß hervorgingen, denn mit der Erweiterung des Durchmessers der Muskeln einerseits und ihrer Zusammenziehung andererseits nahm bei diesen Anstrengungen das Fleisch mehr Nahrung aus dem Salpeter des Kots auf, in dem sie sich wälzten, wodurch sie Giganten wurden; dann wurde no ins Meer übertragen, denn bei den Lateinern und bei den anderen Nationen wohnte man später am Meeresufer. Die Partikeln sind sicher nicht nur in der lateinischen Sprache, sondern in allen Sprachen einsilbig, und von diesen hauptsächlich die Präpositionen, welche signifikante Elemente der Wörter sind, die sie zusammensetzen, wie a, ab, e, ex, de, di, ad, in, sub, super, se, prae, ob, am, circum. Aufgrund dieser Anfänge oder Wurzeln wäre es besser, von heute an die natürlichen und wahren Ursachen auch der anderen Sprachen – wie wir es bei der lateinischen gemacht haben – nach dem Vorbild der lateinischen zu erklären.



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XXXVII. Entdeckung der Anfänge des Gesangs und der Verse

Auf diesen Ursprung der Lautsprachen stützen sich viele weitere wichtige Prinzipien. Das erste ist, dass der Gesang und die Verse aus der Notwendigkeit der menschlichen Natur entstanden sind und nicht aus der Laune des Vergnügens. Weil man sie sich aus der Laune des Vergnügens entstanden vorgestellt hat, ist so viel Läppisches gesagt worden, auch von sehr ernsthaften Philosophen wie Patrizi und anderen, dass wir uns schämen, sie hier zu referieren. Denn die Stummen bringen die Vokale natürlicherweise singend hervor, und auch die Stotterer stoßen die artikulierten Laute mit schwieriger Aussprache singend aus; und die Chinesen, die nicht mehr als ungefähr dreihundert Wörter haben, welche sie durch die verschiedenen Aussprachen vervielfachen, sprechen diese mit einem gewissen Singen aus. Dann kann man beobachten, dass die erste Art von Versen bei Juden, Griechen und Lateinern gleichermaßen heroisch entstanden ist, auf dem Prinzip unsicherer Versmaße. Von der hebrä­ ischen Sprache bestätigt der Heilige Hieronymus, dass das Buch Hiob, das älter ist als die Geschichte, die Moses geschrieben hat, in heroischen Versen geschrieben ist. So erweist sich sowohl die Wahrheit dieses heiligen Buches als auch das Alter der Heiligen Sprache. Für die griechische und die lateinische Sprache fallen zwei volkstümliche gelehrte Einsichten in die Augen, die bisher nicht bemerkt und nicht gebraucht worden sind wegen des Vorherrschens anderer Prinzipien der Poesie, die von Platon zuerst niedergelegt, von Aristoteles bestätigt und dann von allen anderen Schriftstellern der poetischen Theorie wie ­Patrizi, ­Mazzoni,71 Scaliger, Castelvetro ausgeschmückt worden sind. Die eine Einsicht ist, dass die griechischen Völker, als sie die Hilfe Apollos gegen den Python erflehten, den ersten heroischen 71

  Iacopo Mazzoni, Della difesa della Commedia di Dante, Cesena 1687/88. Dieser kommt nun zu den drei vorher [253] kritisierten Autoren hinzu.

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Vers sprachen und, weil ihnen die Zunge gelähmt war von der Furcht, ihn langsam oder spondäisch schlugen: ἰὼ παιάν, ἰὼ παιάν, ἰὼ παιάν. Und dann, als sie den siegreichen Gott bejubelten, schlugen sie aus Freude denselben Vers schnell an, das heißt daktylisch, indem sie den langen Vokal ω in zwei kleine ο teilten, so wie man bei den alten Lateinern die langen Vokale aussprach, indem man sie zweimal anschlug, und den Diphthong αι in zwei Silben auflöste, so dass aus sechs Spondäen sechs Daktylen entstanden.* Und wegen des getöteten Python wurde dieser Vers »pythischer Vers« genannt, aber normalerweise nannte man ihn »heroisch«, also denjenigen, mit dem die Heroen sprachen. So war auch der erste Vers bei den Lateinern heroisch, wurde aber »saturnischer Vers« genannt, weil er im Zeitalter des Saturn entstanden ist, als Italien noch wild war. Und auch Ennius hinterlässt uns in seinen Fragmenten, dass die Faune in heroischen Versen sangen, wenn nicht irgendein lateinischer Orpheus, voller verborgener Weisheit und wohl unterrichtet in der Ars poetica, die Wilden, von denen die lateinischen Stämme abstammten, zur Humanität geführt hat ! Dass in dieser Art Verse die ersten Gesetze verfasst worden sind, belegen zwei Wörter, νόμοι, was sowohl »Gesetze« als auch »Gesänge« bei den Griechen bedeutet, und carmina, was bei den ­Lateinern sowohl »Verse« als auch »feierliche Gesetzesformeln« bedeutete. Und es hat sich auch die Überlieferung erhalten, dass die Arkadier Italiens zuerst Sänger waren, so dass Carmenta, die Mutter des Arkadiers Evander, vielleicht wegen dieser hero­ ischen carmina so genannt wurde. Aber, bei Gott, als Cicero die Gesetze für seine Republik schrieb, die er gewiss in Übereinstimmung mit dem Zwölftafelgesetz diktierte, so verfasste er sie im Ton des heroischen Verses. Wenn, nach der Ausgabe des * Aber der wahre Grund hierfür ist, dass der heroische Vers zunächst spon-

däisch entstand wegen der Schwierigkeit und Langsamkeit der Aussprache der ersten Menschen. Dann, als sich die Zunge immer mehr löste, wurde er daktylisch, weil der Daktylus ja auch mit einer langen Silbe beginnt.



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­R aewaerd,72 die Decemvirn das Wort deivei im Kapitel De parricidio gebrauchten, so mussten sie auch die ersten beiden Gesetze mit zwei heroischen Halbversen beginnen: Divos caste adeunto Pietatem adhibento [»Den Göttern nähere dich keusch und zeige Ehrfurcht«]. Außerhalb einer so ernsten Angelegenheit wie der Gesetzgebung wäre es übrigens in einer Epistel ein außerordentlich schlimmer Fehler gewesen, in Prosa mit so klangvollen Versen zu sprechen, denn dort sind Jamben zu vermeiden, die mehr als alle anderen Versmaße den Gesang nicht hören lassen und verbergen. Daher versteht man, dass diese beiden Nationen vom hero­ischen Vers zur Prosa mittels des jambischen Verses übergingen, weil es so natürlich war, beim Sprechen ganz ohne Absicht in den Jambus zu verfallen, so dass die sorgfältigen Prosaschreiber ihre ganze Aufmerksamkeit darauf richten mussten, beim Schreiben nicht in Verse zu verfallen. Und am Anfang entstand die Prosa aus unsicheren Versmaßen, wie es die Verse des Plautus und des Terenz sind, bei Plautus mehr als bei Terenz. Daher war es Natur, nicht Kunst, dass die Tragödie* und die Komödie, die gewiss nach Homer entstanden sind, zuerst in jambischen Versen geschrieben wurden, denn die Kunst hätte die Natur nicht nachgeahmt, wenn die Menschen beider Nationen nicht wirklich in solchen Versen gesprochen hätten. Aber dann, wie es in vielen anderen Dingen aus blinder Verehrung für das Altertum geschehen ist, ging der gewöhnliche Irrtum in eine Vorschrift über. Wie Genebrardus 73 und andere Chronisten für die lebenden Sprachen bemerken, wurde vor 1100 kein Buch auf Französisch  *  Der

Jambus entspricht eigentlich nicht der Majestät der Tragödie, da er ein schneller Versfuß ist. Aber zuerst sangen die Griechen ganz spät spondäisch, dann daktylisch und begannen, die Zunge zu beschleunigen, schließlich jambisch, so dass die Zunge tatsächlich ganz schnell wurde.

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  Jacob Raewaerd, Ad leges XII Tabularum, Brügge 1563.   Gilbert Génébrard, Chronographiae libri quatuor, Paris 1580.

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oder auf Italienisch geschrieben, obwohl schon die provenzalischen und sizilianischen Dichter blühten. In Schlesien, einer Nation von Bauern, werden alle als Poeten geboren. XXXVIII. Idee eines allen heimischen Sprachen gemeinsamen Etymologicums 381

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Das zweite Prinzip [374] ist das eines allen heimischen Sprachen gemeinsamen Etymologicums. Denn da alle Prinzipien der Dinge solche sind, nach denen sich die Dinge zu bilden beginnen und auf die sie letztlich hinauslaufen, und da sich alle ersten Wörter, die die Lateiner vor allen anderen verwendeten, als einsilbig herausgestellt haben, so müssen auch, nach diesem Beispiel, die Ursprünge der angestammten Sprachen universell in solchen einsilbigen Wörtern gefunden werden. Und da Wörter artikulierte menschliche Laute sind und da die Kinder die Dinge natürlicherweise ausdrücken, indem sie den Laut nachahmen, den diese von sich geben, so verdankt ein Großteil der Wörter in allen Sprachen solchen einsilbigen Onomatopöien den Ursprung. Angesichts dieser Prinzipien, die wir vor allem bei den Lateinern und Griechen erörtert haben, bestätigt sich, dass Jupiter, der erste der Götter, vom Zischen des Blitzes bei den Griechen Ζεύς und vom Grollen des Donners bei den Lateinern Ious genannt wurde, dessen Genitiv Iovis ist. Ein solches Etymologicum muss außerdem konstant nach der natürlichen Ordnung der Ideen vorgehen: Da zuerst die Wälder, dann die Hütten, sodann die Felder und Herden dagewesen sind, danach die Städte und die Nationen, schließlich die Philosophen, so muss das Etymologicum jeder Sprache die Ursprünge und die Fortschritte der Wörter entsprechend diesen Stufen erklären. Wie zum Beispiel lex, das zuerst eine Sammlung von Eicheln gewesen ist, woher ilex [»Eiche«] gesagt wurde, wie bei Plautus lectus ilex [»Eichen-Sammlung«], so war gleichermaßen aquilex der »Wassersammler«. Dann eine Sammlung von Gemüsen [legumi], woher die legumina kamen. Danach eine Ansamm-



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lung von Menschen, und zwar allererst von aufrührerischen Klienten, denen die ersten leges agrariae gegeben wurden. Dann die Vereinigung der Bürger im Parlament, die vor der Erfindung der Schrift notwendig war, um über die öffentlichen Angelegenheiten informiert zu sein. Nach der Erfindung der Schrift war lex eine Sammlung von Buchstaben, woher das volkssprachliche legere stammt, das uns geblieben ist. Hiervon ist schließlich lex gesagt worden, das heißt das geschriebene Gesetz. XXXIX. Idee eines Etymologicums der Wörter fremder Herkunft

Das dritte Prinzip [374] ist ebenfalls ein Prinzip der Etymologie: Da es überall zuerst binnenländische Nationen gab und dann erst die maritimen und da wir oben herausgefunden haben, dass die ersten lateinischen Wörter keinerlei griechische Spuren an sich haben, obwohl Latium in Italien war und die Magna Graecia gleichzeitig mit den Anfängen Roms an den Küsten Italiens blühte, müssen die Wörter von unzweifelhaft fremder Herkunft sekundäre Wörter sein, die eingeführt wurden, nachdem sich die Nationen untereinander anlässlich von Kriegen, Allianzen und Handel kennengelernt hatten. Dieses Prinzip kann viele und gravierende Schwierigkeiten beheben, die man in der alten römischen Geschichte findet. Die gemeinsame Armut der ersten Sprachen und die Schwierigkeit der ersten Völker, die allgemeinen Eigenschaften von Gegenständen zu abstrahieren, diese beiden menschlichen Züge mussten die Antonomasie der Namen der Nationen erzeugen, die sich in bestimmten Eigenschaften hervortaten, um dann alle Menschen so zu bezeichnen, bei denen man solche Eigenschaften beobachtete. So sagten die Römer, welche keine feinen Sitten kannten und weil sie diese zum ersten Mal bei den Tarentern beobachteten, »Tarenter« für »fein«. Weil sie den Hochmut nicht kannten, den sie bei den Capuanern beobachteten, sagten sie »Capuaner« für »stolz«, und so weiter auch bei anderen solchen Antonomasien. Auf diese Weise füllte sich das Asyl des Romu-

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lus mit Phrygiern von jenseits des Meeres, als Ancus Martius74 als erster die Grenzen Roms bis ans Meer zum nahen Strand von Ostia ausdehnte. Denn als die Römer, die ihre eigenen Ursprünge nicht kannten (hierin waren sie nicht glücklicher als die Griechen), die Griechen kennenlernten und von ihnen erfuhren, dass transmarine Kolonien aus Phrygien nach Italien gekommen waren (was dann auch in der Zeit danach der Grund dafür war, dass sie glaubten, dass das römische Volk von dem Trojaner Äneas abstammt), sagten sie, dass die binnenländische Kolonie des Romulus eine transmarine Kolonie aus Phrygien sei. Auf diese Weise tröstete sich Rom auch über das große Missgeschick hinweg, dass es in seinem eigenen Volk keine Männer fand, die es zum König wählen konnte, da Numa und Ancus Martius aus Sabinien stammten, Servus Tullius aus Griechenland, und dass ein aristokratisches Königreich von einer Frau regiert worden ist. Das müssen aber alles Antonomasien gewesen sein: Wegen der religiösen Sitten der Sabiner hatten sie Numa und Ancus, der dem Onkel in seiner Frömmigkeit sehr ähnelte, »Sabiner« genannt; wegen des schlauen Ingeniums, das die Griechen auszeichnete, nannten sie Servius Tullius einen Griechen und wegen seiner effeminierten Sitten nannten sie Tanaquil eine Frau, so wie wir auch noch in unseren Zeiten aus demselben Grund weibische Männer femmine nennen. XL. Idee eines universellen Etymologicums für die Wissenschaft von der Sprache des natürlichen Rechts der Völker 385

Alle zuvor gemachten Entdeckungen für die Vollendung der Prinzipien dieser Wissenschaft vonseiten der Sprachen laufen auf das Folgende hinaus: So wie zum Beispiel die römischen Juristen eine Wissenschaft von den Sprachen des zivilen Rechts und eine Geschichte der Zeiten hatten, in denen die Wörter des Zwölftafelgesetzes etwas völlig anderes bedeuteten, so sollten es auch 74

 Der vierte der altrömischen Könige.



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die Juristen des natürlichen Rechts der Völker mit einem universellen Etymologicum halten. Ein solches zeichnet sich hier bei der Natur der Sprichwörter ab, die gewisse Lebensmaximen sind, die zwar von der Weisheit des Menschengeschlechts als nützlich erfahren werden, die aber, da sie von den Nationen unter verschiedenen Ansichten betrachtet werden, von ihnen mit verschiedenen Wörtern ausgedrückt werden. Nach Art der Sprichwörter müssen nun Menschen oder Taten oder Dinge, die in ihrem Wesen dieselben sind, aber von den Nationen unter verschiedenen Ansichten betrachtet werden, verschiedene Vokabeln gehabt haben, so wie auch noch heute dieselben Städte Ungarns mit völlig verschieden lautenden Vokabeln von den Ungarn, von den Deutschen und wieder anders von den Türken genannt werden, da die drei Nationen die Städte eben unter drei verschiedenen Ansichten zu benennen pflegen. Daher kommt es auch, dass so viele Städte der Barbaren in der römischen Geschichte mit solch lateinischer Anmut genannt werden, dass sie in Latium liegende Städte zu sein scheinen. Mit diesem Prinzip können sich auch die heiligen Kritiker die große Mühe erleichtern, die sie sich geben, wenn sie bemerken, dass die profane Geschichte Personen in unendlicher Verschiedenheit Namen gibt, die doch die Heilige Sprache mit ihren eigentlichen Namen nennt. So dürfte wahrscheinlich Ramses, der allermächtigste König der Ägypter, den die Priester bei Tacitus gegenüber dem Germanicus Ramses nennen, der von den Griechen Sesostris genannte berühmte König gewesen sein, der alle drei anderen Dynastien Ägyptens unter seine thebanische Herrschaft brachte. Genau auf dieselbe Art war der Gott Fidius, der Herkules der Römer, einer der Herkulesse, die die Griechen bei allen alten Nationen beobachtet hatten und von denen Varro mit Fleiß bis zu vierzig aufzählte. Er wurde bei den Lateinern Fidius genannt, unter Hinblick auf den Glauben [fides], der ja das erste und hauptsächliche Prinzip der Nationen ist; daher war er der Gott der Eide bei den Lateinern. Aber als diese dann die Griechen kennengelernt hatten und da es Sitte ist, sich mit fremden Dingen zu vergnügen, gebrauchten sie für dieselbe Idee den Namen Herkules – wie auch Castor und Pollux, die ja bei den Griechen neben Herkules die göttlichen

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Zeugen der Eide waren. Und daher hatten die Römer dann ­mehercules, edepol, mecastor, mediusfidius als Eidesformeln, von denen die drei ersten ausländisch sind und nur die vierte einheimisch. So wie der lateinische Fidius sich in den thebanischen Herkules verwandelte, so veränderte sich auch der heroische Charakter der Völker Latiums der ländlichen Zeit, der einen anderen einheimischen Namen gehabt haben dürfte, in Evander, also in einen griechischen Arkadier, der den Herkules ungefähr fünfhundert Jahre vorher in Latium beherbergte, als nicht einmal der Name des Pythagoras durch so viele durch Sprachen und Sitten voneinander unterschiedene Nationen von Kroton nach Rom vordringen konnte. So hatten die von den Chaldäern an den Sternen festgemachten größeren Gottheiten im Orient sicher andere Namen, aber die Phönizier, da sie ja viel in Griechenland verkehrten, fanden es passend, den angestammten Göttern die fremden griechischen Eigennamen zu geben. Dies geschah ohne Zweifel nach Homer, in dessen Zeitalter sich ja alle Götter noch auf dem Gipfel und Rücken des Bergs Olymp aufhielten. Mit der sicheren Geschichte der lateinischen und mit der begründeten Geschichte der griechischen Sprache rückt man auch den Ursprung der griechischen Sprache Neapels in ein sicheres Licht: nämlich dass sie eine Art hellenistischer Sprache gewesen ist, gemischt aus heimischer syrischer oder ägyptischer und fremder griechischer Sprache, als sich die Griechen wegen des Handels dorthin begeben hatten. Deswegen fand Tiberius mehr Gefallen an der griechischen Sprache von Neapel als an der attischen von Athen selbst. Und so entdeckt man in der Verschiedenheit, wie die Nationen die Eigennamen in verschiedenen Hinsichten verändern, den Grund für die ewige Nacht, die sich über die zivile Geschichte und die Geographie der Alten und über die Naturgeschichte der Fossilien, der Pflanzen und der Tiere ausbreitet.



Prinzipien dieser Wissenschaft vonseiten der Sprachen 233

XLI. Idee eines allen Nationen gemeinsamen Diktionärs geistiger Wörter 75

Und hier setzen wir diesem Kapitel über die Sprachen ein Ende mit der Idee eines allen Nationen gemeinsamen Diktionärs von, wenn man so sagen will, geistigen Wörtern, das deren gleichförmige Ideen über die Substanzen erklärt und das – ausgehend von den verschiedenen Modifikationen, die die Nationen beim Nachdenken über dieselben, allen Menschen gemeinsamen Notwendigkeiten oder Nützlichkeiten vornahmen – diese nach verschiedenen Eigenschaften betrachtet, je nach der Verschiedenheit ihrer Wohnsitze, Klimata und also Wesensarten und Sitten, das also die Ursprünge ihrer verschiedenen Lautsprachen so erzählt, dass alle in einer gemeinsamen idealen Sprache zusammenkommen. Und um weiterhin bei denselben, für unsere Prinzipien charakteristischen Beispielen zu bleiben, seien hier alle Eigenschaften der Väter im Zustand der Familien und im Zustand der daraus entstandenen ersten Städte aufgezählt: 1. das phantastische Erdenken von Gottheiten, 2. das Zeugen sicherer Kinder mit sicheren Frauen mit sicheren göttlichen Auspizien, 3. daher die heroische Abstammung von Herkules, 4. wegen des Wissens von den Auspizien beziehungsweise der Divination, 5. wegen der Opfer, die sie in ihren Häusern darbrachten, 6. wegen der unbegrenzten Macht, die sie über ihre Familien hatten, 7. wegen der Stärke, mit der sie die wilden Tiere töteten, die unbebaute Erde kultivierten und ihre Felder vor den g­ ottlosen ­Herumtreibern verteidigten, die ihnen ihre Ernten stehlen wollten, 75

 Kap. 3, XLI ist die dritte Stelle der SN25, an die Vico in der SN44 stolz erinnert (SN44, 35).

