Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß: Beweiserhebung und Beweiswürdigung. Ein Lehrbuch [1 ed.] 9783428403202, 9783428003204

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Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß: Beweiserhebung und Beweiswürdigung. Ein Lehrbuch [1 ed.]
 9783428403202, 9783428003204

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ERICH DÖHRING DIE ERFORSCHUNG DES SACHVERHALTS IM PROZESS

DIE ERFORSCHUNG DES SACHVERHALTS IM PROZESS BEWEISERHEBUNG UND BEWEISWÜRDIGUNG

EIN LEHRBUCH VON

DR. ERICH DÖHRING AMTSGERICHTSRAT, HONORARPROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT KlEI.

DUNCKER&HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten 1964 Duncker & Humblot, Berlin Gedruckt 1964 bei Albert Sayffaerth, Berlin 61 Printed in Germany

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Meiner Frau und Helferin zugeeignet

Vorwort Dieses Buch wendet sich an alle, die unmittelbar mit prozessualer Wahrheitsfindung zu tun haben: an die Polizeibehörden und die Beamten der Staatsanwaltschaft in gleicher Weise wie an die Richter aller Justizzweige und an die Rechtsanwälte. Es ist aber auch für diejenigen bestimmt, denen es auf der Universität oder im staatlichen Ausbildungsdienst obliegt, die Theorie der Sachverhaltsforschung zu lehren. Die Absicht des Verfassers war nicht auf eine Sammlung mehr oder minder zufälliger Beobachtungen gerichtet, sondern auf eine stofflich ausgeglichene Darstellung, die das Wesentliche in straffer systematischer Ordnung wiedergibt. Es kam ihm nicht eigentlich darauf an, neuen Lernstoff vorzuführen, zumal dieser ohnehin ständig an Umfang zunimmt; vielmehr war sein Hauptzweck die Anleitung zu richtigem Denken und Handeln. Die erörterten Einzelheiten stellen nur das Ausgangsmaterial dar, mit dessen Hilfe der Leser versuchen muß, durch eine eigene geistige Leistung die jeweils zutreffende Lösung zu finden. Er hat aus dem dargebotenen Vorrat das zu entnehmen, was er zur ordnungsmäßigen Erledigung gerade seines Falls braucht, und soll lernen, die einzelnen Elemente in kritischer Weiterarbeit sinnvoll zu verwenden. Der Geltungsbereich der im folgenden vorgetragenen Grundsätze und Richtlinien geht weit über die Grenzen eines einzelnen Landes hinaus. Die Hauptprinzipien für eine korrekte und intensive Ermittlung des Sachverhalts sind, wo immer in der Welt prozessuale Tatsachenforschung betrieben wird, die gleichen. Sie sind in höherem Maße allgemeingültig als vieles andere, was heute für international verbindlich ausgegeben wird. Gewiß können in fernen Ländern besondere Verhältnisse bisweilen eine abweichende Lösung taktischer Einzelfragen erfordern. Aber die allgemeinen Grundsätze der Sachaufklärung behalten auch dort ihre Gültigkeit. Wenn der ausländische Leser - wie es von ihm allenthalben erwartet wird - die speziellen Besonderheiten mit verwertet, die sich auf seinen engeren landsmannschaftliehen Bereich und auf die Denkgewohnheiten der dortigen Bevölkerung beziehen, dann werden sich bei sinngemäßer Anwendung die aufgestellten Regeln auch in anderen Bereichen und in fremdartigen Situationen als zutreffend erweisen.-

VIII

Vorwort

Von den Hindernissen, die eine systematische Darstellung der für die Tatsachenarbeit geltenden Regeln erschweren, soll hier nicht im einzelnen gesprochen werden. Doch ist auf eine methodische Schwierigkeit hinzuweisen, die immer wieder eingehende Überlegungen nötig gemacht hat. Sie ergab sich daraus, daß nicht nur neue grundsätzliche Erkenntnisse zu erarbeiten waren, sondern daß sie zugleich eine Fassung erhalten mußten, in der sie den Weg in die Praxis finden können. Oft bestand zudem die Hauptarbeit gerade darin, die aufgestellten Regeln gegen unangemessenen Gebrauch hinreichend zu sichern; es galt, sie in ihren Voraussetzungen so zu umgrenzen, daß sie dem Ratsuchenden feste Richtpunkte geben, ohne ihn zu mechanischer Anwendung der gegebenen Hinweise zu verleiten. Die Arbeit ist zum großen Teil aus eigenen Erfahrungen hervorgegangen. Doch bekennt sich der Verfasser dankbar auch zu den zahlreichen und wichtigen Anregungen, die er aus dem Schrifttum, insbesondere aus den Werken von Hans Groß, Fran!;ois Gorphe, Charles Moore und John H. Wigmore erhalten hat. Möge das Buch dazu beitragen, daß die allgemeinen Grundsätze der Tatsachenforschung jene Präzision und Verläßlichkeit erhalten, die diesem Sachgebiet den Rang einer wissenschaftlichen Disziplin verschafft. Kiel, den 18. September 1963. Erich Döhring

Inhalt Erster Teil Erstes Kapitel

Grundlegung Die Stellung der Wahrheitsforschung innerhalb der Rechtspflege Allgemeine Bedeutung der Tatsachenforschung S. 1 - Mittel zur Ausbildung auf diesem Gebiet S. 2 - Hindernisse für die wissenschaftliche Bearbeitung S. 4 - Sinn der aufzustellenden Grundsätze und Richtlinien S. 4. Die Bedeutung der materiellen Wahrheit für das Prozeßverfahren . . . . Ausklammerung der erkenntnistheoretischen Bedenken S. 6 -Verstärktes Streben nach Erfassung der ganzen Wahrheit S. 6 - Gründe für diese Tendenz S. 7 - Abbau prozessualer Schranken für die Wahrheitsflndung S. 8 - Wahrheitsforschung im Zivilprozeß S. 9 - Neigung zu kritischer Betrachtung S. 10 - Ständige Vervollkommnung der Arbeitsmethoden S. 10. Die Tatsachenfeststellung als Teil der Rechtsfindung . . . . . . . . . . . . . . Zweck der Beweisbemühungen S. 12 - Der Gegenstand der Beweisarbeit S. 13 - Zusammenhang zwischen Beweistätigkeit und juristischer Erwägung S. 13- Zeitliches Verhältnis zwischen Tatsachenermittlung und rechtlicher Durchdenkung S. 14. Phasen des Beweisvorgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufgabe der Beweissammlung S. 15- Zeitliche Aufeinanderfolge von Beweissammlung und Beweiswürdigung S. 16 - Beweis im Anfangsstadium S.17 - Eigenart der vorläufigen Beweiswürdigung S.18 Notwendigkeit wiederholter Prüfung der Beweislage S. 18. Beweismittel

........................................................

Allgemeine übersieht S. 19 - Personal- und Sachbeweis S. 20 Direkter und indirekter Beweis S. 20- Merkmale des Personalbeweises S. 20- Praktische Bedeutung des Personalbeweises S. 21.

1

6

12

15

19

Zweites Kapitel

Allgemeine Grundsätze für den Personalbewels Vorfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Wer vernimmt die Aussageperson? S. 23 - Haupteigenschaften eines guten Vernehmungsleiters S. 23- Selbsterkenntnis des Vernehmenden S. 24 - Erschwerungen für die Erkenntnis eigner Schwächen S. 25 Vorausschau auf den Hergang der VernehmungS. 26- Die Vernehmung als Gemeinschaftsleistung S. 27.

23

Inhalt

X Kontaktnahme

Ihre Bedeutung für das Zustandekommen einer guten Aussageleistung S. 28- Hindernisse für einen befriedigenden Kontakt S. 29 - Erhaltung einer guten Arbeitsatmosphäre im weiteren Verlauf der Vernehmung S. 30.

28

Vorbereitung der Beweisperson auf ihre Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

Darstellung im Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

Tatsachenannahmen als Mittel der Wahrheitsforschung . . . . . . . . . . . . . . . .

34

Richtige Auffassung des Inhalts der Bekundungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Aufspüren von Unstimmigkeiten im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

Mitteilungen an den Aussagenden über die besondere Prozeßsituation . .

43

Sofortige Mitteilung von Gegenargumenten

..........................

46

Fragetaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Sachaufklärung durch Situationsfragen

..............................

52

Die Suggestivfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die mit ihr verbundene Gefahr S. 54 - Inwieweit sind Suggestivfragen zulässig? S. 55- Wahl der richtigen Formulierung S. 56 - Suggestion durch die Umstände S. 57 - Unschädlichkeit von Suggestivfragen in bestimmten Fällen S. 57- Protokollierung suggestiver Vorhaltes. 58.

54

Beseitigung von gedanklichen Hindernissen S. 30 Aussagenden in seine Aufgabe S. 31.

Einweisung des

Ordnung des Materials S. 34 - Erarbeiten des Gesamtbildes S. 34 Hypothesenbildung im Zivilprozeß S. 35 - Die Tatsachenannahme als Wegweiser S. 35 -Erschwerte Hypothesenbildung im Anfangsstadium S. 35 - Schnelles Herausfinden der zutreffenden Deutung S. 36 - Das Risiko beim Umgang mit Tatsachenannahmen S. 36 - Zusammenfassung S. 37 -Kritische Haltung gegenüber der Arbeitshypothese S. 37.

Mißverständliche Ausdrucksweise der Beweisperson S. 39 - Stillschweigende Voraussetzungen, mit denen einer der Gesprächspartner nicht rechnet S. 39 - Aufforderung zu ergänzenden Darlegungen S. 40. Schwer erkennbare Diskrepanzen S. 40 - Widerspruch zum Erfahrungswissen S. 41 - Prüfung der Unstimmigkeit S. 41 - Maßnahmen zur Lösung des Widerspruchs S. 42.

Das Problem S. 43. - Einzelgesichtspunkte S. 43 - Günstige Wirkung sparsamer Angaben über die Prozeßlage S. 44 - Hinweise auf die rechtliche Bewertung bestimmter Angaben S. 45- Nachträgliche Informierung des Aussagenden S. 45 - Besonderheiten in gewissen Verfahrensarten S. 46. Verschiedene Möglichkeiten des Vorgehens S. 46- Auswahl der richtigen Verhaltensweise S. 47 - Korrektes Verfahren bei Vorenthaltung von Belastungsmomenten S. 47- Methodenverbindung S. 48.

Reihenfolge der Erörterung S. 48 -Der Zeitpunkt der Fragestellung S. 50- Sachgemäße Vorbereitung der Erkundigung S. 50- Eindeutigkeit der Frage S. 50- Geradezu gerichtete Fragen S. 51.

Allgemeines S. 52 - Die Wirkungsweise von Situationsfragen S. 52 -Rücksichtnahme auf die psychische Eigenart des Aussagenden S. 53.

Inhalt

XI

Die Notwendigkeit, das Gespräch in Gang zu halten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überwindung des toten Punkts S. 59 - Mehrfache Wiederholung der gleichen Frage? S. 59 - Gründliche Erörterung des Sachverhalts S. 59 - Hinwirken auf eine spontane Darstellung S. 60 - Pflicht zu schonendem Vorgehen S. 61 - Überlegenheit, die sich unauffällig durchsetzt S. 61 -Fälle, in denen milde Mittel allein nicht verfangen S. 62.

58

Beachtung der persönlichen Eigenheiten des Vernommenen . . . . . . . . . . . .

62

Oberprüfung der Aussage mit Hilfe der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

Intensive Befragung ohne Gewaltsamkeit

............................

65

Verläßlichkeitsanzeichen aus der äußeren Erscheinung des Aussagenden

67

Persönlichkeitsforschung

............................................

76

Gesichtspunkte für die Vernehmung jugendlicher Zeugen . . . . . . . . . . . . . .

83

Schriftliche Niederlegung der Aussage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Begrenzte Bedeutung der hier gegebenen Richtlinien S. 62 - Angemessenes Verhalten gegenüber den verschiedenen Charaktertypen S. 62 - Sichabfinden mit den Unzulänglichkeiten des Aussagenden S. 63 Änderung der bisherigen Art des Vorgehens S. 63.

Allgemeine Gesichtspunkte S. 65 - Beispiel aus der Praxis S. 65.

Ihre allgemeine Bedeutung S. 67 - Schlußfolgerungen aus der Physiognomie S. 69- Mienen und Gesten S. 69- Kontrast zur bisherigen Aufführung S. 70 - Doppeldeutigkeit vieler Zeichen im äußeren Gebaren S. 70 - Analyse der zum persönlichen Eindruck gehörenden Elemente S. 71 - Zeichen der Resignation beim Beschuldigten S. 71 - Freimütiges Auftreten S. 72 - Das Lächeln S. 73 - Fälschung der Verläßlichkeitsindizien durch den Aussagenden S. 73 - Intensives Forschen nach weiteren Anhaltspunkten S. 74 - Systematische Erprobung der Auskunftsperson S. 74 - Begrenzter Wert der im persönlichen Eindruck enthaltenen Beweiselemente S. 75. Ihre zunehmende Wichtigkeit S. 76 - Notwendigkeit der Persönlichkeitsanalyse beim Beschuldigten S. 76 - Persönlichkeitsforschung a) beim Beweis der Täterschaft S. 77, b) beim Nachweis psychischer Tatsachen S. 77, c) bei Klarstellung des Beweggrundes zur Tat S. 78, d) in sonstigen Fällen S. 78 - Erforschung der Zeugenpersönlichkeit S. 79 Grundsätze für die außerstrafrechtlichen Verfahrensarten S. 80- Zeitlicher Umfang der Ermittlungen S. 80- Hergang der Persönlichkeitsforschung im einzelnen S. 81 - Ermittlung der geistigen Gesamtstruktur S. 81 -Typische Wesensmerkmale eines Volksteils als Hilfsmittel der Persönlichkeitsforschung S. 82. Allgemeines S. 83 - Befragung ohne schroffes Auftreten S. 83 - Kindgemäße Sprache? S. 84 - Aufspüren der kindlichen Denkweise S. 84 Eingehende Befragung S. 84 - Überwindung von Hindernissen für eine wahrheitsgemäße Darstellung S. 85 - Berücksichtigung der Entwicklungsphase, in der sich das Kind befindet S. 85 - Welcher Beweiswert darf den Bekundungen eines Kindes beigemessen werden? S. 85 - Bekundungen kindlicher Gruppenzeugen und ihre Bewertung s. 87.

Große Verantwortung des Wahrheitsforschers in dieser Hinsicht S. 87Vorsicht bei der Harmonisierung von Unstimmigkeiten S. 88 - Die Wiedergabe der Bekundungen im einzelnen S. 88 - Kraftausdrücke

XII

Inhalt

des Aussagenden So 89 - Kenntlichmachung der Glaubwürdigkeitsindizien So 89 - Kasuistik So 89 - Niederschrift von Frage und Antwort So 90 - Der persönliche Eindruck der Aussageperson als Bestandteil des Protokolls So 90 - Protokollierung als Schutz gegen taktische Manöver des Aussagenden So 91. Drittes Kapitel

Die Zeugenvernehmung Allgemeines 000000000000000o0000000000000000000000000o00000000000000 Gesunde Skepsis gegenüber der Darstellung des Zeugen So 92 - Der moderne Zeuge als Eideshelfer So 93 - Gewissenhafte Prüfung auch bei redlichen Zeugen So 93- Kritische Haltung gegenüber Vielwissern So 94 - Wachsamkeit auch bei scheinbar geringfügigen Anlässen So 950

92

Wahrnehmung 00000oo0o00o000000oo00000000000o00000000000o00oo000000 Plan der Darstellung So 95 - Beobachtungsfähigkeit So 96 - Wahrnehmungsbedingungen So 96 - Schnelligkeit des Ablaufs, abgelenkte Aufmerksamkeit So 97 - Hochgradige Aufregung So 98 - Übermüdung, seelische Belastungen So 99 - Schmerzeinwirkung So 99 - Alkoholeinfluß 99o

95

Erinnerung 0000000000000000000000000000000000000000000000000000000000 100 Umstände, die die Reproduktionsfähigkeit fördern bzwo erschweren So 100- Erinnerungsmöglichkeit bei häufig wiederholten Vernehmungen So 101 - Weit zurückliegende Vorgänge So 101 - Gedächtnisbrücken So 102 -Eidetische Veranlagung So 102- Nachträgliche Erinnerung So 103- Kopfverletzungen So 103- Teilvertauschungen So 104 - Irrtum hinsichtlich der Aufeinanderfolge So 1050 Verarbeitung der Wahrnehmungen durch den Zeugen 0000000000000000 105 Ihre funktionelle Bedeutung So 105- Etappen der Verarbeitung So 105 - Kritische Betrachtung der vom Zeugen dabei erbrachten Leistung So107o Ermittlung des Fundaments der Zeugenaussage 0000 000000 00000000000000 109 Besonderheiten der Vernehmung in bestimmten Einzelfällen 0000000000 109 Angaben über fremdpsychische Tatsachen 00000000000000000000000000 109 Erhöhte Feststellungsschwierigkeiten So 109 - Fehlen greifbarer Anhaltspunkte So 109- Richtlinien für die Würdigung So 110- Kasuistik So 110o

Bekundungen über eigenpsychische Tatsachen 00000000 00000000000000 111 Einzelfälle dieser Art So 111 -Tendenz des Zeugen zur Verschönerung So111. Äußerungen über eigene Beweggründe 000000000000o00000000000000000 112 Werturteile des Zeugen 000000000.. 00........ 00000.... 0. 0.. 0.. 0000.. In welchem Umfang sind Beurteilungen des Zeugen zulässig? So 113 -Analyse von Zeugenbeurteilungen S.114- Prüfung von Zeugenurteilen, wenn die Ausgangstatsachen fehlen S. 116.

112

Aussagen über Charakter und Wesensart eines Dritten Beurteilungsfehler So 118.

118

Inhalt

XIII

Urteile des Zeugen vom Hörensagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Einzelfälle S. 120 - Zeugnisse über Mitteilungen eines ungenannten Dritten S.121- Der Prozeß Bullerjahn S.122- Volle Ausnutzung der Prüfungsmöglichkeiten S. 123. Schlußfolgerungen im engeren Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Gedankliche Rekonstruktion des Sachverhalts durch den Zeugen S. 124- Der Wert von Schlußfolgerungen des Zeugen S. 125- Sonderung von Tatsachenangaben und Schlußfolgerungen S. 125 Schlüsse, die als Tatsachenangaben frisiert sind S. 126 - K.larstellung versteckter Schlußfolgerungen S. 126. Angaben des Zeugen über den Sinn einer Äußerung . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Kann die Meinung der Beweisperson über die Bedeutung bestimmter Redensarten zur Klärung beitragen? S. 127 - Wiedergabe bestimmter Stellen aus einer Rede S. 127 - Zusammenfassender Bericht des Zeugen über längere Besprechungen S. 128 Widerspruchsvoller Inhalt von Parteiverhandlungen S. 128 - Einzelgesichtspunkte für die Beweiswürdigung S. 129. Hypothetische Stellungnahmen des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Ihre Eigenart und mannigfache Gestalt S. 130 - Absehenmüssen des Zeugen von gegenwärtigen Kenntnissen und Einsichten S. 131 -Angaben des Zeugen über seine eigenen Ziele S. 132 - Beurteilung früherer Vorgänge auf Grund von nachträglich erworbenem Wissen S. 132 - Ordnungsgemäße Lenkung des Aussagenden in solchen Fällen S. 133. Suggestive Beeinflussung der Beweisperson als Fehlerquelle

..........

Entstehung von Suggestionen vor der Vernehmung S.134- K.larstellung stattgehabter Beeinflussungen S.134- Möglichkeiten zur Verhinderung außergerichtlicher Suggestionen S. 135.

134

Der Wahrheitswme als Glaubwürdigkeitsindiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Seine Bewertung in früherer Zeit S. 135 - Heutige Bedeutung der Bereitschaft zur wahrheitsgemäßen Aussage S.136- Der Wahrheitswille als richtungweisendes Moment in besonderen Fällen S. 137. 137 Ideelle Befangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Bedeutung weltanschaulicher und politischer Ansichten der Beweisperson S. 138 - Große Durchschlagskraft einer einseitigen Grundhaltung S. 139 - Aufdeckung versteckter Befangenheit S. 139 Voreilige Ansichten des Zeugen über den vermutlichen Hergang S. 140- Allgemeiner Verfolgungseifer der Bevölkerung S. 140- Die Ansicht der Auskunftsperson über den Stand des Beweisverfahrens S. 141 - Anpassungsbedürfnis des Zeugen S. 141.

Typische Formen einer fehlerhaften allgemeinen Einstellung des Zeugen

Gruppengeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Personengruppen ohne organisatorische Grundlage 8.142 - Die Dorfgemeinschaft als Gruppe S. 143. Allgemeine Nützlichkeitserwägungen des Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Vernehmung von Zeugen mit einseitiger Grundhaltung . . . . . . . . . . . . . . . .

Kampf gegen eine verkehrte Einstellung der Beweisperson S. 145 Nachdrückliche Hinweise S.145 - Bewußtmachen der Voreingenom-

144

XIV

Inhalt

menheit So146- Notwendigkeit von Geduld und Ausdauer So146Verhalten bei sehr starken Vorurteilen des Zeugen So 146- Rücksicht auf die Besonderheiten des Falles So 147o Bewertung von Bekundungen befangener Zeugen 00000000000000000000 Wert oder Unwert solcher Aussagen So 147 - Momente, die für die Glaubwürdigkeit sprechen So148- Geringe Handhaben zur Nachprüfung So 148- Neigung des Zeugen zur Wahrnehmung seiner eigenen Belange So 149- Umfang des wahrheitswidrigen Einflusses So 150o Beweiswürdigung bei einzelnen Kategorien von Auskunftspersonen 0000 Polizeibeamte als Zeugen o00000000ooo000000000000000000000000000000 Der Verletzte als Beweisperson 000000000000000000000000000000000000 Gründe für seine etwaige Befangenheit So 151 - Haltung des Geschädigten bei schweren Schicksalsschlägen So 151 - Vortäuschen einer Straftat durch den "Verletzten" So 151. Angaben eines Mitbeschuldigten 000000000000000000000000000000000000 Der zu Strafe Verurteilte als Auskunftsperson So 152 -Der rechtskräftig Freigesprochene als Zeuge So 153 - Belastende Angaben eines Beschuldigten über den in das gleiche Verfahren verwickelten Mitbeschuldigten So 153 - Belastung eines Verdächtigen durch den zwar noch nicht abgeurteilten, aber voll geständigen Tatbeteiligten So 154 - Große Bedeutung von Angaben Mitbeschuldigter in bestimmten Fällen So 154- Zusammenfassung So 1550 Bewertung von Aussagen, die in einem Punkt erweislich unrichtig sind Fragwürdigkeit der älteren Auffassung darüber So 175 - Nachwirkungen des früheren Standpunkts in der Gegenwart So 156- Feststellung, wie die Unrichtigkeit zustande gekommen ist So 156- Eingrenzen der Fehlerursache So 157- Unrichtigkeiten bezüglich eines Nebenumstands So 157 - Verständliche Ursachen für kleinere Fehlleistungen So 158 Strenge Bewertung in besonderen Fällen So 159 - Mehrfache Unrichtigkeiten So 160 -Bewußt falsche Angaben So 160- Zusammenfassung So 161. Beweiswürdigung bei wechselnden Angaben des Zeugen 00000000000000 Mögliche Ursachen für eine Aussageänderung So162- Welche der verschiedenen Darstellungen ist die zutreffende? So 163- Der Zeuge gibt zu, gelogen zu haben und verspricht, nunmehr die Wahrheit zu sagen So164o

147

150 150 151

152

155

162

Übereinstimmung und Gegensätzlichkeit in den Aussagen verschiedener Zeugen 00000000000000000000000000000000000000000000000000000000 165

Das Problem So 165 - Notwendigkeit einer theoretischen Durchdenkung So 166 - Vorteile, die das Vorhandensein mehrerer Zeugen bietet So 166 - Übereinstimmung mehrerer Aussagen als Indiz für deren Richtigkeit? So 167 - Milieubedingte Gleichförmigkeit der Bekundungen So 167 - Wachsamkeit, die den Umständen angemessen ist So168- Würdigung widersprechender Angaben im allgemeinen So168 - Leicht auflösbare Disharmonien So 168 - Harmonisierung der Abweichungen nur in gewissen Grenzen So 169 - Vorgehen, wenn die Differenzen nicht sogleich zu beheben sind So 170 - Wertung sich widersprechender Aussagen, wenn der Einfluß von Gruppengeist in Betracht kommt So 170 - Isolierte Zeugen So 171 - Zusammentreffen von Aussagefehlern verschiedener Art So 172 - Zusammensetzen von Teilergebnissen So 172 - Vergleich der Zeugenaussage mit Augenscheinsergebnissen, Urkunden uswo So 1730

Inhalt

XV

Viertes Kapitel

Die Befragung des Beschuldigten Haltung des Vernehmenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174

Das Recht des Beschuldigten zu schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

178

FreiwHlige Mitarbeit des Beschuldigten bei der Sachaufklärung . . . . . . . .

181

Das Ziel der Vernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

Spezielle Haltung des Verhörsleiters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

Formen der Gegenwehr des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

Förderung der Geständnisbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Unechtes Überlegenheitsgefühl S. 174 - Innerer Widerwille gegenüber der Verhörsperson? S.174- Menschliches Interesse S.175 - Distanzierung vom Beschuldigten S. 175- Joviales GebarenS. 176- Zielbewußtes Verhalten S.176- Verbot unwürdiger Behandlung S.176Autoritäres Auftreten S. 177- Innere Sicherheit S.177- Benehmen gegenüber aufsässigen Beschuldigten S. 178.

Keine Pflicht zur Mitwirkung bei der Aufklärung S. 178 - Die angloamerikanische Auffassung im Vergleich zur kontinentalen S.179 Verweigerte Mitarbeit als Schuldindiz im Strafverfahren S. 180 Schweigen der Partei im Zivilprozeß und vor den Verwaltungsgerichten S. 180 - Auswertung dieses Beweisanzeichens im einzelnen S. 181. Allgemeines S. 181- Anregung des Verdächtigen zur Mitarbeit S.182.

Doppelte Zweckbestimmung S. 183 - Herbeischaffung von Verteidigungsmaterial S. 183 - Besondere Obacht auf entlastende Tatsachen S.184.

Gute Arbeitsatmosphäre S. 185 - Kritische Einstellung S. 185 - Individuelle Behandlung S. 185 - Geistige Auseinandersetzung zwischen den Gesprächspartnern S.185 -Selbstbeherrschung des Vernehmenden S. 186 - Ständige Beobachtung des Beschuldigten S. 186 - Allzu starkes Erfolgsstreben des Verhörsleiters als Hindernis S. 187- Sofortige Auswertung des Materials S. 188- Haushalten des Vernehmenden mit seiner Kraft S. 188.

Hochfahrendes Benehmen S. 189 - Gespielte Entrüstung S. 189 - Ausweichtaktikdes Vernommenen S. 190- Offene Widersetzlichkeit S. 190 -Unvoreingenommenheit auch gegenüber schwierigen Verhörspersonen S. 191- Starrsinn, Verstocktheit, Trotz S.191- Wert der gesammelten taktischen Erfahrungen für spätere Fälle S. 192.

Darf der Vernehmende auf ein Geständnis hinwirken? S.193- Fragwürdiges Hinarbeiten auf Geständniserklärungen S. 193 - Nutzen des Geständnisses für die Wahrheitsforschung S. 194- Indirekte Methode der Geständnisförderung S. 194 - Mitteilungsbedürfnis des Täters S. 195 -Benutzung affektiver Regungen S. 195- Wirkung bestimmter Ehrauffassungen S. 196 - Streben des Beschuldigten nach Anerkennung 8.196- Direkte Methode S. 196- Bedeutung der psychischen Zwangslage S. 197.

199 Allgemeine Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Gesetzliche Verbote 8.199 - Starke Versuchung zu Pflichtwidrig-

Unzulässige Vernehmungsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Inhalt

XVI keiten dieser Art So 200 erlaubten Mitteln So 202 im einzelnen So 2020

Abgrenzung zwischen erlaubten und unDie verbotenen Maßnahmen und Behelfe

Körperliche Mißhandlung 00000o0000000000000000000 00000000000000000 203 Täuschung 0000000000000000000000000000000000000000 0000000000000000 203 Rechtschaffene Grundhaltung des Vernehmenden So 203 - Argumente gegen die Zulässigkeit von Täuschungshandlungen So 204 Ausnutzung eines bereits vorhandenen Irrtums So 205 -Täuschungshandlungen außerhalb der Vernehmung So 205- Nicht zu beanstandende überlistung So 205. Drohung (Warnung, Belehrung) 0. 00000000000000000000000. 0. 00000000 206 Begriffliche Grundlagen So 206- Korrektes Vorgehen beim Hinweis auf zu erwartende Nachteile So 207- Hinweis auf die bevorstehende Verhaftung So 208 - Beurteilung, ob der Beschuldigte korrekt vernommen worden ist So 208 - Abstellen auf die individuelle Eigenart des Beschuldigten S. 209o Ermüdung 00000000o. 00000o00000000000. 00000000000000000000000. 0000 209 Einführung in die Problematik So 209 - Maßgebende Gesichtspunkte So 210- Beweisschwierigkeiten So 211- Erschöpfung bereits zu Beginn der Vernehmung So 212- Nächtliche Verhöre So 213o Versprechen und Gewähren von Vergünstigungen 0 00000000000000000 213 Gesetzliche Regelung So 213 - Ursächlicher Zusammenhang zwischen Versprechen und Aussage So 214- Versprechungen, deren Erfüllung der Vernehmende nicht völlig in der Hand hat So 214 - Erfüllung von Zusagen So 215o Quälerei

216

Chemische Mittel 0oo000000o0000000000000000000000000000000000000000 217 Haltung der Gesetzgebung und der Rechtsprechung So 217 - Unsichere Würdigung der unter dem Einfluß von Medikamenten gemachten Aussagen S. 218 - Anhaltspunkte für die Bewertung So 218o Lügendetektor

219

Hergang des Geständnisses 000000000000000000000000000. 00000000000000 220 Erste Anzeichen der Geständnisbereitschaft So 220 - Verhalten des Vernehmenden S. 221 - Feststellung des Geständnisinhalts So 221 Notwendigkeit einer Prüfung des Geständnisses So 222- Erfragen der konkreten Tatumstände So 223 - Sicherung des Geständnisses gegen Widerruf So 224o Vorgehen beim Widerruf des Geständnisses 00000000000000000000000000 225 Haltung des Vernehmenden So 225- Ermittlung, auf welcher Grundlage der Widerruf beruht So 225 - Mehrfacher Wechsel zwischen Geständnis und Widerruf So 2260 Aufklärungswert der von der Prozeßpartei gemachten Angaben 00oooo0. Verschiedene Arten von Stellungnahmen So 227- Bedeutung der Regel "in dubio pro reo" S. 227 - Vergleich des Werts von Beschuldigtenangaben und von Zeugenaussagen So 228 -Einfluß der Parteilichkeit des Beschuldigten auf die Bewertung seiner Angaben So 229 - Umstände, die den Angaben des Beschuldigten Glaubhaftigkeit verschaffen können So 230 - Zivil-, Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsiachen So 231.

227

Inhalt

XVII

Würdigung von Schutzbehauptungen des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . .

232

Betoertung von Widersprüchen

......................................

235

Unrichtige Angaben des Beschuldigten als Schuldindiz . . . . . . . . . . . . . . . .

237

Unzulängliche Verteidigung des Beschuldigten als Belastungsmoment . .

240

Würdigung von einräumenden Erklärungen

242

Notwendigkeit ihrer vorurteilslosen Bewertung S. 232 s. 233.

Kasuistik

Mögliche Ursachen für widersprüchliches Vorbringen S. 235 -Widersprüchliche Sachdarstellung auf Grund prozeßtaktischer Erwägungen S. 236- Andere Prozeßarten S. 237. Schwäche und Stärke dieses Beweisanzeichens S. 237 - Spezielle Lagen S.238 -Allgemeine Richtlinie S. 239 - Zivilprozeß S. 239.

Eigenart dieses Beweisanzeichens S. 240 - Voraussetzungen für die Brauchbarkeit des Arguments S. 240 - Besonderheiten bei Darlegung des Alibi S. 240 - Hinreichende Gelegenheit zu wohlüberlegten Verteidigungserklärungen S. 241 - Ergebnis S. 241 - Ungenügende Rechtfertigung außerhalb des Strafverfahrens S. 242. ..........................

Mögliche Ursachen für ein falsches Geständnis S. 242 - Geständnis infolge von Ruhmsucht S. 243 - Taktische Erwägungen des Beschuldigten S. 243 - Kombination von uneigennützigen und selbstsüchtigen Beweggründen S. 244 - Falsches Geständnis auf Grund von Irrtum S. 245 - Zu kurze Beobachtungszeit S. 245 - Hochgradige Erregung S. 246 - Sonstige Gründe S. 246 - Irrtum des Beschuldigten über den belastenden Charakter einer zugestandenen Tatsache S. 247.

Anzeichen für die Richtigkeit des Geständnisses

......................

248

Vertoertung von Geständnissen, die unter Druck zustande gekommen sind? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250

Betoertung des Geständnistoiderrufs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Konkretes Wissen des Beschuldigten, das auf seine Täterschaft hindeutet S. 248- Das Geständnismotiv als Glaubwürdigkeitsindiz S. 248 - Beweggründe, die für die Richtigkeit des Geständnisses sprechen S. 249 - Ermittlung des Geständnismotivs in besonderen Fällen S. 249.

Inwieweit in solchen Fällen eine Beweiswürdigung notwendig werden kann S. 250 - Gesichtspunkte für die Beurteilung S. 251.

Grundsätzliche Einstellung der Gerichte S. 251 - Die Bewertungsprinzipien im einzelnen S. 252 - Würdigung des Widerrufs im Gesamtzusammenhang S. 253 - Klärung des Motivs für den Widerruf s. 254. Fünftes Kapitel

Die Vernehmung des Samverständigen Grundfragen

........................................................

Aufgabe des Sachverständigen S. 256 - Geltungsbereich der auf den Experten bezüglichen Grundsätze S. 256 -Die Eigenart der Sachverständigentätigkeit S. 257 -Herstellung günstiger Arbeitsbedingungen S. 258 - Art der Befragung S. 259 - Suggestivfragen S. 260.

256

XVIII

Inhalt

Bewertung des Sachverständigengutachtens im allgemeinen . . . . . . . . . . . .

260

Ansatzpunkte für eine Kritik des Gutachtens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

264

Wetche Beweiskraft hat die Stellungnahme des Gutachters im Einzetfall?

268

Mögliche Voreingenommenheit des Gutachters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

270

KLärung der Beweistage, wenn zwei Experten sich widersprechen . . . . . .

274

Besonderheiten der Bewertung bei einzetnen Gutachtentypen . . . . . . . . . .

275 276

Pflicht des Vernehmenden zur kritischen Würdigung S. 260 -Eigene Meinungsbildung auch unter ungünstigen Umständen S. 262 - Herzhaftes, aber gleichwohl maßvolles Vorgehen S. 263- Würdigung der Stellungnahme des Sachverständigen aus sich heraus S. 263.

Anregung zu eingehenderen Darlegungen S. 264 - Die Arbeitsweise des Gutachters S. 264 - Einfluß der fachlichen Grundeinstellung des Sachverständigen S. 264 - Bestimmtheitsgrad der gutachtlichen Äußerungen S. 265 - Genauere Erprobung des Bestimmtheitsgrades S. 265 - Kompliziertheit der dem Gutachter gestellten Aufgabe S. 266.

Hauptgesichtspunkte für die Bewertung S. 268 - Der Bildungsgang des Sachverständigen und sein Einfluß auf die Beweiswürdigung S. 268 - Prozessuales Verhalten des Sachverständigen als Indiz S. 269 Hohes berufliches Ansehen des Sachverständigen als Beweisanzeichen S.270.

übertriebenes Wohlwollen des Experten gegenüber einem Berufsgenossen S. 270 - Private Sachverständige S. 270 - Störender Einfluß der Aktenlage und der augenblicklichen Beweissituation S. 271- Voreingenommenheit des Sachverständigen auf Grund seiner früheren Stellungnahmen S. 271 -Fachkundliche Einseitigkeit S. 272 - Irrationale Grundlagen des Gutachtens S. 272 - Beschränkung des Sachverständigen auf die zu seinem Fachgebiet gehörigen Fragen S. 273 Aufdeckung von Fragwürdigkeiten in der gutachtlichen Stellungnahme s. 273. Ernennung eines dritten Sachverständigen? S. 274 - Gewissenhafte Erprobung der Differenzen S. 274- Einzelhinweise für die Würdigung von Unstimmigkeiten 274/75.

Buchführungsgutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines S. 276 - Lückenhafte Unterlagen S. 276 - Kritik der Bilanz S. 276 - Prüfung der Belege S. 276 -Betrachtung des Unternehmens im ganzen S. 277. Feststellung der Schriftidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswahl des Sachverständigen S. 277 - Grundvoraussetzungen S. 278 - Einzelgesichtspunkte S. 278- Wertung der Schriftzüge im ganzen S.278. Prüfung von Fingerabdrücken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blutgruppenuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Feststellung von Alkohol im Blut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropologisch-erbbiologischer Vaterschaftsnachweis . . . . . . . . . . . . . . Testpsychologische Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrenzter Nutzen des psychologischen Tests S. 285 - Reichweite der testpsychologischen ArbeitS. 286- Notwendigkeit einer Bewertung der Ergebnisse S. 286 - Nachprüfung der Sachverständigentätigkeit S. 286 - Vervollständigung des durch Testversuche beschafften Beweismaterials S. 287.

277

279 280 281 283 285

Inhalt

XIX

Zweiter Teil Erstes Kapitel

Der Urkundenbeweis Seine charakteristischen Besonderheiten 0 00 00 0 0 00 0 00 00 0 00 0 0 0 00 0 00 00 00 0 289 Stellung im System der Beweismittel So 289 - Eigenart des Urkundenbeweises im Vergleich zum Personalbeweis So 289 - übersieht über den Gang der Erörterung So 290o Echtheit und Unversehrtheit der Urkunde 00 0 0 00 0 0 00 00 00 0 0 00 0 0 00 0 000 0 0 290 Feststellung, wie eine echte Urkunde zustande gekommen ist So 291 Nachträgliche Änderungen So 291 - Maßnahmen zur Klärung von Bedenken dieser Art So 292- Das Ausstellungsdatum So 2930 Interpretation von Urkunden 00 0 00 0 00 0 0 000 0 00 0 0 0 00 0 00 00 0 00 0 0 00 0 0 0 000 00 0 293 KlarsteUung, ob die in der Urkunde gemachten Angaben zutreffen 000 0 0 0 Einführende Hinweise So 294 Zufalls- oder Absichtsurkunden So 2950 Briefe als Aufklärungsmaterial 0 0 00 0 00 00 0 0 00 0 0 00 00 0 00 0 00 0 00 0 0 00 0 00 0 Beweiswert der Korrespondenz im allgemeinen So 296 - Klärung interner Vorgänge durch den Briefwechsel So 296 - Einzelgesichtspunkte für die Bewertung von persönlicher Korrespondenz So 297 Würdigung von Geschäftsbriefen So 298- Vorprozeßakten So 2980 Häusliche Notizen als Beweismittel 0 0 0 00 00 0 00 0 0 00 0 00 00 0 0 00 0 00 0 0 000 0 00 Ihr Beweiswert im allgemeinen So 299- Kasuistik So 2990 Behördliche Auskünfte 0 00 0 00 0 0 00 00 0 00 0 0 00 0 0 00 0 00 00 0 00 0 00 0 0 00 0 00 00 0 Ihre Stellung im Beweisrecht So 301 - Amtliche Stellungnahmen mit Beurteilungscharakter So 302 - Das der Auskunft zugrunde liegende Tatsachenmaterial So 302 - Begrenztes Blickfeld der sich äußernden Behörde So 303 - Mögliche Voreingenommenheiten So 303 - Sonstige Fehlerquellen So 304o Buchführungsunterlagen 000 0 0 00 0 00 0 0 000 0 0 00 0 0 00 0 000 0 0 00 0 00 0 0 00 0 00 0 00 Verläßlichkeitsindizien So 305 - Wirkung einzelner Fehler auf die Würdigung der Buchführung im ganzen So 305 - Verdacht absichtlicher Falschbuchungen So 306o Würdigung von Urkunden, denen Mängel anhaften 00 0 0 00 00 0 0 00 0 00 0 00 Zeugnisurkunden mit Formfehlern So 206 - Unbeglaubigte Abschriften So 307 - Nachlässigkeiten bei Herstellung der Abschrift So 307 -Nichtige Verträge als Beweishilfen So 308 - Würdigung von kommissarischen Zeugenvernehmungen So 308 -Arbeiten mit unzulänglichen Vernehmungsniederschriften So 309 - Schriftliche Aussagen, die nicht auf mündlicher Erörterung mit dem Vernehmenden beruhen So 310o

294

296

298 301

304

306

Zweites Kapitel

Die Augenscheinseinnahme Prinzipielle Bemerkungen 00 00 00 00 0 00 0 0 000 0 0 00 0 00 0 00 00 0 00 0 0 00 0 0 00 0 00 00 312 Ihre Wesensmerkmale So 312 - Unterschiedliche Formen des Augenscheins So 313 -Wichtigkeit der unmittelbaren Besichtigung So 313b*

XX

Inhalt

Auftreten der Augenscheinseinnahme im Zusammenhang mit Beweisführungen der verschiedensten Art So 314- Verläßlichkeit der Augenscheinsergebnisse? So 314- Vorzüge und Nachteile des Augenscheinsbeweises So 315 - Einzelne Gefahrenpunkte So 316 - Zu enge Blickrichtung als Hindernis So 317- Unzulängliche Verarbeitung So 317 Unkontrollierte Schlußfolgerungen So 318 - übermächtige Gewalt dessen, was man sieht So 318 - Allgemeine Richtlinie So 3190 UnzulängLichkeiten des besichtigten Gegenstands 0000000000000000000000 320 Inaugenscheinnahme eines falschen Objekts So 320 - Das Augenscheinsobjekt ist nach der Tat umgestaltet worden So 320 - Mehrfache Veränderungen So 322o Wiederholung des Vorgangs als Erforschungsmittel 00000000000000 000000 322 Wesensmerkmale der Rekonstruktion So 322- Nachprüfung von Verteidigungsbehauptungen So 323 -Vorteile der Rekonstruktion für die Sachaufklärung So 323 - Herstellung der Bedingungen, wie sie zur Tatzeit vorhanden waren So 324o Sonstige Augenscheinssurrogate 000000000000000000000000000000000000 00 325 Karten, Risse, graphische Darstellungen So 325 - Photos als Beweismittel So 326 - Irreführende Lichtbilder So 326 - Die Person des Photographen So 327 - Klarstellung des einem Lichtbild zukommenden Wahrheitswerts So 3270 Drittes Kapitel

Der Indizienbeweis Allgemeine Grundlagen 00000000000000000000000000000000000000000o0000 329 Der Indizienschluß als selbständiges Beweisverfahren So 329- Zivilprozeß So 330 - Notwendigkeit gediegener allgemeiner Grundsätze für diesen Bereich So 330- Plan der Darstellung So 331. Heranschaffung des Indizienmaterials 0000000000000000000000000 00000 331 Form der Indiziensuche So 331 - Sicherung der Indizien So 332 Mehrfache Sicherheit So 3330 Die Struktur des Indizienbeweises 0000000000000000000000000000000000 333 Die Tatsachengrundlage als Ausgangspunkt So 333 - Der auf der Indizientatsache aufbauende Denkvorgang So 334 - Zusammenwirken der Einzelteile beim Indizienbeweis So 334- Bemühung um ein Zustandekommen des Indizienschlusses So 334 Herausarbeiten und Zusammenpassen der Einzelteile So 335 - Mehrfache Irrtumsmöglichkeiten So 335 - Die typische Gefahr des Indizienbeweises So 336 - Zuversichtliche Grundhaltung So 336 - Reihenfolge der Tätigkeiten So 336 - Beweisführung mit Hilfe von fragwürdigem Material So 336/7- Richtlinien für das Arbeiten mit unzulänglichen Unterlagen So 337o

Die Klarstellung der Indizientatsache 00000000000000000000000000000000 338 Notwendigkeit ihrer Veriflzierung So 338- Der Beweis im einzelnen So 338 -Vielgliedrige Tatsachengrundlage So 339o Die Erfahrungsregel 00000000000000000000000000000000000000000000000000 339 Allgemeine Grundlagen So 339 - Pflicht zum korrekten Arbeiten mit dem Erfahrungsstoff So 340o

Inhalt

XXI

Das Tatsachenfundament, auf dem der Erfahrungssatz beruht . . . . . . . . Wichtigkeit der Ausgangserlebnisse S. 341 - Zwei Kategorien von tatsächlichen Grundlagen S. 341 - Ermittlung des erlebnismäßigen Unterbaus für den Erfahrungssatz S. 342 -Vergleich des Tatsachenmaterials, auf dem die Erfahrungsregel beruht, mit dem zu klärenden Sachverhalt S. 343. Analoge Anwendung von Erfahrungswissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analogie zur Aufklärung seelischer Sachverhalte S. 344- Gesichtspunkte für die entsprechende Anwendung psychologischer Erfahrungen S. 345. Herausarbeiten eines brauchbaren Erfahrungssatzes . . . . . . . . . . . . . . . . Inbetrachtkommen zweier gegensätzlicher Erfahrungsregeln S. 346 Zusammentreffen von Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen s. 347. Die Abstimmung des Erfahrungswissens auf die jeweilige Sachgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notwendigkeit einer solchen Anpassung S. 348 - Hergang der Angleichung an die konkrete Sachlage S. 349. Prüfung der Erfahrungsregel auf ihre Verläßlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines S. 350 - Die Zahl der Beobachtungsfälle S. 351 Künstliche Erweiterung der Erfahrungsgrundlage S. 351 - Unausgeglichene Erfahrungsergebnisse S. 351 - Fragwürdige Auslese des Erfahrungsstoffs S. 352 - Berichtigung überholter Erfahrungen s. 353. Auseinandersetzung mit Gegenerwägungen, die das Erfahrungsergebnis in Frage stellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Notwendigkeit eingehender PrüfungS. 354- Gegenerwägungen allgemeiner Art S. 354 - Einwendungen aus der speziellen Sachlage heraus S. 355 - Planmäßiges Forschen nach aktuellen Einwänden S. 356 -Einseitige Einstellung des Beurteilers als Hindernis S. 356 Trügerische Sicherheit S. 357. Berücksichtigung des Atypischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Problem S. 357 - Atypische Gestaltung seelischer Vorgänge S. 358 - Begrenzter Wert von statistisch unterbauten Erfahrungen s. 361.

341

344

346

348 350

354

357

Die Schlußfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 Feststellung, welche Sicherheit ihr innewohnt S. 362 - Häufige Schwäche des Indizienschlusses S. 363 - Doppelsinnige Beweisanzeichen S. 364. Beobachtung einer Vielzahl von Indizien in ihrem Zusammenwirken

..

Notwendigkeit einer isolierten Prüfung S. 365 - Zurechtlegen der Beweisanzeichen nach sachlichen Gesichtspunkten S. 365 - Die Zahl der Indizien und ihre Bedeutung für die Beweiswürdigung S. 365 Indizien, die sich gegenseitig verstärken S. 366 - Beachtlicher Einfluß, den auch schwächere Indizien mitunter haben können S. 367 Harmonie zwischen den einzelnen Beweisanzeichen S. 367 - Geringe Reichweite einer Mehrheit von Indizien S. 368- Beweisanzeichen aus verschiedenen Richtungen S. 369 - Ineinandergreifen mehrerer Indizienschlüsse S. 370.

365

xxn

Inhalt

Beweisanzeichen für das Vorliegen einer Straftat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

E i n z e 1n e I n d i z i e n g r u p p e n

373 374

Indizien für und gegen die Täterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

376

Wichtigkeit dieser Gruppe von Beweiselementen S. 376. Gegenwart am Tatort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anwesenheit aus harmlosem Anlaß S. 377 - Sichere Feststellung der Tatzeit als Voraussetzung für ein brauchbares Ergebnis S. 377 - Niemand war sonst zugegen S. 377 - Spezielle Hinweise auf die Anwesenheit am Ort des Geschehens S. 378 - Würdigung von Anhaltspunkten dieser Art S. 379 - Schlußfolgerungen auf Grund des Fingerabdrucks S. 379. Der Alibibeweis Seine systematische Stellung S. 380 - Die beim Alibibeweis notwendigen Denkoperationen S. 381 - Unpräzise tatsächliche Unterlagen S. 382 - Die Bekundungen von Alibizeugen und ihre Bewertung S. 382 - Unvoreingenommene Beurteilung der Entlastungsmomente S. 383 - Einzelgesichtspunkte für die Beweiswürdigung S. 383 - Der mißglückte Alibibeweis als Schuldindiz S. 384. Besitz der Mittel zur Deliktsbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besitz von Gegenständen, die durch eine Straftat hervorgebracht worden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besitz der gestohlenen Sachen als Täterschaftsindiz . . . . . . . . . . . . . . . . Kann das Stehlgut käuflich erworben worden sein? S. 387 - Besitz bestimmter Geldsorten oder Geldstücke als Indiz für Diebstahlsbeteiligung S. 388 - Fingierte Beweisanzeichen S. 388 - Der Besitz größerer Geldbeträge als Belastungsmoment S. 389. Frühere Äußerungen des Beschuldigten als Indiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonstiges Verhalten vor oder nach der Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umstand, daß dem Beschuldigten die Tat zuzutrauen ist . . . . . . . . übersieht S. 395 - Umwelteinflüsse S. 395 - Vorleben S. 396 Frühere Strafverfahren S. 397 - Strenge Erprobung des Materials S. 398 - Bloßer Verdacht S. 399 - Nachweis des Vorlebens durch Polizeizeugen S. 400 - Begrenzter Wert des Arguments, daß dem Beschuldigten die Tat zuzutrauen oder nicht zuzutrauen ist S. 400 Feststellung, daß der Beschuldigte die zur Tatbegehung nötigen Fähigkeiten besitzt S. 403.

376

380

385 386 387

390 392 395

Indizien für das Vorliegen des Kausalzusammenhangs . . . . . . . .

404

Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fahrlässigkeit . . . . . . . . . .

410

Beweisschwierigkeiten S. 404 - Das Problem der ursächlichen Verknüpfung S. 404 - Die Erfahrung als Hilfsmittel S. 405 - Unmittelbare zeitliche Aufeinanderfolge S. 406 - Zeitliches Auseinanderfallen der als Ursache und Wirkung in Betracht kommenden Ereignisse S. 407 - Erwiesene Inkorrektheiten des Beschuldigten als Indiz für den Kausalzusammenhang S. 408. Einführung in die Problematik S. 410 - Mannigfaltigkeit der Formen, in denen fahrlässiges Verhalten auftritt S. 411 - Gestaltungen der Fahrlässigkeit bei falscher Aussage S. 412 - Allgemeine Kennzeichnung der Tatsachengrundlage S. 413 - Beweisanzeichen für die Berechenbarkeit der eingetretenen WirkungS. 415.

Inhalt

XXIII

419 Einführende Bemerkungen S. 419. Kenntnis von Tatumständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 Kannte der Täter das Alter des Mädchens? S. 420 - Wußte der Beschuldigte, daß die Zustimmung seiner (volljährigen) Partnerin zur geschlechtlichen Beiwohnung fehlte? S. 420 - Wußte der Beschuldigte, daß die Waren durch strafbare Handlung erlangt wurden? S. 422- Wissen um die Mängel der verkauften Sachen S. 423 -Das Maß der Unterrichtung S. 423. Ermittlung der Willensrichtung des Beschuldigten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Bestechungsvorsatz S. 424 - Feststellung, ob Täter- oder Gehilfenvorsatz gegeben war S. 425 - Klarstellung des Tätervorsatzes im einzelnen S. 427 - Verschiedene Reichweite des Vorsatzes bei einzelnen Mittätern S. 427 - Aufhellung sonstiger psychischer Sachverhalte S. 428.

Beweisanzeichen für psychische Tatsachen

Viertes Kapitel

Endgültige Beweiswürdigung Allgemeines

........................................................

Eigenart der abschließenden Bewertung des Beweisstoffs S. 429 Wesen der Betrachtung im ZusammenhangS. 430- Zustandekommen des Gesamtbildes S. 430 - Funktion der Ganzheitsschau im Rahmen der Wahrheitstindung S. 430 -Hemmnisse bei Bildung der Gesamtansicht S. 431 - Zwanglosigkeit des Sicheinfügens der Teile S. 431 Berichtigung der bisherigen Ergebnisse S. 432- Beseitigung etwaiger Bedenklichkeiten S. 432- Schrittweises Vorgehen S. 433.

Beachtung aller ernst zu nehmenden Möglichkeiten

..................

Unbeachtlichkeit allzu fernliegender Eventualitäten S. 437 - Abgrenzung zwischen aktuellen und bloß theoretischen Möglichkeiten S. 438 - Ausschließung zu entfernter Möglichkeiten S. 439 - Das dabei zu beobachtende Verfahren S. 440 - Muß mit der Täterschaft eines unbekannten Dritten gerechnet werden? S. 441 -Argumente aus der Erfahrung S. 443 - Ausgleich zwischen Feststellungsoptimismus und Feststellungsvorsicht S. 443.

429

433

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Problemstellung S. 445 -Frühere Lösungsversuche S. 447 -Wahrscheinlichkeitserwägungen in den Anfangsstadien der Beweiserhebung S. 448 - Abstellen auf volle Sicherheit S. 448 - Mindestanforderungen S. 449 - Konkretisierung der abstrakten Richtlinie S. 449 - Definition der vollen Sicherheit durch die Judikatur S. 450 - Beweisquantum in Strafsachen und in Zivilsachen S. 450 - Einzelausführungen S. 451 Einfluß der allgemeinen Lebensanschauungen auf das Beweismaß S. 452 - Modifikationen der erforderlichen Beweismenge in Krisenzeiten S. 453 - Fragwürdigkeit solcher Veränderungen des Beweismaßes s. 453. Beweismaßstab bei schwierigen Sachklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Notwendigkeit der vollen Sicherheit auch in solchen Fällen S. 455Modifikation des Beweisquantums durch Gesetz oder Rechtsprechung S. 456 - Typische Beweisschwierigkeiten, auf die das Gesetz keine Rücksicht nimmt S. 457.

Das Beweismaß

XXIV

Inhalt

Beweiserleichterung in bestimmten Sonderfällen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeines S. 459 - Ursächlicher Zusammenhang S. 459 - Negative Tatsachen S. 460- Vorausschauende Feststellungen S. 462.

459

Überzeugung des Beurteilers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

462

Bibliographie

481

Sachverzeichnis

485

Die bei ihrer Entstehung mitwirkenden Faktoren S. 462 - Hoher Wert der persönlichen Gewißheit S. 463 - Allgemeine Anerkennung der inneren Stellungnahme als Kontrollmittel S. 463 - Die Überzeugung als Teil des gesamten Beweisvorgangs S. 464- Form und Inhalt der Überzeugung S. 465 - Die Überwindung von Zweifeln S. 466 - Fälle, in denen für Zweifel kein Raum ist S. 467 Beachtlichkeit "leiser" Zweifel S. 467- Mitwirkung des Willens bei der Überwindung von Bedenken S. 467 - Begriff der vollen ÜberzeugungS. 468- Ungewißheit, ob volleüberzeugungvorliegt S. 469. Bindung des Beurteilers an seine endgültige Überzeugung . . . . . . . . . . 469 Das Problem S. 469 - Einzelfälle S. 470 - Zweckerwägungen als Grund für ein Verleugnen der ÜberzeugungS. 471. Kritik der subjektiven Überzeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 Zwei Gruppen von Fehlern S. 472- Prüfungspflicht des Beurteilers S. 473- Welche Möglichkeiten zur Erprobung der inneren Gewißheit sind vorhanden? S. 474- Einzelausführungen dazu S. 475- Die Urteilsgründe als Ausweis für die stattgehabte Selbstprüfung S. 475 - Widerstand gegen illegitime Einflüsse auf die Überzeugungsbildung S. 476 ff.

Abkürzungen Anm.

Anmerkung

Bd.

Band

BGB

(Deutsches) Bürgerliches Gesetzbuch

BGHStr

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, amtliche Sammlung

BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, amtliche Sammlung

Diss.

Doktordissertation

HRR

Höchstrichterliche Rechtsprechung (vereinigte Entscheidungssammlung) 1925 ff.

Jg

Jahrgang

JW

Juristische Wochenschrift

KG

Kammergericht

Nr.

Nummer

N.F.

Neue Folge

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Ob.LG

(Bayerisches) Oberstes Landesgericht

OGH

Oberster Gerichtshof (für die britische Zone)

OLG

Oberlandesgericht

RGStr

Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen, amtliche Sammlung

RGZ

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, amtliche Sammlung

RVA

Reichsversicherungsamt

StGB

(Deutsches) Strafgesetzbuch

StPO

(Deutsche) Strafprozeßordnung

Vorbem. vgl.

Vorbemerkung

vo

Verordnung

ZPO

Zivilprozeßordnung

vergleiche

Erster Teil Erstes Kapitel

Grundlegung Die Stellung der Wahrheitsforschung innerhalb der Rechtspßege Allgemeine Bedeutung der Tatsachenforschung. Der Jurist hat nicht nur mit den Rechtsnormen, denen er Geltung verschaffen soll, zu tun; vielmehr muß er auch den Sachverhalt, auf den die Rechtsnormen anzuwenden sind, ·erarbeiten. Ehe er ergründen kann, was sein soll, muß er feststellen, was ist bzw. gewesen ist. Die Jurisprudenz ist daher keine rein normative Wissenschaft; sie erschöpft sich nicht in der Deduktion, sondern ist weitgehend auch auf den Umgang mit dem Erfahrungswissen und auf die ihm zugehörige induktive Denkmethode angewiesen. Von den beiden Hauptanliegen, nämlich der Erforschung des Sachverhalts und dem Auffinden der rechtlichen Lösung, darf die Klärung der Tatfrage keineswegs als die unwichtigere angesehen werden. Prozesse, in denen die tatsächlichen Unterlagen von vornherein feststehen, so daß lediglich die Rechtsfrage zu klären ist, kommen selten vor. Weit häufiger ist der umgekehrte Fall, daß die rechtlichen Überlegungen keine Schwievigkeiten bieten und nur bezüglich der Tatsachen Zweifel obwalten. Besonders im Strafverfahren ist diese Situation oftmals gegeben. Aber auch im Zivilprozeß und in den sonstigen Prozeßarten hängt die Entscheidung vielfach allein davon ab, in welcher Weise die Tatsachengrundlage festgestellt wird, so daß die Rechtsfindungstätigkeit dann fast ausschließlich in der Ermittlung des Sachverhalts besteht. Es kann daher mit einigem Recht gesagt werden, daß die Klärung der Tatfrage ebenso wichtig ist wie die der Rechtsfrage. In vielen Fällen besitzt die Feststellung des Tatbestands für den Ausgang des Verfahrens sogar eine sehr viel größere Bedeutung als die Lösung im Rechtspunktt. 1 E. Fuchs: Gutachten für Judicium Jg. Bd. 60 S. 217

1 Dllhrln&

Monatsschrift für Handelsrecht Jg. 1907 S. 321; M. Alsberg: den 35. Deutschen Juristentag (1928) Bd. 1 S. 483; R. PoHak: 1930 S. 41 ff.; G. Wildhagen: Zeitschrift für Zivilprozeß ff.; E. W. Fischer, Das Erfassen des Sachverhalts: Judi-

2

Grundlegung

Man hat die Tatsachenforschung daher mitunter geradezu als das Kernstück der Prozeßtätigkeit bezeichnet. Diese Ansicht ist vor allem im angelsächsischen Rechtskreis vorherrschend. Dort war von jeher die Meinung sehr verbreitet, daß der Schwerpunkt der Rechtsfindung in der Aufklärung des Sachverhalts liege. Nach anglo-amerikanischer Auffassung sind gerade hier die großen Probleme zu lösen, für die sich der höchste Krafteinsatz lohnt. Der Gedanke, daß die rechtliche Beurteilung in die Irre gehen muß, wenn der Sachverhalt nicht zutreffend aufgeklärt worden ist, bildet in der anglo-amerikanischen Jurisprudenz mehr als auf dem Kontinent einen Hauptgesichtspunkt, der das ganze Verfahrensrecht durchdringt 2 • In den Fällen, wo sowohl die Rekonstruktion des Tatbestandes als auch die rechtliche Beurteilung zu Zweifeln Anlaß gibt, stellt die Entscheidung derTatfrage häufig den eigentlich schwierigen Teil des Rechtsfindungsvorgangs dar 3 • Sie bringt für die Ermittlungsbehörden und Gerichte oft ein beträchtliches Irrtumsrisiko mit sich, während die rechtliche Lösung, die vielfach nicht allein am Gesetz ausgerichtet, sondern in gewisser Weise auch noch durch das Rechtsgefühl überprüft wird, nicht so leicht gänzlich verfehlt sein kann. Nur bei Berücksichtigung dieser Momente läßt sich die große Bedeutung ermessen, die der Feststellung des Sachverhalts für die gesamte Justizübung zukommt4 •

Mittel zur Ausbildung auf diesem Gebiet. Man sollte denken, daß dementsprechend für eine gründliche Anleitung der mit der Wahrheitstindung betrauten Beamten gesorgt worden sei; doch ist es damit nicht gerade zum Besten bestellt. 1. Das Gesetz enthält- aufs Ganze gesehen- nur wenige Vorschriften über die Art der Beweiserhebung. Auf dem wichtigen Gebiet der Beweisbewertung hat es sich sogar darauf beschränkt, lediglich den Grundsatz der freien Beweiswürdigung als solchen festzulegen. Von dieser Seite hat der Wahrheitsforscher daher nur wenig Mithilfe zu erwarten. 2. Das Manko wäre ohne jede Schwierigkeit auszugleichen gewesen, wenn wenigstens die Rechtsprechung ein festes System moderner Becium Jg. 1931 S. 126--54 und "Tagung deutscher Juristen in Bad Godesberg" (1947) S. 211; E. Niethammer das. S. 186; R. KraZik, Die Beweiswürdigung im zivilgerichtliehen Verfahren: Österreichische Juristenzeitung J g. 1954 S. 157 ff.; E. RosenthaZ-PeZZdram: "Richter und Arzt" (1956) S. 81. 2 Dazu A. BuckniZZ, The nature of evidence (London 1953) S. 70. 3 W. Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft (1927) S. 257 f.; Vinz. Bauer, Zehn Gebote für den Streitrichter (1942) S. 34; Braun: Deutsche Rechtszeitschrift Jg. 1950 S. 356 f. 4 W. Sauer, Allgem. Prozeßrechtslehre (1951) S. 164 f. meint, man dürfe die

Wichtigkeit der Tatsachenforschung nicht überschätzen. Doch sind übertriebene Neigungen dieser Art heute wohl kaum irgendwo vorhanden. In vielen kontinentalen Staaten ist eher die gegenteilige Tendenz bemerkbar.

Die Stellung der Wahrheitsforschung innerhalb der Rechtspflege

3

weisgrundsätze ausgebildet hätte. Aber obwohl sie 'in dieser Hinsicht in den letzten Jahrzehnten manches getan hat, ist es dazu nicht eigentlich gekommen. Die Judikatur orientiert sich, wie es nicht anders sein kann, vorwiegend am Einzelfall und vermag sich oft von der Kasuistik nur schwer zu lösen. Eine systematische Durchdringung der Materie gehört nicht zu ihren Aufgaben und ist von ihr daher nicht zu erwarten. 3. Der berufliche Vorbereitungsdienst für Juristen und Kriminalbeamte, der das Fehlende hätte ersetzen können, ist in seiner heutigen Form dazu ebenfalls nicht recht geeignet. Der Jurist wurde bisher nicht nur auf der Universität, sondern merkwürdigerweise auch in der praktischen Ausbildung ganz vorwiegend auf die Lösung von Rechtsfragen trainiert, während die Vorbereitung auf die mitder Tatsachenfeststellung zusammenhängenden Probleme dahinter zurückstand. Bei der Schulung der Kriminal- und Polizeibeamten liegen die Verhältnisse zwar etwas günstiger; doch wird auch ihnen über die Sachverhaltsermittlung in der Ausbildungszeit nur das Nötigste beigebracht, so daß sie gezwungen sind, sich später selbständig weiterzubilden. Es ist deshalb nicht mit Unrecht behauptet worden, daß der Beamte auf keinen Zweig seiner dienstlichen Tätigkeit so unzulänglich vorbereitet werde wie auf die prozessuale Tatsachenforschung5 • Wirksame Hilfe kann zur Zeit nur von seiten der Wissenschaft kommen, der die Aufgabe zufällt, den umfangreichen Stoff durch prinzipielle Analyse beherrschbar zu machen. Daß die Vernehmungskunde, die Grundsätze des Indizienbeweises und die gesamte Lehre von der Beweiswürdigung einer wissenschaftlichen Behandlung zugänglich sind, dürfte keinem Zweifel unterliegen 6 • In den Prozeßrechtslehrbüchern und den systematischen Darstellungen über Kriminologie werden sie denn auch teilweise mit dargestellf. Jastrow S. 183. Radbruch JW 1932 S. 385. Für das verwandte Gebiet der Prozeßtaktik ist dies nachgewiesen worden durch W. A. Scheuerle im Archiv für Zivilistische Praxis Bd. 152 (1952/53) S. 351 ff. 7 J. W. Planck hat in seinem Lehrbuch des Zivilprozeßrechts Bd. 2 (1896) S. 190 ff. eine ziemlich eingehende Theorie der Beweiswürdigung gegeben. Die Vernehmungskunde ist in neuerer Zeit vor allem bei K. Peters, Strafprozeß (1952) S. 289 ff. und E. Seelig, Lehrbuch der Kriminologie (1951) S. 210 ff. erör5

6

tert worden. Die intensive Tätigkeit der schweizerischen Rechtslehre auf diesem Gebiet wird durch die Schrifttumsangaben beiM. Guldener, Schweiz. Zivilprozeßrecht (1958) S. 337 ff. belegt. Gleichwohl hat die Rechtslehre seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts- aufs Ganze gesehen- nur wenig für die Vervollkommnung des Beweisrechts getan (dazu E. R. Bierling, Juristische Prinzipienlehre Bd. IV, 1911, S. 82 und Th. Rittler: Schweiz. Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43 S. 191). Die wissenschaftliche Durchdringung so wichtiger Materien wie der Vernehmungskunde und der Lehre vom Indizienbeweis wurde trotz tüchtiger Einzelarbeiten weitgehend vernachlässigt. Zur Ausbildung einer Theorie über die Mindestanforderungen für den vollen Beweis

4

Grundlegung

Hindernisse für die wissenschaftliche Bearbeitung. Wenn wir trotzdem mit der gedanklichen Durchdringung dieser Fachg€biete nicht recht vorangekommen sind, so ist dies wohl nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß der Wissenschaftler bisher durch die methodischen Schwierigkeiten abgeschreckt wurde, die sich ihm dabei entgegenstellten. Hier lassen sich nämlich nur wenige Regeln von absoluter Geltungskraft erarbeiten. Die meisten Grundsätze hängen von schwer taxierbaren sozialen und psychologischen Voraussetzungen ab. Der Theoretiker sieht daher zunächst meist keine Möglichk€it, einen so sperrigen Stoff in der üblichen Weise mit begrifflichen Klammern zusammenzuhalten. Das beeinträchtigt einigermaßen seine Bereitschaft zur Bearbeitung dieser Sachgebiete, obwohl sie einer umfassenden systematischen Behandlung dringend bedürfen.

Sinn der aufzustellenden Grundsätze und Richtlinien. Die eigentümliche Schwäche der in diesem Bereich möglichen Regeln bringt auch für den Praktiker, der sich ihrer bei der Wahrheitstindung bedienen will, gewisse Erschwernisse mit sich. Er muß sich mit dem Gedanken vertraut machen, daß für die Tatsachenermittlung allgemeine Richtlinien, die s c h e m a t i s c h angewandt werden können, noch wenig€r als sonst in der Jurisprudenz erreichbar sind. Gew.iß würde der Praktiker am meisten eine Anweisung schätzen, von der er, ohne nennenswerte eigene Arbeit zu leisten, unmittelbar Gebrauch machen kann. Aber völlig eindeutige Regeln, die auf jede spezielle Sachlage passen, können hier, wo es so oft auf die näheren Umstände ankommt, eben vielfach nicht gegeben W€rden. Dies hängt damit zusammen, daß ein beweisrechtlicher Grundsatz, wenn er brauchbar sein soll, niemals alle Eventualitäten mit einschließen kann. Er hat stets von bestimmten typischen Voraussetzungen auszugehen und muß Besonderheiten, die seltener vorkommen, ignorieren. Wer bei der Formulierung eines Richtsatzes alle denkbaren Sachgestaltungen berücksichtigen wollte, würde ihn mit so vielen Vorbehalten und Einschränkungen belasten, daß er, statt dem Ratsuchenden zur Klarheit zu verhelfen, nur Verwirrung und Unsicherheit mit sich bringt8 • Jede sind wir bisher nicht gelangt, ferner nicht zur Erarbeitung von praktikablen, d. h. in der Praxis der Tatsachenforschung brauchbaren Grundsätzen für die Überzeugungsbildung, obwohl alle diese Materien dringend eines theoretischen Unterbaus bedürfen. 8 Daraus ergibt sich, was hier sogleich vermerkt sein mag, daß eine Richtlinie dieser Art nicht ohne weiteres dadurch als unzutreffend dargetan werden kann, daß man bestimme Sonderlagen aufzeigt, für die sie nicht zutrifft oder in denen sie zu fragwürdigen Konsequenzen führt. Sofern sie in der großen Mehrzahl der Fälle brauchbar ist, kann sie nur durch den Nachweis ad absurdum geführt werden, daß sich ein gleich handgerechter, aber sachlich richtigerer Leitsatz aufstellen läßt.

Die Stellung der Wahrheitsforschung innerhalb der Rechtspflege

5

Regel muß notwendigerweise vereinfachen. Man darf daher nicht schematisch von ihr Gebrauch machen, sondern hat jeweils zu erwägen, ob sie nicht etwa durch besondere Momente, die dem vorliegenden Fall eigen sind, außer Kraft gesetzt wird. Der Wahrheitsforscher muß diese Prüfung selbst vornehmen. Kein noch so umsichtig gefaßtes wissenschaftliches System kann sie ihm abnehmen. Trotz wichtiger Hilfen, die ihm die Theorie gibt, ist er somit ständig genötigt, sich auf ihrer Grundlage mit neuartigen Sachgestaltungen und Verfahrenslagen auseinanderzusetzen. Vielleicht wird man meinen, daß Regeln, deren Gültigkeit so sehr von den individuellen Umständen abhängt, dem Sachbearbeiter wenig nützen können. Aber allgemeine Grundsätze vermögen, wenn sie auch keine fertigen Lösungen zur Verfügung stellen, immerhin den Weg zu zeigen, auf dem das richtige Ergebnis zu finden sein wird. Sie können den Wahrheitsforscher zur Vorsicht anhalten, wo er von sich aus vielleicht leichtfertig handeln würde oder ihn umgekehrt zu beherztem Vorgehen anregen, wo er im allgemeinen dazu neigt, sich unbegründeten Bedenklichkeiten hinzugeben; und das bedeutet schon eine wesentliche Erleichterung. So erweist sich auch die vereinfachende Richtlinie, wenn sie ordnungsgemäß benutzt wird, als ein brauchbares Instrument zur Auftindung der konkreten Wahrheit. Vielfach kommt der Bearbeiter mit ihrer Hilfe so gut zurecht, daß er nunmehr einen speziellen Rat für die vorliegende Sache, den er anfangs so dring·end gewünscht hatte, gar nicht mehr benötigt. Auch wo der aufgestellte Grundsatz erst mit Rücksicht auf die Besonderheiten des Falles umgedacht werden muß, ist der Wahrheitsforscher mit ihm besser ausgerüstet, als wenn er sich mehr oder minder planlos seinen Weg bahnt. Er v-ermag mit Hilfe einer allgemeinen Regel die Richtung sicherer zu finden, als wenn •er sich allein auf seine lückenhaften Erfahrungen und seinen Instinkt verläßt. Im folgenden ist versucht worden, die Anpassung der aufgestellten Richtlinien an die Eigenart des Falles durch möglichst genaue Angabe der Erwägungen, aus denen sie hervorgegangen sind, zu erleichtern. Oft braucht der Bearbeiter, um zum Erfolg zu kommen, nicht nur den Grundsatz als solchen, sondern hat auch eine Art Benutzungsanweisung nötig, die näher auf die Einzelheiten eingeht. Dies ist einer der Gründe, weshalb im folgenden trotz der erstrebten Beschränkung auf das N otwendigste manche Details mit einer gewissen Ausführlichkeit behandelt werden mußten.

Grundlegung

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Die Bedeutung der materiellen Wahrheit für das Prozeßverfahren Ausklammerung der erkenntnistheoretischen Bedenken. Der Prozeß ist auf die Erlangung der ganzen Wahrheit abgestellt. Dabei braucht auf die von den Philosophen diskutierte Fvage, ob der Mensch zur Erkenntnis der vollen Wirklichkeit imstande ist oder ob ihm nur Gleichnisse erreichbar sind, nicht näher eingegangen zu werden. Man hat mit Unrecht versucht, diese Kontroverse aus dem Gebiet der theoretischen Philosophie in das der prozessualen Tatsachenforschung zu übertragen. Die Ermittlung des Sachverhalts im Prozeß hat - darüber sollte es eigentlich keine Meinungsverschiedenheit geben- in jedem Fall davon auszugehen, daß es grundsätzlich möglich ist, die Wahrheit zu erfassen; für den Bereich der juristischen Praxis ist diese Ansicht die allein zutreffende. Ludwig Bendix (ehemals Rechtsanwalt ·in Berlin) hat sich freilich seinerzeit mit Nachdruck dagegen gewandt, daß die Frage, ob die materielle Wahrheit im Prozeß erreichbar sei, vom Gesetzgeber und von der Rechtsprechung gar nicht gestellt, sondern von vornherein bejahend entschieden werde; er verneinte sie und lehrte, daß die prozessuale Tatsachenforschung nicht die materielle Wahrheit zum Ziel habe 9 • Bendix ist jedoch mit seiner Ansicht verdientermaßen auf allgemeine Ablehnung gestoßen. Wenn man auf diese Weise den prozessualen Wahrheitsforscher mit rein akademischen Zweifeln belasten wollte, würde sein Aufklärungswille ganz ohne Notwendigkeit gelähmt und sein Unternehmungsgeist, den er für die berufliche Arbeit unbedingt benötigt, entscheidend geschwächt werden 10 •

Verstärktes Streben nach Erfassung der ganzen Wahrheit. Die prozessuale Tatsachenforschung ist während der letzten Jahrzehnte bemerkenswerten Veränderungen unterworfen g,ewesen. Lange Zeit schien es so, als wenn ihre gedanklichen Grundlagen ein für allemal unverrückbar feststünden. Doch hat sich gezeigt, daß sie ebenso wie das sonstige Prozeßdenken mit der allgemeinen sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung eng vevbunden sind. Die 'I1atsachenforschung war daher auch dem großen Umfovmungsprozeß unterworfen, der in den letzten fünfzig Jahren unser gesamtes Leben evgriffen hat. Eins seiner aufJW 1920 S. 268. Das ist einer der Gründe, weshalb man in den Oststaaten auch erkenntnistheoretisch meist zu dem Ergebnis kommt, daß dem menschlichen Geist die Ergrundung tatsächlicher Zusammenhänge grundsätzlich möglich sei; im einzelnen dazu Adam Schaff, Zu einigen Fragen der marxistischen Theorie der Wahrheit (deutsch Berlin 1954). 9

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Die Bedeutung der materiellen Wahrheit für das Prozeßverfahren

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fallendsten Merkmale ist die verstärkte Tendenz zu genauer Erfassung der Wirklichkeit. Immer mehr hat die Einsicht um sich gegriffen, daß mit den von alters her überkommenen Ermittlungsmethoden oft nur halbe Arbeit getan werden konnte. Man empfindet heute in den meisten Ländern mehr oder minder formale Tatbestandsfeststellungen nicht nur im Strafprozeß, sondern auch in den anderen Verfahrensarten als ungenügend. Die Erlangung der m a t er i e 11 e n Wahrheit erscheint so wichtig, daß sie (wenn auch oft unbewußt) den Hauptgesichtspunkt für die Lösung der mit der Tatsachenermittlung zusammenhängenden Probleme abgibt. Es wird jetzt in stärkerem Maße als noch vor wenigen Jahrzehnten erwartet, daß die Wahrheitsforschung von allen zulässigen Mitteln Gebrauch macht, die irgendwie zur Aufklärung dienlich sein können. Man ist gegenüber bloßen Scheinfeststellungen, die vor noch nicht allzulanger Zeit unbeanstandet hingenommen wo11den wären, allgemein skeptisch geworden. Es ist bezeichnend, daß nicht nur dem beruflichen Wahrheitsforscher, sondern auch dem Laien eine bloß formale Tatbestandsfeststellung höchst unbefriedigend erscheint. Im Grunde verlangt heute die öffentliche Meinung in allen Ländern eine Aufklärung des Sachverhalts, die nicht an äußerlichen Merkmalen haftet; sie erwartet ein Ergebnis, das zur unmittelbaren Wirklichkeit hindurchdringt. Gewiß war die materielle Wahrheit auch früher schon das erstrebte Ziel. Kein Zeitalter und kein Prozeßsystem kann es sich ungestraft leisten, sie grundlegend zu v·ernachlässigen. Es wäre deshalb unrecht, wenn man die Verdienste früherer Genevationen auf diesem Geb.iet gering schätzen wollte 11 • Gleichwohl hat die neuzeitliche Entwicklung zu einer Intensivierung der Wahrheitsforschung geführt, wie man sie früher nicht kannte. Der gleiche Grundzug ist übrigens nicht nur -in der Jurisprudenz zu bemerken, sondern auch in anderen Zweigen der Wissenschaft spürbar, wie überhaupt die Sachverhaltsforschung kein speziell j·uristisches, sondern ein allgemeines Problem darstellt, das mit gewissen Abwandlungen in gleicher Weise auch vom Arzt, vom Soziologen, vom Geschichtsforscher und vom Ingenieur zu bewältigen ist.

Gründe für diese Tendenz. Das gesteigerte Verlangen nach engstem Anschluß an die Wirklichkeit darf nicht lediglich auf Zweckmäßigkeitserwägungen zurückgeführt werden. Seine Breitenwirkung und die elementare Kraft, mit der die entgegenstehenden Bedenken zum Schweigen gebracht werden, zeigt bereits, daß es sich um eine in tieferen Schichten unseres Wesens verwurzelte Geistesregung handelt. 11 Aus dem älteren Schrifttum verdienen namentlich die mehrfach angeführten Werke von Tevenar, GZobig, Kitka, Jagemann Anerkennung und Bewunderung.

Grundlegung

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Die Wahrheitsforschung ist infoLgedessen in einer Umwälzungbegriffen, die als epochemachend im eigentlichen Sinne des Wortes ,bezeichnet werden kann. Vor allem für die kontinentale Jurispvudenz hat in diesem Bereich eine neue Entwicklungsphase begonnen, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Die tieferen Ursachen dafür lassen sich nicht mit wenigen Worten umreißen. Sie liegen nicht zuletzt in wichtigen inneren Wandlungen, die gegenwärtig fast alle Länder (wenn auch mit beträchtlichen Grad unterschieden) durchmachen.

Abbau prozessuaLer Schranken für die Wahrheitsfindung. 1. Die allgemeine Neigung, die Sachaufklärung möglichst von formalen Beschränkungen zu befreien, kommt in dem Bestrehen zum Ausdruck, Prozeßvorschriften, die der Wahrheitsforschung hindernd im Wege stehen, schrittweise zu beseitigen. Mitunter hat dabei der Gesetzgeber selbst mitgewirkt wie in Sowjetrußland und anderen östlichen Staaten, wo zahlreiche Aussageverweigerungsrechte, die das frühere Prozeßrecht gewährt hatte, durch Gesetzesänderung abgeschafft worden sind. 2. Meist vollzieht sich dagegen der Umschwung ohne gesetzgeberische Eingriffe und auch ohne organisatorische Maßnahmen der Justizverwaltung allein durch die Gerichtspraxis. Die Gerichte sind vielfach dazu übergegangen, Rechtsnormen, die als eine ungerechtfertigte Behinderung der Sachverhaltsfeststellung empfunden wurden, durch einengende Interpretation auszulaugen oder sie, soweit das nicht angängig erschien, in anderer Weise zu entschärfen. Sie setzen auf diesem Wege die Erneuerung zum großen Teil von sich aus durch. So hat die deutsche Rechtsprechung zwar die gesetzlich normierten Zeugnisverweigerungsrechte als solche respektiert; sie läßt es aber, wenn der Zeuge bercits vernommen worden war und erst nachträglich von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte, im Interesse der Wahrheitsfindung vielfach zu, daß nunmehr der Vernehmungsbeamte über den Inhalt dieser Aussage gehört wird. Ob das zu billigen ist, soll hier nicht erörtert, sondern lediglich das Vorhandensein dieser Judikatur konstatiert werden12 • 3. Auf der gleichen Linie liegt es, wenn die Rechtsprechung in Frankreich den dort für den Zivilprozeß gesetzlich angeordneten Ausschluß bestimmter verdächtiger Zeugenkategorien in gewisser Weise gemildert hat. Dabei war die eigentlich treibende Kraft wohl ebenfalls das gesteigerte Verlangen nach Erfassung der unverfälschten Wahrheit verbunden mit der begründeten Zuversicht, daß auch Aussagen fragwürdiger Zeugen mit Hilfe verfeinerter Erforschungsmethoden für die Sachaufklärung mit Nutzen verwendet werden können. 12

BGH NJW 1952 S. 356; über ältere Gerichtsurteile zu dieser Frage A.

Hegler: Rechtsgang Jg. 1916 S. 338 ff.

Die Bedeutung der materiellen Wahrheit :für das Prozeßver:fahren

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Alle diese Ausflüsse eines gesteigerten Wahrheitsstrebens stehen untereinander in einem sinnvollen Zusammenhang. Sie verdanken ihr Dasein nicht etwa dem Zufall, sondern unterliegen einer in der Entwicklung begründeten inneren Notwendigkeit. Wahrheitsforschung im Zivilprozeß. 1. Die genannten Tendenzen sind nicht

nur im Strafprozeß, sondern ebenso in den anderen Verfahrensarten zu bemerken, selbst in den nicht vom Prinzip der Amtsermittlung beherrschten Bereichen des Zivilprozesses. Dort ist der Richter von jeher durch Mitwirkungsrechte der Parteien in der Sachaufklärung behindert gewesen. Die Macht, welche die Parteien über den Prozeßstoff und über die wichtigsten Beweismittel ausüben können, setzt seinem Bemühen um die Ermittlung der vollen Wahrheit Grenzen. Bezeichnenderweise waren es in der Vergangenheit aber nicht nur die gesetzlich festgelegten Beschränkungen, die den Richter zur Passivität veranlaßten. Vielmehr griff der Geist amtlicher Gleichgültigkeit in Bezug auf die Klarstellung der Wahrheit auch dorthin über, wo das Gesetz keine Schranken aufgerichtet hatte. Der Richter machte infolgedessen häufig auch von den vorhandenen Aufklärungsmöglichkeiten keinen durchgreifenden Gebrauch. Heute ist dagegen selbst in Ländern, in denen der Gesetzgeber die Parteiherrschaft während der letzten Jahrzehnte in keiner Weise eingeschränkt hat, die richterliche Aktivität im Zivilprozeß - im ganzen gesehen - größer geworden. Der Richter hat sich in mancher Hinsicht aus der :früheren Enge befreit, die ihn allzuoft zwang, auf halbem Wege stehenzubleiben. Er ist in der Gegenwart mehr als ehedem darauf bedacht, von sich aus auf Klarstellung der unverfälschten Wahrheit hinzuwirken. Er fühlt sich auch mehr als früher verpflichtet, das Zustandekommen eines Non liquet, d. h. der Feststellung, daß der Sachverhalt sich nicht hat klären lassen, zu vermeiden. 2. In Zivilsachen ist die richterliche Neigung zu intensiver Wahrheitsforschung freilich meist eine geringere als bei Verfahren, in denen der Richter von Amts wegen den Sachverhalt zu ermitteln hat. In dieser Hinsicht wird voraussichtlich auch in Zukunft keine radikale Änderung eintreten. Gleichwohl ist die Tendenz zu einer vorwiegend formalen Wahrheitsfindung hier ebenfalls im Zurückweichen. Die früher lange Zeit als klassisch empfundene Formulierung, daß die materielle Wahrheit nicht das Ziel des Zivilprozesses, sondern ihr mehr oder minder zufälliges Ergebnis seP 3 , wird heute wohl nur noch bei wenigen Juristen uneingeschränkte Zustimmung finden. 3. Am konsequentesten ist der Übergang zu einer aktiven Grundhaltung des Richters im sowjetischen Zivilprozeß und in anderen Ostblockstaaten vollzogen worden, wo man die Parteiherrschaft als solche, wenigstens in der herkömmlichen Form, für sinnwidrig hielt und die sich aus ihr ergebenden Einschränkungen der richterlichen Forschungsfreiheit weitgehend als unangemessen ansah. Aber auch in den meisten westlichen Ländern ist eine gewisse Neigung zur einengenden Auslegung der den Parteien zustehenden Einflußrechte unverkennbar14, so in Frankreich, Italien und- wenngleich mit einem beträchtlichen Abstand - selbst in Spanien und Südamerika, wo die Disposi13 So Adolf Wach, Vorträge über die Reichs-Civilprozeßordnung (1896) S.199. 14 Bernhardt: Festschrift für Leo Rosenberg (1949) S. 13 ff., 48 ff.; für Frankreich ist vor allem auf Raymond Legais, Les regles de preuve en droit civile (Paris 1955) hinzuweisen.

Grundlegung

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tion der Parteien über den Prozeßstoff und die Beweismittel meist noch sehr genau genommen wird. 4. Die anglo-amerikanische Jurisprudenz hält im allgemeinen mit großer Folgerichtigkeit daran fest, daß es nicht der Hauptzweck des Zivilprozesses sei, die materielle Wahrheit zutage zu fördern. Aber es wird gleichwohl intensiv an der Ausnutzung aller Beweismöglichkeiten gearbeitet. Trotz großer Anhänglichkeit an von alters her bewährte Grundsätze geht in England und den USA die Bemühung dahin, die strengen Beweisregeln fortlaufend zu überprüfen und sie ohne Preisgabe der in ihnen enthaltenen unvergänglichen Werte so zu modifizieren, daß die Wahrheit möglichst vollständig entdeckt werden kann 15 • Dadurch vollzieht sich auf der Grundlage des Parteiprozesses, der nach wie vor als die wichtigste Garantie einer gründlichen Sachaufklärung angesehen wird, eine wenig auffällige, aber doch sehr bedeutungsvolle Erneuerung mit dem Ziel einer immer größeren Annäherung der Tatsachenfeststellung an die ungeschminkte, durch keinerlei Schein entstellte Wirklichkeit.

