Das Menschenbild im Verfassungsstaat [4 ed.] 9783428526352, 9783428126354

Zwei Jahre nach dem Erscheinen der mittlerweile vergriffenen Dritten Auflage (2005) wurde diese Vierte, aktualisierte un

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Das Menschenbild im Verfassungsstaat [4 ed.]
 9783428526352, 9783428126354

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 540

Das Menschenbild im Verfassungsstaat Von Peter Häberle Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

PETER HÄBERLE

Das Menschenbild im Verfassungsstaat

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 540

Das Menschenbild im Verfassungsstaat Von Peter Häberle

Vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 1988 2. Auflage 2001 3. Auflage 2005 Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12635-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort zur vierten, aktualisierten und erweiterten Auflage Zwei Jahre nach dem Erscheinen der mittlerweile vergriffenen dritten Auflage (2005) wurde diese vierte, aktualisierte und erweiterte Auflage möglich. Dafür dankt der Verf. der wissenschaftlichen Öffentlichkeit in Deutschland und Europa sowie den ersten hilfreichen Rezensenten wie W. Leisner in DVBl. 2005, S. 1117. Hatte der Verf. in seiner Theorie zur „Rezensierten Verfassungsrechtswissenschaft“ (1982) noch davon gesprochen, dass den Rezensenten der „erste Zugriff“ und damit eine besondere Verantwortung für die Rezeption eines wissenschaftlichen Werkes zukomme, so ist dies bei kurz hintereinander folgenden Neuauflagen anders: Ein offenbar erfolgreiches Büchlein kann in einem Fall die Rezensionen zeitlich „überholen“. Der Verf. ist dankbar für das seiner Monographie entgegengebrachte Interesse. Dies in einer Zeit, die der Monographie (nicht nur in Deutschland) als Literaturgattung nicht günstig ist: Riesenfestschriften, voluminöse Handbücher, Großkommentare, Sammelbände einerseits, Kurzlehrbücher andererseits, verstopfen den Weg oft genug. Dass einer deutschen Monographie jenseits von Sekundärliteratur über Weimarer Klassiker bzw. Monographien dieser selbst heute eine vierte Auflage vergönnt ist, kommt selten vor und verpflichtet zu großer Dankbarkeit. Die neue Entscheidung des BVerfG zum Menschenbild (E115, 118 (158)) ermutigt ebenso wie die vielen Erscheinungsformen der „Bilderphilosophie“ und die Fülle der neuen einschlägigen Materialien, die in Verfassungstexten jüngst herangewachsen sind. Einzelne Aktualisierungen und der „Nachtrag 2007“ versuchen dem gerecht zu werden. Das Büchlein ist ein „Wachstumsring“ zu anderen Werken des Verf., etwa der Studie „Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“ (2007), und auch ein Element der „Europäischen Verfassungslehre“ (5. Aufl. 2007). Das Ganze wird grundiert von den Theoriemöglichkeiten einer „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (1982/1998) und inspiriert durch das konstitutionelle Utopiequantum des Verfassungsstaates, auch des Völkerrechts als „konstitutionellem Menschheitsrecht“. Der Verf. dankt dem Haus Duncker & Humblot, insbesondere seinem Mitinhaber Dr. F. Simon, für die vorbildliche Betreuung auch dieser Auflage. Bayreuth, im Oktober 2007

Professor Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle

Vorwort zur dritten, erweiterten Auflage Rund drei Jahre nach ihrem Erscheinen war die zweite, ergänzte Auflage von 2001 vergriffen. Dafür dankt der Verfasser der wissenschaftlichen Öffentlichkeit in Deutschland und Europa, auch den Rezensenten, die das Werk freundlich aufgenommen haben (z. B. J. F. Lindner, ZRP 2002, S. 183; E. v. Hippel, RuP 2002, S. 82; M. Dreyer, Zeitschrift für Politikwissenschaft, 1/2003, S. 561). Weitere Teil- und Gesamtübersetzungen in andere Sprachen sind in Vorbereitung. Der Verfasser dankt dem Hause Duncker & Humblot erneut für die gute Betreuung dieser kleinen Monographie. Bayreuth/St. Gallen, im November 2004 Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle

Vorwort zur zweiten, ergänzten Auflage 1. Zwölf Jahre nach Erscheinen der ersten Auflage der kleinen Schrift von 1988 wurde eine zweite Auflage möglich. Die Erstauflage war seinerzeit im Rezensionswesen als „erste Instanz“ des wissenschaftlichen Prozesses freundlich aufgenommen worden1 und fand auch im späteren Schrifttum aller Literaturgattungen vom Kommentar (z.B. H. Dreier, in ders. [Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, Bd.1, 1996, Art.1 Rn. 99) über die Dissertation (z. B. U. Becker, Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, 1996, S. 15, 21 und passim), den Festschriftenbeitrag (z. B. W. Zöllner, Menschenbild und Recht, in: FS Odersky, 1996, S. 123 ff.; M. Brenner, Rahmenbedingungen des Menschenbildes im Gemeinschaftsrecht, in: FS Leisner, 1999, S. 19 ff.) und den Sammelband (R. Gröschner, Homo oeconomicus und Grundgesetz, in: C. Engel/M. Morlok [Hrsg.], Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 31 [40 f.]) bis zum Zeitschriftenaufsatz (z. B. P. M. Huber, Das Menschenbild im Grundgesetz, in: Jura 1998, S. 505 ff.; S. Baer, Ist Ruhe erste Bürgerpflicht?, oder: Zur Konstruktion des Bürgers durch Verfassungsrecht, in: KritV 1999, S. 5 ff.) das erhoffte wissenschaftliche Echo. Dafür dankt der Verf. ebenso, wie er dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Professor Dr. jur. h. c. N. Simon und seinem Haus für die Bereitschaft zur Veranstaltung dieser neuen – ergänzten – Auflage dankbar ist. 2. Die wissenschaftliche Monographie hat es auf dem sog. „Markt“ heute besonders schwer: Der „rasche“ Aufsatz in einer juristischen Zeitschrift (oft vorweg im Internet publiziert), die immer schneller expandierende, oft allenfalls reproduzierende Kommentarliteratur zum Grundgesetz sowie die „Riesenhandbücher“ und Tagungssammelbände beherrschen die Szene. Nach einer vielleicht „altmodischen“ Auffassung bleibt m. E. die Monographie aber nach wie vor der Eckstein der langfristigen wissenschaftlichen Entwicklung: gerade in der (deutschen) Staatsrechtslehre. Um so bedauerlicher ist es, daß viele Autoren im „Fach“ nach Dissertation und Habilitationsschrift kaum mehr die entbehrungsreichen Mühen einer weiteren Monographie auf sich nehmen. Für diese Literaturgattung sprechen indes nach wie vor ihr Grundsatzcharakter, die gebotene Gründlichkeit und unerläßliche Selbstdisziplin sowie der längere Reifungsprozeß, den sie von ihrem Autor verlangt. Ihre Wirkung ist, wenn sie methodisch und inhaltlich glückt, auf längere Zeiträume angelegt. Überdies kann sie 1 Z. B. O. Kimminich, in: DÖV 1989, S. 867 f.; H. Dreier, in: AöR 116 (1991), S. 623 ff.; E. Benda, in: Universitas 45/1 (1990), S. 401; T. Maunz, in: BayVBl. 1989, S. 319. – Eine kleine Theorie des Rezensionswesens findet sich in P. Häberle (Hrsg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982.

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im Fall ihrer Übersetzung in fremde Sprachen andere nationale Wissenschaftlergemeinschaften nachhaltig erreichen. Das ist im zur „Verfassungsgemeinschaft“ reifenden Europa von heute ebenso fruchtbar wie unentbehrlich2. 3. Begriff und Wort „Menschenbild“ dürften eine spezifisch deutsche Wissenschaftstradition haben3. Es beginnt aber über Deutschland hinaus vor allem auf andere Länder auszustrahlen. Das zeigt sich nicht nur an Übersetzungen dieser Schrift, die z. B. in Italien und Peru veranstaltet werden, es zeigt sich auch an der Faszinationskraft, die das „Menschenbild“ interdisziplinär gewinnt4. Einige Hinweise dazu finden sich im Nachwort zur italienischen Ausgabe, das in diesem Band ebenfalls abgedruckt ist: nicht so sehr aus Gründen persönlicher Eitelkeit oder stiller Genugtuung seines Autors (letzteres auch!), sondern als Beitrag zur Schaffung neuer Gesprächsforen für die einzelnen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften (hier Deutschlands und Italiens), die im Zeichen ihrer „inneren Europäisierung“ auch im Rahmen möglichst vieler Literaturgattungen entwickelt werden sollten. Das erwähnte italienische Nachwort sei dem geneigten Leser daher als integrierender Bestandteil dieser deutschen zweiten Auflage nahegelegt (unten S. 85 ff.). 4. Freilich fehlt der juristischen Behandlung des Themas „Menschenbild“ in dieser zweiten Auflage ein Brückenschlag zu der jüngst intensivierten Diskussion um das Menschenbild in den Naturwissenschaften. Die spektakuläre Bekanntgabe der Entschlüsselung des menschlichen Genoms durch den US-Präsidenten B. Clinton und den Forscher C. Venter im Weißen Haus in Washington im Jahre 2000, die neu diskutierte Frage „Who wrote the book of life“ (gleichnamig die amerikanische Wissenschaftshistorikerin L. E. Ray, 2000): die weitreichenden Folgen aus all dem für die Gentechnik am Menschen sind noch nicht absehbar und erst recht vom (ohnedies meist zu spät kommenden) Juristen noch nicht darstellbar. Verwiesen sei aber auf die m. E. schon klassische Textstufe, die die neue Bundesverfassung der Schweiz, in Kraft getreten am 1. Januar 2000, in ihrem reichhaltigen und vorbildlichen Artikel 119 geschaffen hat5: vgl. nur Sätze wie „Die Embryonenspende und Dazu meine Schrift: Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999. Vgl. als theologische Stimme etwa W. Kasper, Christliches Menschenbild und die Zukunft Europas, in: FS Hans Maier, 1996, S. 465 ff.; als philosophische Stimme: A. Baruzzi, Europäisches „Menschenbild“ und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1979; zuletzt rechtsphilosophisch: W. Brugger, Das Menschenbild der Menschenrechte, in: ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, 1999, S. 74 ff.; H. Hofmann, Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 51 ff. 4 Jüngst arbeitet sogar die Kunstwissenschaft mit dem „Menschenbild“: vgl. Kontemplation und Glück, August Mackes Menschenbild, hrsg. vom Verein A. Macke Haus e. V., Bonn 2000. 5 Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 304 ff.; Dokumentation Totalrevisionen auf kantonaler Ebene, JöR 47 (1999), S. 171 ff.; Dokumentation Schweizer Bundesverfassung, JöR 48 (2000), S. 281 ff. – Die (folgenden) Texte sind im übrigen zit. nach der fünfteiligen Serie der osteuropäischen Verfassungen, beginnend in JöR 43 (1995), endend in JöR 46 (1998), sowie der osteuropäischen Verfassungen und Verfassungsentwürfe, beginnend in JöR 39 (1990), endend in JöR 43 (1995); ferner nach: H. Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999; H. Baumann/ 2 3

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alle Arten Leihmutterschaft sind unzulässig“ oder „Mit menschlichem Keimgut und mit Erzeugnissen aus Embryonen darf kein Handel getrieben werden“, auch „Nichtmenschliches Keim- und Erbgut darf nicht in menschliches Keimgut eingebracht oder mit ihm verschmolzen werden“. Vgl. auch Art. 3 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 5. Mai 1999 (Entwurf): „Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen“. Die Menschenwürde-Garantie6 vieler verfassungsstaatlicher Verfassungen7 muß auch hier ihre normative Kraft entfalten, so wie sie sich von der Demokratie nicht trennen läßt. Menschenwürde und freiheitliches Menschenbild gehören speziell hier wie auch im allgemeinen zusammen, sind aber nicht identisch. Ob und wie sich die Naturwissenschaften auf die juristische Menschenbild-Diskussion einlassen, bleibt abzuwarten. 5. Der Verf. hofft im übrigen, daß die kleine, hier erneuerte Schrift von 1988/2001 zum „Menschenbild“ auch neben seiner Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1. Aufl. 1982, 2. stark erweiterte Auflage 1998) bestehen kann. Er hatte sie mit Absicht nicht in die Neuauflage des ebenfalls im Verlag Duncker & Humblot erschienenen Werkes von 1998 integriert, obwohl auch und gerade eine vergleichend angelegte, kulturwissenschaftlich arbeitende Verfassungslehre die Menschenbildfrage voraussetzt. Neue Herausforderungen kommen aus der rasanten Globalisierung einerseits, der unseligen (ausgerechnet nach dem annus mirabilis 1989 einsetzenden) Ökonomisierung vieler Lebensbereiche in unseren Tagen andererseits. Die internationale Gemeinschaft hat zwar in den beiden UN-Menschenrechtspakten von 1966 eine normative Basis und aus ihr zu gewinnende Menschenbild-Elemente, die die Wissenschaft nicht zuletzt auf die regionale Verortung des Menschen „vor Ort“, in der Heimat, im „Kleinen“ hinweisen können (Stichwort anthropologisch begründete „Bodenständigkeit“ – bei allem Weltbürgertum aus Kunst und Kultur, Menschenrechten und Demokratie). Überdies sind allen regionalen Menschenrechtstexten Facetten des Menschenbildes ebenso zu entnehmen (vgl. nur Präambel und Art. 2 EMRK von 1950, aber auch Art.17 EMRK, der unter dem Stichwort „Verbot des Mißbrauchs der Rechte“ auch Elemente eines pessimistischen Menschenbildes aufgreift; vgl. desweiteren Präambel AMRK von 1969 sowie Art. 2 und 5 AfrMRK von 1982), wie die M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas, 1997; Die Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, 5. Aufl. 2000 (Beck-Texte); Völkerrechtliche Verträge, 6. Aufl. 1994 (Beck-Texte); Menschenrechte, 2. Aufl. 1985 (BeckTexte); L. López Guerra/L. Aguiar (Hrsg.), Las Constituciones de Iberoamerica, 2.Aufl. 1998. 6 Dazu die Neubearbeitung des Artikels „Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft“ durch den Verf., in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl., Bd. II, 2004, S. 22. 7 Vgl. auch die Verfassungstexte: Art. 1 (alte) Verf. Peru von 1979; Art. 17 Abs. 1 Verf. Georgien von 1995; Präambel Verf. Moldau von 1994, ebd. Art. 47 Abs. 1: „würdiger Lebensstandard“; zuletzt etwa Präambel und Art. 30 Verf. Polen von 1997, Präambel und Art. 8 Verf. Namibia (1990); Art. 10 Verf. Südafrika von 1996; Sect. 4, 26 Verf. Thailand von 1997; Art. 7 Abs. 1 Entwurf der Kantonsverfassung von Neuenburg vom 25. April 2000.

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Diskussion um universale Menschenrechte im ganzen sich auf die Menschenbildfrage verwiesen sieht. Die Menschenwürdeformel im zweiten Passus der Präambel der UN-Charta, in Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und im Einleitungspassus der UNESCO-Satzung wirkt als Leitbild8. Die Präambel des IPbürgR (1966) kennt nicht nur Menschenrechte, sondern auch Menschenpflichten und weiß so um die Gemeinschaftsgebundenheit der individuellen Freiheitswahrnehmung wie um den Du-Bezug der Menschenwürde. Die in der völkerrechtlichen Diskussion immer wieder neu formulierte Frage nach der staatlichen Souveränität setzt das Menschenbild-Denken letztlich voraus9: Souveräner Entscheidungsmacht bedarf es deshalb, weil der Mensch – individuell wie kollektiv – zu Machtmißbrauch neigt. Das „Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung“ (1966) ist Zeugnis des „Menschenbildes im Völkerrecht“ in doppelter Hinsicht: Es setzt die angeborene und unveräußerliche Würde des Menschen voraus und es verarbeitet die historische Erfahrung, daß der Mensch ein Potential zur Unterdrückung, gar Vernichtung des als „anders“ oder „fremdartig“ Empfundenen in sich trägt. Menschenbildtexte finden sich schließlich in der UN-Folterkonvention von 1984 (Präambel), der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 (Präambel, Art.2) oder der Völkermordkonvention von 1948 (Präambel, Art. I). Im übrigen bleibt es eine interdisziplinäre Aufgabe vieler Wissenschaften, insbesondere der Rechtswissenschaft, der Verabsolutierung des „Marktes“ und der Vereinseitigung der Denkfigur des „homo oeconomicus“ kraftvoll entgegen zu wirken10. Stichwort ist etwa die neue Synthese von sozialer und ökologischer Marktwirtschaft (vgl. Art. 42 Abs. 2 Verf. Brandenburg von 1992). Ob die Wirtschaftsethik dem „entfesselten“ Kapitalismus entgegen wirken kann, ist wohl offen11. Die Verfassungslehre kann immerhin auf „gut gemeinte“ Texte verweisen wie das Ziel einer gerechten Gesellschaft, „in der die Wirtschaft im Dienste des Menschen steht und nicht der Mensch im Dienste der Wirtschaft“ (Präambel alte Verf. Peru von 1979). Auch sei auf die Bemühungen um eine Verfassungstheorie des Marktes verwiesen12. Daß das „Menschenbild“ hier grundlegend relevant ist, wird jüngst sogar von Politikern erkannt13. Dazu M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001. So schon W. Hennis, Das Problem der Souveränität, 1951, S. 37, 131 und öfter. 10 Beifall verdient daher Art. 3 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Entwurf vom 5. Mai 2000: „Verbot, den menschlichen Körper und Teile davon zur Erzielung von Gewinnen zu nutzen“ (zit. nach JöR 49 [2001], S.31 ff.). Schwer nachvollziehbar bleibt die These von G. Kirchgässner: „Es gibt keinen Gegensatz zwischen dem Menschenbild des Grundgesetzes und dem homo oeconomicus!“ (in: C. Engel/M. Morlok [Hrsg.], a. a. O., S. 48 ff.), so anregend sie für den interdisziplinären Dialog vor Ort gewesen sein mag. 11 Dazu P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 3. Aufl., 2001. 12 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 879 ff.; jüngst zu „Staat und Markt in der Verfassungsordnung“ gleichnamig: F. Ossenbühl, FS Quaritsch, 2000, S. 235 ff. 13 A. Schavan, Bildung und Soziale Marktwirtschaft, FAZ vom 30. Sept. 2000, S. 12: „Die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft – ihre Wirtschaftsphilosophie, ihre Sozialpsycholo8 9

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6. Die Vielzahl der einzelnen Elemente des „Menschenbildes der Menschenrechte“ (W. Brugger) sind in einer sorgsamen Verarbeitung des Textstufenmaterials der internationalen und nationalen Menschenrechtsgarantien, und zwar gerade auch in ihrem Wirkungszusammenhang in Raum und Zeit, zu erschließen. In solchem Vergleich rücken folgende Aspekte in das Zentrum: „angeborene Würde des Menschen, seines Rechts auf Freiheit und seine Pflicht zu Solidarität mit den anderen“ (Präambel Verf. Polen von 1997), „das Recht eines jeden, ein menschenwürdiges Leben zu führen“ (Art. 23 Abs. 1 Verf. Belgien von 1994), der „Schutz vor Datenmißbrauch“ (§ 15 f Abs. 2 KV Aargau von 1980), der Schutz des „Intim-, Familien- und Privatlebens“ (Art. 28 Verf. Moldau von 1994), die „Treue zu den allgemeinen menschlichen Werten: Freiheit, Frieden, Humanismus, Gleichheit, Gerechtigkeit und Toleranz“ (Präambel Verf. Bulgarien von 1991), die „Grundfreiheiten des Menschen“, sei es als Individuum oder als Mitglied von organisierten gesellschaftlichen Gruppen (Verf. Angola von 1992), „das Recht eines jeden auf die Identität der Person“ (Art. 26 Abs. 1 Verf. Portugal von 1976/92), „das Recht zur Teilnahme an der Kultur“ (Art. 57 Verf. Guatemala von 1985, ähnlich Art. 27 Verf. Malawi von 1994) bzw. das Verbot der kulturellen Diskriminierung (Präambel Verf. Äthiopien von 1994), das „Right to Honour and Reputation“ (Art. 24 Verf. Äthiopien), auch das US-amerikanische Recht auf „pursuit of happiness“ (Präambel Verf. Namibia von 1990), „the right to fair hearing“ (Art. 44 lit. c Verf. Uganda von 1995) bzw. der universale „habeas corpus“ (z. B. Art. III Sec. 10 ff. Verf. Philippinen von 1986), die Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen (Präambel nBV Schweiz von 2000), der Anspruch auf die Mittel für ein menschenwürdiges Dasein (Art.12 ebd.). Bei all dem ist das Gegenseitigkeitsprinzip elementar: vgl. bündig Art. 16 Abs. 2 Verf. Montenegro von 1992: „Jeder ist verpflichtet, die Freiheiten und Rechte anderer zu achten“. Auch der Minderheitenschutz hat schon eine gute menschenrechtliche Textstufe erreicht, wenn Art. 33 Verf. Slowakei von 1992 normiert: „Die Angehörigkeit zu einer nationalen Minderheit oder ethnischen Gruppe darf niemandem zum Nachteil gereichen“. Erziehungsziele wie die „Entwicklung zur selbstverantwortlichen Persönlichkeit“ (Art. 36 KV Appenzell A. Rh. von 1995; vgl. auch Art.27 Abs. 1 Sachsen-Anhalt von 1992) gehören hierher. Vor allem das aus der Menschenwürde folgende „Maßgabegrundrecht auf Demokratie“ bzw. das Recht auf politische Mitgestaltung (vgl. Art. 21 Abs. 1 Verf. Brandenburg von 1992) ist ein Eckstein im „Menschenbild der Menschenrechte“ (vgl. auch Art. 7 Verf. Südafrika von 1996: „This Bill of rights is a cornerstone of democracy“ bzw. Art. 1 Abs. 1 Verf. Paraguay von 1992: „pluralistic democracy, which is founded in the recognition of human dignity“). Das Motto der friedlichen ostdeutschen Oktoberrevolution von 1989: „Wir sind das Volk“ ist bis heute ein Beitrag zur demokratischen Verfassungslehre. gie, ihre ethischen Ansprüche, ihr Menschenbild – müssen bedacht werden“. – Vgl. zuletzt Bundespräsident J. Rau, Wir brauchen mehr Transparenz durch Wissenschaftsjournalismus, in: FAZ vom 21. Okt. 2000, S. 43: „Eine solche Art ‚Wissenschaftsgesellschaft‘, die den größten Teil von wirklicher Teilhabe ausschließt und sich damit letztlich demokratischer Kontrolle entzieht, entspräche nicht dem Menschenbild unseres Grundgesetzes“.

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Aufgabe einer universalen/regionalen Verfassungstheorie der Menschenrechte wäre es, all diese Facetten der Offenheit des freiheitlichen Bildes vom Menschen in ein zusammenhängendes Ganzes zu bringen und auch ihre Variabilität je nach den kulturellen Kontexten (z. B. Regionen) zu berücksichtigen – allerdings auf der Basis der hier ausgebreiteten, von der Wissenschaft oft nicht genug berücksichtigten positiven Text-Materialien. A limine abzulehnen sind freilich alle Arten von „Großtheorien“: sie widersprächen dem in Raum und Zeit offenen Bild des Menschen und dem Stückwerkcharakter aller Disziplinen und Künste, die darum ringen. 7. Eine analoge Textstufenanalyse wäre hinsichtlich der Bezugsgrößen „Weltbild“14, „Gottesbild“ und „Volksbild“ durchzuführen. Für sie alle sind die neuen Verfassungen seit 1989 besonders ergiebig (vgl. etwa Präambel nBV Schweiz: „Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt“; Präambel Verf. Südafrika: „May god protect our people“; Präambel Verf. Albanien [1998]: „im Glauben an Gott und/oder andere universelle Werte“; Präambel Verf. Georgien [1995]: „friedliche Beziehungen zu anderen Völkern“; Präambel Verf. Polen [1997]: „die im christlichen Erbe des Volkes und in allgemein-menschlichen Werten verwurzelte Kultur“, „Wohl der Menschheitsfamilie“). Daß das Gottesbild gelegentlich nur noch als „Alternative“ zu „anderen Quellen“ präambelhaft angerufen wird15 oder sogar ganz fehlt (so in Verf. Brandenburg von 1992), deutet auf Akzentverschiebungen in der Bilderphilosophie „Gott, Mensch, Volk und Staat“ hin. Jedenfalls muß sich die Verfassungslehre einem für alle Weltreligionen offenen Gottesbild öffnen. 8. Im Rahmen der 1988 (Erstauflage) entwickelten „Bilder-Philosophie“ nimmt das „Volk“ gemeinsam mit dem Menschen naturgemäß einen herausragenden Platz ein. Besonders in der Schweiz finden sich neuartige Umschreibungen des Bildes vom Volk, das sich Bund und Kantone in ihren jüngeren Verfassungen machen. Die Schweiz lebt auch das vom Verf. 1987 geforderte, aus der Menschenwürde fließende „Maßgabegrundrecht auf Demokratie“: Ihre „Volksrechte“ („politische Rechte“) werden gleichrangig mit den Grundrechten gedacht und praktiziert. Einige Textbeispiele spiegeln den textstufenhaft greifbaren Wandel des „Volks-Bildes“ wider: Präambel nBV 2000 spricht von „Vielfalt in der Einheit“ und verwendet die auf 14 Zum „Weltbild des Verfassungsstaates“: P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 1132 ff. Bemerkenswert ist etwa das Wort von der „einen Welt“ in Präambel Verf. Brandenburg (1992), vom Willen, „Trennendes in Europa und der Welt zu überwinden“ (Präambel Verf. Thüringen von 1993), vom „Einvernehmen mit allen Völkern in der Welt“ (Präambel Verf. Moldau von 1994), von der Namibischen Nation „among and in association with the nations of the world“ (Präambel Verf. Namibia von 1990). Eine besonders weitgehende Öffnung zur Welt bzw. zum „international law“, zur „general rule of public international law“ findet sich in der Verf. von Bosnien (1995), zit. nach W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, S. 122 (Präambel), S. 130 f. (Verfassungsgericht). 15 Vgl. Präambel Verf. Polen (1997): „... ebenso diejenigen, die an Gott glauben, welcher Quelle der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen ist, wie auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen und diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten ...“.

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A. Muschg zurückgehende glückliche Wendung, „daß die Stärke des Volkes sich mißt am Wohl der Schwachen“ (ebenso Präambel KV Basel Landschaft 1984). Auch neuere Kantonsverfassungen setzen innovative Akzente in Sachen Volk: § 2 KV Aargau (1980): „Volk und Behörden richten ihr Handeln am Rechte aus“. Präambel KV Solothurn (1986) formuliert u. a. das Ziel, „den Zusammenhang des Volkes zu wahren“. Präambel KV Appenzell A. Rh. (1995) ersetzt das Volk durch „die Frauen und Männer“ von Appenzell A. Rh.: die Bürgerdemokratie wird sichtbar (ebenso schon Präambel Verf. Brandenburg [1992] für dessen Bürger[!]). Ostdeutsche Länderverfassungen gehen ebenfalls neue Wege in Sachen „Volk“: So heißt es in Art. 5 Abs. 1 Verf. Sachsen von 1992: „Dem Volk des Freistaates Sachsens gehören Bürger deutscher, sorbischer und anderer Volksangehörigkeit an“. Erkennbar wird ein multiethnischer Volksbegriff, zumal in Abs. 2 ebd. das „Recht nationaler und ethnischer Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit auf Bewahrung ihrer Identität sowie auf Pflege der Sprache, Religion und Überlieferung“ gewährleistet ist. Präambel Verf. Sachsen-Anhalt (1992) verknüpft das Volksbild in besonderer Weise mit dem Gottes- und Menschenbild („In freier Selbstbestimmung gibt sich das Volk von Sachsen-Anhalt diese Verfassung. Das geschieht in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewußtsein der Verantwortung vor den Menschen mit dem Willen, die Freiheit und Würde zu sichern ...“.). Einige neuere ausländische Verfassungstexte liefern weitere Materialien für das heutige Bild vom „Volk“ in einer verfassungsstaatlichen Verfassung: Art. 1 Abs. 2 Verf. Kroatien (1990) definiert das Volk als „Gesamtheit freier und gleicher Bürger“. Eine neue Textstufe hat Art. 2 Abs. 1 Verf. Makedonien (1991) geschaffen („In der Republik Makedonien erwächst die Souveränität aus den Bürgern und gehört den Bürgern“); Art. 4 Abs. 1 Verf. Polen (1997) normiert ähnlich: „Die hoheitliche Gewalt in der Republik Polen gehört dem Volk“. Art. 2 Abs. 1 Verf. Slowakei (1992) revidiert das klassische Volkssouveränitätsdenken mit einem Federstrich durch den bürgerorientierten Satz: „Die Staatsgewalt geht von den Bürgern aus, die sie durch ihre gewählten Vertreter oder unmittelbar ausüben“. 9. Ein letztes Wort gelte den textstufenhaft nachweisbaren Veränderungen des Staatsbildes. Präambel Verf. Tschechien (1992) gelingt die neue Wendung: „... als freier und demokratischer Staat, der auf der Achtung der Menschenrechte und auf den Grundsätzen der Bürgergesellschaft begründet ist ...“. Art. 1 (alte) Verfassung Peru (1979) gelang der Satz: „Die menschliche Person ist der höchste Zweck der Gesellschaft und des Staates“ – was eine Nähe zum berühmten instrumentalen Staatsverständnis von Art. 1 Abs. 1 HCHE (1947) andeutet: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“ (vgl. JöR 1 [1951], S. 48). 10. Jede etwaige „Allgemeine Staatslehre“ sollte diese Textwandlungen zur Kenntnis nehmen. Die auf dem Forum des Typus Verfassungsstaat gedachte Bilder-

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philosophie der Erstauflage kann sie als „Beweisstücke“ verwenden: überzeugender als so manches Traktat, als so mancher „Lehrsatz“ herkömmlicher Staatlichkeitsideologien. Nach und nach werden die Umrisse der Menschenbild-Elemente im Verfassungsstaat erkennbar: dank einer vergleichenden Verfassungslehre. Zu all diesen Aufgaben will die hier (in Text wie Fußnoten) „nachgeführte“, erneuerte schmale Schrift einen kleinen Beitrag leisten16.

Bayreuth/St. Gallen, im November 2000 Professor Dr. Dr. h. c. mult. Peter Häberle

16 Ein neues Problemfeld gewinnt die Menschenbilddiskussion im privaten Fernsehen bzw. der nach und nach europaweit vordringenden Sendung „Big Brother“, dazu jetzt W. Schmitt Glaeser, Big Brother is watching you – Menschenwürde bei RTL 2, ZRP 2000, S. 395 (400 ff.).

Vorwort zur ersten Auflage Die hier vorgelegte Arbeit ist Teil des vom Verfasser für sein „Fach“ seit 1979 unternommenen kulturwissenschaftlichen Ansatzes, der für die Verfassungslehre 1982 in dem Büchlein „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ programmatisch gefordert und seitdem in Aufsätzen und Monographien (zuletzt: „‚Wirtschaft‘ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen“, JURA 1987, S. 577–584, bzw. „Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“, 1987) weiterverfolgt wurde. Ein Ausschnitt der hier veröffentlichten Arbeit über das Menschenbild im Verfassungsstaat wurde im Rahmen der Bayreuther Ringvorlesung „Weltbilder – Selbstdeutung und Fremderfahrung“ am 20. Februar 1988 zur Diskussion gestellt. Der Verfasser dankt insofern einigen daran beteiligten Kollegen der Universität Bayreuth für Anregungen. Dank gilt auch der Grazer Juristenfakultät bzw. ihrem Dekan B.-C. Funk, auf deren Einladung der Verfasser am 8. Juni 1988 eine „österreichische Variante“ dieser Studie vortragen durfte. Dem Verlag Duncker und Humblot bzw. seinem Geschäftsführer Herrn Rechtsanwalt N. Simon danke ich für die Aufnahme auch dieser Schrift in das Verlagsprogramm. Gewidmet ist dieses Büchlein den Bayreuther Kollegen Wilfried Berg, Diether Gebert, Wolfgang Gitter, Walter Schmitt Glaeser und Ulrich Sieber als Dank für freundschaftliche Zusammenarbeit weit über den Rahmen unserer Fakultät „Recht und Wirtschaft“ hinaus.

Bayreuth/St. Gallen, im Frühjahr 1988

Peter Häberle

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einleitung und drei „Brückenthesen“ zu anderen Disziplinen: der kulturwissenschaftliche Ansatz I. Das Menschenbild im Verfassungsstaat – ein interdisziplinär offen zu erarbeitender, zugleich spezifisch verfassungsrechtlicher Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Menschenbild im Verfassungsstaat ein Korrelat – Begriff im Spektrum der Bezugsgrößen Gottes-Bild, Welt-Bild und Volks-Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Menschenbild und Gottesbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Menschenbild und Weltbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Menschenbild und Volksbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Menschenbild – ein geschichtlicher und auch im Verfassungsstaat wandlungsoffener Begriff im Kraftfeld der „Bildertrias“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zweiter Teil Drei Vorbehalte: Aspekte des „spezifisch juristischen“ Denkens I. Die Unterscheidung von Sein und Sollen, (Verfassungs-)Recht und (Verfassungs-) Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Rechtswissenschaft als intersubjektiv vermittelbare Arbeit an – positiven – Texten . 32 III. Die Orientierung an Gerechtigkeitsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Dritter Teil Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip I. Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Elemente einer Bestandsaufnahme, erste Wertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Klassiker: das „eher pessimistische“ und „eher optimistische“ Menschenbild . . . . 2. Elemente des verfassungsstaatlichen Menschenbilds in Beispielsfeldern des positiven Rechts „gemäß“ dem GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Insbesondere: Religions-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit als Garantien von Offenheit und Pluralität der Bildertrias im Verfassungsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Insbesondere: Konsequenzen für das Menschenbild im Verfassungsrecht der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

III. Das Menschenbild – ein Leitbild, eine (Gerechtigkeits-)Maxime, ein positives Rechtsprinzip des Verfassungsstaates?, der Versuch einer rechtstheoretischen Präzisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 1. Problem, die Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Vorläufige Antworten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

Vierter Teil Schluß – Rückblick und Ausblick I. Die Selbstbescheidung des Juristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Größe seiner Aufgaben in Sachen Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachwort zur italienischen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachwort zur dritten, erweiterten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachtrag zur vierten, aktualisierten und erweiterten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil

Einleitung und drei „Brückenthesen“ zu anderen Disziplinen: der kulturwissenschaftliche Ansatz Künste und manche Wissenschaften gehen der Jurisprudenz in der Diagnose von Entwicklungen oft voraus, sie sind sensibler als wir Juristen: gedacht sei an die schöne Literatur1 oder an die Soziologie, weniger an die Theologie. Diese „Not“ des Fachs sei zur „Tugend“ gemacht: Der Erste Teil will in drei Thesen die Verbindungslinien zu anderen Disziplinen ziehen und den kulturellen Kontext einer „Bilderphilosophie“2 umreißen. Im Zweiten Teil seien abgrenzende Aspekte des spezifisch juristischen Denkens behandelt, im Dritten Teil das Menschenbild im Verfassungsstaat im stärker systematischen-inhaltlichen Zugriff; der Vierte Teil gelte einem Ausblick auf Selbstbescheidung und Größe der Aufgabe des Juristen in Sachen Menschenbild. I. Das Menschenbild im Verfassungsstaat – ein interdisziplinär offen zu erarbeitender, zugleich spezifisch verfassungsrechtlicher Begriff Das Menschenbild im Verfassungsstaat ist zwar mit den spezifischen Methoden und Inhalten der Staatsrechtslehre zu erarbeiten, doch bedeutet dieser „Selbststand“ 1 Dazu P. Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, 1983; P. Schneider, „... ein einzig Volk von Brüdern“, 1987; M. Kilian (Hrsg.), Dichter, Denker und der Staat, 1993; K. Lüderssen (Hrsg.), Goethe und die Jurisprudenz, 1999; ders., Produktive Spiegelungen, 2002. 2 Die Metapher „Bild“ hat interdisziplinäre „Konjunktur“, vgl. z.B. das Symposion der Wiener Festwochen: „Kunstbilder – Weltbilder“, FAZ vom 1.6.1987, S. 31; K.-R. Korte, Deutschlandbilder – Akzentverlagerungen der deutschen Frage seit den siebziger Jahren, Aus Politik und Zeitgeschichte, Das Parlament vom 15.1.1988, S. 45 ff. Auch die neuere Romanistik kennt Weltbildforschung, z. B. H. Krauß, Der Ursprung des geschichtlichen Weltbildes, die Herausbildung der opinion publique und die literarischen Achronien, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 1987, S. 337 ff. Siehe auch R. Rusam, Kirche und Weltbild der Physik, FS Obermayer, 1987, S. 305 ff. – Das Denken in „Leitbildern“ hat den Verf. früh beschäftigt: vgl. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 1. Aufl. 1962 (3. Aufl. 1983), S. 104 ff., 141, 148, 182, 185, 201, 210, 212, 235. Zur Menschenbildproblematik, S. 5, 40, 46, 59, 106 ff., 206 f. ebd. (und in der 3. Aufl. 1983: S. 288, 402, 419). Zu „Leitbildvorstellungen des öffentlichen Interesses“ bzw. „Gemeinwohlleitbildern“: P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970 (2. Aufl. 2006), S. 32, 123 f. ebd., S. 425 ff. auch zu richterlichen Stilfiguren wie „einsichtiger, vernünftiger Eigentümer bzw. Unternehmer“, „sachlicher Beurteiler“, „verständiger Bürger“ als Leitbildern prätorischer Gemeinwohlkonkretisierung.

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1. Teil: Drei „Brückenthesen“

der Jurisprudenz keine Absage an die Kooperation mit anderen Wissenschaften. Gerade in den Begriff „Menschenbild“ fließen z. B. naturwissenschaftliche, philosophische und sogar theologische Erkenntnisse ein: So kommt etwa das Strafrecht ohne kriminologische und medizinische Einsichten nicht aus, man denke z. B. an Fragen der Resozialisierung3; so wirken im Begriff der „Menschenwürde“ i. S. von Art. 1 Abs. 1 GG christliche Vorstellungen der Einzigartigkeit und Unverfügbarkeit des Individuums weiter, und die Philosophie eines Kant bildet heute den Basissatz für unser Verständnis der Menschenwürde; so bedürfen wir bei der Umschreibung des „ökonomischen Existenzminimums“, also dessen, was der Mensch mindestens zum Leben braucht und was ihm der Verfassungsstaat nach Art. 1 Abs. 1, 20 GG (vgl. jetzt Art. 12 nBV Schweiz von 2000) garantiert, der Wirtschaftswissenschaften. Andere Disziplinen sind „gefragt“, wenn man den neueren Forderungen nach einem „ökologischen Existenzminimum“ entspricht (vgl. auch Art.20 a)4. Das Menschenbild im Verfassungsstaat ist also zwar genuin verfassungsrechtlicher Natur, doch entwickelt es sich im Kraftfeld der Kooperation mit anderen Wissenschaften: kulturwissenschaftlich5. Sogar die Tagesliteratur6 kann hilfreich sein. Stefan Heym 3 Dazu das Strafvollzugsgesetz von 1976. – Aus der Lit.: A. Böhm, in: H. D. Schwind/ A. Böhm (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, Studienausgabe 1986, Rdnr. 10 und 11 zu § 2 – Erläuterung des Begriffs „Vollzugsziel“: „Als Vollzugsziel bezeichnet es das Gesetz, daß der Gefangene im Vollzug der Freiheitsstrafe fähig werden soll, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. (...) Das bedeutet, daß der Gesetzgeber offenbar annimmt, viele Insassen der Strafanstalten seien (noch) nicht fähig, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen, könnten aber diese Fähigkeiten im Vollzug der Freiheitsstrafe erwerben“ (so auch die einleitende Bemerkung in Rdnr. 12); siehe auch ders., a. a. O., Rdnr. 1 zu § 4 („... auch der Strafgefangene (ist) ein Bürger, für den die Rechtsgarantien des Grundgesetzes gelten. Er ist in seinen Grundrechten nur so weit beschränkt, als dies die Verfassung in der Form und in der Sache erlaubt.“ A. Böhm führt hier unter Berufung auf das BVerfG (E 33, 1 ff., 40, 276) weiterhin aus: „Die ihm aufgrund erlittener Benachteiligungen nach dem Sozialstaatsprinzip geschuldete resozialisierende Behandlung(...) bezieht den Gefangenen als zu informierende, zu beteiligende und zu aktivierende Person positiv ein.“ Zuletzt BVerfGE 98, 169 (200 ff.); 109, 133 (151); 113, 154 (164 f.). 4 Vgl. etwa D. Rauschning, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), S. 167 (181); P. Häberle, ebd. (Diskussion), S.340. Allgemein: R. Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998. Aus der Kommentarlit. zu Art. 20a GG: H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 20 a (2. Aufl. 2006). 5 Zum „Programm“ einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft mein gleichnamiges Buch von 1982, jetzt 2. Aufl. 1998. 6 In der Tagesaktualität spielt das Menschenbild ebenfalls eine Rolle. So erinnerte im Jahre 1987 der evangelische Bischof Kruse im Blick auf die Barschel/Pfeiffer-Affäre in Kiel an Luthers Auffassung vom Menschen in den Worten: „Die Unvollkommenheit des Menschen ist nicht nur ein Defekt, der erst mit dem Sündenfall gekommen wäre. Sie gehört wesenhaft zu ihm“. Der Mensch sei „zum Partner berufen“ in seiner Beziehung zu den Menschen. Aber auch in der Gottesbeziehung ist „der Mensch unvollkommen, unvollständig“. Und er fügt den Satz Pascals hinzu: „Gott nötig haben, ist des Menschen Vollkommenheit“ (FAZ vom 12.11.1987, S. 4: „Unvollkommenheit ist keine Entschuldigung“). – Siehe auch (den damaligen) Bundeskanzler H. Kohl auf dem Landesparteitag der CDU im Südwesten: „Für ein christliches Menschenbild kämpfen“ (FAZ vom 18.1.1988, S. 14). Die CDU wollte fünf Jahre nach Übernahme

II. Das Menschenbild im Spektrum Gottes-, Welt- und Volks-Bild

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formuliert in „Schwarzenberg“ (1987)7: „Alle demokratischen Verfassungen setzten Menschen voraus, die bereit und imstande waren, ihre Leidenschaften zu zügeln und mit Weitsicht und Vernunft ihre Interessen und die ihrer Nachbarn gegeneinander abzuwägen und entsprechend dem Prozeß zu verfahren“. Freilich, das populäre Wort vom „lästigen Juristen“ bzw. vom „ungeliebten Juristen“8 erleichtert uns das interdisziplinäre Gespräch nicht eben.

II. Das Menschenbild im Verfassungsstaat ein Korrelat – Begriff im Spektrum der Bezugsgrößen Gottes-Bild, Welt-Bild und Volks-Bild 1. Menschenbild und Gottesbild Die Arbeit konzentriert sich auf das „Menschenbild9 im Verfassungsstaat“: ein an sich schon großes Problemfeld. Indes sei angedeutet, daß eine freiheitliche Verfassung wie unser GG zwar gewiß den Menschen in Art. 1 als (kultur)anthropologische Prämisse von Staat und Recht, Demokratie und Gemeinwohl setzt. Doch steht dieses Menschenbild des Verfassungsrechts mit anderen kulturwissenschaftlich zu erarbeitenden Bezugsgrößen in Korrelation, ja es gewinnt seine Konturen nicht ohne diese. Ich meine Bezüge zum Gottesbild, Aspekte eines bestimmten Weltbildes und sogar Hinweise auf ein bestimmtes Volksverständnis, wenn man will „Volksbild“ oder Gemeinschaftsverständnis, Zusammenhänge, die sich schon im Wege einer vergleichenden Verfassungstextanalyse erkennen lassen. Im GG von 1949 nimmt die Präambel10 den Menschen bzw. die verfassunggebende Gewalt des Volkes in die Verantwortung vor Gott in den Worten: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor der Regierung in Bonn gemäß einem Entwurf der Parteikommission laut dem damaligen Generalsekretär H. Geißler ihre weitere Politik auf der „Grundlage des christlichen Menschenbildes“ bestimmen (FR vom 20.2.1988, S. 1). Vgl. auch NZZ vom 21.3.1988, S. 2: „M. Thatchers Menschenbild: Der aggressive Aufsteiger als Idealtypus“. 7 Vgl. unten Anm. 75. 8 E. Forsthoff, Der lästige Jurist (1955), auch in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 57 ff.; M. Heinze, Der ungeliebte Jurist, 1981; H. P. Westermann, Über Unbeliebtheit und Beliebtheit von Juristen, 1986. 9 In Meyers Enzyklopädischem Lexikon, Bd. 16, 1979, S. 64 heißt es zum Stichwort „Menschenbild“: „eine von bestimmten Fakten und/oder Vorstellungen ausgehende bzw. in den Rahmen bestimmter wissenschaftl. oder weltanschaul. Methoden- oder Denksysteme gefügte Betrachtung oder Abhandlung über den Menschen“. – In der Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl., (jetzt 20. Aufl.), 12. Band, 1971, taucht im Artikel „Mensch“ (S. 398 ff.) die Unterscheidung zwischen dem „idealistischen, materialistischen und existenzphilosophischen Menschenbild“ auf (ebd., S. 399 f.). 10 Zu Struktur und Funktion von Präambeln mein Beitrag in: FS Broermann, 1981, S.211 ff.; zur verfassunggebenden Gewalt meine Ausführungen: AöR 112 (1987), S. 54 ff. – Aus der Kommentarliteratur: H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Präambel (2. Aufl. 2004).

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1. Teil: Drei „Brückenthesen“

Gott und den Menschen“. Die Präambel der Verf. Bayerns von 1946 formuliert im Rück-Blick auf die Nazi-Zeit plastisch: „Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des Zweiten Weltkrieges geführt hat ...“.

Ähnliches wagt der Vorspruch der Verfassung von Rheinland-Pfalz von 1947: „Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft, von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern, das Gemeinschaftsleben nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit zu ordnen ...“.

Eine Synopse vieler neuerer und älterer Verfassungen zeigt, daß dem Typus „Verfassungsstaat“ ein bestimmtes traditionell christlich gefärbtes Gottesbild vorausbzw. zugrundeliegt. Und in diesem spiegelt sich dann auch das Menschenbild. So offen, ja vielfältig, heute von Verfassung wegen das Gottesbild bis hin zu seiner Negierung ist und wegen des weltanschaulich-konfessionellen Pluralismus auch sein muß, festzuhalten bleibt, daß das Menschenbild des Verfassungsstaates traditionell mit einem Gottesbild korreliert11, anders gesagt: daß es in seinem kulturellen Kontext steht. So formuliert etwa Art. 33 Verf. Rheinland-Pfalz (1947)12 als schulisches Erziehungsziel „Gottesfurcht und Nächstenliebe“ in einem Atemzug!13 2. Menschenbild und Weltbild Das Menschenbild im Verfassungsstaat hat auf eine Weise auch „die Welt“ zur mitbestimmenden und mitbestimmten Bezugsgröße. Dies überrascht nur im ersten Augenblick. Schon die Fachliteratur spricht wie selbstverständlich vom „Weltbild des Juristen“.14 Prägnant sind die Verfassungstexte selbst. Art. 1 Abs. 2 GG lautet: 11 Einzelheiten in meinem Beitrag: Gott im Verfassungsstaat?, FS W. Zeidler, 1987, S. 3 ff. – F. Nietzsches „Gott ist tot“ prägt sein Menschenbild mit – nach der Wiedervereinigung aufgrund der teils atheistischen Prägung und kulturellen Grundierung der neuen Bundesländer im Sinne eines dynamischen Verfassungsverständnisses von besonderer Aktualität. C. Schmitts dictum (Politische Theologie, 2. Ausg. 1934, S. 49), alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien säkularisierte theologische Begriffe, zeigt die Dialektik zwischen der politisch-juristischen Welt und der „jenseitigen“ sowie den Zusammenhang zwischen Welt- und Gottesbildern. 12 Zit. nach C. Pestalozza, Verfassungen der deutschen Bundesländer, 7. Aufl. 2001. 13 Die Pervertierung der Zusammenhänge von Mensch und Gott, Welt und Volksgemeinschaft hat in J. Goebbels’ Wort vom „totalen Krieg“, in den die Deutschen wie in einen „Gottesdienst“ ziehen (1944), ihre furchtbarste Stufe erreicht. 14 K. Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 2. Aufl. 1965, mit den Abschnitten „Der Mensch im Recht“, „Handlung und Arbeit im Recht“, „Der Raum im Recht“, „Die Zeit im Recht“, „Die Kausalität im Recht“, „Die Sache im Recht“; R. Weimar, Rechtswissenschaft als Weltbild, Festgabe für A. Troller, 1987, S. 351 ff. G. Radbruchs „Der Mensch im Recht“-Paradigma hat viel Folgeliteratur hervorgebracht: vgl. etwa K. Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 1. Aufl. 1950,

II. Das Menschenbild im Spektrum Gottes-, Welt- und Volks-Bild

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„Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder (!) menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (!)“. Der universale Anspruch der Menschenrechte, seit 1789 bekannt und in unserer Zeit in der UN-Erklärung von 1948 wie in den beiden UN-Menschenrechtspakten von 1966 bekräftigt, meint doch, daß die Welt nach dem Maß der Menschenrechte gestaltet werden soll15. Das GG ist noch an einer anderen Stelle „weltbildorientiert“: Es faßt in Art. 24 Abs. 2 eine Beschränkung seiner Hoheitsrechte ins Auge, „die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern“ – Weltfriede als Aspekt des Weltbildes16! Nimmt man die Bildungs- und Erziehungsziele von deutschen Länderverfassungen nach 1945 hinzu, die die „Völkerversöhnung“ mit Verfassungsrang auszeichnen17 (vgl. auch Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993), so zeigt sich, daß unser Verfassungsstaat von der Welt, wie sie sein soll, ganz bestimmte Vorstellungen hat. Und diese Vorstellungen sind zugleich Ausdruck seines Menschenbildes18. 2. Aufl. 1965, S. 26 ff.; H. Huber, Das Menschenbild des Rechts (1960), jetzt in: ders., Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht, 1971, S. 76 ff. (dazu J. P. Müller, Hans Huber: Der Mensch im Recht, in: (zweite) FS H. Huber, 1981, S. 1 ff.). Vermutlich geht die Menschenbildjudikatur des BVerfG (dazu unten bei Anm. 128 ff.) letztlich auch auf Radbruchs Ansatz zurück. – Viel Material enthält die Zürcher Dissertation von U.P. Ramser, Das Bild des Menschen im neueren Staatsrecht (Die Antinomie des Westens und des Ostens), 1958. Siehe auch U. Wesel, Juristische Weltkunde, 1984 und E.-J. Lampe, Das Menschenbild des Rechts – Abbild oder Vorbild?, ARSP – Beiheft Nr. 22, 1985, S. 10 ff.; G. Winkler, Raum und Recht, 1999, S. 226 ff. 15 Den beiden Menschenrechtspakten der UN liegen freilich in manchem unterschiedliche Menschenbilder zugrunde: Der Pakt über „bürgerliche“ Rechte etc. entspricht ganz den „klassischen“ Grundrechtskatalogen Europas seit 1789. Der Pakt über „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ ist stärker von den (ehemals) sozialistischen Staaten beeinflußt. Einigen Dissens mochte man im Rahmen von „Konvergenztheorien“ überbrücken. 16 Im Philosophischen Wörterbuch, begr. von H. Schmidt, 21. Aufl., neu bearbeitet von G. Schischkoff, 1982, heißt es zum Stichwort „Weltbild“ (S. 743): „im Unterschied von der Weltanschauung die im Zusammenhang geordnete Summe des anschaul. Wissens von der Welt, die Gesamtheit der gegenständl. Inhalte, die ein Mensch hat‘ (Jaspers)...“. – Auch in der Tagespolitik taucht das „Weltbild“ als Argument immer wieder auf. So wollte der seinerzeitige IG Metall Vorsitzende F. Steinkühler das „wirtschaftszentrierte Weltbild“ der Bonner Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP „aufbrechen“ (FAZ vom 20.2.1988, S. 11). 17 Nachweise in meinem Beitrag Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, FS H. Huber 1981, S. 211 ff. Es gibt sogar ein Beispiel dafür, daß Erziehungsziele die Welt zum Gegenstand haben. So heißt es in Art. 72 Abs. 1 der neuen Verfassung von Guatemala von 1985 (zit. nach JöR 35 (1987), S. 555 ff.): „Die Erziehungsziele sind in erster Linie die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Kenntnisse über die Welt und die nationale und internationale Kultur.“ Zum „Weltbild des Verfassungsstaates“ meine Verfassungslehre, a. a. O., S. 1132 ff. 18 Von „gegenseitiger Verspannung von Menschen- und Weltbild“ spricht auch E. Meinberg, Das Menschenbild in der modernen Erziehungswissenschaft, 1988, S. 416 Anm. 20. – Den Mensch/Gott/Welt-Bezug formulierte für die katholische Kirche Kardinal Meisner, der heutige Erzbischof von Köln (damals Berlin) in Dresden in den Worten: „In einer Gesellschaft, in der keine Transzendenz möglich ist, weil der Himmel abgeschafft ist, in der es also keinen Überstieg mehr gibt, ist der Ausstieg schon vorprogrammiert“. Wo der Himmel schwinde, werde die

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1. Teil: Drei „Brückenthesen“

Wenn das GG bestimmte Grundrechte allen Menschen zuerkennt (z. B. in Art. 3 Abs. 1 GG: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“ oder Art. 2 Abs. 1: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit“), so ist hier der – jeder – Mensch gemeint wie schon in der Menschenwürdeklausel des Art. 1 Abs. 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“). Das Dictum von der „Menschheit“, deren „Würde“ in unsere Hand gegeben sei, einem F. Schiller zu verdanken, bildet den Klassiker-Verweis auf die – ideale – Welt; ebenso ist Kants „Weltbürgertum“ zu lesen19. D. Kehlmanns „Vermessung der Welt“ (2005) ist ein neues Stichwort. Die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der UN vom 10.12.1948 formuliert von der Völkerrechtsgemeinschaft her ein bestimmtes Menschen- und Weltbild in einem Zusammenhang: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet, ...“. Ebenda wird die „Schaffung einer Welt, in der den Menschen, frei von Furcht und Not, Rede- und Glaubensfreiheit zuteil wird, als das höchste Bestreben der Menschheit“ verkündet.