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8. wegen der Großmut, mit der sie die gottlosen Herumtreiber in ihren Wohnsitzen aufnahmen, als diese dorthin flüchteten, weil sie in der tierischen Gemeinschaft unter den Streitigkeiten mit den Hobbes’schen Gewalttätern litten, 9. wegen des Ruhms, den sie durch den Mut erlangt hatten, die Gewalttäter zu unterdrücken und den Schwachen zu helfen, 10. wegen des souveränen Eigentums ihrer Felder, die sie sich durch solche Taten natürlicherweise erworben hatten, 11. und folglich wegen der souveränen Befehlsgewalt über die Waffen, die immer mit dem souveränen Eigentum zusammengeht, 12. und schließlich wegen der souveränen Verfügung über die Gesetze und folglich über die Strafen, die mit der souveränen Befehlsgewalt über die Waffen zusammengeht. 389

Daher wird man finden, dass sie von den Juden Leviten genannt wurden, von el, das »stark« bedeutet. Von den Assyrern wurden sie Chaldäer genannt, das heißt »Weise«. Von den Persern wurden sie »Magier« oder »Zauberer« genannt. Von den Ägyptern, wie jeder weiß, »Priester«. Bei den Griechen wurden sie ganz verschieden genannt: einmal heroische Poeten wegen der Divination, wegen der die Poeten, von divinari, auch divini genannt wurden, und dann Heroen wegen des Glaubens an ihre Herkunft als Söhne der Götter, zu denen auch Orpheus, Amphion und Linos zählen. Wegen ihrer unbegrenzten Macht wurden sie »Könige« genannt, in dieser Hinsicht berichteten die Botschafter des Pyrrhus, dass sie in Rom einen »Senat von Königen« gesehen hätten. Wegen ihrer Stärke ἄριστοι , von ῎Αρης, Mars, also gewisser­ maßen martialisch. Und weil diese die ersten Städte bildeten, war die erste Form einer zivilen Regierung aristokratisch. Überall in Saturnien, das heißt in Italien, in Kreta und in Asien, wurden sie wegen ihres Aussehens als bewaffnete Priester Cureti genannt. Aber zuerst wurden sie, insbesondere in ganz Griechenland, Hera­kliden oder »von herkulischer Herkunft« genannt; dies blieb dann bei den Spartanern, die ganz gewiss mit Speeren bewaffnet waren und deren Königreich ohne Zweifel aristokratisch war. Auf dieselbe Art und Weise wurden sie von den lateinischen



Prinzipien dieser Wissenschaft vonseiten der Sprachen 235

Stämmen Quiriten oder mit einem – quir genannten – Speer bewaffnete Priester genannt, dies sind die saturnischen Cureti, die die Griechen in Italien beobachtet hatten. Und sie wurden optimi in der Bedeutung von »die Stärksten« genannt, da das alte fortus so viel wie das gegenwärtige bonus bedeutete, und die Republiken, die sie dann bildeten, nannten sich Optimate, entsprechend den aristokratischen oder martialischen Republiken der Griechen. Wegen der absoluten Herrschaft über ihre Familien wurden sie heri oder Herren genannt, was auch einen gemeinsamen Klang mit Heroen hat, und ihr Patrimonium wurde nach ihrem Tod hereditas, Herrschaft, genannt; die Sitte der Gentes, souverän über die Erbschaft zu verfügen, beließ ihnen das Zwölftafelgesetz, wie wir oben gezeigt haben. Wegen ihrer Stärke wurden sie auch viri genannt, was ebenfalls den Heroen der Griechen entspricht; daher wurden viri die feierlichen Ehegatten genannt, die in der alten römischen Geschichte bis sechs Jahre nach dem Zwölftafelgesetz die einzigen Adligen waren; viri wurden auch die Magistrate genannt wie die Duumviri oder die Decemviri; so wurden viri auch die Priester wie die Quindecemviri und die Vigintiviri genannt, und schließlich wurden auch die Richter viri genannt wie die Centumviri; mit diesem einen Wort viri wurde somit Weisheit, Priestertum und Herrschaft bezeichnet, was, wie wir oben [132] gezeigt haben, ein und dieselbe Sache gewesen ist in den Personen der ersten Väter im Zustand der Familien. Daher wurden sie, mit der wichtigsten von allen anderen Eigenschaften, bei den lateinischen Stämmen patres, »Väter«, genannt wegen der Gewissheit ihrer Kinder; daher nannten sich die Adligen Patrizier, gerade wie die Athener die Adligen εὐπατρίδας nannten. In den Zeiten der Rückkehr zur Barbarei wurden sie Barone genannt. Daher bemerkt Hotman nicht ohne Verwunderung, dass die Vasallen in der Feudallehre homines * genannt wurden; das ist aber genau dieselbe Unterscheidung, die * Und von diesen homines sprechen die barbarischen Gesetze, von denen

Grotius in den Notae oft bemerkt, dass sie den Tod eines getöteten Mannes mit wenig Geld bestraften, was er als Beweis für die Menschlichkeit der Strafen der ersten Zeiten anführt, was aber doch eher der Beweis für deren Barbarei ist.

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Drittes Kapitel

es bei den Lateinern zwischen vir und homo gab. Das Wort vir verweist auf virtus, also, wie wir gesehen haben, auf zivile Tugend; der homo ist dagegen von gewöhnlicher Art und verpflichtet, einem anderen zu folgen, der ihn zu führen berechtigt ist; er wird von den Griechen βάς genannt, von den Lateinern vas und von den Deutschen Wass, daher kommt vassus und vassallus. Aus diesem Ursprung ist sicher den Spaniern das Wort baron geblieben, das »männlich« bedeutet, so wie auch bei den Lateinern vir geblieben ist, zur Unterscheidung von femina; und aus diesem Ursprung ist sicher homagium entstanden, gewissermaßen hominis agium, das ja gerade das heroische Recht des Nexums ist, der Quelle aller heroischen Kämpfe, von denen oben [161 – 167] die alte römische Geschichte erzählte. Daraus möge man ersehen, mit wie viel Wissen Cujas und andere vom Ursprung des Feudalwesens berichten !

V IERTES K A PITEL

Grund der Beweise, auf denen diese Wissenschaft ­beruht Der Grund der Beweise, auf denen diese Wissenschaft beruht, ist die Universelle Sprache des Universellen Rechts der Völker, das in dieser Großen Stadt des Menschengeschlechts gilt. Sie erklärt die Art und Weise, wie alle Teile entstanden sind, die das gesamte Gebäude der Natur der Nationen bilden; denn einzig in der Erkenntnis dieser Art und Weise besteht Wissenschaft. Sie zeigt die Zeiten auf, in denen die ersten Teile jeder Art entstanden sind. Denn das eigentliche Merkmal jeder Wissenschaft ist es ja, so zu diesen Anfängen vorzudringen, dass es törichte Neugier wäre, weitere Anfänge zu suchen. Sie entdeckt die ewigen Eigenschaften aus den Zeiten und Arten ihres Entstehens, die ganz allein bestätigen können, dass ihr Entstehen, das heißt ihre Natur,76 so und nicht anders gewesen ist. Und sie führt sie von ihrem ersten Entstehen an gemäß dem natürlichen Fortschritt der menschlichen Ideen durch eine ununterbrochene, das heißt ewige Abfolge von Dingen. Daher vor allem haben wir in der »Idee des Werks« dieses Kapitel mit dem Motto überschrieben, mit dem die Philosophen die hier behandelten Teile des Rechts bezeichnen: leges aeternae [»ewige Gesetze«]. Des Weiteren kommen durch diese Überlegungen Mythologien, welche Geschichten von Tatsachen sind, zusammen mit Etymologien, die Wissen von den Ursprüngen der Dinge enthalten. Die Ruinen des Altertums, die vorher unscheinbar, verstreut und verstellt herumlagen, werden erhellt, wieder zusammengesetzt und an ihre eigentlichen Orte gebracht. So wird die Achtung vor den volkstümlichen Überlieferungen bewahrt durch die Aufdeckung der 76

  It.: »il loro nascimento o natura«. Die auf lat. nasci zurückgehende figura etymologica verdeutlicht Vicos Annahme der Identität von Entstehen und Wesen, vgl. die Bemerkungen zu principio in der Einleitung.

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Motive für ihre Wahrheit und der Ursachen, warum sie von so viel Falschem bedeckt auf uns gekommen sind. Und alles Philologische wird zusammengehalten von sicheren, von der Philosophie festgesetzten Bedeutungen, und jedes Ding steht fest in den Teilen wie im ganzen Komplex des Systems solcher Prinzipien. Von dieser mit solchen Beweisen ausgeführten Wissenschaft gibt es zwei Praktiken: Die eine ist eine Neue Kritische Kunst, welche als Fackel beim Herausfinden des Wahren in der dunklen und mythischen Geschichte dient. Die zweite ist eine Kunst der Diagnostik, welche uns mit der Weisheit des Menschengeschlechts leitet und die Stufen der Notwendigkeit oder Nützlichkeit der Ordnung der menschlichen Dinge zeigt und in letzter Konsequenz den Hauptzweck dieser Wissenschaft erfüllt, nämlich die Erkenntnis der unzweifelhaften Zeichen des Zustands der Nationen. Als Beispiel sei auf die Art und Weise hingewiesen, wie einige Männer von der bestialischen Liebe zur menschlichen Liebe übergingen. Die erste Zeit war, als bei den Ägyptern, Griechen und Römern nach der Sintflut der Himmel zum ersten Mal blitzte. Das Wesen der Eigenschaften der Väter bestand darin, dass sie Weise, Priester und Könige im Zustand der Familien waren. Die unaufhörliche Fortdauer der Abfolge besteht darin, dass die ersten Könige die Väter im Zustand der Natur gewesen sind und dass diese Könige sicher Monarchen waren. So dass Homer mit dem ganzen Gewicht seiner Worte den Familienvater »König« nennt, der mit dem Zepter befiehlt, dass man den gebratenen Stier an die Schnitter vor der Stadt verteilen soll, so wie es auf dem Schild des Achilles zu sehen war, auf dem die ganze Geschichte der vorherigen Welt dargestellt ist. Später waren die Könige überall aristokratisch. Aber schließlich etablierten sich überall die monarchischen Könige, und die Monarchien waren und sind überall sowohl nach ihrer Ausdehnung als auch nach ihrer Dauer die auf der Welt am meisten verbreitete Herrschaftsform. Die ewigen Eigenschaften sind:



Grund der Beweise, auf denen diese Wissenschaft ­beruht 239

–  Dass das natürliche Recht der Nationen nur von den zivilen Mächten verhandelt werden soll, die entweder ein regierender Verband von Weisen sind wie in den aristokratischen Republiken oder von einem Senat von Weisen geleitet werden wie in den freien Republiken oder von einem Rat von Weisen unterstützt werden wie bei Monarchen. –  Dass die zivilen Mächte wie heilige Personen verehrt werden sollen, die keinen anderen Höheren anerkennen als Gott, wie die ersten Väter im Zustand der Familien. –  Und schließlich, dass diese die Völker wie Väter großer Familien regieren sollen, die das Recht über Leben und Tod ihrer Untergebenen haben, so wie es die ersten Väter gegenüber ihren Kindern ausübten, und dass die Untergebenen, wie Kinder, sie als die Väter ihrer Republik annehmen sollen (daher nennt ja auch Tacitus in der Geschichte der Lex Papia Poppea zu den bona caduca den römischen Fürsten einen »Vater aller«, omnium parens). Denn solche Väter bewahren, wie ihren Kindern, ihren Nationen die Freiheit großer Familien. Das ist die Entstehung des eminenten Eigentums der zivilen Mächte, dem in den öffentlichen Angelegenheiten das souveräne und despotische Eigentum weichen muss, das die Familienväter über ihr Patrimonium haben. Daher trifft wohl der Satz von Bodin kaum zu, dass souveränes Eigentum unter dem souveränen Eigentum eines anderen eine Erfindung der letzten Barbaren sei,77 wo doch die ersten Republiken aus dem souveränen Eigentum der ersten Väter hervorgingen und mit diesen die Zivilisation. Die Stufen der Nützlichkeit sind die folgenden: Erstens brauchen die Staaten die Religion einer vorhersehenden Gottheit, dann die Gewissheit der Familienverbände durch feierliche Hochzeiten, schließlich bedarf es der Kennzeichnung des Landbesitzes, um dort die Toten zu begraben. Von dieser letzten menschlichen Sitte kommt die Gepflogenheit, dass Bürger großartige Paläste errichten und die Städte mit öffentlichen Gebäuden schmücken zum Glanz und Ruhm ihrer Familien, so dass der öffentliche 77

  Jean Bodin, Les Six livres de la Republique, Paris 1576.

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Wunsch nach Unsterblichkeit bei den Nationen blüht. Daher hüten alle Nationen mit höchsten Zeremonien und erlesener Feierlichkeit vor allen anderen menschlichen Angelegenheiten diese drei: ihre angestammten Religionen, die Eheschließungen untereinander und die Bestattungen in der eigenen Erde. Denn das ist der Gemeinsame Sinn des ganzen Menschengeschlechts, dass die Nationen auf diesen drei Sitten, mehr als auf allen anderen, fest gegründet stehen, damit sie nicht in den Zustand der bestialischen Freiheit zurückfallen; denn alle drei sind ja aus einem gewissen Erröten angesichts des Himmels entstanden, aus Scham vor den Lebenden und den Toten. Gleichermaßen finden sich die Stufen der Nützlichkeit der verborgenen Weisheit, die der volkstümlichen Weisheit dienen muss (denn sie ist ja aus der Volksweisheit entstanden und lebt gerade durch diese), damit die Volksweisheit von der verborgenen Weisheit gehalten und gestützt wird, wenn sie schwach ist, und geführt und geleitet, wenn sie umherirrt. Wie die Völker sich diesen drei Maximen nähern oder wie sie sich von ihnen entfernen und wie die Philosophen ihnen dabei helfen oder sie allein lassen, das sei die Richtschnur, nach der man den Zustand der Nationen beurteilen soll.

LETZTES K A PITEL

Entwicklung der Gegenstände, in der sich mit ­einem Mal die Philosophie der Menschheit und die ­Universalgeschichte der Nationen bilden

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it Hilfe der hier von uns gemachten notwendigen Entdeckungen nimmt diese Wissenschaft – die durch die Reihe der Gründe die Philosophie der Menschheit und durch die Folge der Wirkungen die Universalgeschichte der Nationen ist – solche Nationen als ihren Gegenstand an, die eigene Religionen und Gesetze haben und eigene Waffen, um ihre Gesetze und Religionen zu verteidigen, und welche die Sprachen ihrer Gesetze und Religionen pflegen. Diese Nationen sind im eigentlichen Sinne frei. Wenn ihnen diese Dinge verlorenzugehen drohen, weil sie sich selbst auslöschen in der Wut der Bürgerkriege, in die Völker ausbrechen, die ihre Gesetze und Religionen mit Füßen treten, dann unterwerfen sie sich nach dem Rat der Vorsehung besser anderen, besseren Völkern, die diese bewahren. Daher war in der »Idee des Werkes« dieses ganze Kapitel in dem Motto enthalten: foedera generis humani, welches besagt, dass das natürliche Recht der Völker im Übergang von einem Volk zu einem anderen das Menschengeschlecht in der Summe bewahrt.

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Gleichförmigkeit des Laufs der Menschheit in den Nationen

Die Gleichförmigkeit des Laufs, den die Menschheit in den Nationen nimmt, kann man dann leicht beim Vergleich von zwei voneinander sehr verschiedenen Nationen feststellen, der athenischen und der römischen: die erste eine Nation von Philosophen, die andere eine Nation von Soldaten. Theseus gründet Athen auf dem Altar der Unglücklichen gerade so, wie Romulus Rom im Heiligen Hain gründet, beide

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gewähren dort den Gefährdeten Asyl. Theseus braucht die Zeit einer herkulischen Arbeit, um die zwölf Dörfer Attikas richtig in den Körper seiner Stadt zu integrieren; das war halb so lang, wie die Könige Roms sich mühten, ungefähr zwanzig und mehr benachbarte Völker in einem Zeitraum von zweihundertfünfzig Jahren zu unterwerfen. Theseus behielt sich die Verwaltung der Gesetze und der Kriege vor, ebenso wie die römischen Könige. Nach dem Ende des athenischen Königtums schuf man die Archonten, die zuerst alle zehn Jahre, später, wie es dann bleiben sollte, jährlich wechselten; so setzte man auch nach dem Ende des römischen Königtums die jährlichen Konsuln an seine Stelle, nachdem beide zuerst unter die Tyrannei gefallen waren, Athen unter diejenige der Pysistratiden, Rom unter die der Tarquinier, mit dem kleinen Zeitunterschied, dass Aristogiton Athen ungefähr zehn Jahre früher vom Tyrannen Hipparch befreite, als Brutus den Superbus aus Rom verjagte. Aber mit demselben Schicksal sind Hippias und Hipparchus vergeblich von Darius dabei unterstützt worden, ihren Thron wiederzuerlangen, wie Tarquinius von Porsena. Was brachte also die Weisheit Solons der athenischen Freiheit mehr als das, was zehn Jahre später einfach die Natur der Dinge der römischen Freiheit brachte ? Sie brachte, dass Athen ungefähr zweihundert Jahre früher Krieg führte und mit großem Ruhm die Freiheit Griechenlands gegen die gewaltige persische Macht verteidigte, während Rom zweihundert Jahre später – nicht um die eigene Freiheit, sondern um die Weltherrschaft – mit Karthago kämpfte und über Karthago triumphierte, so dass die Größe der römischen Unternehmungen das höhere Alter der griechischen Kämpfe vorteilhaft ausgleicht. Wenn Alexander der Große im Westen die Waffen gegen Rom gerichtet hätte, wie er sie im Osten gegen Persien richtete, so hätte er nach dem Urteil des Livius dort allen Ruhm verloren. Daher hat Solon also auch nichts anderes getan als das Ingenium der Athener zu beschleunigen, Philosophen zu werden; denn die unfruchtbare und raue Lage der Stadt hatte die Athener natürlicherweise ingeniös gemacht, und die Lage der Stadt am Meer hatte sie menschlicher gemacht. So trug auch die Lage Roms, die nach dem Urteil Strabos von der Natur dazu gemacht schien,



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die Weltherrschaft zu errichten, zu seiner vierten Monarchie bei. Im Übrigen, wenn Karthago oder Numantia dieselbe günstige Lage gehabt hätten, so wäre das, was Rom dann geworden ist, Numantia oder Karthago geworden, die beiden Städte, deren Weltherrschaft selbst Rom fürchtete. Zwei ägyptische Altertümer stellen sich als Prinzipien dieser Wissenschaft heraus

Diese ganze Wissenschaft beruht also sozusagen auf zwei Säulen des ägyptischen Altertums, das heißt jener Ägypter, die über die Griechen, die von diesen überhaupt nichts wussten, zu spotten pflegten, dass sie immer noch Kinder wären. Die eine Säule ist die Einteilung aller vor ihnen vergangenen Zeiten in drei Zeitalter: das erste das Zeitalter der Götter, das zweite das der Heroen und das dritte das der Menschen. Diese Zeiteinteilung bestätigt die von uns gemachte Einteilung der Regierungen in göttliche, heroische und menschliche aufgrund der sicheren historischen Erkenntnis, dass die Zeitepochen meistens von den Herrschaftsformen genommen sind, die in der Welt am häufigsten vorkommen. Die andere Säule ist eine weitere Einteilung, nämlich die der Sprachen (von der Porphyrius, nach Scheffer De Philosophia Italica 78, berichtet), die man vom Anfang der Welt bis zu den jüngsten Zeiten der Ägypter sprach: Die erste war eine Sprache aus Hieroglyphen oder heiligen Charakteren, das heißt eine Sprache der Götter, die Homer für älter hielt als seine eigene. Mit dieser göttlichen Sprache wurden alle menschlichen Dinge ausgedrückt; daher bildete sich bei den lateinischen Stämmen das Vokabular der dreißigtausend Götter Varros. Die zweite Sprache war die symbolische oder die Sprache aus Impresen, die wir als heroische oder als Sprache der Waffen betrachtet haben. Die dritte war die epistoläre Sprache, aus gewöhnlichen Buchstaben 78

  Johann Scheffer, De natura et constitutione philosophiae italicae seu pythagoricae, Uppsala 1664.