Neigung zu kritischer Betrachtung. Je unabweisbarer das Verlangen ist, den Vorgang ganz und gar zu durchschauen, desto mehr fühlt sich der Wahrheitsforscher auch zu eindringender Würdigung der Beweisergebnisse verpflichtet. Das zeigt sich in den westlichen Ländern nicht weniger als in den Ostblockstaaten, wo die Pflicht zu streng kritischer Beurteilung meist durch Hinweise auf den dialektischen Materialismus weltanschaulich begründet wird 16 • Der Wahrheitsforscher ist heute z. B. oft viel weniger als früher geneigt, einem Zeugen auf seinen Eid hin ohne weiteres zu glauben. In gleicher Weise folgt er dem Sachverständigen mit Vorbehalten und Zweifeln auch auf entlegene Gebiete, selbst wenn seine Urteilsbildung dort beträchtlich erschwert ist (S. 262 ff.). Ständige Vervollkommnung der Erforschungsmethoden. Der lebhafte Wunsch, zur objektiven Wahrheit vorzustoßen, hat sich auch als starker Ansporn zur Verbesserung der Erforschungsmittel erwiesen. Der feste Vorsatz, von einer bloßen Oberflächenbetrachtung loszukommen, hat zur Entwicklung neuer Ermittlungsmethoden geführt, die auch dort Erfolg versprechen, wo früher jede Aussicht auf ein positives Ergebnis aufgegeben werden mußte. Man hat vor allem gelernt, durch Eingehen auf die besondere Gestaltung des Falles auch das IndividueHe, das scheinbar Singuläre für die Sachaufklärung nutzbar zu machen. Selbst geringfügige, auf den ersten Blick ganz nebensächlich anmutende Momente werden der Tatsachenfeststellung dienstbar gemacht. Dadurch haben die "Umstände" des Falles eine viel größere Bedeutung erhalten. Sie sagen dem modernen Wahrheitsforschermehr als den früheren Juristengenerationen. Oft erscheint G. Williams, The Proof of guilt (London 1955) S. 162 ff. Wyschinski, Theorie der gerichtlichen Beweise S. 195 (trotz vieler zeitbedingter Mängel z. B. im Geständnisrecht ist das Buch immer noch wichtig). 15

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Die Bedeutung der materiellen Wahrheit für das Prozeßverfahren

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ihm nicht nur die eine oder die andere Einzelheit aufschlußreich, sondern er benutzt vielfach den ganzen Kranz von Begleitmomenten, der den eigentlichen Tatsachenkern umgibt, zu Beweiszwecken. Der Kreis der zur Aufklärung heranzuziehenden Tatsachen hat sich dadurch erweitert, daß man neben den im Gesetz normierten juristischen Merkmalen mehr als früher auch die mit dem Vorfall zusammenhängenden wirtschaftlichen und sozialen Details für die Erkenntnis der Wirklichkeit nutzbar macht. Der Bearbeiter hat infolgedessen sowohl im Straf- als auch im Zivilprozeß mehr als ehedem die Hintergründe zu erforschen 17 • Durch die Kenntnis vom soziol01gischen Gefüge, in das ·der Vorgang eingebettet ist, erlangt er eine lebendigere und qualitativ überlegene Anschauung von der Sache; er schafft so die Voraussetzungen für eine Vorstellung vom Tatbestand, die besser gegen Irrtum und Entstellung gesichert ist als eine im Abstrakten verharrende Auffassung. Die Naturwissenschaften und die Psychologie haben zudem durch moderne Forschungen der Justiz zahlreiche neue Ermittlungsmethoden zur Verfügung gestellt, deren sich der Wahrheitsforscher mit Aussicht auf Erfolg bedienen kann. Die Naturwissenschaft ermöglicht durch verfeinerte Untersuchungsverfahren in zunehmendem Maße eine Sachklärung mit Hilfe technischer Indizien. Die Blutgruppenlehre stellt ·ebenso wie die erbbiologische Vergleichung von Körpermerkmalen ein ganzes System solcher Indizien dar, die in ihrer Gesamtheit oft sehr verläßliche Schlußfolgerungen gestatten. Die neuzeitlichen Methoden der Materialuntersuchung arbeiten mit immer größerer Präzision; sie erlauben weit besser als noch vor wenigen J·ahrzehnten den Nachweis von Giften im menschlichen Körper, die KLarstellung der Herkunft von Gegenständen, welche am Tatort gefunden wurden usw. 18 Selbst technische Handhaben zur Sachverhaltsaufklärung, die in ihrem Wert zur Zeit noch stark umstritten sind, wie die Tonbandaufnahme, der Lügendetektor und die Narkoanalyse eröffnen zum mindesten eine gewisse Aussicht, daß sich aus ihnen später einmal Behelfe werden entwickeln lassen, die verläßliche Anhaltspunkte für die Wahrheitstindung zu liefern vermögen. Für die Erforschung seelischer Vorgänge hat die Fachpsychologie dem Beamten neue wichUge Hilfsmittel in d}e Hand gegeben. Die psychologische Erprobung vermag oft bei der Durchleuchtung verworrener Fälle 17 Für den Zivilprozeß: Osterrieth im Archiv f. zivilistische Praxis Bd. 152 (1952) s. 541. 18 Bei K. S. Bader, Technik und Kriminalität (Festschrift zum Zentenarium des Schweizerischen Juristenvereins, Zürich 1961, S. 247 ff.) werden diese neuzeitlichen Tendenzen in einem größeren Zusammenhang eingehend gewürdigt.

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beste Dienste zu leisten. Sie kann durch Berücksichtigung der allgemeinen psychischen Gegebenheiten und der persönlichen Eigenart der Beteiligten auch in anscheinend hoffnungslosen Situationen zur Klarstellung führen. Mitunter erschließt sie wie durch ein "Sesam öffne dich" neue Zugänge zu Bereichen, die bis dahin der Aufklärung verschlossen blieben. Diese auf den Einzelfall abgestellte Arbeitsweise, die oftmals bessere Erfolgsaussichten gewährt, wird wahrscheinlich in Zukunft noch weiter an Boden gewinnen, obgleich sie dem Wahrheitsforscher mehr Mühe macht als die althergebrachten Verfahren. Bezeichnenderweise wird diese zusätzliche Arbeitsbelastung ohne weiteres .in Kauf genommen, eben weil man die frühere, stark vereinfachende Arbeitsweise allgemein als unbefriedigend empfindet. Wer erst einmal zu den neuen Methoden der psychologischen Erforschung eine nähere Beziehung gewonnen hat, wird vielleicht zeitweise unter dem Druck großer Arbeitsüberbürdung auf ihre Anwendung verzichten, aber bei nächster Gelegenheit wieder auf sie zurückgreifen. Auch die Prozeßpartei pflegt (selbst dort, wo die psychologische Erprobung sich zu ihrem Nachteil auswirkt) keine grundsätzlichen Einwendungen gegen sie zu erheben, sondern sich lediglich gegen die vom Untersuchungsleiter daraus gezogenen Schlußfolgerungen und allenfalls gegen etwaige Unkorrektheiten bei seinem Vorgehen zu wehren. So durchzieht das leidenschaftliche Streben nach Erfassung der reinen Wahrheit wie ein roter Faden die gesamten Beweisbemühungen. Dem hat auch die Rechtslehre bei der Erarbeitung allgemeiner Grundsätze Rechnung zu tragen.

Die Tatsachenfeststellung als Teil der Rechtsfindung Zweck der Beweisbemühungen. Die Beweistätigkeit soll klarstellen, ob ein bestimmter Vorg,ang (oder Zustand) sich überhaupt bzw. ob er sich in einer bestimmten Form verwirklicht hat. Mit Hilfe der Beweisaufnahme versucht der Wahrheitsforscher sich ein richtiges Urteil über den Sachverhalt zu bilden. Besitzt er für den gegebenen Fall darüber auf Grund von Vermutungen bereits eine vorläufige Meinung, so will er ergründen, ob diese zutreffend ist 19 • Man kann das - speziell auf ·die Überzeugungsbildung abgestellt auch so ausdrücken: Der Beurteiler will klären, ob hinreichende Anhaltspunkte für die Wahrannahme bestimmter Tatumstände vorhanden 18 Fr. Stein drückt sich erkenntnistheoretisch korrekter dahin aus, der Beweis solle dem Richter eine zutreffende Vorstellung von der Wahrheit des Tatsachenurteils verschaffen (Grundriß des Zivilprozeßrechts S. 255).

Die Tatsachenfeststellung als Teil der Rechtsfindung

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sind und ob er sich demgemäß von ihrer Realität überzeugt halten darf 20 • Es soll durch das Beweisverfahren eine sichere, auch für Dritte verbindliche Auffassung vom Sachverhalt geschaffen oder klargestellt werden, daß eine solche nicht erreichbar ist. Dies gilt in gleicher Weise für das Strafverfahren wie für den Zivilprozeß, den Verwaltungsrechtsstreit und die sonstigen Prozeßarten.

Der Gegenstand der Beweisarbeit 1. Die Beweisbemühungen richten sich in der Regel auf Tatsachen; und zwar entweder auf Tatsachen, von deren Vorhandensein der Gesetzgeber den Eintritt einer Rechtsfolge abhängig gemacht hat oder auf Tatumstände, die zwar nicht zu einem gesetzlich normierten Tatbestand gehören, von denen aber mit Hilfe der Lebenserfahrung auf das Vorliegen von Fakten geschlossen werden kann, die ihrerseits ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal bilden (Indizien). Eine besondere Gruppe solcher lediglich mittelbar erheblicher (indizieller) Tatumstände sind die, welche einen Schluß auf die Glaubwürdigkeit eines Zeugen oder die Verläßlichkeit einer urkundlichen Mitteilung zulassen. 2. Bisweilen können auch Erfahrungssätze Gegenstand des Beweises sein, nämlich wenn diese sich auf Bereiche beziehen, bezüglich deren der Beurteiler (Gericht, Ermittlungsbehörde) kein sicheres Wissen besitzt. Er hat dann die Möglichkeit, sich die ihm fehlende Kenntnis durch Heranziehung eines Sachverständigen zu verschaffen. Aber auch in diesen Fällen ist es im Grunde eine Tatsache, die bewiesen werden soll, nämlich die Existenz des Erfahrungssatzes in einer bestimmten Gestalt. Zu beweisen ist, daß hinreichende tatsächliche Unterlagen für die Annahme der fraglichen Erfahrungsregel vorhanden sind. 3. Auch in den wenigen Fällen, wo ausländische Rechtssätze, die das Gericht nicht kennt, durch Beweisaufnahme festgestellt werden sollen, wird die Tatsache ihrer Geltung in einem gewissen Land und zu einer bestimmten Zeit außer Zweifel gesetzt.

Zusammenhang zwischen Beweistätigkeit und juristischer E1·wägung. Die prozessuale Beweisarbeit soll die Tatsachenunterlage schaffen, mit deren Hilfe die Rechtsfrage richtig entschieden werden kann. Sie darf sich deshalb nur auf Tatumstände erstrecken, die für die zu treffende Entscheidung unmittelbar oder mittelbar von Bedeutung sind. Soweit die Beweiserhebung sich auf einen Umstand richtet, der u n m i t t e 1b a r erheblich erscheint, empfängt sie ihre Legitimation durch das Gesetz bzw., wo eine gesetzliche Regel fehlt, durch Rechtslehre, Recht20 Eine Analyse der mit der Feststellung des Sachverhalts verbundenen Denkvorgänge geben Engisch S. 37 ff., Bohne S. 8 ff., S. 50 ff. und vor allem Scheuerle, Rechtsanwendung S. 63 ff.; aus dem älteren Schrifttum sind besonders zu nennen: Glaser, Beiträge S. 34 ff. und Mezger, Der psychiatrische Sachverständige S. 35 ff.

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sprechung oder stichhaltige eigene Erwägungen des Beurteilers. Soweit die Beweisforschung sich auf mit t e 1 b a r erhebliche Tatsachen bezieht, wird sie dadurch gerechtfertigt, daß diese einen notwendigen Bestandteil des Indizienschlusses bilden, mit dessen Hilfe der Sachverhalt erforscht werden soll. Die Tatsachenfeststellung ist mit der rechtlichen Erwägung eng verbunden. Die letztere muß daher, wenn sie auch nicht das eigentliche Thema dieses Lehrbuchs bildet, in die Betrachtung miteinbezogen werden. Vor allem kommt es darauf an, däe ständige Wechselwirkung zwischen der Bemühung um den Sachverhalt und der Arbeit im Rechtspunkt sichtbar zu machen. Die Beweiserhebung liefert das Tatsachenmaterial, an dem sich die rechtliche Beurteilung vollzieht, und beeinflußt dadurch das Prozeßergebnis. Sie bereitet die Rechtsfindung nicht lediglich vor, sondern bildet selbst bereits einen Teil des Rechtsfindungsvorgangs! 1•

Zeitliches Verhältnis zwischen Tatsachenermittlung und rechtlicher Durchdenkung. 1. Der Wahrheitsforscher ist mithin bei seiner Arbeit weitgehend von vorausgegangenen rechtlichen Überlegungen abhängig. Wenn er ohne die festen Maßstäbe, welche eine Durchdenkung der Rechtsfrage liefert, sozusagen ins Blaue hinein ermittelt, in der Hoffnung, daß sich dabei die rechtlichen Gesichtspunkte schon von selbst finden werden, dann verkennt er seine Aufgabe und läuft Gefahr, die Richtung zu verfehlen. 2. Andererseits ist, wie jeder Praktiker weiß, in den frühen Stadien des Y.erfahrens bisweilen eine völlige Klärung aller Rechtsfragen nicht zu erreichen. Der Bearbeiter muß sich dann mitunter notgedrungen fürs erste mit Teilergebnissen begnügen; er kann es in solchen Fällen vorerst dabei bewenden lassen, daß wenigstens die Rechtserheblichkeit der Tatumstände hinreichend klargestellt ist, über die gerade Beweis erhoben werden soll. Die rechtliche Überlegung läßt sich also nicht schlechthin in den Verfahrensabschnitt vor Beginn der Beweisaufnahme verweisen. Sie geht vielmehr teils dem Anfang der Ermittlungen voraus, teils läuft sie neben ihnen her, teils wird sie noch nach Beendigung der Beweisaufnahme bis zum A!bschluß des jeweiligen Verfahrensabschnitts (d. h. bis zum Schlußbericht des Polizeibeamten, bis zur Anklageerhebung durch den Staatsanwalt bzw. bis zur Urteilsverkündung durch den Richter) fortgesetzt. 3. Manchmal sind anfangs mehrere rechtliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen, weil sich keiner von ihnen als nicht in Betracht kommend auszt W. Burckhardt, Die Organisation der Rechtsgemeinschaft (1927) S. 257; Scheuerle, Rechtsanwendung S. 23 ff.

Phasen des Beweisvorgangs

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schließen läßt. Wenn - wie ·es sich oftmals trifft - zugleich auch der Sachverhalt noch weitgehend der Klärung bedarf, dann hat der Beamte mehrere Versionen vom Hergang der Sache zu verschiedenen, in Betracht kommenden Rechtsnormen in Beziehung zu setzen. Er ist in solchen Fällen unter Umständen genötigt, ständig den Blick von dem in Erwägung gezogenen Rechtssatz zum Tatsachenmaterial und von diesem wieder zum Rechtssatz zu wenden, um zu ergründen, ob beide zur Deckung gebracht werden können. 4. Dieses gleichzeitige Arbeiten in zwei verschiedenen Denkebenen (nämlich in der Sphäre des Seins und in der des Sollens) darf nicht als ein Umstand betrachtet werden, der die theoretische Klarheit beeinträchtigt und die Handhabung der begrifflichen Kategorien erschwert. Man sollte es vielmehr als zur Sache gehörig und als ein Charakteristikum des Rechtsfindungsvorgangs ansehen und bei der wissenschaftlichen Darstellung gebührend berücksichtigen. 5. Auch dort, wo über die Rechtsfmge von Anfang an Klarheit zu herrschen scheint, muß die ursprüngliche Überlegung, welchen Tatsachen Rechtserheblichkeit zukommt, immer wieder neu überprüft werden. Oft zwingt das während der Ermittlungen hinzukommende Material zu einer Revision der bisherigen rechtlichen Erwägungen, weil nunmehr die Unterordnung des Sachverhalts unter Rechtsregeln ermöglicht wird, deren Anwendbarkeit zunächst nicht in Betracht gezogen worden war.

Phasen des Beweisvorgangs 1. Aufgabe der Beweissammlung. Überall, wo ein für die Entscheidung wesentlicher Tatumstand außer Zweifel gesetzt werden soll, müssen die Beweise für diesen Punkt gesammelt und bewertet werden. Die Beweissammlung im weitesten Sinn umfaßt alle Maßnahmen, die erforderlich sind, um Beweismittel herbeizuschaffen und für das Verfahren nutzbar zu machen. Dazu gehört nicht nur die Ermittlung von Zeugen und das Aufspüren von einschlägigem Urkundenmaterial, sondern auch die Spurensuche am Tatort; ferner die während der Beweisaufnahme vor sich gehende Fahndung nach sachlichen Indizien sowie das Forschen nach Anzeichen für die Glaubwürdigkeit der vernommenen Aussagepersonen und für die Verläßlichkeit der herbeigeschafften Schriftstücke.

Die Beweissammlung hat also einen größeren Umfang, als man meist anzunehmen geneigt ist. Sie umfaßt letzten Endes auch das Einbringen von Beweisanzeichen, die aus dem prozessualen Verhalten der Parteien zu entnehmen sind, ferner das Erkunden der Atmosphäre, in welcher sich der Fall zugetragen hat, und vieles andere.

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Im Stadium der Beweissammlung sind schließlichdie Tatsachen herbeizuschaffen, die zwar als "allgemein bekannt" gelten können und daher keiner Klarstellung durch eine Beweisaufnahme bedürfen, aber dem Beurteiler keineswegs immer sogleich zur Verfügung stehen, sondern oft erst durch Einsehen von Karten oder Kursbüchern, durch Nachschlagen wissenschaftlicher Werke usw. ermittelt werden müssen. Auch die zur Klärung des Falles erforderlichen Erfahrungssätze sind häufig nicht sogleich zur Hand, sondern müssen (soweit nicht etwa ein herbeigezogener Sachverständiger sie einbringt) vom Beurteiler durch denkende Betrachtung eigens erarbeitet werden. Durch die Beweiswürdigung soll klargestellt werden, inwiefern einzelne Beweiselemente (Zeugenaussagen, Urkunden, Indizien) verläßlich erscheinen. Der Beurteiler will ergründen, ob sie eine hinreichende Basis zur Feststellung der Tatsachen, die das eigentliche Wissensziel bilden, abgeben. Dabei handelt es sich fast immer um eine Beweismittelwürdigung, d. h. um die Erwägung, ob eine Urkunde echt ist und ihr Inhalt zutrifft, ob der Zeuge den Hergang richhg dargestellt hat, ob die vorgelegte Photographie die wesentlichen Momente getreu wiedergibt usw. 22 2. Zeitliche Aufeinanderfolge von Beweissammlung und Beweiswürdigung. Früher neigte man teilweise zu der Auffassung, daß die An-

fangsstadien des Prozesses der Beweissammlung vorbehalten seien und daß erst in den späteren Verfahrensabschnitten die Beweiswürdigung hinzukomme. Das würde in der Tat eine reinliche Scheidung beider Bereiche auch in der systematischen Darstellung möglich machen; aber das Leben tut uns nicht den Gefallen, die wissenschaftLiche Erörterung in dieser Weise zu erleichtern. Wenn auch die Heranschaffung des Materials zunächst meist im Vordergrund stehen wird, muß doch die Bewertung gleich von Anfang an mit betrieben wevden 23 • Beweissammlung und Beweiswürdigung treten regelmäßig schon in den frühen Stadien der Ermittlung gemeinsam auf; dem hat sich der systematische Aufbau anzupassen. Schon in den Überlegungen, die der Ladung eines Zeugen oder Sachverständigen vorausgehen, sind oft gedankliche Elemente enthalten, die eine Art vorweggenommene Beweiswürdigung darstellen. Man prüft dabei: Welcher der Zeugen besitzt augenscheinlich die größte allgemeine Glaubwürdigkeit? Welcher von mehreren Sachverständigen wird nach seiner beruflichen Laufbahn und seiner speziellen Erfahrung am ehesten zu einer verläßlichen Bekundung in der Lage sein? 22 Beling, Reichsstrafprozeßrecht S. 291. !s Krönig, Die Kunst der Beweiserhebung S. 68.

Phasen des Beweisvorgangs

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In verstärktem Maße setzt die Würdigung ein, sobald die Beweisaufnahme selbst ihren Anfang nimmt. Bei der Zeugenvernehmung beginnt sie bereits mit dem ersten prüfenden Blick, mit dem der Beamte die Aussageperson umfaßt. Er macht dabei - vielleicht schon, bevor der Zeuge überhaupt ein Wort gesprochen hat- wichtige Wahrnehmungen, die von ihm instinktiv sogleich ausgewertet und für die Wahrheitstindung benutzt wel'den. Eben deshal:b können im folgenden Beweiserhebung und Beweiswürdigung nicht völlig voneinander gesondert werden. Vielmehr muß bei Besprechung der Beweiserhebung bereits so viel über die Bewertung der dabei zutage kommenden Einzelheiten gesagt werden, als zur Einführung in die sofort einsetzende vorläufige Beweiswürdigung erforderlich ist, während die Darlegungen zur endgültigen Beweiswürdigung in einem späteren Abschnitt (S. 429 ff.) nachfolgen. Nur eine Darstellungsweise, die so der ständigen gegenseitigen Durchdringung von Beweissammlung und Beweisbewertung Rechnung trägt, vermag dem Praktiker die Dinge in der Form nahezubringen, in der sie im beruflichen Alltag an -ihn herantreten. 3. Beweiswürdigung im Anfangsstadium. Die Notwendigkeit einer sofortigen Bewertung des Beweisstoffes ergibt sich nicht nur für den Richter, sondern für alle an der Wahrheitstindung Beteiligten. In Strafsachen muß schon der Polizeibeamte die Beweise würdigen, um die Ermittlungen zweckentsprechend lenken zu können. Wollte er davon zunächst absehen, so würde er den zahlreichen denkbaren Versionen ohne feste Richtpunkte gegenüberstehen. Nur die sofortige Beweiswürdigung ermöglicht ihm eine Entschließung darüber, ob hinreichender Beweis erbracht ist oder die Beweisanstrengungen weiter fortgesetzt werden müssen. Sie allein setzt ihn in den Stand, einen ordnungsmäßigen Schlußbericht abzufassen. Nur mit ihrer Hilfe ist auch der Staatsanwalt in der Lage, sich zu entschließen, ob Anklage erhoben oder das Verfahren mangels Beweises eingestellt werden soll. In gleicher Weise ist der Rechtsanwalt (sowohl in Straf- als auch in Zivilsachen) von Anfang an zur Beweisbewertung gezwungen. Er wird dabei entsprechend seiner Parteistellung vor allem die schwachen Seiten der vom Gegner beigebrachten Beweise hervorkehren, aber im Interesse seiner Partei auch die Glaubwürdigkeit der eigenen Zeugen gewissenhaft prüfen und die Konsequenzen daraus ziehen, wenn sie sich als unzuverlässig erwiesen haben. Je intensiver der Anwalt vorläufige Beweiswürdigung betreibt, desto sicherer vermag er zu erwägen, wie er sich weiterhin zu verhalten hat; das heißt: ob er abwarten kann oder ob er, um zum Erfolg zu kommen, seinen Sachvortrag ergänzen, neue Beweise anbieten oder zusätzliche Ausführungen zum Rechtspunkt machen muß. 2 oohrlna

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Diese Überlegungen sind von der Frage der Beweislast weitgehend unabhängig. Im Strafverfahren trifft den Beschuldigten keine Beweislast; aber gleichwohl muß auch er abwägende Betrachtungen zur Beweislage anstellen, um sich sinnvoll am Verfahren beteiligen und seinen Belangen entsprechend auf das Prozeßergebnis einwirken zu können. Auch im Zivilprozeß hat die nicht beweispflichtige Partei ein Interesse daran, alle Möglichkeiten auszunutzen, durch die sie das Verfahren zu ihren Gunsten beeinflussen kann. Sie ist hier, wo die Parteien den Prozeß in weitem Maß beherrschen, besonders darauf angewiesen, für sich selbst zu sorgen. Ganz und gar im Mittelpunkt der Überlegungen zur Tatfrage steht die Obacht auf den augenblicklichen Stand der Beweissituation, soweit die Tatsachenermittlung nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises (prima-fadeBeweis) zu erfolgen hat. In solchen Fällen bedarf es der konzentrierten Aufmerksamkeit aller Beteiligten, um rechtzeitig zu erkennen, welche Partei sich ohne Schaden für ihre Sache zuwartend verhalten kann und welche sich aktiv betätigen muß, wenn sie den Prozeßverlust vermeiden will. 4. Eigenart der vorläufigen Beweiswürdigung. Die Beweisbewertung hat in den Anfangsstadien meist eine gewisse Schwäche an sich. Das Beweismaterial ist oft noch so geringfügig, daß mit dem Hinzukommen von mancherlei neuen Gesichtspunkten und selbst mit regelrechten Überraschungen gerechnet werden muß. Das sind Unzulänglichkeiten, die sich auch durch angestrengte Bemühungen nicht ausgleichen lassen. Es wäre daher oft verkehrt, wenn man schon in den ersten V erfahrensabschnitten versuchen wollte, die endgültige Beweiswürdigung vorwegzunehmen. Der Beurteiler muß hier unter Umständen warten können. Durch Übung bekommt er sehr bald das richtige Empfinden dafür, ob es sinnvoll ist, schon von Anfang an eingehende Überlegungen zur Beweiswürdigung anzustellen oder ob allzu nachhaltige Versuche in dieser Hinsicht wegen Fehlens der entsprechenden Unterlagen zur Kraftvergeudung führen würden. 5. Notwendigkeit wiederholter Prüfung der Beweislage. Da das Prozeßgeschehen, solange das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist, einem dauernden Wechsel unterliegt, ist es Pflicht des Bearbeiters, die Beweislage immer wieder neu zu durchdenken. Dadurch, daß noch weiterer Tatsachenstoff hinzukommt, ändert sich fortlaufend auch das Gesamtbild. Der Beurteiler muß daher die vorläufige Beweiswürdigung ständig wiederholen; und zwar nicht nur, wenn neue Zeugenaussagen oder neue Urkunden auszuwerten sind, sondern auch, wenn der persönliche Eindruck der Partei in bestimmter Richtung vervollständigt wird, wenn sich aus ihrem Prozeßverhalten weitere Beweismomente ergeben und nicht zuletzt, wenn die Beweislage ohne Hinzutreten neuer Wahrnehmungen durch eine rein geistige Leistung des Bearbeiters ein neues Aussehen erhält; dahin kann es vor allem kommen, wenn der Beurteiler auf Grund genauerer Überlegungen den (bisher verborgen gebliebenen)

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indiziellen Charakter eines bestimmten Umstands erkennt, oder wenn sich infolge einer neuartigen V·erbindung vel'schiedener Beweiselemente die Gesamtsituation verändert. Nur durch häufig wiederholte Zwischenbilanzen ist es dem Richter und dem Staatsanwalt, dem Polizeibeamten, dem Rechtsanwalt und der Prozeßpartei möglich, sich im Wege der vorläufigen Beweiswürdigung Gewißheit darüber zu verschaffen, wie der Prozeß zur Zeit steht, und danach zu taxieren, was nunmehr geschehen muß, um das Verfahren der Entscheidungsreife näherzubringen. Gerade diese aufmerksame Beobachtung des von Station zu Station fortschreitenden Prozeßgeschehens durch alle Beteiligten gibt der geistigen Täti:gkeit der bei der Rechtsfindung Mitwirkenden ·ihr eigentümliches Gepräge. Es ist das Verdienst von James Goldschmidt, daß er als erster den kühnen Versuch unternommen hat, dieser ständigen Fortentwicklung des Verfahrens auch in der Theorie Rechnung zu tragen; er hat sie geradezu zum Angelpunkt seiner Auffassung vom Verfahrensrecht gemache4. Goldschmidt faßt den Prozeß als eine Aufeinanderfolge von Rechtslagen (und nicht zuletzt auch von Beweislagen) auf, die er als bloße Durchgangspunkte charakterisiert; ihnen haftet etwas Unfertiges und Unselbständiges an. Sie erhalten für alle Beteiligten ihre eigentliche Bedeutung im Hinblick auf das Enderg·ebnis des Verfahrens, das durch sie vorbereitet wird. Darin liegt in der Tat etwas für die prozessuale Denkweise so Wesentliches, daß die Prozeßtheorie daran auf die Dauer nicht achtlos vorübergehen kann.

Beweismittel 1. ALlgemeine Übersicht. Als Beweismittel stehen zunächst die altbekannten, sozusagen klassischen Behelfe zur Verfügung, nämlich die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, die Parteibefragung, ferner die Verwertung von Urkunden, Augenschein und Indizien. Daneben gibt es jedoch noch mancherlei BeweismögHchkeiten, die vom Gesetzgeber nicht im einzelnen gel'egelt worden sind, wie z. B. die behördliche Auskunft und die Ermittlung des Sachverhaltes durch Demonstration, d. h. durch probeweise Wiederholung des zu klärenden Vorgangs (S. 322). Durch die rasche Entwicklung der Technik wel.'den ständig neue Beweismethoden geschaffen, von denen frühere Zeiten nichts gewußt haben (Photographien, Photokopien, Tonbandaufnahmen, Diagramme der verschiedensten Art usw.). ! 4 "Der Prozeß als Rechtslage" (1925) S. 146 ff., 227 ff., 255; seine Gedankengänge sind weiter ausgebaut worden von W. Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen (1950) und speziell für den Strafprozeß von Eb. Schmidt, Lehrkommentar I S. 41 ff.

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2. Personal- und Sachbeweis. Ein gewisser Überblick über alle diese Beweismittel läßt sich gewinnen, wenn man den Zeugen, den Sachverständigen und die Partei (bzw. 'ihre Bekundungen) unter dem Begriff des Personalbeweises zusammenfaßt und ihnen die übrigen Beweisbehelfe ·als Sachbeweis gegenüberstellt. Freilich wird durch diese Klassifizierung keine reinliche Scheidung erreicht. Es gibt vielmehr mancherlei Übergangsformen zwischen Personal- und Sachbeweis, welche die Abgrenzung erschweren. Trotzdem besitzt die Unterscheidung als solche einen gewissen Erkenntniswert, so daß ihre Berechtigung zu bejahen ist. Völlig befviedigende Einteilungen, die keinerlei Einwendungen ausgesetzt sind, lassen sich auf diesem Gebiet überhaupt kaum finden. Es ist daher schon ein bedeutender Fortschritt, wenn wenigstens für die Hauptfälle eine einigermaßen einleuchtende Klassifizierung erreicht wird 25 • 3. Direkter und indirekter Beweis. Nach der herrschenden Ansicht ist der Personalbeweis als direkter, der Indizienbeweis dagegen als indirekter Beweis anzusehen. Gerraugenommen stellen jedoch, worauf im Schrifttum schon mehrfach hingewiesen worden ist, die verschiedenen Arten des Personalbeweises ebenfalls nur einen indirekten Beweis dar 26 • Der Wahrheitsforscher wird, wenn er einen Zeugen vernimmt, keineswegs mit den Tatumständen selbst konfrontiert, sondern lediglich mit den Angaben einer Aussageperson über diese Umstände. Oft hat zudem der Zeuge seinerseits keineswegs eine unmittelbare, sondern nur eine abgeleitete Sachkunde, woraus sich ein weiteres Moment der Indirektheit ergibt. Aber auch wenn er den rechtserheblichen Vorgang selbst wahrgenommen, also z. B. mit eigenen Augen .gesehen hat, daß der Beschuldigte den A schlug, ist seine Bek!undung letzten Endes nur ein Indiz dafür, daß es sich in der Tat so verhielt. Im Grunde ist also auch der Personalbeweis nur eine indirekte Beweisart. Trotzdem erscheint die systematische Sonderstellung, die man ihm von jeher zugebilligt hat, gerechtfertigt. Er besitzt nun einmal so viele Eigentümlichkeiten, daß es angemessen ist, ihn für sich zu behandeln; freilich darf darüber die Einsicht in seinen lediglich indiziellen Charakter nicht verlorengehen. 4. Merkmale des Personalbeweises. Er ist dadurch gekennzeichnet, daß sich hier zwischen den Wahrheitsforscher undden Sachverhalt ein Mensch als Nachrichtenträger schiebt. Es schaltet sich eine individuelle Persönlichkeit mit dem von ihr geformten Bericht über den festzustellenden Vorgang als Medium ein. Sie bet·eiligt sich an der Wahrheitsfindung mit ihren charakterlichen und temper>amentsmäßigen Besonderheiten, 25

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Über die verschiedenen Einteilungsmöglichkeiten Engisch S. 62 fi. Glaser, Beiträge S. 142.

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die das von ihr entworfene Bild beeinflussen und möglicherweise verfälschen. Merkmal des Sachbeweises ist es dagegen, daß bei ihm diese Vermittlung durch einen menschlichen Nachrichtenträger wegfällt, daß also der Beurteiler die Beweiselemente ohne eine solche Mittlerschaft entgegennimmt, was für die Wahrheitsfindung große Vorzüge, aber unter Umständen auch manche Nachteile haben kann. Der Hergang der Beweiserhebung ist demgemäß beim Personalbeweis ein grundlegend ·anderer als beim Sachbeweis. Die Aussageperson, der sich der Vernehmende gegenüber sieht, kann durch Rückfragen und Vorhalte zur Erläuterung und gegebenenfalls zur Berichtigung ihrer Angaben veranlaßt werden, während bei den sachlichen Beweismitteln eine solche Möglichkeit nicht geg~ben ist. Aber auch der Hergang der Beweiswürdigung hat im Bereich des Personalbeweises ein besonderes Gepräge. Hier ist mit willkürlichen oder unwillkürlichen Falschaussagen zu rechnen, die der Vernehmende an Hand von Glaubwürdigkeitssymptomen entdecken und richtigstellen muß. Beim Sachbeweis braucht dagegen mit solchen Fehlleistungen nicht gerechnet zu werden; doch kommen dort wieder andere Fehler in Betracht, die mit den ihnen gemäßen besonderen Methoden aufgespürt und bereinigt werden müssen. 5. Praktische Bedeutung des Personalbeweises. Sie liegt darin, daß nur ein kleiner Teil der für die Rechtsfindung wesentlichen Tatumstände vom Wahrheitsforscher unmittelbar beobachtet werden kann. Da die sachlichen Beweismittel oft versagen, muß für die Tatsachenermittlung in vielen Fällen auf den Personalbeweis, insbesondere auf die Aussage von Zeugen, zurückgegriffen werden. Auch wo der Beweis in der Hauptsache durch Indizien im engeren Sinne erbracht wird, ist meist zur Vervollständigung des Tatsachenstoffs in irgendeiner Hinsicht die Heranziehung von Zeugen notwendig. Der Zeugenbeweis ist daher unentbehrlich. Wenn man auf ihn verzichten wollte, würde ein großer Teil der rechtserheblichen Umstände nicht aufzuklären sein27 • Die zu Anfang dieses Jahrhunderts von der Fachpsyr.hologie durchgeführten Studien über mögliche Fehlerquellen bei Zeugenaussagen haben die Brauchbarkeit des Personalbeweises für die Sachaufklärung nicht in Frage stellen können. Sie haben der Allgemeinheit zwar die zahlreichen Irrtumsmöglichkeiten vor Augen geführt, denen der Aussagende unterliegt. Aber andererseits sind durch diese Forschungen auch die Hilfsmittel zur Aufdeckung und Korrektur von Aussagemängeln Z1

Schindler: "Neue Justiz" Jg. 1955 S. 300.

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sehr vermehrt worden. So kann der P.ersonalbeweis, wenn man ihn entsprechend den modernen Erkenntnissen handhabt, für die Sachaufklärung auch heute im ganzen als höchst wertvoll angesehen werden. Daher geht die Tendenz in fast allen Ländern nicht etwa dahin, ihn einzuschränken oder gar abzuschaffen; vielmehr ist man bestrebt, den ihm innewohnenden Gefahren durch verbess·erte Vernehmungsmethoden und intensivere Beweiswürdigung zu begegnen. Das gilt nicht nur für den Straf-, sondern ebenso für den Zivilprozeß. Die Angaben des Beschuldigten sind für die Ermittlung des Sachve!1halts ebenfalls kaum zu entbehren. Sie stellen, obwohl der Beschuldigte nicht unter dem gleichen Zwang zur Wahrheit steht wie der Zeuge, doch unter Umständen ein wichtiges Beweiselement dar, und zwar nicht nur im Falle des Geständnisses, sondern auch sonst (S. 227). Sie gehören daher zusammen mit den Aussagen der Zeugen und Sachverständigen in die große Gruppe des Personalbeweises. Diese Auffassung hat sich in der Rechtslehre nach und nach durchgesetzt; sie kann heute als die herrschende bezeichnet wei'den28 • Auch im Zivilprozeß ist der hohe Wert, den die Angaben der Parteien für die Wahrheitsforschung haben können, in neuerer Zeit klar erkannt worden. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Parteivernehmung unter dem Schutz des Gesetzgebers und der Gerichte in den meisten Ländern zunehmende Bedeutung erlangt hat. Sie vermag bei Anwendung einer aufgeklärten, psychologischen Vernehmungsweise die Wahrheit oft auch dort an den Tag zu bringen, wo geistige Beweglichkeit und Verstellungskunst des Vernommenen die Aufklärung erschweren.

zs Beling S. 295; SauerS. 168, 172, 191; Rob. v. Hippet, Strafprozeß S. 417; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II. 659. Die sowjetische Strafprozeßordnung Art. 69 sieht die Angaben des Angeklagten ebenfalls als Beweismittel an.

Zweites Kapitel

Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis Vorfragen Wer vernimmt die Aussageperson? Für die Vernehmung (mag es sich dabei nun um die eines Zeugen, eines Gutachters oder einer Prozeßpartei handeln) lassen sich in weitem Maße gemeinsame Regeln aufstellen2. Sie gelten nicht nur für den Fall, daß der Ermittlungsbeamte oder der Richter die Befragung vornimmt. Vielmehr müssen die im folgenden gegebenen Richtlinien auch dort beachtet werden, wo - wie im angloamerikanischen Rechtskreis-die Anwälte die Vernehmung durchführen. In diesem Fall ergeben sich freilich noch weitere taktische Überlegungen, die teils mit der speziellen Form des Kreuzverhörs in den angelsächsischen Ländern 3 , teils damit zusammenhängen, daß der Anwalt als Parteivertreter genötigt ist, durch die Art der Befragung darauf hinzuwirken, daß die Zeugen seines Mandanten in den Augen der Jury als vertrauenswürdig und die der Gegenpartei als unzuverlässig erscheinen. Haupteigenschaften eines guten Vernehmungsleiters. Die vom Vernehmenden zu fordernde Grundhaltung wird meist dahin umschrieben, daß 1 Manche Materien, die an dieser Stelle vielleicht hätten erörtert werden können, müssen übergangen werden, weil sie von dem hier gewählten Blickpunkt aus zu sehr am Rande liegen. Dahin gehören vor allem Vorfragen, die lediglich das äußere Verfahren betreffen, wie die Ansetzung des Beweistermins, die Ladung der Auskunftsperson, die Zeugnisverweigerungsrechte usw. Wer den Umfang des behandelten Bereichs in Betracht zieht, wird verstehen, daß das Thema einengend aufgefaßt werden mußte. Nur durch die Begrenzung der Aufgabe ließ sich eine Konzentration auf die Kernfragen der Wahrheitsfindung erreichen. Zudem handelt es sich bei den ausgeklammerten Stoffgebieten um solche, über die bereits ein umfangreiches Schrifttum vorhanden ist, so daß es dem Ratsuchenden nicht schwerfallen wird, sich im Bedarfsfalle über sie zu orientieren. 2 Zur Aussagepsychologie im allgemeinen: Ernst Seelig, Die Ergebnisse und Problemstellungen der Aussageforschung, in: "Schuld, Lüge, Sexualität"

(1955).

3 Über die angloamerikanische Praxis des Kreuzverhörs Robert E. Keeton, Trial tactics and methods (Boston 1954) S. 27 ff. und E. W. Fordham, Notable Cross-examinations (London 1951); für das spanische Recht ist zu vergleichen G. Tackenberg, Kreuzverhör und Untersuchungsgrundsatz im spanischen Strafprozeß (1960).

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

er Aktivität entwickeln, Beweglichkeit zeigen, kritische Einsicht betätigen soll usw. Aber die Theorie würde sich ihre Aufgabe allzu leicht machen, wenn sie es bei diesem Katalog von Tugenden, der sich beliebig verlängern ließe, bewenden lassen wollte. Solche allgemein gehaltenen Postulate nützen erfahrungsgemäß wenig. Sie bleiben ohne sonderliche Wirkung, wenn nicht zugleich näher beschrieben wird, auf welche Weise der einzelne Sachbearbeiter mit seinen charakterlichen Eigenheiten und seinen sonstigen individuellen Anlagen sich so weiterbilden kann, daß er derartig hoch gespannten Erwartungen gerecht zu werden vermag. Es wird daher im folgenden versucht, eine speziellere Anleitung zu geben. Der Vernehmende ist bei Erfüllung seiner beruflichen Pflichten nur zum Teil von dem Erbgut abhängig, das die Natur ihm mitgegeben hat. Viele Mängel der Veranlagung las3en sich durch Selbstbeobachtung und zielbewußtes Training ausgleichen oder doch wesentlich mildern. So können letzten Endes die unterschiedlichsten Charaktere und Temperamente zur Reife und unter günstigen Umständen sogar zur Meisterschaft gebracht werden. Selbsterkenntnis des Vernehmenden. Einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Vervollkommnung stellt die Erkenntnis des eigenen Wesens dar. Durch Selbstbeobachtung kann der Wahrheitsforscher sich seiner Unzulänglichkeiten bewußt werden und auf Grund dessen daran gehen, sie zu korrigieren. Er wird dann sein Verhalten in bestimmten Verfahrenslagen schärfer unter die Lupe nehmen und allmählich die typischen Situationen kennenlernen, in welchen er wegen seiner anlag-emäßigen Eigenheiten leicht Schiffbruch leidet oder doch am Vorwärtskommen gehindert wird. Meist ergibt sich, daß es immer die gleichen Gelegenheiten sind, die ihm zu schaffen machen und bei denen er Gefahr läuft, fehlzugreifen. Es sind nicht nur mittelmäßig Begabte, die solche Begrenztheiten aufweisen; vielmehr pflegt selbst der Gescheiteste nicht ganz frei von ihnen zu sein. Auf Grund solcher Selbstkontrolle ist es möglich, Tendenzen, die sich nicht bewähren, zurückzudrängen und anderen, die erfahrungsgemäß günstig wirken, mehr Einfluß einzuräumen. Um vom Gebrauch unzweckmäßiger Verhaltensgewohnheiten loszukommen, sollte der Vernehmungsleiter soviel wie irgend möglich Kollegen bei ihrer Arbeit beobachten. Er bekommt dadurch Anregungen, wie man bestimmten Situationen auch auf andere Weise gerecht werden kann als er es bisher getan hat. Der Vernehmende wird, wenn er diesen Weg erst einmal beschritten hat, bald zu einer Erweiterung seiner individuellen Möglichkeiten gelangen. Er wird infolgedessen verschiedene Methoden griffbereit zur Verfügung haben und nicht mehr so einseitig wie ehedem auf eine einzige Verhaltensweise festgelegt sein.

Vorfragen

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Wie so oft fallen auch hier die ersten Versuche am schwersten. Meist kostet es den Wahrheitsforscher einige Überwindung, ehe er sich zu der Binsicht durchringt, daß bei ihm gewisse Schwächen vorhanden sind, daß höchst persönliche Eigenheiten ihn zu Zeiten immer wieder in die falsche Bahn lenken. Die Entdeckung eigener Mängel ist für niemanden eine erfreuliche Sache. Selbst wo sie nicht in Abrede gestellt werden, liegt es nahe, sie zu beschön1gen und die Ursache für den Mißerfolg statt im eigenen Ich in irgendwelchen äuß·eren Umständen zu suchen, fürdie niemand verantwortlich gemacht werden kann.

Erschwerungen für die Erkenntnis eigner Schwächen. Am leichtesten haben es Naturen, die einen starken Trieb zur Vervollkommnung in sich tragen. Menschen, die bereits alles innezuhaben glauben, werden dagegen, solange sie diese Einstellung festhalten, kaum Fortschritte machen. Wer sich in dieser Hinsicht .anfällig fühlt, sollte sich sagen, daß das Eingeständnis etgener Fehler nicht in der Öffentlichkeit zu erfolgen braucht. Er mag seine selbstsichere Haltung nach außen hin beibehalten, wenn er nur darauf verzichtet, seine Unzulänglichkeiten vor sich selbst zu entschuldigen und :;>;U bagatellisieren. Hat der Wahrheitsforscher erst einmal gelernt, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, so wird er sich auch eher bereit finden, im engeren Freundeskreis bzw. •im Gespräch mit gleichgesinnten, verständnisvollen Menschen die eigene Haltung zu ·diskutieren. Wer bereits einige Zeit ·in der Praxis tätig gewesen ist, hat meist mehr mit Hemmungen zu kämpfen als der Anfänger, Manchmal wollen Beamte, die auf eine Reihe von Dienstjahren zurückblicken, die Grenzen ihres beruflichen Könnens nicht wahr haben. Sie empfinden es geradezu als ehrenrührig, wenn sie eignes Ungenügen zugeben sollen. Vor sich selbst pflegen sie sich damit zu verteidigen, daß Verhaltensgewohnheiten, die sie eine Zeitlang (wie es scheint, ohne sonderliche Nachteile) betätigt haben, doch nicht tadelnswert sein könnten. Junge Leute dagegen fühlen sich oft noch ganz als Lernende. Sie wissen, daß, wenn ihnen Fehler unterlaufen, man dafür einiges Verständnis haben wir.d. Für sie besteht nicht in gleicher Weise wie für ältere Praktiker jener moralische Zwang, auf Grund dessen sie in jeder Hinsicht gerechtfertigt dastehen möchten. Erleichtert wird dem Wahrheitsforscher eine herzhafte Kritik des eigenen Verhaltens, wenn er sich klar macht, daß von ihm kein völliges Aufgeben seiner Wesensart verlangt wird. Das Charakteristische dieser Form von Selbsterziehung besteht vielmehr gerade darin, daß der Betreffende seine Natur nicht von Grund aus zu ändern braucht, was ihm ohnehin nicht gelingen würde. Es ist nur eine sich in engerem Rahmen vollziehende Umstellung nötig. In der Regel werden von ihr nur einzelne Verhaltenstendenzen betroffen, die die persönliche Eigenart als

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

solche nicht berühren. Der Vernehmende soll ledtglich lernen, sich dort in strenge Kontrolle zu nehmen, wo eine unbefangene Selbstprüfung gezeigt hat, daß bestimmte Reaktionsweisen den erfolgreichen Fortgang der Sache immer wieder zu verhindern pflegen. Vorausschau auf den Hergang der Vernehmung. Ein vorheriges Durchdenken der mit dem Verhör zusammenhängenden juristischen und prozeßtaktischen Fragen ist unbedingt anzuraten. Je besser der Sachbearbeiter vorbereitet ist, desto mehr wird er imstande sein, das Heft fest in der Hand zu behalten und die Erörterung richtig zu leiten.

1. Wenn der Befragung kein folgerichtiger Plan zugrunde liegt, dann mindert sich beim Zeugen die Bereitschaft, den lenkenden Hinweisen des Vernehmenden Folge zu leisten. Dem böswilligen Beschuldigten aber wird durch planloses Vorgehen der Mut zu Ausflüchten und zu Verzögerungsversuchen gestärkt. Nicht selten ist der Vernehmende dann der Willkür und den unlauteren Machenschaften seines Gesprächspartners regelrecht ausgeliefert. Gar mancher DeLinquent hat nur deshalb schließlich einen ungerechtfertigten Freispruch erreicht, weil der Beamte die Ermittlungen ohne die nötige gedankliche Vorarbeit begann und sich infolgedessen der Lage nicht vollkommen gewachsen zeigte. In schwierigen Fällen kann überhaupt nur durch sorgfältige Vorbereitung verhindert werden, daß das Ergebnis der Befragung mehr oder minder dem Zufall überlassen bleibt. 2. Allgemeiner Grundsatz ist daher, daß die Arbeit, die vor Beginn der Vernehmung geleistet werden kann, auch vorher getan werden sollte. Der Beamte braucht dann seine Kraft während der Vernehmung nicht mit Nebendingen zu verzetteln, sondern kann seine volle Aufmerksamkeit der Befragung selbst und den Schwierigkeiten zuwenden, die sich dabei ergeben. Gewiß wäre es verk·ehrt, im vovaus einen Aktionsplan ausarbeiten zu wollen, der alles bis ins einzelneend g ü 1 t i g festlegt. Es kann sich vielmehr meist nur um ·die Durehrlenkung einiger grundsätzlicher Erwägungen und um die Klärung der taktischen Vorfragen handeln. Trotzdem wird diese Vorbereitung dem Vernehmenden zugute kommen, auch wenn sich die Erörterung nachher in mancher Hinsicht anders als erwartet entwickelt. 3. Beim Anfänger pflegt eine Überlegung, wie die Vernehmung am besten zu lenken ist, in jeder Sache erforderlich zu sein4 • Aber auch der eingearbeitete Beamte sollte sich jeweils im voraus darüber klar werden, wie er, von einem Punkt zum anderen fortschreitend, den zu erörternden Stoff am besten gruppiert; ferner: wie er nach dem, was 4 In Sowjetrußland wird diese Vorausplanung im Rahmen der Ausbildung systematisch geübt, wie die Lern- und Lehrbücher zeigen; vgl. etwa G. P. Davydow, Taktika sledstvennych dejstvij, Moskau 1959 S. 150 ff.

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über die Aussageperson als solche, ihre allgemeine Einstellung und ihre Interessenlage bekanntgeworden ist, vermutlich am ehesten der Aufklärung des Sachverhalts näher kommt. DerVernehmende vermag dann trotzder etwa notwendigen Nebenwege die Befragung zielsicher weiterzuführen und ist dadurch in der Lage, sich verhältnismäßig leicht durch Schwierigkeiten hindurchzufinden, die sich aus der Kompliziertheit der Sache oder ·aus dem Verhalten der Aussageperson ergeben. Voraussetzung ist dabei allerdings, daß er seinen Plan bei etwa notwendig werdenden Abschweifungen im Auge behält und nach jedem Zwischenspiel wieder zu ihm zurückkehrt. Die Vernehmung als Gemeinschaftsleistung. Nach der landläufigen Vorstellung wird der Inhalt der Aussage allein vom Vernommenen bestimmt, während der Vernehmungsleiter, nachdem er auf Ergänzungen und Berichtigungen hingewirkt hat, sich im wesentlichen damuf beschränkt, die Bekundungen der Aussageperson entgegenzunehmen. Man kann nicht sagen, daß diese Umschreibung regelrecht falsch sei; aber sie wird der Sache doch nur teilweise gerecht. In Wahrheit wirkt bei der Rekonstruktion eines in der Vergangenheit liegenden Vorgangs auch der Vernehmungsleiter in beträchtlichem Maße mit~. Die Sachdarstellung des Aussagenden, wie sie bei Abschluß der Vernehmung vorliegt, ist nicht mehr allein sein Werk. Vielmehr ist der Vernehmungsleiter durch seine lenkenden Hinweise, durch Vorhalte und Rückfragen und nicht zuletzt durch die von ihm gewählte Fassung des Protokolls am Zustandekommen der Bekundungen maßgeblich mit beteiligt. Er beeinflußt hauptsächlich auch durch die Art, wie er die konkrete Aussagesituation zu gestalten weiß, und ganz allgemein durch die psychischen Kräfte, die während der Befragung bewußt oder unbewußt von ihm ausgehen, das Vernehmungsergebnis8• Zwischen dem Vernehmenden und der Aussageperson findet eine im einzelnen schwer zu beschreibende Wechselwirkung statt. Es vollzieht sich - bildlich gesprochen - ein Stromaustausch, bei dem ·es zu einem mehr oder weniger vollkommenen Zusammenk1ang bzw. zu gewissen Disharmonien kommt. Der Vernehmende ist nach alledem sowohl mit seinen menschlichen Qualitäten als auch mit seinen charakterlichen und temperamentsmäßigen Eigentümlichkeiten, kurz: mit seiner ganzen Persönlichkeit im Endergebnis der Vernehmung enthalten. Wer das ständig im Auge behält, hat es leichter, die Erörterung zweckentsprechend durchzuführen und die dabei notwendig werdenden Maßnahmen richtig zu treffen. 8 Die Entscheidung RG Str. Bd. 30, S. 71 hat das besonders klar hervorgehoben. 8 E. Seelig, Persönlichkeit und Aussage (1931) S. 126 f.; K. Pintschovius, Die psychologische Diagnose (1940) S. 38 ff.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

Kontaktnahme Ihre Bedeutung für das Zustandekommen einer guten Aussageleistung. Für den Vernehmungserfolg ist die Herstellung einer geistigen Beziehung zwischen Vernehmungsleiter und Beweisperson von großer Wichtigkeit. Das gilt sowohl für die Anhörung der Zeugen und Sachverständigen als auch für die des Beschuldigten und der Zivilprozeßpartei. Solange der Kontakt fehlt, wird der Aussagende sich nicht angerührt fühlen und nicht zum Mitgehen veranlaßt werden. Zumal wenn sein Mitteilungsbedürfnis von Natur gering ist, kann ·er oft nur durch Schaffung eines leidlichen Einvernehmens mit dem Verhörsbeamten dazu gebracht werden, daß er aus sich herausgeht. Aber auch dort, wo in .dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten bestehen, pflegt ein guter Kontakt die Erlangung brauchbarer Angaben zu erleichtern. Er bewirkt zum mindesten, daß der Mitteilungsstrom sogleich zu fließen beginnt und nicht vorzeitig versiegt; er fördert das Zustandekommen einer lebendigen Auseinandersetzung zwischen dem Vernehmungsleiter und dem Befragten, durch die die Sache nach und nach, selbst gegen den Willen der Aussageperson, der Klärung nähergebracht wird. Manchmal ergibt sich diese geistige Beziehung zwischen den Gesprächspartnern von selbst. Nicht selten bedarf es aber eines zielbewußten Vorgehens, um sie herzustellen. Es handelt sich dabei um eine Fühlungnahme zweier Persönlichkeiten, die sich ·erst aufeinander einstellen müssen. Unter Umständen ist es für beide nicht ganz einfach, ihr Verhalten so zu koordinieren, daß eine ersprießliche Zusammenarbeit möglich wird. Ein einheitliches Rezept gibt es für den Vernehmenden in dieser Hinsicht nicht. Oft erfordern die verschiedenen Typen von Zeugen, Sachverständigen, Beschuldigten ein ganz unterschiedJ,iches Vorgehen. Bei schlichten, unverbildeten Menschen ist die Methode der Kontaktgewinnung eine andere als bei einer komplizierten Persönlichkeit, beim Arbeiter eine andere als beim Kaufmann, beim Universität-sprofessor eine andere als beim Großindustriellen. In der Regel wird der Vernehmende, wenn er die Wesensart der Beweisperson und deren individuelle Eigenheiten berücksichtigt, ein Arbeitsklima schaffen können, das eine gute Aussageleistung möglich macht. Die Fähigkeit, mit verschiedenartig·en Menschen schnell in eine engere geistige Verbindung zu kommen, ist keineswegs eine seltene Gabe. Sie ist im Gegenteil weit verbreitet; die meisten Menschen haben sie in gewissem Umfang von Natur mitbekommen. Wer gleichwohl anlagemäßig in dieser Hinsicht stiefmütterlich bedacht worden ist, sollte

Kontaktnahme

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die Methoden der Kontaktgewinnung besonders studieren und sich in ihrer Handhabung unentwegt üben. In den meisten Fällen hat auch er es - einiges Training vorausgesetzt - in der Hand, durch sein Auftreten und seine Verhandlungsführung dem Aussagenden das Sichaufschließen und die Mitarbeit leicht zu machen.

Hindernisse für einen befriedigenden Kontakt. Als ein Hemmnis erweist sich vor allem die Spannung, von der die meisten Beweispersonen bei Beginn der Vernehmung betroffen werden, selbst wenn sie dem zu klärenden Sachverhalt völlig unbeteiligt gegenüberstehen. Man muß bedenken, daß der Aussagende sich meist schon rein äußerlich in einer Ausnahmesituation befindet, auf die er in keiner Weise vorbereitet ist. Er sieht sich in einem ungewohnten Raum. Die Persönlichkeit des Vernehmenden, die ihn unmittelbar angeht und deren Besonderheiten er reg·elmäßig mit großer Anteilnahme beobachtet, macht ihm zu schaffen. Er muß sich auf sie umstellen und sich mit ihren Eigentümlichkeiten abzufinden suchen. Sensible Menschen können dadurch bereits so irritiert werden, daß ihre Arbeitsfähigkeit zunächst stark herabgesetzt ist. Aber auch Menschen, die nicht sonderlich empfindlich sind, werden durch die neuartige Umgebung mitunter wenigstens für Augenblicke abgelenkt. Die dadurch verursachten Schwierigkeiten nehmen manchmal noch zu, wenn beim Verhör im Polizeibüro außer dem Vernehmenden weitere Beamte zugegen sind oder wenn der Aussagende in der Hauptverhandlung vieler Augen auf sich gerichtet fühlt. Oft genügt dann das ruhige und sachliche Vorgehen des Vernehmungsleiters, um dem Zeugen (Beschuldigten) seine unnatürliche Spannung zu nehmen. Der Beamte ist meist in der Lage, ohne viele Worte einfach durch die Art, wie er sich gibt, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Erregung und Befangenheit von selbst abklingt. Wo das nicht genügt, kann er mit geringem Aufwand durch aufklärende Beruhigung und nötigenfalls durch ein wenig Ermutigung den Aussagenden voll arbeitsfähig machen. Bisweilen beruht der unzulängliche Kontakt nicht in erster Linie auf der ungewohnten Vernehmungssituation oder anderen äußeren Umständen, sondern auf Wesenseigentümlichkeiten der Beweisperson. Wenn sie von Hause aus verstockt, eigensinnig, verschlossen, mißtrauisch ist oder sich allenthalben unverstanden und schlecht behandelt fühlt, so erschwert das die Herstellung einer mitmenschlichen Beziehungund macht besondere Obacht in dieser Hinsicht nötig. Auch wenn wenig Aussicht vorhanden ist, den Aussagenden für eine regelrechte Mitarbeit zu gewinnen, sollte zum mindesten versucht wer-

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

den, ein teilweises, wenn auch noch so unvollkommenes Einvernehmen zu erzielen.

Erhaltung einer guten Arbeitsatmosphäre im weiteren Verlauf der Vernehmung. Ist erst einmal der Kontakt hergestellt, so muß dafür gesorgt werden, daß er nicht wieder verlorengeht Ungeschickte Fragen, scharfe Zurechtweisungen können ihn unter Umständen empfindlich stören. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Vernehmende um des Kontaktes willen jede unangenehme Frage vermeiden und jede Ungehörigkeit des Aussagenden widerspruchslos hinnehmen müßte. Er hat jedoch bei der Art seines Vorgehens nach Möglichkeit darauf Rücksicht zu nehmen, daß die Arbeitsbereitschaft der Aussageperson erhalten bleibt. Bisweilen kann der Wahrheitsfm,scher es sich, wenn er bei der Aufklärung vorankommen will, einfach nicht leisten, den Zeugen bzw. den Beschuldigten grundlegend zu verärgern. Aber auch wenn eine solche Zwangslage für ihn nicht besteht, sollte er die Erörterung möglichst so zu lenken suchen, daß dem Aussagenden seine aktive Teilnahme daran sinnvoll erscheint. Vorbereitung der Beweisperson auf ihre Aufgabe

Beseitigung von gedanklichen Hindernissen. Oft ist eine brauchbare Aussageleistung nur zu erreichen, wenn beim Zeugen (Beschuldigten) bestimmte Schwierigkeiten behoben werden, die den Weg zu einer wahrheitsgemäßen Bekundung verbauen. Der Vernehmende muß dann versuchen, seinem Gegenüber diese Hemmungen, die sich oft nur ahnen lassen, abzufühlen und ihm die richtigen Hilfen zu ihrer Überwindung geben. Nicht selten befindet sich der Aussagende durch die Zwiespältigkeit seiner Empfindungen in ·einem Konfl,ikt, dessen Lösung man ihm unter Umständen erleichtern kann. Manchmal quält er sich mit verschrobenen Ideen über seine vermeintliche Treupflicht gegenüber einem Beteiligten, denen der Vernehmungsleiter durch aufklärende Bemerkungen begegnen kann. In Sittlichkeitsprozessen wird der Beschuldigte an der wahrheitsgemäßen Darstellung oft lediglich durch ·die Furcht vor der Verständnislosigkeit des Vernehmenden oder vor der allgemeinen Verachtung gehindert, der er anheimzufallen glaubt, wenn er die ihm zur Last gelegten Handlungen zugibt. Die am Vorgang beteiHgte Zeugin dagegen wird unter Umständen durch den Gedanken gehemmt, daß sie an der aufzuklärenden Tat, wenn nicht strafrechtlich, so doch moralisch in gewisser Weise mitschuldig ist. Bisweilen macht ihr auch einfach das Schamgefühl zu schaffen, das durch die Erörterung intimer Vorgänge in ihr

Vorbereitung der Beweisperson auf ihre Aufgabe

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rege gemacht wird. Ein Beispiel dafür, wie der Vernehmende sich in solchen heiklen Fällen lenkend einschalten und den Zeugen, ohne seine Aussagefreiheit zu schmälern, auf die richtigen Ansatzpunkte hinweisen kann, wird unten (S. 65) gegeben werden. Mitunter ist die Beweisperson auch durch die Angst vor familiären Konflikten beeinträchtigt, mit denen sie bei wahrheitsgemäßer Bekundung rechnen muß. Wenn ein zehnjähriges Mädchen im Verfahren gegen den eignen Vater über Unzuchtshandlungen gehört wil'd, die dieser an ihm vorgenommen haben soll, dann kommt manchmal alles darauf an, dem Kind die Furcht davor zu nehmen, daß es für eine wahrheitsgemäße Aussage später vom Vater zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Bisweilen ist eine der Wirklichkeit entsprechende Darstellung deshalb nicht zu erreichen, weil der Aussagende von verkehrten Vorstellungen darüber ausgeht, welche Wirkung es auf den Prozeßausgang haben wird, wenn er dies oder jenes wahrheitsgemäß angibt. Falls zu vermuten ist, daß der Beschuldigte sich nur infolge falscher Beurteilung der Interessenlage gegen ·eine Aufdeckung des richtigen Hergangs sperrt, sollte man ihn darüber aufklären und ihm in fairer Weise die zutreffenden Gesichtspunkte an die Hand geben. Eine ähnliche Situation kann eintreten, wenn der Zeuge nicht derjenige sein möchte, durch dessen Bekundung der Beschuldigte zur Strecke gebracht worden ist. Man kann ihn dann, wenn die Sache entsprechend liegt, darauf hinweisen, daß der Beschuldigte auf Grund einer einzelnen, ihm nachteHigen Bekundung noch keineswegs als schuldig anzusehen ist, daß dazu vielmehr weitere Punkte geklärt werden müssen, die vorel1st noch offen sind. Der Vernehmende hat die Situation so zu gestalten, daß die Beweisperson veranlaßt wird, sich möglichst ungezwungen zu geben. Er sollte die Erörterung so lenken, daß die Wesensart des Zeugen (Sachverständigen, Beschuldigten) und seine individuellen Eigentümlichkeiten deutlich hervortreten.

Einweisung des Aussagenden in seine Aufgabe. 1. Eine sachgemäße Mitarbeit ist dem Vernommenen häufig nur dann möglich, wenn man ihn bis zu einem gewissen Grade an die Aufgabe, die ihn erwartet, heranführt. Die meisten Prozeßordnungen schreiben deshalb vor, daß der Zeuge mit dem Gegenstand der Vernehmung bekannt zu machen ist. Auch wo eine ausdrückliche Vorschrift dieser Art fehlt, muß dem Aussagenden der Rahmen gegeben werden, innerhalb dessen er zu arbeiten hat. Das ist ein Gebot der Vernunft; man kann von ihm keine intensive Mitwirkung erwarten, solange er sich ganz und gar darüber im Unklaren befindet, worum es eigentlich geht.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

2. Daß der Beschuldigte darüber, worum es sich handelt, vorweg wenigstens ungefähr ins Bild gesetzt wird, entspricht zugleich einem Gebot der Menschlichkeit. Wenn man ihm nicht bereits zu Anfang sagt, welcher Vevdacht gegen ·ihn vorliegf, sieht oft auch der unschuldige Verdächtige das Unheil auf sich zukommen, ohne .sich angemessen verteidigen zu können. Besteht gegen den Beschuldigten lediglich ein allgemeiner Verdacht ohne feste Anhaltspunkte, wie es z. B. in politischen Strafsachen vorkommen kann, so ist die Versuchung mitunter groß, ihm die seine Person betreffenden Belastungsmomente vorzuenthalten und ihn statt dessen zu fragen, ob er wohl wisse, warum er zur Vernehmung bestellt worden sei. Man nötigt dadurch den Beschuldigten, sein gesamtes Verhalten zu überprüfen und kann unter Umständen hoffen, daß dabei Dinge herauskommen werden, von denen ·die Untersuchungsbehörde noch gar keine Kenntnis hat8 • Durch ein solches Vorgehen wird der Beschuldigte jedoch in seiner Verteidigung stark behindert und weitgehend entrechtet. Obwohl dies für jedermann auf der Hand liegt und die allgemeinen Anweisungen an die Vernehmungsbeamten heute diese Taktik ausdrücklich als Mißbrauch zu bez·eichnen pflegen, ist die Verlockung, von ihr Gebrauch zu machen, zuweilen eine beträchtliche. In manchen Ländern scheinen alle Bemühungen, ihr den Garaus zu machen, zur Erfolglosigkeit verurteilt zu sein.

Darstellung im Zusammenhang Den Gang der Vernehmung kann der Wahrheitsforscher innerhalb der vom Gesetzgeber sehr großzügig abgesteckten Grenzen frei gestalten. Er ist dabei jedoch an gewisse Grundregeln gebunden, die Vernunft und Erfahrung an die Hand geben. Vor allem soll der Aussagende zunächst veranlaßt werden, die Angelegenheit von sich aus zusammenhängend zu schildern. Das Besondere liegt hier darin, daß er es dabei weitgehend selbst in der Hand hat, in welcher Reihenfolge und mit welcher Ausführlichkeit er die Sache darstellen bzw. auf welche Punkte er besonderen Nachdruck legen will. 7 Nach § 136 der deutschen Strafprozeßordnung muß dem Beschuldigten bei Beginn der ersten Vernehmung gesagt werden, welche strafbare Handlung ihm zur Last gelegt wird. 8 Beispiele bei Andre Bonnichon, Le droit de la Chine communiste (Haag 1957) S. 20 ff. In der Österreichischen Strafprozeßordnung v. 29. 7. 1853, § 174 war dieses Verfahren sogar zur allgemeinen Regel erhoben worden. Die Vernehmung des Beschuldigten hatte danach mit der Frage zu beginnen, ob ihm die Ursache seiner Vorladung bzw. seiner Verhaftung bekannt sei.

Darstellung im Zusammenhang Diese Gelegenheit zur freien, selbstgeformten Erzählung sollte man nicht nur dem Zeugen, sondern auch dem Beschuldigten geben, und zwar sowohl bei der polizeilichen als auch bei der gerichtlichen Vernehmung9. Dadurch erhält einerseits der Aussagende eine gute Handhabe zur Darlegung seiner Auffassung; andererseits hat aber meist auch der Ermittlungsbeamte seinen Vorteil davon. Denn nur auf diese Weise läßt sich mit einiger Sicherheit feststellen, wie der Vernommene die Angelegenheit im Zusammenhang sieht und was ihm daran vor allem wichtig erscheint. Die Aussichten für eine völl:ige Aufklärung der Sache würden sich oft beträchtlich verringern, wenn man von vornherein zum Frageverhör übergehen wollte. Wo viel auf die Stellungnahme des Aussagenden ankommt, wärees-abgesehen von einem etwaigen Verstoß gegen das Gesetz - auch ein taktischer Fehler, wenn man gleich von Anfang an ein Frageverhör anstellen wollte. Mitunter vertut die Auskunftsperson sich gerade bei der zusammenhängenden Darstellung eher als beim Antworten auf einzelne Fragen. Vor allem ungewandte Zeugen (Beschuldigte) geben hier mitunter Dinge von sich, die sie gar nicht sagen wollten und liefern dadurch Anhaltspunkte für die Aufklärung, die man durch Abfragen vielleicht nie von ihnen herausbekommen haben wü11de. Gewiß kann nicht gesagt werden, daß die zusammenhängende Erzählung durchweg einen höheren Wahrheitswert besäße als das, was im Frageverhör zutage gefördert wird. A-ber sie gewährt doch vielfach tiefere Einblicke. Auch die persönliche Eigenart des Aussagenden ist sicherer zu erfassen, wenn man ihn zunächst selbst erzählen läßt und erst dann Fragen an ihn richtet. In England, den USA und den von ihnen beeinfiußten Gebieten ist während der Hauptverhandlung für den Zeugen oder den in den Zeugenstand

tretenden Angeklagten keine Gelegenheit zu einer zusammenhängenden Darstellung gegeben. Das beruht nicht zuletzt auf dem geringen Ansehen, das die vom Aussagenden selbst geformte Erzählung im angloamerikanischen Rechtskreis genießt. Doch wird auch dort gelegentlich anerkannt, daß daraus für die Wahrheitstindung mancherlei Nachteile hervorgehen können10• Die Darstellung im Zusammenhang sollte möglichst wenig unterbrochen werden. Man tut gut, den Aussagenden gewähren zu lassen, solange es irgend geht. Muß der Vernehmende eingreifen (z. B. weil der G. P. Davydov, Taktika sledstvennych dejstvij, Moskau 1959, S. 129 ff. G. Wittiams, The proof of guilt, S. 71 f. Bei der Vernehmung von Sachverständigen in der Hauptverhandlung sind die englischen Gerichte weit eher geneigt, zusammenhängende Darlegungen zuzulassen; dazu E. J. Cohn, Der englische Gerichtstag (1956) S. 70. Die Polizeibeamten haben auch in England und den USA jederzeit die Möglichkeit, den Aussagenden frei berichten zu lassen. 0

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3 Dllhrla1

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Zeuge ganz und gar vom Thema abschweift oder der Beschuldigte politische Propagandareden hält), dann hat er sich organisch ·in den Gedankengang einzuschalten, damit der Aussagende nicht unnötig gestört wird und sein Gedankenfluß nicht versiegt. Tatsachenannahmen als Mittel der Wahrheitsforschung

Ordnung des Materials. Bereits bei der ersten flüchtigen Kenntnisnahme von den über den Fall bekanntgewordenen Details beginnt das Bemühen ·des Bearbeiters, sie in eine gewisse gedankliche Verbindung zu bringen. Diese ordnende Tätigkeit dauert während des ganzen Verfahrens fort. Jede Einzelheit, die der Zeuge (Beschu1digte) vorbringt, ist dabei entsprechend ihrer voraussichtlichen Bedeutung für die Endfeststellung möglichst sogleich in den Zusammenhang zu bringen, in den sie hineingehört. Der Wahrheitsforscher setzt sie zu anderen tatsächlichen Momenten in Beziehung und füllt die etwa vorhandenen Tatbestandslückenvorerst probeweise durch Vermutungen aus. Sein gesunder Menschenverstand, sein Erfahrungswissen und seine psychologischen Kenntnisse führen ihn dabei oft auch dort auf die richtige Fährte, wo bisher noch wenig Tatsachenmaterial vorhanden ist. Erarbeiten des Gesamtbildes. Der Betrachter verschafft sich •auf diese Weise gleich zu Anfang einen Überblick, in dem die bekannten Einzelumstände zu einem geschlossenen Ganzen vereinigt sind. Jeder, der einen undurchsichtigen Sachverhalt aufklären will, braucht als Rahmen für seine Ermittlungstätigkeit eine Vorstellung davon, wie die Sache wohl zugegangen sein könnte. Durch sie wird eine allgemeine Orientierung erreicht, die den Beamten über die primitive Methode des bloß mechanischen Probierens hinaushebt und ihm eine planvolle Untersuchungstätigkeit ermöglicht. Es wird dabei eine bisher nicht bewiesene Sachgestaltung zunächst versuchsweise als gegeben angenommen. Der Wahrheitsforscher stellt sozusagen eine Arbeitshypothese auf, die er bei den weiteren Ermittlungen zugrunde legt11 • Wenn z. B. die Frage der Täterschaft zweifelhaft ist, wird er zunächst davon ausgehen, daß A die Tat beging, falls A nach dem gegenwärtigen Stand der Ermittlung in erster Linie dafür in Betracht zu kommen scheint. Obwohl die Täterschaft des A noch keineswegs feststeht, ist dann auf Grund dieser provisorischen Tatsachenannahme weiter zu forschen. Wenn der Täter zwar bekannt ist, aber die Einz.elheiten der Tatausführung sich hisher nicht feststellen ließen, wird unter Umständen 11

H. Walder, Kriminalistisches Denken S. 108 ff.

Tatsachenannahmen als Mittel der Wahrheitsforschung

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eine bestimmte, durch die Verhältnisse nahegelegte Begehungsart probeweise als gegeben anzunehmen und dann festzustellen sein, ob diese Annahme sich so verstärken läßt, daß sie schließlich zur Gewißheit wird. Wenn Täter und Begehungsweise feststehen, aber bezüglich der subjektiven Tatseite oder hinsichtlich des Motivs Unklarheiten vorhanden sind, wird sich die versuchsweise Tatsachenunterstellung auf eben diese psychischen Sachverhalte beziehen. Ist der Fall in mehrfacher Hinsicht unaufgeklärt, .so muß möglicherweise sowohl hinsichtlich der Täterschaft und der Begehungsweise als auch hinsichtlich des Motivs mit Hypothesen gearbeitet werden.

Hypothesenbildung im Zivilprozeß. Nicht nur im Strafverfahren, sondern auch im Zivilprozeß und in den anderen Prozeßarten sind mitunter völlig dunkle Sachverhalte aufzuhellen, bezüglich deren man, um überhaupt arbeiten zu können, sich notwendigerweise eine Vorstellung vom Gesamtverlauf bilden muß; so etwa, wenn ein schwer verständlicher Autounfall untersucht oder ein Explosionsvorgang aufgeklärt werden soll oder wenn ungewöhnliche psychische Abläufe zu ergründen sind. Mitunter gibt der Sachverhalt infolge widersprechender Parteivorträge Rätsel über Rätsel auf, so z. B. wenn der Hergang langwieriger Vertragsverhandlungen rekonstruiert werden muß und die Beteiligten sich auf die einzelnen Phasen der von ihnen gepflogenen Erörterungen offenbar selbst nicht mehr genau besinnen oder wenn ihre Erinnerung daran durch parteiliche Einstellung ganz und gar verdorben ist. Aber auch sonst ist der Richter im Schadensersatzrecht, im Ehescheidungsprozeß, im Rechtsstreit wegen unehelicher Vaterschaft und in ähnlichen Fällen vielfach zu umfangreicher Hypothesenbildung gezwungen. Die Fesseln, welche ihm im Zivilprozeß durch die Herrschaft der Parteien über den Tatsachenstoff angelegt sind, werden ihn dabei nicht sonderlich behindern. Denn er ist in der Lage, die Tatsachenelemente, anders als die Parteien es getan haben, zu kombinieren und kann unter Verwendung seines Erfahrungswissens logische Schlußfolgerungen jeder Art selbständig ziehen. Die Tatsachenannahme als W egweise1·. Die Hypothese, von der der Wahrheitsforscher ausgeht, stellt eine Art Kompaß ·dar, der die einzuschlagende Richtung anzeigt; sie faßt alle Aufklärungsmaßnahmen zu einem sinnvollen Ganz·en zusammen. Mit Hilfe seiner Konzeption vom Hergang vermag der Sachbearbeiter festzustellen, welche Einzelteile noch aufzufinden sein müßten, wenn das von ihm zugrunde gelegte Gesamtbi1d zutrifft, und ist dann imstande, systematisch nach ihnen zu forschen. Auf diese Weise wird es möglich, Umstände sogleich in die Ermittlung einzubeziehen, deren Bedeutung sonst zu diesem frühen Zeitpunkt vielleicht noch nicht erkannt worden wäre.

Erschwerte Hypothesenbildung im Anfangsstadium. Manchmal kommt eine plausible Deutung des Hergangs zunächst überhaupt nicht zustande. Dann .ist nur dadurch vorwärtszukommen, daß man sich mit Geduld und Ausdauer in die wenigen bekannten Umstände hineinversetzt 3•

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

und unentwegt zu kombinieren versucht, bis sich die vorhandenen Einzelteile zu einem Gesamtbild runden, das ein:ige Wahrscheinlichkeit für sich hat. Solange keine leidlich brauchbare Hypothese vorhanden ist, befindet sich der Bearbeiter in einer nicht gerade angenehmen Lage. Da er keinen Gesamtplan besitzt, fehlt ihm die Möglichkeit, zielsicher in einer bestimmten Richtung weiterzuforschen. Der Wahrheitsforscher sollte sich in solchen Fällen nicht entmutigen lassen. Die Erfahrung zeigt immer wieder, daß in aller Regel auch hier Beharrlichkeit zum Erfolg führt. Hat man eine bestimmte Tatsachenannahme zur Arbeitsgrundlage gemacht, so gilt es zu erproben, ob sie durch die weiteren Ermittlungen bekräftigt werden kann. Wenn sie mit der Wirklichkeit in Einklang steht, wird es meist gelingen, sie nach und nach zu festigen und so aus einem provisorischen Erklärungsversuch eine endgültige Lösung zu machen.

Schnelles Herausfinden der zutreffenden Deutung. Es spart Zeit und Kraft, wenn trotz des lückenhaften Tatsachenmaterials von mehreren möglichen Gestaltungendes Sachverhalts ohne längeres Experimentieren sogleich die richtige ermittelt wird. Dazu gehört ein gewisser Spürsinn. Es gibt viele Menschen, die in dieser Hinsicht gut beanlagt sind. Doch ist die natürliche Begabung oftmals durch Nichtgebrauch verkümmert und muß erst durch bewußte Pflege wieder gestärkt werden. Manchmal sieht der eine Bearbeiter, obwohl sonst bestens orientiert, nur Teile vor sich, die nicht zueinander zu passen scheinen, während ein anderer das Fehlende geschickt ergänzt und die Einzelheiten so einleuchtend zueinander in Beziehung zu setzen weiß, daß eine Deutung zustande kommt, die als Grundlage für ein planvolles Arbeiten geeignet ist.

Das Risiko beim Umgang mit Tatsachenannahmen. In komplizierten Fällen ist mitunter ein beträchtliches Maß an Vorstellungskraft, Kombinationsgabe und psychologischem Verständnis nötig, wenn man bereits im Anfangsstadium die zutreff·ende Version herausfinden will. Auch bei hervorragender Befähigung des Bearbeiters kann nicht erwartet werden, daß er mit seiner Hypothese allemal sofort das Richtige trifft. Wohl jedem ist es schon passiert, daß sich sein ursprüngliches Leitbild als verkehrt erwies. Mit Überraschungen dieser Art hat der Wahrheitsforscher stets zu rechnen. Es zeigt sich hier, wie sehr die Ermittlung des Sachverhalts den Charakter des Unberechenbaren an sich trägt, wie sie für jedermann in .gewisser Weise eine Art Wagnis darstellt.

Tatsachenannahmen als Mittel der Wahrheitsforschung

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Bisweilen treten sogar noch in der Schlußphase der Aufklärungstätigkeit Momente hervor. die die zugrunde gelegten Tatsachenannahmen ernstlich in Frage stellen und der Sache dadurch ein gänzlich verändertes Gesicht geben. Manchmal hätte bei entsprechender Vorsicht die Brüchigkeit der benutzten Hypothese vielleicht schon früher erkannt werden können. In anderen Fällen war das Fehlgreifen kaum vermeidbar.

Zusammenfassung. Allgemein läßt sich sagen: Solange die Tatsachenannahme, mit der der Wahrheitsforscher arbeitet, sich mit allen bekannten Tatumständen verträgt und sich auch mit dem gesicherten Erfahrungswissen in Übereinstimmung befindet, wird man sie beibehalten können. Je überzeugender sie durch den weiteren Verlauf der Ermittlungen bekräftigt wird, desto mehr kann man ihr Vertrauen entgegenbringen. Vor allem dann wird die Erwartung, daß die Hypothese dem wirklichen Sachverhalt entspricht, begründet ·sein, wenn keine der etwa sonst noch denkbaren Gestaltungen den vorliegenden Besonderheiten in annähernd gleicher Weise gerecht wird. Ergeben sich dagegen durch das Hinzukommen neuer Beweismomente allerlei Ungereimtheiten, die sich nicht auflösen lassen, so müssen daraus auch Zweifel an der Brauchbarkeit der zugrunde gelegten Tatsachenannahme hervorgehen. Manchmal ist zweifelhaft, ob neu zutage gekommene Einzelheiten ohne unzulässigen Zwang in die benutzte Arbeitshypothese eingefügt und ihr dienstbar gemacht werden können. Der Wahrheitsforscher hat sich dann stets zu fragen, ob nicht durch die von ihm erwogene Angleichung sperriger Tatsachen an seine vorläufige Deutung des Hergangs charakteristische Einzelheiten verlorengehen, die vielleicht eine wahrheitweisende Kraft haben könnten. Irrtümer sind in dieser Hinsicht leicht möglich. Besonders die bereits zu Beginn des Verfahrens angenommene Gesamtkonzeption erweist sich nachträglich nicht selten als unrichtig, weil anfangs noch zu wenig vom Sachverhalt bekannt war und daher wesentliche Umstände nicht berücksichtigt werden konnten.

Kritische Haltung gegenüber der Arbeitshypothese. Oft fällt es schwer, sich von dem einmal angenommenen Leitbild loszumachen. Tritt diese Notwendigkeit in den ersten Verfahrensabschnitten ein, dann ist es noch verhältnismäßig einfach, sich von ihm zu trennen. Je weiter dagegen die Ermittlung fortgeschritten ist, desto unzugänglicher zeigt sich der Beurteiler meist gegenüber neuen Einzelheiten, die sich mit seiner bisherigen Gesamtauffassung nicht recht vertragen. Er neigt dazu, diese Momente entweder zu ignorieren oder sie so umzu-

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

deuten, daß sie der Aufrechterhaltung seiner Arbeitshypothese nicht mehr hinderlich sind' 2 • Nicht selten sind es aber gerade diese sich der Einfügung in das Gesamtbild widersetzenden Umstände, die bei unbefangener Würdigung den Schlüssel zur richti!gen Lösung darstellen. Der Bearbeiter sollte sich daher auf seine anfängliche Auffassung vom Hergang der Sache nicht allzu sehr festlegen. Er tut regelmäßig gut, sich von ihr so zu distanzieren, daß er imstande ist, sie ohne innere Auflehnung zu verwerfen, wenn sie sich als unhaltbar erweist oder doch als alleinige Grundlage der Ermittlung nicht mehr geeignet erscheint. Wenn der Wahrheitsforscher sich einer bestimmten Version allzu früh ausschließlich verschreibt, dann macht er sie dadurch in einer oft recht gewagten Weise zur Herrin des Verfahrens. Im Zweifel ist es sicherer (freilich auch mühevoller), mehrere Deutungsmöglichkeiten gleichzeitig nebeneinander zu bearbeiten. Dies hat zugleich den Vorteil, daß die später etwa notwendig werdende Aufgabe einer von mehreren Hypothesen vom Sach'bearbeiter nicht sonderlich bedauert oder gar als persönlicher Mißerfolg empfunden wird. Wo der Beamte jedoch wegen Zeitmangels oder aus sonstigen Gründen nur eine einzige Hypothese verfolgen kann, ist er um so mehr verpflichtet, sich zum mindesten die Aufnahmefähigkeit für neue, mit ihr nicht in Einklang stehende Einzelheiten bis zum Schluß zu erhalten. Selbst wenn die von ihm zugrunde gelegte Deutung viel für sich zu haben scheint, sollte er sich mit ihr nicht völlig identifizieren, sondern stets daran denken, daß es sich um eine noch unbewiesene provisorische Tatsachenannahme handelt, die der Bestätigung durch die späteren Ermittlungen bedarf. Auch in augenscheinlich klaren Fällen tut der Beurtei1er gut, sich in einem Winkel seines Bewußtseins die Einsicht zu bewahren, daß die Sache sich trotz alledem möglicherweise noch irgendwie anders verhalten könne. Er sollte sich gewiß nicht voreilig zur Aufgabe einer inzwischen fragwürdig gewordenen Arbeitshypothese bereit finden. Hat sie sich aber in der Tat als unbrauchbar erwiesen, so muß sie auch rechtzeitig aufgegeben werden, damit nicht durch eigenwilliges Festhalten an einer verkehrten Konzeption die Erforschung des Sachverhalts noch weiter aufgehalten wird. Der Bearbeiter sollte sich dann vor diesem Entschluß, wenn er mitunter auch schwerfallen wird, nicht scheuen.

11 Rittler in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43, S. 187; für den Zivilprozeß: Krönig, S. 21.

Richtige Auffassung des Inhalts der Bekundungen

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Richtige Auffassung des Inhalts der Bekundungen Der Vernehmende hat sich stets zu fragen, ob er das, was der Zeuge (Sachverständige, Beschuldigte) sagen wollte, richtig verstanden hat. Dieser Grundsatz wird als solcher kaum in Zweifel gezogen werden. Trotzdem ist seine Beachtung keineswegs allgemein gesichert.

MißverständLiche Ausdrucksweise der Beweisperson. Mißdeutungen sind immer möglich; manchmal kommen sie auch dort vor, wo sie eigentlich nicht zu erwarten waren. Leicht können Schattierungen und Nuancen in der Stellungnahme des Vernommenen, deren Beachtung zum richtigen Verständnis notwendig ist, übersehen werden. Bisweilen ist zudem selbst eine kluge und aufgeweckte Aussageperson nicht fähig, sich gleich beim ersten Versuch sachgemäß auszudrücken. Selbst wenn ihre Angabe bei Zugrundelegung des allgemeinen Sprachgebrauchs klar und präzise wirkt, gibt sie trotz des vorhandenen guten Willens manchmal nicht das Gemeinte wieder. Mitunter besagt das vom Aussagenden gebrauchte Wort zuviel oder zuwenig oder es paßt überhaupt nicht. Ein solches Fehlgreifen im Ausdruck kann vor allem vorkommen, wenn der Wortschatz des Vernommenen klein ist und sein Bestreben, sich genau auszudrücken, ihn zum Gebrauch von Begriffen drängt, mit denen er nicht recht umzugehen versteht. Manchmal sucht er dann ve11geblich nach einer treffenden Bezeichnung und wählt in seiner Verlegenheit eine ganz und gar unpassende. Menschen, die durchaus imstande sind, sich in ihrer gewohnten Sprechweise richtig zu äußern, können in eine solche Zwangslage geraten, wenn sie glauben, sich bei der Vernehmung besonders gewählt ausdrücken zu müssen; ferner wenn sie zu Hause mundartlich reden und sich nun der Ausdrucksweise der Gebildeten anpassen wollen, die ihnen ungewohnt ist.

