Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat: »Denk-Mal«-Themen, Geschichtsorte, Museen, nationaler und universaler Kulturgüterschutz [1 ed.] 9783428535637, 9783428135639

Mit dieser Studie vollendet sich eine Reihe von Monographien zu einer – sit venia verbo – »Tetralogie«. Auf dem Hintergr

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Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat: »Denk-Mal«-Themen, Geschichtsorte, Museen, nationaler und universaler Kulturgüterschutz [1 ed.]
 9783428535637, 9783428135639

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 62 PETER HÄBERLE

Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat „Denk-Mal“-Themen, Geschichtsorte, Museen, nationaler und universaler Kulturgüterschutz

Duncker & Humblot · Berlin

Peter Häberle

Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 62

Die Erinnerungskultur im Verfassungsstaat „Denk-Mal“-Themen, Geschichtsorte, Museen, nationaler und universaler Kulturgüterschutz

Von

Peter Häberle

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13563-9 (Print) ISBN 978-3-428-53563-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-83563-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 * ∞ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Mit dieser Studie vollendet sich eine Reihe von Monographien zu einer – sit venia verbo – „Tetralogie“. Auf dem Hintergrund der 1982 geschriebenen „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (2. Aufl. 1998) galt die erste Konkretisierung dem Thema „Feiertage als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“ (1987); es folgten 2006 die „Nationalhymnen“ und 2007 die „Nationalflaggen“. Zur Grundierung der offenen Gesellschaft der Verfassunggeber und Verfassungsinterpreten fehlte es noch an einer Erforschung des vierten Themenfeldes von „Denkmälern“, anderen Erinnerungen (hierzu gehören, neben Ehrenpreisen wie der Goethe-Medaille der Büchner- und Börne-Preis, Gedenkmünzen, aber auch zeitgenössische (z. B. F. Liszt), später wiedergefundene Münzen wie der Augustalis Friedrichs II., sonstige Themen des kulturellen Gedächtnisses eines Volkes, auch wenn speziell der Kulturgüterschutz schon 1996 aus der Sicht des Verf. erarbeitet worden ist (in: F. Fechner u. a. (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutz, S. 91 ff.)). Gerade in den Zeiten der vor allem ökonomisch sich vorantreibenden Globalisierung bedarf es einer auch wissenschaftlichen Vergegenwärtigung des kulturellen Wurzelgeflechtes bzw. kulturellen Humus’, die den Typus Verfassungsstaat „im Innersten“ zusammenhalten. Aktuelle Anlässe an Beispielen zum „Nach-Denken“ und „Sich-Erinnern“ gibt es viele: Einleitend sei nur der sehr deutsche Kampf um Straßenumbenennungen (etwa 2010 in München: „Meistermann“, in Münster und anderen Städten, Carl Diem, FAZ vom 6. November 2010, S. 2) erwähnt (in Bayreuth und München wird die Hans-Meiser-Straße diskutiert, FAZ vom 8. Mai 2010, S. 35; es gibt ein Straßennamenlexikon in Bayreuth: von R. und V. Kohlheim, 2010). Spekta-

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Vorwort

kulär war die Umbenennung der ostdeutschen Karl-MarxStadt in das alte „Chemnitz“. In Rostock wird derzeit gestritten, ob die Ilja-Ehrenburg-Straße umbenannt werden soll, da der Namensträger von Hass auf Deutschland erfüllt gewesen sei; demgegenüber formiert sich ein linkes Bündnis für den Erhalt des Straßennamens (FAZ vom 27. Juni 2010, S. 2). In Dresden war die Statue von Lenin 1992 abgerissen worden. Heute verlangt eine Initiative im Namen der „Dresdner Erinnerungskultur“ die Errichtung einer Denkmalstätte für H. Kohls Rede vor der Ruine der Frauenkirche am 19. Dezember 1989 (FAZ vom 15. November 2010, S. 2). Überhaupt ist das Auf und Ab von Straßenbenennungen ein einschlägiger Vorgang (man denke etwa an J. R. Becher als Poeta laureatus der DDR, aber auch an die berechtigten zahlreichen Geschwister Scholl-Straßen und -Schulen in Deutschland). Bemerkenswert ist zudem die Streichung von Namen bzw. Autoren aus einer städtischen Ehrenbürgerliste (so leider geschehen in Leipzig in Bezug auf K. Binding, FAZ vom 10. Mai 2010, S. 29). Ein Merkposten ist überdies die immer wieder vorkommende verwerfliche Schändung von Mahnmalen (z. B. zu Ehren von Juden in Europa). Die Mauerreste in Berlin werden jetzt sorgfältig denkmalgeschichtlich behandelt. In Berlin wird derzeit heftig um die Gestaltung eines Einheitsdenkmals gestritten (FAZ vom 5. Oktober 2010, S. 31). Gleiches gilt für die jüngst vertagte Rekonstruktion des Berliner Schlosses bzw. das HumboldtForum. Bundeskanzler H. Kohl und Generalsekretär M. Gorbatschow hatten früh und bewusst den bleibenden Schutz des sowjetischen Panzerdenkmals in Berlin im Rahmen der Deutschen Einigung 1989 verabredet. Weltweit finden sich immer mehr Straßennamen zur Erinnerung an Weltbürger wie M. Gandhi, A. Schweitzer, Berta von Suttner. Demgegenüber war es ein Fanal, dass im Irak die Hussein-Statue beim Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten gestürzt wurde (2003). In Ostberlin bleibt die Doppelstatue von Marx / Engels zu Recht erhalten. In Rom wurde ein von Mussolini errichtetes antikisierendes Stadion nach 1945 nicht

Vorwort

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abgerissen. In Warschau kam es zu einem heftigen Streit darüber, wo das zur Erinnerung an den bei einem Flugzeugabsturz umgekommenen Staatspräsidenten L. Kaczynski aufgestellte Kreuz vor dem Palast endgültig Platz fände (FAZ vom 17. Sept. 2010, S. 5). Auf traurige Weise aktuell ist der Einsturz des Kölner Stadtarchivs (März 2009), weil damit Köln ein Stück seines kollektiven bzw. kommunalen Gedächtnisses verloren hat (vgl. Rheinischer Merkur Nr. 40 / 2010, S. 18: „Die Gedächtnisstützer, Eine Stiftung soll die Erinnerung retten“). Vorbildlich ist ein Beitrag von E. Beaucamp über „Künstlermuseen, eine Hommage an die wichtigen Erinnerungsstätten“ (FAZ vom 1. Oktober 2010, S. 38, mit Hinweisen z. B. auf das Lenbachhaus in München, auf das Lehmbruchmuseum in Duisburg, die NoldeStiftung in Seebüll, Kolbes Nachlassmuseum in Berlin, das A. Macke-Haus in Bonn, die Dix-Stiftung in Gera sowie die Tübke- und Matheuer-Stiftungen in Leipzig). Einschlägig ist auch die geplante Restaurierung von H. von Kleists Wannseegrab (FAZ vom 8. Oktober 2010, S. 34). Hamburg wirbt in Broschüren mit seiner „Museumswelt Hamburg 2009“, der Landschaftsverband Westfalen-Lippe bietet 2009 / 2010 eine „LWL Museums Tour“ als „Entdeckungsreise“ an. Vielerorts gibt es „Museumsnächte“. Die Berliner Museumsinsel ist einzigartig, ebenso das Frankfurter Museumsufer. Schon ein kurzer Blick in die Geschichte wird ergiebig: Im antiken Rom gab es offiziell die „damnatio memoriae“, der schlechte Herrscher wie Commodus anheim fielen. Es kann auch zu guten friedlichen Handlungen in der jüngsten Geschichte kommen, wie dem historischen Kniefall von Bundeskanzler Willy Brandt in Warschau, die als solche zum DenkMal wurden und bis heute in Erinnerung bleiben und Teil des deutschen „Bild-Gedächtnisses“ sind (seit 1970). Schon einleitend sei dargetan, dass das Thema dieser Studie weit gefasst ist. Denkmal wird im weitesten Sinne verstanden und z. B. in Mahnmal, Denkmal, Gedenkstätte unterteilt. Hinzugenommen seien Erinnerungsorte wie Museen, Archive,

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Vorwort

Gedenkstätten und speziell die Kulturgüter. Hierher gehören auch Kulturpreise wie der Chopin-Wettbewerb in Warschau oder der Preis des Historischen Kollegs in München. Der Blick weitet sich auf den schon bekannten Begriff „kulturelles“ bzw. „kollektives Gedächtnis“1, den kulturellen Schutz von Monumenten der Geschichte, des kulturellen Erbes und des „nationalen Schatzes“. Durchweg geht es um Themen, die eine offene Gesellschaft von der Geschichte her begreifen wollen, um damit auch ein Fundament für die Zukunft zu gewinnen. Oft ist die Erinnerungskultur präkonstitutionelles bzw. vordemokratisches Erbe, das der Nationalstaat als Wurzelgeflecht integriert. Freilich muss sich diese Studie in der Verarbeitung des fast uferlosen Materials begrenzen. Oft können nur Ausschnitte zur Sprache gebracht werden (z. B. in Gestalt einer zeitlich begrenzten Auswahl von denkmalbezogenen Nachrichten in Tageszeitungen – ähnlich dem seinerzeitigen Versuch, die Flaggenwirklichkeit von 2007 einer bestimmten Periode in Deutschland nachzuzeichnen (Nationalflaggen, insbesondere S. 39 f., 136 ff.). Der Verfasser hofft, dass auch diese Monographie als seine letzte von der wissenschaftlichen Öffentlichkeit freundlich aufgenommen wird – ähnlich vielleicht wie die drei ihren Kontext bildenden schon erwähnten Studien zu Feiertagen, Nationalhymnen und Nationalflaggen – wobei der „Sonntag als Verfassungsprinzip“ (1. Aufl. 1988, 2. Aufl. 2006) ein einschlägiges Seitenstück darstellt. Im Ganzen dient das Büchlein auch dem Zweck, die Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (die wohl nicht ganz zufällig in dem um seine Identität ringenden Lateinamerika großes Echo findet) zu unterfüttern und von ihren Einzelthemen her fortzuschreiben. 1 Grundlegend: M. Halbwachs, La mémoire collective, 1939 / 1950; deutsch: Das kollektive Gedächtnis, 1985 / 1991; J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 3. Aufl. 2000; H. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, 2. Aufl. 2008; A. von Arnauld, Regelentstehung und kulturelles Gedächtnis, in: ders. (Hrsg.), Recht und Spielregeln, 2003, S. 209 ff.; J. Krüper, Grundlagen des Rechts, 2010, § 14.

Vorwort

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Gewidmet ist dieses Büchlein dem Gedächtnis an den unvergesslichen D. T. Tsatsos, den „deutschen Griechen“, und den früh verstorbenen, weiland Marburger Assistenten des Verfassers, Herrn Rechtsanwalt Dr. R. Pfaff. Bayreuth, im November 2010

Peter Häberle

Inhalt Erster Teil Verfassungsrechtliche Textstufen zur geschichtlichen Dimension, zum Denkmalschutz und sonstiger Erinnerungskultur (Auswahl) – im Kontext von Beispielen der Weltkulturerbe-Stätten

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Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

I.

Textstufen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

16

II.

Geltende Verfassungstexte in den anderen EU-Mitgliedsländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

III. Textstufen im EU-Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

IV. Textstufen in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

V.

Verfassungstexte in Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

VI. Inkurs: Prägnante ältere Verfassungen in Europa . . . . . . . . . . . .

44

VII. Verfassungen in Übersee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

1. Lateinamerika und Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

2. Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

3. Asien (Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

Exkurs: Die kommunistischen Verfassungen sozialistischer Staaten 1952 – 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Zweiter Teil

I. II.

Wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme

86

Beispiele für Erinnerungskultur bzw. Denkmalthemen aus der Geschichte und Gegenwart (allgemein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

Denkmalthemen bzw. Erinnerungskultur im Spiegel von deutschen Tageszeitungen aus vier Monaten (2010) . . . . . . . . . .

91

12

Inhalt

Dritter Teil Insbesondere: National-verfassungsstaatlicher und universaler Kulturgüterschutz – ein Textstufenvergleich

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I.

Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

II.

Kulturgüterschutz im Spiegel neuerer (nationaler) Verfassungstexte auf dem Forum der Unesco-Texte (Elemente einer Bestandsaufnahme) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Deutschsprachige Verfassungstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Andere europäische Verfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Iberische und lateinamerikanische Verfassungen . . . . . . . . . . 105 4. Neue osteuropäische Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 5. Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

III. Verfassungstheoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Eine kleine Verfassungslehre des Kulturgüterschutzes . . . . 118 2. Verfassung als Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Die Kontextualität von Kultur und Natur – eine anthropologische Konstante in vielen Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 IV. Die Konstituierung der Menschheit aus nationalem und internationalem Kulturgüterschutz. Sieben Thesen: Menschheitsbezüge (des Verfassungsstaates) in kulturwissenschaftlicher Sicht, die Weltgemeinschaft der Kulturstaaten, weltbürgerliche Freiheit dank Kultur, das multikulturelle Erbe der Welt, die Kultur der Menschheit, Bedingtheitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Die Weltgemeinschaft der Kulturstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Der „Weltgesellschaftsvertrag“ in Sachen Kultur und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Welt- (und staats-)bürgerliche Freiheit dank Kultur . . . . . . 126 4. Das universal geschützte kulturelle Erbe als Multi-Kultur 128 5. Menscheitsbezüge „im“ Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 6. Die Konstituierung der Menschheit aus dem internationalen Kulturgüterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 7. Das Bedingtheitsverhältnis von internationalem und nationalem Kulturgüterschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

Inhalt

13

Vierter Teil Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen und andere Ausdrucksformen der Erinnerungskultur im Verfassungsstaat

134

I.

Die besondere Aktualität der „Erinnerungskultur im Verfassungsstaat“, die Entwicklungsoffenheit des „kulturellen Erbes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

II.

Vergangenheitsaufarbeitung, Wahrheitskommissionen als neue verfassungsstaatliche Verfahren, Grenzen . . . . . . . . . . . . . . 137

III. Museen und Bibliotheken als „Tesoro“ bzw. „Patrimonio“ des Verfassungsstaates und als Gegenstand kultureller Teilhabe der Bürger und Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 IV. Amnestien, Sperrfristen im Archivwesen, Herausforderungen für den Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 V.

Ein Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Ausblick und Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Erster Teil

Verfassungsrechtliche Textstufen zur geschichtlichen Dimension, zum Denkmalschutz und sonstiger Erinnerungskultur (Auswahl) – im Kontext von Beispielen der Weltkulturerbe-Stätten Vorbemerkung Die Textstufenanalyse des Verfassers, theoretisch vor mehr als 20 Jahren entworfen1, wurde an vielen einzelnen Sachthemen des Verfassungsstaates erprobt. Erwähnt seien die Nationalhymnen, die Nationalflaggen, aber auch das Kulturverfassungsrecht im Ganzen. Da die Verfassunggeber hochkonzentriert ihre Themen auf Texte bringen müssen, erweist sich für den Beginn einer wissenschaftlichen Studie der Textstufenvergleich als besonders ergiebig. Angesichts der heute weltweiten Produktions- und Rezeptionsprozesse in Sachen Texte, Judikate und wissenschaftliche Theorien (eine Trias) ist im Auge zu behalten, dass oft später auf Texte und Begriffe gebracht wird, was in der Verfassungswirklichkeit „gelaufen“ ist. So haben die ostdeutschen Bundesländer als Verfassunggeber nicht selten an Urteilen des BVerfG Maß genommen und diese auf eine Textstufe gebracht. Spektakuläres Beispiel ist die Aufgabe der „Grundversorgung“ des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (Art. 12 Abs. 1 Verf. Thüringen). Oft übernehmen aber auch einzelne nationale Verfassunggeber heute das, was in benachbarten Ländern früher oder neuestens durch Verfassungsänderung oder Verfassunggebung auf Textstufen 1 Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, FS Partsch, 1989, S. 555 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

gehoben worden ist. Vielfach kann man überdies beobachten, dass der Verfassungsänderer materielle Entwicklungen der Verfassungswirklichkeit formal sozusagen „nachholt“. Auf der Ebene der Philosophie gesprochen, steckt in dem vom Verfasser entwickelten Textstufenparadigma ein Stück Hegel: Die Wirklichkeit ist mitunter in Sachen Verfassungsstaat so „vernünftig“, dass sie es verdient, in die Textform gegossen zu werden. Darum beginnen die folgenden Überlegungen zur geschichtlichen Dimension, zu Denkmalschutz, zu Archiven und zum Schutz des kulturellen Erbes sowie allgemein zur Erinnerungskultur mit einem in Raum und Zeit ausgreifenden verfassungsrechtlichen Textstufenvergleich. Illustriert seien von Fall zu Fall Beispiele für Weltkulturerbestätten, zumal sie alle – als universales Kulturgut – auch nationales Kulturgut sein dürften; dieses kann nämlich beim besten Willen nicht in seiner ganzen Fülle aufgelistet werden.

I. Textstufen in Deutschland 1. Hier ist ein Blick auf die alten deutschen Bundesländer besonders ergiebig. Die Präambel der Verfassung Bayern (1946)2 formuliert wie kaum ein anderer Text die jüngere und ältere Geschichte. Im Übrigen normiert Art. 3 Abs. 2 Verf. Bayern (1946 / 1984) in einem Kontext: Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen und die kulturelle Überlieferung.

Mag auch hier an den Staat gedacht sein: die Aufgabe der Bürger, sich der kulturellen Überlieferung bewusst zu sein, ist sicher mitgewollt (die Präambel spricht von „mehr als tausendjähriger Geschichte“, von „Trümmerfeld“, „zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordung ohne Gott . . . die Überlebenden des zweiten Weltkrieges geführt hat“). 2 Aus der Kommentarliteratur: J. F. Lindner / M. Möstl / H. A. Wolff, Verfassung des Freistaates Bayern, Kommentar, 2009.

I. Textstufen in Deutschland

17

Pionierhaft ist Art. 83 Abs. 1 in den Worten gestaltet: „örtliche Kulturpflege“, „Erhaltung ortsgeschichtlicher Denkmäler und Bauten“. So ist die „Ortsgeschichte“ namhaft gemacht und ein Beispiel für „Geschichtsorte“ gegeben („kommunales Kulturverfassungsrecht“). Art. 141 Abs. 2 ebd. verlangt i. S. des kulturellen Trägerpluralismus und in reichem Wortschatz: Staat, Gemeinden und Körperschaften des öffentlichen Rechts haben die Aufgabe, die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft zu schützen und zu pflegen, herabgewürdigte Denkmäler der Kunst und der Geschichte möglichst ihrer früheren Bestimmung wieder zuzuführen, die Abwanderung deutschen Kunstbesitzes ins Ausland zu verhüten.

Es ist durchaus sinnvoll, den Denkmalschutz in Bezug auf die Kunst auf die Natur zu erweitern, denn die Natur ist heute fast durchweg vom Menschen kulturell gestaltete Natur. Bayern besitzt viele Kulturgüter, etwa 1350 Museen, die Altstadt Regensburg, über die Schlösser von Ludwig II. hinaus. Es wird seinem Auftrag aus Art. 3 Abs. 3 mehr als gerecht. In der Verfassung von Hessen (1946 / 91) ist bemerkenswert, dass das Staatsziel Umweltschutz durchaus neue Verfassungstexte provoziert (Art. 26a) – ähnliches gilt für andere deutsche Landesverfassungen –, während der Denkmalschutz nach dem Vorbild oft der Weimarer Verfassung (Art. 150) gestaltet ist und nur wenig verändert wird. Art. 62 lautet: Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und Kultur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden. Sie wachen im Rahmen besonderer Gesetze über die künstlerische Gestaltung beim Wiederaufbau der deutschen Städte, Dörfer und Siedlungen.

Leider wurde Satz 2 in der Praxis nicht immer befolgt, man denke nur an die vielen Bausünden in Frankfurt / M. Art. 3c Abs. 2 Verfassung Baden-Württemberg (1953 / 2000) in ein und demselben Kontext lautet3:

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Die Landschaft sowie die Denkmale der Kunst, der Geschichte und der Natur genießen öffentlichen Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden.

Der Denkmalbegriff wird hier sichtbar von der Kunst auf die Geschichte und die Natur erweitert. Die Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen (1950 / 1992) bestimmt in Art. 18 Abs. 2: Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Kultur, die Landschaft und Naturdenkmäler stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände.

Die Formulierung „Denkmäler der Geschichte“ belegt, wie sehr das Nachdenken über Geschichte zum Programm dieses Landes erhoben wird, auch volkspädagogisch (vgl. Art. 7 Abs. 2). Die Verfassung von Rheinland-Pfalz (1947 / 2000) integriert einen ähnlichen Gedanken in Art. 37: Das Volksbildungswesen einschließlich der Volksbüchereien und Volkshochschulen soll von Staat und Gemeinden gefördert werden. Die Errichtung privater oder kirchlicher Volksbildungseinrichtungen ist gestattet.

Das Volksbildungswesen lebt nicht zuletzt aus der geschichtlichen Dimension eines Landes. Art. 40 normiert einen weit gefächerten Denkmalschutz und ein kulturelles Teilhaberecht. Die Verfassung des Saarlandes (1947/ 1999) sagt in Art. 34 Abs. 2 Einschlägiges: Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates. Die Teilnahme an den Kulturgütern ist allen Schichten des Volkes zu ermöglichen.

Erneut sei die Reihung der Begriffe „Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur“ hervorgehoben, auch das kul3 Aus der Kommentarliteratur zu Denkmalschutz und Denkmalpflege: P. Feuchte / A. Hollerbach, in: P. Feuchte (Hrsg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1987.

I. Textstufen in Deutschland

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turelle Teilhaberecht. Erinnerungskultur wird greifbar. Mit zu lesen sind die Erziehungsziele in Art. 30. Die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein (1990 / 1998) erfindet einen bemerkenswerten Artikel zum Minderheitenschutz, der in Gestalt einer status-quo-Garantie ein kulturwissenschaftlich zu erschließendes Programm entwirft. Art. 5 Abs. 2 lautet: Die kulturelle Eigenständigkeit und die politische Mitwirkung nationaler Minderheiten und Volksgruppen stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände. Die nationale dänische Minderheit und die friesische Volksgruppe haben Anspruch auf Schutz und Förderung.

Art. 9 Abs. 3 ebd. bereichert den Kanon von KulturschutzThemen um das „Büchereiwesen“ und damit die Schriftkultur als Teil des kulturellen Gedächtnisses (Archive!). 2. Ein Blick auf die neuen deutschen Bundesländer: Die Brandenburgische Verfassung (1992) spricht schon in ihrer Präambel vom „Geiste der Traditionen von Recht, Toleranz und Solidarität in der Mark Brandenburg“. Damit liefert sie ein Beispiel für die in neueren Verfassungen oft vorkommende „Geist-Klausel“. Ganz in diesem Sinne bestimmt Art. 34 Abs. 2 ebd.: Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert. Kunstwerke und Denkmale der Kultur stehen unter dem Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände.

In Art. 39 Abs. 1 Verf. Brandenburg ist eine neue Wendung geglückt („gewachsene Kulturlandschaft als Grundlage gegenwärtigen und künftigen Lebens“. Sie zu schützen ist „Pflicht des Landes und aller Menschen“). Mit zu lesen sind die Erziehungsziele in Art. 28 („Zusammenleben der Kulturen und Völker“). Die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (1993 / 2000) formuliert schon eingangs in der Präambel:

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Im Bewusstsein der Verantwortung aus der deutschen Geschichte sowie gegenüber den zukünftigen Generationen.

Damit macht der Verfassunggeber am herausragenden Ort der Präambel die deutsche Geschichte zum Bezugspunkt. Entsprechendes wird auch in anderen Verfassungen, sogar Afrikas, begegnen. Die Verfassung des Freistaates Sachsen (1992) wählt eindrucksvoll die Geschichte ihrer Länder schon in der Präambel zum Bezugspunkt: Anknüpfend an die Geschichte der Mark Meißen, des sächsischen Staates und des niederschlesischen Gebietes, gestützt auf Traditionen der sächsischen Verfassungsgeschichte, ausgehend von den leidvollen Erfahrungen nationalsozialistischer und kommunistischer Gewaltherrschaft, eingedenk eigener Schuld an seiner Vergangenheit . . .

Unterstrichen sei der bemerkenswerte erfahrungswissenschaftlicher Ansatz und die programmatische Bezugnahme auf die jüngste Geschichte und die Verarbeitung der Vergangenheit. Art. 11 Abs. 2 zählt „öffentlich zugängliche Museen, Bibliotheken, Gedenkstätten“ auf (im Kontext kultureller Teilhabe) – ein Gedanke, der sich für den Verfassungsstaat als Typus verallgemeinern lässt. Die Verfassung des Landes von Sachsen-Anhalt (1992) normiert in Art. 36 Abs. 2 den geschichtsbezogenen Satz: Die heimatbezogenen Einrichtungen und Eigenheiten der einzelnen Regionen innerhalb des Landes sind zu pflegen.

Die Heimat ist ein Stück des kollektiven Gedächtnisses eines Volkes! (Art. 2 Verf. Baden-Württemberg spricht sogar von „Menschenrecht auf Heimat“, ebenso Art. 5 Abs. 1 S. 2 Verf. Sachsen). Glückliche Sätze, auch in Sachen „Erinnerungskultur“, finden sich in den folgenden Absätzen 3 und 4: Das Land und die Kommunen fördern im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten die kulturelle Betätigung aller Bürger, insbesondere dadurch, dass sie öffentlich zugängliche Museen, Büchereien, Gedenkstätten, Theater, Sportstätten und weitere Einrichtungen unterhalten.

I. Textstufen in Deutschland

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Das Land sorgt, unterstützt von den Kommunen, für den Schutz und die Pflege der Denkmale von Kultur und Natur.

Der Verfassunggeber von Sachsen-Anhalt denkt im gleichen Atemzug an „Museen, Büchereien, Gedenkstätten, Theater“ – ein Beleg für die Idee von diesen Themen als kulturellen Fundamenten des Verfassungsstaates. Speziell die Museen werden zwar relativ selten ausdrücklich in den Verfassungstexten berücksichtigt, sie bilden jedoch einen charakteristischen Speicher für Vergangenheit, je nach ihrem Widmungszweck, bald auf die Nation bezogen, bald quer durch Raum und Zeit aller Nationen und Kulturen. Ähnliches gilt für Büchereien und Archive, die wie Baudenkmäler auch eine „doppelte Nationalität“ haben können4. Die Verfassung des Freistaates Thüringen (1993 / 1997) reichert den traditionellen Denkmalschutz um bemerkenswerte Aspekte an. Art. 30 Abs. 2 lautet: Die Denkmale der Kultur, Kunst, Geschichte und die Naturdenkmale stehen unter dem Schutz des Landes und seiner Gebietskörperschaften. Die Pflege der Denkmale obliegt in erster Linie ihren Eigentümern.

Vieles ist zu kommentieren: der Brückenschlag des Denkmalbegriffs zur Geschichte, der Begriff „Naturdenkmale“ und das in Art. 30 Abs. 1 geschützte „Brauchtum“. Freilich: So bemerkenswert manche Textstufen dieser Art sind, die neueren Verfassunggeber mühen sich noch viel mehr um den Schutz von „Natur und Umwelt“. So hat die Verfassung Thüringens sich drei neue Artikel zu diesem Thema ausgedacht und damit eine eigene Dynamik neuer Textstufen dokumentiert (Art. 31, 32, 33, u. a. in Sachen Tierschutz und Auskunft über Umweltdaten). Aus der föderalen Verfassungswirklichkeit Deutschlands sei für die Bundesebene die Bundeskulturstiftung erwähnt, auch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

4 Dazu FAZ vom 27. Oktober 2010, S. 31: Aussöhner. Denkmalschutz: Zum Tod von A. Tomaszewski.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

II. Geltende Verfassungstexte in den anderen EU-Mitgliedsländern5 Im Folgenden einige prägnante Beispiele: Die Verfassung Estland (1992 / 2003) formuliert schon in ihrer Präambel den Bezug auf das kulturelle Fundament im Zeithorizont in den Worten: welcher (sc. der Staat) die Erhaltung des estnischen Volkes und der estnischen Kultur durch alle Zeiten garantieren muss . . .

Ein stabilisierendes Moment findet sich speziell für die ja schon vorhandenen nationalen Minderheiten in § 50: Nationale Minderheiten haben das Recht, im Interesse ihrer Volkskultur unter den im Gesetz über die Kulturautonomie der nationalen Minderheiten festgelegten Voraussetzungen und Verfahren, Selbstverwaltungseinrichtungen zu gründen.

Die Volkskulturen sind hier in Gestalt einer status quo-Garantie programmiert. Zum Weltkulturerbe erhoben ist in Estland die Altstadt von Tallin (Reval)6. Diese Stätte dürfte per se auch unter den nationalen Kulturgüterschutz fallen. Eine ähnliche Textgruppe findet sich in § 17 Abs. 3 S. 1 Verf. Finnland (1999 / 2000): Die Samen als einheimische Bevölkerung sowie die Roma und andere Bevölkerungsgruppen haben das Recht, ihre eigene Sprache und Kultur zu bewahren und zu entwickeln.

In § 20 Abs. 1 wird jedem eine Verantwortung für das „Kulturerbe“ aufgetragen. Weltkulturerbe in Finnland sind z. B. die Holzhäuser der Stadt Rauma und der Sägemühlenkomplex von Verla. Auch dieses universale Kulturgut dürfte vom nationalen Kulturgüterschutz erfasst sein. Indirekt wird so sein Stück kultureller Wirklichkeit Finnlands sichtbar. Zit. nach Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 6. Aufl. 2005. Zit. nach Unesco-Weltkulturerbe, die Kulturmonumente, 2002, S. 420. Die späteren Beispiele sind ebenfalls diesem Band entnommen. 5 6

II. Verfassungstexte in den anderen EU-Mitgliedsländern

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Art. 24 Abs. 6 Verf. Griechenland (1975 / 2001) formuliert: Die Denkmäler und historischen Stätten und Gegenstände stehen unter dem Schutz des Staates.

Der Denkmal-Schutzauftrag wird also um den Begriff der „historischen Stätten und Gegenstände“ erweitert, was eine Bereicherung im Kanon der konstitutionalisierten Textbausteine ist. Für Griechenlands Weltkulturerbe steht u. a. die Akropolis, die Altstadt von Korfu (2007). Wie nicht selten, ist die Präambel von Verfassungen für das Thema dieser Monographie besonders ergiebig. So heißt es in der Präambel Verf. Republik Irland (1937/ 2004): In dankbarer Erinnerung an ihren heldenhaften und unermüdlichen Kampf um die Wiedererlangung der rechtmäßigen Unabhängigkeit unserer Nation . . .

Hier wird die Kulturaufgabe des Denkens (und Handelns) in Gestalt aktiver Erinnerung an einen bestimmten historischen Vorgang auf eine Textstufe gebracht. Sichtbar wird für Irland die nationale Erinnerungsgemeinschaft. Im Teil „Grundprinzipien“ normiert die Verf. Italiens (1947 / 2003) in Art. 9 Abs. 2 (von D. Barenboim 2010 verlesen): Sie (sc. die Republik) schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation.

In diesem Text kommt schön zum Ausdruck, dass Landschaftsschutz und kulturelles Erbe in denselben Kontext gerückt werden7 – angesichts des Reichtums der Kulturlandschaften gerade in Italien nur konsequent. In Art. 117 Abs. 3 ebd. finden sich bei den Materien der konkurrierenden Gesetzgebung die Worte: „Aufwertung der Kultur- und Umweltgüter“. Schon hier sei auf die Fülle der Unesco-Weltkulturerbe-Stätten gerade in Italien verwiesen (unten Dritter Teil). Dramatisch 7

Aus der Lit.: C. Desideri, Paesaggio e paesaggi, 2010.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

ist der Verfall von Pompeji, seit 1997 Weltkulturerbe8. Aufhorchen lässt, dass in Rom künftig ein Platz nach M. Luther benannt werden soll9. Hier könnte es zu einem Beispiel dafür kommen, dass die Erinnerungskultur auch nach Jahrhunderten noch ex post angereichert wird: in Bezug auf einen „Ausländer“! Als durchaus ergiebig erweisen sich die neuen Regionalstatute in Italien, die in mancher Hinsicht als Vorformen „kleiner Verfassungen“ gelten können10. Das Regionalstatut von Apulien (2004) beschwört in Art. 1 Abs. 1 die Befreiung und Wiedererrichtung der Demokratie im Lande. Art. 2 Abs. 2 lit. s des Regionalstatuts von Kalabrien (2004) lautet (in Sachen „Prinzipien und Zwecke“): la salvaguardia del patrimonio artistico, culturale e naturale della Regione e la valorizzazione delle tradizioni popolari delle comunità calabresi, anche curando l’identità culturale della Calabria in Italia e all’estero;

Art. 9 Abs. 2 des Regionalstatuts von Latium (2004) normiert unter der Überschrift „Valorizzazione del patrimonio ambientale e culturale“ folgenden Text: (La Regione) nel rispetto delle norme di tutela, valorizza altres il patrimonio culturale, artistico e monumentale, salvaguardando, in particolare, i nuclei architettonici originari e l’assetto storico die centri cittadini.

Das Regionalstatut der Toscana (2005) formuliert als Hauptziele in Art. 4 lit. l und m: il rispetto dell’equilibrio ecologico, la tutela dell’ambiente e del patrimonio naturale, la conservazione della biodiversità, la promozione della cultura del rispetto per gli animali; la tutela e la valorizzazione del patrimonio storico, artistico e paesaggistico;

Das Regionalstatut Marken (2005) spricht in der Präambel von der „laizistischen Tradition“ und dem „religiösen Ur8 Dazu FAZ vom 10. November 2010, S. 1: „Wie eine kurzsichtige Kulturpolitik, Geldgier und der Tourismus das Weltkulturerbe zerstören“. 9 Vgl. FAZ vom 23. Oktober 2010, S. 5: „500 Jahre nach dem Besuch des Reformators“. 10 Die Texte sind zit. nach JöR 58 (2010), S. 455 ff.

II. Verfassungstexte in den anderen EU-Mitgliedsländern

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sprung“, die die Geschichte der Marken gekennzeichnet haben. Art. 5 Abs. 3 konkretisiert diesen Gedanken im Blick auf den Schutz des „historischen, künstlerischen und archäologischen Erbes“, dessen Bewahrung und Kenntnis gefördert werden sollen. Das Regionalstatut der Emilia Romagna (2004) nimmt sich unseres Themas schon in der Präambel an: consapevole del proprio patrimonio culturale, umanstico, ideale e religioso e dei principi di pluralismo e laicità delle istituzioni, opera per affermare:

Art. 2 lit. c führt diesen Gedanken fort in den Worten: il riconoscimento e la valorizzazione delle identità culturali e delle tradizioni storiche, che caratterizzano le comunità residenti nel proprio territorio;

Das Regionalstatut von Umbrien (2005) denkt in Art. 1 eindrucksvoll von der Geschichte der Region her, indem es auf das „Risorgimento“ verweist und sich auf die „nationale Identität“ beruft. Art. 11 Abs. 1 formuliert in diesem Geiste: La Regione riconosce l’ambiente, il paesaggio e il patrimonio culturale quali beni essenziali della collettività e ne assume la valorizzazione ed il miglioramento come obiettivi fondamentali della propria politica, per uno sviluppo equilibrato e sostenibile.

Der Abs. 2 gilt dem Schutz des kulturellen Erbes Umbriens. Das Regionalstatut Ligurien (2005) beschreibt in ihrer Präambel das Mittelalter ebenso wie das „Resorgimento“ und die „Resistenza“. Inhaltlich und sprachlich besonders eindrucksvoll ist der letzte Passus der Präambel: Memore delle sue tradizione e fedele alla lunga ed intensa storia che ha formato l’identità ligure come luogo di incontri positivi,

Unter den Prinzipien der Handlungsziele der Region taucht in Art. 2 Abs. 2 lit. i auch als neuer Begriff das „patrimonio paesaggistico“ auf, vielleicht als „Landschaftsbild“ zu übersetzen.11 11 Aus der deutschen Lit.: A. Scheidler, Verunstaltung des Landschaftsbildes durch Windkraftanlagen, NuR 2010, S. 525 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Das Regionalstatut der Abruzzen (2007) denkt schon in Art. 1 Abs.1 an die im Ausland befindlichen Mitbürger, die dank der Geschichte, der Tradition und der Kultur die Gesamtheit der Bürger ausmachen. In Art. 2 Abs. 4 beruft sich das Statut darauf, dass die Region ihre Werte aus den „christlichen Wurzeln“ anerkennt. Art. 8 Abs. 1 erfindet eine neue Wendung in dem Passus: . . . cura e valorizza i beni e le iniziative culturali; salvaguarda il patrimonio costituito dalle specificità regionali.

Zusammenfassend sei als Zwischenergebnis formuliert: Der in der Verfassung Italiens von 1947 sehr knapp formulierte Kulturgüterschutz hat sich in den neuen Regionalstatuten eindrucksvoll ausdifferenziert. Der erste Grund dürfte darin zu suchen sein, dass viele neuere Verfassungen detaillierte Textstufen zum Thema der kulturellen Erbes-12 und Identitätsklauseln bzw. zum Kulturgüterschutz erarbeitet haben. Der zweite Grund liegt in der wachsenden kulturellen Autonomie und der Wiederbesinnung auf die eigene Regionalgeschichte vor Ort: in den reichen italienischen Städtebildern und Kulturlandschaften. Die Verfassung von Lettland (1922 / 2003) normiert einen bemerkenswerten Identitäts-Artikel 114 – „Identität“ ist ja immer auch eine Aufgabe für das Nachdenken der Bürger: Angehörige ethnischer Minderheiten haben das Recht, ihre Sprache und ihre ethnische und kulturelle Identität zu wahren und zu entfalten.

Hier wird in dem Verb „zu wahren“ die Vergangenheit sichtbar, im „entfalten“ die Zukunft. Zur Illustration: Weltkulturerbe in Lettland ist der historische Stadtkern von Riga (1997). Die Verfassung der Republik Litauen (1992 / 2003) ist schon in ihrer Präambel ergiebig: having preserved its spirit, native language, writing, and customs. 12 Zu den „kulturelles Erbe-Klauseln“: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 98 f., 376 f. u. ö.

II. Verfassungstexte in den anderen EU-Mitgliedsländern

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Art. 37 gehört ebenfalls in den Kontext des Nach-Denkens: Citizens who belong to ethnic communities shall have the right to foster their language, culture, and customs.

Weltkulturerbe in Litauen ist die Altstadt von Vilnius (1994). Auch hier dürfte die Erhebung zum Weltkulturerbe auf den nationalen Kulturgüterschutz ausstrahlen bzw. diesem vorausgegangen sein. Eine thematische Erweiterung des Denkmalschutzes um benachbarte Themen findet sich in BVG Republik Österreich (1920 / 2002). Bei der Verteilung der Gesetzgebungs- und Vollziehungsangelegenheiten lautet der einschlägige Passus (Art. 10 Abs. 1 Ziff. 13): wissenschaftliche und fachtechnischer Archiv- und Bibliotheksdienst; Angelegenheiten der künstlerischen und wissenschaftlichen Sammlungen und Einrichtungen des Bundes; Angelegenheiten der Bundestheater mit Ausnahme der Bauangelegenheiten; Denkmalschutz.

Vor allem der Hinweis auf das Archivwesen, den Bibliotheksdienst und wissenschaftliche Sammlungen erinnern an das kollektive Gedächtnis einer Nation: alle genannten Einrichtungen streben tendenziell „ewigen Bestand“ an, fast vergleichbar einer formalen Ewigkeitsklausel nach dem Beispiel von Art. 79 Abs. 3 GG. Die Idee der kulturellen Teilhabe der Bürger ist freilich erst viel später (in deutschen Landesverfassungen) zu einem Text geronnen. In Österreich sind freilich die z. T. sehr ergiebigen neueren Texte der Landesverfassungen hinzuzunehmen bzw. mitzulesen. Dazu folgende Beispiele: Die Landesverfassung von Niederösterreich13 formuliert in Art. 4 bei den „Zielen und Grundsätzen des staatlichen Handelns“ u. a. (Ziff. 2) den „Schutz und die Pflege von Umwelt, Natur, Landschaft und Ortsbild“. Als allgemeine Tendenz zeigt sich, dass die Länder gegenüber dem Bund Stück für Stück gerade auch bei dem Thema Kultur ihre Verfassungs13

Texte zit. nach der Dokumentation in JöR 54 (2006), S. 384 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

autonomie ausbauen. Ziff. 5 ebd. verlangt die Förderung der „Heimatpflege“. All dies geschieht im Kontext der an anderer Stelle behandelten Landessymbole wie Farben, Wappen und Feiertage (Art. 7)14: eine Bestätigung der These von der Tetralogie. Die Tiroler Landesordnung (1989) ist ähnlich ergiebig und parallel konzipiert. Nur beschwört sie schon in der Präambel die „Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe“. In Art. 7 Abs. 2 („Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“) heißt es konsequent: Das Land Tirol hat für den Schutz und die Pflege der Umwelt, besonders die Bewahrung der Natur und der Landschaft vor nachteiligen Veränderung, zu sorgen.