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und vereinbarten Wörtern für den letzten, gegenwärtigen Gebrauch des Lebens. Diese Einteilung der Sprachen entspricht in ihren Teilen wie auch in der Reihenfolge genau derjenigen der Zeitalter. Und dieselbe Einteilung gilt folglich auch für die Einteilung der drei Rechte der Völker in göttliches, heroisches und menschliches Recht, die wir oben [176, 183, 191] gezeigt haben, wegen jener von allen Nationen geübten Praxis, dass die Sprachen zusammen mit den Herrschaftsformen vorkommen, die in ihnen die Formeln ihrer Religionen und ihrer Gesetze fassen. Die Prinzipien dieser Wissenschaft finden sich in den ­Anfängen der Heiligen Geschichte 405

Nachdem wir diese Grundlagen gelegt haben, beginnen wir noch einmal mit den Anfängen der Heiligen Geschichte, d ­ eren Alter vor allen profanen Geschichten wir oben [60, 103, 241] ­bewiesen haben: mit der Scham, denn nachdem sie gesündigt hatten, schämten sich die zwei ersten Menschen des Menschengeschlechts, sich nackt zu sehen; mit der Neugierde, durch deren Missbrauch sie gesündigt hatten; und mit dem Fleiß, mit dem der Mensch im Schweiße seines Angesichts für sein Leben sorgen muss. In diesen drei heilsamen Strafen, die dem Menschengeschlecht von Gott wegen der Sünde der ersten Menschen auferlegt wurden, findet man alle Prinzipien der Menschheit: in der Scham die Prinzipien des natürlichen Rechts der Völker in allen Teilen, die sein Gesamtgebäude bilden und die alle – wie wir [58] gezeigt haben – in der Scham ihre ersten Ursprünge haben; in der Neugierde die Prinzipien aller Wissenschaften und im Fleiß die Prinzipien aller Künste. Und in der souveränen Macht Adams und in seiner souveränen Verfügungsgewalt über die gesamte restliche sterbliche Natur, die ihm dienstbar ist – und sie war ihm deswegen zu Diensten, weil er, wenn auch gefallen, als erster und bester Mensch von Natur aus über dem ganzen Menschengeschlecht stand – findet man die ursprüngliche Macht aller Regierungen und Reiche sowie das ursprüngliche Eigentum aller Herrschaften und allen Handels, welche die beiden univer-



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sellen und immerwährenden Brunnen und Quellen aller Rechte aller Nationen aller Zeiten sind. Zusatz über die vorsintflutliche Geschichte

Aus der Ewigen Idealen Geschichte, die wir oben [90] erläutert haben, folgt: Weil die Reihe der Ursachen von Seth und seiner Rasse bis zu Sem und seinem frommen Geschlecht von NichtGiganten dieselbe war wie die von Kain und seinem gottlosen Geschlecht von Giganten bis zu Ham und Japhet und ihrem Geschlecht von Giganten, so musste auch die Reihe der Wirkungen dieselbe gewesen sein. Daher hat schließlich Kain das Übel des herumstreifenden und gottlosen Lebens bemerkt und mit einigen Giganten, die innerhalb der zweihundert Jahre seines viehischen Herumirrens geboren wurden, im Hass auf die Religion des Vaters Adam die Stadt gegründet aufgrund einer Divination, ähnlich der Divination der Chaldäer; denn es ging ja keine Sintflut voraus, wo am Ende einer langen Zeit der Himmel hätte donnern können, der wahrscheinlich vor der Sintflut niemals gedonnert hat. Und Kain richtete dort den Ackerbau wieder ein, den er schon wiederentdeckt hatte mit seinem in der wahren Religion erleuchteten Geist, in die er ja hineingeboren und aufgewachsen war. Allerdings mit diesem einzigen, aber rele­vanten Unterschied, dass Adam, erleuchtet vom wahren Gott, früh eine artikulierte heroische Sprache gefunden hatte. Kain aber musste, weil er die verstreuten Giganten durch die Idee einer vorsehenden Gottheit vereinigen musste, mit einer stummen göttlichen Sprache beginnen, um mit ihnen zu kommunizieren. So füllt sich der lange Zeitraum von eintausendsechshundertsechsundfünfzig Jahren, der dunkel in der vorsintflutlichen Geschichte verläuft. Die Fortdauer der Heiligen Geschichte mit der profanen haben wir ja oben [101 – 103] gezeigt, wo wir bewiesen haben, dass es die Sintflut und die Giganten tatsächlich in der Natur gegeben hat.

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Begreifen der dunklen Geschichte der Assyrer, Phönizier und Ägypter 408

Ungefähr tausend Jahre nach der Sintflut erscheint die Monarchie des Ninus im chaldäischen Volk. Und in derselben Zeit, eher gegen Ende der von den Juden in Ägypten erlittenen Gefangenschaft, herrschten, wegen der oben [234] erläuterten Dinge, Monarchen in Ägypten. Und Tyros ist am Ende derselben Zeit schon berühmt für die Schifffahrt und für die Kolonien. Das beweist, dass sowohl in Assyrien als auch in Ägypten und Phönizien die beiden Zeitalter der Götter und der Heroen, die bei den Assyrern »Chaldäer« und bei den Ägyptern »Priester« genannt wurden, schon vorüber sind. Assyrien und Ägypten, die ihre Imperien im Inland ausdehnten, sind zu der einen Art menschlicher Regierung übergegangen, nämlich zu den Monarchien, welche offensichtlich von den binnenländischen Nationen bevorzugt werden. Aber Phönizien ist, wenn auch etwas später, durch die naheliegende Beziehung des Meeres zum Handel zur anderen Art menschlicher Regierung übergegangen, zu den freien Republiken. Das ist die zweite Überprüfung der Ewigen Idealen Geschichte, von der wir oben [406, 90] gesprochen haben.

Zeitalter der Götter Griechenlands, die sich als göttliche Prinzipien aller heidnischen menschlichen Dinge erweisen 409

Während im Orient, Ägypten und Syrien die Nationen also schon zu menschlichen Regierungen übergegangen sind, leben die griechischen und italienischen Völker noch unter göttlichen Regierungen, wenn auch, entsprechend der größeren Nähe Griechenlands zum Orient, von dem aus sich alle Nationen verbreitet haben, in Griechenland etwas früher unter menschlichen als in Italien. Und in Griechenland, aus dem wir alles haben, was wir vom heidnischen Altertum wissen, und durch die oben [261 – 264] gemachte Entdeckung der Prinzipien der Poetischen Charaktere und der wahren Poetischen Allegorien, hat sich her-



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ausgestellt, dass die zwölf Götter der gentes maiores die zwölf großen Göttlichen Prinzipien aller menschlichen Dinge der Heiden gewesen sind. Die folgende Reihenfolge gibt ihnen unsere vernünftige Chronologie einer natürlichen Theogonie, die wir oben [209 – 211, 267] als die historischen Prinzipien der Astronomie und daher auch der normalen Chronologie setzten. Diese zwölf Götter des ersten, von uns weit entfernten heidnischen Altertums müssen als zwölf kleine Epochen dienen, mit denen man alle Mythen der politischen Heroen zeitlich einordnen kann, die irgendeine Beziehung zu einer dieser Gottheiten haben. Und hier geben wir davon die Beweise. Der HIMMEL [Uranos], so erzählt uns die mythische Geschichte, hat als Vater aller Götter auf der Erde geherrscht und dem Menschengeschlecht große und viele Wohltaten erwiesen.

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Von allen Kindern des Himmels ist JUPITER [ IOVIS ] als Vater und König aller Götter imaginiert worden. Daher ist er das Prinzip der Idolatrie und der Divination, das heißt der Wissenschaft von den Auspizien, so wie wir oben [105 – 107] gezeigt haben, dass er der erste Gott war, der aus der Phantasie der Griechen hervorgegangen ist. Und die Idolatrie und die Divination wurden aufgrund unserer Prinzipien der Poesie als Zwillingsschwestern jener ersten zivilen Metapher geboren, nach der Jupiter der Himmel gewesen ist, der die Gesetze mit dem Blitz geschrieben und mit dem Donner verlautbart hat. Aus dieser Metapher bildete sich das erste zivile poetische Gefühl, in dem sich das Erhabene mit dem Volkstümlichen mischte und von dem in der ganzen Poe­sie später nichts Wunderbareres entstand als der folgende Vers: ne la prima etade Gli Eroi leggean le leggi in petto a Giove [in der ersten Zeit Lasen die Helden die Gesetze auf Jupiters Brust].79

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 Verse aus Vicos Gedicht »Giunone in danza«.

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Daher bedeutete, nach unseren »Ursachen der lateinischen Sprache« [369], am Anfang Ious sowohl »Iovis [Jupiter]« als auch »Recht« [ius]. Und bei den Griechen bedeutete, wie Platon hierzu passend bemerkt, διαιόν, »himmlisch«, zuerst ebenfalls »Recht«, das später, nachdem man aus Gründen der Spracheleganz das κ hinzugefügt hat, zu δίκαιον wurde. Und auf dieser Idee, dass Recht und Iovis dasselbe wären, begannen die göttlichen Herrschaften mit der Idolatrie und mit der ebenfalls göttlichen Sprache, das heißt mit dem Sprechen der Divination. Und so begann das Göttliche Recht der Völker. In diese Zeit gehören Deukalion und Pyrrha, die nach der Sintflut auf einem Berg vor dem Tempel der Themis, das heißt der Göttlichen Gerechtigkeit, stehen, mit verschleierten Häuptern wegen der Scham ihres Beilagers, Steine vor ihren Füßen, Grotius’sche Einfältige, die sie hinter sich werfen und mit ökonomischer Disziplin zu Menschen werden lassen und in der Furcht der göttlichen Regierungen zur Humanität formen. Diese beiden waren der wirkliche Orpheus, der zu den Steinen und zu den wilden Tieren von der Macht der Götter sang und damit die griechische Nation gründete. Dass Jupiter der älteste Gott ist, beweist die Eiche, die ihm geweiht ist, denn sie hielt die Menschen in den Ländern fest, die Eicheln aßen. In dieser Zeit beginnt auch das große Prinzip der Teilung der Felder mit der Religion des Blitzes, der die herumziehenden gottlosen Giganten niederwarf, das heißt in bestimmten Ländern festsetzte. So dass danach sich Theseus zu bilden beginnt, so genannt von θέσις [»Setzung, Stellung«], nicht wegen der schönen Stellung des Körpers, sondern weil er sich in den atti­schen Ländern festgesetzt hatte. JUNO ist das Prinzip der feierlichen Hochzeiten, das heißt der mit den Auspizien Jupiters geschlossenen Ehen; und daher wird sie iugalis genannt, vom Joch [iugum] der Ehe, und Lucina, weil sie die sicheren Kinder ins zivile Licht [in lucem civilem] bringt. Sie ist Jupiters Schwester und Gattin; denn die ersten Ehen wurden geschlossen zwischen denen, die Jupiters Auspizien teilten. Sie ist eifersüchtig auf Jupiter, aber mit einer strengen Eifersucht, wie sie Gesetzgebern zukommt, die Völker und Nationen grün-



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den müssen; und eifersüchtig, die Ehen denen zu erteilen, die keine Gemeinschaft der Auspizien mit Jupiter haben. Sie ist unfruchtbar, aber sozusagen von einer zivilen Unfruchtbarkeit; daher blieb es gemeinsame Sitte bei allen Nationen, dass die Frauen keine Hausstände gründen. Sie schwebt in der Luft, dem Ort der Auspizien, mit einem Strick um den Hals wegen der ersten Gewalt, die, wie wir oben [58, 106] sagten, von den Giganten den herumstreifenden Frauen angetan wurde und mit der diese sie in ihre Höhlen schleppten und sie dort festhielten; daher stammen die sicheren Erbfolgen der Häuser oder gentes maiores. Auch waren ihre Hände mit einem Strick gebunden, der ersten ehe­lichen Fessel, die dann bei fast allen Nationen durch den Ring als Zeichen ersetzt wurde. Sie hatte zwei große Steine an den Füßen, um die Beständigkeit der Ehen zu bezeichnen, die niemals geschieden werden sollten. Daher wurde die Scheidung bei den Römern auch erst sehr spät eingeführt; daher nannte Vergil die feierliche Ehe coniugium stabile. Mit Leichtigkeit erklärt sich also dieser Mythos, der anfangs eine der größten Schwierigkeiten für das Ingenium der Mythologen war. Der Juno ist der Pfau geweiht, dessen Schwanz den Farben der Iris ähnelt, die ihre Dienerin ist, und der die Luft bezeichnet, den Ort der Auspizien, durch die Juno die Göttin der feierlichen Ehen ist. DIANA ist das Prinzip der Keuschheit der menschlichen Bei­ lager. Sie ist zum Mond erhoben worden, dem hellsten nächtlichen Gestirn, denn sie liegt nachts heimlich und unerkannt bei dem schlafenden Endymion. Sie muss die dritte der Hauptgottheiten sein, denn die erste menschliche Notwendigkeit für Männer und Frauen, die sich fest in bestimmten Ländern angesiedelt haben und nicht mehr herumstreifen, musste die Nähe des ewigen Wassers sein, das ihnen von Adlern [aquilae] gezeigt wurde, die ihre Nester bei den Quellen bauen. Daher wurden sie von den Lateinern so [aquilae] genannt, gewissermaßen aquulae, abgekürzt für aquulegae, wie aquilex, der Wasser-Finder, weil sie das für die erste große Wohltat hielten, die ihnen Jupiter durch seine Adler erwies. Am Anfang hießen so alle Raubvögel, die die

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Eigenschaft haben, Nester auf dem Gipfel der Berge zu bauen, wo dann die ersten Städte angelegt wurden, in windfrischer Luft, nah beim ewigen Wasser und in sicheren Lagen, was Platon dem weisen Rat der ersten Gründer der Städte zuschreibt, was aber tatsächlich eine Wohltat der Vorsehung war, und zwar eine von jenen, die der Himmel [Uranos] der Menschengattung in jener Zeit erwies, als er auf Erden herrschte. Die Adler, denen Romulus folgte, als er den Ort der Stadt bestimmte und die daher die Götter des Römischen Reiches blieben, waren bestimmt Geier. So ist Diana das Prinzip der Religion der ewigen Quellen, die nötig sind, um die Menschen in bestimmten Ländern zu halten, welche vom griechischen πηγή »Quelle« bei den Lateinern pagi genannt werden. Daher blieb das Wasser das erste Element der heiligen oder göttlichen Dinge der Heiden und folglich eines der ersten Prinzipien aller menschlichen Dinge. Und daher schworen die Götter beim Styx, dem tiefen Wasser oder dem Quellwasser der Brunnen, auf denen sie mit furchtbarem Aberglauben ihr Reich gründeten. Daher wurde Aktaion, der darauf brannte, Diana, das Quellwasser des Brunnens, nackt zu sehen, in einen Hirsch, ein äußerst scheues Tier, verwandelt und von seinen Hunden für sein schuldiges und gottloses Wissen zerfleischt. Und von lympha, »reines Wasser«, blieben bei den Lateinern die lymphati, die Geistesgestörten, also sozusagen die von reinem Wasser Bespritzten. APOLLO ist das Prinzip der Namen oder der Gentes mit den Gräbern der Ahnen auf sicherem, hierfür bestimmtem Boden. Daher musste Apollo der vierte Hauptgott sein. Denn die in sicheren Ländern Niedergelassenen mussten den scheußlichen Gestank der Leichen ihrer Ahnen riechen, die in ihrer Nähe vermoderten. Und der Gestank musste sie schließlich dazu bewegen, diese zu begraben. Apollo ist also das Prinzip der Geschichte, die mit den Genealogien begann, und wurde das Prinzip des zivilen Lichts, in das Juno Lucina die rechtmäßigen Geburten bringt, weswegen er dann mit der Sonne verbunden wurde, der Quelle des natürlichen Lichts. Außerdem ist er das Prinzip der



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lautlich-artikulierten Wörter, so dass in diese Zeit auch Hellenos zu setzen ist, der Sohn des Deukalion, der durch seine drei Söhne die drei ersten Dialekte Griechenlands zu bilden begann. Sodann ist Apollo durch die oben [374–378] entdeckten Prinzipien auch das Prinzip des Gesangs und der Verse und deswegen auch der Gesetzgebung durch die Orakel, die überall in Versen antworteten. Denn die Orakel waren die ersten Gesetze der Heiden, die von den Griechen νόμοι »Gesänge« und von den alten Lateinern carmina genannt wurden, denn sie waren dictae per carmina sortes [»durch Gesänge gesagte Wahr­sagungen«]. Und die ersten Orakel, die ersten Weissagungen, sortes, waren die ersten Gesetze, die die Familien-Väter diktierten. Und die ersten Dinge des Lebens, über die man Weissagungen, sortes, aussprach, waren die Hochzeiten, die daher von den Lateinern vitae consortium genannt wurden und die Ehemänner und die Ehefrauen consortes. Weswegen Apollo das Prinzip der Wissenschaft der Weissagung war, welche die erste Weisheit war.* Wegen all dieser Dinge war er das Prinzip der Humanität, die von den Lateinern von ursprünglich humare, »begraben«, humanitas genannt wurde. Und Apollo und Diana sind Zwillingskinder der Latona, der nach den Verstecken [latere, »verstecken«] genannten Göttin, nach der Latium, von latendo, benannt wurde. Und davon blieb den Lateinern condere gentes, condere urbes, condere regna [»Völker, Städte, Reiche gründen/verstecken«],80 die alle aus den uralten Häusern hervorgegangen sind, in den Wäldern verborgen, ganz allein und voneinander getrennt, wie Polyphem es dem Odysseus erzählt. Beide sind Jäger wilder Tiere, aber nicht aus Lust, sondern aus der menschlichen Notwendigkeit, dass die Sesshaften sich nicht durch Flucht vor den wilden Tieren retten konnten wie die gottlosen Vagabunden, sondern sich und ihre Familien von einem festen Ort aus verteidigen mussten. Daher kommt * Apollo ist auch der Gott der Medizin, der den Kräutern Namen gab, die

die einfachen tierischen Menschen des Grotius durch die Sinne als heilkräftig gegen Krankheiten kannten.

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  Condere bedeutet nicht nur »gründen«, sondern auch »verstecken«.

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vielleicht im Italienischen das Wort caccia nicht vom Verscheuchen [cacciare] wilder Tiere aus ihren Höhlen, sondern weg von den ersten Hütten. Daher töten Herkules, Theseus und die anderen Heroen wilde Tiere. Apollo war auch Hirte, Diana war allerdings keine Hirtin; er war aber kein Hirte von Herden und Vieh, sondern von herumirrenden Menschen, die in die Asyle geflohen waren und von den Heroen in die Klientelen aufgenommen wurden, nach den oben [148] erörterten Prinzipien. Daher wurden diese von den Lateinern völlig zu Recht greges operarum [»Herden von Arbeitern«] und später greges servorum [»Herden von Knechten«] genannt. Auf diese Hirten folgten die Könige, denen Homer das ewige Beiwort »Hirten der Völker« gab. Die Mythen von Daphne, von den Musen, vom Parnass, von Pegasus und Hippokrene haben wir oben [289–291] erklärt. 420

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VULKAN ist das Prinzip des Feuers, das für das menschliche Handeln überaus wichtig ist. Daher musste er der fünfte Gott der gentes maiores sein, denn Feuer ist eine menschliche Notwendigkeit, die man auch durchaus nicht spüren kann, während es unmöglich ist, Durst und den Gestank der Leichen nicht zu verspüren. Aber das Feuer ist von so großem Nutzen im Leben, dass es neben dem Wasser das zweite Element der heiligen Dinge und daher aller anderen profanen zivilen Dinge ist. Daher bedeuteten bei den Römern das Wasser und das Feuer auch die Zugehörigkeit zur Stadt, die man in alten Zeiten bei den Römern mit den feierlichen Ehen erwarb, die mit Wasser und Feuer gefeiert wurden und die man mit dem Verbot von Wasser und Feuer verlor. Vulkan ist das Prinzip der Waffen, die er mit den Zyklopen in den ersten Schmieden herstellt, das heißt in den Wäldern, welche die Giganten-Väter in Brand setzten. Und wir haben oben [336] herausgefunden, dass die ersten Waffen Speere aus an der Spitze angebrannten Ästen gewesen sind, die man als gut geeignet zum Wundenschlagen betrachtete. Mit diesen Speeren, so liest man bei den römischen Historikern, haben die barbarischen Nationen des Nordens gekämpft, und auch die Amerikaner hat man damit kämpfen gesehen. Dies und nichts anders ist das Feuer, das die zu Boden geworfenen Giganten von unterhalb



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der Berge schleudern, und es ist dasjenige, mit dem die Hydra, die Drachen von Hesperien und von Pontus und der Nemeische Löwe Flammen speien, die alle, wie wir oben [344] gesagt haben, das mit Feuer in Ackerbau überführte Land bedeuten. Zu diesen Mythen fügen wir hier die von allen am besten bekannte Mythe, die Schimäre, hinzu, mit dem Schwanz einer Schlange und dem Kopf eines feuerspeienden Löwen, die Bellerophontes getötet hat, der in diese Zeit gehört und der ein anderer Herkules in einem anderen Teil Griechenlands gewesen sein muss. In diese Zeit gehören auch Kadmos, der die große Schlange tötet, und Bacchus, der Schlangen zähmt, denn nichts war bei der Gründung der griechischen Nation wichtiger als die Betäubung der Schlangen durch Wein. Die Augen  – beziehungsweise ein Auge an der Stirn bei den Zyklopen – waren das von den Giganten verbrannte und dann gepflügte Land. Und wegen der Gleichförmigkeit der Ideen mit denen der Griechen jener Zeiten sagte man, dass jeder Gigant mit seinem Auge, das heißt mit solch entwaldetem und kultiviertem Land, der Hain [lucus] des Romulus gewesen sei, wo dieser das Asyl eröffnet hat, das wegen der luci [»Lichter«] des Auges so heißt. Die beiden Überlieferungen, die abgeholzten Wälder und die von den Giganten-Familien-Vätern erfundenen Waffen, sind so verstümmelt und entstellt auf Homer gekommen, dass dieser daraus die Ungeheuerlichkeit gemacht hat, dass Odysseus mit dem feuergespitzten Balken das Auge des Polyphem blendet, in dem sogar Platon einen der ersten Väter in der Poetischen Geschichte erkannte. Dies ist einer der Beweise für die drei Zeitalter der heroischen Dichter vor Homer, die, wie wir oben [273 – 274, 285 – 287] gefunden haben, die Mythen verändert, verschmutzt, verdunkelt und verderbt übermittelt haben. Daher steht dann bei den Lateinern lucus immer für den heiligen Wald, und bei den Dichtern muss der lucus immer mit dem Altar der Diana zusammengehen, da das Wasser und das Feuer die Elemente der zivilen Welt gewesen sind. Daran machen dann die Naturphilosophen ihren eigenen Mythos fest, nämlich dass das Wasser und das Feuer von den theologischen Poeten als Elemente der natürlichen Welt verstanden worden

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seien. Und die unglücklichen lateinischen Philologen, indem sie die heiligen Wäldchen ihrer und unserer Zeiten beobachteten, die durch ihren dichten Schatten erfreuen, suchten Zuflucht in einem heiligen Hain [­lucus], das heißt in einer Zufluchtsstelle für ihre Unwissenheit, in der Antiphrasis, und sagten, dass er sich lucus nenne, weil dort »kein Licht, luce«, sei. 423

SATURN muss der sechste Gott der alten Gentes gewesen sein. Denn nachdem sie die Wälder in Brand gesetzt hatten, was in der Zeit des Sommers geschehen sein musste, als die Gräser schon von der sengenden Sonne getrocknet waren, schmeckten die alten Völker zufällig die verbrannten Körner des Korns, das der Drachen der Erde zwischen seinen Stacheln und Dornen vorher immer wachsam beschützt hatte, und bemerkten, dass sie gut schmeckten und der Erhaltung des Lebens nützlich waren, so dass sie die Erde zu bearbeiten begannen. Saturn ist der Vater von Jupiter, sofern Jupiter unter den auf sicherer Erde Niedergelassenen geboren wurde, die dann gepflügt und gesät wurde; er ist aber auch der Sohn Jupiters, sofern dieser der König und Vater aller Götter ist, die er bei den Menschen mit der Religion der Auspizien entstehen ließ. Er ist das Prinzip der Saaten, da er von satis [»Saat«] bei den Lateinern Saturn genannt wurde. Sodann ist er das Prinzip der Chronologie, von »Zeit«, weswegen er Χρόνος bei den Griechen genannt wurde. Die Chronologie begann, wie wir oben gezeigt haben, als man die Jahre nach den Ernten zählte.