Stillschweigende Voraussetzungen, mit denen einer der Gesprächspartner nicht rechnet. Manchmal geht der Aussagende bei seiner Darstellung von bestimmten, seiner Meinung nach selbstverständlichen Voraussetzungen aus, ohne daß der Vernehmende dies bemerkt. Oder er legt Erfahrungssätze zugrunde, die dem Vernehmungsleiter nicht bekannt sind. Gerade wenn berufliche Spezialkenntnisse der Beweisperson mitsprechen, nimmt diese mitunter ganz naiv an, daß der Vernehmende über die gleiche spezielle Sachkunde verfügt. Umgekehrt können Mißverständnisse dadurch entstehen, daß der Vernehmende seinerseits Umstände, die für ihn bisher stets mit Vorgängen bestimmter Art verbunden waren, zu Unrecht im vorliegen-

Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

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den Fall als gegeben ansieht. Es kann dann vorkommen, daß der Vernehmungsleiter, ohne seinen Irrtum zu bemerken, die Beweisperson auf dieser trügerischen Grundlage längere Zeit weiter befragt, bis endlich durch einen Zufall erkennbar wird, daß an den bisherigen Ermittlungen offenbar etwas nicht in Ordnung ist und die daraufhin angestellte Nachforschung den Fehler aufdeckt. Solche Mißgriffe können nur dadurch ausgeschlossen werden, daß man sich auch hinsichtlich des Vorliegens anscheinend selbstverständlicher Voraussetzungen auf irgendeine Weise vergewissert.

Aufforderung zu ergänzenden Darlegungen. Wenn die Auskünfte des Vernommenen gewisse Zweifel offen lassen, ist ·er zur Erläuterung und Ergänzung seiner Stellungnahme zu veranlassen. Je konkreter er dabei auf die Einzelheiten eingeht, desto sicherer wird man der Wahrheit auf die Spur kommen. Wenn der Vernehmende sich mit mehr allgemeinen Auskünften zufcieden gibt, so erhält dadurch der unredliche Zeuge (Beschuldigte) nur eine willkommene Gelegenheit, die Bemühungen um eine Sachklärung zu hintertreiben. Aber auch eine Aussageperson, die sich ohne Arglist nur vage ausdrückt, muß im Interesse der Wahrheitstindung zu deutlicheren Erklärungen angehalten werden13. Das beginnt bereits bei den einfachsten Redewendungen. Wenn der Vernommene erklärt, daß A einen "großen Stein" nach ihm geworfen habe, so muß er zu näheren Angaben darüber angeregt werden, wie groß der Stein war. Wenn er sagt, daß es zur Zeit des Autounfalls "etwas neblig" gewesen sei, daß "'ein ziemliches Durcheinander" geherrscht habe usw., so bedarf dies ebenfaUs der Erläuterung, falls es für die rechtliche Beurteilung darauf ankommt.

AufspUren von Unstimmigkeiten im allgemeinen Schwer erkennbare Diskrepanzen. Manchmal wird dadurch, daß der Beurteiler irgendeine Unstimmigkeit übersieht, die Auftindung der Wahrheit endgültig verhindert. Zuweilen deutet lediglich ein ganz unscheinbarer Hinweis in der Bekundung oder im Benehmen des Aussagenden auf das Vorhandensein einer Disharmonie hin. Mitunter läßt sie sich überhaupt nur von ferne ahnen. Der Vernehmende wird daher auch dort, wo die Einzelangaben untereinander und mit den bereits festgestellten Umständen in Einklang zu stehen scheinen, die Dauerhaftigkeit dieser Übereinstimmung kritisch zu prüfen und etwaigen Bedenken, die sich dabei ergeben, sorgfältig nachzugehen haben. 11

KG Ost v. 16. 9. 1954: "Neue Justiz" Jg. 1954 S. 640.

Aufspüren von Unstimmigkeiten im allgemeinen

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Zu d~esem Zweck muß der Beurteiler vor allem seine Vorstellungskraft zu Hilfe nehmen. Er hat sich die vom Aussagenden gegebene Darstellung mit den von ihm erwähnten Besonderheiten mögLichst anschaulich vor Augen zu halten und dabei auch alle weiteren, notwendigerweise dazugehörenden Einzelumstände, die der Aussagende nicht erwähnt hat, hinzuzudenken. Häufig tritt dann klar zutage, daß die ·gegebene Schilderung nicht zutreffen kann.

Widerspruch zum Erfahrungswissen. Eine weitere Möglichkeit, die Angaben der Beweisperson zu kontrollieren, besteht in der Feststellung, ob sie mit den gesicherten Grundsätzen der Erfahrung in Einklang stehen. Diese Überlegung ist für den Wahrheitsforscher ein unentbehrliches Hilfsmittel 14 • Er hat daher d1e von der Erfahrung gelieferten Maßstäbe ständig bei der Hand und bedient sich ihrer bei der Verarbeitung der im Lauf der Vernehmung neu hinzukommenden Beweiselemente, meist ohne sich dessen voll bewußt zu sein. Wenn der Vernommene bei seinen Bekundungen mit der Lebenserfahrung jn Konflikt gerät, kann es sich um ·einen Widerspruch zu physikalischen Gesetzen handeln; so etwa, wenn der Beschuldigte die gestohlene Sache, ohne das Haus betreten zu haben, durch das offene Fenster an sich genommen haben will, dies aber nach den örtlichen Verhältnissen technisch nicht möglich ist. Es können aber auch psychoLogische Unwahrscheinlichkeiten gegeben sein; so etwa, wenn die Zeugin bekundet, der von ihr konsultierte Arzt habe sie in seinem Ordinationszimmer während der Sprechstunde geschlechtlich mißbraucht, obwohl kaum anzunehmen ist, daß der Arzt dies gewagt haben könnte, während nebenan ·im Wartezimmer zahlreich·e Patienten saßen.

Prüfung der Unstimmigkeit. Die Unwahrscheinlichkeit einer Bekundung braucht für sich allein noch nicht dazu zu führen, daß sie ohne weiteres als unwahr anzusehen ist. Man kann sich in dieser Hinsicht leicht täuschen. Manchmal entsteht der unzutreffende Eindruck hochgradiger Unwahrscheinlichkeit nur dadurch, daß der Vernehmende bestimmte Erfahrungssätze, die zur richtigen Beurteilung des Falles nötig sind, nicht kennt. Der Eindruck der Unwahrscheinlichkeit kann zu Unrecht auch dadurch zustande kommen, daß die tatsächlichen Momente, die den Einklang mit den Erfahrungsregeln sofort herstellen würden, vom Aussagenden aus Ungeschick nicht zur Sprache gebracht wurden und daher dem Verneh14 Im einzelnen S. 339 ff.; im Text wird an dieser Stelle nur das vorweggenommen, was der Vernehmende an Kenntnissen schon während der Beweiserhebung unbedingt braucht.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

menden noch nicht erkennbar geworden sind. Fügt der Aussagende seinen Angaben diese von ihm bisher nicht mitgeteilten Umstände nachträglich hinzu, so können zunächst höchst unwahrscheinlich klingende Bekundungen binnen kurzem völlig plausibel sein. Einer Bekundung, die sich auf menschliches Verhalten (der Beweisperson selbst oder eines anderen) bezieht, kann der Charakter der Unwahrscheinlichkeit manchmal schon dadurch genommen werden, daß der Aussagende dazu erläuternd erklärt: "Wir haben das auf der Arbeitsstelle immer so gehalten" bzw. "Bei uns im Weserbergland kennen wir das nicht anders" oder dadurch, daß der Beschuldigte sagt: "Vielleicht ist das eine Eigentümlichkeit von mir; aber ich habe nun einmal diese Angewohnheit und pflege mich regelmäßig so zu verhalten."

Maßnahmen zur Lösung des Widerspruchs. Der Vernehmende hat, wenn eine Angabe mit dem Erfahrungswissen nicht vereinbar zu sein scheint, entweder sofort oder im späteren Verlauf der Vernehmung zu klären, ob die Unstimmigkeit durch zusätzliche Darlegungen des Aussagenden beseitigt werden kann. Bei den in dieser Hinsicht erforderlichen Fragen ist e1mge Behutsamkeit nötig. Wenn der Vernehmende dem Zeugen (Beschuldigten) in allzu selbstgerechter Weise vorhält, daß seine Angaben keinesfalls stimmen könnten, dann erschwert er .sich unnötig den Rückzug, den er vielleicht schon kurze Zeit darauf antreten muß, weil die beanstandeten Bekundungen sich als zutreffend herausstellen. Erg.ibt sich später einwandfrei, daß .der dem Aussagenden vorgehaltene Widerspruch zur Erfahrung tatsächlich nicht vorlag, so ·best·eht di·e einzig richtige Taktik darin, daß der Vernehmende dies unumwunden anerkennt, zumal wenn die Art seiner Vorhalte einiges Mißtrauen hatte erkennen lassen. Er wahrt durch ein solches Anerkenntnis, zu dem sich Jeder Verhörsleiter irgendwann einmal genötigt sehen wird, am besten sein Gesicht und kann auf diese Weise zugleich den Kontakt mit der Aussageperson wieder herstellen, wenn dies·er durch •ungerechtfertigten Argwohn gelitten hat. Je nachdem, in welchem Grade es gelingt, die vom Standpunkt der Lebenserfahrung gegen eine Bekundung bestehenden Bedenken zu zerstreuen, wird der Vernehmende von ihnen entweder ganz Abstand nehmen oder, falls erhebliche Zweifel übrigbleiben, sofort bzw. später an der gleichen Stelle weiter forschen. Erhält der Aussagendetrotz Vorhalts einer kmssen UnwahrscheinLichkeit .seine Angaben unverändert aufrecht, ohne Einzelheit·en beizubringen, die die Übereinstimmung mit dem Erfahrungswissen auch nur

Mitteilungen an den Aussagenden über die besondere Prozeßsituation

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einigermaßen herstellen, •so ist es oftmals am besten, von einer weiteren Erörterung ·dieses Punktes zunächst abzusehen und ·die Vernehmung ohnedem weiterzuführen. Mitunter klärt sich dann die Sache im weiteren Verlaufdoch noch in dem einen oder anderen Sinne auf.

Mitteilungen an den Aussagenden über die besondere Prozeßsituation

Das Problem. Vielfach i.st zweifelhaft, inwieweit der Vernehmende dem Zeugen oder dem Beschuldigten gegenüber erkennen lassen soll, a. welche Umstände bereits sicher festgestellt worden sind, b. auf welche Punkte es vorzugsweise ankommt und c. wie bestimmte Angaben auf den Ausgang des Verfahrens wirken würden. Es ist Aufgabe des Vernehmungsleiters, hier das jeweils richtig·e Maß zu finden. Unrecht wäre es, dem Aussagenden das vorzuenthalten, was er bei seiner vielleicht sehr geringen Situationskenntnis benötigt, um überhaupt eine brauchbare Bekundung machen zu können. Manchmal ist die Beweisperson, zumal bei diffizilen Sachverhalten, zur ordnungsmäßigen Arbeit nur imstande, wenn ihr über das hinaus, was ·sie von der Sache bereits weiß, weitere Hilfen gegeben werden. Andererseits sollte der Wahrheitsforscher dem Aussagenden nicht durch zu weitgehende Aufklärung unnötigerweise die Möglichkeit zu reinen Zweckbekundungen geben, die für die Sachklärung ohne Wert sind.

Einzelgesichtspunkte. Der Zeuge würde dadurch in seiner oft ohnehin viel zu stark ausgeprägten Neigung, den ProZJeß nach seinem Willen zu dirigieren, nur unterstützt werden. Er soll, wie Max Alsberg ·es einmal ausgedrückt hat, nicht allzu genau wissen, wohin die Reise .geht. In der Regel kann es die Entdeckung der Wahrheit nur fördern, wenn er genötigt wird, eine von der Rücksicht auf das Prozeßergebnis möglichst wenig beeinflußte Schilderung zu geben. Das gilt zunächst für den am Ausgang der Sache persönlich interessierten Zeugen, bei dem stets ·damit zu rechnen i·st, daß er das Verfahren in seinem Sinne zu lenken versucht. Die gleiche Handhabung ist aber auch bei den zahlreichen Zeugen angebracht, die an der Sache zwar materiell nicht beteiligt sind, aber auf Grund vorgefaßter Meinungen dennoch auf ein bestimmtes Prozeßergebnis hinsteuern. Steht dagegen sowohl die Bereitschaft des Aussagenden zur objektiven Darstellung als auch seine Fähigkeit dazu außer Frage, so kann es bei schwierigeren Beweisthemen unter Umständen zweckmäßig sein, den Willen zu intensiver Bemühung um wahrheitsgemäße Bekundungen in ihm dadurch zu stärken, daß man ihm von vornherein klaren

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

Wein über die Gesamtsituation und in Ausnahmefällen auch über die voraussichtliche Bewertung bestimmter Angaben einschenkt.

Der Beschuldigte wird, wie das nur natürlich ist, im allgemeinen schon aus Gründen der Selbstbehauptung das Bestreben haben, die von ihm gegebene Sachdarstellung seinem Interessenstandpunkt anzupassen. Von ihm ist daher eine der Wirklichkeit entsprechende Schilderung oft überhaupt nur zu erhalten, wenn man die entscheidenden Fragen unauffällig in die allgemeine Erörterung ·einflicht und den logischen Zusammenhang, in dem sie wichtig sein könnten, möglichst wenig hervortreten läßt. In den Fällen, in denen der Beschuldigte über das ihm bereits Bekannte hinaus zur sachgemäßen Stellungnahme keine näheren Angaben benötigt, sollte man sie ihm daher auch nicht .geben. Es ist zwar gelegentlich die Ansicht vertreten worden, daß der Vernehmende seine Karten in jeder Lage des Verfahrens rückhaltlos aufzudecken habe. Er würde dann verpflichtet sein, auch dem stark verdächtigen Beschuldigten gegebenenfalls erkenntlich zu machen, daß keine unmittelbaren Tatzeugen vorhanden sind. Ferner würde er den Zeugen bzw. den Beschuldigten, wenn dieser Angaben macht, die nach den am Tatort getroffenen Feststellungen einwandfrei unrichtig sind, in jedem Falle sogleich darüber .aufklären müssen, so daß der Aussagende, falls er auf Unwa:hrheiten ausgeht, in der Lage wäre, seine weiteren Erklärungen danach einzurichten. Das würde jedoch einen unger·echtfertigten Verzicht auf wichtige Kontrollmöglichkeiten bedeuten, die dem Vernehmenden zur Überprüfung dergemachten Angaben zur Verfügung stehen. Ein solcher Verzicht kann aber unter Umständen gerade auch für den unschuldigen Verdächtigen große Nachteile mit sich bringen.

Günstige Wirkung sparsamer Angaben über die spezielle Prozeßlage. Durch die (richtig gehandhabte) Vorenthaltung von eingehenderen Mitteilungen dieser Art wird der ehrliche Zeuge bei der Darlegung des wahren Sachverhalts nicht entscheidend behindert werden, während dem unredlichen Zeugen auf diese Weise die Aufrechterhaltung seines Lügensystems beträchtlich erschwert wird. Elbenso würde dem mit Unwahrheiten aufwartenden Beschuldigten durch rückhaltlose Offenheit des Vernehmenden beste Gelegenheit zur weiteren Verdunkelung gegeben werden. Man sollte daher die Pflicht des Beamten zu fairer Ausübung der Ermittlungstätigkeit nicht schlechthin schon dann als verletzt ansehen, wenn er es unterläßt, seine Karten ganz aufzudecken. Gerade für den zu Unrecht in Verdacht geratenen Beschuldigten kann es unter Umständen von größtem Nutzen sein, wenn man ihn zwar pflichtmäßig mit dem gegen ihn gerichteten Tatvorwurf bekannt macht,

Mitteilungen an den Aussagenden über die besondere Prozeßsituation

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ihm aber zunächst keine allzu eingehenden sonstigen Informationen gibt. Insbesondere in Fällen, wo ein Verdächtiger zunächst schwer belastet erscheint und seine Gegendarstellung fürs erste wenig wahrscheinlich ist, kann sie unter Umständen allein durch die Erwägung einige Glaubwürdigkeit erhalten, daß dem Beschuldigten der Stand der Ermittlungen nicht bekannt gewesen war, seine Darstellung aber gleichwohl trotz ständig fortschreitender Nachforschungen mit allen voll bewiesenen Tatumständen in Einklang geblieben ist. Die Vorenthaltung bestimmter Einzelheiten kann also nicht nur dazu dienen, einen Delinquenten zu überführen, der mit der Wahrheit zurückhält, sondern sie kann ebensogut auch dazu beitragen, einen zu Unrecht in Verdacht Geratenen zu entlasten. Das mag für diejenigen besonders hervorgehoben sein, die glauben, einen unschuldigen Verdächtigen in jedem Fall am besten dadurch in Schutz nehmen zu können, daß sie eine unbedingte Pflicht des Vernehmenden zu sofortiger Mitteilung aller vorhandenen Belastungsmomente konstruieren 15 •

Hinweise auf die rechtliche Bewertung bestimmter Angaben. Mit Eröffnungen dieser Art wird der Vernehmende meist ebenfalls zurückhaltend sein müssen. Soweit der Beweisperson die rechtliche Bedeutung ihrer Bekundungen von vornherein erkennbar ist, muß das in Kauf genommen werden. Soweit sie ·dagegen darüber nicht Bescheid weiß, besteht im allgemeinen kein Anlaß, sie durch genauere Unterrichtung in Versuchung zu führen. Wer hier allzu sorglos vorgeht, erreicht damit unter Umständen lediglich, daß auf diese Weise wichtiges Beweismaterial entwertet wird und damit die Aussichten auf eine völlige Sachklärung dahinschwinden. Nachträgliche Informierung des Aussagenden. Hat der Zeuge bzw. der Beschuldigte erst einmal, ohne daß er über die spezielle Prozeßsituation im Bilde war, sich Z'Ur Sache geäußert, so kann man ihn in dieser Hinsicht aufklären, ohne daß ein sonderlicher Schade für die Wahrheitsermittlung zu befürchten wäre. Eine solche nachträgliche Unterrichtung ist oft sogar notwendig, um festzustellen, ob der Aussagende seine frühere Darstellung auch bei voller Situationskenntnis aufrechterhält oder ob er sie nunmehr abzuändern versucht. Modifiziert er seine Angaben nach erfolgter Aufklärung, so läßt sich nicht schlechthin sagen, daß die ursprüngliche Bekundung die richtige sei und daß ·die spätere Version durch nachträgliche Nützlichkeitserwägungen verdorben sein müßte. Vielmehr ist jeweils im einzelnen f·estzustellen, welche Momente beim Zustandekommen der ersten Bekundung mitgesprochen haben und was die Aussageperson dazu ver11

Mimin S. 63.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

anlaßt hat, sie später abzuändern. Es kann sich dann durchaus ergeben, daß der Aussagende bei seiner ursprünglichen Stellungnahme mangels genügender Einweisung in seine Auf.gabe oder auf Grund unzutreffender Beurteilung der Interessenlage unrichtige Angaben gemacht hat, die in der Tat der Korrektur bedürfen.

Besonderheiten in gewissen Verjahrensarten. Entsprechendes gilt auch für den Zivilprozeß, wo es sowohl bei der Parteivernehmung als auch bei der Zeugenbekundung für die Wahrheitstindung vielfach nachteilig ist, wenn der Aussagende durch zu weitgehende Aufklärung an einer unbefangenen Stellungnahme verhindert wird. Freilich hat im Zivilprozeß der zu Vernehmende meist Anspruch darauf, daß ihm rechtzeitig vor dem Beweistermin das Thema der Befragung mitgeteilt wird 16 , so daß er in der Lage ist, sich darauf in gewisser Weise zu präparieren. Ob der Richter jedoch die Beweisfrage sehr speziell faßt oder sie mehr allgemein umschreibt, steht weitgehend in seinem Ermessen. Er hat auch im Zivilprozeß, wenn die Rücksicht auf die Wahrheitsfindung es erfordert, das Recht und unter Umständen sogar die Pflicht, in dieser Hinsicht Zurückhaltung zu üben. Gerade für den Bereich des Zivilprozesses ist mit Fug darauf hingewiesen worden, daß Zeugen, die der Richter wenig oder gar nicht kennt, und solche, die nicht sonderlich verläßlich erscheinen, über die Gesamtsituation möglichst lange in Unkenntnis gelassen werden sollten 17 • Freilich müssen bei alledem die berechtigten Belange des Aussagenden berücksichtigt werden. Für Arbeitsgerichtssachen ist gelegentlich die Auffassung vertreten worden, daß der Zeuge bzw. die Partei bei der Vernehmung regelmäßig über den springenden Punkt ins Bild gesetzt werden müsse. Aber in dieser allgemeinen Form würde der Grundsatz viel zu weit gehen. Er bedarf vielmehr der Einschränkung, wo das Interesse der Wahrheitsfindung entgegensteht.

Sofortige Mitteilung von Gegenargumenten Verschiedene Möglichkeiten des Vorgehens. Macht der Aussagende Angaben, die mit seiner früher·en Darstellung, mit feststehenden Erfahrungssätzen oder mit sicher festgestellten Einzelumständen nicht zusammenzustimmen scheinen, so kann man diese Diff.er·enz auf zweierlei Weise zu lösen versuch.en: Entweder gibt der Vernehmende dem Zeugen (bzw. dem Beschuldigten) sogleich die gegen seine Darstellung bestehenden Bedenken bekannt und fordert ihn auf, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der Aussagende wird, wenn er unzutreffende Angaben gemacht hat, daraufhin seine Darstellung vielleicht berichtigen. Wenn er sie dagegen aufrechterhält, wird er durch seine zusätzlichen Stellungnahmen sowie durch die Art, in der er sie vorbringt, Anhaltspunkte für die Wahrheitsforschung liefern. 11 11

§ 377 ZPO (Zeuge) und § 450 ZPO (Partei). Krönig S. 14.

Sofortige Mitteilung von Gegenargumenten

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0 der der Vernehmende stellt seine Einwände einstweilen zurück und setzt ·die Erörterung zunächst fort, ohne auf die vorhandenen Gegenargumente hinzuweisen, deren Mitteilung er sich für einen späteren Zeitpunkt der Vernehmung aufspart. Das 1st ·dann eine spezielle Anwendung dessen, was im vorigen Abschnitt über die grundsätzliche Zulässigkeit einer Vorenthaltung von Einzelheiten gesagt worden ist. Welche dieser beiden Methoden d·ie größeren Erfolgsaussichten besitzt, ist von Fall zu Fall zu erwäg·en. Jede von ihnen hat ihre spezifischen Vorteile, aber auch gewisse Nachteile:

Auswahl der richtigen Verfahrensweise. Wenn man dem Aussagenden die Gegengründe sogleich mitteilt, so hat ·dies jedenfalls den Vorzug, daß der fragliche Punkt sogleich der Klärung zugeführt werden kann. Andererseits wird die Beweisperson dann über die ihren Angaben entgegenstehenden Einwände, soweit diese ihr noch nicht bekannt gewesen sind, sogleich und (vom Standpunkt der Vernehmungstaktik aus betrachtet) oft viel zu früh unterrichtet. Manchmal ist mit ziemlicher Sicherheit vorauszusehen, daß die Wahrheit nur dann an den Tag kommen wird, wenn der Vernehmende die Gegenargumente zunächst für sich behält. In solchen Fällen wäre es ein taktisch·er Fehler, wenn man den Aussagenden durch sofortige Mitteilung der vorhandenen Bedenken warnen und ihm Gelegenheit zur Verunklarung des Sachverhalts geben wollte. Die in der Vorenthaltung von Einwänden liegende Erprobungsmöglichkeit ist für die Wahrheitsforschung von besonderem Wert, weil eine unredliche Auskunftsperson irrfolge ihrer Unkenntnis über die vom Vernehmungsleiter zur Zeit angestellten Erwägungen hier ständig in Gefahr ist, sich Angriffspunkte zu geben. Mitunter fährt sie sich dabei so fest, daß plausible Ausreden, die ihr bei vorzeitiger Unterrichtung noch 2lUr Verfügung gestanden hätten, dann nicht mehr möglich sind18 • Sie verfängt sich auf diese Weise schließlich in .i:hren eigenen Netz·en. In solcher Zwangslage finden sich dann vielfach selbst Aussagepersonen, die fest entschlossen waren, ihre falschen Angaben allen Widerständen zum Trotz aufrechtzuerhalten, zur Berichtigung bereit, sobald sie ·sich auf offenbaren Lügen ertappt und vor aller Augen bloßgestellt sehen.

Richtiges Verfahren bei Vorenthaltung von Belastungsmomenten. Freilich .ist dazu erforderlich, daß der Aussagende von vornherein durch genaue Protokollierung s·einer Angaben auf die von ihm vorgebrachten Unwahrheiten festgelegt wird. Andernfalls würde er sich später leicht 18

L. Philipp, Kriminalistische Denklehre (1927) S. 108.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

damit herausreden können, daß er dies nicht gesagt oder es nicht so gemeint habe. Manchmal will der Vernehmende die Trümpfe, die er in der Hand hat, gleich ausspielen. Er möchte zeigen, daß er gut orientiert ist und sich nicht anlügen läßt. Aber er sollte doch stets erwägen, ob es im gegebenen Falle taktisch richtig ist, wenn er diesem an sich verständlichen Bestreben nachgibt. Gewiß kompliziert sich oft die Arbeit des Vernehmenden, wenn er v·ermutliche Unrichtigkeiten, statt sie sofort zu beanstanden, zunächst passieren läßt. Andererseits gerät er dann jedenfalls nicht in Versuchung, sein Pulver vorzeitig zu verschießen und dadurch eine vielleicht wichtige Aufklärungsmöglichkeit zu v·erlieren.

Methodenverbindung. Beide Arten d·es Vor.gehens schließen sich gegenseitig nicht aus. Man kann sie vielmehr auch miteinander kombinieren und oft stellt gerade ihre Verbindung den einzig richtigen Weg dar. Der Vernehmungsleiter läßt dann nicht sofort erkennen, welche Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der gegebenen Darstellung bereits vorliegen, sondern gibt dem Aussagenden lediglich in allgemeiner Form davon Kenntnis, daß er gegen dessen Angaben Bedenken hat. Er kann das leichthin und mehr ·erwägungsweise tun, ohne die Indizien zu erwähnen, die gegen ·die Schilderung der Auskunftsperson sprechen. Der Vernehmende kann Hinweise dieser Art sogar mehrfach wiederholen, um seinem Gesprächspartner immer wieder neue Gelegenheit zum Nachdenken über den fraglichen Punkt zu geben. Redliche Aussagepersonen korrigieren sich dann oftmals entsprechend. Der unredliche Zeuge (Beschuldigte) wird ·dagegen durch diese Art des Vergehens meist zu der Annahme verleitet werden, daß seine Lügen vom Vernehmenden, da dieser keine konkreten Gegengründe vorbringt, nicht widerlegt werden könnten; er pflegt sich dann dadurch Blößen zu geben, daß er sich nunmehr ganz auf sein Lügensystem festlegt, dessen Zusammenbruch bevorsteht.

Fragetaktik Reihenfolge der Erörterung. Die Aufeinanderfolge der Fragen ist nicht, wie der Anfänger manchmal meint, eine im großen und ganzen festliegende. Der Vernehmungsleiter ist befugt, sie auf die verschiedenste Weise zu variieren. Er darf den Hergang der Befragung individuell gestalten und sollte von dieser Möglichkeit ausgiebigen Gebrauch machen. Der logische Zusammenhang, in dem der Wahrheitsforscher die Einzelheiten zu verwerten gedenkt, braucht dabei keines-

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wegs ,immer deutlich hervortreten 19 • Freilich sollte man sich auch in dieser Hinsicht vor Übertreibungen hüten. Das sog. Zickzack-Verhör, bei dem die logische Verbindung der einzelnen Fragen nicht ohne weiteres erkenntlich ist, wird vor allem von französischen Schriftstellern empfohlen. Man wendet es nicht nur in Frankreich, sondern auch in vielen anderen Ländern an, freilich mit unterschiedlicher Fertigkeit. Nach der klassischen Beschreibung von Daniel Jousse (1704-81) sieht es in seiner extremen Form folgendermaßen aus: Der Vernehmende stellt zunächst eine oder zwei Fragen hinsichtlich eines Punkts, geht dann Z'U etwas anderem über und richtet mit Bezug darauf wiederum ein bis zwei Fragen an den Aussagenden, ·ebenso hinsichtlich eines dritten Punkts. Dann kommt er wieder beiläufig auf den ersten Umstand zurück und stellt darüber eine Frage, die bisher noch nicht vorgekommen war. Anschließend springt er vielleicht zu einem vierten Punkt, der der Erörterung bedarf, um nunmehr nochmal auf Punkt drei zurückzukommen usw. Auf diese Weise soll einem unredlichen Zeugen oder Beschuldigten die Übersicht über die Vernehmungssituation erschwert und die Aufrechterhaltung seines Lügengebäudes schließlich unmöglich gemacht werden 20 • Beim Aufbau der Befragung ist einerseits auf die Besonderheit der Sache und andererseits auf die Eigenart der Aussageperson Rücksicht zu nehmen. Wer immer wieder das gleiche Ausfrageschema verwendet, hat geringere Aussicht, zum Ziel zu kommen, als jemand, der sein Vorgehen abzuwandeln und der jeweiligen Situation anzupassen weiß. Eine mechanische, nicht auf die besonderen Umstände abgestellte Arbeitsweise gibt zu wenig Sicherheit. Wenn sie sich in der Praxis vielfach noch behauptet, so beruht das nicht etwa auf ihrer sachHchen Eignung, sondern vor allem auf einer gewissen Bequemlichkeit der Vernehmungsbeamten. Bei parteiischen Zeugen sollte man, um eine eintgermaßen objektive Stellungnahme zu erreichen, den Zweck der gestellten Frage möglichst nicht erkennbar machen. Für die Glaubwürdigkeit der Angabe ist es oft von großem Wert, wenn die Frage in einen Zusammenhang u Nur selten hat der Gesetzgeber die Einhaltung der logischen Fragenfolge vorgeschrieben, wie das in der Österreichischen Strafprozeßordnung vom 29. 7. 1853 im § 176 geschehen war. Näheres über diese Materie bei F. Meinert, Vernehmungstechnik (1956) S. 145 ff. und in: "Das kriminalpolizeiliche Ermittlungsverfahren" (1957) S. 220. 20 Mimin S. 69; diese Vernehmungsmethode ist nur in gewissen Grenzen zulässig. Die Befragung darf nicht zu einem regelrechten Verwirrungsverhör werden, bei dem die Denktätigkeit des Vernommenen so behindert wird, daß auch ein Unschuldiger dadurch in Verlegenheit geraten könnte. Das würde zur völligen Entrechtung des Beschuldigten und oft auch zur Irreleitung der Wahrheitstindung führen.

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gestellt wird, der ihre enge Zugehörigkeit zum Beweisthema verbirgt, so daß der Vernommene sie als "harmlos" empfindet und sie daher unvoreingenommen und unbeeinfiußt von Zweckberechnungen beantwortet. Für den Beschuldigten gilt im allgemeinen das gleiche. Es wäre höchst unklug und unter Umständen geradezu leichtfertig, wenn der Verhörsleiter bei der Vernehmung durch die Reihenfolge der Fragen allzusehr erkennen lassen würde, welchen Weg zur Aufklärung der Sache er beschreiten will.

Der Zeitpunkt der Fragestellung. Mitunter kommt für die Ermittlung der Wahrheit viel darauf an, in welchem Stadium der Erörterung eine bestimmte Frage gestellt wird. Wenn der günstige Augenblick verpaßt wird, mindern sich dadurch nicht selten die Aussichten auf eine brauchbare Antwort. Ebenso verlieren manche Vorhalte, die ihrer Art nach geeignet gewesen wären, beim Aussagenden eine starke Wirkung hervorzurufen, einen Teil ihr·er Kraft, wenn sie nicht im psychologisch richtigen Moment, sondern zu früh oder zu spät angebracht werden. Der Vernehmende hat sich danach einzurichten. Die nötige Treffsicherheit in dieser Hinsicht muß meist erst nach und nach durch beharrliches Streben erworben werden. Im allgemeinen wird man mit den Fragen beginnen, die am weitesten vom eigentlichen Thema entfernt liegen und erst nach und nach sich dem Hauptpunkt nähern.

Sachgemäße Vorbereitung der Erkundigung. Vielfach hängt es von der Art und Weise, in der die Frage vorbereitet wird, ab, inwieweit die darauf erteilte Antwort die Unklarheiten zu beseitigen vermag. Im allgemeinen hat der Vernehmende es ,in der Hand, durch angemessene Lenkung der Erkundigungen zu verhindern, daß der Aussagende sich auf Grund seiner Ungewandtheit, Gleichgültigkeit, Impulsivität vergaloppiert und eine fragwürdige Auskunft gibt. Er kann eine Beweisperson, die infolge 'ihrer Wesensart oder auf Grund von Voreingenommenheit in Gefahr ist, unrichtige Angaben zu machen, oft vor Unbesonnenheiten bewahren, indem er ihr durch schrittweises und zweckentsprechendes Vorgehen den Weg zu •einer gut überlegten, nicht von Willkür und Zufall beeinflußten Darstellung ebnet. Er ist häufig in der Lage, dem Zeugen und dem Beschuldigten den Zugang zu Bekundungen freizumachen, die an di:e Wahrheit heranführen. Eindeutigkeit der Frage. Es sollte sich eigentlich von selbst verstehen, daß bei den Erkundigungen des Vernehmenden deutlich hervortreten muß, was er wissen will21 • 21

RGStr. Bd. 10 S. 340.

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Doppelfragen, in denen Dinge zusammengeiaßt werden, die sich besser einzeln klarstellen lassen, sind zu vermeiden. Wenn gefragt wird: "Sind Sie mit der X öfters im Dunkeln auf der Stadtpromenade spazieren gegangen?", so wird der Aussagend·e dadurch unter Umständen vor eine unlösbare Aufgabe gestellt. Vielleicht ist er mit der X zwar dort zusammen gewesen, aber nicht mehrfach, sondern nur einmal. Vielleicht hat es sich dabei nicht um einen gemeinsamen Spaziergang gehandelt, sondern darum, daß die beiden .sich zufällig trafen, ein paar Worte wechselten und sich dann wieder trennten. Vielleicht geschah das nicht während der Dunkelheit, sondern am Tage oder einmal im Dunkeln und ein anderes Mal bei Tageslicht. Man versetze sich in die Lage ·eines nicht sonderlich aufgeweckten Aussagenden, der auf ein solches Fragenbündel Rede und Antwort stehen soll; er wird bei dieser Art des Vorgehens völlig überfordert. Dabei braucht keineswegs böser Wille des Vernehmenden zugrunde zu liegen. Vielfach veranlaßt die Überlastung auch den um ein korrektes Verfahren besorgten Beamten, zur Abkürzung der Sache solche kumulativen Fragen zu stellen. Bei Menschen mit langsamem Gedankenablauf, aber auch bei wendigeren Auskunftspersonen kompliziert sich die Vernehmungssituation auf diese Weise mitunter derartig, daß die hea:bsichttgte Vereinfachung und Abkürzung letzten Endes nicht erreicht wird. Ist der Zeuge bzw. der Beschuldigte aufrichtig um eine wahrheitsgemäße Aussage bemüht, so kommt es bei ihm irrfolge von Doppelfragen leicht zu Mißverständnissen. Oft erfaßt er nur eine von mehreren, ihm in geballter Form entgegengehaltenen Fragen und nimmt zu ihr Stellung, während die anderen unbeantwortet bleiben, vielleicht ohne daß es dem Vernehmenden auffällt22 • Ist der Aussagende dagegen unredlich, so erhält er durch Doppelfragen unnötigerweise eine Chance zur Fortsetzung seiner Fälschertätigkeit Man gibt ihm durch sie eine willkommene Geleg.enheit, sich den Gesichtspunkt, den er beantworten will, unter Ignorierung des sonstigen Frageinhalts auszusuch.en und dadurch den Sachverhalt zu verwirren. Stellt sich heraus, daß eine Frag·e, die zunächst völlig unkompliziert erschien, irrfolge von Umständen, die dem Vernehmenden nicht bekannt waren, der Zerlegung in mehrere Unterfragen bedarf, so sollte die Unterteilung sogleich wenigstens nachträglich vorgenommen und die Antwort auf die Einzelpunkte schrittweise erarbeitet werden.

Geradezu gerichtete Fragen. Mit ihnen muß vielfach sparsam umgegangen werden. Wenn ein Beschuldigter oder ein am Ausgang der 22

R. Graßberger, Psychologie des Strafverfahrens (1950) S. 122 ff.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

Sache interessierter Zeuge vernommen wird, empfiehlt es sich meist nicht, daß man ihn nach dem zu klärenden Hauptpunkt geradeheraus fragt. Vielmehr ist im allgemeinen ·ein Wahrheitsgemäßeres Ergebnis zu erwarten, wenn man zunächst auf Dinge eingeht, die mehr am Rande liegen. Der Vernehmende kann z. B. nach Einzelheiten forschen, die den Lebenslauf oder den beruflichen Werdegang des Aussagenden betreffen. Er kann sich nach seinen Beziehungen zu anderen an der Sachklärung beteiligten Personen erkundigen oder sonstige Umstände besprechen, die nicht den Hauptgegenstand der Vernehmung bilden. Dadurch erhält er, bereits bevor das Gespräch auf den ·eigentlichen Tatvorfall kommt, einen Eindruck von der Wesensart des Aussagenden und von seinen geistigen Fähigkeiten; er kann sich auf diese Weise oft auch schon ein Bild über die Grundhaltung machen, von der aus die Beweisperson an ihre Aufgabe herangeht.

Sachaufklärung durch Situationsfragen Allgemeines. Wenn zweifelhaft ist, ob der Aussagende ein wirkliches Erlebnis wiedergibt, sind zur Prüfung ·seiner Verläßlichkeit sog. Situationsfragen zu stellen. Man verlangt dabei von ihm Auskunft über solche Umstände, die für die Beurteilung des Falles nicht oder nur nebenbei von Bedeutung sind, die aber als Anhalt für die Glaubwürdigkeit des Vernommenen dienen können. Testwert haben verständlicherweise nur Einzelheiten, die der Aussagende, wenn er einen erlebten Vorgang 'schildert, ohne weiteres wissen müßte. Meist richten sich diese Erkundigungen auf irgendwelche äußeren Momente; so etwa darauf, was dem Vorgang, den der Aussagende erlebt haben will, vorausgegangen war bzw. ihm nachfolgte. Oder es wird nach bestimmten Besonderheiten des Tatorts, nach der Witterung zur fraglichen Zeit usw. gefragt. Der Vernehmende muß über diese Einzelheiten selbst orientiert sein oder doch die Möglichkeit haben, die Antworten auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Ein Hauptpunkt dabei ist ferner, daß man die Auskunftsperson nach solchen Einzelheiten fragt, bezüglich deren sie eine Erkundigung wahrscheinlich nicht erwartet haben wird und zu denen sie daher unvorbereitet Stellung nehmen muß.

Die Wirkungsweise von Situationsfragen. Hat der Vernommene eine fingierte Darstellung gegeben, so braucht er für die Antwort auf unvorhergesehene Nachfragen, wenn er sich nicht in Widersprüche verwickeln will, mehr Überlegungszeit als jemand, der nur das Erlebte ge-

Sachaufklärung durch Situationsfragen

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treu aus der Erinnerung wiedergibt 23 . Es versteht sich von selbst, daß der Vernehmende ihm diese zusätzliche, zu Täuschungszwecken benötigte Zeit nicht bereitwilligst zur Verfügung stellen darf, sondern die Fragenfolge zu beschleunigen hat mit dem Ziel, daß dem Aussagenden nur soviel Zeit zur Beantwortung bleibt, wie er braucht, wenn er etwas wirklich Erlebtes wiedergibt24 . Man rechnet damit, daß der Vernommene, wenn er gelogen hat, bei der Kürze der ihm gewährten Überlegungsfrist nicht oder doch nicht auf die Dauer in der Lage sein wird, sein Lügensystem von Unstimmigkeiten freizuhalten. Diese Methode ist von den Ermittlungsbehörden und Gerichten immer wieder angewandt worden. Gegen ihre Berechtigung können grundsätzliche Einwendungen nicht erhoben werden. Mit ihrer Hilfe kann man den Aussagenden, auch wenn er die Angelegenheit vorher gut durchdacht zu haben glaubte, immer wieder vor neue Aufgaben stellen, die für ihn verhältnismäßig leicht zu bewältigen sind, wenn er einen erlebten Vorgang schildert, die ihn aber in Schwierigkeiten bringen, wenn er gelogen hat. Stellt sich heraus, daß er Fragen, die für ihn voraussehbar waren und von denen somit anzunehmen ist, daß er sich die Antworten vorher zurechtgelegt hat, auf Anhieb beantwortet, während er auf unerwartete Fragen einfacherer Art unsicher und mit auffälliger Verzögerung reagiert, so muß das Zweifel an der Richtigkeit seiner Schilderung hervorrufen.

Rücksichtnahme auf die psychische Eigenart des Aussagenden. Bei der Bewertung des vom Vernommenen in dieser Hinsicht gezeigten Verhaltens muß auch seine größere oder geringere geistige Beweglichkeit sowie seine Fähigkeit zu richtigem intuitivem Handeln in unvorhergesehenen Situationen in Anschlag gebracht und das Tempo der Fragenfolge darauf abgestimmt werden. Hat der Vernehmende einen jener Lebenstechniker vor sich, die sich den Erfordernissen des Augenblicks hervorragend anzupassen verstehen und auch durch unvermutete Nachfragen nicht leicht in Verlegenheit zu bringen sind, so kann er ihn meist nur durch ein forciertes Frageverhör auf die Probe stellen. Je findiger und einfallsreicher die Auskunftsperson ist, desto mehr muß der Vernehmende die ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten ausnutzen25. 23

C. Leonhardt: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 48 (1934)

s. 112 f.

24 A. Hellwig, Psychologie und Vernehmungstechnik S. 250 (Frage, Antwort, neue Frage folgen einander Schlag auf Schlag). 25 In England wird im Kreuzverhör diese Taktik ständig und teilweise virtuos gehandhabt. Dazu W. M. Best, Grundzüge des englischen Beweisrechts (1851) S. 427; John H. Munkman, The Technique of advocacy (1951) S. 77 ff.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

Geistig schwerfälligen und leicht irritierbaren Menschen dagegen fehlt jene Gewandtheit, die es ihnen- falls sie von der Wahrheit abgewichen sind- ermöglichen würde, den dadurch entstehenden Schwierigkeiten geschickt zu begegnen. Wenn sie sich nicht in einer besonders günstigen Verteidigungsposition befinden und diese konsequent festhalten, werden sie bald ertappt und schnell zur Strecke gebracht. Bei ihnen bedarf es daher meist auch keiner so raschen Fragenfolge, um ihre Ehrlichkeit oder Unehrlichkeit klarzustellen.

Die Suggestivfrage Die mit ihr verbundene Gefahr. Als suggestiv bezeichnet man Fragen, die, statt in neutraler Weise zu weiteren Angaben aufzufordern, eine bestimmte Antwort nahelegen. Man kann auch von "lenkenden Fragen" sprechen, weil sie mehr oder minder deutlich erkennen lassen, welche Antwort der Vernehmende erwartet. Das Bedenkliche der Suggestivfrage liegt darin, daß der Aussagende, mag er nun Zeuge oder Beschuldigter sein, sich unter Umständen durch diese Andeutung verleiten läßt, die ihm nahegelegte Antwort zu geben, obwohl sie vielleicht nicht der Wahrheit entspricht. Besonders groß ist diese Gefahr bei Zeugen, die gleichgültig und daher allzu leicht geneigt sind, ohne genauere Prüfung einfach das zu bestätigen, was der Vernehmende ihrer Meinung nach von ihnen verlangt; ferner bei Zeugen, die nicht gleichgültig, aber von Natur für Suggestionen besonders empfänglich sind, und schließlich bei solchen, die (wie Kinder und Greise) sich infolge der durch ihren Entwicklungszustand bedingten Schwäche besonders leicht beeinflussen lassen. Aber auch beim Beschuldigten können Suggestivfragen zu falschen Antworten führen und dadurch Schaden anrichten. Gewiß wird jemand, der geistig gesund ist, schwerlich durch Suggestivfragen zur Anerkennung eines Einbruchsdiebstahls zu bringen sein, den er nicht begangen hat. Aber es können leicht unrichtige Angaben zustande kommen, wenn in suggestiver Weise nach Einzelheiten gefragt wird, deren belastenden Charakter er nicht erkennt. Dann kommt auch der Beschuldigte nicht selten in Versuchung, Umstände leichthin zuzugestehen, die in Wirklichkeit nicht gegeben waren, zumal wenn Willensschwäche, Nervosität oder Ermüdung seine Wachsamkeit herabmindern. Besonders naheliegend ist diese Gefahr auch dort, wo er nach Einzelheiten gefragt wird, über die er sich selbst nicht recht im klaren ist, wie z. B. über die Beweggründe seines Verhaltens oder über andere eigenpsychische Vorgänge.

Die Suggestivfrage

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Gefördert wird die Suggestivwirkung mitunter auch durch die situationsmäßige Überlegenheit des Vernehmenden. Er besitzt schon allein durch die Autorität, die ihm sein Amt verleiht, ein gewisses Übergewicht, das unter Umständen durch den Einfluß einer beträchtlichen Selbstsicherheit noch verstärkt wird.

Inwieweit sind Suggestivfragen zulässig? Darüber ist ein umfangreiches Schrifttum vorhanden. Es ist dies einer der wenigen Fälle, in denen sich weitere Kreise unserer Juristenschaft eingehender mit einem Problem der Vernehmungstechnik beschäftigt haben. Aber trotz nachhaltiger wissenschaftlicher Erörterungen ist die erwünschte Klarheit bisher nicht zu erreichen gewesen. Das Problem besteht auch in den Ländern, in denen - wie z. B. in Italien, Griechenland, Ungarn, Norwegen- Suggestivfragen durch die Prozeßordnung strikt verboten sind. Denn die Verbote beziehen sich meist nur auf das gerichtliche Verfahren und nicht auf die polizeiliche Vernehmung. Jedenfalls hat die Polizeipraxis ein allgemeines Verbot von Suggestivfragen nirgendwo als für sich verbindlich anerkannt. Den gesetzlichen Bestimmungen, durch die der Gebrauch von Suggestivfragen in manchen Ländern unterbunden werden soll, liegt eine sehr achtbare Absicht zugrunde. Da jedoch nirgends ganz und gar auf Fragen verzichtet werden kann, die eine gewisse (wenn auch entfernte) Suggestivwirkung haben, kommt es allenthalben letzten Endes darauf an, die richtige Grenze zwischen noch vertretbaren und nicht mehr zulässigen Suggestivfragen zu finden. Es bedarf kaum der Betonung, daß dabei in Ländern, in denen der Gebrauch von Suggestivfragen durch den Gesetzgeber aufs Äußerste beschränkt worden ist, besonders strenge Maßstäbe angelegt werden müssen. Eine einheitliche Formel für diese Abgrenzung ist schon aus diesem Grunde nicht möglich; doch lassen sich einige Hauptgrundsätze aufstellen: a) Zunächst darf die Suggestivfrage nicht zur Abkürzung der Vernehmung verwandt werden, so verständlich es manchmal auch sein mag, daß der Vernehmende Zeit und Mühe sparen will; sie ist vielmehr nur dann als zulässig anzusehen, wenn sie aus Gründen der Wahrheitsfindung notwendig erscheint. b) Der Vernehmende sollte Suggestivfragen nicht zur Harmonisierung widerspruchsvoller Beweisergebnisse verwenden. Selbst wenn eine starke Vermutung für die von ihm der Beweisperson in den Mund gelegte Version zu sprechen scheint, ist immer eine gewisse Gefahr damit verbunden, wenn der Verhörsleiter in suggestiver Weise auf ein einhelliges Beweisergebnis hinstrebt. Dadurch wird nur zu leicht das in den Aussagenden hineingefragt, was der Vernehmende in der augenblicklichen Verfahrenssituation zur Gewinnung einheitlicher Resul-

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tate bestätigt sehen möchte. Man sollte bedenken, daß die Bekundung, die auf eine Suggestivfrage hin erfolgt, von vornherein einen Teil ihrer Glaubhaftigkeit einbüßt28 und daher die erstrebte Bekräftigung der bisherigen Ergebnisse vielleicht nur unvollkommen herbeizuführen vermag. c) Eine weitere Grundregel geht dahin, daß der Vernehmende seine Frage stets nur im vollen Bewußtsein der Suggestivwirkung stellen darf und dabei den Einfluß ins Auge zu fassen hat, den das in ihr liegende suggestive Element gerade auf diesen Zeugen bzw. diesen Beschuldigten haben kann. Er hat dementsprechend zu erwägen, ob die Frage trotz ihrer suggestiven Form der Sachaufklärung förderlich sein wird. d) Mit Suggestivfragen bezüglich des Hauptpunktes wird man vorsichtiger umzugehen haben als mit solchen, die sich auf einen Nebenumstand beziehen. Wenn viel auf die Aussage ankommt, muß ganz besonders darauf gesehen werden, daß die Aussagefreiheit der Beweisperson nicht schon durch die Fragestellung in bedenklicher Weise eingeengt wird; so wenn der zu vernehmende Zeuge das einzige vorhandene Beweismittel darstellt und alles davon abhängt, daß seine Bekundungen nicht durch eine leichtfertige Art der Befragung entwertet werden. Der Vernehmende sollte hier seine Erkundigungen so indifferent wie nur irgend möglich gestalten: "War damit der Vorgang abgeschlossen?" "War das alles, was diese Sache betraf?" "Fiel Ihnen sonst bei dem Vorfall noch etwas auf?" Falls das Bild, das der Aussagende vom Geschehen hat, offenbar bereits etwas verblaßt ist, sollte ebenfalls sehr behutsam verfahren werden, weil gerade die geschwächte Erinnerung, wenn sie zur Wahrheitstindung beitragen soll, sorgsam gehütet werden muß. Sehr leicht kann eine matte, wenig gefestigte Vorstellung der Auskunftsperson durch zudringliche lenkende Fragen überwältigt werden.

Wahl der richtigen Formulierung. Meist gibt es, wenn eine Suggestivfrage angebracht erscheint, eine ganze Stufenleiter von Frageformen, zwischen denen der Vernehmende zu wählen hat; angefangen von solchen mit sehr geringer Beeinflussungskraft bis zu solchen von stärkster Suggestivwirkung. Wenn beim Verdacht unzüchtiger Handlungen an Kindern ein sechsjähriges Mädchen vernommen wird, kann man z. B. fragen: "Hat der Mann etwas zu dir gesagt oder redete er gar nichts?" Dann ist die Erkundigung nach beiden Seiten hin ausgewogen, so daß die suggestive Kraft gering bleibt. Etwas größer ist sie bereits, wenn man 28

C. J. A. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise (1834) S. 358.

Die Suggestivfrage

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unter Weglassung des Entweder-Oder lediglich fragt: "Hat der Mann etwas zu dir gesagt?" Noch größer ist sie, wenn der Vernehmende formuliert: "Was sagte der Mann zu dir?" Weitere Steigerung: "Sagte der Mann, du solltest auf sein Zimmer kommen?" und schließlich: "Sagte der Mann nicht, du solltest auf sein Zimmer kommen?"

Suggestion durch die Umstände. Bisher ist die Suggestivwirkung behandelt worden, die durch den sachlichen Inhalt einer Frage hervorgerufen wird. Doch können, worauf hier wenigstens andeutungsweise hingewiesen werden soll, Suggestionen auch bei völlig indifferenter Fragestellung einfach durch das Mienenspiel des Vernehmenden zustande kommen; ferner durch seine Gesten, durch die Art, wie die Frage an die Auskunftsperson gerichtet wird und durch den Unterton, der dabei mitschwingt27. Unschädlichkeit von Suggestivfragen in bestimmten Fällen. a) Während es im Anfangsstadium der Erörterung durch suggestive Befragung leicht zu argen Verfälschungen kommen kann, ist im allgemeinen kein Schaden mehr zu befürchten, wenn der Aussagende bereits eine ins einzelne gehende Beschreibung des Sachverhalts gegeben hat, die ohne lenkende Einflüsse zustande gekommen ist. Auf dieser Erwägung beruht das angloamerikanische System, das in der Hauptverhandlung beim Kreuzverhör stärkste Suggestivfragen zuläßt, nachdem eine objektiv gehaltene Befragung durch den Beweisführer stattgefunden hat und ihr Ergebnis festgehalten worden ist. b) Ebenso kann schwerlich etwas verdorben werden, wenn man dem Aussagenden eine seinen Angaben widersprechende Darstellung, die er längst kennt und erwogen hat, in suggestiver Form vorhält. c) Ergibt sich, daß der Aussagende auf Grund von irgendwelchen Vorurteilen sehr einseitig orientiert ist, dann kann es zulässig sein, daß der Vernehmende ihm die bei objektiver Betrachtung naheliegende Gegenmeinung als gleichfalls mögliche Version vorhält, um ihn einer Grundhaltung anzunähern, von der aus er zu einer leidlich unbefangenen Stellungnahme zu kommen vermag. Der Vernehmende benutzt in solchen Fällen den suggestiven Vorhalt als eine Art Gegengift, um die Beweisperson von unsachlichen Gesichtspunkten zu distanzieren 28 • Freilich muß dabei feststehen, daß beim Aussagenden in der Tat starke Voreingenommenheiten vorliegen und daß der Vernehmende im Interesse der Wahrheitsfindung zu ihrer Bekämpfung genötigt ist. 27 Binder: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 60 (1946) S. 351. E. Fuchs, Recht und Wahrheit in unserer heutigen Justiz (1908) S. 128; R. Deinhardt, Erfahrungen und Anregungen zur Kunst der Rechtspflege 28

(1909)

s. 43.

Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

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d) Wenig Risiko ist schließlich gegeben, wenn man an einen einwandfrei lügenden Zeugen oder Beschuldigten Suggestivfragen richtet, um ihm das Ungereimte seiner Darstellung deutlich vor Augen zu führen 28 • Oft wird freilich nicht sicher auszumachen sein, ob der Aussagende bewußt die Unwahrheit sagt. Aber wo diese Feststellung getroffen werden kann, sind auch Suggestivfragen der genannten Art als erlaubt anzusehen. Doch muß der Vernehmende sie in ihrem Stärkegrad der Situation und der psychischen Widerstandskraft des Vernommenen anpassen30. Protokollierung suggestiver Vorhalte. Wenn eine Suggestivfrage gestellt wird, so sollte nicht nur die erteilte Antwort, sondern auch die Frage selbst in die Niederschrift aufgenommen werden. Das ist in manchen Ländern ausdrücklich vorgeschrieben. Aber auch dort, wo eine entsprechende gesetzliche Bestimmung fehlt, tut der Vernehmende gut, die Frage als solche schriftlich festzuhalten, damit später beurteilt werden kann, auf welche Weise die Bekundung zustande kam, und das Gericht dies bei der Beweiswürdigung mit berücksichtigen kann.

Die Notwendigkeit, das Gespräch in Gang zu halten Für die Art, wie die Erörterung fortzusetzen und die nächste Frage zu stellen ist, werden oft die Anregungen wichtig sein, die der Aussagende durch seine letzte Antwort gegeben hat. Oft kann man an die soeben von ihm erhaltene Stellungnahme anknüpfen. Der Gesprächsstoff soll nicht vorzeitig ausgehen; die Erörterung muß so lange im Fluß gehalten werden bis die Angelegenheit hinreichend geklärt ist. Der Moment, in dem bei einer erst halb erforschten Sache keine rechte Handhabe mehr für neue Erkundigungen vorhanden ist, muß möglichst weit hinausgeschoben werden. 29

Gorphe S. 410.

30 Im Schrifttum sind die Ansichten über die Zulässigkelt von Suggestivfragen geteilt. In begrenztem Umfang werden sie, wenn die Auffassungen im einzelnen auch vielfach auseinandergehen, für erlaubt gehalten von H. Groß, Kriminalpsychologie (1898) S. 686; Sturm, Zur Lehre vom psychologischen Beweise: Monatsschrift für Kriminalpsychologie Bd. 8 (1911) S. 573; v. Cleric, Zur forensischen Würdigung der Suggestivfragen: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43 (1929) S. 255, 258, 263; Plaut S. 178 ff, Mönkemöller S. 124, Hellwig S. 270, Graßberger S. 140, Löwe-Rosenberg (21) zu § 136 a StPO Anm. 4 und Wirth S. 154 f; andererseits vgl. Eb. Sc~midt, Lehrkommentar II. 647. Nach Kleinknecht-Müller, StPO (1958) zu § 136 a Anm. 3 i ist die Anwendung von Suggestivfragen fast stets als ein Fehler der Vernehmungsweise anzusehen. Aus der psychologischen Fachliteratur mag erwähnt seinE. Straus, Wesen und Vorgang der Suggestion (1921), M. Serog, Die Suggestibilität, ihr Wesen und ihre experimentelle Untersuchung: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Jg. 88 (1924) S. 439 ff.

Die Notwendigkeit, das Gespräch in Gang zu halten

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Damit hat es seine Schwierigkeit, wenn der Vernommene eine auffällige Wortkargheit zeigt. Manchmal beruht solche Zugeknöpftheit auf der persönlichen Eigenart der Auskunftsperson. Es gibt Menschen, zu deren Wesen es gehört, daß sie ihre Stellungnahme auf das Allernötigste beschränken. Doch können auch taktische Erwägungen dabei zugrunde liegen, insbesondere die Befürchtung des Aussagenden, daß er sich durch eine ausführliche Stellungnahme Angriffspunkte geben könnte. In solchen Fällen sollte man versuchen, nicht nur den Zeugen, sondern vor allem auch den Beschuldigten (wenn er von sich aus in die Erörterung eingetreten ist) zu ausführlicheren Angaben zu ermuntern, sofern er nicht etwa noch nachträglich von seinem Recht zu schweigen Gebrauch machen will. Manchmal möchte er im Grunde gern sprechen und findet nur nicht den rechten Ansatz dazu.

Überwindung des toten Punktes. Stellt dieser sichtrotz der Bemühung um eine fortlaufende Unterhaltung schließlich dennoch ein, so wird der Vernehmende meist zwanglos zu einem der weiteren Teilstücke des Sachverhalts übergehen können, um später gegebenenfalls von einer anderen Seite her auf die ungeklärt gebliebene Frage zurückzukommen. Nicht selten zeigt sich, daß bei einer erneuten Besprechung die Aussichten für eine Klärung auf Grund der nunmehr veränderten Beweissituation bessere sind als vorher. Mehrfache Wiederholung der gleichen Frage? Manchmal ist es, auch wenn noch gewisse Anknüpfungspunkte für weitere Erkundigungen vorhanden sein würden, günstiger, zunächst einmal das Gesprächsthema zu wechseln, statt mit Fragen unausgesetzt an der gleichen Stelle zu bohren. Wenn die Beweisperson dagegen Auskunft geben könnte, jedoch offenbar absichtlich mit der Wahrheit zurückhält, ist es unter Umständen notwendig, wiederholt die gleiche Frage zu stellen. Besonders in Brandstiftungssachen kommt es vor, daß ein stark verdächtiger Beschuldigter auf Grund dieser Methode nach und nach aus sich herausgeht und unter Aufgabe des Leugnens den Sachverhalt schließlich zutreffend schildert31 • Es sind jedoch nur ganz bestimmte Fälle, in denen der Aussagende auf diese Weise zur Offenlegung der Wahrheit gebracht werden kann. Der Vernehmende hat an Hand der Umstände jeweils zu erwägen, ob eine solche Taktik Erfolg verspricht. Er hat ferner darauf zu achten, daß der durch mehrfache Wiederholung derselben Frage notwendigerweise erzeugte psychische Druck nicht die Grenze des Zulässigen überschreitet.

Gründliche Erörterung des Sachverhalts. Die Vernehmung dient dem Zweck, das beste Wissen aus der Beweisperson herauszuholen. Man 31

L. Lambert, Traite de Police judiciaire (1951) S. 720.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

sollte sich daher nicht darauf beschränken, nur das entgegenzunehmen und festzuhalten, was der Aussagende von sich aus auf Anhieb zutage fördert, sondern auch die Elemente aufspüren, die nur auf Grund eindringender Betrachtung zu fassen sind. Wer, um schnell fertig zu werden, den Zeugen oder den Beschuldigten nur schematisch und obenhin befragt, hat seine Pflicht nicht erfüllt. Manchmal führt die ständige Arbeitsüberlastung dahin, daß dem Beamten flüchtig und übereilt durchgeführte Vernehmungen fast zur Selbstverständlichkeit werden, daß sie für ihn schließlich geradezu den Charakter des Nichtvermeidbaren erhalten. Doch sollte man hier vor den angeblichen "Notwendigkeiten der Praxis" nicht allzu schnell kapitulieren. Auch für den überlasteten Vernehmungsleiter, der zu einer gewissen Kürze gezwungen ist, besteht im allgemeinen die Möglichkeit, durch strenge Konzentration auf die Hauptpunkte, durch Verhinderung zeitraubender Abschweifungen und Vermeidung unfruchtbarer Diskussionen über Verfahrensfragen seine Aufgabe so zu erledigen, daß ihm nicht der Vorwurf der Leichtfertigkeit gemacht werden kann.

Hinwirken auf eine spontane Darstellung. Oft genug gibt die Beweisperson eine Schilderung des Sachverhalts, die offenbar gut präpariert ist. Zeugen und Beschuldigte neigen, wenn sie ihre Vernehmung voraussehen konnten, in gleicher Weise dazu, zunächst eine eingelernte Rolle zu spielen. Selbst der unschuldige Verdächtige hat seine Aussage nicht selten genau einstudiert, so daß keine spontane Stellungnahme zustande kommt. Der Vernehmende bleibt dann zunächst meist im Unklaren, ob es sich nicht vielleicht um unwahre Bekundungen handelt, deren Unrichtigkeit nur infolge vorheriger Zurechtlegung der Einzelheiten vorerst nicht erkennbar wird. Meist kommt man der Aufklärung sehr viel näher, wenn es gelingt, den Aussagenden durch Fragen, auf die er n i c h t vorbereitet ist, dazu zu bringen, daß er, ohne seine Antworten auszuklügeln, sich frisch von der Leber weg zur Sache äußert. Daß solche unreflektierten Stellungnahmen für die Wahrheitstindung wertvoller sind als das sorgfältig vorbereitete Konzept, darüber ist man sich allenthalben einig. Um sie zu erreichen, muß die Aussageperson von ihrem zurechtgelegten Text abgelenkt und genötigt werden, die Einzelheiten unabhängig davon nochmal zu durchdenken oder doch neu zu formulieren. Sie muß durch Fragen, für die ihre einstudierte Rolle nicht zulangt, aus dem eingefahrenen Geleise herausgebracht und dazu veranlaßt werden, sich möglichst unbefangen zu äußern. Der Vernehmende sollte dieses Ziel ohne Schroffheit, aber mit Konsequenz und Ausdauer verfolgen.

Die Notwendigkeit, das Gespräch in Gang zu halten

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Pflicht zu schonendem Vorgehen. Eine ruhige, gemäßigte Sprechweise, die durchaus eine energische und aktive Grundhaltung erkennen lassen kann, ist sowohl dem Zeugen als auch dem Beschuldigen gegenüber für den Regelfall die allein angemessene. Mit ihr ist, auch vom reinen Erfolgsstandpunkt aus betrachtet, meist am besten vorwärtszukommen. Die primitive Methode des Polterns und Grollens, von der man in früheren Zeiten so gern Gebrauch machte, sollte immer mehr aus der Übung kommen. Heute macht die sehr viel diffizilere Art der Menschenbehandlung einen größeren Stimmaufwand im allgemeinen unnötig. Gewiß sind entschlossenes Auftreten, Konsequenz und Beharrlichkeit auch in der Gegenwart für den Vernehmenden unerläßlich. Aber sie kommen nicht wie ehedem in drastischen Maßnahmen zum Ausdruck, sondern dokumentieren sich in erster Linie in der inneren Folgerichtigkeit und Unbeirrbarkeit, mit der der Wahrheitsforscher einer Aufklärung der Sache zustrebt. Vberlegenheit, die sich unauffällig durchsetzt. Hat der Vernehmende Anlaß, der Aussageperson sein Übergewicht zum Bewußtsein zu bringen, so ist die Wirkung meist eine nachhaltigere, wenn er das in einer verdeckten Form tut. Durch forsches Auftreten wird der Aussagende oft gerade zum hartnäckigen Widerstand angereizt, während er sich einer unaufdringlich zum Ausdruck kommenden geistigen Überlegenheit des Beamten vielleicht willig gefügt haben würde. Im Regelfall ist daher eine mit schonenden Mitteln arbeitende Vernehmungsweise der autoritativen vorzuziehen32 • Gewiß kommt es häufig vor, daß der Wechsel von Frage und Antwort zu einer harten geistigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Gesprächspartnern führt und daß darüber der Charakter einer zwanglosen Erkundigung verlorengeht. Aber auch in solchen Fällen sollte man am Grundsatz des behutsamen, möglichst wenig gebieterischen Vorgehens festhalten. Nicht selten erreicht man durch kurze und eindringliche Hinweise sowohl beim Zeugen als auch beim Beschuldigten mehr als durch lautstarke Deklamationen. Eine solche Unterredung mit dem Aussagenden kann, wenn sie in verhaltenem Ton geführt wird, selbst in der Hauptverhandlung den Charakter eines intimen Gesprächs zu zweien erhalten und dadurch den Aussagenden unter Umständen so beeindrucken, daß er sich entschließt, seine bisherige Darstellung zu korrigieren und nunmehr der Wahrheit die Ehre zu geben33 • 32 Liepmann: Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 44 (1924) S. 665; Gruhle, Verstehende Psychologie (1948) S. 494 ff. n Lindemann: Deutsche Justiz Jg. 1942 S. 695 ff.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

Fälle, in denen milde Mittel allein nicht verfangen. Es gibt freilich hartgesottene Zeugen und Beschuldigte, die für ein gelindes, jede Schärfe vermeidendes Vorgehen kein Verständnis haben. Eine solche Verfahrensweise erscheint ihnen unter Umständen abgeschmackt; sie kommt ihnen lächerlich vor und verfehlt deshalb ihre Wirkung. Mitunter legen solche Menschen dem Vernehmungsleiter sein schonendes Auftreten geradezu als Schwäche aus und versuchen auf ihre Weise, daraus Vorteil zu ziehen. In derartigen Fällen ist es manchmal nicht zu vermeiden, daß man den Aussagenden soviel Härte fühlen läßt als notwendig ist, um ihm klarzumachen, daß er den Verhörsleiter für voll zu nehmen und sich entsprechend umzustellen hat. Wo demgemäß ausnahmsweise ohne schärferes Vorgehen nicht auszukommen ist, sollte der Beamte sich doch vollkommen in der Gewalt haben und sogleich wieder zur normalen Verhandlungsweise zurückkehren, in der keine persönliche Empfindlichkeit mehr zu spüren sein darf. Erfolg ist mit drastischen Maßnahmen nur dann zu erzielen, wenn man einigermaßen sparsam von ihnen Gebrauch macht. Werden sie während der gleichen Verhandlung häufiger oder gar fortgesetzt angewandt, so pflegen sie einen Teil ihrer Wirkung zu verlieren.

Beachtung der persönlichen Eigenheiten des Vernommenen

Begrenzte Bedeutung der hier gegebenen Richtlinien. Was im folgenden über die Anpassung der Vernehmungsweise an die Persönlichkeit der Auskunftsperson gesagt wird, soll nur den Rahmen abgeben, in den der Wahrheitsforscher seine speziellen psychologischen Erfahrungen mit den verschiedenen Menschentypen einzugliedern hat. Jeder macht sich (wenn auch meist nur halb bewußt) im Laufe der Zeit seine eigene Theorie des angemessenen Verhaltens gegenüber bestimmten Arten von Zeugen und Beschuldigten zurecht und tut gut daran. Diese persönlichen Erfahrungen stellen eine wichtige Ergänzung der Theorie dar. Kein noch so gut gearbeitetes Lehrbuch kann sie entbehrlich machen. Angemessenes Verhalten gegenüber den verschiedenartigen Charaktertypen. Sensible, leicht zu verwirrende Menschen müssen anders behandelt werden als gröbere Naturen, die nicht so bald aus dem Gleichgewicht zu bringen sind. Dem Einfältigen ist anders zu begegnen als dem Intelligenten, dem Niedergedrückten anders als dem in ausgeglichener Stimmung Befindlichen, dem Eigensinnigen anders als dem leicht Lenkbaren und Anpassungsfähigen. Auf alle diese individuellen Besonderheiten muß in dem Maße Bedacht genommen werden, als es nötig ist, um wahrheitsgemäße Bekundungen zu erreichen.

Beachtung der persönlichen Eigenheiten des Vernommenen

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Bei einer im Grunde gutwilligen Auskunftsperson kommt eine zufriedenstellende Aussageleistung am ehesten zustande, wenn sie Gelegenheit erhält, sich so zu äußern, wie es ihrem Temperament und ihrem sonstigen Wesen entspricht. Mustert man in dieser Hinsicht allzuviel an ihr herum, so büßt sie ihre Natürlichkeit und Unbefangenheit zum guten Teil ein. Der Vernehmende erhält dann zwar auf seine Fragen Antworten; aber er bekommt nicht die Aufschlüsse, die bei geschickterer Menschenbehandlung zu erlangen gewesen wären.

Sichabfinden mit den Unzulänglichkeiten des Aussagenden. Selbst Eigenheiten der Beweisperson, die dem Aufklärungszweck im Grunde hinderlich sind, wie kritiklose Redseligkeit, pathetisches Auftreten, exaltiertes Benehmen usw., sollte der Vernehmende möglichst gelten lassen und in erster Linie als ein von ihm zu bewältigendes vernehmungstechnisches Problem betrachten. Solange sich solche Wesenseigentümlichkeiten in gewissen Grenzen halten, ist es im allgemeinen das Richtigste, wenn er sie zunächst als gegeben hinnimmt, ohne sich sein Mißfallen merken zu lassen. Von dieser Grundeinstellung aus wird es ihm dann oft möglich sein, durch geeignete Behandlung den allzu Phantasievollen zu ernüchtern, den Reizbaren und Übererregten allmählich zu einer leidlich brauchbaren Aussageleistung zu bringen. Mitunter erhält man auf diese Weise gerade in Fällen, in denen ursprünglich eine verläßliche Darstellung kaum zu erwarten gewesen war, durchaus glaubwürdige Angaben. Mißtrauische und verbitterte Menschen kann man nicht selten durch angemessene Behandlung dahin bringen, daß sie sich irgendwie verstanden fühlen. Manchmal hat schon dies allein zur Folge, daß ihre Starrheit sich löst und ihnen dadurch eine ordnungsmäßige Mitarbeit möglich wir:d. In gleicher Weise sollte man auf die volkstumsmäßigen und landsmannschaftliehen Besonderheiten des Aussagenden einzugehen suchen, um dadurch der Wahrheit näherzukommen. Gewiß ist der Vernehmungsleiter nicht in der Lage, die Beweisperson durch die Art, wie er sie behandelt, von Grund aus zu ändern. Er kann nicht aus einem von Natur ängstlichen einen mutigen, aus einem von Hause aus heftigen und leicht erregbaren einen auch in schwierigen Lagen beherrschten Menschen machen. Aber er vermag, solange sein Einfluß währt (d. h. für die Dauer der Vernehmung), solche Schwächen einigermaßen auszugleichen. Es ist ihm innerhalb gewisser Grenzen möglich, persönliche Eigenheiten der Auskunftsperson, die den Vernehmungszweck in Frage stellen, vorübergehend zurückzudrängen.

Änderung der bisherigen Art desVorgehens. Wenn der Aussagende auf eine bestimmte Verhaltensweise nicht sogleich anspricht, so ist damit

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

nicht ohne weiteres gesagt, daß der Wahrheitsforscher sich umstellen müßte. Oft spricht sogar viel dafür, die einmal gewählte Methode, wenn sie einiges für sich hat, zum mindesten grundsätzlich beizubehalten und lediglich in Einzelheiten auf die während der Vernehmung hervorgetretenen besonderen Momente Rücksicht zu nehmen. Eine gewisse Konstanz in dieser Beziehung ist unbedingt nötig; sie wirkt sich meist günstiger aus als ein ständiges Hin- und Herschwanken bezüglich der Behandlungsmethode. Schlägt das angewandte Verfahren jedoch offenbar nicht an, so muß der Vernehmende zu taxieren verstehen, ob gleichwohl Aussicht vorhanden ist, auf die Dauer mit ihm vorwärts zu kommen oder ob eine Umstellung angebracht erscheint. Durch kritische Selbstbeobachtung kann er mit der Zeit erreichen, daß er auch mit den Menschentypen, die ihm weniger liegen, leidlich umzugehen lernt.

'Vberprüfung der Aussage mit Hilfe der Erfahrung Die Erprobung von Angaben an Hand des Erfahrungswissens ist häufig die Methode, mit der man sich am ehesten ein Urteil über die Richtigkeit der gegebenen Darstellung bilden kann34 • Die Unwahrscheinlichkeit der Bekundungen wird je nach ihrem Ausmaß deren Beweiswert mehr oder minder schwächen. Der Vernehmende darf jedoch, wenn ihm eine Aussage im Augenblick nicht recht plausibel erscheint, dieser nicht gleich jede Bedeutung für die Wahrheitsforschung absprechen. Er sollte insbesondere einem offenbar ehrlichen Zeugen, der über die nötige Beobachtungs- und Urteilsfähigkeit verfügt und sich bezüglich des fraglichen Punktes schwerlich geirrt haben kann, den Glauben nicht gleich versagen, wenn er etwas Unwahrscheinliches bekundet35 • Er hat vielmehr zunächst weiter zu testen, ob sich die Unwahrscheinlichkeit im Verlauf der Untersuchung etwa noch verstärkt oder ob es gelingt, sie durch Rückfragen zu beheben. Läßt sich der Widerspruch zur Erfahrung trotz sorgfältiger Erprobungen nicht beseitigen, so wird die Bekundung damit für die Wahrheitstindung wertlos, vorausgesetzt daß es sich um einen Widerspruch zu gut bezeugten Erfahrungsregeln handelt. Sind diese nicht unbedingt zwingend, aber doch ziemlich gesichert, so wird dadurch die Bekundung einigermaßen fragwürdig. Mitunter ergibt eine genauere Prüfung, daß Angaben, die bei oberflächlichem Zusehen zunächst sehr unwahrscheinlich wirken, es im Grunde gar nicht sind. Wenn das allgemeine Erfahrungswissen über den in Betracht kommenden Punkt noch wenig gefestigt und möglicher34 Grundsätzliche Darlegungen dazu vor allem S. 339 ff. u Moore § 135.

Intensive Befragung ohne Gewaltsamkelt

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weise unzulänglich ist, so können die vermeintlichen Unwahrscheinlichkeiten in Wirklichkeit manches für sich haben. Zuweilen kommt dem Beurteiler die von der Auskunftsperson gegebene Darstellung auch nur deshalb unglaubhaft vor, weil sie seiner auf falschen Voraussetzungen beruhenden Konzeption vom vermutlichen Hergang nicht entspricht. Manchmal stellt sich im weiteren Verlauf der Untersuchung dann einwandfrei heraus, daß die Umstände, die zunächst der Erfahrung so sehr zu widersprechen schienen, der vom Zeugen (Beschuldigten) gegebenen Darstellung gerade einige Glaubhaftigkeit verleihen, wenn der Wahrheitsforscher nur seine fehlerhafte Hypothese vom Geschehensablauf erst beiseite gelegt hat.

Intensive Befragung ohne Gewaltsamkeit Allgemeine Gesichtspunkte. In Fällen, wo damit gerechnet werden muß, daß für die Beweisperson eine wahrheitsgemäße Bekundung auf Grund des Schamgefühls, infolge von Gewissenskonflikten usw. beträchtliche Schwierigkeiten bietet, besteht oft das Hauptziel des Verhörs darin, sie den Verhältnissen zum Trotz zu einer aufrichtigen Stellungnahme zu veranlassen. Der Vernehmende muß dann bisweilen seinen ganzen persönlichen Einfluß und das Gewicht seiner situationsmäßigen Überlegenheit einsetzen, um dem Zeugen (Beschuldigten) die Beibehaltung einer augenscheinlich unzutreffenden Darstellung solange zu erschweren als dies zur sorgfältigen Erprobung des Vernommenen nötig ist. Der folgende Ausschnitt aus einem berühmt gewordenen Verfahren mag zeigen, wie das ohne Verwendung unzulässiger Druckmittel in einer Form geschehen kann, die die Entschlußfreiheit des Aussagenden nicht antastet. Beispiel aus der Praxis. Im Privatklageverfahren des Schriftstellers Maximilian Harden gegen den Redakteur Anton Städele vor dem Schöffengericht München vom Jahre 1907 war zu prüfen, ob hinreichender Beweis dafür erbracht werden konnte, daß Fürst Philipp zu Eulenburg sich (in einer etliche Jahre zurückliegenden Zeit) homosexuell betätigt hatte. Einer seiner Partner sollte der Fischer Jakob Ernst gewesen sein, der darüber in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommen wurde. Es war vorauszusehen, daß es Ernst, falls zwischen ihm und dem Fürsten zu Eulenburg gleichgeschlechtliche Beziehungen bestanden hatten, außerordentlich schwerfallen würde, sie zuzugeben, weil das sowohl ihm als seinem hochgestellten Partner einige Peinlichkeiten verursachen und in diesem von der Öffentlichkeit mit Anteilnahme verfolgten Prozeß das größte Aufsehen hervorrufen mußte. 5 DOhring

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

Der vorsitzende Richter, dem in der Hauptverhandlung die Vernehmung des Zeugen Ernst oblag, sah sich daher einer schwierigen Aufgabe gegenüber. Er fragte Ernst zunächst eingehend nach seiner jahrzehntelangen Bekanntschaft mit dem Fürsten, nach den Arbeiten, die er für diesen zu verrichten gehabt hatte usw. Ernst stellte dabei irgendwelche homosexuellen Beziehungen zum Fürsten strikt in Abrede. Auch die weiteren Versuche des Vorsitzenden, ihn zur Überprüfung dieser Stellungnahme zu veranlassen, blieben ergebnislos. Die entscheidende Phase der Vernehmung, in deren Verlauf Ernst unter Abstandnahme von seiner ursprünglichen Darstellung geschlechtliche Beziehungen zum Fürsten schließlich wahrheitsgemäß bestätigte, verlief folgendermaßen: Vorsitzender: "Herr Ernst, Sie sind ein verständiger Mann, der seine Pflicht kennt. Sie dürfen nichts, was zur Sache gehört, zurückhalten. Die Folgen wären sehr arg für Sie. Wollen Sie noch etwas sagen?" Zeuge: "Ich habe nix mehr zu sagen. Was ich zu sagen hatte, hab' ich gesagt." Verteidiger Justizrat Bernstein: "Wenn Sie jetzt die Unwahrheit sprechen: früh oder spät kommt's doch heraus; und, so leid mir's tut, ich müßte Sie dann ins Zuchthaus bringen." ... Vorsitzender: "Ernst! Der Herr Justizrat hat da vom Zuchthaus gesprochen. Das war nicht so gemeint; nicht als Drohung. Sollte nur heißen, daß er selbst eine schwere Pflichterfüllung nicht scheuen würde. Das dürfen wir alle nicht. Sie auch nicht, Ernst. Niemand bedroht Sie hier; niemand will aus Ihnen herausholen, was nicht in Ihnen ist. Niemand kann und darf es. Hier kommt jeder zu seinem Recht; jeder auch zu seiner Pflicht. Ich verstehe ja, daß es Ihnen nicht leicht werden könnte, die Wahrheit zu sagen, wenn diese Wahrheit so wäre, wie mancher in diesem Saal glaubt. Sie sind ein geachteter Mann, haben Kinder; und müßten nun unsaubere Geschichten ausgraben. Das Leben erspart uns so schwere Stunden nicht immer, Ernst. Es muß sein. Sie haben uns schon viel Geduld und Lungenkraft gekostet. Überlegen Sie. Wollen Sie eine Pause? Jetzt sind Sie erregt. Man soll nicht sagen, hier sei in Sie hineingepulvert worden. Das kommt auch vor. Viel kommt vor. Beruhigen Sie sich zuerst einmal. Wenn Sie als anständiger Mann handeln, kann Ihnen nichts geschehen. Wollen Sie für eine Viertelstunde hinaus?" Zeuge: "Ich brauch' keine Pause." Vorsitzender: "Ich muß jetzt Ihre Vernehmung abschließen. Zum letztenmal bitte ich Sie, wahrhaftig zu sein. Haben Sie wirklich weiter nichts zu sagen, so tat unser wiederholtes Mahnen Ihnen unrecht. Wir sind Menschen und irren menschlich. Allwissend ist einer nur. Der sieht, was Ihres Herzens Falte dem Licht verbirgt. Denken Sie daran, Ernst. Den

Verläßlichkeitsanzeichen aus der äußeren Erscheinung des Aussagenden 67 letzten Richter betrügt keiner. Noch anderes müssen Sie bedenken. Wenn Sie als junger Bursche von einem vornehmen Herrn zu häßlichen Sachen verleitet worden sind: kein Rechtschaffener kann Sie darum schelten. Keiner, der je in Gefahr stand und sich selbst erkannt hat, wird's tun. Und die andern zählen nicht. Das offene Eingeständnis macht Sie der Achtung nur würdiger. Wenn Sie aber, geschehe es auch nur aus Scham, triebe Sie auch der an sich lobenswerte Wunsch, einen anderen, dem Sie vielleicht Dank schulden und der um sein Leben ringt, zu schonen: Wenn Sie hier falsch beschwüren, Ernst, Sie wären für all die Jahre, die Ihnen noch bleiben, ein unglücklicher, friedloser Mann, der vor jedem Zufall zittern müßte; denn jeder Zufall könnte Sie in die Gefahr furchtbar strenger Strafe bringen. Noch ist es Zeit. Antworten Sie ganz ruhig, wie Ihr Gewissen befiehlt. Ich frage Sie nur dieses eine Mal noch: Ist zwischen dem Fürsten zu Eulenburg und Ihnen niemals etwas Unsittliches vorgekommen?" Zeuge: "Jetzt ... gar nie ... das kann ich nicht sagen." Vorsitzender: "Sprechen Sie, Ernst, was also ist vorgekommen?" Zeuge: "Ich weiß gar nichts." Vorsitzender: "Zu spät, Ernst. Sie können keinen mehr retten. Der Stein ist im Rollen. Trachten Sie, daß er nicht auch Ihr Glück noch begräbt!" Zeuge: "Wenn ich's dann sagen muß: Wie die Leute reden, so war's. Wie man's nennt, weiß ich nicht. Er hat mich's gelehrt; die Gaudi, die Lumperei. Ja, keinen richtigen Namen weiß ich nicht. Wenn wir so hingefahren sind, haben wir's im Kahn gemacht. Er hat angefangen .. usw. 36. " Es ist dem Vernehmenden hier gelungen, selbst unter sehr ungünstigen Bedingungen, nämlich im vollbesetzten Gerichtssaal und in der sensationserfüllten Atmosphäre eines allenthalben mit Spannung verfolgt~n großen Prozesses jene unmittelbare Beziehung zwischen sich und der Auskunftsperson herzustellen, die in derartigen Fällen allein zum Erfolg führen kann. Er hatte gegen stärkste Hemmungen im Innern des Aussagenden zu kämpfen. Seine die Aussagefreiheit respektierende und gleichwohl eindringliche Art der Befragung der Beweisperson ist ein Beleg dafür, wie sich eine intensive Vernehmungsweise mit menschlichem und rücksichtsvollem Auftreten vereinigen läßt.

Verläßlichkeitsanzeichen aus der äußeren Erscheinung des Aussagenden Ihre allgemeine Bedeutung. Für die Beurteilung, inwieweit den vom Aussagenden gemachten Angaben zu trauen ist, können die aus seinem 18

5•

Harden, Köpfe III (1913) S. 254 ff.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

persönlichen Eindruck und seinemAuftreten imProzeß zu entnehmenden Anhaltspunkte von Wichtigkeit sein 37 • Der Vernehmende verwertet sie meist mit großer Selbstverständlichkeit und vielfach unbewußt. Wie sehr solche Wahrnehmungen gewöhnlich das Endergebnis beeinflussen, wird ihm oft erst klar, wenn die Auskunftsperson wegen großer Entfernung vom Gerichtssitz kommissarisch vernommen werden mußte und der Beurteiler daher die konkrete Anschauung von der Erscheinung und der Wesensart des Vernommenen schmerzlich vermißt. Bei den im persönlichen Eindruck enthaltenen Zeichen handelt es sich um Indizien, die eigentlich bei der Lehre vom Indizienbeweis zu erörtern wären. Sie sind aber nun einmal so eng mit dem Personalbeweis verbunden, daß diese Materie bereits hier dargestellt werden muß. Im juristischen Schrifttum wurden die aus der äußeren Gestalt und den Ausdrucksbewegungen zu entnehmenden Beweisanzeichen bisher nur selten eingehender analysiert38 • Das ist verständlich; denn unsere Kenntnis dieses Bereichs weist trotz guter fachpsychologischer Arbeiten noch viele Lücken auf, so daß exakte Darlegungen erschwert sind und jeder, der sich in dieser Hinsicht versucht, mit dem Vorwurf des Dilettantismus rechnen muß. Entziehen kann sich jedoch der Einwirkung des persönlichen Eindrucks niemand. Der Vernehmende ist seinem Einfluß allenthalben ausgesetzt. Die Imponderabilien, welche der Sachbearbeiter durch ihn erhält, sprechen bei der Entscheidung zudem heute meist in stärkerem Maße mit als noch vor einem Menschenalter. Es wäre daher nicht zu rechtfertigen, wenn man den Wahrheitsforscher auf diesem immer wichtiger werdenden Teilgebiet ganz seiner Intuition überlassen wollte. Zwar kann an eine umfassende Darstellung der Materie vorerst nicht gedacht werden, doch lassen sich gewisse Grundkenntnisse vermitteln. Sie sollen den Vernehmenden möglichst weitgehend über das Ungefähr 3 7 Helm. Mayer: Deutsche Richterzeitung Jg. 1958 S. 140. Über die Bedeutung des persönlichen Eindrucks für Feststellungen, die nicht die Glaubwürdigkeit, sondern andere Momente betreffen, unten S. 78. 38 So vor allem von Fr. Meinert, Vernehmungstechnik (1956) S. 32 ff. und AltaviHa I. 117 ff; vieles darüber auch bei Groß-Seelig I. 166 ff. Aus der umfangreichen psychologischen Literatur mögen hier genannt sein H. Magnus, Die Sprache der Augen (1885), H. Pessner, Lachen und Weinen (1950), Fr. Lange, Die Sprache des Antlitzes (1952), G. Kietz, Der Ausdrucksgehalt des menschlichen Ganges (1952), H. Strehle, Mienen, Gesten und Gebärden (1954). Weitere Angaben über das Schrifttum bei H. Gruhle: Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform Jg. 1939 S. 215 ff. und Zbinden, Kriminalistik S. 170. Die obige Darstellung beschränkt sich entsprechend dem Zweck der Arbeit auf die Erörterung der dem Auftreten von Zeugen (Sachverständigen) und Prozeßparteien zu entnehmenden Zeichen; sie hat daher, worauf vorsorglich hingewiesen sein mag, einen sehr viel spezielleren Charakter als die meisten fachpsychologischen Forschungen dieser Art.