Sicher darf der Verfassungsinterpret das Wort „Landschaft“ im Lichte der Präambel und ihrer Beschwörung der „geistigen und kulturellen Einheit des ganzen Landes“ als Kulturlandschaft lesen. Auch hier ist die Systematik des Verfassunggebers stimmig, denn Art. 6 befasst sich zuvor mit den „Landessymbolen“. Sie sind ebenso geschichtsträchtig wie kulturhaltig. Ähnliches gilt für die gedankenreiche Kärntner Landesverfassung (1996). Ihr Art. 6 in Sachen Farben, Wappen, Flaggen und Siegel wurde bereits an anderer Stelle gewürdigt15. Der neue Art. 7a Abs. 2 Ziff. 4 lautet eindrucksvoll: Die Eigenart und die Schönheit der Kärntner Landschaft, die charakteristischen Landschafts- und Ortsbilder sowie die Naturdenkmale und Kulturgüter Kärntens sind zu bewahren.

Die Verfassung des Landes Vorarlberg (1999) ist analog ergiebig. Nach Art. 6 (Landessymbole) denkt sie in Art. 7 nach dem Sonntagsschutz (Abs. 5) an unser Thema (Absatz 6): Das Land erlässt Vorschriften und fördert Maßnahmen zum Schutz der Umwelt, insbesondere zum Schutz der Natur, der Landschaft und des Ortsbildes sowie der Luft, des Bodens und des Wassers.

14 15

Dazu meine Monographie: Nationalflaggen, a. a. O., S. 29 f. Dazu P. Häberle, Nationalflaggen, a. a. O., S. 32.

II. Verfassungstexte in den anderen EU-Mitgliedsländern

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Im Ganzen zeigt sich einmal mehr, dass ein lebendiger werkstattartiger Föderalismus in Sachen Textstufen zu einem Thema wie dem Denkmalschutz, dem Kulturgüterschutz und den Erinnerungsstätten experimentell Neues schafft und auch hier jedem Zentralstaat überlegen ist. Weltkulturerbe in Österreich ist z. B. die Altstadt von Salzburg sowie Schloss und Park von Schönbrunn (1996) – eine gute Wahl. 2000 wurde die Kulturlandschaft Wachau, 2001 das historische Zentrum von Wien durch die Unesco geadelt. Das Mozarteum in Salzburg spricht für sich, auch als Archiv. Die Verfassung der Republik Polen (1997) normiert in ihrer Präambel eine Fülle von „Denk-Mal“-Bezügen und Geschichte. Ihre Stichworte lauten: in Dankbarkeit gegenüber unseren Vorfahren für ihre Arbeit . . ., für die Kultur, die im christlichen Erbe des Volkes . . . verwurzelt ist. an die besten Traditionen der Ersten und Zweiten Republik anknüpfend, verpflichtet, alles Wertvolle aus dem über tausendjährigen Erbe an kommende Generationen weiterzugeben

Die Tiefendimensionen des kollektiven Gedächtnisses bzw. kulturellen Erbes einer Nation lässt sich verfassungstextlich kaum besser in Erinnerung rufen. Schon hier seien im Verhältnis zum späteren Dritten Teil einige Beispiele für Weltkulturerbe in Polen genannt: die Altstadt von Krakau (1978), die Altstadt von Warschau (1980), die Stadt Thorn (1997). Sie sind auch spezifisch „europäisches Erbe“ im Sinne von Präambel EUV (Lissabon) und Art. 167 AEUV. Die „Erzählung“ der Geschichte der Republik Portugal (1976 / 2004) könnte nicht anschaulicher formuliert sein als dies die Präambel leistet („langjähriger Widerstand des portugiesischen Volkes“ etc.). Art. 11 Abs. 1 ebd. nimmt in ihrem Symbol-Artikel u. a. auf die Revolution vom 5. Okt. 1910 Bezug, und dies im Kontext von Nationalhymne und Nationalsprache (Art. 2 und 3).

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Art. 66 Abs. 2 verlangt die „Wahrung kultureller Werte von historischem oder künstlerischem Interesse“; dies im Zusammenhang mit dem Naturschutz. Einmal mehr zeigt sich die Kontextualität von Natur und Kultur. Besonders geglückt ist der Text in Art. 78 Abs. 2 lit. c: Das Kulturgut zu fördern und zu schützen, damit es zu einem erneuernden Element der gemeinschaftlichen kulturellen Identität werde . . .

Das Wort von der gebotenen Erneuerung von Elementen der kulturellen Identität kann gar nicht hoch genug gerühmt werden, weil damit die aktive Aufgabe der stetigen Aktualisierung von Themen des „Nach-Denkens“ auf eine Textstufe gebracht ist: im Dienste der gemeinschaftlichen kulturellen Identität. Die Unesco hat in Portugal u. a. das Hieronymuskloster in Lissabon (1983) und das historische Zentrum von Porto (1996) zum Weltkulturerbe erhoben und damit ins Universale gewendet, auch im Dienste der globalen Erinnerungsgemeinschaft. Die Verfassung des Königreiches Schweden (1975 / 2003) thematisiert die Minderheiten in folgenden Worten (§ 2 Abs. 5): Die Möglichkeiten ethnischer, sprachlicher oder religiöser Minderheiten, ein eigenes Kultur- und Gemeinschaftsleben zu behalten (!) oder zu entwickeln, müssen gefördert werden.

Weltkulturerbe in Schweden sind u. a. das königliche Sommerschloß Drottingholm (1991) und die Hansestadt Visby. Beide Stätten dürften zugleich herausragendes nationales und europäisches Kulturgut sein. Die Verfassung der slowakischen Republik (1992 / 2002) liefert wiederum in ihrer Präambel eine eindrucksvolle Formulierung der Stichworte für das kollektive Gedächtnis: Wir, das slowakische Volk, eingedenk des politischen und kulturellen Erbes unserer Vorfahren und jahrhundertelanger Erfahrungen aus den Kämpfen um nationale Existenz und eigene Staatlichkeit im Sinne des cyrillo-methodeischen geistigen Erbes und des historischen Vermächtnisses des Großmährischen Reiches, . . .

II. Verfassungstexte in den anderen EU-Mitgliedsländern

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Vor allem der erfahrungswissenschaftliche Hinweis und das – wohl neue – Wort vom „historischen Vermächtnis“ verdienen Beachtung. Dieselbe Verfassung denkt in einer eigenen Abteilung an den Schutz des kulturellen Erbes als Grundpflicht von Jedermann (Art. 44 Abs. 2). In Abs. 3 sind die „Kulturdenkmäler“ gegen jedermann geschützt. Der Denkmalschutz kleidet sich also in eine Grundpflicht. Als Beispiel für Weltkulturerbe in der Slowakei sei ein Bauerndorf (1993) und die Bergbaustadt Schemnitz (1993) genannt, auch Holzkirchen in den Karpaten (2008). Die Verfassung der Republik Slowenien (1991/2003) reichert ihre Präambel besonders intensiv um die geschichtliche Dimension an („geschichtliche Tatsache, dass die Slowenen in einem jahrhundertelangen Kampf um die Volksbefreiung ihre Eigenständigkeit ausgebildet . . . haben“). Die Idee der Grundpflicht taucht in Art. 73 Abs. 1 in einer neuen Wendung auf: Jedermann hat die Pflicht, in Einklang mit dem Gesetz Naturdenkmäler und -seltenheiten sowie Kulturdenkmäler zu schützen.

Die Verfassung des Königreiches Spanien (1978 / 92) erweist sich bereits in ihrer Präambel als ergiebig („bei der Pflege ihrer Kultur und Traditionen, Sprache und Institutionen“). Von den Autonomiestatuten wird verlangt (Art. 147 Abs. 2 lit. a), dass sie den Namen der Gemeinschaft enthalten, „der ihrer historischen Identität am besten entspricht“. Konsequent werden in Art. 148 Abs. 1 Ziff. 15 im Katalog der Zuständigkeiten für die Autonomen Gemeinschaften aufgezählt: Museen, Bibliotheken und Musikkonversatorien, die von Interesse für die Autonome Gemeinschaft sind . . .

Der Hinweis auf Museen und Bibliotheken ist eine glückliche Fortschreibung des Themas „Denkmalschutz“ (s. auch Ziff. 16: „Pflege von Bau- und Kunstdenkmälern“). In Art. 149 Abs. 1 Ziff. 28 ist dem Staat Einschlägiges vorbehalten: Schutz des kulturellen, künstlerischen und baulichen Erbes Spaniens gegen Ausfuhr und Plünderung; staatliche Museen, Bibliotheken und

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Archive, unbeschadet ihrer Verwaltung durch die Autonomen Gemeinschaften.

Die Erwähnung der Archive und Bibliotheken erweitern den Kanon des Kulturschatzes eines Volkes16 vorbildlich. Was für ein großer Verlust die Zerstörung einer Bibliothek sein kann, beweist nicht nur für die antike Welt die Vernichtung der seinerzeit berühmten Bibliothek von Alexandria („dank“ Caesar). Spanien ist neben Italien das Land, das in Europa die meisten Weltkulturerbestätten besitzt. Genannt sei nur die Alhambra (1984) und die Kulturlandschaft von Aranjuez (2001), seit F. Schillers „Don Carlos“ – ein Klassikertext. Das „arabische Spanien“ rückt gerade in jüngster Zeit stärker ins Bewusstsein (über Andalusien hinaus): es könnte auch zum europäischen kulturellen Erbe im Sinne des Europäischen Verfassungsrechts werden. Die Verf. der Tschechischen Republik (1992 / 2002) denkt schon in ihrer dicht gewebten Präambel an die historisch gewordene eigene Identität: getreu allen guten Traditionen der althergebrachten Staatlichkeit der Länder der Böhmischen Krone sowie der tschechoslowakischen Staatlichkeit . . . entschlossen, den ererbten natürlichen und kulturellen, materiellen und geistigen Reichtum gemeinsam zu hüten und zu fördern, und uns nach den bewährten Prinzipien eines Rechtsstaates zu richten . . .

Die traditionale Dimension gelangt hier ebenso klar zum Ausdruck wie die einzelnen Elemente der nationalen Identität. Weltkulturerbe in der tschechischen Republik sind u. a.: das historische Zentrum von Prag (1992), das historische Zentrum von Böhmisch Krumau (1992). Gewiss sind diese Stätten in der Realität auch von den nationalen Verfassungsnormen geschützt. 16 Aus der Lit. R. Barranco Vela (Dir.), El régimen jurídico de la restauración del patrimonio cultural, 2009.

III. Textstufen im EU-Verfassungsrecht

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Obwohl nicht Mitglied der EU, sei mehr als kurioser Fund am Ende dieses Abschnitts ein Passus aus der Präambel der Verf. von Andorra zitiert (1993)17: Conscious of the need to conform the institutional structure of Andorra to the new circumstances brought about by the evolution of the geographical, historical and socio-cultural environment in which it is situated, as well as of the need to regulate the relations which the institutions dating back to the Pareatges shall have within this new legal framework, . . .

Berücksichtigt sei auch der EU-Betrittskandidat Türkei. In seiner Verfassung von 198218 heißt es in Art. 63 Abs. 1: Der Staat gewährleistet den Schutz der Geschichts-, Kultur- und Naturschätze und Werte; zu diesem Zweck hat er unterstützende und fördernde Maßnahmen zu treffen.

Aus dem Dritten Teil dieser Studie sei vorweggenommen, was in der Türkei heute Weltkulturerbe ist: z. B. die historischen Bereiche von Istanbul (1985) und die Stadt Safranbolu (1994).

III. Textstufen im EU-Verfassungsrecht Die schrittweise sich entwickelnde Verfassungsgemeinschaft der EU sei im Folgenden für unser Thema wenigstens in einigen Stichworten rekapituliert. Schon der EGKS-Vertrag (1951) besinnt sich in seiner Präambel auf die Geschichte des Kontinents in den Worten: „entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluss ihrer wesentlichen Interessen zu setzen“19. Der EU-Vertrag von Maastricht (1992) sagt in der Präambel: „Eingedenk der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents . . ., in dem Wunsch, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Tradition zu stärken“. Art. 11 Abs. 1 postuliert die 17 Zit. nach A. P. Blaustein / G. H. Flanz, Constitutions of the Countries of the world, 1994. 18 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff. 19 Texte zit. nach Europarecht, Textausgabe IRZ-Stiftung 2000.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

„Wahrung der gemeinsamen Werte“. Der EG-Vertrag von Amsterdam (1997 / 99) spricht in seinem Abschnitt über Kultur von „gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ sowie „Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung“. Der Reformvertrag von Lissabon20 (2007) sagt bereits in der Präambel: Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.

Am gleichen Ort ist von der „Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen“ die Rede. Art. 6 Abs. 3 verwendet die berühmt gewordene Formulierung von den „gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedstaaten“. In Art. 67 Abs. 1 AEUV ist vom Raum der Freiheit die Rede, in dem die Grundrechte und die „verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden“. Schließlich rezipiert der Abschnitt zur Kultur in Art. 167 AEUV die bekannten, schon erwähnten kulturelles Erbes-Klauseln. All diese Texte atmen letztlich den Geist, aus dem große Texte des Europarates gebildet worden sind. Daran sei hier erinnert, etwa an die Präambel der EMRK von 1950: „ . . . ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes“. Das Europäische Kulturabkommen (1954)21 ist besonders auffällig von kulturelles Erbe-Klauseln u. ä. geprägt. Aus der Präambel sei der Passus zitiert: „um die europäische Kultur zu wahren . . ., Studium der Sprachen, der Geschichte“. Art. 1 spricht vom „gemeinsamen kulturellen Erbe Europas“. Art. 5 sorgt sich um das kulturelle Zugangsrecht zu diesem kulturel20 Zitiert nach R. Streinz / C. Ohler / C. Herrmann (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010. 21 Zit. nach F. Berber (Hrsg.), Völkerrecht, Dokumentensammlung, Bd. I, Friedensrecht, 1967.

IV. Textstufen in der Schweiz

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len Erbe. Im Grunde ist hier die Idee des kulturellen Teilhaberechts vorprogrammiert. Es begegnete uns schon in einigen deutschen Landesverfassungen.

IV. Textstufen in der Schweiz Die „Werkstatt Schweiz“ gleicht in den Totalrevisionen der Kantonsverfassungen seit dem Ende der 60er Jahre einem großen Laboratorium für neue Verfassungsthemen und Textformen. Auf ältere Würdigungen sei verwiesen22. Nachweisbar waren manigfache Wechselwirkungen unter den Kantonen sowie im Blick auf die Entwicklung bzw. Verfassungsbewegung der Bundesverfassung. Speziell im Kontext der Symbol-Artikel hat sich die Schweiz als ergiebig erwiesen, insbesondere zum Thema Nationalflaggen23. 1. Die frühe Verfassung des Kantons Jura (1977)24 bestimmt in Art. 42 Abs. 2: Ils (sc. l’Etat et les communes) veillent et contribuent à la conservation, à l’enrichissement et à la mise en valeur du patrimoine jurassien, notamment du patois.

Die Kantonsverfassung Aargau, im deutschsprachigen Raum die erste neue (1980), bestimmt in § 36 Abs. 2 und 3 (Kulturpflege): 22 P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 ff.; Neues Kulturverfassungsrecht in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, in: ZSR I 105 (1986), S. 195 ff.; Neuere Schweizer Kantonsverfassungen – eine Einführung mit Dokumentationen, JöR 56 (2008), S. 279 ff.; „Werkstatt Schweiz“: Verfassungspolitik im Blick auf das künftige Gesamteuropa, in: JöR 40 (1991 / 92), S. 167 ff.; Die „total“ revidierte Bundesverfassung der Schweiz von 1999 / 2000, in: FS für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, 2001, S. 935 ff.; Neuere Schweizer Kantonsverfassungen – eine Einführung mit Dokumentationen, JöR 56 (2008), S. 279 ff. 23 Dazu P. Häberle, Nationalflaggen, a. a. O., 2008, S. 34 f. 24 Texte zit. nach JöR 34 (1983), S. 424 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Er (sc. der Kanton) sorgt für die Erhaltung der Kulturgüter. Er schützt insbesondere erhaltenswerte Ortsbilder sowie historische Stätten und Baudenkmäler. Er unterhält Einrichtungen für die Pflege der Wissenschaften, der Künste und des Volkstums.

Die von Aargau stark beeinflusste Verfassung des Kantons Basel-Landschaft (1984) bestimmt in § 102 Abs. 1 und 2 (Natur- und Heimatschutz): Kanton und Gemeinden fördern den Natur- und Heimatschutz und die Denkmalpflege. Sie schützen erhaltenswerte Landschafts- und Ortsbilder sowie Naturdenkmäler und Kulturgüter.

Vor allem die häufig wiederkehrende Wortprägung von den „Ortsbildern“ ist prägnant. Manche andere Wendungen in späteren Kantonsverfassungen verdienen ebenfalls die Aufmerksamkeit des hier unternommenen kulturellen Verfassungsvergleiches. Die Verfassung des Kantons Uri (1984) fasst ihren Art. 42 zur Kulturpflege in die Worte: Der Kanton und die Gemeinden pflegen das heimatliche Kulturgut und fördern künstlerische und kulturelle Bestrebungen und Tätigkeiten.

2. Auch die neueren Kantonsverfassungen sind ergiebig25. Die Verfassung des Kantons Schaffhausen (2002) normiert in ihrem Art. 91 (Kultur, Heimatschutz) die Textzeile: „Kanton und Gemeinden . . . erhalten und pflegen Kulturgüter, Denkmäler und schützenswerte Ortsbilder“. Die Verfassung des Kantons Waadt (2003) formuliert in ihrem Kap. 4, Art. 52: „Patrimoine et environnement, culture et sport“: (1) L’Etat conserve, protège, enrichit et promeut le patrimoine naturel et le patrimoine culturel.

25 Texte zit. nach der Dokumentation von P. Häberle, in: JöR 56 (2008), S. 306 ff.

IV. Textstufen in der Schweiz

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Die Parallelführung von Natur- und Kulturerbe bringt eine schon bisher beobachtete allgemeine Tendenz der Textstufenentwicklung zum Ausdruck. Das Wort „patrimonio“ entspricht der lateinischen Wurzel sowie der spanischen Sprachwelt, es sollte rezipiert werden. Art. 81 Abs. 2 und 3 Verfassung des Kantons Graubünden (2003) lauten: Kanton und Gemeinden sorgen für die Erhaltung und den Schutz der Tier- und Pflanzenwelt sowie von deren Lebensräumen. Sie treffen Massnahmen für die Erhaltung und den Schutz von wertvollen Landschaften und Ortsbildern, geschichtlichen Stätten sowie von Naturobjekten und Kulturgütern.

Der Verfassung des Kantons Freiburg (2004) gelingt in Art. 73 Abs. 3 in Sachen Natur- und Heimatschutz eine neue Textstufe, insofern sie den Bogen zu Bildung, Forschung und Information schlägt; Bewusstseinsbildung und die Erinnerung werden zur Aufgabe. Sie lautet: Sie (sc. Staat und Gemeinden) fördern das Bewusstsein für Naturund Kulturgüter, insbesondere durch Bildung, Forschung und Information.

Thematisch vorbildlich, weil detailliert aufgelistet, sind die Denkmalthemen und Erinnerungsorte in Art. 103 Abs. 2 Verfassung des Kantons Zürich (2004): Kanton und Gemeinden sorgen für die Erhaltung von wertvollen Landschaften, Ortsbildern, Gebäudegruppen und Einzelbauten sowie von Naturdenkmälern und Kulturgütern.

Dem nahe kommt die Verfassung des Kantons Basel-Stadt (2005) in den Worten von § 35 Abs. 2: Er (sc. der Staat) sorgt für die Erhaltung der Ortsbilder, Denkmäler und seiner eigenen oder der ihm anvertrauten Kulturgüter.

3. Dieser Überblick zeigt, wie sehr die Kantone ihrem von der neuen Bundesverfassung (1999) normierten Auftrag gerecht werden. Art. 78 Abs. 1 BV bestimmt: „Für den Natur-

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

und Heimatschutz sind die Kantone zuständig“. Absätze 2 und 3 begehen Neuland in den Worten: Der Bund nimmt bei der Erfüllung seiner Aufgaben Rücksicht auf die Anliegen des Natur- und Heimatschutzes. Er schont Landschaften, Ortsbilder, geschichtliche Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler; er erhält sie ungeschmälert, wenn das öffentliche Interesse es gebietet. Er kann Bestrebungen des Natur- und Heimatschutzes unterstützen und Objekte von gesamtschweizerischer Bedeutung vertraglich oder durch Enteignung erwerben oder sichern.

Im Grunde ist hier eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen in Sachen Denkmalschutz, Landschaftsschutz und Erinnerungsorten, auch Kulturgüterschutz geglückt. Abs. 3 ermöglicht dem Bund die genannten Themen bzw. Objekte, die gesamtschweizerische Bedeutung haben, in Obhut zu nehmen. Weltkulturerbe in der Schweiz sind etwa: das Kloster St. Gallen (1983), das Benediktinerkloster St. Johann in Müstair (1983), die Altstadt von Bern (1983), die Rhätische Bahn (2008), die drei Burgen von Bellinzona (2000) – sie sind zugleich kantonale bzw. föderale Kulturdenkmäler.

V. Verfassungstexte in Osteuropa Im Folgenden sei eine Auswahl von neuen Verfassungstexten solcher Länder Osteuropas präsentiert, die (noch) nicht der EU angehören. Schon auf den ersten Blick ist zu vermuten, dass diese Staaten in ihrem Ringen um die Wiederbegründung eigener nationaler Identität nach der Überwindung des Kommunismus vielfältige Anknüpfungen an ältere Traditionen auf Textstufen bringen. Dies ließ sich schon für ihre Normen zu Nationalhymnen und Nationalflaggen nachweisen26.

26 Dazu meine Monographien: Nationalhymnen, a. a. O., S. 19 ff., bzw. Nationalflaggen, a. a. O., S. 40 ff.

V. Verfassungstexte in Osteuropa

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Im Einzelnen: Die Verfassung der Republik Albanien (1998)27 beschwört schon in ihrer Präambel das „jahrhundertelange Bestreben des albanischen Volkes nach nationaler Identität und Einigkeit“. In Art. 3 wird u. a. die „nationale Identität und das nationale Erbe“ als Grundlage des Staates definiert und den Albanern der Respekt davor zur Pflicht gemacht. Art. 8 Abs. 3 erfindet eine neue Textstufe: das „nationale Kulturerbe“ wird zum Bindemittel für alle Albaner: Die Republik Albanien sichert den albanischen Staatsbürgern, die außerhalb des Staates leben und arbeiten, Unterstützung zu, um ihre Verbindung mit dem nationalen Kulturerbe zu bewahren und entwickeln.

Im Kapitel „Soziale Ziele“ ist neben der nachhaltigen Entwicklung und dem Umweltschutz auch der „Schutz des nationalen Kulturerbes und die spezielle Fürsorge für die albanische Sprache“ festgeschrieben (Art. 59 Abs. 1 lit. j). Sprache ist das nationale Integrations- und Identitätselement, zugleich ein Kulturgut par excellence28. Sie ist zugleich ein „portatives Vaterland“ (M. Reich-Ranicki). Die Verfassung von Georgien (1995) beruft sich schon in der Präambel auf die „jahrhundertealte Tradition der Staatlichkeit des georgischen Volkes und die georgische Verfassung von 1921“. In Art. 34 Abs. 2 wird jeder Bürger von Georgien in die Pflicht genommen, „das kulturelle Erbe zu schützen und zu erhalten“. Die Präambel der Verfassung der Republik Kroatien (1990) spricht in einer neuen Wendung von der „Entwicklung der staatsbildenden Idee des historischen Rechts des kroatischen Volkes auf volle staatlichen Souveränität“. Dabei wird auf wichtige Daten der Geschichte Kroatiens unter dem Stichwort „Historische Grundlagen“ präambelhaft vorweg verwiesen. Auf mehr als zwei Seiten ist die Geschichte Kroatiens mit 27 Text zit. nach H. Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999. 28 Aus der Lit.: P. Häberle, Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten, FS Pedrazzini, 1990, S. 105 ff.; W. Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), S. 386 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

wichtigen Jahresdaten nacherzählt. Dieser Gedanke kehrt konsequent in dem Symbol-Artikel 11 wieder, insofern vom „historischen kroatischen Wappen“ gleich dreimal die Rede ist. In diesem Kontext steht auch die historisch konzipierte Hymne und Nationalfahne. Art. 68 Abs. 3 formuliert: „Der Staat schützt die wissenschaftlichen, kulturellen und künstlerischen Güter als geistige Werte des Volkes“. Die in dieser Studie behauptete „Tetralogie“ ist damit besonders klar erkennbar. Weltkulturerbe in Kroatien sind u. a.: Dubrovnik (1979) sowie Altstadt und Palast Kaiser Diokletians in Split (1979). Kulturdenkmäler von Mittelalter und Antike werden damit zusammengebunden. Sie bilden zugleich ein Stück des europäischen kulturellen Erbes. Die Verfassung der Republik Litauen (1992) konzipiert ihre Präambel ebenfalls im historischen Duktus („jahrhundertelang unerschütterlich verteidigte“ Freiheit und Unabhängigkeit, „auf dem Boden seiner Väter und Vorväter“). Im gleichen Geist ist in Art. 17 die Hauptstadt Vilnius als „uralte historische Hauptstadt Litauens“ ausgewiesen. Hauptstädte sind meist in langen Zeiträumen zu solchen geworden29. Eine berühmte Ausnahme ist Brasilia. Die Verfassung Mazedoniens (1991) beginnt ihre ausführliche Präambel mit den Worten: „Ausgehend vom historischen kulturellen, geistigen und staatlichen Erbe des makedonischen Volkes und seinem jahrhundertelangen Kampf um nationale und soziale Freiheit . . .“. Die Erbes-Klausel ist damit ausdifferenziert in den kulturellen, geistigen und staatlichen Bereich, so schwer dies im Einzelnen zu trennen ist. Als Kulturerbe aus universaler Sicht wurden in Mazedonien Stadt und See von Ohrid mit ihrer Umgebung durch die Unesco ausgezeichnet (1979). Dies ist ein weiteres Beispiel für 29 Vergleichend dazu mein Beitrag: Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S. 989 ff. (auch in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 297 ff.).

V. Verfassungstexte in Osteuropa

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die später in dieser Studie erarbeitete Kontextualität von Natur und Kultur. Die Verfassung der Republik Moldau (1994) ist in ihrer Präambel besonders ergiebig. Sie spricht vom „jahrhundertelangen Trachten des Volkes nach einem Leben in einem souveränen Land“ sowie von den Pflichten vor den „vorangegangenen . . . Geschlechtern“. Art. 59 lautet: Der Umweltschutz und der Denkmalschutz. Der Schutz der Umwelt und die Erhaltung und der Schutz der historischen und kulturellen Denkmäler sind Pflichten eines jeden Bürgers.

Die Erstreckung des Denkmalschutzes auf den Pflichtenkanon aller Bürger ist bemerkenswert, zum Teil fragwürdig. Die Verfassung der Republik Montenegro (1992) setzt in der Präambel schon im ersten Satz den einschlägig hohen Ton: Aufgrund des historischen, in jahrehundertelangen Freiheitskämpfen erworbenen Rechts des montenegrinischen Volkes auf einen eigenen Staat.

Die späteren Artikel sind ganz in diesem Geist konzipiert. So heißt es etwa in Art. 64 Abs. 2: Der Staat schützt die wissenschaftlichen, kulturellen, künstlerischen und historischen Werte.

Art. 74 Abs. 1 gelingt eine Variante in Sachen nationale und ethnische Gruppen: Kontakte. Recht auf Anrufung. Die Angehörigen der nationalen und ethnischen Gruppen haben das Recht, ungestörte Kontakte zu den Bürgern außerhalb Montenegros, mit denen sie nationale und ethnische Herkunft sowie kulturelles und historisches Erbe wie auch Glaubensüberzeugungen gemein haben, herzustellen und zu unterhalten, soweit dadurch kein Schaden für Montenegro entsteht.

Weltkulturerbe im heutigen Montenegro, damals noch Teil von Jugoslawien, sind Bucht und Region von Kotor (1979). Am Schluss seien die Verfassungen von Ländern behandelt, die nur zu Europa im weiteren Sinne des Europarates bzw. der EMRK gehören:

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Die Verfassung der Russischen Föderation (1993) schafft in ihrer Präambel folgende einschlägige Texte: „die historisch entstandene staatliche Einheit wahren“, das „Andenken der Vorfahren in Ehren halten“. Weltkulturerbe in Rußland sind u. a.: das historische Zentrum von St. Petersburg (1990), Baudenkmäler von Nowgorod und Umgebung (1992) und das Kloster Ferapontov (2000). Die Verfassung der Ukraine (1996) stellt ebenfalls in ihrer Präambel nicht ohne Pathos und zugleich bürgernah im zweiten Spiegelstrich den geschichtlichen Bezug her: gestützt auf die viele Jahrhunderte währende Geschichte der Schaffung des ukrainischen Staatswesens und auf der Grundlage des von der ukrainischen Nation, des vom gesamten ukrainischen Volk verwirklichten Rechtes auf Selbstbestimmung.

Ihre Art. 54 Abs. 4 und 5 lauten: Das kulturelle Erbe ist gesetzlich geschützt. Der Staat gewährleistet die Unversehrtheit von Geschichtsdenkmälern und anderen Objekten von historischer Bedeutung und unternimmt Maßnahmen zur Rückführung der sich im Ausland befindlichen Kulturschätze des Volkes in die Ukraine.

Der ausdrückliche Rückführungsauftrag von im Ausland befindlichen Kulturschätzen bildet eine neue Textstufe. So schwer er in der Praxis umzusetzen ist, so wichtig ist der Auftrag verfassungstheoretisch. Die Unesco hat bis 2003 folgende Stätten zum Weltkulturerbe erhoben: die Sophienkathedrale und das Höhlenkloster Lawra in Kiew (1990), das historische Zentrum von Lemberg (1998). Fast jeder Tourist kennt sie. Der Autonomen Republik Krim werden in Art. 137 Abs. 1 Verf. Ukraine als Gegenstand für normative Regelungen neben Städtebau, Tourismus, Hotelwesen etc. in Ziff. 6 zugeschrieben: Museen, Bibliotheken, Theater, andere Kultureinrichtungen, historische und kulturelle Gedenkstätten.

V. Verfassungstexte in Osteuropa

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Selten gelingt dem Verfassunggeber eine solche präzise Aufzählung der hier untersuchten Thematik von den Museen und Bibliotheken bis zu anderen Arten von „kulturellen Gedenkstätten“. Die Verfassung der Republik Serbiens (2006) schuf einen inhaltsreichen Art. 7 in Bezug auf Wappen, Flaggen und Nationalhymne. Im späteren Art. 73 Abs. 3 heißt es nur: The Republic of Serbia shall assist and promote development of science, culture and art.

Immerhin wird man im späteren Art. 89 wie folgt fündig: Everyone shall be obliged to protect natural rarities and scientific, cultural and historical heritage, as well as goods of public interest in accordance with the Law. The Republic of Serbia, autonomous provinces and local self-government units shall be held particularly accountable for the protection of heritage.

Bemerkenswert ist an dieser neuen Verfassung, dass das Denkmal-, Erbe- und Kulturgüterschutz-Thema in den Kontext einer Grundpflicht gerückt ist. Die neue Verfassung des Kosovo (2008) – das Land ist noch nicht im Europarat – normiert kurz und bündig Art. 9 wie folgt: [Cultural and Religious Heritage] The Republic of Kosovo ensures the preservation and protection of its cultural and religious heritage.

Auffallend ist, dass an anderer Stelle des Verfassungstextes mit dem Schutz des religiösen Erbes ernst gemacht wird. Art. 39 Abs. 1 lautet: „The Republic of Kosovo ensures and protects religious autonomy and religious monuments within its territory“; auch macht Art. 52 Abs. 1 den „national inheritance“ zum Gegenstand der Verantwortung von jedermann. Schließlich schützt Art. 58 Abs. 5 das kulturelle und religiöse Erbe aller „communities“ als integralen Bestandteil des Erbes des Kosovo. Bemerkenswert ist die Erweiterung der gängigen kulturelles Erbes-Klausel um das religiöse Erbe. Einmal mehr

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

zeigt sich die Entwicklungsoffenheit dieses Textbausteins. Überspitzt formuliert: Der Kosovo hat den Begriff „nach hinten“, d. h. zur Geschichte hin, geöffnet. Andere Verfassungsstaaten heben das Religiöse gerade in unseren Tagen nicht hervor; sie verzichten z. B. auf Gottesbezüge.

VI. Inkurs: Prägnante ältere Verfassungen in Europa Im Folgenden sei nur eine kleine Auswahl prägnanter älterer Texte präsentiert, die ihrerseits Geschichte(n) erzählen, die volkspädagogische Dimension unseres Themas zum Ausdruck bringen oder direkt zum Nachdenken anregen wollen bzw. Erinnerungen pflegen möchten. 1. Begonnen sei mit Deutschland. Einige Textpassagen aus geschichtlich längst überholten Verfassungen verdienen auch heute noch Aufmerksamkeit. Im Preußischen Edikt über die Bauernbefreiung (1807)30 heißt es gleich eingangs: Wir haben ferner erwogen, dass die vorhandenen Beschränkungen . . . der Wiederherstellung der Kultur eine große Kraft seiner (sc. des LandArbeiters) Tätigkeit entziehen.

In der Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volkes im Rahmen der preußischen Reformen (1815) heißt es im Vorspruch: „Die Geschichte des Preußischen Staates zeigt . . .“. Ein Text aus der Zeit des Deutschen Bundes, nämlich die Proklamation von Kalisch (1813), spricht pathetisch von der „Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches“. Der süddeutsche Konstitutionalismus ist ebenso einschlägig. Die Verfassungsurkunde für das Königsreich Bayern (1818) 30 Die folgenden Texte sind zit. nach E. R. Huber (Hrsg.), Dokumente der deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (1961).

VI. Inkurs: Prägnante ältere Verfassungen in Europa

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nimmt schon im Vorspruch auf Vorarbeiten im Jahre 1814 Bezug und spricht vom „Fortschreiten zum Besseren nach geprüften Erfahrungen“. Dies ist ein schöner Beleg für den erfahrungswissenschaftlichen Ansatz. Im Abschnitt „Von dem Staatsgute“ findet sich ein Textensemble, das in vielerlei Hinsicht vorbildlich wird. Zu dem unveräußerlichen Staatsgute rechnet § 2 u. a. alle Archive und Registraturen (Ziff. 1) alle Sammlungen für Künste und Wissenschaften, als: Bibliotheken, physicalische, Naturalien- und Münz-Cabinette, Antiquitäten, Statuen, Sternwarten mit ihren Instrumenten, Gemählde- und KupferstichSammlungen und sonstige Gegenstände, die zum öffentlichen Gebrauche oder zur Beförderung der Künste und Wissenschaften bestimmt sind (Ziff. 7);

Damit sind die für die damalige Zeit wichtigen Elemente des kulturellen Gedächtnisses Bayerns auf eine Textstufe gebracht. Bibliotheken und wissenschaftliche Sammlungen als Themen seien eigens hervorgehoben. Im Rahmen des süddeutschen Konstitutionalismus sei auch das Kurfürstentum Hessen erwähnt. In der Verfassungsurkunde von 1831 heißt es in der Präambel: . . . ertheilen Wir nunmehr in vollem Einverständnisse mit den Ständen, deren Einsicht und treue Anhänglichkeit Wir hierbei erprobt haben, die gegenwärtige Verfassungs-Urkunde mit dem herzlichen Wunsche, dass dieselbe als festes Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und Unterthanen noch in späten Jahrhunderten bestehen . . . .

Der Denkmalbegriff ist hier auf die Verfassungsurkunde bezogen: ein wohl einzigartiger Vorgang. Eine auf die Vergangenheit und Zukunft bezogene status quo-Garantie findet sich in § 25 prägnant: „Die Leibeigenschaft ist und bleibt aufgehoben“. Einmal mehr kommt ein Stück Verfassungsgeschichte in das Blickfeld des Normgebers. § 40 verlangt, auf „Künste und Wissenschaften nach Möglichkeit schonende Rücksicht“ zu nehmen. In die Nähe des Denkmalschutzes der späteren Texte kommt § 138 mit folgendem Wortlaut:

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Alle Stiftungen ohne Ausnahme, sie mögen für den Kultus, den Unterricht oder die Wohlthätigkeit bestimmt seyn, stehen unter dem besonderen Schutze des Staates, und das Vermögen oder Einkommen derselben darf unter keinem Vorwande zum Staatsvermögen eingezogen oder für andere als die stiftungsmäßigen Zwecke verwendet werden.

Im Vormärz bzw. im Kampf um die Reichsverfassung von 1849 heißt es im sog. Siebzehner-Entwurf der Reichsverfassung (April 1848) im Vorwort: Da nach der Erfahrung eines ganzen Menschenalters der Mangel an Einheit in dem Deutschen Staatsleben innere Zerrüttung und Herabwürdigung der Volksfreiheit gepaart mit Ohnmacht nach Außen hin, über die Deutsche Nation gebracht hat . . . .

Die Art und Weise, wie der Staat die Denkmalfelder der beiden Großkirchen respektiert, kommt prägnant in der Preußischen revidierten Verfassung (1850) zum Ausdruck. Ihr Art. 15 lautet nämlich: Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, so wie jede andere Religionsgesellschaft, ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszweck bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonds.

Noch in der Zeit des Bismarck-Reiches sticht ein Textpassus der Verfassung der freien und Hansestadt Lübeck (1907) ins Auge. In Gestalt einer Kompetenznorm zugunsten des Bürgerausschusses wird in Art. 69 Abs. 1 Ziff. 5 dessen Zuständigkeit in Sachen „Verfügungen über Denkmäler für Kunst oder des Altertums“ begründet31. Art. 150 WRV (1919) hat bekanntlich Geschichte gemacht32: 31 Die folgenden Texte sind zit. nach F. Wittreck (Hrsg.), Weimarer Landesverfassungen, 2004. 32 Aus der Lit. grundlegend: M. Heckel, Staat Kirche Kunst, Rechtsfragen kirchlicher Kulturdenkmäler, 1968, S. 62 ff.; C. Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, 1995; K. Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005, S. 392 ff.; als Dissertation: K. Heinz, Kultur-Kulturbegriff-Kulturdenkmalbegriff, 1993. Aus der Lexikon-Lit.: W. Eberl, Art. Denkmalpflege und Denkmalschutz in: Staatslexikon, 7. Aufl., 1993, Band 1, Sp. 1205 ff.; Art. Denk-

VI. Inkurs: Prägnante ältere Verfassungen in Europa

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(1) Die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft genießen den Schutz und die Pflege des Staates. (2) Es ist Sache des Reichs, die Abwanderung deutschen Kunstbesitzes in das Ausland zu verhüten.

Die Verfassung der Freien und Hansestadt Danzig übernimmt (1920) übernimmt diesen Pionier-Artikel wörtlich (Art. 108). Gleiches gilt für die Neubekanntmachung von 1922 (Art. 109) sowie für die Zweite Neubekanntmachung von 1930 (Art. 109). Ein Blick auf mittlerweile überholte deutsche Landesverfassungen vor dem Grundgesetz: Die Verfassung für Württemberg-Hohenzollern (1947)33 formuliert eine neue Textstufe in Art. 119 („Denkmäler der Schöpfung“): Dem Staat und den Gemeinden liegt es ob, die einheimischen Tier- und Pflanzenarten möglichst zu schonen und zu erhalten, die Denkmäler der Schöpfung, der Geschichte und der Kunst zu pflegen und den Genuss landwirtschaftlicher Schönheiten zu fördern.

Die ebenfalls außer Kraft getretene Verfassung des Landes Baden (1947) erfindet in ihrer Präambel die schöne Wendung: „Im Vertrauen auf Gott hat sich das badische Volk, als Treuhänder der alten badischen Überlieferung beseelt von dem Willen, seinen Staat im demokratischen Geist nach den Grundsätzen des christlichen Sittengesetzes . . . ; neu zu gestalten . . .“. Der Treuhand-Gedanke ist ein geglückter Ausdruck für „Erinnerungskultur“. In diesem Geist ist auch in Anknüpfung an Art. 150 WRV in Art. 32 Abs. 1 gesagt: Die Denkmäler der Kunst und der Geschichte genießen den Schutz und die Pflege des Staates und der Gemeinden.