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MARS ist das Prinzip der Kriege, in denen die Väter die gottlosen Diebe töteten, die das Getreide rauben wollten, und die Getreidefelder begannen, Waffenfelder und Schlachtfelder zu werden durch das, was wir oben [142, 177] über den Ursprung der Duelle schrieben. Und da er nach Saturn geboren ist, muss er die siebte Gottheit des Zustands der Familien sein.

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VESTA ist die Mutter des Saturn, sofern sie die Erde bedeutet; und als solche ist sie auch die Mutter der Giganten, aber der frommen, die sich wegen des Begräbnisses ihrer Ahnen »Kinder



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der Erde« nannten. Und sie ist Mutter der Götter, welche man Indigetes nannte, der eingeborenen Götter aller Länder. Andererseits ist sie auch die Tochter des Saturn, sofern sie das Prinzip der Heiligen Zeremonien bedeutet. Die erste aller Zeremonien war es, auf den rohen Altären das Feuer zu bewachen, das, von Prometheus dem Himmel geraubt, die Wälder in Brand setzte, indem er Funken aus den Adern des Gesteins auf die von der heißen Sommersonne getrockneten Gräser schlug. Daher stiegen die ancilia [»Schilde«] vom Himmel zu den Römern herab, die aber keine Schilde gewesen sein dürften, sondern mit Feuer zugespitzte Speere aus Baumästen. So stieg das Feuer auch zu den Griechen vom Himmel herab, das dann die römischen Vesta­ linnen bewachten. Und wenn es erlosch, musste es mit Brenngläsern wieder am Himmel entzündet werden. Die zweite Zeremonie war es, auf den gepflügten Feldern die Erntediebe den Göttern zu weihen. Und hier beginnen die Gebete, Beschwörungen und Konsekrationen, von denen wir oben [197] gezeigt haben, dass sie die Feierlichkeiten bei den ersten Urteilsprüchen unter den göttlichen Regierungen gewesen sind. Und die Verurteilten waren bei den Griechen die ersten anathemi [»Weihegeschenke«]. Daher sagten die Philologen immer ganz unwissenschaftlich, dass der Altar ara heißen würde, weil man auf diesen das ἀρὰ , das Weihopfer, stellte, welches von ῎Αρης, Mars, komme, der die von Vesta geopferten Geweihten tötete. Daher hießen sie bei den Lateinern auch hostiae von hostis, von diesen ersten Feinden, und victimae von victus [»besiegt«], von diesen ersten Besiegten in der Welt. Die dritte Zeremonie war es, mit Dinkel [ far ] zu opfern. Also musste Vesta, die nach Saturn und Mars geboren wurde, die achte Gottheit der gentes maiores sein. Wegen des Dinkels, den Vesta dem Jupiter weiht, spielte Dinkel eine große Rolle in den göttlichen Zeremonien der Römer, wie in den Opferungen, die farracia genannt wurden. Und mit farina [»Mehl«], von far, beschmierten sie die Stirn der Opfer. Und geblieben sind die »mit Dinkelkuchen gefeierten Hochzeiten« [confarreatio] der römischen Priester; denn am Anfang waren ja alle Adligen Priester.

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Des Weiteren ist Vesta Ops, das Prinzip der Kraft oder der Hilfe, welche die gottlosen Vagabunden erbaten, die die Asyle* aufsuchten, die von den ersten Gründern der Städte eröffnet worden waren. Daraus entstanden die Klientelen, wie wir oben [148] gezeigt haben, und mit diesen begannen die Familien sich auch aus anderen Menschen zusammenzusetzen, nicht nur aus den eigenen Kindern, aus den Gründen, die wir oben [140] aufgedeckt haben. Von dieser Ops kamen die ersten Republiken der Optimaten. In dieser Hinsicht ist die Ops, die bei den Lateinern auch Rhea ist, bei den Griechen Kybele und die Berecynthia der Cureten, das heißt der mit Speeren bewaffneten Priester, die, wie wir gezeigt haben [156], bei den Lateinern die Quiriten sind. Sie ist Kybele oder Berecynthia, gekrönt mit poetischen Türmen, welche Krone bei den Lateinern orbis terrarum genannt wird, der die Welt der Nationen ist. So ist Vesta die Göttin der zivilen Herrschaften, die in dem ausgeübt werden, was im zivilen Recht territorium genannt wird, von terrendo. Das aber nicht wegen der Liktoren, die die Menge beiseiteschieben, um dem Machthaber Platz zu schaffen, wie die Etymologen daherschwatzen; sondern das, was territorium genannt wird, entstand, als die Völker noch klein und selten waren und als die Starken die gott­losen Diebe von den Ernten ihrer Feldern vertreiben ließen. Daher kommt terrere und also territorium von dem, was die Poeten turres nannten, gleichsam terres, welche die Berecynthia krönen, welche die ersten arces [»Burgen«] in der Welt waren. Von diesen kommen arcere [»schützen«] und arma [»Waffen«], welche zuerst nur zur natürlichen Verteidigung nötig waren, in der der wahre Gebrauch der Kraft besteht. Diese Wörter haben einen gemeinsamen Ursprung mit den are [»Altären«], die von der Vesta bewacht werden. Und hier findet man den ersten Ursprung des Rechts der Völker, das sich post liminium [»nach Hause zurückkehren«] nennt, welches jene Sklaven genießen, die intra arces sui imperii se recipiunt [»die zurückkehren in die ihnen gehörenden *  Wo das erste confugere ad aras [»zu den Altären fliehen«] der Pufen-

dorf ’schen Verlassenen stattfand, denen die Hobbes’schen Gewaltmenschen nach dem Leben trachteten.



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Wohnsitze«]. In einem dieser poetischen Türme ist Danae eingeschlossen, in deren Schoß Jupiter als Regen aus poetischem Gold, also aus Korn, hinabsteigt und den Perseus, den großen Heroen Griechenlands, in einer mit Dinkel gefeierten Hochzeit zeugt. Vesta ist auch Kybele oder Berecynthia auf einem von Löwen gezogenen Wagen. Das syrische Wort für Löwe, ari, gab unzähligen Städten in der alten Geographie ihren Namen, und jetzt zieren Löwen die Wappen so vieler Völker. Aus allen diesen Gründen war Vesta die bewaffnete und großherzige Religion der ersten heidnischen Welt. VENUS ist das Prinzip der zivilen Schönheit, durch die Theseus, Bacchus, Perseus, Bellerophontes schön sind und auch Ganymed, der vom Adler geraubt wurde, der die Wissenschaft der Auspizien hat und Diener am Tische Jupiters ist, das heißt Jupi­ter mit Opfern bedient. Diesen Mythos findet Platon geeignet, das göttliche Leben der Philosophen zu beschreiben, die über abstrakte und ewige Wahrheiten nachdenken. Und diesen Schönen stehen die Monstren gegenüber, die aus unsicheren Bei­ lagern stammen. Im Sinne dieser Schönheit mussten die Kinder der Spartaner schön sein, die sie andernfalls den Berg Taygetos hinunterstürzten. Die Idee der Venus entstand, als die Heroen, deren Charakter die männliche Venus war, und die Heroinnen ihre Schönheit bemerkten im Gegensatz zur Hässlichkeit der Männer und Frauen, die sich aus tierischer Freiheit zu ihnen in die Asyle begeben hatten. Venus ist also im griechischen Geist nach Ops entstanden und doch die neunte Gottheit der alten Stämme. Das ist die heroische Venus, geboren auf der Erde als Tochter von Jupiter und anderswo von Saturn. Und die Scham verdeckend ist sie Venus pronuba, eine weitere Göttin der feierlichen Eheschließungen. Und der Gürtel, der sie bedeckte, musste zunächst aus Laub, dann aus Fell, dann aus rohen Tüchern sein, welche die verderbten Poeten schließlich mit allen Reizen der Liebeslust ausschmückten. Der Sohn dieser Venus ist der geflügelte Amor, der Amor mit den Auspizien, der eheliche Amor. Er hat die Augen

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aus demselben Grund verbunden, aus dem auch Venus sich mit dem Gürtel bedeckt; er ist ausgestattet mit der Fackel jenes Feuers, mit dem die Römer die Hochzeiten aqua et igni schlossen, das heißt mit der Fackel des Hymenäus, die aus jenen Dornen besteht, die im Feuer der Wälder brannten. Dies ist eine passendere Erklärung des Mythos als die Vorstellung, dass die Liebesflammen und Liebesstiche der Hobbes’schen Gewalttäter die Empfindungen feiner Sinnenlust widerspiegeln. Die Dienerinnen dieser Venus sind die Grazien, welche die zivilen Pflichten sind, wodurch bei den Lateinern gratia für caussa steht, bei denen caussa dasselbe bedeutet wie »Angelegenheit«, »Geschäft«. Dieser heroischen Venus sind die Schwäne geweiht, die auch dem Apollo heilig sind, der die Auspizien bei den Hochzeiten singt. In einen Schwan verwandelte sich Jupiter und befruchtete das Ei, aus dem Helena, Castor und Pollux hervorgingen, das heißt mit den Auspizien des Jupiter. Und von dieser Venus stammt der Äneas des Anchises, das heißt von der Venus pronuba, der ehr­ baren Venus, der Göttin der feierlichen Eheschließungen. Eine andere Venus ist die plebejische, die aus dem Meer geborene, deren Sohn der Amor ohne Flügel, das heißt ohne Auspi­ zien ist. Sie ist der Charakter der ultramarinen plebejischen Frauen, die, aus gebildeteren Nationen stammend, leichter und fröhlicher schienen als die griechischen Heldinnen. Und da sie die Göttin der natürlichen Vereinigungen war, bedeutete sie bei den Naturphilosophen die Natur. Den Unterschied zwischen den beiden Amoren nahm Platon zum Anlass, über die göttliche und die tierische Liebe zu räsonieren. Dieser Venus sind die Tauben heilig, die bei den Römern mindere und plebejische Auspizien waren, während die Adler die höheren Auspizien der Adeligen waren. Daher gebrauchte Vergil die Tauben zu Unrecht, wenn er sie sich als Götter seines Äneas vorstellt. Und dieser Venus ist die Myrte geweiht, mit weniger edlem Laub als der Lorbeer, denn Myrten gibt es reichlich in den Meerländern; sie bedeuten das Meer, aus dem die Venus stammte.



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MINERVA ist das Prinzip der zivilen Ordnungen, die aus den Aufständen der Klienten entstanden sind. Daher muss sie wohl lange nach dem Zeitalter von Ops entstanden sein, die zu der Zeit aufgetreten war, als die gottlosen Vagabunden die Hilfe der Starken erflehten und in deren Asylen aufgenommen wurden; und auch lange nach Venus, die somit natürlich, das heißt gemäß natürlicher Ordnung, zivile Schönheit sein kann. Weil die Heroen die von ihnen Geretteten mit Gerechtigkeit behandelten und die Grazien von den einen wie von den anderen verehrt wurden, waren sie natürliche Heroen. Als sie dann aber Tyrannen wurden – damit das Menschengeschlecht erhalten blieb, das ohne Befehle nicht weiter bestehen kann – ließ die Vorsehung aus den Aufständen der Klienten die zivile Ordnung entstehen, das heißt den Senat jeder Stadt, der immer und überall die Weisheit der Republiken gewesen ist. Minerva ist daher die zehnte der größeren Gottheiten. Die Städte entstanden zu diesem Zeitpunkt und auf diese Weise alle mit zwei Klassen, der Klasse der Adeligen und der Klasse der Plebejer, deren Anfänge, wegen der volkstümlichen Teilung der Felder, von der die Juristen erzählen, die politischen Schriftsteller nicht erkennen konnten. Und sie entstanden alle aus dem Wunsch der Menge, mit Gerechtigkeit regiert zu werden. Dieser Wunsch ist die ewige Sorge aller Regierungen (und vielleicht auch die Ursache dafür, warum die Ernennungen der heroischen Könige von der Plebs vollzogen wurden, wie wir es oben [169] bei den römischen Königen gezeigt haben). Und die Städte halten alle fest an Minerva, das heißt an Ordnungen, die die schwankende Menge mit ziviler Weisheit regieren müssen, die aber keine zivile Weisheit ist, wenn ihr nicht alle zivilen Tugenden zu Hilfe kommen, und welche die ewige Form aller Staaten ist. Diese Entstehung der Republiken bestätigen die beiden folgenden ewigen Eigenschaften, nämlich erstens, dass das Volk, wenn es stolz, grausam und geizig behandelt wird, etwas Neues will, und zweitens, dass die Adligen, Reichen und Mächtigen in den Unruhen der Staaten ihre Interessen mit dem Vaterland verbinden, so dass sie wirklich »Optimaten« oder »Patrizier« sind; für das Vaterland gewähren sie dem Volk dann Wohlfahrt, Groß-

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zügigkeit und Gerechtigkeit. Das ist ein erneuter Beweis dafür, dass die Patrizier ihm diese auch in ruhigen Zeiten gewähren müssen. Wenn sie das täten, wären die Republiken sehr glücklich und folglich ewig. Minerva ist daraus geboren, dass Vulkan mit den von ihm geschaffenen Waffen das Haupt, also den Geist, Jupiters geöffnet hat, des Charakters der Väter und der Könige, damit die Patrizier sich in bewaffneter Ordnung vereinigen, um die Klienten abzuschrecken, die sich als Plebs gegen sie vereinigt hatten. Diese Erklärung des Mythos passt besser zu den Grotius’schen Einfältigen als die Vorstellung von der göttlichen Weisheit, der Tochter der Allmacht, die sich selbst versteht und daher dazu neigt, die Allmacht mit der Liebe ihrer göttlichen Güte zu lieben – was das Erhabenste war, das Platon je von einer Gottheit zu denken wusste. Der Ölbaum ist der Minerva nicht deswegen heilig, weil die Grotius’schen Einfältigen bei der Öllampe lesen sollen, zumal doch die gewöhnlichen Buchstaben erst nach Homer entstanden sind, sondern weil man die menschliche Nützlichkeit des Öls zu ihrer Zeit erkannte. Und die Eule, der nächtliche Vogel, ist ihr nicht heilig, weil die Nacht für Philosophen zum Denken geeignet ist, sondern weil sie das attische Land bezeichnet, in dem es viele Eulen gibt. Homer nennt die Minerva fast immer »Kriegerin« und »Räuberin«, manchmal auch »Ratgeberin«, denn Minerva ist Beraterin in der Curia, genauso wie Pallas in der Volksversammlung und Bellona in den Kriegen. Bewaffnet ist sie mit einem Speer von jenen Speeren aus Ästen, die an der Spitze verbrannt sind, und sie trägt das Schild mit dem Kopf der Medusa, mit dem Haarschopf zunächst aus poetischem Gold, das heißt aus trockenem Korn, das mit einer schönen Metapher »Goldhaar der Erde« genannt wurde, und dann aus Schlangen, welche das souveräne Grundeigentum der in ihrem Stand vereinten Familienväter sind. Mit diesem Schild verwandelt Perseus die Feinde in Stein. Mit der Grausamkeit der heroischen Strafen schreckt er die des Hochverrats Schuldigen, das heißt schuldig des Kriegs gegen das Vaterland. Diese waren nämlich die ersten öffentlichen Feinde, die verurteilt und streng bestraft wurden, so wie Tullius Hos-



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tilius den Duumvirn befiehlt, gegen Horatius, den Mörder der Schwester, als schuldig des Hochverrats, die grausame und gemeine Strafe auszusprechen, was Livius lex horrrendi carminis [»ein Gesetz von schrecklichem Inhalt«] nennt. Der Schild des Perseus ist glänzend wie ein Spiegel, in dem die Betrachter zu Stein werden, denn diese Strafen waren zuerst bei den Griechen παραδείγματα und exempla bei den Römern. Und die strengen Strafen wurden weiterhin »exemplarisch« genannt, und von den Befehlen [ordines] wurden die Todesstrafen »ordinär« genannt. Bei Homer will Minerva sich gegen Jupiter verschwören, weil dieser sich ungerecht gegenüber den Griechen verhält und wohlwollend gegenüber den Trojanern, was überhaupt nicht der zivi­ len Weisheit entspricht, da Jupiter ja ein monarchischer König ist. Aber zur Zeit Homers glaubte man, dass die Herrschaft Jupi­ ters aristokratisch sei, weil diese Regierungsform überall in den heroischen Zeiten galt. Daher lässt Homer auch den Jupiter zu Thetis sagen, dass er dem nicht zuwiderhandeln kann, was einmal vom Großen Himmlischen Rat bestimmt worden sei. So spricht ein aristokratischer König. Und wegen dieser Stelle nahmen die Stoiker an, dass Jupiter dem Fatum unterworfen sei. Und wenn Homer an einer anderen Stelle den Odysseus zum aufrührerischen Volk im Feld zu Troja sagen lässt, dass die Herrschaft eines Einzigen besser sei, so sollten die politischen Autoren daran denken, dass er das im Krieg sagt, in dem die Natur es mit sich bringe, dass die Regierung monarchisch ist, und in dem non aliter ratio costat quam si uni reddatur [»das Recht nur bestehen kann, wenn einer dafür geradesteht«]. Und der Mythos von der großen Kette, von der Jupiter sagt, dass, wenn alle Menschen und die Götter an der einen Seite ziehen, er allein sie alle auf der anderen Seite mit sich ziehen würde, zeigt die Kraft seiner Auspizien. Wenn die Stoiker bestreiten, dass diese Kette ihre große ewige Reihe von Ursachen ist, so müssen sie darauf achten, dass die Kette nicht reißt, denn dann wäre Jupiter stärker als das Fatum.

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MERKUR ist das Prinzip des Handels, das sich abzuzeichnen begann zu der Zeit, als der erste Handel der Austausch war, bei dem die Väter den Klienten die Felder gegen die Leistung täglicher Nahrungsbeschaffung zum Anbauen überließen. Aber das kam alles nach Minerva auf, so dass Merkur der elfte Gott der alten Völker ist. Er ist das Prinzip der Gesetzgebung, sofern die eigentlichen Gesetzgeber diejenigen waren, die die Gesetze vorschlugen und berieten, nicht diejenigen, die die Gesetze befahlen, deren Prinzip Apollo ist. Also ist Merkur das Prinzip der Botschaften und entsteht mit der ewigen Eigenschaft, von den Souveränen gesandt zu sein, dem Volk von den Herrschern die beiden Agrargesetze zu bringen. Diese werden von den beiden Schlangen bezeichnet, die sich um den Caduceus schlingen und die die Charaktere der beiden Arten des Grundeigentums sind, des bonitarischen und des zivilen. Der Caduceus hat oben zwei Flügel, welche diese beiden niedrigen Arten von Eigentum bedeuten, die kraft der Auspizien vom eminenten Eigentum am Grund und Boden, dem fundus, abhängig sind. Daher wurde von den Heroen, die dieses hatten, gesagt: fundare gentes, fundare urbes, fundare regna [»Völker gründen, Städte gründen, Reiche gründen«]. Merkur ist das Prinzip der Sprache der Waffen, mit der die Nationen sich das Recht der Völker mitteilen, und so ist er auch das Prinzip der Wissenschaft der Wappen, die wir oben [329] abgehandelt haben.