Verläßlichkeitsanzeichen aus der äußeren Erscheinung des Aussagenden 69 der rein gefühlsmäßigen Erwägung hinausheben, die gerade hier besonders gefährlich ist.

Schlußfolgerungen aus der Physiognomie. Von den mannigfachen Einzelheiten, die der persönliche Eindruck vermittelt, geben die auf die Gesichtsform bezüglichen die geringste Sicherheit. Hier kann selbst der erfahrene Beurteiler sich leicht täuschen. Wer hätte es nicht schon erlebt, daß er hinter den wenig ansprechenden Gesichtszügen eines Beschuldigten oder Zeugen zu Unrecht einen durchtriebenen, charakterlich minderwertigen Menschen vermutet hat. Ein großer Teil ungerechtfertigter Verurteilungen ist zu allen Zeiten dadurch zustande gekommen, daß dem widerwärtigen Ansehen des Beschuldigten unbewußt zuviel Beweiskraft beigemessen wurde. Andererseits verdankt mancher schuldige Angeklagte es in erster Linie seinem angenehmen Äußeren, daß er unverdient freigesprochen wurde. Der Wahrheitsforscher sollte Indizien dieser Art keinerlei Überzeugungskraft beimessen oder sie doch nur ganz am Rande berücksichtigen. Diese Mahnung kann ihm nicht eindringlich genug ans Herz gelegt werden. Gewiß ist es allgemein bekannt, daß, wenn man aus den Gesichtszügen einer Person Schlußfolgerungen auf ihre anständige Gesinnung oder umgekehrt auf ihre charakterliche Nichtswürdigkeit ziehen will, Irrtümer leicht möglich sind. Gleichwohl wird der Bearbeiter, wenn er nicht durch planmäßige Selbsterziehung gefestigt ist, immer wieder zu unbegründeten Schlüssen aus der Physiognomie veranlaßt. Vor allem der Laienrichter pflegt solche Beweiselemente viel zu hoch zu bewerten; aber auch der berufsmäßige Wahrheitsforscher ist mitunter nicht ganz frei von dieser Tendenz.

Mienen und Gesten. Bessere Hinweise auf die Vertrauenswürdigkeit einer Person und auf die Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung kann unter Umständen das Mienenspiel des Aussagenden liefern, ferner der Klang seiner Stimme, die Körperhaltung im ganzen, die Ausdrucksbewegungen seiner Hände usw. Gegen die Verwertbarkeit der Mimik für die Wahrheitstindung sind keine begründeten Bedenken zu erheben, sofern nur ordnungsmäßig dabei vorgegangen wird 39 • Selbst die angloamerikanische Jurisprudenz, die so streng darauf achtet, daß im Prozeß keine Beweismittel zum Zuge kommen, die ihrer Art nach leicht zu Fehlern verleiten können, erhebt keine grundsätzlichen Einwendungen dagegen, daß die Jury oder, soweit eine solche nicht mitwirkt, das Gericht Mienen und Gesten im Interesse der Wahrheitstindung verwertet. 30

RGStr. Bd. 33 S. 404; Bd. 39 S. 304; JW Jg. 1912 S. 541.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

Oft spiegeln diese Ausdrucksformen nicht nur die allgemeine psychische Verfassung der Auskunftsperson (Zuversicht, Unsicherheit, Resignation) wider, sondern machen auch die speziellen Empfindungen erkennbar, von denen sie gerade beherrscht wird 40 • Wie bezeichnend ist manchmal die vorsichtige Zurückhaltung des Aussagenden bei der Beantwortung bestimmter Fragen, seine Erregung oder gar Entrüstung bei diesem oder jenem Vorhalt, seine Unlustreaktion zu einem bestimmten irgendwie bezeichnenden Zeitpunkt; ebenso das kaum merkliche Stutzen, die flüchtigen Zeichen der Überraschung, die nur einen Augenblick lang wahrnehmbare Veränderung des Tonfalls. Gerade die Stimme kann, wenn sie plötzlich fremdartig und unnatürlich klingt, den Aussagenden verraten; manchmal zeigt sie durch ein geringfügiges Schwanken Gemütsbewegungen auch dort an, wo im Mienenspiel von solchen nichts zu bemerken ist.

Kontrast zur bisherigen Aufführung. Die Mienen und das sonstige Benehmen können gerade dann besonders unterrichtend sein, wenn sie zum vorausgegangenen Gehaben der Beweisperson in merkwürdigem Widerspruch stehen. Sehr lehrreich ist manchmal die auffällige Wortkargheit an einer gewissen Stelle der Befragung im Vergleich zu der Redseligkeit im ersten Teil der Erörterung; oder das deutlich sichtbare Unbehagen bei einer bestimmten Wendung, die die Ermittlungsarbeit nimmt. Solange die dem persönlichen Eindruck entstammenden Beweiselemente in unkritischer Weise rein gefühlsmäßig verwertet werden, sind Selbsttäuschungen allzu leicht möglich. Dagegen wird die Gefahr von Fehlbeurteilungen wesentlich geringer, wenn man solche Indizien ins Bewußtsein zieht und sie durch verstandesmäßige Überlegungen kontrolliert. Selbst dort, wo sich die feineren Nuancen des Mienenspiels mit unseren unvollkommenen sprachlichen Mitteln nicht hinreichend bezeichnen lassen, können sie gelegentlich so überzeugend wirken, daß alle, die sie beobachtet haben, sich über die Bedeutung einig sind und für einen vernünftigen Zweifel kein Raum mehr bleibt. Zeichen im Mienenspiel des Beschuldigten können manchmal belastender sein als ein Geständnis, dessen Glaubwürdigkeit jeweils noch der Prüfung bedarf.

Doppeldeutigkeit vieler Zeichen im äußeren Gebaren. Andererseits erfordert die richtige Würdigung von Anzeichen, die der Gestalt, den Ausdrucksbewegungen und dem sonstigen Auftreten der Auskunftsperson zu entnehmen sind, besondere Umsicht. Oft wird außer acht gelas4° C. Leonhardt, Über das Weinen während der Vernehmung als Beweisanzeichen (Judicium 3. Jg. 1931 Sp. 76 ff).

Verläßlichkeitsanzeichen aus der äußeren Erscheinung des Aussagenden 71 sen, daß von einem bestimmten mimischen Zeichen meist nicht unmittelbar auf einen psychischen Zustand im Aussagenden wie z. B. auf Schuldbewußtsein oder gar auf eine Charaktereigenschaft (Redlichkeit, Hinterlist) geschlossen werden kann. Zerfahrenheit und Schreckhaftigkeit eines Zeugen, die auf ein böses Gewissen hinzudeuten scheinen, können mitunter auch auf einer schlechten nervenmäßigen Verfassung beruhen, die mit dem Untersuchungsfall nichts zu tun hat. Unsicherheit des Beschuldigten beim Vorhalt eines Überführungsmoments, die in vielen Fällen auf vorhandenes Schuldgefühl hindeutet, kann bei leicht erregbaren, sensiblen Naturen vielleicht allein schon dadurch hervorgerufen werden, daß der Verdächtige, obwohl unschuldig, sich in eine ihm ungünstige Beweissituation verstrickt sieht, aus der er sich im Augenblick nicht zu befreien vermag. Die Unsicherheit kann auch dadurch verursacht worden sein, daß der unschuldige Aussagende schwerwiegende Folgen für eine ihm nahestehende Person voraussieht. Gewiß werden solche Fälle nicht allzu häufig vorkommen; doch muß man sich derartige Möglichkeiten einmal allgemein vergegenwärtigen, um sie im gegebenen Moment berücksichtigen zu können.

Analyse der zum persönlichen Eindruck gehörigen Elemente. Diese wenigen Andeutungen zeigen bereits, welche Vorsicht hier notwendig ist. In der Praxis wird die Bewertung von Indizien aus dem Mienenspiel und der Gestik meist noch viel zu summarisch und undifferenziert vorgenommen. Eine mehr oder minder schematische Würdigung, bei der die verschiedenen Eventualitäten für das Zustandekommen solcher Beweisanzeichen nicht beachtet worden sind, kann zu keinem befriedigenden Ergebnis führen. Eine bloß intuitive Erfassung des persönlichen Eindrucks ohne verstandesmäßige Kontrolle kann zudem als brauchbare Grundlage für die tatsächliche Feststellung nicht angesehen werden. Will der Bearbeiter Wahrnehmungen dieser Art verwerten, so muß er sich die darin enthaltenen Einzelheiten bewußt machen. Er hat sich darüber klarzuwerden, welche Momente ihm bezeichnend und aufschlußreich erschienen und inwieweit sie einer strengen Prüfung standhalten. Die Rechtsprechung verlangt, um den Wahrheitsforscher in dieser Hinsicht zur Selbstkritik zu nötigen, demgemäß, daß der Richter in der schriftlichen Urteilsbegründung den persönlichen Eindruck, soweit er auf ihn Bezug nimmt, genauer zu spezifizieren versucht 41 •

Zeichen der Resignation beim Beschuldigten. Auch sie bedürfen, ehe man sie als Indizien für Schuldbewußtsein ansehen und in diesem Sinne 41

Wieczorek, ZPO Bd. II. 1 (1957) S. 396.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

verwerten kann, einer vorsichtig differenzierenden Prüfung. Bisweilen verlieren die Darlegungen des Beschuldigten (oder eines Zeugen, der im Grunde Beschuldigter ist), wenn er sich in die Enge getrieben sieht, immer mehr an Nachdruck. Obwohl er seine Darstellung aufrechterhält, scheint er sich seiner Niederlage sozusagen bewußt zu sein und nur noch ein Rückzugsgefecht zu führen, um sich - so gut es eben geht aus der Affaire zu ziehen. Aber diese immer matter werdende Vertretung des eigenen Standpunkts kann im Einzelfall auch auf anderen Gründen beruhen als auf der Einsicht in die Unhaltbarkeit der eigenen Position: Sie kann durch Ermüdung infolge eines anstrengenden Verhörs verursacht worden sein oder ihren Grund darin haben, daß der unschuldige Verdächtige einen einseitig eingestellten Vernehmungsleiter vor sich zu haben glaubt, in dessen Augen er bereits verurteilt ist, und daß ihm der Versuch, diesen Vernehmenden von seiner Unschuld zu überzeugen, vorerst zwecklos erscheint. Man muß es im Griff haben, ob mit derartigen Möglichkeiten im gegebenen Fall zu rechnen ist. Nur wenn sie den Umständen nach nicht in Betracht kommen, wird ein deutliches Resignieren der Auskunftsperson als Indiz dafür angesehen werden können, daß sie sich im Grunde als widerlegt ansieht.

Freimütiges Auftreten. Wenn die Mienen des Aussagenden Freimütigkeit und Natürlichkeit anzeigen und sein ganzes Gehaben diesen Eindruck unterstreicht, so kann das für seine Redlichkeit und Zuverlässigkeit sprechen, vor allem, wenn ihn diese Haltung auch in unbehaglichen und verwickelten Situationen der Vernehmung nicht verläßt. Es gibt jedoch eine Art forcierter Ungezwungenheit, der man es anmerkt, daß sie nicht von innen heraus kommt, und die eben deshalb bedenklich stimmt. Der Wahrheitsforscher muß damit rechnen, daß geistig bewegliche Menschen eine solche Ungezwungenheit geschickt zu spielen verstehen. Wenn diese Möglichkeit im Einzelfall gegeben erscheint, verliert das Indiz des unbefangenen Auftretens jeglichen Beweiswert. Das gilt um so mehr, wenn die Auskunftsperson weiß, daß eine Nachprüfung ihrer Darstellung sehr erschwert ist und daß der Vernehmende wenig Aussicht hat, die Unrichtigkeit ihrer Angaben aufzudecken. Dann ist es ihr durch die Umstände so leicht gemacht, sich ungezwungen zu geben, daß der darin liegende Hinweis auf eine allgemeine Vertrauenswürdigkeit des Aussagenden nur noch wenig Überzeugungskraft besitzt. Es wäre nicht zu rechtfertigen, wenn der Beurteiler in einem solchen Fall lediglich auf Grund der zur Schau getragenen Offenheit dem Aussagenden einen Grad von allgemeiner Glaubwürdigkeit zubilligen würde, der ihm nicht zukommt.

Verläßlichkeitsanzeichen aus der äußeren Erscheinung des Aussagenden 73

Das Lächeln. Die Beweisperson kann ihre Mimik und ihr sonstiges Auftreten nicht nur zum willkürlichen Hervorbringen von Glaubwürdigkeitsindizien, sondern einfach auch dazu benutzen, dem Vernehmenden jenen Einblick in ihr Seelenleben zu verwehren, der oft die Aufklärung der Sache unmittelbar zur Folge haben würde. Das Lächeln z. B., das im allgemeinen der Ausdruck einer heiteren Stimmung bzw. einer maßvollen, verhaltenen Belustigung zu sein pflegt, dient dem Vernommenen nicht selten gerade dazu, Momente der Verlegenheit zu überbrükken oder seine augenblickliche Ratlosigkeit und Verwirrung zu verbergen. Es zeigt sich, um den Vernehmenden irrezuführen, zuweilen gerade dort, wo der Aussagende eigentlich nicht den geringsten Grund zur Erheiterung hat42 • Ein stereotypes Lächeln, das der Aussagende, wie es mitunter zu bemerken ist, vom Beginn der Vernehmung an unentwegt festhält, ist längst nicht immer ein Zeichen von innerer Ausgeglichenheit und guter Laune, sondern oft genug eine Art Schutzhaltung, die entweder eine von Anfang an vorhandene Unsicherheit verbergen soll oder dazu bestimmt ist, etwa während der Vernehmung auftretende Anwandlungen von Schwäche und Hilflosigkeit abzufangen.

Fälschung von Verläßlichkeitsindizien durch den Aussagenden. Handelt es sich um Einzelheiten im persönlichen Eindruck, diefür die Vertrauenswürdigkeit des Aussagenden sprechen könnten, so wird deren Bewertung vielfach dadurch erschwert, daß mit einer willkürlichen Hervorbringung der Glaubwürdigkeitssymptome durch die Auskunftsperson gerechnet werden muß. Manche Zeugen und Beschuldigte verstehen sich bestens darauf, ihre Lügen mit dem Brustton der Überzeugung und mit allen Zeichen der Ehrlichkeit vorzubringen. Der Vernehmende darf sich dadurch nicht täuschen lassen. Er ist vor Irrtümern nur geschützt, wenn er die wahre Aufrichtigkeit von der nur gespielten zu trennen weiß, wenn er die von innen heraus kommende Selbstsicherheit von der künstlich angenommenen zu unterscheiden vermag, wenn es ihm gelingt, die echte Entrüstung als solche zu erkennen, ohne sich durch die nur vorgetäuschte irreführen zu lassen. Manche Zeugen wissen, obwohl sie von Haß und Mißgunst gegen den Beschuldigten erfüllt sind, so viel Objektivität und Korrektheit in ihrem Gehaben vorzuspiegeln, daß es mitunter schwer fällt, ihre durch und durch parteiische Einstellung zu erkennen. Sie tun so, wie wenn sie den Beschuldigten schützen wollen und wissen sich den Anschein zu geben, als seien sie wider Willen genötigt, den Beschuldigten in einzel42

A. Hellwig,

Psychologie und Vernehmungstechnik S. 44.

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nen Punkten zu belasten. Sie bringen dabei unter Umständen in geschickter Weise auch Momente vor, die in Nebendingen zu seinen Gunsten sprechen, um ihm im Hauptpunkt um so sicherer schaden zu können 43 • Das gleiche Spiel mit umgekehrtem Vorzeichen ist möglich, wenn der Zeuge demBeschuldigten (derZivilprozeßpartei) infolge von Freundschaft oder Liebesneigung unter allen Umständen beistehen möchte. Gewiß kann nicht überall die Verstellungsgabe vorausgesetzt werden, die nötig ist, um ein solches Manöver mit Aussicht auf Erfolg durchzuführen. Wo sie jedoch am Werk ist und der Vernehmende dies nicht durchschaut, ist seine Chance, der Wahrheit näher zu kommen, naturgemäß gering. Manchmal kann die Frage, ob mit einer Verfälschung der Echtheitssymptome gerechnet werden muß, von vornherein verneint werden, weil der Aussagende einem Menschenschlag angehört, der von Hause aus schwerblütig und zur Verstellung weitgehend unfähig ist. Bei einer Bevölkerung dagegen, die ein ausgesprochenes Talent zum Spielen einer angenommenen Rolle besitzt, kann die künstliche Produzierung von Verläßlichkeitsindizien viel eher erwartet werden. Man wird hier selbst Angaben, die mit allen äußeren Zeichen der Aufrichtigkeit vorgebracht werden, einiges Mißtrauen entgegenzubringen haben, wenn sie nicht etwa durch objektive Beweiselemente hinreichend bestätigt sind.

Intensives Forschen nach weiteren Anhaltspunkten. Meist läßt sich aus einem einzelnen Beweisanzeichen dieser Art kein verläßlicher Schluß ableiten. In der Regel wird - wenn überhaupt - erst beim Zusammenwirken mehrerer Indizien aus dem persönlichen Eindruck die notwendige Sicherheit erreicht. Falls die vorhandenen Beweiselemente noch keine brauchbare Beurteilungsgrundlage abgeben, muß versucht werden, den Aussagenden dahin zu bringen, daß er aus sich herausgeht und die benötigten Anhaltspunkte pro oder contra von sich gibt. Der Wahrheitsforscher darf sich in solchen Fällen nicht mit der Verwertung der Beweisanzeichen zufrieden geben, die im Laufe der Erörterung von selbst anfallen, sondern sollte zu einer regelrechten Indiziensuche fortschreiten.

Systematische Erprobung der Auskunftsperson. Der Vernehmende hat es oftmals in der Hand, sich das erforderliche Material zu beschaffen, indem er durch seine Fragen Glaubwürdigkeits- bzw. Unglaubwürdigkeitssymptome hervorruft, die eine eindeutige Beurteilung ermöglichen. Er ist vielfach genötigt, zu diesem Zweck eine regelrechte Prüfung des 43

Attavilla II. 246.

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Aussagenden vorzunehmen. Erforderlichenfalls muß er ihn kritischen Situationen aussetzen, um die bestehenden Zweifel zu klären. Auf diese Weise wird es oft gelingen, Untertöne, die sonst kaum wahrnehmbar gewesen wären, durch Lautverstärkung hörbar zu machen und so ihre Verwertung im Dienst der Wahrheitstindung zu ermöglichen. Dabei muß unter Umständen in Kauf genommen werden, daß der Beschuldigte bzw. der Zeuge durch die an ihn gerichteten Testfragen etwas in Harnisch gerät, wenn nur dafür gesorgt ist, daß sein Ärger rasch wieder zum Abklingen kommt 44 • Manchmal bringt auch eine nachhaltige Erprobung nicht sogleich Licht in eine dunkle Angelegenheit. Es kommt vor, daß die Unklarheit nicht weichen will. Dann gehört Zielstrebigkeit und viel Geduld dazu, solange weiterzuforschen, bis die künstliche Fassade, die die Beweisperson möglicherweise vor dem Vernehmenden aufgerichtet hat, als solche erkannt oder die Lage doch wenigstens soweit geklärt ist, daß Schein und Wirklichkeit sich leidlich sicher unterscheiden lassen.

Begrenzter Wert der im persönlichen Eindruck enthaltenen Beweiselemente. In manchen Ländern wird der äußeren Erscheinung der Auskunftsperson und der Art, wie der Beschuldigte sich gibt, viel zu große Bedeutung beigelegt; zuweilen wird sie regelrecht zu einem Hauptargument der Entscheidung über die Tatfrage gemacht. Darin liegt ein gefährlicher Mißbrauch. Der Wahrheitsforscher hat sich bei Beweismomenten dieser Art vor Augen zu halten, daß ihnen stets etwas von ihrem subjektiven Charakter verbleibt und daß dieser auch durch gewissenhafte verstandesmäßige Kontrolle nicht vollständig getilgt werden kann. Man sollte daher nur mit Zurückhaltung von ihnen Gebrauch machen. Es darf ihnen nicht die gleiche Kraft wie eindeutigen objektiven Beweisanzeichen beigelegt werden 45 • Wenn der Beurteiler mit Hilfe des Zeugen- und Urkundenbeweises nicht vorwärts kommt, aber gleichwohl unbedingt ein sicheres Endergebnis erreichen möchte, dann neigt er unter Umständen dazu, das prozessuale Auftreten des Beschuldigten (oder eines Zeugen, dessen Aussage für die Rekonstruktion des Sachverhalts von großer Bedeutung ist) sehr intensiv auszuwerten, was sehr leicht zu einer Überforderung der im persönlichen Eindruck liegenden Beweiselemente führt. Wer in solchen Fällen nicht mit Besonnenheit zu Werke geht, wird bald auf Abwege geraten. 44 45

H. W. Gruhle, Gutachtentechnik (1955) S. 10; Altavilla II. 196. Roth: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 49 (1935) S. 82 ff.

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Persönlichkeitsforschung Ihre zunehmende Wichtigkeit. Auf dem Gebiet der rechtlichen Erwägung, also im Bereich der eigentlichen Rechtsfindung, kann vielfach zweifelhaft sein, inwieweit die persönliche Eigenart des Beschuldigten Berücksichtigung verdient46 • Für die Tatsachenfeststellung dagegen sollte es in diesem Punkt keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten geben. Auf diesem Gebiet muß die individuelle Eigenart sowohl des Beschuldigten als auch des Zeugen ermittelt werden, wo immer sie zur Klärung des Sachverhalts beitragen kann. Allenfalls könnte man darüber verschiedener Auffassung sein, ob es sich im Einzelfall lohnt, die in dieser Hinsicht vorhandenen Ermittlungsmöglichkeiten ganz und gar auszuschöpfen. Das ist jedoch keine prinzipielle Frage mehr, sondern Sache der speziellen Erwägung. Naturgemäß darf die Intensität der Nachforschungen nicht in krassem Mißverhältnis zu der allgemeinen Bedeutung des zu klärenden Falles stehen. Daraus ergibt sich, daß es in Bagatellsachen einer intensiven Ermittlung der persönlichen Eigenart des Beschuldigten bzw. des Zeugen in der Regel nicht bedarf.

Notwendigkeit der Persönlichkeitsanalyse beim Beschuldigten. Gerade beim Delinquenten hat die Erforschung des Persönlichkeitsbereichs nach und nach immer größere Bedeutung erhalten, und zwar zunächst deshalb, weil die Gesetzgebung sowohl im Strafrecht als auch auf zivilrechtlichem Gebiet bei Schaffung neuer Tatbestände die subjektiven Merkmale heute mehr als früher in den Vordergrund rückt. Im Zuge dieser Entwicklung sind vom Gesetzgeber immer häufiger Tatbestandsmerkmale verwendet worden, die sich auf die geistige Haltung des Rechtsbrechers beziehen und deshalb eine Erforschung seiner psychischen Einstellung nötig machen (ehrlose Gesinnung, gewinnsüchtige Absicht, Hinterhältigkeit, niedrige Beweggründe usw.). Die Sicherungsverwahrung ist, um einige weitere Beispiele zu nennen, in Deutschland so geregelt, daß ihre Voraussetzungen nur auf Grund einer umfassenden Würdigung der geistigen Struktur des Täters geklärt werden können. Das Gleiche gilt für die Frage, ob der Beschuldigte als "Gewohnheitsverbrecher" angesehen werden muß; sie kann nicht durch bloßes Abzählen der Vorstrafen gelöst werden. Auch die Feststellung, ob der Kraftfahrer zum Führen eines Kraftfahrzeuges "ungeeignet" ist(§ 42 m StGB) und daher die Entziehung seines Führerscheins zu gewärtigen hat, setzt ein Eingehen auf die geistigen Fähigkeiten und die Charakteranlagen des Beschuldigten voraus 47 • Vielleicht verDazu Würtenberger NJW 1952 S. 249. BGHStr. Bd. 1 S. 99 (Sicherungsverwahrung), RGStr. Bd. 68 S. 154 (Gewohnheitsverbrecher); BGH Archiv für Strafrecht Jg. 1954 S. 161 :1!. 48

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mittelndiese wenigen Belege, denen zahlreiche andere hinzugefügt werden könnten, bereits eine Vorstellung davon, wie wichtig die Persönlichkeitsforschung im Rahmen der Tatsachenfeststellung ist. Aber nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Rechtslehre und Rechtsprechung neigen in neuerer Zeit dazu, die subjektive Tatseite stärker als ehedem zu betonen48 , was zu besonders nachhaltiger Aufklärungsarbeithinsichtlich des inneren Tatbestands nötigt.

Persönlichkeitsforschung a) beim Beweis der Täterschaft. Wo Zweifel bestehen, ob der Beschuldigte die Straftat begangen hat, können die in dieser Hinsicht vorhandenen Beweise mitunter dadurch wesentlich vervollständigt werden, daß man die Fähigkeiten und Anlagen, die nach der Art des Delikts und der festgestellten Begehungsweise beim Täter vorgelegen haben müssen, mit den beim Beschuldigten vorhandenen vergleicht. Wenn sich dabei herausstellt, daß der Beschuldigte nicht die Körperkraft, den Wagemut, die Brutalität oder die sittliche Verworfenheit besitzt, die zur Durchführung dieser Straftat erforderlich war, dann spricht das mehr oder weniger gegen die Annahme seiner Täterschaft. In die gleiche Richtung würde der Umstand weisen, daß die Tat ihrer Art nach gar nicht in die Vorstellungswelt des Beschuldigten hineinpaßt, daß sie mit seinen Wünschen und Begehrungen nicht in Einklang zu bringen ist. b) beim Nachweis psychischer Tatsachen. Ebenso kann die Feststellung, welche Absichten der Beschuldigte gehabt und in welchem Umfang er sich die möglichen Folgen seiner Handlungsweise klargemacht hat, oft nur richtig getroffen werden, wenn man auch darüber Ermittlungen anstellt, welches Maß an Urteilskraft, an geistiger Beweglichkeit, an allgemeiner Lebenserfahrung usw. bei ihm vorhanden war. Wenn dem Beschuldigten z. B. unterlassene Hilfeleistung (§ 330 c StGB) vorgeworfen wird, kann - zumal wenn er seine Straffälligkeit bestreitet - zweifelhaft sein, ob er den Zustand der Hilfebedürftigkeit als solchen erkannt hat. Sofern das zu bejahen ist, fragt sich weiter, ob ihm gegenwärtig war, was speziell er zur Abwendung der Gefahr tun konnte. Ist auch das der Fall, so ist noch zu klären, ob er sich dessen bewußt war, daß ihm eine Hilfeleistung ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Hintansetzung eigener wichtiger Pflichten möglich gewesen sein würde. Es muß oft auch im einzelnen ermittelt werden, auf Grund welcher Erwägungen der Beschuldigte von den ihm bekannten Möglichkeiten zur Hilfeleistung keinen Gebrauch gemacht hat. Bei allen 48 W. Hardwig, Die Persönlichkeit des Beschuldigten im Strafprozeß: Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 66 (1954) S. 236 ff; für das Zivilrecht finden sich eindrucksvolle Darlegungen darüber bei H. Henkel, Recht und Individualität (1958).

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

diesen Feststellungen wird eine genauere Kenntnis darüber vorausgesetzt, was für ein Mensch der Beschuldigte ist, welche Denkgewohnheiten bei ihm vorhanden sind und welche Verhaltenstendenzen ihn beherrschen. c) bei Klarstellung des Beweggrundes zur Tat. Die Ermittlung, aus welchen Motiven der Beschuldigte gehandelt hat, kann oft ohne Kenntnis seiner Wesensart nicht sachgemäß durchgeführt werden. Vielfach ist eine leidlich sichere Anschauung darüber nur zu gewinnen, wenn man die Lebensziele des Beschuldigten erkundet, nach denen er sich orientiert, und das System der Werte aufdeckt, das sein Verhalten bestimmt. Bei Zweifeln über das Motiv kann es sehr aufschlußreich sein, wenn man sich vergegenwärtigt, was der Beschuldigte vom Dasein allgemein erwartet und welche Haltung er gegenüber den Möglichkeiten, die ihm das Leben darbietet, einnimmt. Vielfach muß (besonders bei Leidenschaftstaten) auch die charakteristische Affektlage des Beschuldigten ermittelt, sein Triebhaushalt erforscht und das Rangverhältnis festgestellt werden, in dem die einzelnen triebmäßigen Tendenzen zueinander stehen. In diesem Zusammenhang kann ferner die Klärung notwendig sein, inwieweit der Beschuldigte im Unbewußten zu leben pflegt und in welchem Umfang sich sein Denken und Fühlen oberhalb der Bewußtseinsschwelle vollzieht49 , ferner mit welcher Kraft bestimmte Triebregungen bei ihm hervortreten und in welchem Grade er sie zu beherrschen vermag bzw. in welchem Maße er in Gefahr ist, die Kontrolle über sie zu verlieren. Nur auf Grund dieser und ähnlicher, auf der gleichen Linie liegender Klarstellungen läßt sich auch entscheiden, ob die Tat vornehmlich aus Charakterfehlern des Beschuldigten hervorgegangen ist oder ob er charakterlich einigermaßen gefestigt war und lediglich infolge ungünstiger äußerer Umstände der Versuchung erlag. d) in sonstigen Fällen. Es ist nicht möglich, die Lagen, in denen es bei der Sachklärung auf die Persönlichkeit des Beschuldigten ankommen kann, auch nur annähernd vollständig zu umschreiben. Selbst dort, wo nach der Art des in Frage stehenden Delikts die individuelle Eigenart des Täters auf den ersten Blick nicht sonderlich wichtig zu sein scheint, wird sich der Wahrheitsforscher oft mit Recht fragen, welcher Art der Mensch ist, um den es in diesem Prozeßverfahren geht. Er registriert und verwertet dessen körperliche Hinfälligkeit, die Feinnervigkeit, die Primitivität des Denkens und Empfindens, die exzentrische 49 E. Mezger, Die Beschuldigtenvernehmung auf psychologischer Grundlage: Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 40 (1919) S. 164 f.

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Wesensart und vieles andere. Ihm sind auch die äußeren Einflüsse wichtig, weil sie die Erbanlagen des Beschuldigten vielleicht nicht umgeformt, aber doch in ihrer Bedeutung für das Gesamtbild möglicherweise verändert haben; so interessiert er sich für die gesundheitliche Verfassung, für Besonderheiten, die auf dem Entwicklungsalter beruhen, für die Schul- und Berufsausbildung, die häuslichen Verhältnisse, die wirtschaftliche Lage, den geselligen Umgang, die höchst persönlichen Erfahrungen gerade dieses Menschen usw. In Staatssystemen, die der politischen Anschauung des einzelnen ganz allgemein große Bedeutung beimessen, kann es nicht ausbleiben, daß auch diese Seite der Persönlichkeit des Beschuldigten genau klargestellt wird. Das führt dann unter Umständen zu minutiösen Feststellungen darüber, ob er sich in politischer Hinsicht gleichgültig und indifferent gezeigt hat oder auf diesem Gebiet eine ausgeprägte Meinung besitzt, ob er dem herrschenden Regime interesselos gegenübersteht oder es gar bekämpft usw.

Erforschung der Zeugenpersönlichkeit. Beim Zeugen ist gerade die Hauptfrage, nämlich die, ob ihm in einem bestimmten Punkt Glauben geschenkt werden kann, häufig nur dadurch zu lösen, daß man ihn im ganzen als geistiges Wesen ins Auge faßt und dabei in gewisser Weise auch seine höchstpersönliche Eigenart berücksichtigt. Ob bei einem Zeugen mit Wahrnehmungsmängeln oder mit Verarbeitungsfehlern gerechnet werden muß, kann oft nur dann richtig taxiert werden, wenn man seine allgemeine geistige Beschaffenheit genauer kennt. Nicht selten stehen solche Fehlleistungen nämlich in engem Zusammenhang mit bestimmten charakterlichen oder temperamentsmäßigen Besonderheiten der Beweisperson. Es kann daher für die zutreffende Würdigung ihrer Angaben von Bedeutung sein, ob sie von Hause aus über eine starke Phantasie verfügt, ob sie in hohem Maße suggestibel ist, ob es ihr auf Grund ihrer wesensmäßigen Disposition an der nötigen Aussagegewissenhaftigkeit fehlt usw. Je nachdem, ob der Zeuge ein nüchterner Verstandesmensch ist oder das Gefühl bei ihm vorherrscht, je nachdem, ob er über intuitive Treffsicherheit verfügt oder diese bei ihm nur schwach ausgebildet ist, können Rückschlüsse auf eine größere oder geringere Verläßlichkeit seiner Angaben im vorliegenden Fall angebracht sein. Es kann die Bewertung seiner Darstellung sehr erleichtern, wenn man weiß, welches Maß an natürlicher Einsicht der Zeuge allgemein besitzt und inwieweit er über das Feingefühl für Differenzierungen von der Art verfügt, wie sie im gegebenen Fall in Betracht kommen. Wenn mehrere Zeugen in ihren Angaben differieren und der Widerspruch sich weder durch Vergleich der voneinander abweichenden Aus-

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

sagen noch durch Heranziehung des allgemeinen Erfahrungswissens beheben läßt, können mitunter ebenfalls allein genauere Kenntnisse über die Intelligenzlage und die sonstigen wesensmäßigen Tendenzen der einzelnen Beweisperson weiterhelfen 50 • Dies alles zeigt, daß der Wahrheitsforscher oftmals auf eine Persönlichkeitsanalyse nicht verzichten kann und daß er somit für seine Aufgabe weit mehr an psychologischem Rüstzeug gebraucht als die Aussagepsychologie in der bisher entwickelten Form ihm bietet51 • Grundsätze für die außerstrafrechtlichen Verfahrensarten. Auch im Zivilprozeß und im Verwaltungsstreitverfahren kommt es viel häufiger, als man meist anzunehmen geneigt ist, darauf an, was der Zeuge im ganzen gesehen darstellt und welche individuellen Besonderheiten er an sich trägt.

In gleicher Weise ist der geistige Habitus der Prozeßparteien hier nicht selten für die Wahrheitsforschung von Wichtigkeit. Im Ehescheidungsverfahren liegt das auf der Hand. Bei Mietprozessen, bei Streitigkeiten um die Auslegung von Testamenten, bei Differenzen, die sich auf Dauerschuldverhältnisse beziehen, gilt das gleiches 2• Zeitlicher Umfang der Ermittlungen. Die Notwendigkeit, hinsichtlich der persönlichen Eigenart des Beschuldigten (des Zeugen) Klarheit zu schaffen, macht sich während des ganzen Verfahrens geltend. Sie belastet den Vernehmenden als Aufgabe von dem Augenblick an, wo die Auskunftsperson in seinen Gesichtskreis tritt, und verläßt ihn nicht bis zum Schluß des Verfahrens. Selbst im sog. "letzten Wort", das dem Angeklagten in der Hauptverhandlung zusteht, kommt in dieser Hinsicht nicht selten noch neues Material hinzu.

Zunächst sind meist nur wenige Handhaben für eine verläßliche Beurteilung der Persönlichkeit vorhanden. Häufig stehen nur Bruchstücke zur Verfügung, die kein vollständiges Bild ergeben. Vielfach ist der Vernehmende zunächst ganz auf den persönlichen Eindruck angewiesen, den die erste Bekanntschaft mit dem Beschuldigten bzw. dem Zeugen in ihm hervorgerufen hat. Dieser erste Eindruck besagt aber für sich allein in den meisten Fällen nicht allzu viel, sondern erhält einiges Gewicht erst, wenn er sich im Laufe der weiteren Ermittlungen als zutreffend erweist. 60 Treffliche Ausführungen darüber in der Entscheidung RG Str. Bd. 72 S.157. 51 Das ist von K. S. Bader betont worden ("Psyche" Jg. 2, 1948/49, S. 447), der mit Recht eine den ganzen Zeugen umfassende Psychologie fordert. sz RG JW 1912 S. 541; RG JW 1936 S. 3224 (Würdigung des Verhaltens einer Partei im vorausgegangenen Versicherungsprozeß); vgl. auch E. Feaux de la Croix, Die Bewertung der Persönlichkeit als Urteilsgrundlage im Zivilprozeß (JW 1934 S. 2737), dessen Einzelausführungen freilich vielfach fragwürdig erscheinen, ferner neuerdings H. Püschel in: Staat und Recht Jg. 1959 s. 1020.

Persönlichkeitsforschung

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Im Anfangsstadium des Verfahrens kann der Vernehmende oft schon zufrieden sein, wenn es gelingt, die Eigenart des Aussagenden wenigstens soweit zu erforschen, daß er auf Grund dessen imstande ist, die Befragung individuell zu lenken.

Hergang der Persönlichkeitsforschung im einzelnen. Der Wahrheitsforscher hat, wenn er die Wesensart seines Gegenübers erkunden will, die Erörterung so einzurichten, daß die charakteristischen Eigenheiten dieses Menschen möglichst deutlich sichtbar werden. Der Vernommene soll, soweit es auf seine wesensmäßigen Besonderheiten ankommt, immer wieder Gelegenheit erhalten, diese zur Schau zu tragen. Es ist Aufgabe des Vernehmenden, das Zutagetreten von Indizien, die darüber Klarheit schaffen, bewußt zu fördern. Der Vernehmende kann, ähnlich wie sich der Arzt nach bestimmten Krankheitssymptomen ein Bild von der gesundheitlichen Verfassung des Patienten macht, aus bestimmten Merkmalen im Auftreten und im prozessualen Verhalten des Aussagenden wichtige Schlüsse auf seinen seelischen Zustand und seine wesensmäßigen Eigentümlichkeiten ziehen53. DieArbeit gestaltet sich verhältnismäßig einfach, wenn für dieZwecke des Prozesses die Konstatierung einer einzelnen Eigenschaft genügt; so etwa, wenn es für die Rechtsfindung lediglich der Feststellung bedarf, daß der Beschuldigte (der Zeuge) einen gewissen Grad von Geschäftsgewandtheit besitzt oder daß ihm die Urteilskraft fehlt, die erforderlich gewesen wäre, um die wahre Bedeutung bestimmter technischer Vorgänge zu durchschauen.

Ermittlung der geistigen Gesamtstruktur 54 • Wenn es dagegen darauf ankommt, nicht nur ein spezielles Wesensmerkmal klarzustellen, sondern sich ein Bild von der Persönlichkeit im ganzen zu machen, muß auch ergründet werden, in welcher Weise die Haupteigenschaften des Betreffenden miteinander verflochten sind, ob die verschiedenen Tendenzen sich gegenseitig verstärken oder sich wechselseitig in Schach halten bzw. welche Gesamtwirkung sich sonst auf Grund ihres Zusammentreffens ergibt. Mit Hilfe dieser umfassenden Betrachtungsweise muß versucht werden, das Grundprinzip aufzufinden, das die geistige Struktur des Aussagen53 Darüber im einzelnen C. Leonhardt: Zeitschrift für angewandte Psychologie Bd. 46 (1934) S. 358 ff; ferner in der Monatsschrift für Kriminalbiologie Bd. 31 (1940) S. 87 ff. und zahlreichen anderen Aufsätzen. 54 Hans Walder, Triebstruktur und Kriminalität (Bern 1952) S. 26 ff. 55 Schrifttum: G. Naß, Die Erforschung der Täterpersönlichkeit im Ermittlungsverfahren (1958) S. 7 ff., 25 ff.; Kriminalbiologische Gegenwartsfragen Heft 5 (1962) mit Beiträgen von H. Bellavil!, H. Göppinger, G. Neudert und W. Spiel; weitere Nachweise bei Zbinden, Kriminalistik S. 164.

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den bestimmt, das seinem Denken und Handeln die einheitliche Linie gibt und gewissermaßen den Schlüssel für das Verständnis aller seiner Lebensäußerungen bildet55 • Manchmal kommt ein geschlossenes Gesamtbild zunächst nicht zustande; so wenn gegensätzliche Wesenszüge von ungefähr gleicher Stärke das Entstehen einer einheitlichen Auffassung erschweren. In solchen Fällen macht dann die Herstellung einer glaubwürdigen Gesamtanschauung einige Mühe. Gleichwohl kann nicht selten durch eine unablässig betriebene, verständnisvolle Ermittlungsarbeit schließlich doch eine einleuchtende Verbindung der verschiedenartigen Bestandteile hergestellt werden.

Typische Wesensmerkmale eines Volksteils als Hilfsmittel der Persönlichkeitsforschung. Gehört der Aussagende einer Bevölkerungsgruppe an, die mit bestimmten markanten Wesenseigentümlichkeiten (hitziges Temperament, starke ethische Bindungen, geschäftliche Gerissenheit) ausgestattet ist, so wird sein geistiger Habiius meist schon durch diesen Volkscharakter näher bestimmt, was die Wesensforschung vereinfacht. Ebenso kann in einem Land, in dem Angehörige verschiedener Rassen dicht beieinander leben oder in einer Hafenstadt, wo sich neben der einheimischen Bevölkerung starke Gruppen von Italienern, Irländern, Chinesen usw. angesiedelt haben, die Tatsache, daß die Beweisperson einem der genannten Volksteile angehört, ihre Wesensart unter Umständen bereits weitgehend klären. Sie kann u. U. bestimmte Schlußfolgerungen darüber nahelegen, welcher Art ihre Beteiligung am Tathergang war, von welchen Erwägungen sie ausgegangen ist, welche Beweggründe im Vordergrund standen bzw., wenn es sich um einen Zeugen handelt, wie es mit seiner allgemeinen Glaubwürdigkeit bestellt ist. Freilich muß berücksichtigt werden, daß auch zwischen Personen gleicher Nationalität je nach der Landschaft, aus der sie stammen, beträchtliche Wesensunterschiede möglich sind. Bei größeren Nationen sind die charakteristischen Eigenheiten der im Norden und im Süden des Landes lebenden Bevölkerung, desgleichen die Wesenszüge der im Osten und im Westen ansässigen Bewohner nicht selten so unterschiedliche, daß man unter Umständen bereits dadurch Anhaltspunkte für das Wesen einer Aussageperson erhält, die in eine dieser Bevölkerungsgruppen hineingehört Ferner ist zu prüfen, ob nicht etwa höchstpersönliche Abweichungen von dem für die fragliche Landschaft typischen Volkscharakter vorliegen, die das Gesamtbild vielleicht wesentlich verändern. 56

Th. Erismann, Psychologie und Recht (1947) S. 84.

Gesichtspunkte für die Befragung jugendlicher Zeugen

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Gesichtspunkte für die Befragung jugendlicher Zeugen

Allgemeines. Grundsätzlich gelten hier die für Erwachsene gegebenen Regeln; doch ist daneben auf zahlreiche und wichtige Besonderheiten hinzuweisen. Beim kindlichen Zeugen sollte die Vernehmung in unauffälliger Weise und möglichst in Form eines zwanglosen Gesprächs vor sich gehen. Der Vernehmende hat es bei Kindern meist leicht, durch eine weiter ausholende, nicht unmittelbar zur Sache gehörige Unterhaltung Wesen und Reaktionsweise des kleinen Zeugen zu studieren. Dieser wird in der Regel bei solchen Erörterungen bereitwilliger mitgehen als ein Erwachsener. Sobald die Rede auf den eigentlichen Tatvorgang kommt, ist der kindliche Zeuge zur zusammenhängenden Schilderung anzuregen. Dabei sollte man das Mienenspiel und das sonstige Verhalten des Kindes schonend, aber aufmerksam beobachten. Zeichen von Furcht, Verlegenheit, Scham und anderen Seelenregungen geben mitunter wichtige Hinweise, zumal wenn zugleich beachtet wird, in welchem Zusammenhang sie zutage treten. Indizien, die das Mienenspiel und die sonstigen Ausdrucksbewegungen liefern, gestatten gerade dann gute Rückschlüsse auf die Eigenart des Kindes, wenn sie sich bei einem neutralen Thema zeigen, das keine unmittelbare Beziehung zum Untersuchungsgegenstand hat. Im Gespräch mit dem kleinen Zeugen kommt es noch mehr als bei der Vernehmung Erwachsener darauf an, daß der Vernehmende ohne Hast vorgeht und keine Zeitnot erkennen läßt. Es ist notwendig, daß er ein ausgeglichenes Wesen zur Schau trägt, weil das auf das Kind vertrauenerweckend wirkt. Er wird gut tun, ein gewisses Wohlwollen erkennen zu lassen, sollte aber im übrigen durchaus sachlich und nüchtern verhandeln.

Befragung ohne schroffes Auftreten. Heftigkeit pflegt bei der Vernehmung von Kindern besonders ungünstig zu wirken. Wer glaubt, aus taktischen Gründen einmal deutlich werden zu müssen, sollte unter allen Umständen Maßnahmen vermeiden, die das Kind allzusehr einschüchtern und es vielleicht in die Vorstellung hineinjagen, daß ihm größte Unannehmlichkeiten bevorstehen, wenn es den gestrengen Beamten nicht zufriedenstellt Der kindliche Zeuge überschätzt die ihm dabei drohenden Mißhelligkeiten oft in grotesker Weise und gerät dadurch leicht in eine Art Panikstimmung, die eine Klärung des Sachverhalts erschwert oder geradezu verhindert. Kindgemäße Sprache? Mit einer alles verniedlichenden Sprechweise, die man bisweilen kleineren Kindern gegenüber glaubt anwenden zu 6•

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müssen, ist wenig gewonnen. Viel wichtiger ist, daß der Vernehmende bei der Gesprächsführung auf die Vorstellungswelt des Kindes Rücksicht nimmt und keine Begriffe benutzt, die der kindliche Zeuge bzw. der Jugendliche nicht kennt oder doch nicht recht zu handhaben versteht56 • Bei Ausdrücken, die das Kind von sich aus verwendet, geht der Sachbearbeiter manchmal allzusehr von der Voraussetzung aus, daß der kleine Zeuge das benutzte Wort in dem unter Erwachsenen üblichen Sinn versteht. Man muß bedenken, daß das Kind vielfach lediglich das Wort von den Erwachsenen übernommen hat und sich den Sinn auf eigene Weise zurechtmacht. Daher sollte stets noch geprüft werden, ob es dem Ausdruck nicht etwa eine vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichende Bedeutung beilegt.

Aufspüren der kindlichen Denkweise. Der Vernehmende muß versuchen, die dem Kind eigene Logik aufzufinden, um sich seiner Auffassungs- und Empfindungsweise anpassen zu können. Sie hängt nicht allein von der Entwicklungsphase ab, in der der kleine Zeuge sich befindet, sondern wird unter Umständen auch durch seine persönlichen Eigenheiten mitbestimmt. Oft ist schon viel gewonnen, wenn es gelingt, den Hauptgesichtspunkt auszumitteln, von dem aus das Kind den Vorgang, über den es aussagen soll, betrachtet. Zu dem allen braucht der Wahrheitsforscher, wenn er die Vernehmung selbst durchführen und nicht etwa einem Spezialisten überlassen will, eine eingehendere Kenntnis der kindlichen Psyche und einiges Einfühlungsvermögen. Es ist notwendig, daß er über Erfahrungen verfügt, die nicht nur im Umgang mit den eigenen, sondern auch mit fremden Kindern verschiedenster Art gewonnen worden sind.

Eingehende Befragung. Bei der Erörterung des eigentlichen Beweisthemas darf der Vernehmende sich keinesfalls mit allgemeinen Auskünften oder gar mit einem bloßen Ja oder Nein auf seine Fragen zufrieden geben, weil auf diese Weise keine hinlängliche Sicherheit erreicht wird. Vielmehr hat er ohne suggestive Einflußnahme auf konkrete Angaben hinzuwirken und sodann die Darstellung des kleinen Zeugen nicht weniger sorgfältig als die eines Erwachsenen zu erproben57. 57 Aus der älteren Literatur über die Vernehmung von Kindern sind hervorzuheben die auch heute noch wichtigen Schriften von W. Stern, Jugendliche Zeugen in Sittlichkeitsprozessen (1926), und Wetzel, Zur Technik der Kindervernehmung vor Polizei, Staatsanwalt und Gericht, in: Pädagogisch-psychologische Arbeiten aus dem Institut des Leipziger Lehrervereins Bd. 18 (1930) S. 135-180; 0. MönkemöHer, Psychologie und Psychopathologie der Aussage (1930) S. 320-425. Aus neuerer Zeit mag vor allem erwähnt sein J. Aengenendt, Die Aussage von Kindern in Sittlichkeitsprozessen (1955); U. Undeutsch, Zur Psychologie von Zeugenaussagen Jugendlicher (in: Das schwer erziehbare Kind, 1956, S. 146 ff.); G. Blau-E. MüHer- Luckmann, Gerichtliche Psychologie (1962), S. 120 ff., 130 ff.

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Oberwindung von Hindernissen für eine wahrheitsgemäße Darstellung. Mitunter besteht die Hauptaufgabe zunächst darin, die aus der Anschauungsweise und dem Ideensystem des Kindes hervorgehenden Hemmnisse für eine zutreffende Schilderung beiseite zu räumen. Wenn die Aufklärung unzüchtiger Handlungen, die an dem Kind begangen sein sollen, in Frage steht, so ist oft vorauszusehen, daß dieses sich scheuen wird, den Hergang im einzelnen genauer zu beschreiben. Ein allgemeines Rezept dafür, wie die Schamschranke überwunden werden kann, läßt sich nicht aufstellen. Mitunter stehen hier verschiedene Wege offen. Wenn das Kind noch mit Puppen spielt, hat man die Möglichkeit, ihm eine Puppe in die Hand zu geben und sich an dieser statt am Körper des Kindes zeigen zu lassen, wie der Beschuldigte sich im einzelnen vergangen haben soll58 • Mitunter können auf diese oder eine ähnliche, dem Denken des Kindes angepaßte Weise die Hemmungen ohne weiteres behoben werden.

Berücksichtigung der Entwicklungsphase, in der sich das Kind befindet. Sie ist nicht nur nötig, um die Erörterung zweckentsprechend lenken, sondern auch, um die Angaben des kindlichen Zeugen richtig bewerten zu können. Bei der Ermittlung der geistigen Reife darf natürlich nicht einfach vom Lebensalter des Kindes ausgegangen werden. Auch das körperliche Entwicklungsstadium gibt dafür keinen sicheren Anhaltspunkt. Zum mindesten muß geprüft werden, ob die geistige Entfaltung mit der körperlichen Schritt gehalten oder sie überholt hat bzw. hinter ihr zurückblieb. Aufmerksamkeit verdient auch der spezielle Erfahrungskreis des Kindes, soweit er für die vorliegende Sache in Betracht kommt. Ferner müssen, wenn das zur Würdigung der Aussage nötig ist, die Charakteranlagen und die Umwelteinflüsse festgestellt werden, denen das Kind ausgesetzt war. Schließlich sollte auf eine Ermittlung etwaiger individueller Besonderheiten Bedacht genommen werden, die beim Kinde oft in größerem Ausmaß vorhanden sind als gemeinhin angenommen wird.

Welcher Beweiswert darf den Bekundungen eines Kindes beigemessen werden? Die Brauchbarkeit von Kindern als Zeugen ist von manchen Schriftstellern ziemlich uneingeschränkt bejaht, von anderen dagegen weitgehend verneint worden. Die lebhafte Diskussion darüber bewegt sich jedoch meist zu sehr in Allgemeinheiten, als daß von ihr eine wirkliche Klärung erwartet werden könnte. Es kommt so viel auf die Einzelumstände an, daß mit derartig summarischen Stellungnahss Neue .Justiz .Jg. 1956 S. 753.

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men nicht viel gewonnen ist. Für den, der gleichwohl auf diese eigentlich viel zu allgemein gestellte Frage eine Antwort haben möchte, mag hier folgendes gesagt sein: Der kindliche Zeuge steht zwar in mancher Hinsicht dem Erwachsenen gegenüber in seiner Aussageleistung zurück, weil die Beobachtungs- und Verarbeitungsfähigkeit des Kindes für viele Dinge, die ihm mehr oder weniger fern liegen, noch nicht zureicht. Andererseits können Kinder in den Bereichen, für die sie sich interessieren und für die ihre Einsicht hinlangt, durchaus verläßliche Angaben machen. Das gilt freilich zunächst nur für den kindlichen Einzelzeugen, der nicht, wie der Gruppenzeuge (S. 142) einer Verfälschung seiner Bekundungen durch Massensuggestion ausgesetzt ist. Der Junge pflegt einen scharfen Blick für technische Einzelheiten an Kraftwagen und anderen Gerätschaften zu haben, denen er seine Aufmerksamkeit zuwendet. Halbwüchsige Mädchen können oft verläßliche Angaben über eine vertrauliche Annäherung zweier Menschen machen, wenn ihre Darstellung nicht etwa im Einzelfall durch eine übersteigerte Phantasie entwertet wird 59 • Die fachpsychologischen Forschungen zur Kinderaussage haben manche Fehlermöglichkeiten deutlich aufgezeigt, mit denen hier gerechnet werden muß. Es wäre jedoch nicht angebracht, wenn man aus ihnen schließen wollte, daß Bekundungen von Kindern für die Wahrheitsfindung in aller Regel wertlos seien60 • Daß bei Mädchen in der Pubertätszeit phantastische Entstellungen vorkommen können, ist allerseits bekannt. Diese Möglichkeit der Allssageverfälschung ist jedoch mitunter allzu sehr verallgemeinert worden. Man hat teilweise zu wenig berücksichtigt, daß solche Fehlleistungen auch bei Mädchen im Entwicklungsalter meist nur dann vorkommen, wenn diese schon von Natur über eine starke Phantasie verfügen, daß die Gefahr von Fehlern dagegen verhältnismäßig gering ist, wenn die Zeugin von Haus aus nüchtern veranlagt ist. Man darf also selbst Aussagen von Mädchen im Pubertätsstadium nicht ohne nähere Prüfung schlechthin als unzuverlässig und nutzlos ansehen. Ihnen kann vielmehr einiger Beweiswert zukommen, wenn es gelingt, im gegebenen Fall auf Grund der konkreten Umstände jene spezielle Gefahr auszuschließen, die das Entwicklungsalter vielfach mit sich bringt. st

Groß-Seelig I. 140.

Gegen diese Auffassung mit zahlreichen Einzelbeispielen U. Undeutsch im Bericht über den 19. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (1954) S. 142 und vorher bereits MüHer-Heß und Nau: Jahreskurse für ärztliche Fortbildung 21. Jg., 1930, Heft 9 S. 49 f.; vgl. dazu auch P. Bockelmann, Richter und psychologischer Sachverständiger S. 321 ff., 335. eo

Schriftliche Niederlegung der Aussage

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Bekundungen kindlicher Gruppenzeugen und ihre Bewertung. Sehr viel ungünstiger als beim Einzelzeugen, von dem bisher die Rede gewesen ist, sind die Aussichten für eine wahrheitsgemäße Darstellung beim Gruppenzeugen. Wenn im Strafverfahren gegen einen Lehrer wegen angeblicher Unzuchtshandlungen an seinen Schülerinnen zahlreiche Schulkinder vernommen werden, und diese vorher Gelegenheit gehabt haben, eingehend miteinander über die Sache zu sprechen, dann muß sehr damit gerechnet werden, daß ihre Angaben durch Gruppengeist verfälscht worden sind. Solche Zeugen erscheinen infolge der lenkenden Einflüsse, die aus dem Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Klasse hervorgehen, weit mehr gefährdet als ein kindlicher Zeuge, der für sich allein steht. Bei ihnen muß die Frage, inwieweit man ihren Angaben trauen kann, mit größter Vorsicht erwogen werden, zumal wenn ihre Bekundungen stereotyp gleich lauten.

Schriftliche Niederlegung der Aussage

Große Verantwortung des Wahrheitsforschers in dieser Hinsicht. Soweit der Vernehmende die Angaben des Zeugen bzw. des Beschuldigten nicht nur mündlich entgegenzunehmen, sondern auch schriftlich festzuhalten hat, muß er auf eine zutreffende Formulierung des Aussageinhalts bedacht sein. Der Einfluß, den er dadurch auf die Wahrheitsfindung übt, ist unter Umständen ein beträchtlicher. Oft ist er im Grunde derjenige, der die Nuancen bestimmt und die Akzente verteilt. Es hängt dann viel davon ab, daß er die Bekundungen schriftlich richtig faßt. Man sollte denken, daß der Aussagende sogleich Einwendungen erhebt, wenn die Protokollierung nicht genau das trifft, was er gemeint hat. Dies ist jedoch, wie jeder Praktiker weiß, keineswegs immer der Fall. Vielmehr erklärt sich die Auskunftsperson oft genug mit der Protokollfassung einverstanden, obwohl sie diese als unzulänglich oder gar als unrichtig empfindet. Manchmal meint der Aussagende, daß der Unterschied für den Prozeßausgang ohne Belang sein werde und will keine unnötigen Schwierigkeiten machen. Zuweilen sieht er sich auch, obwohl die Niederschrift von ihm als nicht ganz sachgemäß erkannt worden ist, nicht imstande, eine treffendere Formulierung vorzuschlagen und beläßt es daher bei dem, was der Vernehmende diktiert hat. Nicht selten fehlt aber dem Aussagenden auch das Feingefühl für die unterschiedliche Bedeutung bestimmter Redewendungen, so daß aus diesem Grunde eine Beanstandung unterbleibt. Manchmal ist eine Beweisperson, deren sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten gering sind, geradezu erfreut, wie der Vernehmende ihre ungewandten Darlegungen

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

verschönert hat; sie bedenkt nicht, daß damit zugleich möglicherweise auch der Sinn geändert worden ist.

Vorsicht bei der Harmonisierung von Unstimmigkeiten. Der Vernehmende muß bei der schriftlichen Niederlegung den Aussageinhalt notwendigerweise zurichten. Er ist gezwungen, die Darstellung des Zeugen bzw. Beschuldigten irgendwie auf das Gesetz zuzuspielen, indem er das juristisch gänzlich Unwichtige in den Hintergrund rückt oder auch wegläßt. Aber er darf andererseits nicht nur das wiedergeben, was mit seiner augenblicklichen juristischen Bewertung des Vorgangs zusammenpaßt, die sich später vielleicht als zu eng oder geradezu als irrig erweisen könnte. Wenn der Vernehmende, um eine völlige Harmonie zu erreichen, bei der Protokollfassung von vornherein alles ausscheiden wollte, was mit seiner gegenwärtigen rechtlichen Qualifikation der Sache nicht übereinstimmt, so würde sich das unter Umständen bitter rächen. Solchen Versuchungen unterliegt nicht nur der Anfänger, sondern zuweilen auch der geübte Praktiker. Er möchte begreiflicherweise einen möglichst klaren Sachverhalt haben und meint oft, daß er sich mit der Aufnahme widerspruchsvoller Momente in das Vernehmungsprotokoll die spätere Bearbeitung unnötig schwer mache. Es fehlt ihm mitunter die meist durchaus begründete Zuversicht, daß es gelingen wird, mit den Unstimmigkeiten in überzeugender Weise fertig zu werden. Infolgedessen erscheint ihm dann alles, was mit der in Aussicht genommenen Lösung nicht zusammenstimmt, als Hindernis für die Bearbeitung. Der Verhörsleiter sollte sich jedoch gegen solche Anwandlungen stark machen. Die Wiedergabe der Bekundungen im einzelnen. Der Vernehmende muß, wenn nicht ein Mammutprotokoll entstehen soll, den Aussageinhalt zusammendrängen und ihn daher neu fassen. Es läßt sich bisweilen auch nicht vermeiden, daß der Stoff zugleich etwas umgruppiert und besser geordnet wird. Das darf jedoch keinen Eingriff in den eigentlichen Aussageinhalt zur Folge haben. Vielmehr muß alles, was irgendwie wesentlich sein könnte, aus der Niederschrift ersichtlich sein. Bei den wichtigeren Punkten ist darauf zu sehen, daß die vom Aussagenden gebrauchten Redewendungen unverändert ins Protokoll gelangen. Der individuelle Charakter der Bekundung muß erhalten bleiben. Die Anschaulichkeit, welche sie im Munde des Aussagenden besaß, darf bei der schriftlichen Niederlegung nicht verlorengehen. Wo die Auskunftsperson eine plastische Wendung gebraucht hat, sollte diese nicht durch eine farblosere ersetzt werden, die der Aktensprache entnommen ist. Wo der zu Vernehmende eine unübliche Redensart ver-

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wendet, die aber gleichwohl vielsagend ist, wäre es verkehrt, sie verfeinern zu wollen, nur weil sich die Darstellung dann "besser anhört". Trotzdem wird in der Praxis nicht selten so verfahren. Wer einmal längere Zeit darauf achtgibt, dem wird es nicht entgehen, wie sehr die Neigung zur sprachlichen Verschönerung im Schwange ist und wie nachteilig sie sich für die Wahrheitstindung unter Umständen auswirken kann81 • Oft genug übersetzt der Vernehmende die Angaben der Auskunftspersoll in das übliche Beamtendeutsch. Solche Protokolle haben zwar den Vorzug, daß sie für den Staatsanwalt, den Richter und andere, die dienstlich vom Aussageinhalt Kenntnis nehmen müssen, leicht lesbar sind; aber die Wahrheit kommt dabei oft genug zu kurz.

Kraftausdrücke des Aussagenden. Selbst wenn der Vernommene sich sehr ungehobelt ausdrückt, sollten seine Worte nicht etwa durch zahmere Redewendungen ersetzt werden, weil "man" so etwas nicht sagt. Auf diese Weise gehen der Bekundung vielfach wichtige Zeichen der Echtheit und Ursprünglichkeit verloren. Nicht selten büßt sie dadurch, selbst wenn im Einzelfall der Sinn der gleiche bleibt, manches von ihrer Überzeugungskraft ein. Wenn der Zeuge bzw. der Beschuldigte sich in seiner ländlichen Mundart äußert, so ist das Mundartliche zum mindesten an den wichtigeren Stellen in der Niederschrift beizubehalten. Wollte man statt dessen jeweils eine der Schriftsprache entnommene Redewendung einsetzen, so würde dadurch oft ein völlig unzutreffender Eindruck entstehen.

Kenntlichmachung der Glaubwürdigkeitsindizien. Soweit der Verlauf der Befragung für die Würdigung der Angaben bedeutsam sein könnte, sollte er im Protokoll festgehalten werden. Ebenso sind die Glaubwürdigkeitsindizien sichtbar zu machen, weil das Prozeßgericht ohne ihre Kenntnis zu einer angemessenen Bewertung der Aussage nicht in der Lage ist. Wenn dies nicht sogleich geschieht, ist das Indiz in der Regel unwiederbringlich verloren. Nachholen läßt sich das Versäumte nur in seltenen Fällen. Selbst wenn man sich die Mühe einer erneuten Befragung machen wollte, würden z. B. psychologische Indizien für die Unglaubwürdigkeit der Beweisperson, die während der ersten Vernehmung hervorgetreten waren, meist nicht mehr faßbar sein, weil der Vernommene inzwischen klug geworden ist und darauf achtet, daß er sich nicht noch einmal die gleiche Blöße gibt. Kasuistik. Erhält man vom Zeugen oder vom Beschuldigten zu einem bestimmten Punkt nach einigen unklaren Stellungnahmen schließlich eine präzise Antwort, so braucht nur die letzte Variation niedergeschrie81 Dazu treffliche Darlegungen bei Scheuerle in der Zeitschrift für Zivilprozeß Bd. 66 (1953) S. 306 ff.

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Allgemeine Grundsätze für den Personalbeweis

ben zu werden, wenn der genaue Hergang der Erörterung für die Bewertung der Aussage ohne Belang ist. Kann er dagegen für die Würdigung der Bekundungen möglicherweise von Bedeutung sein, so muß irgendwie erkennbar gemacht werden, daß der Vernommene im fraglichen Punkt zunächst konfuse oder unrichtige Angaben gemacht und erst nachträglich eine annehmbare Darstellung gegeben hat. Wenn dem Aussagenden seine Mitteilungen schrittweise abgenötigt worden sind oder ihm vielleicht geradezu abgerungen werden mußten, ist es in der Regel erforderlich, dies irgendwie ersichtlich zu machen. Manchmal beginnt der Aussagende mit einer bestimmten Darlegung, erschrickt dann über das Gesagte, gerät ins Stocken und will seine Äußerung zurücknehmen oder versucht sie abzuschwächen. In solchen Fällen ist damit zu rechnen, daß diese bezeichnenden Vorgänge auf die Bewertung der Darstellung nicht ohne Einfluß bleiben werden. Der Vernehmende würde daher, wenn er sie im Protokoll einfach übergeht, die Erkenntnismöglichkeiten des Prozeßgerichts in unverantwortlicher Weise schmälern. Wenn im Laufe einer längeren Vernehmung eine ganze Reihe auffälliger Zeichen hervortreten, die der Festhaltung bedürfen, kann es zweckmäßig sein, daß der Vernehmende sich darüber während der Erörterungen Notizen macht und diese später am Rand der Niederschrift an den entsprechenden Stellen vermerkt. Man kommt dann zu einem Gebärdenprotokoll, wie es schon unsere Vorfahren vor Jahrhunderten gekannt haben.

Niederschrift von Frage und Antwort. Bisweilen ist eine richtige Bewertung der Bekundungen auf Grund der Niederschrift später nur möglich, wenn diese nicht lediglich die Darstellung des Aussagenden enthält, sondern auch die an ihn gerichteten Fragen wiedergibt. Wo es im Einzelfall nicht erforderlich erscheint, die ganze Vernehmung in Frage- und Antwortform mitzuteilen, aber andererseits auch die bloße Aufzeichnung der vom Beschuldigten (Zeugen) gegebenen Antworten kein zutreffendes Bild vermitteln würde, empfiehlt es sich, wenigstens an den bezeichnendsten Stellen die Aufeinanderfolge von Frage und Antwort festzuhalten. Wo sich dieser Aufwand nach Lage der Sache nicht lohnt, kann die Art der Erkundigung wenigstens bei Wiedergabe der Antwort mit angedeutet werden ("Wenn ich gefragt werde, warum ich ... , so kann ich dazu nur sagen, daß ... "). Der persönliche Eindruck der Auskunftsperson als Bestandteil des Protokolls. Das Protokoll soll dem Prozeßrichter auch den Zugang zur Persönlichkeit des Aussagenden vermitteln. Oft wird es möglich sein, gewisse individuelle Eigenheiten des Aussagenden, auf die es ankommen könnte, im Text der Niederschrift durchschimmern zu lassen. Soweit das

Schriftliche Niederlegung der Aussage

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nicht gelingt, kann es angebracht sein, auf die Affektiertheit des Beschuldigten oder die Primitivität des Zeugen in einem Zusatzvermerk hinzuweisen. Falls von einer auswärtigen Stelle um die Vernehmung ersucht worden ist, wird manchmal schon im Ersuchungsschreiben gebeten, den persönlichen Eindruck in einem Aktenvermerk festzuhalten. Aber auch ohnedem kann das notwendig werden, wenn es gilt, Umstände, die ihrer Art nach nicht gut ins Protokoll aufgenommen werden können, gegen Verlust zu sichern; so etwa die Zeichen geistiger Abartigkeit beim Vernommenen. Dann sind aber- darauf kann nicht eindringlich genug hingewiesen werden - die Einzelumstände so genau zu beschreiben, daß der spätere Bearbeiter nicht allein auf die vom Vernehmenden gegebene Beurteilung angewiesen, sondern imstande ist, sich in gewissen Grenzen eine eigene Meinung zu bilden. Wenn lediglich vermerkt wird: "Der Beschuldigte scheint nicht ganz normal zu sein" oder "Der Zeuge macht einen unglaubwürdigen Eindruck", so ist ein solcher Hinweis für die spätere Würdigung zwar nicht schlechthin wertlos; aber solche lapidaren Feststellungen geben dem Prozeßgericht keine hinreichende Sicherheit. Sie würden sehr viel mehr Überzeugungskraft besitzen, wenn zugleich die Elemente vorgewiesen worden wären, auf denen das gefällte Werturteil beruht.

Protokollierung als Schutz gegen taktische Manöver des Aussagenden. Nur nebenbei mag noch erwähnt sein, daß eine genaue Fixierung des Hergangs der Erörterung manchmal ein gutes Mittel gegen Ungehörigkeiten aller Art sein kann, die der Beschuldigte (oder gelegentlich auch der Zeuge) sich erlaubt, um dem Vernehmenden Schwierigkeiten zu bereiten und ihn von der Sache abzulenken. Sie kann ferner eine wirksame Abwehrmaßnahme des Vernehmenden gegen ständig ausweichende Antworten bilden, desgleichen ein probates Gegenmittel, durch das er eine unbegründete Kritik der Auskunftsperson an seiner Vernehmungsweise pariert. Der Beschuldigte (Zeuge) fühlt sich, solange seine Ungezogenheiten nicht schriftlich festgelegt werden, in der Regel stark. Er vertraut darauf, daß das gesprochene Wort rasch verfliegt und bald der Vergessenheit anheimfällt. Wenn dagegen seine ständige Ausweichtaktik und die übrigen allzu durchsichtigen Störversuche aktenkundig gemacht werden, sieht er sich durch die schriftliche Aufzeichnung für alle Zeiten bloßgestellt und angeprangert. Meist hat dies zur Folge, daß er sich dann geschlagen gibt und sich entsprechend umstellt.

Drittes Kapitel

Die Zeugenvernehmung Allgemeines

Die Abhörung von Zeugen weist über das bisher Gesagte hinaus noch gewisse Eigentümlichkeiten auf. Vielfach handelt es sich dabei zwar um Momente, die auch bei der Befragung des Beschuldigten hervortreten können. Aber meist hat sich der Wahrheitsforscher mit ihnen doch im Rahmen der Zeugenvernehmung zu beschäftigen, was ihre Erörterung an dieser Stelle rechtfertigt; insbesondere wird die Lehre von den Wahrnehmungsmängeln und Erinnerungsfehlern vorwiegend beim Zeugen zum Zuge kommen, obwohl sie im Einzelfalle ebenso für den Beschuldigten Bedeutung haben kann. Das gleiche läßt sich von den anderen, im folgenden behandelten speziellen Problemen sagen. Gesunde Skepsis gegenüber der Darstellung des Zeugen. Die allgemeine Einstellung gegenüber dem am Prozeß nicht interessierten Durchschnittszeugen ist meist eine merkwürdig vertrauensvolle. Den Angaben eines Beschuldigten pflegt man, soweit sie nicht etwa ein Geständnis enthalten, (berechtigterweise) mit starkem Argwohn zu begegnen. Zeugenbekundungen werden dagegen oft ohne jedes Mißtrauen hingenommen. Selbst der gewissenhafte Wahrheitsforscher gerät mitunter in Versuchung, sie ohne weiteres für bare Münze zu nehmen, solange sich nicht sozusagen von selbst Bedenken ergeben1 • Manche Vernehmungsleiter glauben den von ihnen aufgenommenen Zeugenaussagen grundsätzlich vertrauen zu können und halten eine genauere kritische Betrachtung kaum für nötig. Sie besitzen in dieser Hinsicht einen geradezu unverwüstlichen Optimismus und lassen sich von ihm auch dadurch nicht abbringen, daß ihre naive Zuversicht sich nachträglich nur allzu häufig als unbegründet erweist. Selbst durch eine Kette ärgerlicher Mißerfolge können sie nicht zur Berichtigung ihrer Einstellung veranlaßt werden. Man hat dafür teilweise die Überlastung der Vernehmungsbeamten verantwortlich gemacht 2 ; und sicher ist sie geeignet, die Sorglosigkeit, 1 I

Rühl: Zeitschrift für Zivilprozeß Bd. 56 S. 29. So schon J. Glaser, Beweis S. 150.

Allgemeines

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mit der bisweilen verfahren wird, zu fördern. Aber der Hauptgrund dürfte doch wohl in überkommenen Grundüberzeugungen liegen, die noch einen großen Teil der Beamtenschaft unbewußt beherrschen. Daß hier irrationale Einflüsse am Werk sind, zeigt auch der sonst schwer erklärbare Argwohn, der teilweise - ganz im Gegensatz zu der Vertrauensseligkeit in bezug auf Zeugenaussagen - gewissen neu entwickelten technischen Beweismitteln entgegengebracht wird, obwohl sie wie z. B. die anerkannten Verfahren der Blutgruppenuntersuchung eine weit größere Sicherheit gewähren als Zeugenaussagen jemals zu geben imstande sind (S. 350, 467).

Der moderne Zeuge als Eideshelfer. Der Zeuge steht heute vielfach noch weitgehend unter der Einwirkung von Rechtsvorstellungen, die der älteren Zeit entstammen. Er ist wie unsere Vorfahren in früheren Jahrhunderten häufig auch jetzt noch bereit, bei seiner Aussage trotz der für ihn damit verbundenen Gefahr eine Verantwortung größten Umfangs zu übernehmen. Er nimmt oft weniger zu dem Beweisthema als solchem Stellung, sondern äußert sich in erster Linie zur Persönlichkeit des Beschuldigten (oder der Zivilprozeßpartei) und zu dem ihm von dorther als zutreffend erscheinenden Prozeßergebnis3 • Er empfindet es daher meist auch als überflüssig, die sachlichen Einzelheiten näher anzugeben und darzulegen, wie seine Auffassung vom Hergang zustande gekommen ist bzw. auf welcher Grundlage sie beruht. Er fühlt sich infolge dieser Einstellung stark genug, nicht nur über das äußere Geschehen, sondern auch über höchst komplexe Fragen wie die Auslegung fremder Erklärungen, die Absichten anderer Beteiligter, die seelische Verfassung des Beschuldigten zu einem gewissen Zeitpunkt usw. die bestimmtesten Angaben zu machen, obwohl er sichere Anhaltspunkte insoweit nicht vorweisen kann. Das Merkwürdigste dabei ist, daß auch der Vernehmende, bei dem mitunter die gleichen Grundvorstellungen unerkannt nachwirken, nicht selten auf diese Neigungen des Zeugen eingeht und sich durch sie entlastet fühlt, indem er sich einredet, daß es letzten Endes der Zeuge selbst sei, der die Verantwortung für die Richtigkeit seiner Angaben zu tragen habe.

Gewissenhafte Prüfung auch der redlichen Zeugen. Eine intensive Erprobung der Aussage ist nicht nur bei verdächtigen Beweispersonen, sondern auch bei solchen notwendig, die zunächst durchaus verläßlich erscheinen. Selbst völlig ehrenwerte Persönlichkeiten haben zuweilen infolge ungünstiger Wahrnehmungsbedingungen unrichtig beobachtet 3 Darauf hat bereits Rich. Schmidt hingewiesen (Sächsisches Archiv für bürgerliches Recht und Prozeß Bd. 2, 1892, S. 298); vgl. ferner Plaut, Der ZeugeS. 28.

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Die Zeugenvernehmung

oder auf Grund von Intelligenzmängeln falsch verarbeitet und verfehlen deshalb die Wahrheit. Diese Einsicht, die die moderne Aussageforschung zum Gemeingut aller gemacht hat, sollte es eigentlich verhindern, daß einem Zeugen ohne genauere Prüfung geglaubt wird, nur weil er wahrheitswillig ist. Der Vernehmende kann seinen Mangel an psychologischen Kenntnissen nicht deutlicher beweisen als durch das Arbeiten mit dieser längst überholten Anschauung. Selbst wo im Einzelfall Wahrnehmungsirrtümer oder Fehler bei der Verarbeitung nicht in Betracht kommen, gibt der Zeuge mitunter (infolge eines Mißverständnisses oder aus sonstigen Gründen) zunächst nicht die ganze Wahrheit wieder und muß erst durch Rückfragen dazu angehalten werden. Auch Zeugen, die eine höhere Schulbildung besitzen, sind gegen solche Fehlleistungen keineswegs gesichert. Bei ihnen kann zudem die Einseitigkeit ihrer Laufbahn ungewollt zu Abweichungen von der Wahrheit führen. Die älteren Kriminalisten sind an diesen, auch bei gutwilligen Zeugen bestehenden Fehlermöglichkeiten ziemlich achtlos vorübergegangen; sie setzten wie selbstverständlich voraus, daß ein Zeuge, der die Wahrheit sagen will, dazu in aller Regel auch in der Lage sei. Es gehört zu den charakteristischen Besonderheiten der neueren Vernehmungskunde, daß sie gelernt hat, auch beim untadeligen Zeugen mit Fehlern zu rechnen. Der redliche Zeuge muß heute ebenso wie die Partei, wenn der Zweck der Wahrheitsforschung es erfordert, durch ein wahres Fegefeuer von Vorhalten und Rückfragen hindurchgehen, und zwar nicht nur im angloamerikanischen, sondern auch im kontinentalen Prozeß. Selbst bei der Vernehmung sozial sehr hochstehender Zeugen darf nicht etwa aus Devotion auf die notwendigen Testfragen verzichtet werden, womit nicht gesagt sein soll, daß man solche Beweispersonen mit aufdringlichen und ungeschickten Vorhalten plagen müßte.

Kritische Haltung gegenüber Vielwissern. Manchmal macht ein ehrlicher und unparteiischer Zeuge auf den Vernehmenden dadurch besonderen Eindruck, daß er z. B. bei Aufklärung eines Autounfalls über alles irgendwie Erdenkliche präzise Auskunft zu geben weiß. Anfänger sind darüber meist hocherfreut, weil sie hier auf alle ihre Fragen anscheinend lückenlose Aufklärung erhalten. Trotzdem sollte man gerade die Angaben solcher Alleswisser, auch wenn gegen ihren Wahrheitswillen keine Bedenken vorliegen, genau mit Hilfe der Grundsätze unter die Lupe nehmen, die das Erfahrungswissen und die psychologische Forschung an die Hand geben. Mitunter möchten Auskunftspersonen dieser Art bewundert werden und geben deshalb vor, viel gesehen zu haben, ohne die geringe Verläßlichkeit ihrer Bekundungen erkennen zu lassen. Aber auch bei Zeugen, die nicht vom Geltungsstreben beherrscht sind, kommt es

Wahrnehmung

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manchmal aus reinem Aufklärungseifer dahin, daß sie keine Frage auslassen wollen und so dazu verführt werden, die Wahrnehmungsund Erinnerungslücken auf anfechtbare Weise durch Phantasievorstellungen zu ergänzen.

Wachsamkeit auch bei scheinbar geringfügigen Anlässen. Manchmal spricht anfangs alles für die Richtigkeit der vom Zeugen gemachten Angaben, so daß es ein offenbares Unrecht zu sein scheint, wenn man ihn noch einer Erprobung unterwerfen wollte; und doch stellt sich später unter Umständen heraus, daß seine Bekundungen falsch oder zum mindesten recht fragwürdig waren. Überschaut der Vernehmende in einer solchen Sache nachträglich zurückblickend den Gang der Ermittlungen, so zeigt sich nicht selten, daß die Darstellung des Zeugen zunächst ganz plausibel schien, daß sie mit dem Erfahrungswissen in Einklang stand und auch mit den sonstigen Beweisergebnissen übereinstimmte. Es waren eigentlich nur ganz unscheinbare Anhaltspunkte vorhanden, die dem Vernehmenden allenfalls zu Zwisd1enfragen Anlaß geben konnten. Dennoch gelang es schließlich mit ihrer Hilfe, die Aussage als unrichtig zu erweisen. Kritische Obacht ist ebenso wie gegenüber den Belastungs-, auch gegenüber den Entlastungszeugen angebracht. Wenn man, um den Beschuldigten möglichst weitgehend zu schützen, den Grundsatz aufstellen wollte, daß zwar die Belastungszeugen einer strengen Prüfung zu unterwerfen seien, daß es aber bei den Entlastungszeugen damit nicht so genau genommen werden dürfe, so würde die Sachverhaltsforschung dadurch von Grund aus korrumpiert und das Wahrheitsprinzip schmählich verleugnet werden.

Wahrnehmung Um ein festes Fundament für die späteren Erörterungen zu gewinnen, muß zunächst kurz darauf eingegangen werden, wie der Zeuge seine Wahrnehmungen macht, sie im Gedächtnis festhält und später dem Verhörsleiter zur Kenntnis bringt; ferner welche Aussagefehler dabei möglich sind und wie sie richtiggestellt werden können. Erst wenn diese Voraussetzungen für das Zustandekommen einer brauchbaren Bekundung hinreichend geklärt sind, kann mit Nutzen die dabei vom Zeugen zu leistende geistige Arbeit analysiert und dargelegt werden, wie der Vernehmende auf eine wahrheitsgetreue Bekundung hinzuwirken vermag.

Plan der Darstellung. Das Kernproblem des Personalbeweises: ob die Angaben der Auskunftsperson mit der Wirklichkeit übereinstimmen,

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Die Zeugenvernehmung

löst sich im konkreten Fall in eine Reihe von Einzelfragen auf. Es ist dabei vor allem zu erwägen: a) ob die allgemeine Wahrnehmungsfähigkeit des Zeugen vorhanden und die Beobachtungssituation eine so günstige war, daß eine verläßliche Aussage zustande kommen konnte (S. 95), b) ob bei der gegebenen Sachlage zu erwarten war, daß der Zeuge das Wahrgenommene getreu im Gedächtnis bewahrt hat (S. 100), c) ob, wenn kompliziertere Vorgänge zu beobachten gewesen sind, der Zeuge nach seinen Fähigkeiten und seinem Erfahrungswissen die Eignung (nicht nur zur Auffassung, sondern auch) zur ordnungsmäßigen geistigen Verarbeitung des Wahrgenommenen besaß und ob er diese sachgemäß durchgeführt hat (S. 105), d) ob Wahrnehmung und Erinnerung des Zeugen durch Suggestion oder unbewußte Voreingenommenheiten beeinträchtigt worden sind (S. 134, 137), e) ob der Zeuge den Willen zur Bekundung der Wahrheit in genügendem Maße besitzt (S. 135).

Beobachtungsfähigkeit. Gibt der Zeuge an, daß er einen bestimmten Vorgang wahrgenommen habe, der unter den vorliegenden Umständen von einem mit normaler Seh- oder Hörfähigkeit begabten Menschen richtig aufgeiaßt werden konnte, so wird die Prüfung, ob er diesen Durchschnittsanforderungen genügt, meist kurz ausfallen können. Wenn keine Anzeichen für eine verminderte Sehkraft usw. vorhanden sind, pflegt der Vernehmende das Gegebensein dieser durchschnittlichen Sehfähigkeit vorauszusetzen. Wenn jedoch nach Lage der Sache eine verläßliche Beobachtung nur auf Grund einer besonders geschärften Sehoder Hörtüchtigkeit zu erwarten war, muß geklärt werden, ob sie im vorliegenden Fall gegeben ist, zumal wenn das hohe Alter des Zeugen oder sonstige Umstände Zweifel daran aufkommen lassen. Bekundungen, die ein Talent zum richtigen Auffassen von Farben voraussetzen oder bei denen feinere Empfindungen des Riechens, Schmekkens, Tastens zur Geltung kommen, machen erst recht eine Erwägung erforderlich, inwieweit gerade dieser Zeuge eine entsprechende Wahrnehmungsgabe besitzt.

Wahrnehmungsbedingungen. Trotz guter Auffassungsfähigkeit des Zeugen können seine Sinneseindrücke wegen der erschwerenden Umstände, unter denen die Beobachtung vor sich ging, fragwürdig sein. Wenn der Vorgang sich bei diesigem Wetter, bei hereinbrechender Dunkelheit oder bei Mondlicht zugetragen hat, wird das die Verläßlichkeit der Wahrnehmung oft beeinträchtigen. Bei Beobachtungen, die zu nächtlicher Stunde gemacht worden sind, ist zu bedenken, daß die

Wahrnehmung

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Sehfähigkeit zur Nachtzeit bei den verschiedenen Menschen eine sehr unterschiedliche sein kann. Stellt sich heraus, daß sie gerade bei diesem Zeugen besonders gut ausgebildet ist und daß die sonstigen Voraussetzungen (geringe Entfernung, Objekt mit markanten Umrissen) günstige waren, dann können auch Beobachtungen zur Nachtzeit verläßlich erscheinen. Die Wahrnehmungsbedingungen sind nicht nur bei positiven Angaben bedeutsam, sondern auch, wenn der Aussagende erklärt, daß er einen Umstand, der in seinem Beobachtungsbereich lag, nicht wahrgenommen hat. Oft ist dann fraglich, ob daraus, daß der offenbar redliche Zeuge ihn nicht bemerkte, mit genügender Sicherheit geschlossen werden kann, daß er nicht vorgelegen hat. Für die Würdigung solcher Bekundungen kommt es zunächst darauf an, ob der nicht bemerkte Vorgang oder Umstand als solcher von der Art war, daß er dem Zeugen nicht hätte entgehen können. Dabei müssen die konkreten Beobachtungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, die dem Zeugen zur Verfügung standen4 • In diesem Zusammenhang sind vor allem individuelle Behinderungen zu berücksichtigen, die gegeben sein können, obwohl der Zeuge weder an Kurzsichtigkeit noch an Schwerhörigkeit leidet. Bei manchem bewirkt die dauernde Gewöhnung, daß er gegenüber Sinneseindrücken, die vom Durchschnittsmenschen gut wahrgenommen werden, weitgehend unempfindlich geworden ist; so pflegen Personen, die unmittelbar an einer vielbefahrenen Eisenbahnstrecke wohnen, von dem Geräusch der vorüberfahrenden Züge nichts mehr zu hören. Manchmal ist die Auffassungsfähigkeit des Zeugen auch durch seine langjährige berufliche Tätigkeit stark eingeengt. Er neigt dann dazu, mit einer gewissen Einseitigkeit nur das zu registrieren, was für ihn fachlich interessant ist und darüber manches zu übersehen, was dem Durchschnittsmenschen nicht so leicht entgehen würde. Der Schneidermeister wird vor allem auf die Kleidung, der Friseur auf die Haartracht der Personen achten, die in seinen Gesichtskreis treten, so daß es unter Umständen nur wenig besagen will, wenn er andere Einzelheiten, die ihm gleichgültig erscheinen konnten, nicht bemerkt hat. Wenn die Stärke bestimmter Geräusche durch Zeugenaussagen festgestellt werden soll, so kann es vorkommen, daß ein nervöser Zeuge, der sich durch den Lärm gestört fühlte, die Lautstärke übertreibt, obwohl er seine subjektiven Empfindungen richtig wiedergibt. Schnelligkeit des Ablaufs, abgelenkte Aufmerksamkeit. Die richtige Beobachtung kann auch dadurch erschwert gewesen sein, daß die dafür 4 Planck, Lehrbuch II. 198; E. Fuchs in der Monatsschrift für Handelsrecht Jg.1907 S. 317; Alsberg-Nii.se S. 232 mit Rechtsprechung.