Das Genfer Übereinkommen über die Fischerei und die Erhaltung der lebenden Schätze der hohen See20 vom 29.4.1958 bekennt sich im Vorspruch zu der Absicht, den „Nahrungsbedarf der ständig wachsenden Bevölkerung der Welt zu decken“. Im Völkerrecht allgemein wird der Gedanke des „sustainable development“ Leitmotiv einer Weltordnung für das 21. Jahrhundert. Auch hier wird eine normative Aufgabe im Blick auf die Welt entworfen, soll diese nach bestimmten Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsaspekten geordnet werden: eine Art „Verfassen“ der Welt! Juristische Texte wollen die Welt normativ steuern: nach Maximen der Menschenrechte, Gerechtigkeit, des Friedens etc. Noch prägnanter erklärt der Vorspruch der Satzung der Unesco vom 16.11.194521: „... daß die weite Verbreitung der Kultur und die Erziehung des Menschengeschlechts zur Gerechtigkeit, Freiheit und Friedensliebe für die Würde des Menschen unerläßlich sind und Welt „einfach zu eng“. Der Mensch lasse sich nicht auf ein „Gatter-Dasein“ „reduzieren“. Der Mensch brauche Höhe, er brauche den Allerhöchsten. Ohne Himmel sei die Erde „hoffnungslos überfordert und tödlich gefährdet“ (FAZ vom 23.2.1988, S. 4). – S. aber auch J. P. Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3.Aufl. 1999, S. 4: „Das von der kritischen Theorie (Adorno) wieder ins Zentrum des philosophischen Interesses gerückte Verbot, sich von Gott ein Bild zu machen, ist auch in der Hinsicht ernst zu nehmen, dass jedes fixe Bild des Menschen, als seines Ebenbilds, zurückzuweisen ist.“ 19 Dazu unten bei Anm. 248. 20 Zit. nach Beck-Texte, Völkerrechtliche Verträge, 6. Aufl. 1994, S. 312 ff. 21 Zit. nach F. Berber, Völkerrecht, Dokumentensammlung Bd. I, Friedensrecht, 1967, S. 120 ff.; zum Stichwort „sustainable development“ R. Streinz, Auswirkungen des Rechts auf „Sustainable Development“ – Stütze oder Hemmschuh?, in: Die Verwaltung 31 (1998), S. 449 ff.; zur „Nachhaltigkeit“ der Band von W. Kahl (Hrsg.), 2008.

II. Das Menschenbild im Spektrum Gottes-, Welt- und Volks-Bild

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eine heilige Verpflichtung darstellen, die alle Völker im Geiste gegenseitiger Hilfsbereitschaft und Anteilnahme erfüllen müssen“.

Die Rede ist vom „Schutz des Erbes der Welt an Büchern, Kunstwerken und Denkmälern der Geschichte und Wissenschaft“ (ebd. Art. 1 Abs. 2 lit. c)22 oder von „Erziehungsmethoden, die am besten geeignet sind, die Jugend der ganzen Welt auf die Verantwortung vorzubereiten, welche die Freiheit auferlegt“ (lit. b, ebd.). Freilich: Noch ist im Völkerrecht der Staat das klassische „Subjekt“, nicht der Mensch. Erst allmählich dringen jene Gedanken vor, die dem Individuum auch hier eine eigene Rechtsposition zuschreiben – sei es im Wege der Fortentwicklung sog. humanitären Völkerrechts23, sei es sonstigen Rechts. Dieser Wandel ist Ausdruck veränderter Menschen-, Staats- und Weltbilder! 3. Menschenbild und Volksbild Die letzte, dritte Bezugsgröße, in deren Kraftfeld das Menschenbild im Verfassungsstaat liegt, ist das Volk. So heißt es in Art. 20 Abs. 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Dieses Demokratie-Postulat – aus den Klassikertexten eines J.-J. Rousseau erwachsen – ist mitkonstituierend für den Verfassungsstaat. Das Bild des „souveränen Volkes“ wird heute gewiß durch naturrechtliche Ideen und kulturelle Traditionen modifiziert und normativ eingebunden. Textbeleg bildet etwa Art. 79 Abs. 3 GG, die Ewigkeitsklausel des GG24. Dennoch bleibt eine – schwer aufhebbare – Spannung zum Menschenbild. Sie läßt sich dank der Einsicht verrin22 Ausdruck des Denkens im Weltmaßstab ist die UNESCO-Liste zu Weltkulturgütern als erhaltenswertem „Kulturerbe der Menschheit“. Dazu gehören u.a. Ägyptens Pyramiden, Chinas große Mauer und auch die Bundesrepublik Deutschland mit zahlreichen Eintragungen. – Die geowissenschaftliche Alfred-Wegener Stiftung rechnet sogar das für eine Mülldeponie vorgesehene Ölschiefervorkommen „Grube Messel“ wegen der einmaligen Überlieferung von Tierund Pflanzenresten „zum hervorragendsten Natur- und Kulturerbe der Menschheit“ (FAZ vom 20.11.1987, S. 29). Natur und Kultur werden hier zu recht zusammengedacht. – Aus der Lit.: W. Fiedler, Rückführung und Schutz von Kulturgütern im geltenden Völkerrecht, in: Politik und Kultur, Heft 5, 1987, S. 19 ff.; F. Fechner u. a. (Hrsg.), Prinzipien des Kulturgüterschutzes, 1996; W. Graf Vitzthum/S. Talmon, Alles fließt. Kulturgüterschutz und innere Gewässer im Neuen Seerecht, 1998; R. Mußgnug, Die deutsche Renitenz gegen das Kulturgutrecht der EG, EuR 2000, S. 564 ff.; M. Haag, Kulturgüterschutz, JöR 54 (2006), S. 95 ff. 23 Vgl. O. Kimminich, Schutz der Menschen in bewaffneten Konflikten, Zur Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts, 1979. – Siehe noch das sog. Genfer Protokoll zum Verbot Chemischer Waffen von 1925 („Genfer Protokoll über das Verbot der Verwendung von erstikkenden, giftigen oder ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege“ vom 17.6.1925 (RGBl. 1929 II, S. 174 ff.), abgedruckt bei: J. Hinz/E. Rauch, Kriegsvölkerrecht. Textsammlung mit Erläuterungen, Übersichten und Stichwortverzeichnis, 3. Aufl. 1984, Ziffer 1519), in dessen Präambel es heißt: daß der Gebrauch dieser Waffen „mit Recht in der allgemeinen Meinung der zivilisierten Welt verurteilt worden ist.“ Vgl. hierzu weiterhin I. SeidlHohenveldern, Völkerrecht, 9. Aufl. 1997, Rdnr. 1314–1316 und Rdnr. 1323 c.; W. Däubler, Stationierung und Grundgesetz, 1982, S. 36 und 39 f. 24 Dazu vergleichend meine Verfassungslehre, a. a. O., S. 275 ff.

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1. Teil: Drei „Brückenthesen“

gern, daß die Staatsform der Demokratie heute Konsequenz der Menschenwürde ist. Aus Art. 1 Abs. 1 GG folgt ein „Maßgabegrundrecht auf Demokratie“25. Anders gesagt: Zum Menschenbild im Verfassungsstaat gehört, daß der Mensch als Staatsbürger wählen und abstimmen kann, also demokratische Mitwirkungsrechte hat. Umgekehrt ist das Volk von vorneherein auf den Menschen als Inhaber von unveräußerlichen Grundrechten bezogen (vgl. Präambel Verf. Brandenburg von 1992: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger ...“). Nur mit dieser Maßgabe geht „alle Staatsgewalt vom Volke aus“. Diese menschenrechtliche „Relativierung“ bzw. Normativierung der Volkssouveränität impliziert einen grundsätzlichen Wandel im Bild unseres GG vom Menschen und in seinem Bild vom (deutschen) Volk. Auf das Volk als Gemeinschaft verweisen aber auch Erziehungsziele wie Art. 26 Ziff. 1 Verf. Bremen von 1947: „Gemeinschaftsgesinnung“, Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern von 1946: „Verantwortungsfreudigkeit“, Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen: „Toleranz“. Hier wird der junge Mensch erzieherisch in Pflicht genommen. Im übrigen wird die Metapher „Bild“ auf weitere juristische Gegenstände angewandt. So ist etwa vom „Staatsbild“ die Rede26, es gewinnt Züge aus der Sozialstaatsklausel und vom „Kulturstaat“ her27, oder man ringt um das „Bild“ von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG28 sowie das „Europabild“ oder „Richterbild“. Das Folgende vertieft indes eine solche „Bilder-Philosophie“ und „-Jurisprudenz“ nicht weiter, vielmehr gelte alles dem durch diese Vorbemerkung „eingerahmten“ Menschenbild im Verfassungsstaat. Zu vermuten ist, daß wir als Juristen mit (Leit-) „Bil25 Dazu mein Aufsatz: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987 (2. Aufl. 1995, 3. Aufl. 2001, i. E.), S. 815 (848). – Den wohl eindrucksvollsten neueren philosophischen Entwurf zur Menschenbild-Frage liefert A. Baruzzi, Europäisches „Menschenbild“ und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1979. Hier ist (historisch) der Gottesbezug menschlicher Würde und Freiheit (bei Pico della Mirandola) aufgedeckt (S. 11), hier werden die heutigen Demokratie- und Wissenschaftstheorien in ihrem Bezug auf die Frage des Menschenbildes offengelegt (S. 95 ff.) und hier wird die vom GG dekretierte „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde als Hinweis auf die Unmachbarkeit eines Menschenbildes gedeutet (S.100 ff.); vgl. den treffenden Satz (S. 109): „Der Mensch sieht sich als das undefinierbare, freie, offene Wesen.“ 26 Z. B. B. Beutler, Das Staatsbild in den Länderverfassungen nach 1945, 1973; M. Imboden, Staatsbild und Verwaltungsrechtsprechung, 1963. – Siehe auch H.-J. Vogel, Elisabeth Seibert und das Richterbild unserer Zeit, FS H. Simon, 1987, S. 71 ff. – In Problemnähe zum „Staatsbild“ wohl C. Möllers, Staat als Argument, 2000. 27 Dazu U. Steiner/D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 7 ff.; P. Häberle, in: ders. (Hrsg.), Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 1 ff.; W. Maihofer, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 25 (S. 1201 ff.); L. Michael, Art. Kultur (J), EvStl 2006, Sp. 1353 ff. 28 Vgl. P. Häberle, Verfassungsschutz der Familie, Familienpolitik im Verfassungsstaat, 1984; A. v. Campenhausen/H. Steiger, Verfassungsgarantie und sozialer Wandel – Das Beispiel von Ehe und Familie, VVDStRL 45 (1987), S. 7 ff. Aus der Kommentarlit.: R. Gröschner, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 6. Siehe auch BVerfG E 76, 1 (45): „Das Leitbild der Einheit von Ehe und Familie ...“; ferner E 80, 81 (92): „Bild von der Familie“.

II. Das Menschenbild im Spektrum Gottes-, Welt- und Volks-Bild

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dern“ operieren (dürfen), um die Fülle des Rechtsstoffs zu ordnen, mit „Metaphern“ übergeordnete „Grundsätze“ zu erarbeiten, die heuristischen Zwecken dienen, zugleich auch „Vorverständnisse“ offenlegen und rationalisieren; systemtheoretisch gesprochen: es geht um Reduzierung von Komplexität, um Orientierung. Diese „Bilder“ steuern das juristische Denken und Handeln als „Vorurteil“ oder „Vor-Verständnis“ (J. Esser), ex post als „Nachverständnis“29. Im juristischen Gebrauch sind alle Bilder dieser Art immer der Versuch, eine Ganzheit zu benennen, die hinter den „positiven“, oft diffusen und fragmentarischen Regelungen, Begriffen, Grundsätzen etc. vielfach unbewußt steht30. „Bilder“ haben eine finalistische Auslegungsaufgabe wie sie dem Juristen in der „teleologischen“ Methode31 wohl vertraut ist. Sie wollen die Auslegung auf sich hin „leiten“, und sie besitzen eine konsensstiftende Funktion. Sie dienen der Integrierung des Neuen in die alten Bilder, eine dem Juristen geläufige Aufgabe; sie ist lösbar dank der Offenheit vieler Bildelemente. Gefahren liegen in einer möglichen „Ideologieanfälligkeit“. Freilich: besonders der Jurist dürfte den Wandel der für ihn relevanten „Bild-Elemente“ meist erst a posteriori erkennen. Gerade in der Rechtsordnung schichten sich vermutlich am ehesten verschiedene Bilder (Fragmente) aus verschiedenen Epochen übereinander und ineinander – wegen der spezifischen Statik und Dynamik der Entwicklungsprozesse des Rechts (Stichwort „Ungleichzeitigkeit“, Pluralität der im Recht ausgeformten Welt-, Menschen- und sonstigen Bilder)32. 29 Dazu mein Beitrag, Zeit und Verfassung (1974), in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 59 (78 ff.), jetzt 3. Aufl. 1998. 30 Nach F. H. Tenbruck, Die unbewältigten Sozialwissenschaften, 1985, S. 55 hebt ein Weltbild „aus der Wirklichkeit diejenigen Tatsachen und Ordnungen heraus“, „die dem Menschen wichtig oder wissenswert sind, ihm also etwas bedeuten“. Für R. Zippelius, Die Bedeutung kulturspezifischer Leitideen für die Staats- und Rechtsgestaltung, 1987, S. 8 meinen „Weltanschauung“ und „Weltbild“ – Vorstellungen, mit denen versucht wird, das denkende Subjekt, die erfahrbare Welt und ihren – die Erfahrung transzendierenden – letzten Grund in einen Gedankenzusammenhang zu bringen und als ein sinnvolles Ganzes darzustellen“. – In der Brockhaus Enzyklopädie, 17. Aufl. (jetzt 20. Aufl.), 20. Band, 1974, S. 180 f. findet sich ein eigener Artikel „Weltbild“ mit der Eingangsumschreibung: „Die in geistiger Distanz zur Vielfalt der unreflektierten Realität entworfene Vorstellung vom Ganzen der erfahrbaren Wirklichkeit, die in sich mehr als nur die Summe von Einzelerfahrungen begreift und damit den Grund einer alle Lebensbereiche prägenden geschichtlichen Kultur bilden kann. Oft ist das W. Ausdruck der Religion, insofern diese die gegenwärtige Welt nach einem transzendenten Sinngrund befragt, auch der Weltanschauung. W. ändert sich im Verlauf der Geschichte mit ihren geistesgeschichtlichen Voraussetzungen ...“. 31 Dazu etwa Larenz (unten Anm. 45). 32 So war die Weimarer Verfassung von 1919 dem BGB von 1900 etwa in Sachen „Sozialbindung des Eigentums“ voraus (vgl. Art. 153 Abs. 3 WRV, auch Art. 14 Abs. 2 GG einerseits, § 903 BGB andererseits); dasselbe gilt für die Gleichstellung der unehelichen Kinder (Art.121 WRV bzw. 6 Abs. 5 GG). Umgekehrt können sich auch einmal gewandelte Menschenbildelemente im einfachen Recht früher durchsetzen als im Verfassungsrecht (z. B. im Umweltrecht). – Die jetzt eingeführte sog. eingetragene Lebenspartnerschaft wird zum Testfall des

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1. Teil: Drei „Brückenthesen“

III. Das Menschenbild – ein geschichtlicher und auch im Verfassungsstaat wandlungsoffener Begriff im Kraftfeld der „Bildertrias“ Schon bisher war hier immer wieder vom Wandel der „Bilder“ die Rede, die ein Ensemble von Zusammenhängen und Wechselwirkungen konstituieren. Wir erinnern uns der Infragestellung des theonomen Welt-, Staats- und Menschenbildes durch Renaissance und Reformation bzw. Religionskriege sowie der Entwicklung des vernunftrechtlichen Menschen- und Staatsbildes der Aufklärung bzw. der Menschenrechte, wie sie der westliche Verfassungsstaat in den großen Daten von 1776, 1787 und 1789 begründet hat. Die Staatsrechtslehre kann ihre „Bilder“ von diesen Prozessen abendländischer Kulturdynamik nicht ausnehmen. Das sei am Beispiel des „Menschenbildes“ skizziert. Die vorkonstitutionellen Prozesse, die zum Menschenbild unseres GG hinführten, sind ihrerseits geschichtlich: die Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem I. Kants Beitrag zum heutigen Verständnis der Menschenwürde als Rechtsprinzip belegen dies. Die Subjektstellung des Menschen zum archimedischen Punkt des Verfassungsstaates zu machen, ist das Ergebnis eines langen Prozesses bis zur Schwelle des GG. Das Menschenbild des GG „gefriert“ aber nicht etwa im Jahre 1949, es wandelt sich auch „in“ seinem Verfassungsstaat (auf das „annus mirabilis“ 1989 und den Wiedervereinigungsprozeß als besonderen Impetus sei ausdrücklich verwiesen, auf die fortschreitende Europäisierung ebenso), es ist hier nicht etwa zur ungeschichtlichen Konstante „geronnen“ – das verhindert schon die Entwicklung der anderen Wissenschaften und der Wandel der Kultur im Ganzen, kurz die „Zeit“. Jüngste Vorgänge bestätigen, daß das Menschenbild unserer Verfassung und mit ihm das Weltbild entwicklungsoffen bleibt. Das zeigt sich vor allem an neuen ökologischen Grundsatzfragen: Der Mensch begreift seine bislang von ihm zum Objekt gemachte und als solche behandelte Welt und Natur als „Um- und Mitwelt“, die Natur als anvertrauten „Garten“, er ringt um einen „Frieden mit der Natur“ (K. M. Meyer-Abich), er fragt nach „Eigenrechten der Natur“33. Das alles bedeutet für die „Bilder-Problematik“: Der Mensch mäßigt das bisher allzu egoistische Menschenbild selbstkritisch zu einem „aufgeklärten“ Anthropozentrismus, er sieht sich die Natur neu als Teil der Schöpfung „anvertraut“34, er denkt nicht „Bildes“ der Ehe nach Art. 6 Abs. 1 GG (aus der Lit.: G. Krings, Die „eingetragene Lebenspartnerschaft“ für gleichgeschlechtliche Paare, ZRP 2000, S. 409 ff.); BVerfGE 105, 313. 33 K. M. Meyer-Abich, Wege zum Frieden mit der Natur, 1984; H. Hofmann, Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 474 f. 34 Freilich dürfen diese Ansätze nicht zu einer romantischen, „naturphilosophisch verbrämten“ Sehnsucht nach einem „grünen Paradies“ führen. Ein rein „natürliches“ biologisches Bild von Natur und Mensch widerspräche dem Menschenwürdebild des Verfassungsstaates als einer bestimmten Etappe der Kulturentwicklung. Einen Abschied von der „anthropozentrischen Ethik“ kann es im Verfassungsstaat nicht geben. Darum ist die Schaffung einer Rechtssubjektivität für Tiere oder die Natur im ganzen abzulehnen. Das schließt nicht aus, Umweltbelange im politischen Prozeß und Rechtsschutzsystem effektiver zu Worte kommen zu lassen (etwa durch Umweltbeauftragte, Klagebefugnis von Umweltverbänden etc.). Mit der Erkenntnis der

III. Das Menschenbild im Kraftfeld der „Bildertrias“

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nur an die Umwelt von heute, sondern treuhänderisch auch an die Nachwelt von morgen35, d. h.: Der Mensch bzw. die Staatsrechtslehre entdecken angesichts der Gefahren aus dem Atom die Kategorie der „Verantwortung“36 für spätere Generationen (vgl. jetzt Art. 20a GG) – die neuen Schweizer Verfassungstexte leisten hier Vorbildliches37. Menschenbild, Weltbild und Gottesbild wirken also auf neue Weise zusammen, sogar das (nationale) Volksbild ist neu gedacht: in der Generationenperspektive. Charakteristisch wird das Präambelelement „Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt“ (so Verf. von Aargau von 1980). Die bayerische Verfassungsänderung von 1984 hat in Art. 141 Abs. 1 S. 1 die schöne Wendung gefunden: „Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist, auch eingedenk der Verantwortung für die kommenden Generationen, der besonderen Fürsorge jedes einzelnen und der staatlichen Gemeinschaft anvertraut“. Die Völkerrechtslehre spricht in bezug auf bestimmte Güter wie das Meer und seine Bodenschätze, aber auch den Weltraum oder herausragende Kulturgüter von „common heritage of mankind“. Wiederum ist es ein Vorspruch zu einem großen Vertragstext, dem sog. „Weltraumvertrag“ vom 27.1.196738, der die einschlägigen Leitbilder fast pathetisch formuliert in den Worten39:

Einbettung des Menschen, seiner Wirtschaft und Kultur in ökologische Zusammenhänge ist sowohl verantwortungsethisch als auch grundrechtsdogmatisch (intensivere soziale Grundrechtsbeschränkungen) Ernst zu machen. Nichts anderes leistet auch die neue Staatszielbestimmung aus Art. 20 a GG. – Anders als hier freilich der bedeutsame Ansatz von B. Sitter, Aspekte der Menschenwürde. Zur Würde der Natur als Prüfstein der Würde des Menschen, in: Manuskripte, 23 (1984), S. 93 ff. 35 Wir sehen also, daß das Weltbild ein bestimmtes Menschenbild vermittelt und umgekehrt. Vielleicht kann man sogar die Metapher des „Spiegelbilds“ benutzen, um den Zusammenhang zwischen Welt- und Menschenbild, auch Gottesbild, Volks- und Staatsbild zu veranschaulichen. 36 Dazu H. Hofmann, Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, 1981; P. Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: A. Mohler u. a. (Hrsg.), Die Zeit, 1983, S. 290 (335 ff.), jetzt 3. Aufl. 1989; P. Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, 1984; J. Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, 1997. 37 Vgl. VE Kölz/Müller (1984), zit. nach JöR 34 (1985), S. 551: Präambel: „Im Namen Gottes des Allmächtigen! ... im Bewußtsein der Verantwortung für die Bewahrung einer gesunden und lebenswerten Umwelt auch für die kommenden Generationen, in der Bereitschaft, mitzuwirken an der Linderung von Hunger und Armut auf der Welt und am Frieden zwischen den Völkern“ (ebenso 3. Aufl. 1995). – Der BundesVE von 1977 (zit. nach JöR 34 (1985), S. 536) formuliert in der Präambel ebenfalls einen Auftrag in der Welt: „Pflicht mitzuwirken am Frieden der Welt“. – Verf. Solothurn (1985) spricht in ihrer Präambel „vom Bewußtsein seiner (sc. des Volkes) Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt“. Jetzt Präambel und Art. 73 und 74 nBV Schweiz (2000); Präambel KV St. Gallen (2001). 38 Dazu P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 382 ff.: „generationenorientiertes Grundrechtsverständnis“. 39 Zit. nach Beck-Texte (Anm. 20), S. 339 ff. Weitere Texte in: S. von Welck/R. Platzöder, Weltraumrecht Law of Outer Space, 1987. Aus der Lit.: C. D. Classen, Fernerkundung und Völkerrecht, 1987; W. Graf Vitzthum, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, S. 167; E. Wins, Weltraumhaftung im Völkerrecht, 2000.

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1. Teil: Drei „Brückenthesen“ „Angespornt durch die großartigen Aussichten, die der Vorstoß des Menschen in den Weltraum der Menschheit eröffnet, in Anerkennung des gemeinsamen Interesses der gesamten Menschheit an der fortschreitenden Erforschung und Nutzung des Weltraums zu friedlichen Zwecken, in der Überzeugung, daß es wünschenswert ist, die Erforschung und Nutzung des Weltraums zum Wohle aller Völker ohne Ansehen ihres wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungsstandes fortzuführen ...“40.

Stück für Stück werden also einzelne Rechtsbegriffe neu gedacht, geänderte Grundwerte normativiert, neue Gebiete wie der Weltraum erstmals juristisch „vermessen“: weil und insoweit sich der Mensch in der Welt seines „blauen Planeten“, in seinem Verhältnis zur Natur, vielleicht auch in seinem Verhältnis zum Mitmenschen (Abbau von „Feindbildern“ in der Politik) neu definiert. Der Verfassungsstaat ist bei all diesen Wandlungen so offen, daß er Freiheit dafür gibt, das Menschenbild und das Weltbild von einem bestimmten Gottesbild aus sozialethisch zu begründen oder auch nicht. Das macht seine vielzitierte weltanschaulich-konfessionelle Neutralität41 aus: Es gibt keine „Staatsreligion“, vielleicht aber eine „Zivilreligion“. So mag man die Welt wieder wie in älteren Zeiten eher „kosmologisch“ oder nach wie vor gemäßigt anthropozentrisch denken. Unbeschadet der Vielfalt von Gottesbildern und Weltbildern muß aber der Verfassungsjurist als solcher immer neu am (Minimal-)Konsens über das – verbindlich-juristische – Menschenbild seines Verfassungsstaates zu einem bestimmten Zeitpunkt arbeiten. So wandelbar und offen es, wie gezeigt, ist, der Jurist hat hic et nunc Aussagen zu „seinem“ Menschenbild als Element des Rechtsverbindlichen zu treffen. Ihnen gilt das Folgende. Dabei stellt der Staatsrechtslehrer die Frage (Kants): Was ist der Mensch42, wie soll er sein?, was kann er sein? Wir assoziieren vielleicht Sophokles’ „Viel Gewaltiges lebt, aber nichts ist gewaltiger als der Mensch“ (aus seiner „Antigone“), denken an Aristoteles’ „zoon politikon“ oder an das jüdisch-christliche Verständnis des Menschen als ein „Ebenbild Gottes“, aber auch an Goethes dictum „Die Menschheit zusammen ist erst der wahre Mensch, und der einzelne kann nur froh und glücklich sein, wenn er den Mut hat, sich im ganzen zu fühlen“ (Dichtung und Wahrheit, IX) – eine Kritik an der Subjektsphilosophie Kants (?) – oder Kants „übersinnlichen“ (intelligiblen) Menschen in uns als Vernunftwesen, der sich im kategorischen Imperativ geltend macht43. 40 Mögen in der Kolonialisierung des Weltraums auch Prestigefragen der Weltmächte eine Rolle spielen – jeder will „seinen Satelliten“ postieren: die rechtliche Strukturierung des Weltraums erfolgt m. E. bisher in recht guten Bahnen (z.B. das Prinzip der Kooperation etc.). Siehe aber auch D. O. A. Wolf/H. M. Hoose/M. A. Dauses, Die Militarisierung des Weltraums, 1983. 41 Dazu für das GG: BVerfGE 12, 1 (4); 19, 206 (216); 27, 195 (201); 74, 244 (255); 93, 1 (16); K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), S. 72. – Zuletzt Art. 25 Abs. 2 Verf. Polen (1997). 42 Die Frage „Was ist der Mensch“ beschäftigt heute viele Disziplinen und Gremien: vgl. z. B. die Symposien der Päpstlichen Akademien im November 1987 zum Thema „Wissenschaft und der ganzheitliche Mensch“ und die Gründung eines „Hauses des Bündnisses für den Menschen“ in Rom (FAZ vom 11.11.1987, S. 7). 43 Die vier letzten Hinweise finden sich auch in Eislers Handwörterbuch der Philosophie, 2. Aufl. 1922, Art. Mensch, S. 393 f. Das Sophokles-Zitat ist wieder aufgegriffen im Philosophischen Wörterbuch, hrsg. von W. Brugger, 16. Aufl. 1981, Art. Mensch, S. 241 (von Lotz).

Zweiter Teil

Drei Vorbehalte: Aspekte des „spezifisch juristischen“ Denkens Die drei „Brückenthesen“ suchten nach Gemeinsamkeiten zwischen der Rechtswissenschaft und den übrigen Disziplinen. Das Bild wäre aber unvollständig, wenn das den Juristen von ihnen Unterscheidende nicht zur Sprache käme. Nur von der Basis des Spezifisch-Juristischen her kann man das allen Wissenschaften Gemeinsame erfassen, nur auf dem Hintergrund solcher „Selbstvergewisserung“ läßt sich die Menschenbildproblematik behandeln und erkennen, wie der Jurist die Welt – seine Welt – sieht. Mehr als Stichworte vermag mein Zweiter Teil nicht zu liefern. Die „Eigenarten“ des juristischen Denkens im Verfassungsstaat seien unter drei Aspekten umrissen: I. in Gestalt der Unterscheidung von Sein und Sollen bzw. (Verfassungs-)Recht und (Verfassungs-)Wirklichkeit II. Rechtswissenschaft als intersubjektiv vermittelbare Arbeit an – positiven – Texten (juristische Text- und Kulturwissenschaft) – all dies III. in Orientierung an Gerechtigkeitsprinzipien, die teils im positiven Text „stehen“ bzw. wirken, teils ihm „präpositiv“ vorausliegen. Mögen sich viele dieser Aspekte des „Juristischen“ seit der Rechts- und Staatsphilosophie der Antike, also seit mehr als 2000 Jahren entwickelt haben: Im Verfassungsstaat, dessen Geschichte bekanntlich jünger ist, sind sie in dem Maße integriert, wie sich Rechtsphilosophie und Verfassungsstaatslehre in unseren Tagen zusammenführen lassen. Im einzelnen: I. Die Unterscheidung von Sein und Sollen, (Verfassungs-)Recht und (Verfassungs-)Wirklichkeit44 Der Jurist sieht die Welt nur ausschnittsweise, er sieht – und „ordnet“ – die Wirklichkeit unter „seinen“ Gesichtspunkten. Schon die „Tatbestände“45 seiner Normen sind auf44bestimmte45Sachverhalte wertend zugeschnitten, an die dann die Rechts44 J. C. G. Röhl, Kaiser, Staat und Hof, 1987, S. 50, 52 ff., 59 f., 77, 116–140 (insbes. 124 ff.) zeigt anhand der Erörterung des Regierungssystems im Deutschen Reich unter Wilhelm II. und

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2. Teil: Aspekte des „spezifisch juristischen“ Denkens

folge geknüpft wird: vor allem i. S. des „Wenn-Dann“-Schemas (wobei das Vordringen der finalen Zweckartikel nur erwähnt sei46).46So strittig das Verhältnis von Sein und Sollen47,47Recht und Wirklichkeit durch die Jahrhunderte hindurch bis heute geblieben ist – erinnert sei an den neukantischen „Dualismus“ von Sein und Sollen, aber auch an „Überbrückungs-Paradigmen“ wie die „Natur der Sache“4848(G. Radbruch), das institutionelle Denken49,49die „soziale Funktion“50,50an alle Bemühungen dessen in der Reichsverfassung nicht vorgesehenen persönlichen Regiments ein interessantes historisches Beispiel für die Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit auf. 45 Siehe K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Studienausgabe, 5. Aufl. 1983, S. 130 ff. zur Lehre vom Rechtssatz, insbes. 130–136 zur logischen Struktur des Rechtssatzes und S. 139 f. und 150 ff. zu „Tatbestand“ und „Rechtsfolge“ als „Elemente“ eines Rechtssatzes bzw. zum logischen Schema der Gesetzesanwendung; siehe auch R. Holzhammer/M. Roth, Grundbegriffe, Bürgerliches Recht und Methodenlehre, 3.Aufl. 1986, S.226 f. zum Aufbau des Rechtssatzes und weiterhin R. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 1985, S. 25–27 (7. Aufl. 1999) hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Tatbestand und Rechtsfolge; zum gleichen C. Müller-Foell, Einführung in das Recht, 1983, S. 73–75. 46 Vgl. N. Luhmanns Unterscheidung zwischen „Konditional-“ und „Zweck-Programmen“, Lob der Routine (1964), in: ders., Politische Planung, 1971, S. 113 (118 ff.). 47 Eingehend G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, vor allem: S. 93 („Sollenssätze, Werturteile, Beurteilungen können nicht induktiv auf Seinsfeststellungen, sondern nur deduktiv auf andere Sätze gleicher Art gegründet werden. Wertbetrachtung und Seinsbetrachtung liegen als selbständige, je in sich geschlossene Kreise nebeneinander. Das ist das Wesen des Methodendualismus“); S. 96 („Sollenssätze sind nur durch andere Sollenssätze begründbar und beweisbar. Eben deshalb sind die letzten Sollenssätze unbeweisbar, axiomatisch, nicht der Erkenntnis, sondern nur des Bekenntnisses fähig.“); siehe auch S. 103, 107, 114, 203, 284. Vgl. weiterhin ders., Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1969, S. 12 zur Unabhängigkeit des Sollens von der Wirklichkeit im Gebiet der Sittlichkeit; E. Wolf, Gustav Radbruchs Leben und Werk, Einleitung zu G. Radbruchs Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 33 zur Bedeutung des Methodendualismus für G. Radbruchs rechtsphilosophische Grundeinsichten und S. 70 f. zum Dualismus zwischen Wert und Wirklichkeit, zwischen Sollen und Sein und dessen „Entspannung“ durch die Berücksichtigung der Rechts„wirklichkeit“. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1978, S. 228 f. zum Dualismus von Sein und Sollen und R. Gröschner, Theorie und Praxis der juristischen Argumentation, JZ 1985, S.170 ff. (171) zum logischen Dualismus von Sein und Sollen und dem sich zugleich konstituierenden philosophischen und methodischen Dualismus von Theorie und Praxis und von theoretisch-idealer und praktischrealer Argumentation. F. Loos, Max Webers Wissenschaftslehre und die Rechtswissenschaft, JuS 1982, S. 87 ff. behandelt die Trennung von Sein und Sollen unter dem Gesichtspunkt des Wertrelativismus und des Postulats der Wertfreiheit der empirischen Sozialwissenschaften (S. 88), erörtert die Unterschiedlichkeit von Wirklichkeits- und Werterkenntnis und beschäftigt sich mit M. Webers „Wertskeptizismus“ (S. 89). 48 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8.Aufl. 1973, z. B. S. 94 f., 116, 123, 244; ders., Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1969, S. 34 f.; ders., Rechtsidee und Rechtsstoff, Archiv f. Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie, Bd.17, 1923/24, S.343 ff.; ders., Die Natur der Sache als juristische Denkform, FS R. Laun, 1948, S.157 ff.; E. Wolf (Anm. 47), S. 69 f.; H.-P. Schneider, Gustav Radbruchs Einfluß auf die Rechtsphilosophie der Gegenwart, Nachwort zu G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 359 ff., 362 ff. zur Abschwächung des Methodendualismus durch Radbruchs Gedanken der „Natur der Sache“. 49 Speziell für die Grundrechte ausgearbeitet in meiner Freiburger Dissertation: Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (1962), 3. Aufl. 1983, S. 8 ff.

I. Die Unterscheidung von Sein und Sollen

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um „wirklichkeitsorientierte Verfassungsinterpretation“5151oder den Zusammenhang von „Normprogramm“ und „Normbereich“52:52Die Unterscheidung von Recht und Wirklichkeit konstituiert die Rechtswissenschaft – gerade weil das Recht Geltungsanspruch erhebt. Daran ändern alle Versuche zur Rechtswissenschaft „als Sozialwissenschaft“ nichts, auch nicht die Etablierung der Rechtssoziologie als „Fach“53.53Das Normative beansprucht und hat gegenüber der Wirklichkeit Selbststand, so sehr das Recht diese teils steuert, teils von dieser „gewandelt“ wird – die differenzierten Instrumente und Verfahren, in denen die Rechtsordnung auf das Problem „Zeit“ antwortet (von der Generalklausel im Zivilrecht bis zur Verfassungsänderung) gehören hierher54.54Der Praxisbezug des Rechts und seiner Wissenschaft wird denn auch immer wieder hervorgehoben55,55und der „Praxis-Test“, den die juristischen Theorien zu bestehen haben, unterscheidet sie wohl von der Philosophie56.56Für unsere „Bilder“-Problematik bedeutet dies: Der Jurist arbeitet mit dem Menschen- und/oder Gemeinschaftsbild, auch Weltbild, auf der Ebene des Sollens, aber in Perspektive auf ein Sein. Die „Faktenfeststellung“5757ist neben der Normgewinnung5858der zentrale Bereich juristischen Weltbegreifens59,59wobei schon hier 50 Für den Bereich des Zivilrechts siehe hierzu G. Boehmer, Einführung in das Bürgerliche Recht, 1954, S. 249–263: Die soziale Pflichtgebundenheit der Privatrechte; vgl. auch zur „sozialen Aufgabe des Schuldrechts“ z. B. J. Esser/E. Schmidt, Schuldrecht Bd. I Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1984, S. 6 und S. 29 f. zu sozialstaatlichen Korrekturen der Privatautonomie. 51 Dazu meine Rezension von C. Böckenförde (Die sog. Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze, 1966), in: DÖV 1966, S. 660 ff., und die Kritik von H. H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsräson, 1968, S. 15 ff., 29. 52 F. Müller, Normstruktur und Normativität. Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit in der juristischen Hermeneutik, 1966. 53 Siehe jetzt K. F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987; Th. Raiser, Rechtssoziologie, 1987 (3. Aufl. 1999: Das lebende Recht); M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 4. Aufl. 2000. 54 Dazu mein Beitrag: Zeit und Verfassung (1974), in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (3. Aufl. 1998), S. 59 ff., fortgeführt in Zeit und Verfassungskultur, in: Die Zeit (hrsg. von A. Mohler u.a.), 1983, S.289 ff. – Zum Thema „Zeit und Recht“ gleichnamig G. Winkler, 1995. 55 Z. B. K. Larenz, Methodenlehre (Anm. 45), S. 114 ff. zur Bedeutung der Jurisprudenz für die Rechtspraxis insbesondere mit Blick auf die „Hilfe“ der Rechtswissenschaft, die diese der Rechtsprechung gewährt (S. 115 f.); siehe auch R. Gröschner, Theorie und Praxis der juristischen Argumentation, JZ 1985, S. 170 ff. (172 und 174); H. Sendler, Richterrecht – rechtstheoretisch und rechtspraktisch, NJW 1987, S. 3240 ff. – Zum Problem der „Praxisänderungen“: E. Kramer, Juristische Methodenlehre, 1998, S. 207 ff. (2. Aufl. 2005, S. 250 ff.). 56 W. Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, 1982, S. 39 weist aber daraufhin, daß das Verhältnis von Rechtsphilosophie und Rechtspraxis ein „Dauerthema“ im empirischen und im bewertenden Bereich der Rechtsphilosophie darstellt (4. Aufl. 2000, S. 24). 57 K. Larenz, Methodenlehre (Anm.45), S. 181 ff. behandelt die Bedeutung des geschehenen Sachverhalts für die rechtliche Beurteilung des Richters und macht hier vor allem Ausführungen zur Tatsachenfeststellung im Prozeß (S. 182 ff.) und zur Differenzierung zwischen „Tat-“ und „Rechtsfrage“ (S. 184 ff.). 58 Dazu etwa M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967 (2. Aufl. 1976). 59 So mit Recht R. Weimar, Rechtswissenschaft als Weltbild, in: FS Troller, 1987, S. 351 (366); zu den methodischen Problemen siehe H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 271 ff.

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2. Teil: Aspekte des „spezifisch juristischen“ Denkens

den differenzierten Verfahren (etwa der Prozeßordnungen) determinierende Kraft zukommt. Daß heute der normativen Regelungen oft zu viel getan wird, zeigt die aktuelle Diskussion um das Problem der „Verrechtlichung“60,60„Deregulierung“ oder auch „Entbürokratisierung“ und „Entstaatlichung“ sowie der „Privatisierung“.6161 Der Jurist weiß „seine“ Normen und die in ihnen „angesprochene“ Wirklichkeit von anderen Kulturerscheinungen, etwa Sittlichkeit und Sitte, und ihren Ansprüchen und Wirklichkeiten zu unterscheiden, wenngleich ihre schrittweise Ausdifferenzierung aus einer früheren Einheit und Identität eine große Leistung der abendländischen Rechtskultur darstellt: sie hat individuelle Freiheit gebracht und ideellen und realen Pluralismus ermöglicht – heutige Gegenbewegungen in Gestalt des „islamischen Fundamentalismus“ zeigen dies kontrastreich und schmerzlich. So sehr die „Eigenständigkeit des Normativen“ gegenüber diesen außerrechtlichen „Systemen“ zu betonen ist, ihr – letztlich nicht voll zu erfassender Zusammenhang bleibt: von H. Heller mit Korrelation von „Normativität“ und „Normalität“ umschrieben62, von D. Schindler als „ambiance“ gedeutet63, von K. Hesse zur „Verwirklichung der Verfassung“ fortentwickelt64. II. Rechtswissenschaft als intersubjektiv vermittelbare Arbeit an – positiven – Texten Der Umgang mit und die Arbeit an „positiviert“ vorgegebenen Texten65 (einschließlich Urteilen) zeichnet den Juristen aus. Hier bestehen (Wahl-)Verwandtschaften zur Theologie, deren oberste Texte freilich auf Offenbarung beruhen, was 60 Dazu der Band von R. Voigt (Hrsg.), Verrechtlichung, 1980; F. Kübler (Hrsg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Sicherheit, 1985. 61 F. Wagener (Hrsg.), Regierbarkeit? Dezentralisation? Entstaatlichung?, 1976; ders. (Hrsg.), Verselbständigung von Verwaltungsträgern, 1976; R. Voigt (Hrsg.), Gegentendenzen zur Verrechtlichung, 1983; W. Seibel, Entbürokratisierung in der Bundesrepublik Deutschland, Die Verwaltung 19 (1986), S. 137 ff. – Zur Privatisierung: H. Maurer, Staatsrecht, 1999, S. 156 (5. Aufl. 2007, S. 148 ff.); J. A. Kämmerer, Verfassungsstaat auf Diät? Typologie, Determinanten und Folgen der Privatisierung aus verfassungs- und gemeinschaftsrechtlicher Sicht, JZ 1996, S. 1042 ff.; K. König, Rückzug des Staates – Privatisierung der öffentlichen Verwaltung, DÖV 1998, S. 963 ff.; M. Ronellenfitsch, Staat und Markt – Rechtliche Grenzen einer Privatisierung kommunaler Aufgaben, DÖV 1999, S. 705 ff. 62 Staatslehre, 1934, S. 250 ff. (Neudruck 1963). 63 Verfassungsrecht und soziale Struktur, 3. Aufl. 1950, S. 92 ff.: „Die positive Rechtsordnung setzt somit eine Ambiance voraus“ (S. 93); „Wichtigkeit des Außerrechtlichen für das Recht“ (S. 96). Siehe auch S. 70 ff.: „Parallel- und Komplementärverhältnis von Recht und Außerrechtlichem“. 64 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, S. 16 ff. (20. Aufl. 1995, Neudruck 1999). 65 Zu den spezifischen Charakteristika der Rechtssprache siehe z. B.: G. Radbruch, Rechtsphilosophie (Anm. 48), S. 202 ff. und ders., Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1969, S. 43 ff.; vgl. auch F. Haft, Recht und Sprache, in: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 3. Aufl. 1981, S. 112 ff.

II. Rechtswissenschaft als Arbeit an – positiven – Texten

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wir nicht einmal vom vielzitierten GG behaupten können! Auch erschöpft sich das Juristische nicht in der Textauslegung (man denke an die Rechtspolitik sowie die Entfaltung sog. ungeschriebenen Rechts bzw. Richterrechts)66, doch kommt in ihr seit Jahrhunderten viel Typisches zum Ausdruck. Die klassische Methodenlehre mit ihren vier „canones“ seit F. C. v. Savigny – Wortlaut, Geschichte, Systematik, telos67 – gehören zum unentbehrlichen „Handwerkszeug“ der Juristen68, so ungesichert das fallbezogene Zusammenspiel ist – eine offen praktizierte gerechtigkeitsorientierte Ergebnis-Kontrolle findet sich allzu selten69. Die Auslegungstechnik von Analogie und Umkehrschluß gehört ebenso hierher wie neuere Bemühungen um Folgenorientierung70 oder Gemeinwohlaktualisierung71, auch „Kontext“eruierung72. So sehr der Jurist immer um die Möglichkeit überpositiven Rechts weiß und um dessen Erkenntnis ringt, sei es in Gestalt von Naturrecht, Vernunftrecht oder bloß einer gemeineuropäischen Kultur- bzw. Rechtstradition i. S. „allgemeiner Rechtsgrundsätze“73: zunächst arbeitet er an den gegebenen Texten – mag deren Gehalt noch so sehr „law in action“ sein74. Der Jurist muß von positiven Rechtstexten auszugehen suchen, wenn er mit Bildern arbeitet – er „höbe“ sonst ab –, er kann diese durch „Zusammenschau“ von einzelnen Normen z. B. des GG gewinnen, wie dies bei der Umschreibung des „Menschenbildes“ schon geschieht75. Auch und gerade dem Juristen stellt sich das Verstehensproblem in bezug auf seine spezifisch verbindlichen Texte – er hilft sich dabei mit „Bildern“ als übergreifenden, Ganzheitsvorstellungen einfangenden „Mustern“. 66 Dazu der Band: Richterliche Rechtsfortbildung, FS der Juristischen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg, 1986; G. Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991; G. Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat?, JZ 2007, S. 853 ff. 67 Aus der Lit.: K. Larenz, Methodenlehre (Anm. 45), S. 195 ff.; B. Rehfeldt/M. Rehbinder, Einführung in die Rechtswissenschaft, 4. Aufl. 1978, S. 72 ff. (8. Aufl. 1995). 68 Dazu J. Esser, Bemerkungen zu Unentbehrlichkeit des juristischen Handwerkzeugs, JZ 1975, S. 555 ff. 69 Zu diesem Postulat mein Besprechungsaufsatz in: DVBl. 1988, S. 262 (267 f.). 70 Dazu G. Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981. 71 Vgl. P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, 2. Aufl. 2006, S. 528–535; R. Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999. 72 Dazu P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S.44 ff.; zur Relevanz des kulturellen Kontextes ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 58 ff. (2. Aufl. 1998, S. 633 ff.). 73 Zur EuGH-Judikatur in Sachen Grundrechte als „allgemeine Rechtsgrundsätze“: I. Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1979, S. 27 ff., 44 ff.; R. Streinz, Europarecht, 7. Aufl. 2005, S. 140 ff. 74 Vgl. J. Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 19 ff., 287, 311 (4. Aufl. 1990). 75 Dazu etwa F. Kopp, Das Menschenbild im Recht und in der Rechtswissenschaft, FS K. Obermayer, 1986, S. 53 (54 f.). – Ein Beispiel aus der „belletristischen“ Literatur für die Berücksichtigung des Menschenbildes bei der Schaffung eines republikanischen Verfassungsentwurfs für ein 1945 „zufällig“ in der Folge der Nachkriegswirren entstandenes „neues Staatsterritorium“ bietet Stefan Heym in seinem Roman „Schwarzenberg“, 1984, der auf einer tatsächlichen historischen Begebenheit beruht (Taschenbuchausgabe, 1987, S. 124 ff., insbes. S. 125).

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2. Teil: Aspekte des „spezifisch juristischen“ Denkens

III. Die Orientierung an Gerechtigkeitsprinzipien Bei aller Arbeit am positiven Recht: Der Jurist kommt ohne das Wissen von bzw. Ringen um Gerechtigkeitsmaximen nicht aus. Mehr als zwei Jahrtausende haben hier wahre „Schätze“ an „Juristenkunst“ angesammelt, auch der Verfassungsstaat, sein Menschen-, Volks- und Weltbild leben davon. Gemeint sind Gerechtigkeitslehren von Aristoteles’ Unterscheidung der „justitia distributiva“ und „commutativa“76 bzw. der Entdeckung des Zusammenhangs von Gerechtigkeit und Gleichheit (im 17. Jahrh. als „Allgemeinheit“ gedacht) über G. Radbruchs drei Elemente der Rechtsidee (Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, diese wird oft als „Formalismus“ verdächtigt, und Zweckmäßigkeit77), bis zu modernen Gerechtigkeitslehren eines J. Rawls78. Essentialia des Typus Verfassungsstaat gehören heute hinzu: etwa Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Sozialer Rechtsstaat, Kulturstaat, Gewaltenteilung. Der angloamerikanische Gedanke des „due process“ befruchtet die neueren Versuche, Gerechtigkeit aus Verfahren zu gewinnen79. Gerechtigkeit als „Fairness“ ist ein bekanntes Stichwort80. Das in der Rechtswissenschaft immer stärker werdende Denken in Verfahren81 indiziert einen deutlichen Wandel des „juristischen Weltbildes“: weg von vorgewußten a priori fixierten Inhalten hin zu offenen, erst a posteriori gewonnenen82, einschließlich der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode. Dem Nichtjuristen seien noch einige Paradigmen erläutert, die im Grunde „Vehikel“ der Gerechtigkeit sind und mit denen wir Juristen ständig, oft gar nicht mehr 76 Nikomachische Ethik (Buch V Reclam-Ausgabe 1969, S. 125 ff.). Zu dieser Unterscheidung vgl. auch G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 121 ff.; ders., Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 36 ff. Zum Begriff der Gerechtigkeit siehe im übrigen H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1985 (5. Auflage 1993), S. 149 ff. und insbes. S. 192 ff. Eine kurze problemgeschichtliche Betrachtung findet sich in: A. Kaufmann, Theorie der Gerechtigkeit, 1984. – Im Bereich des Zivilrechts etwa kommt der Gedanke der Gerechtigkeit unter dem Aspekt der Privatautonomie vor allem im Begriff der „Vertragsgerechtigkeit“ zum Ausdruck, vgl. z. B. K. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. I, Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 1987, S. 76 ff. („ausgleichende Vertragsgerechtigkeit“). S. noch Anm. 154 ff. 77 G. Radbruch, Rechtsphilosophie (Anm. 76), S. 164 ff., 192; ders., Einführung in die Rechtswissenschaft (Anm. 76), S. 35 ff. 78 Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971, deutsch 1979; vgl. aus der neueren Lit.: O. Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987; J. P. Müller, Demokratische Gerechtigkeit, 1993; J. Schubert, Das „Prinzip Verantwortung“ als verfassungsstaatliches Rechtsprinzip, 1997. 79 Speziell für die Grundrechte „umgesetzt“ in der Gestalt des „status activus processualis“: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S.43 (86 ff., 121 ff.). Vgl. auch BVerfGE 53, 30 samt Sondervotum; F. Hufen, Staatsrecht II, 2007, S. 58 ff. 80 Dazu P. Saladin, Das Verfassungsprinzip der Fairness, in: Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, 1975, S.41 ff. 81 Statt vieler P. Lerche/W. Schmitt Glaeser/E. Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984; E. Schmitt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, S. 288 ff. 82 Dazu für das Gemeinwohlverständnis in Anlehnung an E. Fraenkel: P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970 (2. Aufl. 2006).