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NEPTUN schließlich ist das Prinzip der Schiffskunst und der Seefahrt, welche die letzten Erfindungen der Nationen sind. Zu seiner Zeit beginnen die Meereskriege mit den Piraten. Da ist der Dreizack des Neptun, der ein großer Haken zum Ergreifen von Schiffen war, welcher, wie wir gleich sehen werden [461], die Türme der Berecynthia beben lässt. Das ist eine geeignetere Erklärung dieses Mythos als jene, die bisher von den Naturphilosophen angenommen wird und die besagt, dass das Wasser des von Platon im Inneren der Erde angenommenen Abgrunds das Beben der Erde erzeugt.



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Gleichförmigkeit des Zeitalters der Götter bei den alten heidnischen Nationen

Das Zeitalter der Götter verläuft nach Varro gänzlich in der dunklen Zeit, weil er wegen der volkstümlichen Ursprünge der Poesie glaubte, dass alle Göttermythen von Orpheus und von anderen heroischen Poeten Griechenlands auf einmal erfunden worden seien. Wegen dieses Irrtums sind uns die Anfänge der ganzen heidnischen Menschheit verborgen geblieben. Denn die Götter der gentes maiores Griechenlands stimmen mit denen des Orients überein. Von den Phöniziern nach Griechenland gebracht, sind diese mit den Namen der Götter Griechenlands zu den Planeten erhoben wurden. Dasselbe muss man auch von den Göttern der Phönizier selbst sagen, und dasselbe versteht sich auch bei den Göttern der Ägypter. Später sind diese an den Himmel gesetzten Götter von Griechenland nach Italien gebracht und dort mit den Namen der Götter Latiums ­bezeichnet worden. Das beweist, dass die latinischen Stämme dieselben Prinzipien hatten wie die Griechen, die Phönizier, die Ägypter und die Völker des Orients. Im Übrigen wurden die Götter eigentlich ganz unpassend den Planeten zugeordnet, weil diese den natürlichen Augen wegen ihres Lichts und ihrer Bewegung eher auffielen als die Fixsterne, so dass die Planeten vor den Fixsternen beachtet worden sind, denen die Heroen zugeordnet wurden. So lag nun das Zeitalter der Götter vor dem der Heroen, und die göttliche Poesie entstand vor der heroischen, so wie Hesiod sicher vor Homer lebte. Alle diese Nationen dachten sich also ihre Götter selbst aus und sind ihnen nicht von irgendeinem Zoroaster, Trismegistos oder Orpheus auferlegt worden, wie man bisher glaubte. Die latinischen Stämme hatten auch gar keinen solchen, sondern diese Nationen waren sich selber Zoroaster, Trismegistos und Orpheus, wie wir oben [27 – 28] gezeigt haben. Und dies hier ist also ein weiterer Versuch über die Ewige Ideale Geschichte, die wir oben [90] angedeutet haben.

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Das Zeitalter der Heroen Griechenlands 444

Innerhalb des Zeitalters der griechischen Götter bilden sich nach und nach die Charaktere der im Land einheimischen politischen Heroen, wie wir gleich [458 – 470] sehen werden, wenn wir den Charakter des Herkules erklären. In derselben Zeit kommen auch die ausländischen politischen Heroen aus den übersee­ischen Ländern. Entsprechend dem, was wir oben [225] von der Ausbreitung der Nationen gesagt haben, treiben noch während des göttlichen Zeitalters der Griechen die heroischen Unruhen in Ägypten, Phönizien und Phrygien ihre Nationen, mit Kekrops, Kadmos, Danaos, Pelops, in die überseeischen Länder. Wo einige an den Küsten bleiben wie offensichtlich Kekrops, so dringen andere in unglückliche und also noch leere Länder ein wie Kadmos in Böothien.

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Das Zeitalter der Götter Griechenlands beginnt mit Japet, welcher Noahs Sohn Japhet ist, der kommt, um Europa zu bevölkern, und durchläuft einen Zeitraum von fünfhundert Jahren. Da sich aber im Zeitalter der Götter die Charaktere der politischen Heroen bildeten, wie wir gezeigt haben [444], so zeichnen sich wohl auch noch die Charaktere der Heroen des Krieges ab. Und da, wie wir oben [241] gezeigt haben, die binnenländischen Nationen vor den Meeresnationen entstanden sind, so begegnet uns hier eine große leere Stelle in der mythischen Geschichte, die das heroische Jahrhundert mit der Argonautenfahrt nach Pontus beginnt. Diese Leerstelle kann nun aber dadurch gefüllt werden, dass, wie wir oben [281] bemerkt haben, das Wort Räuber, mit dem Aeson den Jason begrüßt, der Ehren-Titel für einen Heros war. Das beweist, dass die heroischen Raubzüge vor den hero­ ischen Piraterien stattgefunden haben, denn unter dem Kriegsrecht der heroischen Völker wurden Kriege ohne Kriegserklärung geführt, wie wir oben [281] gefunden haben. Davon werden wir gleich beim Charakter des Herkules erzählen [458 – 470].

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Wie das Zeitalter der Götter mit Neptun endet, so beginnt das Zeitalter der Heroen mit den Piraterien des Minos, des ers-



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ten Seefahrers der Ägäis, dessen Minotaurus ein Schiff gewesen sein muss mit Hörner-Segeln, wie Vergil es mit einer Metapher sagte: velatarum cornua antennarum [»die Hörner unserer segelbekleideten Rahen«]. Er verschlingt attische Jungen und Mädchen aufgrund des Gesetzes der Gewalt, das von den attischen Stadtbewohnern, die noch nie Schiffe gesehen hatten, als solches verstanden werden musste. Das Labyrinth ist die Ägäis, die von einer verwirrend großen Zahl von Inseln umschlossen ist. Der Faden ist die Schifffahrt, deren Begründer der geflügelte Dädalus ist, cum remigio alarum [»mit dem Ruder seiner Flügel«] bei Vergil. Die Kunst der Schifffahrt ist Ariadne, in die sich Theseus verliebt und die er dann verlässt, um bei deren Schwester zu bleiben; er war dann mit seinen Schiffen auf Raubfahrt unterwegs und befreite so Athen vom grausamen Gesetz des Minos. In diese Zeiten muss man auch den Jupiter setzen, der die Europa als Stier raubte, welcher dem des Minos ähnlich ist. Bei dieser Sage versteht man, dass man in dieser Zeit schon dazu übergegangen war, die Charaktere der Götter als Menschen mit den Eigenschaften zu deuten, derentwegen sich die Menschen diese Götter zunächst ausgedacht hatten. So bedeutete Jupiter wegen der Eigenschaft des Königs der Götter hier dann die herrschende Ordnung der piratisierenden Heroen. Das ist ein sehr wichtiger Grundsatz der Mythologie. In diese Zeiten muss auch Perseus gestellt werden, der die Andro­ meda von dem Seeungeheuer befreit, das wie der Minotaurus im Labyrinth der Inseln des Archipels Mädchen verschlingt, die aus Furcht vor den Piraten an die Felsen gekettet wurden, so wie wir oben [300] Prometheus und Tityus wegen ihrer furchtbaren Reli­gionen an Felsen angekettet gesehen haben. Daher nannte man diese Erschreckten mit Worten der Sprache auch terrore ­defixi [»vor Schrecken erstarrt«]. Und Perseus unternahm die Fahrt nach Äthiopien, das heißt, wie wir oben [221] erklärt haben, in die weiße Morea, wie die Peloponnes immer noch genannt wird. Denn als dort die Pest herrschte, bewahrte Hippokrates seine Insel Chos, die in diesem Archipel liegt, vor der Pest. Wenn er sie von der Pest der Abessinier hätte bewahren wollen, dann hätte er sie von allen Pestilenzen der Welt bewahren müssen.

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Es folgt die Argonautenfahrt nach Pontus, das heißt die Piratenzüge zu jener Gegend des griechischen Meeres, die dann dem ganzen Meer den Namen gab, wie wir oben bei den historischen Prinzipien der Geographie [221] gezeigt haben. Bei dieser Fahrt treffen zusammen: Herkules, der größte der Heroen Griechenlands, Orpheus, Amphion, Linos, alle drei heroische Poeten, Theseus und schließlich Castor und Pollux, die Brüder Helenas. Indem sie die Macht der Götter in den Auspizien besingen, vertreiben diese Heldenpoeten die wilden Tiere aus den Städten, die sich in den heroischen Unruhen Griechenlands erhoben hatten. So errichtet Amphion die Mauern von Theben, das Kadmos dreihundert Jahre zuvor gegründet hatte. Und auf dieselbe Weise geschieht es in Rom, das dreihundert Jahre später gegründet wurde, nach Livius, dass Appius Claudius, der Enkel des Dezemvirn, dem römischen Volk, das die Rechte der Adli­ gen begehrt, die Macht der Götter in den Auspizien besingt, von denen die Rechte der Väter abhängen, deren Wissen und Zeremonien sie den Plebejern nicht gewähren konnten und damit entweihen würden, da diese agitabant connubia more ferarum [»nach Art der Tiere Beischlaf übten«]. So gründen oder befestigen die Heldenpoeten die Völker Griechenlands aber in jener Zeit, in der, wie wir oben [73–76] gezeigt haben, die Völker nur aus Heroen bestanden. Und da in jenen Zeiten in Griechenland das heroische Recht der Völker Gegenstand von Kämpfen war, in denen die Heroen obsiegten, wurde dieses Zeitalter die Zeit der Heroen Griechenlands genannt.

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Auf die Argonautenfahrt nach Pontus folgte der Trojanische Krieg, in dem sich die Griechen natürlicherweise verbündeten, so wie auch der Krieg der Sabiner ein Bundesgenossen-Krieg gegen die Römer gewesen ist, wie wir oben [284] gezeigt haben. Da dieser Krieg ein Piratenkrieg der Trojaner an den Küsten eines Teils von Griechenland gewesen ist, das damals Land der Achaier genannt wurde, und da dieser Name sich auf die ganze Nation ausdehnte, übertrug sich der Irrtum auf Homer, bei dem ganz Griechenland in diesem Namen verbunden ist. Dieser Name, begrenzt schließlich auf jenen Teil, der dann »Achaia«



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genannt wurde, ließ eine unter den Alten einzigartige Republik aus mehreren, in einem einzigen Körper vereinigten Städten entstehen, die Republik der Achaier, die der Republik der vereinigten Provinzen Hollands in unseren Zeiten sehr ähnlich war. Nach dem Trojanischen Krieg kommen die Irrfahrten der Heroen wie die von Menelaos, Diomedes, Antenor, Äneas und die berühmteste von allen, die von Odysseus. Von diesen bleiben einige in fernen Ländern, andere kehren in ihre Heimat zurück. Es müssen Fluchten von Heroen mit ihren Klienten gewesen sein, die entweder besiegt oder von gegnerischen Parteien in heroische Kämpfe um die Auspizien und die davon abhängenden Privilegien gedrängt worden waren. So wie bei Appius Claudius, der in Regillum seinen ursprünglichen stolzen Anspruch auf das Appische Haus aufgab und sich unter dem Druck der gegnerischen Partei auf den Rat des Tatius hin mit seinen Vasallen nach Rom zu den Tempeln des Romulus begab, wie Sueton berichtet. So auch die Freier, die in den Palast des Odysseus eindringen, das heißt in die Ordnung der Herrschaft der Heroen, und die bei Homer mit den Namen vieler Königreiche erscheinen. Sie brauchen die königlichen Vorräte auf, denn sie wollen sich die Felder aneignen, die rechtmäßig den Heroen gehören. Diese verdunkelten Wahrheiten machen aus dieser Geschichte die unzusammenhängendste aller griechischen Geschichten. Schließlich wollen die Freier Penelope heiraten, so wie in der römischen Geschichte die römischen Plebejer die Ehen nach Art der Väter begehrten, nachdem man ihnen mit dem Zwölftafelgesetz das beste Recht der Felder zugestanden hatte. Und in einem Teil Griechenlands bleiben die feierlichen Eheschließungen unter Heroen erhalten, und Penelope bleibt keusch, und Odysseus hängt die Freier auf. In einem anderen Teil Griechenlands aber gibt sich Penelope den Freiern hin, und daraus entsteht Pan, ein Monstrum aus verschiedenen Naturen. So wie die römischen Väter es der Plebs mit dem treu überlieferten Ausdruck des Livius sagen, dass, wer aus Ehen von Plebejern geboren wird, die mit den Auspizien der Adligen geschlossen wurden, secum ipse discors, also aus mit sich

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selbst uneinigen Naturen geboren wurde. Diese Sage hat bis jetzt die Mythologen so sehr beschäftigt ! Dieser Pan, ein Charakter aus widerstreitenden Naturen, ergreift Syrinx, den Charakter jener Heroine, deren Name von dem syrischen Wort Sir, »Lied«, kommt, von dem auch die Sirenen ihren Namen haben, das heißt von den Auspizien, welche die Orakel sangen. Von diesen stammen auch die Lieder bei Hochzeiten seit den Zeiten des Achill, in dessen Schild sie Homer beschreibt. Syrinx wird in ein Rohr verwandelt, eine wenig haltbare und gewöhnliche Pflanze; aber Daphne, die von Apollo festgehalten wird, verwandelt sich in einen vornehmen und immergrünen Baum. Und Pan – die Sage wird immer dunkler – blieb bei den Satyrn und spielte die Rohrflöte in den Wäldern. Und mit ihrer hemmungslosen Lüsternheit gründen die Satyrn keine Städte, und sie gründen auch keine Nationen. Dies muss aber die Sage von den heroischen Kämpfen in Syrien sein, vermischt mit denen aus Griechenland, aufgrund dessen, was wir im »Etymologicum der Wörter fremder Herkunft« [383 – 384] geschrieben haben. Von den heimischen Geschichten über die heroischen Kämpfe ist die Sage vom Apfel der Zwietracht berühmt, der zunächst die Ernten, dann die Felder und schließlich die Ehen bedeutet. Die erste Frucht des Fleißes nannten die Menschen pomi [»Äpfel«], mit einer Metapher für die Früchte der Natur, die sie vorher im Sommer gesammelt hatten und von denen allein sie eine Vorstellung hatten. Das ist der Apfel, der vom Himmel gefallen ist, nachdem Prometheus das Feuer vom Himmel geraubt hatte; um diesen geraten nun die drei Göttinnen in Streit: Die plebejische Venus, das heißt die Plebs Griechenlands, will zuerst von Pallas, das heißt von den Ständen der versammelten Heroen, das Eigentum der Felder; dann begehrt sie von Juno, der Göttin der feierlichen Hochzeiten, die Ehen und nach den Ehen auch die Herrschaft, wie in der römischen Geschichte. Zum Motto pulchriori detur, »der Schöneren soll gegeben werden«, und zum Urteil des Paris bemerkt Plutarch zufällig in Bezug auf unsere Prinzipien, dass die einzigen beiden Verse, die das in der ganzen Ilias sagen, nicht von Homer sind. Denn sie stammen von einem heroischen Poeten aus späteren, schon effeminierten Zei-



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ten. Denn die gewöhnlichen Buchstaben, die man auf den Apfel hätte schreiben können, waren, wie wir in einem anderen Werk gesehen haben,81 zu Homers Zeiten noch gar nicht erfunden. Zu dem dort Gesagten fügen wir jetzt hinzu, dass Homer niemals solche Buchstaben erwähnt, sondern nur sagt, dass der unheilbringende Brief des Bellerophontes in σήματα [»Zeichen«] geschrieben worden sei. Andere Geschichten über die Kämpfe der Heroen sind die Sagen von Ixion, Tityus und dem plebejischen Tantalus bzw. der Plebs von Tantalus, denn die Klienten nahmen den Namen ihrer berühmten Chefs an. Diese spielen alle in der »Unterwelt«, was hier die unteren Orte im Verhältnis zum Himmel bedeutet, wo die Türme der Berecynthia aufragen, die sich in der Höhe in der Nähe frischer Quellen erheben, die an erhöhten Stellen entspringen. So sieht man in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten, wie sich befestigte Städte auf den Bergen erheben und Dörfer sich in den Ebenen verteilen. So hoch schätzten die Grotius’schen Kinder den Himmel ! Denn dies ist der Himmel [Uranos], der auf der Erde herrschte und der der Vater aller Götter ist, die zu Homers Zeiten ein bisschen höher auf das Joch und den Gipfel des Bergs Olymp gerückt waren. Durch diesen Himmel reiten Perseus und Bellerophontes auf dem Pegasus. Davon haben die Lateiner den Ausdruck volitare equo, also auf dem Pferd fliegen, für »rasch auf dem Pferd reiten«. So erklärt sich auch die Sage, die eine weitere Geschichte dieser heroischen Kämpfe ist, in der Jupiter den plebejischen Vulkan mit einem Fußtritt vom Himmel hinunterstößt, als dieser sich zwischen ihn und Juno stellen will, während sie streiten. Aber – nach unserer kritischen Kunst – streiten diese nicht untereinander, sondern mit ihm, weil er die Ehe mit Juno mit den Auspizien Jupiters begehrt. Und Vulkan hinkte seitdem und blieb niedrig und gedemütigt. Ixion dreht ewig das Rad oder die Schlange, die ihren Schwanz verschlingt. Dies werden wir gleich als Bear­ beitung der Erde deuten, eine Bedeutung, die dunkel geworden ist, weil man den Kreis nicht verstanden hat, den ersten κύκλος, 81

  De uno, dissertationes, IV.

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der als »Rad« verstanden wurde und auch von Homer so genannt wurde. Von dieser Umwälzung der Erde aber sagt man bei den Lateinern terram vertere, also »die Erde umdrehen«, für »pflügen«. Ähnlich rollt Tityus 82 den Felsen, die harte Erde, von unten nach oben. Davon blieb den Lateinern saxum volvere [»den Fels rollen«], um »ewige Mühe« zu bezeichnen. Tantalus schließlich giert nach den »nahen Äpfelbäumen«, die sich immer in den Himmel erheben, das heißt nach den hochgelegenen Städten der Heroen. Diese Sagen fanden die Moralphilosophen geeignet, die Ehrgeizigen, Gierigen und Geizigen zu porträtieren; aber diese Laster wurden in einer Zeit, die mit den für das Leben notwendigen Dingen allein zufrieden war, überhaupt noch nicht empfunden. Aber die Sage von den Freiern der Penelope ist, über die Sage von Odysseus hinaus, der den Polyphem blendet, eine weitere gewichtige Bestätigung für die drei Zeitalter der heroischen Dichter vor Homer, welche ihm aus den Gründen, die wir oben [286–287] darüber entdeckten, die Geschichte der Völker Griechenlands äußerst verdorben überlieferten. Gleichförmigkeit des heroischen Zeitalters bei den alten Nationen

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Für die Gleichförmigkeit des heroischen Zeitalters bei den ande­ ren alten Nationen führen wir jetzt einen weiteren philologischen Beweis an, den wir auf zwei Zeugnisse zweier Nationen gründen: Das eine Zeugnis stammt von den Ägyptern. Diese sagen, nach Tacitus, dass ihr Herkules der älteste von allen anderen sei und dass diese alle den Namen von ihrem Herkules genommen hätten. Das andere Zeugnis stammt von den Griechen, die bei allen Nationen, die sie kennenlernten, einen Herkules feststellten. Zu diesen beiden gewichtigen Beweisen bei den Ägyptern und den Griechen kommt noch die Autorität von Varro hinzu, des gelehrtesten der Römer, der gar vierzig Herku82

 Gemeint ist wohl Sisyphus.