1 D!lbrln11

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zur Verfügung stehende Zeit nur kurz war oder daß zwar der Beobachtungszeitraum genügte, der Zeuge aber im maßgebenden Augenblick abgelenkt und daher nur halb bei der Sache war 5 • Es gibt Fälle dieser Art, wo von zahlreichen Augenzeugen nicht ein einziger in der Lage ist, Einzelheiten, die sonst von jedermann bemerkt worden wären, zuverlässig anzugeben, weil alle ihre Aufmerksamkeit gerade auf etwas anderes gerichtet hatten. Gewiß vermag mancher seine Obacht auch mehreren Vorgängen zugleich in der Weise zuzuwenden, daß er nach verschiedenen Richtungen hin zutreffend beobachten kann. Oft ist dabei jedoch die Verläßlichkeit der Ergebnisse fragwürdig. Die Psychologen sprechen hier von einer Verteilung der Aufmerksamkeit, die durch Versuche im einzelnen erforscht worden ist 6 • Manchmal beruht es auf der individuellen Befähigung des einzelnen, wenn trotz der Wahrnehmung nach mehreren Seiten hin brauchbare Angaben gemacht werden können. Auch die berufliche Schulung kann dabei mitsprechen. Manche Menschen besitzen auf Grund langjähriger Übung einen geschärften Blick für Wahrnehmungen bestimmter Art. Hinsichtlich solcher Beobachtungen kann ihnen dann auch bei geteilter Aufmerksamkeit unter Umständen zugetraut werden, daß sie richtig aufgefaßt haben.

Hochgradige Aufregung. Mitunter läßt der Einfluß von Angst und Schreck den Zeugen nicht zu einer präzisen Beobachtung kommen. Seeleute, die nach einer Schiffskollision hastig an Deck eilen, sind deshalb später oft nicht imstande, die für die Beurteilung des Falles wichtigen Einzelheiten wiederzugeben, zumal wenn sie sich in Lebensgefahr befanden und auf ihre eigene Sicherheit bedacht sein mußten. Aber auch sonst vermag der Betrachter bei aufregenden Ereignissen wie z. B. einem Autounfall häufig über wichtige Einzelumstände, obwohl sie auffällig genug waren, nichts Sicheres zu sagen. Manchmal hat er in den Augenblicken kurz vor der Katastrophe das Unglück mit Riesenschritten auf sich zukommen sehen, so daß seine Aufmerksamkeit gelähmt oder doch nur auf den drohenden Zusammenstoß als solchen gerichtet war. Ist der Unfall passiert, dann wird der Beobachter vielleicht noch durch die grauenhaften Zerstörungen und den Anblick der verstümmelten Körper irritiert, was ihn wiederum an einer verläßlichen Wahrnehmung hindert. Nicht nur sensible Zeugen, sondern auch beherzte Menschen können auf diese Weise aus der Fassung gebracht werden. 5

6

Bayer. Ob. LG vom 10.10.1951: Deutsches Autorecht Jg. 1952 S. 167. Darüber 0. Sterzinger: Zeitschrift für angewandte Psychologie Bd. 29

(1928)

s. 173-196.

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Bei einem Explosions- oder Brandunglück wird der Zuschauer meist schon allein durch die Seltenheit des Geschehens und durch die schweren Folgen stark beeindruckt. Das ungeheure Erleben nimmt seine psychischen Kräfte vollkommen in Anspruch und läßt für eine Wahrnehmung der genaueren Einzelheiten keine Kraft mehr übrig. Für die Beurteilung, inwieweit man sich unter solchen Umständen auf die Angaben der Beweisperson verlassen kann, kommt es sehr auf den Einzelfall an. Vertrauenswürdig werden sie im allgemeinen dann sein, wenn sie nicht nur durch die Wesensart des Zeugen (Kaltblütigkeit in ungewohnten Situationen), sondern auch durch das Erfahrungswissen und durch technische Feststellungen in gewisser Weise bekräftigt werden.

Übermüdung, seelische Belastungen. Zuweilen wird die Bewertung der Aussage auch durch die geistige Verfassung des Zeugen zur Zeit der Beobachtung ungünstig beeinflußt. Schlaftrunkenheit, starke Ermüdung, geistige Defekte und ähnliches können seine Auffassungsund Merkfähigkeit sehr beeinträchtigen. In solcher Lage ist meist auch eine überdurchschnittliche Intelligenz nicht imstande, Fehlleistungen auszuschließen. Wo Behinderungen der genannten Art nicht vorhanden sind, können doch möglicherweise Gründe, die in den persönlichen Verhältnissen des Zeugen liegen, wie berufliche Enttäuschungen oder familiäre Belastungen, dahin geführt haben, daß er im Augenblick der Beobachtung nicht voll bei der Sache war. Schmerzeinwirkung. Menschen, die unter starken Körperqualen zu leiden haben, kommen dadurch leicht zu einer ungenauen Auffassung der Einzelheiten. Es kann geschehen, daß jemand, dem auf einem Eisenbahngleis beide Beine vom Körper getrennt worden waren, den Eindruck hatte, es sei ein ganzer Eisenbahnzug über ihn hinweggefahren, während es in Wirklichkeit nur ein Triebwagen gewesen war. Es ist vorgekommen, daß bei einem solchen Unfall der Verletzte als Zeuge steif und fest behauptete, er sei vom Zug eine längere Strecke mitgeschleift worden, obwohl sich klar ergab, daß diese Angabe auf Selbsttäuschung beruhte. Alkoholeinfluß. Auch bei einer Aussageperson, die zur Zeit der Wahrnehmung unter Alkoholwirkung stand, ist das Auffassungsvermögen meist irgendwie herabgesetzt. Ein solcher Zeuge nimmt eine geringere Zahl von Eindrücken auf als der in nüchternem Zustand befindliche. Seine Beobachtungskraft erlahmt zudem leichter. Die Wahrnehmungen sind flüchtiger als sonst und verlieren schneller ihre Reproduktionsfähigkeit. Selbst bei Zeugen, die sich lediglich in "gehobener Stimmung" befinden, ist die Präzision ihrer Beobachtungen mitunter bereits merklich herabgesetzt. Ganz besonders zeigt sich dies dort, wo die Wahrneh7*

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mung bzw. die sich daran anschließende Verarbeitung gewisse Schwierigkeiten bietet und die volle geistige Kraft des Beobachtenden erfordert. Der kritische Sinn wird durch den Einfluß des Alkohols mehr oder weniger außer Tätigkeit gesetzt. Bei Menschen mit lebhaftem Vorstellungsvermögen arbeitet, wenn sie angeheitert sind, auch die Phantasie weitgehend ohne Kontrolle. Erinnerung

Umstände, die die Reproduktionsfähigkeit fördern bzw. erschweren. Ob der Zeuge sich auf die Einzelheiten, die zur Klärung des Falles dienlich sein könnten, besinnen kann, hängt zunächst davon ab, wie stark und wiegenausein Sinneseindruck gewesen ist. Wenn das Gefühl dabei mitspricht, wird der Vorgang als solcher meist länger im Gedächtnis behalten. Andererseits bewirkt aber die gefühlsmäßige Beteiligung mitunter auch, daß die Beobachtung unexakt ausfällt. Trotz präziser Wahrnehmung kann die Fähigkeit zur Wiederbelebung des Wahrgenommenen durch besondere Umstände beeinträchtigt werden. Manchmal geht sie schon dadurch verloren, daß die Beweisperson ständig eine Vielzahl ähnlicher Eindrücke empfängt. Ein Kassierer, der täglich Hunderte von Einzahlungen mehr oder minder mechanisch entgegennimmt, vermag sich später an einen einzelnen Zahlungsvorgang, wenn er nicht etwas vom Üblichen Abweichendes an sich gehabt hat, meist kaum noch zu erinnern. Der moderne Mensch, insbesondere der Großstädter, ist gerade durch die Massenhaftigkeit der Eindrücke, die auf ihn zukommen, genötigt, viele seiner Beobachtungen gleichsam beiläufig zu machen. Er faßt infolgedessen vieles flüchtig auf und geht mit seinen Wahrnehmungen oft auch ziemlich achtlos um. Er ist geradezu gezwungen, das ihn nicht unmittelbar Interessierende in seinem Gedächtnis auszulöschen, um sich für das Wesentliche aufnahmefähig zu halten. Man kann daher heute von einem vielbeschäftigten Menschen meist keine verläßlichen Bekundungen über Vorgänge erwarten, die er nur für kurze Zeit zu behalten und dann vollkommen zu vergessen pflegt. Vertrauenswürdiger als die beiläufig gemachten Wahrnehmungen des Großstädters sind häufig Beobachtungen eines ländlichen Zeugen, der wenig erlebt und daher eher imstande ist, nicht nur richtig aufzufassen, sondern auch seine Eindrücke mit einiger Treue festzuhalten. Ganz allgemein kann man bei Begebenheiten, die in den engeren Lebensbereich der Beweisperson hineinfallen, damit rechnen, daß sie vom Gedächtnis relativ zuverlässig bewahrt worden sind. Einigermaßen vertrauenswürdig pflegt daher die Erinnerung eines wahrheits-

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willigen Zeugen an Einzelheiten zu sein, die mit seinen Berufsobliegenheiten zusammenhängen. Ein Tischler, dem man eine vollständig eingerichtete Wohnung zeigt, wird den handgearbeiteten Kleiderschrank mit seinen Besonderheiten länger im Gedächtnis behalten als den Staubsauger oder die Nähmaschine, selbst wenn man ihm deren Konstruktion genauer erklärt. Die ständige berufliche Beschäftigung mit dem gleichen Fragenkreis schärft den Blick und führt dazu, daß der Zeuge über Umstände, die in dieses Interessengebiet fallen, meist bessere Angaben machen kann als der Laie, der sich über die gleichen Einzelheiten äußern soll.

Erinnerungsmöglichkeit bei häufig wiederholten Vernehmungen. Die Fähigkeit des Aussagenden zur exakten Wiedergabe seiner Wahrnehmungen leidet merkwürdigerweise, wenn er mehrfach über den gleichen Sachverhalt vernommen und dabei immer wieder genötigt wird, sich das Erlebte zu vergegenwärtigen. Er vermengt dann leicht seine Erinnerung an den Vorgang selbst mit seinen Eindrücken aus den früheren Vernehmungen und ist nicht mehr in der Lage, die Herkunft der einzelnen Elemente sicher auseinanderzuhalten. Die für die Wahrheitstindung wertvollen ursprünglichen Beobachtungen lassen sich von den nachträglich in das Erinnerungsbild eingedrungenen Bestandteilen nicht mehr trennen7 • Der Zeuge wird infolgedessen dazu verleitet, nicht nur auf seine ursprüngliche Wahrnehmung, sondern unbewußt auch auf die später darüber mit ihm angestellten Verhöre zurückzugreifen. Die dort gewonnenen Eindrücke gesellen sich, ohne daß er sich recht dagegen wehren kann, gleichwertig zu dem, was von der Erinnerung an den erlebten Vorgang noch erhalten geblieben ist. Dadurch tritt an die Stelle der infolge des Zeitablaufs immer mehr verblassenden Erinnerung an den Vorfall selbst als eine Art Wahrnehmungsersatz die Erinnerung an das, was der Zeuge von den Vernehmungen darüber behalten hat. Das ist durch neuere psychologische Forschungen überzeugend bestätigt und experimentell belegt worden. Weit zurückliegende Vorgänge. Bei großer zeitlicher Entfernung der zu klärenden Ereignisse ist die Erinnerung meist summarischer; sie weist nicht mehr soviel Einzelheiten auf, wie ursprünglich in der Erinnerung vorhanden waren. Sie wird infolge des Zeitabstands auch matter; das ursprünglich plastische Bild verliert nach und nach an Anschaulichkeit. Ausnahmen ergeben sich jedoch vor allem bei alten Menschen, bei denen die Erinnerung gerade an lange zurückliegende Ereignisse noch zuverlässig sein kann, selbst wenn solche Zeugen bei der Frage nach 7 A. Stöhr, Psychologie der Aussage (1911) S. 71; Henri Wallon, Grundzüge der angewandten Psychologie (1948) S. 153 ff.

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Vorgängen aus den letzten Jahren versagen. Aber auch sonst bleiben mitunter - wie jeder weiß - gleichgültige Einzelheiten lange mit merkwürdiger Frische in der Erinnerung erhalten, während das Gedächtnis uns wichtige Umstände aus neuerer Zeit, die eigentlich noch reproduzierbar sein müßten, vorenthält. Zuweilen spitzt sich die Beurteilung, ob die Angaben des Zeugen Glauben verdienen, auf die Frage zu: Ist es nach Lage der Sache überhaupt m ö g 1 ich , daß der Aussagende sich nach so langer Zeit noch an die von ihm bekundeten Einzelheiten erinnert? Wenn das verneint werden muß, dann hat seine Darstellung keinerlei Beweiswert. Doch wird sich wegen der Unberechenbarkeit (um nicht zu sagen Launenhaftigkeit) des Gedächtnisses nur selten mit Sicherheit sagen lassen, daß dem Zeugen die von ihm mitgeteilten Einzelheiten keinesfalls im Gedächtnis geblieben sein können. Bisweilen ist es aber für die Sachklärung auch schon von Wert, wenn wenigstens festgestellt werden kann, daß eine einigermaßen verläßliche Erinnerung der Beweisperson an die von ihr wiedergegebenen Einzelumstände höchst unwahrscheinlich sein dürfte. Gedächtnisbrücken. Manchmal hebt irgendeine Besonderheit den Vorgang aus dem übrigen Geschehen heraus und hält dadurch, obwohl er seinerzeit keine sonderliche Wichtigkeit besaß, die Erinnerung an ihn lange wach. Oft ist eine Äußerlichkeit, obwohl sie mit dem zu klärenden Punkt nichts zu tun hat, doch geeignet, das Gedächtnis zu kräftigen ("Ich weiß das noch, weil meine Frau an diesem Tage Geburtstag hatte und wir gerade im Begriff waren, ins Theater zu gehen, als ... "). Ein zwingender Beweis für die Echtheit der Erinnerung ist der Hinweis der Auskunftsperson auf solche Gedächtnisstützen freilich nicht. Unredliche Zeugen verfügen oft über eine bewunderungswürdige Geschicklichkeit, diese nach Bedarf zu erfinden. Andererseits gibt nicht selten die Art, wie der Aussagende seine Gedächtnisbrücke mitteilt, einen Anhaltspunkt für die zutreffende Bewertung. Nicht selten kann sich der Beurteiler auf diese Weise vollkommen davon für überzeugt halten, daß die so bestärkte Erinnerung eine reale Grundlage besitzt. Eidetische Veranlagung. Wenn die Beweisperson eine zeitlich naheliegende Situation, die sie nur kurz vor Augen gehabt hat, mit soviel nebensächlichen Einzelheiten beschreibt, daß Zweifel entstehen, ob sie bei der kurzen Beobachtungszeit zu so eingehenden Wahrnehmungen überhaupt imstande gewesen sein kann, dann muß beachtet werden, daß manche Menschen auf Grund besonderer Begabung in der Lage sind, noch einige Zeit nach Abschluß der Beobachtung das Gesamtbild plastisch vor sich zu sehen und die Einzelheiten nachträglich zuverlässig darauf abzulesen. Die Stärke dieser sog. eidetischen Veranlagung

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kann, wenn es im Einzelfall darauf ankommt, von Sachverständigen durch wissenschaftliche Tests klargestellt werden. Vor allem bei Kindern und halberwachsenen Zeugen zeigt sich nicht selten eine ausgesprochene Befähigung dieser Art.

Nachträgliche Erinnerung. Wenn der Aussagende sich zunächst auf den Vorgang, der für die Aufklärung wichtig ist, nicht besann, sondern erst später erklärt, daß ihm nunmehr die Erinnerung gekommen sei, so können Zweifel entstehen, ob man dieser nachträglichen Erinnerung trauen darf. Manchmal erscheint es unverständlich, warum der Zeuge, wenn er erlebte Einzelheiten mitteilt, sich nicht sogleich auf das besonnen haben sollte, was er später zu wissen vorgibt. Es muß dann unter Umständen damit gerechnet werden, daß die nachträgliche Erinnerung durch Selbstsuggestion zustande gekommen ist. Zuweilen ist es sehr einleuchtend, daß der Zeuge erst auf den Bereich, in den die ihm später eingefallenen Einzelheiten hineingehören, hingelenkt werden mußte und daß von ihm vorher keine Erinnnerung daran erwartet werden konnte. Mitunter kann der Aussagende, nachdem ihm das Stichwort gegeben worden ist, in glaubhafter Weise noch weitere neuartige Einzelangaben machen und dadurch überzeugend klarstellen, daß er nunmehr eine wirkliche Erinnerung an den Vorgang besitzt.

Kopfverletzungen. Hat der Zeuge beim Wirtshausstreit oder beim Autounfall, der den Gegenstand des Verfahrens bildet, eine Gehirnerschütterung davongetragen, dann muß daran gedacht werden, daß seine Erinnerungsfähigkeit dadurch gerade bezüglich der Vorgänge, die zur Entstehung der Kopfverletzung geführt haben, stark gemindert sein kann. Eine solche Beeinträchtigung ist möglicherweise auch gegeben, wenn feste äußere Zeichen für das Vorliegen einer Gehirnerschütterung nicht erkennbar geworden sind. Der Zeuge stellt dann unter Umständen, ohne daß er sich dessen bewußt ist und ohne daß ihm ein Vorwurf daraus gemacht werden könnte, die Einzelheiten stark verzerrt dar. Handelt es sich um die Feststellung der zeitlichen Reihenfolge, so kann diese sich auf Grund der Kopfverletzung in seinem Gedächtnis regelrecht umkehren. Selbst wenn nach dem Abklingen der Gehirnerschütterung die verlorengegangene Erinnerung nach und nach zurückkehrt, pflegt sie nicht die Klarheit und Sicherheit zu besitzen, die sie sonst haben würde, so daß ihr Beweiswert regelmäßig herabgemindert ist. Oft kann in derartigen Fällen nur durch Heranziehung eines medizinischen Sachverständigen festgestellt werden, welche Verläßlichkeit einem solchen nachträglichen Sicherinnern für die Wahrheitstindung zukommt 8 • 8

OLG Köln in: Verkehrsrechtssammlung Bd. 6, S. 49.

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Die Zeugenvernehmung

Teilvertauschungen. Auch ohne Gewalteinwirkungen äußerer Art kann es gelegentlich zu merkwürdigen Erinnerungsfehlern kommen. Darüber sind umfassende wissenschaftliche Forschungen vorhanden. In diesem Zusammenhang werden ein paar kurze Hinweise genügen, die speziell auf das abgestellt sind, was der prozessuale Wahrheitsforscher zum Verständnis benötigt. Manche Arten von Erinnerungstäuschungen sind häufiger, andere kommen nur selten vor. Ein Beurteiler, der über die Möglichkeit von Fehlern dieser Art unterrichtet ist, wird leichter auf sie aufmerksam werden, wenn sie sich im Einzelfall zeigen. Es kann geschehen, daß der Zeuge glaubt, eine bestimmte Mitteilung während seines täglichen Spaziergangs im Stadtpark von A bekommen zu haben. Er wird in dieser Auffassung dadurch bestärkt, daß er den A dort oftmals getroffen und sich mit ihm unterhalten hat. Tatsächlich bekam er die Mitteilung während seines Spazierganges im Stadtpark, jedoch nicht von A, sondern von B. Der Irrtum entsteht in solchen Fällen dadurch, daß der Zeuge in den Sachverhalt, über den er aussagen soll, unrichtigerweise bestimmte Umstände hineinprojiziert, die er häufig zusammen mit Gegebenheiten dieser Art erlebt hat: Wenn die Beweisperson oft gesehen hat, daß A eine blaue Skimütze trug, wird sie leicht zu der Auffassung kommen, daß A zur Zeit des aufzuklärenden Ereignisses ebenfalls eine solche getragen habe, auch wenn das nicht der Fall war. Ist dem Aussagenden erst einmal ein solcher Irrtum unterlaufen, so kann man ihn meist nicht mehr davon abbringen. Denn seiner Darstellung liegt ein echtes Erlebnis (wenn auch nicht das im vorliegenden Fall interessierende) zugrunde, das ihm anschaulich vor Augen steht und ihm die Richtigkeit seiner Angaben einleuchtend macht 9 • Der Beurteiler darf der Auskunftsperson natürlich nicht ohne hinreichende Anhaltspunkte einen solchen Erinnerungsfehler unterstellen, etwa um auf diese Weise mit einer Zeugenaussage fertig zu werden, die mit den beabsichtigten Tatsachenfeststellungen nicht übereinstimmt. Er hat vielmehr zu ermitteln, ob in diesem Fall eine Teilvertauschung besonders nahe lag und welche Anzeichen dafür sprechen, daß eine solche in der Tat stattgefunden hat. Vielfach ist ein strikter Nachweis dafür nicht zu erbringen. Aber auch die Feststellung, daß eine hohe Wahrscheinlichkeit in dieser Hinsicht vorliegt, kann mitunter schon klärend wirken. Manchmal vermag gerade die Aufdeckung einer derartigen Erinnerungstäuschung plausibel zu machen, warum ein zweifellos ehrlicher Zeuge eine weder durch Bekundungen anderer noch durch sonstige Anhaltspunkte bestätigte Darstellung gibt. 0

Groß, Handbuch I. 99 ff; Gorphe S. 260; Meinert, Aussagefehler S. 75 f.

Verarbeitung der Wahrnehmungen durch den Zeugen

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Bisweilen kommen dem Beurteiler bei den dazu nötigen Ermittlungen die Umstände zu Hilfe: Ein Zeuge, der von seinem Fenster aus die Unfallstelle bereits einige Zeit unter Augen hatte, gibt an, daß unmittelbar vor dem Verkehrsunfall auf der Fahrbahn Kinder gespielt hätten, die für den verunglückten Fahrer ein Hindernis bildeten. Vier weitere Zeugen, die eine gute Beobachtungsmöglichkeit hatten und denen zuverlässige Wahrnehmungen zugetraut werden können, haben zur Zeit des Unfalls auf der Fahrbahn keine Kinder gP.sehen. Einer von ihnen hat jedoch bemerkt, daß etwa zwei Minuten vorher dort Kinder spielten. Hier ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen, daß der erste Zeuge das zwei Minuten zurückliegende Spielen der Kinder auf der Straße irrtümlich in die Zeit unmittelbar vor dem Unfall hineinversetzt hat.

Irrtum hinsichtlich der Aufeinanderfolge. Mitunter sind die vom Aussagenden bekundeten Einzelvorgänge selbst zutreffend angegeben worden. Aber der Zeuge hat ihr zeitliches Verhältnis unrichtig aufgefaßt. Wenn dieser Irrtum nicht aufgedeckt wird, kommt der Beurteiler notwendigerweise zu einer falschen Ansicht über die Reihenfolge und möglicherweise auch darüber, welcher Vorgang als Ursache und welcher als Wirkung anzusehen ist. Die Entstehung solcher Fehlleistungen wird manchmal durch ungünstige Wahrnehmungsbedingungen noch gefördert; so vor allem durch die Schnelligkeit, mit der die Einzelheiten sich aneinander anschließen oder auch durch die Ähnlichkeit der Einzelakte, deren zeitliche Reihenfolge bestimmt werden soll. Man denke etwa an kurz aufeinanderfolgende Laut- oder Lichtsignale zweier sich begegnender Schiffe.

Verarbeitung der Wahrnehmungen durch den Zeugen Ihre funktionelle Bedeutung. Eine Verarbeitung ist, wenn die Beweisperson ihre Sinneseindrücke mitteilungsfähig machen will, immer notwendig. Die Beobachtung allein ohne Aufwendung weiterer geistiger Arbeit seitens des Zeugen würde niemals eine brauchbare Aussage ergeben. Wertvoll wird die Wahrnehmung für die Sachaufklärung erst durch die gedankliche Verarbeitung, die der Zeuge ihr unter Hinzunahme seines Erfahrungswissens zuteil werden läßt. Selbst die Wiedergabe ganz einfacher Sinneseindrücke ("schwarzer Anzug", "zweistöckiges Haus") ist, obwohl der Aussagende sich dabei meist noch ganz im Bereich der reinen Wahrnehmung zu befinden glaubt, nur möglich durch Zuhilfenahme einer ganzen Reihe abstrakter Vorstellungen 10 • 10

Engisch, Logische Studien S. 82.

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Die Zeugenvernehmung

Manchmal ist die Verarbeitung verhältnismäßig einfach. Sie hat dann im Vergleich zur Wahrnehmung des Vorgangs selbst nur untergeordnete Bedeutung und birgt daher auch keine besonderen Fehlermöglichkeiten in sich. In anderen Fällen dagegen stellt sie gerade den wichtigsten Teil der Aussageleistung dar. Der Vernehmende ist auf die verarbeitende Tätigkeit des Zeugen, mag sie nun leicht oder schwer zu bewältigen sein, dringend angewiesen. Wenn der Zeuge sich weigern wollte, sie zu übernehmen, würden die Ermittlungsbehörden und Gerichte oft in eine ganz hilflose Lage und in größte Verlegenheit geraten. Das zeigt sich, wenn wirklich einmal eine Auskunftsperson, sei es infolge von Parteilichkeit und Böswilligkeit oder auf Grund geistiger Defekte in dieser Hinsicht nur das Allernötigste tut. Glücklicherweise sind solche Fälle ziemlich selten. Im allgemeinen denkt der Zeuge nicht daran, seine Wahrnehmungen im Rohzustand zur Verfügung zu stellen und die Bearbeitung dem Vernehmenden zu überlassen. Er ordnet vielmehr den Vorgang, über den er aussagen soll, in sein sonstiges Wissen ein und versucht, seine Beobachtungen zu einem sinnvollen Ganzen zu formen: a) indem er dabei seine Kenntnis von dem mit verwertet, was zeitlich dem wahrgenommenen Vorfall vorausgegangen war und ihm nachgefolgt ist; b) indem er ferner die in ähnlichen Fällen gemachten Erfahrungen benutzt und c) indem er mit Hilfe seiner kombinatorischen Phantasie eine gedankliche Verbindung zwischen den einzelnen Elementen schafft. Die Zeugenaussage stellt mithin viel mehr dar als nur die bloße Reproduktion von Sinneseindrücken. Sie ist infolge der vom Zeugen vorgenommenen Verarbeitung weitgehend auch das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Erst wenn der Vernehmende sich das klargemacht hat, ist er imstande, seine Aufgabe richtig anzupacken. Gewiß wird er, auch ohne diese Einzelheiten bewußt durchdacht zu haben, sich recht und schlecht mit den bei der Vernehmung auftretenden Schwierigkeiten abzufinden suchen. Aber er kann nach vorausgegangener prinzipieller Erwägung ihrer besser Herr werden, als ihm dies ohnedem möglich gewesen wäre.

Etappen der Verarbeitung. Meist geht die Auswertung des Wahrgenommenen durch den Zeugen in verschiedenen Abschnitten vor sich. Die ersten Versuche in dieser Hinsicht unternimmt er bereits in unmittelbarem Anschluß an die Beobachtung. Fortgesetzt wird die verarbeitende Tätigkeit, wenn er sich später mit anderen über das Geschehen (z. B. über den Verlauf der Schlägerei) unterhält. Neu angeregt wird

Verarbeitung der Wahrnehmungen durch den Zeugen

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seine Beschäftigung mit dem Sachverhalt schließlich, sobald er die Vorladung zum Verhör bekommt. Der Zeuge macht sich dann in der Regel eine festere Auffassung über die Einzelheiten zurecht, bezüglich deren er eine Befragung erwartet. Er versucht, etwaige Unklarheiten durch Nachdenken und Kombinieren zu bereinigen, Wahrnehmungslücken zu schließen, mit Unwahrscheinlichkeiten fertig zu werden und gewinnt dadurch eine präzisere Vorstellung vom Hergang. Der Sachverhalt tritt auf Grund dieser Denkarbeit in seiner Erinnerung auch hinsichtlich der zunächst zweifelhaft gewesenen Punkte plastischer hervor. Teilweise vollzieht sich die Verarbeitung aber erst während des Verhörs unmittelbar unter den Augen des Vernehmungsleiters, soweit dieser nämlich Fragen stellt, die der Zeuge nicht vorausgesehen hat und auf die er deshalb nicht vorbereitet ist. Für den Vernehmenden hat dies den Vorteil, daß er die Arbeitsweise der Auskunftsperson dann genauer verfolgen kann als in den Fällen, wo die Verarbeitung bereits früher vorgenommen worden war.

Kritische Betrachtung der vom Zeugen dabei erbrachten Leistung. In jedem Falle hat der Vernehmende die Verarbeitung zu kontrollieren. Manchmal ist er regelrecht in der Lage, den Denkweg des Zeugen von der Wahrnehmung bis zur Darstellung des Sachverhalts im Termin nachzuvollziehen und sich so zu vergewissern, ob dabei ordnungsmäßig verfahren worden ist. Er darf sich die Denkarbeit des Zeugen nur dann zu eigen machen, wenn sich ergibt, -

daß dieser die Ausgangstatsachen richtig ausgewertet hat,

-

daß die Lücken sachgemäß ausgefüllt worden sind,

-

daß die sonstige Verarbeitung korrekt erfolgt ist.

Zeigt sich, daß die Denkarbeit des Aussagenden Mängel aufweist, so ist der Vernehmende manchmal in der Lage, diese gleich selbst richtigzustellen. In anderen Fällen ist er dabei jedoch auf die Mitwirkung des Aussagenden angewiesen. Auch hier wird unter Umständen deutlich, wie sehr Vernehmungsleiter und Aussageperson zur Erbringung einer gemeinsamen Leistung miteinander verbunden sind. Denn einerseits soll der Vernehmende die vom Zeugen vorgenommene gedankliche Verarbeitung gewissenhaft überprüfen. Andererseits fehlt ihm aber häufig das zur Beurteilung nötige Spezialwissen des Zeugen und seine intime Situationskenntnis. Der Vernehmende muß es in solchen Fällen verstehen, sich die Grundtatsachen vom Aussagenden geben zu lassen, ohne seine kritische Haltung gegenüber der von diesem vorgetragenen Deutung aufzugeben. Wenn bezüglich der Aussageleistung nur geringe Kontrollmöglichkeiten vorhanden sind, kommt oft alles darauf an, ob dem Zeugen eine

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Die Zeugenvernehmung

korrekte Arbeit zugetraut werden kann. Dazu gehört je nach der Art des Beweisthemas nicht nur ein bestimmtes Maß an Intelligenz und Vorstellungskraft, sondern auch einige Bekanntschaft mit Vorgängen von der Art, über die der Aussagende sich zu äußern hat. Dem Rechtsanwalt, dem Arzt, dem Bankherrn wird man, wenn sie als Zeugen aussagen, in Fragen, die sich auf ihren Beruf beziehen, oftmals zutrauen dürfen, daß sie richtig aufgefaßt und korrekt verarbeitet haben, wenn ihre allgemeine Sachkunde in dem Punkt, um den es sich handelt, nicht zweifelhaft ist, wenn sie ferner ihren Denkweg befriedigend darlegen und etwaige Einwände gegen ihre Darstellung zu entkräften vermögen11 • Immerhin muß bedacht werden, daß auch Menschen mit guter Allgemeinbildung und mit überdurchschnittlicher geistiger Begabung eine unrichtige oder doch fragwürdige Verarbeitung liefern können; entweder, weil ihnen gerade die spezifische Form von Intelligenz, Phantasie, Kombinationsgabe, die hier erfordert wird, fehlt oder weil sie das nötige Training für die ihnen gestellte Aufgabe nicht besitzen. Meist zeigt sich bei der Vernehmung sehr bald, ob der Zeuge zu korrekter Verarbeitung neigt oder ob es ihm in dieser Hinsicht an der nötigen Gewissenhaftigkeit fehlt. Manchmal ist schon gleich zu Anfang erkennbar, daß die Verarbeitung unzulänglich sein muß, weil der Zeuge nicht die nötigen technischen Kenntnisse besitzt oder weil er aus anderen Gründen nicht imstande ist, die Sache richtig zu übersehen. Trotzdem können seine Angaben für die Wahrheitstindung von Wert sein, wenn es gelingt, ihn durch die vom Vernehmungsleiter zu gewährenden Hilfen zu ersprießlicher Mitarbeit zu bringen. Ergibt sich, daß der Zeuge bei der Auswertung seiner Wahrnehmungen von stillschweigenden Voraussetzungen ausgegangen war, die nicht zutrafen, oder daß er allzu phantasievoll kombiniert hat und dadurch augenscheinlich in eine verkehrte Richtung gelenkt worden ist, so muß er veranlaßt werden, unter Vermeidung des festgestellten Fehlers die Verarbeitung nochmal neu zu versuchen. Freilich bedarf auch das so zustande gekommene, meist besser ausgereifte Ergebnis der kritischen Beurteilung durch den Vernehmenden. Soweit der Zeuge zur ordnungsmäßigen Verarbeitung aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage ist, sind wenigstens die Elemente für eine solche von ihm zu erfragen, damit der Vernehmende das, was eigentlich der Zeuge tun müßte, selbst nachholen kann. u Alsberg-Nüse, Beweisantrag S. 221 f.

Besonderheiten der Vemelunung in bestimmten Einzelfällen

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Ermittlung des Fundaments der Zeugenaussage Eine genauere Prüfung der vom Zeugen gegebenen Darstellung ist nur möglich, wenn die Unterlage klargestellt wird, auf der sie beruht. Die Prozeßordnungen bestimmen daher in der Regel, daß der Zeuge angehalten werden soll, den Grund seiner Wissenschaft anzugeben12• Er hat sich also nicht nur über den rechtserheblichen Umstand selbst zu äußern, sondern muß auch veranlaßt werden, mitzuteilen, inwieweit seine Kenntnis auf eignen Wahrnehmungen oder auf Mitteilungen Dritter oder auf Schlußfolgerungen beruht. Aber damit ist die Aufgabe, die dem Wahrheitsforscher in dieser Hinsicht zufällt, nur sehr ungenau umschrieben. In Wirklichkeit ist die gesetzliche Bestimmung, nach welcher der Aussagende über den Grund seines Wissens zu befragen ist, der Ausfluß eines umfassenden, die gesamte Beweistätigkeit beherrschenden Prinzips, nach welchem der Zeuge nicht nur die Elemente anzugeben hat, aus denen seine Sachdarstellung hervorgegangen ist, sondern auch den zurückgelegten Denkweg einschließlich der von ihm vorgenommenen Verarbeitung klarlegen muß. Welche Konsequenzen sich daraus im einzelnen ergeben, bedarf für bestimmte Fälle noch der Erörterung. Besonderheiten der Vernehmung in bestimmten Einzelfällen 1. Angaben über fremdpsychische Tatsachen

Erhöhte Feststellungsschwierigkeiten. Bei Aussagen, die sich auf Vorgänge im physischen Bereich beziehen, stößt die Ermittlung der Grundlage, auf der sie beruhen, oft auf keine sonderlichen Hindernisse. Hat der Aussagende sich dagegen über seelische Zustände oder Abläufe zu äußern, die sich meist nicht in gleicher Weise in der Außenwelt abzeichnen, dann wird dem Vernehmenden die Erforschung der Unterlagen, auf denen die Darstellung der Auskunftsperson fußt, oft kaum durchführbar erscheinen. Eben deshalb muß näher darauf eingegangen werden. Fehlen greifbarer Anhaltspunkte. Vielfach sind die äußeren Anzeichen für psychische Vorgänge, die der Zeuge an einem Dritten wahrnimmt, schwer faßbar und verflüchtigen sich rasch, so daß sie von ihm unter Umständen ohne seine Schuld nicht mehr vorgewiesen werden können. Je mehr der Zeuge bei der Wahrnehmung solcher Zeichen auf sein Einfühlungsvermögen angewiesen ist, desto weniger wird er dazu in der Lage sein, sie exakt zu reproduzieren. Damit verringern sich zu11

§ 68 StPO, § 396 ZPO.

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Die Zeugenvernehmung

gleich auch die Handhaben für eine Nachprüfung des Aussageinhalts durch den Vernehmenden. Bekundungen solcher Art wird man daher mit einigem Mißtrauen zu betrachten haben. Es fehlen hier, da der Zeuge eine Einordnung seiner Wahrnehmungen in einen Zusammenhang von konkreten Einzelheiten nicht zu geben vermag, eben jene aufschlußreichen Anhaltspunkte, die dem Vernehmenden die zutreffende Bewertung der Aussage sonst zu erleichtern pflegen.

Richtlinien für die Würdigung. Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß solche Angaben auch ohnedem vertrauenswürdig sein können, wenn sie von einer (zweifellos redlichen) Beweisperson gemacht werden, die über eine gute Einfühlungsgabe und eine instinktive Treffsicherheit verfügt. Freilich muß dann auch außer Frage sein, daß der Zeuge die für Beobachtungen dieser Art erforderlichen geistigen Fähigkeiten besitzt, daß ihm die nötige Aussagegewissenhaftigkeit eigen ist und daß bei ihm mit unbewußten Voreingenommenheiten nicht gerechnet zu werden braucht. Die Gabe, fremdpsychische Vorgänge richtig zu beurteilen, ist bei den einzelnen Menschen eine unterschiedliche. Häufig besitzt der Zeuge nicht genügend Selbstkritik, um sich von willkürlichen Annahmen freizuhalten 13 • Der Vernehmende hat sich darauf von vornherein einzustellen. Mitunter gibt die Art, wie der Zeuge sich über den fraglichen Punkt ausläßt, Aufschlüsse darüber, ob man seinen Angaben trauen darf, obwohl er sie nicht durch spezielle Einzelbeobachtungen belegen kann. Kasuistik. Wenn der Zeuge erklärt, der Beschuldigte habe von seiner Schußwaffe Gebrauch machen wo 11 e n , wenn er sich also über die vermeintliche Willensrichtung des Beschuldigten äußert, dann muß er zugleich mitteilen, woraus er das entnommen haben will. Vielleicht stellt sich dabei heraus, daß er gesehen hat, wie der Beschuldigte während eines erregten Wortwechsels in seine Tasche griff, um anscheinend eine Pistole herauszuholen. Ob diese Annahme des Zeugen begründet ist oder nicht, bedarf dann noch besonderer Erwägung. Wenn der Zeuge aussagt, der Beschuldigte habe die Befürchtung gehabt, daß seine Frau ihn verlassen werde, so muß er wiederum zu Darlegungen darüber aufgefordert werden, woraus er dies im einzelnen geschlossen hat (ausdrückliche Mitteilung des Beschuldigten an den Zeugen, die diesem glaubhaft erschien, oder andere Anzeichen, die in die gleiche Richtung weisen). Wenn der Zeuge angibt, daß der Beschuldigte zur Zeit des Vertragsabschlusses zwar Alkohol getrunken hatte, aber trotzdem seine volle Geisteskraft besessen habe, so wird man diese Bekundung nur dann als verläßlich ansehen können, wenn er konkrete Anhaltspunkte dafür beiu

Sachs, Beweiswürdigung S. 48.

Besonderheiten der Vernehmung in bestimmten Einzelfällen

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bringt und diese überzeugend erscheinen (geringer Alkoholkonsum, keine äußeren Zeichen von Alkoholbeeinflussung; Belege dafür, daß der Beschuldigte noch zu sinnvollem, vielleicht sogar scharfsinnigem Denken imstande war).Bei den meisten Menschen sind, wenn man genauer darauf achtgibt, irgendwelche Zeichen für ihre seelische Verfassung vorhanden. Aufregung, Nervosität, Freude, Enttäuschung- für all das gibt es typische äußere Zeichen in der Mimik, in den Bewegungen und im sonstigen Verhalten, die der Zeuge wahrnehmen kann und zu deren Mitteilung er bei der Vernehmung angeregt werden sollte. 2. B e k u n d u n g e n ü b e r eigenpsychische Tatsachen

Einzelfälle dieser Art. Mitunter hat der Zeuge sich auch über Vorgänge oder Zustände zu äußern, die sein eigenes Seelenleben betreffen: Ärgerten und erregten ihn die Anspielungen des A oder waren sie ihm gleichgültig? Fühlte er sich durch das Verhalten von B enttäuscht? Auf Grund welcher Erwägungen traf er bestimmte geschäftliche oder familiäre Maßnahmen? Wenn in Betrugssachen zu klären ist, ob die Täuschungshandlung des Beschuldigten beim Geschädigten irrige Vorstellungen hervorgerufen hat, muß dieser sich als Zeuge darüber äußern, inwieweit er den Vorspiegelungen des Beschuldigten geglaubt hat und sagt dann über Vorgänge des eigenen Seelenlebens aus.

Tendenz des Zeugen zur Verschönerung. Vielfach hängt es sehr von der Art, wie die Erörterungen gelenkt werden, ab, ob eine oberflächliche, mehr oder minder fragwürdige, vielleicht sogar innerlich unwahre Stellungnahme des Zeugen zu solchen Fragen zustande kommt oder ob eine Äußerung erreicht wird, die den Vernehmenden an die Wirklichkeit heranführt. Gerade bei eigenpsychischen Bekundungen kommt es leicht dahin, daß der Zeuge sich prächtig herausstaffiert, daß er seine Ziele und Absichten beschönigt und idealisiert, weil er im Prozeß einen günstigen Eindruck machen möchte. Oft braucht die Auskunftsperson dabei nicht einmal zu befürchten, daß ihr die Unwahrheit ihrer Darstellung nachgewiesen wird; sie kann sich vielmehr in diesem Bereich ziemlich sicher fühlen und ihren Wunsch, sich in ein gutes Ansehen zu setzen, ohne sonderliches Risiko verwirklichen. In solchen Fällen ist eine leidlich vertrauenswürdige Angabe meist nur zu erreichen, wenn man dem Aussagenden die entscheidende Frage nicht geradezu stellt, sondern den zu klärenden Punkt indirekt von verschiedenen Seiten her angeht. Manchmal stellt sich das Ergebnis dann ohne Zwang ganz von selbst ein.

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Die Zeugenvernehmung 3. Äußerungen über eigene Beweg gründe

Bei Angaben über die Motive für eigenes Handeln sind neben halbbewußter Schönfärberei auch regelrechte Selbsttäuschungen nichts Seltenes. Man sollte denken, daß der Aussagende, wenn er ehrlich ist, in der Lage sein müßte, über seine Motive zutreffend zu berichten; aber die Erfahrung beweist das Gegenteil. Was der Zeuge mitzuteilen vermag, sind allenfalls die bewußten Beweggründe, während er die tieferliegenden Regungen, seine verborgenen Antipathien, sein Streben nach Ausgleich von Minderwertigkeitsgefühlen regelmäßig nicht erwähnt; teils weil er von ihnen selbst nichts ahnt, teils weil es ihm peinlich ist, sich zu ihnen zu bekennen. Die Ermittlung kompliziert sich bisweilen noch dadurch, daß nicht nur ein einziger Beweggrund, sondern ein ganzes Bündel von Motiven vorlag und diese vielleicht noch in verwirrender Weise miteinander verquickt waren. Der Wahrheitsforscher muß auf solche Möglichkeitengefaßt sein, um sich bei der Erörterung richtig verhalten zu können. Er wird es dann nicht gleich übel vermerken, wenn der Zeuge sich z. B. über die Motive seines Verhaltens bei einer erregten Auseinandersetzung nur zögernd äußert. Der Vernehmende wird sich dann auch nicht mehr darüber wundern, daß mitunter selbst ein offenbar redlicher Zeuge über seine Beweggründe widerspruchsvolle Angaben macht. Den Zielen und Verhaltenstendenzen des einzelnen fehlt im täglichen Leben oftmals jene logische Folgerichtigkeit, die der Uneingeweihte ohne weiteres glaubt erwarten zu können. 4. W e r t u r t e i 1 e d es Z e u g e n Die Beweisperson hat keineswegs nur Beobachtungen mitzuteilen, sondern fällt regelmäßig zugleich auch Urteile. Selbst Aussagen simpelster Art wie die, daß der X aus seinem Hause kam und daß er einen Stock in der Hand hatte, setzen voraus, daß der Zeuge das Wahrgenommene mit seinem Erfahrungswissen vergleicht und auf Grund dieses Vergleichs gewisse Schlußfolgerungen zieht. Erst dadurch, daß er an seine Beobachtung ein Wahrnehmungsurteil anknüpft, macht er seinen Sinneseindruck mitteilungsfähig14 • Aber der Zeuge hat über derartige, ohne Schwierigkeit zu treffende Beurteilungen hinaus oft auch Wertungen komplizierterer Art abzugeben: War die Wohnung des Beschuldigten luxuriös eingerichtet? Paßte 14 RGStr. Bd. 57, S. 412; Scheuerte, Rechtsanwendung S. 64, ferner zum ganzen Abschnitt v. Cleric, "Der Beurteilungszeuge" in der Schweizerischen Juristenzeitung Bd. 19 (1923) S. 369 ff.

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das Kleid, das die Schneiderin angefertigt hatte, oder war das nicht der Fall? Ist der A von Natur leicht erregbar? Pflegt B im allgemeinen vorsichtig zu fahren? Machte C den Eindruck eines Menschen, der dienstlich überlastet ist und ständig über seine Kraft arbeitet? WarD für die Tätigkeit, die man ihm auf seiner Arbeitsstelle zugewiesen hatte, genügend vorgebildet? Hat sich E bei seinem Aufenthalt im Internierungslager gegenüber den Mitinsassen unkameradschaftlich verhalten? usw. In welchem Umfang sind Beurteilungen des Zeugen zulässig? Die Rechtsprechung hat früher in dieser Hinsicht einengende Grundsätze aufgestellt. Danach sollten für die Wahrheitstindung nur Zeugenurteile verwertet werden dürfen, die sich auf Grund der im Einzelfall gegebenen Umstände jedem durch einfachstes Nachdenken und durch Anwendung allgemein bekannter Erfahrungen ohne weiteres aufdrängen. Man wollte nur solche Urteile anerkennen, die sich auch bei einem Zeugen mit durchschnittlichen Geistesgaben so selbstverständlich einstellen, daß seine Urteilstätigkeit im Vergleich zur sinnlichen Wahrnehmung als nebensächlich erscheint15 • Dabei lag die zutreffende Erwägung zugrunde, daß für die Entscheidung der Tatfrage niemals das vielleicht durch Vorurteile verfälschte Dafürhalten des Zeugen ungeprüft maßgebend sein darf. Es sprach aber weiter die nicht gerechtfertigte Überzeugung mit, daß der Vernehmende, wenn er sich erst einmal auf die Entgegennahme von Zeugenurteilen einlasse, keine Prüfungsmöglichkeit mehr besitze, sondern den unkritischen Mutmaßungen des Zeugen wehrlos ausgeliefert sei. Um dieser unleidlichen Situation aus dem Wege zu gehen, schien es notwendig, nur Zeugenurteile einfachster Art zuzulassen und alle Beurteilungen, die darüber hinausgehen, für unverwertbar zu erklären.

Ein so weitgehender Ausschluß von Zeugenurteilen ist jedoch sachlich nicht vertretbar. Wertungen und Schlußfolgerungen des Zeugen sind in vielen Fällen schlechthin unentbehrlich16 • Das Reichsgericht war denn auch, um zu einigermaßen haltbaren Ergebnissen zu kommen, genötigt, seiner Lehre eine Ausdeutung zu geben, die einer Aufgabe der formulierten Richtlinie nahekam: Es erklärte z. B. die Befragung von Zeugen darüber, ob eine bestimmte Person "lügnerisch" oder ob sie "sittlich verwahrlost" sei, ganz allgemein für zulässig. Begründet wurde das mit dem in keiner Weise einleuchtenden, eigentlich nur vom erstrebten Ergebnis her verständlichen Argument, daß solche Beurteilungen auch 15 RGStr. Bd. 27, S. 95 ff. und die daran anschließende Rechtsprechung. Aus dem Schrifttum ist vor allem auf Glaser, Handbuch I. 461, v. Kries, Lehrbuch des dtsch. Strafprozeßrechts (1892) S. 356, Löwe-Rosenberg Vorbem. 1 a zu§ 52 StPO zu verweisen. 18 Für das englische Recht ebenso Coven and Carter S. 166, 169 ff.

8 Döhring

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Die Zeugenvernehmung

einem einfachen Menschen ohne Zuhilfenahme schwieriger Gedankenoperationen möglich seien17 •

An anderer Stelle wurde (freilich nicht ganz mit der gleichen Sicherheit) die Auffassung vertreten, daß der Zeuge, wenn er sich darüber äußern soll, ob er eine bestimmte Person für glaubwürdig hält, dabei in der Regel einen so leicht zu übersehenden Tatsachenkreis in Betracht zu ziehen habe, daß er sich über die Frage der Glaubwürdigkeit an Hand seiner Wahrnehmungen unschwer eine Ansicht bilden könne18 • Die Praxis hat trotz der Behinderung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung seit langem recht und schlecht mit Zeugenbeurteilungen in weitestem Sinne gearbeitet. Ein wirksamer Schutz dagegen, daß sich der Beurteilungszeuge mit seinem vielfach unkritischen Dafürhalten zum Herrn der Tatsachenfeststellung macht, kann mithin allein dadurch erreicht werden, daß man, soweit Zeugenurteile nicht zu entbehren sind, diese gewissenhaft überprüft. Es beruht keineswegs auf gedankenlosem Optimismus, wenn auch hier eine genauereErprobungfür möglich gehalten wird. Die folgenden Erörterungen werden zeigen, daß die Tatsachenforschung bei richtigem Vorgehen durchaus nicht dem Gutdünken des Zeugen ausgeliefert ist. Wenn man in den angelsächsischen Ländern seit langem die Verwertung von Zeugenurteilen stark eingeschränkt hat, so beruht dies in erster Linie auf speziellen Rücksichten, die keine allgemeine Geltung haben. Es muß dort nämlich mit dem angloamerikanischen Schwurgericht gerechnet werden, in welchem die Geschworenen (anders als in den meisten kontinentalen Ländern) über die Tatfrage selbständig und ohne Mitwirkung von Berufsrichtern beraten und entscheiden. Infolge der vielfach geringen Neigung der Laienrichter zu kritischer Würdigung von Zeugenurteilen sind dann freilich einschränkende Maßnahmen nötig, wenn Mißgriffe vermieden werden sollen.

Analyse von Zeugenbeurteilungen. Auch bei Werturteilen und Schlußfolgerungen der Beweisperson beginnt die Arbeit zunächst damit, daß die Grundtatsachen, auf denen ihre Stellungnahme beruht, ermittelt werden. Wenn das ordnungsmäßig geschehen ist, macht die Würdigung solcher Aussagen oft keine sonderlichen Schwierigkeiten mehr. Falls festgestellt werden soll, ob der Beschuldigte in den zwei Jahren, während deren er im Betrieb des Zeugen tätig war, zufriedenstellend gearbeitet hat, muß sich der Zeuge, ehe er dazu Stellung nehmen kann, unter Umständen eine Fülle von Begebenheiten vergegenwärtiRG Str. Bd. 37 S. 371. s RG vom 14. 6. 1909 im Archiv für Strafrecht Bd. 56, S. 324.

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gen. Er muß sich auf die Gelegenheiten besinnen, bei denen die Arbeit des Beschuldigten Beanstandungen unterlag; er hat ferner zu erwägen, wie oft solche Fälle sich ereignet haben und ob der Beschuldigte dabei grobe Fehler begangen hatte oder ob es sich in der Regel um kleinere Fehlleistungen handelte, die überall einmal vorkommen können, ohne daß die Zufriedenheit des Arbeitgebers durch sie beeinträchtigt würde. Wenn die tatsächlichen Unterlagen für die Beurteilung in dieser Weise klargestellt worden sind, läßt sich auch ermessen, ob der Zeuge noch eine Erinnerung an konkrete Einzelvorgänge besitzt oder ob eine solche gänzlich fehlt und nur noch ein allgemeiner Eindruck vorhanden ist. Der Verhörsleiter kann dann ferner einigermaßen taxieren, ob die vom Zeugen berichteten Einzelvorgänge repräsentativen Charakter gehabt haben oder ob es sich dabei um Ausnahmefälle gehandelt hat, die nicht verallgemeinert werden dürfen. Der Vernehmende kann nicht erwarten, daß die Beweisperson schon von sich aus alle diese Einzelheiten fertig vorweist. Das geschieht selbst bei gutwilligen Zeugen nicht allzuoft. Meist muß sich der Vernehmungsleiter ins Mittel legen und erst durch Fragen und Vorhalte das konkrete Material zutage fördern. Man sollte übrigens, wenn der Zeuge nicht schon von sich aus mit den Einzelbelegen herauskommt, ihn deswegen nicht etwa kurzerhand für verdächtig halten und entsprechend behandeln. Manchmal hat er den Tatsachenstoff, auf dem er aufbaut, nur aus Ungewandtheit teilweise für sich behalten und ist auf Befragen sogleich in der Lage, das Fehlende zu ergänzen. Es gibt jedoch auch Fälle, wo der Zeuge die Tatsachengrundlage, auf der seine Beurteilung basiert, wegen der Ungunst der Beobachtungsverhältnisse (z. B. wegen des schnellen Ablaufs der Geschehnisse bei einem Autounfall) nicht gesondert aufgefaßt hat. Der Zeuge hat dann die Situation vielleicht nur blitzschnell mit einem einzigen Blick umfassen können und besitzt daher lediglich einen summarischen Eindruck19 • Die Einzelheiten sind im Gesamtbild aufgegangen und können nicht reproduziert werden. Trotzdem darf man die Angaben des Zeugen deshalb nicht etwa schlechthin für unzuverlässig halten. " Glaser, Handbuch I. 460, Stein JW 1923 S. 15; zum Beweise dafür, daß diese Erkenntnis in der Praxis schon früh vorhanden gewesen ist, mag auf die Entscheidung des Oberappellationsgerichts Lübeck vom 24. 5. 1862 (Seufferts Archiv für Entscheid. der obersten Gerichte Bd. 16 S. 153) sowie auf das Urteil des Reichsgerichts vom 27.11. 1895 (JW 1896 S. 32) hingewiesen sein, das zu dem Problem in geradezu klassischen Formulierungen Stellung nimmt; über das kanonische Recht Wirth S. 248. 8•

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Soll der Zeuge den Täter beschreiben, den er nur für einen kurzen Augenblick gesehen hat, so wird er über die Einzelheiten in dessen Äußerem (Kleidung, Haltung, Gesichtszüge usw.) vielleicht nur wenig sagen können. Der Eindruck, den die Beweisperson von der Eigenart dieses Menschen erhält, bildet sich oft, ohne daß die zugrunde liegenden Einzeltatsachen angegeben werden könnten. Das im Aussagenden vorhandene Gesamtbild setzt sich dann aus Elementen zusammen, die sich als solche nicht oder nur teilweise festhalten lassen20 • Trotzdem kann den Angaben des Zeugen über die Identität des Beschuldigten mit der am Tatort beobachteten Person beträchtlicher Beweiswert innewohnen, zumal wenn sie noch durch eine gut angelegte Wahlkonfrontation bestätigt worden sind21 •

Prüfung von Zeugenbeurteilungen, wenn die Ausgangstatsachen fehlen. a) In Fällen, wo es dem Zeugen nach Lage der Sache möglich sein müßte, die Unterlagen, auf welche sich sein Urteil gründet, anzugeben, wird dieses in der Regel wertlos sein, sofern er die dazu gehörigen Einzelheiten nicht vorweisen kann. Wenn der Zeuge etwa erklärt, der Beschuldigte habe dem A an der Mühle "aufgelauert", aber nichts dafür anführen kann, daß der Beschuldigte sich eigens zu diesem Zweck dorthin begeben und in den Hinterhalt gelegt hat, um einen Überfall auf A auszuführen, so wird diese Bekundung des Zeugen wenig Aussicht auf Berücksichtigung haben. Sie wird ganz und gar fragwürdig, wenn weitere Ermittlungen die Möglichkeit offen lassen, daß der Beschuldigte sich zur Mühle begeben hatte, um dort eine Bestellung zu machen. b) Kann die Angabe näherer Einzelheiten den Umständen nach vom Zeugen nicht gut verlangt werden, so ist bei der Prüfung, ob das von ihm präsentierte Endergebnis vertrauenswürdig erscheint, vor allem zu erwägen, - ob der offenbar redliche Aussagende im maßgebenden Zeitpunkt zur Erfassung der Ausgangstatsachen allgemein imstande war (Beobachtungsfähigkeit, hinreichend rasche Auffassungsgabe, Beurteilungskraft); -ob nach den bekanntgewordenen Umständen die Wahrnehmungsmöglichkeit für ihn eine einigermaßen günstige war (aus welcher Entfernung hat er beobachtet? Wieviel Sekunden, Minuten, Tage, Jahre hatte er die Situation, über die er aussagen soll, unter Augen? In welchem Umfang hatte er Einblick in die Verhältnisse, die er wertend schildert?); to

Mönkemöller S. 163.

Darüber, daß Identitätsbekundungen wegen der besonderen Irrtumsgefahr einer sorgfältigen Prüfung bedürfen: Groß-Seelig, Handbuch I. 383 ff.; vgl. auch Urteil des BGH vom 28.6.1961 (NJW 1961 S. 2070). 21

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- ob der Aussagende dem fraglichen Vorgang soviel Aufmerksamkeit zugewandt hat, daß ein verläßliches Ergebnis zustande kommen konnte. Will man alle Einzelgesichtspunkte in einer kurzen Formel zusammenfassen, so kann stark vereinfachend etwa gesagt werden: Es gilt zu ermitteln, ob der Zeuge Gelegenheit hatte, sich bezüglich der fraglichen Umstände ein zutreffendes Bild zu machen und ob ihm zugetraut werden kann, daß er von den in dieser Hinsicht bestehenden Möglichkeiten angemessenen Gebrauch gemacht hat. c) Kommt bei dieser Prüfung kein eindeutiges Ergebnis zustande, dann kann die Beurteilung, welche der Zeuge gibt, so sehr an Wert verlieren, daß sie für die Wahrheitstindung gänzlich nutzlos wird. Andererseits kann die Bewertungsarbeit eines redlichen und unbeeinflußten Zeugen, auch wenn sie in einem der genannten Punkte vielleicht nicht über jeden Zweifel erhaben ist, doch soviel Überzeugungskraft in sich tragen, daß der Wahrheitsforscher sie in gewisser Weise als Bestätigung seiner bereits aus anderen Beweiselementen entnommenen Ansicht ansehen darf. Oder sie gibt ihm, wenn sie seiner bisherigen Konzeption widerspricht, umgekehrt Anlaß, diese nochmal zu überprüfen. d) Als Beispiel für lediglich allgemeine (durch keine Einzelheiten bestärkte) Eindrücke des Zeugen, die allzu vage erscheinen und daher keine Berücksichtigung verdienen, mag folgender Sachverhalt dienen: Ein Auto überholt in der Dunkelheit eine Radfahrerin. Während des Überholungsvorgangs kommt diese zu Fall, ohne daß sich an ihrer Kleidung oder am Kraftwagen eine Berührung der beiden Verkehrsteilnehmer nachweisen ließe. Es fragt sich, ob der Sturz der Radfahrerin auf ihre eigene Unvorsichtigkeit oder auf verkehrswidriges Verhalten des Kraftfahrers zurückzuführen ist. Drei Zeugen, die den Ablauf aus so weiter Entfernung beobachtet haben, daß ihnen sichere Wahrnehmungen kaum zugetraut werden konnten, bekundeten übereinstimmend, sie hätten schon vor dem Unfall den Gedanken gehabt, daß etwas passieren werde, waren jedoch nicht in der Lage, das näher zu begründen. Solche nicht weiter belegten Eingebungen stellen aber ein brauchbares Beweiselement nicht dar. Der vierte Zeuge sagte aus, der Autofahrer habe ihm (offenbar beim Vorbeifahren) "einen unsicheren Eindruck" gemacht; aber auch diese Angabe enthält, da sie nicht konkret unterbaut oder sonst näher begründet werden konnte, keinen brauchbaren Hinweis auf ein verkehrswidriges Verhalten des Kraftfahrers, das den Sturz der Radfahrerin verursacht haben könnte22 • 22 BGH vom 26. 3. 1953 in "Recht des Kraftfahrers" Jg. 1953 S. 152. Daß der Zeuge seine Beurteilung zu substanziieren hat, war bereits in dem (unveröffentlichten) Urteil des Reichsgerichts vom 12. 1. 1903 gesagt worden.

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Die Zeugenvernehmung

5. Aus s a g e n üb er C h a r a k t e r und Wesensart eines Dritten Wenn Feststellungen über Fähigkeiten oder Neigungen des Beschuldigten bzw. eines Dritten zu treffen sind, nützt es wenig, wenn der Zeuge erklärt, der Betreffende sei allgemein als "übler Schläger" bekannt; oder wenn er bekundet, der A "neige zum Diebstahl", der B sei "sittlich verwahrlost", die C stehe in dem Ruf, leicht zugänglich zu sein. Der Zeuge hat vielmehr in erster Linie Einzelheiten mitzuteilen, die in diese Richtung weisen und sie der Beurteilung des Vernehmenden zu unterbreiten23 • Es ist wichtig, daß der Wahrheitsforscher sich nicht auf das verläßt, was ihm von der Auskunftsperson geboten wird, sondern sich durch Rückfragen vergewissert. Da diese Möglichkeit bei schriftlichen Leumundszeugnissen nicht gegeben ist, hat das Gesetz ihre Verwendung im Prozeß in vielen Ländern eingeschränkt. In Deutschland ist ihre Benutzung in der Hauptverhandlung untersagt(§ 256 StPO). In manchen Kantonen der Schweiz dürfen nur Leumundszeugnisse verwertet werden, die von besonders geschulten Beamten erteilt worden sind24 • Äußert sich ein zweifellos ehrlicher Zeuge während der Vernehmung über Charakterzüge oder Verhaltenstendenzen eines Dritten, so spricht es in gewisser Weise für die Verläßlichkeit seiner Angaben, wenn er von vornherein oder auf Nachfrage hin neben seiner Beurteilung auch die Elemente, auf denen sie beruht, in befriedigender Weise anzugeben vermag. Der Vernehmende muß versuchen, wenigstens in den Umrissen das herauszuarbeiten, was einer solchen Bekundung an tatsächlichen Einzelheiten zugrunde liegt.

Beurteilungsfehler. Sie können auch bei einem gutwilligen Zeugen daraus hervorgehen, daß dieser eine nur oberflächliche Kenntnis des Menschen besitzt, über den er aussagen soll; so wenn der Personalchef eines größeren Betriebes über einen seiner Angestellten auszusagen hat, der ihm selbst nicht genauer bekannt ist, so daß er sich bei seiner Stellungnahme weitgehend auf die Angaben anderer Betriebsangehöriger verlassen muß. Eine irreführende Bekundung des Zeugen kann ferner durch seine mangelnde Erfahrung in derartigen Beurteilungen zustande kommen. Mitunter sind auch die Gesichtspunkte, von denen der Zeuge bei der Bewertung ausgeht, zu einseitig. Der Lehrer sieht z. B. beim Unterricht meist nur einen engen Ausschnitt aus der Persönlichkeit des Kindes. Wenn er über Charaktereigenschaften eines seiner Schüler auszun EbensoRG Str. Bd. 39 S. 367. 24 Zbinden: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 62 S. 207.

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sagen hat, wird er sich bei seiner Einschätzung verständlicherweise in erster Linie nach den schulischen Leistungen richten, die er von Berufs wegen zu beobachten hatte und denen er seine Aufmerksamkeit in erster Linie zugewandt hat. Er kann daher im allgemeinen brauchbare Angaben über das geistige Entwicklungsstadium eines Kindes, das bei ihm zur Schule geht, machen, während eine verläßliche Charakterbeurteilung in der Regel einen größeren Beobachtungsrahmen voraussetzt, als ihn der übliche Schulbetrieb gewährt25 • Trotzdem vermag der Lehrer unter Umständen auch eine vertrauenswürdige Charakterbeschreibung seines Schülers zu geben, wenn ihm besondere Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung stehen, wie sie etwa eine langjährige Lehrtätigkeit in einer kleinen Schulklasse verschafft, oder wenn ein besonders enges Verhältnis des Lehrers zu seinen Schülern im allgemeinen bzw. speziell zu dem Schüler, über den er sich zu äußern hat, bestand. 6. U r t e i l e d es Z e u g e n v o m H ö r e n s a g e n Die Frage, inwieweit das Zeugnis vom Hörensagen überhaupt als zulässiges Beweismittel angesehen werden kann, wird nicht allenthalben gleichmäßig beantwortet. Das kontinentale Recht kennt keine Rechtsregel, die eine Verwertung der Bekundungen vom Hörensagen grundsätzlich verbietet. Es kommt hier lediglich auf eine gewissenhafte Prüfung an, welchen Beweiswert man einer solchen Aussage im Einzelfall beizumessen hat. Die Auffassung der angloamerikanischen Gerichte ist dagegen eine strengere, obwohl sie wichtige Ausnahmen vom Verbot des Zeugnisses vom Hörensagen zulassen und eine gewisse Tendenz vorhanden ist, das Verbot im Interesse der Wahrheitstindung nach Möglichkeit zu lockern. Die folgenden Darlegungen haben, wie sich das von selbst versteht, nur insoweit Geltung, als die Verwertung des Zeugnisses vom Hörensagen nach dem jeweils geltenden Prozeßrecht grundsätzlich statthaft ist. Bekundungen dieser Art enthalten oft notwendigerweise Bewertungen, die einem Leumundszeugnis ähnlich sind. Der Zeuge hat vielfach nicht nur darüber Angaben zu machen, ob ein Dritter ihm bestimmte Einzelheiten mitteilte, die zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen können, sondern auch darüber, ob ihm diese Angaben glaubwürdig erschienen sind. Wenn der Zeuge bekundet, ein bestimmter Dritter habe sich ihm gegenüber als Täter eines bisher unaufgeklärten Einbruchsdiebstahls bezeichnet, so ist gewissenhaft zu erkunden, in welchem Zusammenhang die u Peters, Lehrbuch S. 309.

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Mitteilung des Dritten erfolgte, ob sie nur nebenbei gemacht worden ist oder ob sie das Hauptanliegen des Sprechers bildete; ob sie ernstlich und mit Nachdruck vorgebracht wurde oder möglicherweise scherzhaft gemeint war usw. Bisweilen bedarf dann auch der genaueren Erforschung, inwieweit dem Dritten nach seinen Charakteranlagen eine wahrheitsgemäße Äußerung über den fraglichen Punkt zuzutrauen ist. Manchmal besitzt der Vernehmende darüber so viel Material, daß es keiner Äußerung des Hörensagen-Zeugen dazu bedarf. Mitunter ist jedoch dieser allein in der Lage, Anhaltspunkte für die Charaktereigenschaften und die sonstige Wesensart des mitteilenden Dritten zu geben. Unter Umständen hat der Zeuge sich auch noch darüber auszusprechen, ob der Dritte zur Zeit seiner Äußerung in einer seelischen oder körperlichen Verfassung gewesen ist, die den Wert seiner Angaben beeinträchtigen könnte (Aufregung, große körperliche Hinfälligkeit z. B. bei Sterbenden, starke Schmerzen, Alkoholeinfluß usw.).

Einzelfälle. Die Würdigung der in dieser Hinsicht vom Zeugen gemachten Bekundungen hängt weitgehend davon ab, ob er besondere Anzeichen in der Redeweise oder im Mienenspiel des Dritten angeben kann, aus denen auf die Verläßlichkeit der gemachten Mitteilungen geschlossen werden kann. Die folgenden drei Beispiele mögen eine Anschauung davon geben, wie verschiedenartige Gestaltungen hier möglich sind: - Der Beschuldigte hat im Wirtshaus Bemerkungen gemacht, die ein Überführungsindiz gegen ihn darstellen können. Wenn er die Äußerungen bestreitet, hat der Belastungszeuge zunächst darüber auszusagen, ob diese Redensarten gefallen sind; er hat aber weiterhin dazu Stellung zu nehmen, ob es sich nach den Umständen um offenbar ernst gemeinte Mitteilungen oder nur um prahlerische Redewendungen gehandelt hat bzw. um solche, durch die der Beschuldigte andere aufs Glatteis führen wollte. - In einem Ermittlungsverfahren wegen unzüchtiger Handlungen an Kindern hat die Mutter eines angeblich betroffenen Kindes darüber auszusagen, in welcher Weise das Kind ihr zum erstenmal die Unzuchtshandlungen beschrieben hat, die der Beschuldigte an ihm vorgenommen haben soll. Sie hat als Zeugin vom Hörensagen nicht nur die Äußerungen des Kindes möglichst getreu wiederzugeben, sondern auch die Indizien für oder gegen die Glaubwürdigkeit des Kindes mitzuteilen (spontane Schilderung noch unter der Einwirkung der ersten Aufregung, natürliche oder gekünstelte Darstellung, Mimik des Kindes bei der Wiedergabe; Redewendungen, die auf ein wirkliches Erlebnis schließen lassen usw.).

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-Der von einem Unbekannten durch mehrere Stiche schwer verletzte E hat sterbend dem herbeigeeilten Zeugen über den angeblichen Hergang der Sache und die vermeintliche Person des Täters berichtet. Wenn - wie hier der Vereinfachung wegen stets angenommen wird - der Zeuge vom Hörensagen selbst untadelig ist und nicht daran gezweifelt werden kann, daß der zu Tode Verwundete ihm die fraglichen Mitteilungen gemacht hat, dann bedarf es aber doch noch der eingehenden Erwägung, ob die Darstellung des Schwerverletzten als zutreffend angesehen werden kann. Man könnte meinen, daß der tödlich Verletzte als der unmittelbar Betroffene am besten wissen müsse, wer in diesem Fall der Täter war bzw. wie sich die Sache abgespielt hat, und daß er, zumal wenn er seine letzte Stunde herannahen fühlt, kaum ein Interesse haben könnte, dem Zeugen falsche Angaben über den Hergang zu machen. Doch bedarf diese Auffassung, so beachtlich die angeführten Gesichtspunkte im allgemeinen sein mögen, erheblicher Einschränkungen. Gewiß wird man meist nicht damit zu rechnen brauchen, daß der Verwundete im Angesicht des Todes jemanden, um sich an ihm zu rächen, absichtlich der Wahrheit zuwider des Totschlags beschuldigt haben könnte, obwohl in der Justizgeschichte solche Fälle bereits vorgekommen sind. Aber es kann auch bei einem schwer Verletzten infolge von Schreck, Aufregung und Schmerz zu Irrtümern hinsichtlich der Umstände, unter denen er verwundet worden ist, und selbst hinsichtlich der Person des Täters kommen. Der Vernehmende muß daher ermitteln, ob der Verletzte, als er dem Zeugen die fraglichen Angaben machte, nach seiner körperlichen und geistigen Verfassung noch imstande war, verläßliche Erklärungen über das Geschehene abzugeben. Als Indizien dafür bzw. dagegen, über die der Hörensagenzeuge unter Umständen berichten kann, kommen in Betracht: die größere oder geringere Gefahr von Erwartungssuggestionen oder sonstigen Wahrnehmungsfehlern (S. 98f.), die Bestimmtheit der Angaben des Sterbenden bzw. die Andeutung eigener Zweifel, die Klarheit oder Verworrenheit seiner Schilderung, das Vorhandensein oder Fehlen affektiver Tendenzen in seiner Darstellung. Manchmal bleibentrotzder vorhandenen Glaubwürdigkeitsanzeichen Zweifel übrig, weil die vom Zeugen zutage geförderten Indizien die Sachlage nicht völlig zu klären vermögen. Diese letzte Unsicherheit kann dann mitunter nur durch wertende Angaben beseitigt werden, die ein redlicher und urteilsfähiger Hörensagenzeuge aus der ihm zu Gebote stehenden intimen Kenntnis der konkreten Umstände macht.

Zeugnisse über Mitteilungen eines ungenannten Dritten. Bisher wurde vorausgesetzt, daß der Dritte, über dessen Äußerung der Hörensagenzeuge berichtet, seiner Persönlichkeit nach für den Vernehmenden

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feststeht. Der Wahrheitsforscher ist in solchen Fällen in der Lage, sich nach dem Lebensalter des Dritten, nach seinem Beruf, seiner sozialen Stellung, nach seinem Vorleben und seiner aus der Situation hervorgehenden Interessenlage zur Zeit der Äußerung ein Bild darüber zu machen, wie stark bei ihm der a 11 gemeine Wahrheitswille ausgeprägt gewesen sein mag und inwieweit er sich unter den vorliegenden besonderen Umständen verwirklicht haben wird. Manchmal kann der Zeuge vom Hörensagen jedoch den Dritten aus tatsächlichen Gründen nicht nennen, weil er ihn z. B. nur ganz flüc."'ltig gesehen hat, Namen und Anschrift von ihm nicht kennt und auch keine Möglichkeit besitzt, sie zu ermitteln. Dann wird das Zeugnis vom Hörensagen meist nur ein sehr schwaches Beweiselement darstellen, weil die Kontrollmöglichkeiten des Vernehmenden allzusehr beschränkt sind. Mitunter ist schließlich der Dritte dem Zeugen zwar von Person bekannt, wird von ihm aber gleichwohl nicht näher bezeichnet. Wenn ein Polizeibeamter als Zeuge in die Lage kommt, über Mitteilungen auszusagen, die er in dienstlicher Eigenschaft von einem Vertrauensmann der Polizei (sog. V-Mann) erhalten hat, so erteilt seine vorgesetzte Behörde die erforderliche Aussagegenehmigung (§ 54 StPO) meist nur mit der Maßgabe, daß eine namentliche Nennung des Vertrauensmannes unterbleibt. Dabei liegt in der Regel das Bestreben der Polizeidienststellen zugrunde, sich die Mitarbeit dieser Person zu erhalten und sie vor Angriffen des Beschuldigten oder seiner Parteigänger zu schützen. Der Hörensagen-Zeuge ist dann also nicht befugt, denN amen dessen, von dem die durch ihn berichtete Mitteilung stammt, zu nennen. Es fragt sich, ob trotzdem seine Bekundung als Beweismittel nützlich sein kann bzw. was der Vernehmende gegebenenfalls zu tun hat, um sie zu einem brauchbaren Beweiselement zu machen. Obwohl die Prüfungsmöglichkeiten des Vernehmenden hier sehr stark eingeengt sind, kann eine solche Aussage unter günstigen Umständen für die Sachverhaltsaufklärung bedeutsam werden. Zur Illustration ist ein 1925 vor dem Reichsgericht verhandelter Landesverratsfall besonders geeignet:

Der Prozeß Bullerjahn28 • Dem Angeklagten wurde zum Vorwurf gemacht, er habe die damals in Deutschland tätige Interalliierte Kontrollkommission dahin unterrichtet, daß in einem bestimmten deutschen Industriewerk größere Mengen Stahlrohlinge, die zur Herstellung von Gewehrläufen verwendet werden konnten, versteckt gelagert seien. Dafür, daß der gegen den Angeklagten erhobene Vorwurf zutraf, waren u Leipziger Zeitschrift für deutsches Recht Jg. 1929 Sp. 745 ff.

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elf Indizien vorhanden, die nicht im einzelnen genannt zu werden brauchen. Das Reichsgericht verwandte jedoch zur Vervollständigung des Überführungsbeweises auch noch die Aussage von drei Zeugen, die übereinstimmend bekundet hatten, ein namentlich nicht genannter Vertrauensmann habe ihnen mitgeteilt, der Angeklagte sei kurz nach Weihnachten 1924 im Gebäude der Kontrollkommission in Köln erschienen und habe dort erklärt, er könne Angaben über versteckte Waffen machen; er habe in der französischen Abteilung mit Leutnant Jost verhandelt und als Bezahlung für seine Dienste 1200-1400 Mark erhalten. Die drei Zeugen - es handelte sich um einen Kriminalkommissar und zwei Untersuchungsrichter - versicherten, daß die Gewährsperson "in Ansehung ihrer Glaubwürdigkeit und ihrer persönlichen Unbeteiligtheit über jeden Zweifel erhaben" sei. Der Angeklagte wurde zu einer längeren Zuchthausstrafe verurteilt. Diese Entscheidung hat zu einer lehrreichen Diskussion über das Zeugnis vom Hörensagen geführt. Es wurde vor allem bezweifelt, daß die Verwertung der genannten Angaben vom Hörensagen in einem solchen Fall zulässig sei. Späterhin sprach das Reichsgericht Bullerjahn im Wiederaufnahmeverfahren mit der Begründung frei, daß der Schuldbeweis insgesamt betrachtet in diesem speziellen Fall nicht völlig zugelangt habe. Gleichwohl haben sowohl das Reichsgericht als auch in neuerer Zeit der Bundesgerichtshof daran festgehalten, daß Angaben einer Gewährsperson, die aus dienstlichen Gründen nicht mit Namen genannt werden darf, ein brauchbares Beweiselement darstellen können 27 •

Volle Ausnutzung der Prüfungsmöglichkeiten. Wenn ein Zollbeamter, der dem Gericht als zuverlässig bekannt ist, sich als Zeuge auf bestimmte Mitteilungen eines ungenannten Vertrauensmannes beruft und erklärt, daß dieser "völlig einwandfrei" sei, so kann eine solche Bekundung möglicherweise zu einem brauchbaren Beweisstück gemacht werden. Dazu gehört jedoch, daß der Vernehmende sich mit der Erklärung, der Vertrauensmann sei völlig einwandfrei, nicht ohne weiteres zufrieden gibt, sondern genauer zu klären versucht, inwieweit er sich auf diese lapidare Äußerung verlassen kann. Er ist verpflichtet, die Handhaben zu kritischer Erprobung, die ihm in solchen Fällen verbleiben, ganz und gar auszunutzen. Der Zeuge muß zu genaueren Angaben darüber veranlaßt werden, worauf er seine Ansicht von der absoluten Vertrauenswürdigkeit des Gewährsmanns gründet; d. h. wie lange er diesen bereits unter Augen gehabt hat, ob eindeutige Bewährungsproben von ihm vorliegen; ob gesagt werden kann, daß sich die vom V-Mann gegebenen Auskünfte bereits in einer Reihe von Fällen (ausnahmslos?) 27 Urteil des Reichsgerichts vom 4. 6. 1928 im Archiv für Strafrecht Bd. 72 (1928) S. 345; vgl. auch BGH Str Bd. 5 S. 290 und Bd. 17 S. 382.

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bewahrheitet haben usw. Es gibt je nach Lage der Sache mancherlei Umstände, über die der Zeuge vom Hörensagen nähere Angaben machen kann, ohne befürchten zu müssen, daß dadurch die Identifizierung seines Nachrichtengebers möglich wird. Soweit der Zeuge sich darauf beruft, daß eine Beantwortung der an ihn gerichteten speziellen Fragen nicht erfolgen könne, ohne den Vertrauensmann preiszugeben, ist zu erwägen, ob dieser Einwand berechtigt erscheint oder ob er als eine Ausflucht angesehen werden muß, die den Beweiswert der ganzen Bekundung zunichte macht. Ergeben sich außer der bloßen Beteuerung des Vernommenen, daß sein Nachrichtengeber ihm als völlig vertrauenswürdig bekannt sei, gar keine weiteren konkreten Umstände, die dieses Zeugenurteil stützen könnten, so wird die Mitteilung des Dritten schwerlich ein starkes Beweisargument darstellen, mag auch der Hörensagen-Zeuge selbst noch so glaubwürdig sein 28 • ~

Schlußfolgerungen im engeren Sinn

Gedankliche Rekonstruktion des Sachverhalts durch den Zeugen. Mitunter hat der Aussagende nur ganz geringe tatsächliche Anhaltspunkte für die Aufklärung der Sache zur Verfügung und vermag sich daher lediglich mit Hilfe von Schlußfolgerungen sinnvoll zur Beweisfrage zu äußern. Zumal wenn ihm jede Erinnerung an den konkreten Vorfall, über den er aussagen soll, fehlt, kann er sich manchmal nur durch verstandesmäßige Schlüsse der Wahrheit nähern. Ein Reisevertreter, der über eine von ihm geführte Verkaufsverhandlung aussagen soll, argumentiert dabei etwa folgendermaßen: "Wie ich aus dem mir vorgelegten Bestellschein sehe, habe ich Frau A am 15. 10. 1964 eine Waschmaschine verkauft. Ich besinne mich zwar auf den Verlauf der Vorbesprechungen nicht mehr, kann aber mit Sicherheit sagen, daß ich dabei Frau A auch auf den Umstand X aufmerksam gemacht habe, weil ich das ganz regelmäßig tue." Manchmal hat der Zeuge zwar eine gewisse Kenntnis von dem Vorfall, jedoch keine Erinnerung an den besonderen Punkt, auf den es ankommt. Er weiß, daß er der A im Sommer 1961 in Eschwege einmal geschlechtlich beigewohnt hat, besinnt sich aber nicht mehr darauf, an 28 Als eine umfassende Darstellung der Lehre vom Hörensagen-Zeugen sind die obigen Hinweise nicht gedacht. Sie beschränken sich vielmehr auf das gerade in diesem Zusammenhang Notwendige; im einzelnen vgl. E. Kulischer, Zeugnis vom Hörensagen, in der Zeitschrift für das private und öffentliche Recht Bd. 37 (1906) S. 169-232, ferner A. Hegler: "Rechtsgang" Jg. 1916 S. 285 ff. mit Angaben über das ältere Schrifttum und J. Sprang, Zulässigkelt des Beweises vom Hörensagen Diss. Gött. 1960; s. auch oben S. 119.

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welchem Tage das gewesen ist und versucht nun, da es auf den Zeitpunkt ankommt, das Datum durch Schlußfolgerungen einzugrenzen, indem er sagt: "Es muß vor dem 1. 7. 1961 gewesen sein; denn an diesem Tage trat ich bereits meine Lehrstelle in Berlin an und bin seitdem nicht mehr in Eschwege gewesen." Der Zeuge legt dazu den Lehrvertrag mit dem Datum vom 1. 7. 61 vor und erklärt weiter: "Die Beiwohnung kann andererseits nicht vor dem 20. 6. 61 stattgefunden haben; denn ich habe die A erst auf dem Schützenfest in Eschwege kennengelernt und dieses fand nach meinen Erkundigungen am 20. 6. 61 statt."

Der Wert von Schlußfolgerungen des Zeugen. Daß Aussagen dieser Art, die in der Hauptsache auf nachträglicher Denktätigkeit der Beweisperson beruhen, für die Wahrheitstindung schlechthin wertlos seien, läßt sich keinesfalls sagen. Freilich hat der Vernehmende sie durch weitere Testfragen sorgfältig zu erproben. Wenn in dem zuletzt genannten Beispiel die Lehrstelle tatsächlich erst am 10. 7. angetreten und der Lehrvertrag, lediglich weil es sich um den Quartalsbeginn handelte (also bloß aus formalen Gründen), auf den 1. 7. zurückdatiert worden war, dann ist die vom Zeugen vorgenommene Rekonstruktion, obwohl sie zunächst einleuchtend erschien, fehlerhaft. Daß eine gewissenhafte Prüfung dringend notwendig ist, mag noch ein weiterer Fall zeigen: Bei einer Wirtshausschlägerei sah der Zeuge, wie A, nachdem er mit B einen Wortwechsel gehabt hatte, gegen diesen zum Schlag ausholte. Kurz darauf stellte der Zeuge fest, daßBauseiner Kopfwunde blutete. Der Zeuge hatte zwar wegen des Gedränges nicht gesehen, daß A dem B die Wunde beibrachte, glaubte das aber aus dem Zusammenhang folgern zu können, ohne daran zu denken, daß gleichzeitig vielleicht noch ein anderer auf B eingeschlagen und ihm die Verletzung beigebracht haben könnte. Solange diese Möglichkeit nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, hat der vom Zeugen gezogeneSchluß wenig Beweiskraft.

Sonderung von Tatsachenangaben und Schlußfolgerungen. Wenn der Zeuge vielleicht nur sagen will, wie der Verlauf seiner Meinung nach gewesen sein könnte bzw. welcher von mehreren denkbaren Verläufen ihm als der nächstliegende erscheint, muß der lediglich potentielle Charakter seiner Bekundung unbedingt klargestellt werden. Vielfach macht das keine Schwierigkeiten, weil von vornherein feststeht, daß der Zeuge nur mit Hilfe von Schlüssen zu seiner Darstellung gekommen sein kann; so etwa wenn bekannt ist, daß er nur bestimmte Teile des ganzen Ablaufs wahrgenommen hat, sich aber gleichwohl über den Vorgang im ganzen äußert. Der kritische Zeuge wird oft schon von

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sich aus das unmittelbar Beobachtete von dendarangeknüpften Schlußfolgerungen trennen und die Grenze zwischen beiden markieren 29 •

Schlüsse, die als Tatsachenangaben frisiert sind. Mitunter sind jedoch die in den Angaben des Zeugen enthaltenen Schlußfolgerungen als solche schwer zu erkennen, zumal wenn der Zeuge sie als Tatsachen aufmacht. Er bekundet z. B., daß der Beschuldigte den Weg von M nach N am fraglichen Abend nicht zu Fuß, sondern mit dem Fahrrad zurückgelegt habe. Aber auf die Frage, woher er das wisse, stellt sich vielleicht heraus, daß der Zeuge keineswegs den ganzen von ihm bekundeten Vorgang beobachtet hat, also nicht etwa mit dem Beschuldigten zusammen von M nach N gefahren ist. Er hat ihn nicht einmal mit dem Fahrrad von M abfahren sehen, sondern lediglich wahrgenommen, daß der Beschuldigte abends das Rad aus dem Schuppen herausholte und dann verschwunden war. Ob der daraus gezogene Schluß, der Beschuldigte habe den Weg nach N per Rad zurückgelegt, gerechtfertigt ist, hängt dann davon ab, inwieweit mit der Verwirklichung abweichender Möglichkeiten gerechnet werden muß. Unter Umständen hatte der Beschuldigte das Rad gar nicht herausgeholt, um wegzufahren, sondern um es zu reparieren oder zu säubern; vielleicht hatte er zunächst mit dem Rad losfahren wollen, sich die Sache aber im letzten Moment anders überlegt; vielleicht hatte er das Rad überhaupt nur deshalb vor den Schuppen gestellt, um den Zeugen über seine Absichten irrezuführen. Klarstellung versteckter Schlußfolgerungen. Es liegt auf der Hand, daß verstandesmäßige Schlüsse, soweit der Zeuge sie in Form einer Erinnerung an unmittelbare Wahrnehmungen wiedergibt, eine Gefahr darstellen. Wenn es dem Vernehmenden nicht gelingt, die Schlußfolgerung als solche zu entlarven, ist er auch nicht in der Lage, sie in angemessener Weise auf ihre Korrektheit zu prüfen, was leicht zu unrichtigen Tatsachenfeststellungen führen kann. In den bisherigen Beispielen standen dem vom Zeugen gezogenen Schluß Bedenken entgegen, weil dabei abweichende tatsächliche Möglichkeiten, mit denen gerechnet werden mußte, nicht berücksichtigt worden waren. Die vom Zeugen gezogene Schlußfolgerung kann aber auch deshalb fragwürdig sein, weil ein von ihm dabei als bestehend vorausgesetzter Erfahrungssatz nicht sicher feststeht oder weil er zwar zweifellos existent ist, aber seine Anwendbarkeit im vorliegenden Fall fraglich erscheine0 • A. Stöhr, Psychologie der Aussage (1911) S. 67 f. Ditzen: Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 10 S. 161 f.; Cleric: Schweizerische Juristenzeitung Jg. 1923, S. 372; vgl. auch unten S. 348, 353 ff. 28

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8. A n g a b e n d es Z e u g e n ü b e r d e n S i n n e i n e r Ä u ß e r u n g

Kann die Meinung der Beweisperson über die Bedeutung bestimmter Redensarten zur Klärung beitragen? Wenn der Zeuge über Redewendungen eines Dritten aussagt und der Wahrheitsforscher feststellen will, was der Dritte mit seiner Äußerung gemeint hat, dann vermag der Zeuge ihm dabei zuweilen keine sonderliche Hilfe zu leisten. Er besitzt unter Umständen keine besseren Möglichkeiten zur Deutung als der Vernehmende, der, ohne den Vorfall erlebt zu haben, nachträglich den Sinn der Redewendung zu ergründen versucht: Ein Bauernbursche begeht an einem Mädchen aus seinem Dorf einen Notzuchtsversuch; er wird dabei durch einige hinzukommende Männer überrascht und von ihnen festgenommen. Während das geschieht, ruft er dem Mädchen zu: "Bleib bei der Wahrheit!" Die Staatsanwaltschaft vertrat den Standpunkt, daß der Beschuldigte mit dem Ausruf "Bleib bei der Wahrheit!" das gerade Gegenteil von dem gemeint habe, was die Worte an sich besagen; sie nahm an, der Beschuldigte habe das Mädchen einschüchtern und zu einer wahrheitswidrigen, ihm günstigen Aussage verleiten wollen. Es wurde demgemäß Anklage nicht nur wegen versuchter Notzucht, sondern auch wegen versuchter Verleitung zum Meineid erhoben31 • Es kann hier unerörtert bleiben, ob der Staatsanwalt die Redewendung des Beschuldigten richtig aufgefaßt hatte oder nicht. Der Sachverhalt wird lediglich als Beispiel dafür angeführt, daß der Zeuge bei der Interpretation von Äußerungen, obwohl er beim Vorfall unmittelbar zugegen war, dem nachträglichen Betrachter gegenüber bisweilen nichts Wesentliches voraus hat. In anderen Fällen dagegen besitzt der Aussagende auf Grund seiner aus dem Erlebnis hervorgehenden speziellen Sachkunde wichtige Anhaltspunkte für die zutreffende Sinndeutung. Er hat den Zusammenhang wahrgenommen, in dem die fraglichen Worte fielen und in allen Einzelheiten beobachtet, wie der Sprecher sie vorbrachte. Selbst wenn es ihm nicht möglich ist, diese Nebenumstände mit ihren oft so bezeichnenden Nuancen in prägnanter Form vorzuweisen, kann er mit seinen Wahrnehmungen darüber unter Umständen doch manches zur Klärung beitragen. Mitunter gelingt es ihm, auch ohne handfeste Einzelbelege die Richtigkeit seiner Auslegung des Gesagten so einleuchtend zu machen, daß es darüber kaum noch Zweifel geben kann.