III. Die Orientierung an Gerechtigkeitsprinzipien

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weiter hinterfragend, arbeiten: ich meine die typischen Einheits- bzw. Ganzheitsund Systemvorstellungen, greifbar im Dogma von der „Einheit der Verfassung“83, auch in H. Kelsens Lehre vom „Stufenbau der Rechtsordnung“84 – wobei die Logik m. E. nur begrenzte, rein instrumentale Bedeutung hat. Die – berufsnotwendige? – Fiktion vom Gesellschaftsvertrag, also das Vertragsmodell von Hobbes bzw. Locke bis zu Rousseau und Kant und neueren Vertretern der Staatsrechtslehre85, zuletzt alle Konsens- und Akzeptanztheorien, gehören als Paradigmen im Dienste der Gerechtigkeit ebenso hierher86 wie die „ewige“ Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Ordnung (Recht als Konfliktlösung bzw. Interessenregelung) sowie Freiheit und Gleichheit oder Einzelinteresse und Gemeinwohl. Die Spannung zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit wird oft umschrieben87. Sie besteht auch im Verfassungsstaat (angelegt in Art. 20 Abs. 3: „Gesetz und Recht“). Doch hat er Verfahren und Mindestinhalte entwickelt, die die Spannung erträglich machen. Vor allem legitimiert er sich als Staatsform der Evolution und „Stückwerk-Reform“: Der Kritische Rationalismus von Poppers „offener Gesellschaft“88 ist m. E. darum auch für den Juristen die angemessene (toleranz)philosophische Fundierung89.

83 Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Neudruck 1999), S. 11; D. Felix, Die Einheit der Rechtsordnung, 1998; A. von Arnauld, Rechtssicherheit, 2006, S. 252 ff.; zum Systemdenken: C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983. 84 Dazu etwa H. Kelsen, Reine Rechtslehre, Neudruck der 1. Auflage von 1934, 1985, S. 62 und 73–75; W. Schild, Die Reine Rechtslehre, in: A. Kaufmann/W. Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 3. Aufl. 1981 (6. Aufl. 1994), S. 103 ff. (S. 103–105 zum Stufenbau der Rechtsordnung); Th. Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung, 1975; H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, S. 129 ff. (2. Aufl. 1990). 85 Aus der Lit.: P. Saladin, Verfassungsreform und Verfassungsverständnis, AöR 104 (1979), S.345 (372 ff.); P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S.438 ff.; H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1987, S. 213 ff. – Zu Rechtsgeltung und Konsens: G. Jakobs (Hrsg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976. 86 Vgl. zur US-amerikanischen Renaissance des Vertragsdenkens P. Koller, Neue Theorien des Sozialkontrakts, 1987. S. auch zuletzt H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 3. Aufl. 2006, S. 60 ff. 87 Dazu etwa der von W. Maihofer herausgegebene Band: Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 3. Aufl. 1981; ders. (Hrsg.), Begriff und Wesen des Rechts, 1973; E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 176 ff.; H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, S. 237 ff. 88 K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bde., 4. Aufl. 1975 (Band I: Der Zauber Platons, 6. Aufl. 1980, S. 233 ff.). 89 Der Verf. bemüht sich darum seit 1971: Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (72 f.); Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (3. Aufl. 1998), passim z. B. bes. S. 107 ff., 171 f.; auch in inhaltlicher Ergänzung vom Kulturellen her: AöR 110 (1985), S. 577 (590 ff.). – Weitere Literatur etwa: R. Zippelius, Rechtsgewinnung durch experimentierendes Denken, FS H. Huber, 1981, S. 143 ff.

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2. Teil: Aspekte des „spezifisch juristischen“ Denkens

Die Skizze dieser Abgrenzung des Juristischen von anderen Disziplinen sei jetzt abgebrochen. Sie wäre eigener Behandlung wert90. Hier war nur offenzulegen, „wie“, d. h. mit welchen Instrumenten,90Verfahren, Inhalten, Denkmustern und Paradigmen der Jurist spezifisch juristisch in „seiner Welt“ arbeitet, „untergründig“ auch in der Umschreibung des Menschenbilds im Verfassungsstaat. Das interdisziplinäre Gespräch91,91etwa über Weltbilder, muß dies in Rechnung stellen. Der Verfassungsstaat liefert als solcher freilich ein einzigartiges Forum der Kommunikation und Integration. Vielleicht kann man von der „Stellung des Menschen in der Welt des Verfassungsstaates“ sprechen.

90 Zur Grundlagen-Literatur dieser Fragestellung gehört etwa C. Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934; siehe auch Versuche des Verf. zum „Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken“ in der Verfassungstheorie, in: Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978 (3. Aufl. 1998), S. 17 ff. 91 Vgl. D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Band 1, 1973; Band 2, 1976. Spezieller, aber lohnend: C. Engel/M. Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998; ergiebig auch W. Brugger (Hrsg.), Die Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996; T. Raiser, Grundlagen der Rechtssoziologie, 4. neu gefasste Aufl. 2007; B. Rüthers, Rechtstheorie, 3. Aufl. 2007.

Dritter Teil

Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip I. Problem Der Typus „Verfassungsstaat“ statuiert kein „einheitliches Menschenbild“, vielmehr setzt er einen Menschen voraus, der ebenso komplex wie widersprüchlich ist, und er erfaßt den Menschen nur in Teilaspekten und hier je differenziert nach den einzelnen Problemfeldern, insoweit aber verbindlich. Er will den Menschen nehmen wie er in Natur und Kultur ist bzw. geworden ist (zu einem Gran vielleicht auch dank der Entwicklung des Verfassungsstaates als Typus!). Der Verfassungsstaat lehnt mit seinem Menschenbild implizite alle Ideologien92 der Hervorbringung eines wie immer gearteten „neuen Menschen“ ab – dies Ziel liegt bzw. lag sozialistischen Staaten im Zeichen des Marxismus/Leninismus zugrunde93 (z. B. Art. 32 Abs. 1 Verf. Albanien von 1976). Der Verfassungsstaat will den Menschen nicht instrumentalisieren, „ummodeln“, oder „besser“ machen, er kennt weder „Übermenschen“ noch „Herrenmenschen“. Er sieht es nicht als seine Sache an, den Menschen zu „verändern“: weder über Erziehungsziele, noch sonst (etwa über Staatszwecke). Er rechnet mit dem Menschen als „unvollkommenem Wesen“94, kennt aber auch keine „Un92 Friedrich Engels führt in den um 1847 katechismusartig formulierten „Grundsätzen des Kommunismus“ aus: „Ebenso wie die Bauern und Manufakturarbeiter des vorigen Jahrhunderts ihre ganze Lebensweise veränderten und selbst ganz andere Menschen wurden, als sie in die große Industrie hineingerissen wurden, ebenso wird der gemeinsame Betrieb der Produktion durch die ganze Gesellschaft und die daraus folgende neue Entwicklung der Produktion ganz anderer Menschen bedürfen und auch erzeugen“, abgedr. in: Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der kommunistischen Partei, Ausgabe 1977, S. 78; zum Menschenbild von Karl Marx vgl. im übrigen: I. Fetscher, „Von Marx zur Sowjetideologie“, 16. Aufl. 1971, S. 15 ff. Die Bedeutung der Arbeit als „eigentlich menschliche Existenzweise“ und die „Befreiung des Menschen in der klassenlosen Gesellschaft“ findet hier besondere Betonung; siehe hierzu auch E. Metzke, Mensch und Geschichte im ursprünglichen Ansatz des Marxschen Denkens, in: Der Mensch im kommunistischen System, Tübinger Vorträge über Marxismus und Sowjetstaat, hrsg. von W. Markert, 1957, S. 3–23. 93 Zum Bild des Menschen in der Marxistischen Philosophie aus älterer Sicht: U. P. Ramser, Das Bild des Menschen im neueren Staatsrecht, 1958, S. 235 ff., mit Aussagen wie: „Der Mensch spielt nur insoweit eine Rolle, als er Glied einer bestimmten Klasse, eines bestimmten Kollektivs ist“ (S.235 f.), „Der Mensch von Karl Marx ist der homo oeconomicus, der durch die Ökonomik determinierte Sklave“ (S. 237). Siehe auch das Zitat von N. Berdiajew, ebd., S. 238 f.: „Der Mensch wird für Marx zur Gestalt und zum Ebenbild der Gesellschaft. Durch und durch ist der Mensch das Produkt des sozialen Milieus, der Ökonomik seiner Zeit und der Klasse, der er angehört“. Siehe noch unten Anm. 214. 94 Dazu etwa F. Kopp (Anm. 75), S. 62 f.; W. Geiger, FS Faller, S. 3 (13).

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

menschen“ oder „Untermenschen“. All dies macht die pluralistische Demokratie zur Staatsform mit „menschlichem Antlitz“. Doch „verschont“ sie den Menschen keineswegs mit gewissen ethischen Sollforderungen, ja „Grundpflichten“95, hinter denen die Wirklichkeit des Menschen allerdings nicht selten zurückbleibt. Gelingt es selbst der Kunst nicht, „den Menschen“ in seinen unterschiedlichen Kontexten und Varianten, seiner Einzigartigkeit zur Gänze einzufangen, und liefern Teildisziplinen wie Soziologie und Psychologie oft genug nur widersprüchliche Teil-„Ansichten“ des Menschen, so kann die viel begrenztere Rechtswissenschaft und – sie umschließend – die Verfassungslehre noch weniger leisten. Sie darf auf den Menschen nur insoweit „eingehen“ und insoweit ein normatives „Bild“ des Menschen entwerfen, als dies vom Typus „verfassungsstaatliche Verfassung“ verlangt wird. Das ist zunächst eine vage Formel, die aber Konturen gewinnt im Spektrum der unterschiedlichen Arten von Menschenbildern, die die politische Theorie und Staatsrechtslehre96, die Rechtsphilosophie97 und zum Teil auch die Theologie98 seit lan95 Für den Zusammenhang von allgemeiner Wehrpflicht und Menschenbild: BVerfGE 12, 45 (50 f.). Siehe aber noch SV Hirsch BVerfGE 48, 185 (196). 96 In der Staats(rechts)lehre ist die Behandlung des „Bildes vom Menschen“ meist verknüpft mit der Erörterung der Menschenwürde und des Grundrechtsschutzes; siehe hierzu etwa K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1977, S. 727 f.; T. Maunz/R. Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 30. Aufl. 1998, S. 172. Die Kategorie „Menschenbild“ findet sich in der heutigen Literatur oft, z. B. U. Scheuner, Art. „Staat“, in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 19 (25): „Es ist klar, daß von einem anderen Bild des Menschen und einer abweichenden Weltsicht her die Erscheinung des Staates sich anders bestimmt“. Ders., Die Funktion der Grundrechte im Sozialstaat, ebd., S. 732 (753): „Die Ausformung wie die Auslegung der Grundrechte ist abhängig von der allgemeinen Rechtsanschauung, von dem Menschenbild, das einer Epoche zugrundeliegt ...“. – Eine differenzierte Behandlung des Menschenbilds des GG bei E. Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 11 ff., mit einer Kritik an „Leitbildern“ des BVerfG (S. 25: „Leerformeln“). Die Menschenbild-Aussagen von Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, lauten: „Da der moderne Staat zwar kein bestimmtes Bild vom Menschen hat, ihn also weder für gut noch für böse hält ...“ (S. 210); „Denn wie es dem Wesen des Staates entspricht, möglichst auf jede Lage gefaßt ... zu sein, so muß der Staat auch von einem feststehenden, ein für allemal gültigen und geschlossenen Bild des Menschen gerade absehen ...“ (S. 620); „... tut jeder Staat gut daran, ... mit dem ‚alten Adam‘ zu rechnen“ (S. 814). – Dieses Staatlichkeitsbild ist eher von Hobbes als von Locke beeinflußt und es denkt gerade nicht in der Tradition verfassungsstaatlicher Verfassungen. 97 Zur Auffassung, daß Staat und Recht weder dem wirklichen einzelnen Menschen dienen noch sich auf das Idealbild des vollkommenen sittlichen und vernünftigen Menschen ausrichten können, siehe G. Radbruch, Rechtsphilosophie, hrsg. von E. Wolf/H.-P. Schneider, 1973, S. 154 f. In seinen Schriften „Der Mensch im Recht“ im gleichnamigen Sammelband, 3.Aufl. 1969, S. 16 ff. und „Sozialismus und Recht“ in: „Kulturlehre des Sozialismus“, 1970, S. 57 ff., stellt G. Radbruch die Bedeutung der Einsicht dar, daß der Mensch im Recht als „Vergesellschafteter“ oder als „Kollektivmensch“ in Erscheinung tritt. – Auf die Natur des Menschen in seiner Sozialität und die Bedeutung seines „Gesellungstriebes“ verweist unter Berufung auf Aristoteles, H. Grotius und S. Pufendorf auch R. Zippelius, in: Das Wesen des Rechts, 4. Aufl. 1978, S. 82. 98 Vgl. unten zu M. Luther Anm. 103 und zur katholischen Soziallehre Anm. 110. Die katholische Soziallehre macht sich in ihren großen Texten durchaus ein „Bild vom Menschen“.

I. Problem

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gem hervorgebracht haben, und die im Kontrastprogramm anderer Staatstypen, etwa des Marxismus/Leninismus, konkreter wird: schon wenn man die gelebten Verfassungstexte miteinander vergleicht. Wesentliche Bauelemente des Menschenbildes im Verfassungsstaat liegen den zwei Prinzipien zugrunde, die ihn konstituieren: der Menschenwürde (und den sie konkretisierenden Menschenrechten) als seiner „anthropologischen Prämisse“ und der freiheitlichen Demokratie als seiner „organisatorischen Konsequenz“99. Betrifft Mag der Begriff „Menschenbild“ auch kaum auftauchen, die einzelnen Elemente ihres Menschenbildes sind ebenso konkret wie vielfältig. Im übrigen zeigt sich in diesen Texten der Sache nach durchaus ein Denken i. S. der „Bilderphilosophie“ bzw. „Bildertheologie“. – Die folgenden Zitate sind entnommen aus: Texte zur katholischen Soziallehre, 5. Aufl. 1982: In „Rerum novarum“ von 1891 heißt es in Ziff. 9 (S. 36 f.): „Betrachten wir nunmehr den Menschen als geselliges Wesen, und zwar zunächst in seiner Beziehung zur Familie“ ... „Wenn nun jedem Menschen ... als Einzelwesen die Natur das Recht, Eigentum zu besitzen, verliehen hat ...“ – In der Pfingstbotschaft von 1941 heißt es (ebd., S.158): „In der Tat hat jeder Mensch als vernunftbegabtes Lebewesen von Natur grundsätzlich das Recht der Nutzung an den materiellen Gütern der Erde ...“ – In der Weihnachtsbotschaft von 1944 wird gefragt (ebd., S. 170): „Welche Eigenschaften müssen die Menschen auszeichnen 1. die in einer Demokratie und unter einer demokratischen Regierung leben, 2. die die Macht in einer Demokratie ausüben?“ Später folgt der große Satz (S. 172): „die Würde des Menschen besteht in der Gottesebenbildlichkeit, die Würde des Staates in der sittlichen, von Gott gewollten Gemeinschaft, die Würde der politischen Autorität in der Teilnahme an der Autorität Gottes“. – Im Brief Pius XII. an die KAB von 1956 („Warum katholische Arbeitervereine?“) heißt es in Auseinandersetzung mit marxistischem Denken (S. 197): „Man will also die produzierende Gesellschaft an die Stelle Gottes setzen ... ist zu sagen, daß ein solches Menschenbild in der westlichen Welt der Arbeit den Arbeiter für die gleichgeartete Menschenauffassung der vom Osten andrängenden Ideen reif macht“. – In „Pacem in terris“ von 1963 stehen die Sätze (unter Ziff. 9, S. 273): „Jedem menschlichen Zusammenleben, das gut geordnet und fruchtbar sein will, muß das Prinzip zugrunde liegen, daß jeder Mensch seinem Wesen nach Person ist. Er hat eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist; er hat daher aus sich Rechte und Pflichten ...“. – In „Gaudium et spes“ von 1965 (Ziff. 12, S. 331) heißt es: „(Der Mensch nach dem Bild Gottes). Es ist fast einmütige Auffassung der Gläubigen und der Nichtgläubigen, dass alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittel- und Höhepunkt hinzuordnen ist... Die Heilige Schrift lehrt nämlich, dass der Mensch ‚nach dem Bild Gottes‘ geschaffen ist...“. Nr. 13 (ebd., S.332): („Die Sünde) ... So ist der Mensch in sich selbst zwiespältig. Deshalb stellt sich das ganze Leben des Menschen ... als Kampf dar ... zwischen Gut und Böse“. Ziff. 29 (ebd., S. 346): „Da alle Menschen ... nach Gottes Bild geschaffen sind, ... muss die grundlegende Gleichheit aller Menschen zur Anerkennung gebracht werden“. – In „Populorum progressio“ von 1967 heißt es in Ziff.15: „Nach dem Plan Gottes ist jeder Mensch gerufen, sich zu entwickeln ...“, in Ziff. 17 (S. 441): „Der Mensch ist aber auch Glied der Gemeinschaft. Er gehört zur ganzen Menschheit“, in Ziff. 42 (S. 451): „Der Mensch ist keineswegs letzte Norm seiner selbst und wird durch Hinausschreiten über sich selbst zu dem, der er sein soll, gemäß dem tiefen Wort Pascals: ‚unermeßlich übersteigt der Mensch sich selbst.‘“ – Laborem exercens von 1981 formuliert unter II. Ziff. 2 (S. 567): „Abbild Gottes ist der Mensch unter anderem deshalb, weil er von seinem Schöpfer den Auftrag empfangen hat, sich die Erde zu unterwerfen und sie zu beherrschen.“ Ebd. unter Ziff. 6 (S. 573): „ist in erster Linie ‚die Arbeit für den Menschen da und nicht der Mensch für die Arbeit‘ “. 99 Dazu mein Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 1, 1987 (3. Aufl. 2004, Bd. II § 22), S. 815 (845 ff.).

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

die Menschenwürde das Menschenbild, so die freiheitliche Demokratie zunächst das Staatsbild – Menschenbild und Verfassungsstaatsbild gehören freilich zusammen.100 II. Elemente einer Bestandsaufnahme, erste Wertungen 1. Klassiker: das „eher pessimistische“ und „eher optimistische“ Menschenbild Vergegenwärtigen wir uns einige klassische Texte großer Autoren und ihre Widerspiegelung in Verfassungstexten:101 Das Denken über Mensch, Staat und Recht hat in Jahrhunderten immer wieder eine eher pessimistische und eine eher optimistische Variante des Menschenbildes mit entsprechenden Konsequenzen im Verständnis von Staat und Recht, auch in ihrer „Konstruktion“ durchgespielt: Für jene sei T. Hobbes berühmtes Wort zitiert, wonach die Menschen „sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden“102. Entsprechungen finden sich in der Theologie eines M. Luther, hier freilich 100 Vgl. auch T. Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 1980, S. 32 ff. (2. Aufl. 1994) mit klassischen Text-Zitaten. – Ein historischer Überblick über das „Menschenbild als politische und rechtliche Leitidee“ auch bei R. Zippelius, Die Bedeutung kulturspezifischer Leitideen für die Staats- und Rechtsgestaltung, 1987, S. 17 ff. (jetzt in ders., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 2. Aufl. 1996, S. 177 ff.). 101 Im Sinne der Methode meines Berliner Vortrages: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. 102 T. Hobbes „Leviathan“, zit. nach N. Hoerster (Hrsg.), Klassische Texte der Staatsphilosophie, 4. Aufl. 1983, S. 111. Auch weitere mannigfaltige Belegstellen für Hobbes „negatives“ Menschenbild finden sich im „Leviathan“: „Die Natur hat die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, daß trotz der Tatsache, daß bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder gewandteren Geist als der andere besitzt, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als daß der eine aufgrund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebensogut für sich verlangen dürfte (...). Aus dieser Gleichheit der Fähigkeiten entsteht eine Gleichheit der Hoffnung, unsere Absichten erreichen zu können. Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuß ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen“ (Leviathan, a. a. O., S. l09 f.). Folgerichtig ist Hobbes’ Auffassung des natürlichen Rechts des Menschen: „Das natürliche Recht in der Literatur gewöhnlich jus naturale genannt ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, d. h. seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht“ (Leviathan, a. a. O., S. 113). Hobbes führt weiterhin aus: „Und weil sich die Menschen (...) im Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden befinden, (...) so folgt daraus, daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen“ (Leviathan, a.a. O., S.114). Allerdings setzt sich M. Kriele in seiner Einführung in die Staatslehre (1975) eingehend und kritisch mit der – wie er es formuliert – „Legende“ auseinander, daß Hobbes’ politische Theorie von einem anthropologischen Pessimismus ausging, siehe S. 133 ff. insbes. 136 ff.

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bezogen auf die Sündhaftigkeit des Menschen103, oder in der Philosophie eines G. W. F. Hegel104. Der „Klassiker des Pessimismus“, Arthur Schopenhauer, beschreibt des Menschen Natur folgendermaßen: „... Menschen zu regieren, das heißt, unter vielen Millionen eines der großen Mehrheit nach grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen, neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten und querköpfigen Geschlechtes, Gesetz, Ordnung, Ruhe und Frieden aufrecht zu erhalten ...“105, und Machiavelli gibt ein verwandtes Menschenbild von sich, wenn er 103 M. Luther, Grundtexte christlichen Glaubens, hrsg. und eingeleitet von H. Schultze, 1982, S.44, setzt gewissermaßen eine vorgegebene Sündhaftigkeit des Menschen voraus, wenn er an seinen Ordensbruder Georg Spenlein am 8.4.1516 schreibt: „... daher, mein lieber Bruder, lerne Christus, und zwar den gekreuzigten, lerne ihm zu singen und an dir selbst verzweifelt zu ihm zu sprechen: Du, Herr Jesus, bist meine Gerechtigkeit, ich aber bin Deine Sünde; Du hast das meine auf Dich genommen und mir das Deine gegeben; Du hast angenommen, was Du nicht warst, und mir gegeben, was ich nicht war. Hüte Dich, daß Du niemals nach einer so großen Reinheit trachtest, daß Du Dir nicht als Sünder erscheinen und gar kein Sünder sein willst. Denn Christus wohnt nur in Sündern“. Diese Auffassung findet sich wieder in den „Vorreden zum Neuen Testament“ von 1522, wo es heißt: „Sünde heißt in der Schrift nicht alleine das äußerliche Werk am Leibe, sondern alle das Geschäfte, das sich mit reget und wegt zu dem äußerlichen Werk, nämlich des Herzens Grund mit allen Kräften, also, daß das Wörtlein tun soll heißen, wenn der Mensch ganz dahin fällt und fähret in die Sünde. Denn es geschieht auch kein äußerlich Werk der Sünde, der Mensch fahre denn ganz mit Leib und Seele hinan, und sonderlich siehet die Schrift ins Herz und auf die Wurzel und Hauptquell aller Sünde, welches ist der Unglaube im Grund des Herzen. Also daß, wie der Glaube allein rechtfertiget, den Geist und Lust bringt zu äußerlichen Werken, also sündiget alleine der Unglaube und bringt das Fleisch auf und Lust zu bösen äußerlichen Werken wie Adam und Eva geschah im Paradies, Gen. 3“ (zit. aus: M. Luther, Ausgewählt von K.-G. Steck und eingeleitet von H. Gollwitzer, 1955, S. 118); auch R. Friedenthal weist in seiner Luther-Biographie „Luther, sein Leben und seine Zeit“, 9. Aufl. 1982, S. 127, darauf hin, daß Luther von dem Satz: „alle Menschen sind Sünder“ ausging. 104 Zu G. W. F. Hegels „Bild vom Staat“: T. Fleiner-Gerster (Anm. 100), S. 44 ff. (2. Aufl. 1994). 105 A. Schopenhauer, Über die Universitäts-Philosophie, hrsg. von O. A. Böhmer unter dem Titel: Kopfverderber, 1982, S. 22 f. Schopenhauer läßt auch erkennen, daß das Staatsbild vom jeweiligen Menschenbild abhängig ist. Nach seinem Dictum (zit. nach R. Safranski, Lebbare und nichtlebbare Wahrheiten, Zum 200. Geburtstag A. Schopenhauers, FR vom 20.2.1988, S. ZB3) hängt der Staat den „Raubtieren“ einen „Maulkorb“ um, so werden sie (sc. die Menschen) zwar moralisch nicht besser, aber „unschädlich wie ein grasfressendes Tier“. Die Wahlverwandtschaft zu Hobbes ist offensichtlich, vgl. auch A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Viertes Buch, § 62, Ausgabe 1910, S. 204 f., 209. Ausdrücklich widerspricht Schopenhauer allen Theorien, die vom Staat eine Verbesserung, Versittlichung des Menschen erwarten (Fichte, Schiller, Hegel) oder – romantisch – im Staat eine Art höheren Menschenorganismus sehen (Novalis, Schleiermacher, Baader). Der Staat ist für Schopenhauer die von den Romantikern perhorreszierte „soziale Maschine“, die, im besten Falle, die Egoismen bändigt und mit dem kollektiven Egoismus des Überlebensinteresses verkoppelt. Schopenhauer warnt vor einem Staat mit Seele, der dann womöglich nach der Seele seiner Bürger greift (Safranski ebd.). – Überaus pessimistisch ist das Menschenbild von J. G. Seume, Mein Sommer 1805 – Reisejournal, Nachdruck des Erstdrucks 1806, 1987, S. 158: „Freylich ist es immer das sicherste, in öffentlichen Verhältnissen mehr auf das Schlimme im Menschen zu rechnen. Denn fast immer lehrt die Geschichte, daß in diesem Falle unter der Maske allgemeiner Philanthropie und in dem Nahmen der Gesetzlichkeit alles Böse geschieht, wozu die Macht

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äußert, „daß niemand einer Republik Verfassung oder Gesetz geben kann, wenn er nicht die Menschen als böse voraussetzt“106, 107. Für die eher optimistische Variante stehe das Denken eines J. Locke108, der nicht zufällig ein Vater des Verfassungsstaates wurde, oder die Überzeugung von J.-J. Rousseau, „daß der Mensch von Natur aus gut ist und daß die Menschen allein durch unsere Einrichtungen böse werden“109, sowie die katholische Soziallehre110. da ist.“ Siehe auch ebd., S.135: „In Verhältnissen des Völkerrechts und Staatsrechts muß es leider ein Grundsatz der Sicherheit seyn: das Böse, das ein Mensch thun kann, wird er wahrscheinlich thun. Die Geschichte hat mehr Bestätigungen, als Widerlegungen desselben.“ 106 N. Machiavelli, zit. nach G. Radbruch, Der Mensch im Recht, 3. Aufl. 1969, S. 12. Vgl. hierzu aber auch das Zitat Machiavellis: „So gelangt man zu dem Schluß, daß die Menschen weder mit Anstand böse noch vollendet gut zu sein vermögen – und daß sie eine böse Handlung nicht begehen können, wenn dazu eine gewisse Größe oder ein ganzes Herz erforderlich ist“ (Discorsi, I., 27, zit. nach N. Machiavelli in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten von Edmond Barincou, 2. Aufl. 1985, S. 114). 107 Freilich wird sich die Verfassungslehre in Sachen Menschenbild mit G. Fernandez de la Mora, Der gleichmacherische Neid, 1987, auseinanderzusetzen haben. Die menschliche NeidNatur, die ebenso universale wie negative Neigung zum Neid verfolgt de la Mora von der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten über die Erklärung der Menschenrechte bis zu den Dogmen des Kommunismus und den Verfassungsentwürfen der Gegenwart. Schon der Spanier Unanumo hat den Neid als „Mutter der Demokratie“ bezeichnet. Aus der Lit.: H. Schoeck, Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft, 1966. 108 Im Gegensatz zu T. Hobbes begreift J. Locke, zit. nach Klassische Texte der Staatsphilosophie, hrsg. von N. Hoerster, 1976, S. 133 f., den Zustand, in welchem sich die Menschen von Natur aus befinden als einen solchen „vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.(...) Aber obgleich dies ein Zustand der Freiheit ist, so ist es doch kein Zustand der Zügellosigkeit. Der Mensch hat in diesem Zustand eine unkontrollierbare Freiheit, über seine Person und seinen Besitz zu verfügen; er hat dagegen nicht die Freiheit, sich selbst oder irgendein in seinem Besitz befindliches Lebewesen zu vernichten, wenn es nicht ein edlerer Zweck als seine bloße Erhaltung erfordert. Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, daß niemand einen anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll“. 109 J.-J. Rousseau, Brief an de Malesherbes, zit. nach J.-J. Rousseau in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt von Georg Holmsten, 1972, S. 64. 110 Vgl. zum Menschenbild der katholischen Soziallehre O. v. Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit, Grundzüge katholischer Soziallehre, 1980, S. 14 ff., 22 ff. insbes. S. 25 ff. und S. 29, wo O. v. Nell-Breuning im Gegensatz zu „reinen“ Ausprägungen des Individualismus oder des Kollektivismus das „solidaristische Menschenbild“ als das „einzig wahre, vollständige und ausgewogene Menschenbild“ bezeichnet, „zu dem die katholische Soziallehre (...) sich bekennt“. Hiernach gehören das individualistische Menschenbild und das kollektivistische Menschenbild zusammen, nur beide zusammen können den Menschen so fassen und würdigen, wie er wirklich ist. O. v. Nell-Breuning fährt fort: „Wollen wir mit einem Wort ausdrücken, daß für den Menschen sein Selbststand als Einzelwesen und seine gesellschaftliche Wesensanlage gleich wesentlich sind, dann sagen wir: er ist Person; individualitas und socialitas zusammen machen seine personalitas aus. Zur Person gehört einmal die individualitas, der Selbststand des

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Die klassisch-idealistische Auffassung vom Menschen kleidet Friedrich Schiller in die Worte: „Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealistischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseins ist“111. Dagegen entwirft F. M. Dostojewskij in seinen „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ ein sarkastisch desillusioniertes, jedenfalls allem Pathos abholdes Menschenbild: „Ich glaube sogar, daß die beste Bezeichnung des Menschen die wäre, ein Wesen, das auf zwei Beinen steht und undankbar ist“112. Auch mit dem Widerstreit von Vernunft und Leben befaßt sich F. M. Dostojewskij in fesselnder Weise in der besagten Erzählung113. Menschenwürde und Demokratie, die beiden Grundprinzipien des Verfassungsstaates, setzen ein relativ „gutes“ Bild vom Menschen voraus, des Menschen, der Würde hat und frei sein kann, der aber auch die gleiche Würde und Freiheit seines Mitbürgers anerkennt und sich mit ihm i. S. des kategorischen Imperativs114 I. Kants buchstäblich „verträgt“115. So optimistisch also der Verfassungsstaat in seimit Verstandeseinsicht und mit zur Selbstbestimmung fähigem Willen ausgestatteten Wesens. Aber Person besagt mehr als Individuum, auch mehr als vernunft- und willensbegabtes Individuum; selbst das genügt zum Vollbegriff der Person noch nicht; zur Person gehört zum anderen Mal die socialitas, das Offensein gegenüber anderen und der Austausch mit anderen im Geben und Empfangen oder mindestens die Befähigung dazu“. O. v. Nell-Breuning, a. a. O., S. 30. Zum Begriff von Persönlichkeit und Person siehe auch G. Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, in: Gesammelte Schriften, 1952–1983, hrsg. von W. Schmitt Glaeser/P. Häberle, 1984, S. 31 ff. 111 F. v. Schiller, Vierter Brief über die ästhetische Erziehung, Werke in 4 Bden., Bd. 4, 1966, S. 199. 112 F. M. Dostojewskij, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, aus dem Russischen übertragen von E. K. Rashin, 1985, S. 35. 113 „Die Vernunft, meine Herrschaften, ist eine gute Sache, das wird niemand bestreiten, aber die Vernunft ist und bleibt nur Vernunft und genügt nur dem Vernunftteil des Menschen; das Wollen dagegen ist die Offenbarung des ganzen Lebens, d. h. des gesamten menschlichen Lebens, einschließlich der Vernunft, und mit allen seinen Heimsuchungen. Und wenn sich auch unser Leben in dieser Offenbarung oftmals als ein lumpiges Ding erweist, so ist es doch immerhin Leben und nicht nur ein Ausziehen von Quadratwurzeln“. (F. M. Dostojewskij (Anm. 112), S. 34, siehe im übrigen in Teil I. die Kapitel VII, S. 25 ff., VIII, S. 31 ff., IX, S. 38 ff.). 114 Eine Formulierung von I. Kants „kategorischem Imperativ“ lautet: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“. Zit. nach Gesammelte Werke, Bd. IV., hrsg. v. W. Weischedel, 1964, S. 140. – Ambivalentes zum Naturzustand bei I. Kant, Zum ewigen Frieden (1795), zit. nach Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel, VI., 1964, S. 194 (203): „Der Friedenszustand unter Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden“. 115 Das Vertragsmodell findet sich auch bei H. Baier, Totentrauer – die Frömmigkeit unserer Republik, FAZ vom 14.11.1987, Beilage Bilder und Zeiten, mit Sätzen wie: „Die Republik ist also ein Rechts- und Nützlichkeitspakt des Volkes“, „moderne aufgeklärte, im Sinne Kants kultivierte Republik“; „ihre Aufgabe ist die tätige und tägliche Selbstvervollkommnung der ein-

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nem Menschenwürde-, Freiheits- und Demokratiebild „gestimmt“ ist und so sehr ihm ein Stück „Prinzip Hoffnung“116, gepaart mit dem „Prinzip Verantwortung“117 (am Beispiel des Grundgesetzes: Art. 1 und 20, auch 20 a), zugrundeliegen118: Er überfordert den Menschen nicht, er macht allenthalben Zugeständnisse an seine Fehler, Gefährdungen und Gefahren (z. B. an seinen „Eigennutz“, an sein Irren, seinen „Widerspruch“) und er arbeitet in den verschiedenen Problemfeldern in großer Differenziertheit. Diese Aufschlüsselung einzelner Prinzipien und Verfahren, Instrumente und Einrichtungen des Verfassungsstaates im Blick auf die Menschenbildproblematik ist hier nur an einigen Beispielen möglich. Daß sie noch kaum im Zusammenhang mit den Klassikern und nicht zugleich „entlang“ den positiven Rechtstexten versucht worden ist, bestätigt wieder einmal, wie wenig die Verfassungslehre bisher mit der klassischen Rechts- und Staatsphilosophie ins Gespräch gekommen ist.

2. Elemente des verfassungsstaatlichen Menschenbilds in Beispielsfeldern des positiven Rechts „gemäß“ dem GG Aspekte des verfassungsstaatlichen Menschenbildes, aus Klassikertexten, Verfassungstexten, Rechtsprinzipien – von Wissenschaft und Rechtsprechung entwikkelt – kommen zum Ausdruck in: a) dem Grundsatz der Gewaltenteilung (vgl. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG), der seine moderne verfassungsstaatliche Ausprägung dem „realistischen“ Menschenbild von Montesquieu verdankt: Seine zum Klassikertext gereifte Einsicht lautet: „Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, daß jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu mißbrauchen. (...) Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht zelnen in und mit der Gemeinschaft der Bürger“, „Auf dem selbstgelegten und wohlgegründeten Fundament des Bürgervertrags – wie ihn für Kant vorbildlich Rousseau im ‚Contrat social‘ von 1762 entworfen hat – erheben und entfalten sich die schlanken Säulen der vielen Individualitäten, verbunden durch die gewölbetragenden, jedoch immer widerstrebend gesetzten Bögen“; „republikanische Selbstverfassung der Bürger“ samt „moralischer Selbstverantwortung der einzelnen“. – Ebenso ist das Vertragsmodell im Ringen um die Verfassungsstrukturen der EU ein unverzichtbarer Argumentationstopos, dazu allg. mein Beitrag „Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft“, DVBl. 2000, S. 840 ff. 116 So der Titel der Schrift „Das Prinzip Hoffnung“ von E. Bloch, 4. Aufl. 1977. 117 Vgl. den Titel des Buches „Das Prinzip Verantwortung“ von H. Jonas, 1979; ders., ebd., S. 385: „Die ‚Natur‘ des Menschen, offen für Gut und Böse“. Siehe auch J. Burckhardt, Staat und Kultur, hrsg. von H. Helbling, 1972, S. 317: „... menschliche(n) Natur, welche doch aus Gut und Böse gemischt ist“. 118 Dieses „gedämpft optimistische“ Menschenbild hat seine Entsprechung in einem ebenso optimistischen Weltbild – beides ist philosophisch der Aufklärung eines Kant zu verdanken, auf Verfassungsstaatsebene einem Locke. Es steigert freilich die Anforderungen an die Verantwortlichkeit des Menschen, an sein Bewußtsein von Freiheit.

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bremse.“119 In die gleiche Richtung zielt der Ausspruch von Lord Acton: „Power tends to corrupt and absolute power corrupts absolutely“120. In dem Maße wie Gewaltenteilung vom staatlichen Prinzip zu einer umfassenden Maxime geworden ist, die auch den gesellschaftlichen Bereich, besonders die Wirtschaft, strukturiert, wird sichtbar, daß der Verfassungsstaat hier ein bestimmtes, eher skeptisches Menschenbild durchsetzt; Machtmißbrauch droht offenbar nicht nur vom „Menschen im Amt“, sondern vom Menschen schlechthin, auch von dem in Teilbereichen der Gesellschaft wie der Wirtschaft Tätigen. Der ungebändigte Kapitalismus und Ökonomismus – ironischer Weise nach dem Zusammenbruch des Kommunismus – birgt manche Gefahren, auch auf EU-Ebene. Die freiheitliche Verfassung muß den Menschen trauen, braucht aber auch Bereitschaft und Verfahren zu Mißtrauen121. b) Einzelnen Prinzipien der freiheitlichen Demokratie liegt dasselbe realistische Menschenbild zugrunde: man denke an das Verständnis von Demokratie als „Herrschaft auf Zeit“, und an viele Einrichtungen des positiven Verfassungsrechts, die Macht kontrollieren bzw. Verantwortung der Amtsträger einlösen (z. B. Art. 43 Abs. 1 GG); pessimistisch gestimmt ist die Möglichkeit des Parteiverbots (Art. 21 Abs. 2 GG)122. c) Die Erziehungsziele in deutschen Landesverfassungen umreißen besonders konzentriert Teilaspekte des „Bildes“, das sich der Verfassungsstaat vom Menschen macht123. Der junge Mensch wird als erziehungsfähig, aber auch erziehungsbedürf119 C.-L. de Montesquieu, „Vom Geist der Gesetze“, XI. Buch, 4. Kap., zit. aus der Übersetzung von K. Weigandt, 1984, S. 211. 120 Zit. nach M. Kriele (Anm. 102), S. 140. 121 Skeptisch, ob man mit „anthropologischen Methoden“ (bzw. einem „recht positiven Bild“ der Menschen) an die Auslegung unserer Verfassung herangehen könne: H. P. Ipsen, VVDStRL 37 (1979), S. 129 f. (Diskussion). R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 121 formuliert zwar die „Erkenntnis, daß der Mensch kein prinzipiell vernünftiges Wesen ist“, dennoch will er die Freiheit des Menschen „in den Mittelpunkt heutigen staatstheoretischen Denkens stellen“. 122 Vgl. auch BVerfGE 5, 85 – KPD-Urteil –, wo das BVerfG im Blick auf das Fehlen einer Parteiverbotsmöglichkeit in Weimar und in der Verfassung Italiens von 1947 meint (S. 136): „Dem mag die optimistische Auffassung zugrunde liegen, daß die beste Garantie des freiheitlichen demokratischen Staates in der Gesinnung seiner Bürger liegt“ und fortfährt: „In der Zeit der Weimarer Republik hat sich in Deutschland das Bild ergeben, dass Parteien unangefochten bestehen ... konnten ...“. In E 47, 130 (141) bedient sich das BVerfG ebenfalls der Bildersprache: „Mit diesem verfassungsrechtlich geprägten Bild vom Verhältnis der politischen Parteien zum Bürger ist eine Tätigkeit von Parteimitgliedern und -anhängern regelmäßig unvereinbar, die darauf gerichtet ist, die politischen Ziele der Partei unter Überschreitung des von den verfassungsmäßigen Gesetzen gezogenen Rahmens durch den Angriff auf anderweitig geschützte wichtige Rechtsgüter zu verwirklichen“. Scharfe Kritik dazu bei H. Ridder, „Das Menschenbild des Grundgesetzes“. Zur Staatsreligion der Bundesrepublik Deutschland, in: Demokratie und Recht 7 (1979), S. 123 (131 f.). Dazu unten Anm. 130. 123 Siehe auch H.-U. Evers, Verfassungsrechtliche Determinanten der inhaltlichen Gestaltung der Schule, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd.12 (1977), S. 104 (116), der die Menschenbildformel des BVerfG als für die Beurteilung von Erziehungszielen „hilfreich“ ansieht. – Chr. Tomuschat, Der staatlich geplante Bürger, in: FS für E. Menzel, 1975, S.21

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tig angesehen und insoweit auf Grundwerte wie Menschenwürde und Freiheit, Verantwortungsbereitschaft und Toleranz ausgerichtet, auf denen der Verfassungsstaat im ganzen basiert. Manche seiner Grundsätze sind sogar einer „pädagogischen Verfassungsinterpretation“ zugänglich124. Neues Textmaterial in Sachen Erziehungsziele haben die fünf neuen Bundesländerverfassungen hervorgebracht (z. B. Art. 28 Verf. Brandenburg von 1992). In den Erziehungszielen stecken Aspekte eines bestimmten Menschen-, Welt-, Gemeinschafts-, ja sogar Gottes-Bildes. Sie formulieren und normieren einen Grundkonsens unserer freiheitlichen Demokratie, d. h. sie schreiben ihn für die Erziehung des jungen Menschen fest und vor. Der Staatsrechtslehrer hat es auch in Sachen Erziehungsziele mit normativen Verbindlichkeiten zu tun – für den „mündigen Bürger“ werden sie zum Teil zu pluralistischen, normativ nicht erzwingbaren „Orientierungswerten“125. Bei aller „Offenheit“: auch der pluralistische Verfassungsstaat bedarf eines gemeinsamen Grundwerte-„Hauses“, einer Kultur statt einer „hypothetischen Zivilisation“ (R. Spaemann), in der sich alle Verbindlichkeiten auflösen. Im übrigen sollten wir bedenken: Das – normativ – Verbindliche verbindet uns auch, jedenfalls in der Rechtsgemeinschaft einer freiheitlichen Demokratie. Daß Ausgleich und Toleranz, Respekt vor dem anderen bzw. seiner Individualität ebenfalls zum Kanon unserer Erziehungsziele gehören, ist eine spezifische Kulturleistung des Verfassungsstaates. Diese Erziehungsziele üben jenes Miteinander ein, das für das Zusammenleben in „offenen Gesellschaften“ unverzichtbar ist. Darüber hinaus eröffnen sie die Chance zur weltweiten friedlichen Koexistenz des Verfassungsstaates mit anderen Staatstypen, etwa Entwicklungs- oder sozialistischen Ländern. Die vielzitierte „Unverbrüchlichkeit“ der Menschenrechte stellt sich nicht von selbst her: zu ihr muß auch „erzogen“ werden!126 Dasselbe gilt für Vertragstreue im Innen- wie Au(32), sieht in der Menschbild-Rechtsprechung des BVerfG einen „Argumentationsbehelf von sachlich beschränkter, genau angebbarer funktioneller Tragweite“. Er lehnt jedoch die Ausdeutung als Erziehungsziel i. S. der Länderverfassungen ebenso ab wie die Aktualisierung der Grundrechte (S. 33 f.). Siehe aber auch S. 36 f. ebd.: Einsatz der schulischen Mittel zur „Förderung des verantwortlichen Staatsbürgers“ (mit Hinweis auf Art.1 Abs.1 i.V.m. Art.2 Abs.1 GG). 124 Dazu mein Beitrag in FS Huber, 1981, S. 211 (228 ff.). Wie begrenzt die Ziele des Strafvollzugs in einem Verfassungsstaat sein müssen, zeigt sich auch im Kontrast zu Islamischen Staaten: So brauchen verurteilte Missetäter in Saudi-Arabien nur die Hälfte ihrer Strafe abzusitzen, wenn sie den Koran auswendig lernen (FAZ vom 25.2.1988). Dem mündigen, straffällig gewordenen und darum in Haft befindlichen erwachsenen Bürger dürfte bei uns so nicht einmal das GG angesonnen werden! 125 Zu dieser Unterscheidung P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, passim, bes. S. 14 f., 87 ff. 126 Siehe E. Meinberg, Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft, 1988 und sein Programm einer „pädagogisch orientierten Menschenbildforschung“, S.307 ff., mit Stichworten wie „homo mundanus“, „homo oecologicus“ sowie dem Zitat von K. Jaspers: „Verabsolutierung eines immer partikularen Erkennens zum Ganzen einer Menschenerkenntnis führt zur Verwahrlosung des Menschenbildes“ und dem eigenen Resumee: „Das Menschenbild ist dem Menschen gewiß nicht alles – aber ohne das Menschenbild ist alles nichts!“ (a. a. O., S. 318).

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ßenverhältnis von Verfassungsstaaten. Hugo Grotius’ „pacta sunt servanda“ bleibt bis heute ein Beitrag der Juristen zu einer friedlichen Welt. Auch eine freiheitliche Ordnung wie das GG skizziert fragmentarisch in Elementen das Menschenbild, so etwa ein Leitbild für staatsbürgerliche Erziehung in Art. 1, 20, 28, 38, 21 GG bzw. in Erziehungszielen der Länderverfassungen, und ein sozialethisches Mindestmaß im gesellschaftlichen Miteinander (Toleranz, Solidarität, Arbeit). Im übrigen ist die im Oktober 2000 viel zitierte „Leitkultur“ in Deutschland das Grundgesetz selbst – die deutsche Verfassung als „Kultur“ verstanden (Menschenwürde, Demokratie, Erziehungsziele wie Toleranz und Völkerversöhnung). Eckstein und Leitmotiv der Verfassungsstaatlichkeit ist die Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse jeder menschlichen Gemeinschaft – sie ist es in ihrem Zugleich aus überkulturell-universellem Geltungsanspruch und kulturbedingt-partikulären Konkretisierungen127. Die Menschenbild-Formel des BVerfG ist ein „Gemeinplatz“128 im guten Sinne: Sie umschreibt ein „Gemeingut“, das den Menschen nicht überfordert, aber dem Verfassungsstaat auch keine unbegrenzten Kompetenzen zur Formulierung und Durchsetzung von Sozialethik einräumt. „Sozialethische Spurenelemente“ finden sich in der früh beginnenden allgemeinen Menschenbild-Judikatur seit E 4, 7 (15 f.). d) Das Menschenbild des BVerfG: prätorisch aus einer Gesamtsicht des GG gewonnen. – Seinen klassischen (Bundes-)Verfassungsrichtertext hat das Menschenbild des GG in der frühen Pionierentscheidung des BVerfG vom 20.7.1954 gefunden. Im Investitionshilfe-Urteil (BVerfGE 4, 7 [15 f.]), es betrifft zentral das Verfassungsrecht der Wirtschaft, heißt es ganz allgemein und in einer, in der späteren Menschenbildjudikatur für die unterschiedlichsten Zusammenhänge immer wieder bestätigten129 Weise: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art.l, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG. Dies heißt aber: der Einzelne muß sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen las127 S. dazu meinen Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdBStR I, 2. Aufl. 1995 (3. Aufl. 2004, Bd. II § 22), S. 815 f., sowie meine Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 673 f. und öfter. 128 Kritisch J. Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 11 (1977), S. 92 (113). 129 BVerfGE 33, 303 (334); 50, 166 (175). – Die (wechselvolle) Rechtsprechung des BVerfG zu den „Berufsbildern“ im Rahmen des Art. 12 GG (seit E 7, 377 (397), vgl. z. B. E 59, 302 (315 f.); 80, 269 (281, 285); 97, 12 (25 f., 33 f.)) ist ebenfalls ein Beispiel für „Bilder-Judikatur“ bzw. „Bilder-Jurisprudenz“.