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lesse zählte. Unter diesen sind die berühmtesten der skythische (der bezüglich des Alters mit dem ägyptischen wetteifert), der keltische, gallische, libysche, äthiopische, ägyptische, phönizische, tyrische, außer dem berühmten griechischen Herkules aus Theben und, bei den latinischen Völkern, der Gott Fidius, wie wir oben [385] gezeigt haben. Bei all diesen alten Nationen gab es also den Heroismus mit denselben Eigenschaften. Daher verdienten die Herkulesse auch denselben Namen bei den Ägyptern, Griechen und bei Varro. Das ist ein großer Beweis für die Ewige Ideale Geschichte, wie wir sie oben [90] entworfen haben, die mit Hilfe unserer kritischen Kunst und der oben aufgestellten Etymologica [381–382] und des oben konzipierten Universellen Wörterbuchs [387–389] gelesen werden muss. Wir werden hier zur Bestätigung unserer Prinzipien einige Mythen erklären, die zum natürlichen Recht der heroischen Völker gehören. So beginnt sich der Charakter des thebanischen Herkules zur Zeit der Götter seit der Epoche Jupiters zu bilden, denn er ist ja von Jupiter gezeugt worden und wird mit dem Donner Jupiters geboren, so wie Bacchus, ein anderer berühmter Held aus Griechenland, von der vom Blitz getroffenen Semele geboren wurde. Dies ist das erste und das zweite unserer Prinzipien der Menschheit: nämlich dass alle alten Nationen sich auf den richtigen Glauben an eine vorhersehende Gottheit gründeten und mit sicheren und feierlichen Eheschließungen begannen, welche die Heiden mit den Auspizien feierten, die sie im Blitze Jupiters beobachteten. Gewiss beginnen die großen Arbeiten des Herkules mit der Epoche der Juno, auf deren Befehl er sie ja vollbringt, das heißt aufgrund ihrer Ermahnung zur Hilfe für die Familie. Von diesen Arbeiten war die erste in der Epoche der Diana die, wilde Tiere zu töten, um die Familien zu verteidigen. Dann in die Unterwelt hinabzusteigen, um den Cerberus herauszuholen, was notwendigerweise in der Epoche Apollos geschah, der die Begräbnisse anordnete. Denn die Unterwelt der ersten Poeten war das Grab, so dass Odysseus von der vor seinen Füßen geöffneten Erde aus die verstorbenen Heroen in der Unterwelt sieht und Herkules die Hunde von den Gräbern vertreibt. Das

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war unser drittes Prinzip der Menschheit, das heißt das Prinzip, die Toten zu begraben, so dass von humare »begraben«, der Ausdruck humanitas stammt. Cerberus wurde der Drei-schlundige [tri-fauce] genannt, vielleicht um den Orkus zu bezeichnen, der alles verschlingt, mit einem Superlativ, wie er sich bei den Franzosen hielt, die, um den Superlativ auszudrücken, tre [très] dem Positiv hinzufügen. Daher muss der Dreizack [tri-dente] des Neptun ein großer Piraten-Haken gewesen sein, mit dem man Schiffe kapert, und der drei-furchige [tri-sulco] Blitz des Jupiter einer, der mächtig furcht und spaltet. Sobald der Cerberus ins Angesicht des Himmels hinausgetreten war, folgte die Sonne seinem Weg. Dies ist durch die Entdeckung, die wir oben [345] gemacht haben, ein Anachronismus bezüglich der Zeit, in der Orkus und die Hunde menschliche Leichen verschlangen und in der Apollo noch nicht da war, den wir oben als Gott des zivilen Lichts gezeigt haben, der mit den Begräbnissen die Genealogien einführt und den ersten Gentes, also den heroischen Häusern, Glanz gibt. Dann stieg auch Theseus, der das athenische Volk gründete, in die Unterwelt hinab. Auch Orpheus steigt noch in die Unterwelt hinab, der der Gründer des griechischen Volkes genannt wurde. Denn alle Nationen wurden von der Religion der Begräbnisse dazu gebracht, die Seelen der Verstorbenen als Ansicht der Gottheit zu verehren – diese hießen daher dii manes [»die göttlichen Seelen der Verstorbenen«] bei den Lateinern –, und wurden dann dahin geführt, die Unsterblichkeit der Seele zu erfahren. Diesen gemeinsamen Sinn der Nationen hat dann Platon gezeigt. Dann tötet Herkules noch in der Wiege die Schlangen, dann die Hydra, den Drachen von Hesperien und den Nemeischen Löwen, die alle Feuer speien. In der Epoche des Vulkan setzt er also die Wälder in Brand, wie wir oben [344, 421] erklärt haben. In der Epoche des Saturn, die dasselbe ist wie das goldene Zeitalter, bringt er aus Hesperien, aus dem Westen Attikas, wo die Hesperidischen Nymphen die Gärten bewachen, die goldenen Äpfel. Das heißt er erntet das Korn, eine des Herkules würdige Tat, würdig der griechischen Geschichte, würdiger als die Geschichte von den Orangen von Portugal, die nur eine Ge-



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schichte für Leckermäulchen ist. Im Gefolge dieser Geschichte nannte Vergil, der gelehrteste Dichter des poetischen Altertums, die Ernte des Korns den »goldenen Zweig«, den Äneas im alten Wald der wilden Erde finden wird. Und Äneas kann den Zweig nicht abbrechen, wenn die Götter es ihm nicht erlauben, damit nicht die gottlosen Vagabunden, die keine Auspizien hatten, das Korn ernten. Er geht mit dem Zweig in die Unterwelt, um ihn dem Dis darzureichen, dem Gott der Schätze, die Herkules als Gott wiederentdeckt. Und er sieht dort seine Vorfahren und seine Nachkommen, welche die gottlosen Vagabunden nicht sehen konnten, da sie die Leichen der Menschen nicht zu begraben pflegten. Dann, in der Epoche des Mars tötet er Monstren, das heißt gottlose Vagabunden, geboren aus unheilvollen Beilagern und daher von widersprüchlichen Naturen. Er tötet Tyrannen, das heißt die Diebe der Ernten, Männer ohne Land, die die Felder anderer besetzen wollen und die die erste Art von Tyrannen waren. Und hier führt Herkules das heroische Recht, das heißt das beste oder das stärkste Recht der Felder ein, die er von den gewalttätigen Verbrechern zurückfordert. In der Epoche der Minerva kämpft er mit Antäus. Das ist die Geschichte der heroischen Kämpfe, in denen die Heroen sich weigerten, den Plebejern das Eigentum ihrer Felder zu übertragen. Und indem Herkules den Antäus hochhebt, besiegt er ihn und fesselt ihn dann an die Erde. Das musste in der Epoche des Merkur geschehen sein, als Herkules den aufständischen Plebe­ jern das erste Agrargesetz brachte und sie in die hochgelegenen Städte der Heroen zurückführte, wie wir oben öfter [416, 455 – 456] gesagt haben. Mit diesem Gesetz blieben Leute wie Antäus an die Felder gefesselt und wurden daher von den Römern glebae addicti [»der Scholle zugeschrieben«] genannt. Und in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten wurden die ersten ländlichen Vasallen lige genannt, nach denen die adeligen Lehen entstanden. Aber nichts erklärt diese heroische Geschichte besser als die Geschichte vom Gallischen Herkules, der mit einer Kette aus poetischem Gold, das heißt aus Korn, die aus seinem Mund herauskommt, eine große Schar von Menschen an den

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Ohren hinter sich herzieht. Dies ist eine viel passendere mythologische Deutung, als dass er die Beredsamkeit bedeutet, in einer Zeit, in der die Nationen noch gar nicht mit konventionellen Wörtern sprachen. Und dieselbe Geschichte bedeutet auch die Sage von der nackten Venus, der plebejischen Venus, und vom nackten, nicht mit seinen Tierfellen bekleideten Mars, also dem nicht heroischen, sondern plebejischen Mars, der bei ­Homer von der kriegerischen Minerva geschlagen wird. Mars ist der Charakter der Klienten, die unter dem Kommando der Heroen kämpfen und deren Aufstand auf dem Feld in Troja von Odysseus mit dem Szepter des Agamemnon niedergeschlagen wird. Und Venus und Mars werden von Vulkan aus dem Meer, aus dem die überseeischen Siedler in schon besiedelte Gebiete kamen, im Netz, also in den Fesseln des heroischen Nexums, herausgezogen. Weil sie diese Geschichte nicht verstanden, machten später die verderbten heroischen Dichter Venus zur Frau des Vulkan und erdichteten einen Ehebruch zwischen diesen Göttern. Durch unsere kritische Kunst aber finden wir, dass die Sonne, die Göttin des zivilen Lichts, die beiden nicht enthüllte, sondern mit dem Glanz der Berühmtheit bedeckte, wie wir oben [339] gesagt haben. Und alle Götter machten sich lustig über sie, so wie die römischen Patrizier, wie wir bei Sallust gesehen haben [184], sich lustig machten über die unglückliche Plebs in der Zeit des römischen Heroismus, wie ihn Sallust nannte. Und das bestätigt, was wir oben [353] sagten, dass die Fessel, das Nexum, das Sinnbild der heroischen Nationen war. Wie Herkules aufgrund des Nexums den Zehnten befahl, der »herkulisch« genannt wurde, das heißt Tribut der Früchte des Ackerbaus, so bezahlten auch bei den Germanen die Vasallen ihren Fürsten einen solchen Tribut, ­beobachtet Tacitus. Das wäre der Zensus des Servius Tullius, der dann mit der Emphytheusis [Erbpacht] und den Lehen mit demselben Namen in den wiedergekehrten barbarischen Zeiten wiederkehrte. Und von dem Ringkampf mit Antäus an führte Herkules ein Spiel ein, das bei den Griechen »Spiel der Fessel« hieß und welches das erste der olympischen Spiele gewesen sein muss, von denen man erzählt, Herkules sei der Erfinder gewesen. Da von



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da an die griechische Nation ihren größten Glanz hatte, beginnt hier auch die griechische Geschichte, die ja mit den Olympiaden bei den Griechen die Ära der Jahre einführt, die sie vorher nach den Ernten zählten. Und in den Zirkussen blieben die konusförmigen Zielmarken mete, wie sie die Römer von meto [»mähen«] nannten, so wie man bei den Italienern immer noch mete di grano [»Getreidegarben«] sagt. Das ist eine bessere Etymologie von conus als die, bei der die Bedeutung das Jahr der Sonne in seinem Lauf beschreibt, wie es später die hochgelehrten Astronomen verstanden. Da die Schlange, die ihren Schwanz in einem Kreis verschlingt, die ja auch Metaphysiker nur mühsam verstehen, für die heroischen Bauern nicht die Ewigkeit bedeuten konnte, sondern das Jahr der Ernten, welches die Schlange der Erde alle zwölf Monate verschlingt, und da sie das später nicht mehr verstanden, machten sie daraus das Rad des Ixion. Daher wird das Jahr auch »großer Kreis« genannt, von dem annulus, also kleiner Kreis, kommt, welcher Kreis sicher nicht die Sonne beschreibt, wie sie hin und hergeht zwischen den beiden Wendekreisen. Die Leerstelle bei den heroischen Raubzügen, die, wie wir oben [445] sagten, den heroischen Piraterien vorangegangen sein müssen, wird nun durch die Eigenschaft des Herkules gefüllt, dass er Völker zähmen kann und daraus Ruhm davonträgt und als Beweis dieses Ruhms die Beute, wie die Herden Hesperiens, das heißt des Westens von Attika, nach Hause trägt. Herkules geht nun vom Zeitalter der Götter zu dem der Heroen über. Und von der Epoche des Neptun an schließt er sich der Argonautenfahrt nach Pontus an, das heißt in der Zeit der hero­ ischen Piraterien Griechenlands. Und er ist jetzt Zeitgenosse von Orpheus, Amphion und Linos, alle drei Gefährten des J­ason. Diese drei sind gotteskundige Weise, die sich hervortun in den heroischen Kämpfen mit der griechischen Plebs, welche die Eheschließungen der Heroen zugeteilt bekommen wollten. Weil es darin um das Recht der Heroen ging, geben diese Kämpfe dem heroischen Jahrhundert den Namen, so wie wir oben [449] mit Livius gezeigt haben, dass in den Kämpfen der Väter mit der Plebs Appius, der Enkel des Dezemvirn, der römische Orpheus gewesen ist. So muss Herkules schon in der Epoche des Merkur

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mit dem zweiten Agrargesetz der griechischen Plebs das beste Eigentum der Felder übertragen haben, da dies vor dem Kampf um die patrizische Ehe der römischen Plebs im Zwölftafelgesetz zugestanden worden war. Schließlich bricht Herkules in Wut aus, wenn er sich mit dem Blut des Kentaurus beschmiert, der auch Nessus genannt wurde, also des Monstrums der Plebs mit zwei verschiedenen Naturen, wie es die römische Geschichte bei Livius erzählt. Das heißt, dass er mitten im Volkszorn der Plebs die heroischen Ehen zugesteht und sich so mit plebejischem Blut beschmutzt und stirbt, so wie mit der Lex Poetelia auch der römische Herkules, der Gott Fidius, stirbt. Mit diesem Gesetz ist das vinculum fidei victum, das Band der Treue zerrissen. Dies ist das Motto eines alten Annalenschreibers, das Livius mit ebenso viel gutem Glauben wie Unwissen übernimmt. Denn so, wie das bis jetzt verstanden worden ist, ist es falsch. Denn auch nach der Lex Poetelia wurden bei den Römern Urteile vollstreckt, welche die Schuldner zur Zahlung ihrer Schulden zwangen. Nach unseren Prinzipien kann dieses Motto einzig in dem Sinn wahr sein, dass das Feudalrecht, das heißt das Recht des Nexums oder des privaten Gefängnisses, sich auflöste, das in den ersten in der Welt eröffneten Asylen entstanden war und mit dem Romulus Rom auf die Klientelen gegründet hatte und Brutus die Freiheit der Herren wieder errichtet hatte, gemäß den Prinzipien, nach denen wir die alte römische Geschichte erklärt haben. Solche heroischen Unruhen sind, wie man sieht, der größte Stoff der griechischen mythischen Geschichte gewesen, der uns von der sicheren alten Geschichte Roms in der Volkssprache erzählt worden ist. Das kann niemanden verwundern, der darüber nachdenkt, weil nämlich die Römer das Zwölftafelgesetz ebenso wie die anderen Gesetze, die nach und nach dazukamen, geschrieben aufbewahrten. Aber die Athener veränderten jedes Jahr ihre Gesetze, und die Spartaner besprachen die Gesetze immer nur mündlich, weil es ihnen verboten war, sie aufzuschreiben, wodurch sich bei ihnen die Mythen schnell verdunkelten, welche die Sprache ihrer Gesetze und ihrer Sitten waren. Aber bei den Römern mussten die Mythen insgesamt aus heroischen Charakteren



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in volkssprachliche Ausdrücke übergehen, so wie wir bei vielen Gelegenheiten gesehen haben, dass die griechischen Mythen mit größter Natürlichkeit in Ausdrücke der lateinischen Volkssprache übergegangen sind. Und aus diesen Gründen hat die lateinische Sprache ihre Ursprünge besser bewahrt als die griechische.

Das Zeitalter der Menschen Und mit der Auflösung des Nexums, wie durch die Lex Poetelia bei den Römern, trat, um es mit Livius zu sagen, bei allen alten Nationen »ein anderer Anfang der Freiheit hervor«: aliud initium libertatis extitit, und zwar überall die Volksfreiheit, von der die Nationen dann zu den Monarchien übergingen, deren erste in der Universalgeschichte die Monarchie des Ninus im Orient gewesen ist. Dies sind nach unseren Prinzipien die beiden Formen menschlicher Regierungen, gemäß jener geheimnisvollen Herrschaft über die wilden Nationen, wie sie, nach Tacitus, Agricola über die Engländer ausgeübt hat, als er diese zum Studium der Gelehrsamkeit mit dem folgenden wohlbekannten Motto aufforderte: et humanitas vocabatur quae pars servitutis erat, »und Humanität wurde genannt, was ein Teil der Knechtschaft war«. Auf diese Weise verbreitete das heroische Recht des römischen Volkes die Humanität in Afrika, in Spanien, in beiden Gallien, im Noricum, Illyrien, Dacien, Pannonien, Thrakien, in Flandern, Holland und, bis zum Ende der Welt, in England. Und dort begann das Zeitalter der Menschen, die zu dieser Form der menschlichen Regierungen natürlicherweise durch die epistoläre Sprache, die Sprache der privaten Angelegenheiten und das heißt durch die Volkssprache mit konventionellen Worten, kommen. In den volkstümlichen Republiken geben die Völker den Wörtern Bedeutungen in den gemeinsamen Versammlungen beim Erlassen der Gesetze nach natürlicher Billigkeit, die die Menge allein versteht; in den Monarchien tun das die Fürsten, wegen der Naturnotwendigkeit, dass die Völker Herren der Sprachen bleiben und dass diese Herrschenden selbstverständlich wollen,

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dass ihre Gesetze gemäß dem gemeinsamen Sinn der Menge verstanden werden, die allein natürliche Billigkeit versteht. Und daher glitt natürlich den Heroen, wie es den römischen Patriziern geschah, die Wissenschaft der Gesetze aus der Hand, weil die aristokratischen Republiken mehr mit Befehlen als mit Gesetzen regiert wurden. Die Ursache der Volkssprachen ist also die Vernunft, weil die Monarchie die Regierungsform ist, die dem Wesen der ent­ wickel­ten menschlichen Ideen am besten entspricht, welches das wahre Wesen der Menschen ist. Daher gilt unter den Monarchien überall das Recht, das Ulpian ius gentium humana­rum nennt. Und die Juristen definieren in ihren Erwiderungen und die Kaiser in ihren Reskripten die Fälle zweifelhaften Rechts entsprechend der »Sekte ihrer Zeiten«, das heißt nicht nach dem Geist der abergläubischen Zeiten, nicht nach dem Geist der heroischen oder barbarischen Zeiten, sondern, wie wir in diesem ganzen Werk gezeigt haben, entsprechend dem Geist der menschlichen Zeiten, der dem Geist der römischen Jurisprudenz so eigen war, wie er der stoischen und der epikureischen Jurisprudenz entgegengesetzt war. Durch diese Epochen lenkte die Vorsehung die Nationen in solcher Weise, dass sich das römische Recht auf die Prinzipien der platonischen Philosophie gegründet wiederfand, die, da sie die Königin aller heidnischen Philosophien ist, die weiseste Dienerin der christlichen Philosophie ist. Und das römische Recht wurde außerdem gleichzeitig dazu gezähmt, wenn man so sagen darf, sich dem Recht des Gewissens zu unterwerfen, wie es uns das Evangelium befiehlt.



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Schluss des Werks In der Erklärung des Charakters des Herkules haben wir die Gleichförmigkeit der Ursprünge der alten Nationen gezeigt. Sie sind alle in der mythischen Geschichte der Griechen enthalten, die hier durch die sichere römische Geschichte erklärt wird, die auch die bruchstückhafte Geschichte der Ägypter ergänzt und die äußerst dunkle Geschichte des Orients erhellt. Diese Anfänge müssen der Universalgeschichte vorhergehen, die mit der Monarchie des Ninus beginnt. Sie müssen der Philosophie vorhergehen, damit diese im Nachdenken über die Vorsehung den Menschen, den Vater, den Fürsten reflektieren kann. Sie müssen der Jurisprudenz des von der Vorsehung angeordneten natür­ lichen Rechts der Völker vorhergehen. In den Systemen von Grotius, Selden und Pufendorf sind die Geschichte insgesamt, die Philosophie in jenen Teilen, die wir genannt haben, und die Jurisprudenz des natürlichen Rechts der Völker bisher ohne solche Anfänge behandelt worden. Und die Stoiker mit ihrem Fatum und die Epikuräer mit ihrem Zufall haben solche Anfänge völlig undenkbar gemacht. Daher hatten wir anfangs wenig Hoffnung, bei den Philosophen oder bei den Philologen diese Wissenschaft zu finden, die beweist, dass die Vorsehung die Gründerin der Welt der Nationen ist. Und um mit dem Beispiel zu schließen, mit dem wir unsere Überlegungen begonnen haben: Von den Auspizien, die man für nötig hielt, um das jeweilige Eigentum am gemeinsamen Grund und Boden in der ersten Welt unter der göttlichen Herrschaft zu unterscheiden, ging man über zur herkulischen Übergabe des Nexums unter der heroischen Herrschaft, danach zur Übergabe des Landes selbst unter der menschlichen Herrschaft. Das ist der Anfang, der Fortschritt und das Ende des natürlichen Rechts der Völker in immerwährender Gleichförmigkeit bei den Nationen, durch die sich schließlich auch das natürliche Recht der Philosophen verstehen lässt, welches ewig ist in seiner Idee und mit dem natürlichen Recht der christlichen Völker übereinstimmt. Dass der wohlüberlegte Wille des Herrn, sein Eigentum an einen anderen zu übertragen, und der bestimmte Wille des anderen,

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dieses zu empfangen, von beiden ausreichend bekundet wird, genügt unter der Herrschaft des Gewissens, welche die Herrschaft des wahren Gottes ist. Dies war die Idee dieses Werks, das wir mit dem Motto begannen: A Iove principium ­Musae und das wir nun mit dem anderen Teil des Mottos beschließen: Iovis omnia plena.83 Die Überzeugung des Polybios, dass, wenn es in der Welt Philosophen gäbe, man keine Religionen brauchen würde, ist also unhaltbar angesichts der Tatsache, dass es auf der Welt keine Philosophen gegeben hätte, wenn es keine Religionen in der Welt gegeben hätte. Ebenso ist Bayles Überzeugung unhaltbar, dass es Nationen ohne Religion geben könnte.84 Denn ohne einen vorhersehenden Gott wäre der Zustand der Welt nichts als Irrtum, Bestialität, Hässlichkeit, Gewalt, Wildheit, Fäulnis und Blut. Und vielleicht – und ohne vielleicht – gäbe es dann heute im großen Wald der furchtbaren und stummen Welt auch kein Menschengeschlecht.