Wiedergabe bestimmter Stellen aus einer Rede. Wenn es sich nicht um die Deutung von mehr oder minder isoliert stehenden Äußerungen, sondern um die Rekonstruktion von Darlegungen handelt, die vom Red81 Über diesen Fall hat in anderem Zusammenhang Braun in der Deutschen Rechtszeitschrift Jg. 1950 S. 356 berichtet.

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ner während einer längeren Ansprache gemacht worden sind, so pflegt die inhaltliche Feststellung solcher Ausführungen meist einige Schwierigkeiten zu bieten. Selbst wenn der Zuhörer die Bedeutsamkeit der fraglichen Stelle sofort erkannt und sie sich einzuprägen versucht hat, fehlt ihm dazu vielfach die genügende Konzentrationsfähigkeit. Die getreue Bewahrung des Gesagten im Gedächtnis wird ihm durch die ständig weiter auf ihn einstürmenden Gedankenfolgen, mit denen der Redner sich an die Zuhörer wendet, erschwert. Diese bedrängte Wahrnehmungssituation führt oft zu Beobachtungsfehlern, die zwar auch sonst vorkommen, für die aber unter den gegebenen Umständen ein besonders günstiges Feld vorhanden ist; insbesondere wirken, wenn der Vortragende dem Zuhörer als Exponent einer bestimmten weltanschaulichen, politischen, kirchlichen Richtung erscheint, leicht Erwartungssuggestionen mit, auf Grund deren die vom Redner gemachten Ausführungen einseitig aufgefaßt, unbewußt umgedeutet und mitunter vollkommen mißverstanden werden.

Zusammenfassender Bericht des Zeugen über längere Besprechungen. Hat sich der Aussagende über das Ergebnis ausgedehnter, mündlich geführter Vertragsverhandlungen zu äußern, so besitzt seine Darstellung bisweilen nur geringe Überzeugungskraft, wenn er lediglich einzelne Hinweise, Zusicherungen oder Bestätigungen hervorhebt und über den sonstigen Hergang der Unterredungen nur wenig zu sagen weiß. Vor allem wo es nicht zuletzt auf den Gesamtzusammenhang ankommt, wird er zur Aufklärung meist wenig beitragen können, wenn er den Hergang der Verhandlung als Ganzes augenscheinlich gar nicht in seinen Blick bekommen hat und diesen nicht einmal in seinen groben Umrissen wiedergeben kann. In anderen Fällen besitzt der Zeuge zwar sehr wohl ein umfassendes Bild von der Sache, will aber aus Parteilichkeit darüber nicht berichten, weil das dem von ihm erstrebten Endergebnis nicht dienlich sein würde. Er verlegt sich infolgedessen darauf, willkürlich nur diejenigen Äußerungen hervorzuheben, die zu der von ihm gewünschten Lösung passen. Wenn der Vernehmende solchen Versuchen nicht schon während der Vernehmung begegnen würde, hätten Zeugen dieser Art die beste Gelegenheit, den Prozeß auf Kosten der Wahrheit nach ihrem Ermessen zu dirigieren.

Widerspruchsvoller Inhalt von Parteiverhandlungen. Wenn es darauf ankommt, das Facit aus erregten und verworrenen Unterredungen zu ziehen, so ergibt sich nicht selten, daß dabei Gedanken geäußert und Vorschläge gemacht worden sind, die sich- rein logisch betrachtetgegenseitig ausschließen. Der Beurteiler wird hier nur dann zum zutreffenden Ergebnis kommen, wenn er sich gegenwärtig hält, wie es bei

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solchen Verhandlungen oft zugeht, und bereit ist, das Leben mit seinen Disharmonien und Ungereimtheiten ernst zu nehmen32 • Manchmal suchen beide Partner angespannt nach einer Formel, die einerseits die eigenen Interessen wahrt und andererseits die Bedenken der Gegenseite ausräumt. Man tastet dabei die Möglichkeiten zu einer Einigung ab und macht zu diesem Zweck vielleicht Vorschläge der verschiedensten Art, um sie wieder fallenzulassen, wenn sich ergibt, daß sie für den Partner keine annehmbare Verhandlungsgrundlage darstellen. Eine angemessene Deutung solcher Äußerungen ist nur möglich, wenn man ihren provisorischen, auf eine bestimmte Phase der Besprechungen abgestellten Charakter erkennt. Für die Feststellung des Endergebnisses der Verhandlungen ist es in solchen Fällen wichtig, ob bestimmte Äußerungen einer Partei, über die der Zeuge berichtet, am Schluß der Erörterungen noch Geltung besaßen oder eben zu einem jener ergebnislos gebliebenen Vorstöße gehörten, mit denen eine Partei versucht hat, erst einmal die allgemeine Einstellung und die Absichten der Gegenseite zu erkunden. Manchmal hat ein Partner im ersten Teil der Unterredungen ganz unmißverständlich eine bestimmte Bedingung gestellt und vielleicht sogar erklärt, daß ein Verhandeln gar keinen Zweck habe, wenn sie nicht zugestanden werde. Trotzdem ist den Besprechungen, wenn man sie im Zusammenhang würdigt, möglicherweise zu entnehmen, daß diese Bedingung fallengelassen wurde, zumal wenn die Partei auf diesen Punkt nicht wieder zurückkommt und der Gegner im weiteren Verlauf Zugeständnisse gemacht hat, die sie offenbar zur Abstandnahme von ihrem ursprünglichen Vorbehalt veranlaßt haben 33•

Einzelgesichtspunkte für die Beweiswürdigung. Besondere Vorsicht bei der Bewertung von Zeugenaussagen über den Sinn bestimmter Äußerungen ist erforderlich, - wenn es sich um komplizierte Erklärungen handelt, die ihrer Art nach leicht mißverstanden werden können, - wenn die berichtete Äußerung lange zurückliegt und die Erinnerung des Zeugen infolge des Zeitablaufs vermutlich an Sicherheit und Präzision verloren hat, - wenn der Zeuge nicht den ganzen Vorgang erlebt, sondern nur einzelne abgerissene Redewendungen aufgefaßt hat und stark kombinieren mußte, um den Sinn der Worte herauszufinden (Wahrnehmungen aus dem Nebenzimmer durch die angelehnte Tür usw.). 32 A. N. Zacharias, über Persönlichkeit, Aufgaben und Ausbildung des Richters (1911) S. 56 ff. aa Krönig, Die Kunst der Beweiserhebung S. 73.

Y Döhrlng

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Die Zeugenvernehmung 9. Hypothetische Stellungnahmen des Zeugen

Ihre Eigenart und mannigfache Gestalt. Mitunter soll die Aussageperson sich nicht über den wirklichen Hergang äußern, sondern über den Verlauf, den die Angelegenheit unter Umständen, die nicht vorgelegen haben, voraussichtlich genommen haben würde. Hier untersteht die Arbeit des Zeugen und des Vernehmungsleiters wegen des hypothetischen Elements, das der Bekundung innewohnt, besonderen Regeln. Im Betrugsverfahren muß (um ein ganz alltägliches Beispiel zu wählen) regelmäßig geprüft werden, ob der Geschädigte von der Vermögensverfügung, die er infolge der Täuschungshandlung des Beschuldigten vorgenommen hat, abgesehen haben würde, wenn er die falschen Vorspiegelungen als solche erkannt hätte. Daß der Zeuge sich vom Beschuldigten hat täuschen lassen und im Anschluß daran die Vermögensverfügung vorgenommen hat, steht in vielen Fällen fest. Zu klären ist jedoch (und darin liegt das irreale Moment, auf das hier hingewiesen werden soll), wie er sich verhalten haben würde, wenn das Täuschungsmanöver als solches von ihm durchschaut worden wäre. Aber auch sonst sind im Prozeß immer wieder hypothetische Verläufe Gegenstand der Zeugenvernehmung: Dem A ist bei den Vorarbeiten für die Gründung einer Aktiengesellschaft versprochen worden, daß er dem Aufsichtsrat für die Direktorstelle vorgeschlagen werden wird. Diese Zusage wurde jedoch nicht eingehalten und A demgemäß auch nicht als Direktor angestellt. Wenn in dem anschließenden Schadensersatzprozeß des A geklärt werden muß, ob A, falls man ihn für den Direktorposten vorgeschlagen hätte, im Aufsichtsrat die erforderliche Stimmenmehrheit für seine Anstellung erhalten haben würde, so läßt sich das meist nur durch Vernehmung der einzelnen Aufsichtsratsmitglieder als Zeugen feststellen. Sie haben ihre Stimme tatsächlich einem anderen Kandidaten gegeben und müssen nun dazu Stellung nehmen, ob sie sich für den A entschieden haben würden, wenn er mit in Vorschlag gebracht worden wäre 34 • Dem Zeugen wird hier eine immerhin ungewöhnliche Leistung zugemutet; denn er muß sich in die heute längst überholte Situation zurückversetzen, wie sie zur Zeit der Abstimmung über die Besetzung der Direktorstelle bestand, und erwägen, wie seine Entscheidung ausgefallen wäre, wenn A auf der Vorschlagsliste gestanden hätte. Einigen Beweiswert werden die Angaben des Zeugen darüber freilich nur besitzen, wenn er nicht lediglich das Endergebnis vorlegt, sondern in glaubwür3 4 Ein solcher Sachverhalt lag der Entscheidung RGZ Bd. 32 S. 375 zugrunde; vgl. auch die Urteile des Reichsgerichts vom 26. 4. 1910 (Gruchots Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts Bd. 54 S. 1151) und vom 14. 6. 1923 (Recht Jg. 1923 Nr. 1278).

Besonderheiten der Vernehmung in bestimmten Einzelfällen

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diger Weise auch die Erwägungen mitteilen kann, von denen er bei seiner Gewinnung ausgegangen ist. Solche und ähnliche Aufgaben hat der Zeuge nicht etwa nur in seltenen Ausnahmefällen, sondern ziemlich häufig zu bewältigen. Sie kommen nicht nur in Straf- und Zivilsachen, sondern auch in den anderen Prozeßarten vor; so wenn das Verwaltungsgericht zu klären hat, ob der Kläger ohne Behinderung durch den Nationalsozialismus bis zum 1. 10. 1960 voraussichtlich zum Amtmann, zum Regierungsrat, zum Universitätsprofessor ernannt worden wäre. Gerade im Verwaltungsstreitverfahren sind immer wieder solche schwierigen Feststellungen zu treffen und dementsprechend kompliziert sich dann auch die Aufgabe, die dem Zeugen zugemutet werden muß. Belege dafür bietet das Fürsorge- und Lastenausgleichsrecht, der Prozeß um die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und um die Rechte aus dem Heimkehrergesetz, der Streit um die Entziehung des Führerscheins, soweit er vor dem Verwaltungsgericht ausgetragen wird usw35 • Absehenmüssen des Zeugen von gegenwärtigen Kenntnissen und Einsichten. Schwierigkeiten ähnlicher Art ergeben sich, wenn die zu klärende Frage zwar keinen hypothetischen Charakter hat, aber der Zeuge bei sachgemäßer Beantwortung genötigt ist, von der gegenwärtigen Lage bzw. von seinem heutigen Wissen abzusehen. Wenn der aufzuklärende Vorgang weit zurückliegt, können die gesamten Verhältnisse sich inzwischen so verändert haben, daß es dem Aussagenden trotz guten Willens schwer fällt, sich in die frühere ganz andersartige Situation zurückzuversetzen. Wenn er in einer Zeit geregelter allgemeiner Verhältnisse und eines relativ sorglosen Daseins über Begebenheiten aussagen soll, die sich während der Kriegszeit ereignet haben und von den damaligen Not- und Ausnahmezuständen geprägt wurden, kommt er meist in Gefahr, aus seiner jetzigen Situation heraus die frühere Bedrängnis gering zu achten und so zu bagatellisieren, daß seine Darstellung der Wirklichkeit nicht mehr gerecht wird. Bei Aussagen über den Hergang und das Zustandekommen früherer geschäftlicher Transaktionen neigt der Zeuge mitunter dazu, die seinerzeit vorhanden gewesenen zahlreichen Ungewißheiten, weil sie inzwischen bereinigt worden sind, außer acht zu lassen; er wird dazu verleitet, die Risiken, denen man sich damals ausgesetzt sah, zu gering einzuschätzen und die persönlichen Spannungen zu übersehen, die ehemals noch zwischen den Beteiligten bestanden: Heute ist allgemein bekannt, daß das Kanalbauprojekt, mit dessen Durchführung vordem allgemein gerechnet wurde, sich nicht hat verwirklichen lassen, daß der erwartete wirtschaftliche Aufschwung im Holzhandel oder in der Autoindustrie ausgeblieben ist usw. Auch

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Die Zeugenvernehmung

wenn der Zeuge ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß er sich in die frühere Gesamtlage hineinversetzen muß, fällt es ihm oft schwer, dabei sein gegenwärtiges Wissen, das seinerzeit noch nicht vorhanden war, ganz außer Betracht zu lassen. Mitunter muß der Zeuge, um eine sachgemäße Aussage machen zu können, sich auf die Erwartungen und Befürchtungen, die die Beteiligten seinerzeit an einen bestimmten Vorgang knüpften, besinnen und ihnen Rechnung tragen: Damals glaubte man vielleicht noch an den Erfolg bestimmter geschäftlicher Maßnahmen, an die Zweckmäßigkeit gewisser technischer Verbesserungen, an die Stichhaltigkeit dieser oder jener psychologischen Berechnung, während heute jedermann weiß, daß diese Ansichten sich als unzutreffend erwiesen haben.

Angaben des Zeugen über seine eigenen Ziele. Wenn der Aussagende über die von ihm in einem früheren Zeitpunkt gehegten Absichten und den von ihm damals verfolgten Plan befragt werden muß, zeigt sich zuweilen besonders stark seine Neigung, dabei das durch den Fortgang der Ereignisse erlangte Wissen und die inzwischen gesammelten Erfahrungen gedankenlos mit zu verwerten. Ähnlich verhält es sich manchmal, wenn der Zeuge (der Sachverständige) in einem Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung dazu Stellung nehmen soll, wie er sich als Baumeister, als Schiffskapitän, als Autofahrer in der Situation, die dem Beschuldigten zum Verhängnis geworden ist, verhalten haben würde. Der Aussagende ist dann vielfach bestrebt, sich als ein Ausbund von Umsicht und Geistesgegenwart zu gebärden. Er übersieht leicht, wieviel von dem, was heute klar zutage liegt, zur Zeit des Unfalls für die Beteiligten noch ungewiß war. Er denkt zu wenig daran, daß er im Prozeß den Vorfall vielleicht mit einer so konzentrierten Aufmerksamkeit ins Auge faßt, wie sie im täglichen Leben kaum jemand auf die Dauer aufbringen könnte. Beurteilung früherer Vorgänge auf Grund nachträglich erworbener Kenntnisse. In diesen Zusammenhang gehören ferner die Fälle, bei denen der Zeuge zur Klärung weiter zurückliegender Ereignisse technisches Spezialwissen oder allgemein measchliche Einsichten verwenden muß, die er zur Zeit des geschilderten Vorfalls noch nicht gehabt hat: Der heute 20jährige Zeuge hat gerade seine Lehrzeit im Maschinenbaufach beendet. Er teilt bei seiner Vernehmung nicht ganz einfache technische Vorgänge aus diesem Bereich mit, die er vor etwa vier Jahren, also zu einer Zeit beobachtet hat, als ihm die zu ihrem vollen Verständnis nötigen Fachkenntnisse noch fehlten. Hier ist zu erwägen, ob der Aussagende seinerzeit auch ohne seine heutige Sachkunde in der Lage war, den Vorgang in den hier wesentlichen Teilen richtig aufzufassen und ob trotz der sehr verspätet erfolgten Verarbeitung mit Hilfe neu

Besonderheiten der Vernehmung in bestimmten Einzelfällen

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erworbener Kenntnisse ein verläßliches Ergebnis erwartet werden kann. Entsprechende Situationen können auch auf anderen Gebieten vorkommen: Vor sechs Jahren sollen an einem damals achtjährigen Kind vom Beschuldigten unzüchtige Handlungen vorgenommen worden sein. In dem erst jetzt in Gang gebrachten Strafverfahren stellt das nunmehr 14 Jahre alte Mädchen die Hauptbelastungszeugin dar. Die Zeugin hat seit dem Geschehen, über das sie aussagen soll, mehrere kindliche Entwicklungsstufen durchlaufen und befindet sich zur Zeit der Vernehmung im Pubertätsalter. Hier kann es, wenn der unzüchtige Charakter der an ihr vorgenommenen Handlungen nicht ganz eindeutig zutage liegt, fraglich sein, ob die Zeugin imstande ist, über ihre früheren Beobachtungen zutreffend zu berichten. Es muß erwogen werden, ob sie nicht etwa Vorgängen, denen sie seinerzeit keinen sexuellen Charakter beigelegt hat, auf Grund der neuartigen Vorstellungswelt, in die sie inzwischen hineingewachsen ist, eine Bedeutung gibt, die ihnen in Wahrheit nicht zukam. Hier wird also (wie im vorigen Beispiel) ein weit zurückliegendes Erlebnis unter Benutzung von Kenntnissen und Erfahrungen gewertet, die die Zeugin zur Zeit der Wahrnehmung noch nicht besaß. Nicht ganz so schwierig ist die der Zeugin obliegende Aufgabe, wenn sie in dem letztgenannten Fall zur Zeit ihrer Vernehmung das Pubertätsalter bereits durchschritten hatte und ins Stadium der Geschlechtsreife getreten war. Gleichwohl ist auch dann möglicherweise fraglich, ob von der Zeugin unter den genannten, nicht sonderlich günstigen Umständen eine zutreffende Darstellung erwartet werden kann. Oft wird, zumal wenn alles von ihrer Aussage abhängt, Klarheit darüber nur mit Hilfe eines jugendpsychologisch geschulten Sachverständigen geschaffen werden können36 •

Ordnungsgemäße Lenkung des Aussagenden in solchen Fällen. Der Vernehmende wird auf derartige Schwierigkeiten Rücksicht nehmen und versuchen müssen, den Zeugen auf die ihm zugemutete gedankliche Umstellung vorzubereiten. Oft ist er in der Lage, ihm durch seine Fragetaktik die Beantwortung der gestellten Frage aus der damaligen Situation heraus leichtzumachen und durch eine entsprechende Einweisung unbedachte Stellungnahmen zu verhindern. Soweit ihm das nicht gelingt, sollte versucht werden, die durch unzulängliche Arbeit des 35 Bachof: Juristenzeitung Jg.1957 S.440; fürdas Arbeitsrecht Kar1Nonnenmann, Mittel zur Erforschung von Tatsachen im Schlichtungsverfahren (1931) s. 44.

ao OLG Hamm v. 11.5.1950 (Justizministerialblatt für Nordrhein-Westfalen Jg. 1950, S. 198).

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Die Zeugenvernehmung

Zeugen entstandene Unrichtigkeit korrigieren. Manchmal genügt es den Angaben des Zeugen gemacht erforderliche Richtigstellung nur folgen.

im Wege der Beweiswürdigung zu dabei, daß gewisse Abstriche von werden; manchmal kann jedoch die durch regelrechte Umformung er-

Suggestive Beeinflussung der Beweisperson als Fehlerquelle

Entstehung von Suggestionen vor der Vernehmung. Die Erinnerung des Aussagenden an den Vorgang, über den er sich äußern soll, kann nicht nur durch ihn selbst und die Art, wie er mit seinem Wissen umgeht, verdorben werden, sondern auch durch Einwirkungen, die von außen kommen. Wenn die Augenzeugen eines Verkehrsunfalls unmittelbar nach dem Autozusammenstoß ihre Eindrücke austauschen, können bei einzelnen von ihnen dadurch Irrtümer entstehen, daß sie sich in diesen ersten Augenblicken unkontrollierter Aufnahmebereitschaft vom Gesprächspartner unzutreffende Einzelheiten suggerieren lassen. Die dem Zeugen gegenüber von anderen geäußerten Ansichten über den Hergang bekommen dann gar nicht selten Gewalt über ihn. Sie stellen sich unter Umständen, auch wenn sie höchst fragwürdiger Natur sind, ebenbürtig neben seine eigenen Eindrücke. Ja, sie überdecken oft die ursprünglichen Wahrnehmungen des Zeugen und bewirken, daß diese in seinem Gedächtnis ausgelöscht werden oder doch verblassen. Das Ursprungserlebnis tritt infolgedessen in der Erinnerung des Aussagenden zum Nachteil für die Wahrheitsfindung zurück, zumal es zeitlich weiter entfernt ist als die nachträglich aus der Unterhaltung mit Dritten gewonnenen Eindrücke. Manchmal wirft der Beobachter eines Ereignisses seine eigenen Wahrnehmungen samt der von ihm vollzogenen Verarbeitung merkwürdig schnell zugunsten einer abweichenden Auffassung über Bord oder wandelt sie doch in irgendeiner Hinsicht entsprechend ab. Die Gründe, durch die er dazu veranlaßt wird, sich die fremde Darstellung anzueignen, sind nicht selten rein äußerliche. Oft haben sie mit den Grundsätzen der Wahrheitsfindung nicht das geringste zu tun.

Klarstellung stattgehabter Beeinflussungen. Oft ist diese nicht so schwer zu erreichen, wie man es sich vorzustellen pflegt. Mitunter liegen suggestive Einflußnahmen schon durch die Umstände außerordentlich nahe, so daß es für ihren Nachweis nur noch einiger ergänzender Feststellungen bedarf: Wenn Mitglieder derselben Familie, die in häuslicher Gemeinschaft zusammenleben, im Prozeß teils als Beschuldigte, teils als Zeugen auftreten, so sprechen vielfach schon die äußeren Verhältnisse dafür, daß der Vorfall, über den sie zu befragen sind, zwi-

Der Wahrheitswille als Glaubwürdigkeitsindiz

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sehen ihnen in den Tagen und Wochen vor der Vernehmung immer wieder nach den verschiedensten Richtungen erörtert worden ist. Hat in einer Kleinstadt die Lokalzeitung Berichte über die fragliche Angelegenheit gebracht und sich ihrer in einem bestimmten Sinne angenommen, so wird man häufig mit einiger Sicherheit sagen können, daß diese Darstellungen auch dem Zeugen zur Kenntnis gekommen sind und sein Erinnerungsbild möglicherweise verfälscht haben. Ob im Einzelfall tatsächlich eine wirklichkeitsfeindliche Suggestion stattgefunden hat, hängt zunächst davon ab, wie stark die Einwirkungen waren, denen der Zeuge ausgesetzt gewesen ist; ferner davon, inwieweit er allgemein dazu neigt, sich durch Meinungen anderer beeindrucken zu lassen. Wenn die Aussage inhaltlich ganz oder doch in einigen wesentlichen Punkten nicht mit der Richtung übereinstimmt, welche der Suggestiveinfluß hatte, so kann sich unter Umständen schon allein daraus ergeben, daß dieser im konkreten Fall nicht wirksam geworden ist. Für die Unschädlichmachung wahrheitswidriger Suggestionen, die außerhalb des Verfahrens vor sich gegangen sind, ist die erste Vernehmung ganz besonders geeignet. Es muß hier versucht werden, sogleich die Art und den Umfang solcher Suggestivwirkungen klarzustellen, um so die nötige Hlindhabe für ihre Berichtigung zu schaffen.

Möglichkeiten zur Verhinderung außergerichtlicher Suggestionen. Suggestiven Einflußnahmen auf die mit dem Beschuldigten in Hausgemeinschaft lebenden Beweispersonen kann man unter Umständen dadurch vorbeugen, daß man den Beschuldigten (wenn ohnehin die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verhaftung vorliegen) in Haft nimmt und ihn dadurch von den als Zeugen in Betracht kommenden Mitbewohnern trennt. Groben Beeinflussungen durch Berichte in der Sensationspresse kann ein Riegel vorgeschoben werden, wenn - wie es in England und einigen anderen Staaten geschieht - die Presse veranlaßt wird, zurückhaltend zu berichten, solange das gerichtliche Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Suggestionen im Warteraum des Gerichts durch gegenseitige Besprechung der Zeugen lassen sich dadurch ausschalten, daß die Wartezeit abgekürzt wird bzw. die Zeugen voneinander abgesondert werden37 •

Der Wahrheitswille als Glaubwürdigkeitsindiz Seine Bewertung in früherer Zeit. Die Frage, ob der Zeuge ehrlich bemüht ist, die Wahrheit zu sagen, hat heute nicht mehr die grundlegende Bedeutung, welche sie ehedem besaß, obwohl sie im Einzelfall auch 37

über Suggestivwirkungen während der VernehmungS. 54 ff., 57.

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Die Zeugenvernehmung

jetzt noch höchst wichtig sein kann. Früher wurde meist vom festgestellten Wahrheitswillen des Zeugen mehr oder minder unvermittelt auf die Richtigkeit der von ihm gemachten Angaben geschlossen. Noch um die Jahrhundertwende hatte man keine richtige Vorstellung von den zahlreichen Fehlermöglichkeiten, denen auch eine redliche Beweisperson ausgesetzt ist. Infolge der höchst fragwürdigen Grundüberzeugung, daß der gutwillige Zeuge in der Regel auch fähig sei, die Wahrheit mitzuteilen, schien die Verläßlichkeit einer Bekundung fast ausschließlich vom Wahrheitswillen abzuhängen. Dieser wurde dadurch zum zentralen Begriff der Zeugen-Beweiswürdigung.

Heutige Bedeutung der Bereitschaft zur wahrheitsgemäßen Aussage. Für die moderne Justiz ist der Wahrheitswille dagegen nur noch ein Indiz unter vielen für die Richtigkeit der vom Zeugen gemachten Angaben, und zwar ein solches, dem oft keine sonderliche Kraft innewohnt38. Genaugenammen handelt es sich im Prozeßverfahren nicht darum, ob der Zeuge eine charaktermäßige Neigung zur Wahrheit besitzt. Für die Sachverhaltserforschung ist vielmehr allein entscheidend, ob er hier und jetzt eine der Wirklichkeit entsprechende Aussage gemacht hat. Beides braucht nicht Hand in Hand zu gehen: Der im allgemeinen ehrliche Zeuge kann unbewußt oder, sofern er sich in einer Zwangslage befindet, auch bewußt die Unwahrheit sagen. Wenn der Beschuldigte im Verdacht steht, mit seiner halbwüchsigen Tochter Blutschande betrieben zu haben und diese als Zeugin geschlechtliche Beziehungen zum Vater in Abrede stellt, so wird die Aussage des Mädchens nicht dadurch glaubwürdiger, daß sie einen charaktermäßig begründeten Trieb zu wahrheitsgemäßer Darstellung besitzt. Denn es muß, selbst wenn die Zeugin aus dem Eingeständnis der Wahrheit im Einzelfall für sic.l,. keinen Nachteil zu erwarten hat, damit gerechnet werden, daß sie sich davor scheut, den Vater durch ihre Bekundungen einer schweren Strafe auszuliefern und daß sie ihn in diesem Gewissenskonflikt trotz ihres allgemeinen Wahrheitswillens zu Unrecht zu entlasten sucht. Andererseits kann, obwohl bei der Zeugin schwere Charaktermängel vorliegen und ihr allgemeiner Wahrheitswille zu verneinen ist, ihre den Vater belastende Aussage unter Umständen durchaus zutreffend sein. Personengruppen, bei denen bewußte Unwahrheiten völlig ausgeschlossen wären, lassen sich schwer denken. Fast jeder kann in einer schwierigen Situation einmal dahin kommen, daß er aus Scham oder aus anderen Beweggründen zur Lüge seine Zuflucht nimmt. as Plaut S. 211, 199, 225; Leonhardt: Zeitschrift für augewandte Psychologie Bd. 39 (1931) S. 405.

Typische Formen einer fehlerhaften allgemeinen Einstellung des Zeugen 137

Der Wahrheitswille a!s richtungweisendes Moment in besonderen FäHen. Von entscheidender Bedeutung kann das Vorliegen oder Fehlen des allgemeinen Willens zur Wahrheit beim Aussagenden heute noch sein, wenn nur ein Zeuge vorhanden ist und die sonstigen Möglichkeiten zur Überprüfung seiner Angaben gering sind39 • Läßt sich in einem solchen Fall nachweisen, daß dem Zeugen ein ausgeprägter Wahrheitswille eigen ist, so kann darin immerhin ein brauchbares Anzeichen für die Richtigkeit seiner Darstellung liegen. Größere Kraft wird dieses Indiz freilich nur entwickeln, wenn keine Umstände gegeben sind, die möglicherweise auch einen an sich redlichen Zeugen hier zu bewußt unwahren Angaben hätten veranlassen können. Nur wenn solche Momente fehlen, darf mit einiger Berechtigung angenommen werden, daß sich die allgemeine Tendenz des Zeugen zur Wahrheit auch in diesem speziellen Fall durchgesetzt hat. Nicht immer ist eine derartige Feststellung für die Aussage im ganzen möglich40 • Manchmal kann sie nur für gewisse Bekundungen des Zeugen getroffen werden, während in anderen Punkten damit gerechnet werden muß, daß die bei ihm vorhandene Neigung zur Wahrheit ihn im Stich gelassen hat. Bei Beantwortung der Frage, ob sich der allgemeine Wahrheitswille

im Einzelfall durchgesetzt hat, spricht einmal mit, wie stark er in der

Wesensart des Aussagenden begründet ist, und ferner, wie groß für diesen in einem bestimmten Punkt die Verlockung zu wahrheitswidriger Darstellung war. Welche Kraft die Tendenz des Zeugen zur Wahrheit hat, hängt schließlich nicht zuletzt auch davon ab, ob sie auf starken religiösen Überzeugungen beruht, die Nützlichkeitserwägungen nicht zur Wirkung kommen lassen, oder auf einer dem Zeugen von Hause aus innewohnenden Neigung zu Anständigkeit und Wohlverhalten oder einfach auf der Furcht vor strafrechtlicher Ahndung von Falschbekundungen.

Typische Formen einer fehlerhaften allgemeinen Einstellung des Zeugen a) I d e e 11 e B e f a n g e n h e i t Voreingenommenheiten des Zeugen, die ihn zu verkehrten Angaben verleiten, sind oft nicht ohne weiteres zu erkennen. Sie können nicht nur 30 RGStr. Bd. 72 S. 157; es ist das eine der wenigen obergerichtliehen Entscheidungen, die ausführlicher zu diesem Fragenkomplex Stellung nehmen. 40 Graßberger S. 258.

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Die Zeugenvernehmung

auf seiner finanziellen Interessiertheit am Ausgang der Sache beruhen, sondern kommen oft einfach infolge einer gefühlsmäßig fundierten Grundhaltung des Zeugen gegenüber der Partei oder der Prozeßsache zustande. Vielfach stellen persönliche Beziehungen des Zeugen zum Beschuldigten wie Freundschaft oder langjährige Bekanntschaft die Ursache dar; oder es liegen Bindungen zur Prozeßpartei vor, die auf dem verwandtschaftlichen Verhältnis, auf Liebesneigung oder sonstigen Gründen beruhen. Manchmal geht die Sympathie oder Antipathie des Zeugen auch lediglich aus dem allgemeinen Eindruck hervor, den er von der im Termin anwesenden Partei erhalten hat. Selbst dort, wo er den Beschuldigten gar nicht zu Gesicht bekommen hat, macht er sich unter Umständen aus dem, was er über seine Herkunft, seine Wesensart und sein Schicksal gehört hat, ein Bild von ihm, das die Aussage mitbestimmt. Bisweilen kann schon die Tatsache, daß der Beschuldigte der gleichen sozialen Umgebung entstammt wie der Zeuge, bei diesem starke Sympathieempfindungen aufkommen lassen und die Grundlage für ein stillschweigendes gegenseitiges Einvernehmen schaffen, das die Darstellung des Zeugen zugunsten des Beschuldigten färbt. Der Aussagende fühlt sich dann mit dem Beschuldigten durch die gleichen Grundansichten und Zielsetzungen oft so verbunden, daß er ihm nach Kräften beizustehen versucht, auch wenn er ihn bis dahin gar nicht gekannt hat. Manchmal tritt das besonders deutlich bei Zeugen hervor, die ebenso wie die Prozeßpartei in einem regelrechten Verbrechermilieu leben und sich infolgedessen bei der Aussage von ihrer Solidarität mit dem Beschuldigten leiten lassen 41 •

Bedeutung weltanschaulicher und politischer Ansichten der Beweisperson. Mitunter wird der Zeuge schon durch seine Herkunft aus einem ganz andersartigen Lebensbereich als dem des Beschuldigten mit Unverständnis für diesen erfüllt oder gar zu regelrechter Antipathie gegen ihn verleitet. Auch seine Gleichgestimmtheit oder Gegensätzlichkeit zur Partei hinsichtlich der allgemeinen Anschauungen kann dazu führen, daß der Aussagende seine Darstellung zugunsten oder zuungunsten des Beschuldigten wendet. Dafür, daß die religiöse, weltanschauliche und politische Auffassung des Zeugen ihn irreleiten kann, gibt es allenthal41 Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat solche Hindernisse für eine wahrheitsgemäße Bekundung meist nur bei Erörterung des Umfangs der gerichtlichen Aufklärungspflicht gewürdigt, also im Zusammenhang mit der Prüfung, ob die vom Beschuldigten beantragte Vernehmung sehr fragwürdiger Entlastungszeugen wegen ihrer völligen Unglaubwürdigkeit vom Gericht abgelehnt werden kann. Im obigen Zusammenhang kommt es dagegen auf die nicht weniger wichtige Frage an, wie solche Aussagepersonen, nachdem sie vernommen worden sind, mit ihren Bekundungen für die Wahrheitsforschung verwertet werden können.

Typische Formen einer fehlerhaften allgemeinen Einstellung des Zeugen 139 ben neue Belege42 • Steht er einem Beschuldigten gegenüber, der sein politischer Gegner ist, so wird er in ihm oft von vornherein eine verächtliche Natur vermuten, der alles Schlechte zuzutrauen ist, und ihm auf Grund dieser Einstellung mit seinen Bekundungen unter Umständen Unrecht tun. Hat der Aussagende sich dagegen über einen Beschuldigten zu äußern, der ein eifriges und überzeugtes Mitglied seiner eigenen politischen Partei ist, so wird er, wenn bei ihm der politische Gesichtspunkt stark vorherrscht, das Verhalten des Beschuldigten von dort aus unter Umständen so zu rechtfertigen oder doch zu beschönigen wissen, daß die Wahrheit dabei zu kurz kommt. Mitunter wird, ohne daß solche handfesten Grundlagen für Sympathie- und Solidaritätsgefühle gegenüber der Prozeßpartei vorhanden wären, beim Zeugen einfach durch die bedrängte Lage, in der die Partei sich befindet, Mitleid hervorgerufen; oder es entsteht- im umgekehrten Falle- durch die Abscheulichkeit des auf dem Beschuldigten ruhenden Verdachts beim Aussagenden eine tiefe Abneigung gegen ihn.

Große Durchschlagskraft einer einseitigen Grundhaltung. Die gefühlsmäßige Stellungnahme des Zeugen zur Person der Prozeßpartei begleitet ihn unter Umständen während der ganzen Vernehmung. Sie bestimmt in gewissen Grenzen, welche Einzelheiten er vorbringt und wie er sie aufmacht. Sie durchdringt alle seine Bekundungen und erschwert ihm die unbefangene Darstellung oftmals beträchtlich. Der Zeuge kommt in Versuchung, Momente, die sich in diese von ihm für zutreffend gehaltene Grundrichtung nicht einfügen lassen, entsprechend zurechtzubiegen. Es sind keineswegs nur naive oder urteilslose Menschen, die so verfahren. Zuweilen lassen sich selbst sehr gebildete Zeugen von irgendwelchen, lediglich aus dem Gefühl hervorgehenden Voreingenommenheiten ins Schlepptau nehmen. Aufdeckung versteckter Befangenheit. Manchmal verrät der Zeuge seine einseitige Grundhaltung durch die Eilfertigkeit, mit der er bestimmte Fragen beantwortet. Aufschlußreich kann es auch sein, wenn er Zeichen des Unbehagens erkennen läßt, sobald er sich durch Vorhalte zur Anerkennung von Umständen gedrängt sieht, die mit seiner Tendenz nicht übereinstimmen. Läßt sich auf indirektem Wege die Einstellung des Aussagenden nicht klären, so kann es, wenn für die Ermittlung der Wahrheit einiges davon abhängt, angebracht sein, ihn durch vorsichtige, nach beiden Seiten hin ausgewogene direkte Fragen zu einer persönlichen Stellungnahme anzuregen. 42 Treffliche Ausführungen darüber an Hand eines speziellen Falles bei Jastrow S. 201 ff, 223 ff.

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Voreilige Ansichten des Zeugen über den vermutLichen Hergang. Zuweilen ist er durch kein Gefühl der Sympathie oder Antipathie gegenüber der Prozeßpartei beeinträchtigt, wird aber dadurch befangen, daß er sich von vornherein eine vorgefaßte Meinung über den zu klärenden Sachverhalt (z. B. über die umstrittene Frage der Täterschaft) gemacht hat und an deren Richtigkeit fest glaubt, obwohl ihm hinreichende Unterlagen dafür nicht zur Verfügung stehen. Das braucht nicht stets zu Verzeichnungen zu führen; doch muß mit der Möglichkeit von solchen gerechnet werden. Denn nicht selten läßt sich der Zeuge bei seinen Annahmen von unkontrollierten Einfällen und gewagten Kombinationen leiten. Besonders naheliegend ist das, wenn die allgemeine Entrüstung sich gegen Straftaten bestimmter Art (Sabotage, Kindesentführung) oder speziell gegen das hier begangene Verbrechen oder gegen die Person gerade dieses Beschuldigten richtet. Dieselbe Lage, jedoch mit umgekehrtem Vorzeichen, kann entstehen, wenn die Volksstimmung auf Grund einseitiger Unterrichtung durch die Presse im fraglichen Fall zu unangebrachter Nachsicht geneigt ist. Ein instruktives Beispiel, das in die allgemeine Geschichte eingegangen ist, stellen in Deutschland die sog. Gründerprozesse aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts dar. In diesen Strafverfahren wurde damals wegen Betrugs usw. gegen die Gründer von später notleidend gewordenen Aktiengesellschaften verhandelt. Es bedurfte dabei der Untersuchung, ob sie bei Errichtung der Gesellschaft die Interessenten durch irreführende Angaben zur Übernahme von Aktien veranlaßt hatten. Die Prozesse fanden in einer geistigen Atmosphäre statt, die den Zeugen eine unbefangene Stellungnahme außerordentlich erschwerte. Denn den meisten Menschen erschienen zu dieser Zeit die Worte "Gründer" und "Betrüger" sozusagen gleichbedeutend. Die Verärgerung weiter Kreise über den Verlust ihrer Vermögenswerte und die allgemeine Empörung über die Schädigung vieler kleiner Sparer war dem Zustandekommen objektiv gehaltener Bekundungen wenig günstig.

Allgemeiner Verfolgungseifer der Bevölkerung. Fehler ähnlicher Art können in engerem Rahmen die Wahrheitstindung beeinträchtigen, wenn z. B. die gleiche Ortschaft immer wieder von Brandstiftungen betroffen wird. Die Einwohnerschaft gerät dann mitunter infolge der lange vergeblich betriebenen Suche nach dem Täter in eine beträchtliche Erbitterung. Das Forschen nach dem Schuldigen wird schließlich als allgemeines Anliegen empfunden. Die Zeugen verlieren dabei durch die fortgesetzte gedankliche Beschäftigung mit den Geschehnissen mehr und mehr den Abstand von der Sache und die Fähigkeit zu unbefangener Erwägung. In dieser ungünstigen sozialpsychischen Situation wer-

Typische Formen einer fehlerhaften allgemeinen Einstellung des Zeugen 141 den sie durch ihre Erregung über die wiederholten Schadensfälle und durch den nachhaltigen Wunsch, zu einem positiven Aufklärungsergebnis zu kommen, leicht in die Irre geführt. Die Ansicht der Auskunftsperson über den Stand des Beweisverfahrens. Wahrheitswidrige Einflüsse können auch daraus hervorgehen, daß die Auffassung des Zeugen über die gegenwärtige Beweislage, wie er sie sieht, ihn zu unrichtigen Bekundungen veranlaßt. Manchmal ist ihm das Material, aus dem er sich seine Ansicht von der augenblicklichen Prozeßsituation bildet, gesprächsweise von Bekannten oder aus den Zeitungen zugekommen. Manchmal hat er sich seine Meinung darüber aus ganz unzulänglichen eigenen Wahrnehmungen zurechtgereimt und versucht nun, seine Darstellung der vermeintlichen Beweislage anzupassen. Wenn er nach dem, was ihm gerüchtweise zu Ohren gekommen ist, den Beschuldigten bereits zu Dreiviertel für überführt hält, wird er vielfach kein Bedenken haben, das, was von seinen vVahrnehmungen irgendwie der Umdeutung fähig ist, in diesem Sinne auszulegen. Er wird dann zuweilen ohne sonderliche Bedenken seinen Kenntnissen von der fraglichen Angelegenheit die entsprechende Prägung geben. Hat der Zeuge erfahren, daß der Beschuldigte bereits ein Geständnis abgelegt haben soll, so ist die Verlockung für ihn manchmal groß, sich, wenn seine Wahrnehmungen dazu auch nur einigermaßen passen könnten, die von ihm verlangten Auskünfte entsprechend zurechtzulegen. Er denkt oft nicht daran, daß das Gerücht über ein Geständnis des Beschuldigten falsch sein könnte; daß, wenn tatsächlich ein solches vorliegt, es sich vielleicht nur um Teileinräumungen handelt, denen geringer Beweiswert zukommt, und daß, falls der Beschuldigte ein umfassendes Schuldbekenntnis abgelegt haben sollte, dieses möglicherweise gar nicht der Wahrheit entspricht. Mitunter kann bei dem nur schwach entwickelten kritischen Sinn mancher Auskunftspersonen schon die bloße Tatsache, daß der Beschuldigte sich in Haft befindet, dazu führen, daß der Zeuge sich von der Erwägung leiten läßt, es müsse etwas an der Sache sein, weil man den Beschuldigten sonst nicht in Haft genommen haben würde. Wo mit solchen irrigen Auffassungen zu rechnen ist, kann der Vernehmende sie gegebenenfalls durch den Hinweis entkräften, daß trotz der Verhaftung des Beschuldigten noch nicht endgültig feststehe, ob er schuldig ist, daß dies vielmehr erst geprüft werden solle. Freilich müssen solche Mitteilungen, durch die man dem Zeugen eine unvoreingenommene Mitarbeit erleichtern will, sorgfältig auf den jeweiligen Fall und auf die Mentalität des Aussagenden abgestimmt werden, wenn sie für die Wahrheitstindung von Nutzen sein sollen.

Anpassungsbedürfnis des Zeugen. Wenn mehrere Personen über den gleichen Punkt aussagen, zeigt sich vielfach auch die Neigung des ein-

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Die Zeugenvernehmung

zeinen, sich der Stellungnahme der anderen anzugleichen. Es bereitet dem Zeugen nicht selten Unbehagen, wenn er mit seiner Schilderung allein steht. Er scheut das Aufsehen, das zu erwarten ist, wenn er als einziger eine abweichende Darstellung gibt. Nur wenige besitzen die geistige Kraft, ihre Auffassung, auch wenn sie auf sich allein gestellt sind, mit Anstand zu vertreten. Die meisten fürchten nicht mit Unrecht, daß der Vernehmende dann versuchen wird, durch intensive Befragung die Richtigkeit ihrer Angaben besonders zu erproben und neigen (nicht selten trotz besseren Wissens) dazu, eine Art Mittelmeinung zu geben, mit der sie nicht auffallen und die ihnen daher auch keine Ungelegenheiten bereiten kann. Sie haben es zudem leicht, diese Haltung vor sich selbst damit zu rechtfertigen, daß die von den anderen Zeugen bekundete Version, da diese von der Mehrheit vertreten wird, einiges für sich haben müsse und daß sie vielleicht sogar zutreffender sei als die eigene. Der Vernehmende hat es oft in der Hand, Zeugen, die in dieser Weise aus Bequemlichkeit oder Furchtsamkeit auf eine Allerweltslösung hinsteuern, durch sachgemäße Lenkung zur Mitteilung ihrer wirklichen Ansicht zu ermutigen. Er sollte von solchen Möglichkeiten angemessenen Gebrauch machen und bei Aussagen, die vom Chor der übrigen Zeugen irgendwie abweichen, die Besonderheiten nicht sogleich zu nivellieren versuchen. b) Gruppengeist Eine besondere Form gedanklicher Befangenheit liegt vor, wenn der Aussagende sich einer Personengruppe so zugehörig fühlt, daß ihm unter dem Einfluß der Gruppenmeinung sein eigenes Wissen von der Sache verlorenzugehen droht. Die Gemeinschaft, die ihm ihren Willen aufnötigt und derenwegen er möglicherweise von der Wahrheit abweicht, kann eine religiöse Vereinigung sein, in der er aufgeht, oder eine um ihre Rechte kämpfende nationale Minderheit. Oft genug sind auch Anhänger einer bestimmten Partei, wenn sie in einem politischen Prozeß als Zeugen vernommen werden, bestrebt, sich bei ihrer Aussage in erster Linie als gute Parteigenossen zu bewähren. Je mehr sie von ihrer politischen Überzeugung durchdrungen sind, desto mehr werden sie es darauf anlegen, ihre Bekundungen dem Parteistandpunkt anzupassen und versuchen, ihm durch ihre Darstellung Geltung zu verschaffen.

Personengruppen ohne organisatorische Grundlage. Ähnliches vollzieht sich, wenn die Meinung des Zeugen durch seine Zugehörigkeit zu einer Personengemeinschaft beeinflußt wird, die sich ohne menschliches Zutun von selbst gebildet hat: Wird beim Betrieb einer Straßenbahn ein Fahrgast durch plötzliches Bremsen oder sonstige Maßnahmen des W a-

Typische Formen einer fehlerhaften allgemeinen Einstellung des Zeugen 143 genführers beschädigt, so werden im Prozeß gegen diesen die Fahrgäste als Zeugen sich meist mit dem verletzten Fahrgast solidarisch fühlen, während der Straßenbahnschaffner bei seinen Bekundungen, soweit irgend angängig, für den Wagenführer als seinen Arbeitskollegen Partei zu nehmen pflegt. Verlangt ein Bauer vom Jagdpächter Ersatz seines angeblichen Wildschadens, so werden die anderen Bauern ihm dabei nach Kräften beizustehen suchen. Die Mitglieder ein und derselben Schiffsbesatzung fühlen sich in der Regel derartig miteinander verbunden, daß sie auf Grund des geistigen Zwanges, den diese Gemeinschaft auf sie ausübt, geneigt sind, so auszusagen, wie es dem Interesse ihres Schiffs und seiner Besatzung entspricht. Vielfach erscheint dem Gruppenangehörigen seine Verpflichtung, sich entsprechend dem Gruppengeist zu verhalten, viel wichtiger und einleuchtender als die ziemlich matt und farblos wirkende allgemeine Wahrheitspflicht, hinter der keine ähnlich starke Triebkraft steht. Die Dorfgemeinschaft als Gruppe. Für besonders zwingend pflegen bäuerliche Zeugen die Version zu halten, die im Dorf allgemein als die richtige angesehen wird. Aber auch in anderen Personengesamtheiten stärkt das Bewußtsein der Übereinstimmung mit der Meinung der übrigen Gruppenmitglieder den Aussagenden oft derartig, daß er unerschütterlich an der vorgefaßten Ansicht festhält und sich selbst durch schlagende Gegengründe nicht irritieren läßt. Oft ist die Beweisperson von dem, was die Gemeinschaft gutheißt, so sehr eingenommen, daß sie die Frage, ob diese Darstellung die volle Wahrheit wiedergibt, entweder gar nicht oder nur ganz obenhin stelW 3 • Vielfach ist der geistige Einfluß der Gruppe so mächtig, daß sie beim einzelnen alle Bedenken aus dem Felde schlägt, selbst wenn die von der Gruppe nahegelegte Darstellung höchst fragwürdig erscheint. Das eir>.zelne Mitglied einer solchen Gemeinschaft steht dabei nicht selten unter stärkstem Druck, demgegenüber sich nur Menschen durchsetzen können, die eine ausgesprochene Fähigkeit zum Alleingang besitzen. c) Allgemeine Nützlichkeitseiwägungen des Zeugen Es kommen hier die Fälle in Betracht, in denen der Aussagende kein materielles Interesse am Ausgang des Verfahrens hat, aber gleichwohl auf Grund egoistischer Überlegungen einen Vorteil darin sieht, die Wahrheit zu frisieren. Zuweilen fürchtet er, der Beschuldigte könnte ihn eine wahrheitsgemäße Aussage später entgelten lassen. Bekannt ist die Abneigung des u

Plaut S. 135.

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Die Zeugenvernehmung

Landmanns, sich auf diese Weise mit seinen unmittelbaren Nachbarn oder sonstigen Dorfeinwohnern zu erzürnen, auf die er in einer so kleinen Gemeinschaft fast stets irgendwie angewiesen ist. Wo Verbrecherbanden die Gegend terrorisieren, sind Zeugen gegen sie meist schwer zu erhalten. Wird die Bevölkerung noch von abergläubischen Vorstellungen beherrscht, so kann die Sachaufklärung auch dadurch beträchtlich erschwert sein, wie folgender Fall aus Süd-Rhodesien zeigt44 : Ein Mädchen war ermordet worden. Die Täter hatten dem Opfer den kleinen Finger der linken Hand abgeschnitten und das Blut getrunken, weil das nach ihrer Auffassung Kraft zum standhaften Leugnen der Tat geben sollte. Zugleich erwartete auf Grund des Zaubers nach dem Glauben der Einwohner jeden der Tod, der etwas von der Mordtat verriet. Das Ermittlungsergebnis war, da niemand etwas von der Sache wissen wollte, zunächst höchst dürftig. Erst als die Zeugen sich auf dem Weg zur Gerichtsverhandlung in Umtali befanden, trat ganz unerwartet eine Wendung ein, als einer von ihnen von einem Auto überfahren und getötet wurde. Dadurch war nach dem Glauben der Zeugen der Bann gebrochen; sie sagten nunmehr freimütig aus. Auch wenn der Beschuldigte nicht die Möglichkeit hat, dem Zeugen einen empfindlichen Schaden zuzufügen, möchte dieser mitunter persönlichen Ärgernissen aus dem Wege gehen und drückt sich deshalb der Wahrheit zuwider ganz indifferent aus. Häufiger als man meist annimmt, wird der Zeuge zur falschen Aussage durch Furcht vor dem Prestigeverlust veranlaßt, den er bei richtiger Darstellung in den Augen des Vernehmenden (oder des Publikums) erleiden würde. Er möchte sich nicht durch die Bestätigung, daß seine frühere Bekundung falsch war, eine Blöße geben. Manchmal glaubt er eine lächerliche Figur zu machen, wenn er zugibt, daß er bei einem Autounfall über einen bestimmten Umstand, der in seinem Beobachtungsbereich lag, keine Angaben machen kann. Zuweilen geniert er sich, eine vielleicht nur geringfügige dienstliche Nachlässigkeit zuzugeben'5; oder er scheut sich, sexuelle Handlungen einzuräumen, die ihn in den Augen der Allgemeinheit herabsetzen würden, bzw. sonstige Vorgänge preiszugeben, die der Intimsphäre angehören.

Vernehmung von Zeupn mit einseitiger Grundhaltung Auskunftspersonen dieser Art, mag ihre fehlerhafte Einstellung nun auf ideeller Voreingenommenheit, auf Gruppengeist oder sonstigen Gründen beruhen, werden kaum jemals ihre Aufgabe gleich von Anfang an voll erfüllen, wenn der wahre Sachverhalt ihrer Tendenz 44 The Outpost (Salisbury) Juli 1958 S. 6, auszugsweise wiedergegeben in "Kriminalistik" 1958 S. 475. 45 H. Schneikert, Verheimlichte Tatbestände (1943) S. 34 ff.

Vernehmung von Zeugen mit einseitiger Grundhaltung

145

widerspricht. Sie müssen vielmehr erst durch die Art der Befragung nach und nach zu größerer Objektivität angeleitet werden. Der Vernehmende hat darauf von vornherein sein Augenmerk zu richten. Es wäre pfiichtwidrig, wenn er einen Zeugen, dessen Einseitigkeiten möglicherweise korrigierbar sind, aus Unachtsamkeit oder Bequemlichkeit zunächst einmal in eine unüberlegte, berichtigungsbedürftige Sachdarstellung hineinstolpern lassen wollte. Er hat vielmehr unbesonnene Stellungnahmen, soweit das in seiner Kraft steht, zu verhindern45 • Dadurch kann den Bekundungen oft ihre volle Beweiskraft erhalten werden, während von dieser meist einiges verlorengeht, wenn der Zeuge zunächst unbedachte Angaben macht, die er auf Vorhalt richtigstellen muß.

Kampf gegen eine verkehrte Einstellung der Beweisperson. Es sollte versucht werden, den Zeugen aus seiner einseitigen Grundhaltung herauszumanöverieren, w e n n sicher ist, daß sie ihm eine unbefangene Stellungnahme unmöglich macht. Der Vernehmende hat von den ihm dafür zu Gebote stehenden legalen Mitteln mit Vorsicht, aber nötigenfalls auch mit Nachdruck Gebrauch zu machen. Bei leichter Voreingenommenheit ist es oft nicht schwierig, dem Zeugen den Weg zu einer einigermaßen objektiven Darstellung zu ebnen. Hat er auf Grund einer gewissen Befangenheit eine augenscheinlich zu weit gehende Bekundung gemacht, so müssen Fragen gestellt werden, die ihm die Aufrechterhaltung seiner Darstellung erschweren und ihn gegebenenfalls zur Einschränkung der ursprünglichen Angaben nötigen. Ein ehrlicher, der Selbstkritik fähiger Zeuge wird dann vielfach, wenn für ihn nicht etwa lebenswichtige Interessen auf dem Spiel stehen, ohne sonderliche Mühe von seiner unsachlichen Haltung abzubringen sein.

Nachdrückliche Hinweise. Oftmals tut eine ernsthafte Ermahnung, die ohne Lehrhaftigkeit und Rechthaberei gegeben wird, einige Wirkung. Wenn man den Aussagenden in schonender Weise etwas zurechtrückt, läßt er sich mitunter schnell für eine sachliche Mitarbeit gewinnen. Aber auch Auskunftspersonen, die auf einer bewußten Unwahrheit ertappt worden sind, nehmen zuweilen, wenn sie sich bloßgestellt sehen, von weiteren Fälschungsversuchen Abstand und geben nunmehr eine wahrheitsgemäße Schilderung. Am ehesten nützen in der Regel konkrete Hinweise, die der Vernehmungssituation angepaßt sind. Allgemein gehaltene Ermahnungen oder Beschwörungen machen auf einen tendenziösen Zeugen meist wenig Eindruck. Ausführungen über das sittliche Gebot wahrheitsgemäßer 45

Wigmore S. 558.

10 Döhrlng

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Die Zeugenvernehmung

Darstellung haben nur dort einige Aussicht auf Erfolg, wo die Bevölkerung noch starken religiösen Bindungen unterliegt oder sonst von ethischen Vorstellungen bestimmter Art beherrscht wird. Einige Wirkung tut es jedoch nicht selten, wenn man den Zeugen darauf aufmerksam macht, daß falsche Angaben sich für ihn in dieser Sache nicht lohnen würden, daß es also auch vom Standpunkt der nüchternen Berechnung aus eine Torheit wäre, sich von der Wahrheit zu entfernen.

Bewußtmachen der Voreingenommenheit. Ist dem Aussagenden seine Einseitigkeit gar nicht zum Bewußtsein gekommen, so kann er manchmal dadurch von ihr distanziert werden, daß man sie ihm vor Augen führt, ohne ihn zu brüskieren und seinen Widerspruchsgeist rege zu machen. So ist es mitunter möglich, halb gutgläubigen Zeugen, die sich einzureden versuchen, daß die Sache sich, wie von ihnen angegeben, verhalten habe, ihre sorgsam gepflegte Illusion zu nehmen und dem Theater ein Ende zu bereiten, das sie sich selbst und dem Vernehmenden vorspielen. In weniger günstigen Fällen kann auf diese Weise die unsachliche Tendenz des Zeugen wenigstens gemildert werden. Notwendigkeit von Geduld und Ausdauer. Bisweilen gelingt es nicht auf Anhieb, den Aussagenden zur Abstandnahme von seiner Voreingenommenheit zu bringen und ihn dazu zu veranlassen, daß er die Sache von einer objektiveren Grundhaltung her erneut durchdenkt. Es gehört mitunter viel Beharrlichkeit dazu, wenn man einen solchen Zeugen von seiner vorgefaßten Meinung abbringen will, zumal wenn diese seinem Interesse entspricht. Erfolg ist dann meist nur auf Grund intensiver Bemühungen zu erwarten. Summarische Abhörungen werden in solchen Fällen stets fragwürdige Ergebnisse zeitigen. Falls zahlreiche, augenscheinlich voreingenommene Zeugen für den gleichen Sachverhalt vorhanden sind, verspricht oft nur bei einzelnen von ihnen die Bekämpfung der Befangenheit einen Erfolg. Der Vernehmende muß dann mit derartigen Bemühungen an der richtigen Stelle ansetzen, also bei den Beweispersonen, an denen gewisse, wenn auch vielleicht nur geringfügige Zeichen von geistiger Selbständigkeit bemerkbar geworden sind.

Verhalten bei sehr starken Vorurteilen des Zeugen. Sind für einen wichtigen Punkt nur ein oder zwei Auskunftspersonen vorhanden, so daß auf jeden von ihnen viel ankommt, dann bedarf es noch besonderer Erwägungen. Handelt es sich um Zeugen, die auf eine bestimmte Parteirichtung völlig eingeschworen sind und sich offenbar vorgenommen haben, an ihr allen Widerständen zum Trotz festzuhalten, dann bleibt nichts weiter übrig, als dem Aussagenden Momente vorzuhalten, die mit seinen Angaben unvereinbar sind, und ihn in offenem Kampf Schritt für Schritt zur Abstandnahme von seiner ursprünglichen Be-

Bewertung von Bekundungen befangener Zeugen

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kundung zu nötigen. Meist ist das eine harte Arbeit. Manchmal muß der Vernehmende mit dem Aussagenden intensiv ringen, um den Bereich, in dem dieser sein Fälscherhandwerk auszuüben vermag, nach und nach einzuengen und ihn schließlich zu einer Darstellung zu bringen, die sich der Wahrheit einigermaßen nähert. Kann der Zeuge gleichwohl nicht zum Zurückweichen veranlaßt werden, dann ist es oft doch möglich, mit Hilfe dieser Vernehmungsweise seine durch und durch parteiische Einstellung so bloßzustellen, daß jedermann zu erkennen vermag, was von ihm und seinen Bekundungen zu halten ist. So wird neues Indizienmaterial herbeigeschafft, das den Vernehmenden in die Lage setzt, die in der Aussage enthaltenen Unrichtigkeiten im Wege der Beweiswürdigung auszugleichen. Manchmal wird schon durch geringfügige Einräumungen, zu denen sich der Zeuge genötigt sieht, das Beweisergebnis nachhaltig beeinflußt, eben weil sie einer einseitig orientierten Auskunftsperson auf legale Weise gegen ihren Willen abgenötigt worden sind. Rücksicht auf die Besonderheiten des Falles. Der Vernehmungsleiter hat sein Vorgehen der Wesensart des Zeugen anzupassen und es entsprechend dem Grad der Befangenheit abzustufen. Vielfach empfiehlt es sich, angemessene Hinweise auf die Notwendigkeit wahrheitsgemäßer Bekundungen mit dem Vorhalt von entgegenstehenden Momenten zu kombinieren, mit denen der Aussagende vermutlich nicht recht fertig werden kann. Ruhige Sachlichkeit führt im allgemeinen am ehesten zum Erfolg. Nur dort, wo feinere Mittel in keiner Weise verfangen, kann gelegentlich resolutes Auftreten angebracht sein, um eine schwer beeindruckbare Auskunftsperson aus ihrer Gleichgültigkeit und Behäbigkeit aufzuscheuchen. Bewertung von Bekundungen befangener Zeugen

Wert oder Unwert solcher Aussagen. Die Auffassungen darüber, ob und inwieweit die Angaben eines verdächtigen Zeugen für die Tatsachenfeststellung von Nutzen sein können, haben sich im Laufe der Zeit sehr gewandelt. Die wenigsten Zeugen, auf die man ehemals glaubte sich verlassen zu können, verdienen dieses Vertrauen nach neuzeitlichen Grundsätzen in vollem Umfang. Andererseits weiß man heute, daß gewisse Zeugenkategorien, die früher für die Wahrheitsforschung als nahezu untauglich betrachtet wurden, für sie nicht selten von großem Wert sein können. Gerade in der sehr ausgedehnten und in sich ziemlich uneinheitlichen Gruppe der sogenannten verdächtigen Zeugen gibt es viele Menschen, die im Rahmen des ihnen Möglichen ihr Bestes tun, wenn die Erörterung sachgemäß geleitet wird. 10"

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Die Zeugenvernehmung

Momente, die für die Glaubwürdigkeit sprechen. Werden die Angaben des Zeugen durch die Umstände, durch das Erfahrungswissen, durch schlagkräftige psychologische Beweisanzeichen oder durch Sachindizien eindeutig bestätigt, so können sie trotz seiner Interessiertheit eine beträchtliche Überzeugungskraft besitzen. Manchmal fügen sie sich in das, was an Einzelheiten bereits feststeht, so gut ein, daß sie infolgedessen völlig einleuchtend wirken. Hat der Zeuge zudem noch einer ungewöhnlich gründlichen und strengen Erprobung in befriedigender Weise standgehalten, so kann seine Darstellung dadurch starke Beweiskraft erhalten.

Aber auch in weniger günstig liegenden Fällen kann die Aussage eines interessierten Zeugen das in die gleiche Richtung weisende sonstige Belastungs- oder Entlastungsmaterial so vervollständigen, daß mit ihrer Hilfe nunmehr eine sichere Beurteilung möglich wird. Geringe Handhaben zur Nachprüfung. Bedenken gegen die Bekundungen interessierter oder sonst fragwürdiger Zeugen sind ganz allgemein am Platz, wo sie sich auf Bereiche beziehen, die für den Beurteiler nicht kontrollierbar sind. Hier wird für den Aussagenden, zumal wenn er weiß, daß eine Überprüfung seiner Angaben nicht möglich ist, die Versuchung zu tendenziöser Stellungnahme allzu groß. Vielfach ist die Verlockung dazu für ihn so unwiderstehlich, daß auch gefestigte Naturen ihr unterliegen.

Mitunter fehlt dem Vernehmenden zwar nicht jede Möglichkeit zur Kontrolle der Aussage; aber der Zeuge weiß, daß er bei der Eigenart seiner Bekundung einer Verletzung der Wahrheitspflicht kaum überführt werden kann. Ihm stehen für den äußersten Fall gewisse, schwer widerlegbare Ausreden zur Verfügung. In dieser Situation läßt sich der interessierte Zeuge nur zu leicht von seiner Vorteilsberechnung leiten, zumal wenn es sich für ihn um erhebliche Werte handelt. Die Aussicht, daß er unter solchen Umständen auch dort bei der Wahrheit bleibt, wo das seinem Interesse widersprechen würde, ist meist gering. Bekundungen, die sich auf die Wiedergabe tatsächlicher Einzelheiten beschränken und für Wertungen wenig Raum lassen, sind dem Einfluß des Interessenstandpunkts weniger ausgesetzt; bei ihnen ist die Gefahr wahrheitswidriger Darstellung nicht ganz so naheliegend wie dort, wo in weiterem Umfang Beurteilungen mitsprechen. Muß ein interessierter oder sonst verdächtiger Zeuge bei seiner Stellungnahme auch Werturteile abgeben, dann werden, weil dabei die Mitwirkung subjektiver Einflüsse schwer zu vermeiden ist, seine Angaben meist höchst fragwürdig erscheinen. Manchmal ist aber doch noch ein leidlich verläßliches Ergebnis zu erreichen, indem man die Tatsachenangaben von den

Bewertung von Bekundungen befangener Zeugen

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Beurteilungen trennt und die ersteren gelten läßt, die Bewertungen und Schlußfolgerungen des Zeugen dagegen verwirft47 •

Neigung des Zeugen zur Wahrnehmung seiner eigenen Belange. Mit besonderer Reserve wird der Wahrheitsforscher die Schilderung von Zeugen aufzunehmen haben, die mit ihren Bekundungen möglicherweise ihren eigenen wirtschaftlichen Vorteil sichern bzw. einen ihnen drohenden finanziellen Schaden von sich abwenden wollen. Größte Vorsicht bei der Würdigung ist auch dann geboten, wenn der Zeuge sich bei seiner Aussage genötigt sieht, seinen guten Ruf, der auf dem Spiel steht, zu verteidigen. Häufig geht es unter anderem darum, ob er sich selbst in der Angelegenheit, über die er vernommen wird, richtig verhalten oder seine Pflicht verletzt hat. Der Zeuge fühlt sich dann oft veranlaßt, im Rahmen seiner Aussage die eigenen Belange wahrzunehmen; so etwa der Handwerker, dessen berufliche Arbeit bemängelt worden ist, oder der Beamte, wenn er die Korrektheit seiner Amtsführung in Zweifel gezogen sieht; ferner der Kaufmann, der aus den an ihn gerichteten Fragen entnimmt, daß sein Geschäftsgebaren einige Bedenken hervorruft. Man wird meist nicht erwarten können, daß der Zeuge zugibt, sich unrichtig verhalten zu haben, wenn der Sachverhalt eine andere Deutung noch irgendwie zuläßt. Der Steuermann eines Schiffes wird schwerlich einräumen, daß er zur Zeit der Schiffskollision betrunken war oder eine sonstige Pflichtverletzung begangen hatte, die ihm die volle Verantwortung für den entstandenen Schaden aufbürdet. Der Wachmann einer Wach- und Schließgesellschaft wird nicht anerkennen wollen, daß er während seiner Dienstzeit geschlafen habe 48 • Auch sonst wird dem Zeugen, wenn er als der eigentlich Verantwortliche angesehen werden muß und für ihn eine größere Summe auf dem Spiel steht, meist die volle Unbefangenheit fehlen, was nicht nur bei der Lenkung der Vernehmung, sondern auch bei der Würdigung der Aussage entsprechend berücksichtigt werden muß. Je stärker die Anteilnahme des Zeugen am Ausgang der Sache ist und je mehr sie vermutlich auf seinen Bericht eingewirkt hat, desto kritischer wird man diesen zu betrachten haben. Besondere Skepsis ist nötig, wenn seine ganze geschäftliche Existenz oder seine soziale Stellung vom Ausgang des Prozesses abhängt. Meist ist nicht damit zu rechnen, daß er sich in einer solchen Zwangslage rückhaltlos zur Wahrheit bekennt, wenn sie ihm nachteilig ist und wenn für ihn die Möglichkeit offen bleibt, die Sachangaben seinem Interesse entsprechend zu modifizieren. c1 RG JW 1896 S. 32 Nr. 10. es Moore § 827, § 1069.

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Die Zeugenvernehmung

Umfang des wahrheitswidrigen Einflusses. In welchemMaßeder Zeuge infolge egoistischer Berechnung oder auf Grund von sonstigen Einseitigkeiten vom geraden Wege abgelenkt wurde, muß sorgfältig untersucht werden. Wenn im Prozeß eines Unternehmers dessen Arbeiter als Zeuge zugunsten seines Chefs aussagt, so ist zu klären, ob beim Zeugen auf Grund seiner Interessenlage eine Tendenz vorhanden ist, den Arbeitgeber durch seine Aussage zu begünstigen oder ob er sich seine Unabhängigkeit weitgehend bewahrt hat. Es gilt dabei, etwaige Abweichungen von der Wirklichkeit genau einzugrenzen und auszugleichen. Manchmal handelt es sich nur um kleinere Richtigstellungen, manchmal dagegen sind erhebliche Eingriffe nötig. Auch sehr ehrenwerte und würdige Zeugen können sich, wenn der Prozeß, in dem sie gehört werden, für sie von einiger Bedeutung ist, manchmal von ihrer persönlichen Vorteilsberechnung nicht ganz freimachen und müssen sich daher unter Umständen gefallen lassen, daß der Beurteiler ihrer Stellungnahme nicht in vollem Umfange folgt, sondern gewisse Reduktionen vornimmt. Beweiswürdigung bei einzelnen Kategorien von Auskunftspersonen 1. Polizeibeamte als Zeugen Polizeibeamte müssen vor Gericht vielfach damit rechnen, daß man sie zunächst einmal als interessiert ansieht und ihnen mit einer gewissen Skepsis begegnet. Oft sind sie genötigt, sich erst durch ihr Verhalten während der Vernehmung die volle Achtung und Anerkennung der Prozeßbeteiligten zu erwerben. Je nach dem Ansehen, das die Polizei in den verschiedenen Ländern genießt, unterstellt man den Polizeizeugen mehr oder weniger, daß sie auf eine Verurteilung des Angeklagten, den sie zur Anzeige gebracht haben, hinstreben und ihn möglichst zur Strecke bringen möchten. Das gilt ganz besonders für Strafsachen, bei denen der Polizeibeamte in gewisser Weise selbst Partei ist, so z. B. für Verfahren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt; desgleichen für Fälle, in denen Mißhandlungen oder sonstige Übergriffe der Polizei gegen den Beschuldigten wahrscheinlich gemacht sind. Ergibt sich dazu noch, daß der Polizeizeuge in einem bestimmten, vielleicht an sich nicht wichtigen Punkt, etwas Unrichtiges ausgesagt hat, so schwindet unter Umständen das Vertrauen in seine Darstellung ganz und gar dahin. Das gleiche kann geschehen, wenn die mechanische Präzision, mit der mehrere Polizeibeamte sich ihre Bekundungen wechselseitig in allen Einzelheiten bestätigen, beim Beurteiler den Eindruck hervorruft, daß es sich um Aussagen handelt, die auf Grund

Beweiswürdigung bei einzelnen Kategorien von Auskunftspersonen

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der bei den Zeugen vorhandenen besonderen Gerichtserfahrung von diesen entsprechend verabredet worden sind. Andererseits muß berücksichtigt werden, daß der Polizeizeuge heute in den meisten Ländern durch eine strenge Berufsausbildung sowie in späterer Zeit durch die Dienstaufsicht zu verläßlicher Arbeit erzogen und zu objektiver Haltung auch in schwierigen Lagen angehalten wird, so daß bei ihm die Voraussetzungen für eine wahrheitsgemäße Darstellung durchaus günstige sind, soweit er nicht etwa am Ausgang der Sache regelrecht beteiligt erscheint. 2. D e r V e r 1 e t z t e a 1s B e w e i s p e r s o n

Gründe für seine etwaige Befangenheit. Auch der durch den aufzuklärenden Vorfall unmittelbar Betroffene kann durch persönliches Interesse beeinflußt sein. Handelt es sich um einen Verkehrsunfall und ist der Verletzte mit einigen Hautabschürfungen davongekommen, so wird er vielfach keine einseitige Haltung gegen den Beschuldigten einnehmen. Hat er jedoch ernstere Körperschäden davongetragen, so wird nicht selten die verständliche Erbitterung bei seinen Bekundungen mitsprechen und vielleicht dazu führen, daß über den Hergang und die Unfallfolgen eine fragwürdige Darstellung zustande kommt. Glaubt der Verletzte auf Schadensersatz Anspruch machen zu können, so wirkt sein natürlicher Egoismus unter Umständen dahin, daß er den Verlauf der Sache entsprechend umformt und die Folgen des Unfalls übertreibt.

Haltung des Geschädigten bei schweren Schicksalsschlägen. Sehr einschneidende Schadenszufügungen, die das ganze Lebensglück des Zeugen zerstören, bilden merkwürdigerweise häufig kein Hindernis für eine unparteiliche Stellungnahme. Der Aussagende kommt dann vielmehr oft zu einer auffallend objektiven Schilderung. Der Schadensvorfall wird durch das damit verbundene Leid so sehr aus der gewöhnlichen Lebenssphäre des Zeugen herausgehoben, daß die sonst üblichen Maßstäbe ihm nicht mehr angemessen erscheinen. Er wird von der Auffassung beherrscht, daß der Schicksalsschlag, der durch den Verlust der Ehefrau oder eines geliebten Kindes seine Existenz von Grund aus umgestaltet, durch den irdischen Richter ohnehin nicht ungeschehen gemacht werden kann, und kommt dadurch möglicherweise zu einer bemerkenswert unparteilichen Einstellung. Vortäuschen einer Straftat durch den "Verletzten". Besonders starke Bedenken gegen die Darstellung des angeblich Geschädigten sind angebracht, wenn fraglich sein kann, ob überhaupt ein Rechtsbruch gegeben ist oder ob der Geschädigte einen solchen aus eigensüchtigen Gründen lediglich vorgespiegelt hat; so etwa, wenn die Möglichkeit be-

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Die Zeugenvernehmung

steht, daß der vom Anzeigeerstatter behauptete Einbruchsdiebstahl von ihm fingiert worden ist, um die Versicherungssumme zu erlangen. Oder: Die jugendliche Zeugin erklärt, daß sie vom Beschuldigten vergewaltigt worden sei; es kommt aber der Verdacht auf, daß sie von einem Dritten geschwängert worden sein könnte und daß sie die Beziehungen zu diesem durch eine wissentlich falsche Beschuldigung zu tarnen versucht. Die Bekundungen der Zeugin sind, wenn solche Möglichkeiten in Betracht gezogen werden müssen, manchmal nicht weniger fragwürdig als die des Beschuldigten. Denn dieser will den Makel der strafgerichtliehen Verurteilung von sich abwenden und sich seine achtbare Stellung im bürgerlichen Leben erhalten; für die Zeugin dagegen steht ihre Ehre als Frau auf dem Spiel49 • 3. A n g ab e n e i n e s Mi t b es c h u 1 d i g t e n Es ist dabei an die Fälle zu denken, in denen jemand, der für die zu klärende Straftat als Beteiligter in Betracht kommt, einen anderen der Täterschaft oder der Beihilfe an eben diesem Delikt bezichtigt. In diesem Zusammenhang bleibt es sich gleich, ob er seine Darstellung als Zeuge gibt oder ob er sie, ohne Zeuge zu sein, der Untersuchungsbehörde bzw. dem Gericht zur Kenntnis bringt. Stets sind seine Mitteilungen Beweisstoff und müssen auf ihren Wahrheitswert geprüft werden. Bei der Würdigung wird unter anderem mitsprechen, welchen Eindruck die Auskunftsperson allgemein macht, in welcher Weise sie ihre Angaben vorgebracht hat, inwiefern ihre Darstellung mit den Umständen in weitestem Sinne und den Erfahrungsgrundsätzen in Einklang steht (S. 67, 64). Besonders zu erörtern ist an dieser Stelle aber noch die Interessenlage des Nachrichtenträgers zur Zeit der Bekundung und ihr Einfluß auf die Würdigung seiner Darstellung: Der zu Strafe Verurteilte als Auskunftsperson. Mitunter wird ein Tatbeteiligter, nachdem er wegen seiner Handlungsweise rechtskräftig verurteilt worden ist, im abgesonderten Verfahren gegen einen anderen Beschuldigten wegen dessen angeblicher Mittäterschaft als Zeuge vernommen50. Dann kann seinen Bekundungen durchaus einiger Beweiswert zukommen, weil seine Strafe bereits endgültig feststeht und er daher seine eigene Lage durch wahrheitswidrige Belastung eines ande48 Alsberg JW 1931 S. 1816. Schrifttum über fingierte Verbrechen bei Zbinden, Kriminalistik S. 105. 50 Auf die verfahrensrechtliche Frage, ob es zulässig ist, einen Mitbeteiligten in dieser Weise als Zeugen zu vernehmen, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Im deutschen Schrifttum wird das für den oben genannten Spezialfall jetzt meist bejaht; über die Einzelheiten sind die Ansichten jedoch geteilt (Beling S. 296; Eb. Schmidt, Lehrkommentar II. 101 f; Kleinknecht-Müller, Vorbem. 4 c zu§ 48 StPO).

Beweiswürdigung bei einzelnen Kategorien von Auskunftspersonen

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ren nicht mehr verbessern kann. Aber so zutreffend diese Erwägung auch sein mag, darf doch nicht übersehen werden, daß die Bekundungen eines solchen Zeugen aus anderen Gründen unrichtig sein können. Dabei ist nicht nur an eventuelle Wahrnehmungsmängel infolge von Aufregung, Schreck oder ähnlichen Einflüssen zu denken, sondern vor allem auch daran, daß die Aussage auf Grund heimlicher Erbitterung des Nachrichtengebers gegen den durch ihn Belasteten verdorben sein kann. Möglich ist auch, daß der Aussagende aus purer Hinterhältigkeit versucht, einem Unschuldigen zu schaden. Manchmal fühlt sich die Auskunftsperson von ihrem einstigen Kameraden hineingelegt oder im Stich gelassen und revanchiert sich dafür, indem sie ihn über Gebühr schlecht macht. Unter Umständen sieht sie sich auch einfach durch den Gang des Untersuchungsverfahrens im Vergleich zu dem Genossen als benachteiligt an und läßt ihn das bei ihrer Aussage nunmehr entgelten; so etwa wenn sie in Haft genommen worden ist, während der Kumpan das Glück gehabt hat, daß man ihm die Freiheit beließ.

Der rechtskräftig Freigesprochene als Zeuge. Ist der Aussagende, der im Verdacht der Beteiligung an der zu untersuchenden Straftat stand, bereits rechtskräftig freigesprochen worden, so wird er meist noch eher als im Fall seiner Verurteilung zu einer versöhnlichen Haltung geneigt sein und nicht die Tendenz haben, einen anderen, über dessen etwaige Täterschaft er auszusagen hat, wahrheitswidrig zu belasten. Man wird seine Glaubwürdigkeit infolgedessen oftmals bejahen können, wenn er gleichwohl den anderen der Beteiligung an der Tat bezichtigt51 • Doch darf die Möglichkeit nicht außer acht gelassen werden, daß auch ein solcher Zeuge aus unsachlichen Beweggründen wie Machthunger, Schadenfreude, Neid, verletztem Stolz oder Rachegefühl einen Dritten in ungerechtfertigter Weise anzuschwärzen versucht. Belastende Angaben eines Beschuldigten gegen den in das gleiche Verfahren verwickelten Mitbeschuldigten. Sehr viel ungünstiger sind die Aussichten für eine wahrheitsgemäße Darstellung, wenn der Nachrichtenträger bisher nicht abgeurteilt wurde, sondern selbst noch Beschuldigter ist und zusammen mit dem Tatverdächtigen, den er durch seine Angaben belastet, zur Verantwortung gezogen wird. Der Beweiswert seiner Bekundungen wird dann regelmäßig sehr gering sein. Denn es liegt allzu nahe, daß die Auskunftsperson den Mitbeschuldigten lediglich deshalb belastet, um sich selbst in ein gutes Licht zu setzen. Wer sich (wie hier der Aussagende) in einer so ausgesprochenen Notlage befindet, wird meist vor einer Verfälschung der Wahrheit nicht zurückschrecken, wenn er sich Hoffnung machen kann, dadurch seine eigene Position zu verbessern. 51

OLG Celle vom 20. 3. 1957, Juristische Rundschau 1957 S. 270.

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Die Zeugenvernehmung

Besondere Vorsicht ist bei der Würdigung von Angaben, die ein Beschuldigter zum Nachteil seines Mitbeschuldigten macht, nötig, wenn der Verdacht der Täterschaft beide Beschuldigte alternativ in der Weise trifft, daß jeder von ihnen als Täter in Frage kommt, daß aber nach Lage der Sache die Tat nur von einem der beiden begangen worden sein kann5 2 •

Belastung eines Verdächtigen durch den zwar nicht abgeurteilten, aber voll geständigen Tatbeteiligten. Macht ein Beschuldigter, der wegen seiner Beteiligung an der Tat "voll geständig", aber noch nicht abgeurteilt ist, Angaben zum Nachteil eines gleichfalls Tatverdächtigen, der in demselben Untersuchungsverfahren zur Rechenschaft gezogen wird, so könnte man denken, daß die Auskunftsperson, da sie bereits voll geständig ist, kein nennenswertes Interesse mehr daran haben wird, einen anderen der Wahrheit zuwider zu belasten53 • Doch muß beachtet werden, daß mancher Tatbeteiligte, wenn er seine Überführung bereits voraussieht, seine Lage dadurch zu verbessern trachtet, daß er mit Hilfe eines frühzeitigen Geständnisses zwar seine Mittäterschaft anerkennt, die Hauptschuld aber zu Unrecht auf den Genossen abzuschieben versucht. Große Bedeutung von Angaben Mitbeschuldigter in bestimmten Fällen. Bei gewissen Arten von Strafsachen, wie z. B. bei manchen politischen Delikten, ist eine Überführung des Täters anders als durch Mitbeschuldigte mitunter kaum möglich. Besonders gegenüber Mitgliedern einer verbotenen staatsfeindlichen Verbindung kann der Schuldbeweis oft nur dadurch erbracht werden, daß andere Angehörige der gleichen Untergrundorganisation als Zeugen herangezogen werden54• Oft geben Aussagen eines Mitbeschuldigten brauchbare Anhaltspunkte für die Lenkung der Ermittlungen. Sie können aber mitunter auch unmittelbar zur Klärung beitragen, wenn ihnen aus irgendwelchen Gründen besondere Glaubhaftigkeit innewohnt; so etwa wenn die Auskunftsperson ihre Angaben durch Mitteilung aufschlußreicher Einzelheiten unterstützt, die vom Belasteten nicht in Abrede gestellt bzw. zwar bestritten, aber durch ergänzende Beweiserhebungen als richtig erwiesen werden. Freilich ist dabei zu berücksichtigen, daß der wahre Schuldige meist leicht imstande ist, einleuchtend erscheinende Einzelheiten zu erfinden, mit deren Hilfe er die Hauptverantwortung von sich abwälzen kann. sz Zu dem ganzen Problemkreis Altavilla II. 98 ff. 53 Arnold im "Gerichtssaal" Bd. 10 S. 49 ff. 54 Schindler: Neue Justiz Jg. 1955 S. 299; vgl. auch A. J. Wyschinski, Gerichtsreden (deutsche übersetzung Berlin 1951) S. 615 f.

Bewertung von Aussagen, die in einem Punkt erweislich unrichtig sind 155 Er hat dazu vielfach um so bessere Gelegenheit, je mehr sich der - unter Umständen trügerische - allgemeine Verdacht gegen eine andere Person richtet und je weniger Möglichkeiten dieser im Augenblick zur erfolgreichen Abwehr zur Verfügung stehen. Selbst wenn angenommen werden muß, daß die Darstellung dessen, der einen anderen Verdächtigen belastet, im großen und ganzen das Richtige trifft, kann sie in bestimmter Hinsicht durch Übertreibung oder Entstellung verfälscht worden sein.