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

sen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt“. Dieser Passus strahlt in viele Rechtsgebiete aus. Er ist eine Art „Urtext“ zu Menschenbildfragen geworden130. Freilich: Die Kategorie „Menschenbild“ hat in der Hand des BVerfG im 4. Band (E 4, 7 [15 f.]) dazu gedient, aus der Verfassung nicht direkt ablesbare Schranken für grundrechtliche Freiheiten zu ziehen. Das ist legitim und richtig. Doch sollte das Menschenbild nicht einseitig von dieser „Geburtssituation“ her verstanden werden: es kann und muß ggf. auch zur Erweiterung bzw. Intensivierung des Freiheits- und Schutzbereichs des Bürgers dienlich sein131. Andernfalls müßte man von einem „Geburtsfehler“ sprechen, der von der Theorie her zu korrigieren ist. 130 In BVerfGE 65, 1 (44) heißt es: Der Einzelne ist „vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit“. – Die Menschenbildformel des BVerfG hat sich in der Literatur durchgesetzt: z.B. G. Dürig, in: Maunz/Dürig, K. zum GG, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 46 mit dem Zusatz „mittlerer Linie des Personalismus“, in Abgrenzung vom Individualismus und Kollektivismus (ebd., Rdnr. 47); ähnlich K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20.Aufl. 1995 (Neudruck 1999), S. 129 f.; I. v. Münch, in: ders. (Hrsg.), GG-K., Bd. l, 2. Aufl. 1981 (5. Aufl. 2000), Rdnr. Vorb. Art. 1–19; nur vereinzelt wird Kritik laut: z. B. Hamann/Lenz, Das Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 1970, Art. 1 Anm. Bla; P. Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S. 139 ff.; E. Denninger, Staatsrecht 1, 1973, S. 25: „Leerformeln“. Teilkritik bei A. Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, 1979, S. 57: „Dieser Ansatz (sc. des BVerfG) scheint mir nur insoweit unrichtig zu sein, als es nicht auf das historische Bild des Verfassunggebers, sondern auf die heutigen Erkenntnisse über den Menschen und seine Gefährdungen ankommt“ (ebenso ders., Staatsrecht II, 3. Aufl. 1989, S. 79). – Die Menschenbildformel setzt sehr häufig ein: K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, z. B. S. 540 ff., 1765, 1801, 1818; Bd.III/1, 1988, S.31 ff., 191. Differenziert: E. Denninger, in: AK GG (1984), Art.19 Abs.2 Rz. 14: „Hier erweist sich die Elastizität und Offenheit, aber auch die relative Leere der Menschenbild-Formel des BVerfG (vgl. E4, 7, 15 f.) als vorteilhaft: sie ermöglicht eine der jeweiligen Konfliktlösung angepaßte Akzentsetzung und Ausfüllung durch die Rechtsprechung“ (ebenso ders., in: AK GG, 2. Aufl. 1989). 131 Aus diesem „Sog“ hat sich die Menschenbildjudikatur des BVerfG selbst im Volkszählungsurteil nicht befreien können: das Selbstzitat aus E 4, 7 (15) findet sich wiederum nur im Kontext möglicher Schranken (E 65, 1 (44))! – Kritik am „sog. Menschenbild des GG“ bei P. Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S.139 ff., z.B. in dem Passus (ebd., S.140): „Es mag schon fraglich sein, ob das GG überhaupt auf einem irgendwie näher faßbaren ‚Menschenbild‘ beruht. Angesichts der durchgehenden ideologischen Offenheit und Neutralitat des GG sind jedenfalls bisher alle Versuche gescheitert, irgend ein Bild konkreterer Art näher im GG zu befestigen und das GG damit auf eine bestimmte Ideologie einzuschwören“. Ebd., S. 141: „Vielmehr könnte dann nur erscheinen ein solches Menschenbild, das von dem Selbstverständnis eines in der persönlichen Entfaltung freien und selbstbestimmten Individuums ausgeht, eines Individuums, das sich als Persönlichkeit erst in der sozialen Umwelt und ihr gegenüber verwirklicht ...“. – Eine andere Stoßrichtung verfolgt A. Bleckmann, Allgemeine Grundrechtslehren, 1979, S. 57, der nicht auf das historische Bild des Verfassunggebers, sondern auf die heutigen Erkenntnisse über den Menschen und seine Gefährdungen abstellen will. Ebd., S. 39 wird erwogen, das Menschenbild des GG „anhand der neueren Ergebnisse der Geisteswissenschaften

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Seine Rechtsprechung hat das BVerfG ständig vertreten132 und dabei die Formeln variiert, z. B. in den Entscheidungen zum Elternrecht133, zur Wehrdienstverweigerung134 oder in der Wehrpflichtentscheidung135, in der der Gedanke von (Grund-)Pflichten ein Element des grundgesetzlichen Bildes vom Bürger wird. Und die Wendung von der „der Gemeinschaft verpflichteten Persönlichkeit“ erinnert an Menschenbild-Momente in den (schulischen) Erziehungszielen: Erziehungsziele und Menschenbild gehören zusammen136. Sie sind vom Menschenbild aus konzipiert137, umgekehrt prägen die Erziehungsziele (in den Länderverfassungen) auch das Menschenbild des GG (vgl. Art. 28 Verf. Brandenburg von 1992; Art. 22 Verf. Thüringen von 1993). Das BVerfG hat zwar einen expliziten Zusammenhang zwischen Erziehungszielen und Menschenbild nur einmal hergestellt138. Es liefert aber Bausteine für die wissenschaftliche Erarbeitung dieses kulturellen Zusammenhangs139. zu entwickeln und die Grundrechte auf dieses Menschenbild zu beziehen“. – Die wohl schärfste Kritik am Menschenbilddenken des BVerfG findet sich bei H. Ridder, „Das Menschenbild des Grundgesetzes“, Zur Staatsreligion der Bundesrepublik Deutschland, in: Demokratie und Recht 7 (1979), S. 123 ff., mit so polemischen Passagen wie: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist allemal kein solches des Grundgesetzes, sondern ein von den Gedanken der Richter des Ersten Senats des BVerfG gemachtes, ja ein von ihnen zelebriertes und von ihrem, den zirkulären Trampelpfad der Politik begleitenden Chor gesungenes – ein ganz und gar unfrommes ...“ (a. a. O., S. 123 f.). Gegen den Passus des BVerfG (E 4, 7 (16)) – „Das ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. 1, 2, 12, 14, 15, 19 und 20 GG“ – bringt Ridder Argumente gegen alle Arten von Ganzheitsdenken vor (a. a. O., S. 129), um sich zu der These zu versteigen (a. a. O., S. 134): „Daher durch Fehlbenennung ein falscher Gott, der zudem zweigeschlechtlich erscheinen muß, der aus dem ‚Menschenbild des Grundgesetzes‘ und dem ‚Demokratiebegriff des Grundgesetzes‘ bestehende Hermaphrodit aus dem unecht rotschwarzen Doppelatelier des Bundesverfassungsgerichts...“. – So überzogen die Polemik dieses „H. Heine der deutschen Staatsrechtslehre“ (P. Häberle, DÖV 1977, S. 90 (92)) erscheint: sie ist als Warnung vor Ideologisierungen ernst zu nehmen. 132 Vgl. E 7, 305 (323); 33, 303 (334); 45, 187 (227); 50, 166 (175). 133 BVerfGE 7, 305 (323). 134 BVerfGE 12, 45 (51). – Menschenbild und freiheitliche Demokratie verknüpft SV Jaeger/Hohmann-Dennhardt in E 109, 382 (391). 135 BVerfGE 48, 127 (161) mit Hinweis auf E 38, 154 (167). 136 Greifbar in BVerfGE 24, 119 (144): „Die Anerkennung der Elternverantwortung und der damit verbundenen Rechte findet ihre Rechtfertigung darin, daß das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbild des GG entspricht“. Vgl. auch E30, 415 (424); 101, 384 (385). – BVerfGE 47, 46 (72) formuliert ein erzieherisches Leitbild für die Schule, das immanent Bezüge zum „Menschenbild“ aufweist. 137 Siehe auch den Hinweis von U. Scheuner, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 12 (1977), S. 91 (Diskussion), Erziehung komme ohne „Regelbilder“ nicht aus; die heute verwandten Bilder seien vielfach allzu wissenschaftlich und rational ausgerichtet und zu wenig auf das „Bild des Menschen“. 138 Vgl. BVerfGE 7, 320 (323): Der Gesetzgeber „darf in ihr (sc. der Eltern) erzieherisches Ermessen nur eingreifen, soweit sein Wächteramt dies rechtfertigt ... Dies ergibt sich daraus, daß der Einzelmensch nach der verfassungsmäßigen Ordnung des GG nicht als isoliertes souveränes Einzelwesen, sondern als verantwortlich lebendes Glied der Gemeinschaft aufgefaßt wird (BVerfGE 4, 7 (15 f.)). Das Kind und der heranwachsende Jugendliche sollen auch heute

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Die Menschenbild-Judikatur des BVerfG hat, meist im Kontext der WertsystemRechtsprechung entwickelt, nicht nur verpflichtende Folgen: Sie führt auch zur Freiheit: Im Lebach-Urteil140 wird aus dem Menschenbild des GG auch die „Sicherung eines freiheitlichen Lebensklimas“ gefolgert, die „in der Gegenwart ohne freie Kommunikation“ nicht denkbar sei; die Resozialisierungsziele sind umschrieben mit typischen Menschenbild-Formulierungen, deren Verwandtschaft zu Erziehungszielen unverkennbar ist141. Auch wenn die Menschenbild-Formel dem BVerfG aus „taktischen“ Gründen meist einseitig in ihrer pflichtenbegründenden und freiheitsbegrenzenden Funktion dient, muß entscheidend dieser freiheitsorientierte Aspekt142 in den Vordergrund gerückt werden: Entfaltungsfreiheit der Jugend als Ziel mit dem Rahmen von Grenzen und Pflichten – dies ist das via „Menschenbild“ zu gewinnende Erziehungsziel. e) Eigenes Profil beweist – bei aller Nähe zur Menschenbildjudikatur des BVerfG – die Menschenbildliteratur von W. Geiger143, eines langjährigen BVerfGRichters. Er skizziert das Menschenbild des GG in den Stichworten: der Mensch ist das vernunftbegabte und das sittliche Wesen, das religiöse; charakteristisch sei überdies die „fundamentale Gleichheit aller Menschen“, seine Dimension als „animal sociale“, „homo politicus“ und seine „Unvollkommenheit“144. Mag diese „Summe“ fast wie eine „Addition“ aussehen und methodisch eher unbefangen sein: sie leistet einiges zur Erkenntnis der Menschenbildproblematik im Verfassungsstaat, nicht nur des GG, und sie steht in großen philosophischen Traditionslinien. f) Die von der Wissenschaft viel verwandte Figur des „Aktivbürgers“ umschreibt ein Element des Menschenbilds im Verfassungsstaat. Gemeint ist der in der Demozu leiblicher, seelischer und gesellschaftlicher Tüchtigkeit erzogen werden (vgl. Art. 120 WRV; § 1 RJWG und entsprechende Bestimmungen der Länderverfassungen).“ Kritik aber bei E.-W. Böckenförde, Elternrecht ..., in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd.14 (1980), S. 54 (65 Anm. 51). 139 In der Entscheidung zum Unehelichenrecht (E 25, 167 (196)) wird ein erzieherisches Leitbild aus Art. 6 Abs. 1 GG erkennbar; vgl. auch E 24, 119 (144). 140 BVerfGE 35, 202 (225). 141 Ebd., S. 235 f.; bekräftigt in E 45, 187 (239). 142 Das BVerfG hat in E 22, 180 (219 f.) die Unterbringung eines Bürgers allein zu dessen „Besserung“ für verfassungswidrig erklärt: „Der Staat hat aber nicht die Aufgabe, seine Bürger zu ‚bessern‘ und deshalb auch nicht das Recht, ihnen die Freiheit zu entziehen, nur um sie zu bessern, ohne daß sie sich selbst oder andere gefährden, wenn sie in Freiheit blieben“. Hier ist eine klare Grenze sowohl für den Verfassungsauftrag „Erziehung“ gegenüber Erwachsenen als auch für den Einsatz von Mitteln gezogen. 143 W. Geiger, Menschenrecht und Menschenbild, FS H. J. Faller, 1984, S. 3 (8 ff.); ihm folgt vor allem F. Kopp, Das Menschenbild im Recht und in der Rechtswissenschaft, FS Obermayer, 1986, S. 53 (60 ff.). 144 Auch die Naturwissenschaften beschreiben den Menschen gelegentlich als „unfertiges“ Wesen; als „Mängelwesen“ wird er von A. Gehlen gedeutet, vgl. ders., Der Mensch, 12. Aufl. 1972, S. 20, 33, 83, 354. Die christliche Theologie hat dies in Gestalt der „Unvollkommenheit“ des Menschen vorweggenommen.

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kratie das politische Leben aktiv mitgestaltende Bürger. Vom Leitbild des „homo politicus“ über den „Bürger“ (im Gegensatz zum „bourgeois“)145 bis zu grundrechtlichen Statuslehren, die den „status activus“ zum Ausgangspunkt nehmen146, spannt sich der Bogen einer Tradition, die speziell in der BR Deutschland bis in dogmatische Einzelfragen hinein greifbar wird: man denke nur an die starke Aufwertung der Meinungs- und Pressefreiheit, ebenso der Demonstrationsfreiheit mit ihrem Höhepunkt im Brokdorf-Urteil des BVerfG (E 69, 315)147. Mag hier manche grundrechtstheoretische „Übertreibung“ damit zu erklären sein, daß das GG im organisatorischen Teil die plebiszitäre Komponente der Demokratie vernachlässigt hat, statt repräsentative und unmittelbare Demokratie (etwa nach dem Vorbild der Schweizer Referendumsdemokratie) ausgewogen miteinander zu verbinden148: Festzuhalten bleibt, daß der als Demokratie organisierte Verfassungsstaat auf den Aktivbürger „setzt“ – aus der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG läßt sich sogar ein „Maßgabegrundrecht auf Demokratie“ herleiten149. Das heißt freilich nicht, daß das Private und seine unverzichtbaren Schutzzonen gering geachtet würden150. Eine durchgängige „Politisierung“ und „Veröffentlichung“ des Menschen und seines Handelns träfe den Verfassungsstaat im Kern – die totalitären Gegenbilder schrecken. Gerade aus der Möglichkeit des Rückzugs des Bürgers auf seine Privatsphäre („privacy“) erwachsen dem Verfassungsstaat oft unerwartete schöpferische Kräfte – man denke nur an Wissenschaftler und Künstler oder an die spezifischen „Reserven“ des Familienlebens. M. a. W.: Zum Menschenbild des Verfassungsstaates gehört gewiß das „aktivbürgerliche“ Moment, die Möglichkeit zur politischen Teilhabe (vgl. Art. 21 Abs. 1 Verf. Brandenburg von 1992). Aber diese lebt auch von den Kräften des Privaten, privater Freiheit – ich scheue mich, vom „Passiv-Bürger“ zu sprechen, da er das Gemeinte in ein falsches Licht rückte. 145 Dazu R. Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933), jetzt in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3.Aufl. 1994, S. 309 ff. – Zum „homo politicus“: F. Kopp (Anm. 75), S. 62 unter Hinweis auf Geiger, in: FS Faller, 1984, S. 3 (13). 146 Dazu im Blick auf den „status activus processualis“: P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.). 147 Vor allem die Diskussion um den „zivilen Ungehorsam“ wirft die Frage auf, bis zu welcher Grenze in freiheitlichen Demokratien (mit Minderheitenschutz) der Rechtsgehorsam eine „Primärtugend“ ist, weil er Ausdruck der Achtung der Freiheit des Mitbürgers darstellt und das Korrelat zum staatlichen Gewaltmonopol bildet. Aus der Lit.: T. Laker, Ziviler Ungehorsam, 1986; A. Kaufmann, Vom Ungehorsam gegenüber der Obrigkeit, 1991. 148 Das Schrifttum, das sich auch bei uns für eine Stärkung der unmittelbaren Demokratie einsetzt (z.B. C. Pestalozza, Der Popularvorbehalt, 1981 etc.), bleibt bislang in der Minderheit. Nach wie vor wird die repräsentative Demokratie als die „eigentliche“ Demokratieform angesehen: statt aller etwa E.-W. Böckenförde, FS Eichenberger, 1982, S. 301 ff. Zur jüngsten Diskussion jetzt O. Jung, Aktuelle Probleme der direkten Demokratie in Deutschland, ZRP 2000, S. 440 ff.; ders. für die Landesebene: JöR 48 (2000), S. 39 ff. 149 Dazu mein Beitrag, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd.1, 1987 (2.Aufl. 1995, 3.Aufl. 2004, Bd.II, 922), S.815 (848 f.). 150 Zum Privatheitsschutz: W. Schmitt Glaeser, Schutz der Privatsphäre, in: HdbStR Bd. 6, 1989, S. 41 ff. Vorbildlich Art. 6 Verf. Thüringen von 1993.

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

Die „vita activa“ (H. Arendt) ist nur eine Erscheinungsform des vom Verfassungsstaat umhegten „Ewig Menschlichen“; die „vita contemplativa“ bildet die andere Seite. Die Formel vom „Aktivbürger“, bis in verwaltungsrechtliche Detailfragen hinein ergiebig151, umschreibt nur ein Moment aus der Fülle des Menschlichen, das der Jurist bzw. Staatsrechtslehrer unter dem Stichwort „Menschenbild“ ins Auge faßt und mit den Möglichkeiten und Grenzen seiner Disziplin auf den Begriff bzw. ein Verfassungsprinzip bringt152. Die Eigenverantwortlichkeit des Menschen ist selbst dort ernst zu nehmen, wo dies schwerfällt: etwa bei der Zwangsernährung. g) Auch dem Privatrecht153 liegt ein bestimmtes Menschenbild154 zugrunde – und zwar eines, das sich „im Laufe der Zeit“ greifbar gewandelt hat. Setzte das BGB von 151 Siehe z. B. für die Begründung des Verwaltungsrechtsverhältnisses meinen Beitrag: Das Verwaltungsrechtsverhältnis, in: Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 248 (256 f.). 152 Kants berühmte Frage: „Was ist der Mensch?“ muß heute, da es keine „Leitwissenschaft“ (wie früher die Theologie und Philosophie) gibt, von jeder Disziplin selbst beantwortet werden. Sie kann das Gespräch mit den anderen Einzelwissenschaften suchen, aber sie vermag sie kaum zu integrieren. Das gilt auch und gerade für das Menschenbild und das sich in ihm spiegelnde Bild von Gott und der Welt, von Staat und Gemeinschaft. 153 Das eher optimistische Menschenbild kommt in dem vielen Privatrechtsordnungen gemeinsamen Satz aus dem Schweizer ZGB von 1911 zum Ausdruck: §3 Abs. 1: „Wo das Gesetz eine Rechtswirkung an den guten Glauben einer Person geknüpft hat, ist dessen Dasein zu vermuten“. 154 Vgl. zum Menschen- und Sozialbild des BGB die sehr prägnanten Ausführungen bei: G. Boehmer, Einführung in das Bürgerliche Recht, 1954, S. 78–83 (S. 78: „Der Menschentyp, an dem es sich orientiert und der seinen Stil prägt, ist noch nicht das gemeinschaftsverbundene, sozial bedingte und verpflichtete Massenindividuum des 20. Jahrhunderts, sondern immer noch der in der Aufklärungszeit wurzelnde, möglichst freie und gleiche, einerseits vernünftige, andererseits eigennützige, abstrakte Einzelmensch, der homo oeconomicus, gemischt aus Bürger- und Kaufmannssinn“.); ders., Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung – Erstes Buch, 1950, S. 11: „Es erweist sich, daß der ‚Geist‘ des im ‚bürgerlichen‘ Jahrhundert entstandenen Privatrechts von der Weltanschauung eines, wenngleich durch konservativ-deutschrechtliche Züge (...) gemäßigten Liberalismus und einer grundsätzlich materialistischen, ja sogar merkantilistischen Mentalität, die das 19. Jahrhundert beherrschten, stark beeinflußt und von der aufsteigenden Gedankenwelt des Sozialismus noch wenig berührt war. Der Menschentyp, der diesem Rechtszeitalter vorschwebt (...) ist nicht mehr der durch Sitte und Religion pflichtgebundene Gemeinschaftsmensch des Mittelalters, sondern der in der Aufklärungszeit wurzelnde möglichst freie und gleiche, einerseits ‚vernünftige‘, andererseits eigennützige, abstrakte Einzelmensch, der homo oeconomicus, gemischt aus Bürger- und Kaufmannssinn“. Siehe weiterhin J. Esser/E. Schmidt, Schuldrecht Bd. I Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1984, S. 2 (Zur klassischen Marktversion des ökonomischen Liberalismus als Leitbild für die Verfasser des BGB) und S. 3 („Bezugsfigur ... ist der sozial und rechtlich ebenso gleich wie unabhängig gedachte Bürger, der als homo oeconomicus in rationaler Einschätzung seiner Bedürfnisse planmäßig am Tauschverkehr teilnimmt und in Eigenverantwortung sowohl über Gewinnchancen verfügt wie Haftungsrisiken trägt“.); H. Brox, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 11. Aufl. 1987 (23. Aufl. 1999), Rdnr. 24 („das BGB weist eine liberalistische, individualistische Grundhaltung auf. Es basiert auf dem wirtschaftlichen Liberalismus. Man ging davon aus, daß der einzelne Mensch in der Lage sei, seine privaten Lebensverhältnisse in freier Selbstbestimmung und ohne staatliche Hilfe und Bevormundung zu gestalten.“) und Rdnr. 25 (zur vom

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1900 ganz bewußt auf den – freien und gleichen – Bürger, der „autonom“, z. B. dank der Vertragsfreiheit und Privatautonomie155 seine Angelegenheiten, Rechte und Interessen regelt bzw. wahrnimmt und „durchsetzt“, „beliebig“ mit seinem Eigentum in den äußersten Grenzen des § 903 BGB verfahren kann, so brachte die EntwickBGB vorausgesetzten Gleichheit der Vertragspartner); B. Rüthers, Allgemeiner Teil des BGB, 6. Aufl. 1986 (10. Aufl. 1997), Rdnr. 15 („Die grundlegenden Institutionen des Privatrechts (Rechtsfähigkeit, Privatautonomie und Eigentum) sind ihrer Idee nach auf Freiheit und Gleichheit aller Privatpersonen gerichtet.“). 155 Zu den Begriffen der Vertragsfreiheit und der Privatautonomie vgl. K. Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 6. Aufl. 1983, S. 1 (Das Privatrecht ist als der Teil der Rechtsordnung zu verstehen, „der die Beziehungen der einzelnen zueinander auf der Grundlage ihrer Gleichberechtigung und Selbstbestimmung [‚Privatautonomie‘] regelt“). Staudinger/Dilcher, Kommentar zum BGB, 12.Aufl. 1979, Rdnr. 5 ff. und Rdnr. 8 Einleitung zu §§ 104–185 unter Zitierung von P. Heck, Schuldrecht, 1929, S. 6: „Ausgangspunkt für die Gewährung der Privatautonomie ist die Erkenntnis, daß kein Gesetzgeber heute imstande ist, die Mannigfaltigkeit des Lebens zu überschauen“; Palandt/Heinrichs, 44. Aufl. 1985 (58. Aufl. 1999), Überblick vor § 104 Anm. 1 a („Das Bürgerliche Recht geht vom Grundsatz der Privatautonomie aus. Es überläßt es dem einzelnen, seine Lebensverhältnisse im Rahmen der Rechtsordnung eigenverantwortlich zu gestalten.“); F.-J. Säcker, in: Münchner Kommentar zum BGB, Bd. 1 Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1984, Einleitung Rdnr. 31, versteht die Privatautonomie als faktisch-realmögliche „Rechtsgestaltung“ bei beiderseitiger Selbstbestimmung. Die Verwirklichung des Gedankens der Privatautonomie erfolgt in der Realität in erster Linie durch die Praxis der Vertragsfreiheit; vgl. z. B. Palandt/Heinrichs, a. a. O., Anm. 3 a Einf. vor § 145 BGB (Die Vertragsfreiheit ist die Haupterscheinungsform der Privatautonomie); W. Fikentscher, Schuldrecht, 6. Aufl. 1976, S. 70 („Die in der Vertragsfreiheit zum Ausdruck kommende Privatautonomie ist ein unentbehrlicher Grundsatz auch einer sozial verstandenen Marktwirtschaft“). Daß mit der Möglichkeit des Mißbrauches der Privatautonomie gerechnet wird, läßt erkennen, daß die Rechtslehre eine „realistische“ Einschätzung des Menschen vornimmt und damit von einem bestimmten Menschenbild ausgeht; z. B.: Palandt/Heinrichs, a. a. O., Überblick v. § 104 Anm.1 a („Es darf aber nicht vergessen werden, daß die Privatautonomie auch die Gefahr des Mißbrauchs in sich birgt und als Instrument gesellschaftlicher Machtausübung benutzt werden kann. Derartigen Mißbräuchen zu begegnen, ist in einer sozial-staatlichen Rechtsordnung eine der vornehmsten Aufgaben von Gesetzgebung und Rechtsprechung.“); T. Mayer-Maly, in: Münchner Kommentar zum BGB, Bd. 1 Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1984, Rdnr. 78 ff. zu § 138 BGB (Rdnr. 78 zur Abwehr der Ausnutzung der Übermacht: „Wenngleich die am Prinzip der Privatautonomie orientierte Vertragsordnung bei annäherndem Kräftegleichgewicht der Kontrahenten am besten funktioniert, rechnet die Rechtsordnung doch damit, daß sich relativ oft ein Vertragspartner in einer erheblich stärkeren Position befindet als der andere.“ Nutzt er diese „Vormachtstellung“ aus, so liegt ggf. ein Verstoß gegen die „guten Sitten“ vor). Zur „Vertragsfreiheit und Diskriminierung“: J. Isensee (Hrsg.), 2007. Zum Gedanken der „Gerechtigkeit“ bzw. der Vertragsgerechtigkeit im Rahmen der „Privatautonomie“ siehe: Staudinger/Dilcher, Kommentar zum BGB, Bd. I, 12. Aufl. 1979, Rdnr. 9 f. (Rdnr. 10: „... unstreitig stellt die Rechtsordnung als Ganzes die überindividuellen Ordnungskräfte zur Korrektur von Unvollkommenheiten oder Fehlleistungen privater Initiative bereit: zumindest die Summe der vorgenommenen Rechtsgeschäfte vermag so dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit zu entsprechen“.); K. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd.I Allgemeiner Teil, 14. Aufl. 1987, S. 51 (Hier finden sich Ausführungen dazu, wie sich die Privatautonomie als Freiheit zu grundsätzlich beliebiger Gestaltung der Rechtsbeziehungen durch Verträge mit dem der Rechtsordnung immanenten Gedanken der ausgleichenden Gerechtigkeit verträgt.) und S. 76 ff. (zur ausgleichenden Vertragsgerechtigkeit).

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

lung zum sozialen156 Rechtsstaat seit Weimar (1919) und dem GG (1949) auf Verfassungsebene157, das Entstehen neuer Rechtsgebiete wie des Arbeits-158 und Sozialrechts oder des Miet-159 und Wettbewerbsrechts160, auch die Auslegung des § 242 BGB161 und die stärkere Begrenzung von Vertrags- und Eigentumsfreiheit (z. B. in 156 Zu den „sozialen Defiziten“ des BGB siehe z. B. H. Köhler, BGB – Allgemeiner Teil, 18. Aufl. 1983 (25. Aufl. 2000), S. 13 („Die extrem liberale Konzeption wurde jedoch den drängenden Fragen, die der Übergang zur Industriegesellschaft aufwarf, nicht gerecht...“, vor allem hatte das BGB das „Problem des Mißbrauchs der Vertrags- und Eigentumsfreiheit durch den wirtschaftlich Mächtigen und die Notwendigkeit des Schutzes des wirtschaftlich Schwächeren“ nicht grundsätzlich angegangen. „Man versuchte der ‚sozialen Frage‘ durch punktuelle Schutzvorschriften ... gerecht zu werden.“ H. Köhler verwendet hier auch die bekannte Formulierung: „Das BGB war insoweit nur mit einem Tropfen sozialen Öls gesalbt.“); G. Boehmer, Einführung in das Bürgerliche Recht, 1954, S. 80 spricht in diesem Zusammenhang sehr anschaulich von „sozialethischen Farbflecke(n)“. 157 Siehe z. B. J. Esser/E. Schmidt, Schuldrecht Bd. I Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1984, z. B. S. 8 f. (zur „Sozialstaats-konformen“ Anwendung vorhandener Schuldrechtstatbestände), S. 29 f. (Die Sozialbindung des Eigentums gemäß Art. 14 Abs. 2 GG führt „zu einer direkten Einschränkung seines in § 903 BGB konzedierten Beliebens (des Eigentümers), weil Art. 14 GG ja gerade das private Eigentum meint.“); H. Brox (Anm. 154), Rdnr. 28 (zum Einfluß des GG auf das BGB und insbesondere zur verfassungsrechtlichen Verstärkung des Gedankens des sozialen Ausgleichs aufgrund der Grundrechte und des Sozialstaatsprinzips); K. Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 6. Aufl. 1983, S. 63 und 64 zum gewandelten Verständnis des Grundeigentums und des Eigentums an Produktionsgütern und zum Gedanken der „sozialen Bindung“ des Eigentums in der WRV und dem GG. 158 H. Köhler (Anm. 156), S. 19 weist auf die Fortentwicklung des Bürgerlichen Rechts in der Zeit der Weimarer Republik hin, in der die wirtschaftliche und soziale Not den Gesetzgeber zu Änderungen u. a. auf dem Gebiet des Arbeitsrechts zwang und in deren Folge sich das Arbeitsrecht zu einem eigenständigen Rechtsgebiet verselbständigte. 159 J. Esser/H.-L. Weyers, Schuldrecht Bd. II – Besonderer Teil, 6. Aufl. 1984, S. 149 ff., 151 (zur besonderen Problematik der Wohnungs- und Raummiete unter dem Aspekt ihrer „sozialen“ Bedeutung und zu Lösungsansätzen u. a. durch die Vervielfachung zwingender Schutzvorschriften), S. 169 („Im Kündigungsschutz des Mieters liegt schon seit längerer Zeit ein wichtiger Schwerpunkt des in neuerer Zeit sogenannten ‚sozialen Mietrechts‘“); W. Fikentscher (Anm. 155), S. 444 zum Mieterschutz: „Die schutzrechtlichen Vorschriften sind unabdingbar und können nur zugunsten des Mieters abgeändert werden. Das bedeutet eine erhebliche Einschränkung der Privatautonomie im Bereich des Mietrechts. Diese Einschränkung ist aber durch die Sozialstaatsverpflichtung (Art. 20 GG) gerechtfertigt“. 160 E. Kramer, in: Münchner Kommentar zum BGB, Bd. 1, Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1984, Rdnr. 21 Vorbem. zu § 145 BGB zur wettbewerbsrechtlichen Mißbrauchskontrolle marktbeherrschender Unternehmen; B. Rüthers (Anm. 154), Rdnr. 44 befaßt sich ausführlich mit dem Wettbewerbsrecht und dem „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“. 161 Vgl. z. B. J. Esser/E. Schmidt, Schuldrecht Bd. I Allgemeiner Teil, 6. Aufl. 1984, S. 29 f. zur Auslegung des § 242 BGB, dem Sozialschutz dienende Begleitpflichten zu legitimieren; siehe auch Palandt/Heinrichs (Anm. 154), Anm. 1 dbb zu § 242 BGB (m. w. Nachw.), wonach die durch Art. 4 GG verbürgte Gewissensfreiheit im Privatrecht über § 242 BGB zur Geltung gelangen und etwa echte Gewissensnot des Schuldners im Rahmen von Schuldverhältnissen Berücksichtigung finden kann. In der Praxis kommt vor allem der Generalklausel aus § 138 BGB („gute Sitten“) für die Begrenzung der Privatautonomie eine wichtige Bedeutung zu; vgl. etwa B. Rüthers (Anm. 154), Rdnr. 381 (§ 138 BGB als weitgefaßte Generalklausel zur Mißbrauchskontrolle); T. Mayer-Maly, in: Münchner Kommentar (Anm. 154), Rdnr. 1 zu § 138

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Art. 14 Abs. 2 GG162) einfach-gesetzlich mehr als eine nur oberflächliche „Korrektur“ des „liberalen“ Menschenbilds (dazu G. Boehmer163). Die derzeitige Diskussion um ein „soziales (oder sozialstaatliches?) Privatrecht“ (z. B. Esser-Schmidt164, auch F. Kübler165), zeigt, wie die Wissenschaft hier um das verfassungskonforme Verständnis166 von Privatrecht ringt. Charakteristisch sind Wechselwirkungen: eiBGB, der die Privatautonomie nicht nur durch Verbotsgesetze, also die positivierte Ordnung, sondern auch durch die nichtpositivierte Ordnung begrenzt sieht, welche § 138 BGB als „die guten Sitten“ bezeichnet. 162 J. Esser/E. Schmidt (Anm. 153), S. 29 f.; K. Larenz (Anm. 156), S. 63 f.; G. Boehmer, Einführung in das Bürgerliche Recht, 1954, S. 249 ff. erörtert die soziale Pflichtgebundenheit der Privatrechte eingehend; er erachtet den individualistischen Eigentumsbegriff des § 903 als überholt (S. 250) und befaßt sich ausführlich mit der sozialen Gebundenheit im beweglichen Vermögensrecht (S. 251 ff.) und des Grundeigentums (S. 258). 163 G. Boehmer, Grundlagen der Bürgerlichen Rechtsordnung, 1954, S. 12 („Der Name ‚Bürgerliches Recht‘ hat die nötige Spannweite, um auch eine mit Gemeinschaftspflichten durchsetzte Lebensordnung in sich aufzunehmen. Nur in dieser sozialen Färbung ist freilich heute noch ein Privatrecht sittlich gerechtfertigt ...“), S. 12 ff. behandeln die sozialethische Bedeutung des Bürgerlichen Rechts. 164 Die soziale Aufgabe des Schuldrechts erweist sich nach J. Esser/E. Schmidt, Schuldrecht Bd. I Allgemeiner Teil, 6.Aufl. 1984, S.6 mit Blick auf den Sozialstaatsgedanken als Einlösung des dem Rechtssystem aufgegebenen Mandats zur „Herstellung sozialer Gerechtigkeit, und das bedeutet stets und vor allem: zum Schutz des Schwächeren“. S. 7 befaßt sich mit der Auflösung des tendenziellen Spannungsverhältnisses zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit, S. 29 f. enthalten Darlegungen zu „sozialstaatlichen Korrekturen“ des BGB. – Zum „Sozialstaatsprinzip im Privatrecht“: J. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999, S. 219 ff. 165 F. Kübler, Über die praktischen Aufgaben zeitgemäßer Privatrechtstheorie, 1975, S. 17 stellt unter Hinweis auf F. Wieacker (Das Sozialmodell der klassischen Privatrechtsbücher und die Entwicklung der modernen Gesellschaft, 1953, insbes. S. 4 und 10 ff.) dar, daß die Zivilrechtspflege dem BGB von 1900 ein neues Sozialmodell unterlegte, ohne Preisgabe ihrer Tradition; F. Wieacker, a. a. O., S. 18 führt dazu aus: „Unter der Führung des Reichsgerichts hat die Rechtsprechung, von der Öffentlichkeit kaum beachtet, im letzten halben Jahrhundert die formale Freiheitsethik, die der deutschen Privatrechtsordnung zugrundelag, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt; ‚zurückverwandelt‘, weil sie damit, meist unbewußt, zu den ethischen Grundlagen des älteren europäischen Gemein- und Naturrechts zurückkehrte“. – F. Kübler, Gesellschaftsrecht, Die privatrechtlichen Ordnungsstrukturen und Regelungsprobleme von Verbänden und Unternehmen, 2. Aufl. 1985, S. 695, zu der geschichtlichen Entwicklung des Gesellschaftsrechts; hervorzuheben sind die Ausführungen auf den S. 17 ff. zu den Modifikationen der Auffassungen im Gesellschaftsrecht und insbesondere zu der Tendenz der Berücksichtigung von Arbeitnehmerinteressen und Bedürfnissen der Allgemeinheit bei der Organisation von Unternehmen durch zwingende Vorschriften des Gesellschaftsrechts und zu seiner Ausrichtung an konkreten wirtschafts- und sozialpolitischen Zwekken; ders./W. Schmidt/S. Simitis, Mitbestimmung als gesetzgeberische Aufgabe, 1978, S. 63 ff. (Sozialgebundenheit des von der Mitbestimmung betroffenen Eigentums), S. 109 ff. (Privatautonomie und Gesellschaftsrecht). 166 Vgl. im übrigen hinsichtlich der „sozialen Anforderungen“ an das Privatrecht z.B. K. Larenz, Allgemeiner Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts, 6. Aufl. 1983, S. 51: „Zu den ... Prinzipien der Privatautonomie, des Vertrauensschutzes und der ausgleichenden Vertragsgerechtigkeit ist ein weiteres hinzugetreten, das man als ‚Sozialprinzip‘ i.e. S. bezeichnen kann“. B. Rüthers (Anm. 154), Rdnr. 24 (zur „liberal-individualistischen Wertgrundlage“ des Privatrechts und dem Sozialstaatsprinzip: „Der Staat ist ‚Mächtigster auch im Sozialen‘ (Hermann

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nerseits strahlt das Menschenbild der Verfassung seine im Vergleich mit dem 19. Jahrhundert stärkere soziale Bindung auf das Privatrecht aus, andererseits prägt das „Proprium“ dieses Rechtsgebiets mit seinen klassischen Auslegungsmethoden und Menschenbildelementen seinerseits das privatrechtsrelevante Menschenbild der Verfassung mit; z. B. bleibt die Privatautonomie als (ungeschriebener) Teil des Art. 2 Abs. 1 GG blaß, wenn es nicht „von unten“ her aus den eigenen Strukturen des Privatrechts Farbe und Konturen gewönne. Im ganzen mag man sogar von einer gewissen „Ungleichzeitigkeit“ und damit Verschiedenheit der Menschenbildinhalte der einzelnen Rechtsgebiete sprechen: die neue Verfassung hat ein zu den vorgefundenen Rechtsmassen z. T. kontrastierendes Menschenbild, die wechselseitige Anpassung erfolgt erst in längeren Prozessen. h) Das Menschenbild im Strafrecht, Sozial- und Arbeitsrecht. – Einzelnen in jedem Verfassungsstaat mitgedachten und zum Teil auch mitnormierten Gebieten des einfachen Rechts wie des Strafrechts167 mit seinem letztlich zum Verfassungsrecht Heller) und trägt die Verantwortung dafür, daß die gesellschaftliche Entwicklung an den demokratischen Idealen von Freiheit und Gleichheit orientiert bleibt“.). Siehe desweiteren F.-J. Säcker, in: Münchner Kommentar (Anm. 155), Einleitung Rdnr. 39: „Das streng individualistische, liberal konzipierte Schuldvertragsrecht wurde durch Verstärkung der Pflichtenstruktur des zweiseitigen Vertrages mittels Anerkennung nicht nur eines Leistungsbereichs, sondern auch eines Vertrauensbereichs des Vertrages, der durch Loyalitäts-, Rücksichtnahme-, Sorgfalts-, Obhuts- und Vertragstreuepflichten gekennzeichnet ist, korrigiert“. 167 Im Mittelpunkt der Erörterung des Menschenbildes im Strafrecht steht die Frage nach der Willensfreiheit und Verantwortungsfähigkeit des Menschen: H.-H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, S. 327 ff. setzt sich eingehend mit den anthropologischen Grundlagen des Schuldbegriffs auseinander (S.328 f.: „Das Schuldprinzip hat die Entscheidungsfreiheit des Menschen zur logischen Voraussetzung, denn nur wenn grundsätzlich die Fähigkeit zum Andershandeln besteht, kann der Täter dafür verantwortlich gemacht werden, daß er es zur rechtswidrigen Tat hat kommen lassen, anstatt die kriminellen Antriebe zu beherrschen.“ S.330: „Die Bestimmbarkeit des Handelns beruht auf der Fähigkeit des Menschen, die auf ihn einwirkenden Antriebe zu kontrollieren und seine Entscheidung nach Sinngehalten, Werten und Normen auszurichten.“ S. 330 ff. zum Gewissen als Quelle des Rechts- und Unrechtsbewußtseins; S. 333: „Das Schuldprinzip setzt nicht nur voraus, daß der einzelne Mensch sich frei, sondern auch, daß er sich richtig entscheiden kann.“) Siehe weiterhin J. Baumann/ U. Weber, Strafrecht Allgemeiner Teil, 9. Aufl. 1985, S. 92 ff. zur „Kriminalanthropologie“ (Kriminalbiologie) und S. 94 f. zur Kriminalsoziologie. S. 95 f. zum Streit zwischen Determinismus und Indeterminismus, S.364 ff. zu den Begriffen der „strafrechtlichen und der sittlichen Schuld“. Hinsichtlich der Willensfreiheit des Menschen wird auf S. 382 dargelegt: „U. E. muß auch für den Bereich des Strafrechts eine praktische Willensfreiheit postuliert werden, muß angenommen werden, dass die Summe aller verbrechensfordernden abzüglich aller verbrechenshindernden Ursachen noch nicht das Verbrechen ausmacht; zumindest muss das Strafrecht so konzipiert sein, daß es auch für den Fall der Willensfreiheit gelten kann.“ Siehe auch E. Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 1984, S. 187 ff. zu den Grundfragen der Schuldlehre. S.188 enthält Darlegungen zu einem axiologischen Schuldbegriff, der von dem Menschen als einem geistigen Wesen ausgeht. Auf S. 191 f. nimmt E. Schmidhäuser zum Problemkreis „strafrechtliche Schuld und die philosophische Frage nach der Willensfreiheit“ Stellung. Das Menschenbild der („gesamten“) Strafrechtswissenschaft im weitesten Sinne kann sich des Einflusses von Psychologie und Psychoanalyse nicht verschließen. Die Problematik der Anwendung von Erkenntnissen der Tiefenpsychologie auf das Strafrecht behandelt B. Haffke, Straf-

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zurückführenden Rechtsgüterschutz168 liegt ebenfalls ein bestimmtes Menschenbild zugrunde. Es ist „gemischter“ Natur: Die Existenz des – verfassungskonformen – Strafrechts rechnet damit, daß der einzelne Mensch straffällig werden kann und insoweit Mißtrauen verdient; anders die Unschuldsvermutung. Die Strafzwecke der „Resozialisierung“169 gehen demgegenüber von der Hoffnung170 aus, daß sich rechtsdogmatik und Tiefenpsychologie, in: H. Jager (Hrsg.), Kriminologie im Strafprozeß, 1980, S. 133 ff. (S. 147 f. bringt Erörterungen des Aspekts der Determination; S.149 f. schließt Ausführungen zur Willensfreiheit an. Im Anschluß an eine prägnante Formulierung von Kohlrausch bezeichnet B. Haffke das Schuldprinzip als „staatsnotwendige Fiktion“). 168 Zur Funktion des Strafrechts als Mittel des Rechtsgüterschutzes siehe in der strafrechtlichen Literatur etwa H.-H. Jescheck, Strafrecht – AT, 3. Aufl. 1978, S. 595; H. Otto, Strafrecht – AT, 2. Aufl. 1982, S. 6 f., 107 (6. Aufl. 2000); Schönke/Schröder, Kommentar zum Strafgesetzbuch, 22. Aufl. 1982, S. 109; J. Baumann, Strafrecht-AT, 9. Aufl. 1985, S. 8 ff., 16. Der durch das Strafrecht bezweckte Rechtsgüterschutz spiegelt sich auch in den Schutzzweckinterpretationen einzelner Straftatbestände des StGB durch den BGH, siehe z.B. BGHSt 29, 129 (133) zum Umfang des strafrechtlichen Schutzes des Eigentümers einer Sache; 31, 202 (207), Schutz wichtiger Rechtsgüter der Gemeinschaft wie etwa der öffentlichen Sicherheit (unter Verweis auf BGH NJW 1975, 985: mehrtägige gewalttätige Hausbesetzung) oder der Volksgesundheit (unter Hinweis auf BGH NStZ 81, 303: internationaler Rauschgifthändlerring); BGHSt 24, 40 (42) unterstreicht die präventive Schutzaufgabe des Strafrechts. Zum Schutz von durch die Verfassung und die Grundrechte garantierten Rechtsgütern durch das Strafrecht vgl. auch P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 189. – Die Schutzpflicht des Staates für Rechtsgüter (des Lebens) ist Gegenstand etwa von BVerfGE 39, 1 (42), 68 (93 f.); 46, 160 (164); 88, 203 (251 ff.); siehe desweiteren zur Pflicht der wirksamen Aufklärung von Straftaten BVerfGE 33, 367 (382) und zur Schutzpflicht als Auftrag eines rechtsstaatlichen Gemeinwesens BVerfGE 34, 238 (248). In E 64, 261 (270 f.) führt das BVerfG zur lebenslangen Freiheitsstrafe für schwerste Tötungsdelikte aus: „Der Gesetzgeber sieht diese Sanktion als notwendig an, um der ihm im Rechtsstaat des Grundgesetzes auferlegten Pflicht zu genügen, das Leben jedes Menschen auch mit den Mitteln des Strafrechts wirksam zu schützen“. BVerfGE 66, 39 (61) enthält Ausführungen zur Verwirklichung der objektivrechtlichen Schutzpflicht des Staates in bezug auf Grundrechte im Bereich der Außenund der Verteidigungspolitik gegenüber fremden Staaten. Zuletzt allgemein: BVerfGE 96, 56 (63 f.); 101, 275 (291) – Rehabilitierung. 169 Strafvollzugskunde und Strafvollzugsgesetz nehmen an, daß der zum Straftäter gewordene Mensch „erziehungs- und besserungsfähig“ ist. Auch hierin ist die Zugrundelegung eines bestimmten Menschenbildes als Ausgangspunkt für die gesetzlichen Regelungen der Vollziehung von Strafsanktionen innerhalb einer Rechtsordnung zu sehen. Dies kommt in § 2 S. 1 StVollzG zum Ausdruck, wo es heißt: „Aufgaben des Vollzugs. Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftat zu führen (Vollzugsziel).“; vgl. auch H. Schöch, in: G. Kaiser/H.-J. Kerner/H. Schöch (Hrsg.), Strafvollzug, 3. Aufl. 1983, S. 78 der darauf hinweist, daß der Begriff „Resozialisierung“ als Kennzeichnung des Vollzugszieles an die Stelle der früher gebräuchlichen Ausdrücke „Erziehung und Besserung“ getreten ist. Siehe auch A. Bohm, in: H. D. Schwind/A. Böhm (Hrsg.), Strafvollzugsgesetz, Studienausgabe 1986, Rdnr. 10 und 11 zu § 2 – Erläuterung des Begriffs „Vollzugsziel“. Das bedeutet, daß der Gesetzgeber offenbar annimmt, viele Insassen der Strafanstalten seien (noch) nicht fähig, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen, konnten aber diese Fähigkeiten im Vollzug der Freiheitsstrafe erwerben (so auch die einleitende Bemerkung in Rdnr. 12 und Rdnr. 1 zu § 4). 170 Den Einbau der Menschenbildproblematik in die Ziele des Strafvollzugs befürwortet C. Hoffmeyer, Grundrechte im Strafvollzug, 1979, S. 93 ff. („Art. 1 Abs. 1 GG als Gewährlei-

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der (erwachsene) Mensch bessern171, eben „resozialisieren“ läßt172. Die Kriminologie ringt als Wissenschaft um ihr Menschenbild173. stung potentieller Erziehungsfähigkeit des Menschen“), S. 125 f. („Menschenbild des Grundgesetzes als Erziehungsideal“). 171 Siehe aber auch bei und in Anm. 142. 172 Vgl. G. Kaiser/H.-J. Kerner/H. Schöch (Hrsg.), Strafvollzug, 3. Aufl. 1983, S. 78: „... in Literatur und Rechtsprechung (hat sich) der Begriff Resozialisierung als knappe Kennzeichnung des Vollzugsziels anstelle der früher üblichen Ausdrücke ‚Erziehung und Besserung‘ durchgesetzt“. Die Strafvollzugskunde erachtet den Menschen als „erziehungs- und besserungsfähig“. – Der Fähigkeit des Menschen zur Abänderung und Resozialisierung trägt auch das BVerfG in seiner Rechtsprechung Rechnung, so z.B. in BVerfGE 35, 202 (235): „Dem Gefangenen sollen Fähigkeit und Willen zu verantwortlicher Lebensführung vermittelt werden, er soll es lernen, sich unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch zu behaupten, ihre Chancen wahrzunehmen und ihre Risiken zu bestehen“. Vgl. zur gleichen Problemstellung BVerfGE 36, 174 (188); 45, 187 (238 f.); 64, 261 (271, 273 ff.); 66, 337 (360); 69, 161 (170). Der BGH äußert sich zur Resozialisierung meist knapp oder indirekt unter Hinweis oder Bezugnahme auf das Vollzugsziel des §2 S. 1 StVollzG: so etwa in BGHSt 29, 33 (36) und 30, 320 (326); § 2 S. 1 StVollzG lautet: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel)“. In BGHSt 24, 40 (42 f.) sieht der BGH den Zweck des Strafvollzugs in der „Einwirkung auf den entsozialisierten Täter durch sinnvollen Vollzug. (...) Die Strafvollstreckung soll sich nicht in einem sinnlosen Absitzen erschöpfen, sondern Behandlung im Vollzug sein“ (Hervorhebungen vom Verf.). – Zur Problematik des Strafvollzuges und zur Erziehung und Resozialisierung siehe auch G. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, hrsg. von K. Zweigert, 12. Aufl. 1969, S. 138 f.; ders., im Aufsatz „Der Mensch im Recht“ in dem gleichnamigen Sammelband, 3. Aufl. 1969, S. 15 f.; ders., im Beitrag „Der Erziehungsgedanke im Strafwesen“, in: Der Mensch im Recht, a. a. O., S. 50 ff. – Aus der Judikatur des BVerfG zuletzt: E 98, 169 (199 ff.); 113, 154 (164 ff.). 173 Zu Kriminalitätstheorien siehe H. J. Schneider, Kriminologie, 1987, S. 359: „Kriminalitätstheorien beeinflussen und verändern soziale Wertvorstellungen, die Öffentliche Meinung über die Verbrechensverursachung“; S. 360: „Von einem pragmatischen Standpunkt aus enthalten Kriminalitätstheorien indeterministische und deterministische Elemente. Sie leugnen im Rahmen sozialer, psychischer und körperlicher Kriminalitätsursachen den freien Willen des Rechtsbrechers nicht.“ Zum Menschenbild in der Kriminologie vgl. desw. H. Göppinger, Kriminologie, 4.Aufl. 1980, S.1. Hier wird die Kriminologie als eine Erfahrungswissenschaft vom Menschen angesehen. Auf S. 53 f. setzt sich H. Göppinger kritisch mit der im Rahmen einer „Psychologie der strafenden Gesellschaft“ vertretenen (E. Fromm, Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, 1970, S. 115 ff.) und von Auffassungen S. Freuds ausgehenden „Sündenbockthese“ auseinander, die den Menschen als ein von Natur aus asoziales Wesen begreift. Die Vorstellung und damit das Bild vom Menschen in der Kriminologie wird oftmals indirekt im Zusammenhang mit Erörterungen der Gesellschaft behandelt. Untersuchungen über das Phänomen „Kriminalitat“ befassen sich mit dem „Kontext“, in dem die Gesellschaft und der „straffällig“ gewordene Mensch stehen. H. J. Schneider, Kriminologie, 2. Aufl. 1977, S. 11 bestimmt den Gegenstand der Kriminologie und den angesprochenen Zusammenhang mit Blick auf die Interdependenzen zwischen dem straffällig gewordenen (oder werdenden) Menschen und der Gesellschaft. Die auf die Vorstellung vom „strafwürdigen“ Verhalten einwirkenden Wandlungsprozesse der Gesellschaft (die ja von Menschen gebildet wird) sind ohne die Wandlungsfähigkeit des Menschen nicht zu verstehen. Bedeutung kommt in der Kriminologie deshalb der Erforschung der gesamten Persönlichkeitsentwicklung des Straftäters zu (S. 21). Zur Wandlung des „Bildes“ vom „verbrecherischen Menschen“ in der „geschichtlichen Entwicklung“ der Kriminologie (vgl. S. 24 ff.). S. 24 ff. zu den „kriminalbiologischen Theorien“:

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Das Sozialrecht174 wäre ein weiteres Beispielsfeld einfachen Rechts, das menschenbildhaft geprägt ist; gleiches gilt für das Arbeitsrecht175. Diese gingen von einem Konzept des „geborenen Verbrechers“ aus, den sie als „einen eigenen anthropologischen Typus des Menschengeschlechts“ ansahen, der, abgesehen von allen sozialen und individuellen Lebensbedingungen, mit unentrinnbarer Notwendigkeit zum Verbrecher werden müsse (S. 25 mit Hinweis auf Lombroso); S.37 ff. zum „Mehrfaktorenansatz“ unter Zitierung von H. Göppinger, Kriminologie, 2.Aufl. 1973, S. 50, wird der Täter als „Teil bestimmter gesellschaftlicher Kräftefelder“ verstanden, „denen ihrerseits jedoch nur eine durch die jeweilige Individualität der Persönlichkeit relativierte Wirkung zukommt“. (Anmerkung des Verf.: es wurde hier die 2. Aufl. des Lehrbuchs von H. J. Schneider aus dem Jahre 1977 zitiert, weil die dort aufgefundenen Ausführungen sich aufgrund ihrer hohen Prägnanz für die knappe Kennzeichnung des Menschenbildes der Kriminologie besonders eigneten.) 174 Das Sozialrecht umreißt für sein Gebiet Aspekte des grundgesetzlichen Menschenbildes in den Worten des § 1 Abs. 1 S. 2 SGB – Allgemeiner Teil I wie folgt: „Es (sc. das SGB) soll dazu beitragen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen, die Familie zu schützen und zu fördern, den Erwerb des Lebensunterhalts durch eine frei gewählte Tätigkeit zu ermöglichen und besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe, abzuwenden oder auszugleichen“. – Das BSG übernimmt die Auffassung des BVerfG, das GG habe die „Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“ (BSGE 6, 213 (236)). Zu sich daraus ergebenden Grundrechtsschranken BSGE 20, 169 (178); siehe auch BSGE 42, 178 (182). Den Bezug zum Menschenbild zeigt auch die Orientierung des BSG am „Leitbild des gesunden Menschen“ zur Bestimmung einer Krankheit i. S. des § 182 RVO; so BSGE 26, 240 (242); 35, 10 (12); 39, 167 (168). Siehe zum Sinn einer Krankenbehandlung BSGE 39, 78 (81). – Kritisch dazu, ob sich dieses „Leitbild des gesunden Menschen“ noch dem Menschenbild des GG entnehmen läßt: D. Wilke/J. Schachel, Die Grundrechte in der Rechtsprechung des BSG, VSSR Bd. 6, 1978 (Vierteljahresschrift für Sozialrecht), S. 271 (277). 175 Das sich aus dem klassischen Zivilrecht emanzipierende Arbeitsrecht kann vielleicht schon als solches als Rechtsgebiet verstanden werden, in dem der Arbeitnehmer trotz des „Arbeitsverhältnisses“, d. h. des status des „Abhängigen“ als Freier und Gleicher geschützt wird: eben dies ist das Leitbild des GG. In der Rechtsprechung des BAG findet sich zwar keine dem BVerfG vergleichbare und auf das BVerfGE 4, 7 (15 f.) bzw. das GG Bezug nehmende ausdrückliche Menschenbildjudikatur. Doch gibt es bestimmte Problembereiche, in denen der Sache nach Menschenbild-Elemente wirksam werden: So heißt es in BAGE 1, 185 (195): „Ist somit ein Mißbrauch der Machtstellung des Arbeitgebers zur unbilligen und unsachlichen Knebelung der Meinungsfreiheit unzulässig, so fehlt es an einer solchen rechtswidrigen Beschränkung oder Maßnahme dann, wenn vom Standpunkt eines verständigen und ruhig denkenden Menschen der andere Teil ein solches begründetes und zu billigendes Interesse für seine Maßnahme hat“. – In BAGE 5, 159 (163) heißt es: „Indiskrete Befragungen z.B. können als ein Einbruch in die rechtlich zu schützende Individualsphäre des Arbeitnehmers unzulässig und daher ihre wahrheitswidrige Beantwortung nicht arglistig sein“. – Das Element „Gemeinschaftsgebundenheit“ wird der Sache nach in BAGE 41, 150 („Anti-Strauss-Plakette“) konkretisiert, wenn es ebd. S. 159 heißt: „Eine bloße Gefährdung des Betriebsfriedens durch eine politische oder parteipolitische Betätigung reicht allerdings in der Regel nicht aus, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen; erforderlich ist vielmehr eine konkrete Störung des Arbeitsverhältnisses im Leistungsbereich, im Bereich der betrieblichen Verbundenheit aller Mitarbeiter (Betriebsfrieden), im personalen Vertrauensbereich oder im Unternehmensbereich“. – In der Literatur zum Arbeitsrecht lassen sich Elemente des Menschenbilds herausfiltern: aus der Qualifizierung des Arbeitsrechts als „Arbeitsschutzrecht“ (A. Hueck/H. C. Nipperdey, Lehrbuch des Arbeits-