 »A Iove principium, Musae, Iovis omnia plena« (Vergil, ecl. III , 60). Vico versteht offensichtlich: »Von Jupiter beginnen die Musen«. Gemeint ist bei Vergil aber wohl: »Von Jupiter beginnt, Ihr Musen, denn von Jupiter ist alles erfüllt.« 84  P ierre Bayle, Pensées diverses écrites à un docteur de Sorbonne, Rotterdam 1683. 83

Zusammenfassung VOLKST Ü MLICHE Ü BER LIEFERU NGEN

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ber die volkstümlichen Überlieferungen sagten wir ehrerbietig am Anfang, wo wir dieses Werk den Universitäten Europas widmeten, dass man sie der strengen Kritik einer genauen metaphysischen Überprüfung unterwerfen müsse. Und wo wir uns im ersten Kapitel darum bemühen, die Prinzipien dieser Wissenschaft bei Philosophen und Philologen zu finden, wollten wir den Leser darauf aufmerksam machen, dass er seine Erinnerungen an und seine Vorstellungen von den volkstümlichen Überlieferungen einmal für kurze Zeit hintanstellen möge, so lange wie man braucht, dieses Buch zu lesen. Damit er dann, wenn er sie wieder aufgreift, von selbst das Wahre erkennt, das sie entstehen ließ, und die Ursachen versteht, weswegen sie von so viel Falschem bedeckt auf uns gekommen sind. Darüber gibt Jean Leclerc im Teil II, Bd. XVIII der Bibliothèque ancienne et moderne, im Artikel VIII, wo er das Buch De con­ stan­tia philologiae bespricht, das ein Teil eines anderen Werkes von uns ist,85 über das er dort berichtet, und in dem man, nach anderen Prinzipien und in einer dieser hier völlig entgegengesetzten Ordnung, dieselben Überlieferungen leicht bemerkt, das folgende Urteil: »Er gibt uns abgekürzt die hauptsächlichen Epochen nach der Sintflut bis zu der Zeit, in der Hannibal den Krieg nach Italien brachte. Denn er spricht im ganzen Verlauf des Buchs über verschiedene Dinge, die in diesem Zeitraum stattfanden, und er macht viele philologische Beobachtungen über eine große Zahl von Themen, und er korrigiert eine Menge volkstümlicher Irr­ tümer, auf die hochgebildete Männer nicht geachtet haben.«

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 Nämlich von De uno.

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Nun, diese Irrtümer sind die folgenden: I. Dass es in Griechenland besondere Sintfluten gegeben hat, die Gygische und die Deukalionische. Das waren aber fragmentarische Überlieferungen von der Sintflut. II.

Dass Japhet der Iapet der Griechen gewesen ist. Es war das Geschlecht des Japhet, das von seinem Schöpfer wegen seiner Gottlosigkeit in das tierische Herumirren durch Europa geschickt wurde, daher stammten die Völker Griechenlands aus diesem Teil Europas. III.

Dass die Giganten der Poeten gottlose, gewalttätige Menschen, Tyrannen waren, die metaphorisch Giganten genannt wurden. Sie waren aber wirkliche Giganten, alle gottlos, bevor der Himmel nach der Sintflut das erste Mal donnerte, sodann gewalt­ tätig, in der bestialischen Gemeinschaft verbleibend, die schließlich, als sie die von den religiösen Giganten kultivierten Länder rauben wollten, die Modelle der Tyrannen waren. IV.

Dass die ersten heidnischen Menschen von Natur aus zufrieden gewesen seien und folglich unschuldig und gerecht, so dass sie das goldene Zeitalter bildeten, das erste von den Poeten erzählte Zeitalter; so wie Grotius als Sozinianer glaubt, dass seine einfachen Menschen gewesen seien. Sie waren zufrieden mit den Früchten der Natur und unschuldig und gerecht, aber so wie es Polyphem von sich und den anderen Giganten dem Odysseus erzählt. Darin erkennt Platon den ersten Zustand der Familien, und das goldene Zeitalter war das Zeitalter des Korns, das die Giganten entdeckt haben.



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V.

Dass die Menschen schließlich der Beschwernisse des gemeinsamen Lebens bewusst wurden und sich ohne Religion, ohne Waffengewalt, ohne Befehl der Gesetze die Felder gerecht teilten und diese allein durch die gesetzten Grenzen mit Sicherheit besaßen, bis die Städte entstanden. Aber dies ist gerade unsere Fabel vom goldenen Zeitalter gewesen. Denn die Grenzen der Felder wurden von der Religion gesetzt, wie wir in diesem Werk bewiesen haben [116, 144]. Und diejenigen, die die Beschwernisse des Lebens bemerkten, das überhaupt nicht gemeinsam und menschlich war, sondern einsam und bestialisch, waren die gottlosen einfachen Menschen des Grotius, denen die Hobbes’schen Gewalttäter nach dem Leben trachteten, so dass sie zu ihrer Rettung Zuflucht suchten in den Ländern der religiösen Starken. VI.

Dass das erste Gesetz in der Welt, wie Brennus, der Häuptling der Gallier, den Römern sagte, das Gesetz der Gewalt war, welche die einen Menschen den anderen antun, wie es sich auch Thomas Hobbes vorgestellt hat, und dass daher die Herrschaft, geboren aus der Gewalt, sich mit Gewalt halten muss. Aber das erste Gesetz entstand aus der Gewalt Jupiters, die für die Menschen im Blitz zu stecken schien und wegen der sich die Giganten unter die Erde in Höhlen zurückzogen. Aus diesem Rückzug unter die Erde entstand, wie wir in diesem Werk gezeigt haben [58, 106, 414], die ganze heidnische Menschheit. VII.

Dass, nach der Auffassung von Samuel Pufendorf, die Furcht die ersten Götter in der Welt schuf, dass diese Furcht auf andere Menschen übertragen wurde, so dass wieder andere die Gesetze zu Töchtern des Betrugs machten und dass sich daher die Staaten mit gewissen Geheimnissen der Macht und mit gewissen Vorspiegelungen von Freiheit erhalten mussten. Aber die Furcht vor den Blitzen brachte die Giganten durch eine Fügung der Vorsehung von selbst dazu, den Gott Jupiter, den

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König und Vater aller Götter, zu schaffen und zu verehren. Daher ist die Religion, nicht die Gewalt oder der Betrug das Wesen der Republiken. 486

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VIII.

Dass das verborgene Wissen sich vom Osten über den Rest der Welt verbreitet hätte mit der folgenden Abfolge der Schulen: dass Zoroaster den Berossos gelehrt hätte, der Berossos den Mercurius Trismegistos, der Mercurius den Atlas und der Atlas den Orpheus. Aber es war die volkstümliche Weisheit, die sich von den denselben religiösen Ursprüngen aus über die Erde ausbreitete mit der Verbreitung des Menschengeschlechts, das zweifelsohne aus dem Orient hervorging. Doch gleichermaßen wurde auch die verborgene Weisheit aus dem Orient von den Phöniziern zu den Ägyptern gebracht, denen sie den Gebrauch des Quadranten brachten und das Wissen von der Höhe des Polarsterns. Den Griechen brachten sie die zu den Göttern erhöhten Sterne; doch beiden erst in späterer Zeit, wie wir in diesem Werk [107] gezeigt haben. IX.

Dass folglich Orpheus, der mit seiner Leier die wunderbaren Sagen über die Macht der Götter gesungen hat, die wilden Menschen Griechenlands zur Humanität geführt und so das griechische Volk gegründet hätte. Dies hat sich aber als ein grober Anachronismus über die hero­ ischen Unruhen in Griechenland um das Eigentum der Felder herausgestellt [213, 216], die ungefähr fünfhundert Jahre nach der Einführung der Religionen und der Gründung der Völker und Reiche stattgefunden haben. X.

Dass, wegen dieses Orpheus-Mythos, die Volkssprachen zuerst dagewesen wären, dann erst die Sprachen der Dichter, aufgrund der bisherigen Annahme, dass Orpheus aus Thrakien dieselbe Sprache gehabt hätte wie die griechischen Menschen, die in den Wäldern herumirrten, so dass er in der griechischen Volksspra-



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che poetische Metaphern ausarbeiten und Versmaße benutzen konnte, so dass er mit dem Wunder der Sagen, mit der Neuheit des Ausdrucks und mit der Lieblichkeit der Harmonie die Hobbes’schen Gewalttäter, die Grotius’schen Einfältigen und die Pufendorf ’schen Verlassenen vergnüglich zur Humanität geführt hätte. Aber wir haben gezeigt [303], dass die Sprachen nicht ohne Reli­ gion entstehen konnten. XI.

Dass die ersten Autoren der Sprachen weise Männer gewesen seien. Aber sie waren Weise in der ersten und eigentlichen Weisheit, nämlich in der Weisheit der Sinne, wie wir in den Prinzipien der poetischen Vernunft [313–316] gezeigt haben. XII.

Dass man vor allen anderen eine natürliche Sprache gesprochen hätte, das heißt eine Sprache, die auf natürliche Weise Dinge bezeichnet, aufgrund der Vorstellung, dass Sprechen und Philosophieren ein und dasselbe sei. Wir haben aber gezeigt [303–305], dass die göttliche Sprache der Heiden auf den falschen Ideen der ersten poetischen Völker beruhte, Substanzen oder körperliche Dinge, die sie mit Göttlichkeit oder mit göttlichem Geist ausgestattet glaubten, für Prin­ zipien der zivilen Welt zu halten, und dass sie sich solchermaßen die Götter zusammenphantasierten. XIII.

Dass der Phönizier Kadmos die Charaktere, die Schriftzeichen, erfunden hätte. Es waren aber poetische Charaktere. XIV.

Dass Kekrops, Kadmos, Danaos und Pelops Kolonien nach Griechenland geführt hätten und die Griechen Kolonien nach Sizilien und Italien.

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Sie taten das aber nicht wegen des Vergnügens, neue Länder zu entdecken, und wegen des Ruhms, dort die Humanität zu verbreiten, sondern um unter dem Druck der in ihren Ländern stattfindenden heroischen Unruhen dort Heil und Zuflucht zu finden. 493

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XV.

Dass inmitten all dessen Herkules aus Ruhmsucht durch die Welt gezogen wäre, um Monstren zu töten und Tyrannen auszulöschen. Aber das war nicht nur ein einzelner Thebaner Herkules, sondern es waren so viele Herkulesse, wie es alte Nationen gab, wie wir hier ausführlich gezeigt haben [262, 385, 458]. XVI.

Dass die ersten Kriege allein für den Ruhm geführt worden wären und um die Beute als Trophäe nach Hause zu tragen. Kriege waren aber heroische Raubzüge, weswegen Räuber ein Ehrentitel für Heroen war. XVII.

Über die über Orpheus imaginierten Dinge: Dass die Gründer der griechischen Humanität wie Amphion, Linos und andere sogenannte theologische Poeten Kundige in Göttersachen von derselben Art gewesen seien wie die, deren Fürst in den uns bekannten Zeiten der göttliche Platon gewesen ist. Aber jene waren nur Kundige in der Göttlichkeit der Auspizien oder der Divination, die, vom Wort divinari, bei den Heiden die erste Göttlichkeit gewesen ist. XVIII.

Infolge des vorangegangenen Irrtums: Dass die theologischen Poeten höchste Geheimnisse verborgener Weisheit in den Mythen versteckt hätten. Daher hat man so sehr gewünscht, die Weisheit der Alten in den Mythen zu entdecken, von Platons Zeiten an bis in unsere Zeiten, das heißt bis zu Bacon von Veru­ lam.



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Aber die in den Mythen versteckte Weisheit war von der Art wie die heiligen Dinge, die bei allen Nationen den profanen Menschen verborgen gehalten wurden. XIX.

Und vor allem wollte man die Weisheit der Alten bei Homer entdecken, dem ersten sicheren Vater der ganzen griechischen Gelehrsamkeit. Aber Homer war ein Weiser heroischer Weisheit, der in der Ilias den Griechen Achill als Modell heroischer Tugend vorstellt, der dem Hektor verkündet, dass das Recht zwischen Schwachen und Starken keine Gleichheit des Rechts oder des Nutzens ist. Und als Modell heroischer Klugheit stellt er in der Odyssee den Odysseus vor, der sich seinen Vorteil immer mit Betrug verschafft, aber so, dass er die Glaubwürdigkeit seiner Worte aufrechterhält. XX.

Dass die ersten Städte aus den Familien hervorgingen, Familien nur als aus eigenen Kindern bestehend verstanden. Aber sie entstanden aus Familien, die man gerade wegen der ­famuli so nannte. Wenn es nicht deren erste Aufstände gegen die Heroen gegeben hätte, die sie mit harter Hand regierten, so wären niemals in der Welt Städte entstanden. Daher zeigt sich, dass die Patriarchen gerecht und großherzig gewesen sind, weil sich unter ihnen der Zustand der Familien bis zur Zeit des Gesetzes Moses’ gehalten hat. XXI.

Dass man als ersten Namen für die zivile Macht auf Erden den Namen der »Könige« gehört hätte, die wir uns bisher als Mo­nar­ chen der Völker vorgestellt haben. Aber es waren wohl die Väter der Familien, die Homer auf dem Schild des Achill86 »Könige« nennt, und diese waren Monarchen in ihren Familien, wie wir hier gezeigt haben [134, 360, 395]. 86

 Vico schreibt hier irrtümlicherweise: Odysseus.

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XXII.

Dass in der ersten Zeit die Weisen, Priester und Könige dieselben gewesen wären, die wir uns seit Platon, der das wünschte, als Weise verborgener Weisheit vorgestellt haben. Sie waren aber Väter im Zustand der Familien und daher Weise in der Weisheit der Auspizien. XXIII.

Dass die Könige wegen der Würde ihrer Erscheinung und des Wertes ihrer Person gewählt wurden, dass also, aufgrund der Auf­ fassung von den klugen Sitten des goldenen Zeitalters, die Menge Schönheit und Verdienst gemeinsam erkennen würde. Aber die Könige gingen natürlich aus den Aufständen der Klienten hervor, wie wir oben [150] gezeigt haben, in denen die Stärksten und die Mutigsten der Väter sich an die Spitze der Adeligen stellten und sie in Kampfordnungen aufstellten, um sich den als Plebs verbundenen Klienten entgegenzustellen. An diesem Punkt entstanden die Städte. XXIV.

Dass das römische Königtum monarchisch mit Volksfreiheit gemischt gewesen wäre. Da hat uns bis jetzt aber der Name »König« getäuscht. Denn das spartanische Königreich war nach Auffassung der politischen Schriftsteller ganz gewiss aristokratisch, und die Spartaner behielten, nach Aussage der Philologen, sehr viel von den alten hero­ischen Sitten Griechenlands bei. Von dieser Regierungsform, so haben wir hier gesehen [158–160], war auch das römische Königtum. XXV.

Dass Romulus die Klientelen eingerichtet habe, damit, wie wir uns das bisher vorgestellt haben, durch diese die Adeligen den Plebejern die Gesetze beibringen sollten, die sie vor diesen aber fast fünfhundert Jahre lang geheim gehalten und sich nur untereinander mit Zeichen oder geheimen Charakteren mitgeteilt hatten.



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Aber Romulus verteidigte durch die Klientelen das Leben der Plebejer, indem er sie ins Asyl aufnahm, das er ihnen im Heiligen Hain eröffnet hatte. Von Servius Tullius an verteidigten die Väter die Plebejer im Besitz der Felder, die sie ihnen unter der Auflage des Zensus zugewiesen hatten. Vom Zwölftafelgesetz an verteidigten sie die Plebejer im besten Recht des Eigentums, das ihnen die Väter durch dieses Gesetz zugestanden hatten. Daher stammt auch die Revindikations-Formel: ajo hunc fundum meum esse ex jure Quiritium [»ich sage, dass dies Grundstück mir gehört durch das Recht der Quiriten«]. In der voll entfalteten Volksfreiheit schließlich verteidigten die Väter die Plebejer, indem sie ihnen halfen und sie in Prozessen und Anklagen verteidigten. XXVI.

Dass die römische Plebs seit den Zeiten des Romulus aus Bürgern bestanden hätte. Dieses Vorurteil hat uns daran gehindert, die Geschichte aus dem richtigen Blickwinkel zu lesen und also das alte römische Recht richtig zu verstehen. Denn das Recht, richtige Ehen zu schließen, das daher zu Recht connubium heißt, ist den Plebejern erst sechs Jahre nach dem Zwölftafelgesetz von den Vätern zugestanden worden. XXVII.

Dass die barbarischen Nationen verzweifelt für ihre Freiheit kämpften. Das ist wahr in dem Sinn, dass die Heroen für ihre Freiheit als Herren kämpften. Die Plebejer kämpften dagegen für ihre natürliche Freiheit, durch die sie das natürliche oder bonitarische Eigentum ihrer Felder hatten, das sie unter ihren natürlichen Herren genossen, und die sie in der Sklaverei verloren hätten. XXVIII.

Dass Numa Schüler von Pythagoras gewesen wäre. Das verneint auch Livius.

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XXIX.

Die Reisen von Pythagoras durch die Welt, die wir oben [37] als ansonsten unglaubwürdig gezeigt haben, werden allerdings insofern wahr, als sich viele Lehren, die Pythagoras vertreten hat, dann in gleicher Form in der Welt fanden. XXX.

Dass Servius Tullius in Rom den Zensus eingeführt hat. Schon, aber den Zensus, den die Plebejer für das bonitarischen Eigentum an die Väter zahlen mussten, und nicht den, der die Grundlage der Volksfreiheit gewesen ist. XXXI.

Dass Brutus die Freiheit des Volkes eingeführt hätte. Aber er führte die Freiheit der Herren wieder ein, und mit den beiden jährlichen Konsuln deutete er die Freiheit des Volkes nur an, wie es Livius klar bemerkt. XXXII.

Dass in Rom am Anfang der Freiheit agrarische Unruhen der Art gestanden hätten, wie sie die Gracchen ausgelöst haben. Aber dies waren agrarische Unruhen der zweiten Art, das heißt über das beste Eigentum der Felder, das die Väter den Plebejern übertragen sollten. Unruhen der ersten Art, das heißt über das bonitarische Eigentum, mussten vorher unter der Herrschaft von Servius Tullius aufgekommen sein, der sie mit dem Zensus befriedete. XXXIII.

Dass Kolonien von der letzten uns bekannten Art nach Rom geführt wurden. Aber es waren Kolonien der zweiten Art infolge des bonitarischen Eigentums unter dem Zensus des Servius Tullius. Wie die ersten Kolonien von Romulus waren sie richtige Kolonien von Bauern, die die Felder für die Herren bearbeiteten.



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XXXIV.

Dass die römische Plebs aus Hass auf das ungewisse und versteckte Recht und auf das Recht der königlichen Hand der Väter das Zwölftafelgesetz wollte. Das ist insofern richtig, als sie letztlich nicht sicher waren mit dem bonitarischen Eigentum der Felder, die ihnen die Väter zugesprochen hatten. XXXV.

Dass das Zwölftafelgesetz von außen nach Rom gekommen wäre. Nur sofern die Römer, die aus Rom herauskamen, in der Ferne die gleichen Sitten fanden, wie diejenigen, die ihnen dieses ­Gesetz vorschrieb. XXXVI.

Dass das römische Recht eine Mischung von spartanischem und attischem Recht gewesen wäre. Weil die Römer, die in Zeiten ihrer aristokratischen Regierung aus Rom herauskamen, bemerkten, dass ihr Recht dasselbe war wie das von Sparta, und später, zu Zeiten ihrer Volksherrschaft, dass es demjenigen von Athen ähnlich war. XXXVII.

Dass von der Vertreibung der Könige an bis zu den punischen Kriegen das Jahrhundert der Römischen Virtus gewesen ist. Es war das Jahrhundert der heroischen Virtus, in dem die Väter den Heroismus und die davon abhängenden Rechte den Plebejern verweigerten, die danach strebten. XXXVIII.

Dass die Römer das natürliche Rechte der Völker, mit dem sie von Anfang an die Kriege rechtfertigten, die Siege feierten und die Eroberungen regelten, von anderen Völkern empfangen hätten. Dieses Recht entstand aber zu Hause bei den Römern und stimmte überein mit dem der anderen Nationen, mit denen die Römer erst anlässlich dieser Kriege bekannt wurden.

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XXXIX.

Dass das ius optimum in der Welt einzig römischen Bürgern ­zukam. Es entstand aber in gleicher Weise in jeder freien Stadt, und es wurde nur deswegen ausschließlich römisches Bürgerrecht, weil die Römer es mit ihren Siegen der ganzen von ihnen unterworfenen Welt wegnahmen. XL.

Dass von Anfang an das natürliche Recht unter den Heiden durch die Kraft der Wahrheit hervorgetreten wäre, ohne ein vom wahren Gott erwähltes Volk von den Heiden zu unterscheiden. Weder unterschied Selden dies Volk von den Hobbes’schen Gewalttätigen noch Grotius von seinen Einfältigen, noch Pufen­dorf von seinen ohne Sorge und Hilfe von Gott in die Welt ­Geworfenen. Aber dieses Recht wird wahr, weil es durch die Wahrheit der Vorsehung hervorgetreten ist.

A LLGEMEINE ENTDECKU NGEN Allgemeine Entdeckungen

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ber die an ihren jeweiligen Stellen gemachten besonderen Entdeckungen hinaus fassen wir im Folgenden die allgemeinen Entdeckungen zusammen, die sich wie das Blut durch den Körper durch das ganze Werk ergießen und ausbreiten. I.