Zusammenfassung. Größere Beweiskraft können nach dem Gesagten Angaben eines Beschuldigten gegen einen anderen Tatverdächtigen vor allem dann erhalten, - wenn beim Aussagenden keine Motive vorhanden sind, die ihn zu einer wahrheitswidrigen Belastung des Betroffenen hätten veranlassen können; - wenn die Umstände, unter denen die Angaben gemacht wurden, und die Art, wie sie vorgebracht worden sind, sie glaubhaft erscheinen lassen; - wenn die Gegenüberstellung der beiden einander widersprechenden Beschuldigten zugunsten des Aussagenden ausgefallen ist; - wenn dessen Angaben durch das sonstige Beweismaterial und durch allgemeine Erwägungen eindeutig unterstützt werden. Bewertung von Aussagen, die in einem Punkt erweislich unrichtig sind

Fragwürdigkeit der älteren Auffassung darüber. Wenn der Zeuge eine bestimmte Darstellung gibt und diese hinsichtlich eines einzelnen Umstands als unzutreffend festgestellt wird, fragt sich, wieweit das die Bewertung seiner übrigen Angaben beeinflußt. Man könnte meinen, daß damit die ganze Aussage ihren Wert verliert. So wurde früher in der Tat teilweise argumentiert. Auch im 19. Jahrhundert neigte man noch vielfach zu der Ansicht, daß die Verläßlichkeit einer Darstellung nur einheitlich beurteilt werden könne. Man sah es mitunter geradezu als einen Denkfehler an, wenn in einem Gerichtsurteil gewisse Angaben des Zeugen als unglaubhaft bezeichnet worden waren, ihm aber gleichwohl in anderer Hinsicht geglaubt wurde. Auf Grund extremer Betonung des logischen Gesichtspunktes wurde die Meinung vertreten, daß ein Zeuge "nicht zugleich glaubwürdig und unglaubwürdig sein könne". Die allgemeine Meinung ging ferner dahin, daß, wenn man innerhalb der gleichen Zeugenaussage eine Trennung zwischen glaubhaften und unglaubhaften Teilen zulassen wollte, dies mangels brauchbarer sachlicher Unterscheidungsgrundsätze zu völliger Willkür und zum Bankrott der Tatsachenfeststellung führen müsse.

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Die Zeugenvernehmung

Nachwirkungen des früheren Standpunkts in der Gegenwart. Obwohl diese Anschauung heute kaum noch irgendwo prinzipiell vertreten wird, ist sie in der Praxis noch nicht ganz überwunden. Sie empfiehlt sich immerhin dadurch, daß sie Beurteilern, die wenig Neigung zu einer intensiven Würdigung von Zeugenbekundungen haben, willkommene Gelegenheit gibt, sich die Arbeit bequem zu machen. Wer von ihr ausgeht, hat es nicht nötig, tiefer in den eigentlichen Körper der Zeugenaussage einzudringen und dort Wahrheit und Unwahrheit voneinander zu sondern55. Gleichwohl geht es nicht an, wegen jeder nachgewiesenen Unrichtigkeit gleich die ganze Darstellung als unzuverlässig anzusehen. Der Aussagende kann leicht einmal danebengreifen; niemand ist ganz davor sicher. Selbst in den Bereichen, in denen der Zeuge sich auskennt und für deren Beherrschung seine Geistesgaben durchaus zureichen, können Fehlleistungen vorkommen. Die Gründe dafür sind oft völlig entschuldbar und lassen ungünstige Rückschlüsse auf die Brauchbarkeit anderer Bekundungen des gleichen Zeugen nicht zu. Einsichtigen Wahrheitsforschern war diese Erkenntnis auch früher schon geläufig; aber sie kam unter dem Einfluß einseitiger Grundanschauungen nicht recht zur Geltung und konnte sich in Zweifelsfällen vielfach nicht durchsetzen. Feststellung, wie die Unrichtigkeit zustande gekommen ist. Es muß jeweils im einzelnen geklärt werden, wodurch der Fehler entstanden ist und ob die dabei zugrunde liegende Ursache ihrer Art nach auch die übrigen Angaben des Zeugen fragwürdig macht oder nicht. Die Praxis verfährt in dieser Hinsicht mitunter ziemlich sorglos. Manchmal werden aus einer Zeugenaussage größere Partien, die als unrichtig festgestellt worden sind, entfernt, während man das übrige, dessen Widerlegung nicht gelungen ist, ohne nähere Begründung als richtig zugrunde legt58 . Es scheint bisweilen fast so, als sei die mögliche Rückwirkung einzelner Unrichtigkeiten in der Zeugenaussage auf die Bewertung der übrigen Bekundungen des Zeugen gar nicht erwogen worden. In anderen Fällen wieder werden umgekehrt kleine, durchaus entschuldbare Erinnerungsfehler des Zeugen ohne zureichende sachliche Gründe zum Anlaß genommen, um seine gesamte sonstige Darstellung wegen angeblicher Unzuverlässigkeit außer Betracht zu lassen 57 . Nicht selten schaltet der Beurteiler auf diese einigermaßen gewaltsame Weise einen Zeugen aus, der eine unrichtige Tatsachenfeststellung verhindert haben würde. Gewiß bedient sich der Wahrheitsforscher dieser Methode u Fr. Sturm, Die juristische Beweislehre, im Archiv für Kriminologie Bd. 51 (1931) S. 127. se Alsberg im Archiv für Kriminologie Bd. 82 S. 117, 130 ff. s1 Jastrow S. 215.

Bewertung von Aussagen, die in einem Punkt erweislich unrichtig sind 157 oft in bester Absicht. Aber der vermeintlich gute Zweck kann das nicht nur inkorrekte, sondern auch höchst gefährliche Verfahren nicht rechtfertigen.

Eingrenzen der Fehlerursache. Soweit die unrichtige Angabe des Zeugen auf Unzulänglichkeiten zurückzuführen ist, die sich nur innerhalb eines engeren Bereichs auswirken, wird dadurch die Brauchbarkeit von Wahrnehmungen, die außerhalb dieses Gebiets liegen, nicht aufgehoben: Der Zeuge schätzt die vom Beschuldigten kurz vor dem Autounfall eingehaltene Geschwindigkeit auf mindestens 80 km/st. Aus den Begleitumständen (zahlreiche Schlaglöcher, kurvenreiche Strecke, vereiste Fahrbahn) läßt sich aber mit Sicherheit schließen, daß die Geschwindigkeit keinesfalls mehr als 60 km/st betragen haben kann. Der Zeuge hat sich also ohne Zweifel verschätzt. Trotzdem können seine sonstigen Bekundungen z. B. darüber, ob der Beschuldigte mit seinem Wagen die rechte Straßenseite einhielt oder ob er die Linkskurve vorschriftsmäßig ausgefahren hat, durchaus zutreffend sein. Das Schätzen von Geschwindigkeiten erfordert einige Übung, zumal wenn jemand als Fußgänger die Fahrweise von Kraftwagen beobachtet. Wenn der Zeuge sich diesen Anforderungen nicht gewachsen gezeigt hat, so brauchen deshalb nicht auch seine übrigen Wahrnehmungen unzuverlässig zu sein. Ähnliche Erwägungen sind maßgebend, wenn der Fehler darauf beruht, daß der Zeuge für die richtige Auffassung bestimmter Umstände nicht die nötigen technischen Kenntnisse besaß, während die Wahrnehmungsvoraussetzungen bezüglich der sonstigen Einzelheiten günstigere waren, weil diese innerhalb seines täglichen Erfahrungsbereichs lagen. Unrichtigkeiten in einem einzelnen Punkt, die unter den obwaltenden Umständen auch einem gewissenhaften Zeugen leicht unterlaufen können, ohne daß ihm daraus ein Vorwurf zu machen wäre, beeinträchtigen seine sonstige Glaubwürdigkeit im allgemeinen nicht; so etwa gewisse Fehler in den Zeitangaben, wenn der Aussagende keine Uhr zur Verfügung gehabt hat oder keinen Anlaß hatte, auf die Uhr zu sehen. Das gleiche gilt für ein Fehlgreifen bei Entfernungsangaben, das sich im Rahmen der üblichen Ungenauigkeiten hält oder sonst verständlich erscheint.

Unrichtigkeiten bezüglich eines Nebenumstands. Hat der Zeuge auf eine bestimmte Einzelheit augenscheinlich keine sonderliche Obacht gegeben, so wird ein Fehler in dieser Hinsicht seine Verläßlichkeit im übrigen nicht in Frage stellen, wenn angenommen werden kann, daß der Hauptvorgang gleichwohl richtig aufgefaßt worden ist. Manchmal hat gerade das besondere Interesse, das der Aussagende dem Hauptvorgang entgegenbrachte, die Unrichtigkeit bezüglich des Nebenpunkts verursacht.

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Die Zeugenvernehmung

Bei kleinlicher Bewertung von Fehlern, die der Aussagende mit Bezug auf Einzelheiten macht, die ihm wegen ihrer Belanglosigkeit leicht entgehen konnten, läuft man Gefahr, die Wahrheit zu verfehlen. Oft kann auf die Frage, ob das Zimmer, in das die Zeugin ihrer Darstellung nach vom Beschuldigten gelockt worden war, tapeziert oder nur gestrichen gewesen ist bzw. ob sie in diesem Zimmer auf einer Couch oder auf einem Sofa gesessen hat, auch von einer umsichtigen Beweisperson eine brauchbare Antwort nicht erwartet werden. Im Kreuzverhör der englischen Gerichte waren ehemals solche verfänglichen Fragen sehr beliebt. Gab der Zeuge sich bei solchen Detailangaben eine Blöße, so wurde unter Umständen ziemlich rasch bewußte Falschbekundung und völlige Unzuverlässigkeit des Zeugen angenommen ohne genauere Prüfung, ob nicht auch harmlose Gründe zu dem fraglichen Fehler geführt haben könnten. VerständLiche Ursachen für kleinere FehlLeistungen. Heute muß allenthalben mehr als früher berücksichtigt werden, daß viele unserer Zeugen durch die Fülle der von allen Seiten auf sie zukommenden Eindrücke überfordert sind und daß ihnen vielfach jene innere Sammlung und Ausgeruhtheit fehlt, die zur präzisen Auffassung und Wiedergabe unwichtiger Nebenumstände nötig sein würde. Schon das allein zwingt zur Zurückhaltung mit negativen Schlußfolgerungen, wenn das Versagen des Zeugen in einem Einzelpunkt bewertet werden soll. Zudem kann, worüber sich der Vernehmende nicht immer klar ist, mit pedantischen Fragen nach gleichgültigen Einzelheiten mitunter auch der beste Zeuge regelrecht hineingelegt werden. Solche Fragen sind zuweilen nur geeignet, die Grundlage für irreführende Beweisargumente zu schaffen: Erklärt der Zeuge, daß er den fraglichen Nebenumstand nicht bemerkt habe, so kann meist mit einem Schein des Rechts behauptet werden, daß er ihn zur Verfügung haben müßte, wenn sich der Vorgang wie von ihm angegeben zugetragen haben soll. Sucht sich dagegen der Zeuge aus Furcht vor diesem vielfach gar nicht durchgreifenden Argument auf den von ihm erfragten Nebenumstand zu besinnen und macht er dabei auf Grund von Erinnerungstäuschung oder Selbstsuggestion eine verkehrte Angabe, so kann das möglicherweise gleichfalls als Vorwand genommen werden, um seine ganze Darstellung als unbrauchbar abzulehnen. Nicht selten führt auch das Bestreben des Zeugen, sich mit seiner Ansicht gegen Fragen der Anwälte, die ihm spitzfindig vorkommen, durchzusetzen, dazu, daß er sich über Nebenumstände, die ihm seinerzeit unwichtig erschienen, ohne sichere Kenntnis mehr aufs Geratewohl hin äußert und dabei Fehler macht. Auch bei Zeugen, die ihre Aufgabe ernst nehmen, können solche Tendenzen vorliegen, zumal wenn ihnen

Bewertung von Aussagen, die in einem Punkt erweislich unrichtig sind 159 verfängliche Fragen gestellt werden und sie ihrem Standpunkt trotz der ihnen bereiteten Schwierigkeiten Geltung verschaffen wollen.

Strenge Bewertung in besonderen Fällen. 1. Stark beeinträchtigt wird die Beweiskraft der Zeugenaussage, wenn Nebenumstände unzutreffend dargestellt worden sind, über die der Aussagende sich nicht gut irren konnte, weil dann regelmäßig die Annahme bewußter Unwahrheit naheliegt: Die Zeugin behauptet mit großer Sicherheit, daß sie auf einer bestimmten Bank im Park gesessen habe, als ihr (angeblich) ein Unbekannter ihre Handtasche wegriß. Hier würde es beträchtlich gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin sprechen, wenn sich herausstellt, daß zur fraglichen Jahreszeit eine Bank dort noch gar nicht aufgestellt gewesen ist. 2. Wenn die Darstellung der Beweisperson anderweit in keiner Weise bestätigt ist und sonstige Erprobungsmöglichkeiten fehlen, ist notwendigerweise eine gewisse Strenge bei der Bewertung von Unrichtigkeiten in Nebendingen angebracht. Kann in einem solchen Fall der erwiesene Fehler vielleicht auf einem Versehen des Zeugen beruhen, vielleicht sich aber auch daraus erklären, daß der Zeuge einen fingierten Vorgang schildert und sich infolgedessen nicht im Einklang mit der Wirklichkeit zu halten vermag, so wird das seine Position oft schon entscheidend schwächen. Nachsicht in der Beurteilung ist häufig vor allem dann unangebracht, wenn der Vernehmende mangels anderer Handhaben zur Überprüfung der Zuverlässigkeit einen Nebenumstand, über den der Zeuge eigentlich Bescheid wissen müßte, durch eindringliche Vorhalte ausdrücklich zum Prüfstein für die Aussagegewissenhaftigkeit des Zeugen erhoben hat und sich ergibt, daß dessen Bekundungen über diesen Nebenpunkt trotz wiederholter gegenteiliger Versicherung unzutreffend sind. 3. Ein strenger Maßstab muß bei der Bewertung auch dann angelegt werden, wenn die Beweisperson ohnehin stark verdächtig erscheint und der Fehler im Grunde nur die schon bestehenden Bedenken gegen ihre Vertrauenswürdigkeit bestätigt. 4. Trotz dieser Hinweise bleiben in der Praxis nicht selten Zweifel übrig, die aus den Einzelumständen gelöst werden müssen. Erklärt die Zeugin, die vom Beschuldigten vergewaltigt worden sein will, dieser habe, ehe er sich ihr näherte, die Tür abgeschlossen, und stellt sich heraus, daß die Tür gar kein Schloß hat, sondern nur einen Riegel, der vorgeschoben werden kann, so wird die in der Aussage enthaltene Unrichtigkeit zunächst sicher Bedenken erregen. Doch müssen diese auf ihre Berechtigung von Fall zu Fall geprüft werden. Bisweilen läßt sich

Die Zeugenvernehmung

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nur unter Heranziehung anderer Beweiselemente klären, ob Falschbeobachtung einer unwesentlichen Einzelheit infolge der bei der Zeugin vorhanden gewesenen Erregung vorliegt oder ob etwa die unrichtige Angabe darauf schließen läßt, daß der ganze Vorgang frei erfunden ist.

Mehrfache Unrichtigkeiten. Wenn sich ergibt, daß die Bekundungen des Zeugen nicht nur in einem Einzelpunkt, sondern in verschiedener Hinsicht unzutreffend sind, so wird sich das meist auch auf die Bewertung seiner übrigen Angaben nachteilig auswirken. Je größer die Zahl der sicher festgestellten Unrichtigkeiten ist und je mehr sie seine allgemeine Verläßlichkeit in Frage stellen, desto geringer wird das Vertrauen sein, das man seiner Gesamtdarstellung entgegenbringen kann58 • Andererseits braucht selbst bei mehrfachen Fehlleistungen der Rest der Bekundungen nicht schlechthin wertlos zu sein. Wenn die falsche Angabe durch fehlerhafte Wahrnehmung zustande kam, läßt sich allerdings sagen, daß über Momente, deren richtige Auffassung dem Zeugen noch schwerer fallen mußte, von ihm erst recht keine brauchbare Darstellung zu erwarten ist 59 • Trotzdem kann er unter Umständen imstande sein, über Einzelheiten leidlich zuverlässig zu berichten, deren zutreffende Beobachtung ihm den Umständen nach keine sonderlichen Schwierigkeiten machen konnte. Auch Fehler, die ein wichtiges Detail betreffen, mindern die Vertrauenswürdigkeit des Zeugen in anderen Punkten manchmal nicht; so etwa wenn die Unrichtigkeit sich auf Beobachtungen bezieht, die spezielle Fähigkeiten erforderten, welche der Zeuge nicht besaß, während ihm die übrigen Wahrnehmungen leichtfallen mußten. Wo der Aussagende nicht in der Lage war, den Sinn des Gesamtvorgangs zu begreifen, kann er mitunter doch eine Reihe wichtiger Einzelheiten zutreffend wahrgenommen haben.

Bewußt falsche Angaben. Wenn der Zeuge in einem Punkt nachgewiesenermaßen gelogen hat, wird man seine übrigen Bekundungen besonders kritisch betrachten müssen. Oft muß dann damit gerechnet werden, daß er bezüglich anderer Einzelheiten ebenfalls von der Wahrheit abgewichen ist. Aber auch hier läßt sich nicht sagen, daß wegen bewußt unrichtiger Angaben in einem bestimmten Punkt die ganze Aussage wertlos sein müßte. Wenn als Beweggrund für eine bewußte Unwahrheit des Zeugen dessen wirtschaftliches Interesse am Ausgang der Sache anzusehen ist und sich ergibt, daß diese Rücksicht auf sein Interesse nur innerhalb eines eng begrenzten, näher bestimmbaren Bereichs wirksam geworden as Wigmore S. 385. 1e

Wigmore S. 567.

Bewertung von Aussagen, die in einem Punkt erweislich unrichtig sind 161 sein kann, so sind Einzelangaben, die außerhalb der festgestellten Grenze liegen, möglicherweise vertrauenswürdig80• Manchmal schmückt die Beweisperson in naiver und im Grunde harmloser Weise eine wahre Begebenheit hinsichtlich der Einzelumstände mit Unwahrheiten aus, um ihr dadurch mehr Glaubhaftigkeit zu verleihen. Dem Verfasser ist ein Prozeß in Erinnerung, in dem ein ehemaliger Soldat wegen seiner beim Militär erlittenen Handverletzung die Zuerkennung einer Rente erstrebte. Er hatte sich die Beschädigung, wie die Ermittlungen später einwandfrei ergaben, im Dienst, und zwar beim Holzhacken für die Kompanie zugezogen. Da ihm dieser Sachverhalt jedoch allzu banal und unrühmlich vorkam, erfand er einen feindlichen Angriff mit heftiger Beschießung, durch den die Handverletzung verursacht worden sein sollte. Erst als bestimmte Angaben der Auskunftsperson Bedenken erregten und daraufhin spezielle N achforschungen angestellt wurden, ergab sich der wahre Sachverhalt. Hier wäre es nicht gerechtfertigt, wegen der vom Aussagenden vorgebrachten Lügen, wenn deren Beweggrund und Reichweite sich genau bestimmen läßt, ohne weiteres die ganze Darstellung zu verwerfen. Zusammenfassung. Welche Bewertung ein Fehler des Zeugen verdient, muß von Fall zu Fall erwogen werden. Mitunter beeinträchtigt eine unrichtige Angabe die Vertrauenswürdigkeit des Aussagenden, obwohl dieser sofort gewisse unverfänglich klingende Entschuldigungen bei der Hand hat. Andererseits darf der Beurteiler dem Zeugen trotz bewußt unwahrer Angaben in einem Punkt in anderer Hinsicht Glauben schenken, wenn die Ursache für die Unwahrheit in speziellen Umständen lag, die den Wert der sonstigen Bekundungen des Zeugen nicht in Frage stellen. Der Neuling kommt erst nach und nach zu einem sicheren Empfinden für Abwägungen dieser Art. Wer zu strenger Bewertung von Aussagefehlern neigt, wird besonderen Anlaß haben, jeweils zu überlegen, ob nicht die Ursache der Falschbekundung begrenzter Natur ist, so daß vom Zeugen im übrigen zutreffende Sachangaben erwartet werden können.

Wer sich dagegen gewöhnt hat, unrichtige Angaben auf die leichte Achsel zu nehmen, sollte sich in dieser Hinsicht genau kontrollieren. Die Praxis hat bei uns manchmal auch für offensichtlich belastende Falschaussagen jederzeit ein Wort der Entschuldigung bereit, und erschwert sich dadurch oft genug die Aufklärung des Falles. Stets hat der Sachbearbeiter sich bei der Würdigung von Fehlleistungen der Beweisperson ausschließlich von der Rücksicht auf die Wahrheitsfindung leiten lassen und darf nicht dulden, daß Erwägungen über eo Moore § 19, Gorphe S. 358. 11 DOhriDI

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Die Zeugenvernehmung

die angemessene rechtliche Lösung in die Tatsachenermittlung eingreifen und diese verfälschen.

Beweiswürdigung bei wechselnden Angaben des Zeugen Eine Abart der eben behandelten Kategorie von Fällen liegt vor, wenn der Aussagende s e l b s t von seinen früheren Angaben Abstand nimmt und eine neue Darstellung gibt. Es fragt sich dann, welche der unterschiedlichen Bekundungen Glauben verdient bzw. ob etwa beide unzutreffend sind und die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen ihnen gesucht werden muß. Die Bekundungen des Zeugen werden nicht schon deshalb schlechthin wertlos, weil er bei seinen Angaben geschwankt hat. Allerdings hat die Beweisperson dann mindestens einmal (bewußt oder unbewußt) etwas Unrichtiges ausgesagt. Doch kann der Anlaß dazu ganz harmloser Natur oder doch von der Art sein, daß eine wesentliche Minderung der Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht eintritt.

Mögliche Ursachen für eine Aussageänderung. 1. Manchmal ist der Zeuge sich, ohne daß ihn deshalb der Vorwurf der Pflichtverletzung träfe, erst auf Grund späteren Nachdenkens darüber klargeworden, daß eine seiner Angaben der Berichtigung bedarf61 • Dies kann namentlich dann der Fall sein, wenn ihm bei seiner ersten Anhörung unvermutete Fragen gestellt worden sind, die ihrer Art nach mehr Überlegungszeit erforderten, als im Termin zur Verfügung stand. Vielleicht konnten dem Aussagenden auch erst bei der nochmaligen Vernehmung Vorhalte gemacht werden, die seine Erinnerung neu aktivierten und ihn zur Berichtigung seiner früheren Mitteilungen veranlaßten. 2. Bisweilen ändert sich der Inhalt der Aussage in gewisser Weise auch dadurch, daß affektive Regungen, die zu Anfang mitgewirkt hatten, bei der späteren Vernehmung abgeklungen sind; so etwa, wenn der Schock, den der Autounfall beim Zeugen hervorgerufen hat, vergangen ist oder der Bestohlene den ihm entwendeten Gegenstand inzwischen zurückerhalten hat und sich infolgedessen zu ruhigerer Betrachtung veranlaßt fühlt. 3. Hat sich die öffentliche Meinung anfangs sehr über das Verhalten des Beschuldigten erregt und dadurch die Aussage des Zeugen beeinflußt, so kann, wenn die Volksstimmung später umschlägt, dies dazu führen, daß der Zeuge seine Angaben entsprechend modifiziert. 4. Wenn die Beweissituation seit der ersten Vernehmung sich gewandelt hat oder der Zeuge dies vermutet, so versucht er bei der späu RGZ vom 8. 12. 1914: Recht Jg. 1915 Nr. 594; Sachs S. 46 ff.

Beweiswürdigung bei wechselnden Angaben des Zeugen

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teren Befragung nicht selten, seine Aussage dem Fortgang der Ermittlungen anzupassen (S. 141) 62 • Der gleiche Vorgang kann sich auch im Laufe ein und derselben Zeugenvernehmung bzw. im Rahmen eines einzigen Gerichtstages vollziehen. Besonders deutlich erkennbar ist das, wenn der Zeuge in der Hauptverhandlung seine Aussage gemacht hat, dann den Vernehmungen der anderen Beweispersonen beiwohnt und dabei den Wechsel der Prozeßlage miterlebt. Wird er darauf, wie es bisweilen vorkommt, zum Schluß nochmals vorgerufen und abschließend befragt, so erklären sich Änderungen, die er nunmehr an seiner bisherigen Darstellung vornimmt, meist daraus, daß er inzwischen besser als anfangs über die Gesamtsituation im Bilde ist und sich entsprechend umzustellen versucht.

Welche der verschiedenen Darstellungen ist die zutreffende? Manchmal ergibt sich das, wenn erst einmal der Grund für die Aussageänderung klargestellt worden ist, ganz von selbst. In anderen Fällen läßt sich die der Wahrheit entsprechende Version dadurch ermitteln, daß der Beurteiler das Erfahrungswissen umsichtig verwertet und das sonstige Beweismaterial in die Betrachtung einbezieht. Mitunter sind hier eindringende psychologische Überlegungen nötig: 1. Wenn angenommen werden kann, daß eine der beiden vom Zeugen gegebenen Darstellungen der Wirklichkeit entspricht, wird oft die zuletzt gegebene die Vermutung der Richtigkeit für sich haben; insbesondere dann, wenn der Zeuge anfangs offenbar mit der Wahrheit zurückgehalten hat und erst schrittweise durch Vorhalte zu einer Schilderung genötigt worden ist, die mit den sicher festgestellten Einzelumständen und den Erfahrungsregeln in Einklang steht. Häufig ist diese letzte Bekundung aus einem Kreuzfeuer von Rückfragen hervorgegangen, so daß sie bisweilen schon aus diesem Grund als die glaubwürdigere angesehen werden kann. Aber eine schematische Anwendung des Grundsatzes, daß die spätere Darstellung im allgemeinen vertrauenswürdiger sei, würde oftmals zu unrichtigen Ergebnissen führen; sie ist daher auch von der Rechtsprechung abgelehnt worden 63 • 2. Liegt zwischen den Vernehmungen, in welchen die sich widersprechenden Angaben enthalten sind, längere Zeit, dann ist vielfach anzunehmen, daß die Erinnerungsfähigkeit bei der früheren Stellungnahme noch besser war als bei der späteren, was in gewisser Weise dafür spricht, 62 Gelegentlich finden sich Hinweise darauf schon im älteren Schrifttum: Brauer, Über die Unzuverlässigkeit der direkten Zeugenbeweise: Annalen der deutschen und ausländischen Kriminalrechtspflege Bd. 14 (1841) S. 1 ff.; M. F. J. Müller, Maximen zur Würdigung der Zeugenaussagen im Zivil- und Kriminalverfahren (Trier 1842) S. 69 ff. 83 RG Recht Jg. 1914 Nr. 1411.

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Die Zeugenvernehmung

daß die frühere Darstellung der Wahrheit näher kommt. Doch ist dies nur einer der für die Beurteilung in Betracht kommenden Gesichtspunkte: Ergibt sich, daß der Zeuge nach der ersten Abhörung infolge von Gerüchten und Pressenachrichten starken Suggestionen in einer bestimmten Richtung ausgesetzt gewesen ist und diese sich in der Aussageänderung widerspiegeln, so kann dies ebenfalls die Annahme nahelegen, daß die frühere Schilderung, die von einseitigen Suggestionen noch unbeeinflußt war, das Richtige trifft oder doch mehr für sich hat als die spätere. 3. Daß bei mehrfach wiederholter Vernehmung über den gleichen Sachverhalt die Erinnerung an den Vorgang selbst ständig weiter zurücktritt und durch die Erinnerung des Zeugen an die bei früheren Vernehmungen gepflogenen Erörterungen ersetzt wird, war bereits S. 101 dargelegt worden. Die Reproduktion der ur s p r ü n g 1 ich e n Wahrnehmungen wird unter solchen Umständen für den Zeugen immer schwieriger. Man hat daher gelegentlich sogar den Satz aufstellen wollen, daß die erste Schilderung in der Regel die verläßlichere sei 84 • Aber weder dieser noch der umgekehrte Grundsatz kann allgemeinere Geltung beanspruchen. Die Chance, daß der Aussagende den Sachverhalt zutreffend wiedergibt, ist bei der zweiten Vernehmung nicht schlechthin ungünstiger als bei der ersten. 4. Bei der Ermittlung, welche derverschiedenen Darstellungen zutrifft, ist nicht selten aufschlußreich, wie die Abstandnahme des Zeugen von seinen früheren Angaben und das Zustandekommen einer abweichenden Darstellung vor sich ging. Wenn er die Unrichtigkeit selbst korrigiert, ehe er dazu angeregt worden ist, oder wenn er sich auf kurzen Vorhalt hin bereitwillig verbessert und sich dabei in glaubhafter Weise mit einem verständlichen Versehen entschuldigen kann, so wird oft anzunehmen sein, daß die letzte Aussage der Wahrheit entspricht, zumal wenn sie auch sonst einige Wahrscheinlichkeit für sich hat.

Der Zeuge gibt zu, gelogen zu haben und verspricht, nunmehr die Wahrheit zu sagen. Schwierigkeiten kann die Würdigung bereiten, wenn

der Zeuge unumwunden erklärt, daß er bisher auf Grund bestimmter Zweckerwägungen bewußt die Unwahrheit gesagt habe und jetzt den wahren Sachverhalt mitteilen wolle. Es kommt dann in der Hauptsache darauf an, inwiefern das von ihm angegebene Motiv für die frühere Falschaussage glaubhaft erscheint und angenommen werden kann, daß für die neue Darstellung nicht etwa wiederum reine Nützlichkeitserwägungen maßgebend gewesen sind, sondern daß der Wille zur Wahrheit die Oberhand bekommen hat: 84

A. HeUwig, Psychologie S. 234.

Obereinstimmung und Gegenslitz:Uchkelt in den AUllsagen

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Ein Angestellter hat im Prozeß seines Chefs zunächst zu dessen Gunsten ausgesagt, und zwar- wie er später erklärt- weil zu befürchten war, daß er sonst seine Stellung verlieren werde. Inzwischen hat er von sich aus eine andere günstige Stellung angenommen. Wenn er nunmehr seine früheren Bekundungen mit Rücksicht auf die bei ihm vorhanden gewesene Zwangslage widerruft und eine neue Sachdarstellung gibt, dann spricht immerhin einiges für deren Richtigkeit, sofern die Angaben des Zeugen über die für seine ursprüngliche Stellungnahme maßgebend gewesenen Gründe zutreffen. Ist zudem der persönliche Eindruck des Zeugen und die Art, wie er seine neue Darstellung vorbringt, vertrauenerweckend und wird ihre Richtigkeit vielleicht auch noch durch das sonstige Beweismaterial nahegelegt, dann verstärkt das weiterhin die Annahme, daß die neue berichtigte Aussage der Wahrheit entspricht. Zweifelhafter ist die Würdigung bereits, wenn ein Belastungszeuge den Beschuldigten zunächst in Schutz nimmt, ihn später aber unter Abstandnahme von seiner Aussage belastet und erläuternd hinzufügt, er habe den mit ihm befreundeten Beschuldigten zunächst schonen wollen, aber inzwischen gemerkt, daß dieser "eine solche Rücksichtnahme nicht verdiene". Der Beurteiler wird einen solchen Frontenwechsel mit einiger Zurückhaltung hinnehmen, solange der Beweggrund dazu nicht sehr viel genauer umschrieben und glaubhaft gemacht worden ist. Selbst wenn der Zeuge das in leidlich zufriedenstellender Weise getan hat, muß weiter erwogen werden, ob er jetzt, nachdem der Beschuldigte ihn augenscheinlich schwer enttäuscht hat, noch zu einer objektiven Aussage imstande ist. Die Gefahr liegt zum mindesten nahe, daß der Zeuge, dessen Bekundungen bisher offenbar durch freundschaftliche Zuneigung zum Beschuldigten bestimmt gewesen sind, auf Grund seiner nunmehrigen Erbitterung ins Gegenteil umschlägt und zum Nachteil des Beschuldigten von der Wahrheit abweicht. Uberelnstlmmung und Gegensfitzllchkeit in den Aussagen verschiedener Zeugen

Das Problem. Bisher ist nur davon gesprochen worden, wie die Bekundung eines Zeugen in sich, lediglich unter Heranziehung des Erfahrungswissens und der Glaubwürdigkeitsanzeichen zu prüfen ist, die sich aus dem Hergang der Vernehmung und dem persönlichen Eindruck des Aussagenden ergeben. Ein weiteres Kontrollmittel stellt der Vergleich der Aussage mit den Angaben anderer Zeugen über den gleichen Punkt dar. Der Wahrheitsforscher überschreitet dabei die Grenze einer sich in engerem Rahmen vollziehenden isolierten Prüfung.

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Die Zeugenvernehmung

Notwendigkeit einer theoretischen Durchdenkung. Jeder, der em1ge Zeit im Bereich der Tatsachenfeststellung gearbeitet hat, verfügt über gewisse Erfahrungen in dieser Hinsicht, die er gegebenenfalls nutzbringend anwenden wird. Aber sie stellen nur eine Art Rohmaterial dar, das mehr oder minder lückenhaft und in dem nur unvollkommen verarbeiteten Zustand mit Mängeln behaftet ist, die seine Brauchbarkeit beeinträchtigen. Eine systematische, nach höheren Gesichtspunkten ausgerichtete Darlegung ist daher nicht zu entbehren. Erst eine prinzipielle Erörterung der Grundfakten, mit denen der Wahrheitsforscher in solchen Fällen immer wieder zu arbeiten hat, ermöglicht es ihm, der Schwierigkeiten Herr zu werden, die jeder kompliziertere Sachverhalt mit sich bringt. Vorteile, die das Vorhandensein mehrerer Zeugen bietet. Wenn viele Zeugenbekundungen für den gleichen Umstand zur Verfügung stehen, so ist das für die Wahrheitsforschung in aller Regel ein Vorzug, ganz gleich ob die Angaben übereinstimmen oder voneinander abweichen. Eine Mehrheit von Auskunftspersonen macht eine wirksamere Kontrolle möglich, als wenn alles auf den Angaben eines einzigen Zeugen steht. Der Vergleich der verschiedenen Darstellungen vermittelt vielfach neue Erkenntnisse und erleichtert die Erforschung des Sachverhalts, selbst wenn einige Aussagen von sog. verdächtigen Zeugen stammen und sogar dann, wenn sämtliche Bekundungen von zweifelhaftem Wert sind. Kann der Grund für die vorhandenen Differenzen aufgeklärt und die Unstimmigkeit anschließend im Wege kritischer Betrachtung bereinigt werden, dann bilden solche nicht genau zusammenpassenden Darstellungen unter Umständen eine solidere Grundlage für die Rekonstruktion des Sachverhalts als Bekundungen, die völlig miteinander übereinstimmen. Kleine Abweichungen in den Einzelheiten können die Vertrauenswürdigkeit eines Zeugnisses sogar stärken. Sie deuten nicht selten darauf hin, daß der Zeuge selbständig beobachtet und verarbeitet hat und daß eine Verabredung mit anderen Aussagepersonen nicht wahrscheinlich ist. Wenn z. B. mehrere Zeugen in ihren Angaben nicht nur sachlich völlig übereinstimmen, sondern sich sogar in ihren Redewendungen decken und bei keinem von ihnen Zeichen einer geistigen Unabhängigkeit vorhanden sind, muß stets damit gerechnet werden, daß die Auskunftspersonell sich entweder besprochen haben oder unbewußt von dritter Seite her in gleicher Weise beeinflußt worden sind. Beim Vorliegen gewisser Inkongruenzen dagegen braucht der Beurteiler nicht jene trügerische Übereinstimmung zu fürchten, die unter Umständen schwer zu erkennen ist und daher nicht selten zu falschen Tatsachenfeststellungen führt.

Obereinstimmung und Gegensätzlichkeit in den Aussagen

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Obereinstimmung mehrerer Aussagen als Indiz für deren Richtigkeit? Die Frage, ob Aussagen verschiedener Zeugen dadurch, daß sie inhaltlich gleichlauten, sich gegenseitig verstärken, ist generell nicht leicht zu beantworten. Die ältere Beweislehre, die das vielfach als selbstverständlich annahm, stellte damit einen Grundsatz von zweifelhaftem Wert auf. Es gehört zu den erst in neuererZeitwiederentdeckten Einsichten, daß auch die übereinstimmenden Angaben wahrheitsliebender Zeugen falsch sein können, wenn die Bedingungen für das Zustandekommen der Aussagen für alle in gleicher Weise irreführend waren. Man denke etwa daran, daß alle Zeugen von dem gleichen ungünstigen Standort her beobachtet oder daß sie alle infolge einer einseitigen gefühlsmäßigen Einstellung den Vorgang unrichtig aufgefaßt haben: In einer Strafsache wegen angeblicher unzüchtiger Handlungen des Beschuldigten an Schulmädchen hatte das Untergericht die "auffällige" Übereinstimmung der jugendlichen Zeuginnen als Zeichen dafür gewertet, daß deren Angaben zutreffend seien. Das Reichsgericht erklärte dagegen mit Recht, diese Art von Gleichklang lasse eher auf gegenseitige Beeinflussung der Kinder untereinander schließen65 • Der Beurteiler sollte sich bei passenden Gelegenheiten daran erinnern, daß die alte und in gewisser Weise bewährte Regel, nach der mehrere übereinstimmende Aussagen sich gegenseitig zu verstärken pflegen, in manchen Fällen nicht zutrifft. Zuweilen ergibt sich aus der Tatsache, daß solchen gleichförmigen Bekundungen ein sicher erwiesener Umstand absolut entgegensteht, eindeutig, daß sie alle falsch sein müssen und mithin trotz ihrer Einstimmigkeit keinen Wahrheitswert besitzen.

Milieubedingte Gleichförmigkeit der Bekundungen. Wenn bei der Aussage ihrer Art nach gewisse Wertungen mitsprechen, die erfahrungsgemäß leicht durch die soziale Umwelt, in der die Beweisperson lebt, beeinflußt werden, so kann eine Übereinstimmung mehrerer Zeugenbekundungen schon dadurch zustande kommen, daß die Nachrichtenträger alle der gleichen sozialen Umgebung entstammen. Ihre Stellungnahmen können dadurch, daß sie von gemeinsamen Lebensanschauungen ausgehen, ein sehr einheitliches Gepräge erhalten, ohne daß sie deshalb der Wirklichkeit zu entsprechen brauchen. In solchen Fällen kann nicht ohne weiteres von der Übereinstimmung der Aussagen darauf geschlossen werden, daß sie zutreffend sind. Denn der Zusammenklang beruht dann weniger auf gleichartigen Wahrnehmungen der Zeugen als auf der Tatsache, daß diese ihre Eindrücke in derselben, unter Umständen stark voreingenommenen Weise aufgefaßt und verarbeitet haben. Die so zustande gekommene gleichförmige Darstellung kann zu65 Urteil vom 11. 2. 1943 (3 D 589/42 unveröffentlicht) und dazu Peters in der Festschrift für E. Mezger S. 489.

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Die Zeugenvernehmung

treffend sein, aber genausogut infolge einseitiger Ausrichtung den Wahrheitsforscher in die Irre führen. Mehr Aussicht auf ein der Wirklichkeit entsprechendes Ergebnis ist jedenfalls vorhanden, wenn Zeugen trotz unterschiedlicher sozialer Umwelt und trotz eines abweichenden Bildungsniveaus übereinstimmende Angaben machen.

Wachsamkeit, die den Umständen angemessen ist. Im juristischen Alltag wird bei gleichlautenden Bekundungen die Frage, in welcher Weise die Einstimmigkeit entstanden sein mag, noch allzuoft vernachlässigt. Der Beurteiler läßt sich bei der Würdigung vielfach unbewußt von dem Gedanken leiten, daß solche Aussagen schon allein deshalb, weil sie sich decken, zutreffen müßten, ohne daran zu denken, daß der Gleichklang auch Ursachen rein äußerlicher Art haben kann, die in keiner Weise eine zusätzliche Sicherheit geben. Die Suche nach den möglichen Ursachen für gleichlautende Bekundungen braucht nicht forciert zu werden, wenn auch sonst starke Gründe für die Wahrhaftigkeit der darin enthaltenen Angaben vorhanden sind und somit viel dafür spricht, daß der Grund für die Übereinstimmung gerade in ihrer sachlichen Richtigkeit liegt. Mit besonderer Sorgfalt muß sie jedoch dann betrieben werden, wenn weder Sachindizien noch sonstige Beweise vorhanden sind, die zur Kontrolle herangezogen werden können, wenn also die Ermittlung des wahren Sachverhalts fast allein auf den Zeugenaussagen beruht.

Würdigung widersprechender Angaben im allgemeinen. Wenn zwei Zeugenaussagen inhaltlich differieren, neigt der Beurteiler manchmal gewohnheitsmäßig zu der Annahme, daß einer der Zeugen gelogen haben müsse. Aber diese Art der Erwägung ist allzu einseitig. Sie berücksichtigt zu wenig, daß außer bewußter Unwahrheit noch mancherlei andere Ursachen für unterschiedliche Bekundungen denkbar sind. Oft entsteht ein Widerspruch überhaupt nur dem äußeren Anschein nach. Bei genauerem Zusehen löst er sich in Nichts auf. Es ist daher zunächst zu prüfen, ob sich die Differenzen durch eine umsichtige, die individuellen Momente berücksichtigende Betrachtung klären lassen, ohne daß dabei der gute Wille der beteiligten Beweispersonen und ihre Fähigkeit zu sachgemäßen Angaben in Frage gezogen wird. Wegen der Häufigkeit kleinerer 'Unterschiede zwischen mehreren Zeugenaussagen ist fast in jeder Sache eine Prüfung nötig, inwieweit sich die Abweichungen etwa miteinander in Einklang bringen lassen.

Leicht auflösbare Disharmonien. Manche Differenzen finden ihre natürliche Erklärung darin, daß die Zeugen das Geschehen unter verschiedenem Blickwinkel beobachtet haben, oder darin, daß der eine von ihnen zugegebenermaßen nur mit halber Aufmerksamkeit bei der Sache

Obereinstimmung und Gegensll.tzlichkeit in den Aussagen

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war, während der andere konzentriert beobachtet hat. Wenn bei der Untersuchung eines Schiffsunglücks die Mitglieder beider Besatzungen behaupten, daß ihr Schiff vor dem Zusammenstoß ein Schallzeichen gegeben habe, aber in Abrede stellen, daß vom anderen Schiff ein Lautsignal gegeben worden ist, so kann der Widerspruch sich möglicherweise daraus erklären, daß beide Schiffe zu gleicher Zeit in der Weise Schallzeichen gegeben haben, daß diese sich überdeckten. Wenn umgekehrt feststeht, daß ein bestimmtes Lautsignal gegeben wurde, aber die beteiligten Schiffsbesatzungen beide nicht wahrhaben wollen, daß es von ihrem Schiff stammte, so muß erwogen werden, ob das Signal nicht etwa von einem dritten Fahrzeug gekommen sein kann, das sich in der Nähe befand68 • Zuweilen erklären sich die Unstimmigkeiten daraus, daß die voneinander abweichenden Angaben sich auf verschiedene Zeiträume beziehen, ohne daß dies sogleich erkennbar ist. Wenn der Zeuge, der den Beschuldigten von 1927 bis 1932 unter Augen gehabt hat, bekundet, daß dieser der kommunistischen Partei angehört habe, und ein anderer Zeuge, der ihn erst 1934 kennengelernt hat, angibt, daß der Beschuldigte Nationalsozialist war, so braucht sich beides nicht zu widersprechen, falls es denkbar ist, daß der Beschuldigte um das Jahr 1933 herum seine politische Gesinnung geändert hat. Bestehen in einem solchen Fall gegen den Wahrheitswillen der beiden Zeugen keine Bedenken und braucht auch mit Erinnerungsfehlern nicht gerechnet zu werden, so kann unter Umständen schon eine naheliegende M ö g 1 ich k e i t , daß die Sache sich so verhalten haben könnte, einen Fingerzeig für die richtige Wertung des Widerspruchs geben. Harmonisierung der Abweichungen nur in gewissen Grenzen. Der Beurteiler muß wissen, wie weit er bei seinen Bemühungen um eine harmlose Auflösung von Unstimmigkeiten gehen darf. Wenn der Ermittlungsbeamte, der Richter, der Verteidiger intensiv auf die Herstellung des Belastungs- oder des Entlastungsbeweises hinarbeitet, kommt er oft in Gefahr, in dieser Hinsicht zuviel zu tun. Der Strafverteidiger wird verständlicherweise vor allem dann, wenn die Entlastungszeugen sich widersprechen, die zwischen ihren Angaben bestehenden Unstimmigkeiten als geringfügig hinzustellen versuchen und eifrig an ihrem Ausgleich arbeiten, um dem Entlastungsbeweis die nötige Überzeugungskraft zu verschaffen. Bei den Belastungszeugen dagegen wird er nichts tun, um etwaige Differenzen in ihren Bekundungen auszugleichen; vielmehr wird er gerade die Bedeutung von scheinbaren oder wirklichen Widersprüchen besonders hervorkehren und es so darstellen, als "

Moore§ 267.

Die Zeugenvernehmung

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wenn durch sie den Belastungsangaben jeglicher Beweiswert genommen werde. Stets hat jedoch der Beurteiler, mag er nun die Anklage vertreten oder den Beschuldigten verteidigen oder als Richter zwischen den Parteien stehen, nur dann Aussicht, mit seiner Deutung gegenüber den abweichenden Ansichten anderer Prozeßbeteiligter die Oberhand zu behalten, wenn er unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Falls die Möglichkeiten einer sachgerechten Harmonisierung unvoreingenommen erwägt.

Vorgehen, wenn die Differenzen nicht sogleich zu beheben sind. Schließen die einander widersprechenden Darstellungen mehrerer Zeugen sich in der Weise aus, daß nur eine von ihnen zutreffen kann, während die andere unrichtig sein muß, so bedarf es wiederum der Überlegung, welche der beiden Versionen die richtige ist bzw. ob keine von ihnen, sondern eine dritte Lesart der Wahrheit entspricht. Der Beurteiler hat dann die fragwürdigen Bestandteile auszusondern und Schritt für Schritt die Elemente zu erarbeiten, die als verläßlich gelten können. Er nähert sich der Wahrheit, indem er das von den Zeugen zur Verfügung gestellte Material von seinen Schlacken reinigt und es durch sachgemäßes Zusammendenken der Einzelteile nötigenfalls entsprechend umformt. Infolge der Abstriche und sonstigen Korrekturen, die er an den unterschiedlichen Bekundungen im Rahmen der Beweiswürdigung vornimmt, entsteht dann zuweilen eine Rekonstruktion des Sachverhalts, die sich mit der Darstellung keines der differierenden Zeugen vollkommen deckt, vielmehr vom Beurteiler selbst durch besonnene Verwertung der als brauc.~bar erkannten Elemente geschaffen wird. Dabei leistet nicht zuletzt die Erfahrung wichtige Dienste. Wenn Zeugen in größerer Zahl vorhanden sind, die sich in ihren Angaben widersprechen, so ist nicht ohne weiteres die Auffassung der Zeugenmehrheit für zutreffend zu halten. Vielmehr wird neben dem persönlichen Eindruck der Nachrichtenträger und sonstigen Umständen entscheidend mitsprechen, in welchem Maß die eine und die andere Darstellung mit dem Erfahrungswissen in Einklang steht.

Wertung sich widersprechender Aussagen, wenn der Einfluß von Gruppengeist in Betracht kommt. Eine besondere Note erhält der Vergleich von einander abweichender Bekundungen, wenn sich unter den Zeugen zwei Parteien gebildet haben, deren Sachdarstellungen diametral entgegengesetzt sind 67 • Stehen sich die beiden Gruppen unversöhn67

Dazu S. D. Singh, Judgements and how to write them, Allahabad 1951

S.lOO.

Übereinstimmung und Gegensätzlichkeit in den Aussagen

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lieh gegenüber, dann scheint manchmal, obwohl viele Auskunftspersonen vorhanden sind, eine Klärung anfangs fast aussichtslos zu sein. Aber mit der Zeit ergeben sich meist doch gewisse Anhaltspunkte, die demBeurteilerden richtigen Weg weisen: Allgemein ist festzuhalten, daß auch Zeugen, dievon starken Vorurteilen erfüllt sind, in gewissem Umfang zur Wahrheitstindung beitragen können, wenn der Einfluß ihres Vorurteils sich irgendwie abgrenzen läßt und dadurch korrigierbar wird. Anhaltspunkte dafür, ob ihre Darstellung einige Wahrscheinlichkeit für sich hat, liefert bisweilen - das persönliche Auftreten der einzelnen Nachrichtenträger, - die Würdigung geringfügiger Unterschiede in den Angaben der zur g 1 eichen Gruppe gehörigen Zeugen und - eine sorgfältige Beobachtung der Beweispersonen, die mit ihrer Aussage zwischen den beiden Gruppen stehen. Isolierte Zeugen. Nicht selten erweisen sich die Angaben mehr oder minder abseits stehender Auskunftspersonen als besonders aufschlußreich. Manchmal liefern gerade diese Einzelgänger, wenn man sie eingehend vernimmt, den Schlüssel für die richtige Lösung. In weniger günstigen Fällen enthalten ihre Bekundungen wenigstens Hinweise darauf, in welcher Richtung die Wahrheit liegen könnte. Wo die Ansicht der Zeugenmehrheit durch Gruppengeist oder andere massenpsychologische Beeinflussungen beeinträchtigt ist, kommt es oft entscheidend auf die Aussagepersonen an, die, irgendwie zwischen den Fronten stehend, sich eine gewisse geistige Unabhängigkeit bewahrt haben. Grundverkehrt wäre es jedenfalls, wenn man in solchen Fällen, wie das bisweilen geschieht, Einzelgänger unter den Zeugen lediglich deshalb, weil sie mit ihren Angaben allein dastehen, als für die Wahrheitsfindung wertlos ansehen wollte88 • Damit soll nicht gesagt sein, daß der isolierte Zeuge im Zweifel die Wahrheit bekundet. Auch er geht unter Umständen an der Wirklichkeit vorbei und muß sich daher eine intensive Prüfung seiner Darstellung gefallen lassen. Dabei sind nicht zuletzt auch die Gründe zu erwägen, aus denen er dem Einfluß des Massengeistes entgangen ist. Bisweilen sind sie nicht von der Art, daß sie seine Bekundungen besonders vertrauenswürdig erscheinen lassen. Mitunter steckt hinter der Selbständigkeit eines alleinstehenden Zeugen nicht so sehr Wahrheitsliebe oder ungewöhnliche Widerstandskraft gegenüber suggestiven Einflüssen, sondern Eigensinn, Mißgunst, 88

Diese ältere Auffassung vertrat unter anderem Planck, Lehrbuch II. 201.

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Die ZeugenvemehmunJ

Abneigung gegen die in der Zeugenmehrheit tonangebenden Persönlichkeiten und ähnliches. Trotzdem kann er, auch wenn solche Beweggründe bei ihm mitsprechen, mit seiner Aussage im Einzelfall das Richtige treffen oder doch der Wahrheit näher kommen als die unter Umständen völlig voreingenommene Zeugenmehrheit.

Zusammentreffen von Aussagefehlern verschiedener Art. Ergibt sich, daß beim Zustandekommen abweichender Aussagen mannigfache Unzulänglichkeiten mitgewirkt haben, so sind sie in angemessener Weise auszugleichen. Der eine Zeuge muß dann z. B. bestimmte Abstriche hinnehmen, weil sein wirtschaftliches Interesse am Ausgang der Sache ihn veranlaßt hat, zu seinem Vorteil zu färben. Der andere Zeuge ist zwar nicht finanziell beteiligt; bei ihm müssen aber bestimmte Beobachtungsfehler richtiggestellt werden, die auf Grund ungünstiger Wahrnehmungsbedingungen entstanden sind. Ein dritter Zeuge ist weder am Ausgang des Prozesses interessiert noch ist er durch Wahrnehmungsmängel beeinträchtigt gewesen, hatte aber vielleicht nur mit geteilter Aufmerksamkeit beobachtet und war deshalb zu einem fragwürdigen Ergebnis gekommen usw. Der Einfachheit halber ist bisher vorausgesetzt worden, daß die einzelne Zeugenaussage ein in sich einheitliches Gepräge aufweist. Noch mannigfaltiger wird die Gestaltung, wenn man berücksichtigt, daß jede einzelne der zu vergleichenden Darstellungen oft selbst bereits ein kompliziertes Gebilde ist, das widerspruchsvolle Elemente enthält und unter Mitwirkung von Unzulänglichkeiten verschiedenster Art zustande gekommen sein kann. Es treffen also unter Umständen Unstimmigkeiten innerhalb der einzelnen Zeugenaussage mit Disharmonien zwischen den Stellungnahmen verschiedener Zeugen zusammen. Der Wahrheitsforscher muß sich von vornherein darauf gefaßt machen, daß die in der systematischen Darstellung isoliert vorgeführten Grundformen im Leben nicht selten die merkwürdigsten Verbindungen eingehen.

Zusammensetzen von Teilergebnissen. Hat jeder der Zeugen nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtgeschehens gesehen, so ist es notwendig, die Einzelteile insachentsprechender Weise zu vereinigen. Man denke etwa dar an, daß der Zeuge X von den in der Wohnung des Beschuldigten geführten Vertragsverhandlungen nur den ersten Teil miterlebt und sich dann entfernt hat, während die Zeugin Y zunächst abwesend, aber in der Schlußphase der Unterredungen zugegen war. Ein mosaikartiges Zusammensetzen der Teilausschnitte ist auch nötig, wenn z. B. bei einer Schlägerei zwischen A und B, obwohl alle Zeugen ununterbrochen anwesend waren, der eine infolge des allgemeinen Durcheinanders lediglich dies, der andere nur jenes wahrgenommen und keiner die volle Kenntnis des Gesamtvorgangs erlangt hat.

Obereinstimmung und Gegensätzlichkeit in den Aussagen

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Einen wiederum andersartigen Charakter erhält das Zusammenfügen der Einzelheiten, wenn der Beschuldigte fortgesetzt handelnd in fünfzehn Fällen Abtreibungen vorgenommen haben soll. Jede der zum Beweis dafür benannten Frauen kann dann nur über einen der fünfzehn Einzelvorgänge aussagen, aus denen sich die fortgesetzte Handlung zusammensetzt, nämlich über die an ihr selbst (gegebenenfalls) vorgenommene Abtreibung. Ein überzeugendes Gesamtbild, das auch für Dritte verbindlich erscheint, kann stets nur dann entstehen, wenn der Beurteiler sich bei der Bewertung der Zeugenaussagen und dem Zusammenfügen der Einzelteile nicht von unkontrollierten Eingebungen und reinen Vermutungen bestimmen läßt. Er darf, wenn die Versuchung dazu manchmal auch naheliegen mag, nicht willkürlich so kombinieren, wie es ihm zur Vorbereitung einer bestimmten Endlösung oder auch nur zur Erreichung eines geschlossenen Gesamtbildes nötig erscheint. Wenn seiner Meinung nach die Darstellung einzelner Zeugen im Interesse der Wahrheitsfindung geradezurücken ist, dann muß dafür ein Grund vorhanden sein, der auch einem unbefangenen Dritten einleuchten würde.

Vergleich der Zeugenaussage mit Augenscheinsergebnissen, Urkunden usw. Die Würdigung der Bekundungen unter Heranziehung des gesamten Beweisstoffs kann erst im Schlußabschnitt genauer dargestellt werden. Freilich läßt sie sich nicht ganz in das Endstadium der Tatsachenfeststellung verweisen. Der Beurteiler hat vielmehr schon von Anfang an vorläufige Vergleiche der Zeugenbekundung auch mit den Urkunden, dem Indizienmaterial und dem sonstigen Beweisstoff zu ziehen. Doch ist dabei einige Zurückhaltung notwendig; andernfalls kommt es leicht zu Zirkelschlüssen und anderen Denkfehlern. Je zweifelhafter und unklarer die Beweislage ist, desto mehr besteht Anlaß, die einzelne Zeugenaussage zunächst aus sich heraus auf ihren Wert zu prüfen und sie mit den Bekundungen anderer Zeugen zu vergleichen, ehe das gesamte sonst noch vorhandene Beweismaterial in die Würdigung einbezogen wird88 •

18 'Ober die Beurteilung der Glaubwürdigkeit von schwachsinnigen Zeugen H. Hetzer und H. Pfeiffer: NJW 1964 S. 441 (mit Schrüttumsangaben).

Viertes Kapitel

Die Befragung des Beschuldigten Das Verhör des Tatverdächtigen richtet sich nach den S. 23 ff. formulierten allgemeinen Regeln; auch die für die Zeugenbefragung gegebenen Richtlinien (S. 92 ff.) sind hier in vieler Hinsicht verwendbar. Andererseits erhalten manche der bereits erwähnten Einzelheiten bei der Beschuldigtenvernehmung noch ein besonderes Gepräge, so daß einige spezielle Gesichtspunkte nochmals erörtert werden müssen. Haltung des Vernehmenden Für das Gelingen der Sachaufklärung kommt viel darauf an, daß der Verhörsleiter dem Beschuldigten in der rechten Weise gegenübertritt und sich auf ihn richtig einstellt.

Unechtes Oberlegenheitsgefühl. Wenn Miene und Auftreten des Vernehmenden Besserdünken oder gar Hochmut ausdrücken, so wirkt das regelmäßig nachteilig auf die Ermittlungsarbeit. Wer allenthalben seine sittliche Überlegenheit glaubt dokumentieren zu müssen, wird schwerlich zum Erfolg kommen. Der Beschuldigte wird durch eine solche Haltung vielfach zu erbitterter Gegenwehr veranlaßt, wo er bei geschickterer Behandlung bereitwillig die Anhaltspunkte für seine Überführung zur Verfügung gestellt haben würde. Selbst wenn man das ethische Moment ganz außer Betracht läßt, ist es auch auf Grund von Zweckmäßigkeitserwägungen regelmäßig unangebracht, den Beschuldigten durch Zeichen von Selbstüberhebung vor den Kopf zu stoßen. Der Beamte sollte auch nicht als Moralprediger auftreten. Unter Umständen wirkt bereits ein bloß schulmeisterliches Benehmen abschreckend auf den Beschuldigten.

Innerer Widerwille gegenüber der Verhörsperson? Oft macht das Ziel der Befragung es erforderlich, daß der Vernehmende sich die aus den Akten und dem persönlichen Eindruck gewonnenen ungünstigen Werturteile über den Beschuldigten nicht allzusehr anmerken läßt. Dies gilt nicht zuletzt für die Ermittlungen wegen abartiger Sittlichkeitsdelikte, durch die der normal Veranlagte sich unangenehm berührt und oft geradezu angewidert fühlt. Manchmal hat der Verneh-

Haltung des Vernehmenden

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mende regelrecht das Empfinden, als ob er sich schon durch die bloße Erörterung des Vorfalls erniedrige. Wenn er davon etwas erkennen läßt, ist begreiflicherweise mit der Ermittlung nicht voranzukommen, während der Beschuldigte eine unvoreingenommene Grundhaltung des Vernehmenden oft dankbar mit einer gewissen Aufgeschlossenheit quittiert und sich dabei vielleicht zu Erklärungen bereitfindet, die sonst nie von ihm zu erlangen gewesen wären.

Menschliches Interesse. Der Vernehmende darf- von seltenen Ausnahmefällen abgesehen - durchaus ein gewisses Verständnis für das Geschehen, um das es sich handelt, durchblicken lassen. Es erleichtert dem schuldigen Verdächtigen das Einräumen des wahren Sachverhalts, wenn er einen Beamten vor sich hat, der bei aller Reserve der Sache nicht völlig gefühllos gegenübersteht. Die Beziehung von Mensch zu Mensch, die manc.~em auf den ersten Blick in diesem Zusammenhang nebensächlich erscheinen wird, ist für den Aufklärungserfolg oft von entscheidender Bedeutung. Distanzierung vom Beschuldigten. Auch dort, wo es richtig erscheint, dem Verdächtigen ein gewisses Maß menschlichen Verstehens zu zeigen, sollte man mit solchen Bekundungen sparsam umgehen. Es genügen in dieser Hinsicht regelmäßig schon geringe, aus der Gesamthaltung des Vernehmenden hervorgehende Andeutungen. Man kann sicher sein, daß sie dem Beschuldigten nicht entgehen werden. Er pflegt ein feines Gefühl selbst für kleinste Zeichen dieser Art zu besitzen und sie mit Aufmerksamkeit zu registrieren. Der Vernehmende hat sich, soweit er etwas Verständnis durchschimmern lassen will, dabei von jeder Sentimentalität freizuhalten. Er darf zudem keinesfalls den Eindruck aufkommen lassen, als wenn er sich mit dem Beschuldigten auch nur entfernt solidarisch fühle. Überhaupt ist darauf zu achten, daß sein Verhältnis zum Beschuldigten nicht eine irgendwie persönliche Note erhält. Manchmal hat dieser ein besonderes Geschick darin, eine engere, über das rein Sachliche hinausgehende Beziehung zwischen sich und dem Vernehmenden zu schaffen. Er bringt dann etwa zum Ausdruck, daß er die Angelegenheit im Interesse des Beamten nicht zu sehr komplizieren und ihm die Arbeit nicht so schwer machen wolle. Er möchte den Eindruck hervorrufen, als wenn er durch Einräumen von Umständen oder durch die Fassung bestimmter Angaben dem Vernehmenden eine Art Gefälligkeit erweist. In allen solchen Lagen ist Vorsicht geboten: Manchmal will der Beschuldigte mit solchen Praktiken lediglich um gut Wetter bitten. Bisweilen bereitet er aber auf diese Weise bereits den späteren Widerruf bestimmter Erklärungen mit der Begründung vor, daß er nur aus Rücksicht auf den Vernehmenden sich so wie ge-

176

Die Befragung des Beschuldigten

schehen geäußert habe. Es ist nötig, solche und ähnliche Vertraulichkeiten sogleich in verbindlicher Form, aber bestimmt zurückzuweisen. Joviales Gebaren. Auch beim Versuch des Vernehmenden, durch betont aufgeräumtes und gut gelauntes Auftreten beim Beschuldigten Vertrauen zu schaffen, muß die sachliche Grundstimmung vorherrschend bleiben. Selbst wenn es im Einzelfall notwendig erscheint, eine gespannte oder verkrampfte Atmosphäre durch ein Scherzwort aufzulockern, sollte man sogleich wieder zu einer nüchternen und unpersönlichen Haltung zurückkehren. Eine fortdauernd humorvolle Grundstimmung könnte leicht dazu führen, daß der Aussagende sich über den Ernst der Angelegenheit nicht klar wird, was für die Wahrheitstindung nur nachteilig sein kann. Dieser allgemeine Grundsatz, der übrigens auch für die Anhörung von Zeugen und Sachverständigen gilt, hat für die Beschuldigtenvernehmung ganz besondere Bedeutung. Es ist hier nicht ratsam, allzu gemütlich zu tun. Oft führt ein streng sachliches Vorgehen des Vernehmenden besser zum Ziel als ein mehr oder minder vertraulicher Umgang mit dem Beschuldigten, der immer irgendwie gefahrvoll ist. Zielbewußtes Verhalten. Soweit der Verhörsleiter seinem Partner mit einem gewissen Wohlwollen gegenübertritt, darf beim Beschuldigten kein Zweifel darüber aufkommen, daß die Aufklärung zielsicher betrieben werden wird. Wenn der Beamte das nicht gleich anfangs klarmacht, kann diese Unterlassung später unter Umständen nicht wiedergutgemacht werden. Der Vernehmende sollte dem Beschuldigten, ohne viel Aufwand zu machen und ohne sich künstlich in Positur zu setzen, rechtzeitig zu erkennen geben, daß er seine Sache versteht und daß er sich nicht ablenken oder auf falsche Fährte locken läßt. Er bezieht dann von vornherein eine gute Ausgangsstellung und wird es verhältnismäßig leicht haben, von ihr aus den später etwa auftretenden Schwierigkeiten zu begegnen. Verbot unwürdiger Behandlung. Es ist notwendig, dem Beschuldigten einen gewissen Respekt entgegenzubringen. Wenn er nicht sonderlich belastet ist, wird das dem Vernehmenden leichtfallen. Aber auch wenn er stark verdächtig erscheint, sollte man ihn nicht wie einen Untermenschen behandeln. Selbst in schweren Strafsachen muß ihm einige Rücksicht zuteil werden. Es kommt immer wieder vor, daß jemand durch seine Anwesenheit in der Gegend, in der das Vergehen begangen wurde, oder durch sonstige Umstände der Straftat sehr nahezustehen scheint und gleichwohl an ihr nicht beteiligt ist. Mitunter ergeben sich bei weiterem Forschen überraschenderweise starke Entlastungsmomente und vielleicht stellt sich schließlich sogar heraus, daß der Beschuldigte

Haltung des Vernehmenden

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trotz des auffälligen Verdachts mit der Tat nichts zu tun und daher keine Geringschätzung verdient hatte. Solange der Tatverdächtige nicht rechtskräftig verurteilt ist, hat er Anspruch auf ein Mindestmaß von Achtung, auch wenn er sich durch Widerspenstigkeit mißliebig gemacht hat. Selbst der Beschuldigte, der offensichtlich mit dem Gesetz in Konflikt gekommen ist, darf nicht als eine Kreatur betrachtet werden, an der der Vernehmende seinen Unmut auslassen kann. Der einwandfrei Schuldige braucht nicht weniger als der lediglich Verdächtige einen gewissen Schutz gegen ungerechte und unwürdige Behandlung. Sogar Verbrechern, auf die jeder anständige Mensch mit Abscheu blickt, muß wenigstens die Rücksicht entgegengebracht werden, die wir allem, was Menschenantlitz trägt, schuldig sind.

Autoritäres Auftreten. Manchmal kann es von Vorteil sein, wenn der Vernehmende sein machtmäßiges Übergewicht demonstrativ hervorhebt. Aber solche Fälle sind nicht allzu häufig. Meist ist eine ausgesprochen autoritative Haltung für die Sachaufklärung nicht förderlich. Bei einem furchtsamen und empfindlichen Beschuldigten bringt sie regelrecht die Gefahr mit sich, daß dieser irritiert und zur vorzeitigen Aufgabe des Widerstandes veranlaßt wird. Der Beamte nimmt infolgedessen unter Umständen von einer gründlichen Erforschung Abstand, so daß die Wahrheit nicht oder nicht voll zur Geltung kommt. Ist der Beschuldigte dagegen aus härterem Holz geschnitzt und nicht so leicht aus der Fassung zu bringen, so wird er dadurch, daß der Vernehmende seine Autorität zu sehr hervorkehrt, oft gereizt und zu heftiger Gegenwehr veranlaßt, während er sonst vielleicht die Nutzlosigkeit weiteren Widerstands eingesehen und seine Schuld zugegeben haben würde. Er wird auf diese Weise geradezu in eine Gegnerschaft zum Vernehmenden hineingedrängt, auf Grund deren es manchmal auch zu äußerer Auflehnung des Beschuldigten kommt.

Innere Sicherheit. Meist vermag die unauffällig zur Geltung kommende, natürliche Überlegenheit des Vernehmenden die Ermittlungsarbeit besser vorwärtszubringen. Der Beschuldigte spürt dann instinktiv, daß er einem Stärkeren gegenübersteht, vor dem er sich beugen muß. Er wird durch den zwingenden geistigen Einfluß des Vernehmungsleiters gepackt und, wenn er etwas zu verbergen hat, beunruhigt oder gar aus der Fassung gebracht. Unter dem forschenden Blick des Beamten kommt vieles von dem, was der Beschuldigte sich an unwahren Angaben und erkünsteltem Mienenspiel zurechtgelegt hat, gar nicht mehr zum Zuge. Manchmal wird ihm eine Lüge durch das geistige Übergewicht des Vernehmenden regelrecht unmöglich gemacht. 12 Döhrln&

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Die Befragung des Beschuldigten

Benehmen gegenüber aufsässigen Beschuldigten. Von dieser Haltung aus findet der Vernehmungsleiter auch die richtige Einstellung gegenüber Unbotmäßigkeiten des Vernommenen. Er versteht sich dann freizumachen von jener übertriebenen Empfindlichkeit, die allenthalben eine Minderung des amtlichen Ansehens herausfühlt. Wer die volle innere Überlegenheit besitzt, hat es nicht nötig, alles, was zwischen ihm und dem Beschuldigten strittig wird, als einen Ehrenpunkt zu betrachten, den er unbedingt in seinem Sinn entschieden sehen will. Ihm wird es, wenn er beim Kampf mit seinem Gegenüber sich in Einzelheiten zu weit vorgewagt hat, nicht schwer, das direkt oder indirekt anzuerkennen. Er weiß auch einmal mit Anstand zu unterliegen, ohne fürchten zu müssen, daß er dadurch an Autorität verliert. Sein nicht zu unterschätzender Vorteil besteht bei dieser Art des Sichgebens darin, daß der Beschuldigte sich einem unvoreingenommenen Beamten gegenübersieht und dadurch in seiner Bereitschaft zu aktiver Teilnahme am Untersuchungsverfahren gestärkt wird. Das Recht des Beschuldigten zu schweigen

Keine Pflicht zur Mitwirkung. Der Beschuldigte braucht sich nicht zur Sache zu äußern. Er hat das Recht zu schweigen, ohne daß ihm daraus ein Vorwurf gemacht werden könnte. Ob er von diesem seinem Recht im Einzelfall Gebrauch machen will oder nicht, ist seiner Entscheidung überlassen1 • Dies ist die Konsequenz aus dem allgemeinen Grundsatz, daß niemand gezwungen werden soll, sich selbst zu belasten. Demgemäß haben auch die meisten Prozeßordnungen eine rechtliche Pflicht für den Verdächtigen zur Mitwirkung an der Sachaufklärung nicht begründet. Es dürfte dabei nicht zuletzt die Erwägung mitgesprochen haben, daß sonst die Macht der Untersuchungsbehörde zu groß werden würde und daraus dem unschuldig Verdächtigen Nachteile entstehen könnten2 • Darüber, wieweit man dem Beschuldigten die Beibehaltung der Passivität im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung erleichtern sollte, sind unterschiedliche Meinungen vertreten worden. Es ist 1 J. Graven, L'obligation de parler en justice, Genf 1946; Hans Walder in der Festschrift für H. F. Pfenninger (1956) S. 181 ff. 2 Nur gelegentlich ist die Ansicht vertreten worden, daß im Schweigen des Beschuldigten eine Art Sabotage der Aufklärungsarbeit, eine rebellion envers la justice zu erblicken und daß es entsprechend zu werten sei. Auf die viel erörterte Frage, ob der Beschuldigte, wenn er von seinem Schweigerecht keinen Gebrauch macht, sondern sich freiwillig zum Sachverhalt äußert, zur Angabe der Wahrheit verpflichtet ist oder lügen darf, soll in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden (ausführliche Schrifttumsnachweise darüber bei H. F. Pfenninger, Die Wahrheitspflicht des Beschuldigten im Strafverfahren in: Festschrift für Th. Rittler, 1957, S. 355 ff.).

Das Recht des Beschuldigten zu schweigen

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in dieser Hinsicht ein Ausgleich zwischen zwei verschiedenen Gesichtspunkten nötig, die sich überschneiden und daher nicht beide in vollem Umfang realisiert werden können: Einerseits soll der Verdächtige nicht (wie im früheren Inquisitionsprozeß) das wehrlose Objekt sein, das vom Untersuchungsbeamten auf alle erdenkliche Weise attackiert werden darf. Dem kann entgegengewirkt werden, indem man dem Beschuldigten ein passives Verhalten nicht nur ermöglicht, sondern ihn zum Gebrauchmachen von dieser Möglichkeit regelrecht ermutigt. Andererseits darf die Rücksicht auf den Beschuldigten nicht so weit getrieben werden, daß die Verbrechensverfolgung allzusehr behindert wird. Das ist der zweite Gesichtspunkt, der über dem berechtigten Streben nach einem starken Schutz für den Verdächtigen gewissenhaft beachtet werden muß. Die angloamerikanische Auffassung im Vergleich zur kontinentalen. Im angelsächsischen Rechtskreis hat man das Schweigerecht des Beschuldigten von jeher besonders ernst genommen. Der Polizeibeamte ist dort verpflichtet, den Verdächtigen vor Beginn der Befragung darauf hinzuweisen, daß er nicht zu antworten braucht und hat einen Vermerk darüber in das Protokoll aufzunehmen. Auch in der Verhandlung vor dem Strafgericht hat man dem Angeklagten in den Ländern des angelsächsischen Rechts ein passives Verhalten besonders leicht gemacht. Er wird, wenn er nicht aus eigenem Entschluß in den Zeugenstand tritt, um in förmlicher Weise für sich Zeugnis abzulegen, keinem Verhör unterworfen. Es dürfen in der Hauptverhandlung keine Fragen nach den Einzelheiten des Sachverhalts an ihn gerichtet werden. Man bringt ihn mithin auch nicht in die Versuchung, Erklärungen abzugeben, die er vielleicht später bereut.

Die kontinentale Jurisprudenz ist dem Beschuldigten nicht ganz so günstig. Zwar ist es auch hier prinzipiell anerkannt, daß der Verdächtige durch sein Schweigen keinen Nachteil haben soll. Aber meist hält man es doch nicht für richtig, darüber hinaus dem Beschuldigten das Beharren in seiner Passivität geradezu nahezulegen. Von dieser besonderen Einstellung aus gestaltet sich die Anwendung des Grundsatzes auf dem Kontinent in mancher Hinsicht anders als in England und in den USA: Vor allemgestatten GesetzgebungundPraxis im festländischen Bereich allenthalben, daß der Beschuldigte sowohl im Vorverfahren als auch in der Hauptverhandlung nach Einzelheiten des Hergangs gefragt und zur Beteiligung angeregt wird. Der Beschuldigte selbst empfindet es bei uns übrigens im allgemeinen nicht als ordnungswidrig, daß er immer wieder zur Auseinandersetzung mit der Angelegenheit veranlaßt wird. Er fühlt instinktiv, daß die un12°

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Die Befragung des Beschuldigten

motivierte Verweigerung jeder Stellungnahme oder einer Antwort auf bestimmte Fragen leicht den Eindruck hervorrufen kann, als wenn er zu einer stichhaltigen Entgegnung nicht in der Lage sei. Deshalb wählt der Beschuldigte sowohl vor der Ermittlungsbehörde als auch vor dem Gericht in der Regel lieber den Weg der Äußerung zu den Belastungsmomenten als den des völligen Schweigens, wenn sich aus den Umständen ergibt, daß er zur Offenlegung in der Lage sein müßte.

Verweigerte Mitarbeit als Schuldindiz im Strafverfahren. Die angloamerikanische Jurisprudenz nimmt es auch mit dem Grundsatz, daß dem Angeklagten aus seiner passiven Haltung kein Nachteil entstehen soll, ziemlich genau. Der Staatsanwaltschaft ist verboten, das Schweigen des Angeklagten den Geschworenen gegenüber als Belastungsmoment anzuführen. Auch dem Gerichtsvorsitzenden ist es in manchen Einzelstaaten der USA verwehrt, bei seinen Hinweisen an die Jury die Passivität des Angeklagten in einem ihm nachteiligen Sinn zu erwähnen. In England besteht dagegen eine entsprechende Beschränkung des Gerichtsvorsitzenden nicht. Die englischen Gerichte sind auch keineswegs allgemein der Ansicht, daß das Schweigen des Angeklagten niemals zu seinen Ungunsten verwertet werden dürfe. Selbst von den Geschworenen wird es trotz aller prozessualen Vorbeugungsmaßnahmen nicht selten als Zeichen für vorhandenes Schuldbewußtsein gewertet, wenn ein gewandter und in guter nervenmäßiger Verfassung befindlicher Angeklagter sich offenbar nur deshalb nicht zum Eintreten in den Zeugenstand entschließen kann, weil er sich vor dem dann zu erwartenden intensiven Kreuzverhör fürchtet.

Schweigen der Partei im Zivilprozeß und vor den Verwaltungsgerichten. Im festländischen Zivilprozeß darf der Umstand, daß eine Partei nähere Angaben verweig.ert hat, die man von ihr erwarten konnte, gegebenenfalls zu ihren Ungunsten als Indiz verwertet werden. Das ist ein allgemeiner Grundsatz; der Gesetzgeber hat ihn in Deutschland zwar nicht ausdrücklich formuliert, aber immerhin gewisse wichtige Anwendungsfälle des Prinzips genauer geregelt. So bestimmt § 446 ZFO, daß, wenn die Vernehmung des Klägers bzw. des Beklagten als Partei vom Gericht beschlossen worden ist und dieser sich nicht vernehmen lassen will, seine Aussageweigerung in einer für ihn nachteiligen Weise gewürdigt werden kann. Auch im Verwaltungsstreitverfahren ist es grundsätzlich zulässig, das Schweigen der Partei als Belastungsindiz zu werten: Wenn der Kläger Ersatzansprüche nach dem Bundesentschädigungsg.esetz erhebt, muß z. B. geklärt werden, ob er etwa früher die freie demokratische Grundordnung bekämpft hat; falls das zu bejahen wäre, würde er sein Recht auf Ersatzleistung verwirkt haben. Eine Prüfung dieser Frage ist oft nur möglich, wenn der Kläger selbst darüber nähere Auskunft gibt, wo er sich in den Jahren nach 1945 aufgehalten hat. Hier muß der Kläger, falls er diese Angabe ohne triftige Gründe verweigert, sich unter Umständen gefal-

Freiwillige Mitarbeit des Beschuldigten

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len lassen, daß daraus für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden. Diese liegen besonders nahe, wenn bereits einiger Verdacht besteht, daß er dem demokratischen Gedanken feindselig gegenübergestanden hat.

Auswertung dieses Beweisanzeichens im einzelnen. Es muß sorgfältig erwogen werden, ob nicht etwa unverfängliche Gründe vorliegen könnten, die die Partei zur Verweigerung einer Stellungnahme veranlaßt haben. Besonders in Strafsachen darf die Bedeutung des Schweigens als Schuldindiz nicht überschätzt werden. Bisweilen versucht der Staatsanwalt zu Unrecht, daraus geradezu das Hauptargument des Überführungsbeweises zu machen. Es kommt hier oft entscheidend auf die jeweilige Situation und unter Umständen auch auf die Art des anhängigen Prozesses an. In Verfahren vor den Finanzgerichten wird man es z. B. im allgemeinen nicht sogleich als für die Partei belastend ansehen können, wenn sie keinen Aufklärungseifer zeigt und sich vielleicht nur widerwillig zur Klarlegung ihrer Verhältnisse herbeiläßt. Es sollte nicht ohne weiteres angenommen werden, daß sie einen sachlichen Anlaß hat, die von ihr verlangten Angaben zu verweigern: Selbst wenn feststeht, daß der als Steuerschuldner Inanspruchgenommene zur Offenlegung in der Lage sein müßte, kann er nicht schlechthin mit einer Zivilprozeßpartei gleichgestellt oder nach den Gesichtspunkten beurteilt werden, wie sie für einen Angeklagten in Frage kommen würden. Möglicherweise ist das Verhalten des Steuerpflichtigen nur die Reaktion auf ungeschicktes Benehmen des Finanzbeamten oder der Ausdruck allgemeiner Abneigung gegen die Steuerbehörde als solche oder sie beruht auf sonstigen Gründen, die eine nachteilige Schlußfolgerung nicht rechtfertigen. Freiwillige Mitarbeit des Beschuldigten bei der Sachaufklärung

Allgemeines. Für die Tatbestandsermittlung ist meist viel daran gelegen, daß der Beschuldigte sich ausführlich zur Sache äußert. Das gilt zunächst hinsichtlich der Entlastungsmomente, die oft nur geringe Kraft besitzen, wenn der Beschuldigte über sie schweigt oder lediglich das Nötigste darüber mitteilt. Aber auch bei den Belastungstatsachen kommt zuweilen viel darauf an, wie er sich zu ihnen äußert und ob er ihnen eine einigermaßen harmlose Deutung zu geben vermag. Eine unzulängliche Gegenerklärung kann, wenn der Beschuldigte im Fall seiner Unschuld zu einleuchtenden Erläuterungen in der Lage sein müßte, den Schuldbeweis manchmal entscheidend verstärken. Häufig sind die Darlegungen, die er zu seiner Rechtfertigung macht, dasjenige, was ihn hineinreißt. Seine Verteidigungsanstrengungen vervollständigen das Belastungsmaterial oft gerade auch bezüglich der psychischen Vorgänge und hinsichtlich anderer Punkte, für die ein ausreichender Beweis sonst nicht zu erlangen gewesen sein würde. Insofern kann man sagen, daß der Beschuldigte sich zuweilen besser gestanden haben wür-

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Die Befragung des Beschuldigten

de, wenn er mit Achselzucken oder mit irgendeiner nichtssagenden Redewendung geantwortet hätte statt mit erkünstelten Darlegungen, denen ziemlich deutlich anzumerken war, daß es sich um bloße Ausflüchte handelte. Ausführliche Darlegungen des Beschuldigten können dadurch, daß sie den Beweisstoff vervollständigen, die Aussicht auf eine zutreffende Beurteilung sehr vergrößern. Mitunter ist es überhaupt nur mit ihrer Hilfe möglich, die Wahrheit zu erfassen. Besonders wichtig sind sie für die Sachaufklärung, wenn noch ein weiterer, unter Umständen unschuldiger Verdächtiger vorhanden ist und dieser durch das Schweigen des Beschuldigten in falschem Licht erscheint. Anregung des Verdächtigen zur Mitarbeit. Der Beschuldigte soll möglichst zum Sprechen gebracht werden 3 • Das dient nicht nur der Überführung von Rechtsbrechern. Vielmehr wird nicht selten auch die Unschuld dadurch, daß man den furchtsamen, gleichgültigen oder primitiven Beschuldigten zur Stellungnahme veranlaßt, besser an den Tag gebracht, als wenn man ihn fortgesetzt in seiner passiven Haltung bestärkt. Es hat daher viel für sich, daß im kontinentalen Strafprozeß die Vernehmung des Beschuldigten zu einem wichtigen Teil des Verfahrens ausgestaltet worden ist. Auch von englischen Juristen ist in neuerer Zeit erwogen worden, ob es nicht ratsam sei, in England gleichfalls den Beschuldigten in der Hauptverhandlung (abweichend von der gegenwärtigen Handhabung) zur Mitarbeit anzuregen4 und eine Erprobung seiner Stellungnahme durch den Anklagevertreter zuzulassen. Wenn der Beschuldigteinfolge einer in seinem Wesen liegenden Verschlossenheit, Schwerfälligkeit oder Zaghaftigkeit nur schwer zum Reden zu bringen ist, kommt es darauf an, ihn erst einmal aufzutauen. Am ehesten wird das gelingen, wenn er sich vom Vernehmenden (ungeachtet der zwischen beiden bestehenden Gegnerschaft) irgendwie angesprochen fühlt. Ein dauerhafter Kontakt kann jedoch, falls der Beschuldigte auch nur einigermaßen wachsam ist, lediglich auf ehrliche Weise erreicht werden. Wenn der Vernehmende sich durch bloßes Blendwerk und Gaukelspiel, durch allerlei Verstellungskunststücke in das Vertrauen seines Gegenübers schleichen wollte, so wäre das in den meisten Fällen eine vergebliche Mühe. Solche Scheinmanöver werden in der Regel doch als solche 3 Ebenso Liepmann, Die Vernehmung des Beschuldigten (Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 44, 1924, S. 665); diese Arbeit gehört noch heute zu den besten Abhandlungen, die in deutscher Sprache über das Thema geschrieben worden sind. 4 Gl. Winiams, Proof of guilt S. 60; John Foster in: Preliminary Investigations of Criminal Offences, London 1960, S. 29.

Das Ziel der Vernehmung

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erkannt und mit Zurückhaltung, wenn nicht sogar mit verstärktem Mißtrauen beantwortet. Für den Vernehmenden kommt es, wenn er Fortschritte erzielen will, hier mehr als sonst auf seine menschlichen Qualitäten an. Sie stellen in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Beschuldigten eine Realität dar, die in ihrer Bedeutung meist viel zu wenig gewürdigt wird. Für den Ermittlungserfolg sind sie oft ungleich wichtiger als die Beherrschung der vernehmungstechnischen Einzelheiten, so nützlich diese in vieler Hinsicht auch sein mag. Das Ziel der Vernehmung Doppelte Zweckbestimmung. Die Befragung des Beschuldigten hat der Wahrheitsermittlung zu dienen. Sie soll die Einzelheiten herausarbeiten, die ihn entlasten, aber andererseits auch die Umstände klären, die zu seiner Belastung beitragen könnten. Je nach Lage des Falles wird bald die Verteidigung des Beschuldigten, bald das Streben nach Vervollständigung des Überführungsbeweises mehr im Vordergrund stehen. Das Gesetz hebt in manchen Ländern den Verteidigungszweck besonders hervor (deutsche StPO § 136, Absatz 2). Dazu besteht gewiß Anlaß; denn diese Seite der Sache kommt leicht zu kurz. Dadurch, daß die Ermittlungsorgane überwiegend mit Menschen zu tun haben, die irgendwie schuldig sind, erscheint ihnen zuweilen der Beschuldigte schlechthin aufs Äußerste verdächtig. Sie neigen auf Grund berufsmäßiger Gewöhnung manchmal allzusehr dazu, seine Schuld zu vermuten, ohne sich klarzumachen, daß sie damit ihre unvoreingenommene Grundhaltung aufgegeben haben.

Herbeischaffung von VerteidigungsmateriaL Daß das Verhör des Beschuldigten lediglich dazu bestimmt sei, die Entlastungsbeweise zu ermitteln und die sonstigen Handhaben für die Verteidigung ausfindig zu machen, läßt sich nicht sagen. Soweit diese Ansicht im Schrifttum vertreten worden ist 5 , lag der Anlaß dazu vor allem in dem an sich löblichen Bestreben, die Praxis zur gewissenhaftesten Berücksichtigung der Entlastungsmomente anzuhalten. Aber wegen ihrer extremen Einseitigkeit hat eine solche Lehrmeinung keine Aussicht, sich im juristischen Alltag durchzusetzen, so daß eine wirksame erzieherische Beeinflussung der Ermittlungsbeamten auf diese Weise nicht zu erreichen ist. 5 Rosenfeld, Der Reichsstrafprozeß (1912) S. 123; ferner mit eingehenden grundsätzlichen Darlegungen Henschel im "Gerichtssaal", Beilageband zu Bd. 74 (1909) S. 20.

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Die Befragung des Beschuldigten

Eine Trennung der den Beschuldigten belastenden und der ihn entlastenden Momente und die Beschränkung des Verhörs ausschließlich auf das Herausarbeiten der ihm günstigen Gesichtspunkte wäre auch gar nicht durchführbar. Selbst in England, wo jede Möglichkeit, die verfahrensmäßige Stellung des Verdächtigen zu verbessern, wahrgenommen wird, hat man eine solche Einengung des Vernehmungszwecks nicht für richtig gehalten. Im Grunde versteht es sich von selbst, daß, wenn die Stellungnahme des Beschuldigten, statt zu seiner Rechtfertigung zu führen, immer neue Belastungsindizien zutage fördert, der Vernehmende diese durch Vorhalte und Rückfragen sogleich zu klären versucht. Kein Ermittlungsbeamter und kein Richter wird sich durch entgegenstehende Lehrsätze davon abbringen lassen.