In Ostdeutschland bestimmt die später in der DDR außer Kraft gesetzte Verfassung des Landes Sachsen (1947) in Art. 23 Abs. 2: mal, in: Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., 2006, Band 6, S. 444 ff. 33 Zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der Modernen Staaten, II. Bd. 1948.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Ihr (sc. der Jugend) werden die Kulturstätten und Kulturgüter erschlossen.

Mit dem Begriff „Kulturstätten“ ist offenkundig etwas anderes gemeint als mit dem Begriff „Kulturgüter“; Beispiele für jene dürften Erinnerungs- und Gedächtnisorte sein. 2. Im Folgenden ein Blick über Deutschland hinaus: Die überholte Verfassung der Türkischen Republik (1961 / 1973)34 ist in ihrer Präambel ungemein inhaltsreich. Ein die türkische Identität und Geschichte nachzeichnender pathetischer Passus lautet: . . . begeistert und beseelt vom türkischen Nationalismus, der alle einzelnen, Schicksalsgenossen in Glanz und Elend, zu einem unteilbaren Ganzen um das nationale Bewusstsein und um die nationalen Ideale schart . . . durchdrungen vom Geist des nationalen Freiheitskrieges . . .

Das „nationale Bewusstsein“ ist ein neuer Textbaustein für „Erinnungskultur im Verfassungsstaat“. Die Verfassung Frankreichs von 179135 formuliert in ihrer Präambel die verfassungspädagogische Forderung: Es sollen Nationalfeste eingeführt werden, um das Andenken an die französische Revolution zu erhalten, die Bürger unter sich brüderlich zu verbinden, und ihre Anhänglichkeit an die Verfassung, an das Vaterland und an das Gesetz zu sichern.

Dieser wohl erste verfassungsstaatliche Feiertagstext36 kann gar nicht überschätzt werden, zumal er die Worte „Andenken“ und „Anhänglichkeit“ verwendet; sie sind vielleicht mehr als bloße „Erinnerung“. Die Verfassung der Polnischen Republik (1921) reichert wiederum in der Präambel ihren neuartigen Text mit historischen Bezügen an: 34 Zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen Europas, 2. Aufl. 1975. 35 Zit. nach D. Gosewinkel / J. Masing (Hrsg.), Die Verfassungen in Europa 1789 – 1949, 2006. 36 Dazu schon meine Monographie: Feiertagsgarantien, a. a. O., S. 9.

VI. Inkurs: Prägnante ältere Verfassungen in Europa

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Anknüpfend an die glänzende Überlieferung der unvergesslichen Konstitution vom 3. Mai . . .

Das Verfassungsgesetz Polens vom April 1935 sagt in Art. 1 Abs. 2 auch im Sinne einer Erbes-Klausel und eines „Vermächtnisses der Geschichte“: Wiederhergestellt durch den Kampf und das Opfer seiner besten Söhne, soll er (sc. der polnische Staat) als Vermächtnis der Geschichte von Geschlecht zu Geschlecht vererbt werden.

Die Verfassung der Spanischen Republik (1931) normiert Art. 45 wie folgt: Der ganze künstlerische und historische Rahmen des Landes ohne Ansehen des Eigentümers bildet den kulturellen Schatz der Nation und steht unter dem Schutz des Staates, der seine Ausfuhr und Veräußerung verbieten und die gesetzmäßigen Enteignungen anordnen kann, die er zu dessen Schutze für zweckmäßig erachtet. Der Staat hat ein Register des künstlerischen und historischen Reichtums anzulegen, dessen sorgfältige Bewachung zu sichern und auf seine vollkommene Erhaltung zu achten. Der Staat schützt auch die durch ihre Naturschönheit oder ihre anerkannte künstlerische oder historische Bedeutung bemerkenswerten Orte.

Dieser Text verdient große Bewunderung: etwa wegen des schönen Begriffs „kultureller Schatz der Nation“, „künstlerischer und historischer Reichtum“, „Naturschönheit“ – ein „Zusammendenken von Ästhetik und Natur“ – sowie „Orte von historischer Bedeutung“. Die vorläufige Verfassung Griechenlands (1822) schlägt einen großen historischen Bogen bis zur Antike zurück: § 103 lautet: Das Siegel der Regierung enthält, als eigenthümliches Regierungswappen, Pallas Athene mit den Symbolen der Vernunft.

Dieser eindrucksvolle Text ist in der weiteren Verfassungsgeschichte wohl „verloren“ gegangen, doch dokumentiert er ein Identitätselement auch des heutigen Verfassungsstaates Griechenland und manifestiert einmal mehr den Zusammenhang von Nationalsymbolen, historischem Gedächtnis und

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Verfassungspädagogik. Die spätere Verfassung Griechenlands von 1927 formuliert in Art. 109 Satz 1 eine spezifische kulturelle status-quo-Garantie in den Worten: Die Halbinsel Athos von Megali Wigla und weiterhin, die den Bezirk des Heiligen Berges bildet, ist gemäß ihrer alten bevorzugten Rechtsstellung ein Selbstverwaltungsbezirk des griechischen Staates, dessen Souveränität über die Halbinsel unberührt bleibt.

Die Verfassung Portugals von 1838 sagt in Art. 28: Die Verfassung garantiert weiterhin: Einrichtungen, in denen die Wissenschaften, Literatur und Künste gelehrt werden.

Damit wird eine kulturelle Trias vorausgesetzt und für die Zukunft verpflichtend gemacht. Die spätere Verfassung von 1911 ist in ihrem Art. 76 einschlägig: Die Medaillen für Verdienst, Philanthropie, Menschenliebe und Edelmütigkeit, ebenso wie die für gute Dienste jenseits des Meeres bleiben bestehen.

Diese kulturelle status-quo-Garantie bringt eine wichtiges Element des nationales Selbstverständnisses zum Ausdruck und gehört im Grunde in die Tetralogie von Feiertagen, Nationalhymnen, Nationalflaggen und Denk-Mal-Gegenständen im weiteren Sinne (Verdienstmedaillen). Ein Beispiel dafür, dass historisierende Texte durch geschichtliche Ereignisse überholt werden, mögen sie auch noch so beschwörend formuliert sein, findet sich in der Kolonialakte Portugals von 1933 (Art. 2): Es gehört zum organischen Wesen der portugiesischen Nation, dass sie die historische Aufgabe erfüllt, überseeische Territorien zu besitzen und zu kolonisieren und die dort lebende, eingeborene Bevölkerung zu zivilisieren . . . .

Die „31 Gesetzesartikel“ Ungarns von 1848 verlangten unter I § 2 intensives Nach-Denken in den pathetischen Worten: Auf jenes Trauerblatt der Geschichte, auf welchem die letzte Stunde seines vergänglichen Lebens gezeichnet ist, schreiben die Landesstände hiemit sein im Herzen der Nation unvergängliches Andenken.

VI. Inkurs: Prägnante ältere Verfassungen in Europa

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Diese „Herzblatt-Klausel“ ist wohl einzigartig, zumal sie mit dem Auftrag des „Andenkens“ verknüpft wird. Im Aufbruchsjahr 1848 ergeht in Österreich ein „Allerhöchstes Patent“. In ihm finden sich die Worte: „und die seit Jahrhunderten bestehende Vereinigung der zur Monarchie gehörigen Reiche“. Über solche Beschwörungen ist die Geschichte nicht selten hinweg gegangen. Ein Beispiel dafür, dass eine späte fragwürdige Verfassung punktuell durchaus an ältere Artikel anknüpft, zeigt sich in Österreich. Die Verfassung von 1920 zählt in Art. 10 Ziff. 13 vorbildlich detailliert eine Fülle von kulturellen Einrichtungen auf (dazu oben II. S. 27). Die Verfassung von 1934 knüpft daran an (Art. 34 Ziff. 14): „Bundessache sind“: allgemeine Angelegenheiten der Wissenschaft und der Kunst sowie Angelegenheiten des Kultus; wissenschaftlicher und fachtechnischer Archiv- und Bibliotheksdienst bei Ämtern und Anstalten des Bundes; Angelegenheiten der künstlerischen und wissenschaftlichen Sammlungen, Anstalten und Einrichtungen des Bundes, Angelegenheiten der Bundestheater; Schutz von Kulturdenkmälern (Denkmalschutz); Volkszählungswesen sowie sonstige Statistik, soweit sie nicht nur den Interessen des einzelnen Landes dient; Stiftungs- und Fondswesen, soweit es sich nicht um Stiftungen und Fonds zugunsten von Bürgern oder Einwohnern eines einzelnen Landes handelt . . . .

Damit sind zahlreiche kulturelle Identitätselemente, einem Kanon gleich, als Garantien für Kontinuität ausgewiesen, wenn auch nur als Kompetenznorm. Im Sinne eines materiellen Kompetenzverständnisses dürfen sie als inhaltliche Aufgabe gedeutet werden. Wichtig ist der Hinweis auf den Archivund Bibliotheksdienst sowie die wissenschaftlichen Sammlungen bzw. der Begriff „Kulturdenkmäler“. Die Verfassung des Fürstentums Bulgariens (1879) schreibt in ihren Symbol-Artikeln 21 bis 23 nichts anderes als ihre eigene Kulturgeschichte fest: Das bulgarische Staatswappen ist ein goldener gekrönter Löwe in dunkelrothem Felde. Über dem Felde befindet sich eine Fürstenkrone. Auf dem Staatssiegel ist das Wappen des Fürstenthums abgebildet.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Die bulgarische Nationalfahne ist dreifarbig, bestehend aus der weissen, grünen und rothen Farbe in horizontalen Streifen.

Bewusst werden hier ausnahmsweise diese Elemente der Trias von Wappen, Siegeln und Flaggen im jetzigen Kontext wiederholt, da sie in den einschlägigen Monographien des Verfassers von 2007 bzw. 2008 noch nicht berücksichtigt worden sind37. Die alte Verfassung der Tschechoslowakei (1920) reichert ihre dichte Präambel mit neuen Aspekten an (Abs. 2): Hierbei erklären wir, das Tschechoslowakische Volk, bemüht sein zu wollen, dass diese Verfassung und alle Gesetze unseres Landes in gleicher Weise im Geiste unserer Geschichte wie im Geiste der im Prinzip der Selbstbestimmung enthaltenen modernen Grundsätze durchgeführt werden . . . .

Eine derartige, auf die Geschichte und die Zukunft bezogene, doppelte Geist-Klausel38 ist selten. Die alte Verfassung Litauens (1922) bringt im Abschnitt über Rechte der nationalen Minderheiten ebenfalls volkspädagogische und kulturbezogene Ziele zum Ausdruck, wobei diese Textstufe auch deshalb Aufmerksamkeit verdient, weil der Verfassunggeber hier den Minderheitenschutz behandelt. § 74 lautet: Die nationalen Minderheiten, die einen beträchtlichen Teil aller Bürger ausmachen, haben das Recht, in den Schranken der Gesetze autonom ihre nationalen Kulturangelegenheiten (Volksbildung, Wohltätigkeit, gegenseitige Hilfe) zu besorgen und zur Leitung dieser Angelegenheiten Repräsentationsorgane in der im Gesetz bestimmten Ordnung zu wählen.

Diese Toleranz und Großzügigkeit nationaler Verfassungen gegenüber den kulturellen Identitätselementen der Minderheiten im eigenen Land kann gar nicht überschätzt werden. Sie sollte Schule machen, gerade heute. 37 Vgl. Nationalhymnen, a. a. O., S. 20, bzw. Nationalflaggen, a. a. O., S. 41 f. 38 Dazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 600 ff. u. ö.

VI. Inkurs: Prägnante ältere Verfassungen in Europa

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Die spätere Verfassung der Republik Litauen (1938) spricht in der Präambel von „Urzeiten“ und der „Erfahrung des Volkes“; sie verknüpft in beispielhafter Weise ihre Staatsfeiertage mit der Aufforderung zum „Andenken“. Art. 9 lautet: Staatsfeiertage sind 1. der 16. Februar – zum Andenken an die Wiedererrichtung der Unabhängigkeit Litauens; 2. der 8. September – zum Andenken an die Große Vergangenheit des Alten Litauens.

Schon der Gedankenstrich bringt die Idee des Zusammenhanges von Staatsfeiertag und der Aufgabe des „An-Denkens“ bildhaft zum Ausdruck. Bemerkenswert ist, dass sich der vorausgehende Art. 8 mit Staatswappen, Staatsfarben und Staatsflagge beschäftigt. Dieselbe Verfassung sagt in Art. 43 Abs. 2: Der Staat wahrt die Wissenschaft, die Kunst und schützt die Denkmäler der Vergangenheit Litauens und andere Kulturschätze.

Das Traditionsbewusstsein Litauens könnte nicht eindrucksvoller auf konstitutionelle Textstufen gebracht werden. „Denkmäler der Vergangenheit“ ist eine geglückte Wortschöpfung. Die Verfassung Albaniens von 1925 formuliert in ihrer Präambel als Feststellung und Appell janusköpfig den Passus: „Das freie und unabhängige albanische Volk, stolz auf seine Vergangenheit und voll Hoffnung auf seine Zukunft, hat in der Konstituante folgende Verfassung beschlossen:“ Damit sind Vergangenheit und Zukunft aufeinander bezogen. Die Verfassung der Slowakischen Republik von 1939 sucht bereits im ersten Satz der Präambel seine Identität, aus der aus „Jahrhunderten“ bezogenen Geschichte. Im Ganzen: Der texthistorische Rückblick erwies sich als lohnend. Er gleicht einem Vorrats- und Schatzhaus der hier behandelten Themen, aus dem sich auch heute noch Inspirationen gewinnen lassen.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

VII. Verfassungen in Übersee 1. Lateinamerika und Nordamerika Die Verfassungen Lateinamerikas erweisen sich heute in vieler Hinsicht als eine große Werkstatt. Sie wagen neue Textstufen, z. B. in Sachen Ombudsmann und Schutz der Urbevölkerung, so defizient die Verfassungswirklichkeit oft auch noch sein mag. Besonders ergiebig sind die lateinamerikanischen Verfassungstexte in Sachen kulturelle Identitäselemente, vor allem im Blick auf Hymnen, Nationalflaggen und Feiertage39. Im folgenden eine Auswahl geltender Verfassungstexte, die in Sachen „Denk-Mal“-Kultur und „Erinnerungskultur“ aussagekräftig sind40. Die Verfassung von Argentinien (1995) sagt in Art. 41 Abs. 2: Las autoridades proveerán a la protección de este derecho, a la utilización racional de los recursos naturales, a la preservación del patrimonio natural y cultural y de la diversidad biológica, y a la información y educación ambientales.

Weltkulturerbe in Argentinien ist z. B. die Jesuitensiedlung und Estancias von Córdoba (2000). Eine reichere Textstufe mit manchen Neuerungen formuliert die Verfassung von Bolivien (1967 / 1995). Ihr Art. 191 lautet: I. Los monumentos y objetos arqueológicos son de propiedad del Estado. La riqueza artística colonial, la arqueológica, la histórica y documental, así como la procedente del culto religioso son tesoro cultural de la Nación, están bajo el amparo del Estado y no pueden ser exportadas. II. El Estado organizará un registro de la riqueza artística histórica, religiosa y documental, proveéra a su custodia y atenderá a su conservación. III. El Estado protegerá los edificios y objetos que sean declarados de valor histórico o artístico.

39 Dazu vom Verf.: Nationalhymnen, a. a. O., S. 28 ff.; Nationalflaggen, a. a. O., S. 66 ff.; Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 108 f. 40 Die Texte sind zit. nach L. L. Guerra / L. Aguiar (ed.), Las Constituciones de Iberoamérica, Aufl. 1998.

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Die schöne Wendung vom „tesoro cultural de la Nación“ ist im weltweiten Textvergleich fast einzigartig, sie sollte übernommen werden. Auch das verlangte Register ist vorbildlich. Die Unesco hat u. a. die Altstadt von Sucre (1990) zum Weltkulturerbe erhoben. Die Verfassung Brasilien (1988) erweist sich in ihrem Abschnitt über Kultur als besonders ergiebig. Art. 216 lautet: Constiuem patrimônio cultural brasileiro os bens de natureza material e imaterial, tomados individualmente ou em conjunto, portadores de referência à identidade, à ação, à memória dos diferentes grupos formadores da sociedade brasileira, nos quais se incluem: . .. IV. as obras, objetos, documentos, edificiocaçôes e demais espaços destinados às manifestações artístico-culturais; V. os conjuntos urbanos e sítios de valor histórico, paisagístico, artístico, arqueológico, paleontológico, ecológico e científico. § 1.° O poder público, com a colaboração da comunidade, promoverá e protegerá o patrimônio cultural brasileiro, por meio de inventários, registros, vigilância, tombamento e desapropiação, e de outras formas de acautelamento e preservação. ... § 4.° Os danos e as ameaças ao patrimônio cultural serâo punidos, na forma da lei.

An dieser Textstufe ist Vieles beachtlich: etwa die Erweiterung der Themenliste in Sachen „patrimônio cultural“ um künstlerische Feste und die Paleontologie. Auch fällt die Strafbewehrung in § 4 auf. In Brasilien sind u. a. das historische Zentrum von Salvador de Bahia (1985) und Brasilia selbst (1987) Weltkulturerbe. Die Retorten-Hauptstadt Brasilia, früh zum Erbe erklärt, bestätigt die hier vertretene These von der Offenheit dieses Begriffs im Zeithorizont. Die Verfassung Kolumbiens (1991/1996), eine der umfangreichsten und innovationsreichsten Verfassungen Lateinamerikas, die bei vielen Themen neue Wege beschreitet, etwa in

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Sachen lateinamerikanische Gemeinschaft, normiert Art. 72 wie folgt: El patrimonio cultural de la nación está bajo la protección del Estado. El patrimonio arqueológico y otros bienes culturales que conforman la identidad nacional, pertenecen a la nación y son inalienables, inembargables e imprescriptibles. La ley establecerá los mecanismos para readquirirlos cuando se encuentren en manos de particulares y reglamentará los derechos especiales que pudieran tener los grupos étnicos asentados en territorios de riqueza arqueológica.

An diesem inhaltsreichen Text ist vieles bemerkenswert: besonders die Umschreibung und Offenheit für andere kulturelle Güter, die die „nationale Identität“ formen, sowie die Rücksichtnahme auf ethnische Gruppen. Es ist wohl kein Zufall, dass in Kolumbien folgende Stätten Weltkulturerbe sind: Hafen, Befestigungen und Baudenkmäler der Kolonialzeit in Cartagena (1984) sowie das historische Zentrum von Santa Cruz de Mompox (1995). Diese Stätten dürften auch vor Ort nationales Kulturerbe sein. Die ältere Verfassung von Costa Rica (1949 / 1997) verharrt noch auf einer wesentlich früheren Textstufe des Kulturschutzes. Art. 89 lautet41: Entre los fines culturales de la República están: proteger las bellezas naturales, conservar y desarollar el patrimonio histórico y artístico de la Nación, y apoyar la iniciativa privada para el proceso científico y artístico.

Vorbildlich ist die Konzeption der Entwicklungsoffenheit des historischen und künstlerischen Erbes der Nation: es ist keine geschlossene Status-quo-Garantie. Die alte Verfassung von Ecuador (1979/1998) normiert im Kontext der vaterländischen Symbole von Nationalflagge und 41 Die deutsche Übersetzung lautet (zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff.): „Kulturelle Ziele der Republik: Die Ziele der Republik im Kulturbereich sind unter anderem folgende: Schutz der Naturschönheiten, Bewahrung und Entwicklung des geschichtlichen und künstlerischen Erbes der Nation und Unterstützung der privaten Initiative für den wissenschaftlichen und künstlerischen Fortschritt“.

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Nationalhymne in Gestalt eines Staatsaufgabenkatalogs schon vorweg knapp in Art. 3 Abs. 3: Defender el patrimonio natural y cultural del país y proteger el medio ambiente.

Die neue Verfassung von Ecuador (2008) verfeinert diesen Text in fast zu detaillierter Weise. Ihr Artikel 377 lautet: El sistema nacional de cultura tiene como finalidad fortalecer la identidad nacional; . . . y salvaguardar la memoria social y el patrimonio cultural.

Art. 379 definiert sogar als nicht erschöpfende Beispiele, welche kulturellen Vorgänge Teil des kulturellen Erbes sind. Genannt werden u. a. die Sprachen, die mündlichen Tradition, Rituale, Feste, Bauwerke, Monumente, Gärten und Landschaften, die die Identität der Völker konstituieren oder von historischen, künstlerischen, archäologischen, ethnographischen oder paleontologischen Wert sind; auch Dokumente, Archive, Bibliotheken und Mueseen werden aufgezählt. Der Schutz des kulturellen Erbes wird dem Staat auferlegt. Art. 380 konkretisiert die Verantwortlichkeiten im Bezug auf die kulturellen Güter: angesichts der bekräftigten plurinationalen, plurikulturellen und pluriethnischen Identität von Ecuador (s. auch Art. 1 S. 1). Selten lässt sich eine derartig intensive Fortschreibung eines Themas im Vergleich zwischen einer nationalen Vorgängerund Nachfolgeverfassung belegen. Das Textstufenparadigma erfährt hier erneut eine eindrucksvolle Bestätigung. Der Kanon der Ausdrucksformen von Erinnerungskultur erweitert und vertieft sich. Zur Illustration: Weltkulturerbe sind in Ecuador: die Altstadt von Quito (1978) und das historische Zentrum von Santa Ana de los Rios de Cuenca (1999). Sie bilden vermutlich auch einen Teil der vielberufenen „lateinamerikanischen Identität“. Die Verfassung der Republik El Salvador (1983/1991) lässt unser Thema schon in der Präambel anklingen, in den Worten: „valores de nuestra herencia humanista“. Diese Hochzonung

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

in die Präambel im Kontext der Werte von Menschenwürde, Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit kann gar nicht genug gerühmt werden. Kongenial ist Art. 63 – im Kontext der Vaterländischen Symbole wie Nationalflagge, Wappen und Nationalhymne – konzipiert: La riqueza artística, histórica y arqueológica del país forma parte del tesoro cultural salvadoreño, el cual queda bajo la salvaguarda del Estado y sujeto a leyes especiales para su conservación.

Hier kehrt die schöpferische Wendung vom „tesoro cultural“ wieder, die als „Kulturschatz“ in der wissenschaftlichen Behandlung des vorliegenden Themas rezipiert werden sollte. Die Verfassung von Guatemala (1985 / 1996) formuliert das Thema dieser Studie im Abschnitt über die Kultur. Art. 60 liefert eine verfassungsrechtliche Legaldefinition des „kulturellen Partimoniums“ in den Worten: Patrimonio cultural. Forman el patrimonio cultural de la Nación los bienes y valores paleontológicos, arqueológicos, históricos y artísticos del país y están bajo la protección del Estado. Se prohibe su enajenación, exportación o altercación salvo en los casos que determine la ley.

Später geht die Verfassung in Art. 64 für das „patrimonio natural“ analog vor. Schon 1979 wurde Antigua Guatemala zum Weltkulturerbe erklärt. Dies dient auch dem kulturellen Selbstverständnis des Landes. Die Verfassung von Honduras (1982/1995) wagt eine neue Textstufe im Kontext der Erziehung. Art 168 lautet: La enseñanza de la Constitución de la República, de la Historia y Geografía nacionales, es obligatoria y estará a cargo de profesionales hondureños.

Soweit ersichtlich, hat noch keine Verfassung den „Wesensgehalt“ der Verfassung der Republik im Kontext der Geschichte und Geographie in dieser Weise zum Gegenstand von Verantwortung und Erziehung gemacht. Art. 172 Abs. 3 normiert für die Honduraner eine neue Grundpflicht im Bezug auf die Bewahrung des kulturellen

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Erbes der Nation. Diese wird in seinem anthropologischen, archäologischen, historischen und künstlerischen Reichtum zum kulturellen Erbe der Nation erklärt. Die Verfassung von Nicaragua (1995) beruft sich in ihrer Präambel mit viel Pathos auf Elemente der „kämpferischen Tradition“ und des „Erbes“ von Sandino. Sie will offensichtlich ein Stück Geschichte in Erinnerung rufen. Ihr Artikel zum kulturellen Erbe im Rahmen des Abschnittes über „Erziehung und Kultur“ fällt relativ bescheiden aus. Art. 128 lautet. El estado protege el patrimonio arqueológico, histórico, lingüistico, cultural y artístico de la nación.

Bemerkenswert ist die Einbeziehung der Sprache: sie ist zu Recht als Kulturgut ausgewiesen. Die Verfassung der Republik Panama (1978 / 1994) normiert ein eigenes Kapitel zur „cultura nacional“. Darin kommt es zu neuen Textstufen insbesondere in den Artikeln 77 und 81. Art. 77 lautet: La cultura nacional está constituida por las manifestationes artísticas, filosóficas y científicas producidas por el hombre en Panamá a través de las épocas. El estado promoverá, desarollará y custodiará este patrimonio cultural.

Hier fällt die epochengeschichtliche Dimension als Element der nationalen Kultur auf. Im gleichen Geist heißt es in einer neuen Wendung in Art. 81: Constituyen el patrimonio histórico de la Nación los sitios y objetos arqueológicos, los documentos, los monumentos históricos y otros bienes muebles o inmuebles que sean testimonio de pasado panameño.

In Art. 89 denkt die Verfassung sogar im Rahmen der Erziehungsziele an eine „conciencia national basada en el conocimiento de la historia y los problemas de la patria“. Die Unesco hat Panama in Sachen Weltkulturerbe nicht vergessen. Ausgezeichnet wurden 1980 die Festungen Portobello und San Lorenzo an der karibischen Küste sowie 1997 das historische Viertel von Panama und der Salón Bolívar.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Die Verfassung von Paraguay (1992) ist an vielen Textstellen ergiebig: Art. 62 schützt die eingeborenen Völker mit den Worten „grupos“: „cultura anteriores a la formación y organización del Estado paraguayo“. Art. 81 bekennt sich zum Schutz des kulturellen Erbes und verlangt eine Registrierung der Gegenstände. Abs. 2 S. 2 ebd. erfindet sogar eine neue Wortschöpfung: „las diversas expresiones de la cultura oral y de la memoria colectiva de la Nación“. Der Begriff „kollektives Gedächtnis der Nation“, der sonst in wissenschaftlichen Abhandlungen auftaucht, ist hier zum Verfassungstext geronnen. In Paraguay sind zwei Stätten von Jesuitenmissionen Weltkulturerbe geworden (1993). Dadurch werden historisch wichtige Vorkommnisse zum Gegenstand der universalen und nationalen Erinnerungskultur gemacht. Die Verfassung von Uruguay (1967/ 1996) formuliert in Art. 34: Toda la riqueza artística o histórica del país, sea quien fuere su dueño, constituye el tesoro cultural de la Nación; estara bajo la salavaguardia del Estado, y la ley establecerá lo que estime oportuno para su defensa.

Einmal mehr ist der glückliche Begriff des „kulturellen Schatzes der Nation“ zu einem Verfassungstext geworden. Er sollte in das wissenschaftliche Vokabular nicht nur dieser Studie aufgenommen werden. Das historische Viertel von Colonia del Sacramento dürfte, da 1995 zum Weltkulturerbe erklärt, Teil dieses kulturellen Schatzes sein. Die (alte) Verfassung von Venezuela (1983) formuliert im Kapitel über die „sozialen Rechte“ bemerkenswerte Texte und Kontexte. Art. 80 macht die Entwicklung der Persönlichkeit zum Ziel der Erziehung. Art. 83 sagt in diesem Geist: El estado fomentará la cultura en sus diversas manifestaciones y velará por la protección y conservación de las obras, objetos y monumentos de valor histórico o artístico que se encuentren en el país, y procurará que ellos sirvan al fomento de la educación.

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Auch für Venezuela hat die Unesco ihr gutes Werk getan. Weltkulturerbe sind z. B.: das historische Zentrum von Coro (1993) und die Universitätsstadt von Caracas (2000). Im Ganzen: Die lateinamerikanischen Verfassungen nehmen sich des Denk-Mal- bzw. Erinnerungsthemas als kulturelles Element des Typus „Verfassungstaat“ auf vielen Feldern und in reichen Textfiguren an: als Präambel-Element, als Staatsaufgabe, als Grundpflicht des Einzelnen, als Erziehungsziel. Dabei erfinden sie eindrucksvolle Wortschöpfungen wie „kultureller Schatz der Nation“ und „kollektives Gedächtnis der Nation“. Nimmt man die Symbol-Artikel zu Nationalhymnen, Nationalflaggen sowie nationalen Feiertagen hinzu, so kann schon jetzt die These von der in der Einleitung umrissenen „kulturellen Tetralogie“ gewagt werden. In der Praxis feiern viele lateinamerikanische Länder 2010 das 200jährige Jubiläum („Bicentenario“42) ihrer Unabhängigkeit, dabei kommen sie ohne Ressentiments gegen die alte Kolonialmacht Spanien aus43. In Nordamerika wird man wenig fündig. Indes verdient ein Artikel der Kanadischen Verfassung von 198144 größte Beachtung. Art. 27 lautet: This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians.

Dieses Bekenntnis zum multikulturellen Erbe Kanadas als übergreifendem Prinzip der Grundrechtsinterpretation ist weltweit wohl einzigartig und böte sich wohl auch für multiethnische Länder wie Bosnien und das Kosovo an. Die jeweiligen Verfassungsgerichte wären bzw. sind dabei auf das Äußerste herausgefordert. Erstaunlich unergiebig sind die USA bzw. ihre gliedstaatlichen Verfassungen. Die Verfassung von Hawaii (1950 / 2004) 42 Repräsentativ: Revista Pensamiento Juridico, No. 28, Recordando el Bicentenario del Constitucionalismo Iberoamericano, 2010. 43 Dazu D. Deckers, Von der Geschichte befreit?, FAZ vom 23. September 2010, S. 1. 44 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

ist eine der wenigen, die sich des Themas annehmen. Ihr Art. X Sect. 4 Absatz 1 und 2 lautet: The State shall promote the study of Hawaiian culture, history and language. The State shall provide for a Hawaiian education program consisting of language, culture and history in the public schools.

Man mag über die Gründe philosophieren, die zur Erkenntnis dieses Defizits in den USA führen. Das Fehlen der Sensibilität für die geschichtliche Dimension kann nicht der Hauptgrund sein. Denn manche Verfassungen zeichnen ihre eigene Vorgeschichte in ihren Präambeln oft ausführlich nach. Ein Beispiel ist die Präambel der Verfassung des Staates Connecticut (1818). Einige neuere Verfassungen von Einzelstaaten nehmen sich des Natur- und Umweltschutzes eingehend an: ein Beispiel liefert die Verfassung von New York (1938 / 2003, Art. XIV). Immerhin wird man in der Verfassung von Massachusetts (1780 / 1986) fündig. In Kapitel V Sect. II. („The Encouragement of Literature etc.“) heißt es u. a.: . . ., for the promotion of agriculture, arts, sciences, commerce, trades, manufactures, and a natural history of the country; . . .

In den Vereinigten Staaten von Amerika sind u. a. folgende Denkmäler und Gedenkstätten bzw. Monumente auf der Liste der Stätten der Unesco: 1979 Unabhängigkeitshalle in Philadelphia, 1983 Festung La Fortaleza und Altstadt von San Juan in Puerto Rico, 1984 Freiheitsstatue, 1987 Monticello und Universität von Virginia in Charlottesville, sowie 1992 Pueblo (Indianerdorf) Taos45. Vielleicht hilft diese Adelung durch die Unesco bei der inneramerikanischen Bewusstseinsbildung, auch in den Schulen. Offenbar haben die Verfassunggeber der Einzelstaaten aber bislang nicht in Gestalt von „Ammendments“ nachgezogen.

45 Zit. nach Unesco Weltkulturerbe, Die Kulturmonumente, 2002, S. 372 ff., S. 422. Weltkulturerbe in Kanada ist: The Rédeau Canal (2007), die Joggin Fossil Cliffs (2008).

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2. Afrika Die Verfassung der Republik Benin (1990)46 zeichnet in ihrer ausführlichen Präambel in Gestalt einer „Erzählung“ die wichtigsten Etappen von Staat und Volk Benin nach. Auf dem hohen Niveau der Präambel ist das kulturelle Gedächtnis des Volkes eindrucksvoll skizziert. Auch der reichhaltige SymbolArtikel 1 arbeitet bei der Festlegung der Hymne, der Flagge und des Wappens erkennbar mit der historischen Dimension. Art. 10 glückt eine eigene kulturverfassungsrechtliche Textstufe in den Worten: Jedermann hat das Recht auf Kultur. Der Staat hat die Pflicht, die nationalen Werte der materiellen und geistigen Zivilisation sowie die kulturellen Traditionen zu wahren und zu fördern.

Der Verfassunggeber von Benin macht damit den langjährigen sehr deutschen Streit um den Wertebezug von Verfassungsnormen mit einem Strich gegenstandslos. Weltkulturerbe in Benin sind die Königspaläste von Abomey (1985), also vordemokratisches Erbe. Die Verfassung der Republik Äquatorial-Guinea (1991) appeliert an das historische Bewusstsein schon in ihrer Präambel mit den Worten: Wir, das Volk Äquatorial-Guineas, das sich seiner Verantwortung vor Gott und der Geschichte bewusst ist, . . ..

Ebenfalls in diesem Geist sind die Worte konzipiert: „authentischer traditioneller afrikanischer Geist der Familie“ sowie „Autorität der traditionellen Familie“. Die Berufung auf die Geschichte als Verantwortungsforum in der höchsten und tiefsten Form der Präambel kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. 46 Diese und die folgenden Verfassungen sind zit. nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas, 1997.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Es ist kein Zufall, dass dieselbe Verfassung in ihrem SymbolArtikel 4 zu Amtssprache, Nationalflagge, Wappen, Wahlspruch und Nationalhymne erneut die Geschichte zu Wort kommen lässt in dem Satz (Absatz 5): Die Nationalhymne ist das vom Volk am Tag der Verkündung der Unabhängigkeit, dem 12. Oktober 1968, gesungene Lied.

Dieser Text ist ein Beleg für die hier entwickelte These von der geschichtlich begründeten Tetralogie von Nationalhymne, Nationalflagge, Feiertagen und weiteren Erinnerungsthemen. Die Verfassung der Republik Burundi (1992) spricht bereits in der Präambel ebenfalls von der „Verantwortung vor der Geschichte“ (ebenso Präambel der Verfassung Burkina Faso von 1951 / 57 und Präambel der Verfassung Gabun von 1991 / 94). Diese Formel entpuppt sich immer mehr als eine Eigenart der jungen afrikanischen Völker, die zur Stabilisierung ihrer Identität den Rückgriff auf die Geschichte brauchen, zumal sie noch schwierige Entwicklungen zum gelebten Verfassungsstaat vor sich haben („Zukunft braucht Herkunft“, vgl. S. 136). Art. 46 zur Nationalflagge Burundis lebt ebenfalls aus der Geschichte dieses Volkes. Dieselbe Verfassung erfindet eine neue Textstufe in Sachen kulturelle Werte; sie lautet: Jeder Bürger Burundis muss in seinen Beziehungen zur Gesellschaft Sorge für die Wahrung und Stärkung der kulturellen Werte Burundis tragen und zur Errichtung einer moralisch gesunden Gesellschaft beitragen.

Eine Annäherung dieses „Sorge-Auftrages“ an die Kategorie der Grundpflichten ist unverkennbar und vielleicht dem Freiheitsgedanken fremd. Die Verfassung der Elfenbeinküste (1960/95) bekennt sich in ihrer Präambel zur Menschenrechtserklärung von 1789 und zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Diese Etappen der kulturellen Entwicklung des Verfassungsstaates werden damit in das kulturelle Gedächtnis und Erbe der Elfenbeinküste selbst aufgenommen. Die „Werte von 1789“ erweisen sich als nationales und universales Kulturgut.

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Das Grundgesetz der Republik Guinea (1990) formuliert in der Präambel viele Bekenntnise zu historischen Vorgängen und Prinzipien des Verfassungsstaates wie dem „Vorrang des Rechts“. Auffällig ist der Wille des Volkes, „Lehren aus seiner Vergangenheit“ zu ziehen. Derselben Verfassung gelingt in Art. 19 Abs. 3 eine glückliche Textstufe in den Worten: Das Volk von Guinea hat das Recht auf Schutz seines Erbes, seiner Kultur und seiner Umwelt. Es hat das Recht, sich der Unterdrückung zu widersetzen.

Bemerkenswert ist, dass der Verfassunggeber den Schutz des Erbes dem Volk zuordnet. Die Verfassung der Republik Guinea-Bissau (1984 / 1993) spricht in ihrer Präambel von einer bestimmten historischen Tradition. Im Übrigen normiert sie in Art. 17 Abs. 1 einen wichtigen Identitäts-Artikel, der in großer Dichte die Dimensionen des kulturellen Erbes umschreibt: Ein grundlegendes Gebot des Staates ist die Schaffung und Förderung von günstigen Bedingungen für die Wahrung der kulturellen Identität als Träger des nationalen Bewusstseins und der nationalen Würde und als stimulierender Faktor der harmonischen Entwicklung der Gesellschaft. Der Staat bewahrt und schützt das kulturelle Erbe des Volkes, dessen Wertschätzung dem Fortschritt und der Wahrung der menschlichen Würde dienen muss.

Das Selbstverständnis dieses jungen afrikanischen Landes kommt in diesem konzentrierten Passus denkbar gut zum Ausdruck, auch das kulturelle Fundament, auf dem es im Blick auf die Zukunft leben will. Die Verfassung der Republik Kamerun (1972 / 1996) sagt in Art. 1 Abs. 2 Satz 3: Sie (sc. die Republik ) anerkennt und schützt die traditionellen Werte.

In den folgenden Absätzen vollendet sich die in diesem Buch entfaltete Tetralogie eines Verfassungsstaates, insofern traditionsbezogen die Flagge, die Nationalhymne, das Siegel,

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das Wappen und das Wappenschild ungemein detalliert beschrieben werden47. Die Verfassung der Republik Kongo (1992) ist nicht ganz so ergiebig, gleichwohl wichtig. Ihr Art. 35 lautet: Die Bürger haben das Recht auf Kultur und auf Achtung ihrer kulturellen Identität. Alle zur kongolesischen Nation gehörenden Gemeinschaften haben die Freiheit, ihre Sprache und ihre eigene Kultur zu praktizieren, ohne dabei den Sprachen und der Kultur anderer Nachteile aufzuerlegen. Der Staat hat die Pflicht, die nationalen Werte sowohl der materiellen wie der geistigen Kultur sowie der kulturellen Traditionen zu wahren und zu fördern.

Dieses Bürgerrecht auf kulturelle Identität kann gar nicht überschätzt werden. Es bedeutet etwas anderes als der später speziell zu behandelnde Kulturgüterschutz (Dritter Teil), denn es ist direkt auf den Bürger bezogen. Der Kritiker mag einwenden, dass mancher Passus dieser Art derzeit „semantisch“ bleibt. Der dem vergleichenden Verfassungsrechtler gebotene wissenschaftliche Optimismus sollte sich jedoch immer wieder bewusst machen, dass Gedanken, in Gestalt von Verfassungstexten einmal in der Welt, später doch einmal normative Kraft entfalten können. Nicht selten ist verfassungspolitische Rhetorik später zum Text mit normativer Kraft geworden. Man denke an die deutsche Wiedervereinigung (1990), nach 41 Jahren Grundgesetz. Wenn Art. 64 ebd. jedermann zur Pflicht macht, „auf den Schutz und die Stärkung der kulturellen Werte“ zu achten, so ist dies fragwürdig: Das Wertedenken darf nicht auf Kosten der Freiheit in neue Grundpflichten umkippen. Die Verf. der Republik Mali (1992)48 beschwört u. a. in ihrer Präambel die „Traditionen des historischen Kampfes“. Sie spricht überdies von der Verpflichtung des Volkes, „die Verbesserung der Lebensqualität, den Schutz der Umwelt und des 47 48

Dazu die Analyse in P. Häberle, Nationalflaggen, a. a. O., S. 80 f. Französischer Text in JöR 45 (1997), S. 714 ff.

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kulturellen Erbes zu gewährleisten“. Diese kulturelle ErbesKlausel wird ergänzt durch das Bekenntnis zur Universalen Menschenrechtserklärung von 1948 und zur Afrikanischen Charta der Rechte des Menschen und der Völker von 1981. Auch hier besticht die Kontextualität von bestimmten Traditionen, dem kulturellen Erbe und übernationalen normativen Menschenrechtstexten. In Mali sind u. a. eine islamische Stadt und vorislamische Städte sowie Monumente in Timbuktu Weltkulturerbe (1988). Es relativiert damit alle juristischen Staatsformen. Aus Südafrika sei ein einschlägiges Beispiel aus der Verfassung des Westkaps (1997)49 zitiert. Art. 81 lit. n lautet: The protection and conservation of the natural historical, cultural historical, archaeological and architectural heritage of the Western Cap for the benefit of the present and future generations.