Eine auf der Idee der Vorsehung basierende Ewige Ideale Geschichte, nach der alle besonderen Geschichten der Nationen in ihrem Entstehen, Fortschreiten, Zuständen, Niedergang und Ende in der Zeit verlaufen. II.

Die ewigen Prinzipien der Natur der Staaten und der ewigen Eigenschaften der zivilen Dinge. Wenn der Leser sie verbindet und alle zusammen vereinigt, wird er finden, dass er die natür­ lichen Gesetze einer ewigen Republik beschrieben hat, die in der Zeit an verschiedenen Orten variiert. III.

Die Natur und die ursprünglichen Eigenschaften der Monarchien und der freien Republiken, deren Urformen man in den heroischen Republiken und in den Monarchien der ersten Familienväter im Naturzustand entdeckt und die bisher in den griechischen Mythen versteckt waren. Das war die darin zu ent­ deckende Weisheit der Alten. IV.

Daher erscheint die gesamte alte römische Geschichte in neuem Licht durch die Untersuchung der Ursachen, die wir im Dunkel und in den Mythen des uns äußerst unbekannten Altertums finden. Auf diesen Ursachen beruhen Fakten, die, so sicher sie auch sind, doch andererseits, so wie sie jetzt liegen, unmöglich zu glauben sind, wie wir oben [93, 158 – 160] gezeigt haben.

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V.

Der sichere Ursprung der gesamten profanen Universal­geschichte und deren Fortdauer von der Heiligen Geschichte über die sagen­ hafte griechische Geschichte bis zur sicheren römischen Geschichte, die mit dem zweiten punischen Krieg ­beginnt. Sie wird in drei Sprachen gelesen, die den drei Zeitaltern entsprechen, durch die sie, von der Vorsehung in diese Reihenfolge gestellt, bei allen heidnischen Nationen beginnt, verläuft und endet. Diese Wissenschaft von den Sprachen war nötig, um angemessen vom natürlichen Recht der Völker zu sprechen. VI.

Die Regierung, das Recht, die Geschichte und die alte römische Jurisprudenz, alles zusammen, beruht als System auf drei Rechten, die alle bei den Völkern Latiums entstanden sind: Das erste war das Recht der Klientelen des Romulus, das zweite das Recht des Zensus des Servius Tullius, das dritte das private beste Recht der Felder, das den Plebejern mit dem Zwölftafelgesetz zugestanden wurde, bei dem sich die Väter aber im elften Gesetz das öffentliche beste Recht der Auspizien vorbehalten haben. Und in diesen Gesetzen, die einzig die tugendhaften Gewohnheiten der Völker bilden und bewahren, findet man die Ursachen für die Religion der Väter, für die Großherzigkeit der Plebs, für die Tugend des Volkes in der Kriegsführung, für die Gerechtigkeit, mit welcher der Senat den besiegten Nationen die Gesetze des Friedens gab – und durch dies alles die Ur­sachen für die ganze römische Größe. Mit denselben angestammten Sitten, mit denen Brutus Rom von den Tyrannen befreite, mit denen Horatius, Mucius Scaevola und das Mädchen Cloelia mit dem Wunder ihrer Tugend den Porsena in seiner ganzen etruskischen Macht erschreckten, besiegte das römische Volk in Latium Völker, die so wild waren wie es selbst, da sie dieselben Sitten hatten  – was viel schwieriger war, wie die poli­ tischen Autoren über die römischen Dinge bemerken. Und mit denselben angestammten heroischen Sitten, wie sie dann in den Tafeln niedergelegt wurden, unterwarfen die römischen Heroen später Italien, besiegten danach Afrika und legten schließlich



Allgemeine Entdeckungen 295

auf den Ruinen Carthagos die Fundamente für ihre Weltherrschaft. VII.

Eine richtige Philosophie der Humanität, die ein ständiges Nachdenken darüber ist, was nötig war, damit die Hobbes’schen Gewalttäter, die Grotius’schen Einfältigen und die Pufendorf ’schen Verlassenen zur Humanität gelangen konnten. Wie sie von der Zeit an, als Jupiter die Giganten zu Boden warf, nach und nach zu den Zeiten kamen, wo in Griechenland die sieben Weisen hervortraten, deren Fürst Solon den Athenern das berühmte Motto nosce te ipsum beibrachte und von denen an die Griechen sich durch Maximen in der Humanität zu vollenden begannen, zu der sie die ganze Zeit davor, eintausendfünfhundert Jahre lang, durch bestimmte menschliche Sinne allein von der Vorsehung hingeführt worden waren. So begannen sie, das Menschengeschlecht zu bilden, zunächst mit der Religion einer vorhersehenden Gottheit, dann mit der Sicherheit der Kinder und schließlich mit den Begräbnissen der Vorfahren. Das sind die drei Prinzipien, die wir von Anfang an der zivilen Welt zugrunde legten. EN DE

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INHALTSVERZEICHNIS

Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Idee des Werks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 ERSTES K APITEL

Notwendigkeit des Ziels und Schwierigkeiten der ­Mittel, eine Neue Wissenschaft zu finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I.  Beweggründe für das Verfassen dieses Werks . . . . . . . . . 9

II.  Nachdenken über eine Neue Wissenschaft . . . . . . . . . . 11 III.  Ermangelung einer solchen Wissenschaft wegen der

­ aximen der Epikureer und der Stoiker und wegen der M ­Praktiken Platons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 IV.  Eine solche Wissenschaft errichten wir auf der

Auffassung des n ­ atürlichen Rechts der Völker, wie sie die römischen Juristen hatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 V.  Ermangelung einer solchen Wissenschaft wegen der

Systeme des Grotius, des Selden und des Pufendorf . . . . . . 14 VI.  Gründe, warum diese Wissenschaft bis jetzt bei den

Philosophen und bei den Philologen gefehlt hat . . . . . . . . . 19 VII.  Jenseits der Notwendigkeit des Glaubens ist es eine

menschliche N ­ otwendigkeit, die Prinzipien dieser Wissenschaft von der Heiligen Geschichte her zu überdenken . . . 21 VIII.  Schwierigkeit, den Fortschritt oder die Fortdauer

der Geschichte zu finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 IX.  sowohl bei den Philosophen … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

X.  … als auch bei den Philologen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 XI.  Notwendigkeit, die Prinzipien der Natur der Nationen

mit einer höheren Metaphysik zu erforschen, um einen sicheren gemeinsamen Geist aller Völker denken zu können . 31

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Ausführliches Inhaltsverzeichnis

XII.  Über die Idee einer Jurisprudenz des Menschen­

geschlechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 XIII.  Große Schwierigkeiten, die Entstehung der

ersten Ideen zu verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 ZWEITES K APITEL

Prinzipien dieser Wissenschaft nach den Ideen . . . . . . . . . . . . 37 I.  Die Vorsehung ist das erste Prinzip der Nationen . . . . . . 38 II.  Die volkstümliche Weisheit ist die Regel der

Welt der Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 III.  Der menschliche Wille, geregelt von der

volkstümlichen Weisheit, ist der Macher der Welt der Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 IV.  Natürliche Ordnung der menschlichen Ideen über

eine ewige Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 V.  Natürliche Ordnung der menschlichen Ideen über

eine universelle Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 VI.  Natürliche Ordnung der heidnischen menschlichen

Ideen über die Gottheit, durch die sich die – getrennten oder verbundenen – ­Nationen voneinander unterscheiden oder miteinander k­ ommunizieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 VII.  Natürliche Ordnung der Ideen über das Recht der

Nationen h ­ insichtlich ihrer Religionen, Gesetze, Sprachen, Ehen, Namen, Waffen und Regierungen . . . . . . . . . . . . . . . 49

Korollar: Praktischer Versuch über den Vergleich der philosophischen Prinzipien mit der volkstümlichen Überlieferung, dass das Zwölftafelgesetz aus Athen gekommen sei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 VIII.  Skizze einer Ewigen Idealen Geschichte, nach

der die Geschichte aller Nationen in der Zeit verläuft, mit sicheren Ursprüngen und sicherer Fortdauer . . . . . . . . . 69 IX.  Idee einer neuen kritischen Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . 70



Ausführliches Inhaltsverzeichnis

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X.  i. … mit einer bestimmen Art von synchronen

Zeugnissen aus den Zeiten, in denen die heidnischen Nationen entstanden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 XI.  ii. … mit einer bestimmten Art von Medaillen der

ersten Völker, mit denen die Sintflut bewiesen wird . . . . . . 72 XII.  iii. … mit physischen Beweisen, mit denen die

Giganten als erstes Prinzip der profanen Geschichte und ihrer Fortdauer mit der heiligen bewiesen werden . . . . . . . . 74 XIII.  iv. … indem wir den Mythen natürliche Bedeutungen

geben, entdecken wir, dass zu einer bestimmten Zeit nach der Sintflut die Prinzipien der Idolatrie und der ­Divination entstanden sind, die den Römern, Griechen und Ä ­ gyptern gemeinsam sind, nachdem diese im Orient durch ein ­anderes Prinzip entstanden waren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 XIV.  v. … mit metaphysischen Beweisen, mit denen man

findet, dass die ganze Theologie der Heiden ihre Prinzipien der Poesie verdankt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 XV.  Mit einer Metaphysik des Menschengeschlechts

findet man das große Prinzip der Teilung der Felder und den ersten Umriss der Herrschaften . . . . . . . . . . . . . . 79 XVI.  Der Ursprung des Adels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

XVII.  Wir finden den Ursprung des Heroismus . . . . . . . . . 85 XVIII.  Diese neue Wissenschaft geht vor gemäß ­einer

­ oral des M M ­ enschengeschlechts, durch die man die ­Grenzen findet, innerhalb deren die Sitten der Nationen ­verlaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 XIX.  Diese neue Wissenschaft geht vor gemäß einer Politik

des ­Menschengeschlechts, mit der die ersten Regierungen im Zustand der Familien sich als göttlich herausstellen . . . . 87 X X.  Die Väter erweisen sich als erste monarchische Könige

im Zustand der Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 X XI.  Folglich erweisen sich die ersten Königreiche

im Zustand der ersten Städte als heroisch . . . . . . . . . . . . . . 89

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Ausführliches Inhaltsverzeichnis

X XII.  Das Prinzip der heroischen Tugend . . . . . . . . . . . . . 90 X XIII.  Die Prinzipien aller drei Formen von Republik . . . 91 X XIV.  Die Prinzipien der ersten aristokratischen

Republiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 X XV.  Entdeckung der ersten Familien, die nicht nur die

eigenen Kinder umfassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 X XVI.  Bestimmung der ersten Okkupationen,

Usukapionen und ­Manzipationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 X XVII.  Entdeckung der ersten Duelle oder der ersten

Privatkriege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 X XVIII.  Ursprung der Genealogien und des Adels der

ersten Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 X XIX.  Entdeckung der ersten Asyle und des ewigen

Ursprungs aller Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 X X X.  Entdeckung der ersten Klientelen und Entwurf des

Sich-Ergebens im Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

X X XI.  Entdeckung der Lehen in den heroischen Zeiten . 97 X X XII.  Punkt des Entstehens der heroischen Republiken

aus den Klientelen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 X X XIII.  Entdeckung der ersten Friedensschlüsse und der

ersten Tribute in zwei uralten Agrargesetzen, die Quellen des natürlichen und des zivilen Eigentums und beide des souveränen Eigentums sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 X X XIV.  Entdeckung der bei den Latinern, Griechen

und Asiaten ­gleichartigen heroischen Republiken und der anderen Anfänge der römischen Komitien . . . . . . . . . 100 X X XV.  Entdeckung des heroischen oder aristokratischen

römischen Königtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 X X XVI.  Entdeckung der Wahrheit über das Zwölftafel-

gesetz, auf dem der größere Teil des Rechts, der Regierung und der ­Geschichte Roms beruht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105



Ausführliches Inhaltsverzeichnis

301

X X XVII.  Das ewige Prinzip der menschlichen

Regierungen in den freien Republiken und in den Monarchien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 X X XVIII.  Das natürliche Recht der Völker hat eine

konstante Einförmigkeit bei den Nationen . . . . . . . . . . . . 112 X X XIX.  Entdeckung des ersten natürlichen Rechts der

Völker, des göttlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 XL.  Prinzip der äußeren Gerechtigkeit der Kriege . . . . . . 113 XLI.  Das beste Recht als Prinzip der Rache und der

Ursprung des h ­ eraldischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 XLII.  Das Recht der Fessel [Nexum] als Anfang der

Obligationen und als erste Form der Unterdrückung und der Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 XLIII.  Die ersten Rechte der Nationen, betrachtet unter

dem Blickwinkel der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 XLIV.  Entdeckung des zweiten natürlichen Rechts der

Völker, des heroischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 XLV.  Das alte römische Recht erweist sich als gänzlich

heroisch und als Quelle der Virtus und der Größe Roms . 117 XLVI.  Entdeckung des letzten Rechts der Völker, des

menschlichen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 XLVII.  Beweis der Wahrheit der christlichen Religion

und gleichzeitig ­Widerlegung der drei Systeme von Grotius, Selden und Pufendorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 Idee einer Jurisprudenz des Menschengeschlechts, die nach bestimmten Zeitabschnitten variiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

XLVIII.  Jurisprudenz des abergläubischen Zeitabschnitts . 125 XLIX.  Entdeckung des bei allen alten Nationen

gleichförmigen Arkanums der Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . 126 L.  Beweis, dass die Gesetze nicht durch Betrug

entstanden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

302

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LI.  Jurisprudenz des heroischen Zeitabschnitts, in dem

wir den ­Ursprung der gesetzlichen Handlungen der Römer entdecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 LII.  Prinzip der starren Jurisprudenz der Alten . . . . . . . . 128 LIII.  Entdeckung der Gründe, warum man glaubte,

das Zwölftafelgesetz stamme aus Sparta . . . . . . . . . . . . . . 129 LIV.  Jurisprudenz des menschlichen Zeitabschnitts und

der Beginn der milden Jurisprudenz der späten Römer . . . 130 LV.  Entdeckung der Gründe, warum man glaubte,

das Zwölftafelgesetz komme aus Athen . . . . . . . . . . . . . . 131

LVI.  Entdeckung der wahren Elemente der Geschichte . . 132

LVII.  Neue historische Prinzipien der Astronomie . . . . . . 133 LVIII.  Idee einer vernünftigen Chronologie der dunklen

und mythischen Zeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 LIX.  Entdeckung neuer Arten von Anachronismen und

anderer ­Prinzipien, um diese zu vermeiden . . . . . . . . . . . . 135

LX.  Neue historische Prinzipien der Geographie . . . . . . . 138 LXI.  Entdeckung des großen Prinzips der Ausbreitung

der Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 LXII.  Entdeckung des Prinzips der Kolonien und des

römischen, ­latinischen, italischen und provinzialen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 LXIII.  Entdeckung der Art der ultramarinen

heroischen Kolonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 LXIV.  Entdeckung des ersten Prinzips dieser

Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 LXV.  Anfänge der verborgenen Weisheit, die wir in den

Anfängen der volkstümlichen Weisheit gefunden haben . 150 LXVI.  Idee einer zivilen Geschichte der Erfindungen der

Wissenschaften, der Disziplinen und der Künste . . . . . . . 151 LXVII.  Bestimmung des ewigen Punktes des

vollkommenen Zustands der Nationen . . . . . . . . . . . . . . . 153



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303

DR IT TES K APITEL

Prinzipien dieser Wissenschaft vonseiten der Sprachen . . . . . 155 I.  Neue Prinzipien der Mythologie und der Etymologie . . 155 II.  Neue Prinzipien der Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 III.  Bestimmung des Entstehens des ersten Mythos,

des Anfangs der ­Idolatrie und der Divination . . . . . . . . . 157 IV.  Erstes Prinzip der göttlichen Poesie oder der

Theologie der Heiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 V.  Entdeckung des Prinzips der Poetischen Charaktere,

des Wörterbuchs der ersten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . 160 VI.  Entdeckung der wahren poetischen Allegorien . . . . . 162

VII.  Idee einer natürlichen Theogonie . . . . . . . . . . . . . . . 163 VIII.  Von den Göttersagen über die Heldensagen bis

zu den Dingen der sicheren Geschichte mussten die Ursachen fortdauern, die auf die ­bekannte heidnische Welt einwirken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 IX.  Sieben Prinzipien der Dunkelheit der Mythen.

Erstes Prinzip: Von den poetischen Monstren . . . . . . . . . 165 X.  Zweites Prinzip: Von den Metamorphosen . . . . . . . . . 166 XI.  Drittes Prinzip: Von der Verworrenheit der Mythen . 166 XII.  Viertes Prinzip: Von der Veränderung der Mythen . . 167 XIII.  Fünftes Prinzip: Von der Verfremdung der Mythen

hinsichtlich der Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 XIV.  Sechstes Prinzip: Von der Verfremdung der Mythen

durch Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Wichtige Entdeckungen des Rechts des Krieges und des Friedens durch dieses Prinzip der Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . 172 XV.  Siebtes Prinzip der Dunkelheit der Mythen:

das Geheimnis der Divination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 XVI.  Prinzip der Verderbnis der Mythen . . . . . . . . . . . . . 176

304

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XVII.  Entdeckung dreier Zeitalter von heroischen Poeten

vor Homer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

XVIII.  Beweis der Wahrheit der christlichen Religion . . . 180 XIX.  Wieso war die erste gesetzgebende Weisheit

Weisheit der Poeten ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 X X.  Von der Weisheit und der göttlichen Kunst Homers . 181 X XI.  Wie die Prinzipien der verborgenen Wissenschaften

in den ­Homerischen Mythen gefunden wurden . . . . . . . . 183 X XII.  Art des Entstehens der ersten, der göttlichen

Sprache bei den Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 X XIII.  Art und Weise der ersten natürlichen oder

natürlich bedeutenden Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 X XIV.  Art der Entstehung der zweiten, der heroischen

Sprache der Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 X XV.  Wie sich die poetische Sprache gebildet hat,

die auf uns gekommen ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 X XVI.  Andere Prinzipien der poetischen Vernunft . . . . . 192

X XVII.  Der wahre Ursprung der heroischen Impresen . . 194 X XVIII.  Andere Prinzipien der Wissenschaft von den

Wappen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 X XIX.  Neue Entdeckung des Ursprungs der

Geschlechterwappen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 X X X.  Weitere Ursprünge der militärischen Insignien . . . 204

Heroische Ursprünge des Hohen Ordens vom Goldenen Vlies und des Königlichen Wappens von Frankreich . . . . . . . . . . . . 207 X X XI.  Weitere Prinzipien der Wissenschaft von den

Medaillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 X X XII.  Mit der Sprache der Waffen werden die

Prinzipien des natürlichen Rechts der Völker erklärt, das die römischen Juristen behandeln . . . . . . . . . . . . . . . . 209



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305

X X XIII.  Die Sprache der Waffen ist zum Verständnis der

barbarischen G ­ eschichte notwendig . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 X X XIV.  Vom dritten Teil der poetischen Sprache, also

von den ­konventionellen Redeweisen . . . . . . . . . . . . . . . . 218 X X XV.  Entdeckung der gemeinsamen Anfänge aller

artikulierten Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 X X XVI.  Entdeckung der wahren Ursachen der

lateinischen Sprache und, nach ihrem Beispiel, aller anderen Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 X X XVII.  Entdeckung der Anfänge des Gesangs

und der Verse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 X X XVIII.  Idee eines allen heimischen Sprachen

gemeinsamen Etymologicums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 X X XIX.  Idee eines Etymologicums der Wörter

fremder Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 XL.  Idee eines universellen Etymologicums für die

Wissenschaft von der Sprache des natürlichen Rechts der Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 XLI.  Idee eines allen Nationen gemeinsamen Diktionärs

geistiger Wörter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 V IERTES K A PITEL

Grund der Beweise, auf denen diese Wissenschaft b­ eruht . . . . 237 LETZTES K A PITEL

Entwicklung der Gegenstände, in der sich mit e­ inem Mal die Philosophie der Menschheit und die U ­ niversalgeschichte der Nationen bilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Gleichförmigkeit des Laufs der Menschheit in den Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Zwei ägyptische Altertümer stellen sich als Prinzipien dieser Wissenschaft heraus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

306

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Die Prinzipien dieser Wissenschaft finden sich in den ­A nfängen der Heiligen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Zusatz über die vorsintflutliche Geschichte . . . . . . . . . . . 245

Begreifen der dunklen Geschichte der Assyrer, Phönizier und Ägypter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Zeitalter der Götter Griechenlands, die sich als ­göttliche Prinzipien aller heidnischen menschlichen Dinge erweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Gleichförmigkeit des Zeitalters der Götter bei den alten h ­ eidnischen Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Das Zeitalter der Heroen Griechenlands . . . . . . 264 Gleichförmigkeit des heroischen Zeitalters bei den alten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270

Zeitalter der Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

Schluss des Werks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Zusammenfassung

VOLKST Ü MLICHE Ü BER LIEFERU NGEN . . . . . . . 281 A LLGEMEINE ENTDECKU NGEN . . . . . . . . . . . . . . 293