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i) Das so charakterisierte Menschenbild im Verfassungsstaat ist wie viele Verfassungsprinzipien ein generalklauselartiger, ein Rahmen-Begriff: sowohl im Verfassungsstaat als Typus als auch in seinem heutigen Beispiel des Grundgesetzes. Er muß so allgemein sein, weil die pluralistische Demokratie als solche Raum gibt für variable Ausgestaltungen und Konkretisierungen – ein Vorgang, an dem viele, vor allem die politischen Parteien (diese schon nach ihren Programmen176), andere Gruprechts, Bd. I, 1959, S. 25, diess., ebd. zur persönlichen und wirtschaftlichen Abhängigkeit des Arbeitnehmers), aus der Einbindung des Arbeitsschutzgedankens in das „Interesse der Allgemeinheit“ (ebd., S. 26), durch das Postulat nach „Würdigung des Arbeitnehmers als Persönlichkeit“ (ebd., S. 27) und durch die Erinnerung an das „alte Problem der Grenzziehung zwischen Individualismus und Kollektivismus“, das im modernen Arbeitsrecht in neuer Gestalt erscheine (ebd., S. 29). Zum Postulat der „Humanisierung des Arbeitslebens“ und der „menschengerechten Gestaltung des Arbeitsplatzes“ etwa W. Zöllner, Arbeitsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 22. 176 Auch die Programme der bundesdeutschen politischen Parteien (zit. nach R. Kunz/ H. Maier/T. Stammen, Programme der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, Band I und II, 3. Aufl. 1979, Ergänzungsband 1983, sind eine Fundgrube für Menschenbilder bzw. Menschenbildelemente. Das wird teils sogleich sprachlich, teils erst durch Wertung erkennbar. Vgl. etwa: Leitsätze der Christlich-Demokratischen Partei im Rheinland und Westfalen von 1945, 2. Fassung (Kunz u. a., a. a. O., S. 67): „Der Mensch wird gewertet als selbstverantwortliche Person, nicht als bloßer Teil der Gemeinschaft“. „Ahlener Programm“ von 1947 (a. a. O., S. 69): „Die Wirtschaft hat der Entfaltung der schaffenden Kräfte des Menschen der Gemeinschaft zu dienen“. – Mannheimer Erklärung der CDU von 1975: (a. a. O., S. 111): „Unsere Politik für die Bundesrepublik Deutschland geht aus von dem Menschenbild, das dem Grundgesetz und der Christlich-Demokratischen Programmatik zugrundeliegt“. – Grundsatzprogramm der CDU von 1978 (a. a. O., S. 128): „Die Politik der CDU beruht auf dem christlichen Verständnis vom Menschen und seiner Verantwortung vor Gott ...“. „Seine (sc. des Menschen) Freiheit beruht auf einer Wirklichkeit, welche die menschliche Welt überschreitet ...“. „In verantworteter Freiheit sein Leben und die Welt zu gestalten, ist Gabe und Aufgabe für den Menschen“. – Christlich-Soziale Union, Grundsatzprogramm von 1946 (zit. nach Kunz u. a., a. a. O., S. 213): „Der Mensch ist das Ebenbild Gottes von hoher Würde“. – Ebd.: „Die Völker sind organische Teile der Menschheit“ (a. a. O., S. 216). – Grundsatzprogramm der CSU von 1976 (a. a. O., S. 231): „Die CSU sieht die Grundlage ihrer politischen Arbeit in einem Menschenbild, das von christlichen Wertvorstellungen geprägt ist“. – „Leitbild des verantwortlichen Bürgers“ (a. a. O., S. 232). „Die CSU versteht den Menschen weder als ein vergesellschaftetes noch als ein von menschlichen Gemeinschaften und Politik unabhängiges Wesen ...“. „Da die CSU weder die individuelle noch die soziale Natur des Menschen vernachlässigt ...“ (a. a. O., S. 233). „Maßstab der Bildungseinrichtungen ist der in seine Freiheit und Verantwortung hineinzubildende Mensch ...“ (a. a. O., S. 241). „Für die CSU ist der alte Mensch ein Staatsbürger, der seinen Beitrag für die Gesellschaft geleistet hat, immer noch leistet und gebraucht wird“ (a. a. O., S. 259). „Die menschengerechte Stadt ist für die CSU Leitbild ihrer Städte- und Wohnbaupolitik“ (a. a. O., S. 262). – Die SPD verwendet zwar nicht ausdrücklich den Begriff ‚Menschenbild‘, doch arbeitet sie mit ihm der Sache nach, z. B. Präambel Godesberger Programm von 1959 (zit. nach Kunz u. a., Bd. II, S. 325: „... daß der Mensch sich die Räume dieser Erde unterwarf ..., daß der Mensch den Weltfrieden sichern kann ...“. – Die FDP formuliert in ihren „Freiburger Thesen“ von 1971 (zit nach Kunz u. a., a. a. O., S. 421); „Der Mensch ist nicht um des Staates oder des Rechtes, der Wirtschaft oder der Gesellschaft willen da, sondern diese um des Menschen willen, als ihrem letzten und höchsten Zweck“ (Erl. zu These 1). In der Erl. zu These 2 (zit. a. a. O., S. 422) wird sogar Kant zitiert: „Der ‚Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit‘ (Kant) ist nicht durch ideologische

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pen, Kirchen, Verbände und öffentliche Meinung, auch die Wissenschaft beteiligt sind. Alle leisten oft einander entgegenstehende Beiträge im Prozeß der rechtlichen Gestaltwerdung von Menschenbildern bzw. Menschenbildelementen. (Auch in die Verfassungstheorie fließen unterschiedliche Ansätze in Sachen Menschenbild ein.) Darum ist die (einfache) Rechtsordnung in Sachen Menschenbild oft sehr heterogen, „gemischt“. Was die einzelne Partei vielleicht aus einer „ganzen Anschauung“ des Menschen entworfen haben will, wird (zum Glück) nur bruchstückhaft ins Recht umgesetzt: auf der Ebene des einfachen Rechts grundsätzlich durchaus „vorläufig“. Das verfassungsrechtlich normierte Menschenbild ist flexibel genug, um der Pluralität und Konkurrenz der vielen verschiedenen Menschenbilder Raum zu lassen. Hier einige Beispiele: Das GG schreibt nicht im einzelnen vor, wie intensiv die Bindung der grundrechtlichen Freiheit sein soll – vorbehaltlich der „letzten“ Grenzen der Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG bzw. des Übermaßverbots177 etc. Dem politischen Prozeß bleibt Raum, das Menschenbild-Element „Gemeinschaftsbezogenheit“ des BVerfG zu variieren und konkretisieren, je nach den Programmen der politischen Parteien. Oder: Der heute auszutragende Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie – menschenbildwissenschaftlich gesprochen zwischen dem „homo oeconomicus“ und dem „homo oecologicus“ – verläuft innerhalb des Rahmens des Menschen- (und insoweit auch Welt-)Bildes des GG. Weitere Beispiele dafür, daß Aspekte des Menschenbildes des GG viel Gestaltungsspielraum lassen, aber auch im Prozeß der Rechtsetzung und Rechtsfindung der Konkretisierung bedürfen, sind der Aspekt des „homo politicus“ bzw. „mündigen Bürgers“: Er kann von den einzelnen Verfassungen und vom einfachen Gesetzgeber bald stärker gefordert sein, etwa in der Referendumsdemokratie der Schweiz, bald weniger stark wie in der repräsentativen Demokratie des GG. Schließlich ist der Streit um die Bildungsziele (Hessische Rahmenrichtlinien der 70er Jahre!) das Problemfeld für verschiedene Menschenbilder, übrigens auf der Grenzlinie zwischen Recht und Pädagogik. Bevormundung und moralische Gängelung des Menschen ... möglich“. In These 1 zur Mitbestimmung heißt es (a. a. O., S. 443): „Die Aufgabe der Mitbestimmung ist die Humanisierung der Arbeitswelt für den arbeitenden Menschen“. – Im Wahlprogramm der CDU/CSU von 1980 (zit. nach Kunz u. a., Erg.-Band 1983, S. 47): „Die Zukunft gehört nicht dem Kollektiv des Zwangs, sondern dem Menschen als Ebenbild Gottes in Freiheit mit Ordnung“. – Das Wahlprogramm der SPD von 1960 (zit. ebd., S. 84) verkündet: „Die SPD ist die Partei des arbeitenden Menschen“. – Das „Bundesprogramm der Grünen“ von 1980 (zit. ebd., S. 157) beschreibt den Menschen in den Worten: „Die Menschen werden immer gehetzter und unfreier“; es sieht die Krise der Industriegesellschaft gekennzeichnet durch „die zunehmende Zerstörung der Lebensgrundlagen des Menschen und andererseits durch die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ (a. a. O., S. 159). Zuletzt Irseer Entwurf der SPD (1986): „Der Mensch ist weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt. Weil er lernfähig und vernunftfähig ist, wird Demokratie möglich.“ Auch die Entwicklung der deutschen Parteienlandschaft nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990 wäre zu bedenken und spätestens nach „Maastricht“, „Amsterdam“, „Nizza“ und „Brüssel“ (2007) auch der Blick nach Europa zu weiten. 177 Dazu P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (Anm. 168).

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

R. Dahrendorfs „Bildung ist Bürgerrecht“ formuliert prägnant ein Menschenbild zugleich in der Weise des Rechts, ja der optimistische „Glaube“ an Wissenschaft und Bildung als „Aufklärung“, an die humanisierende Kraft ihrer Kultur ist gewiß ein dem Verfassungsstaat wesentliches Menschenbildelement. Der Kampf um parlamentarische Mehrheiten, mit denen das einfache Recht „reformiert“ und „gegenreformiert“ werden kann, ist, so gesehen, ein Kampf um die Kompetenz, das relativ offene Menschenbild des GG178 auf Gesetzesstufe spezifisch „auszufüllen“. Das GG-Menschenbild lebt insofern von Konkurrenz „in Sachen Menschenbilder“. Anders gesagt: In der sich wandelnden Rechtsordnung haben im Laufe der Zeit und der Generationen Menschenbild-Elemente oft sehr verschiedener Herkunft und Art (Teil-)Gestalt angenommen und Sinn gestiftet, was den Menschen seinerseits in seinem Selbstverständnis mit prägt. Die Pluralität der Menschenbilder spiegelt sich in der insofern „pluralistischen Rechtsordnung“ wider – und eben dadurch ist Konsens und Koexistenz in der offenen Gesellschaft mit ihren vielen Menschen- (und Welt-)Bildern möglich. Das Menschenbild bleibt „gemischt“. Erkennbar sind hier „Gleichzeitigkeiten“: Wir leben gleichzeitig mit bzw. in verschiedenen rechtlich geronnenen Menschenbildern bzw. Segmenten, z. B.: im Recht als Lehrer, als politisch engagierter Bürger oder als Vereinsmitglied (in einer „Mozart-Gesellschaft“), als „homo religiosus“ – diese Gleichzeitigkeit vermittelt Freiheit! Wir leben aber auch in Ungleichzeitigkeiten: insofern wir uns in einer Rechtsordnung befinden, die (auch) unterhalb der Ebene der Verfassung punktuell nach ganz verschiedenen Menschenbildern gestaltet wurde und wird. Das Menschenbild des Verfassungsstaates ist sogar auf Verfassungsstufe seinerseits ein „Konzentrat“, ja „Konglomerat“ sehr heterogener Menschenbildelemente der an der Verfassunggebung Beteiligten, das kompromißhaft zustande kam179. So finden sich im GG Spuren eines christlichen Menschen- und Weltbildes180, aber auch solche anderer „Weltanschauungen“ (z. B. in Art. 15 GG – Sozialisierung). Insofern ist es richtiger, selbst auf Verfassungsebene nicht von „dem“ Menschenbild, sondern von „den“ Menschenbildelementen, also im Plural zu sprechen; auch hier ist das Menschenbild „gemischt“.

178 Vom „offenen Menschenbild“ des GG aus Art. 1 Abs. l GG spricht W. Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987, S. 116 ff. Er konkretisiert Dürigs Objektformel zu der Aussage (S. 117 f.): „Der Mensch darf nicht zum bloßen Gegenstand gemacht werden, er hat vielmehr das Recht zum Gegen-Stand – gegen fremdbestimmende Menschenbildprägung, gegen funktionalistische Konditionierung, gegen uniformierende ‚Wesens‘-bestimmung. Hierin zeigt sich zugleich die Interdependenz von formalem Freiheits- und Grundrechtsverständnis einerseits sowie offenem Menschenbild andererseits.“ 179 Zu diesem Verständnis der Verfassunggebung: mein Beitrag, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes,... AöR 112 (1987), S. 54 ff. 180 Vgl. die Präambel des GG und manche Erziehungsziele in den (westdeutschen) Länderverfassungen. Siehe auch Art. 1 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg (1953). Ein Gottesbezug findet sich in Präambel Verf. Sachsen-Anhalt (1992), Präambel KV St. Gallen (2001).

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Im Verfassungsstaat gibt es auf der Ebene des rechtlich Verbindlichen kein „umfassendes“ Menschenbild. Das Verfassungsrecht normiert nur einzelne Aspekte des Bildes vom Menschen, es arbeitet punktuell, ja fragmentarisch, es trifft Teilaussagen, nicht Totalentwürfe. Ein geschlossenes Menschenbild, der Entwurf des Menschen „im ganzen“ pervertierte den Verfassungsstaat zum totalen Staat, er widerspräche sowohl der Freiheitsidee und Offenheit des GG als auch der Einsicht, daß Recht im Verfassungsstaat immer nur begrenzte Ordnung ist. Gerade „Bilder“ sind „ideologieanfällig“181. Auch das aus der Zusammenschau vieler Verfassungsnormen gewonnene Menschenbild des GG darf nicht zum Einfallstor einseitiger Welt- und Menschen-Anschauungen werden. Die freiheitlich-demokratische Ordnung des Verfassungsstaates ist die normative Absage an alle Arten verordneter ganzheitlicher Menschenbilder und die Abkehr vom Weltanschauungsstaat182. Die in der Rechtsordnung Gestalt gewordene Pluralität, ja Heterogenität der Menschenbildelemente darf aber nicht den Blick dafür verstellen, daß es komplementäre Ordnungen der Sittlichkeit, der Sitte, des Brauchtums gibt, die für eine freiheitliche Rechtsordnung unverzichtbar bleiben, obgleich sie nicht in der Weise des Rechts erzwingbar sind. Sie werden ihrerseits durch eine Pluralität von Menschenbild-Elementen geprägt, die dem Menschen Orientierung geben: teils in Analogie zu den Menschenbildelementen im Recht, gelegentlich auch in Konkurrenz oder sogar gegen das Recht: man denke an Fragen der Abtreibung oder „Leihmutterschaft“. Das Bild, das der Mensch sich von sich selbst macht, ist in der geltenden Rechtsordnung nur begrenzt eingefangen, und das ist gut so: Zu reich sind die Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschen, auch und gerade im Verfassungsstaat, als daß sie vom Juristen „definiert“ werden könnten und dürften. 3. Insbesondere: Religions-, Wissenschafts- und Kunstfreiheit als Garantien von Offenheit und Pluralität der Bildertrias im Verfassungsstaat Die einzelnen Grundrechte, zumal die „geistigen“ wie Meinungs- und Pressefreiheit, sind einerseits ein Stück Ausgestaltung der in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) getroffenen Grundaussage183 zum Menschenbild des Verfassungsstaa181 Dazu A. Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: W. Maihofer (Hrsg.), Ideologie und Recht, 1969, S. 37 (42, 58). – Gerade die Rechtsprechung muß sich immer wieder fragen lassen, ob sie sich von Ideologisierungen genügend freihält. Eine frühe kritische Studie zur Judikatur des BGH liefert auf dem Hintergrund der Frage nach dem Menschenbild W. Weischedel, Recht und Ethik, Zur Anwendung ethischer Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 1955. Zu Weischedel auch A. Baruzzi, Europäisches „Menschenbild“ und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1979, S. 86 ff. 182 Vgl. auch K. Schlaich, Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, 1972, S. 263: „Der Staat ist in politicis nicht ohne eine Vorstellung vom Menschen und Bürger, er hat aber nicht die Fülle eines aus der Wertschau gewonnenen Menschenbildes“. 183 Zum Menschenwürdebezug der Einzelfreiheiten: P. Häberle, Die Menschenwürde (Anm. 25), S. 820 f., 843 f. Treffend: BVerfGE 30, 173 (195): „Das Menschenbild, das Art. 1

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tes; sie haben aber noch eine andere „Seite“ und Funktion: als Freiheitsrechte garantieren sie gegen Staat und Gruppen individuelle Freiheit „in Sachen“ Menschen-, (Staats-), Welt- und Gottesbild. Sie schaffen um der Menschenwürde willen Gestaltungsräume für abweichende, „alternative“ Menschen-, Welt- und Gottesbilder. Die Grundrechtsausübung – auch ergebnisgerichtet verstanden184 – ermöglicht den Aufbruch zu neuen, den Menschen Orientierungshilfe gebenden „Bildern“ unserer Trias. Von ihrem gegenständlichen „Schutzbereich“ her sind es vor allem drei große Grundrechte, die im Verfassungsstaat einen spezifischen Bezug zu unserer kulturanthropologischen Bildertrias „Gott, Mensch und Welt“ haben: Die Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit185 des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie die Freiheit von Kunst und Wissenschaft nach Art. 5 Abs. 3 GG. In Religionen, Wissenschaften und Künsten wird unsere Bilderfrage „verhandelt“. Im Kraftfeld dieser drei Grundrechte arbeitet der Mensch im Verfassungsstaat an den drei Bildern und ihren Varianten. Dabei bestehen wechselnde Konkurrenz- und Komplementärverhältnisse zwischen Religion, Wissenschaft und Kunst186. Die Stellung des Menschen in der Welt und vor Gott, ohne oder gegen Gott, sein Selbstverständnis, sein Verhältnis zu Staat und Volk (Gemeinschaft) – all dies ist thematisch im GG durch dessen Art. 4 und 5 abgedeckt. Am Beispiel des Art. 4 GG sei dies näher skizziert. Das BVerfG (E 30, 415 [423]) sieht in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG „einen von staatlicher Einflußnahme freien Rechtsraum“ gewährleistet, „in dem jeder sich eine Lebensform geben kann, die seiner religiösen und weltanschaulichen Überzeugung entspricht (BVerfGE 12, 1 [3])“. Es hat das „für den Staat verbindliche Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität“ entwickelt (z. B. E 24, 236 [246] und E 33, 23 [28])187 und spricht im Blick auf Art. 4 Abs. 1 GG von dem in ihm „verkörperten Freiheitsrecht, von staatlichen Zwängen in weltanschaulich-religiösen Fragen unbehelligt zu bleiben“188. Im Schulgebet-Urteil (E 52, 223 [237]) heißt es, die Schule müsse „auch für andere (sc. als christliche) weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein“. K. Hesse spricht GG zugrundeliegt, wird durch die Freiheitsgarantie in Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG ebenso mitgeprägt wie diese umgekehrt von der Wertvorstellung des Art. 1 Abs. 1 GG beeinflußt ist.“ 184 Dazu P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (Anm. 168), S. 401 ff., 405 f. 185 Das Philosophische Wörterbuch, hrsg. von W. Brugger, 16. Aufl. 1981, notiert zu „Weltanschauung“ (unter dem Namen de Vries): „Die Gesamtauffassung von Wesen und Ursprung, Wert und Ziel der Welt und des Menschenlebens. W. besagt wesentlich mehr als ‚Weltbild‘; unter Weltbild versteht man die Zusammenfassung der Ergebnisse der Naturwissenschaften zu einer wissenschaftlichen Gesamtschau; diese bleibt also rein theoretisch und stellt nicht die letzten, metaphysischen Fragen nach Sein und Sinn der Welt als ganzer.“ 186 Vgl. das Goethe-Zitat: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion“. 187 Und zwar aus Art. 4 Abs. 1, 3 Abs. 3, 33 Abs. 3 GG sowie aus Art. 136 Abs. 1 und 4, 137 Abs. 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG (vgl. E 19, 206 [216]). Zuletzt E 93, 1 (16 f.); 105, 279. 188 E 35, 366 (376), sogar mit einem weitgehenden Minderheitenschutz-Argument: kein „Verhandeln unter dem Kreuz“. S. auch E 93, 1 (17 ff.) – Antikruzifixbeschluß. Zur staatlichen Neutralitätspflicht aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 4, Rdnr. 1–12 (2. Aufl. 2004).

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überdies im Blick auf die Gewissensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 GG von der auch darin liegenden „Absage an eine von Staats wegen maßgebliche Deutung des Wahren und Richtigen“189. Damit sind wir schon bei den Freiheiten von Wissenschaft und Kunst (Art. 5 Abs. 3 GG). Wissenschaftliche Forschung und Lehre dürfen „in ihrer Methode und in ihren Ergebnissen nicht durch wissenschaftstranszendente Ziele oder weltanschauliche Apriori gebunden werden“190. Entsprechendes gilt für die Kunstfreiheit191 bzw. für den denkbar „offenen“ und „weiten“ Kunstbegriff des BVerfG192. Was besagt all dies für unsere „Bilder“problematik? Nicht mehr und nicht weniger als: Im Verfassungsstaat besteht individuelle Freiheit zu (und von) allen Menschen-, Welt- und Gottesbildern – freilich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen dieser drei Grundrechte. Der spezifische Gegenstand, das „Substrat“ dieser drei in den Kern des Verfassungsstaates reichenden und sein Menschenbild ausgestaltenden kulturellen Freiheiten liegt also gerade in unserer – offenen – Bilder-Trias „Mensch-Welt-Gott“193. Aus der Inanspruchnahme dieser Grundrechte als kulturelle Freiheiten kann das Individuum seine gottes-, menschen- und weltbezogenen Orientierungswerte entwickeln, „vorherrschende“ modifizieren und revidieren und für all dies in der offenen Gesellschaft friedlich werben. Die Lebensbereiche Religion bzw. Weltanschauung, Wissenschaft und Kunst, im Verfassungsstaat optimal grundrechtlich geschützt, sind das „Thema“ und das Feld, auf dem unsere Bildertrias Mensch, Welt und Gott offen „verhandelt“ und im Rahmen der Toleranz als Verfassungsprinzip weiterentwickelt wird. Anders gesagt: Die drei Grundrechte sind Ausdruck von und rechtliche Antwort auf die Pluralität von Menschen-, Welt- und Gottesbildern im Verfassungsstaat, eine Pluralität, die beim Gottesbild sogar bis zur Leugnung („Atheismus“) reicht: auch sie ist durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt194. Der Verfassungsstaat, die westliche Demokratie, lebt sogar von den kulturellen Freiheiten „in Sachen Bildertrias“.

189 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland (20. Aufl. 1995 – Neudruck 1999), S. 168. 190 Ebd., S. 156. – Vgl. auch BVerfGE 5, 85 (145); 35, 79 (112 ff.); 47, 327 (367 ff.); 90, 1 (12). 191 Dazu allgemein P. Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 ff.; J. Würkner, Das BVerfG und die Freiheit der Kunst, 1994; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1 (2. Aufl. 2004), Art. 5 III (Kunst). 192 Vgl. E 30, 173 (188 ff.); 67, 213 (224 ff.); 83, 130 (138 f.). 193 Vgl. BVerfGE 32, 98 (107), (in Abgrenzung des Art.4 GG von Art. 5 Abs. 1 GG): „Demgegenüber hat die Glaubensfreiheit eine mit der Person des Menschen verknüpfte Gewißheit über den Bestand und den Inhalt bestimmter Wahrheiten zum Gegenstand.“ – v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, 3. Aufl. 1985 (4. Aufl. 1999), Art. 4 Abs. 1, 2, Rdnr. 3 sagt in bezug auf den Grundrechtstatbestand der in Art. 4 Abs. 1 und 2 genannten Freiheiten, er setze ein „umfassendes metaphysisches oder auf die Welt als Ganzes bezogenes Gedankensystem voraus ...“. 194 Vgl. BVerfGE 12, 1 (3): „irreligiöse – religionsfeindliche oder religionsfreie – Weltanschauung“.

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4. Insbesondere: Konsequenzen für das Menschenbild im Verfassungsrecht der Wirtschaft Werfen wir einen Blick auf die Wirtschaftswissenschaften: sie arbeiten seit langem mit dem Bild (oder der Fiktion?) des „homo oeconomicus“, also dem Menschen, der seine wirtschaftlichen Entscheidungen rational trifft und am Maßstab des eigenen Nutzens mißt195. Die Frage ist, wie das „Verfassungsrecht in Sachen Wirtschaft“196 den Menschen sieht, wie sich dieses Menschenbild schon in den Verfassungstexten und ihrer Auslegung spiegelt und ggf., ob die Verfassungslehre von diesen positiven Texten abweichende Aspekte eines Menschenbildes für die Zukunft entwerfen soll: als Maßstäbe für Verfassungspolitik in Sachen Wirtschaft. Die „Mehrdimensionalität“ oder „Vielschichtigkeit“ des Menschen, das Sowohl-alsAuch von personaler Freiheit und Gemeinschaftsgebundenheit, von Eigennutz und Gemeinnutz, von Rationalität und Emotionalität wird hier ebenfalls zu beachten sein. Zunächst zum Stichwort „Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person“197. Damit können bei aller (wirtschaftlichen) Freiheit des einzelnen (in concre195 Zum „Modell“ des „homo oeconomicus“ und zum Rationalprinzip siehe u.a. Heinrichsmeyer/Gans/Evers, Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 6. Aufl. 1985, S. 38, 166; W. Meinhold, Grundzüge der allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1972, S. 31 f.; H. J. Jaeck (Hrsg.), Volkswirtschaftslehre, 1984, S. 211; B. Guggenberger, Vom Sinn menschlichen Handelns jenseits der Ökonomie, in: Grundprobleme der politischen Ökonomie, hrsg. von M. Hereth, 1977, S. 159 ff.; G. Schmölders, Das Bild vom Menschen in der Wirtschaftstheorie, in: Neue Anthropologie, Bd. 3, Sozialanthropologie, hrsg. von H.-G. Gadamer/P. Vogel, 1972, S. 134 ff. Allgemein zum Menschenbild: H. Schack, Das Menschenbild in der Geschichte der Volkswirtschaftslehre, in: Festgabe für F. Bülow, hrsg. von O. Stammer/K. C. Thalheim, 1960, S. 301 ff. W. Kirsch, Einführung in die Theorie der Entscheidungsprozesse, Bd.1, 2. Aufl. 1977, S. 27 führt aus, daß das Modell des „homo oeconomicus“ den Prototyp eines geschlossenen Modells der Individualentscheidung darstellt: „Die Versuche dieses (durch den ‚homo oeconomicus‘ versinnbildlichte – Einfügung d. Verf.) Rationalprinzip zu präzisieren und für die im Wirtschaftsleben vorherrschenden Situationen unvollkommener Information anwendbar zu machen, sind als der Ursprung der modernen Entscheidungstheorie anzusehen“. Zu den Rationalitätsbegriffen in der Entscheidungstheorie siehe ders., a. a. O., S. 62 f. Aus der Lit. zuletzt: R. Gröschner, Der homo oeconomicus und das Menschenbild des GG, in: Öffentliches Recht als Gegenstand ökonomischer Forschung, hrsg. von C. Engel und M. Morlok, 1998, S. 31 ff.; P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 3. Aufl. 2001, S. 190 f. 196 Dazu mein Systematisierungsversuch: „Wirtschaft“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 ff. Ergiebig seitdem etwa Art. 42 Verf. Brandenburg von 1992, Art. 38 Verf. Thüringen von 1993, Art. 19 KV St. Gallen von 2001. 197 Zur „Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit“ des Menschen siehe G. Radbruch, Der Mensch im Recht, im gleichn. Sammelband, 3.Aufl. 1969, S. 16 ff.; ders., Sozialismus und Recht, in: Kulturlehre des Sozialismus, 4. Aufl. 1970, S. 57 ff.; O. v. Nell-Breuning (Anm. 110), S. 15 f., 26 ff., 33, 171; K. Stern (Anm. 96), S. 727 f.; BVerfGE 12, 45 (51); 28, 175 (189); 33, 1 (10 f.): Das Menschenbild des Grundgesetzes ist „nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit“; siehe ferner BVerfGE 4, 7 (15); 8, 274 (329); 27, 1 (7); 27, 344 (351 ff.); 33, 303 (334); 45, 187 (227); 50, 290 (353); 56, 37 (49); 65, 1 (44); zuletzt E 98, 169 (200): „Wille zur verantwortlichen Lebensführung“; P. Häberle, Wesensgehaltgarantie (Anm. 168), S. 206 ff.

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to vor allem des Unternehmers)198 soziale Bindungen und Pflichten legitimiert werden. So allgemein dieser Aspekt ist, er läßt sich nicht sogleich in den klassischen Dualismus „pessimistisch“ oder „optimistisch“ bzw. „weniger gut“ oder „gut“ einordnen. Anders gesagt: Auf die Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person können sich das eher pessimistische wie das eher optimistische Menschenbild vielleicht abstrakt einigen. Nur die Konsequenzen dürften unterschiedlich sein, vor allem in der Frage der stufenweisen Intensivierung der Bindung. Für das Verfassungsrecht der Wirtschaft sind im Blick auf das Modell des „homo oeconomicus“ weitere Überlegungen notwendig: Ist das verfassungsstaatliche Menschenbild im Bereich der Wirtschaft durch die Kriterien „Eigennutz bzw. Gewinnmaximierung statt Gemeinnutz und Verzicht“, „rational statt irrational“, charakterisiert? Das Handeln nach eigenem Nutzen wird vom Verfassungsstaat in Gestalt seiner wirtschaftlichen Freiheiten (auf europäischer Ebene: Marktfreiheiten) gewiß vorausgesetzt. Dieser Charakterzug des Menschen ist „realistisch“. Er verdient das Prädikat negativ oder pessimistisch nicht. Denn eine dezentrale, plurale und offene Ordnung der Wirtschaft, eine Verfassung, die wirtschaftliche Freiheiten kennt, setzt den Eigennutz gerade zu ihren „höheren“ Zwecken ein: sie verspricht sich von den „eigenen“ Wirtschaftsentscheidungen von Millionen Bürgern eine größere gesamtgesellschaftliche Leistung. Der Grundsatz des Wettbewerbs als „Auswahlprozeß“ von Regeln, die sich zur Erreichung eines bestimmten Zieles als dienlich erwiesen haben (F. A. von Hayek)199 mit seinen Erfolgen bei der Suche nach wohlstandsmehrenden Produkten und Produktionsverfahren setzt auf das „egoistische“ Verhalten der am Markt Beteiligten und kommt dank der „invisible hand“ (A. Smith)200 zu einer hohen 198 Zur „sozialen Bindung“ und zu den „Pflichten“ des Unternehmers siehe P. Saladin, Unternehmen und Unternehmer in der verfassungsrechtlichen Ordnung der Wirtschaft, VVDStRL 35 (1977), S. 15 ff. („Der verfassungsmäßige Pflichtstatus von Unternehmung und Unternehmer“): P. Saladin geht hier auch auf die dem Konzept sozialer Unternehmerverantwortung entgegengebrachte Kritik in „extrem marktwirtschaftlicher Optik“ ein; vgl. im gleichen Referat, S. 22 f. (Sozialstaatsprinzip als Grundlage für eine Pflichtstellung der Unternehmen), S. 26 ff., 33 f., 40 ff. (Unternehmerische Macht als verantwortete Macht), S. 47 ff.; siehe weiterhin den Mitbericht von H.-J. Papier, VVDStRL 35 (1977), S. 55 ff., 66 ff. (Unternehmen als sozialer Verband). – Zum „sozialgebundenen Privateigentum“: BVerfGE 101, 54 (75 f.). 199 F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 2. Aufl. 1983, S. 46; ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 3, Die Verfassung einer Gesellschaft freier Menschen, 1981, S. l00 ff. (Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren). 200 A. Smith verwendet diesen Begriff in seinem Werk „Der Wohlstand der Nationen – eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen“: „... indirekt wird aber auf diese Weise auch die Produktivität der Volkswirtschaft am besten gefördert. Jeder glaubt, nur sein eigenes Interesse im Auge zu haben, tatsächlich aber erfährt so indirekt auch das Gesamtwohl der Volkswirtschaft die beste Förderung. Der einzelne wird hierbei ‚von einer unsichtbaren Hand‘ geleitet, um ein Ziel zu verfolgen, dessen er sich selbst keineswegs bewußt ist. Auch ist es für die Volkswirtschaft nicht das schlechteste, daß er sich dieses Zweckes nicht bewußt ist. Verfolgt er nämlich sein eigenes Interesse, so fördert er damit indirekt das Gesamtwohl viel nachhältiger, als wenn die Verfolgung des Gesamtinteresses unmittelbar sein Ziel gewesen wäre. Ich habe

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

„Ergiebigkeit“, ja Effizienz201. Das eher pessimistische Menschenbild schlägt aber dort durch, wo die Freiheit und Offenheit der Märkte durch Wettbewerbsordnungen gesichert werden muß (Normen gegen Mißbrauch von Marktmacht, Verbot von Kartellen etc.). Soweit die verfassungsstaatlichen Verfassungen entsprechende Kompetenzen vorsehen (vgl. Art. 74 Ziff. 16 GG: Gesetze zur „Verhütung des Mißbrauchs wirtschaftlicher Machtstellung“), handeln sie aus dieser Einsicht; im Grunde wirkt sich hier und jetzt das klassische Montesquieusche – am drohenden Machtmißbrauch orientierte – Menschenbild im Spezialbereich „Wirtschaft“ aus! Punktuell kommt ein Element des „eigennützigen“ Charakters des Menschen in einer klassischen „wirtschaftlichen Freiheit“ zum Ausdruck: beim Verständnis der Eigentumsgarantie des Art. 14 GG durch das BVerfG: so in der – positiv bewertenden – Formel von der „eigenen Leistung“ als besonderem Schutzgrund für die Eigentümerposition202 oder in der dogmatischen Figur der „Privatnützigkeit“ des Eigentums203. Die „Sozialpflichtigkeit“ des Eigentums Privater nach Art. 14 Abs. 2 GG normiert das begrenzende Gegenprinzip in allen Facetten einer mitbürgerlichen Solidarität mit dem wirtschaftlich Schwachen (dem Mieter oder dem Arbeitnehmer), auf der zu bestehen der Verfassungsstaat Kompetenz gewonnen hat204: weil es um den Schutz der Menschenwürde geht. Der Mensch darf nicht zum bloßen Wirtschaftsfaktor degradiert werden. „Menschliche Faktoren“, viel zitiert, sind in das Wirtschaftsleben spezifisch einzubeziehen. Die Arbeits- und Wirtschaftswelt muß menschenwürdig sein bzw. werden. Gleiches gilt für die Umwelt, die zu schützen auf lange Sicht sogar im wirtschaftlichen Interesse liegen dürfte. Die Verfassungslehre tut gut daran, den Menschen im ganzen, aber auch den homo oeconomicus im besonderen nicht nur als rational, „vernünftig“ handelndes nie viel Gutes von denen gesehen, die angeblich für das allgemeine Beste tätig waren“. Zit. nach E. Schneider, Einführung in die Wirtschaftstheorie, 1.Bd. , 3. Aufl. 1970, S. 92; siehe auch H.-J. Jaeck (Anm. 195), S. 59 f.; H. C. Recktenwald, in: Einführung in A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1974, S. XLII; Heinrichsmeyer/Gans/Evers (Anm. 195), S. 24 f. 201 Zum „ökonomischen Verhalten“ des Menschen siehe auch J. M. Buchanan, Die Grenzen der Freiheit, 1984: hier entwickelt der Autor „eine theoretische Skizze, wie zwischen rationalen nutzenmaximierenden Individuen eine vertraglich vereinbarte Gesellschaftsordnung entstehen könnte“ (S. 106), siehe insbes. S. 30 ff., 50 ff., 80 ff., 86 ff. 202 Z. B. BVerfGE 50, 290 (349) m. w. Nachw. Zuletzt E 100, 1 (34 f.). 203 Z. B. BVerfGE 52, 1 (30); 53, 257 (290); 58, 300 (345); 69, 272 (300). Zuletzt E91, 294 (308); 101, 54 (74 f.); 115, 97 (111). Hinsichtlich der Privatnützigkeit des Eigentums sei verwiesen auf meinen Basler Vortrag: Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff, AöR 109 (1984), S. 36–76, insbes. S. 47; zur Gewährleistung der Privatnützigkeit des Eigentums durch die Privatautonomie siehe H.-J. Papier (Anm. 198), S. 82 f. 204 Besonders plastisch dazu im Blick auf Art.12 der Arbeitnehmer als Nichteigentümer das Mitbestimmungsurteil des BVerfGE 50, 290 (341, 349). Vgl. zum „sozialen Bezug“ und zur „sozialen Funktion“ des Eigentums P. Häberle, Vielfalt der Property Rights und der verfassungsrechtliche Eigentumsbegriff (Anm. 202), S. 47 f., 67 (Die personale Seite des Eigentums wird korrelativ balanciert durch die ‚soziale Funktion‘), 69, 76. Zuletzt BVerfGE 68, 361 (368); 70, 191 (201, 212 f.). Vgl. auch E 100, 226 (242); 101, 54 (75 f.); 115, 97 (113 f.).

II. Elemente einer Bestandsaufnahme, erste Wertungen

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Wesen im Auge zu haben. Der Mensch, dessen Würde die Prämisse des Verfassungsstaates bildet, ist gewiß das Vernunftwesen der Aufklärung i. S. Kants205; doch schließt dies nicht aus, ihn im Lichte geschichtlicher Erfahrungen auch als irrational-emotionales Wesen zu sehen. Der Verfassungsstaat knüpft an diese „Schicht“206 im Menschen an: z. B. dort, wo er „emotionale Konsensquellen“ nutzt (etwa in Gestalt von Fahnen, Hymnen und anderen symbolreichen Kulturgütern, auch Feiertagen!)207, um als Kulturstaat diese „andere“ Seite des vergemeinschafteten Menschen zu berücksichtigen. Wenn der kulturwissenschaftlich erklärte Verfassungsstaat nicht zuletzt von der Kunstfreiheit und ihren „Ergebnissen“ lebt208, so zieht er auch hier aus dem Irrational-Emotionalen die anthropologische Konsequenz. Das Bild vom „homo sapiens“, dem von der Vernunft gesteuerten Menschen steht im Zentrum der Aufklärung, es ist ein Aspekt des Menschenbildes im Verfassungsstaat, in dem Maße wie die Aufklärung den Verfassungsstaat mit hervorgebracht hat; aber neben der „ratio“ ist die emotio nicht minder konstituierend und von der Rechtsordnung „einkalkuliert“. Der Mensch ist für den Verfassungsstaat nicht nur „homo oeconomicus“, sondern auch ein Stück „homo ludens“, „homo faber“ etc. Vor den Vereinseitigungen eines „Ökonomismus“ ist besonders zu warnen, sofern er den Menschen nur von seinen – wirtschaftlichen – Eigeninteressen her „buchstabiert“. Die Einsicht, daß der Mensch nicht nur rational wirtschaftet, gewinnt in den Wirtschaftswissenschaften selbst an Boden. Die Verfassungslehre sollte diese Erkenntnis209 in ihr Kraftfeld einbauen 210, 211. 205 In „klassischer“ Weise findet Kants Überzeugung von der Herrschaft der Vernunft Ausdruck in dem Zitat: „Nun findet jeder Mensch in seiner Vernunft die Idee zur Pflicht und zittert beim Anhören ihrer ehernen Stimme, wenn sich in ihm Neigungen regen, die ihn zu Ungehorsam gegen sie versuchen. Er ist überzeugt: daß, wenn auch die letzteren insgesamt vereinigt, sich gegen jene verschwören, die Majestät des Gesetzes, welches ihm seine eigene Vernunft vorschreibt, sie doch alle unbedenklich überwiegen müsse und sein Wille dazu auch vermögend sei.“, Werke in 6 Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. III, 1964, S. 392. 206 Der Mensch umfaßt nach der von N. Hartmann entwickelten Lehre vom ontologischen Aufbau der realen Welt alle vier Schichten des Seins: die Welt des Anorganischen (des Stoffs) und des Organischen (des vegetativen Lebens), die Welt des Psychischen (des animalischen, sinnlichen Bewußtseins) sowie das Geistige Leben (geistiges Bewußtsein); er ist also nicht einschichtig rational ausgerichtet. Vgl. hierzu A. Kaufmann, in: A. Kaufmann/W. Hassemer u. a. (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004; R. Zippelius, Das Wesen des Rechts, 4. Aufl. 1978, S. 57 (5. Aufl. 1997). 207 Dazu meine Studie: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987, fortgeführt in: Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 107 ff. 208 Dazu P. Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 ff. 209 Kritische Auseinandersetzungen mit dem Rationalprinzip der Wirtschaftstheorie finden sich bei: G. Schmölders (Anm. 195), S. 134 ff., der seine Abhandlung „richtungsweisend“ mit dem Untertitel „Von dem Modell des homo oeconomicus zur empirischen Verhaltensforschung“ versehen hat. B. Guggenberger (Anm. 195), S. 159 f.; W. P. Schünemann, Der homo oeconomicus im Rechtsleben – Bemerkungen zu juristischen Bedeutungen des Rationalprinzips, in: ARSP 1986, S. 504 f., sowie als Beispiel aus der Lehrbuchliteratur W. Meinhold

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

III. Das Menschenbild – ein Leitbild, eine (Gerechtigkeits-)Maxime, ein positives Rechtsprinzip des Verfassungsstaates?, der Versuch einer rechtstheoretischen Präzisierung 1. Problem, die Fragen Bislang blieb die präzise rechtstheoretische Einordnung des „Menschenbildes“ im Verfassungsstaat offen. Ist es „nur“ eine Maxime, ein „Leitbild“, „schon“ ein Verfassungs-Prinzip oder gar ein positiver Rechtssatz? Hat es „nur“ programmatische Geltung oder gehört es „schon“ dem „positiven Recht“ an? Besitzt es nur eine heuristische oder (auch) eine juristische Funktion? Gehört es der Ebene des normativen Sollens an oder auch der des sozialen Seins? Wo ist es in der Rechtsquellenhierarchie plaziert: auf der Ebene der Verfassung oder handelt es sich gar um ein „vorverfassungsrechtliches Gesamtbild“ des Verfassunggebers212, durchdringt es alle Ebenen des „Stufenbaus“ der Rechtsordnung bis hin zur untersten „Rechtsquelle“? Gehört es dem geschriebenen Recht an und hat es zugleich die Qualität einer ungeschriebenen Gerechtigkeitsmaxime? Das bisherige Schrifttum tut sich schwer, sofern es die eine oder andere dieser Fragen überhaupt punktuell erkennt.213 (Anm. 195), S. 32; Heinrichsmeyer/Gans/Evers, stellen in ihrer Einführung in die Volkswirtschaftslehre, 6.Aufl. 1985, S.164 ff., psychologische Denkansätze zur Erklärung menschlichen Entscheidungsverhaltens als Gegenpol zum Rationalitätsprinzip dar (siehe ebd., S.166 f.). Siehe weiterhin F. A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit (Anm. 199), S. 74 ff., zum Widerstreit von „rationalistischem und evolutionärem Ansatz“; ders., in: Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, Regeln und Ordnung, 1980, S. 50 ff.: „Warum die extremen Formen des konstruktivistischen Rationalismus regelmäßig zu einer Revolte gegen die Vernunft führen“. Auch W. Kirsch (Anm. 195), S. 64 ff., setzt sich mit den Grenzen der Rationalität auseinander. 210 Treffend im Blick auf H. Hellers Konzeption des Menschen bzw. des Staates in seiner Staatslehre von 1934: schon G. Niemeyer, ebd., S. XI: „Der homo oeconomicus ebenso wie der homo politicus sind zum Zwecke der wissenschaftlichen Erkenntnis vorgenommene Fiktionen. Ihnen entspricht aber nicht die Wirklichkeit des Individuums, sondern nur die eines Teilfaktors seiner Existenz“. Vgl. Heller selbst, ebd., S. 19 bzw. S. 214: „Der zweckrational handelnde homo oeconomicus ist eine theoretisch berechtigte Fiktion. Der wirkliche Mensch aber lebt in Bindungen an seine Natur- und Kultursituation, welche die ökonomische Ratio zwar stark zu beeinflussen, niemals aber ganz aufzulösen vermag“. 211 Dieser Überblick über die Frage des Menschenbildes der Verfassung in Sachen Wirtschaft bleibt unvollständig, solange er nicht auch die Fragen der Wirtschaftsethik einbezieht. Liegt in der Konstituierung dieser Teildisziplin eine Modifizierung des Modells vom „homo oeconomicus“? Geschieht hier eine Korrektur vom Idealistischen, vom „guten Menschen“ aus? Dazu mein Beitrag: „Wirtschaft“ als Thema neuerer verfassungsstaatlicher Verfassungen, JURA 1987, S. 577 (582 f.). Grds. A. Rich, Wirtschaftsethik, 1984; P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 3. Aufl. 2001. 212 I. S. von H. Nawiasky; dazu zuletzt H. Gramlich, Abschied vom vorverfassungsrechtlichen Gesamtbild, DVB1. 1980, S.531 ff.; Kritik an BVerfGE 2, 380 (403) bei K. Hesse, Grundzüge, 16. Aufl. 1988, S. 14 Anm. 40 (20. Aufl. 1995 – Neudruck 1999).

III. Das Menschenbild – Versuch einer rechtstheoretischen Präzisierung

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2. Vorläufige Antworten Gewagt sei die These, daß die Kategorie „Menschenbild“ viele der genannten Eigenschaften spezifisch verknüpft und sich kaum auf ein Entweder/Oder des herkömmlichen Alternativen-Denkens reduzieren läßt. Die Komplexität seiner Dimensionen, Geltungsebenen, Inhalte und Funktionen kann nur skizziert werden:213 (1) Menschenbild ist ein Formalbegriff, insofern er zunächst nur Aussagen über den Menschen meint. Auch totalitäre Staaten haben ein „Menschenbild“. Der Verfassungsstaat verknüpft freilich mit ihm ganz bestimmte – unsere – Inhalte, deren Facetten bisher z. T. erarbeitet wurden. (2) Menschenbild ist eine kulturelle Kategorie. Sie stellt eine Frage an das Verständnis des Menschen und gibt darauf eine bestimmte, historisch wandelbare, Antwort: die Elemente der Bestandsaufnahme z. B. von Aristoteles bis Dostojewskij bestätigen dies. (3) Als kulturelle Kategorie gehört das Menschenbild neben den Künsten allen Wissenschaften an, die sich ausdrücklich oder der Sache nach mit Kultur befassen: den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften. Ja, es vermag die Teildisziplinen im Blick auf ein und dasselbe Problem, nämlich Idee und Wirklichkeit des Menschen zu bündeln, ohne ihnen die Eigenständigkeit zu nehmen – er ist der interdisziplinäre, integrierende „Brückenbegriff“. Das folgt ebenfalls aus der Bestandstandsaufnahme. (4) Menschenbild als interdisziplinär offener Begriff ist ein „Synthese-Begriff“, insonderheit der Jurisprudenz und Verfassungslehre. Als solcher muß er mit ihren spezifischen Methoden und Verfahren, Paradigmen und Inhalten erarbeitet werden: im Rückblick und zugleich entwicklungsoffen. (5) Der Mensch im Verfassungsstaat als Typus und das Menschenbild in den einzelnen pluralistischen Demokratien als Beispiel des Typus unterscheiden sich, so wie sich Verfassung und Verfassungskultur individuell-national ausdifferenzieren. In den Grundlinien besteht Identität, in vielem aber auch Variabilität, die sich aus der Eigenart der Kultur- bzw. Verfassungsgeschichte der einzelnen Länder erklärt. Z. B. ist die Intensität der Gemeinschaftsbezogenheit und Freiheitsgrenzen oder die Inanspruchnahme des Bürgers als „homo politicus“ bald größer (in halb-direkten Demokratien wie der Schweiz), bald geringer (in repräsentativen wie im GG). Vielleicht läßt sich allgemein sagen: Je optimistischer das Menschenbild, desto stärker 213 Vgl. z. B. W. Geiger (Anm. 143), S. 8: „... bitte ich festzuhalten, daß es dabei nicht um einen Rechtsbegriff geht. Menschenbild des Grundgesetzes ist die kurze Formel, mit der ein Strukturprinzip unserer Verfassung benannt wird, das die innere Einheit dieser Verfassung mitkonstituiert.“ – F. Kopp (Anm. 75), S. 53 ff., spricht vom Menschenbild als „Orientierungspunkt des geltenden Rechts“, von einem „zentralen Begriff des geltenden deutschen Rechts“. – Von der „Auffassung des Menschenbilds als legitimierenden Einheitsbezugs allen Rechts“ spricht P. Pernthaler, Grundrechtsreform in Österreich, AöR 94 (1969), S. 31 (39 f.).

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

geht das Plädoyer auf ein Mehr an Freiheit und Demokratie – was heute aber nicht automatisch ein Weniger an Staat bedeutet: im Verfassungsstaat ist Freiheit nicht mit Staatsfreiheit identisch und Demokratie nicht Antistaatlichkeit. Umgekehrt formuliert: je pessimistischer das Menschenbild, desto mehr Einschränkungen, Eingriffe und Bindungen der Freiheit. (6) Als „Schlüsselkategorie“ des Typus „Verfassungsstaat“ führt das Menschenbild die juristischen Teildisziplinen zusammen: vom klassischen Zivilrecht bis zum neuen Umweltschutzrecht, vom Strafrecht bis zum Arbeitsrecht, vom Bildungsrecht bis zum Sozialrecht, wobei Friktionen und Gegensätze (auch „Ungleichzeitigkeiten“) nicht ausbleiben, etwa zwischen Teilen des BGB und GG. (7) Als Zentralbegriff des Verfassungsstaates verbindet das „Menschenbild“ in einer „Gemengelage“ eine Vielzahl von Dimensionen und Schichten, Funktionen und Geltungsweisen, die sonst getrennt zu denken sind; namhaft gemacht seien hier insbesondere: (a) Das „Menschenbild im Verfassungsstaat“ ist einerseits ein Leitbild, das dem Verfassunggeber, z. B. des GG von 1949, „vorgeschwebt“ hat – aus der Kulturgeschichte und vielen Disziplinen und Bereichen von der Philosophie über die christliche Theologie, auch katholische Soziallehre, und Parteiprogramme bis zu Bruchstücken des positiven Rechts in Teilaspekten „geronnen“, und es bleibt in diesem teils vorrechtlichen, teils rechtlichen „Aggregatzustand“. Andererseits hat der Verfassunggeber es „in“ einzelnen GG-Artikeln rezipiert und positiviert, etwa in Art. 1 und 3, 20 und 28. Entsprechend ganzheitlich ist es zu interpretieren und auch fortzuentwickeln. (b) Das „Menschenbild“ kommt zwar (soweit ersichtlich) nirgends ausdrücklich im positiven Verfassungstext eines Verfassungsstaates oder in einem anderen Rechtstext vor, doch ist es in Verbindung mit solchen positivierten und je neu zu interpretierenden Texten Teil des Rechts und ein Verfassungsprinzip, ja eine Gerechtigkeitsmaxime mit den genannten Inhalten und in dieser „Verbindungs-Qualität“ verbindlich. Es ist dem GG „immanent“ und „transzendent“ zugleich. Es bedarf der Sicherung durch den Staat, ist also insofern keine „vor-“ oder außerstaatliche, bloß gesellschaftliche Größe. (c) Das „Menschenbild“ ist nicht durchweg manifest und evident, es muß meist durch eine Fülle juristischer Denkoperationen erst erschlossen oder „an den Tag“ gebracht werden. Selbst und auch dem Verfassunggeber sind seine Bilder, seien es Gottes-, Menschen- oder Weltbilder, oft gar nicht so bewußt, weil sie historisch geworden und nicht immer reflektiert sind (als unbewußte Kulturtraditionen). (d) Das „Menschenbild im Verfassungsstaat“ wirkt als solcher „Konnex“-Begriff mit positivem Recht auf allen Ebenen des sog. „Stufenbaus der Rechtsordnung“: vom Verfassungs- bis zum Satzungsrecht. Es ist nicht auf nur einer Ebene in Geltung und lebendig und es prägt die soziale Wirklichkeit mit.