Sehr selten ist der Generationenbezug beim Schutz des – hoch differenzierten – kulturellen Erbes so prägnant zum Ausdruck gebracht worden. Die Verfassung der Republik Mosambik (1990) erweist sich wissenschaftlich an mehreren Stellen als höchst ergiebig: Die Präambel spricht vom „jahrhundertelangen Widerstand gegen die Kolonialherrschaft“ und einem „unvergesslichen Sieg“; in Teil IV zu den Symbolen ist die Nationalflagge definiert und erklärt, dass die Farbe „Rot“ den „jahrhundertelangen Widerstand gegen den Kolonialismus“ darstellt (Art. 193 Abs. 3) – ein Beleg für die hier vertretene These des Zusammenhanges von Nationalflagge und „Denk-Mal“-Themen. Wenn die Farbe „Weiß“ die „Rechtmäßigkeit des Kampfes des mosambikischen Volkes und den Frieden“ symbolisieren soll, so ist auch dies ein Beleg für die Grundsatzthese dieser Monographie. Die Verfassung der IV. Republik Niger (1996) formuliert in ihrer Präambel die Sorge dafür, „unsere kulturelle und geistige Identität zu wahren“. Es ist bemerkenswert, dass die Fülle der 49

Zit. nach JöR 49 (2001), S. 498 ff.

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wissenschaftlichen Literatur, die sich mit der Frage der Identität beschäftigt, solche Textbelege nicht zur Kenntnis nimmt50. Die Verfassung der Republik Ruanda (1991 / 1996) schreibt in ihrer Präambel bestimmte Daten aus der jungen Geschichte des Landes fest und spricht zweimal von „Errungenschaften“ der Revolution bzw. der Nation. Auch in diesem Begriff ist ein Stück des kulturellen Gedächtnisses im Hegel’schen Sinne „aufgehoben“. Die Verfassung der Demokratischen Republik São Tomé und Príncipe (1990) beginnt ihre Präambel mit den Worten: „Über fünf Jahrhunderte hinweg führte das Volk . . . einen schweren Kampf“. Es folgen weitere Etappen nationaler Geschichtsschreibung. Der Identitäts-Artikel 2 findet eine neue Wendung: Die Demokratische Republik São Tomé und Príncipe sichert die nationale Identität von São Tomé und Príncipe und schließt darin alle und jeden innerhalb oder außerhalb ihres Staatsgebietes ansässigen Bürger von São Tomé und Príncipe ein.

Der vergleichende Verfassungsjurist muss sich fragen, warum gerade junge Länder in Afrika ausgefeilte Identitäts-Artikel gewählt haben. Vermutlich deshalb, weil ihre Identität erst noch gesichert werden muss, während ältere Länder wie die Schweiz, Frankreich und die USA seit Jahrhunderten ihre nationale Identität relativ sicher gelebt haben. Der Verfassunggeber normiert eben nicht selten gerade das noch nicht Gesicherte, auch wenn er sich den Anschein gibt, problemlos auf sicherem Grund zu normieren. Die Verfassung von São Tomé und Príncipe bestimmt darüberhinaus in Art. 55 Abs. 2: Der Staat bewahrt, schützt und achtet das kulturelle Erbe des Volkes von São Tomé und Príncipe. 50 Dies gilt etwa für die St. Galler Staatsrechtslehrerreferate: VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff. bzw. 156 ff. („Europäische und nationale Identität“). Demgegenüber später mein Versuch: Verfassungsrechtliche Aspekte der kulturellen Identität, in: JöR 55 (2007), S. 317 ff.

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Die Verfassung der IV. Republik Togo von 1992 liefert einen besonders prägnanten Beleg für die These von der Zusammengehörigkeit kultureller Traditionen und Flaggen bzw. Wappen. In ihrem Art. 3 Abs. 7 gibt sie eine „Lesehilfe“ für das definierte Wappen: Pfeil und Bogen demonstrieren danach, dass sich die „wirkliche Freiheit des togolesischen Volkes in seinen Händen befindet und dass seine Stärke vor allem in seinen eigenen Traditionen liegt“. Die Verfassung Uganda (1995) stellt in ihrem Kultur-Artikel einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen kulturellen Werten und der Menschenwürde her (Art. XXIV). Art. XXV („Preservation of public property and heritage“) formuliert eine eher konventionelle Textvariante: The State and citizens shall endeavour to preserve and protect and generally promote the culture of preservation of public property and Uganda’s heritage.

In Uganda sind die Gräber der Buganda-Könige in Kasubi Weltkulturerbe (2001). Damit werden Monumente der afrikanischen Kultur in das Gedächtnis der Welt aufgenommen. Die neue Interimsverfassung des Sudan (2005)51 rezipiert einen fast weltweit bekannten kulturelles Erbe-Artikel in Art. 13 Abs. 5: The State shall protect Sudan’s cultural heritage, monuments and places of national historic or religious importance, from destruction, desecration, unlawful removal or illegal export.

Die Verfassung der Komoren (1996) macht es sich demgegenüber einfach: Art. 39 enthält unter zahlreichen Spiegelstrichen in Form einer bloßen Kompetenznorm den Satz: the national patrimony and the protection of the environment;

Die neueste Verfassung von Kenia (2010) denkt in ihrer Präambel nur an die Umwelt als „Erbe“, erwähnt in diesem Zusammenhang jedoch nicht die Kultur. In dem nachstehenden 51 Zit. nach R. Wolfrum (ed.), Constitutions of the Countries of the world, 2005.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Text findet sich jedoch ein eigener Abschnitt sowohl über nationale Symbole und nationale Feiertage als auch über Kultur (Art. 11). Er ist sogar besonders ergiebig, da er die Kultur, weltweit wohl zum ersten Mal, als „Grundlage der Nation“ qualifiziert und im Übrigen die Idee des kulturellen Erbes (auch im Blick auf Bibliotheken!) vielfältig aufgreift. Art. 11 lautet: (1) This Constitution recognises culture as the foundation of the nation and as the cumulative civilization of the Kenyan people and nation (2) The state shall (a) promote all forms of national and cultural expression through literature . . . . libraries and other cultural heritage . . . (3) Parliament shall enact legislation to (a) ensure that communities receive compensation or royalties for the use of their cultures and cultural heritage; and (b) recognise and protect the ownership of indigenous seeds and plant varieties, their genetic and diverse characteristics and their use by the communities of Kenya.

In Kenia ist die Altstadt von Lamu Weltkulturerbe (2001), eine Auszeichnung für ganz Afrika. Im Folgenden sei eine Auswahl von Texten der Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten dokumentiert und kommentiert52. Die Verfassung Ägyptens (1971/ 1980) sagt in ihrer vorweggestellten „Verfassungserklärung“ nicht ohne berechtigten Stolz ganz im Sinne einer geistig-kulturellen Geschichtsschreibung: Wir, das Volk Ägyptens, das seit den Anfängen der Geschichte und dem Beginn der Zivilisation auf ruhmreichen Boden tätig ist . . . . wir, das Volk, das sich seines großen geistigen Erbes bewusst ist . . .

In Ägypten ist das islamische Kairo seit 1979 Weltkulturerbe. Von den sieben Weltwundern der Antike sind nur noch die Pyramiden von Gizeh vorhanden. Gerade hier droht eine Trivialisierung und Profanisierung durch den Massen- und Pauschaltourismus. Die Unesco hat sich bei der spektakulären 52

Gleichnamige Textausgabe, hrsgg. von H. Baumann / M. Ebert, 1995.

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Rettung von Philae aus den Fluten des Nasser-See bei Assuan vorbildlich engagiert (1979). Die Verfassung Algeriens (1976 / 1989) hält sich in ihrer Präambel in der Tradition emphatischer Geschichtsschreibung und Zukunftsdeutung. Zitiert sei nur ein prägnanter Ausschnitt: Seine Geschichte ist eine lange Kette von Kämpfen, die Algerien für immer zu einem Land der Freiheit und der Würde geformt haben. Verankert im Herzen der großen Ereignisse, die der Mittelmeerraum im Laufe seiner Geschichte erlebt hat, fand Algerien – seit dem Königreich der Numidier und dem Erwachen des Islam bis zu den Kolonialkriegen – unter seinen Söhnen Kinder der Freiheit, der Einheit und des Fortschritts sowie Erbauer demokratischer und aufblühender Staaten in Perioden der Größe und des Friedens.

An diesem Text zeigt sich Vieles: zum einen das Selbstverständnis einer Nation mit langem geschichtlichem Atem, zum anderen bestätigt sich die Präambeltheorie in Sachen Vergangenheitsdarstellung53. Weltkulturerbe in Algerien sind etwa: das Tal von M’zab (1982) sowie die Kasbah (Altstadt von Algier, 1992). Die Verfassung des Jemen (1991 / 1994) erfindet einen bemerkenswerten Artikel in Kap. 3 „Die sozialen und kulturellen Grundlagen“. Art. 34 lautet: Dem Staat und allen Mitgliedern der Gesellschaft obliegt es, die historischen Kulturgüter und Zeugnisse der Geschichte zu erhalten und zu schützen. Jegliche Form ihres Missbrauch und jegliche gewaltsame Handlung gegen sie gilt als Angriff und feindselige Handlung gegen die Gesellschaft. Jeder, der sie antastet oder veräußert, wird entsprechend dem Gesetz bestraft.

Die scharfe Strafbewehrung für jedermann ist wohl ein textliches Unikat, auch der Begriff „Zeugnisse der Geschichte“. Im Jemen ist u. a. die Altstadt von Sana’a (1988) Weltkulturerbe. 53 Dazu meine Bayreuther Antrittsvorlesung: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Die Verfassung von Kuweit (1962 / 1980) normiert in Art. 12 folgenden Text: Der Staat bewahrt das islamische und arabische Erbe und trägt zur Förderung der menschlichen Zivilisation bei.

Bemerkenswert ist die Bezugnahme auf das Islamische und Arabische zugleich. Die Verfassung des Libanon (1926 / 1990) dekretiert in ihrer Präambel (B): „Libanon ist von arabischer Identität und Zugehörigkeit“. Diese Festschreibung der eigenen Identität in sehr apodiktischer Weise bereits in der Präambel bringt zum Ausdruck, dass damit auch das historisch gewordene Selbstverständnis dieser Nation dokumentiert wird. Das Geänderte Provisorische Grundgesetz von Qatar (1972 / 1975) orientiert sich ganz offenbar an älteren europäischen Texten. Denn in Art. 8 („Kulturelle Prinzipien“) heißt es in lit. d: Der Staat pflegt und bewahrt das nationale Kulturerbe und fördert dessen Verbreitung. Er fördert die Wissenschaften, die Künste, die Literatur und die wissenschaftliche Forschung.

Im Grunde handelte es sich auch um eine Kulturschutzklausel. Gleiches gilt für das „Grundgesetz der Herrschaft“ von Saudi-Arabien (1992). Art. 29 lautet: Der Staat widmet seine Aufmerksamkeit der Wissenschaft, Kunst und Kultur. Er fördert die wissenschaftliche Forschung, wahrt das islamische und arabische Erbe und leistet seinen Beitrag zur arabischen, islamischen und menschlichen Zivilisation.

Ganz offensichtlich gibt es auch in den arabischen Ländern in Bezug auf Textstufen Produktions- und Rezeptionsverhältnisse und dies sogar im Blick auf europäische Verfassungstexte. Nur werden sie in die islamische und arabische Welt „übersetzt“. Die Verfassung Syriens (1973) leistet zunächst in ihrer umfangreichen Präambel ein Stück detaillierter Geschichtsschreibung. Darüberhinaus heißt es in Art. 21: Das System der Bildung und Kultur ist darauf gerichtet, eine nationale, sozialistische arabische Generation mit wissenschaftlicher Denkweise

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heranzubilden, die mit ihrer Geschichte und ihrem Boden verbunden und stolz auf ihr Erbe ist, die vom Geist des Kampfes für die Verwirklichung der Ziele der Nation – Einheit, Freiheit und Sozialismus – erfüllt ist . . . .

Diesem Text entspricht es nur zum Teil, wenn 1979 die Altstadt von Damaskus und 1988 die Altstadt von Aleppo Weltkulturerbe wurden. Zusammenfassend: Schon die bisherige Textstufenanalyse von afrikanischen und arabischen Verfassungen erwies sich als ungemein ergiebig. Zwar sind die Verfassunggeber in Bezug auf die Denkmal- und Erinnerungsthemen sowie Identitätselemente wie das kulturelle Erbe nicht so erfinderisch wie in Sachen Umweltschutz (hier findet sich eine intensive Dynamik von Textstufen), doch zeigt sich eine große Vielfalt: zunächst systematisch. Man wird fündig: teils in Präambeln von Verfassungen, teils im Katalog der Grundrechte und Grundpflichten, teils bei Kompetenznormen. Geschichtserzählungen finden sich besonders häufig an der herausragenden Stelle der Präambeln. Im Kontext von Symbol-Artikeln und ErbesKlauseln manifestiert sich die geschichtliche Dimension auffallend häufig im Zusammenhang mit den Nationalhymnen und den Nationalflaggen, auch den Feiertagen. Einmal mehr zeigt sich, dass das Thema „Denk-Mal“ bzw. Nachdenken und Zurückdenken zusammen mit den Feiertagen, Hymnen und Nationalflaggen eine Tetralogie bildet. In lateinamerikanischen Verfassungen lässt sich der schöne Begriff des „Patrimonio culturale“ oder „nacionale“ nachweisen. Vereinzelt erscheint sogar die suggestive Textstufe vom „tesoro“. Sehr häufig wird der Denkmal- und Kulturschutz zusammen mit dem Naturschutz normiert. Schon hier ist zu vermuten, dass der Kulturgüterschutz eine gesonderte Behandlung verdient. Darum der spätere Dritte Teil.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

3. Asien (Auswahl) In Bezug auf die älteren und neueren Verfassungen in Asien ist nur eine kleine Auswahl möglich. Die grundlegenden Prinzipien der demokratischen Republik Afghanistan (1980)54 beschwörten in ihrer Präambel u. a. die „serious observation of national, historical, cultural und religious traditions of the people . . .“. Art. 2 Satz 1 sorgte sich um den Schutz der „national costums and traditions“. Die ältere Verfassung der Republik Indonesien (1945)55 widmet sich in ihrer Präambel der Geschichte des Landes in den Worten: Da jede Nation das Recht hat, unabhängig zu sein, steht der Kolonialismus im Gegensatz zu Menschlichkeit und zu Gerechtigkeit und muss deshalb beseitigt werden. Unser Kampf um die indonesische Unabhängigkeit ist erfolgreich beendet. . . .

In der Praxis ist derzeit umstritten, ob der langjährige Herrscher Suharto in das Pantheon der Nationalhelden aufgenommen werden soll, ein Mausoleum wurde für ihn bereits errichtet56. Das Pantheon in Paris ist in der Neuzeit wohl für manche Länder zum Vorbild geworden. Die Verfassung Indiens (1949 / 51)57 normiert im Staatsaufgabenteil in Art. 49 das Leitprinzip: It shall be the obligation of the State to protect every monument or place or object of artistic or historic interest, declared by Parliament by law to be of national importance, from spoliation, disfigurement, destruction, removal, disposal or export, as the case may be.

Weltberühmt und darum auch Weltkulturerbe sind in Indien u. a. das Tadsch Mahal (1983) sowie Moscheen und Grabbauten in Delhi (1993); sie illustrieren auch Art. 49. 54 55 56 57

Zit. nach JöR 35 (1986), S. 565 ff. Zit. nach JöR 48 (2000), S. 556 ff. Vgl. FAZ vom 26. Oktober 2010, S. 5. Zit. nach JöR 4 (1955), S. 183 ff.

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Die Präambel der Verfassung von Kasachstan (1995 / 98)58 setzt den hohen Ton in der Präambel wie folgt: Wir, das Volk Kasachstans, vereinigt durch ein gemeinsames historisches Schicksal, in Errichtung eines Staatswesens auf angestammter kasachischer Erde, aus dem Selbstverständnis einer friedliebenden Zivilgesellschaft, . . .

Dieser Präambelpassus liest sich fast wie ein Stück aus einem Lehrbuch. Das Wort vom „Selbstverständnis einer friedliebenden Gesellschaft“ ist neuester wissenschaftlicher Literatur und ihrem Sprachgebrauch kongenial59. Die Dimension der Geschichte kommt in den Worten „gemeinsames historisches Schicksal“ sowie „angestammter kasachischer Erde“ zum Ausdruck. Bemerkenswert ist die Verschiebung des Themas des kulturellen Erbes in den Kontext von Artikeln zu den Grundpflichten der Bürger. Art. 37 lautet: Die Bürger der Republik Kasachstan sind verpflichtet, sich um die Erhaltung des historischen und kulturellen Erbes zu kümmern und die Denkmäler der Geschichte und Kultur zu bewahren.

Die Verfassung von Aserbaidschan (1996)60 verschiebt das Thema knapp und ganz in den Abschnitt über Grundpflichten. Art. 77 lautet: La protection des monuments de l´histoire et de la culture est le devoir de chacun.

In Aserbaidschan wurde der ummauerte Teil von Baku (2000) zum Weltkulturerbe. Die Verfassung der Republik Afghanistan (2004) normiert im Kontext der Artt. 19 und 20 zu Nationalflagge und Nationalhymne zuvor in Art. 9 Abs. 1: 58 59 60

Zit. nach JöR 47 (1999), S. 634 ff. Vgl. M. Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993. Zit. nach JöR 46 (1998), S. 448 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Minen, andere unterirdische Ressourcen und kulturelle Schätze sind Eigentum des Staates.

Die schon für Lateinamerika dokumentierte „Schatz-Klausel“ kehrt hier quasi am anderen Ende der Welt wieder: ein Beispiel für weltweite Produktions- und Rezeptionsprozesse in Sachen Verfassungstexte. Die ältere Verfassung der Republik Korea (1980)61 formulierte schon in der Präambel den Traditionsbezug und die „Geburtsurkunde“ recht pathetisch in den Worten: We, the people of Korea, proud of a glorious history, a brilliant culture and a tradition of cherishing peace from time immemorial, imbued with the sublime spirit of independence as manifested in the March First Movement, upon the birth of the democratic Fifth Republic charged with the historic mission of the peaceful unification of the homeland and national renaissance, having determined:

Die jüngere Verfassung der Republik Korea (1987)62 widmet sich in ihrer relativ umfangreichen Präambel der vorkonstitutionellen Entwicklung, etwa der Unabhängigkeitsbewegung von 1919 und dem Aufstand von 1960. Einmal mehr bestätigt sich, dass Präambeln von Verfassungen Geschichte bewältigen bzw. „verarbeiten“ wollen. In (Süd-)Korea wurden mehrere Tempel zu Weltkulturstätten (1995 / 2000), auch ein Schrein, also ein Kulturdenkmal der Religion. Die Verfassung von Laos (1991)63 nimmt sich des Themas dieser Monographie in Art. 19 Abs. 2 wie folgt an: The state develops and expands the fine, traditional culture of the nation in combination with adopting the progressive culture of the world; eliminates all negative phenomena in the ideological and cultural spheres; promotes culture, art, literature and information activities, including in mountainous areas; and protects the antiques and shrines of the nation.

Zit. nach JöR 35 (1986), S. 604 ff. Zit. nach JöR 38 (1989), S. 587 ff. 63 Zit. nach A. P. Blaustein / G. H. Flanz (ed.), Constitutions of the Countries of the World, 1992. 61 62

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Bemerkenswert ist an diesem nationalen Kultur- und Denkmal-Artikel das „adoptierende“ Ausgreifen in die Weltkultur und der Schutz der religiösen Schreine. Die Unesco zeichnete 1995 Luang Prabang mit Königspalast und buddhistischen Klöstern mit dem Titel des Weltkulturerbes aus. Art. 19 Abs. 2 ist damit buchstäblich „erfüllt“. Die Verfassung von Kambodscha (1999) stellt in ihrer Präambel, wie so oft, die Leidensgeschichte des Volkes dar. In Art. 69 heißt es: The state shall preserve ancient monuments, artifacts and restore historic sites.

Verschärfend bestimmt Art. 70: Any offense affecting cultural and artistic heritage shall carry a severe punishment.

Art. 71 schlägt die Brücke zum Weltkulturerbe in sehr origineller Weise: The perimeter of the national heritage sites as well as heritage that has been classified as world heritage, shall be considered neutral zones where there shall be no military activity.

Die Verfassung der Republik Philippinen (1987) erweist sich schon früh als aufschlussreich. In ihrer Präambel befindet sich der Passus: „conserve and develop our patrimony“. Art. II Section 13 unter dem Stichwort „State Policies“ wagt einen bemerkenswerten Satz: It (sc. the state) shall inculcate in the youth patriotism and nationalism, and encourage their involvement in public and civic affairs.

Selten macht ein Verfassunggeber den Patriotismus in dieser Form zum Erziehungsziel für die Jugend. Weltkulturerbe auf den Philippinen sind u. a. mehrere Barockkirchen (1993) sowie die historische Altstadt von Vigan (1999). Die Verfassung Thailands (1997) erweist sich in Kap. I Section 46 als ergiebig:

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension Persons so assembling as to be a traditional community shall have the right to conserve or restore their customs, local knowledge, arts or good culture of their community and of the nation and participate in the management, maintenance, preservation and exploitation of natural resources and the enviroment in a balanced fashion and persistently as provided by law.

Auffällig ist als Zwischenergebnis, dass die neueren asiatischen Verfassungen, die doch sonst so auf traditionelle Werte ausgerichtet sind, beim hier behandelten Thema in ihren Textstufen relativ wenig erfinderisch sind. Manche wagen indes vorbildlich die Bezugname auf das „Weltkulturerbe“. Dies sollte in die Verfassungspolitik möglichst vieler Nationen übernommen werden. Die Verfassung des Irak (2005) zeichnet sich durch eine Präambel aus, die ungewöhnlich ausführlich die 1000jährige Geschichte des Landes nachschreibt. Sie sieht sich als Teil der islamischen Welt und arabischen Nation (Kap. 1 Art. 3). Ihr Art. 12 ebd. nimmt sich der Symbole wie Ehrenzeichen, Flagge, Wappen, Hymnen, Feiertagen an. Zuvor formuliert sie in Art. 10 ihre eigene Form des Denkmalschutzes in den Worten: The holy shrines and religious sites in Iraq are religious and cultural entities. The state is committed to maintain and protect their sanctity and ensure the exercising of (religious) rites freely in them.

Eine ganz eigene Textform gelingt dem Irak in Art. 35 unter dem Stichwort „liberties“: The state shall promote cultural activities and institutions in a manner that benefits the civilizational and cultural history of Iraq, and it shall seek to support deep-rooted Iraqi cultural orientations.

Die Verfassung des Königreiches Bhutan (2008), die schon in Art. 1 Nationalflagge, Nationalhymne, den nationalen Feiertag und die Nationalsprache festlegt, erfindet im gleichen Kontext einen vorbildlichen Art. 3 zum geistigen Erbe: 1. Buddhisme is the spiritual heritage of Bhutan, which promotes the principles and values of peace, non-violence, compassion and tolerance. 2. The Druk Gyalpo is the protector of all religions in Bhutan.

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3. It shall be the responsibility of religious institutions and personalities to promote the spiritual heritage of the country while also ensuring that religion remains separate from politics in Bhutan. Religious institutions and personalities shall remain above politics. . . .

und Art. 4 zur Kultur: 1. The State shall endeavour to preserve, protect and promote the cultural heritage of the country, including monuments, places and objects of artistic or historic interest, Dzongs, Lhakhangs, Goendeys, Ten-sum, Nyes, language, literature, music, visual arts and religion to enrich society and the cultural life of the citizens. 2. The State shall recognize culture as an evolving dynamic force and shall endeavour to strengthen and facilitate the continued evolution of traditional values and institutions that are sustainable as a progressive society. 3. The State shall conserve and encourage research on local arts, custom, knowledge and culture.

Diese Textstufen Bhutans fassen nahezu alle einschlägigen Textbelege und Themen dieser Monographie zusammen; dies gelingt nicht jedem Verfassunggeber. Exkurs: Die kommunistischen Verfassungen sozialistischer Staaten 1952 – 1978 Die historisch überholten Verfassungstexte sozialistischer Staaten verdienen als geschichtliches Kontrastprogramm zum Typus Verfassungsstaat durchaus auch heute noch Interesse. Schon in den beiden Monographien über Nationalhymnen und Nationalflaggen haben sie sich als aufschlussreich erwiesen64. Der totalitäre Staat erzwingt die Integration seiner Bürger gerade bei diesen Themen. Ganz anders der Verfassungsstaat. Man darf gespannt sein, ob die vergangenen Verfassungstexte in Sachen Denkmäler und Erinnerungsstätten ergiebig sind. Schon auf den ersten Blick ist zu vermuten, dass es zwar eine obligatorische staatliche Erinnerungskultur gab, dass je64 Dazu meine Bücher: Nationalhymnen, a. a. O., S. 25 ff., Nationalflaggen, a. a. O., S. 55 ff.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

doch der Denkmalschutz textlich weniger berücksichtigt wurde, zumal der Eigentumsschutz und die Wirtschaftsordnung von ganz anderer Natur sind als im Verfassungsstaat. Immerhin bleiben einige Verfassungstexte ergiebig. Die Verfassung der sozialistischen Volksrepublik Albanien (1976)65 beschrieb in einer ungemein ausführlichen Präambel die Geschichte der sozialistischen Revolution. Genannt ist insbesondere das Jahr 1944. Einen eigenen Artikel zum Denkmalschutz gab es nicht, doch ist im Dritten Teil Kap. 1 Art. 107 bei der Schilderung des Wappens das Jahr 1944 fixiert. Die Verfassung der Volksrepublik Bulgarien (1971) erzählte wiederum zunächst in der Präambel sehr ausführlich die revolutionäre Geschichte („Erbe großer revolutionärer Traditionen, die in jahrhundertelangem Kampf um Freiheit und Menschenrechte . . .“). In Art. 139 in Sachen Wappen wird das Jahr der Gründung des bulgarischen Staates und des „Sieges der sozialistischen Revolution in Bulgarien“ festgeschrieben. Auch hier findet sich kein eigener Verfassungsartikel zum Denkmalschutz. Offenbar genügte es den sozialistischen Verfassunggebern, dass in den Präambeln und ihrer Erzählung von Geschichte die sozialistische Revolution identitätsbegründend festgeschrieben wird. Die Volksrepublik China (1978) beginnt mit den großen Worten der Präambel: „Nach über hundert Jahren heldenhaften Kampfes hat das chinesische Volk unter der Führung der Kommunistischen Partei Chinas mit dem Vorsitzenden Mao Tse Tung . . . an der Spitze . . . gesiegt“. Im Übrigen ist der Verfassungstext unergiebig. Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik (1968 / 74) begann mit den Worten: „In Fortsetzung der revolutionären Traditionen der deutschen Arbeiterklasse . . .“. Immerhin war in Art. 40 den Sorben „das Recht zur Pflege ihrer Muttersprache und Kultur“ garantiert. 65 Die folgenden Texte sind zit. nach G. Brunner / B. Meissner (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, 1980.

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Die Verfassung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (1974) begann in ihrem großen Vorspruch mit den Worten: „Von der historischen Tatsache ausgehend, dass die in der Volksbefreiungsfront mit der Kommunistischen Partei an der Spitze vereinigten Arbeiter und Bauern . . .“. Art. 6 schrieb auf dem Wappen das revolutionäre Datum 29. XI. 1943 fest, insofern wird das Integrationspotential des Wappens in Anspruch genommen. Immerhin war ein Stück Denkmalschutz wohl in Art. 84 verborgen. Das Eigentumsrecht an Sachen von besonderer kultureller Bedeutung kann, wenn dies das öffentliche Interesse erfordert, auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden.

Art. 193 Abs. 2 war, im Zusammenhang mit dem Naturschutz, sogar direkt einschlägig: Jeder ist verpflichtet, die Natur und ihre Güter, die Sehenswürdigkeiten und Besonderheiten der Natur und die Kulturdenkmäler zu schützen.

Die geltende Verfassung der Republik Kuba (1976) ist an mehreren Stellen durchaus ergiebig. Dies beginnt in der Präambel: Wir, Kubanische Bürger, Erben und Fortführer der schöpferischen Arbeit unserer Vorfahren und ihrer Traditionen der Kampfbereitschaft, der Standhaftigkeit, des Heldentums und der Opferbereitschaft . . . .

Während Art. 2 zu den nationalen Symbolen die historische Dimension wenigstens in den Worten zum Ausdruck bringt: „für den sozialen Fortschritt mehr als hundert Jahre“, findet sich das hier behandelte Thema immerhin im Kapitel über „Erziehung und Kultur“. Wohl einzigartig in einer sozialistischen Verfassung ist in Art. 38 Abs. 2 unter lit. i gesagt: Der Staat sorgt für die Bewahrung des kulturellen Erbes und des künstlerischen und historischen Reichtums der Nation. Er schützt die nationalen Denkmäler und die wegen ihrer natürlichen Schönheit oder ihres anerkannten künstlerischen oder historischen Wertes bedeutenden Orte.

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

Kaum eine andere Verfassung, schon gar nicht eine sozialistische, ist dem glücklichen Wort vom „Erinnerungsort“ so nahe wie die kubanische. Die Verfassung der Mongolischen Volksrepublik (1960) widmete sich in der Präambel, wie die sozialistischen Schwesterverfassungen, einer langen Erzählung in Sachen sozialistischer Revolution in der Mongolei aus dem Jahre 1921. Das Kapitel zu Wappen, Flagge und Hauptstadt war zwar für diese Themen ungemein ergiebig (Art. 90: „Das Staatswappen der Mongolischen Volksrepublik bringt das Wesen des Staates und die Idee der Völkerfreundschaft zum Ausdruck und zeigt die nationalen und wirtschaftlichen Besonderheiten des Landes“). Doch wurde das Thema eines etwaigen Denkmalschutzes oder Erinnerungsortes nicht in eine Textstufe umgesetzt. Die Verfassung der Volksrepublik Polen (1952 / 1976) widmete sich wiederum in ihrer Präambel einer Darstellung der jüngsten sozialistischen Geschichte. Auch waren Wappen, Farben, Hymne und Hauptstadt ganz aus der Geschichte festgelegt (Artt. 103 – 105), doch fand sich keine Norm zum Denkmalschutz. Die Verfassung der sozialistischen Republik Rumänien (1965) war in Sachen Gedenkwesen und Gedenkkultur nicht ergiebig. Das überrascht auch deshalb, da ja revolutionäre Verfassungen ihre eigene Geschichte, wenn auch parteiisch, schreiben wollen bzw. müssen und ggf. auch Mythen begründen. Dies zeigte sich etwa bei den großen Präambeln in China und Jugoslawien. Möglicherweise verbargen sich in Art. 7 historische Denkmalgüter („die materielle Grundlage der staatlichen sozial-kulturellen Einrichtungen gehören dem ganzen Volk, sind staatliches Eigentum“). Demgegenüber war die Verfassung Rumäniens in Sachen „Hoheitszeichen“ (Artt. 116 bis 119) sehr ergiebig. Hier wurde z. T. an die Geschichte angeknüpft66. 66 Dazu meine Monographien: Nationalhymnen, a. a. O., S. 22, 27, Nationalflaggen, a. a. O, S. 61 f.

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Die Verfassung der Sowjetunion (1977) erzählte aus der Sicht der sozialistischen Oktoberrevolution sehr ausführlich die Geschichte des Landes. Die Rede war u. a. von „fortschrittlicher Wissenschaft und Kultur“ und „neuer historischer Gemeinschaft von Menschen – das Sowjetvolk –“. In den Kapiteln über das Wirtschaftssystem bzw. die soziale Entwicklung und Kultur blieb kein Raum für Denkmalschutz und Erinnerungskultur. In Art. 18 war nur von der Pflanzen- und Tierwelt sowie dem Umweltschutz die Rede. Auch die Artikel zu den Staatssymbolen (Artt. 169 – 172) waren ganz auf die neue sozialistische Welt fixiert. Nur der Hauptstadt-Artikel (Moskau) trug das Historische in sich. Die Verfassung der Tschechoslowakischen sozialistischen Republik (1960 / 78) war in ihrer überaus umfangreichen präambelgemäßen „Erklärung“ ganz mit der Geschichtsschreibung in eigener revolutionärer Sicht beschäftigt. Stichworte lauteten: vor „15 Jahren, im Jahre 1945“, „Vortrupp der Arbeiterklasse“, „Bildung und Kultur als Gemeingut aller Werktätigen“. In den Allgemeinen und Schlussbestimmungen ist die vorrevolutionäre Geschichte der Tschechoslowakei immerhin im Staatswappen gespeichert (Art. 110: „roter Schild in der Form einer Hussiten-Pavese“). Die Verfassung der Ungarischen Volksrepublik (1972/75) widmete sich vorweg den Kämpfen und Siegen in der jüngeren Geschichte sowie den Erfahrungen der Räterepublik des Jahres 1919. Auch war von den „historischen Erfolgen“ die Rede. Denkmalschutz und Erinnerungsorte i. S. des Typus „Verfassungsstaat“ sind textlich nicht präsent. Die Eigentumsordnung unterschied u. a. zwischen dem staatlichen Eigentum als Vermögen des ganzen Volkes, und dem Schutz des persönlichen Eigentums (§ 8 bzw. § 11). Das Kapitel IX zu Wappen, Flaggen und Hauptstadt war von der revolutionären Symbolpolitik geprägt. Die Verfassung der Demokratischen Republik Vietnam (1959) beschrieb besonders ausführlich in ihrer Präambel die Geschichte des Landes. Dabei ist sowohl von der „jahrtausen-

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1. Teil: Textstufen zur geschichtlichen Dimension

dealten Geschichte“ des Volkes als auch von besonderen revolutionären Vorgängen der Jahre 1930 und 1945 sowie 1946 die Rede. In Art. 3 (Abs. 3) wurde immerhin allen Volksstämmen das Recht garantiert, „ihre eigenen Trachten und Bräuche zu bewahren“. Art. 12 Abs. 2 ordnet Bodenschätze, Gewässer und Wälder dem „Eigentum des ganzen Volkes zu“. Im Übrigen fehlte es an Aussagen zu Erinnerungsorten u. ä. Das Kapitel IX zur Nationalflagge, zum Nationalemblem und Hauptstadt stand ganz im Zeichen der Begründung neuer sozialistischer Identität. Die Verfassung von Kambodscha (1976) schrieb, wie so oft in sozialistischen Präambel-Texten, vorweg die revolutionäre Geschichte des Landes fest. Die eigenen Kapitel zu Landeshauptstadt, Nationalflaggen, Nationalwappen und Nationalhymne (Artt. 16 – 18) begründeten die sozialistischen Symbolgehalte von Kambodscha, zur Nationalhymne wurde das Lied „Der große siegreiche 17. April“ erklärt (Art. 18). Insofern wurde die revolutionäre Geschichte wieder einmal in der Nationalhymne gespeichert. Immerhin sagte Art. 16 Satz 3: „Der gelbe Tempel ist das Symbol der nationalen Traditionen des kambodschanischen Volkes“, nachdem zuvor der Farbe rot Symbolfunktion für die „revolutionäre Bewegung und den unbeugsamen Kampf des kambodschanischen Volkes um Befreiung“ zugeschrieben wurde. Die sozialistische Verfassung Äthiopiens (1987)67 normierte ihren Art. 23 wie folgt: The state and society shall ensure that historical and cultural heritages are preserved, harmful practices are eradicated, . . .

Im Ganzen: Als Gegentypus zur früheren und heutigen Entwicklung des Verfassungsstaates bleibt der „Exkurs“ zu den sozialistischen Verfassungstexten lehrreich. Der Geist des Sozialismus durchdringt die Präambeln ebenso wie die nationalen Symbole, Flaggen, Hymnen, Wappen und die Hauptstadt. Nur an wenigen Stellen machen sich ältere geschichtliche 67

Zit. nach JöR 36 (1987), S. 699 ff.

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Traditionen bemerkbar. Die sozialistische Revolution, sowohl in Gestalt der russischen Oktoberrevolution, als auch in Form der jeweiligen sozialistischen Revolution im speziellen Land, versuchte im Grunde auf einer Art tabula rasa Staat und (semantische) Verfassung neu zu begründen. Auf identitätsbegründende Symbole wird keineswegs verzichtet, doch ist die Geschichte ideologisch und parteiisch „umgeschrieben“. Die Volksrepublik China ist ein Sonderfall. In den Jahren 2003 bis 2010 erhielten 12 alte Stätten das Prädikat der Unesco.68

68

Zit. nach http://whc.unesco.org/en/list.

Zweiter Teil

Wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme I. Beispiele für Erinnerungskultur bzw. Denkmalthemen aus der Geschichte und Gegenwart (allgemein) Im Folgenden seien einige prägnante Beispiele in Erinnerung gerufen. Von der historisch kulturellen Bedeutung her sind naturgemäß an erster Stelle die Stätten zu nennen, die zum Weltkulturerbe seitens der Unesco erklärt worden sind (Beispiele unten Dritter Teil II.) oder erklärten werden sollen1. Unabhängig davon ein Blick auf die Lebenswelt einer Reihe von Ländern: In Deutschland ist das Herrmanns-Denkmal im Teutoburger Wald ein populärer Ausflugsort und Publikumsmagnet. Ähnliches gilt für den Ort Kyffhäuser (Barbarossa) und das klassische Weimar. Neustens erweist sich die Ausstellung „2000 Jahre Varusschlacht“ in Kalkriese als Publikumsmagnet. In Polen inszeniert das Land den „Mythos des Kriegsbeginns“ im Jahre 1939 durch ein Denkmal auf der Westernplatte2. In Bezug auf die „Meisterhäuser“ in Dessau-Roßlau gibt es Pläne für das Welterbe-Ensemble3. Spektakulär ist in der Ukraine 1 In Deutschland will etwa die Landeshauptstadt von MecklenburgVorpommern, d. h. Schwerin auf die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes, FAZ vom 17. Sept. 2010, S. 2; in Bayreuth gibt es eine Initiative für das Markgräfliche Opernhaus als Weltkulturerbestätte. Die UNESCO wendet sich gegen Hochhäuser in Köln, vgl. FAS vom 1. August 2010, S. 22. 2 Dazu Die Zeit vom 26. August 2010, S. 17. 3 Dazu SZ vom 16. Juni 2010, S. 11: „ Eine Hülle für die Erinnerung“.