III. Das Menschenbild – Versuch einer rechtstheoretischen Präzisierung

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(e) Das „Menschenbild“ lebt auf zwei Ebenen: als Entwurf wie der Mensch sein soll (das Normative), aber zugleich auch wie er „wirklich“ ist – der Jurist hat beides im Auge. Ein nur ideelles Menschenbild hülfe dem Juristen wenig, wenn es nicht in der sozialen Wirklichkeit eine Entsprechung fände. Umgekehrt verfehlte der Jurist seine Aufgabe, wenn er allein an der sog. Wirklichkeit Maß nähme, um das Menschenbild zu umreißen. Er würde wohl zum „schlechten Soziologen“. (f) Das „Menschenbild im Verfassungsstaat“ entfaltet sich in der Spannung von H. Hellers bzw. J. Essers „Grundsatz und Norm“-Dialektik. Es hat gleichzeitig mehrere Geltungsweisen und Funktionen: es wirkt teils als „Programmsatz“ i. V. m. positiven Rechtssätzen, teils gemeinsam mit diesen unmittelbar verbindlich. Vor allem Art. 1 GG – die Menschenwürde – vermittelt ihm ein Sowohl-als-auch mehrerer Geltungsebenen und Positivierungs- bzw. Konkretisierungsstufen: von der rechtspolitischen Maxime und dem Postulat „menschlicher Politik“ bis zum juristischen Interpretationsgesichtspunkt bzw. -topos. (g) Der Beteiligten-Kreis in Sachen Menschenbildkonkretisierung bzw. -definition ist offen: Aus dem Bereich der Staatsfunktionen nenne ich den Verfassunggeber, den Gesetzgeber, Exekutive und Rechtsprechung, darüber hinaus die Parteien und Verbände, wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit, d. h. alle in jener „konzertierten Aktion“, die das Paradigma von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ ernst nehmen möchte. Vergessen wir im Verfassungsstaat nicht den Bürger selbst. Der „Bürgerbeitrag“ zu Verständnis und Wirklichkeit des Menschenbilds ist kurz-, mittel- und langfristig mitkonstituierend. Alle Wissenschaft kann und darf ihn nicht ersetzen wollen. Im pluralistischen Verfassungsstaat ist es insofern eine Vielfalt von unterschiedlichen, oft einander widersprechenden Menschenbildern, die der mündige Bürger als „Orientierungswerte“ „lebt“ – oder auch verfehlt. Auch letzterem Risiko muß sich die heute viel berufene „aktive Bürgergesellschaft“ stellen. Welche inhaltlichen „Partikel“ dieser in einer offenen Gesellschaft präsenten Menschenbilder in der Weise des Rechts wie verbindlich werden, bleiben oder sich wandeln – das entscheidet sich nach den spezifischen Verfahren der Rechtsetzung und Rechtsanwendung im Verfassungsstaat, letztlich in Dissens und Konsens. Er schöpft dabei heute aus einem großen „Vorrat“ an verschiedenen Menschenbildern, was gerade seinen Reichtum ausmacht und die Entwicklungsoffenheit der „Verfassung des Pluralismus“ garantiert. Nur mit dieser Maßgabe kann von „dem“ Menschenbild des GG gesprochen werden: es ist „offen“ und es ist „gemischt“. (h) Was der Jurist, besonders der Staatsrechtslehrer inhaltlich zum rechtlich verbindlichen Menschenbild am Beispiel des GG sagen kann, und wie er dabei arbeitet, wurde in den bisherigen Darlegungen skizziert. Es ist jetzt mit den methodologischen bzw. begriffstheoretischen Überlegungen zusammen zu sehen. Betont sei, daß das Menschenbild im Verfassungsstaat für den Juristen entsprechend den begrenzten Ansprüchen des Rechts bzw. seiner Wissenschaft kein „ganzes“, umfassendes,

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3. Teil: Das Menschenbild als verfassungsrechtliches Prinzip

„totales“ sein kann214 – Recht ist begrenzte Gerechtigkeitsordnung, aber i. S. meiner Differenzierung als solche verbindlich. Das auch insofern „Fragmentarische“ aller Juristenarbeit gehört zum Wesen des freiheitlichen Verfassungsstaates. Letzten Endes wirkt in diesem Staatstypus bzw. seiner offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten der Mensch selbst in freier geistiger Auseinandersetzung am Entwurf, an der Ausführung – ggf. Verfehlung – des Menschenbildes mit: i. S. von Hölderlins „was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen“ – eine Mahnung, bescheiden zu bleiben.

214 Die (ehemals) sozialistischen Staaten pflegten bzw. pflegen in diesem negativen Sinne ein umfassendes ideologisch instrumentalisiertes Menschenbild. Repräsentativ etwa Art. 25 Abs. 2 Verf. der damaligen DDR von 1968/74 (zit. nach G. Brunner/B. Meissner (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, 1979): „Die Deutsche Demokratische Republik sichert das Voranschreiten des Volkes zur sozialistischen Gemeinschaft allseitig gebildeter und harmonisch entwickelter Menschen, die vom Geiste des sozialistischen Patriotismus und Internationalismus durchdrungen sind und über eine hohe Allgemeinbildung und Spezialisierung verfügen“. – Siehe auch Verf. der ehemaligen UdSSR von 1977 (zit. nach Brunner/Meissner, ebd.): „Die Hauptaufgaben des sozialistischen Staates des gesamten Volkes sind: ... die Erziehung des Menschen der kommunistischen Gesellschaft“. – Art. 32 Abs. 1 Verf. Albanien (1976): „Der Staat entwickelt eine breite ideologische und kulturelle Tätigkeit zur kommunistischen Erziehung der Werktätigen, zur Heranbildung des neuen Menschen“. Art. 54 Abs. 1 Verf. Kuba von 1976: „Der sozialistische Staat, der seine Tätigkeit auf das wissenschaftliche Weltbild des Materialismus stützt und in seinem Sinne das Volk erzieht ...“.

Vierter Teil

Schluß – Rückblick und Ausblick I. Die Selbstbescheidung des Juristen Der Jurist kann mit seiner Wissenschaft nur Teilaspekte dessen erfassen, was Philosophen und Naturwissenschaftler als „Weltbild“ ins Auge fassen mögen. Gewiß, auch der Jurist hat eine bestimmte Konzeption der „Welt“, ja einen Anspruch an die Welt, greifbar etwa in den „universalen“ Menschenrechtsdeklarationen bzw. -pakten von 1948 bis 1966 – im Grunde schon seit 1789; auch mag er mit N. Luhmann über Aspekte der „Weltgesellschaft“ nachdenken215. In früheren Epochen der Rechtsgeschichte baute sich der Jurist ein eurozentrisches Weltbild216 und verabsolutierte so seinen eigenen durchaus „regionalen“ Standpunkt, heute ringt er um mehr Universalität. Es erschiene mir indes vermessen, als Jurist das Thema „Weltbild“ in seiner Gänze zu behandeln217. Angemessener ist es, Ausschnitte zu erörtern, auf die der Jurist spezifisch „trainiert“ und in denen er „zu Hause“ ist, um so „sein Bestes“ an die anderen Wissenschaften zu vermitteln. In einer sich wandelnden Welt bleiben gewiß auch diese Ausschnitte wandelbar, und ein „Weltgeist“ mag sogar die Koordinaten und Determinanten dieser Vorgänge erkennen können. Indes ist der „Weltgeist“ (Hegel) schwerlich ein Jurist und der Jurist noch weniger ein Weltgeist! Wenn man im Blick auf ein berühmtes Hegel-Zitat einmal formuliert hat, „die Weltgeschichte ist kein Amtsgericht“ – so E. Eppler im Vor- und Kraftfeld der Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des zwischen der BR Deutschland und der DDR 1972 abgeschlossenen Grundlagenvertrags (BVerfGE 36, 1)218 –, so bringt dieses Wort die – bescheidene – Größenrelation zum Ausdruck, in der wir Juristen stehen. Unser Wissen um die „normative Kraft des Normativen“219 bzw. diese selbst ist in der 215 Dazu die Bezugnahme bei D. Suhr, VVDStRL 36 (1978), S. 164 (Diskussion) und P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 407 ff. (3. Aufl. 1998). 216 Auch in der – eurozentrischen – Aufzählung „erste“, „zweite“, „dritte“ und „vierte Welt“ liegt eine politisch-juristische Reihung und sozialethische „Vermessung“ unserer Erde: mit Spätfolgen für den Juristen. Überholt ist von den Menschenrechtsideen her die eurozentrische Unterscheidung zwischen „Kultur-“ und „Naturvölkern“. 217 „Weltbilder“, verstanden als Deutungsmuster von Welt, Deutungsschemata, in denen Erfahrungen gespeichert sind, die Handlungen anleiten und Vor-Verständnisse für spätere Interpretationen auch des Juristen „sammeln“. 218 Zit. in JZ 1973, S. 451 (452 Anm. 16) bzw. in meiner Kommentierten Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 410 f. 219 Zur „normativen Kraft der Verfassung“ siehe die gleichnamige Schrift von K. Hesse, 1959, auch in: ders., Ausgewählte Schriften, 1984, S. 3 ff.

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4. Teil: Schluß – Rückblick und Ausblick

weltgeschichtlichen Dimension noch kleiner bzw. geringer als innerstaatlich. Klassikerzitate zur „normativen Kraft des Faktischen“ (G. Jellinek) oder Hobbes’ „auctoritas non veritas facit legem“ belehren uns rasch über die Grenzen dessen, was Jurisprudenz (und Staatsrechtslehre) zu leisten vermag: im Erkennen und im Gestalten. Diese Selbstbescheidung des Juristen „in Sachen Weltbild“ ist keine Koketterie gegenüber vermeintlichen oder wirklichen „Überwissenschaften“, die Weltbilder entwerfen oder zusammenfügen zu können glauben220, etwa die Philosophie oder die Soziologie. Denn die dem Juristen mögliche Arbeit bleibt groß und schwer genug. Schon Begriffe wie „Menschenwürde“, „Gerechtigkeit“, „Gemeinwohl“, bergen „eine Welt von Problemen“ in sich und stellen Ansprüche, die ins Universale reichen: man denke an Kants „Traktat zum ewigen Frieden“, das bis heute – konkrete – Utopie geblieben ist221, oder an die Satzung der UNO und ihre universalen Ordnungsvorstellungen bzw. das, was den Juristen hier an Aufgaben gestellt wird. Neue Rechtsgebiete wie „Weltraumrecht“, das über unseren „blauen Planeten“ hinausgreift, die Diskussionen um eine „neue Weltwirtschaftsordnung“222 oder das haussierende Umweltrecht verlangen ebenfalls Elemente eines Weltbildes, das der Jurist mitgestaltet. „Welt“ ist hier unter ideellen und materiellen Gesichtspunkten „Objekt“ seiner Wissenschaft. Gleichwohl wurde in diesem Beitrag nur ein Element dessen behandelt, was grundlegend zum Weltbild der Juristen gehört: das Menschenbild. Es nimmt heute erklärtermaßen oder unausgesprochen in allen Grundsatzfragen der Juristen einen solch zentralen Platz ein, daß es fast als eine Art „archimedischer Punkt“ des Weltbildes erscheint, ja dieses konstituiert. Gewiß, neuerdings wird auch im Kontext der Grundrechte vom „Staatsbild“ gesprochen223, doch eher i. S. einer Ergänzung des oder einer Konsequenz aus dem zunächst als anthropologische Prämisse gesetzten Menschenbild. Wenn es gelänge, das Menschenbild der Juristen bzw. das Menschenbild des Verfassungsstaates genauer, d. h. differenziert und im Spannungsfeld von Optimismus und Pessimismus zu umreißen, so könnte dies zugleich ein Beitrag zum weiträumigen Thema „Weltbild“ sein. Der Jurist denkt heute – noch – die Welt vom Menschen her, im Sein wie im Sollen – auch und gerade in der Umweltschutzproblematik, selbst zu einem Zeitpunkt, in dem die Kontroverse um „Eigenrechte der Natur“ zu einem gemäßigten Anthropozentrismus und doch wohl auch zu einem „Schöpfungsoptimismus“ zu gelangen sucht. Die Beschränkung des Themas „Weltbild“ auf das Element „Menschenbild“ des Juristen lag aber aus folgenden Gründen nahe: 220 Die einzelnen Wissenschaften können nur Teilbereiche, Teilaspekte aus ihrer Kompetenz zum Thema „Weltbild“, „Menschenbild“ etc. einfangen. Jede liefert vielleicht einen Mosaikstein – eine „Anschauung“ des Ganzen wird uns kaum gelingen. 221 Zu Utopien als Literaturgattung des Verfassungsstaates mein Beitrag in Ged.-Schrift W. Martens, 1987, S. 73 ff. 222 Dazu der Band von B.-O. Bryde/P. Kunig/T. Oppermann (Hrsg.), Neuordnung der Weltwirtschaft?, 1986; R. Dolzer, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg), Völkerrecht, 3. Aufl. 2004, S. 511. 223 K. Hesse, Bestand und Bedeutung der Grundrechte, EuGRZ 1978, S.427 (437 f.); P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, 3. Aufl. 1983, S. 363 ff.

II. Die Größe seiner Aufgaben in Sachen Menschenbild

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(1) Zum Thema „Menschenbild“ gibt es der Form oder der Sache nach Grundsatzaussagen der Klassiker von Hobbes bis Locke u. a.; die die Gegenwart in einer Vielzahl von Folgeproblemen bestimmende geistes-, sozial- bzw. kulturgeschichtliche Dimension kommt so zu ihrem Recht, die Geschichtlichkeit des Menschen, seines Rechts, seiner „Natur“ und Kultur ebenfalls. (2) „Menschenbild“ ist der „Nenner“ oder das Forum, auf dem ein Gespräch mit anderen Wissenschaften möglich wird – ein Stück interdisziplinärer Dimension. (3) „Menschenbild“ ist in Gestalt des Basissatzes von der Menschenwürde schon positivrechtlich in einem Verfassungsstaat wie dem unsrigen (Art. 1 Abs. 1 GG) der vor die Klammer von Verfassung und Recht, von allen Teilgebieten der Jurisprudenz gezogene Grundbegriff – die verfassungsstaatliche Dimension, die zur Gänze erst im Wege der Rechtsvergleichung alter und neuer Verfassungstexte erschlossen wird und die in der Menschenbildjudikatur des BVerfG speziell für das GG „konkret“ ist. (4) Die die Welt von heute, vor allem seit 1989 neu faszinierende Idee der „Menschenrechte“ ist die vielleicht eindrucksvollste Äußerung eines bestimmten Menschenbildes – so vieldeutig, offen und konkretisierungsbedürftig sie im einzelnen ist und wohl auch bleiben wird.

II. Die Größe seiner Aufgaben in Sachen Menschenbild Jurisprudenz bzw. Staatsrechtslehre sehen das Individuum in seiner Einzigartigkeit im Zentrum des Rechts. Das Subjekt ist zwar gestuft in Solidaritätsbereiche eingebunden, aber es bleibt der „archimedische Punkt“. Das Kollektiv ist sekundär. Gewiß, es gibt in der Kunst Gegenströmungen. Zum Teil wird der Mensch in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung in Zweifel gezogen, er erscheint als Individuum obsolet, die Suche gilt dem Transindividuellen. Erinnert sei an den Kubismus224, vielleicht auch an manche Thesen S. Freuds. Ein C. G. Jung sucht nach dem „Kollektiven Unbewußten“. Alle juristischen Disziplinen, die unmittelbar wie die Staatsrechtslehre oder mittelbar wie das Privatrecht dank seiner Prämisse der Privatautonomie225 am und im Verfassungsstaat arbeiten, setzen demgegenüber unverdrossen und ohne erkennbaren Selbstzweifel auf das Individuum als Subjekt: als – er224 Es ist charakteristisch, daß eine Würdigung des großen Bildhauers H. Hrdlicka aus Anlaß seines 60. Geburtstags im Jahre 1988 unter der Schlagzeile „Gegen die Vertreibung des Menschen aus der modernen Kunst“ stehen kann bzw. muß (so P. Gorsen, in: FAZ vom 27.2.1988, S. 27). Symptomatisch auch K. v. Maur: Léger und das Ideal des „neuen Menschen“, NZZ v. 19./20.3.1988, S. 69. – Vgl. Zürcher Symposion „Zum Menschenbild der europäischen und buddhistischen Kunst“ (FAZ vom 19.4.1988, S. 31). 225 Dazu aus der Literatur: F. von Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936. Zur Privatautonomie im Rahmen der Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik jetzt K. W. Nörr, Zwischen den Mühlsteinen, 1988, S. 42 ff. Aus der Judikatur: BVerfGE 95, 267 (303); 89, 214. Zuletzt: E 115, 51 (67 ff.).

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4. Teil: Schluß – Rückblick und Ausblick

sten – und – letzten – Wert226. Vor allem ist der Staat „um des Menschen willen da“, nicht umgekehrt (vgl. Art. 1 Abs. 1 HCHE227). Die Freiheit der Wissenschaften und Kunst, wie sie der Verfassungsstaat garantiert (z. B. in Art. 5 Abs. 3 GG), gibt Raum für einen Pluralismus, ja einen Antagonismus vieler unterschiedlicher und ungleichzeitiger Menschenbilder der Wissenschaften, der Kunst und der Religion (Art. 4 Abs. 1 GG garantiert auch die Freiheit des „weltanschaulichen Bekenntnisses[!]“): Man denke nur an die heutige Wiederentdeckung des zutiefst skeptischen Menschenbilds von F. Galiani, des zeitgenössischen Kritikers Rousseaus228, und sein dictum „Der Mensch ist ein absurdes Tier“ oder an J. B. Metz’ Vortrag „Wider die zweite Unmündigkeit“229. Doch hält der Verfassungsstaat an einem – „seinem“ – Menschenbild für die eigenen normativen Probleme und Zusammenhänge in der gekennzeichneten Weise fest. In der Tat ist – mit K. Prange und W. Vossenkuhl – heute von einer „Pluralität“ der Weltbilder zu sprechen. Da aber die Rechtsordnung im Verfassungsstaat das Zusammenleben der Menschen und Gruppen organisieren muß, stellt sie Verfahren und ein Mindestmaß an Inhalten zur Verfügung, in denen sich das Volk einig ist bzw. sein soll: sie halten den Verfassungsstaat „im Innersten“ zusammen. Nur so kann der Verbindlichkeitsanspruch des Rechts für den – für die – Menschen eingelöst und durchgesetzt werden. Hier enden Vielfalt und Alternativen nach Maßgabe des geltenden Rechts. Man wird zu fragen haben, warum der Verfassungsstaat sein Menschenbild, d. h. die ungebrochene Subjektstellung und Verantwortung des Individuums als solchem bzw. Freiheit und Gleichheit gegen die z. T. ganz anderen Menschenbilder der nichtjuristischen Disziplinen und gegen manche Kunstrichtungen festhält und auch festhalten darf. (Oder handelt es sich hier bloß um eine Phasenverzögerung?) Die Antwort: Weil er fürchten muß, daß transsubjektive Menschenbilder der Künste oder der Menschenwissenschaften den Beginn von Relativierungen mit sich brächten, die letztlich „Einbahn-Straßen“ zu totalitären Systemen sind (i. S. von v. Hayeks „road to serfdom“). Deren Staatsbild lehnt der Verfassungsstaat ebenso ab wie den „Fundamentalismus“ in Teilen des heutigen Islam. Die weltweite Anerkennung von Menschenrechten230 ist eine Ermutigung selbst dort, wo etwa totalitäre oder autoritäre Staaten nur verbal die Menschenrechtspakte ratifiziert haben. 226 Die Subjektstellung des Menschen ist wohl die spezifische Kulturleistung Europas. Sie übt heute auf die ganze Welt große Faszination aus. Der mindestens programmatische Erfolg der universalen Menschenrechte zeigt es. Freilich ist denkbar, daß über die Kulturabhängigkeit der Menschenrechte bzw. des Menschenbildes Modifizierungen „ins Bild“ kommen. Die Menschenrechte werden mit Fug universal gefordert, aber sie können genau gesehen eben nur im Kontext der verschiedenen Kulturen gelebt werden („regional“). Die Kultur Asiens und Afrikas kann nicht einfach von den (westlichen) Menschenrechten her „buchstabiert“ werden. 227 Dazu: Entstehungsgeschichte der Artikel des GG, JöR 1 (1951), S. 1 (48). 228 Dazu F. Fellmann, Tief und schmutzig, Erinnerung an einen großen Skeptiker: Ferdinando Galiani, FAZ vom 19.12.1987, S. 21. 229 FAZ vom 15.12.1987, S. 23. 230 Sie sieht sich freilich jüngst in Konkurrenz mit „Rechten der Völker“: vgl. die Afrikanische Charta über Menschenrechte und Völkerrechte der OAU vom 21.10.1986, die sog. „Ban-

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Auf eine Weise ist der Jurist, der in seiner Wissenschaft das Menschenbild des Verfassungsstaates im Zentrum weiß, zugleich ein „Weltbürger“ – weil ihm die Wahrung und Entwicklung dieses Menschenbildes als Anwalt der Menschenrechte anvertraut ist. Das schließt behutsame kulturelle Differenzierungen nicht aus231. Gewiß macht der Verzicht auf ein fixiertes Welt-Mensch-Bild die eine Welt unserer Erde möglich. Darum ist das Völkerrecht nach wie vor Koordinationsordnung, „Koexistenzordnung“. Doch stecken in den universalen Menschenrechtserklärungen eben doch universal für verbindlich gehaltene Menschenbildelemente, auch wenn eine zentrale Vollstreckungsinstanz – noch? – fehlt. Der Verfassungsstaat232, der bislang als einzige Ordnungseinheit Menschenwürde und Freiheit (intern) effektiv zu garantieren versteht, schreibt Elemente eines bestimmten Menschenbildes und „in ihm“ auch solche eines bestimmten Weltbildes rechtlich vor und fest: weil und insofern sie Bedingungen für menschliche Individualität und Identität sind. Das ermöglicht zugleich einen Pluralismus von Weltbildern im übrigen. Auf der Basis des verfassungsrechtlichen Menschenbildes bleibt Raum für einen Pluralismus von sonstigen (Leit-)Bildern. Dank der kulturellen Freiheiten und der aus ihnen erwachsenden kulturellen Ergebnisse kommt es auch zu jener Vielfalt von „Orientierungswerten“233, deren der Mensch zur Sinnfindung jul-Charta“, dazu H.-G. Steinmann, NJW 1987, S. 3058 f. und W. Benedek, EuGRZ 1990, S. 339 ff., mit dem Recht aller Völker auf ihre Existenz, zur Verfügung über ihre natürlichen Ressourcen, das Recht aller Völker auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung, das Recht auf internationalen Frieden und Sicherheit sowie das Recht auf eine befriedigende Umwelt. 231 Zum „überkulturellen Geltungsanspruch der Menschenrechte“ etwa W. Kälin, Die Vorbehalte der Türkei zu ihrer Erklärung gem. Art. 25 EMRK, EuGRZ 1987, S. 421 (422 f.) mit dem Zusatz, der universelle Geltungsanspruch ruhe angesichts der kulturellen Vielgestaltigkeit der Welt auf einer „brüchigen Grundlage“, die außereuropäischen Traditionen beruhten auf einem Menschenbild, das „von unserem radikal verschieden“ sei, auch wenn man nicht so weit gehen wolle wie der amerikanische Ethnologe C. Geertz (Local Knowledge, 1983, S. 59), der meint, unsere individualistische Auffassung vom Menschen nehme sich im Vergleich zu den anderen Weltkulturen ziemlich absonderlich aus. L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987, S. 378: „Menschenrechte als universaler Schlüsselbegriff“. 232 Der Verfassungsstaat muß zwar in vielen Aspekten an die eine Welt denken, etwa in Umweltschutzfragen (die Welt wird Umwelt aller, sie ist unser aller „Haus“), in den Verantwortungszusammenhängen von Weltfrieden und Weltwirtschaft, auch im Erziehungsziel Bremens („friedliche Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern“ bzw. „Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker“: Art. 26 Ziff. 1 und 4 Verf. Bremen von 1947, ähnlich Art. 28 Verf. Brandenburg), „die Welthafenstadt“ Hamburg bekennt sich schon im Vorspruch ihrer Verfassung von 1952 zur Aufgabe, im „Geiste des Friedens Mittlerin zwischen allen Erdteilen und Völkern der Welt“ zu sein: Gleichwohl bleibt der Verfassungsstaat auf ein bestimmtes Territorium und auf die seine Menschen zu einer individuellen Kultur zusammenschließende Gesellschaft fixiert. Der „Weltstaat“ könnte nur um den Preis einer Einebnung der Vielfalt der Kulturen erreicht werden – und darum gerade um das, was Freiheit „erfüllt“. Das bedeutet keine Geringschätzung von Kants „weltbürgerlicher Absicht“, im Gegenteil: es ist ihre Fundierung (dazu unten bei Anm. 249). 233 I. S. meines Buches: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981, S. 87 ff.

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bedarf. Der Mensch kann sich nicht einfach selbst „programmieren“: er fiele ins Bodenlose. Die Möglichkeit und Wirklichkeit einer Vielzahl von Bildern über Gott und Welt, Mensch und Gemeinschaft auf der Basis eines rechtlich auf Menschenwürde und gewaltenteilige Demokratie, Freiheit und Gleichheit, Toleranz und Solidarität sowie kulturelle Gehalte der jeweiligen Nationen gerichteten Grundkonsenses zeichnen den Verfassungsstaat aus. In ihm gibt es kein „stimmiges“ Weltbild und auch kein einheitliches Menschenbild. Die oft berufene Identität des Subjekts, dessen Menschenwürde vom Verfassungsstaat beispielhaft in Art. 1 Abs. 1 GG geschützt wird234, ist freilich kein Abstraktum und keine isolierte, sich absolut setzende Monade auf einer neuen Insel „utopia“: Jeder soll dank der Menschen- und Bürgerrechte seine Identität ausbilden können – aber er steht in Koexistenz und im Kontext mit anderen, was Solidarität verlangt. Das Forum, das bis heute dem kategorischen Imperativ Kants am ehesten rechtlich Raum gibt, ist der Verfassungsstaat235. Sein „Imperativ“ basiert aber auf prozessualen bzw. formalen und auf gewissen inhaltlichen bzw. materiellen Gehalten, z. B. Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Toleranz236, Gerechtigkeit, Frieden etc.237. Das heute stärker ins Bewußtsein gerückte Menschenbildmoment „Solidarität“, „Du-Bezug“ zum Mitbürger hat auf der Ebene der Völker eine Entsprechung: in Gestalt des Erziehungszieles „Völkerverständigung“, in Zukunft vielleicht auch im Sinne von „Hilfe für die Dritte Welt“ (angelegt in der Präambel der nBV Schweiz von 2000). Allerdings ist zu fragen, ob wir angesichts der Umweltgefahren an der bisherigen fast „absoluten“ Subjektstellung des Menschen festhalten können. Muß er sich um der Generationenkette willen stärker einschränken, sollen ihn „Grundpflichten“ intensiver einbinden?238 Die Gemeinschaftsbindung wird sich gewiß verstärken. Die Verantwortung wächst. 234 Dazu mein Beitrag: Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts Bd. I, 1987, S. 815 ff. m. w. N. (3. Aufl. Bd. II 2004, § 22). 235 „Da die Welt wirtschaftlich und ökologisch heute eine interdependente Einheit bildet, ist die Fortsetzung eines politischen Systems der Independenz souveräner Staaten ein Anachronismus“ – so E. Tugendhat (Überlegungen zum Dritten Weltkrieg, in: Die Zeit Nr. 49 vom 27.11.1987, S. 76). Indes sind die „souveränen Staaten“ heute völkerrechtlich stärker eingebunden als dies der „klassische“ Begriff der Souveränität erkennen läßt (dazu P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 3. Aufl. 1998, S. 364 ff., 407 ff.). Und Tugendhats Alternative „Weltstaat oder Weltuntergang“ übersieht, daß die Staatenvielfalt immer noch das relativ beste Gehäuse für Vielfalt der Kulturen ist. Sollte nicht eine friedliche Welt möglich sein, zumal der Typus „Verfassungsstaat“ im ganzen wie im einzelnen in seinen „Elementen“ weltweit attraktiv ist und immer mehr wird? 236 Vor allem ist dem Verfassungsstaat die Absage an alle totalitären Freund/Feind-Bilder eigen (dazu C. Graf von Krockow, Politik und menschliche Natur, Dämme gegen die Selbstzerstörung, 1987, bes. S. 74 ff., 80 ff., 110, 159 ff.). 237 Dazu näher meine Schrift: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982 (2. Aufl. 1998). 238 Dazu mein Beitrag: Zeit und Verfassungskultur (Anm. 36), S. 330 ff.

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Die sog. „ökologische Ethik“ spiegelt ebenso Veränderungen im Menschenbild wider bzw. führt zu solchen wie alle neueren Spekulationen und Hypothesen, die das Universum als einen in der Entwicklung begriffenen Prozeß deuten, in dem der Mensch nur das Glied einer Kette auf dem Weg zu einer anderen Welt ist (H. v. Ditfurth). Entsprechend groß wird seine Verantwortung: Die Welt ist nur eine „Leihgabe“, auch im Blick auf die nachfolgenden Generationen. Die Rechtsordnung hat daraus Konsequenzen zu ziehen, z. B. im Umweltschutzrecht oder im Verbot der Genmanipulation239 (dazu vorbildlich: Art. 119 nBV Schweiz von 2000). So viele Fragen hier – auch interdisziplinär – ungeklärt sind: das „Menschenbild“ ist der Schlüsselbegriff der Problemlösung. Die „Menschenwürde“, heutiger „Kern“ des rechtlichen Menschenbilds im Verfassungsstaat240 (es aber nicht erschöpfend), verbietet, „hinter 1789“ und „Kant“ zurückzugehen, und sie gebietet, auf diesem Grund behutsam weiterzuschreiten: bei aller Relativität und Offenheit der Geschichte. Freilich: die Juristen sprechen vom „homo religiosus“ (W. Geiger und F. Kopp) und sie geben damit dem Mythos bis in die Ausgestaltung der Rechtsordnung hinein selbst im Verfassungsstaat Raum (Religions- und Kunstfreiheit, religiöse Feiertage241, Eidesformeln mit religiösem Zusatz). Auch die Rechtskultur des Verfassungsstaates „rechnet“ insofern mit dem Mythos, nicht nur mit dem Logos. Juristische Texte sind auf eine Weise kulturelle Manifestationen wie „Literatur“, und die juristischen „Bilder“ beinhalten Ordnungen von Denken und Handeln, auch Sprachbilder, mit denen die Jurisprudenz arbeitet und in denen sie bestimmte Themen in Bildern einfängt. Alle Arten von Texten, auch juristische sowie Kunstwerke etc. sind kulturelle „Kristallisationen“. Damit werden sie der kulturellen „Bilder-Welt“ zugänglich und bedürftig. Die im Aggregatzustand des Rechts „verfestigten“, aber gleichwohl wandelbaren Menschenbildelemente sind dem Menschen nicht alle bewußt, er lebt sie oft unbewußt: nicht die ganze Rechtsordnung ist rational „verinnerlicht“. Im übrigen belegt die westliche Jurisprudenz, daß sich „Bilder“ nicht ruckartig verändern, sondern eher „schleichend“, „still“ wandeln (Ausnahme: 1789, anders 239 Das Menschenbild des Verfassungsstaates sieht sich heute besonderen Herausforderungen gegenüber: den Möglichkeiten und Gefahren der Gentechnologie bzw. der künstlichen Befruchtung; dazu m. N. P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, Handbuch des Staatsrechts Bd.1, 1987, (2. Aufl. 1995, 3. Aufl. 2004, Bd. II, § 22), S. 815 (854ff.). Auch das „Recht des Menschen, in Würde zu sterben“ ist in der konkreten Situation nur vom hic et nunc konkretisierten Menschenbild her zu definieren (dazu mein Beitrag, ebd., S. 859 f.). Angesichts der Diskussion um „Eigenrechte der Natur“ ist auf neue Weise nach dem „Bild“ zu fragen, das sich der Mensch von „seiner“ Natur und der ihn umgebenden Natur machen kann und soll. 240 Das Menschenbild reicht also über die Menschenwürde hinaus. 241 Vgl. meine Studie: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987 sowie Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 107 ff; A. Mattner, Sonn- und Feiertagsrecht, 2. Aufl. 1991; K. H. Kästner, Der Sonntag und die kirchlichen Feiertage, HStKirchR II, 2. Aufl., 1995, S. 337 ff. – BVerfGE 111, 10 (50 ff.).

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4. Teil: Schluß – Rückblick und Ausblick

1989). Der Mensch fragt dank der Religions-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit immer wieder neu nach „seiner“ Natur, nach der ihn umfangenden und prägenden Natur und Kultur242: in Gestalt von Bildern und im Blick auf von ihm dank der Freiheits„erfüllung“ mit geschaffenen Bilder. Die Revision der juristischen „Bilder“ geschieht eher in der Form der Evolution (mit vielen „Ungleichzeitigkeiten“), denn in der der Revolution, die der Jurist mit seinen Kategorien und Instrumenten ohnehin nicht zu „fassen“ vermag. Die Frage/Antwort-Dialektik und die „Verschiebungen“, m. E. im Kritischen Rationalismus Poppers in einer auch für den Juristen heute gültigen Weise erfaßt, schreitet immer neu die Inhalte und Funktionen der rechtlichen „Bilder“ aus243. Der rechtliche Begriff „Menschenbild“ ist so offen und dank der Grundrechte revidierbar gehalten, daß er gewandelte Inhalte allmählich aufnehmen und alte schrittweise abstoßen kann. Gerade in pluralistischen Gesellschaften wird man sich zur ideellen (Re-)Konstruktion des Prozesses der Vergemeinschaftung auf das Paradigma des fiktiven Vertragsschlusses i. S. der Tradition von Kant bis Rawls244 einlassen: Die verfassungs- bzw. grundrechtstheoretischen Stichworte dazu lauten: Verfassung als immer neues Sich-Vertragen und -Ertragen aller Bürger245, grundrechtliche Freiheit „durch Organisation und Verfahren“, „status activus processualis“246: weil dieses Verfahrensmodell (zugleich ein Stück Sozialethik) das Optimum an Freiheit mit einem Minimum an (freilich unverzichtbaren) Inhalten des normativen Grundkonsenses verbindet. Ein Mindestmaß an normativen „Zumutungen“ i. S. einer „Gemeinschaftsgebundenheit“ des Individuums gemäß dem BVerfG-Menschenbild bleibt unverzichtbar. Hinzutreten wird heute das universale Friedensgebot und die weltweit einzufordernde „Umweltverträglichkeit“. Im übrigen sei auf eigene Versuche zur kulturwissenschaftlichen Anreicherung des Kritischen Rationalismus von Popper verwiesen247. In der Bildertrias des Verfassungsstaats und dank ihm sind alle Ausgrenzungen von Menschen i. S. einfacher Feindbilder und dualistisch einander entgegengesetzter gottesbezogener und gottloser Welt- und Menschenbilder fragwürdig: im Zeichen des Pluralismus. So gewiß und entschieden der Verfassungsstaat den Gegnern der „offenen Gesellschaft“ (Toleranz-)Grenzen ziehen muß: von Popper sollten wir ebenfalls lernen, „unsere Theorien an unserer Statt für uns sterben (zu) lassen“. Das 242 Die beste Umschreibung des Zusammenhangs von Natur und Kultur in bezug auf den Menschen liefert nach wie vor das Dictum von Arnold Gehlen, wonach der Mensch „von Natur aus ein Kulturwesen“ ist. Es beherrscht auch die Folgediskussion, z. B. bei K. Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, 4. Aufl. 1986, S. 146. 243 M. E. ist der Jurist gegenüber den Prozessen der Ausformung von Welt-, und Menschenetc. „Bildern“ nicht nur rezeptiv tätig: er gestaltet sie auch mit. 244 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975. 245 Dazu meine Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff. 246 Vgl. das Regensburger Koreferat des Verf., in: VVDStRL 30 (1972), S. 43 (86 ff.). 247 Dazu P. Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 577 (590 ff.).

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gilt auch im Verhältnis der (auch nach 1989) zum Teil unterschiedlichen248 Systeme in Ost und West, Nord und Süd. I. Kant stellt in seinem Traktat – „Idee zu einer allgemeinen Geschichte, in weltbürgerlicher Absicht“ (1784)249 – die Frage, „wie es unsere späten Nachkommen anfangen werden, die Last von Geschichte, die wir ihnen nach einigen Jahrhunderten hinterlassen möchten, zu fassen“. Nach Kant wird der Gesichtspunkt ihres Interesses sein, „was Völker und Regierungen in weltbürgerlicher Absicht geleistet oder geschadet haben“ – „weltbürgerlich“ heißt hier: in Sachen der Freiheit, Gerechtigkeit, Friedfertigkeit. Menschenbild, Staats- und Weltbild sind hier zusammengesehen. Vielleicht ist Kants „weltbürgerliche Absicht“ ein Appell an uns, einen – kleinen – wissenschaftlichen Beitrag zu leisten: in weltbürgerlicher Absicht und dank des offenen Menschenbilds im Verfassungsstaat250. 248 249

K. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, 1984, S. 40. Zit. nach I. Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von W. Weischedel, Bd. VI, 1964, S. 32

(50). 250 Nicht jede nationale Variante des Verfassungsstaates braucht eine der Bundesrepublik Deutschland entsprechende voll ausgebaute subtile Menschenbild-Literatur und -Judikatur in der konkreten Staatsrechtsdogmatik bzw. Verfassungsrechtsprechung. Es hängt von den historischen Erfahrungen und den Traditionen der Verfassungskultur sowie der Grundrechtstextlage ab, ob und wie die Grundsatzfrage nach dem Menschenbild in die konkrete Alltagsarbeit des Verfassungsjuristen eingeht. Die Bundesrepublik Deutschland tat gut daran, wegen der Erfahrungen mit Weimar und der totalitären NS-Zeit nach 1945 sowie der DDR im MenschenbildParadigma direkt „Grund“ und „Stand“ zu suchen. In Verfassungsstaaten mit ungebrochenen Menschenwürde- und Demokratie-Traditionen sowie differenzierter Grundrechtskultur mag die konkrete Staatsrechtsdogmatik auf die Grundsatzfrage nach dem Menschenbild verzichten können oder restriktiv arbeiten (so in den angelsächsischen Ländern und in der Schweiz: Anklänge aber bei J. P. Müller, Elemente einer schweizerischen Grundrechtstheorie, 1982, S. l f., 4 f., 7, und P. Saladin, Grundrechte im Wandel, 3. Aufl. 1982, S. 428 ff. (wobei nach „funktionalen Äquivalenten“ zu suchen wäre, etwa Menschenwürde, persönliche Freiheit, ungeschriebene Grundrechte, dazu P. A. Mastronardi, JöR 28 [1979], S. 469 ff.). – Speziell in Österreich fehlen bisher G. Radbruch bzw. dem BVerfG vergleichbare Pionierleistungen „in Sachen Menschenbild“ (vgl. aber P. Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1986, S.377; ders., AöR 94 [1969], S. 31 [35, 37, 39 f.]; F. Ermacora, Grundriß einer allgemeinen Staatslehre, 1979, S. 56; W. Mantl in: R. Rack [Hrsg.], Grundrechtsreform, 1985, S. 21 [23, 37]). Das mag durch viele Gründe bedingt sein, nicht zuletzt durch die Dominanz der „Wiener Schule“ von Hans Kelsen bzw. die sie begünstigenden Rezeptionsbedingungen, die bis in die spezifische „Verwaltungsstaatlichkeit“ Österreichs im 19. Jahrh. zurückreichen (so G. Wielinger). Gleichwohl ist mit J. Burckhardt (Staat und Kultur, hrsg. von H. Helbling, 1972, S. 479) daran zu erinnern, daß die Einzelwissenschaften oft gar nicht wissen, „durch welche Fäden sie von den Gedanken der großen Philosophen abhängen“. Das gilt gerade für die Staatsrechtslehre. Wegen ihrer methodischen Selbstbeschränkungen übersieht die „Wiener Schule“ wohl auch ihre eigenen Menschenbildprämissen, so unentbehrlich und unverkennbar diese sind (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Rechtsschutz, Legalität, Gewaltenteilung und Gleichheit, dazu B.-C. Funk, Einführung in das österreichische Verfassungsrecht, 10. Aufl. 2000, S. 81 ff.). So wird die österreichische Staatrechtslehre heute einerseits an klassische Menschenbild-Elemente anknüpfen können, die sich schon in großen Rechts-Texten objektiviert haben (vgl. § 16 ABGB: „Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte und ist daher als eine Person zu betrachten“; dazu K. Korinek/B. Gutknecht, Der Grundrechtsschutz,

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4. Teil: Schluß – Rückblick und Ausblick

in: H. Schambeck [Hrsg.], Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, 1980, S. 291 [292]) oder in neuerer Zeit entstanden sind (vgl. Art.1 Abs. 2 Verf. Burgenland [1981], der sein Menschen- und Staatsbild in den dem Typus „Verfassungsstaat“ kongenialen Worten formuliert: „Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft“, zit. nach: Die Burgenländische Landesverfassung, hrsg. von G. Mader und G. Widder, o. J., 1981, S. 92 ff.); s. ferner § 1 Datenschutzgesetz von 1978/2000 sowie das BVG von 1984 zum umfassenden Umweltschutz – „Bewahrung der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen“ –, beide zit. nach H.-R. Klecatsky/S. Morscher, B-VG, 4. Aufl. 1987 bzw. 9. Aufl. 1999; nicht zuletzt die EMRK-Texte dürften der Grundrechtsdiskussion in Österreich (dazu R. Rack, a.a.O., S.159 ff., M. Nowak, Politische Grundrechte, 1988; K. Korinek, Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit, 2000) weitere Menschenbild-Elemente vermitteln. Andererseits wird sich Österreich auf der mittleren Abstraktionsebene der Verfassungslehre von den „Fäden“ zu einem Locke und Montesquieu, Rousseau und Kant weder abschneiden wollen noch können. Sein verfassungsrechtliches Menschenbild steht in Fragen der Gentechnologie vor den anderen Verfassungsstaaten vergleichbaren Herausforderungen. Sich das hier zu bewährende „Menschenbild“ bewußt zu machen, dürfte spätestens jetzt geboten sein. Zu den „Textstufen in österreichischen Landesverfassungen“ (zugleich mit neuer Literatur) gleichnamig mein Beitrag in JöR 54 (2006), S. 367 ff. Zur Rolle der berühmten „Bauprinzipien“: A. Gamper in JöR 55 (2007), S. 537 ff. Ergiebig auch FS H. Schäffer, 2006. – Aus der allgemeinen Literatur eindrucksvoll zuletzt: T. Öhlinger, Verfassungsrecht, 7. Aufl., 2007; R. Novak, Lebendiges Verfassungsrecht (Sammelband), 2007; A. Schramm, Gesamtänderung der BVerf durch die EU-Verfassung?, ZÖR 2006, S. 41 ff.; P. Pernthaler, Die Identität Tirols in Europa, 2007; Verfassungstag 2006, Wien 2007.

Nachwort zur italienischen Ausgabe A cura di Paolo Ridola I. Die kleine Monographie aus dem Jahre 1988, hier für die wissenschaftliche Öffentlichkeit Italiens auf dem Stand des Jahres 2000 aktualisiert (spanische Übersetzung 2001), bildet einen Mosaikstein im Gesamtbild des 25jährigen Ringens des Verfassers um eine – europäische – Verfassungslehre. Sie hat 1998 eine vorläufige Gestalt in Form des Buches „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (2. Aufl. 1998) einerseits, des Bandes „Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien“ (1999) andererseits gefunden. Weitere Elemente des europäischen Verfassungsstaates als Typus sind aus dieser Sicht neben nicht wenigen ins Italienische und Spanische, auch Griechische und Japanische übersetzten Monographien wie „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ (1995) – italienische Übersetzung, a cura di G. Zagrebelsky: „Diritto e verità“ (2000) – sowie die „Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG“ (3. Aufl. 1983) – italienische Übersetzung, a cura di P. Ridola „Le libertà fundamentali nello Stato costituzionale“ (1993) – die Bücher „Verfassung als öffentlicher Prozeß“ (1978, 3. Aufl. 1998) sowie „Europäische Rechtskultur“ (1994, als Suhrkamp-Taschenbuch 1997), „Die Verfassung des Pluralismus“ (1980) und „Klassikertexte im Verfassungsleben“ (1981). II. Das Thema Menschenbild im Verfassungsstaat hat gerade in jüngster Zeit neue Aktualität gewonnen. Das zeigt sich nicht nur in der deutschen Judikatur (vgl. z. B. Bundesverwaltungsgericht, Band 90 [1992], S. 1 [13]: Aufgabe der Erziehungsziele, „den Schülern eine Anleitung zu geben, die sie in die Lage versetzt, dem Menschenbild des Grundgesetzes entsprechend in freier eigener Entscheidung ihr Leben selbst zu bestimmen, ohne dabei ihre Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit außer acht zu lassen“; ferner zu Menschenbildfragen Bundesverfassungsgericht E 56, 363 [384] – in Sachen Elternrecht des nichtehelichen Vaters – sowie BVerfGE 83, 130 [143] – Prägung des Menschenbildes durch die Kunstfreiheit – und der Sache nach BVerfGE 87, 209 [225 ff.]). Die Aktualität zeigt sich auch im Schrifttum (vgl. als Folgeliteratur: Sammelband der Schriftenreihe der Guardini-Stiftung: Jakob Kraetzer [Hrsg.], Das Menschenbild des Grundgesetzes, 1996), das sich des Themas in einem interdisziplinären, über das Juristische hinaus führenden Ansatz annimmt.

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Nachwort zur italienischen Ausgabe

Nur in den allerjüngsten Bänden der Entscheidungen des BVerfG (E 90 von 1994 bis E 100 von 1999) taucht die Menschenbildjudikatur direkt nicht mehr auf. Das kann zwei Gründe haben: entweder gab es keinen Anlass hierfür oder aber das BVerfG verhält sich behutsam angesichts der wissenschaftlichen Kritik, die davor warnt, das Menschenbild zur stärkeren Inpflichtnahme des Einzelnen zu benutzen (so z. B. H. Dreier, in ders. [Hrsg.], Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1 [1996], Art. 1 I Rn. 99; zur Vorsicht mahnt – wegen der Pflichtendimension – auch W. Höfling, in: M. Sachs, Grundgesetz, 2. Aufl. 1999, Art. 1 Rn. 22). All dies ändert aber nichts an der Relevanz der Menschenbildtheorie für die Grundrechtsabwägungen und insbesondere für das Menschenwürde-Verständnis (dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsgg. von J. Isensee und P. Kirchhof, Bd. I [1987], S. 815 ff.; 3. Aufl. 2001 i. E.). Neue Aktualität wird das Problem „Menschenbild“ zusätzlich auf der europäischen Ebene gewinnen. In dem Maße, wie wohl alle Kernbegriffe des herkömmlichen Verfassungsstaates im Blick auf Europa neu zu durchdenken sind (etwa die sog. Drei-Elemente-Lehre von G. Jellinek, das Gemeinwohl und die Öffentlichkeit, dazu vom Verf.: „Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?“, 2000), in dem Maße wird es notwendig, auch die Menschenbild-Frage auf dem Forum Europas und seiner „werdenden Verfassungsgemeinschaft“ (dazu das Interview von P. Ridola, in: Diritto romano attuale, 2/1999, S. 185–211) neu zu stellen. Konkret: Hinter den Grundrechten der EMRK von 1950 steht ein bestimmtes Menschenbild (aus der Lit.: J. M. Bergmann, Das Menschenbild der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1995), das verfassungstheoretisch freizulegen ist. Es wird aus Europa als regionaler Verantwortungsgemeinschaft zu entwickeln sein, ohne daß die Universalität der Menschenrechte vernachlässigt wird. Der „homo europaeus“ kann nicht der „homo oeconomicus“, sondern nur der kulturgeprägte Bürger sein. Unabdingbar ist dabei der Gedanke, Grundrechte seien – auch – Erziehungsziele (Stichwort: „pädagogische Verfassungsinterpretation“). Für den Verfassungsstaat wurde dies in der Schrift des Verf. „Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat“ (1981) entfaltet. Mittlerweile hat das deutsche Bundesverwaltungsgericht diesen Gedanken vorsichtig adaptiert (1992) und in BVerwGE 90, 1 (12) als Erziehungsziel vor allem die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG und „die Grundrechte der Art. 2 ff. GG, inbesondere das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 2 Abs. 1 GG“, die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz und die Prinzipien des demokratischen und sozialen Rechtsstaates genannt. Vor allem die ostdeutschen Landesverfassungen seit 1992 haben den Kanon der (gemeindeutschen) Erziehungsziele fortgeschrieben (etwa in Sachen Umweltschutz, vgl. Art. 28 Verf. Brandenburg von 1992; in Sachen „Nächstenliebe“, z. B. Art. 101 Verf. Sachsen von 1992; in Sachen „Achtung vor der Würde des Menschen und Toleranz“, vgl. Art. 22 Abs. 1 Verf. Thüringen von 1993). Auf das „Menschenbild“, vor allem seine Dimension der Verantwortung bleibt dies nicht ohne Wirkung.

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Das „Prinzip Verantwortung“ (H. Jonas) ist vom Klassikertext zum positiven Verfassungstext geworden und in Art. 20 a GG „geronnen“ („auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“). Die italienische Staatsrechtslehre kann schon aus ihrem eigenen Verfassungstext von 1947 viele fruchtbare Aspekte für die Menschenbildfrage gewinnen. Man denke nur an die reichhaltigen Art. 2 und 3, aber auch Art. 29 ff. und Art. 52 ff. Gewiß, vieles bleibt normativ letztlich nicht erfaßbar und muß von den freien Bürgern in Gestalt der politischen Kultur ihres Landes entwickelt und gelebt werden. Nicht zuletzt diese Kontextabhängigkeit des Menschenbildes macht den Reiz aus, den es im Rahmen einer vergleichend angelegten Verfassungslehre als Kulturwissenschaft hat. III. Daß der Verf., dank P. Ridola, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit Italiens ein weiteres Buch vorlegen darf (zuletzt „La Verfassungsbeschwerde nel sistema della Giustizia costituzionale tedesca“, Milano 2000), ist eine Ehre. Die Übersetzung ist aber auch ein Hinweis darauf, daß es heute viele Foren und Formen des deutsch/italienischen Wissenschaftsaustausches gibt. Sie seien im folgenden als Panorama tableauartig skizziert. Vor allem die Weimarer Verfassung hat inhaltlich von Anfang an auf die italienische Staatsrechtslehre (z. B. C. Mortati) eine bis heute anhaltende Faszination ausgeübt. Vielleicht ist die WRV von 1919 in Italien sogar bekannter als in Deutschland selbst. Zitiert seien nur die Arbeiten von F. Lanchester („Momenti e figure nel diritto costituzionale in Italia e in Germania“, 1994) sowie das Hagener Colloquium „Das Grundgesetz im internationalen Zusammenhang der Verfassungen“ (hrsgg. von U. Battis/E. G. Mahrenholz/D. T. Tsatsos, 1990, mit einem Beitrag von Paolo Ridola). So sind es neben Tagungsbänden (z. B. „La Costituzione Europea tra cultura e mercato“, 1997, a cura di P. Ridola), Rezensionen großer italienischer Literatur (z. B. P. Häberle zu G. Zagrebelsky, Il diritto mite, 1992, in: AöR 121 [1996], S. 309 ff.) und deutsch-italienischen Verfassungskolloquien (zuletzt in Berlin 1998) vor allem Veröffentlichungen in Zeitschriften und Jahrbüchern, hier wie dort, die eine Brücke zwischen der deutschen und der italienischen Wissenschaftlergemeinschaft schlagen. So gab G. Leibholz in seinem Jahrbuch des Öffentlichen Rechts immer wieder italienischen Stimmen Raum (z. B. G. Amato, Die Funktionen der Regierung nach italienischem Verfassungsrecht, JöR 29 [1980], S. 111 ff.), und so bemühte sich der Unterzeichner neue Foren und Rubriken im Dienste beider Länder zu schaffen (vgl. z. B. die Abhandlungen von A. D’Atena, Das demokratische Prinzip im System der Verfassungsprinzipien, in: JöR 47 [1999], S. 1 ff.; von A. Pace, Starre und flexible Verfassungen, in: JöR 49 [2001], S. 89 ff.; als neue Rubrik darf die Kategorie „Europäische Staatsrechtslehre“ gelten, in der etwa Damiano Nocilla seinen Lehrer V. Crisafulli schilderte: JöR 44 [1996], S. 255 ff.). Im übrigen gehören wechselseitige Darstellungen der jeweils anderen nationalen Rechtsordnungen bzw. ihrer Teilgebiete zu den Foren und Formen der

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grenzüberschreitenden Wissenschaftsgespräche (z. B. fruchtbar J. Luther, Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1990). Gleiches gilt für Übersetzungen der Verfassungstexte (vgl. A. D’Atena/A. Anzon, a cura di, La Legge Fondamentale Tedesca, 1997). Daß der Unterzeichner 1996 auf der italienischen Staatsrechtslehrertagung in Turin sprechen durfte, ist eine Ehre für ihn und ein Beweis für den lebendigen Austausch zwischen den beiden Wissenschaftlergemeinschaften. Europa im weiteren Sinne des Europarates und der OSZE sowie im engeren Sinne der EU/EG schafft weitere Foren: ein Beispiel für dieses ist der von E. di Suni Prat herausgegebene Band „Le Costituzioni di Paesi dell’ Unione Europea“, 2. Aufl. 1998, 3. Aufl. 2001 (i. E.), mit Beiträgen aus allen 15 Ländern. Diese Skizze ist nur eine Momentaufnahme, ohnedies im Filter persönlicher Kenntnisse und subjektiver Voreingenommenheit und darum entsprechend begrenzt. Sie soll aber zeigen, wie vielfältig schon heute in personeller und inhaltlicher Hinsicht die italienisch/deutsche Wissenschaftlergemeinschaft in Sachen „europäischer Verfassungsstaat“ ist. Wenn das große Dictum H. Coings „Von Bologna bis Brüssel“ langfristig Wirklichkeit wird, so hat daran der italienisch/deutsche Diskurs einen nicht ganz geringen Anteil. Der Unterzeichnete darf den Wunsch äußern, daß die italienische Staatsrechtslehre vielleicht noch stärker als bisher auch den Blick auf die Schweiz richtet, zumal sich einige Schweizer Autoren durchaus mit Italien beschäftigen (z. B. W. Haller, Das abrogative Gesetzesreferendum in Italien, Études en l’honneur de J.-F. Aubert, 1996, S. 231 ff.), wobei sich zeigt, daß gerade europäische Festschriften als Literaturgattung Vehikel für grenzüberschreitenden Wissenschaftleraustausch sein können. Die Schweiz, ein alteuropäisches Kulturland, leistet derzeit große Beiträge zur nationalen und europäischen Staatsrechtslehre und ist auf eine Weise eine höchst vitale „Werkstatt“ (dazu vom Verf.: „Werkstatt Schweiz“, in: Quaderni Costituzionale, Dec. 1991, n. 3). Die neue Schweizer Bundesverfassung von 1999, am 1. Januar 2000 in Kraft getreten, kann sich im europäischen Rechtsvergleich wahrlich „sehen“ lassen. „Werkstattcharakter“ hat aber auch die italienische Reformdiskussion, auch wenn sie politisch bislang zu keinen neuen Verfassungstexten geführt hat (vgl. nur S. P. Panunzio, a cura di, I Costituzionalisti e le Riforme, 1998, und La Riforma Costituzionale, Atti del Convegno, Roma 6–7. Novembre 1998, 1999). IV. Der Unterzeichner darf vielfältigen Dank formulieren: an erster Stelle gegenüber dem Herausgeber und vorbildlichen Betreuer auch dieses Bandes: P. Ridola (Rom). Zusammen mit anderen Kollegen wie A. A. Cervati, A. D’Atena und F. Lanchester ist er auf italienischer Seite ein höchst effektiver Brückenbauer zwischen beiden Ländern. Mein Dank gilt aber auch den Kollegen, die mich in den Jahren von 1990 bis 2000 insgesamt zehnmal als Gastprofessor nach Rom eingeladen haben. Kollegen und Freunde wie G. Zagrebelsky, A. Pace, F. Lanchester, A. Baldassarre,

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M. Luciani, D. Nocilla, A. D’Atena sowie T. Martinez bzw. E. Santantonio haben mir jeweils im März, auch als Gast des Goethe-Institutes, Aufenthalte ermöglicht, die mich zu Themen wie dem „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ (EuGRZ 1991, S. 201 ff.) beflügelt haben. Gedankt sei auch dem römischen Verlag für die ansprechende Gestaltung des Bandes sowie dem Übersetzer P. Ridola.

Bayreuth/St. Gallen, im Herbst 2000

Peter Häberle

Nachwort zur dritten, erweiterten Auflage I. Die „Karriere“, wenn man will „Konjunktur“ des Themas „Menschenbild“ steht nicht für sich (vgl. z. B. das interdisziplinäre Gespräch in Wien: „Menschenbild und Menschenwürde“, FAZ vom 28. September 1999, S. 4). Das Menschenbild1 befindet sich mit der Diskussion um die Menschenrechte und die Menschenwürde in einem großen, im einzelnen bislang nicht geklärten Gesamtzusammenhang. Tagespolitik, aber auch mehrere Einzelwissenschaften wie Theologie (früh: L. Berg, Das theologische Menschenbild, 1999; T. Koch, Die Gottesbestimmheit des Menschen, in: G. Hummel (Hrsg.), Der Beitrag der Wissenschaften zum gegenwärtigen und künftigen Menschenbild, 1991, S. 85 ff.; K. Lehmann, Das Menschenbild als Maßstab, Bitburger Gespräche, Jahrbuch 2002/II, 2003, S. 123 ff.)2, Philosophie und Politikwissenschaften, sogar die Medizin und andere Naturwissenschaften ringen um die Aspekte und Dimensionen dieser komplexen Trias (s. etwa W. Kraus (Hrsg.), Bioethik und Menschenbild bei Juden und Christen, 1999). Speziell bei den Menschenrechten (aus der abundanten Lit. zuletzt: G. Nolte/H.-L. Schreiber (Hrsg.), Der Mensch und seine Rechte, 2004; W. Schweidler, Das Unantastbare, Beiträge zu Philosophie der Menschenrechte, 2002)3 besteht mitunter sogar die Gefahr, dass die Berufung auf sie zur bloßen Rhetorik oder „Bekenntnisliteratur“ („Krieg für die Menschenrechte“) verkommt. „Menschenrechte“ werden pauschal in Anspruch genommen, ohne dass genau differenziert wird: etwa nach den klassischen Abwehrrechten, den objektivrechtlichen Dimensionen (etwa bei der Familie) und den sozialen und kulturellen Teilhaberechten (z. B. Recht auf Nahrung und Bildung) sowie politi1 Neuere und ältere Monographien: W. Freistetter, Internationale Ordnung und Menschenbild, 1994; Paul-Henri Steinauer (Hrsg.), L’image de l’homme en droit, 1990; H.-H. Jescheck, Das Menschenbild unserer Zeit und die Strafrechtsreform, 1957; W. Geiger, Menschenrecht und Menschenbild in den Verfassungen Schwedens, Deutschlands und Österreichs, 1983; F. Ansprenger, Menschenrechte und Menschenbild in der Dritten Welt, 1982. S. auch den Sammelband Menschenrechte und Menschenwürde, hrsg. von E.-W. Böckenförde und R. Spaemann, 1987. 2 Im juristischen Schrifttum ist die einschlägige Menschenbild-Judikatur des BVerfG integrierender Bestandteil wissenschaftlicher Abhandlungen (z.B. R. Grawert, Deutsche und Ausländer, FS 50 Jahre BVerfG, Bd.2 2001, S.319 (340 f.); F. Hufen, Schutz der Persönlichkeit und Recht auf informationelle Selbstbestimmung, ebd. S. 103 (106 ff.)), in Habilitationsschriften (C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 552 f.) sowie in Dissertationen (A. Siehr, Die Deutschenrechte des GG, 2001, S. 40 f., 334 ff.; P. Szczekalla, Die sog. grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 434). 3 Aus der juristischen Lit. zu Menschenrechten: A. Weber, Menschenrechte, 2004; T. Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 2004.

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schen Partizipationsrechten und einem Mindeststandard. Gewiss ist der sog. „Menschenrechtsdialog“, den die EU z. B. mit dem (islamischen) Iran führt oder um den die USA mit China ringen, zu begrüßen. Auch ist der Streit um die „Universalität“ der Menschenrechte einerseits, ihre eher kulturspezifischen Ausprägungen andererseits aller Mühen wert4 (L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, 1987; P. Dudy, Menschenrechte zwischen Universalität und Partikularität, 2002; E. Riedel, Die Universalität der Menschenrechte, 2003). „Menschenrechtspolitik“ des Verfassungsstaates (als Begriff jünger als der 1971 geprägte Begriff „Grundrechtspolitik“) legitimiert diesen nach innen wie nach außen. Indes dürfen die Menschenrechte als Argument nicht zum Allerweltsbegriff degenerieren, der ein weiteres wissenschaftliches „Nachbohren“ eher verhindert denn befördert. Vielleicht lässt sich sagen, Menschenrechte seien Rechte, die den Menschen fiktiv „von Natur“ aus, entwicklungsgeschichtlich von der Kultur aus zukommen. Sie unterliegen keinem numerus clausus! Z. B. haben viele Entwicklungsländer in ihren Verfassungen das nunmehr rechtliche Grundrecht auf kulturelle Identität neu geschaffen (z. B. Art. 58 Verf. Guatemala von 1985). Der numerus apertus der Menschenrechte (auch für Behinderte) ist geradezu ein Charakteristikum des Typus Verfassungsstaat in seiner heutigen Entwicklungsstufe. Menschenrechte haben nicht nur innerstaatlich, sondern auch regional (z.B. in Europa) oder weltweit (im Völkerrecht) „dirigierende“ Kraft und konkrete Schutzwirkungen im humanitären Völkerrecht als Menschheitsrecht (M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001). Sie werden zunehmend zum letzten Geltungsgrund des sog. „Völkerrechts“ selbst (jenseits der Souveränität des Staates). Die Demokratie ist eine organisatorische Konsequenz der Menschenrechte (dazu zuletzt mein Beitrag in FS Ress, 2005, S. 1163 ff.). II. Wie verhalten sich „Menschenrechte“, „Menschenbild“ und „Menschenwürde“ zueinander? Diese Gretchenfrage lässt sich hier und heute schwer beantworten. Sie hätte Gegenstand einer großen eigenen Monographie von Autoren der nächsten Generation zu sein. Angedeutet sei nur dieses: Das Menschenbild ist der Menschenwürde sozusagen „vorgelagert“, es findet sich, entwickelt sich auf einer höheren Abstraktionsebene. Vor allem ist es, soweit ersichtlich (noch) nicht Gegenstand eines positiven ausdrücklichen Verfassungstextes. Während es zahlreiche normative Menschenwürdeklauseln in nationalen Verfassungen und darüber hinaus gibt (in Europa neu etwa in der EU-Grundrechtecharta von 2000: Präambel und Art. 2), ist das „Menschenbild“ als solches bislang nirgends „getextet“. Es erschließt sich, wie in dieser Monographie unternommen, integrierend in der Gesamtsicht aus vielen ein4 Gegen eine „kulturkreisbezogene Relativierung“ der Menschenrechte: K. Stern, Die Idee der Menschen- und Grundrechte, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I 2004, S. 3 (46).

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zelnen (anderen) positiven Verfassungsnormen. Den Weg dazu hatte erstmals das BVerfG (in E 4, 7 (15 f.), vgl. zuletzt E 109, 133 (151 f.)) gewagt (und seine integrierende, ganzheitliche Methode ist pionierhaft, auch für das europäische Verfassungsrecht von heute). Gleichwohl decken sich Menschenwürde und Menschenbild in großen Teilbereichen, was sogleich an ihren derzeit besonderen aktuellen „Fronten“, bei der Gentechnik, dem (absoluten) Folterverbot und der (aktiven) Sterbehilfe gezeigt sei. Die Menschenrechte sind demgegenüber konkrete Ausprägungen der Menschenwürde (vgl. BVerfGE 107, 275 (284) in Bezug auf die Grundrechte) als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates. „Hinter“ ihnen ist konsequenterweise seinerseits ein „bestimmtes Menschenbild“ erkennbar. In Deutschland wird derzeit in manchem Kontext das „christliche Menschenbild“ in Anspruch genommen (kürzlich etwa seitens des bayerischen Ministerpräsidenten E. Stoiber und des evangelischen Landesbischofs Friedrich im Bayerischen Fernsehen: 23. Juni 2004, auch vom neuen Bundespräsidenten H. Köhler)5. Indes folgt das verfassungsstaatliche Menschenbild wegen der weltanschaulich-konfessionellen Neutralität des Staates nicht einfach der christlichen Tradition, so prägend diese als „Kulturfaktor“ bleibt6. Auch im Europäischen Verfassungsrecht kann wegen der Verschiedenheiten des nationalen Religionsverfassungsrechts der einzelnen Länder nicht einfach das christliche Menschenbild implantiert werden (man denke an die republikanische Trennungsideologie in Frankreich, der gegenüber jedoch für das EU-Verfassungsrecht auf dem polnischen Modell von 1997 zu bestehen ist: alternativer Gottesbezug). Die Frage nach einem Gottesbezug in der EU-Verfassung ist eine „Gretchenfrage“! Die Menschenbilddiskussion7 hat seit der Vorauflage m. E. keine grundsätzlich neuen Konzepte hervorgebracht (Das gilt auch für den facettenreichen Symposiumsband zu Ehren von H. Scholler: Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, hrsg. von B. Schünemann u. a., 2002, sowie für den Vortrag von L. Adamovich, Das Menschenbild der Demokratie und der Grundrechte, 2001 sowie 5 Bundespräsident H. Köhler, Antrittsrede, FAZ vom 2. Juli 2004, S. 2: „Persönlicher Kompass ist mir dabei mein christliches Menschenbild“. 6 Aktuell: M. Bertrams, Lehrerin mit Kopftuch?, Islamismus und Menschenbild im GG, DVBl. 2004, S. 1525 ff. 7 Auffällig ist, dass sich nicht wenige Abhandlungen zur Menschenbild-Problematik gerade in Festschriftenlitertur finden – offenbar ist das „Menschenbild“ ein typisches „Festschriftenthema“ (vgl. nur: W. Schmitt Glaeser, Dauer und Wandel des freiheitlichen Menschenbildes, FS Maurer, 2001, S. 1213 ff.; M. Schmidt-Preuß, Menschenwürde und „Menschenbild“ des GG, FS C. Link, 2003, S. 921 ff.; R. Scholz, Grundgesetzliches Menschenbild und Staatsziel „Tierschutz“, ebd. S. 943 ff.; A. Püttmann, Menschenbild und Medienwirkung, Hommage an J. Isensee, 2002, S. 69 ff.; aus der älteren Festschriftenliteratur etwa M. Brenner, Rahmenbedingungen des Menschenbildes, FS Leisner, 1999, S. 19 ff.; L. Fastricht, Vom Menschenbild des Arbeitsrechts, FS Kissel, 1994, S. 193 ff.; J. J. van der Ven, Die Bedeutung des Menschenbildes für die Rechtsvergleichung, GS Kahn-Freund, 1983, S. 737 ff. – S. noch E.-W. Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, 2001. – Kritisch zum „Menschenbild“: J. P. Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl. 1999, S. 4.

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die Rektoratsrede von J. Schmidt, Rechtsordnung und Menschenbild: Rechtstheorie 30 (1999), S. 1 ff.). Die Kommentar- und Handbuchliteratur bewegt sich ebenso wie die Monographie- und Aufsatzliteratur auf den bisherigen, z. T. kontroversen Grundlinien (vgl. H. Dreier, in ders., 2. Aufl., Bd. I 2004, Art. 1 Rdnr. 168 f.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, 3. Aufl., 2003, vor Art. 1 Rdnr. 61 f.)8. Aus der Tagespolitik zuletzt P. Müller (CDU): er sieht seine Partei einem „durch Solidiarität geprägten Menschenbild“ verantwortlich (FAZ vom 21. Juni 2004, S. 4). Demgegenüber hat sich das Menschenwürdeproblem (allgemein F. Hufen, Erosion der Menschenwürde?, JZ 2004, S.313 ff.; E. Picker, Vom „Zweck“ der menschlichen Würde, in: W. Schweidler (Hrsg.), Menschenleben ..., 2003, S. 197 ff.; R. Poscher, Menschenwürde als Tabu, FAZ vom 2. Juni 2004, S.8; M. Kriele, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, 2003, S. 169 ff.; P. Häberle in HdBStR, Bd. II 3. Aufl. 2004, § 22, zuletzt BVerfGE 109, 279 (310 ff.)) insbesondere an drei konkreten Fronten verschärft und intensiviert. Auf sie sei genauer eingegangen, zumal in allen drei Problembereichen sowohl das „Menschenbild“ als auch die „Menschenwürde“ in Frage stehen (diese ist freilich dem Menschen vorzubehalten, so auch R. Scholz, FS Link, aaO., S. 955; anders N. Hoerster, Haben Tiere eine Würde?, 2004; M. Liechti (Hrsg.), Die Würde der Tiere, 2002). Erwähnt sei der Streit über die „Körperwelten“ (BayVGH vom 21. Februar 2003, BayVBl. 2003, S. 339 ff., dazu Kment BayVBl. 2003, S. 723 ff.; s. auch G. Thiele, Plastinierte „Körperwelten“, Bestattungszwang und Menschenwürde, NVwZ 2000, S. 405 ff.; F. Hufen, Verbot oder einschränkende Auflagen für die Ausstellung „Körperwelten“?, DÖV 2004, S. 611 (614 f.)). Verwiesen sei auch auf die (neue) Trennung von Menschenwürde und Lebensrecht: „Fötus ist keine Person“ (EGMR, zit. nach SZ vom 10./11. Juli 2004, 12. Juli 2004, S.13). An die Menschenwürde- bzw. Menschenbildfrage in „Big Brother“ sei erinnert (W. Schmitt Glaeser, Big Brother is watching you – Menschenwürde bei RTL 2, ZRP 2000, S. 395 ff.; U. Hinrichs, „Big Brother“ und die Menschenwürde, NJW 2000, S. 2173 ff.; M. Heidemann, „Big Brother“, ZRP 2002, S. 44 ff.; M. Köhne, „Big Brother“ – Die modernen Superstars als Reformer der Verfassung?, ZRP 2002, S.92 ff. Zuletzt allgemein: R. Poscher: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ JZ 2004, S. 756 ff.). III. Im Einzelnen geht es um drei Problemkreise: 1. Menschenwürde und Menschenbild im Kontext der Gentechnik-Debatte 8 Menschenbild und Menschenwürde stehen im Kontext etwa in Grundlagenaufsätzen (H. Hofmann, Menschenrechtliche Autonomieansprüche (1992) in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 51 ff.; K. Stern, Die normative Dimension der Menschenwürdegarantie, FS Badura, 2004, S. 571 ff.; M. Kloepfer, Leben und Würde des Menschen, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 2, 2001, S. 77 ff.). S. auch E. Herms (Hrsg.), Menschenbild und Menschenwürde, 2001.

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2. das absolute Folterverbot – Konsequenz der Menschenwürde und des Menschenbildes des GG 3. das Verbot aktiver Sterbehilfe: Konsequenz von Menschenwürde und Menschenbild. Zu 1.: Die neuen Möglichkeiten der Gentechnik (Stichwort: angebliche Geburt des „Klonbabys Eva“ am 24. Dezember 2002) stellen für die Menschenwürdegarantien und das hier entwickelte Menschenbildkonzept eine große Herausforderung dar. Das absolute Verbot des Klonen von Menschen, wie es sich in der neuen BV (1999) der Schweiz findet (Art. 119 Abs. 2 lit. a), gilt m. E. für jede verfassungsstaatliche Verfassung9. Das „Wehret den Anfängen“, aus unseliger deutscher Geschichte nur zu wichtig, verbietet es, mit dem Menschen gentechnisch zu experimentieren. Der Mensch, geworden oder „werdend“, wird buchstäblich zum „Objekt“ gemacht: der klassische Anwendungsfall des Art. 1 Abs. 1 GG und seiner zahlreichen Parallelnormen, europa- und weltweit (Stichwort: keine Instrumentalisierung des Lebens). Aus der Literatur sei nur auf folgende Arbeiten verwiesen: F. Hufen, aaO., JZ 2004, S. 318, der die Stammzellenforschung für zulässig hält; gegen Gentests an Embryonen aber H.-J. Vogel, FAZ vom 24. Januar 2003, S. 5; weitere Lit.: P. Bahners, Bürger Embryo, FAZ vom 2. Juli 2001, S. 43; F. Kamphaus, Der Neue Mensch, FAZ vom 27. Nov. 2002, S. 10; E. Klein/C. Menke (Hrsg.), Menschenrechte und Bioethik, 2004; R. Beckmann, JZ 2004, S. 1010 f. Zu 2.: Das Folterverbot10, in internationalen Konventionen ebenso garantiert wie in einzelnen Verfassungstexten, hat zunächst in Deutschland dank des Falles Daschner große Aktualität erlangt: Im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens hatte der Frankfurter Polizeipräsident den des Mordes Verdächtigen (M. Gäfgen) mit Folter bedroht11. Im Für und Wider ist m. E. am absoluten Verbot der Folter festzuhalten. Es ist schlechthin abwägungsresistent! Kein anderes Rechtsgut, Gemeinwohlziel oder Argument kann das Folterverbot relativieren (dazu schon P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: HdBStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 22 Rdnr. 56).

9 Vgl. FAZ vom 18. Juni 2003: „SPD, Grüne und Union einhellig gegen jede Form des Klonens, Verstoß gegen die Menschenwürde“; W. Huber, Darf der Mensch einen Menschen nach eigenem Bilde schaffen?, FAZ vom 11. Januar 2003, S. 41; anders E. Hilgendorf, Ein vollständiges Klonverbot verstößt gegen die Menschenwürde, FAZ vom 13. Februar 2003, S. 42; C. Geyer, Gibt es ein gutes oder schlechtes Klonverbot?, FAZ vom 20. Februar 2003, S. 35; zuletzt B. McKibbon, Genug, Der Mensch im Zeitalter seiner gentechnischen Reproduktion, 2003). Zur „Embryonenforschung als Humanexperiment“ gleichnamig D. Lorenz, FS Brohm, 2002, S. 441 ff. S. auch J. Kersten, Das Klonen von Menschen, 2004. 10 Zur Folter: D. Baldauf. Die Folter, Eine deutsche Rechtsgeschichte, 2004. 11 Aus der Lit.: V. Zastrow, Das Für der Folter, FAZ vom 19. Mai 2004, S. 1; M. Wolffsohn, J’accuse!, FAZ vom 25. Juni 2004, S. 6; W. Grasnick, Würden Sie es tun?, FAZ vom 26. April 2003, S. 43; s. aber auch W. Brugger, Folter als zweitschlechteste Lösung, FAZ vom 10. März 2003, S. 8, ders., Freiheit und Sicherheit, 2004, S. 56 ff. S. noch unten S. 119.

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Die skandalösen Vorfälle der Anwendung der Folter seitens US-amerikanischer Soldaten im Irak (2003/2004) seien nur erwähnt. Sie verbieten sich vom internationalen Recht her ebenso wie von den Grundwerten des Verfassungsstaates aus12. Zu 3.: Die Kontroverse um die Sterbehilfe lebt ebenfalls aus dem Grundwert der Menschenwürde bzw. des verfassungsstaatlichen Menschenbildes (aus der Lit.: J. Heyers, Vormundschaftlich genehmigte Sterbehilfe – BGH NJW 2003, 1588, in: JuS 2004, S. 100 ff.; K. Faßbender, Lebensschutz am Lebensende und EMRK, Jura 2004, S. 115 ff.; M. Heymann, Die EMRK und das Recht auf aktive Sterbehilfe, EGMR-NJW 2002, 2851, in: JuS 2002, S. 957 ff.; B. Kneihs, Grundrechte und Sterbehilfe, 1998). Menschenwürde und Menschenbild verlangen m. E. das Verbot sog. aktiver Sterbehilfe, so schwer die Abgrenzungen sind.

IV. Ausblick: Im Ganzen dürfen wohl die Grundlinien der beiden Vorauflagen beibehalten werden. Vor allem sei auch die These von der Trias „Menschenbild, Volksbild und Staatsbild“ bekräftigt. Die Weltbild-Frage kommt hinzu (vgl. jetzt G. Krell, Weltbilder und die Weltordnung, 3. Aufl. 2004, zuvor mein Beitrag: Das „Weltbild“ des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und „letztem“ Geltungsgrund des Völkerrechts, FS Kriele 1997, S. 1277 ff.). Der Streit um einen „Gottesbezug“ in der Europäischen Verfassung, die „Gretchenfrage“ (dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2001/2002, mit den Bezugnahmen auf die polnische Alternativlösung, 2. Aufl. 2004, S. 642, 644; so jetzt auch J. H. Weiler, Ein christliches Europa, 2004, S. 36 ff., 51) bzw. das in Frage stehende „Gottesbild“ bestätigt die hohe Relevanz der vom Verf. vorgeschlagenen „Bilderphilosophie“ (in diesem Band bes. S. 26 ff.). Auch die Judikatur des BVerfG bedient sich erneut der Bilderphilosophie, wenn auch eher im „Kleinen“ (BVerfGE 106, 62 (104 ff., 114 ff.: „Berufsbild“)). Das sich entwickelnde Europäische Verfassungsrecht von heute lebt aus einem Menschenbild des „homo europaeus“, das aus den EU-Verträgen bzw. der EU-Verfassung (insbesondere der EU-Grundrechte-Charta) ebenso zu gewinnen ist, wie aus den Texten des Europarates (etwa der EMRK und dem Europäischen Kulturabkommen). Der wertende Kultur- bzw. Verfassungsvergleich der anderen europäischen Länder tut ein Übriges, um die unseligen Figur des „homo oeconomicus“ in Frage zu stellen. Einschlägige Stichworte aus der EU-Verfassung vom Juni 2004 12 Allgemein: R. Alleweldt, Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 1996; K. Hailbronner, in: W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, 2. Aufl. 2001, S. 238 ff.; D. Grimm, Es geht ums Prinzip – Lässt sich Folter rechtfertigen?, SZ vom 26. Mai 2004, S. 13; allgemeiner G. Seidel, Quo vadis Völkerrecht?, AVR 41 (2003), S. 449 ff.; mit Blick auf die Situation in Guantanamo Bay D. Golove, Schrankenlose Willkür – Guantanamo und der US-Supreme Court, SZ vom 28. Juni 2004, S. 15. Zuletzt K. Gelinsky, Die Folter-Debatte in der amerikanischen Regierung, FAZ vom 9. Juli 2004, S. 6.

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sind: „Würde des Menschen“, „Freiheit des Gewissens“, „Verantwortlichkeiten und Pflichten gegenüber Mitmenschen und den künftigen Generationen“, „Solidarität“, „Toleranz“. Sie sind nach dem Vorbild des BVerfG von 1954 interpretatorisch zusammenzuführen. Die Menschenwürde ist Element der öffentlichen Ordnung Europas. Zuletzt beunruhigt die verfassungsstaatliche Bilderphilosophie die Kontroverse um die „Willensfreiheit“ angesichts der Determinismustheorie einiger Gehirnforscher (z. B. G. Kaiser in FAZ vom 17. April 2004, S. 35; s. auch C. Geyer, Hirn als Paralleluniversum, FAZ vom 30. Juni 2004, S. N 3). Der Verfassungsjurist kann hier nur abwarten, so sehr er auf dem „Selbststand“ der Verfassung bzw. ihrer Wissenschaft beharren muss. Von der Hybris eines „neuen Menschenbildes“ kann nur gewarnt werden. Bayreuth/St. Gallen, im September 2004 Peter Häberle

Nachtrag zur vierten, aktualisierten und erweiterten Auflage Vorbemerkung Eine in kürzester Zeit mehrfach neu aufzulegende kleine Monographie kann von der Sache her nicht von Grund auf neu bearbeitet werden. Der seltene Fall einer Monographie in 4. Aufl. gelang in der heutigen deutschen Staatsrechtslehre H. Hofmann, Repräsentation, 1. Aufl. 1974, 4. Aufl. 2003. Er arbeitet mit einem neuen Vorwort in der 2. Aufl. (1990) und einer „Einleitung“ in der 4. Aufl. (2003). Die „ganze“ Neuauflage mag bei Kommentaren und Handbüchern möglich und nötig sein. Die Literaturgattung „Monographie“ hat indes ihre eigenen Gesetze. „Stimmen“ bis auf weiteres die Grundlagen, bleibt der Theorierahmen vorläufig gültig und sieht der Verf. keinen Anlass zu einer grundsätzlichen Umgestaltung, so können „Nachträge“ genügen. Sie gleichen „Wachstums-“ bzw. „Jahresringen“, sind als solche zu kennzeichnen und schaffen dadurch „im Laufe der Zeit“ eine Transparenz eigener Art. Dem Leser wird es möglich, die einschlägigen neuen Materialien als solche zu erkennen und zu überprüfen, ob sie in das Grundschema des ersten Entwurfs noch passen oder diesen herausfordern und verändern. Der Verf. glaubt in aller gebotenen Bescheidenheit des Wissenschaftlers, dass er das in den letzten beiden Jahren heranwachsende Material nur „richtig“ einordnen muss. Es handelt sich nicht einmal um eine „Nachführung“ im Sinne der Schweizer Diskussion zu der totalrevidierten Bundesverfassung (1999), vielmehr nur um eine Ergänzung. Die in den letzten zwei Jahren erfolgten Entwicklungen in der Wirklichkeit (etwa in der politischen Diskussion um Parteiprogramme), in Gestalt der Wissenschaften, in der durch Kulturvergleichung erfassten neuen Textstufen von geschriebenen Verfassungen, in der Verfassungsrechtslehre und der Judikatur sowie in aktuellen Brennpunkten (etwa beim m. E. absoluten, abwägungsresistenten Folterverbot), seien im Folgenden in Gestalt von fünf Probembereichen aufgearbeitet: I. Neuere Belege für die Vitalität und Präsenz der seit 1988 entfalteten „Bilderphilosophie“, insbesondere des „christlichen Menschenbildes“ II. Die Virulenz des Paradigmas vom „Menschenbild“ in vielen Wissenschaften, insbesondere in Teilwissenschaften der Jurisprudenz und ihren Literaturgattungen: von der Monographie bis zum Kurzlehrbuch und zum Kommentar – „Menschenbildliteratur“ – neben der „Menschenbildjudikatur“ des deutschen BVerfG III.Die neuen konstituierenden Texte, die in Europa Aspekte des kulturell variablen Menschenbildes widerspiegeln (etwa in Regionalstatuten Italiens und Spaniens, in Schweizer Kantonsverfassungen und in Art. 6 nBV Schweiz sowie in Österreich)

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Nachtrag zur vierten, aktualisierten und erweiterten Auflage

Inkurs: Konstitutionelle Gottesklauseln IV. Die allgemeine Diskussion zur Menschenwürde (zusätzliche Legitimität durch neue Verfassungstexte allseits) V. Konkrete Problemfelder (Auswahl), etwa das absolute Folterverbot, die Biomedizin etc. Angesichts der Fülle der selbst in der kurzen Zeit von nur zwei Jahren herangewachsenen Materialien, auch Literatur, kann nur fragmentarisch gearbeitet werden. Das gesichtete Material dürfte aber belegen, dass das Thema „Menschenbild im Verfassungsstaat“ grundlegend bleibt. Im Einzelnen: I. Neueste Erscheinungsformen der „Bilderphilosophie“ Hier einige Belege bzw. Beispiele: Beginnen wir mit der Kunst. Verwiesen sei an erster Stelle auf das Publikationsprojekt „Götterbilder – Gottesbilder – Weltbilder. Polytheismus und Monotheismus in der Welt der Antike“ (Verlag Mohr-Siebeck, hrsgg. u. a. von R. G. Kratz, 2006/2007). Im Frühjahr 2006 zeigte eine Wolfenbütteler Ausstellung „Europas Bild vom ganzen Erdkreis“ (FAZ vom 25. März 2007, S. 39). Kürzlich erschien als theologische Schrift das Buch von D. Bester, Körperbilder in den Psalmen, 2007. Die Verwendung der Metapher „Weltbild“ findet sich jüngst in einem Aufsatz von R. Schröder: „Vom Nutzen der vermessenen Welt, Weltbild und Lebensgefühl im Barock: Der Gottorfer Globus als Ausdruck der kopernikanischen Wende“ (FAZ vom 8. Oktober 2005, S. 44). Bemerkenswert ist auch der Aufsatz von J. Spinola in Sachen Bayreuth und Salzburg: „Gilt’s noch der Kunst?“ (FAZ vom 25. Juli 2007, S. 1): „Alles, was versprach, weltbildstiftend zu wirken, wurde ohne Rücksicht auf Verträglichkeit zusammengemixt ...“. E. Beaukamp gibt seinem Nachruf auf den kürzlich verstorbenen Künstler J. Immendorff den Titel „Deutschlandbilder“ (FAZ vom 1. Juni 2007, S. 35). Im Blick auf eine Retrospektive deutsch-deutscher Künstler, vor allem A. R. Penck, heißt es: „Penck kreiert Weltbilder“ (FAZ vom 13. Juni 2007, S. 2). Goethes Begriffserfindung „Weltliteratur“ hat bis heute weltweit Geschichte gemacht (vgl. nur FAZ vom 28. Juni 2007, S. 37: „Frankreichs Dichter streiten für die ‚Weltbilder‘“). Wir erinnern uns auch der beiden Gedichte von F. Hebbel: „Sommerbild“ und „Herbstbild“. Gehen wir Zeugnissen in der Wissenschaft nach: Das Buch von C. von Buttlar trägt den Titel: „Das vereinigte Deutschland in der überregionalen Presse Frankreichs, 1989 bis 1994, Kontinuität und Wandel französischer Deutschlandbilder“, 2006. Darin wird kurz eine „Theorie des Länderbildes“ skizziert. In der interdisziplinär ansetzenden Wissenschaft erschien kürzlich ein Band „Menschenbilder und Verhaltensmodelle in der wissenschaftlichen Politikberatung“, hrsgg. von M. Führ u. a., 2007. Und in einem wirtschaftspolitischen Kommentar (FAZ vom 9. August 2006, S. 11) wird im Kontext der Subsidiarität an das „Menschenbild“ erinnert und

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mit Ludwig Erhard vor einer Gesellschaft gewarnt, „die sich aus der Eigenverantwortung in die trügerische Sicherheit des Kollektivs flüchtet“. Schließlich heißt es in der Enzyklika Papst Benedikts XVI. von 2006 „Deus caritas est“: „Die erste Neuheit des biblischen Glaubens liegt im Gottesbild; die zweite, damit zusammenhängend, finden wir im Menschenbild“. Schon diese wenigen Belege reichen aus, um die Aktualität der Bilderphilosophie durch Künste und Wissenschaften bis hin zur Theologie darzutun. Vielleicht gehört auch das „Selbstbild“ in diese Reihe1; vermutlich sogar das „Feindbild“, sicherlich das „Vorbild“. In vielen Wissenschaften und Künsten ist das Denken in Bildern höchst wirkmächtig und verbreitet. Und zwar im Blick auf die Trias bzw. Tetralogie von Gottesbild, Menschenbild, auch Volks- bzw. Staatsbild und Weltbild. Offenbar kann die Bilderphilosophie2 etwas leisten, was das sonstige Denken etwa in Begriffen, nicht gleichermaßen vollbringen kann. Auch der Einsatz von „Schlüsselbegriffen“3 eröffnet nicht die inhaltliche und methodische Fülle des Arbeitens im Geiste der „Bilderphilosophie“. Sie kann auch Emotionales einfangen (etwa bei Nationalhymnen und -flaggen), was ein kulturanthropologisches Bedürfnis des Menschen ist. Vor allem schlägt die Bilderphilosophie mühelos die Brücke zu Kunst und Kultur im Ganzen. Auch vermag sie alle Wissenschaften zu erreichen. Vielleicht hilft die sprachphilosophische Einsicht, dass jedes Denken an sich metaphorisch ist4. Das „christliche Menschenbild“ ist ein Forum, auf dem sich Juristen wie Theologen treffen – wie beim „Weltbild“ Philosophen und Naturwissenschaftler5. Insbesondere das „christliche Menschenbild“ Vor allem in der Politik spielt das „christliche Menschenbild“ eine herausragende Rolle. Das kann an wenigen Zitaten belegt werden. Auf der Wertekonferenz der CDU zur Beratung über ein neues Parteiprogramm (2006) hat die Vorsitzende 1 Dazu der Göttinger Tagungsbericht: „Wer bin ich?“, Subgötter, Göttingen ehrt den Philosophen P. Bieri, FAZ vom 26. Juni 2007, S. 36. 2 S. auch B. Losch, Kulturfaktor Recht, Grundsatz – Leitbilder – Normen, Eine Einführung, 2006; B. Engler/I. Klaiber (Hrsg.), Kulturelle Leitfiguren – Figurationen und Refigurationen, 2007. Vgl. zuletzt FAZ vom 1. August 2007, S. N 3: „Debatte über Metaphern“ (Tagungsbericht). Früh: A. Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, 1960. 3 Vgl. dazu das eindrucksvolle Kolloquium für H. Hofmann: H. Dreier (Hrsg.), Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit. Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, 2005. 4 S. auch den Beitrag von N. H. Ott: Bild und Sprache, Bild als Sprache, Bild-Sprache, in: Akademie Aktuell 2/2007, S. 8 ff.; jetzt das Wörterbuch der philosophischen Metaphern, 2007. 5 Ein weiterer Beleg in Sachen „Weltbild“: Lorenz Jägers Würdigung von P. Sloterdijk, FAZ vom 26. Juni 2007, S. 33: „Dass die Griechen küstennah segelnd, ein anderes Weltbild hatten als die Wikinger, liegt auf der Hand“. S. auch G. E. Rusconi u. a. (Hrsg.), Parallele Geschichte?, Italien und Deutschland 1945–2000, 2006, S. 143 ff.: „Akteure und Weltbilder“.

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A. Merkel von „neuer sozialer Marktwirtschaft“ gesprochen und hinzugefügt: Leitbild für die CDU bleibe das christliche Menschenbild (FAZ vom 21. Februar 2006, S. 1). Der Generalsekretär der CDU R. Pofalla formulierte in einem Gastbeitrag in der FAZ vom 24. April 2006, S. 10 den „Bezug auf das christliche Menschenbild“. Nach ihm werde jeder Mensch als einzigartiges Geschöpf Gottes respektiert und dürfe deshalb niemals seiner Würde beraubt werden. Dieses Menschenbild sei „unsere politische DNA“. Wenig später ist im Blick auf die CDU-Programmdiskussion in der FAZ vom 26. April 2006, S. 4 die Rede von „Überprüfung des Menschenbildes. CDU-Programmdiskussion will sich zunächst mit den Grundwerten der Partei befassen“. Im weiteren Verlauf dieser Diskussion bekräftigt Frau A. Merkel erneut, dass sie im christlichen Menschenbild ein unveräußerliches Fundament ihrer Partei sehe (FAZ vom 23. August 2006, S. 1, ebenso zuletzt diess., zit. nach Die Welt vom 18. August 2007, S. 2 „Wir sind geprägt vom christlichen Menschenbild“; ähnlich R. Pofalla, FAZ vom 30. Juni 2007, S. 4). Auf dieser Linie liegt auch das Buch von N. Blüm: Gerechtigkeit – eine Kritik des Homo oeconomicus, 2006. Als Kontrastprogramm sei die Studie von M. Wanitschke zitiert: „Methoden und Menschenbild des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR“, 2001. Wie sehr von juristischer Seite aus mit der Bilderphilosophie gearbeitet wird, bestätigt einmal mehr der Beitrag von U. Steiner, Zum Ehebild in der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG, FS D. Schwab, 2005, S. 433 ff., oder der Aufsatz von M. Kilian zu Montesquieu, in: E. Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2007, S. 37 (70 f.): „Das bestimmte Menschenbild“ von Montesquieu (und Thomasius) unter Hinweis auf E. Forsthoff. II. Die wissenschaftsuniversale Präsenz des Menschenbildes in den Teildisziplinen der Jurisprudenz bzw. in der Pluralität ihrer Literaturgattungen6 Das erstmals vom BVerfG früh und pionierhaft gewagte „Menschenbild“ (vgl. E4, 7 (15 f.); 32, 98 (107 f.); 33, 1 (10 f., 20), hinzuzunehmen sind E40, 121 (133); 82, 60 (85): „soziales Existenzminimum“, und zuletzt wieder bekräftigt in: E 115, 118 (158 f.)), hat sich in vielen Literaturgattungen behauptet. Es begegnet, nicht näher problematisiert, in K. Sterns großem „Staatsrecht“ Bd. IV/1, 2007 (S. 47, 187, 266, 518; s. auch U. Di Fabio, in: HGR II § 46 Rn. 26), es gibt den Titel ab für einen Abschnitt im Kurzlehrbuch „Rechtsphilosophie“ von R. Zippelius (5. Aufl. 2007, S. 89 6 Vom „relationalen Menschenbild“, auch Gottesbezügen, spricht H. Kreß, Art. Person (Th.), EvStRL 2006, Sp. 1769 (1771). S. auch U. H.J. Körtner, ebd., Art. Ethik, Sp.461 (463 f.): „Menschenbilder sind das Ergebnis komplexer kultur- und religionshermeneutischer Prozesse. Die stereotype Rede von dem Menschenbild, z.B. dem christlichen, ist eine unhistorische Konstruktion“. H. Kreß, ebd., Art. Person (Th.), Sp. 1769: „Im Begriff P. überschneiden sich verschiedene Konzeptionen des Menschenbilds“. – Provozierend ist die These von C. Böhr, das Menschenbild des Islam sei mit dem europäischen Wertebekenntnis nicht vereinbar (in: Rheinischer Merkur, Christ und Welt Nr. 29/2007 vom 19.VII.2007, S. 25).

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bis 92), es figuriert als Titel für eine aus Österreich kommende Monographie von K.H. Auer, Das Menschenbild als rechtsethische Dimension der Jurisprudenz, 2005. Nur einige Kommentatoren blieben skeptisch (bis heute etwa nach wie vor wohl H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetzkommentar 2004, 2. Aufl., Art. 1 I Rdnr. 168 f., auch H.M. Heinig, Art. Menschenwürde (J), in: EvStL Neuausgabe 2006, Sp. 1516 (1521). Auf die vielen Festschriftenbeiträge der letzten Jahre sei erneut verwiesen (oben S.92 Anm. 7), vereinzelt auch auf Lexikon-Artikel (vgl. EvStRL 2006, z. B. Sp. 2767 (Wohlfahrt); Sp. 1371 (1372): L. Michael (Kunstfreiheit)). Nimmt man alle mit dem Menschenbild arbeitenden Literaturgattungen zusammen, so ergibt sich, dass das wissenschaftlich begleitete positive Recht mit dieser Methapher sehr oft fast selbstverständlich arbeitet. Dort, wo sie um die Menschenwürde ringt, geschieht dies mittelbar und oft verdeckt. III. Menschenbildelemente in der neueren Verfassunggebung in Europa Vorbemerkung Nach wie vor entstehen in Europa neue Verfassungstexte, die offen oder versteckt die wissenschaftliche Arbeit am Menschenbild bereichern. Soweit die Nachweise nicht schon in den Vorauflagen erarbeitet worden sind, seien im Folgenden jüngste Texte zusammengestellt, die zeigen, dass die Verfassunggeber (oder in Regionalstaaten wie Italien und Spanien die Statutengeber) von einem bestimmten Menschenbild als Leitbild in ihren neuen Texten ausgehen. Sie müssen i. S. des Textstufenparadigmas des Verf. (1989) aufgeschlüsselt werden. Denn angesichts neuer Herausforderungen und Bedrohungen, aber auch neuer Möglichkeiten erzwingt die Aufgabe der Verfassunggebung von den für sie Verantwortlichen neue oder gewandelte Texte. M. a. W.: Die Wirklichkeit führt zu neuen Verfassungstexten bzw. neuen Varianten und Elementen des Menschenbildes. Die „offene Gesellschaft der Verfassunggeber“ wagt Neues, dabei oft ihrerseits beraten von Wissenschaftlern, Gerichten und sonstigen Akteuren einer Öffentlichkeit, die längst eine europäische geworden ist. Das Menschenbild darf vom Verfassunggeber wie Gesetzgeber in Grenzen gestaltet werden. Die Verfassunggeber wollen und können in ihren Texten kein abgeschlossenes, „fertiges“ Menschenbild umfassend fixieren. Sie sind gut beraten, nur einige Aspekte oder Elemente, „Mosaiksteine“, die durch neue Herausforderungen aktuell werden, etwa die Verantwortung vor künftigen Generationen oder den Tieren als Mitgeschöpfen, textlich zu präzisieren. Im Einzelnen: 1. Menschenbildelemente in neuen bzw. revidierten gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs In Österreich erarbeiten sich 8 Länder Stück für Stück durch innovative Verfassungstexte ein Mehr an Verfassungsautonomie gegenüber „Wien“, d. h. dem Bund.

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Das zeigt sich an neuen Europa-Artikeln und in einer fruchtbaren Anreicherung der Staatsaufgabenkataloge7. Bei genauem Hinsehen finden sich aber auch neue „Textbausteine in Sachen Menschenbild“. So lautet Art. 4 Ziff. 1 Verf. Niederösterreich (1979): „Subsidiarität: Das Land Niederösterreich hat unter Wahrung des Gemeinwohls die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen zu sichern, die Selbsthilfe der Landesbürger und den Zusammenhalt aller gesellschaftlicher Gruppen zu fördern ...“. Was das BVerfG in seiner Menschenbildjudikatur andeutet (Gemeinschaftsgebundenheit und Gemeinschaftsbezogenheit) ist hier auf eine neue, feine Textstufe gehoben. Verf. Burgenland (1981) sagt in Art. 1 Abs. 2: „Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen; es schützt die Entfaltung seiner Bürger in einer gerechten Gesellschaft“. Hier wird vom Land her ein Menschenbildelement sichtbar und zur Aufgabe gemacht. Verf. Tirol (1989) spricht in seiner formal wie inhaltlich vorbildlichen Präambel u. a. von „Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe“, der „Freiheit und Würde des Menschen“, von der „geordneten Familie als Grundzelle von Volk und Staat“. Gottesbild, Staatsbild und Menschenbild sind hier auf einen Nenner gebracht. Dies gelingt in einer Art „Geist-Klausel“, die in den „Buchstaben“ der späteren Artikel (etwa Art. 7: „Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“) konkretisiert wird. Auch die Hilfeleistungspflicht nach Art. 14 gehört als Ausdruck der „Gemeinschaftsgebundenheit der Person“ hierher (Verpflichtung von jedermann, „bei Katastrophen und anderen Notfällen Hilfe zu leisten“). Schließlich ein Blick auf die Verf. Salzburg (1999). Sie „versteckt“ Menschenbildelemente in ihrem großen Artikel 9 zu den Staatsaufgaben: so, wenn von der „Achtung und dem Schutz der Tiere als Mitgeschöpfe des Menschen aus seiner Verantwortung gegenüber den Lebewesen“ die Rede ist, von den Grundlagen zur Führung eines menschenwürdigen Lebens bzw. der etwaigen Hilfe der Gemeinschaft oder von der Schaffung der Chancengleichheit. Auch andere Verfassungen spiegeln in ihren Aufgaben-Artikeln Menschenbildaspekte wider (vgl. etwa Art. 7 a Verf. Kärnten (1996): Bewahrung der „charakteristischen Landschafts- und Ortsbilder“ – ein Stück Bilderphilosophie! – bzw. Förderung des Umweltbewußtseins der Bewohner Kärntens). Gleiches gilt für den Zielekatalog in Art. 7 Verf. Vorarlberg (1999) mit Stichworten wie: freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen, Gestaltung des Gemeinschaftslebens nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Solidarität, Selbsthilfe, Verpflichtung betagte und behinderte Menschen zu schützen, Gleichwertigkeit ihrer Lebensqualität zu gewährleisten. Art. 9 Verf. Oberösterreich (1920/2001) nennt Aufgaben wie „Selbsthilfe“, „Selbstgestaltung“ der Menschen, Subsidiaritätsprinzip.

7 Dazu m. N. Peter Häberle, Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – ein Vergleich, JöR 54 (2006), S. 367 ff., mit Textanhängen.

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Im Verfassungsstaat sind nach alldem Staatsbild und Menschenbild aufs Engste miteinander verknüpft – nicht nur in Österreich. 2. Menschenbildelemente in neuen Verfassungen der Schweiz (föderal und kantonal) 8 Die Schweiz ist bis heute in Sachen Verfassunggebung die „Werkstatt in Europa“. In immer neuen Textschüben wird experimentiert und erneuert, „nachgeführt“, variiert und bewahrt. Das ist vom Verf. in anderem Zusammenhang immer wieder belegt worden (vgl. die fortlaufenden Dokumentationen in JöR 34 (1985), S. 303 ff.; 40 (1991/92), S. 167 ff.; 47 (1999), S. 170 ff., zuletzt JöR 56 (2008), i. E.). 8 a) Beginnen wir mit der nBV (1999). Sie hat geradezu einen neuen „Schlüsseltext“ für jede Verfassungstheorie des Menschenbildes geschaffen. Ihr Art. 6 lautet: „Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung: Jede Person nimmt Verantwortung für sich selbst wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei“. M. E. ist damit eine neue Textstufe erreicht9. Bündig wird hier unter den „Allgemeinen Bestimmungen“ der nBV die Menschenbild-Frage erarbeitet. Nimmt man die Aussagen zum Gottesbild der Präambel hinzu: invocatio dei, auch die Verantwortungsräume, in die sich die Schweiz gestellt sieht („Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt“ – ein Weltbild!: „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“), so zeigen sich hier ganz neue Aspekte des Zusammenhangs von Gottesbild, Staatsbild und Menschenbild (sowie Natur). Dieses erfährt eine geradezu poetische Ausdeutung durch die auf den Dichter A. Muschg zurückgehende Formel: „dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“. Dieser die Präambel prägende „Geist“ wird Stück für Stück in den nachfolgenden Verfassungsartikeln eingelöst (etwa im Grundrechtskatalog, z. B. Art. 12 „Recht und Hilfen in Notlagen“), bei den Sozialzielen (Art. 41) und seiner versteckten Subsidiaritätsklausel („Bund und Kantone setzen sich in Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative dafür ein ...“), aber auch in den Artikeln zur Gentechnologie (Art. 119 und 120). Das Wagnis der halbdirekten Demokratie bleibe ein Merkposten: Ausdruck eines optimistischen Menschenbildes wie sie in der Unschuldsvermutung im Strafrecht zum Ausdruck kommt. b) Jüngste Kantonsverfassungen10 ergänzen dieses Bild: teils fügen sie neue Wachstumsringe zum Thema Gott, Land, Gemeinschaft, Bürger hinzu, teils rezipie8 Im Handbuch „Verfassungsrecht Schweiz“, 2001, heißt es bei P. Mastronardi schlicht (S. 234): „Das bis heute maßgebende Bild“ des Menschen ist von I. Kant geprägt worden. 9 Aus der Kommentar-Literatur: P. Häberle, St. Galler Kommentar, hrsgg. von B. Ehrenzeller, 2. Aufl. 2008, Art. 6. 10 Dokumentiert in JöR 56 (2008), i. E.

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ren sie den Pionierartikel 6 nBV. Hier nur eine Auswahl des schöpferischen Menschenbild-Denkens in der Schweiz: Vorweg seien die meist wörtlichen Nachfolge-Artikel von Art. 6 nBV zitiert, gerade auch dort, wo sie leichte Varianten wagen. So lautet Art. 6 KV Graubünden (2003): „Jede Person trägt Verantwortung für sich selbst sowie Mitverantwortung für die Gemeinschaft und für die Erhaltung der Lebensgrundlagen“. Hier wird der Umweltschutz direkt in die Menschenbild-Klausel einbezogen. Eingelöst wird auch der große Eingangspassus der Präambel von Graubünden: „Wir, das Volk des Kanons Graubünden, im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott sowie gegenüber den Mitmenschen und der Natur ...“. Die KV von Zürich (2005) spricht in ihrer Präambel nicht mehr von „Gott“, sondern von der „Verantwortung gegenüber der Schöpfung“11; Gott wird sozusagen „medatisiert“. Sie weiß um die „Grenzen menschlicher Macht“12, dies ist Ausdruck eines bestimmten bescheidenen Menschen- und Staatsbildes, und sie bezieht sich u. a. auf den Schutz der Menschenwürde. Art. 6 nBV scheint durch, wenn man sich Art. 5 vergegenwärtigt. Er lautet: „Subsidiarität (1) Jeder Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. Der Kanton und die Gemeinden anerkennen die Initiative von Einzelnen und von Organisationen zur Förderung des Gemeinwohls. Sie fördern die Hilfe zur Selbsthilfe“. Unter den weiteren Grundlagen-Artikeln figurieren Themen wie „Nachhaltigkeit“ (Art. 6), „Dialog“ (Art. 7), „Innovation“ (Art. 8). Im übrigen bestätigen die Grundrechte und Sozialziele den gemeinschweizerischen Kanon auf diesem Feld mit Folgen für das Menschenbild, das Staatsbild (Art. 49: „Transparenz“) und das Volksbild (weitgehende Volksrechte, z. B. Art. 86). Die KV Schaffhausen (2000) umschreibt ein substantielles Element ihres Menschenbildes in der Klausel von Art. 6 „Verantwortung und Pflichten: Jede Person trägt Verantwortung für sich selbst. Sie trägt Mitverantwortung für die Gemeinschaft und die Umwelt“. In Art. 9 (Nachhaltigkeit) denkt sie an die „zukünftige Generation“. In Art. 134 findet sie das schon bekannte Recht auf Hilfe in Notlagen. Zuletzt im Blick auf den Verfassungsentwurf Freiburg (2004). Zum einen fasziniert die Präambel: „Wir ..., die wir an Gott glauben oder unsere Werte aus anderen Quellen schöpfen“ (identisch bleibt die Verf. von 2004) – dies zeigt eine Wahlverwandtschaft zu der berühmten Gottesklausel der Verf. Polen (1997): Das Gottesbild 11 Aus der Lit.: M. Welker, „Was ist Schöpfung? Zur Subtilität antiken Weltordnungsdenkens, Jahrbuch der Heidelberger Akademie der Wissenschaften für 2006, 2007, S. 84 ff. Aus der aktuellen Diskussion: K. E. Nipkow, Weltentstehung – Evolution – Schöpfungsglaube, FAZ vom 16. Juli 2007, S.8; M. Kamann, Zum Streit um die Schöpfungslehre, Die Welt vom 10. August 2007, S. 6. 12 Zuvor schuf Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993) den Satz: „im Wissen um die Grenzen menschlichen Tuns“. (Später ebenso Präambel KV Basel-Stadt von 2005.)