I. Beispiele für Erinnerungskultur bzw. Denkmalthemen

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die Kolossalstatue „Mutter Heimat“ in Kiew4. In Rom findet sich der Lesesaal der Vatikanischen Bibliothek mit einer der bedeutendsten Handschriften-Sammlungen der Welt – von der Antike bis in die Neuzeit. In Hamburg wird das Modell des Salomonischen Tempels im Museum für Hamburgische Geschichte viel bewundert. In Stuttgart steht der Hauptbahnhof von P. Bonatz seit 1987 unter Denkmalschutz5. In Berlin enthüllte H. Schmidt ein Denkmal für die drei Väter der deutschen Einheit: M. Gorbatschow, G. Bush sen. und H. Kohl 6. Berühmt ist das Chopin-Institut in Warschau, das sich jetzt als neues interaktives Museum im Blick auf das Jubiläumsjahr 2010 präsentiert7. Weit über Deutschland hinaus ist die Walhalla bei Regensburg bekannt8 (in ihr finden sich Büsten etwa von J. W. von Goethe, L. van Beethoven und K. Adenauer sowie der Geschwister Scholl – viele Straßen in Deutschland tragen den Namen dieser Persönlichkeiten). Die Wolfenbütteler Bibliothek aus dem 17. Jahrhundert wird sogar gelegentlich als „Achtes Weltwunder“ bezeichnet9. Besonders erwähnt sei ein Zimmer im Gefängniskomplex von Robben Island, wo N. Mandela inhaftiert war: es ist Unesco-Welterbe10. In Berlin gibt es nach wie vor ein „Karl-Liebknecht-Haus“, das schon in der DDR-Zeit unter Denkmalschutz gestellt wurde11. Einschlägig ist eine Zeitungsmeldung, wonach zwei Künstler in einem Museum in Düsseldorf bzw. ein Sammelband „nach dem FAZ vom 11. August 2010, S. 29. Vgl. FAZ vom 31. Juli 2010, S. 35. 6 Die Welt vom 30. September 2010, S. 1. 7 Vgl. FAZ vom 31. Juli 2010, S. 39. 8 Vgl. im Blick auf die Aufnahme von H. Heine: FAZ vom 23. Juli 2010, S. 1, SZ vom 29. Juli 2010, S. 1. 9 Vgl. FAZ vom 17. Sept. 2010, S. 8. 10 Welterbe gibt es auch hinter Stacheldraht. Vom 25. Juli bis 3. August tagt in Brasilien die Welterbe-Konferenz der Unesco. Unter den mittlerweile fast neunhundert Unesco-Welterbestätten finden sich nur wenige, die an Inhumanität und Verbrechen erinnern. Und Deutschland hat noch gar keine solche Gedenkstätte beantragt (FAZ vom 23. Juli 2010, Nr. 168, S. 32). 11 Vgl. FAZ vom 19. Juni 2010, S. 3. 4 5

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2. Teil: Wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme

Geheimnis der Museen suchen“12. Das berüchtigte Gefängnis Hohenasperg wird ein Museum13, ebenso bald das Freie Deutsche Hochstift. Weltweit berühmt ist der Campus der nationalen Autonomen Universität in Mexiko-City14. Die LutherStatue vor dem Wittenberger Rathaus stammt von J. G. Schadow, sie wird jetzt restauriert15. In der nationalen Gedenkkultur Italiens gilt Triest als „Frontstadt gegen Habsburg und das Slawentum“ – kürzlich trafen sich erstmals die Präsidenten Italiens, Kroatiens und Sloweniens zu einer Geste historischer Versöhnung in Triest16. Ein großer Aufsatz im Feuilleton der FAZ trägt den plastischen Titel: „Das Gedächtnis von Damaskus“17. In Jerusalem öffnete kürzlich das berühmte Israel-Museum neu18. In Spanien kam es jüngst zu einem Streit um die Frage, ob das Denkmal für Primo de Rivera in Granada geschichtlichen und künstlerischen Wert besitzt19. Jüngst wurde das neue Archäologische Museum von Vitoria gerühmt20. Zum Glück wurde der Stierkampf in Spanien nicht zum Kulturgut erklärt21. Diskutiert wird demgegenüber zu Recht, ob der Flamenco Weltkulturerbe werden soll22. In ganz Frankreich feiert man 2010 den 70. Jahrestag des Londoner Aufrufs von Ch. de Gaulle an seine Landsleute, geDazu FAZ vom 4. Juni 2010, S. 34. Vgl. FAZ vom 24. Juli 2010, S. 35: „Jedermann zum abscheulichen Exempel“. 14 Dazu plastisch FAZ vom 21. Juli 2010, S. N 5: „Das neue Mexiko und sein Bildungsutopie. Das Bauhaus Kolleg erforscht die Bildungslandschaften der Nachkriegsmoderne“. 15 Dazu Rheinischer Merkur vom 25. Juli 2010, S. 23. 16 Vgl. FAZ vom 13. Juli 2010, S. 5. 17 Vgl. FAZ vom 10. Juli 2010, S. 3. 18 FAZ vom 2. August 2010, S. 29. 19 Vgl. Granada Hoy vom 29. Juni 2010, S. 12. 20 FAZ vom 11. Juni, S. 39. 21 Vgl. FAZ vom 7. Oktober. 2010, S. 9. 22 Vgl. FAZ vom 5. Oktober 2010, S. 9. 12 13

I. Beispiele für Erinnerungskultur bzw. Denkmalthemen

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gen die deutsche Besatzung zu kämpfen: mit übergroßen – wohl auf Zeit zusammengesetzten – Abbildungen23. In Paris ist das Pantheon das Monument für große Franzosen24. Schlagzeilen machte jüngst der Streit um die Frage, ob der japanische Künstler Murakami in Versailles ausgestellt werden darf, im Hinblick darauf, dass das Schloss „das Symbol unserer Geschichte und Kultur“ sei und „unser kulturelles Erbe nicht in den Dienst ausländischer Interessen gestellt werden darf“25. Weltweit bekannt sind die Denkmäler in Hiroshima und Nagasaki (Japan) sowie in den USA die „Freiheitsstatue“ und „Mount Rushmore“ mit kollosalen Abbildungen der Gesichter der vier Präsidenten: George Washington, Thomas Jefferson, Theodore Roosevelt und Abraham Lincoln. Diese nationale Erinnerungskultur ist intrakonstitutionell, im Gegensatz zu vielen schon erwähnten Beispielen für präkonstitutionelle Ausdrucksformen bzw. vordemokratisches Erbe. Berühmt geworden ist ein Vorgang in der Sowjetunion: Ein Goldstein-Foto von Lenin, Trotzki und Kamenew, das tief im kollektiven Gedächtnis des Landes lebt, wurde später manipuliert26: Trotzki wurde gestrichen. Im heutigen Russland beginnt ein Streit um den Bau eines Gazprom-Turms in St. Petersburg: Die UNESCO drohte, das historische Zentrum St. Petersburgs würde seinen Welterbestatus verlieren27. Ebenfalls in St. Petersburg kommt es zum Streit über eine geplante Gedenktafel für den KP-Chef G. Romanow28. Ebendort wird heute an die Bausünden an den Denkmälern von St. Petersburg erinnert29. Vgl. FAZ vom 18. Juni 2010, S. 33 und vom 19. Juni 2010, S. 6. Dazu A. Guy-Kersaint, Abhandlung über die öffentlichen Baudenkmäler, Paris 1791 / 92, in Deutsch 2010. 25 FAZ vom 4. September 2010, S. 35. 26 Vgl. FAZ vom 25. August 2010, S. N 3: „Wie die sowjetische Bildpolitik das Gedächtnis löschen musste“. 27 SZ Nr. 116/2010, S. 14. 28 FAZ vom 30. August 2010, S. 25. 29 Vgl. FAZ vom 10. Juni 2010, S. 44. 23 24

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2. Teil: Wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme

Bekannt sind Friedhöfe als „grünes Idyll“ inmitten von Großstädten. Sie dienen als Inseln der Ruhe und als kulturgeschichtliche Spiegel ihrer Zeit. Dem Verfasser ist etwa der Friedhof in Bonn vertraut, der viele Gelehrte, die Mutter von L. van Beethoven, vor allem aber das Ehepaar R. und C. Schumann versammelt. Jüngst wurde in München das restaurierte Grabmal von F. von Schlichtegroll (1765 – 1822) auf Initiative der Bayerischen Akademie der Wissenschaft feierlich enthüllt. Aus der Tiefe der Geschichte sind eine Reihe von Friedhöfen bekannt, die Erinnerungsorte von kulturellem Rang auch über die nationalen Grenzen hinaus darstellen. Erwähnt seien die Kapuzinergrüfte in Rom und Palermo, die monumentalen Finde-Siècle-Friedhöfe von Mailand, Genua und Neapel und auch der Campo santo in Pisa sowie der neapolitianische Cimitero delle Fontanelle. In Wien ist der Zentralfriedhof eine Institution. T. Bernhard nennt Friedhofsbesuche „die nützlichsten, sie dienen wie nichts der Belehrung und der Beruhigung“30. Geburts- und Sterbehäuser berühmter Schriftsteller wie L. Tolstoi (seines 100. Todestages am 20. November 2010 wurde weltweit gedacht) und der Französin Colette31 verlebendigen ebenfalls Erinnerungskulturen. Mausoleen gibt es seit der Antike. Ein eigenes Thema sind Denkmäler für große Persönlichkeiten. Bekannt ist die Doppelstatue für J. W. v. Goethe und F. Schiller in Weimar, von J. S. Bach in Leipzig, von H. Heine, R. Schumann und G. Gründgens in Düsseldorf, von F. Schiller in Stuttgart, von R. Wagner, F. Liszt, J. Paul in Bayreuth. Greift man in die Früh- und Urgeschichte zurück, so wären etwa die Malereien in der Höhle von Altamira in Spanien zu nennen; sie sind fünfzehntausend Jahre alt und Zeugnisse einer großen Kunst32. 30 Dazu D. Schümer, Grabeswille, Keine andere Stadt rechnet ihre Toten so fröhlich zu den Lebenden wie Wien, FAZ vom 20. November 2010, S. 42. 31 Zu ihrem Haus in Burgund: FAZ vom 18. November 2010, S. 37. 32 Dazu P. Ingendaay, Lassen wir das Bison doch in Ruhe!, FAZ vom 23. Juni 2010, S. 33.

II. Denkmalthemen im Spiegel von deutschen Tageszeitungen

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Schon diese naturgemäß wenigen Beispiele zeigen in wirklichkeitswissenschaftlicher Betrachtung, wie vielfältig die Erscheinungsformen von Erinnerungskultur, Denkmalschutz und Gedenkstätten auch in der historischen Dimension fast weltweit sind und wie lebendig die Vorgänge um diese Objekte und Themen bleiben. In Frankreich gibt es „Journées européennes du Patrimoine“. Dort ist der Staat für die „monuments historiques“ zuständig. Er pflegt sie, wie seine Kunstbibliotheken, intensiv.

II. Denkmalthemen bzw. Erinnerungskultur im Spiegel von deutschen Tageszeitungen aus vier Monaten (2010) Im Folgenden sei – ähnlich der Darstellung der Präsenz von Nationalflaggen und -fahnen in der Vorgängermonographie zu den Nationalflaggen33 – ein Ausschnitt aus der gelebten Wirklichkeit von Erinnerungskultur, insbesondere von Denkmalschutz und kulturellem Erbe nachgezeichnet, vor allem in Gestalt von Ereignissen, die sich im Spiegel von vier Monaten Zeitungsliteratur in Deutschland darstellen lassen. Hier die Beispiele: „Die Zeit“ vom 12. Mai 2010, S. 15 berichtet von der für 2011 geplanten „Neueröffnung des militärhistorischen Museums“ in Dresden. In Berlin wird immer wieder um das „Homosexuellen-Denkmal“ gestritten (SZ vom 19. Mai 2010, S. 11: „Vergangenheit, die nun vergehen will“). Die SZ vom 20. Mai 2010, S. 13 meldet im Feuilleton: „Deutsches Kulturerbe. Der Bund gibt Marbach eine Million für den Ankauf des Insel-Archives“. Ende Mai 2010 eröffnet das „Größte Museum für zeitgenössische Kunst in Rom“ (SZ vom 29. / 30. Mai 2010, S. 13). Den langjährigen Streit um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses, der erst einmal dem Sparen zum Opfer fällt, kommentiert die SZ vom 8. Juni 2010, S. 11 mit dem Wort: 33 Nationalflaggen, Bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008, S. 136 ff.

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2. Teil: Wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme

„Denkpause für ein umstrittenes Mammutprojekt“. Mitte Juni 2010 hat die Stadt Weimar den Standort für das neue BauhausMuseum beschlossen (SZ vom 19. / 20. Juni 2010, S. 14). Am 22. Juni 2010, S. 13 schreckt eine Nachricht aus Sachsen auf. Danach will das Land sich nur noch um die wenigsten Denkmäler kümmern, alle anderen wichtigen Gebäude sollen preisgegeben werden („Eigentum verpflichtet nicht“, SZ vom 22. Juni 2010 sowie FAZ vom 1. Juli 2010, S. 38: „Brachialakt sogar mit Gesetzesänderungen“). Zum Tode von C. Monsiváis, eines mexikanischen Schriftstellers, schreibt die FAZ vom 22. Juni 2010, S. 35: „Mexikos Gedächtnis“. Ende Juni berichtet die SZ vom 26. Juni 2010, S. 10, dass die Stalin-Statue im georgischen Gori, der Geburtsstadt des Diktators, vom Sockel gestürzt wurde. In der Republik Moldau wird Anfang Juli über die Sowjetunion gestritten: „Sind sie eine Besatzungsmacht? Jedenfalls gibt es ein Denkmal für die Opfer der sowjetischen Okkupation in der moldauischen Hauptstadt Chi¸sinau“. Es ist bemerkenswert, dass ein neu eingeführter Gedenktag34 am 28. Juni an den Einmarsch der Roten Armee 1940 erinnern soll (FAZ vom 3. Juli 2010, S. 6) – einmal mehr zeigt sich die Verbindung von Denkmälern und Gedenktagen. Anfang Juli verwundert die Zeitungsnachricht (FAS vom 4. Juli 2010, S. 10): Aufstand im Salzkammergut: Die Hallstätter wollen nicht, dass ihre Stadt unter Denkmalschutz kommt. Das Deutsche Historische Museum in Berlin veranstaltete von Juli bis Oktober 2010 eine Ausstellung: 1990 – Der Weg zur Einheit (vgl. FAZ vom 7. Juli 2010, S. 36: „Alternativlos: Noch eine Einheits-Ausstellung in Berlin“). Ein Zeitungsbericht vom 8. Juli 2010 (FAZ, S. 35) widmet sich zwei Ausstellungen in Nürnberg und Berlin, die der „Burg als Mythos und Herrschaftsraum“ gelten35. In der FAZ vom 16. Juli 2010, S. 8 fin34 Zu Gedenktagen: P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 116 ff. 35 Aus der allgemeinen Lit.: R. Harweg, Zeit in Mythos und Geschichte, 4. Band, 2009.

II. Denkmalthemen im Spiegel von deutschen Tageszeitungen

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det sich die Notiz von der „Eröffnung einer Ausstellung über das Sterben der preußischen Königin Luise vor zwei Jahrhunderten“. Im Juli 2010 wurden fünf bayerische Naturschutzgebiete offiziell „Naturerbe“ (SZ vom 17. / 18. Juli 2010, S. 47). Bemerkenswert ist die Meldung der SZ vom 17. / 18. Juli 2010, S. 24: „Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass irgendwo auf der Welt ein privates Sammlungsgebäude oder ein staatliches Museum eröffnet wird“. Ebenfalls im Juli kommt die Nachricht, dass in Essen die „zentral gelegene alte Synagoge, bisher Gedenkstätte, nach zweijährigem Umbau glanzvoll zum Haus jüdischer Kultur umgewidmet wird“ (FAZ vom 17. Juli 2010, S. 34). Fritz Stern spricht sich in Berlin aus Anlass einer feierlichen Gedenkstunde zum Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 für eine „Gedenkstätte des europäischen Widerstandes“ aus (FAZ vom 21. Juli 2010, S. 2). Ebenfalls Ende Juli berichtet die FAZ vom 26. Juli 2010, S. 27 vom Umbau in Frankfurts Zentrum als „wegweisendem Zeichen“ für den architektonisch sinnvollen Umgang mit der Stadtgeschichte. Die Siedlung Weiße Stadt im Berliner Stadtteil Reinickendorf wird für über zwei Millionen Euro saniert (FAZ vom 27. Juli 2010, S. 29: „Berliner Kulturerbe“). Die Walhalla in Bayern machte Schlagzeilen, als der große Heinrich Heine auch im Hinblick auf die deutsch-jüdische Erinnerungskultur, aufgenommen wurde (SZ vom 29. Juli 2010, S. 29). Am selben Tag meldete die FAZ vom 29. Juli 2010, S. 32, dass ein Sturm auf die Nachkriegsarchitektur begonnen habe („Neues Gesicht für die Universität Tübingen“). Die Schlagzeile lautet: „Was man ererbt von seinen Vätern“. Ebenfalls im Juli 2010 werden die Kunstsammlungen Chemnitz als „Schauhaus deutscher Kunst“ wieder eröffnet (FAZ vom 30. Juli 2010, S. 31). Gleichfalls Ende Juli kritisiert die FAZ vom 30. Juli 2010, S. 29: „Ein Kulturschatz verdämmert in Berlin“ (in Bezug auf das Kunstgewerbemuseum). Ende Juli (FAZ vom 31. Juli 2010, S. 4) wird die deutsche Öffentlichkeit mit der Nachricht überrascht, dass das UNESCO-WelterbeKomitee den Plänen zustimmt, über den Rhein, unweit des Loreley-Felsens eine moderne Brücke zu bauen („visuell ak-

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2. Teil: Wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme

zeptabel“). Die UNESCO hat Anfang August das Oberharzer Wasserregal als 33. deutsches Objekt zum Weltkulturerbe erklärt (FAZ vom 2. August 2010, S. 1, 4 und 3. August 2010, S. 14), doch Dresden jüngst gestrichen. Die Monate Juli, August und September 2010 sind beherrscht von dem Streit um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“, bei dem der denkmalgeschützte Bau von P. Bonatz weichen soll (z. B. FAZ vom 31. Juli 2010, S. 33; s. auch FAZ vom 21. August 2010, S. 35 mit einer Abbildung der wiederentdeckten „magischen Skizze des Stuttgarter Hauptbahnhofs“ von P. Bonatz)36. Im gleichen Stuttgart wird beklagt, dass der jüdische Teil des Friedhofs, der Hoppenlaufriedhof verfällt, obwohl er heute als Stadtfriedhof Bestandteil der Schwäbischen Dichterstraße mit Poeten wie W. Hauff, G. Schwab, C. F. D. Schubart und dem Verleger J. F. Cotta ist (FAZ vom 12. August 2010, S. 30). Ein Problem der Erinnerungskultur bringt ein Zeitungsbeitrag in der FAZ vom 7. August 2010, S. 3 auf den Punkt: „Rückkehr nach Klein Jerusalem. Jahrzehntelang fanden sich Spuren der ehemaligen Bewohner nur noch auf Gedenktafeln. Nun gehört jüdisches Leben im Hamburger Grindelviertel wieder zum Stadtbild – koscheres und nichtkoscheres“. In Stavenhagen (Mecklenburg) gibt es ein Dichtermuseum für Fritz Reuter, das im Festjahr „Reuter 200“ in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und vieler Touristen trat (FAZ vom 2. August 2010, S. 2). In Rheinland-Pfalz soll eine Stiftung die Sayner-Hütte als bedeutendstes Zeugnis der Industriegeschichte in diesem Land aus dem Dornröschenschlaf wecken (FAZ vom 26. August 2010, S. 30: „Auch ein kaltes Denkmal braucht mehr als warme Worte“). Überregional bleibt auch der Einsturz des historischen Archivs der Stadt Köln (2009) im Gedächtnis (z. B. FAZ vom 3. August 2010, S. T. 1). 36 Dazu ein aufschlussreiches Gespräch über den Stuttgarter Bahnhof als Denkmal mit C. Ingenhoven, FAZ vom 23. August 2010, S. 25; in FAZ vom 28. September 2010, S. 29 wird der Stuttgarter Hauptbahnhof sogar als „Denkmal der Moderne“ bezeichnet.

II. Denkmalthemen im Spiegel von deutschen Tageszeitungen

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In Südtirol machte die Burg Tresl Schlagzeilen: „Das Leben ist eine Festung. Heimatliebe ist die beste Denkmalpflege. Zu Besuch bei der Hüterin der Trostburg in Südtirol“ (FAS vom 1. August 2010, S. V 1). In Istanbul hat kürzlich neben vielen Museen für moderne und zeitgenössische Kunst ein neues Kunsthaus für türkische Gegenwarts-Künstler eröffnet (FAZ vom 3. August 2010, S. 29). Unter der Schlagzeile „Archiv des Staatsterrors“ berichtet die Presse, dass in Guatemala Stadt 80 Millionen Dokumente zum Schicksal Hunderttausender Guatemalteken bzw. Folteropfer gesammelt worden sind (FAZ vom 4. August 2010, S. 3). In Argentinien bergen und identifizieren Gerichtsanthropologen die Opfer aus den namenlosen Gräbern des Staatsterrors der Jahre der Militärdiktatur37 – auch dies ist Erinnerungskultur. Auffallend ist der Aufsatztitel: „Kafkas Manuskripte sind Weltkulturerbe“ (FAZ vom 7. August 2010, S. 31). Bologna diskutiert über Buslinien an seinen Dante-Türmen (FAZ vom 17. August 2010, S. 9: „Wackelnde Wahrzeichen“). In Spanien wird darüber gestritten, ob das rituelle Töten eines 500 Kilo schweren Tieres, d. h. Stieres, ein „unveräußerliches Kulturerbe“ sei (FAZ vom 4. August 2010, S. 27). Ebenfalls in Spanien verursachte es großen Aufruhr, dass H. Cortés’ Denkmal an seinem spanischem Geburtsort Medell˘ın geschändet wurde (vgl. FAZ vom 27. August 2010, S. 7: „Montezumas Rache“). In Polen gab es viel Streit um eine angemessene Gedenkstätte für den mit seinem Flugzeug abgestürzten Staatspräsidenten L. Kaczynski. Schließlich ließ der neugewählte Präsident Komorowski eine Gedenktafel am Palast in Warschau anbringen (FAZ vom 13. August 2010, S. 4). In Albanien wurde im August 2010 ein Flughafen und eine Universität nach Mutter Teresa benannt, die am 21. August 2010 ihren 100. Geburtstag feiern würde (Rheinischer Merkur, Nr. 33 / 2010, S. 25). Schon ein erster Blick ergibt, wie intensiv viele einschlägige Zeitungsmeldungen verfassungsrechtliche Begriffe wie Denk37

S. 7.

J. Oehrlein, Gewissheit nach Jahrzehnten, FAZ vom 27. Juli 2010,

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2. Teil: Wirklichkeitswissenschaftliche Bestandsaufnahme

malschutz, Museen, Archive, Ausstellungen, Wahrzeichen, Kunstsammlungen, Erinnerungsorte, kulturelles Gedächtnis (auch der Kommunen), Namensgebungen, Heimatliebe, Weltkulturerbe etc. im Alltag aktualisieren. An die genannten „Denkmalstürze“ sei ebenso erinnert wie an die Beispiele dafür, dass die Bürger bestimmte Objekte unter dem Denkmalschutz wissen wollen oder ihn gerade ablehnen.

Dritter Teil

Insbesondere: National-verfassungsstaatlicher und universaler Kulturgüterschutz – ein Textstufenvergleich I. Problem Der spezielle Kulturgüterschutz1 hat als Thema von Politik und Wissenschaften besonders in den letzten Jahren „Karriere“ gemacht. Die geschichtlichen Etappen der „Intensivierung des Kulturgüterschutzes“ nach dem Zweiten Weltkrieg2 und die „Stufen des kriegsrechtlichen Kulturgüterrechts“3 werden ebenso behandelt wie sich jüngst neben der völkerrechtlichen Dimension die europarechtliche in den Vordergrund schiebt4. Viele Literaturgattungen (z. B. Lehrbücher5, Festschriftenbeiträge6 und Symposien7 sowie Habilitationsschriften8) und viele 1 Zum Folgenden schon mein hier und jetzt überarbeiteter Beitrag in F. Fechner u. a. (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996, S. 91 ff. 2 Vgl. W. Fiedler, Zur Entwicklung des Völkergewohnheitsrechtes im Bereich des internationalen Kulturgüterschutzes, FS K. Doehring, 1989, S. 199 ff. 3 Vgl. S. Turner, Die Zuordnung beweglicher Kulturgüter im Völkerrecht, in: W. Fiedler (Hrsg.), Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage, 1991, S. 19 (48 ff.). 4 Dazu F. Fechner, Die Vorhaben der EG zum Kulturgüterschutz, DÖV 1992, S. 609 ff.; K. Siehr, Handel mit Kulturgütern in der EWG, NJW 1993, S. 2206 ff.; J. Schwarze, Der Schutz nationalen Kulturgutes im europäischen Binnenmarkt, JZ 1994, S. 111 ff.; s. auch den Tagungsbericht „Kunstwerke im Binnenmarkt“ von F. Fechner, JZ 1994, S. 132 f. 5 R. Dolzer, Die Kultur im Völkerrecht, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 4. Aufl. 2007, S. 553 ff. 6 Vgl. etwa W. Rudolf, Über den internationalen Schutz von Kulturgütern, FS K. Doehring, 1989, S. 853 ff.; I. Seidl-Hohenveldern, Ausfuhr

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

juristische Teildisziplinen (z. B. das internationale Privatrecht9, das Privat-, Verwaltungs- sowie das Völkerrecht10) nehmen sich des Themas an. Doch fällt auf, dass eine Textstufenanalyse, die in Raum und Zeit vergleichend in Bezug auf neuere Verfassungen vorgeht, bislang nicht vorliegt11. Das überrascht, denn ein Problem, das den Nationen, ihren Politikern und Wissenschaftlern zunehmend „wichtig“ wird, schlägt sich früher oder später auch in Verfassungstexte nieder. Und die Methode der vergleichenden Textstufenanalyse, die bislang z. B. im Blick auf Präambeln, einzelne Grundrechte, die Staatsaufgaben, Ewigkeitsklauseln und Feiertagsgarantien unternomund Rückführung von Kunstwerken, FS D. Schindler, 1989, S. 137 ff.; T. Eitel, Beutekunst – Die letzten deutschen Kriegsgefangenen, FS Delbrück, 2005, S. 192 ff.; K. Siehr, Kulturgüter in Friedens- und Freundschaftsverträgen, ebd. S. 695 ff. 7 Vgl. etwa zum Heidelberger Symposion „Rechtsfragen des internationalen Kulturgüterschutzes“ (1990): P. Metzger, NJW 1991, S. 69 f.; E. Jayme, in: IPRax 1990, S. 347 f.; s. später den Tagungsband, hrsgg. von R. Dolzer, E. Jayme und R. Mußgnug, 1994. Zuletzt C. Katsos, Nachhaltiger Schutz des kulturellen Erbes, Zur ökologischen Dimension des Kulturgüterschutzes, 2010. 8 Grundlegend: K. Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005; dort auch eine präzise Definition des Begriffs „Kulturgut“ (S. 671, Ziff. 7). 9 Dazu G. Reichelt, Kulturgüterschutz und Internationales Privatrecht, IPRax 1986, S. 73 ff.; dies., Kulturschutz und Internationales Verfahrensrecht, IPRax 1989, S. 254 f. 10 Vgl. H. Hugger, Rückführung nationaler Kulturgüter und internationales Recht am Beispiel der Elgin Marbles, JUS 1992, S. 997 ff.); R. Dolzer u. a. (Hrsg.), Rechtsfragen des internationalen Kulturgüterschutzes, 1994 (Anm. 7); W. Fiedler, Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Russland über die Rückführung des während und nach dem 2. Weltkrieg verlagerten Kulturgüter, JöR 56 (2008), S. 217 ff.; ders., Kulturgüter als Kriegsbeute?, 1995; H. Hartung, Kunstraub im Krieg und Verfolgung, 2005; K. Odendahl, a. a. O., S. 8, 10, 82 f., 85, 117, 195, 307. 11 Einen eindrucksvollen Rechtsvergleich der verschiedenen „Regelungstypen“ auf einfachgesetzlicher Ebene leistet K. Siehr, Nationaler und Internationaler Kulturgüterschutz, FS W. Lorenz, 1991, S. 525 (527 ff.), mit Beispielen unterschiedlich intensiven „Kultur-Nationalismus“. Auf die Gesetze bezogen ist auch der Rechtsvergleich bei L. Engstler, Die territoriale Bindung von Kulturgütern im Rahmen des Völkerrechts, 1964, S. 26 ff., 59 ff.

I. Problem

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men wurde12, verspricht beim Thema des Kulturgüterschutzes schon prima facie reichen Ertrag. Denn im internationalen Bereich hat sich das Thema spezifisch rechtstextlich entwickelt: greifbar vor allem in der Haager Landkriegsordnung (1907) und sich ständig verdichtend und erweiternd in der Haager Konvention von 1954 bis hin zu den Unesco-Konventionen von 1970 und 197213 (in Deutschland erst 2007 ratifiziert). Diese Stufenfolge im internationalen Recht legt es nahe, „Parallelen“ oder doch „Wahlverwandtschaften“ im nationalen Verfassungsrecht zu suchen. Wann und wie wird der Kulturgüterschutz zum „Verfassungsthema“? Gibt es ein Zwiegespräch, einen „schubweisen Stoffwechsel“ zwischen der internationalen Themen- und Textkarriere des Kulturgüterschutzes und der national verfassungsstaatlichen – so, wie die Grundund Menschenrechte zunächst national „gedacht“ und fortgeschrieben wurden (1776, 1789, 1849), ehe sie in das Internationale / Universale hineinzuwachsen begannen? Wie verschränkt sich der Gedanke eines „kulturellen Internationalismus“ (J. H. Merryman14) mit dem „kulturellen Nationalismus“? Und: Welches sind die verfassungstheoretischen Konsequenzen, die aus dem thematischen Gleichklang zwischen universaler Weltebene und nationaler Verfassungsstaatsebene in Sachen Kultur folgen? Wenn das Haager Abkommen von 1954 auf der Konzeption beruht, dass jeder Staat Treuhänder gegenüber der ganzen Menschenheit für das in seinem Herrschaftsbereich befindliche Kulturerbe ist15, so gelangen Verfassungsstaat, Menschheit bzw. Kultur in eine „neue Nähe“, die theoretisch erst noch auszuleuchten ist. Doch sei vermutet, dass gerade 12 P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff., 176 ff., 597 ff. u. ö.; ders., Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987; fortgeschrieben in ders., Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 107 ff. 13 Nachweise in W. Fiedler, a. a. O., FS Doehring, 1989, S. 199 ff. s. auch K. Odendahl, a. a. O., S. 133 ff. 14 Dazu W. Rudolf, a. a. O., S. 853 (861). 15 Vgl. W. Rudolf, a. a. O., S. 861.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

neuere Verfassungen auf den wachsenden internationalen Kulturgüterschutz nationale Antworten geben.

II. Kulturgüterschutz im Spiegel neuerer (nationaler) Verfassungstexte auf dem Forum der Unesco-Texte (Elemente einer Bestandsaufnahme) Im Folgenden kann nur mit Auswahltexten und Beispielgruppen speziell für den Kulturgüterschutz gearbeitet werden – zu unüberschaubar ist das gesamte Material (einige Überschneidungen mit der obigen Bestandsaufnahme im Ersten Teil sind bewusst in Kauf genommen). Doch seien so viele Texte zusammengestellt, dass sich gewisse theoretische Folgerungen ziehen lassen. Vergleichsgröße bilden die Pioniertexte der Konventionen von 1954 bzw. 197216. In der Präambel der Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten (1954) heißt es: In der Überzeugung, dass jede Schädigung von Kulturgut, gleichgültig welchem Volk es gehört, eine Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit bedeutet, weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet; in der Erwägung, dass die Erhaltung des kulturellen Erbes für alle Völker der Welt von großer Bedeutung ist und dass es wesentlich ist, dieses Erbe unter internationalen Schutz zu stellen.

Das Unesco-Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt (1972) verfeinert seinen Präambeltext in den Worten: . . . im Hinblick darauf, dass das Kulturerbe und das Naturerbe zunehmend von Zerstörung bedroht sind, . . . in der Erwägung, dass der Ver16 BGBl Teil II 1967, S. 1233 bzw. 1977, S. 215. – Aus der Lit.: T. Fitschen, Erläuterungen zum Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt vom 23. Nov. 1972, in: W. Fiedler (Hrsg.), Internationaler Kulturgüterschutz und deutsche Frage, 1991, S. 183 ff.; zur Entwicklung der völkerrechtlichen Ebene im Kulturgüterschutz: K. Odendahl, a. a. O., S. 105 ff.; ebd. S. 210 f. zur „Entwicklung der europarechtlichen Ebene“; M. Haag, Kulturgüterschutz, JöR 54 (2006), S. 95 (117 ff.).

II. Kulturgüterschutz im Spiegel neuerer Verfassungstexte

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fall oder der Untergang jedes einzelnen Bestandteils des Kultur- oder Naturerbes eine beklagenswerte Schmälerung des Erbes aller Völker der Welt darstellt . . ., in der Erwägung, dass Teile des Kultur- oder Naturerbes von außergewöhnlicher Bedeutung sind und daher als Bestandteil des Welterbes der ganzen Menschheit erhalten werden müssen . . ., dass es angesichts der Größe und Schwere der drohenden neuen Gefahren Aufgabe der internationalen Gemeinschaft als Gesamtheit ist, sich am Schutz des Kultur- und Naturerbes von außergewöhnlichem universellen Wert zu beteiligen.

Für einen Eintrag in die Liste der Welterbestätten muss ein kultureller Ort, ein Denkmal, ein Ensemble oder eine Stätte mindestens eines der folgenden Kriterien erfüllen17. Ein Weltkulturgut soll 1. eine einzigartige künstlerische Leistung repräsentieren; oder 2. während einer Zeitspanne oder in einem Kulturgebiet der Erde beträchtlichen Einfluss auf die Entwicklung der Architektur, der Großplastik oder des Städtebaus und der Landschaftsgestaltung ausgeübt haben; oder 3. ein einzigartiges oder zumindest außergewöhnliches Zeugnis einer untergegangenen Kultur oder kulturellen Tradition darstellen; oder 4. ein hervorragendes Beispiel eines Typus von Gebäuden oder architektonischen Ensembles oder einer Landschaft darstellen, die einen oder mehrere bedeutsame Abschnitte in der Geschichte versinnbildlichen; oder 5. ein hervorragendes Beispiel einer überlieferten menschlichen Siedlungsform oder Bodennutzung darstellen, die für eine oder mehrere bestimmte Kulturen typisch ist; oder 6. in unmittelbarer oder erkennbarer Weise mit Ereignissen oder überlieferten Lebensformen, mit Ideen oder Glaubensbekenntnissen oder mit künstlerischen oder literarischen Werken von außergewöhnlicher universeller Bedeutung verknüpft sein (ein Kriterium, das nur unter außergewöhnlichen Umständen und in Verbindung mit anderen Kriterien gilt).

Auf dem Stand des Jahres 2003 hatte die Unesco 400 Orte, die das künstlerische und architektonische Erbe der Mensch17 Zit. nach Unesco-Weltkulturerbe, Die Kulturmonumente, hrsgg. in Deutschland vom Karl Müller Verlag, 2003, S. 10.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

heit repräsentieren, ausgewählt. Da zu vermuten ist, dass alle Weltkulturgüter auch in der jeweils nationalen Verfassungswirklichkeit unter dem Schutz des kulturellen Erbes der Nation stehen, seien in den folgenden Ausführungen sozusagen als Anreicherung einige Beispiele aufgezählt. Nach Art. 4 der Unesco-Konvention von 1972 anerkennt jeder Vertragsstaat, „dass es in erster Linie seine eigene Aufgabe ist, Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen, in den Artikeln 1 und 2 bezeichneten Kultur- und Naturerbes sowie seine Weitergabe an künftige Generationen sicher zu stellen“. Daher ist zu vermuten, dass alle nationalen Kulturgüter, die zum Weltkulturerbe gehören, auch praktisch von jedem Vertragsstaat geschützt sind. Einschlägig für die wissenschaftliche Behandlung von Denkmälern sind auch vier Chartas: die Charta von Venedig (1964, für Bauten), die Charta von Florenz (1981, für Gärten und Landschaften), die Charta von Washington (1987, für historischen Siedlungen und Stadtgebiete) sowie die Charta von Burra (1999, denkmalpflegerischer Umgang mit Objekten von kultureller Bedeutung)18. 1. Deutschsprachige Verfassungstexte In Deutschland haben die Weimarer Reichsverfassung früher und das GG später (Art. 150 Abs. 219 bzw. Art. 74 Nr. 5, jetzt Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 a20) einen Schutz des Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland thematisiert. Während das GG nur eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes (seit 2006 eine ausschließliche) konstituiert hat, sah die WRV den Kulturgüterschutz dringlicher als Staatsaufgabe an Zit. nach Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Denkmal. Aus der Lit. bis heute unerreicht: A. Hensel, Art. 150 WRV und seine Auswirkung im preußischen Recht, AöR 53 (1928), S. 321 ff. 20 Aus der Kommentarliteratur: C. Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 73 GG, Rdnr. 24. 18 19

II. Kulturgüterschutz im Spiegel neuerer Verfassungstexte

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(„Es ist Sache des Reiches . . .“)21. Beide Normen erweisen sich im Rückblick als eher mager. Nicht direkt dem Schutz nationaler Kulturgüter (der Bundessache ist), doch weitgehend der Achtung vor anderen Kulturen verschreiben sich neuere deutsche (Landes-)Verfassungstexte in ganz anderem Zusammenhang: bei den Erziehungszielen. Sie haben z. B. nach Art. 28 Verf. Brandenburg (1992): „Die Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für Natur und Umwelt zu fördern“. Ähnlich lautet Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen (1993). Wenn Art. 34 Abs. 2 Verf. Brandenburg eine Kulturschutzklausel normiert („Das kulturelle Leben in seiner Vielfalt und die Vermittlung des kulturellen Erbes werden öffentlich gefördert. Kunstwerke und Denkmale der Kultur stehen unter dem Schutz des Landes . . .“), so mag das noch national gedacht sein. Über die erwähnten Erziehungsziele kommt indes schon der übernationale Gedanke zum Ausdruck. Kurz: Der Kanon der Erziehungsziele bringt - richtig und konsequent gedacht – (biographisch) rechtzeitig, d. h. den Jugendlichen bildend, den internationalen Kulturgüterschutz auf den Weg. Eine Vorstufe dieses Denkens darf man in Art. 61 Verf. Mark Brandenburg (1947)22 entdecken: Als Mittlerin der Kultur hat die Schule die Aufgabe, die Jugend im Geiste friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Völker zu Demokratie und Humanität zu erziehen23.

21 Bemerkenswert bleibt Art. 109 Abs. 2 Verf. Danzig 1920/22: „Es ist Pflicht des Staates, die Abwanderung des Kunstbesitzes in das Ausland zu verhüten“. (Zit. nach O. Ruthenberg (Hrsg.), Verfassungsgesetze des Deutschen Reichs und der deutschen Länder, 1926.) – Art. 141 Abs. 2 Verf. Bayern (1946) differenziert den herkömmlichen Kunst- und Naturschutz in den Sätzen: „herabgewürdigte Denkmäler der Kunst und der Geschichte möglichst ihrer früheren Bestimmung wieder zuzuführen, die Abwanderung deutschen Kunstbesitzes ins Ausland zu verhüten“. 22 Zit. nach B. Dennewitz (Hrsg.), Die Verfassungen der Modernen Staaten, II. Bd. 1948. 23 Ähnlich Art. 88 Abs. 2 Verf. Sachsen (1947), zit. nach O. Ruthenberg, a. a. O., sowie Art. 88 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt (1947), zit. ebd.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

In Deutschland sind u. a. folgende Stätten Weltkulturerbe: Paläste und Parks in Potsdam / Berlin, Aachener Dom, die Würzburger Residenz, die Völklinger Hütte, die Klosteranlage Maulbronn. Alle Stätten sind auch innerstaatlich / national Kulturgüter und zugleich Erinnerungskultur. 2. Andere europäische Verfassungen Italien hat schon früh einen Verfassungstext geschaffen, der fast einer kulturellen Erbes-Klausel nahekommt. Der schon zitierte Art. 9 Abs. 2 Verf. Italien (1947) lautet24: Sie (sc. die Republik) schützt die Landschaft und das historische und künstlerische Erbe der Nation.

Italien besitzt aufgrund seiner einzigartigen Kulturgeschichte gewiss das größte Reservoir an Weltkulturgütern. Hier einige Beispiele aus seiner großen Vielfalt: Leonardo da Vincis Abendmahl in Mailand, die Stadt Vicenza und die Palladio-Villen des Veneto, Venedig und seine Lagune, die frühchristlichen Monumente und Mosaiken in Ravenna, der Domplatz in Pisa, die Altstadt von Florenz, Assisi und andere franziskanische Stätten, Vatikanstadt (fast berüchtigt ist das Vatikanische Geheimarchiv) und die Basilika St. Paul „vor den Mauern“ in Rom, das königliche Schloss in Caserta, auch Mantua und Sabbioneta (2008). – Ambivalent ist das Denkmal zu Ehren von Giordano Bruno in der Ketzerkutte in Rom. Eher konventionell heißt es in dem bereits genannten Art. 24 Abs. 6 Verf. Griechenland (1975): Die Denkmäler und historischen Stätten und Gegenstände stehen unter dem Schutz des Staates.

24 Aus der Lit.: G. Lombardi, Die behördliche Kontrolle des grenzüberschreitenden Handels mit Kunstwerken und sonstigen Kulturgütern, in: R. Dolzer / E. Jayme / R. Mußgnug (Hrsg.), Rechtsfragen des internationalen Kulturgüterschutzes, 1994, S. 191 ff.; B. Caravita, Art. 9, in: V. Crisafulli / L. Paladin, Commentario breve alla Costituzione, 1990, S. 9 ff.