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bleibt, doch wird eine andere (unbekannte) Instanz (als Alternativklausel) zur Seite gestellt. Im Übrigen finden sich die „Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen“, das Bekenntnis zur „kulturellen Vielfalt“, die „im gegenseitigen Verständnis“ gelebt werden soll, sodann Werte wie Solidarität und Umwelt. Die Spuren des Art. 6 nBV Schweiz finden sich in Art. 7 unter dem Stichwort „Pflichten“. Die KV Waadt (2003) wagt in ihrer Präambel das Bild der „harmonischen Gesellschaft“; auch denkt sie in elegantem Französisch an die Schwachen: das neue schöne Formelbild lautet: „La Création comme berceau des générations à venir“. Die KV Basel-Stadt (2005) formuliert als Präambel den Satz: „In Verantwortung gegenüber der Schöpfung und im Wissen um die Grenzen des menschlichen Tuns gibt sich das Volk ...“. Im Ganzen: In der Schweiz sind auch in der allerjüngsten Zeit hervorragende Texte in Sachen Menschenbild und seiner Kontexte herangewachsen. Sie können Vorbild für alle neue Verfassungen sein und zeigen, wie der Typus Verfassungsstaat auf der Entwicklungsstufe von heute ständig an dem Thema Menschenbild arbeitet: offen oder verdeckt, grundsätzlich oder beiläufig. Es bedarf nur eines ganzheitlichen Blickes, um dieses wahrzunehmen. Dabei ist die Wissenschaft ein Akteur unter vielen. 3. Menschenbildaspekte in neuesten konstitutionellen Texten Spaniens und Italiens Hier seien nicht die gesamtstaatlichen Verfassungen dieser beiden klassischen Nationalstaaten in Augenschein genommen, vielmehr geht der Blick in die höchst lebendigen Verfassungsentwicklungen in den Autonomen Gebietskörperschaften bzw. Regionen. a) In Spanien kam es jüngst zu zwei neuen Regionalstatuten: in Katalonien und Andalusien. Mag es noch verfrüht sein, von „Verfassungen“ dieser Regionen und „Staaten“ zu sprechen, sie haben jedenfalls Texte geschaffen, die Bemerkenswertes in Sachen Menschenbild auf den Punkt bringen. Das Autonomiestatut Kataloniens vom 19. Juli 2006 bekennt sich in seiner ausführlichen Präambel zu den „hohen Werten der Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit“. Allen in Katalonien Lebenden soll eine „angemessene Lebensqualität“ geboten werden. Das „Staatsbild“, genauer „Regionalbild“, ist bündig umschrieben in dem Satz: „Die öffentlichen Gewalten stehen unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips im Dienste des allgemeinen Interesses und der Bürgerrechte“. Auch wird Katalonien als eine „Gemeinschaft freier Menschen“ definiert. Art. 4 formuliert Grundrechte und leitende Grundsätze zugleich und verlangt „die Bedingungen zur Erfüllung der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen und der Gemeinschaft zu schaffen“.

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Das auf eine Weise konkurrierende Regionalstatut von Andalusien von 200713 formuliert in seinem Ersten Teil „Soziale Rechte, Pflichten und öffentliche Politiken“ ebenfalls auf vielen Teilfeldern Aufgaben, die im Dienste der Bürger wahrgenommen werden sollen (auch in Sachen Erziehung, Gesundheit und Arbeit). Dabei gehen Menschenbild und „regionales Staatsbild“, Grundrechte und öffentliche Aufgaben eine denkbar enge Synthese ein. Ein Blick auf Italien: Es wandelt sich (vielleicht) vom Regionalstaat zum Föderalstaat, die Einzelheiten sind politisch wie wissenschaftlich umstritten. Bemerkenswert aber ist, dass sich viele Regionen Stück um Stück zu „verfassen“ beginnen. Sie geben sich (vor-)konstitutionelle Texte, die auch Materialien für alles Nachdenken über das Menschenbild liefern. Hier einige Beispiele: Das Statut von Apulien (2003) bekennt sich zu den universalen Menschenrechten der EMRK und sogar der EU-Grundrechtecharta (Art. 1 Abs. 3). Im Übrigen sind Solidarität und Minderheitenschutz ebenso hoch angesiedelt wie der Schutz der Familie (Art. 3 bis 5). Das Statut von Ligurien (2005) formuliert eine Vielzahl von Aufgaben der Region, wie Schutz der Person, der autonomen Initiative, der sozialen Sicherheit (Art. 2). Das Statut von Kalabrien (2004) legt sich in Art. 2 auf eine Fülle von „Principi e finalitá“ fest, die alle Menschenbild- und Staatsbild-Aspekte betreffen (Subsidiarität, Anerkennung aller Ausdrucksformen menschlicher Personen, demokratische Teilhabe vor Ort etc.). Ähnlich sind die Eingangsartikel anderer Regionalstatute strukturiert (vgl. etwa Art. 1 und 2 Statut der Marken von 2004 oder Art. 3 und 4 Statut der Toscana von 2005). Art. 2 Statut Umbrien (2005) formuliert Identitätselemente bzw. -werte, die den künftigen Generationen übermittelt werden sollen: etwa die Kultur des Friedens, der Respekt vor den Menschenrechten, die Umwelt und „il patrimonio spirituale, fondata sulla storia civile e religiosa dell’Umbria“. Das ist eine neue Textstufe: Elemente des Menschenbildes sollen in die Zukunft hinein bewahrt werden. Die weiteren Statute von Latium (2004) und der Emilia Romagna (2005) sind nicht minder ergiebig. Besonderes Kulturverfassungs- und Umweltverfassungsrecht wachsen hier „von unten“ her heran – in Italien kaum ein Wunder. Die Regionen suchen sich dadurch auch auf neue Weise selbst zu legitimieren, insofern sie „Grundrechtsaufgaben“ normieren und sich als spezifisch europäische Gebilde verstehen (durchweg finden sich Europa-Artikel). 4. Konstitutionelle EU-Texte (auch Entwürfe) in Sachen Bilderphilosophie, insbesondere Menschenbild a) Vertrags- und Verfassungsentwürfe können, einmal in der Welt, gleichwohl eine zeitlich versetzte Ausstrahlungswirkung entfalten, z. T. auch „vorwirken“ oder nicht nur „platonisch“ nachwirken, selbst wenn sie formell nicht in Kraft treten. Wie immer das endgültige Schicksal der Entwürfe der Jahre 2002 bis 2004 für die EU sein wird 13

Zit. nach F. Balaguer Callejón (Coord.), El nuevo Estatuto de Andalucía, 2007.

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bzw. war, sie verdienen mindestens wissenschaftliches Interesse. Bekannt ist, dass speziell die EU-Grundrechtecharta bereits „vorwirkt“14, und bekannt ist, dass italienische Regionalstatute sich bereits auf sie beziehen (Statut von Apulien von 2003: Art.1 Abs.3, Statut von Kalabrien 2004: Abs.1 Abs.2; Statut Marken von 2005), Präambel). Selbst, wenn, wie im Juni 2007 bekannt geworden, sich die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten dazu entschließen sollten, die EU-Grundrechtecharta nur als Verweis zu normieren und Polen bzw. Großbritannien „aussteigen“, soll sie im Folgenden gleichwohl im Lichte der Bilderphilosophie gewürdigt werden. b) Doch zuvor ein Wort zur Präambel des EU-Verfassungs-Entwurfs 2004. In der Präambel ist vor dem Hintergrund des „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbes Europas“ von „unverletzlichen und unveräußerlichen Rechten des Menschen“ die Rede sowie von „Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ als „universellen Werten“. Dies darf als ein neuer Umschreibungsversuch und Textbaustein des Menschenbildes verstanden werden: Art. I-2 für die Achtung der Menschenwürde. Hinzu tauchen als Werte auch u. a. „Toleranz“, „Gerechtigkeit und Solidarität“ auf. In Art. I-11 finden sich die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit, welche Werte zugleich ein bestimmtes Gemeinschaftsbild implizieren (nicht „Staatsbild“, da die EU kein Staat ist bzw. nicht sein will). Es ist die EUGrundrechtecharta in Teil II, die all dies konkretisiert und z. T. sehr präzise Bausteine für das – europäische – Menschenbild normiert. Aus der Präambel sei vor allem der Schlusssatz zu den Rechten zitiert, „deren Ausübung“ mit „Verantwortung und mit Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gesellschaft und den künftigen Generationen verbunden (ist)“. Was dem BVerfG „Gemeinschaftsgebundenheit“ etc. ist, was vor allem die „Verantwortung“ bedeutet, ist hier nicht minder eindrucksvoll von der Grundrechtsseite her umschrieben. Man darf sich an manche Formulierungen jüngster Schweizer Kantonsverfassungen erinnert fühlen. Das – europäische – Menschenbild hat seine Ausprägungen vom Menschen in Titel I und II „Würde des Menschen“ bzw. „Freiheiten“. Mittelbar ist damit auch ein „Bild“ der EU-Gemeinschaft konturiert. Das gilt aber vor allem für das Recht auf Bildung (Art. II-73), ein Teilhaberecht und den Schutz bei Abschiebung (Art. II-79) – Gebote an die Staaten bzw. die Gemeinschaft. Die Union bzw. die in ihr Gestalt gewordene „Gemeinschaft“ hat ihre Bildelemente in Titel III „Gleichheit“: erkennbar in der verlangten Achtung vor der „Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen“ (Art. II-82) sowie bei den Rechten des Kindes, älterer Menschen und der Menschen mit Behinderung (Art. II-84 bis 86). M. a. W.: Was im Lichte der skizzierten Bilderphilosophie das „Staatsbild“ ist, wird im EU-Verfassungsrecht ein Ensemble von Elementen in Sachen „Gemeinschaftsbild“.

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Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2007, S. 668 ff.

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Dies zeigt sich besonders klar im großen Titel IV „Solidarität“. Dieses Prinzip (für die EU so neu) richtet sich an die Gemeinschaft, aber auch an gesellschaftliche Kräfte wie die Sozialpartner (Art. II-88), die (staatlich und unionsrechtlichen) Institutionen zur sozialen Sicherheit (Art. II-4) sowie beim Umweltschutz (Art. II-97). Aus dem Titel IV „Bürgerrechte“ sei das neue „Recht auf eine gute Verwaltung“ (Art. II-101) zitiert. In ihm sind Elemente des Menschenbildes und des Gemeinschaftsbildes miteinander verknüpft. Gleiches gilt für das Recht auf Zugang zu Dokumenten (Art. II-102). Materialien für neue Stichworte in Sachen Menschenbildphilosophie enthalten diese Texte allemal. Man sollte sie trotz ihres gelegentlich rethorischen und programmistischen Stils nicht klein reden. „Diplomatischer konsularischer“ Schutz prägt mittelbar auch das „Bild“ aller Mitgliedstaaten mit, insofern sie subsidär jedem EU-Bürger zu Hilfe kommen müssen. Aus dem Titel VI „Justitielle Rechte“ sei nur die (neue) ausdrückliche Unschuldsvermutung in Art. II-108 herausgegriffen. Sie, die für das GG aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird, bildet ein besonders wichtiges Element des Menschenbildes. Mit der Unschuldsvermutung15 wird nämlich ein positives Menschenbild umrissen – ähnlich der vermuteten Gutgläubigkeit im deutschen Sachenrecht. c) Zuletzt eine Menschenbildanalyse einiger als „Begleitprogramm“ zum EUVerfassungsentwurf 2004 erarbeiteten weiteren Entwürfe16. Soweit es sich um sog. „Privatentwürfe“ oder von politischen Parteien inspirierte Texte geht, finden sich naturgemäß Varianten und Einfärbungen in Sachen Menschenbild. Doch fällt auf, dass es auch hier einen gemeineuropäischen Kanon von Menschenbildelementen gibt. Die Vorschläge von CDU und CSU (2001) nennen wichtige Stichworte wie: Europa soll die „Akzeptanz“ seiner Bürger finden, „für die Bürger muss klar erkennbar sein, wer für welche Entscheidung verantwortlich ist“, die „Bindung des Menschen an ihre Nationalstaaten“, die ein wesentliches Ergebnis der europäischen Geschichte ist, bleibt unverzichtbar (Ziff. 2). Der Entwurf von A. Duff (2002) umschreibt in der Präambel das Ziel der Mitgliedstaaten und EU-Bürger: „to live together in justice, freedom and peace, to uphold democracy, fundamental rights and the rule of law, to respect the diverse cultures in Europe“. Art. 3 verweist auf die schon erörterte EU-Grundrechtecharta. Der Verfassungsentwurf von R. Badinter (2002) wiederholt in der Präambel ein Konzentrat von Werten wie Demokratie, Menschenrechte, Kultur, Umweltschutz und Solidarität. Damit ist ein „Großbild“ der EU als Verfassunggemeinschaft eige15 Aus der (Schweizer) Lit.: E. Tophinke, Das Grundrecht der Unschuldsvermutung, 2000 – Bemerkenswert T. Milej, Rechtsprechung als Dialog, 2007. 16 Teilabdruck in JöR 53 (2005), S. 516 ff.

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ner Art geschaffen. Die folgenden Artikel arbeiten ganz in diesem „Geist“, zumal sie auf EU-Grundrechtecharta und die EMRK allenthalben verweisen (z. B. Art. 9). Das Gemeinschaftsbild ist auch konzipiert in dem Satz des Art. 11 S. 3: „Elle (sc. L’Union) contribue au rayonnement de la culture européenne dans le monde“. Der Verfassungsentwurf der „Grünen“ (2002) macht die Bürger Europas zu Verfassunggebern (Präambel: „We, the Citizens of Europe“), was bekanntlich die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ bislang verweigern. Der Bürger als Verfassunggeber – das ist in der Sprache der Bilderphilosophie eine substanzielle Veränderung auf Kosten des Volkes als Verfassunggeber i. S. von Rousseau! Konsequent sind auch Elemente der direkten Demokratie eingefügt (§ 9) und es wird europäische Öffentlichkeit gesehen (§§ 8 und 10). Die universellen Werte wie Menschenwürde, Toleranz, Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Respekt vor der Umwelt sind in der Präambel fixiert. Der Verfassungsentwurf Paciotti (2002) bekennt sich schon in der Präambel zu einer Stärkung des „europäischen Sozialmodells“, wiederholt die EU-Grundrechtecharta (Titel I) und entwirft im Aufgaben- und Kompetenzteil das schon bekannte „Bild“ der EU (z. B. in Sachen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Art. 55), auch „Transparenz“). Im Verfassungsentwurf von J. Leinen (2002) ist ein leicht variiertes „Gemeinschaftsbild“ skizziert in dem prägnanten Absatz der Präambel: „Die Europäische Union stellt den Menschen in den Mittelpunkt des Handelns“. Dieser Baustein des Menschen- und Gemeinschaftsbildes verdient große Beachtung. Aus den Grundlagen-Artikeln ist das Wort vom „Raum der ökologischen Nachhaltigkeit“ (Art. 54) bemerkenswert. Wenn Art. 56 Abs. 9 jedem Bürger zwischen 16 und 25 Jahren das Recht gibt, einen „Europäischen Freiwilligendienst in einer sozialen, kulturellen, ökologischen oder sonstigen gemeinnützigen Einrichtung zu leisten“, so ist auch dies ein neuer Textbaustein in Sachen europäisches Menschenbild und Konkretisierung möglicher „Gemeinschaftsbezogenheit“. Aus dem Vertrags- bzw. Verfassungsentwurf von V. G. d’Estaing (2002) sei herausgegriffen: das Wort von der „doppelten Staatsbürgerschaft“, d. h. nationale Staatsbürgerschaft und Unionsbürgerschaft (Art. 5), zuvor Art. 2 mit den „Werten der Union“: Menschenwürde, Grundrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz, Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen und des Völkerrechts – letzteres ist damit ein konstitutioneller Grundwert geworden! Der Entwurf von J. Voggenhuber (2003) wagt wiederum das stolze Wort: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas“, spricht von der Gründung einer „europäischen Grundrechtsgemeinschaft“ (II) und entwickelt das neue Konzept von den fünf Ebenen, in denen sich die „europäische Demokratie“ entfaltet (III): Freiheit des Menschen, ihrem öffentlichen Engagement und der Mitbestimmung; in der Selbstverwaltung von Städten und Gemeinden; in der Eigenständigkeit der Regionen; im Bereich der Souveränität der Mitgliedstaaten und in der gemeinsamen Union“. So

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fragwürdig das hierarchische Denken in „Ebenen“ ist: das (freiheitliche) Menschenbild erfährt in diesem Text eine neue Präzisierung nach der politischen Seite hin. Der Entwurf des Konventspräsidiums (2003) ist in jeder Hinsicht und auch in Sachen Menschenbild ein Konzentrat vieler vorausgegangener Textentwürfe. Für die Mitgliedstaaten wird das „Staatsbild“ insofern modifiziert als – wie schon in vielen Vorgängen bzw. Begleittexten – in Art. 9 Abs. 5 der Grundsatz der „loyalen Zusammenarbeit“ normiert ist. Im Ganzen: Alle an der Bilderphilosophie „Beteiligten“: der Mensch und Bürger, der Staat bzw. die EU-Gemeinschaft, das Volk sind in den Textentwürfen angesprochen: nur „Gott“ fehlt (!). Zum Teil finden sich kreative neue Bildelemente. Im Ganzen liegt ein z. T. neues Textreservoir vor, aus dem viele schöpfen können: künftige Verfassunggeber wie die Wissenschaften, die Gesetzgeber und die Richter. Inkurs: Konstitutionelle Gottesklauseln 1. Vorbemerkung Erstmals 1987 verfassungsvergleichend zum Thema gemacht17, ist es im Rahmen der hier erkundeten „Bilderphilosophie“ geboten, die erste „Säule“ der Bildertrias im Verfassungsstaat, nämlich „Gott“, im weltweiten Verfassungsvergleich auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates textlich und kontextlich weiter zu betrachten. Vor allem sind die etwaigen Textstufen in neuen Beispielsverfassungen darzustellen und verfassungstheoretisch einzuordnen. Die Imago dei-Lehre „im Hinterkopf“, müssen die etwaigen Varianten und neuen Kontexte „in Sachen Gott“ bzw. Menschen-, Staats- und Volksbild erarbeitet werden: aus den seit den Vorauflagen heranwachsenden Verfassungsmaterialien. Erinnert sei wissenschaftsgeschichtlich an L. Rankes „unmittelbar zu Gott“. In der folgenden Bestandsaufnahme neuer Gottesklauseln sei an die Unterscheidung zwischen der „invocatio dei“ (im Namen Gottes) und anderen Gottesbezügen erinnert (z. B. „Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott“). Dabei sei nach Kulturkreisen gegliedert: auf die Erarbeitung der Gottesklauseln in der Schweiz und in Österreich (a) folge die „Spurensuche“ in islamisch/arabischen Verfassungen (b), sodann die Analyse der afrikanischen Verfassungen (c), um schließlich einige sonstige Beispiele, vor allem aus Übersee, darzustellen (d). Bei all dem ist nur eine Auswahl möglich. 17 P. Häberle, Gott im Verfassungsstaat?, FS Zeidler 1987, S. 3 ff.; danach immer wieder fortgeführt, z. B. ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 951 ff.; ders., Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl. 2001/02, S. 274, 525, 602, zuletzt 5. Aufl. 2007, S. 641. Aus der theologischen Lit.: G. Wenz, Gott, Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie, 2007. Aus der europarechtlichen Lit.: G. Waschinski, Gott in der Verfassung?, 2007; M. H. Weniger, Europa ohne Gott?, 2007; L. Messinese, Die Gottesfrage in der Philosophie ..., 2007.

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2. Bestandsaufnahme (Auswahl) a) Die Schweiz und Österreich Beginnen wir mit der Schweiz. Hier hatte die KV Bern (1993) insofern einen neuen Akzent gesetzt, als ihre Präambel nur noch von der „Verantwortung gegenüber der Schöpfung“ spricht: damit ist allenfalls indirekt ein Gott mit erwähnt, denn „Schöpfung“ muss einen Schöpfer haben. Indes kehrt die nBV Schweiz (1999) zur intensivsten Form eines Gottesbezugs zurück. Die Präambel beginnt mit der klassischen invocatio dei: „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“. Im Folgenden einige Beispiele aus vorausgehenden und nachfolgenden Schweizer Kantonsverfassungen. Während die KV Tessin (1997) ebenso wie die KV Neuenburg (2000) auf einen Gottesbezug verzichtet, bietet sich in der Präambel KV Appenzell A. Rh. (1995) ein anderes Bild. Appenzell A. Rh.18 normiert in der Präambel: „Im Vertrauen auf Gott“. Präambel KV Solothurn (1986)19 hatte schon bestimmt: „im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt“; Präambel KV Glarus (1988)20 sagt: „eingedenk seiner Verantwortung vor Gott, den Menschen und der Schweizerischen Eidgenossenschaft“. Die KV Schaffhausen (2002) normiert als Präambel die neue Variante: „In Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur gibt sich das Volk des Kantons folgende Verfassung“. Die KV Waadt (2003) spricht in ihrer wohlgestalteten Präambel nur von „Création comme berçeau des générations“. Demgegenüber heißt es in der Präambel der KV Graubünden (2003): „im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott sowie gegenüber den Mitmenschen und der Natur“ (ähnlich St. Gallen 2001). In den Verfassungsentwürfen für eine KV Freiburg (2004) finden sich Varianten wie: „im Bewusstsein unserer Verantwortung gegenüber der Schöpfung“ und „Wir, das Volk des Kantons Freiburg, im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott, der Schöpfung und den zukünftigen Generationen“ sowie: „Wir, das Volk des Kantons Freiburg, die wir an Gott glauben oder unsere Werte aus anderen Quellen schöpfen“ – diese Klausel steht in Wahlverwandtschaft zu Polens Verfassungspräambel von 1997! Die endgültige Verfassung (2004) beinhaltet in dieser Sache dasselbe. Die neue Züricher KV (2005) spricht ebenso wie die KV Basel-Stadt (2005) „nur“ von „Verantwortung gegenüber der Schöpfung“. Im Ganzen zeigt sich eine reiche Vielfalt. Einmal mehr erweist sich die Schweiz als große „Werkstatt“ in Sachen Verfassungsstaat: der Bogen reicht von einem gänzlichen Fehlen eines Gottesbezugs bis zur Alternativlösung nach polnischem Beispiel. Dazwischen finden sich neue Kontexte wie „Schöpfung“ bzw. „Natur und Mitmenschen“. 18 19 20

Zit. nach JöR 47 (1999), S. 298 ff. Zit. nach JöR 47 (1999), S. 171. Zit. nach JöR 47 (1999), S. 195.

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In Österreich wird man nur in einer neuen Landesverfassung fündig21. So heißt es in der Präambel der Tiroler Landesordnung (1989): „Im Bewusstsein, dass die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe“. In Art. 1 Abs. 1 S. 2 Verf. Vorarlberg (1999) ist immerhin gesagt: „Die Bedeutung der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt.“ Diese Aussage ist ein ferner Nachklang zu Gottesbezügen und übrigens eine Rezeption von Art. 4 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg (1953). b) Islamisch-arabische Verfassungen Ein kurzer Blick gelte dem anderen Kulturkreis der islamisch-arabischen Länder22. In der Verf. Ägyptens (1971) ist eingangs vom festen „Glauben“ und mehrfach von „Allah“ die Rede („im Namen Allahs“, „das Recht Allahs“ sowie „im Namen und mit Hilfe Allahs“). In Art. 90 ist in der Eidesklausel für die Mitglieder der Volksversammlung gesagt: „Ich schwöre bei Allah“. Das erinnert an die Gottesbezüge in Eidesklauseln in westlichen Verfassungsstaaten23. Im Text der Verf. Bahrein (1973) findet sich gleich eingangs die „invocatio dei“ auf arabisch: „Im Namen Allahs, des Erbarmers und Barmherzigen, im Namen Allahs des Allerhöchsten, mit seinem Segen und dem Erfolg, den er verleiht“. Gemäß Art. 33 lit. h schwört der Emir seinen Eid auf Allah. Auch die Verf. Djbouti (1992) eröffnet die Präambel mit den Worten: „Im Namen Allahs, des Erhabenen“ (großgeschrieben). In der Verf. Königreich Jordanien (1952/84) richten sich die Eide von Ministerpräsidenten und Minister auf „Allah“ (Art. 43). Gleiches gilt gemäß der Verf. Komoren (1992) für den Eid des Präsidenten der Republik (Art. 25). Die Verf. Kuweit (1962/80) beginnt mit der Formel „im Namen Allahs, des Erbarmers und Barmherzigen“ (großgeschrieben). Die Verf. Mauretaniens (1991) formuliert gleich eingangs dasselbe noch vor der Präambel, und lässt diese beginnen mit der Formel: „Vertrauen auf die Allmacht Allahs“. Das Konstitutive Dokument der Unabhängigkeitserklärung des Staates Palästina (1988) beginnt mit den Worten „in Namen Allahs ...“ und fährt fort in dem Satz „Palästina, das Land der drei monotheistischen Religionen“. Dies ist ein bemerkenswerter Kontext für die arabische „invocatio dei“. Das Grundgesetz der Herrschaft von Saudi-Arabien (1992) beginnt mit der Anrufung „Im Namen Allahs des Erbarmers und Barmherzigen“. An einer anderen Stelle, Texte zit. nach meiner Dokumentation in JöR 54 (2006), S. 384 ff. Texte zit. nach H. Baumann/M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995. 23 Nachweise in P. Häberle, FS Zeidler, aaO., S. 5. 21 22

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nämlich im Text der Staatsflagge, einem der Symbol-Artikel, heißt es dann in Art. 3 lit. c in unvergleichlicher Weise: „Der Satz: ‚Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet‘, steht in der Mitte (sc. der Staatsflagge), darunter befindet sich ein gezücktes Schwert“. Einmal mehr erweisen sich neben Feiertagen die Nationalhymnen und die Flaggen als „kulturelle Identitätselemente“ eines Staates. In der Verf. Syrien (1973) heißt es in Art. 7: Der Verfassungseid lautet wie folgt: „Ich schwöre bei Allah, dem Erhabenen, treu das republikanisch volksdemokratische System zu wahren ...“. Damit sind Gottesbild und Staats- bzw. Verfassungsbild erkennbar aufeinander bezogen. Tunesien beginnt in der Präambel seiner Verfassung (1959/88) mit der Anrufung Allahs, des Erhabenen und Barmherzigen (großgeschrieben), auch lässt es in Art.42 den Präsidenten der Republik „bei Allah, dem Erhabenen“ schwören. Der Text der Provisorischen Verfassung der Vereinigten Emirate (1971) erfindet eine eigene Variante. Im Vorspruch heißt es vor den Artikeln: „Möge uns durch Allah, unseren Schirmherrn und Beschützer, Erfolg beschieden sein.“ Die Verf. Irak (2006) beginnt in der Präambel mit dem Satz: „In the name of God“ und lässt ebenda später den Satz folgen: „Acknowledging God’s right over us“. Welche Auswirkungen diese Klauseln auf die Interpretationen durch die offiziellen, dazu berufenen Schriftgelehrten bzw. Hüter der Scharia haben, kann naturgemäß nicht gesagt werden (bis hin zum „Gottesstaat“). Doch bleibt festzuhalten, dass in den „konstitutionellen Dokumenten“ der islamisch-arabischen Welt ein oder mehrere Gottesbezüge typisch sind. Sicher ist, dass die Gottesklauseln nicht nur ornamentale Bedeutung haben. Zusammen mit der „Scharia“24 dürfte sich das islamische Menschenbild anders definieren als das europäische! c) Afrikanische Staaten Ihre Verfassungen seien ernst genommen, auch wenn sie nicht selten über die Verfassungswirklichkeit wenig aussagen mögen25. Wie an anderer Stelle nachgewiesen, haben sie z. B. in Sachen Gemeinwohl mehrere Innovationen geschaffen26. Das Bild ist sehr vielfältig. Während in der Verf. Angola (1992) jeder Gottesbezug fehlt, sowohl in der Präambel als auch im Präsidenteneid des Art. 62 Ziff. 3, heißt es im Grundgesetz der Republik Äquatorial Guinea (1991) eingangs der Präambel: „Wir, das Volk Äqua24 Vgl. zuletzt W. G. Lerch, Der Islam bedarf der Aufklärung, FAZ vom 17. August 2007, S. 1: „Wie in keiner anderen Religion sind im Islam, qua Scharia, Glaube und Gesellschaft, Weltbild, Eigenwahrnehmung und Kultur miteinander verflochten“. 25 Texte zit. nach H. Baumann/M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas. 26 Dazu meine Nachweise in dem Düsseldorfer Kolloquiums-Band, hrsgg. von M. Morlok, 2008, i. E.

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torial Guinea, das sich seiner Verantwortung vor Gott und der Geschichte bewusst ist ...“. Die Präambel der Verf. Burkina Faso (1991/1997) lautet demgegenüber nur: „Wir, ... das souveräne Volk von Burkina Faso, das sich seiner Verantwortung und seinen Verpflichtungen gegenüber der Geschichte und der Menschheit bewusst ist“. Gott geht sozusagen „verloren“: Ausdruck der Säkularisierung. Andere Instanzen sind Geschichte und Menschheit. Auch im Eid des Präsidenten (Art. 44) findet sich kein Gottesbezug. Die Verf. Burundi (1992) spricht ebenfalls nirgends von Gott, wohl aber von der „Verantwortung vor der Geschichte und vor den künftigen Generationen“. Letzteres ist eine neue Textstufe. Auch die Verf. Gabun (1991/94) spricht, ebenfalls in der Präambel, nur von der „Verantwortung vor der Geschichte“. Zu einem anderen Ergebnis gelangt die „Bildanalyse“ angesichts der Verf. Madagaskar (1992/95). In der Präambel heißt es in Bezug auf das souveräne Volk: „das seinen Glauben an die Existenz Gottes des Schöpfers bekräftigt“. Die Verf. Mali (1992) lässt in ihrer Eidesklausel (Art. 37) den Präsidenten „vor Gott und dem malinesischem Volk“ schwören. Die Verf. Ruanda (1991/96) bekennt in der Präambel in Bezug auf den Nationalen Entwicklungsrat, der als konstituierende Versammlung zusammengetreten ist: „der sein Vertrauen in Gott, den Allmächtigen setzt“. Die Verf. der IV. Republik Togo (1992) eröffnet die Präambel mit dem Satz: „Wir, das togolenische Volk, das sich dem Schutz Gottes anvertraut hat ...“. Konsequent hat der Amtseid des Präsidenten (Art. 64) ebenfalls einen Gottesbezug: „Vor Gott und dem togolenischem Volk ... schwören wir.“ Ein Wort zur Verfassung Südafrikas (1997). In ihr findet sich in der Präambel ein klarer Gottesbezug in den Worten: „Möge Gott unser Volk schützen“. Die Verf. Sudan (1998) eröffnet ihre Präambel mit einer Anrufung Gottes und enthält weitere Gottesbezüge: „In the name of God, the creator of man and people, the garantor of life and freedom, and the guiding legislator of all society“. Die Übergangsverfassung Somalia (2004)27, formuliert eingangs ihrer Präambel: „In the name of Allah, the most Merciful, the Beneficend“. d) Sonstige Verfassungen Im Folgenden sei nur noch eine Auswahl an konstitutionellen Gottestexten vorangestellt. 27

Zit in JöR 53 (2005), S. 712.

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In Lateinamerika verdient die Verf. Buenos Aires (1996) Beachtung28, denn sie formuliert in ihrer Präambel wörtlich eine invocatio dei: „invocando la protecíon de Dios y la guía de nuestra conciencia“. Damit sind Gottes- und Menschenbild verknüpft. Die Verf. Costa Rica (1949/97) normiert eine „invocatio dei“ in der Präambel. Gleiches findet sich in der Verf. Ecuador (1979/98). Die Verf. El Salvador (1983/91) spricht in der Präambel von „nuestra confianzia in Dio“. Auch in der Präambel der Verf. Honduras (1982/95) findet sich ein Gottesbezug. Gleiches gilt für die Verf. Panama (1946/94). In der Präambel der Verf. Philippinen (1986) ist die Rede von „Divine Providence“, invoke the aid of „Almighty God“. In Art. 7 sec. 5 ist der Präsidenteneid mit der Formel: „So help me God“ vorgeschrieben. Er kann jedoch weggelassen werden. 3. Ein Resümee Eine kurze Auswertung des konstitutionellen Beispielmaterials kommt zu folgenden Ergebnissen: Nach wie vor finden sich neue Verfassungen mit (aber auch ohne) Gottesbezügen: besonders intensiv in der Schweiz und in islamisch-arabischen Staaten29. Während gemäß der Staatsreligion des Islam in dessen Verfassungen Gott als der „Barmherzige“ angerufen wird und wegen deren ganzen anderen Kontexte als in westlichen Verfassungsstaaten auch einen anderen Stellenwert besitzt, finden sich in diesen manche neue Textstufen, Varianten und neue Kontexte. Das zeigt sich vor allem in Schweizer Kantonsverfassungen, wo neben der „Verantwortung vor Gott“ mitunter auch die Verantwortung vor der Schöpfung bzw. den Menschen und für die Natur sowie der Geschichte tritt. Das kann auf das Gottesbild nicht ohne Auswirkung bleiben. Der neue Kontext strahlt auch auf das „Gottesbild“ aus, das die Verfassunggeber haben. Am Monotheismus hat sich zwar nichts geändert. Aber im Lichte der hier behandelten Bilderphilosophie zeichnen sich auffallende Wandlungen ab. Der westliche Verfassungsstaat lässt in seinen Gottesklauseln30 Raum für alle drei monotheistischen Weltreligionen. Er hat dank Polen vor allem eine glückliche Öffnung für die nicht an Gott Glaubenden gefunden, in dem er die Variante zuließ (übernommen z. B. von der Präambel KV Freiburg (2004) und vom Verfasser auch für das Europäische Verfassungsrecht immer wieder vorgeschlagen31. Doch sei Zit. nach R. G. Ferreyra, La Constitución de la Ciudad Autónoma Buenos Aires, 1997. Die Verfassunggeber halten sich also nicht an die Lehren von S. Kierkegaard bzw. K. Barth, die den „unendlichen qualitativen Unterschied“ zwischen Gott und Welt betonen sowie die daraus sich ergebende Unmöglichkeit, von Gott zu reden (zit. nach FAZ vom 8. August 2007, S. N 3). Nach D. Bonhoeffer ist die Schöpfung das „Vorletzte“, das auf das „Letzte“ bezogen bleibt. 30 Aus der Lit. etwa W. Becker, Ein Plädoyer gegen den Universalismus, Gottesbezug und Verfassungslehre: Das philosophische Dilemma der Menschenrechte, FAZ vom 24. Juni 2006, S.50. 31 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1.Aufl. aaO., S.276, 525; 5.Aufl. 2007, S. 642. 28 29

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nicht verschwiegen, dass manche neue Schweizer Verfassungen auf Gottesbezüge jedweder Art gerade verzichten (vgl. etwa KV Neuenburg (2000), auch KV Vaud von 2003). Was die Frage der Verfassungsinterpretation der Gottesklauseln im Einzelnen angeht, sei auf ältere Schriften des Verf. verwiesen32. Diese einschlägigen Lexikon-Artikel seien wenigstens als Zitat „mitgeführt“33. Die Praxis sei als „God save the Queen“ (Großbritannien) und „God bless America“ (USA) gegenwärtig. Klassisch wirkt „vox populi vox dei“. Die Frage bleibt, ob wir einen „Gott der Verfassungsjuristen“ haben oder ob es um den „Gott der Theologen“ bzw. den „Gott der Philosophen“ (W. Weischedel) geht. IV. Allgemeine Menschenwürdeliteratur und Judikatur des BVerfG – neuere konstitutionelle Klauseln zur Menschenwürde Ein allgemeiner Nachtrag zu diesem Thema übersteigt alle Möglichkeiten des Verf. vor Ort in Raum und Zeit. Er sprengte den Rahmen dieses Nachtrages. Nur einige Arbeiten bzw. Stichworte auch Judikate, die so intensiv sind, dass sie das Menschenbild im Verfassungsstaat nicht nur berühren, sondern mit prägen, seien erwähnt. 1. Menschenwürdeliteratur Die Literatur ist kaum mehr überschaubar. Nur wenige prägnante Arbeiten seien herausgegriffen, zumal neue Forschungsansätze kaum erkennbar sind. Nicht vergessen sei, dass die Menschenwürde auch im politischen Tageskampf ein Argument ist (so seitens des DGB gegen die Arbeitgeber auf der Mai-Demonstration in München, 2006, SZ vom 2. Mai 2006, S. 50). Fast alle Literaturgattungen befassen sich mit dem Problem „Menschenwürde“: an vorderer Stelle: K. Stern in seinem Handbuch zum Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland IV/1, 2006, S. 47, 187, 266, 518; s. auch U. Di Fabio, in HGR II § 46 Rn. 36 ff., sodann eine Vielzahl von Monographien (etwa S. M. Damm, „Menschenwürde, Freiheit und komplexe Gleichheit. Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes“, 2006; P. Tiedemann, „Was ist Menschenwürde?“, 2006), Kolloquien (Tagungsbericht: „Das Dogma von der Unantastbarkeit“, JZ 2007, S. 348 ff.), Festschriftenbeiträge (insbesondere von P. Pernthaler, „Braucht ein positivrechtlicher Grundrechtskatalog das Rechtsprinzip Menschenwürde?“, FS Schäffer, 2006, S. 613 ff.) und vor allem Aufsätze in jeder Zahl (J. Isensee, „Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten“, AöR 131 (2006), S. 173 ff.; Ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 951 ff.. Z. B. Art. „Gott“, Meyers Enzyklopädische Lexikon, Bd. 10, 1974, S. 624; Art. „Gott“, Brockhaus Enzyklopädie, Bd. 9, 1989, S. 12 f. 32 33

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O. Lepsius, „Der große Lauschangriff vor dem BVerfG“, JURA 2005, S.433 ff.; K. E. Hain, „Konkretisierung der Menschenwürde durch Abwägung?“, Der Staat 45 (2006), S.189 ff.; F. Lindner, „Die Würde des Menschen und sein Leben“, DÖV 2006, S. 577 ff.; S. Schaede, „Würde – eine ideengeschichtliche Annäherung aus theologischer Perspektive“, in: P. Bahr/H. M. Heinig (Hrsg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung, 2006). Die KritV machte 2006, S. 291 ff. die Menschenwürde sogar zum Schwerpunkt eines Themenheftes (4) mit einem Beitrag etwa von I. Gutierrez Gutierrez, „Die Menschenwürde als europäischer Verfassungsbegriff“ (S. 384 ff.). Bei dieser „Sammlung“ muss es bleiben. Sie zeigt, dass auf den verschiedensten Feldern Art. 1 Abs. 1 GG erörtert wird. Eine Vertiefung der Menschenbildproblematik freilich findet selten statt (vgl. aber die Hinweise von K. Stern, der wie selbstverständlich damit arbeitet, aaO., S. 47, 187, 266, 518) und ein Recht auf den (begrenzten) Konkretisierungspielraum des Gesetzgebers bejaht (S. 518)34. Ein relativ neues Themenfeld erschließen H. Zaborowski, C. A. Stumpf, Menschenwürde versus Würde der Kreatur, in: Rechtstheorie 36 (2005), S. 91 ff. M. E. sollte der Würdebegriff freilich exklusiv dem Menschen vorbehalten bleiben (trotz anderer Verfassungstexte, z. B. Art. 120 Abs. 2 nBV Schweiz (1999)35). Zu tierrechtlichen Fragen zuletzt H. Gerik, Rechte, Menschen, Tiere, 2005, sowie die Dissertation F. Rescigno, Rom, I diritti degli Animali, 2005 (mit dem Vorwort des Verf., S. 8–15). 2. Menschenwürdejudikatur Aus der Judikatur des BVerfG seien erwähnt: E 109, 133 (150); 113, 154 (164); 113, 348 (391 f.); 114, 339 (346 f.); 115, 1 (14); 116, 69 (85 f.); 117, 202 (225 f.); 118 (152 f.), 157 ff. 3. Neuere konstitutionelle Klauseln zur Menschenwürde Nur zur „Abrundung“ seien einige neuere Klauseln zur Menschenwürde – dem Grundtext des „Menschenbilds im Verfassungsstaat“ – erarbeitet. Interesse verdienen vor allem jene neueren Texte, an die man nicht ohne weiteres denkt, wenn es um Menschenbildfragen geht. Darum ein Blick auf die von der Wissenschaft bislang kaum wahrgenommenen überaus reichhaltigen Regionalstatute in Italien. Sie verdienen nicht nur wegen ihrer Präambelkunst, ihren Europa- und Kultur-Artikeln sowie Ziele-Klauseln die Aufmerksamkeit der vergleichenden Verfassungsrechtswissenschaft, sie seien auch im Blick auf ihre Menschenwürde-Klauseln gewürdigt. 34

Jüngst bejaht F. Hufen, Staatsrecht II, 2007, S. 143 f. die Arbeit mit der Menschenbildfor-

mel. 35 Dazu D. Richter, Die Würde der Kreatur, ZaöRV 67 (2007), S. 319 ff. Von „Tieren als Mitgeschöpfe“ spricht Art. 9 Verf. Salzburg (1999) in seinem 5. Spiegelstrich.

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Art. 1 Ziff. 1 Statut Apulien (2004) normiert eine Menschenwürdegarantie, wobei auch auf die EU-Grundrechtecharta verwiesen ist (Ziff. 3 ebd.) – diese gilt also schon in einigen europäischen Regionen! Art. 2 Ziff. 2 formuliert unter den „Prinzipien und Zielen“ u. a. die „gleiche soziale Würde“. Art. 6 Statut Latium (2004) garantiert in Ziff. 3 den Alten eine würdevolle Existenz unabhängig von der familiären und sozialen Umgebung. Die Präambel des Statuts Emilia Romagna (2005) garantiert die gleiche „soziale Würde der Person“. Präambel Statut Piemont (2005) verlangt Respekt vor der Würde der menschlichen Person. Art. 4 Ziff. 1 a Statut Toscana (2005) formuliert den Schutz der „Würde der Arbeiter“ als ein Hauptziel. Art. 2 Ziff. 4 des Statuts Abruzzen (2007) verweist gleichzeitig auf die Werte der „christlichen Wurzeln“ und den Respekt vor der Würde des Menschen – ein bemerkenswerter Text und Kontext. Diese europäische Umschau sei ergänzt um einen Blick in die neueren gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs. So gründet nach Art. 1 Abs. 2 Verf. Burgenland (1981) dieses Land „auf der Freiheit und Würde des Menschen“, so normiert Art. 9 Verf. Oberösterreich (1920/2003) unter den Zielen und Grundsätzen des staatlichen Handelns die Achtung vor der „Würde des Menschen, die Selbstgestaltung seines Lebens und die Verhältnismäßigkeit der angewandten Mittel“ – das sind Elemente des Menschenbildes. Art. 9 LV Salzburg (1999) denkt in seinen Aufgaben und Grundsätzen staatlichen Handelns u. a. an die „Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens“, Art. 7 Verf. Vorarlberg (1999) sagt in Abs. 2: „Jedes staatliche Handeln des Landes hat die Würde des Menschen, die Gleichheit vor dem Gesetz ...“ zu achten. Nimmt man die allenthalben festgelegten Grundsätze der Subsidiarität hinzu, auch hier den Statuten in Italien wahlverwandt, so ergibt sich ein weiter differenziertes Menschenbild. Ein Blick auf die neuen Schweizer Kantonsverfassungen wird in allen fündig (z. B. Art. 8 KV Freiburg von 2004, Art. 10 KV Schaffhausen von 2002, Art. 7 Abs. 1 KV Neuenburg von 2000, Präambel KV Tessin von 1997, Präambel und Art. 9 KV Zürich von 2005). Ein Blick nach Afrika. Auch hier finden sich, freilich seltener, Menschenwürdeklauseln: so in Art. 8 Verf. Senegal (1963/92) und zwar im Kontext der Grenzen der Meinungsfreiheit („Achtung der Würde des anderen“), ähnlich formuliert Art. 74 Abs. 4 Verf. Mosambik (1990). Aus der islamischen Welt sei Verf. Tunesien (1959/88) zitiert. In ihrer Präambel wird der Wille bekundet, den „menschenlichen Werten treu zu bleiben“, zu denen die „Würde des Menschen“ neben Gerechtigkeit und Freiheit gezählt werden. Das schon zitierte Verfassungsstatut von Buenos Aires (1996) fällt durch zahlreiche Bezugnahmen auf die Würde des Menschen in den unterschiedlichsten Kontexten auf (Präambel, Art. 11).

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V. Konkrete Problemfelder (Auswahl) Schon in den Vorauflagen wurden einige wenige „Brennpunkte“ benannt, in denen es für das Menschenbild zum Schwur kommt: vor allem in Sachen Folterverbot und Biomedizin. Hinweise müssen genügen. Wie in den Vorauflagen seien einige konkrete Problemfelder herausgegriffen, in denen die Menschenwürde und mindestens indirekt, offen oder versteckt auch das Menschenbildthema relevant werden. 1. Das absolute Verbot der Folter An ihm hat der Verf. sowohl in der Vorauflage, als auch in seinen anderen Publikationen (z. B. in: HDStR Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 22 Rdnr. 56) keinen Zweifel gelassen. Innerverfassungsstaatlich ist seitdem weitere Literatur und Judikatur entstanden. Das zeigt die Monographie von G. Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, 2006, und der Aufsatz von R. D. Herzberg, Folter und Menschenwürde, JZ 2005, S. 321 ff. Darüber hinausgreifend wirkt die Carlos-Entscheidung des EGMR (dazu T. H. Irmscher, Einzelhaft und Folterverbot, EuGRZ 2007, S. 135 ff.) und der Beitrag von S. Schmahl/D. Steiger, Völkerrechtliche Implikationen des Falles Daschner, AVR 43 (2005), S. 358 ff. Zuletzt K. Stern, aaO., S. 24 ff.; F. Hufen, aaO., S. 173 f; W. Schmitt Glaeser, FS Isensee, 2007, S. 507 ff. In Argentinien kam es zu einer ersten Verurteilung nach Aufhebung der Amnestiegesetze: es gab eine Haftstrafe für Folterer in der Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 in Höhe von 25 Jahren (FAZ vom 7. August 2006, S. 5). 2. Biomedizin Das riesige Gebiet der Biomedizin36 hat so viel neue Literatur hervorgebracht, dass wenige Hinweise genügen müssen: an vorderer Stelle das Kolloquium zu Ehren von E. Benda, Innere Sicherheit, Menschenwürde und Gentechnologie, 2005, hrsgg. von G. Robbers u. a., sodann Monographien wie die Arbeit von A. Middel, Verfassungsrechtliche Fragen der Präimplementationsdiagnostik und des therapeutischen Klonens, 2006; K. Klopfer, Verfassungsrechtliche Probleme der Forschung an humanen, pluripotenten, embryonalen Stammzellen und ihre Würdigung im Stammzellengesetz, 2006; G. Gounalakis, Embryonenforschung und Menschenwürde, 2006; T. Hartleb, Grundrechtsschutz in der Petrischale, 2006; D. Birnbacher, Bioethik zwischen Natur und Interesse, 2006. Auch die 46. Assistententagung Öffentliches Recht hat sich im Rahmen des Themas „Recht und Medizin“ mit Teilaspekten beschäftigt (vgl. den gleichnamigen Sammelband von 2006 mit dem Bei36 Zu Fallgruppen: F. Hufen, aaO., S. 159 ff. S. auch W. Graf Vitzthum, Eher Kant als Klon, in: K. Asada u. a. (Hrsg.), Das Recht vor den Herausforderungen neuer Technologien, 2006, S. 41 ff.; J. Kersten, Biotechnologie in der BR Deutschland, JURA 2007, S. 667 ff.

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trag von K. F. Gärditz, Menschenwürde, Biomedizin und europäischer Ordre Public, S. 11 f.). Auch weitere Sammelbände sind anzuzeigen, etwa: K. P. Liessmann (Hrsg.), Der Wert des Menschen, 2006; T. Eich u. a. (Hrsg.), Kulturübergreifende Bioethik, 2006. Einmal mehr zeigt sich, dass solche Grundsatzfragen nur interdisziplinär, d. h. von Juristen, Medizinern, Philosophen, Naturwissenschaftlern bzw. Hirnforschern angegangen werden können und zwar im Spektrum einer Pluralität der Literaturgattungen bis zur Monographie, dem Sammelband sowie den Sammelrezensionen (vgl. FAZ vom 7. April 2006, S. 51: „Wenn es um Leben und Tod geht, ist die Kultur kein Argument“), s. auch die Sammelrezension „Die Freiheit, die wir messen“ (FAZ vom 13. März 2006, S. 41, zu Sammelbänden über „Philosophie und Neurowissenschaften“, „Das Gehirn und seine Freiheit“ sowie „Willensfreiheit als interdisziplinäres Problem“). 3. Tötungen Im Grunde ist nur der Streit um das Luftsicherheitsgesetz, vom BVerfG konsequent entschieden (E 115, 118 (bes. S. 157 ff.)), seit der Vorauflage hinzugekommen. Vorausgehende, begleitende und Nachfolgeliteratur seien registriert: M. Pawlik, § 14 III des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch?, JZ 2004, S. 1045 ff.; A. Sinn, Tötung Unschuldiger auf Grund § 14 III Luftsicherheitsgesetz rechtmäßig?, NStZ, 2004, S. 585 ff.; H. Dreier, Grenzen des Tötungsverbots-Teil 1, JZ 2007, S. 261 (265 ff.); G. Roellecke, Staat und Tod, 2004. Das Ganze ist ein Ausschnitt des schwierigen Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit (vgl. U. Volkmann, Sicherheit und Risiko als Probleme des Rechtsstaates, JZ 2004, S. 696 ff.; U. Blaschke u. a. (Hrsg.), Sicherheit statt Freiheit – Staatliche Handlungsspielräume in extremen Gefährdungslagen, 2005), das die Rechtsphilosophie seit mehr als zweitausend Jahren beschäftigt und auch zum „Brett des Karneades“ (dazu nur H. Koriath, JA 1998, S. 250 ff.) sowie zu den Antipoden T. Hobbes und J. Locke zurückführt. Verfassungsstaatliche Probleme verweisen einmal mehr auf die Philosophie und ihre Klassiker (vgl. etwa J. Hruschka, Die Würde des Menschen bei Kant, ARSP 2002, S. 463 ff.). An den frühen Beitrag des großen Völkerrechtlers A. Verdross, Die Würde des Menschen als Grundlage der Menschenrechte, EuGRZ 1977, S. 207 f., sei erinnert, auch wenn er nicht das Menschenbild als solches ins Zentrum stellt37. Ausblick Im Ganzen: Der Verf. sieht sich auch bei der Sichtung des in zwei Jahren weiter gewachsenen, fast unüberschaubaren Materials in seinem Grundanliegen bestätigt. Das Menschenbild im Verfassungsstaat eröffnet ein einzigartiges Diskussionsforum 37

Zur Sterbehilfe jetzt F. Hufen, aaO., S. 170 ff.

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für viele Wissenschaften und Künste. Es darf als Methapher freilich nicht schablonenhaft verwendet werden, sondern muss je nach Kontext konkretisiert werden. Es ist, wenn man will, ein „Meta-Textkontext“ i. S. des vom Verf. im Handbuch des Schweizerischen Verfassungsrechts, 2001, S. 17 ff. erstmals entworfenen Konzepts. Überdies ist das Menschenbild heute auch in die europäische Verfassungswelt zu übernehmen, ja es dürfte sogar in Verfassungen in Übersee und auf der Welt ebenso Aussagekraft entfalten. Sieht man das Völkerrecht wie der Verf. als „konstitutionelles Menschheitsrecht“38, so wird das „Menschenbild“ als universal brauchbare Metapher auch ein Stück Konstitutionalisierung des Völkerrechts leisten können. Diese Zukunft wäre eine eigene Monographie wert: für die nächste Generation. Peter Häberle

38 Zum Problem jetzt: A. Emmerich-Fritsche, Vom Volksrecht zum Weltrecht, 2007; K. F. Gärditz, Weltrechtspflege, 2006; C. Richter, Aspekte der universellen Geltung der Menschenrechte und der Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht, 2007.