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Man sieht, dass dieser Text noch nicht greifbar von dem Geist der internationalen Kulturgüterschutz-Abkommen inspiriert ist25. Weltkulturerbe in Griechenland sind u. a. der Berg Athos, die Höhlenklöster in Meteora. 3. Iberische und lateinamerikanische Verfassungen Ein eindrucksvoller „Textschub“ in Sachen konstitutioneller Kulturgüterschutz ist den beiden iberischen und zahlreichen neueren lateinamerikanischen Verfassungen zu verdanken. Das mag mehrere Gründe haben: Zum einen dürfte im Bewußtsein auch der nationalen Verfassunggeber die Idee des internationalen Kulturgüterschutzes weiter gereift sein: in der Erkenntnis, dass der nationale und der internationale Kulturgüterschutz letztlich zwei Seiten derselben Sache sind. Überdies ist zu vermuten, dass die internationalen Texte, einmal als Texte in der Welt, auch auf die nationale Textgestaltung ausstrahlen, wie dies etwa bei den Menschenrechten auf Schritt und Tritt erkennbar wird. Zum andern dürften die sich neu konstituierenden Verfassungsstaaten wie Portugal und Spanien nach Jahren der Diktatur für die Wichtigkeit der Gewinnung nationaler Identitätselemente besonders sensibel sein. Nationale Kulturgüter begründen ein Stück des nationalen Konsenses, gerade 25 Traditionell war auch Art. 24 sexies Abs. 2 alte Schweizer Bundesverfassung: „Der Bund hat in Erfüllung seiner Aufgaben das heimatliche Landschafts- und Ortsbild, geschichtliche Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler zu schonen und, wo das allgemeine Interesse überwiegt, ungeschmälert zu erhalten“. (Zur Schweiz: M. P. Wyss, Kultur als Dimension der Völkerrechtsordnung, 1992, S. 241 ff.). Gleiches gilt für Art. 64 Abs. 1 Verf. Türkei (1982), zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff.: „Der Staat gewährleistet den Schutz der Geschichts-, Kultur- und Naturschätze und Werte.“ Die neueren Schweizer Kantonsverfassungen (zit. nach JöR 34 (1985), S. 424 ff.), sind in Sachen Kulturgutschutz ergiebig: vgl. oben Erster Teil IV. Besonders gelungen ist Art. 107 Verf. Solothurn (1985): „Kanton und Gemeinden fördern die individuelle und schöpferische Entfaltung und erleichtern die Teilnahme am kulturellen Leben. Sie schützen und erhalten die Kulturgüter“.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

auch in offenen Gesellschaften. In manchen lateinamerikanischen Ländern, vor allem Entwicklungsländern, erscheint die Bewahrung des und die Arbeit am durch Kulturgüter vermittelten Grundkonsenses angesichts ökonomischer Nöte als besonders dringlich. Die schon erwähnte Verfassung Portugals (1976 / 2004) geht systematisch-formal und inhaltlich in Sachen Kulturgutschutz neue Wege. Bereits in den „grundsätzlichen Bestimmungen“ wird als „wesentliche Aufgabe des Staates“ genannt (Art. 9 lit. e): der Schutz und die Erhaltung des kulturellen Erbes des portugiesischen Volkes . . .

Auffällig ist der hohe Stellenwert des (nationalen) Kulturgutschutzes, aber auch die Erwähnung von Kultur und Natur im gleichen Kontext. Wie intensiv der portugiesische Verfassunggeber den Ausbau des Kulturverfassungsrechtes bzw. des Kulturgutschutzes betreibt, zeigt sich auch an anderen „Stellen“ der Verfassung. Im Abschnitt „Kulturelle Rechte und Pflichten“ figuriert der Kulturgüterschutz zusätzlich in drei Kontexten: in Art. 73 Abs. 3 (Zusammenarbeit mit den Vereinigungen, deren Zielsetzung die Wahrung des Kulturgutes ist), in Art. 78 Abs. 1 (Pflicht von jedermann, „das Kulturgut zu bewahren“) sowie in Art. 78 Abs. 2 lit. c (Pflicht des Staates, „das Kulturgut zu fördern und zu schützen, damit es zu einem erneuernden Element der gemeinschaftlichen kulturellen Identität werde“). Diese auch sprachlich schöne Identitätsklausel liefert ein prägnantes Stichwort zum Kulturgutverfassungsrecht und sie eröffnet eine neue Textstufe. Ebenso schöpferisch ist die Vielfalt der Textgruppen, in denen der Kulturgüterschutz erscheint: als Grundpflicht, Verfassungsauftrag, als Staatsaufgabe, als Aspekt des kulturellen Trägerpluralismus. Nimmt man – teils zurückschauend, teils vorgreifend – das ganze Spektrum möglicher und wirklicher verfassungsstaatlicher Kulturgut-Regelungen hinzu (Präambelelement, Erziehungsziel, Grundrecht und Grundpflicht, kulturelle Erbes-Klauseln, Verfassungsauftrag, Staatsaufgaben bzw. bloße Kompetenz),

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so zeigt sich schon jetzt, wie weit sich der innerstaatliche Kulturgüterschutz formal und materiell ausdifferenziert hat und wie sehr er zum integrierenden Bestandteil des Typus „Verfassungsstaat“ heranzureifen beginnt. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zu der Erkenntnis, dass nationaler und universaler Kulturgüterschutz eine „weltbürgerliche Aufgabe“ darstellen, die die Menschheit als Kulturgutgemeinschaft und den einzelnen Verfassungsstaat als „Treuhänder“ etablieren und alle zusammenführen. Der „status mundialis hominis“ und der „allgemeine“ Kulturgüterschutz konvergieren26. In Portugal sind u. a. folgende Stätten Weltkulturerbe: das Christuskloster in Tomár und die Kulturlandschaft von Sintra. Der Verfassung Spanien (1978 / 1992) gelingt ein eigenes Textbild in dem gehaltvollen Artikel 46, der in diesem Dritten Teil bewusst wiederholt sei: Die öffentliche Gewalt gewährleistet die Erhaltung und fördert die Bereicherung des historischen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Völker Spaniens und der darin enthaltenen Güter, ungeachtet ihres Rechtsstatus und ihrer Trägerschaft. Das Strafgesetz ahndet jeden Verstoß gegen dieses Kulturerbe.

Und sie denkt dieses hohe Verfassungsgut mit Schärfe in die kompetenzrechtliche Ebene um, wenn Art. 149 Abs. 1 Ziff. 28 in die ausschließliche Zuständigkeit des Staates (gegenüber den Autonomen Gemeinschaften) u. a. verweist: Schutz des kulturellen, künstlerischen und baulichen Erbes Spaniens gegen Ausfuhr und Plünderung; staatliche Museen, Bibliotheken und Archive, unbeschadet ihrer Verwaltung durch die Autonomen Gemeinschaften.

In Spanien sind Weltkulturerbe: z. B. Werke von Gaudí, in Madrid die Universität sowie Alcalá de Henares, in Granada die Alhambra, der Generalife-Palast und der Albaicín. Sie bil26 Zum „status mundialis hominis“ mein Beitrag: Das Konzept der Grundrechte, Rechtstheorie 24 (1993), S. 397 ff., auch in: Europäische Rechtskultur, 1997, S. 279 ff.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

den auch ein Stück des kulturellen Erbes von Europa im Ganzen (Präambel EUV-Lissabon und Art. 167 AEUV). Die neuen ibero- bzw. lateinamerikanischen Verfassungen seit Ende der 70er Jahre bauen den (nationalen) Kulturgutschutz eindrucksvoll aus27. Dabei mag vieles zusammenwirken: das Vorbild der „Mutterländer“ Portugal und Spanien, die wachsende Ausstrahlung der internationalen Abkommen von 1954 und 1972, die Sensibilisierung des allgemeinen Bewußtseins für das „gemeinsame Erbe der Menschheit“, aber auch, zumal in etwaigen Entwicklungsländern, das Bedürfnis, in der eigenen Kultur Halt zu finden: gegenüber einebnenden Mächten der Wirtschaft oder weltzivilisatorischer Gleichmacherei. Im Folgenden sei eine kleine Auswahl von besonders aufschlussreichen Verfassungen in Gestalt der Textstufenmethode präsentiert. Dabei wird die historische, entwicklungsgeschichtliche Darstellung bevorzugt, da die Verfassunggeber heute bei der Redaktion ihrer Texte in engen Produktionsund Rezeptionsprozessen untereinander stehen. Die bereits erwähnte Verf. Peru (1979)28 stimmt sich schon in ihrer Präambel auf den Kulturgutschutz ein29: . . . Getragen von dem Vorsatz, die historische Persönlichkeit des Vaterlandes, die sich aus den vornehmsten Werten vielerlei Ursprungs zusammensetzt und aus ihnen hervorgegangen ist, aufrechtzuerhalten und zu festigen, ihr kulturelles Erbe zu verteidigen und die Beherrschung und Bewahrung der natürlichen Ressourcen zu sichern. . . .

27 Weniger ergiebig sind: Art. 89 Verf. Costa Rica (1949), zit. nach JöR 35 (1986), S. 481 ff., als „kulturelle Ziele der Republik“ u. a.: „Schutz der Naturschönheiten, Bewahrung und Entwicklung (!) des geschichtlichen und künstlerischen Erbes der Nation . . .“. – Art. 19 Ziff. 10 Verf. Chile (1980), zit. nach JöR 30 (1981), S. 661 ff.: Aufgabe des Staates, „wissenschaftliche und technische Forschung und künstlerisches Schaffen zu fördern sowie das nationale kulturelle Erbe zu bewahren“. 28 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 641 ff. 29 Zu den Funktionen von Präambeln mein Beitrag: Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 21 ff., fortgeschrieben in Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff.

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Art. 36 nimmt diesen Grundsatz ebenso auf („Die zum Kulturbesitz der Nation erklärten archäologischen Fundorte und Überreste, Bauten, Monumente, Kunstgegenstände und Zeugnisse von historischem Wert, stehen unter dem Schutz des Staates“) wie die Ressourcenklauseln der Art. 118 bis 123 („Die natürlichen Ressourcen, die erneuerbaren und die nicht erneuerbaren sind Erbe der Nation“30). In Peru ist z. B. der historische Stadtkern von Arequipa Weltkulturerbe. Es ist im Kontext des nationalen Kulturgüterschutzes Perus zu „lesen“. Ähnlich wie Peru geht die Verfassung Guatemalas (1985) vor31. Die Präambel spricht von der Anerkennung „unserer Traditionen und unserer kulturellen Erbschaft“, und nicht weniger als fünf Artikel nehmen sich – im Anschluß an die Garantie eines Rechts zur Teilnahme an der Kultur (Art. 57) sowie des „Rechts der Person und der Gemeinschaft an einer Identität ihrer Kultur“ (Art. 58) – „des Schutzes der Kultur bzw. des kulturellen Erbes“ an (Artt. 59 bis 62 und 65). Dabei finden sich Aussagen zum „nationalen kulturellen Erbe“, das Verbot des Exports von Kulturgütern (unter Gesetzesvorbehalt) und die Einführung einer besonderen Kulturschutzbehörde. Ein Durchbruch ist Guatemala in Art. 61 insofern geglückt, als hier der Schutz des Staates ausdrücklich auf bestimmte Stätten wie einen archäologischen Park und die Stadt 30 Die neue Verf. von Peru (1993), hier zit. nach der Volksausgabe in spanischer Sprache, begnügt sich mit dem Schutz des „patrimonio cultural de la Nación“ (Art. 21), verweist aber auch auf gesetzliche Maßnahmen zur Rückführung von illegal ins Ausland verbrachten Gütern. Zu diesen Fragen der Restitution: G. Reichelt, Die Vereinheitlichung des privatrechtlichen Kulturgüterschutzes . . ., in: R. Dolzer u. a. (Hrsg.), Rechtsfragen, a. a. O., S. 67 ff.; I. Seidl-Hohenveldern, a. a. O., (Anm. 6), S. 137 ff. Zur „Rückführung von Kulturgut im internationalen Recht“ gleichnamig: B. Walter, 1988; K. Odendahl, a. a. O., S. 162 ff. Aus der Lit. auch: W. Fiedler, Zwischen Kriegsbeute und internationaler Verantwortung – Kulturgüter im internationalen Recht der Gegenwart, in: G. Reichelt (Hrsg.), Neues Recht zum Schutz von Kulturgut, 1997, S. 147 ff.; umfassend jetzt M. Anton, Illegaler Kulturgüterverkehr, 2010. 31 Zit. nach JöR 36 (1987), S. 555 ff.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

Altguatemala erstreckt wird, „die zu Bestandteilen des Welterbes erklärt worden sind, als auch die Fundstätten, die in gleicher Weise anerkannt werden“. Dieser verfassungsrechtliche, offengehaltene, „dynamische“ nationale Verweis auf den internationalen Kulturgüterschutz und seine Konkretisierung in Gestalt bestimmter Gegenstände des „Welterbes“ kann gar nicht genug gerühmt werden. Denn damit verzahnen sich der verfassungsrechtliche interne Kulturgüterschutz mit dem internationalen sichtbar und greifbar. Das sollte Schule machen32. Die Unesco hat in Guatemala z. B. Teile von Antigua anerkannt. Von den späteren Verfassungen dieses Kulturraumes seien noch einige summarisch erwähnt bzw. wiederholt (oben Erster Teil VII, 1): so die sprachlich schöne Wendung vom jeweils nationalen „tesoro cultural“ (Art. 63 Verf. Salvador von 198333), vom „patrimonio cultural de la Nación“ (Art. 172 Abs. 1 Verf. Honduras von 1982), zu dessen Schutz nicht nur der Staat, sondern auch alle Bürger von Honduras verpflichtet sind (Abs. 4 ebd.). Auch die Verf. von Paraguay (1992) spricht von „patrimonio cultural de la Nación“ (Art. 81 Abs. 1); sie bereichert das Textmaterial um die Verpflichtung des Staates, ins Ausland gelangte Kulturgüter zurückzugewinnen (Abs. 2 ebd.) sowie um den Begriff des „kollektiven Gedächtnisses der Nation“. Die neue Verf. von Kolumbien (1991) verwendet ebenfalls den Begriff „patrimonio cultural de la Nación“ (Art. 72), sie erklärt überdies bestimmte Kulturgegenstände, die „die nationale Identität bilden“, für unveräußerlich und unverjährbar, und macht es dem Gesetz zur Aufgabe, sie zurückzugewinnen, wenn sie sich in privater Hand befinden34 (Identität aus Kultur!). 32 Die Verf. von Nicaragua (1986), zit. nach JöR 37 (1988), S. 720 ff., formuliert ihre nationale Kulturschutzklausel wie folgt (Art. 128): „Der Staat schützt das archäologische, historische, sprachliche, kulturelle und künstlerische Erbe der Nation“. 33 Die folgenden Texte sind zit. nach L. López Guerra /L. Aguiar (Hrsg.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1992.

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In Lateinamerika ist für Brasilien u. a. die Altstadt von Salvador de Bahia sowie (schon) Brasilia zum Weltkulturerbe bestimmt worden; das sei hier wiederholt, um die Entwicklungsoffenheit des Prädikats „Weltkulturerbe“ zu dokumentieren. Als Merkposten sei an Beispielen aus Asien nur genannt: Die Altstadt von Damaskus in Syrien, in Israel Jerusalem und seine Stadtmauer, im Jemen die Altstadt von Sana’a, in Usbekistan Samarkand, der „Schnittpunkt der Weltkulturen“, das Tadsch Mahal in Indien, der Sommerpalast und die Kaiserlichen Gärten in Peking (China) sowie in Japan die Kaiserstadt Kioto. Asien ist also im Gedächtnis der Welt nicht vergessen. Ein Blick auf die Weltkulturerbeliste für Afrika lohnt ebenfalls: in Marokko ist die Medina von Fez ausgezeichnet worden, in Mauretanien vier Karawanenstädte, in Mali die Altstadt von Djenné und das Grab von Askia, in Äthopien die Region Gondar, in Tansania die „Stone Town“ auf Sansibar. 4. Neue osteuropäische Verfassungen bzw. Verfassungsentwürfe Die Verfassungsbewegung in den postkommunistischen Ländern Osteuropas kennzeichnet sich z. T. durch produktive Rezeption westlicher Verfassungsideen35, auch wenn sie im Laufe der Zeit Selbststand gewinnen. Die Methode des Textstufen34 Art. 216 Verf. Brasilien von 1988, zit. nach JöR 38 (1989), S. 462 ff., definiert – im Kontext von Art. 215 (Garantie der kulturellen Rechte, der Zugangsrechte zu den „Quellen der nationalen Kultur“, Kulturförderung) – den brasilianischen Kulturbesitz aus „den materiellen und immateriellen Kulturgütern, die im einzelnen oder in ihrem Zusammenhang Eigenart, Leistung und Andenken der verschiedenen Gruppen, die die brasilianische Gesellschaft bilden, verkörpern“. Eine lange Liste zählt Beispiele auf und die Schutzaufgaben werden ausdrücklich spezifiziert (Inventarisierung, Registrierung, Überwachungen, Denkmalschutz, Enteignungsmaßnahmen etc.). 35 Dazu mein Beitrag: Verfassungsentwicklungen in Osteuropa – aus der Sicht der Rechtsphilosophie und der Verfassungslehre, AöR 117 (1992), S. 169 ff.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

vergleichs ist auch hier ertragreich, so groß die Differenz zwischen (neuem) Text und (alter) Wirklichkeit noch sein mag. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert nur, ob und wie sich die osteuropäischen Verfassunggeber dem Problem des nationalen Kulturgutschutzes stellen. Vermutlich werden etwaige kulturelle Erbes-Klauseln auch deshalb gewählt, weil die Reformstaaten, mühsam genug, ihre nationale Identität suchen müssen, um das Vakuum nach dem Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus zu füllen und Kontinuität bzgl. ihrer „Vorgeschichte“ herzustellen36. Hier einige Beispiele, z. T. in bewusster Wiederholung (oben Erster Teil VII 1): Die Verfassung Sloweniens (1991)37 sagt bereits in ihren allgemeinen Bestimmungen vorweg im Kontext von Staatsaufgaben (Art. 5): „Er (sc. der Staat) sorgt für die Erhaltung der Naturgüter und des kulturellen Erbes“. Im Grundrechtsteil wird diese Aussage spezifiziert unter dem Stichwort „Wahrung des Natur- und Kulturerbes“ und zur Grundpflicht umgeformt (Art. 73): Jedermann hat die Pflicht, in Einklang mit dem Gesetz Naturdenkmäler und -seltenheiten sowie Kulturdenkmäler zu schützen. Der Staat und die lokalen Gemeinschaften sorgen für die Erhaltung des Natur- und Kulturerbes.

Die Verfassung der Tschechischen Republik (1992) platziert schon in ihrer Präambel den Natur- und Kulturschutz im Feiertagston eines Bekenntnisses: . . . entschlossen, den geerbten natürlichen und kulturellen, materiellen und geistigen Reichtum gemeinsam zu hüten und zu entfalten.

Art. 7 normiert spezieller: Der Staat achtet auf schonende Nutzung der natürlichen Ressourcen und auf den Schutz des Naturreichtums.

36 Die (alte) Verf. der Republik Serbien (1990) kannte den Kulturgutund Naturschutz in Form eines Enteignungsartikels (Art. 60 Abs. 4): „Eigentum an Dingen von besonderer kultureller, wissenschaftlicher oder historischer Bedeutung oder von Wichtigkeit für den Naturschutz kann beschränkt werden . . .“. 37 Zit. nach JöR 42 (1994), S. 89 ff.

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Die Verfassung Estland (1992) geht auf das Thema Kulturund Naturschutz an drei Stellen ein: In der Präambel wird das Bild des eigenen Staates beschworen, „which shall guarantee the preservation of the Estonian nation and its culture throughout the ages“. Art. 5 bestimmt: „The natural wealth and resources of Estonia are national assets, which shall be used sparingly“. Art. 53 normiert eine Grundpflicht („Everyone shall be obligated to preserve human and natural environment . . .“)38. Die Verfassung der Russischen Föderation (1993)39 ist insofern auf dem neuesten Entwicklungsstand, als sie die Sache Kultur von der Grundrechtsseite her regelt und zwar als Freiheitsrecht, aber auch als kulturelles Teilhaberecht von jedermann (Art. 44 Abs. 1 und 2) und überdies die Grundpflicht ausspricht, „sich um die Erhaltung des historischen und kulturellen Nachlasses zu sorgen und die Denkmäler der Geschichte, Kultur und Natur zu bewahren“ (Abs. 3 ebd.). Jeder wird überdies verpflichtet, „die Natur und Umwelt zu bewahren“ (Art. 58). Der Staat kommt von der Kompetenzseite ins Spiel, insofern nach Art. 72 Ziff. 1 lit. e Umweltschutz, Schutz der Geschichtsund Kulturdenkmäler Sache der Föderation sind und Art. 74 Ziff. 2 Einschränkungen des Transfers von Waren und Dienstleistungen vorsieht, wenn dies für die Umwelt und die „kulturellen Werte“ notwendig ist. Das schafft eine neue Textform für das Verbot des „kulturellen Ausverkaufs“. Von den zahlreichen Verfassungsentwürfen Osteuropas verdient der Entwurf der Ukraine vom Juni 1992 Beachtung40. Im 38 Die Verf. Litauens (1992) kennt den Kulturschutz im Rahmen der Kulturfreiheit (Art. 42 Abs. 2: „protection of lithuania history, art, and other cultural monuments and valuables“) sowie den Natur- und Ressourcenschutz (Art. 54: „protection of the natural environment, its faune and flora, seperate objects of nature . . . moderate utilization of natural resources“). – Weltkulturerbe ist das arch. Kernave (2004). 39 Zit. nach J. Ch. Traut (Hrsg.), Verfassungsentwürfe der Russischen Föderation, 1994, S. 38 ff. 40 In Polen sagt der Entwurf des Seym (April 1991) in Art. 44 Abs. 3 immerhin: „The state is obliged to safeguard and protect the cultural assets.“ Auch dies wieder im Kontext des Prinzips der Freiheit zu schöpferischer Aktivität und Forschung und des freien Zugangs aller zum kulturellen

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

Abschnitt über Grundpflichten findet sich die Pflicht von jedermann, „to prevent damage to nature, to natural resources, and to the historical and cultural heritage, and historical and cultural monuments of Ukraine“. Und damit greift der Entwurf eine auch sonst zu beobachtende Textstufe in Sachen Kultur- und Naturschutz auf. Einen neuen Weg wagt die Ukraine aber in Art. 89, insofern auf das „Erbe der Weltkultur“ Bezug genommen wird, womit die Ukraine mit dem „kulturellen Universalismus“ ernst macht und pionierhaft arbeitet: The state shall create conditions for the free and thorough developement of education, science, and culture, shall develop the spiritual heritage of the nation of Ukraine, as well as the heritage of world culture.

Eigene Wege geht auch Art. 94, insofern er nicht nur das kulturelle Erbe der Ukraine vor der Abwanderung ins Ausland schützen möchte, sondern auch den Staat zu Maßnahmen verpflichtet, die die Rückgewinnung historischer und kultureller Güter von jenseits der Grenzen zum Ziel haben. Diese Erweiterung der staatlichen Kulturschutzpflicht mag mit der besonderen Situation nach der Auflösung der UdSSR mit ihren früheren diktatorischen Kulturgutverschiebungen zu erklären sein; sie könnte sich aber auch als Vorbote eines allgemeinen Rechtsgedankens im nationalen und internationalen Kulturgutrecht erweisen. Die Unesco hat auch in Osteuropa einige Stätten als Weltkulturerbe ausgezeichnet: so etwa die Altstadt von Tallinn in Estland, die Altstadt von Riga in Lettland, in Polen die Altstadt von Krakau; in der Russischen Föderation: in Moskau der Kreml und der Rote Platz, die Altstadt von St. Petersburg, in Kroatien Dubrovnik, in Tschechien die Altstadt von Prag und die Kulturlandschaft von Lednice-Valtice. Alle Stätten dürften zugleich Ausdruck der zu wahrenden „europäischen Kultur“ und des „gemeinsamen kulturellen Erbes“ im Sinne des Europäischen Kulturabkommens von 1954 (Präambel, Artt. 1,5) sein. Leben einschließlich den „national monuments of culture“. Der staatliche Kulturgutschutz figuriert auch sonst oft als Teil der Freiheit der Kultur, was der Sache nach richtig gedacht ist.

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5. Eine Zwischenbilanz Der Textstufenvergleich hat gezeigt, dass der (nationale) Kulturgutschutz ein wesentliches Element des Typus Verfassungsstaat zu werden beginnt. Freilich, die verfassungsrechtlichen Ausgestaltungen weisen eine große Vielfalt auf: vom Präambelelement über Grundrechte bzw. Grundpflichten, Verfassungsaufträge, Schutzpflichten des Staates, Staatsaufgaben bis zur bloßen Kompetenz, wobei die nicht seltene Einbettung des Kulturgutschutzes in eine allgemeine Kulturklausel im Kontext von kulturellen Freiheiten und individuellen Zugangsrechten auffällt. Auch sind die subkonstitutionellen Regelungen von Nation zu Nation sehr verschieden41. Überdies ist der Begriff „Kulturgut“ in Praxis und Wissenschaft höchst umstritten42. Dennoch wird der hier unternommene Textstufenvergleich auch praktisch relevant: z. B. im Europa der EG wegen der Auslegung von Art. 36 EG-Vertrag („nationales Kulturgut von künstlerischem, geschichtlichem oder ärchäologischem Wert“43 – jetzt Art. 36 AEUV). Der EuGH wird in auch sonst bewährtem „wertendem Rechtsvergleich“ der Verfassungsregelungen der Mitgliedsstaaten letztlich zu einem „autonomen“ europaeinheitlichen Begriff von nationalem Kul41 Einige Hinweise z. B. für Italien, Portugal, Spanien und Peru in: R. Dolzer u. a. (Hrsg.), Rechtsfragen, a. a. O., S. 191 ff. (Lombardi), S. 35 (38, 41, Jayme), S. 232 (Virgós Soriano), S. 123 f. (v. Bennigsen); s. auch die unterschiedlichen Regelungen der Länder in Bezug auf die Zulässigkeit des Exports von Kulturgut in privater Hand, dazu R. Mußgnug, in: Rechtsfragen, a. a. O., S. 217 f. (Diskussion) und seine inspirierende Frage: Museums- und Archivgut als „rex extra commercium“?, in: Rechtsfragen, ebd., S. 199 ff. – Zum deutschen KultSchG: B. Pieroth / B. Kampmann, Außenhandelsbeschränkungen für Kunstgegenstände, NJW 1990, S. 1385 (1386 ff.); F. Fechner, a. a. O., DÖV 1992, S. 609 f. m. w. N.; zu Vollzugsrichtlinien der KMK: E. Jayme, a. a. O., S. 35 (39 f.). 42 Dazu ergiebig das Heidelberger Symposion und besonders E. Jayme, a. a. O., S. 35 ff., 125 f.; Fiedler, ebd., S. 142. S. auch die Definition des UNIDROIT-Entwurfs von 1990, dazu G. Reichelt, in: Dolzer u. a. (Hrsg.), Rechtsfragen, a. a. O., S. 67 (72 f.). 43 Aus der Lit.: J. Schwarze, a. a. O., (Anm. 4), JZ 1994, S. 111 ff.; F. Fechner, a. a. O., DÖV 1992, S. 609 ff., sowie die Diskussion auf dem Heidelberger Symposion, insbes. Sack, S. 131 f., Fiedler, S. 132.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

turgut kommen müssen, der den Einzelstaaten vielleicht eine gewisse „marge d’appreciation“ lässt, aber doch spezifisch europarechtlicher Natur ist44. Das hier zu suchende mittlere Sowohl-Als-auch spiegelt sich seinerzeit in den Kultur-Artikeln von „Maastricht“: einerseits Art. F Abs. 1 („Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten“) sowie Art. 128 Abs. 1 („Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt“), andererseits die „gleichzeitige Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes“ (ebd.) bzw. die subsidiär (!) zu denkende „Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung“ (Abs. 2 ebd.). Diese spannungsvolle europarechtliche Textstufe des Kulturgutschutzes (jetzt Art. 4 EUV, Art. 167 AEUV) ist erst noch auszudeuten. Denkt man zu den hier aufgeschlüsselten verfassungsrechtlichen Kulturschutzklauseln zahlreicher Verfassungsstaaten die vielen anderen Mosaiksteine des heute weit ausdifferenzierten Kulturverfassungsrechts hinzu45, so zeigt sich, wie sehr die Kultur ein „viertes“ Staatselement bildet46. Die Verfassungs44 In Richtung auf einen die Kulturkompetenz der Mitgliedsstaaten betonenden Kompromiss deuten die Ausführungen von J. Schwarze, a. a. O., S. 113 f.: „Die Einschätzungsbefugnis der Mitgliedstaaten endet dort, wo sich die Geltendmachung kultureller Eigeninteressen als mißbräuchlich oder als übermäßig darstellt“. Aus der Lit.: G. Ress, Kultur und europäischer Binnenmarkt, 1991; ders., Kulturgüterschutz und EMRK, FS Mußgnug, 2005, S. 499 ff.; I. Seidl-Hohenveldern, Kulturgüterschutz der EU versus Warenverkehrsfreiheit, in: F. Fechner u. a. (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996, S. 113 ff. 45 Dazu meine Beiträge: Europa in kulturverfassungsrechtlicher Perspektive, JöR 32 (1983), S. 9 ff., Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (318 ff.). 46 Vgl. G. Dürig, Der deutsche Staat im Jahre 1945 und seither, VVDStRL 13 (1955, S 27 (49 f.; s. auch ders., ebd. S. 45: „Es gibt . . . einen gemeinsamen deutschen Kultur-„besitz“ im dinglichen Sinne. Hierunter verstehen wir jeglichen in der Materie verkörperlichten Niederschlag des Geistes; also reichend vom aufgeschriebenen Volkslied bis zur Symphonie, von der Hausgiebelform bis zum Münster, vom Volksmärchen bis zum Drama usw.“. Die Verknüpfung mit dem Staatselement „Territorium“ ist m. E. eigens zu begründen: Herstellung der Kulturgüter im Land („Staatsgebiet“), aber auch Nationalität des Künstlers („Staatsvolk“), Bestimmungsort, Fundort, „Sujet“ („Staatsgebiet“) werden möglicherweise Krite-

II. Kulturgüterschutz im Spiegel neuerer Verfassungstexte

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staaten definieren sich auch aus „ihrer“ Kultur. Jedenfalls ist die Problematik des nationalen Kulturgüterschutzes in die Koordinaten einer kulturwissenschaftlich gearbeiteten Verfassungslehre und die des internationalen Kulturgüterschutzes auf die Ebene einer weltweiten pluralen Kultur, durch die Menschenrechte geeinten Weltgemeinschaft als „Menschheit“ zu heben („Menschheitslehre“)47. Dabei verschränken und stützen sich beide Ebenen in einer noch zu klärenden Weise: Menschheit und Verfassungsstaat48. Vielleicht sollte man die Zuordnungsfrage49 der nationalen Kulturgüter erklärtermaßen und systematisch auf die Lehre von den Staatselementen beziehen: die Rolle des Territoriums („Lageort“, „Ursprungsort“) nimmt Bezug auf das „Staatsgebiet“, der Streit um den personalen Anknüpfungspunkt der Staatsangehörigkeit des Kulturschaffenden meint das „Staatselement Volk“, die Frage der anzuwendenden Rechtsordnung und der kulturrechtlichen Schutzpflichten ist (auch) eine Frage der sog. Staatsgewalt, und das „neue“ vierte Staatselement „Kultur“ ist ein alles überformender Aspekt50. rien allgemeiner Rezeptionsvorgänge „im Laufe der Zeit“ (so wächst z. B. ein Gut in die nationale Kulturqualität hinein. Viele Aspekte sind diskutiert auf dem Heidelberger Symposion von 1990 (z. B. S. 35 ff., 125 f., 142 f.). 47 Treffend M. Gorbatschow in seiner „Bayreuther Erklärung“ (1993, zit. nach Nordbayerischer Kurier vom 26. Juli 1993, S. 10): „Die Kultur ist weiser denn die Politik, weil sie von Natur aus jeglichem Separatismus, Isolationismus und Nationalismus entgegensteht. Für die Romane von Dostojewski und Thomas Mann, die Musik von Bach und Mussorgski gibt es keine Barrieren in bezug auf die Zeit und die politische Ordnung, in bezug auf Zollgrenzen und Marktbegierden. Sie gehören allen und jedem, der ganzen Menschheit.“ 48 Erste Überlegungen zum Natur- bzw. Kulturschutz als „Menschheitsschutz“ in meiner Besprechung: AöR 116 (1991), S. 271 (277). 49 Die Unesco-Konvention von 1970 sieht die Nationalität des Kulturgutes vor allem durch die Nationalität seiner Schöpfer vermittelt, dazu E. Jayme, in: Dolzer u. a. (Hrsg., Rechtsfragen, a. a. O., S. 35 (38). Ihr eigenes Textstufenelement verdient Beachtung: „cultural property created by the individual or collective genius of nationals of the State concerned, and cultural property of importance of the State concerned created within the territory of that State; s. auch R. Mußgnug, Die Staatsangehörigkeit des Kulturguts, FS Ress, 2005, S. 1531 ff.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

Der Hauptertrag des Textstufenvergleichs dürfte aber vorläufig darin liegen, dass er Anstöße für die „Philosophie“ des Kulturgutschutzes gibt.

III. Verfassungstheoretische Überlegungen 1. Eine kleine Verfassungslehre des Kulturgüterschutzes Die theoretische Auswertung des hier aufgeschlüsselten Textmaterials führt zu einer „kleinen Verfassungslehre“ des Kulturgüterschutzes. Das vielfach behandelte Kulturverfassungsrecht51 sieht sich um ein wichtiges Element bereichert. Der nationale Kulturgüterschutz erweist sich im verfassungsstaatsbezogenen Textstufenvergleich als ein ebenso lebendiger – und wachsender interner – Baustein der Verfassung als Kultur, wie er dank des internationalen Kulturgüterschutzes über sich selbst hinausweist: auf die Menschheit, ihr universales Erbe, ihre zugleich transnationale und multinationale Kultur. Erst dank des nationalen Kulturgüterschutzes gelingt der inter50 Wohl angedeutet in der These von E. Jayme, „Entartete Kunst“ und Internationales Privatrecht, 1994, S. 24: Im Kunstwerk seien „geistige Energien verkörpert . . .“, die als „Ausdruck der Identität des Künstlers und der Nation, die es als das ihre rezipiert, anzusehen sind.“ Den Aspekt „kulturelle Selbstbestimmung“ des Staates betont S. von Schorlemer, Internationaler Kulturgüterschutz, 1992, S. 42 ff. – Grundsätzlich zur Dogmatik des Kulturgüterschutzes: K. Odendahl, a. a. O., 2005, S. 353 ff. 51 P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980; ders., Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 ff.; ders., Kulturhoheit im Bundesstaat, AöR 124 (1999), S. 549 ff.; T. Oppermann, Ergänzung des GG um eine Kultur(Staats)klausel?, FS Bachof, 1984, S. 3 ff.; U. Steiner / D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984, S. 7 ff.; P. Pernthaler (Hrsg.), Föderalistische Kulturpolitik, 1988; U. Steiner, Kulturpflege, in: HStR III, 1988, § 86; E G. Mahrenholz, Die Kultur des Bundes, DVBl. 2002, S. 853 ff. – Aus der Lexikonliteratur: L. Michael, Artikel Kultur (juristisch), in: Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 1353 – 1357. – Allgemein: Kultur in Deutschland, Schlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages, 2008.

III. Verfassungstheoretische Überlegungen

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nationale. Beides greift ineinander und bedingt sich. Je differenzierter und effektiver der nationale Kulturgüterschutz ist, desto mehr Chancen bestehen, dass der internationale nicht nur „platonisch“ bleibt. Umgekehrt sieht sich jeder Verfassungsstaat genötigt, wegen des internationalen Kulturgüterschutzes bzw. der daraus folgenden völkerrechtlichen Verpflichtungen seinen nationalen auszubauen, ernst zu nehmen und weiter zu entwickeln. Die neueren Verfassungstexte haben hier viel geleistet. So mag es im ganzen zu einer an die „regula aurea“ erinnernden Gegenseitigkeitsordnung kommen: einer dank des Kulturgüterschutzes – und den Menschenrechten – vermittelten Weltkultur(güter)gemeinschaft, die in Zeiten fortschreitenden Ökonomismus und sich mehrender Rückfälle ins Barbarische (z. B. 2011: Sturm auf das Museum in Kairo) wegen der Humanität um so wichtiger wird. Jeder Verfassungsstaat ist gut beraten, aus den bisher schon entwickelten Textgruppen zu lernen. In formaler Hinsicht kann der Kulturgüterschutz bereits in der Präambel angelegt werden, in den Grundlagenabschnitt einer Verfassung vorgezogen oder im Staatsaufgaben-, oder sogar Grundrechtsteil platziert sein. Inhaltlich kann er von den Erziehungszielen her „vorgedacht“ und bis zum Strafrecht und Privatrecht hin zu Ende gedacht werden. Das Bildungsziel „Achtung vor anderen Kulturen und Völkern“ schafft schon einen Brückenschlag zwischen nationalem und internationalem Kulturgüterschutz, wenn auch in der „sanften“ Form des „soft law“ der Erziehungsziele52. Der nationale Kulturgüterschutz hat sich – verglichen mit den traditionellen Schutzklauseln in Bezug auf Denkmale (vgl. z. B. Art. 150 Abs. 1 und 2 WRV) – enorm verfeinert, ja „vitalisiert“. Er hat sich durch die Zugangsrechte zur Kultur verlebendigt, er hat sich in manchen Verfassungen zur Grundpflicht verstärkt, er hat sich da und dort zum Erziehungsziel „verinnerlicht“ und er hat sich durch generelle kulturelle Erbesklauseln verallgemeinert. 52 Dazu meine Studie: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

Diese rechtstextlichen Entwicklungen sind kein Selbstzweck. Sie deuten auf tiefere Zusammenhänge: Der Verfassungsstaat definiert sich (auch) aus seiner nationalen Kultur (sie stiftet seine Identität53), und die Freiheit wird zu einer solchen und „erfüllten“ Freiheit erst durch Kultur. Der Mensch gewinnt „aufrechten Gang“ dank der Kultur. Die Hervorbringungen der kulturellen Grundrechte wie der Religions-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit54, nämlich die Kulturwerke, reifen „im Lauf der Zeit“ zu dem, was nationale und internationale Texte als Kulturgut qualifizieren. Ein Druchbruch wäre es, wenn eines Tages die nationalen Verfassungen über sich hinauswüchsen und expressis verbis Textelemente des Unesco-Abkommens von 1972 rezipierten, also auch „fremde“ bzw. Welt-Kulturgüter schützten (Ansätze finden sich in Guatemala und in der Ukraine). Wenn manche Erziehungsziele auf 53 Die Verfassungslehre steht freilich erst am Anfang der wissenschaftlichen Erarbeitung von Begriffen wie „nationale Identität“. Dabei mögen Anregungen aus der allgemeinen Identitätsdebatte helfen, einen Weg zwischen „Identitätsbeschwörung“ und „Identitätsleugnung“ zu finden. Hilfestellung geben Aussagen wie: „Nation ist Ausdruck des durch Geschichte Form und Wirklichkeit Gewordenen“ (M. Walser) oder die Frage von J. Habermas (1974): „Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?“. Eine Provokation ist die These von R. Walther „Was ist ,nationale Identität‘“, in: Die Zeit Nr. 33 vom 12. August 1994, S. 28: „Das Identischste an der nationalen Identität ist ihre Unstetigkeit und Beliebigkeit“. M. E. führt nur der kulturwissenschaftliche Ansatz weiter, der i. S. des „offenen Kulturkonzeptes“ (dazu meine Studie, Kulturpolitik in der Stadt, 1979) wagt, von seiner „plural angelegten, offenen nationalen Identität“ (W. Weidenfeldt / K.-R. Korte, 1991) zu sprechen. Wegweisend J. Habermas, Staatsbürgerschaft und nationale Identität, St. Gallen (o. J., 1991, S. 32: „Die Identität des politischen Gemeinwesens, die auch durch Immigrationen nicht angetastet werden darf, hängt primär an den in der politischen Kultur verankerten Rechtsprinzipien und nicht an einer besonderen ethnisch-kulturellen Lebensform im ganzen“. Die Herausforderung durch „Wahlverwandschaft“ zur Leit-Idee von Art. 27 der Canadian Constitution 1981 (zit. nach JöR 32 (1983), S. 632 ff.) liegt nahe („This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhancement of the multicultural heritage of Canadians“. s. schon oben Erster Teil VII, 1.). 54 Zur „Freiheit der Kunst in kulturwissenschaftlicher und rechtsvergleichender Sicht“ gleichnamig mein Beitrag, in: P. Lerche u. a., Kunst und Recht, 1994, S. 37 ff.

III. Verfassungstheoretische Überlegungen

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die „Achtung vor anderen Kulturen und Völkern“ verweisen (vgl. mehrere deutsche Länderverfassungen), so ist damit ein Anfang in dieser Richtung gewagt. 2. Verfassung als Kultur Der nationale Kulturgutschutz ist nur ein Ausschnitt eines viel allgemeineren Zusammenhangs: Jede verfassungsstaatliche Verfassung lebt letztlich aus der Dimension des Kulturellen, sie ist seine Ressource, von ihm zum Teil durchaus mitgeschaffen. Der Kulturgutschutz, die speziellen kulturellen Freiheiten, ausdrückliche kulturelle Erbes-Klauseln und allgemeine Kulturstaats-Artikel bilden nur besondere Verdeutlichungen der – allgemeinen – Kulturdimension der Verfassung55. Wenn der Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe seinen Kulturgüterschutz besonders effektiviert, verfeinert und weiterentwickelt, so geschieht dies im Dienst seiner kulturellen Identität insgesamt. Zugleich gewinnt das kulturwissenschaftliche Verständnis von Verfassungen im Ganzen an Überzeugungskraft: „Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren - sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen.“ Nicht zuletzt geht es im Kulturgüterschutz (wie in der Erinnerungskultur) um einen „kulturellen Generationenvertrag“ – national und weltweit. 55 Ausgearbeitet in P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, bes. S. 19 (2. Aufl. 1998, S. 28 ff.) und seitdem, z. B. in ders, Europäische Rechtskultur, 1994, ders., Altern und Alter des Menschen als Verfassungsproblem, FS Lerche, 1993, S. 189 ff.; ders., Das Staatsgebiet als Problem der Verfassungslehre, FS Batliner, 1994, S. 397 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 489 ff. u. ö.

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

3. Die Kontextualität von Kultur und Natur – eine anthropologische Konstante in vielen Varianten Ein eigenes Wort verdienen die Natur-Schutz-Klauseln. Auch sie haben sich im Vergleich mit den traditionellen Textformen verfeinert und sie sind vor allem im Kontext des neuen Umweltverfassungsrechts zu lesen56. Besonders auffällig ist aber die Kontextualität, in der der konstitutionelle Kultur- und Naturschutz fast durchweg stehen. So wie das Unesco-Übereinkommen von 1972 sich auf das „Kultur- und (!) Naturerbe der Welt“ im gleichen Atemzug richtet, so führen die neueren Verfassungen beides denkbar eng zusammen. Die Parallelität der Textstufenentwicklung verblüfft. Natur wird, wenn nicht selbst ein Stück der von Menschen gestalteten Kultur57, so jedenfalls dem Verfassungsstaat gleichermaßen nahe und „wichtig“. Verfassungsstaatliche Beispiele dieses inneren Sowohl-alsauch bzw. Zugleich von Kultur und Natur58 liefern Texte wie „Aufgabe, die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaften zu schützen und zu pflegen“59; 56 Z. B. Art. 141 Abs. 1 Verf. Bayern: „Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist . . . der besonderen Fürsorge jedes einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft anvertraut. Mit Naturgütern ist schonend und sparsam umzugehen“. – Art. 31 Abs. 1 Verf. Bern (1993): „Die natürliche Umwelt ist für die gegenwärtigen und künftigen Generationen gesund zu erhalten“. Art. 32 ebd.: „Kanton und Gemeinden treffen in Zusammenarbeit mit privaten Organisationen Maßnahmen für die Erhaltung schützenswerter Landschafts- und Ortsbilder sowie der Naturdenkmäler und Kulturgüter“. 57 Darum ist an dem Merkmal „von menschlicher Hand geschaffen“ für das „Kulturgut“ zur Abgrenzung vom „Naturerbe“ festzuhalten. Zum Streitstand G. Reichelt, in: Dolzer u. a. (Hrsg.), Rechtsfragen, a. a. O., S. 67 (72 f., v. Bennigsen, ebd. S. 30 f. (Diskussion)). „Kultgegenstände“ der „Naturvölker“ können m. E. über den Gedanken der „Widmung“ bzw. „Rezeption“ und insofern „Gestaltung“ unter den Kulturgutbegriff gebracht werden. 58 Zum philosophischen Hintergrund das Blaubeurener Gespräch Natur in den Geisteswissenschaften, Bd. I, hrsg. von R. Brinkmann, 1988 (dazu meine Besprechung in AöR 116 (1991), S. 271 ff.). 59 Art. 141 Abs. 2 Verf. Bayern; ähnlich Art. 18 Abs. 2 Verf. NordrheinWestfalen, Art. 40 Abs. 3 Verf. Rheinland-Pfalz, Art. 34 Abs. 2 Verf. Saarland, Art. 30 Abs. 2 S. 1 Verf. Thüringen. Vgl. schon oben Erster Teil I.

IV. Die Konstituierung der Menschheit aus Kulturgüterschutz

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gelegentlich wird der Schutz von Natur und Umwelt noch eigens herausgestellt (so Art. 31 bis 33 Verf. Thüringen). Prägnant zusammengedacht sind Natur und Kultur in Art. 24 Abs. 1 Verf. Griechenland („Der Schutz der natürlichen und der kulturellen Umwelt ist Pflicht des Staates“). Auch die Verfassung Spanien nimmt sich des Umwelt- und Kulturschutzes in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Artikeln an (Artt. 45 und 46) – 14 Kathedralen sind Weltkulturerbe. Diese Kontextualität wurzelt wohl in der conditio humana, die von „Natur und Kunst“ (bzw. allgemeiner Kultur) geprägt ist, die ihrerseits in einem selbst von vielen Klassikern letztlich wohl nicht erfaßbaren Zusammenhang stehen (vgl. Goethes „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen . . .“). Das Unesco-Abkommen von 1972 hebt ihn nun auf den universalen Menschheitsmaßstab. Menschliches Leben gedeiht nur auf der Basis innerstaatlichen und weltweiten Kulturund Naturschutzes.

IV. Die Konstituierung der Menschheit aus nationalem und internationalem Kulturgüterschutz. Sieben Thesen: Menschheitsbezüge (des Verfassungsstaates) in kulturwissenschaftlicher Sicht, die Weltgemeinschaft der Kulturstaaten, weltbürgerliche Freiheit dank Kultur, das multikulturelle Erbe der Welt, die Kultur der Menschheit, Bedingtheitsverhältnisse 1. Die Weltgemeinschaft der Kulturstaaten Die Abkommen zum Kulturgüterschutz, insbesondere „zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ lassen eine auch juristisch greifbare Weltgemeinschaft der Kulturstaaten heranwachsen. Mag es in der Praxis noch viele Vollzugsdefizite geben, seinerzeit schmerzlich erfahrbar etwa in der Zerstörung von Dubrovnik, überhaupt im Krieg in Ex-Jugoslawien: ideell

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haben sich die Staaten 1954 bzw. 1972 als Kulturstaaten dargestellt und verpflichtet. Unabhängig davon, ob die Staaten sich selbst in ihren Verfassungen ausdrücklich dank allgemeiner bzw. spezieller Kulturstaatsklauseln als Kulturstaaten ausweisen, wachsen ihnen über die Unesco-Konvention von 1972 Elemente konstitutioneller Kulturstaatlichkeit zu: z. B. über die Aufgabe nach Art. 4: „Erfassung, Schutz und Erhaltung in Bestand und Wertigkeit des in seinem Hoheitsgebiet befindlichen, in den Artikeln 1 und 2 bezeichneten Kultur- und Naturerbes sowie seine Weitergabe an künftige Generationen sicherzustellen“, über die Verpflichtung gemäß Art. 5, „eine allgemeine Politik zu verfolgen, die darauf gerichtet ist, dem Kultur- und Naturerbe eine Funktion im öffentlichen Leben zu geben“60. Dieser kulturstaatlichen Innenansicht bzw. Verpflichtung entspricht das Außenverhältnis, etwa die Festlegung auf die „Errichtung eines Systems internationaler Zusammenarbeit und Hilfe“ (Art. 7) oder die Beitragspflicht der Vertragsstaaten in Bezug auf den Fonds nach Art. 15 ff. Sieht man die Außen- und Innenseite der Staaten bzw. ihre Verpflichtungen in Sachen Kulturschutz zusammen und nimmt man die Unesco- Strukturen und Aktivitäten insgesamt ebenso hinzu wie den unter I. und II. des Inkurses analysierten Ausbau des nationalen Kulturgutverfassungsrechts vieler Länder, so ist es keine Übertreibung, von einer sich konstituierenden „Weltgemeinschaft der Kulturstaaten“ zu sprechen. Der „andere“ Gegenstand des Abkommens von 1972, der Schutz des Naturerbes der Welt, ist angesichts der Kontextualität von Natur und Kultur auf dem einen 60 Die Verarbeitung von Prinzipien des internationalen und nationalen Kulturgüterschutzes muss bis in die Satzung von Kulturstiftungen durchschlagen; vorbildlich ist insofern der Staatsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg „Stiftung Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg“ von 1994. In ihm heißt es (zit. nach FAZ vom 24. August 1994, S. 5): „Die Stiftung hat die Aufgabe, die ihr übertragenen Kulturgüter zu bewahren, unter Berücksichtigung historischer, kunst- und gartenhistorischer und denkmalpflegerischer Belange zu pflegen, ihr Inventar zu ergänzen, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und die Auswertung dieses Kulturbesitzes für die Interessen der Allgemeinheit insbesondere in Wissenschaft und Bildung zu ermöglichen.“.

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„blauen Planeten“ Erde, zumal im Rahmen der „Wüste des Weltalls“, stets mitzudenken. 2. Der „Weltgesellschaftsvertrag“ in Sachen Kultur und Natur Im Rahmen des dichten Netzes der die Welt umspannenden UN-Verträge (etwa der Menschenrechtspakte) legt es das Unesco-Abkommen von 1972 besonders nahe, sich der Denkfigur des Gesellschaftsvertrages zu bedienen. Der Trust-Gedanke eines John Locke, der dem Verfassungsstaat intern bis heute den Weg gewiesen hat, lässt sich für den Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt fruchtbar machen. Alle kulturellen Erbes-Klauseln evozieren die Treuhand-Idee. Die Vertragsstaaten sind „Treuhänder“ ihrer eigenen Kultur und der Kultur „von universellem Wert“. Zum Schutz des „Welterbes“ muss die „internationale Staatengemeinschaft“ als Gesamtheit zusammenarbeiten (vgl. Art. 6 Abs. 1). Die Völker bzw. Vertragsstaaten sind einander gleichgestellt, insofern und „weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet“ (vgl. Präambel der Konvention von 1954). Der reale Abschluß eines Gesellschaftsvertrages in Sachen Kultur und Natur unter den Staaten bzw. Völkern (1954 bzw. 1972) ist im Blick auf die einzelnen Menschen verlängert zu „denken“. Die in den Menschenrechtspakten der UN von 1966 geschützten Menschen sind gedachte Vertragspartner – auch in der Generationenperspektive (vgl. Art. 4 des Abkommens von 1972: „sowie seine Weitergabe an künftige Generationen sicherzustellen“). Es sind ja die von Menschenhand geschaffene Kultur und die den Menschen „machende“ Natur, die als „Erbe“ erhalten werden sollen. Der Durchgriff auf den Menschen bzw. Bürger der einen Welt liegt heute so nahe, wie J. Locke ihn zu seiner Zeit zum Vertragspartner im Interesse der Sicherung von Freiheit und Eigentum im Staat gedacht hatte und wie I. Kant in die „weltbürgerliche“ Dimension ausgriff. Weltbürger kann der Mensch nicht zuletzt dank des Schutzes des Kultur- und Naturerbes der Welt werden bzw. sein. Der Kultur- und Natur-

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güterschutz vermittelt dem Menschen von heute seinen „status mundialis hominis“ – Hand in Hand mit den Menschenrechtspakten: als „status culturalis“, (neu verstanden) auch als „status naturalis“61 (Weltbürgertum aus Kultur!). Hierher gehört auch das „Weltgedächtnis-Programm“ von 199262. 3. Welt- (und staats-)bürgerliche Freiheit dank Kultur Der sich wechselseitig verstärkende internationale und nationale Kulturgüterschutz, wie gezeigt in griffigen Texten dokumentiert, „erinnert“ daran, dass Freiheit und Kultur zusammengehören. Alle Freiheiten sind in einem tieferen Sinne „kulturelle Freiheiten“, es gibt keine „natürlichen“ Freiheiten! Gewiß, die Philosophie der Menschenrechte bedarf zur Sicherung gegen die sich immer wieder absolut setzende Staatsgewalt der Fiktion, der Mensch sei „von Natur aus“ frei, „frei geboren“ (vgl. Art. 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN von 1948). Das ändert aber nichts an der Erkenntnis, dass sich, biographisch gesehen, Freiheit erst durch kulturelle Sozialisation entwickelt, der Mensch dank eines Kanons an vom Verfassungsstaat immer stärker „verinnerlichter“ Erziehungsziele (wie Achtung vor der gleichen Würde des anderen und den Menschenrechten, Toleranz, Verantwortung für Natur und Umwelt, soziale Gerechtigkeit, Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker) buchstäblich „bildet“63. Die national und dank des internationalen Abkommens auch transnational geschützten Kulturgüter sind als „kulturelle Kristallisationen“ Hervorbringungen der Menschen vieler Zei61 Die Menschenrechte sind auf eine Weise vom „europäisch-atlantisch kulturellen Erbe“ zum „Welterbe“ geworden; ebenso sind Anspruch und Verständnis von „Wissenschaft“ europäisches Erbe und jetzt ein Stück des universalen kulturellen Erbes. 62 Dazu K. Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005, S. 520 f. u. ö. 63 Dazu P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981.

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ten und Völker, heute durch die Trias der grundrechtlichen Freiheiten von Religionen, Wissenschaften und Künsten ermöglicht. Was als „kulturelles Erbe der ganzen Menschheit“ (Präambel der Konvention von 1954) geschützt wird, was die einzelnen Verfassungsstaaten heute immer intensiver und differenzierter sichern, wirkt auch als Erziehungsziel für den jungen Bürger und als ein Orientierungs- und Bildungswert für den älteren. Die innerverfassungsstaatlichen und international geschützten Kulturgüter ermöglichen dem Menschen als Staatsbürger und Weltbürger ein Stück seines „aufrechten Ganges“. Der Kulturgüterschutz ist insofern Korrelat der universalen und innerstaatlichen Menschenrechtsgarantien bzw. -pakte64. Diese liefen ins Leere, gäbe es nicht die Halt schaffenden Werke der Kultur, die als „Erbe“ die Möglichkeit der inneren Aneignung eröffnen65 und damit auch neue kulturelle Schaffensprozesse in der Zukunft anregen, die ihrerseits eines Tages zum kulturellen Erbe „aller Völker der Welt“ bzw. der „Menschheit“ heranreifen können66 („kultureller Generationenvertrag“). 64 Treffend W. Fiedler, Kunstraub und internationaler Kulturgüterschutz, Magazin Forschung, Universität des Saarlandes 2 / 1991, S. 2 (4): „Kulturwerke nicht nur Ausdruck einer bestimmten staatlich-nationalen Besonderheit i. S. von „Identität“, sondern auch weil Kulturwerke einen erheblichen menschenrechtlichen Gehalt aufweisen“. – Werden Kulturgüter menschenrechtlich gedeutet, so hat dies z. B. praktische Folgen für die Frage der Zugangsrechte. Manche neuere Verfassungen kennen Zugangsrechte als Jedermannrechte, andere beschränken sie auf die Staatsangehörigen. M. E. bestehen Zugangsrechte für jeden Menschen, jedenfalls bei Kulturgütern, die zum „kulturellen Erbe der ganzen Menschheit“ gehören, bei EG-Bürgern zu solchen Gütern, die zum „kulturellen Erbe von europäischer Bedeutung“ gehören. Zur völkerrechtlichen Problematik, (freilich sehr restriktiv): R. Dolzer, in: ders. u. a. (Hrsg.), Rechtsfragen, S. 149 (157 f.); M. Haag, a. a. O., S. 115 f. 65 Treffend M. Herdegen, Der Kulturgüterschutz im Kriegsvölkerrecht, in: Dolzer u. a. (Hrsg.), Rechtsfragen, a. a. O., S. 161 (173): „Die Individualität des einzelnen lebt auch von der sinnlich erfahrbaren Vermittlung ihrer geistesgeschichtlichen Wurzeln“; s. auch seinen Hinweis auf die „kulturgeschichtliche Komponente menschlicher Existenz“. 66 Das Textelement „Erbe“ darf also nicht zu eng, d. h. allein retrospektiv, verstanden werden: es entwickelt sich fort, ist offen und hat von vornherein prospektive Dimensionen („kulturelle Zukunft-Klausel“).

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4. Das universal geschützte kulturelle Erbe als Multi-Kultur Auf Verfassungsstaatsebene ist heute besonders umstritten, wie „multikulturell“ ein Volk sein kann, so fordernd sich der Schutz kultureller Minderheiten in vielerlei Formen (Grundrecht, Staatsziel, Erziehungsziel, Gruppenrecht)67 geltend macht. Begriffe wie (in der Schweiz) „Willensnation“, (vor allem in Deutschland) „Kulturnation“, nationale Identität (z. B. in Feiertagen wie dem 4. Juli oder 14. Juli greifbar68) werden angesichts weltweiter Migrationsbewegungen und Bürgerkriege, aber auch angesichts der wegen der globalen Kommunikationstechniken „grenzenlosen Weltgesellschaft“ immer stärker in Frage gestellt. Die internationalen Kulturgüterschutzabkommen indes lehren, dass das kulturelle Erbe der Welt bzw. Menschheit multikulturell bleibt und insofern alle nationalen Überhöhungen oder Vormachtansprüche zurückzuweisen sind. Die Textelemente von 1954 („weil jedes Volk seinen Beitrag zur Kultur der Welt leistet“) bzw. von 1972 („Bedeutung der Sicherung dieses einzigartigen und unersetzlichen Gutes, gleichviel welchem Volk es gehört, für alle Völker der Welt“). Was „außergewöhnlichen universellen Wert“ hat, also „kulturellen Universalismus“ begründet, ist national entstanden, „geworden“, geprägt und wächst erst durch bestimmte Rezeptionsvorgänge in die Welt- bzw. Menschheitsebene hinein. Die Völker bzw. Vertragsstaaten als Kulturstaaten bleiben gerade in ihrer Verschiedenheit die eine Seite (territorial oder personal), als „Ursprungsland“ „ihrer“ Kulturgüter; konstitutionell bauen sie, wie gezeigt, auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates den Kulturgüterschutz immer stärker aus, weil dieser ihnen selbst Identität vermitteln. Die Möglichkeit nationaler Kulturgüter, zu den von den Ab67 Dazu nur der Streit um den Minderheitenschutz im Rahmen der GGReform (Art. 20 b), vgl. Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, Zur Sache 3 / 1993, S. 140 ff. 68 Dazu meine Studie: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987.

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kommen geschützten Gütern von „universellem Wert“ zu werden, macht die „Weltkultur“ ebenso offen wie pluralistisch. Und sie lehrt uns, allen Einebnungen der Kultur (etwa von manchen westlichen Zivilisationserscheinungen) aus entschlossen entgegen zu treten. Die universelle Kultur des Unesco-Abkommens lebt aus der Vielfalt. Ja, vielleicht hilft diese Erkenntnis aus den internationalen Texten sogar dabei, auf nationaler Ebene das Problem des Multikulturellen neu, d. h. tolerant zu durchdenken (Streit um die „Leitkultur“). 5. Menschheitsbezüge „im“ Verfassungsstaat Beide Abkommen von 1954 und 1972 nehmen textlich und sachlich zentral auf die „Menschheit“ Bezug: Die Präambel von 1954 will eine „Schädigung des kulturellen Erbes der ganzen Menschheit“ verhindern, die Präambel von 1972 möchte Teile des Kultur- oder Naturerbes, die von „außergewöhnlicher Bedeutung“ sind, als „Bestandteile des Welterbes der ganzen Menschheit“ erhalten wissen. Angesichts des Aufeinanderangewiesenseins von internationalem und nationalem Kulturgüterschutz liegt die Frage nahe, ob die verfassungsstaatlichen Verfassungen ihrerseits schon „intern“ an die Menschheit bzw. die Welt als Bezugsgröße von Grundwerten denken. Überall da, wo die Verfassungen Grundrechte als Jedermannrechte, d. h. Menschenrechte anerkennen, denken sie die „Menschheit“ jedenfalls von der individuellen Seite her mit. So wagt das GG von 1949 früh den großen Satz (Art. 1 Abs. 2): „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletztlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“. Art. 7 Verf. Portugal (1976) votiert für die Zusammenarbeit mit allen Völkern „zum Fortschritt der Menschheit“ und es sucht bei seinen Grundrechten die „Übereinstimmung mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung“ (Art. 16 Abs. 2)69. In manchen neueren Erziehungszielen bricht 69

Vgl. auch Präambel und Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien (1978).

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

sich der Menschheitsaspekt ebenfalls Bahn (vgl. Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen von 1993: „Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen“). Diese Auswahl von konstitutionellen Menschheitsbezügen muss genügen. Sie zeigt, dass die nationalen Verfassunggeber auf dem Weg sind, die Menschheit bzw. die Welt ebenso zur Bezugsgröße zu machen, wie dies die beiden internationalen Kulturgüterschutz-Abkommen tun. Anders gesagt: zu einem Teil wird die „Menschheit“ Verfassungsthema, wodurch sie sich ihrerseits konstituiert. Der Kulturgüterschutz auf der nationalen und internationalen Ebene umschreibt nur eine Etappe auf diesem gewiss langen Weg, der in Kants „Tractat zum ewigen Frieden“ (1795) seinen bis heute Bahn brechenden Klassikertext gefunden hat70. 6. Die Konstituierung der Menschheit aus dem internationalen Kulturgüterschutz Die UN-Charta von 1945 bzw. das Ziel der Sicherung des „Weltfriedens“ und der Förderung der „internationalen Zusammenarbeit“ (z. B. auf den „Gebieten der Kultur und der Erziehung“) stellen sich der Form und Sache nach in den Dienst der Menschheit bzw. der Welt. Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ der UN von 1948 bildet ein zweites Dokument zur Konstituierung der Menschheit als solcher (vgl. die Präambelelemente: „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde“, Mißachtung der Menschenrechte als Verletzung des „Gewis70 Gewiss hat der deutsche Idealismus seinen ideengeschichtlichen Beitrag zur Konzeption von „Menschheit“ geleistet, etwa dank J. G. Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784 bis 1791), dank I. Kant („Das Weltbürgerrecht“, „Bürger eines allgemeinen Menschenstaats“ als „notwendige Ergänzung des Staats- und Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrechte“) und dank F. Schiller (vgl. dessen Abhandlung: „Etwas über die erste Menschengesellschaft“, 1789, und die Brieffolgen „Über die ästethische Erziehung des Menschen“, 1795).

IV. Die Konstituierung der Menschheit aus Kulturgüterschutz

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sens der Menschheit“ sowie das Ausbildungsziel Achtung der Menschenrechte in Art. 26 Ziff. 2), und in ihrer Nachfolge stehen die beiden Menschenrechtspakte der UN von 1966. Als dritter großer Schritt ist zusammen mit der Unesco-Satzung von 194571 der „Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ anzusehen72. Denn die schon erwähnten Menschheitsbezüge in den beiden Texten von 1954 und 1972 sehen die Menschheit73aus der Perspektive des Kulturgüterschutzes, ja sie schaffen sie geradezu aus diesem Blickwinkel. Sie konzipieren die ganze Welt bzw. die Menschheit als Kulturgemeinschaft und sie bereichern den universalen Grundwertekanon um die „Vertikale“ der Kultur. Durch die Erkenntnis, dass die je nationale Kultur eine universale Dimension haben kann, konstituieren sie die Menschheit durch eben diese Kultur. Neben den Weltfrieden und die universalen Menschenrechten tritt der Kulturgüterschutz mit seinen zwei Ebenen. Er „macht“ aus vielen einzelnen Menschen die „Menschheit“, nicht als abstractum, sondern als lebendige, erfahrbare, eben in der Kultur sich spiegelnde und aufrichtende Größe. Es entsteht eine weltbürger71 Vgl. Art. I Ziff. 2 lit. c: „Erhaltung und Schutz des Erbes der Welt an Büchern, Kunstwerken und Denkmälern der Geschichte und Wissenschaft . . .“. 72 Aus diesen Kontexten wohl ist das dem maltesischen Botschafter Arvid Pardo 1967 geglückte Wort vom „Gemeinsamen Erbe der Menschheit“ anzusiedeln. Dazu T. Oppermann, Vom Marktbürger zum EG-Bürger?, in: G. Nicolaysen / H. Quaritsch (Hrsg.), Lüneburger Symposion für Hans Peter Ipsen, 1988, S. 87 ff. 73 Der Weltraumvertrag von 1967 nennt mehrfach die „Menschheit“ als Bezugsgröße: in der Präambel („großartige Aussichten, die der Vorstoß des Menschen in den Weltraum der Menschheit eröffnen“, „gemeinsames Interesse der gesamten Menschheit an der fortschreitenden Erforschung und Nutzung des Weltraumes“, in Art. I Abs. 1 und in Art. V („Raumfahrer als Boten der Menschheit im Weltraum“. Aus der Lit. zum „Gemeinsamen Erbe der Menschheit im geltenden Völkerrecht“: R. Dolzer, in: R. Dolzer / E. Jayme / R. Mußgnug (Hrsg.), Rechtsfragen, a. a. O., S. 13 (17 ff.); T. Fitschen, in: Fiedler (Hrsg.), a. a. O., S. 183 (206 ff.). – Eine frühe Bezugnahme auf das „Gemeinsame Erbe der Menschheit“ findet sich im Seerecht (vgl. W. Graf Vitzthum, Der Rechtsstatus des Meeresbodens, 1972, S. 247 ff., 358), eine spätere im Mondvertrag von 1979 (dazu R. Dolzer, in: ders. u. a. (Hrsg.), Rechtsfragen, a. a. O., S. 13 (19)).

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3. Teil: National-verfassungsstaatlicher Kulturgüterschutz

liche Allgemeinheit aus Kultur, die eigentliche „Internationale der Menschheit“ dieses einen „blauen Planeten“74. 7. Das Bedingtheitsverhältnis von internationalem und nationalem Kulturgüterschutz Die letzte These bringt das schon bislang mitgedachte Bedingtheitsverhältnis beider Ebenen des Kulturgüterschutzes zur Sprache. Die Textanalysen haben gezeigt, wie sich die Normgruppen „entgegenwachsen“, welche Textschübe das nationale Verfassungsrecht in Sachen Kulturgüterschutz von Seiten der internationalen Abkommen erfahren hat (vgl. die Verpflichtung nach Art. 4 und 5 des Abkommens von 1972). Umgekehrt sind auch Tendenzen der Internationalisierung im nationalen Verfassungsrecht allenthalben erkennbar (etwa bei den Menschenrechten und Erziehungszielen, bei der internationalen Zusammenarbeit). Das Abkommen von 1972 stellt den Vertragsstaaten als Kulturstaaten bestimmte Aufgaben (z. B. in Art. 5), nachdem es in Art. 4 den Kulturgüterschutz in erster Linie als deren „eigene Aufgabe“ definiert. Gerade darin zeigt sich, wie intensiv beide Ebenen ineinander greifen, technisch-praktisch wie theoretisch. Die einzelnen „Kulturnationen“ und der „kulturelle Universalismus“ gehören zusammen. Je phantasievoller die Verfassungsstaaten ihren nationalen Kulturgüterschutz ausgestalten und ihre verfeinerten Texte in die Wirklichkeit umsetzen, um so effektiver wird der internationale Kulturgüterschutz. Die sich hier abzeichnende Gegenseitigkeitsordnung75 erweitert den kategorischen Imperativ Kants in den Weltmaßstab des Heute und der „Nach74 „Weltbürgertum“ aus Kunst und Kultur wäre ein im Geiste Goethes zu entwerfendes Programm. Perspektiven dazu bei E. H. Gombrich, dem Goethe-Preisträger 1994, und seiner Rede „Goethe und die Geister aus dem Kunstgrunde der Vergangenheit“ (FAZ vom 29. August 1994, S. 29). In solcher Sicht fühlt sich der Bürger dank des kulturellen Welt-Erbes überall „zu Hause“! 75 Zur Verfassung des Verfassungsstaates als „rechtlich vermittelter Gegenseitigkeitsordnung“: G. Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 48 ff.

IV. Die Konstituierung der Menschheit aus Kulturgüterschutz

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welt“ späterer Generationen, wie dies H. Jonas für die Bewahrung der Natur vorgedacht hat („Handle so, dass die Folgen deines Tuns mit einem künftigen menschenwürdigen Dasein vereinbar sind, d. h. mit dem Anspruch der Menschheit, auf unbeschränkte Zeit zu überleben“). Die Umrisse eines „Weltkulturvertrags“ werden sichtbar. Die verfasste Menschheit lebt aus und von nationaler ins Universale gedachter Kultur. Verfassungspolitisch ist das hier skizzierte Bedingtheitsverhältnis beider Ebenen erst dann zu Ende geführt, wenn der nationale Kulturgüterschutz auch die internationale Dimension zur Sprache bringt (z. B. begonnen in den Erziehungszielen sowie in den Verfassungen von Guatemala und der Ukraine). Der Ausbau einer „neuen Nähe“ zwischen den Nationen dank des internationalen und nationalen Kulturgüterschutzes und der Konstituierung der Menschheit aus Kultur, flankiert von der Menschenrechtsidee, ist bei allen Fortschritten freilich eine wohl „ewige“ Aufgabe76. Dass der Typus „Verfassungsstaat“ um sie ringt, adelt ihn. Dass das internationale Recht hier Zeichen gesetzt hat, gibt Hoffnung, auch wenn seit 1989 bzw. der „Weltstunde des Verfassungsstaates“ mancher Optimismus schmerzhaft gedämpft wurde. Angefügt sei, dass es neben den ausgezeichneten Weltkulturerbestätten auch Werke gibt, die auf ihre Weise „Menschheitstexte“ sind: die Bibel, Homer, der Koran, J. S. Bachs h-moll Messe, Goethes „Faust“ sowie die Französische Menschenrechtserklärung von 1789 und L. van Beethovens Neunte Symphonie. Immerhin gibt es schon für die Musik das alte, fast vergessene Wort „Tondenkmäler“. In Deutschland sind „Grimms Wörter“ (G. Grass, 2010) ein Nationaldenkmal, in Großbritannien die „King James Bible“ (1611). 76 Die Weltöffentlichkeit sensibilisiert sich zunehmend in Sachen „kulturelles Erbe der ganzen Menschheit“. So erregte der Terroranschlag auf die Kirche San Georgio in Velabro in Rom 1993 die gebildete Welt nicht nur Europas; Ähnliches gilt für Attentate auf Gemälde in Museen (Florenz) oder den Raub von Bildern (jüngst in Frankfurt / M. und Paris).

Vierter Teil

Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen und andere Ausdrucksformen der Erinnerungskultur im Verfassungsstaat I. Die besondere Aktualität der „Erinnerungskultur im Verfassungsstaat“, die Entwicklungsoffenheit des „kulturellen Erbes“ Die innere Nähe, ja Kontextualität des Denkmal-Themas1 zu den nationalen Feiertagen, Nationalhymnen und Nationalflaggen als kulturellen Identitätselementen des Verfassungsstaates macht es relativ leicht, analog im Folgenden den einschlägigen Theorierahmen zu skizzieren. Denn da alle genannten, jetzt insgesamt vier Themenfelder im Licht einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft zu sehen sind, braucht nur an diese Beispiele und ihre Hintergründe – freilich jetzt fortschreibend – angeknüpft werden. Das zum Teil ganz neu ans Licht gehobene Textstufenmaterial aus der Tiefe des geschichtlichen Raumes und der Weite der halben Welt, i. S. der 1982 entworfenen kulturellen Verfassungsvergleichung konzipiert, macht es relativ leicht, das heutige Thema dieser Studie in den gebotenen Theorierahmen zu stellen. Als förderlich erwies sich auch die Einbeziehung der Ausschnitte an Lebenswirklichkeit Deutschlands im Spiegel von deutschen Tageszeitungen aus vier Monaten. Denn sie ergaben ja, dass fast täglich über ein Denkmal2, ein Element des nationalen Gedächtnisses, einen 1 Aus der Grundsatzliteratur: M. Heckel, Staat Kirche Kunst, Rechtsfragen kirchlicher Kulturdenkmäler, 1968. Zu den sachlichen Grundprinzipien der „gemeindeutschen Denkmalpflege“ ebd., S. 41 ff.

I. Die besondere Aktualität

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Museumsbau3 oder einen Erinnerungsvorgang berichtet wird, was im Ganzen einen Aspekt der nationalen Erinnerungsgemeinschaft darstellt. Die Tage des „offenen Denkmals“ in Deutschland sind zu einer festen Einrichtung jeweils im Herbst geworden. Sie sind Alltag für das kulturelle bzw. kollektive Gedächtnis in unserem Lande und ermöglichen ein Stück kultureller Teilhabe der Bürger und insbesondere auch der Jugend (nicht zuletzt in den Kommunen). Der Begriff „Erinnerungskultur“ ist jüngst vor allem im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der Studie einer Historikerkommission über das Auswärtige „Amt“ fast populär geworden4. Ausgelöst wurde diese Publikation durch die „Nachrufpraxis“ für gestorbene, dem NS-Regime angehörende Diplomaten – auch Nachrufe bilden ein Stück regelmäßig erneuerter Erinnerungskultur (z. B. für alte und neue Klassiker bzw. ihre Geburts- und Todestage). Bereits ausweislich der Verfassungstexte zeigt sich, dass der Typus Verfassungsstaat um seiner selbst willen und zur Schaffung von Identifizierungsmöglichkeiten für den Bürger historische Stätten, Monumente, Denkmäler, Museen, Archive schützt bzw. hierfür sammelt. Hoch anzusetzende Berufungen auf die „Verantwortung vor der Geschichte“ schon in vielen Verfassungspräambeln (besonders Afrikas) bestätigen den besonderen Stellenwert des Themas. Vor allem die vielen Verzahnungen der Verfassungstexte in Raum und Zeit, Geschichte und Gegenwart, etwa die status quo-Garantie, der Kulturgüterschutz, der Denkmalschutz, sogar die Normierung von Grundpflichten, auch Erziehungszielen belegen, wie wichtig 2 Viel Positives leistet die Zeitschrift „Monumente, Magazin für Denkmalkultur in Deutschland“; Gleiches gilt für das „Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege“ in Baden-Württemberg. – Soeben berichtet die Presse, dass im Nürnberger Justizpalast der Saal 600 zum „Memorium Nürnberger Prozesse“ (1945 / 46) wird, vgl. FAZ vom 19. November 2010, S. 2, 31: „Gedächtnisort Gerichtssaal“. 3 So hat kürzlich das Naturkundemuseum in Berlin seinen 1945 zerstörten Ostflügel erhalten, vgl. FAZ vom 17. Sept. 2010, S. 33. 4 Z. B. in FAZ vom 29. Oktober 2010, S. 1, 4.

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4. Teil: Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen

dem Verfassungsstaat das Basiswissen seiner Bürger für das Geschichtliche ist und wie sehr er selbst davon zehrt, weshalb er es schützen und fördern will (man denke an die Geschichtsdimension in vielen Präambeln und an das Archivwesen). Es geht um Integrationsangebote und erhoffte Integrationsleistungen. Der Bürger wird keineswegs gezwungen, die vielen Orte, Zeitpunkte und Plattformen für das „kulturelle Gedächtnis“ seiner Nation anzunehmen und gedanklich zu verarbeiten oder zu feiern (der Besuch von Museen und Bibliotheken bleibt freiwillig). Im freiheitlichen Verfassungsstaat darf es wie bei den Hymnen und Flaggen keinen Grund für solche Zwänge geben. Ausnahmen sind die einzuhaltende Feiertagsbzw. Sonntagsruhe sowie der sinnstiftende spezielle Kulturgüterschutz und die Wissensvermittlung in der Schule. Im Ganzen geht es um Vergegenwärtigung der Kultur- und Verfassungsgeschichte eines Volkes. Nach O. Marquard gilt: „Zukunft braucht Herkunft“. R. Bäumlins früher Entwurf „Staat, Recht und Geschichte“ (1961) gehört hierher. Dabei sind Kollisionen nicht ausgeschlossen, ja sie bleiben fast charakteristisch. Einerseits wohnt dem Denk-Mal-Appell oder -Angebot des Verfassungsstaates ein bewahrendes statusquo-Moment inne. Andererseits ist die Zukunft oft gerade von dieser sicheren Basis aus zu gewinnen, wobei es Interpretationsspielräume gibt: in den jeweils aktuellen „Zeit-Punkten“. Man kennt diese Vorgänge aus der Kunst, insbesondere in Gestalt der sich wandelnden Interpretation von Werken der Musik, z. B. des späten L. van Beethovens. Der Streit um die „historische Aufführungspraxis“ von musikalischen Stücken (z. B. des Barock) liefert ein weiteres Stichwort. Das „kulturelle Erbe“ einer Nation, ein den alten und neuen Kulturgüterschutz inhaltlich übertreffender Begriff, will nicht zementieren, sondern belässt Öffnungen „im Laufe der Zeit“. Er ist entwicklungsoffen. Was vor 30 Jahren, d. h. vor einer Generation noch umstritten und ungesichert war, gehört heute vielleicht schon zum „kulturellen Erbe“. Manches kann etwa in der Münchner Pinakothek der Moderne fallweise besichtigt werden. M. a. W.: Das „kulturelle Erbe“ ist in die Zeit hinein of-

II. Vergangenheitsaufarbeitung

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fen: Möglicherweise gehören die Moscheen in Deutschland in 30 Jahren zusammen mit den christlichen Kirchen zum Stadtbild (Goethes: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen!“). Im Bau und Sturz von Denkmälern (man denke etwa an die „Bilderstürmer“ mancher Epochen) manifestieren sich historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten, auch nationale Eigenheiten. Beispielsweise neigt man in Deutschland dazu, die Geschichte immer wieder neu zu schreiben bzw. radikal zu tilgen. Italien ist hier lässiger – und toleranter. In Spanien brauchte es lange Zeit, bis in unsere Tage hinein, bis auch das vorletzte Denkmal des Franco-Regimes beseitigt wurde (noch existiert das „Tal der Gefallenen“!). In Südamerika sind mehrere Verfassungsstaaten damit beschäftigt, die Opfer aus den „Namenlosengräbern des Staatsterrors“ in Argentinien zu identifizieren5. Demgegenüber stellt sich Japan bis heute seiner Vergangenheit gar nicht, was China zurecht immer wieder kritisiert6.

II. Vergangenheitsaufarbeitung, Wahrheitskommissionen als neue verfassungsstaatliche Verfahren, Grenzen Die Vergleichende Verfassungslehre muss bei all dem die neuere Diskussion der Geschichtswissenschaft aufgreifen. Sie kristallisiert sich in dem jüngsten Buch von C. Meier: „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns“ (2010). Der Autor ist Alt-Historiker und thematisiert die Vergangenheitsbewältigung7, die Gedenkkultur und das Ritual der Erinnerung an kollektives Unrecht in der Geschichte8. Vermutlich geht es um eine differenzierte Balance zwischen AufDazu FAZ vom 27. Juli 2010, S. 7: „Gewissheit nach Jahrzehnten“. Vgl. FAZ vom 29. Oktober 2010, S. 33. 7 In ganz anderem Zusammenhang arbeitet A. Frhr. v. Campenhausen an der „Vergangenheitsbewältigung in der Kirche“, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte Bd. 127 (2010), S. 537 ff. 8 Dazu das Spiegel-Gespräch 30 / 2010, S. 124 ff. 5 6

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4. Teil: Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen

arbeitung der Vergangenheit und „Versöhnen und Vergessen“9. Speziell in Deutschland ist hier der Ort für die sehr ausgebreitete Gedenkkultur in Sachen „Holocaust“. Zahlreiche Denkmäler finden sich nicht nur in Berlin, sondern auch in Buchenwald und Dachau. Wenn neuerdings ein Gedenktag für die versöhnende Denkschrift der Heimatvertriebenen (1950) gefordert wird10, so zeigt dies einmal mehr die Kontextualität von Erinnerungskultur und Gedenk- bzw. Feiertagen. Mehr als ein Merkposten ist die in Südafrika erfundene und in nicht wenigen Ländern übernommene, den Verfassungsstaat überaus bereichernde „Wahrheitskommission“. Wahrheitsprobleme11 werden in der politischen Diskussion seit 1995 immer häufiger behandelt. In vorderer Reihe steht dabei die weltweite Aufmerksamkeit, die der „Wahrheitsausschuss“ in Südafrika findet. Seine Tätigkeit wird von vielen großen Zeitungen referiert und kommentiert12. Auch einzelne 9 In der Architektur findet ein großer Streit um das „Rekonstruieren“ statt, vgl. FAZ vom 16. Sept. 2010, S. 31: Eine Kopie ist kein Betrug, Bericht über die Münchener Ausstellung „Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“. 10 So die CDU-Bundestagsabgeordnete und um die Aufarbeitung von „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ bemühte Frau E. Steinbach, vgl. etwa FAZ vom 3. Aug. 2010 sowie vom 10. November 2010, S. 8. – In Deutschland wird auch diskutiert, ob ein europäisches Zentrum gegründet werden sollte, das auch die Vertreibung von Armeniern, Juden, Palästinensern, Esten, Letten und Deutschen berücksichtigt (so im Gespräch mit Günter Grass, Verlagsbeilage FAZ vom 10. Juni 2010, S. B3). 11 Zum Folgenden schon: P. Häberle, Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995, fortgeschrieben in ders., in FS Hollerbach, 2001, S. 15 ff. 12 Vgl. z. B. B. Grill, Ein Hauch von Nürnberg, Die „Wahrheitskommission“ zur Aufklärung von Verbrechen während der Apartheid spaltet Südafrika, in: Die Zeit Nr. 50 vom 8. Dez. 1995, S. 11; R. von Lucius, Der Wahrheitssucher (D. Tutu), FAZ vom 5. Dez. 1995, S. 18; Neue Züricher Zeitung vom 19. / 20. Okt. 1996, S. 2: „Harzige Aufarbeitung der Apartheid, Kompetenzgerangel erschwert ‚Wahrheitsfindung‘ in Südafrika; FAZ vom 16. April 1996, S. 7: „Folter, Morde, Verschwinden, Anhörung der Zeugen vor dem Wahrheitsausschuss in Südafrika“; FAZ vom 13. Aug. 1997, S. 3: „Die Hani-Mörder gestehen ihre Tat und fordern Strafbefreiung“; FAZ vom 14. Nov. 1997, S. 17: „Südafrikas Wirtschaft entschuldigt sich, Apartheid jahrelang gestützt“; NZZ vom 15. April 1998, S. 5: „Eine

II. Vergangenheitsaufarbeitung

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Sitzungen dieses Ausschusses im Verfahren gegen „prominente“ Personen wie den früheren südafrikanischen Verteidigungsminister Malan und P. W. Botha werden beobachtet13. Besondere Konflikte erwachsen daraus, dass sich südafrikanische Richter geweigert haben, vor dem Wahrheitsausschuss zu erscheinen14: ihre richterliche Unabhängigkeit werde kompromittiert. Der Wahrheitsausschuss als (neue) Institution wird auch zunehmend wissenschaftlich behandelt15. Und die Wahrheitskommissionen in südamerikanischen Staaten rühmt man als erfolgreiche Instrumente der Aufarbeitung und Versöhnung16. Dabei werden parallele Probleme erörtert, so wenn die damalige Präsidentin des Deutschen Bundestages R. Süssmuth bei ihrem Besuch in Südafrika 1996 ihren großen Respekt gegenüber dem südafrikanischen „Modell“ einer umfassenden Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung durch die Wahrheitskommission äußert und an die deutschen Bemühungen um die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit erinnert17. Polen ringt mit seinem „Durchleuchtungsgesetz“, das 1997 in Kraft Schonfrist für P. W. Botha?“; FAZ vom 22. Aug. 1998, S. 1: „Botha wegen Missachtung des Wahrheitsausschusses verurteilt“; FAZ vom 20. Aug. 1998, S. 5: „Gab es ein Mordkomplott gegen den früheren UN-Generalsekretär Hammarskjölk? Enthüllungen zum Abschluss des Wahrheitsausschusses in Südafrika!“ – Im Herbst 1998 hat Südafrikas Wahrheitskommission ihren Bericht vorgelegt. 13 Z. B. FAZ vom 4. März 1996, S. 6. 14 FAZ vom 28. Okt. 1997, S. 6. 15 Z. B. A. Bollig, Der südafrikanische Wahrheitsausschuss, KAS Auslandsinformation 11 / 1995, S. 53 ff.; E. Hahn-Godeffroy, Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission, 1998. 16 Vgl. D. Nolte, Der Ausweg aus dem Dilemma: Die Wahrheitskommission, Frankfurter Rundschau vom 20. Jan. 1997, S. 12; ders. (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, Frankfurt / M. 1996; F. Venter, Die verfassungsmäßige Überprüfung der Rechtsgrundlagen von Südafrikas „Truth and Reconciliation Commission“, ZaöRV 57 (1997), S. 147 ff. – Seit 1997 gibt es auch in Guatemala eine Wahrheitskommission, dazu SZ vom 3. Sept. 1998, S. 9. 17 FAZ vom 24. Febr. 1996, S. 4; vgl. auch FAZ vom 4. Nov. 1996, S. 8: „Viel Lob Schmidt-Jortzigs für Südafrika“ (er war Bundesjustizminister).

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4. Teil: Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen

getreten ist und die Untersuchung der Vergangenheit der politischen Führungsschicht erlaubt18. Auch die Tschechische Republik praktiziert ein solches Durchleuchtungsgesetz, das von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates freilich kritisiert wurde19. Italien ringt ebenfalls um Wahrheit: im Blick auf seine jüngere Geschichte20. T. G. Ash hat die Verfahren zur „Aufarbeitung des Kommunismus“ wohl erstmals umfassend systematisiert und dank des Vergleiches der verschiedenen Nationen bzw. Verfassungsstaaten „vier Wege zur Wahrheit“ beobachtet21: erstens der Weg der Justiz (Beispiel Deutschland nach 1989 im Blick auf SED und Stasi oder Bulgarien); zweitens der Weg der administrativen Disqualifizierung einzelner Personen oder ganzer 18 Dazu FAZ vom 20. Juni 1997, S. 8; FAZ vom 14. Mai 1998, S. 8: „Mangelhafte Umsetzung des ‚Durchleuchtungsprinzips‘“; FAZ vom 19. Juni 1998, S. 8: „Polen will dem Vorbild der deutschen Gauck-Behörde folgen“; vgl. auch FAZ vom 18. Nov. 1997, S. 6: „Nur ein Teil der Wahrheit, Stasi-Akten in Bulgarien geöffnet.“ – In Polen soll das neue Gesetz über das „Institut des nationalen Gedenkens“ das „Durchleuchtungsgesetz“ ergänzen (vgl. FAZ vom 23. Sept. 1998, S. 8). 19 FAZ vom 24. Sept. 1997, S. 8. – Zur Slowakei FAZ vom 18. Nov. 1999, S. 8. 20 Vgl. H.-J. Fischer, Beten für Andreotti, Annäherung an die Wahrheit über die langjährige Hauptfigur der italienischen Politik, FAZ vom 22. Sept. 1995, S. 16. 21 T. G. Ash, Vier Wege zur Wahrheit, in: Die Zeit Nr. 41 vom 3. Okt. 1997, S. 44, wobei auch die von Spanien nach dem Ende des Franco-Regimes gewählte Möglichkeit des „sanften Überganges“ in den Blick kommt (Strategie des Vergessens, wie früher im Italien und Österreich der Nachkriegszeit, im Frankreich de Gaulles (Vichy!) und nach 1989 zunächst auch in Polen. Klassiker dieses Weges sind Ciceros Aufruf von 44 v. Chr., jegliche Erinnerung an die mörderischen Zwieträchtigkeiten durch „ewiges Vergessen“ zu tilgen, sowie Churchills Züricher Rede von 1946: „blessed act of oblivion“). – Bemerkenswert ist die Widerspiegelung der juristischpolitischen Wahrheitsdiskussion in der Kunst Südafrikas: B. Grill, Das Theater der Wahrheit und die Wahrheit des Theaters in Südafrika, in: Die Zeit Nr. 46 vom 7. Nov. 1997, S. 59; M. Ammicht, Das schwierige Geschäft der Versöhnung. Mit der „Truth Commission“ setzen sich gleich zwei südafrikanische Gastspiele auseinander, SZ vom 22. / 23. Nov. 1997, S. 16. – Wenig ermutigend ist der Titelbeitrag in GEO Nr. 5 vom Mai 1998, S. 70 ff.: „Warum wir alle lügen, Lug und Trug als Lebensprinzip“.

II. Vergangenheitsaufarbeitung

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Gruppen (Überprüfung, Berufsverbot, Lustration, Beispiel Deutschland und Tschechoslowakei); drittens die Wahrheitskommissionen (Beispiel Südafrika und lateinamerikanische Staaten); viertens der Weg der Öffnung der Akten des alten Systems für wissenschaftliche, publizistische und individuelle Aufarbeitung (Beispiel Deutschlands „Gauck-Behörde“ sowie die Enquêtekommission des Deutschen Bundestages). Damit liefert er strukturiertes Vergleichsmaterial, auf dem eine als Kulturwissenschaft arbeitende Verfassungslehre aufbauen kann, auch rechtspolitisch. Im Folgenden sei in kleinen Stichworten auf die anhaltende Aktualität des Themas „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ hingewiesen. Sie lässt sie sich in vielen Politikfeldern, in vielen Wissenschaften und in der Kunst nachweisen. An Beispielen aus der „großen Politik“ seien genannt: in Europa die Kontroverse um die Armenien-Resolution des Französischen Parlaments von 2001, in der die Massentötungen von Armeniern im Jahre 1915 als „Völkermord“ bezeichnet wird, denn hier geht es um Wahrheit oder Lüge22. Genannt sei auch das Stichwort „Katyn“ d. h. die Massenermordung von Polen durch die Sowjetunion23. Erwähnt sei für und in Deutschland die sog. „Gauck-Behörde“, die das Unrecht des Staatssicherheitsdienstes der DDR bzw. SED („Stasi“) aufzuarbeiten hatte24. Ein Blick in die jüngste Zeitgeschichte führt nach Rußland. Angesichts des Terrors in Beslan (seitens tschetschenischer Widerstandskämpfer) hatten sich die russischen Behörden in offenkundige Lügen verstrickt, diverse Anschläge wurden verharmlost25. Schließlich verdient Marokko Auf22 Aus der Presse etwa FAZ vom 5. April 2001, S. 54: „Langer Gang am Bosporus“. 23 Vgl. FAZ vom 22. Oktober 2001, S. 9: „Katyn: Nur einen Teil zugeben, Zum Umgang mit der Wahrheit in der Sowjetunion“. 24 Dazu FAZ vom 30. September 2000, S. 4: „Der Organisator (sc. Gauck) der Wahrheitsfindung nimmt Abschied von den Akten“. 25 Vgl. FAZ vom 10. September 2004, S. 3: „Eine Kette von Lügen im Sommer des Terrors, Desinformationen aus Moskau“.

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4. Teil: Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen

merksamkeit. Die glückliche verfassungsstaatliche Erfindung der „Wahrheitskommission“ als neuer Institution hat dort Fuß gefasst26. Im Folgenden seien Stichworte bzw. Problembereiche aus den Wissenschaften namhaft gemacht. Die Theologie, und sie ist nicht nur nach deutschem Selbstverständnis eine „Wissenschaft“, hat große Texte zum Thema beigesteuert. Das gilt etwa für die Enzyklika „Fides et Ratio“ von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahre 1998. Gleich eingangs (in einer Art Präambel) heißt es: „Glaube und Vernunft (Fides et Ratio) sind wie die beiden Flügel, mit denen sich der menschliche Geist zur Betrachtung der Wahrheit erhebt“. In den einzelnen Abschnitten bzw. Ziffern ist der Wahrheit ein zentraler Platz eingeräumt: vgl. Ziff. 1: „Weg, der im Laufe der Jahrhunderte die Menschheit fortschreitend zur Begegnung mit der Wahrheit . . . geführt hat“; Ziff. 2: „Dienst aus der Wahrheit“; Ziff. 25: „Gegenstand dieses Strebens (nach Wissen) ist die Wahrheit“; vor Ziff. 28: „Die verschiedenen Gesichter der Wahrheit des Menschen“; Ziff. 29: die „Sehnsucht nach Wahrheit“. Der neue Papst Benedikt XVI. hat sich 1977 bei seiner Bischofsweihe im Münchner Dom den Wahlspruch ausgesucht: „Mitarbeiter der Wahrheit“. In der Politischen Wissenschaft hat der St. Galler Doyen dieses „Faches“ A. Riklin seine Abschiedsvorlesung dem Thema „Wahrhaftigkeit in der Politik“ gewidmet (2001). Freilich provoziert auch ein Aufsatz wie der von U. Greiner „Macht und Lüge sind unzertrennlich“27. In der Staatsrechtslehre hat der ehemalige österreichische Verfassungsrichter S. Morscher in dem Band „Philosophie im Geiste Bolzanos“28 ein Thema ge26 Vgl. FAZ vom 13. Februar 2006, S. 3: „Marokko stellt sich seinen ‚bleiernen Jahren‘, Mohammed VI. reagiert auf den Bericht einer Wahrheitskommission und setzt eine vorsichtige Liberalisierung fort“. Aus der Lit. zu Südafrika: P. K. Rakate, The Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report: A Review Essay, VRÜ 33 (2000), S. 371 ff. 27 In: Die Zeit vom 17. Februar 2000, S. 4. 28 Hrsgg. von A. Hieke / O. Neumaier, 2003, S. 243 ff.

II. Vergangenheitsaufarbeitung

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wählt, das fast ein typisches „Altersthema“ ist: „Zu einigen, ‚ewigen Wahrheiten‘ der Staatsrechtslehre“. Ein eigenes Anwendungsfeld hat das Thema speziell in Deutschland gefunden: bei der Frage der Sanktionen gegenüber wissenschaftlichem Fehlverhalten. Der deutsche Hochschulverband hat dazu eine Resolution verfasst (5. April 2000) und mit Erfolg die Einrichtung von unabhängigen Kommissionen an allen Hochschulen gefordert. Gegeißelt wird die „wissenschaftliche Unredlichkeit“, etwa durch Fälschung von Daten, unberechtigte Nutzung fremden geistigen Eigentums oder Behinderung der Forschungstätigkeit anderer29. Im Grunde handelt es sich um eine der Wissenschaft gewidmete spezielle Wahrheitskommission. In Portugal hat sich jüngst C. Queiroz des Themas angenommen30. Gerade in Deutschland bleibt das Wahrheitsproblem auf der Tagesordnung der Rechtswissenschaft: vor allem im Blick auf die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens31. Auf der europäischen Ebene der EU musste die Nachricht erschrecken, dass sich Griechenland seinen Euro-Beitritt „erschwindelt“ hatte32, denn sein Haushaltsdefizit lag zwischen 1997 und 1999 über der festgelegten Grenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Beruhigend ist, dass sich das deutsche BVerfG im neuesten Urteil vom 9. Juli 2007, 2 BvF 1 / 04, auf das Gebot der Wahrheit und Vollständigkeit des Haushaltsplanes festgelegt hat33(E 119, 96 (118 ff.)). Vgl. die Zeitschrift Forschung und Lehre 6 / 2000, S. 292. A Verdade e as Formas Jurídicas, FS I. de Magalhães Collaço, 2006, Bd. II., S. 921 ff. 31 Dazu gleichnamig das Buch von T. Wandres, 2000. S. auch A. Koch, Zur Strafbarkeit der „Auschwitzlüge“ im Internet: BGHSt 46, 212, in: JuS 2002, S. 123 ff. Ältere und neuere Publikationen seien zuletzt erwähnt: D. Patterson, Recht und Wahrheit, 1999, und O. Depenheuer (Hrsg.), Recht und Lüge, 2005. Ein Sammelband von R. Leicht, einem Journalisten und Juristen, trägt den Titel: „In Wahrheit frei“ (2006). 32 FAZ vom 16. November 2004, S. 11. 33 FAZ vom 10. Juli 2007, S. 1. 29 30

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4. Teil: Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen

Vergegenwärtigt man sich die jüngst eingestandene Lebenslüge des großen deutschen Dichters G. Grass in Sachen seiner SS-Zugehörigkeit einerseits (er hatte jahrzehntelang als das „Gewissen der deutschen Nation“ gegolten, umso größer war die Enttäuschung seiner Leser bzw. Verehrer vor einigen Jahren, wozu auch der Verf. gehörte), andererseits den Umgang der USA mit der in der Vergangenheit zerstörten IndianerKultur34, so ergibt sich Folgendes: Das Wahrheitsthema ist ein Menschheitsthema und sogleich ein Thema für jeden einzelnen Menschen in all seiner prekären persönlichen Existenz. Darum bleibt es ein Thema für alle Wissenschaften, vor allem für eine als Kulturwissenschaft verstandene Verfassungslehre in „weltbürgerlicher Absicht“. Die allgemeine Öffentlichkeit in Deutschland bietet viel aktuellen Diskussionsstoff, auch für den verfassungstheoretischen Rahmen dieser Studie, insbesondere auch zu den Grenzen der Aufbereitung von Vergangenheit. Genannt sei das Stichwort „Die Vermessung der Geschichte durch Gerichte“ (A. Nußberger)35. Die Verfasserin erinnert daran, dass die Vergangenheit in Bewegung ist und Richter historische Ungerechtigkeiten nicht lösen könnten. Sie verweist auf eine jüngst veranstaltet Tagung: „Bewusstes Vergessen“ der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde an der Universität Köln. Hingewiesen sei auch auf die Historiker-Kommission des Auswärtigen Amtes in Sachen Berliner „Wilhelmstraße“36. Ein Stück Erinnerungskultur spiegelt sich überdies in der Diskussion um die vor 60 Jahren verkündete Charta der Heimatvertriebenen37. 34 Dazu FAZ vom 5. Okt. 2004, S. 36: „Die große Lüge“, aus Anlass eines neuen Museums für die Indianer in Washington. 35 FAZ vom 29. Juli 2010, S. 6. 36 Dazu C. R. Browning, „Die Endlösung“ und das Auswärtige Amt, 2010. 37 FAZ vom 5. August 2010, S. 8: „Ein wahres deutsches Wunder“; vgl. auch FAZ vom 9. Aug. 2010. S. 1: „Ein Gründungsdokument der Bundesrepublik“, freilich auch „kein Gedenktag“.

II. Vergangenheitsaufarbeitung

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Die Kulturlandschaft des Gartenreichs Dessau-Wörlitz38 ist ein großer Magnet für Besucher, bringt aber auch ins Bewusstsein, wie schwer es ist, einen Ausgleich zu finden zwischen Natur-, Landschafts- und Denkmalschutz39 sowie der Wirtschaftsentwicklung und der Förderung des Tourismus. H. Münkler eröffnete eine Diskussion um den „Mythischen Zauber“40. Er vertritt die These: „Politisches Handeln bedürfe auch im postideologischen Zeitalter der Einbettung in eine große, die Vergangenheit mit der Zukunft verbindende Erzählung. Sie verleihe den tagtäglich zu treffenden nüchternen Entscheidungen einen Sinn. Solche Mythen könnten Mut machen, sie seien aber immer auch ein Mittel im Kampf um die Macht“. Schon zuvor erinnert R. Müller41 im Gespräch mit H. Münkler an dessen „Mythische Neufundierung der Republik“. Genannt werden die Beispiele von Barbarossa im Kyffhäuser, die Nibelungen, Faust, das klassische Weimar, das Bauhaus in Weimar und Dessau, Luther, Canossa – der Verfasser hat schon in seiner Bayreuther Antrittsvorlesung von 198242 die historische Dimension, die die Verfassungspräambeln nachzeichnen, beschrieben und neuere Beispiele, etwa der Verfassungen in Ostdeutschland, immer wieder in Erinnerung gerufen43. Nach einem Wort von T. Judt leben wir „in einem Zeitalter des Gedenkens“. Länder und Städte wandelten sich in Museen ihrer selbst44. Der Sinn von Museen wird immer 38 Aus der Lit.: H. Küster / A. Hoppe, Das Gartenreich Dessau-Wörlitz, Landschaft und Geschichte, 2010. 39 Erinnert sei an die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, die 2010 ihr 25jähriges Jubliäum feiert. 40 FAZ vom 10. August 2010, S. 8. 41 FAZ vom 15. Juli 2010, S. 6: „Neu entstanden aus Katastrophen“. 42 Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff. 43 Nachweise in meinem Beitrag: Die Schlussphase der Verfassungsbewegung in den neuen Bundesländern, JöR 43 (1995), S. 355 (360 ff.). 44 T. Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, 2010; dazu L. Jäger, FAZ vom 28. August 2010, S. 32. – A. Kilb rügt demgegenüber die „Geschichtsvergessenheit“, von der

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4. Teil: Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen

wieder diskutiert. So sieht E. Beaucamp45 die Krise als Chance der Museen46. Er fragt auch: „Aufbruchsmoderne?“ und beobachtet sogenannte Wiederbelebungsversuche in der Kunstszene an Rhein und Ruhr47. Auch die Landschaft wird von juristischer Seite im Blick auf Natur und Kultur immer wieder behandelt48. In Deutschland leistet die Deutsche Stiftung für Denkmalschutz samt ihrem monatlich erscheinenden Magazin für Denkmalkultur in Deutschland („Monumente“) viel.

III. Museen und Bibliotheken als „Tesoro“ bzw. „Patrimonio“ des Verfassungsstaates und als Gegenstand kultureller Teilhabe der Bürger und Menschen Ein eigenes, spätes Wort verdienen jetzt die Museen. In einigen wenigen Verfassungstexten, vor allem in Österreich, Deutschland, Spanien, der Ukraine und Lateinamerika, werden sie ausdrücklich erwähnt. An berühmte praktische Beispiele aus der Lebenswelt sei erinnnert, etwa an die bürgerlichen Neugründungen im 19. Jahrhundert, die bis heute bestehen (Kunsthalle Bremen, das Städelsche Kunstinstitut in Frankfurt, die Hamburger Kunsthalle oder das Museum in Wiesbaden). Erwähnt sei auch das Jüdische Museum in New York49, das neue Rauenstrauch-Joest-Museum in Köln50 oder das Deutnahezu jede öffentliche Debatte in Deutschland zeugt (FAZ vom 8. Juni 2010, S. 31). 45 FAZ vom 2. Juli 2010, S. 36: „Nützliche Diät“. 46 Aus der wissenschaftlichen Literatur: K. Pomian, Der Ursprung des Museums, Vom Sammeln, 1987. – Die Kunsthalle in Karlsruhe sucht derzeit im „gedächtnislosen 21. Jahrhundert“ noch nach ihrer Bestimmung (FAZ vom 27. Mai 2010, S. 29). 47 FAZ vom 4. Juni 2010, S. 35. 48 Vgl. C. Desideri, Paesaggio e paesaggi, 2010. – Zu Spanien: R. Barranco Vela (Dir.), El Régimen Jurídico de la Restauración del Patrimonio Cultural, 2010. 49 Dazu etwa FAZ vom 29. Oktober 2010, S. 36. 50 Vgl. FAZ vom 23. Oktober 2010, S. 27.

III. Museen und Bibliotheken

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sche Historische Museum in Berlin. Weltberühmt sind der Prado in Madrid sowie die Vatikanischen Sammlungen in Rom. Die im Verlauf des späten 18. und 19. Jahrhunderts entstandenen „Nationalmuseen“ als universale „Menschheitsmuseen“ (British Museum 1753; Museé Français im Louvre 1793) sind ebenso berühmt wie das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg (1852)51. So verwirrend die Fülle der verschiedenen Museumsarten ist (man denke an Pinakotheken oder Glyptotheken, an Sammlermuseen, an Privatmuseen, an Universitätmuseen, an kirchliche Museen, an Volkskunde- und Heimatkundemuseen sowie an naturkundliche Museen – in Moskau gibt es ein Glinka-Museum), so reizvoll wäre es vom Verfassungsstaat her eine Theorie der Museen zu entwerfen52. Vorweg wäre zu unterscheiden zwischen vorkonstitutionellen Museen, parallel dem vordemokratischen Erbe, und intrakonstitutionellen bzw. National-Museen. Diese verarbeiten die Kulturgeschichte eines Volkes und sind eine wichtige Ressource für jeden nationalen Verfassungsstaat. Ur- und Frühgeschichtliche Museen können indes nur sehr mittelbar auf eine konkrete nationale Verfassung bezogen werden. Immerhin seien einige Verbindungslinien gewagt: Museen können einen inneren Bezug zu der Erinnerungskultur aufweisen, die, wie im Ersten Teil gezeigt, in vielen Verfassungsprämbeln zum Ausdruck kommt. Museen können aber auch in Verbindung zu den Erziehungszielen einer Verfassung stehen, etwa dort, wo in den Texten die Brücke zu anderen Völkern und Kulturen geschlagen wird – vgl. Art. 26 Ziff. 4 Verf. Bremen, auch Art. 148 WRV: „Völkersöhnung“ (hier hat auch die „Museumspädagogik“ ihren Platz). Schließlich holen die großen Museen der Welt ein Stück Kulturgeschichte der Menschheit in das jeweils nationale Verfassungshaus: in ihnen wirkt ein Stück von bisweilen nicht offiziellem Weltkulturerbe. Im GanDazu Art. „Museum“, in RGG, 4. Aufl., 2002, Sp. 1593 (1595). Aus dem reichen Beispielmaterial sei an die Stiftung „Weimarer Klassik“ in Weimar erinnert, die zur deutschen Museums- und Archivlandschaft, gerade auch in Zeiten der Krise gerechnet wird, vgl. FAZ vom 21. Oktober 2010, S. 25. 51 52

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4. Teil: Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen

zen stellen Museen wichtige Bestandteile des Kulturverfassungsrechts eines politischen Gemeinwesens dar – im Dienste kultureller Teilhabe der Bürger. Eine Kulturgeschichte der Museen kann an dieser Stelle freilich nicht einmal in Stichworten skizziert werden53. Ihre Entstehung reicht bis in die griechische und römische Antike zurück im Mittelalter gab es Reliquien- oder Schatzkammern; die bürgerliche Aufklärung hat die noch heute bekannten Museen hervorgebracht. Manche gelten als „Kathedralen der Moderne“, etwa das Guggenheim-Museum in New York oder das Jüdische Museum in Berlin von D. Libeskind, 199954. In Sachen Museen findet gerade in diesen Monaten eine lebhafte Theorie-Diskussion statt55. Gerungen wird um eine „Weltkunstgeschichte“56. Kunstbibliotheken bleiben unverzichtbar. Im Bezug auf die Bibliotheken müsste im Rahmen einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft ähnlich gearbeitet werden. In einigen Ländern nehmen die Verfassungstexte, wie gezeigt, auf Bibliotheken Bezug (etwa in Österreich, Schleswig-Holstein, Sachsen und Kenia). Auch Bibliotheken reichen bis in die Antike zurück57, erinnert sei zudem an die mittelalterlichen Klosterbibliotheken. Aus der Zeit des Humanismus und der Reformation stammen die berühmte Bibliothek in Wolfenbüttel und die Bibliothek des Königs in Paris, in Madrid und die im Vatikan. In der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden Universitätsbibliotheken, im 19. Jahrhundert Nationalbibliotheken (Bibliothèque Nationale in Paris, Bibliothek des British Museum in London und die Library of Congress in Dazu der erwähnte Artikel „Museum“, in RGG, a. a. O. Speziell zur deutschen Museumsgeschichte nach 1945 gehört die große Lebensleistung von G. Adriani, dazu FAZ vom 15. November, S. 36: „Unser Blick in die Moderne“. 55 Dazu H. Ritter, Die teure Zeitgenossenschaft, FAZ vom 13. November 2010, Z1: „Kunst ist eine Frage ihrer Bedeutung. Und die wird vor allem durch die Museen geschaffen“. – Vgl. noch S. 152. 56 Vgl. FAZ vom 22. Oktober 2010, S. N3. 57 Vgl. Artikel „Bibliothek“, in: RGG, 4. Aufl., 1998, Sp. 1539 ff. 53 54

IV. Amnestien, Sperrfristen im Archivwesen

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Washington)58. Die in lateinamerikanischen Verfassungen normierten Klauseln zum kulturellen „Schatz“ eines Volkes beziehen ohne Zweifel die verschiedenen Arten von Bibliotheken ein. Auch hier gibt es Verbindungslinien zum Kulturverfassungsrecht – ähnlich wie dies bei den Museen gezeigt wurde. Freilich darf die informationstechnische Revolution unserer Zeit nicht übersehen werden59. Hier drohen Gefahren für die Erinnerungskultur und das kulturelle Erbe (das „totale digitale Gedächtnis“).

IV. Amnestien, Sperrfristen im Archivwesen, Herausforderungen für den Verfassungsstaat Im Verfassungsstaat wird es darauf ankommen, die richtige Balance zwischen notwendigem Erinnern und heilsamem Vergessen zu finden. Die Geschichte ist hier in mancherlei Hinsicht ein Lehrmeister (im Sinne Ciceros): Die Amnestie – sie dient einem Aussöhnungsprozess, ist in vielen Verfassungsstaaten ausdrücklich geregelt und bald dem Staatsoberhaupt (so in den USA und dem Kongress), bald dem Parlament vorbehalten (so in der Schweiz) – hat ihr ältestes Beispiel im antiken Athen. Das Wort „amnestia“ findet sich zum ersten Mal im Jahre 404 v. Chr.60. Heinrich IV. verlangte 1594 nach seinem Einzug in Paris, aus den Protokollen des Pariser Parlaments alle Angriffe gegen ihn zu entfernen, damit er sie nie zu lesen bekäme: ein kluger Akt bewussten Vergessens, der der Versöhnung dienen kann. Nach dem Ende der Diktatur Cromwells erließ Karl II. 1660 den „Act of indemnity“, mit dem der König die während eines bestimmten Zeitraums begangenen 58 In Berlin gibt es eine Philologische Bibliothek der Freien Universität, dazu FAZ vom 22. Oktober 2010, S. N5. 59 Vgl. C. Kurz, Die Lücke im Netz, FAZ vom 12. November 2010, S. 36: „Aber wir fragen zu selten nach der Zuverlässigkeit der Speichermedien, die unser kulturelles Erbe bewahren sollen. Hat die digitale Kultur ein Gedächtnis wie ein Sieb?“. 60 Dazu und zum Folgenden: H. Quaritsch, Diskussionsbeitrag in VVDStRL 51 (1992), S. 130.

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4. Teil: Ein Theorierahmen für „Denk-Mal“-Themen

Verbrechen amnestierte. Schließlich normierte Art. 11 der französischen Charte Constitutionelle von 1814: „Jede Nachforschung nach den Meinungen und Stimmabgaben bis zur Wiederherstellung des Königtums ist verboten. Dieses Vergessen ist auch den Gerichten und den Bürgern auferlegt.“ Bekannt sind die Amnestien in Südamerika, etwa die Generalamnestie von El Salvador (1993) im Blick auf den Bürgerkrieg und die damals begangenen Kriegsverbrechen (1980 – 1992) in der Diktatur. Argentinien hat kürzlich solche Amnestien rückgängig gemacht (2007). Ein glückliches Beispiel dafür, dass die Gründung eines Museums der Versöhnung zwischen zwei Völkern dient, findet sich in Istanbul: Kemal Atatürk machte nach der Gründung der Republik 1923 die „Hagia Sophia“ zu einem Museum, also gerade nicht zu einem sakralen Gebäude des Islam61. Ein eigener Merkposten sind die Sperrfristen, die die Archivgesetze einzelner Bundesländer in Deutschland sowie das Bundesarchivgesetz62 der Zugänglichkeit der Aktenbestände auferlegen (bekannt ist das Bundesarchiv in Koblenz). Spektakulär ist der derzeitige Streit, um die Sperrfristen für Akten des BVerfG. Sie gelten heute noch als geheim, im Gespräch ist die Einführung einer gesetzlichen Frist von 90 Jahren. Die „Münsteraner Resolution“ des deutschen Rechtshistorikertags plädiert 2010 bei den Karlsruher Akten für Fristen von den üblichen dreißig und maximal sechzig Jahren63. In dieser Kontroverse geht es in der Tiefe um die Frage, ab wann geschichtliche Vergangenheit in der Gegenwart für die Zukunft aufgearbeitet werden kann: im Sinne kultureller Teilhabe. Eine große „Lebenslüge“ der Bundesrepublik Deutschland in Sachen „Auswärtiges Amt“ und dessen Verstrickung in das NS-Regime wurde jüngst durch das Buch „Das Amt“ mit großem in- und ausländischem Presseecho aufgedeckt. 61 Dazu bzw. zu einer neuen Vereinbarung zwischen Ankara und Athen, FAZ vom 19. Mai 2010, S. 10: „Ende einer Erbfeindschaft?“. 62 Zu den deutschen Archivgesetzen: K. Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005, S. 343 f., 602 f. u. ö. 63 Dazu FAZ vom 19. Oktober 2010, S. 35.

V. Ein Resümee

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V. Ein Resümee Im Ganzen geht es um eine kulturwissenschaftliche Begründung unseres speziellen Themas. Das überreiche Textmaterial belegt, wie sehr es die Verfassungsgeber vieler Kontinente bzw. Länder beschäftigt – oft schon in den und von den Präambeln her. Zwar gibt es heute keine solche lebhafte Textdynamik wie in Sachen Umweltschutz, doch ließen sich immer wieder neue Textentwicklungen nachweisen, etwa in Afrika und Lateinamerika. Das deutsche Verfassungsmaterial ist eher „bieder“ geblieben, auch wenn sich manche Neuerungen nachzeichnen ließen (etwa in Sachen kulturelle Teilhabe an kulturellen Einrichtungen, so in deutschen Länderverfassungen, oder in der Verarbeitung von Geschichte in der Präambel). So kann es genügen, sich hier die wesentlichen Thesen der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982 / 98) in Erinnerung zu rufen: Verfassung als Kultur, der pluralistische offene Kulturbegriff. Denkmale finden sich in allen drei Arten von Kultur: der Hochkultur (Klassik-Stiftungen), der Volkskultur („Heimatkunde“) und der Alternativkultur (die Beatles im Film, Popkultur). Dass schon in den Verfassungstexten die Denkmal-Themen oft in engem Zusammenhang mit dem Schutz von Landschaft und Natur stehen, sei wiederholt: ganz im Sinne des berühmten Gedichtes von Goethe: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, ehe man es denkt, gefunden“. Zusammen mit der Hoch-, Volks- und Minderheitensprache, in der das „Nachdenken“ ja auch gefordert ist, sind die Denkmal- und Erinnerungsthemen für eine freiheitliche Demokratie unverzichtbar64. Das Nach-denken-wollen und -können des Bürgers, die entsprechenden Angebote des Verfassungsstaates (einschließlich der Kommunen) schon von den Erziehungszielen her („Völkerversöhnung“, „Kenntnisse anderer Kulturen“) bis zu den öffentlich „zugänglichen“ Museen und Bibliotheken bilden die unentbehrliche Grundierung dieses Verfassungsstaates auf seiner heutigen Entwicklungsstufe. 64 P. von Matt schreibt, dass es „keine Humanität ohne das Gedenken“ gibt (FAZ vom 2. Juni 2010, S. 30).

Ausblick und Schluss Sie können knapp sein. Dem wissenschaftlichen Selbstverständnis des Verfassers gemäß darf die Verfassungspolitik nicht vergessen werden. Was ist dem Verfassunggeber unserer Tage in Sachen Denkmal-, Erinnerungs-Themen und Kulturgüterschutz anzuraten?1 Zum einen sollte er das (möglichst wahrhaftige) „Geschichteerzählen“ der Präambel seines Verfassungswerkes vorbehalten, sodann in Gestalt von Verfassungsaufträgen, mindestens aber Kompetenznormen das Thema in der ganzen Breite vom klassischen Denkmalschutz über die Archive, Museen2 und Sammlungen bis zu Gedenkstätten, Gedächtnisorten und Erinnerungswerken normieren. Sogar an die Erziehungsziele ist zu denken und wird auch gedacht. Kein Land wird wohl je die besten konstitutionellen Textstufen ein für allemal finden und schaffen. Doch wären Alternativvorschläge zu unterbreiten, die dem Verfassunggeber bis hin zum nationalen und universalen Kulturgüterschutz Hilfestellung geben. Hier bleibt die verfassungspolitische Einbindung der Weltkulturerbestätten empfehlenswert (vorbildlich ist hier die Ukraine). Dabei ist vor Überforderungen des Bürgers in Sachen Gedächtnispolitik zu warnen, ebenso wie die staatlichen bzw. kommunalen Stellen um das Ideal der Wahrhaftigkeit bemüht sein müssen. Durchweg sollte bewusst bleiben, dass die Sache Hymnen, Feiertage, Nationalflaggen und die Denkmal-Themen im weitesten Sinne einschließlich des Kulturgüterschutzes 1 Zum „rechtspolitischen Lösungspotential“ speziell für den Kulturgüterschutz: K. Odendahl, Kulturgüterschutz, 2005, S. 651 ff. 2 Grds.: M. Kilian, Die rechtlichen Grundlagen von Sammeln und Verkaufen der Museen in Deutschland, in: D. Boll (Hrsg.), Marktplatz Museum, 2010, S. 53 ff.; s. a. W. Mößle, Handbuch des Museumsrechts 7, 1999.

Ausblick und Schluss

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zusammen gehören. Mitunter konnte schon im verfassungsvergleichenden Teil nachgewiesen werden, wie viel Verfassungsgeschichte in nationalen Feiertagen, in Nationalhymnen und Nationalflaggen gespeichert ist. Sie sind als weitere mögliche Formen für Angebote an den Bürger, nach-zu-denken, zu begreifen: als Ausdruck des „kollektiven Gedächtnisses“3 und nationaler, aber zugleich weltoffener Erinnerungskultur.

3 Die hohe Aktualität der hier behandelten Teilaspekte des Gesamtthemas lässt sich anhand von Zeitungsmeldungen und Neuerscheinungen aus wenigen Wochen seit der Drucklegung dieser Studie belegen: In Frankreich wurde Anfang Dezember die letzte nach Marschall P. Pétain benannte Straße umbenannt (FAZ vom 4. Dezember 2010, S. 7). Am 8. Dezember 2010 liest der Dirigent D. Barenboim angesichts des massenhaften Opernsterbens in Italien vor einer Opernaufführung in Mailand in Anwesenheit des italienischen Staatspräsidenten Art. 9 der italienischen Verfassung vor (FAZ vom 9. Dezember 2010, S. 29). In Rom soll der deutsche Maler A. Elsheimer 400 Jahre nach seinem Tod ein Denkmal bekommen (FAZ vom 14. Dezember 2010, S. 9). Dem Skulpturenpark von Chillida in San Sebastián droht die Schließung, weshalb spanische Künstler die Erhaltung als Museum fordern (FAZ vom 24. Dezember 2010, S. 36). Eine Gedenkstunde für den französischen Dichter Céline wurde kurzfristig abgesagt (FAZ vom 25. Januar 2011, S. 32). In Stolberg bei Aachen gab es Pläne für ein Denkmal für Contergan-Opfer (dazu FAZ vom 26. Januar 2011, S. 2: „Bedenken zum Gedenken“). Ende Januar fand in Berlin im Bundestag eine Gedenkstunde zum Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz statt (FAZ vom 28. Januar 2011, S. 10). In Dresden soll das geplante Denkmal zur Erinnerung an Bundeskanzler H. Kohls berühmte Rede vom 19. Dezember 1989 ohne dessen Person errichtet werden (FAZ vom 29. Januar 2011, S. 2). Im Rahmen des Aufruhrs in Ägypten kam es zu Plünderungen sogar des berühmten Nationalmuseums in Kairo, dessen Exponate zum Teil als „unantastbares, unveräußerliches und unbezahlbares Nationaleigentum“ erklärt worden waren (FAZ vom 31. Januar 2011, S. 3). – Neueste wissenschaftliche Publikationen: R. Gröschner u. a. (Hrsg.), Tage der Revolution – Feste der Nation, 2010, darin insbesondere der Aufsatz von M. Kilian, Staatsrecht und Staatssymbolik zwischen 9. November 1989 und 3. Oktober 1990, S. 221 ff., sowie von W. Heun, Der 4. Juli 1776 – Die Vergegenwärtigung der Revolution in der Erinnerungskultur der USA, S. 73 ff.; J. Wasmuth, Keine Sternstunde des Rechtsstaats: Zwei Jahrzehnte Aufarbeitung von SED-Unrecht, JZ 2010, S. 1133 ff.; J. Vogel, Kunstraub und internationales Strafrecht, JZ 2010, S. 1143 ff.; E. Stein-Hölkeskamp u. a. (Hrsg.), Die griechische Welt. Erinnerungsorte der Antike, 2010; Kulturgüterschutz – Kunstrecht – Kulturrecht, FS für K. Siehr, hrsgg. von K. Odendahl u. a., 2010.

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Ausblick und Schluss

So schließt sich ein Kreis: thematisch-wissenschaftlich der Sache nach (Stichwort: „Tetralogie“), vielleicht aber auch das persönliche Forschungsprogramm des Verfassers nach 30 Jahren.