Besondere Obacht auf entlastende Tatsachen. Manchmal ist der Beschuldigte durch ein oder zwei, im Grunde nicht viel besagende Momente in Verdacht geraten; jedoch so, daß vorerst noch ganz zweifelhaft erscheint, ob man es mit dem wirklichen Täter zu tun hat. In solchen Fällen wird man begreiflicherweise vor allem auf die zum Nachweis seiner Schuldlosigkeit dienenden Umstände achtgeben müssen. Auch sonst kann es erforderlich sein, daß der Vernehmende, sofern der Sachverhalt dazu angetan ist, einem Verdächtigen, der durch Intelligenzmängel, Aufregung oder andere Gründe in der Geltendmachung der zu seinen Gunsten sprechenden Gesichtspunkte behindert ist, soviel Hilfe leistet wie nötig ist, um ihm eine wahrheitsgemäße Stellungnahme zu ermöglichen. Die Pflicht dazu ergibt sich aus der oft nicht gehörig ernst genommenen, sondern mehr oder minder gedankenlos nachgesprochenen Regel, daß der Vernehmende auch die Entlastungsmomente von sich aus zu verfolgen habe. Etwaige Entschuldigungsgründe wie Notwehr hat der Verhörsleiter ebenfalls von sich aus in Erwägung zu ziehen, selbst wenn der Verdächtige sich vielleicht nicht sogleich auf sie beruft. Einfältigen Beschuldigten muß man mitunter, wenn die Prozeßlage dazu Anlaß gibt, regelrecht den Rettungsring zuwerfen. Es gibt stupide Menschen, die ein vollständiges Alibi zur Verfügung haben, das den Verdacht gänzlich von ihnen nimmt, und die doch nicht darauf kommen, von sich aus davon Gebrauch zu machen. Auch wenn sich die Überführungsindizien verdichtet haben und dadurch eine vorwiegende Beschäftigung mit den Belastungspunkten nötig wird, darf die Wachsamkeit hinsichtlich etwaiger Entschuldigungsmomente nicht nachlassen.

Spezielle Haltung des Verhörsleiters

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Spezielle Haltung des Verhörsleiters

Gute Arbeitsatmosphäre. Es ist bereits dargelegt worden, wie wichtig für das Zustandekommen einer brauchbaren Stellungnahme des Vernommenen das Klima ist, in dem die Erörterung begonnen wird. Auch bei der anschließenden Stellung von Fragen hat der Vernehmungsleiter darauf Rücksicht zu nehmen. Er sollte sich stets dessen bewußt sein, daß der Beschuldigte jede an ihn gerichtete Erkundigung und die Art, in der sie erfolgt, zugleich als einen Ausdruck der Gesamthaltung wertet, die der Beamte ihm gegenüber einnimmt. Daher ist größtmögliche Sachlichkeit bei den Erkundigungen nötig. Der Vernehmende sollte auch bei einem stark belasteten und selbst bei einem einwandfrei schuldigen Gesprächspartner seine Bereitschaft erkennen lassen, Momente, die für den Beschuldigten von Vorteil sein könnten, angemessen zu berücksichtigen. Kritische Einstellung. Die Angaben des Beschuldigten wird man im allgemeinen skeptischer zu betrachten haben als die eines unbeteiligten Zeugen, weil die Verlockung zu unrichtigen Angaben beim Beschuldigten größer ist. Während dem Zeugen in vielen Fällen das Verfahrensergebnis gleichgültig sein kann, hat der Beschuldigte am Ausgang der Sache stets ein starkes Interesse. Er kommt infolgedessen viel eher in Gefahr, seine Darstellung so zu frisieren, daß er günstig dabei abschneidet. Selbst wenn er schuldlos ist und darauf vertrauen kann, daß sich seine Unschuld im Laufe des Verfahrens herausstellen wird, hat er verständlicherweise oft das Bestreben, die vorerst gegen ihn sprechenden Momente zu verschleiern oder seinem vermutlichen Vorteil entsprechend umzuformen. Deshalb ist den Angaben des Beschuldigten gegenüber meist eine tüchtige Portion Skepsis nötig, obwohl es andererseits verfehlt wäre, ihn schlechthin und überall mit pedantischem Mißtrauen zu verfolgen. Individuelle Behandlung. Für eine schnelle Aufklärung der Sache ist es von Vorteil, wenn möglichst früh die Verhandlungsweise herausgefunden wird, auf die gerade dieser Beschuldigte anspricht. Der Vernehmende kann bei der Vielzahl von Menschentypen in dieser Hinsicht nicht stets von vornherein das Richtige treffen. Er braucht daher einige Beweglichkeit, um sich zwanglos umstellen zu können, wenn die zunächst angewandte Verhandlungsmethode sich nicht bewährt. Hat der Beamte erst einmal die richtige Art des Vorgehens gefunden, so ist er damit seinem Ziel schon um einiges näher gekommen. Nichts festigt seine Stellung gegenüber dem Beschuldigten mehr als eine offensichtlich erfolgreiche Vernehmungsweise. Geistige Auseinandersetzung zwischen den Gesprächspartnern. Soweit der Beschuldigte etwas zu verbergen hat, wird er sich bemühen, sein

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Die Befragung des Beschuldigten

Geheimnis für sich zu behalten und bestrebt sein, die Aufklärungsmaßnahmen zu hintertreiben, durch die der Vernehmungsleiter es ihm zu entreißen trachtet. Manchmal weiß er den Schachzügen des Vernehmenden mit großer Geschicklichkeit zu begegnen und dessen Testversuchen immer wieder auszuweichen. Dies führt nicht selten dazu, daß beide Teile eine Zeitlang heftig und ausdauernd miteinander ringen. Der Vernehmende wird dabei durch den konzentrierten Widerstand des Beschuldigten genötigt, alles einzusetzen, was er an Intelligenz, psychologischem Spürsinn und Entschlußkraft besitzt, um eine unzulängliche Rechtfertigung des Verdächtigen als solche klarzustellen. Es zeigt sich hier oftmals deutlich, daß die Wahrheitsforschung den ganzen Mann erfordert. Der Vernehmende darf sich keine Blöße geben. Er muß darauf bedacht sein, sich so zu verhalten, daß nicht etwa durch eine linkische Verhandlungsweise die Position des Beschuldigten gefestigt wird. Maßnahmen des Vernehmungsleiters, deren Fragwürdigkeit vom Beschuldigten erkannt wird, tragen nur dazu bei, seine Widerstandskraft zu erhöhen.

Selbstbeherrschung des Vernehmenden. Daß der Beamte unter solchen Umständen seine Affekte im Zaum halten muß, wenn er sich nichts vergeben und letzten Endes Sieger bleiben will, bedarf keiner weiteren Ausführung. Er hat auch sein Mienenspiel unter strenge Kontrolle zu nehmen und dafür zu sorgen, daß nur die Seelenregungen darin zum Ausdruck kommen, die er erkennbar machen will. Der Beschuldigte verfolgt meist mit großer Aufmerksamkeit die Zeichen im Gesicht des Vernehmenden und versucht, daraus dessen allgemeine Grundhaltung und Reaktionsweise zu erkennen, um sich entsprechend einrichten zu können. Wenn der Beamte seine Mimik nicht genügend in der Gewalt hat, kann der Beschuldigte ihm möglicherweise die Befriedigung bzw. das Unbehagen vom Gesicht ablesen, das seine Antworten und seine sonstige Aufführung hervorrufen. Auf Grund solcher Beobachtungen wird der Beschuldigte den Vernehmenden dann geschickt zu "behandeln" versuchen und ihn unter Umständen zum Objekt seiner Taktik machen, wobei der Beamte ihm nichtsahnend selbst die Handhaben dazu liefert.

Ständige Beobachtung des Beschuldigten. Ebensowenig wie der Vernehmende seine eigenen Seelenregungen in vollem Umfang zeigen darf, sollte er umgekehrt der Verhörsperson Gelegenheit geben, die ihrigen zu verbergen. Er darf den Beschuldigten daher während der Befragung keinen Augenblick aus den Augen lassen. Wenn er auch nur wenige Sekunden in den Akten blättert oder einen Telefonanruf abwehrt, ist er genötigt, seine Aufmerksamkeit vom Beschuldigten wegzuwenden und begibt sich während dieser Zeit der Kontrolle über ihn.

Spezielle Haltung des Verhörsleiters

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Der Beschuldigte erhält dadurch unnötigerweise Gelegenheit, sich zu fassen und seine Kräfte zu konzentriertem Widerstand zu sammeln. Läßt der Vernehmende sich gar mehrfach in dieser Weise ablenken, so schwinden, wenn er einen böswillig leugnenden Beschuldigten vor sich hat, die Aussichten, ihn zu überführen, zusehends dahin. Denn es entgehen ihm dabei etwaige Zeichen von Unsicherheit und Schuldbewußtsein, die unter Umständen den Schlüssel für die Aufklärung des Falles hätten bilden können. Ist der Verdächtige unschuldig, so wird ihm die unverwandte Aufmerksamkeit des Vernehmenden, die übrigens nicht aufdringlich und taktlos zu wirken braucht, kaum lästig sein. Ist er jedoch schuldig, so bringt ihn die unausgesetzte Wachsamkeit des Untersuchungsleiters oft in ernste Schwierigkeiten, weil sie ihm keine Zeit für taktische Überlegungen läßt, ihn vielmehr ständig in Atem hält, so daß er spontan handeln muß und dadurch Gefahr läuft, sich Angriffspunkte zu geben.

Allzu starkes Erfolgsstreben des Verhörsleiters als Hindernis. Der Ehrgeiz des Vernehmenden braucht bei der Wahrheitstindung keineswegs ausgeschaltet zu werden. Er ist im Gegenteil oft eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der Sachaufklärung. Aber der Beamte darf nicht unbedingt zum Erfolg kommen wollen. Das würde ihn nur voreingenommen machen und irreführen. Er sollte zudem auch beim Beschuldigten nicht den Eindruck entstehen lassen, als wenn er vom Erfolg seiner Ermittlungen völlig abhängig und auf ein positives Ergebnis angewiesen sei. Das würde die Situation des Verhörsleiters unnötig erschweren. Der Vernehmende braucht zwar einen unverwüstlichen Aufklärungswillen und sollte ihn sich nicht schmälern lassen. Aber er tut doch gut, hinsichtlich des Endergebnisses der Untersuchung eine gewisse Gelassenheit zu beobachten. Er darf - so schwer ihm das manchmal auch fallen mag - seinen Gleichmut nicht verlieren, wenn trotz gewissenhafter Pflichterfüllung die Aufklärungsarbeit nicht zum Erfolg zu führen scheint. Ein solcher Hinweis ist nötig, weil der Untersuchungsleiter, zumal wenn die Presse sich in Sensationsprozessen der Sache angenommen hat, bisweilen unter starkem Druck arbeiten muß und dann leicht in Schwierigkeiten kommen kann, wenn es ihm an einer grundsätzlichen Besinnung in dieser Hinsicht fehlt. Bei den polizeilichen Ermittlungsbeamten und den Staatsanwälten hängt viel davon ab, ob die oberen Dienststellen der Arbeit des Untersuchungsführers auch dann Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn eine restlose Klärung trotz ordnungsmäßig durchgeführter Nachforschungen nicht zu erreichen war. Die vorgesetzte Behörde hat es weitgehend in der Hand, durch Anerkennung auch in solchen Fällen die

Die Befragung des Beschuldigten

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Tendenz der Beamten zu ruhiger und unbeirrter Tatsachenarbeit zu stärken.

Sofortige Auswertung des Materials. Der Stoff, der während der Erörterung fortlaufend durch Mitteilungen des Beschuldigten und durch Beobachtungen des Vernehmungsleiters über das Verhalten seines Gesprächspartners hinzukommt, muß auch hier sofort zu dem bisher Bekannten in Beziehung gesetzt und in den Gesamtrahmen eingeordnet werden, den die vom Vernehmenden zugrunde gelegte Arbeitshypothese (S. 34) liefert. Jede Einzelheit ist möglichst sogleich an die Stelle zu bringen, die für sie voraussichtlich die passendste ist. Dies kann freilich nicht immer auf Anhieb gelingen, so daß oftmals nachträglich Änderungen vorgenommen werden müssen. Trotzdem wäre es verkehrt, die Dinge zunächst einmal in der Form zu belassen, in der der Prozeßgang sie uns dargeboten hat und davon auszugehen, daß die Sichtung für einen späteren Zeitpunkt aufgespart werden könne. Bei einem größeren Material wird der Vernehmende sich zunächst mit einer mehr oder minder groben Aufgliederung zu begnügen haben, die dann nach und nach verfeinert werden kann. Bei den Ermittlungen über eine Schlägerei mit tödlichem Ausgang könnte er die Einteilung etwa nach folgenden Gesichtspunkten vornehmen: -

Hat der Beschuldigte angegriffen oder ist er angegriffen worden? Was war den Tätlichkeiten vorausgegangen? Inwiefern ist der Beschuldigte etwa provoziert worden?

-

In welchem Maße standen er und sein Gegner zur Zeit der Tat unter Alkoholeinfiuß?

-

Hatte der Beschuldigte den Tötungsvorsatz oder wollte er nur verletzen? usw.

Haushalten des Vernehmenden mit seiner Kraft. Meist muß der Wahrheitsforscher unter dem Zwang der Verhältnisse die Einordnung der Einzelheiten während der Befragung nebenher vornehmen. Manchmal hat er aber auch Gelegenheit, zwischen den Untersuchungshandlungen Pausen einzulegen und währenddessen die Einzelheiten auf sich wirken zu lassen. Auf Grund solcher Selbstbesinnung wird es ihm leichter fallen, die Übersicht über das Ganze zu behalten und seine Kräfte richtig einzuteilen. Er entgeht dadurch der Gefahr, sich zum Schaden für die Sache auf einen Einzelpunkt zu sehr zu versteifen. Der Vernehmende hat nicht nur das Tatsachenmaterial entgegenzunehmen und zu verarbeiten. Er muß sich vielmehr zugleich auch mit den prozessualen Fragen auseinandersetzen, ferner die taktischen Fragen erwägen und auch den materiellrechtlichen Problemen die nötige Aufmerksamkeit widmen. Das erfordert ein ökonomisches Umgehen

Formen der Gegenwehr des Beschuldigten

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mit der eigenen Kraft, zumal wenn im Einzelfall noch Erschwerungen besonderer Art hinzukommen wie z. B. technische Schwierigkeiten bei der Durchführung eines Ortstermins, Widerspenstigkeit des Beschuldigten, ordnungswidriges Verhalten der Zuhörer während der Hauptverhandlung usw.

Formen der Gegenwehr des Beschuldigten

Hochfahrendes Benehmen. Von den zahlreichen Mitteln, mit denen der in Bedrängnis befindliche Verdächtige sich unter Umständen einer Klärung des Sachverhalts zu widersetzen sucht, können im folgenden nur einige häufiger augewandte erwähnt werden. Manche Beschuldigte, die sich in guter Verteidigungsposition befinden und ihrer Sache sicher zu sein glauben, lassen den Untersuchungsführer das sehr deutlich merken. Sie versuchen ihn durch ironische Redewendungen zu beeindrucken oder durch eine überhebliche, vielleicht sogar triumphierende Miene zu verwirren. Sie behalten ihr herablassendes, überlegenes Lächeln manchmal selbst dort bei, wo nach dem Stand der Ermittlung für sie nicht der geringste Anlaß dazu vorhanden ist. Mitunter trägt der Beschuldigte auch offene Geringschätzung zur Schau oder macht sich gar über den Vernehmenden und seine - wie es scheint - erfolglosen Aufklärungsversuche lustig. Er muß dann, sofern man auf seine Angaben angewiesen ist, mit legalen Mitteln umgestimmt und zur Einsicht gebracht werden. Ergibt sich dabei, daß auf schonende Weise nichts zu erreichen ist, so kann unter Umständen strengeres Vorgehen nötig sein, das gleichwohl nicht zu Schroffheiten zu führen braucht. Ein kraftvolles Auftreten des Vernehmenden kann in solchen Fällen auch vom Standpunkt einer geläuterten psychologischen Erkenntnis durchaus angebracht sein. Zuweilen wird auf diese Weise der Kontakt zur Vernehmungsperson, der sonst durch harte Maßnahmen leicht in Frage gestellt erscheint, gerade herbeigeführt und der Beschuldigte zu einer leidlichen Mitarbeit gebracht.

Gespielte Entrüstung. Manchmal stellt sich der Beschuldigte, zumal wenn ihm unangenehme Fragen vorgelegt werden, gereizt und verärgert, um dadurch eine wohlwollendere Vernehmungsweise zu erreichen. Er spielt den Gekränkten, wenn man ihm nicht sogleich glauben will, und tut beleidigt, wenn der Untersuchungsleiter ihm auf Grund des vorliegenden Materials seine strafwürdige Aufführung vorhält. Besonders Frauen wenden diese Methode in vielen Variationen an und wissen sie mitunter sehr geschickt zu handhaben.

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Die Befragung des Beschuldigten

Da hier die verschiedenartigsten Umstände mitsprechen können, hat der Vernehmende jeweils besonders zu erwägen, wie er sich einer solchen Verteidigungsweise gegenüber einstellen soll. Meist ist es am besten, wenn man die auf Mitleid berechnete Pose bzw. die vorgetäuschte Empörung mit Gleichgültigkeit hinnimmt. Nichts klärt die Atmosphäre, in der die Vernehmung vor sich geht, besser, als wenn der Beamte, ohne dabei verletzend zu wirken, keinen Zweifel über die Zwecklosigkeit einer solchen Aufführung läßt. Vielfach gibt der Beschuldigte derartige Versuche dann sehr bald auf, wenn auch nur, um seine Belange mit neuen Methoden wahrzunehmen.

Ausweichtaktik des Vernommenen. Wenn der Verdächtige die Sachklärung durch ständiges Ausweichen zu erschweren sucht, besteht die einzig erfolgversprechende Gegenmaßnahme darin, daß der Vernehmende mit unerschütterlicher Folgerichtigkeit einen Punkt nach dem andern peinlich genau erörtert und den Beschuldigten zu möglichst präzisen Stellungnahmen nötigt, am besten unter schriftlicher Festlegung von Frage und Antwort. Man benimmt ihm dadurch weitgehend die Möglichkeit, sich mit Ausflüchten und Ablenkungsmanövern aus der Affäre zu ziehen; denn er möchte naturgemäß vermeiden, daß seine allzu durchsichtige Taktik aktenkundig wird und dadurch auch später für jedermann erkennbar bleibt. Offene Widersetzlichkeit. Nicht immer begnügt sich der Beschuldigte mit den subtileren Formen der Gegenwehr; mitunter geht er zu offener Auflehnung über. Dann gehört zuweilen einiges psychologisches Geschick dazu, seine Widerspenstigkeit angemessen zu parieren. Die dabei in Betracht kommenden Sachgestaltungen müssen jedoch sorgfältig auseinandergehalten werden: - Manchmal stellt die Widerspenstigkeit nur einen Protest gegen vorausgegangene prozessuale Fehler oder gegen taktische Ungeschicklichkeiten des Vernehmenden dar. Sie kommt dann meist verhältnismäßig leicht dadurch zum Abklingen, daß man dem Beschuldigten nunmehr Gerechtigkeit widerfahren läßt. - Die Aufsässigkeit kann auch der Ausdruck einer Hilf- und Ratlosigkeit sein, in die der Verdächtige dadurch gekommen ist, daß sich das Netz der Überführungsbeweise immer enger um ihn schließt. Wenn Aussicht besteht, diese für den Beschuldigten ungünstige Verfahrenslage durch neue Beweiserhebungen zu bessern, dann wird sich seine Heftigkeit zurückbilden, sobald er sieht, daß der Vernehmende sich pflichtgemäß anschickt, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Sind keine Handhaben in dieser Hinsicht vorhanden, so kommt es vielfach darauf an, den Beschuldigten dazu anzuleiten, daß er sich mit der

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für ihn ausweglosen Situation abfindet und daraus die Konsequenzen zieht. -Die Unbotmäßigkeiten können aber auch ein wohlüberlegtes Verteidigungsmanöver sein, das den Vernehmenden in Atem halten und von zielstrebigen Aufklärungsmaßnahmen ablenken soll. Dann muß dem Beschuldigten zum Bewußtsein gebracht werden, daß seiner Sache mit dieser Art von Abwehrhaltung wenig gedient ist und daß er im eigenen Interesse besser tut, davon Abstand zu nehmen.

Unvoreingenommenheit auch gegenüber schwierigen Verhörspersonen. Der Vernehmende darf sich, wenn er mit eigensinnigen und querköpfigen Beschuldigten zu tun hat, nicht vom Unmut über die Renitenz seines Partners hinreißen lassen. Er könnte sonst in der Auseinandersetzung mit dem Beschuldigten leicht den Kürzeren ziehen, zumal wenn dieser seinerseits gefaßt bleibt und es vielleicht geradezu darauf angelegt hat, den Vernehmenden in Harnisch zu bringen, um sich das zunutze zu machen6 • Obwohl der Grundsatz, daß der Beamte völlige Gelassenheit bewahren soll, als solcher feststeht, ist es mitunter schwer, ihm im Einzelfall unter widrigen Umständen Geltung zu verschaffen, zumal wenn der Beschuldigte darauf ausgeht, zu provozieren. Wer dazu neigt, auf Widersetzlichkeiten erregt zu reagieren, sollte sich, sobald er in dieses Fahrwasser zu geraten droht, unter strenge Kontrolle nehmen. Er darf sich auch durch mancherlei Fehlschläge und Niederlagen nicht entmutigen lassen. Bei unausgesetzter Bemühung wird ihm Erfolg nicht versagt bleiben.

Starrsinn, Verstocktheit, Trotz. Die Auflehnung von Menschen mit derartigen Tendenzen macht je nach der Verschiedenheit der zugrunde liegenden Ursachen ein unterschiedliches Verhalten des Vernehmenden nötig. Fast stets zeigt sich jedoch, daß in solchen Fällen ein allzu strenges Auftreten verfehlt ist. Der Vernehmende sollte zwar mit Festigkeit und Konsequenz vorgehen; er braucht regelrechte Frechheiten des Beschuldigten keineswegs ungerügt hinzunehmen. Aber es wäre verkehrt, wenn er einer starrsinnigen oder verstockten Verhörsperson gegenüber sogleich das schärfste Geschütz auffahren würde. Durch schroffes Vorgehen und harte Maßnahmen wird das Übel meist nur vergrößert. Man treibt einen solchen Beschuldigten dadurch in der Regel noch tiefer in seine Abwehrhaltung hinein und erreicht statt der Beseitigung des Widerstandes nur dessen Versteifung. Aussichtsreicher ist es, wenn man den Beschuldigten unter Zurückweisung von Ungehörigkeiten doch mit einem gewissen Verständnis behandelt und ihn 8

Groß, Handbuch S. 160.

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Die Befragung des Beschuldigten

allmählich aus seiner unfruchtbaren Widerstandshaltung herauszubringen versucht. Meist wirkt es günstig, wenn der Vernehmende bei groben Entgleisungen dem Beschuldigten nach und nach das entzieht, was er ihm vorher an Gewogenheit etwa gezeigt hatte. Es besteht dann die Möglichkeit, später stufenweise wieder etwas mehr Wohlwollen erkennen zu lassen und zu erproben, ob der Beschuldigte sich durch dieses Verfahren umstimmen läßt. Selbst in extremen Fällen, in denen der Verdächtige den Vernehmungsleiter durch terroristisches Gebaren an der weiteren Aufklärung der Sache zu hindern sucht, nimmt er manchmal von dieser Verteidigungsmethode Abstand, wenn ihm in angemessener Weise klar gemacht wird, daß seine Versuche an der Entschlossenheit des Vernehmenden scheitern müssen. Man darf freilich nicht mit schnellen Erfolgen rechnen, sondern muß sich von vornherein mit Geduld wappnen. Die aufgewandte Mühe wird sich jedoch, wenn die Wahrheitsforschung im fraglichen Fall auf die Mitwirkung des Beschuldigten nicht verzichten kann, regelmäßig irgendwie lohnen. Stets von Vorteil ist es auch hier wieder, wenn man während der Erörterung mit dem Gesprächspartner dessen Eigenart zu ergründen sucht. Vielfach erhält der Vernehmende dadurch wichtiges Material, auf Grund dessen er die Methode herauszufinden vermag, mit der gerade diesem Menschen beizukommen ist. Zuweilen läßt nur eine kaum merkbare Reaktion des Beschuldigten auf ein bestimmtes Vorgehen erkennen, was ihn zu beeindrucken vermag. Wert der gesammelten taktischen Erfahrungen für spätere Fälle.

Während des Verhörs ist es nicht möglich, das Für und Wider vernehmungstechnischer Maßnahmen in Muße zu erwägen. Der Beamte muß vielmehr in der Regel so schnell handeln, daß ihm keine Zeit zum ruhigen Nachdenken verbleibt. Er kann die zutreffende Art des Vorgehens dann meist nur intuitiv herausfinden. Trotzdem wird er gefühlsmäßig das Richtige treffen, wenn er sich nach und nach ein hinreichendes Erfahrungswissen verschafft, das (woran oft nicht gedacht wird) auch für ein intuitives Handeln unerläßlich ist. Dazu wird nicht nur ein allgemeines Interesse für vernehmungstechnische Probleme gefordert, sondern vor allem auch die gewissenhafte Auswertung des dem Vernehmenden zuwachsenden Erfahrungsstoffs. Der Beamte sollte zu diesem Zweck nach jedem Verhör, das Zweifel übriggelassen hat, sich die Verhaltensmöglichkeiten vergegenwärtigen, die zur Verfügung standen, und die zwischen ihnen getroffene Auswahl kritisch überprüfen. Es wäre unrecht, wenn er die damit verbundene Mühe deshalb für

Förderung der Geständnisbereitschaft

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vergeblich halten würde, weil diese nachträgliche Erwägung für den fraglichen Fall zu spät kommt. Denn die dabei gewonnenen Erkenntnisse können ihm für die Zukunft beste Dienste leisten.

Förderung der Geständnisbereitschaft Darf der Vernehmende auf ein Geständnis hinwirken? Daß es dem Ermittlungsbeamten bei entsprechender Beweislage erlaubt ist, dem Beschuldigten ein Geständnis nahezulegen, sollte nicht zweifelhaft sein. Auch der Richter ist grundsätzlich als befugt anzusehen, in g e eignet e n Fällen auf ein Geständnis hinzu wirken, insbesondere wenn der Beschuldigte sich in beträchtliche Widersprüche verwickelt hat oder sonst erheblich belastet erscheine. Es bedarf jedoch jeweils der besonderen Erwägung, inwieweit es im Interesse der Wahrheitsforschung liegt, nach einem Schuldbekenntnis zu streben. Fragwürdiges Hinarbeiten auf Geständniserklärungen. Das Geständnis ist heute nicht mehr wie ehemals die "Königin der Beweismittel" in dem Sinn, daß dort, wo es fehlt, eine Verurteilung nicht erfolgen darf. Sein Wert wird auch dadurch gemindert, daß es unzutreffend sein kann und erst auf seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit geprüft werden muß. Nicht selten büßt es zudem nachträglich dadurch einen Teil seiner Überzeugungskraft ein, daß der Beschuldigte seine Einräumungen widerruft. Der Wert von Geständniserklärungen darf mithin nicht überschätzt werden 8 •

Oft handelt der Untersuchungsführer daher richtiger, wenn er, statt Zeit und Kraft auf die Erlangung eines Geständnisses zu verwenden, den Sachverhalt mit Hilfe der personellen und der Sachbeweise weiter erforscht. Diese Art des Vorgehens hat auch den Vorzug, daß sich der Vernehmende gedanklich davon unabhängig macht, ob der Beschuldigte sich zu einem Anerkenntnis herbeiläßt oder nicht, und dadurch der Versuchung entgeht, fortgesetzt hinter einem Geständnis herzujagen und auf dieses - vielleicht ganz vergeblich - seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren. 7 Das ist zu Unrecht bestritten worden. Im älteren Schrifttum hatte vor allem Henschel jede auch noch so flüchtige Anregung zum Geständnis für unzulässig erklärt (Gerichtssaal, Beiheft zu Bd. 74, 1909, S. 36, 49 ff.); neuerdings ebenso Eb. Schmidt, Lehrkommentar zu§ 136 Anm. 17; Schwarz StPO (18) zu § 136 Anm. 1 B. 8 R. v. Hippel, Der deutsche Strafprozeß (1941) S. 423; A. Hellwig, Psychologie S. 66 ff.; H. Donnedieu de Vabres, Traite de droit criminel et de legislation penale comparee (13) 1947 S. 728; Altavilla II. 30; Wyschinski s. 276 ff.

13 Dllhring

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Die Befragung des Beschuldigten

Wer sich in dieser Hinsicht nicht in Zucht nimmt, vernachlässigt über dem Streben nach Geständniserklärungen nicht selten die volle Ausnutzung der sonstigen, für die Aufklärung oft viel wichtigeren Beweismittel. Er leistet dadurch gerade dem böswillig leugnenden Beschuldigten indirekt Hilfe und macht es ihm leicht, die endgültige Erforschung der Sache zu erschweren. Ist der Verdächtige schuldig, so wird er, wenn der Ring der Überführungsindizien ihn immer enger umschließt, oft von selbst zur Aufgabe des Widerstandes genötigt werden, ohne daß man ihm ein Geständnis nahezulegen braucht. Gesteht er dagegen nicht, so werden sich, falls die sonstigen Beweismöglichkeiten gewissenhaft benutzt worden sind, daraus mitunter so viele Belastungsmomente ergeben, daß man des Geständnisses kaum noch bedarf.

Nutzen des Geständnisses für die Wahrheitsforschung. Ein Schuldbekenntnis kann zunächst die Handhabe zu neuen Ermittlungen geben und dadurch die völlige Aufklärung der Sache einleiten. Mitunter vermag es auf diese Weise das Überführungsmaterial so zu vervollständigen, daß nunmehr ein voller Beweis zustande kommt. Bisweilen gelangen dabei Umstände ans Licht, die weder durch Zeugen noch durch andere Beweismittel hätten zutage gefördert werden können. Aber auch dort, wo bereits hinreichende objektive Beweise für die Schuld des Verdächtigen vorliegen, kann das Geständnis dadurch von Wert sein, daß es dem Beurteiler eine letzte Sicherheit gibt und die auf ihm ruhende Verantwortung weiterhin mindert. Es ist deshalb verständlich und auch gerechtfertigt, daß der Vernehmende bei seinen Bemühungen um eine Sachklärung mit besonderer Aufmerksamkeit auf Äußerungen des Beschuldigten achtet, die Einräumungen und Zugeständnisse enthalten. Trotz der bereits genannten Schwächen, die das Geständnis als Beweismittel hat, kann somit gesagt werden, daß die Ermittlung unter Umständen einen großen Schritt vorwärts kommt, wenn der Beschuldigte ein glaubwürdiges Schuldbekenntnis ablegt. Wo- wie in manchen Ländern- beim Vorliegen eines umfassenden Geständnisses nur ein abgekürztes Strafverfahren stattzufinden braucht, liegt darin für den Wahrheitsforscher ein besonders starker Anreiz, auf die Ablegung eines Geständnisses hinzuwirken. Auch die vielfach zu beobachtende Neigung der Schwurgerichte, bei Kapitalverbrechen nur dann zu verurteilen, wenn der Angeklagte sich zur Tat bekannt hat, nötigt die Untersuchungsorgane in Schwurgerichtssachen mitunter, sich in dieser Richtung angelegentlich zu bemühen.

Indirekte Methode der Geständnisförderung. Wo es nach dem Gesagten gerechtfertigt erscheint, auf ein Schuldanerkenntnis hinzuwirken, sollte der Vernehmende sich in der Regel darauf beschränken, die psy-

Förderung der Geständnisbereitschaft

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chologischen Voraussetzungen zu schaffen, unter denen ein schuldiger Verdächtiger erfahrungsgemäß leicht zum Geständnis kommt. Dazu gehört zunächst, daß der Vernommene auf Grund der ihm zuteil gewordenen Behandlung sich bei diesem Beamten (mag er auch zielsicher und energisch auftreten) relativ gut aufgehoben fühlt. Es nützt manchmal schon viel, wenn der Beschuldigte den Eindruck erhält, daß der Vernehmende nicht zu den gefürchteten Scharfmachern gehört, sondern bereit ist, etwaigen Entlastungsmöglichkeiten näherzutreten und sie unvoreingenommen zu prüfen.

a) Mitteilungsbedürfnis des Täters. Ein Wegbereiter für das Geständnis ist nicht selten der starke Trieb des Beschuldigten, über den Hergang der Sache zu sprechen. Manche Delinquenten, vor allem Gewaltverbrecher, fühlen sich dazu gedrängt, anderen von dem ungeheuren Erleben, das der Tatvorgang für sie darstellt, wenigstens andeutungsweise Kenntnis zu geben. Sie können das Geheimnis nicht mehr für sich behalten, obwohl Klugheitsgründe sie eigentlich zum Schweigen veranlassen müßten. Sie wollen sich darüber aussprechen, um dadurch die ihnen unerträglich werdende innere Spannung zu mildern. Darauf dürfte die immer wieder zu beobachtende, auf andere Weise kaum erklärliche Tatsache beruhen, daß der unbekannte Täter bisweilen durch eine Zeitungsanzeige, für die von seinem Standpunkt aus keinerlei Notwendigkeit vorlag, durch vorwitzige anonyme Briefe an die Kriminalpolizei oder auf ähnliche Art den Ermittlungsbehörden verkappte Hinweise auf seine Person gibt, die nicht selten einer Selbstanzeige fast gleichkommen. b) Benutzung affektiver Regungen. Erleichtert wird die Ablegung des Geständnisses oft auch dadurch, daß man im Beschuldigten eine starke Gemütsbewegung hervorruft, die ihn möglicherweise übermannt und zur Aufgabe des Leugnens veranlaßt. Man rechnet damit, daß infolge der Gefühlsaufwallung seine Vorsicht nachlassen und daß er sein Verhalten dann nicht mehr in der Gewalt haben wird. Es ist dies ein altes Mittel der Kriminalistik, das auch heute noch, teils in primitiver, teils in verfeinerter Form, angewandt wird. Bei Leidenschaftstaten kann man zu diesem Zweck den Verdächtigen an den Tatort führen, um das Wiederaufleben des mit dem Tatgeschehen verbunden gewesenen Affekts zu begünstigen und zu beobachten, ob der Beschuldigte sich dabei verrät; in Mordfällen wird er vielfach mit der Leiche des Ermordeten konfrontiert usw. Gerade die erste Vernehmung ist dazu besonders geeignet. Je näher der Tatvorgang zeitlich liegt, desto eher ist zu erwarten, daß der Beschuldigte, wenn er die Tat beging, noch stark unter dem Eindruck des Verbrechens steht und seine Beziehung zur Tat wider Willen irgendwie erkennen läßt. 13*

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Die Befragung des Beschuldigten

In diesen Zusammenhang gehört auch die früher viel geübte Methode, den Beschuldigten dadurch zum Geständnis zu bringen, daß man ihm seine Frau und Kinder vorführt, die ihn weinend anflehen, seine Schuld zu bekennen, falls er die Straftat, deren er verdächtig ist, begangen haben sollte.

c) Wirkung bestimmter Ehrauffassungen. Ein weiteres Mittel, das die Abgabe von Geständniserklärungen begünstigen kann, ist unter Umständen der Appell an Ehrbegriffe, die der Beschuldigte als für sich verbindlich anerkennt. Manchmal wird er dadurch so beeindruckt, daß er sein wahrheitswidriges Leugnen ganz unvermittelt aufgibt. Er will nicht, daß es so aussieht, als wenn ihm die kaufmännische, die soldatische oder die Beamtenehre nichts mehr bedeute.'Um diesen Eindruck zu vermeiden, ist der Beschuldigte gegebenenfalls bereit, selbst eine ziemlich unangreifbare Verteidigungsstellung aufzugeben. d) Streben des Beschuldigten nach Anerkennung. Zuweilen ist es auch der Geltungstrieb, der den Vernommenen überwältigt. Er möchte, daß man seine Intelligenz oder seine Kühnheit bewundert. Mitunter verleitet ihn dieses Streben sogar zu sehr detaillierten Angaben über das Tatgeschehen. Der Wunsch, sich in dieser Hinsicht ins rechte Licht zu stellen, bringt den Beschuldigten dann dazu, daß er die Nachteile willig in Kauf nimmt, die ihm aus dem Geständnis im Strafverfahren erwachsen. Mitunter wird, auch ohne daß beim Beschuldigten ein ausgesprochenes Geltungsbedürfnis vorhanden ist, seine Geständnisbereitschaft schon dadurch herbeigeführt, daß der Vernehmende ihn trotz des bestehenden Tatverdachts für voll nimmt und ihn "für etwas ansieht". Mancher Beschuldigte empfindet es gerade in seiner bedrängten Lage außerordentlich dankbar, daß man ihm trotz allem ein gewisses Maß von Achtung entgegenbringt. Dieses Erlebnis wirkt auf ihn so befreiend, daß ihm dadurch der Entschluß zur Aufgabe des Widerstandes leicht wird. Wenn der Vernehmende die Umstände herauszufinden weiß, die gerade diesem Menschen ein Schuldbekenntnis leicht machen würden, vermag er die Erörterung entsprechend einzurichten und zum Erfolg zu kommen9 •

Direkte Methode. Wenn der Vernehmende den Verdächtigen regelrecht zum Geständnis zu überreden versucht, geht er damit vom indirekten zum direkten Verfahren über. Erscheint das nach Lage der Sache notwendig, so wird er dem Beschuldigten die gegen ihn sprechenden Momente vorhalten, um ihn von der Nutzlosigkeit weiterer Gegenwehr 9 H. v. Hentig in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht, Jg. 1929, S. 33 und in der Festschrift für Th. Rittler (1957) S. 377.

Förderung der Geständnisbereitschaft

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zu überzeugen. Er hat den Beschuldigten in diesem Zusammenhang gegebenenfalls auch auf die Brüchigkeit seines Entlastungsvorbringeng hinzuweisen. Gefährlicher sind dagegen vielfach die Argumente, mit denen der Praktiker zuweilen dem Betroffenen klarzumachen versucht, daß ein Schuldanerkenntnis im gegenwärtigen Zeitpunkt seinem Interesse am besten entspricht; so der oft gegebene Hinweis, daß ein rechtzeitiges Geständnis auf das Gericht einen günstigen Eindruck machen werde, daß dadurch der Abschluß des Verfahrens beschleunigt und das Stadium der Ungewißheit abgekürzt werden könne usw. Der Vernehmende sollte von solchen Belehrungen, selbst wenn sie inhaltlich durch die Sachlage vollkommen gerechtfertigt sind, nur mit Zurückhaltung Gebrauch machen. Intensivere Bemühungen um ein Geständnis sind überhaupt nur dann angebracht, wenn der Beschuldigte bereits stark belastet ist oder doch wenigstens einige wichtige Schuldindizien gegen ihn vorliegen. Unzulässig wäre es dagegen, diese Taktik sozusagen auf gut Glück anzuwenden, ohne daß bereits handfeste Überführungsaussichten vorhanden sind. Manchmal wird der Beschuldigte, was hier immerhin der Erwähnung bedarf, auch schon dadurch entwaffnet, daß man seine Berechnungen und Erwartungen mit Hilfe der einfühlenden Betrachtung treffsicher rekonstruiert und sie ihm in plastischer Form vor Augen führt. Selbst wenn eine solche Rekonstruktion vom Vernehmenden nicht als die allein in Betracht kommende, sondern nur als diejenige bezeichnet wird, die seiner Meinung nach einiges für sich hat, sieht der Beschuldigte sich durch sie zuweilen als entlarvt an. Er erkennt, daß die Geheimnisse, die er bis dahin sorglich gehütet hat, im wesentlichen entdeckt sind und gibt den Kampf unter Umständen auf, selbst wenn vielleicht in einzelnen Beziehungen die volle Wahrheit noch nicht an den Tag gekommen ist. Auch bei Anwendung der direkten Methode sollte der Vernehmende ein nachhaltiges Drängen vermeiden, schon um nicht beim Beschuldigten den Eindruck entstehen zu lassen, als ob er bei der Aufklärung der Sache auf ein Geständnis unbedingt angewiesen sei. Wenn er eine gewisse Uninteressiertheit in dieser Hinsicht zur Schau trägt, so ist das der Erlangung von Geständniserklärungen meist förderlicher als ein übereifriges, ungestümes Gebaren.

Bedeutung der psychischen Zwangslage. In gewisser Weise hat es immer etwas Mißliches an sich, wenn die Wahrheitstindung von der augenblicklichen Ratlosigkeit und Bedrängnis, in der sich der Beschuldigte befindet, zu profitieren versucht. Gleichwohl muß sich der Ver-

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Die Befragung des Beschuldigten

nehmende mitunter auch solcher Möglichkeiten bedienen. Inwieweit dies geschehen kann, ohne daß dabei die Grenzen des Zulässigen überschritten werden, läßt sich nur sehr allgemein darlegen. Daß der Beamte dem Beschuldigten die ohnehin auf ihm ruhenden seelischen Belastungen nicht ohne weiteres abnehmen darf, ist ziemlich allgemein anerkannt10 • Selbst die den Beschuldigten weitgehend begünstigende angloamerikanische Rechtslehre ist ganz überwiegend dieser Auffassung. John H. Wigmore (gest. 1943), der in den USA immer noch als erste Autorität auf dem Gebiet des Beweisrechts gilt und gewiß nicht in den Verdacht geraten kann, daß er die Rechte des Beschuldigten über Gebühr verkürzen wolle, ging über das Gesagte sogar hinaus, indem er betonte, daß der Wahrheitsforscher in manchen Fällen verpflichtet sei, den auf dem Beschuldigten ruhenden psychischen Druck im Interesse der Wahrheitstindung noch zu verstärken 11 • Andererseits ist bei dem Bestreben, die seelische Belastung des Beschuldigten für die Erlangung eines Geständnisses auszunutzen, Vorsicht geboten. Es ist eine Frage des Taktes, wieweit der Vernehmende dabei gehen darf. Er wird hier ganz besonders ein loyales Verhalten zeigen und darauf achten müssen, daß die natürlichen Gebote der Menschlichkeit nicht verletzt werden. Der Beamte hat aber weiterhin stets zu erwägen, ob es den Aufklärungszweck wirklich fördert, wenn der geistige Zwang, unter dem der Beschuldigte meist ohnehin steht, noch forciert wird. Er sollte daran denken, daß in bedeutenderen Strafsachen die abgelegten Geständnisse vielfach mit der Begründung widerrufen werden, daß sie durch Anwendung psychischer Druckmittel zustande gekommen seien 12 • Der Vernehmende muß daher stets damit rechnen, daß er später in der Hauptverhandlung genötigt sein wird, die Freiwilligkeit des Geständnisses gegen den Widerspruch des Angeklagten überzeugend darzutun. Wer zudem bereits erlebt hat, wie kritisch viele Strafgerichte den Aussagen eines Ermittlungsbeamten gegenüberstehen, der in einem solchen Fall gewissermaßen als Zeuge in eigener Sache auftritt, wird, wenn er den Weg einer "Vernehmung auf Geständnis" wählt, nicht auf Scheinerfolge ausgehen, die im entscheidenden Augenblick in Nichts zusammenfallen. Soweit es danach rechtlich zulässig ist, die besondere psychische Situation, in der sich der Beschuldigte befindet, für die Wahrheitsfor10 Lenz im Handwörterbuch für Kriminologie (1933/36) Art. "Vernehmungstechnik"; über gewisse Ausnahmen von dieser Regel oben S. 184. 11 Über Wigmores Bedeutung für die Theorie des Beweisrechts vgl. W. R. Roalfe im Journal of Criminal Law, Criminology and Police Science Bd. 53 (1962) S. 277-300 mit ausführlichen Schrifttumsangaben. 12 Vgl. S. 206 ff.

Unzulässige Vernehmungsmethoden

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schung nutzbar zu machen, muß doch stets dafür gesorgt werden, daß der Beschuldigte die Möglichkeit eigener Entschließung behält und daß ihm (was nicht weniger wichtig ist) auch das subjektive Gefühl der inneren Freiheit erhalten bleibt. Der Vernehmungsleiter hat dabei die Nervenverfassung und den sonstigen Kräftezustand des Beschuldigten angemessen in Rechnung zu stellen. Selbst bei Schwerverbrechen, deren Aufklärung vom öffentlichen Interesse dringend gefordert wird, ist sorgfältig zu taxieren, ob im gegebenen Fall der Wahrheitsforschung damit gedient ist, wenn man den Widerstandswillen des Beschuldigten, soweit es nur irgend angeht, zu schwächen versucht. Nicht nur bei Hysterikern und ausgesprochen depressiv gestimmten Menschen, sondern auch sonst kann psychischer Druck, selbst wenn er noch in den gesetzlich zulässigen Grenzen bleibt, im Einzelfall unangebracht sein. Es ist in dieser Hinsicht auf die englische Ermittlungspraxis hinzuweisen, die zwar auch nicht ganz auf psychischen Zwang verzichtet, aber im Grunde doch von der Überzeugung beherrscht wird, daß jede Erforschungsmethode, die den Verteidigungswillen des Beschuldigten allzusehr erschüttert, die Gefahr des Irrtums und des Mißerfolgs in sich birgt13 •

Unzulässige Vernehmungsmethoden Allgemeine Gesichtspunkte

Gesetzliche Verbote. Die Aussagefreiheit des Beschuldigten steht unter einem starken Schutz. In den meisten Prozeßordnungen sind Mißhandlung, Drohung und Täuschung als vernehmungstechnische Mittel ausdrücklich untersagt. In Deutschland hat der Gesetzgeber auf Grund der betrüblichen Erfahrungen aus den Jahren 1933-45 besondere Vorkehrungen gegen derartige Übergriffe getroffen. Das allein vermag jedoch unzulässige Praktiken nicht zu verhindern. Das eigentlich Entscheidende ist allenthalben nicht die Gesetzeslage, sondern die Praxis der Wahrheitsforschung, die mitunter ein ganz anderes Aussehen hat, als man es nach den gesetzlichen Bestimmungen vermuten sollte. Letzten Endes ist die Korrektheit der Ermittlungstätigkeit von der geistigen Haltung derer abhängig, die sie ausüben. Gänzlich ausrotten läßt sich der Gebrauch unzulässiger Zwangsmittel daher im 13 Wie wachsam und kritisch die englische Öffentlichkeit die Handhabung der polizeilichen Untersuchungen verfolgt, zeigt der Bericht der Royal Commission on Police Powers von 1929 und neuerdings der Bericht der Britischen Sektion der Internationalen Juristenkommission "Preliminary Investigation of Criminal Offences" (London 1960).

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Die Befragung des Beschuldigten

Grunde nur durch entsprechende Erziehung des juristischen und kriminalistischen Nachwuchses.

Starke Versuchung zu Pflichtwidrigkeiten dieser Art. Das Problem ist von so eminenter Wichtigkeit, weil die Anwendung unzulässiger Vernehmungsmethoden für den Wahrheitsforscher manchmal allzu nahe liegt. Wenn eine Serie von Unfällen, die offenbar alle von ein und demselben Täter ausgeführt wurden, eine ganze Stadt wochenlang in Schrecken versetzt, kann der Untersuchungsbeamte unter dem Druck der Umstände leicht dazu kommen, daß er bei der Vernehmung eines Verdächtigen zu verbotenen Mitteln greift, zumal wenn er von der öffentlichen Meinung keine Kritik zu fürchten braucht und damit rechnen kann, daß auch das Gericht, falls seine Übergriffe in der Hauptverhandlung zur Sprache kommen sollten, für sie Verständnis zeigen wird. Ein besonderer Anreiz zum Gebrauch unzulässiger Druckmittel ist bei der Erforschung von Straffällen vorhanden, an denen die Öffentlichkeit erregt Anteil nimmt, ferner bei Sabotage, Hochverrat und sonstigen politischen Delikten, die die Staatsordnung ernstlich in Gefahr bringen. In Ländern, wo Überlistung des Beschuldigten und regelrechter Zwang zur Erlangung von Geständnissen von jeher geübt worden sind, lassen sich solche Praktiken meist nicht von heute auf morgen ausrotten, zumal wenn sie vielleicht noch durch die allgemeine Volksauffassung gerechtfertigt erscheinen. Aber auch anderswo ist die Verlokkung zu Übergriffen zeitweise groß. Wohl von keinem Land läßt sich sagen, daß es gegenüber Versuchungen dieser Art ganz und gar immun sei. Der Genfer Strafrechtslehrer Jean Graven stellt mit Bezug auf die Schweiz fest, die Polizei halte die Methoden des physischen und moralischen Zwangs zur Sachaufklärung für unentbehrlich, und fügt entschuldigend hinzu, man müsse bedenken, welchen schweren Stand die Ermittlungsbehörden bisweilen im Kampf gegen ein raffiniertes, mit den modernsten Hilfsmitteln ausgerüstetes Verbrecherturn hätten. Der französische Kriminalist Edmond Locard erklärte auf Grund seiner aus der Zeit vor 1920 stammenden Erfahrungen, in allen Nationen Europas bediene sich die Polizei gegenüber dem verhafteten Beschuldigten unzulässiger Mittel; es sei dies eine Schande für alle Länder des Kontinents. Für die USA ist 1930 eine statistische Erhebung darüber angestellt worden, wieviele der vor der Polizei abgelegten Geständnisse nachweisbar mit verbotenen Methoden erlangt worden waren 14 • 14 Graven, Droit et verite (1946) S. 123; Locard, L'enquete criminelle et les methodes scientifiques (1920) S. 14; bezüglich der Vereinigten Staaten vgl.

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Vielfach sind es nicht die einzelnen Völker selbst, die ihrem Wesen nach zu rechtswidrigem Vorgehen gegen den Beschuldigten neigen, sondern bestimmte Denksysteme (oder auch einzelne Persönlichkeiten), die dem Polizeidienst jene Richtung auf mißbräuchliche Vernehmungsmethoden geben. Pauschalurteile über die Untersuchungsbeamten eines bestimmten Landes im ganzen sind meist von vornherein verfehlt. Manchmal lassen sich nur einzelne Zweige der Polizei gewohnheitsmäßig Übergriffe zuschulden kommen, während im übrigen vielleicht durchaus korrekt gearbeitet wird. Mellor machte 1949 einen Unterschied zwischen der französischen Gendarmerie, der er für ihre objektive Ermittlungsarbeit höchstes Lob zollte, und der französischen Kriminalpolizei, die von ihm weniger günstig beurteilt wurde15 • Meist ist es in erster Linie die politische Polizei, die der Versuchung zu Eigenmächtigkeiten und zu gesetzwidrigem Vorgehen erliegt; zumal wenn die Staatsführung durch das Herausstellen von Straftaten ihrer politischen Gegner für eigne Maßnahmen eine Rechtfertigung schaffen möchte, mit der sie der Kritik im Lande oder der Mißbilligung durch die Weltöffentlichkeit zu begegnen vermag. Oft wird dann der Verdächtige unter stärksten Druck gesetzt mit dem Ziel, von ihm Angaben zu erreichen, die für den Geheimdienst wichtig sind. Da aber vorauszusehen ist, daß der Beschuldigte in dem Bestreben, seine Pein zu beendigen, alles bestätigen wird, was man von ihm verlangt, sagt man ihm nicht, welche Art von Angaben von ihm erwartet wird, sondern quält ihn weiter in der Hoffnung, daß er schließlich von selbst Material vorbringen wird, das für die politische Polizei von Wert ist. National Commission on law observance and enforcement, Report 11: On lawlessness in law enforcement (Washington 1931), ferner W. Gierlich, Untersuchungs- und Vernehmungsmethoden der amerikanischen Polizei: Kriminalistische Monatshefte 9. Jg. (1935) S. 8 ff. und Altavilla !.349. Eine umfassende Darstellung des Problems findet sich bei Alex Mellor, La torture, son histoire, son abolition, sa reapparition au XXe Sieeie (Paris 1949); er behandelt die Untersuchungspraxis der größeren europäischen Länder und berücksichtigt dabei vor allem auch die rechtswidrigen Vernehmungsmethoden der deutschen Geheimen Staatspolizei in den Jahren 1933-45. Für China ist zu vergleichen Andre Bonnichon, Le droit de la Chine communiste (Haag o. J., etwa 1957); für Sowjetrußland: Rede Nikita Chruschtschows vom 25. 2. 1956 auf dem 20. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Berichte der Prawda und Izwestija vom 18. 10. bis 3. 11. 1961 über die Reden zum 22. Parteikongreß in Moskau, soweit sie die Justizübung zur Zeit des Persönlichkeitskults betreffen. Diese kleine Auswahl aus dem sehr umfangreichen Schrifttum wird zum mindesten einen gewissen Überblick ermöglichen. Wegen der Techniken, die gewöhnlich unter der Bezeichnung "Gehirnwäsche" zusammengefaßt werden, ist zu verweisen auf J. A. M. Meerloo, The rape of the mind (The psychology of thought control menticide and brainwashing), New York 1956. 15 "La torture" S. 273, 278, 228.

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Die Befragung des Beschuldigten

Glücklicherweise sind in allen Ländern Kräfte rege, die eine Wahrheitsforschung mit Hilfe von Gewalt, Drohung und Täuschung als unwürdig empfinden und auf Abstellung derartiger Praktiken hinarbeiten.

Abgrenzung zwischen erlaubten und unerlaubten Mitteln. Jeder Zwang gegen den Beschuldigten, der ihn nicht mehr zu einer freien Aussage kommen läßt, ist unzulässig. Der Vernehmende hat daher alle Methoden zu vermeiden, auf Grund derer die Bekundungen des Beschuldigten nicht mehr als freiwillig abgegeben angesehen werden können; doch macht nicht jeder psychische Druck das daraufhin erklärte Geständnis schlechthin unverwertbar. Zuweilen muß der Ermittlungsbeamte einen hartnäckig leugnenden Beschuldigten, wenn er stark belastet ist, unter schweres Feuer nehmen, um ihn dadurch zu Stellungnahmen zu nötigen, die über seine Schuld oder Unschuld Klarheit schaffen. Das nach einer harten, den Beschuldigten anstrengenden Vernehmung abgelegte Geständnis erscheint im Rechtssinne freiwillig und ist daher in der Hauptverhandlung verwertbar, wenn der auf den Vernommenen ausgeübte seelische Druck nicht übertrieben worden ist. Stets verboten sind die gröberen Mittel psychischen Zwanges, die feineren jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte seinem Wesen nach oder in seiner augenblicklichen Verfassung besonders labil und empfindlich ist. Die Rechtfertigung dafür liegt darin, daß bei zu starker Bedrückung des Beschuldigten dieser leicht zu schiefen, entstellten, mißverständlichen Angaben veranlaßt wird, die alles andere als wahr sind. Die verbotenen Maßnahmen und Behelfe im einzelnen. Die deutsche Strafprozeßordnung bestimmt, daß die Aussagefreiheit nicht durch Mißhandlungen und Täuschungen, aber auch nicht durch Drohung mit unzulässigen Maßnahmen, durch Ermüdung, Quälerei, körperliche Eingriffe, durch Verabreichung von Mitteln, Hypnose usw. beeinträchtigt werden darf(§ 136 a StPO). Aussagen, die auf solche Weise zustande gekommen sind, dürfen nicht verwertet werden. Die Bestimmung wendet sich also in erster Linie an den Richter, der angewiesen wird, derartige Erklärungen bei der Wahrheitsfindung außer Betracht zu lassen. Sie gilt aber auch für die Ermittlungsorgane. Obwohl nur der Beschuldigte im Gesetz erwähnt ist, trifft das Verbot in gleicher Weise auch Zeugen- und Sachverständigenbekundungen, die durch unerlaubten Druck zustande gekommen sind18 • Die Vorschrift hat zweifellos insofern klärend gewirkt, als danach Narkoanalysen, Evipaneinspritzungen und gemäß der herrschenden 16

BGH Str Bd. 11 S. 211.

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Meinung auch die Anwendung des Lügendetektors unzulässig sind. Doch darf die Bedeutung des§ 136 a StPO nicht überschätzt werden, zumal die Rechtsprechung manches getan hat, um die Strenge des Gesetzes durch Auslegung zu mildern. Die folgende Darstellung erörtert die Materie auf breiterer Grundlage als das Gesetz. Sie erfaßt vor allem auch die Fälle, in denen zwar eine mißbräuchliche Handhabung vernehmungstechnischer Mittel vorliegt, der Gesetzgeber sie aber nicht für so schwerwiegend erachtet hat, daß die dadurch erlangten Beweismaterialien mit einem völligen Verwertungsverbot belegt werden müßten (vgl. insbesondere S. 250). 1. Körperliche Mißhandlung

Das Verbot von Mißhandlungen ist so umfassend, daß es in diesem Bereich keine ernsthaften Abgrenzungsschwierigkeiten gibt. Hierher gehören nicht nur Schläge mit harten Gegenständen, Fußtritte gegen das Schienbein u. ä., sondern auch das Ziehen an den Haaren, das Hungern- und Frierenlassen des Beschuldigten, die Anwendung von Tränengas, das Anstrahlen durch grelles Scheinwerferlicht und was sich sonst findige Beamte an Körperqualen ausgedacht haben mögen, um den Beschuldigten "weich zu machen", ihn zu zermürben und in die Knie zu zwingen. 2. T ä u s c h u n g Rechtschaffene Grundhaltung des Vernehmenden. Vom Vernehmungsleiter wird verlangt, daß er den ernsten Willen hat, seine Tätigkeit in korrekter, sittlich einwandfreier Weise auszuüben. Er darf nicht mit Methoden arbeiten, die eines aufrechten Beamten unwürdig sind und die deshalb, wenn sie bekannt werden, dem Ansehen der Polizei bzw. der Justiz schaden müssen. Er sollte den Beschuldigten vor allem nicht durch falsche Vorspiegelungen hinters Licht führen, so etwa durch die wahrheitswidrige Angabe, es sei ein Augenzeuge für den Tatvorgang gefunden worden. Dieser Grundsatz ist als allgemeine Richtlinie unbeirrt festzuhalten, selbst in den noch zu besprechenden Grenzfällen, die manchmal auch einen ehrenwerten Beamten in Zweifel stürzen können. Wenn bereits ein anderer Beteiligter ein Geständnis abgelegt hat, kann man das dem Beschuldigten vorhalten, sofern dies im Einzelfall sachdienlich erscheint. Aber unwahre Angaben solcher Art sind sowohl dem Richter als auch dem Ermittlungsbeamten untersagt17 • Dergleichen grobe 17 Ebenso Erbs NJW 1951 S. 388 und wohl auch, jedoch nicht mit der gleichen Entschiedenheit, Eb. Schmidt, Lehrkommentar II. 357. Dallinger will (Süd-

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Die Befragung des Beschuldigten

Entstellungen würden oft die sehr unerfreuliche, letzten Endes auch für die Wahrheitsforschung nachteilige Folge haben, daß der Beschuldigte sich betrogen fühlt und später alles Erdenkliche tut, um daraus für sich Vorteil zu ziehen.

Argumente gegen die Zulässigkeit von Täuschungshandlungen. Es bedarf solcher bedenklichen Mittel auch keineswegs. Die erlaubten Untersuchungsmethoden sind, wenn man sich ihrer richtig bedient, regelmäßig von der Art, daß sie eine gründliche Erforschung des Sachverhalts ermöglichen. Selbst wo dem Vernehmenden kein anderer Weg zur Aufklärung übrig zu bleiben scheint als die Anwendung einer bestimmten Zwecklüge, ist die Zwangslage, in der er sich zu befinden glaubt, in Wahrheit oft nur eine scheinbare. Der gute Zweck vermag auch hier den Gebrauch eines verfänglichen Mittels nicht zu rechtfertigen. Gewiß könnte durch Überrumpelung des Beschuldigten mit Hilfe falscher Vorspiegelungen oft ein wichtiges Stück des Überführungsbeweises herbeigeschafft und dadurch eine Klärung des Falls erreicht werden, die sonst nicht möglich gewesen sein würde. Trotzdem hat der Vernehmende vom Gebrauch solcher Praktiken Abstand zu nehmen18 • Die schwere Einbuße, die das Vertrauen in die einwandfreie Arbeit der Ermittlungsorgane durch die Anwendung derartiger Kniffe erleiden würde, wird durch den Nutzen in keiner Weise aufgewogen, den eine Täuschungshandlung im Einzelfall vielleicht haben könnte. Die Sachverhaltsforschung ist an gewisse Grenzen gebunden. So nachhaltig wir auch die Wahrheit zu ermitteln trachten, darf sie doch nicht mit allen nur erdenklichen Methoden, sondern ausschließlich mit den prozessual zulässigen Mitteln aufgedeckt werden. deutsche Juristenzeitung 1950 S. 734) augenscheinlich gewisse Vorbehalte anbringen. Altavilla (1.356) hält Irreführungen der genannten Art nicht eigentlich für bedenklich. In den USA stehen manche Polizeihandbücher auf dem reinen Erfolgsstandpunkt. Sie halten überlistungen für erlaubt und raten geradezu zu ihrer Anwendung, wenn nur das Aufklärungsziel dadurch erreicht wird. Die Technik der Täuschung des Beschuldigten wird dort teilweise in aller Offenheit gelehrt. Doch gibt diese Polizeiliteratur keineswegs die herrschende Meinung der anglo-amerikanischen Rechtslehre und der Gerichte wieder. In den mohammedanischen Ländern wurden früher Irreführungen des Beschuldigten zur Erlangung eines Geständnisses regelrecht für erlaubt angesehen und nicht nur von der Volksmeinung, sondern auch von den religiösen Autoritäten gutgeheißen; im einzelnen darüber Emile Tyan in: Law in the Middle East Bd. I (Wash. 1955) S. 277. Heute wird auch dort von solchen Mitteln mehr und mehr Abstand genommen. 18 Für die preußische Polizei war dies durch Runderlaß des Innenministers vom 22. 6. 1927 ausdrücklich festgelegt worden (Ministerialblatt für innere Verwaltung S. 653).

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Ausnutzung eines bereits vorhandenen Irrtums. Wenn der Vernehmende auch keine Täuschungshandlungen begehen soll, so ist er andererseits doch nicht schlechthin verpflichtet, eine irrtümliche Auffassung des Beschuldigten richtigzustellen, die ohne seine Mitwirkung zustande gekommen ist. Wenn sie die Wahrheitsfindung erleichtert, ist der Beamte unter Umständen befugt, sie für den Ermittlungszweck zu benutzen. Doch darf er sich dann nicht dadurch ins Unrecht setzen, daß er den Beschuldigten in seinem Irrtum von sich aus bestärkt. Erst recht wäre es pflichtwidrig, wenn der Vernehmende einen solchen Irrtum durch zusätzliche Erklärungen ausweiten und vertiefen würde. Wird der Beschuldigte durch abergläubische Vorstellungen ohne Grund in Unruhe versetzt, so braucht ihn der Vernehmende darüber nicht unbedingt aufzuklären. Wenn der Beschuldigte zu seinem Nachteil bestimmte technische Überführungsindizien in ihrem Beweiswert überschätzt, so ist der Verhörsleiter nicht verpflichtet, ihn auf die Unrichtigkeit seiner Ansicht hinzuweisen. Ausnahmen müssen dort gemacht werden, wo der Beschuldigte sich, sei es auch ohne Schuld des Vernehmenden, in einem prozessualen Irrtum befindet, der ihm eine ordnungsmäßige Wahrnehmung seiner Belange unmöglich macht; so etwa wenn der Beschuldigte trotz vorschriftsmäßiger Belehrung meint, daß er als Zeuge vernommen wird oder wenn er trotz ausdrücklicher und deutlicher Angaben über die ihm zur Last gelegte Straftat insoweit einem Irrtum unterliegt.

Täuschungshandlungen außerhalb der Vernehmung. Die Erörterung beschränkt sich an dieser Stelle auf Irreführungen, die während der Vernehmung erfolgen. Sie läßt also die Frage außer Betracht, wie falsche Vorspiegelungen zu beurteilen sind, die zwar im Laufe des Ermittlungsverfahrens und unter Mitwirkung von Untersuchungsbeamten, aber vor oder nach dem Verhör begangen werden; man denke etwa daran, daß ein als Gefangener verkleideter Kriminalbeamter mit in die Zelle des Beschuldigten gelegt wird, um ihn auszuhorchen. Vielfach wird gelehrt, daß Täuschungen, die außerhalb der Vernehmung erfolgen, erlaubt seien19 • Damit würde jedoch der Weg für die unglaublichsten Mißbräuche frei werden. Eine regelrechte Irreführung des Beschuldigten ist außerhalb der Vernehmung ebenso verboten wie während des Verhörs. Nicht zu beanstandende Vberlistung. Einer besonderen Erwähnung bedürfen gewisse taktische Maßnahmen, bei denen es sich nicht eigentlich um falsche Vorspiegelungen handelt, sondern um harmlose Be19 So z. B. W. Becker, Grundsätze der Vernehmungstechnik: Polizeiliche Praxis Jg. 1952 S. 199.

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helfe, durch die der Beschuldigte mattgesetzt wird. Solche unschuldigen Mittel sind nicht durchweg unzulässig 20 • Freilich darf der Vernehmende sich dabei nicht auf Tricks einlassen, die eine allzu grobe Überrumpelung darstellen. Er hat Düpierungen zu vermeiden, die als illoyal gegenüber dem Beschuldigten anzusehen sind. Der Vernehmende sollte sich schließlich von Maßnahmen fernhalten, die mit der amtlichen Würde nicht mehr vereinbar sind. Wer diese Gesichtspunkte beachtet, dem wird die Grenzziehung keine sonderlichen Schwierigkeiten machen. Als Beispiel für ein erlaubtes Vorgehen dieser Art mag folgender Fall dienen: Der Angeklagte nennt sich A. Es besteht aber der Verdacht, daß er sich einen falschen Namen zugelegt hat und in Wirklichkeit Z heißt. Der Strafrichter, der den Angeklagten in der Hauptverhandlung zunächst als A angeredet hat, ruft ihn plötzlich unvermittelt als Z auf. Der Angeklagte reagiert darauf eindeutig positiv und gibt, nachdem er sich bloßgestellt sieht, auch zu, daß er in Wahrheit Z heißt. Oder: Die Beschuldigte sinkt während der Vernehmung vom Stuhl und bleibt anscheinend ohnmächtig am Boden liegen. Um festzustellen, ob sie simuliert, sagt der Vernehmungsleiter zu seinem anwesenden Kollegen: "Sehen Sie mal diese schmutzige Unterwäsche", worauf die Beschuldigte ihr Kleid so zurechtzuziehen versucht, daß von der Unterwäsche nichts mehr zu sehen ist. In solchem Fall wird wohl kein Einsichtiger gegen das augewandte Verfahren etwas Triftiges einwenden können, weil - das Vorgehen des Beamten der Klärung diente, - schutzwürdige Belange des Beschuldigten nicht berührt wurden, - ein niederträchtiges, dem Ansehen der Behörde abträgliches Verhalten nicht vorlag. 3. D roh u n g ( W a r nun g , B e I eh r u n g) Begriffliche Grundlagen. Kennzeichnend für die Drohung ist, daß der Vernehmende dem Beschuldigten Nachteile für den Fall in Aussicht stellt, daß dieser weiterhin leugnet, und ihn auf diese Weise unter Druck zu setzen versucht. Das angekündigte Übel kann ein solches sein, das der Beamte selbst zuzufügen vermag (z. B. die Verhaftung) oder ein solches, das ohne sein Zutun eintreten könnte. 20 Löwe-Rosenberg zu § 136 a StPO Anm. 4 f.; Erbs NJW 1957 S. 387 ff. Darauf, daß die Ausforschung des Untersuchungshäftlings durch einen in Gefangenenkleidung gesteckten Polizeibeamten in jedem Falle verboten ist, hat K. S. Bader (Juristenzeitung 1958 S. 449) nachdrückliehst hingewiesen. Die deutschen Ermittelungsbehörden haben nach den bedauerlichen Mißgriffen während der nationalsozialistischen Zeit besonderen Anlaß, sich um peinliche Korrektheit der Untersuchungsmethoden zu bemühen.

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Eine unzulässige Drohung braucht nicht immer mit furchterregender Gebärde ausgesprochen zu werden, sondern kann auch in die Form einer wohlgemeinten Belehrung gekleidet sein. Andererseits können natürlich nicht alle Mitteilungen des Vernehmenden, die beim Beschuldigten Besorgnis hervorzurufen geeignet sind, als inkorrekt angesehen werden. Sonst würde es nicht einmal möglich sein, dem Verdächtigen Belastungsmomente vorzuhalten und ihn dadurch zu sachgemäßer Verteidigung anzuregen. Nicht selten liegt es auch im Interesse eines allzu optimistischen Beschuldigten, ihm zum Bewußtsein zu bringen, in welcher mißlichen Beweissituation er sich befindet, um ihn auf diese Weise zur realen Einschätzung seiner Lage zu bringen. Mitunter ist es erforderlich, ihm zu sagen, inwiefern sich sein gegenwärtiges Verhalten später für ihn nachteilig auswirken könnte. Erlaubt ist unter anderem, ihm in angemessener Form klarzumachen, daß das Gericht seine Aufführung im Ermittlungsverfahren bei der Endentscheidung möglicherweise mit berücksichtigen wird; daß hartnäckiges Leugnen trotz erdrückender Schuldbeweise unter Umständen zu einer strengeren Bestrafung führen kann; daß der Beschuldigte, wenn er der Täter ist, es zum guten Teil selbst in der Hand hat, seine Lage durch rechtzeitiges Geständnis zu verbessern usw. 21 • Vielfach spricht es für die Zulässigkeit von Eröffnungen, die dem Beschuldigten über etwaige ihm in Aussicht stehende Nachteile gemacht worden sind, wenn es sich lediglich um ein Hervorheben von Umständen gehandelt hat, die in den Verhältnissen begründet liegen und die der Beschuldigte bei unbefangener Erwägung schon von sich aus hätte berücksichtigen müssen.

Korrektes Vorgehen beim Hinweis auf zu erwartende Nachteile. Freilich müssen alle Belehrungen und Warnungen dieser Art so, wie sie gegeben worden sind, auch sachlich angebracht erscheinen. Der Vernehmende darf also dem Beschuldigten nicht etwa Nachteile plastisch vor Augen stellen, die in Wirklichkeit gar nicht in Aussicht stehen oder doch nur sehr fern liegen. Auch wenn der von ihm gegebene Hinweis inhaltlich korrekt ist, kommt noch sehr viel darauf an, in welcher Form dem Beschuldigten die Gefahr zum Bewußtsein gebracht wird, der er sich aussetzt. Die gleiche Eröffnung kann einmal eine erlaubte Maßnahme und ein anderes Mal eine unzulässige psychische Bedrückung darstellen, je nachdem, ob der Vernehmende sie mit Ruhe und Sachlichkeit vorbringt oder in drohendem Ton und mit einem Mienenspiel, das den Beschuldigten einschüchtern soll 22 • 21 22

BGH NJW 1952 S. 151; W. Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre S. 192. Eb. Schmidt, Lehrkommentar II.357; Erbs NJW 1951 S. 388.

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Der Beamte hat sein auf psychische Wirkung berechnetes Vorgehen den Umständen anzupassen und sollte darauf achten, daß er den Bogen nicht überspannt. Es darf dabei nicht zu einem Terror des Vernehmenden kommen, der die geistige Freiheit des Beschuldigten lahmlegt. Je mehr Widerstandskraft der Verdächtige besitzt, desto schwereres Geschütz wird der Vernehmende auffahren können, ohne die Aussagefreiheit des Beschuldigten in Frage zu stellen. Je sensibler dieser ist, desto mehr hat sich der Vernehmungsleiter auf milde Mittel zu beschränken.

Hinweis auf die bevorstehende Verhaftung. Besondere Vorsicht ist bei der Mitteilung an den Beschuldigten am Platze, daß er mit seiner Inhaftierung zu rechnen habe, wenn er kein Geständnis ablegt. Andeutungen dieser Art sind nicht grundsätzlich unzulässig, sofern die Voraussetzungen für eine Verhaftung vorliegen. Doch weiß der Beschuldigte darüber meist selbst gut Bescheid, so daß es oft überflüssig ist, darauf Bezug zu nehmen. Weist der Vernehmende ihn gleichwohl auf die Möglichkeit einer Verhaftung hin, so setzt er sich dadurch oft ganz unnötig dem Verdacht aus, daß er einen in den Verhältnissen liegenden Zwang von sich aus über Gebühr forciert habe. Jedenfalls sind Geständniserklärungen, die erlangt wurden, ohne daß der Vernehmende den auf der Verhörsperson liegenden seelischen Druck verstärkt hat, gegen eine Entwertung durch späteren Widerruf sehr viel besser gesichert als solche, die erst auf eine zur Einschüchterung bestimmte Eröffnung hin erfolgten. Dadurch rechtfertigt sich die Mahnung zu sparsamem Gebrauch solcher Methoden. Wo es dennoch notwendig erscheint, die Möglichkeit der Verhaftung bei weiterem Leugnen zu erwähnen, sollte man diesen Hinweis keinesfalls in einer drastischen und beängstigenden Form geben, sondern mit Gelassenheit zu Werke gehen.

Beurteilung, ob der Beschuldigte korrekt vernommen worden ist. Wenn in der Hauptverhandlung geprüft werden muß, ob der Verdächtige unzulässig unter Druck gesetzt worden ist, so kommt man unter Umständen dadurch noch nicht viel weiter, daß der seinerzeitige Vernehmungsbeamte als Zeuge schildert, wie er die Befragung durchgeführt und welche Hinweise er dem Beschuldigten gegeben hat. Denn in solchen Fällen pflegt letzten Endes der Ton die Musik zu machen. Wo über das frühere Verhör ein Tonband, das in dieser Hinsicht Klarheit schaffen könnte, nicht existiert oder wo seiner Verwertung prozessuale Bedenken entgegenstehen23 , werden bei der Beurteilung, 23 Über die Verwertbarkeit von Tonbändern im Prozeß H. Henkel in: Tonbandaufnahmen, Zulässigkeit und Grenzen ihrer Verwendung im Rechtsstaat, Mannheim 1957.

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ob der Beschuldigte ordnungsmäßig vernommen worden ist, auch die Erfahrungen mitsprechen, die allgemein mit polizeilichen Verhören gemacht worden sind. Wenn bei früheren gerichtlichen Beweisaufnahmen bereits häufiger festgestellt wurde, daß die Ermittlungsorgane durch Mißhandlung, Drohung oder üble Tricks ein Geständnis zu erlangen versucht hatten, so wird man einem vor ihnen abgelegten Schuldbekenntnis, sofern der Beschuldigte es widerruft, meist nur geringe Beweiskraft beimessen. In manchen Ländern spricht geradezu eine Art natürlicher Vermutung dafür, daß Geständnisse, die im Ermittlungsverfahren abgelegt wurden, mit Hilfe von unzulässigen Zwangsmaßnahmen zustande gekommen sind, so daß die Gerichte sie nur selten als brauchbares Beweismittel ansehen. Mitunter hat sogar der Gesetzgeber sich ins Mittel gelegt und Geständnisse des Beschuldigten, die einem Polizeibeamten gegenüber abgegeben worden sind, schlechthin für unbeachtlich erklärt14. Bessere Aussichten auf eine gerichtliche Anerkennung der im Vorverfahren abgelegten Geständnisse sind dagegen dort vorhanden, wo die Ermittlungsbeamten d.urch intensive Schulung an eine korrekte Haltung gegenüber dem Beschuldigten gewöhnt sind und Übergriffe selten vorkommen.

Abstellen auf die individuelle Eigenart des Vernommenen. Im einzelnen kommt es bei der Abwägung, ob der Beschuldigte, als er das Geständnis erklärte, unter zu starkem psychischem Druck gestanden hat, nicht so sehr darauf an, inwieweit die Hinweise des Vernehmenden einem durchschnittlich veranlagten Menschen seine Aussagefreiheit nehmen würden, sondern darauf, welche Wirkung sie gerade auf diesen Beschuldigten gehabt haben werden. Was vielleicht die große Mehrzahl der Betroffenen als wohlgemeinte Warnung auffassen würde, kann einen empfindlichen, leicht zu erschütternden Verdächtigen oder einen solchen, der sich gerade in gedrückter Stimmung befindet, vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen. Die Frage stellt sich daher in der Hauptverhandlung in der Regel dahin, ob die Hinweise des Vernehmenden in der Art, wie sie seinerzeit gegeben worden sind, geeignet waren, diesen Beschuldigten in dieser Verfahrenssituation auf ungesetzliche Weise unter Druck zu setzen oder nicht. 4. Ermüdung

Einführung in die Problematik. Mit ganz allgemein gehaltenen Grundsätzen, wie z. B. dem, daß jede Ermüdung des Beschuldigten dem 24

Indian Criminal Procedure Code von 1898, section 164.

14 Dl!brlng

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Die Befragung des Beschuldigten

Ermittlungsbeamten verboten sei, ist wenig auszurichten. Derartig einfache Regeln würden zwar zur Schaffung klarer Verhältnisse an sich wünschenswert sein; aber sie sind in dieser Form nicht brauchbar, weil sie zu stark vereinfachen und auf die besonderen Umstände keine Rücksicht nehmen. Eine Richtlinie wie die eben angeführte würde, wenn man sich konsequent an sie halten wollte, die Verbrechensaufklärung in komplizierteren Fällen meist unmöglich machen. Es muß bei der Formulierung des Prinzips auf die sehr verschiedenartigen Sachgestaltungen Rücksicht genommen werden, die in diesem Bereich vorkommen können. Der Grundsatz ist ferner so zu fassen, daß der Ermittlungsbehörde die Möglichkeit zur intensiven Erforschung des Sachverhalts wenigstens für die praktisch bedeutsamsten Aufklärungssituationen offengehalten wird.

Maßgebende Gesichtspunkte. 1. Gewiß soll der Beschuldigte nicht durch allzu lange Vernehmungen über Gebühr erschöpft werden. Gleichwohl kann es in größeren Strafsachen notwendig sein, einen trotz schwerer Belastung hartnäckig leugnenden Verdächtigen, wenn er gesund und nervenstark ist, durch längere Verhöre wenigstens soweit zu ermüden, daß erkennbar wird, ob seine Darstellung einer gewissen Erprobung standzuhalten vermag. · Das ist im Grunde in allen Nationen anerkannt. Nur völlig weltfremde Theoretiker können einen abweichenden Standpunkt einnehmen. Selbst in den Ländern, in denen die öffentliche Meinung jede unnötige Schmälerung der dem Beschuldigten zustehenden Verfahrensrechte anprangert, wird eine Ermüdung des Verdächtigen durch Vernehmungen im Vorverfahren in gewissen Grenzen gutgeheißen25 • In den unter angloamerikanischem Recht stehenden Ländern läßt man sie auch in der Hauptverhandlung in weitem Umfang zu, wenn der Angeklagte seine förmliche Vernehmung als Zeuge beantragt und daraufhin dem Kreuzverhör unterworfen wird. 2. Überall, wo der Verdächtige so vernommen wird, daß damit eine beträchtliche Ermüdung verbunden ist, müssen einleuchtende sachliche Gründe vorhanden sein, die dieses für den Beschuldigten in gewisser Weise anstrengende Verfahren rechtfertigen. Je härter und angreifender das angewandte Verfahren ist, desto eindrucksvoller müssen auch die Argumente sein, die zu seiner Rechtfertigung angeführt werden können. 25 Ein keineswegs vereinzelt dastehendes Beispiel aus der englischen Justizgeschichte bei Maurice Amos, Britische Rechtspflege (1948) S. 49; für Deutschland: Löwe-Rosenberg zu § 136 a StPO Anm. 4, ferner BGH vom 30. 10. 1951, wo an einer Vernehmungsdauer von 9 Stunden im Inter,esse einer gründlichen Verbrechensaufklärung kein Anstoß genommen wurde (Juristenzeitung Jg. 1952 S. 87; vgl. dort auch die wohl abgewogenen kritischen Bemerkungen dazu von K. S. Bader).

Unzulässige Vernehmungsmethoden

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Notwendig sind lange, für den Beschuldigten mit em1gem Kraftverbrauch verbundene Vernehmungen nicht nur bei Aufklärung von Mord- und Beraubungsfällen, sondern mitunter auch bei Brandstiftungssachen, in denen der Täter sich oft mit äußerster Hartnäckigkeit aufs Leugnen verlegt; nur selten werden sie sich dagegen in mittleren und kleinen Strafsachen als erforderlich erweisen. Eine regelrechte Zermürbungstaktik ist nur in besonderen Ausnahmefällen zulässig. 3. Der Vernehmende hat, wie bereits angedeutet, das Maß der durch das Verhör herbeigeführten Ermüdung dem Kräftezustand des Beschuldigten anzupassen. Beruft dieser sich selbst darauf, daß er nicht mehr folgen könne und eine Ruhepause brauche, so wird die Vernehmung in der Regel zu unterbrechen sein, wenn nicht etwa lediglich ein taktisches Manöver des Beschuldigten vorliegt, durch das er sich im entscheidenden Augenblick eine Atempause verschaffen will.

Beweisschwierigkeiten. Wenn in der Hauptverhandlung zu prüfen ist, ob die Ermüdung des Beschuldigten zur Zeit seiner Geständniserklärungen vor der Polizei das zulässige Maß überschritt, so wird diese Feststellung nicht selten Kopfzerbrechen verursachen. Aber die Überwindung der in dieser Hinsicht etwa vorhandenen Zweifel macht meist nicht mehr Mühe als in vielen anderen Fällen, die letzten Endes doch einer endgültigen Klärung zugeführt werden können. Beweisschwierigkeiten lassen sich vielfach von vornherein dadurch vermeiden oder wenigstens mindern, daß der Vernehmende die gegen eine vorzeitige Ermüdung des Beschuldigten getroffenen Maßnahmen sogleich ins Protokoll aufnimmt und dort vor allem die Länge der etwa eingelegten Ruhepausen vermerkt. In größeren Untersuchungssachen wird der Beamte am besten für die Anwesenheit unbefangener Dritter sorgen, damit er nicht später trotz einwandfreien Verhaltens den willkürlichen Angriffen des Beschuldigten schutzlos ausgeliefert ist. Wenn solche Vorkehrungen nicht getroffen worden sind, besteht in der Hauptverhandlung immer noch die Möglichkeit, sich durch Augenschein ein Bild von der Körperkonstitution des Beschuldigten und seinem Nervenzustand zu machen und daraus Rückschlüsse auf eine unzulässige Beeinträchtigung seiner Aussagefreiheit während der früheren Vernehmung zu ziehen. Dabei ist jedoch außer den objektiven Momenten (Dauer der Befragung, Verhör bei Tage oder zur Nachtzeit) vor allem auch die Persönlichkeit des Polizeibeamten in Betracht zu ziehen, der über den Verlauf der damaligen Vernehmung auszusagen hat. Aus der Art, wie er sich in der Hauptverhandlung als Zeuge gibt, sind unter Umständen Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, in welcher Weise die Erörterung seinerzeit vor sich gegangen sein wird. Dabei muß berücksichtigt werden, daß der Polizeizeuge sich vor dem Strafgericht 14°

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Die Befragung des Beschuldigten

vielleicht in mancher Hinsicht anders geben wird als zu der Zeit, da er der Untersuchungsführer war. Selbst das Revisionsgericht, dem der persönliche Eindruck der beteiligten Personen in der Regel fehlt, hat mannigfache Möglichkeiten, sich das nötige Indizienmaterial, soweit es nicht schon den Akten entnommen werden kann, im Wege des sog. Freibeweises zu beschaffen. Nicht selten wird ihm auch die allgemeine Lebenserfahrung Hinweise geben, die eine zutreffende Beurteilung gestatten28 •

Erschöpfung bereits zu Beginn der Vernehmung. Ist der Beschuldigte ohne Zutun des Vernehmenden schon von Anfang an übermüdet (etwa weil die Polizei ihn längere Zeit gejagt und schließlich gefaßt hat), so kommt es wiederum darauf an, ob er trotzdem noch die Freiheit der Willensbetätigung und die Fähigkeit zu einer brauchbaren Mitarbeit besitzt. Wenn das verneint werden muß, hat die Vernehmung mindestens so lange zu unterbleiben, bis der Beschuldigte einigermaßen erholt ist. Teilweise wird die Auffassung vertreten, daß der Vernehmende auf eine Ermüdung, die nicht durch ihn selbst herbeigeführt worden ist, keine Rücksicht zu nehmen brauche 27 • Doch kann es darauf, durch wen die Ermüdung entstanden ist, nicht ankommen. Hat sie eine solche Stärke erreicht, daß der Beschuldigte nicht mehr richtig zu folgen vermag, dann ist von der Vernehmung vorerst Abstand zu nehmen. Für die Beurteilung, ob er zur ordnungsmäßigen Mitarbeit imstande ist, kommt es jedoch nicht allein auf den Grad der etwaigen Ermattung, sondern auch darauf an, welche Anforderungen durch das Aussagethema und durch die Art der Vernehmung an ihn im Einzelfall gestellt werden. Wenn der Gegenstand der Aussage denkbar einfach war und der Vernehmende rücksichtsvoll vorgegangen ist, so spricht mehr für die Ordnungsmäßigkeit der Befragung als im umgekehrten Falle. Man darf übrigens im Verhör von Aussagepersonen, die in gewisser Weise abgespannt sind, nicht etwas nur selten Vorkommendes sehen. Bei der sofortigen Untersuchung von Verkehrsdelikten durch die Polizei, besonders wenn sie sich zur Nachtzeit ereignet haben, ergeben sich solche Fälle häufiger. Aber auch sonst besteht oftmals die Notwendigkeit, Menschen als Beschuldigte (oder Zeugen) zu vernehmen, die infolge Erschöpfung, Krankheit, Nervenschwäche nur bedingt leistungs2s BGH Str Bd. 1 S. 379: Der Einwand der Ermüdung war in den mehrfachen Hauptverhandlungen nicht erhoben, sondern erst in der Revisionsinstanz vorgebracht worden, was gegen eine Beeinträchtigung der Willensfreiheit sprach. 21 Erbs NJW 1951 S. 387; Löwe-Rosenberg 20. Aufl. zu § 136 a Anm. 9 b; abweichend davon jedoch die 21. Aufl., die mit der oben im Text vertretenen Auffassung im wesentlichen übereinstimmt.

Unzulässige Vernehmungsmethoden

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fähig sind und bei denen der Beamte, wenn er eine sachgemäße Aussage erreichen und nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen will, auf ihren geschwächten Zustand Rücksicht nehmen muß. Die Brauchbarkeit solcher Vernehmungen hängt weitgehend davon ab, daß mit den Kräften des Beschuldigten schonend umgegangen und daß er nicht durch unfaire Ausnutzung seines augenblicklichen Zustands überspielt wird.

Nächtliche Verhöre. Nach den gleichen Grundsätzen löst sich die Frage, ob eine Vernehmung des Beschuldigten zur Nachtzeit erlaubt ist. Sie läßt sich in dieser allgemeinen Form nicht schlechthin mit Ja oder Nein beantworten. Daß ein bei Tage begonnenes Verhör bis in die Nachtstunden hinein fortgesetzt werden darf, wenn das sachlich notwendig ist und die Kräfte des Beschuldigten dafür ausreichen, kann nicht zweifelhaft sein. Daß der Beschuldigte dagegen mitten in der Nacht zur Vernehmung aus dem Schlaf geholt wird, erscheint nur dann gerechtfertigt, wenn die Eilbedürftigkeit der Sache eine Anhörung zur Nachtzeit nötig macht. Die Eilgründe müssen von der Art sein, daß sie nicht konstruiert wirken, sondern überzeugend vorgewiesen werden können. Oft wird in Fällen dieser Art bei der Ermittlungsbehörde weniger der Zwang zur Beschleunigung im Vordergrund stehen als das Streben, vom Beschuldigten unter Ausnutzung seiner Schlaftrunkenheit Erklärungen zu erhalten, die er im regelrechten Wachzustand nicht abgeben würde. Wo sich ein Mißbrauch nächtlicher Vernehmungen zeigt, sollte die Rechtsprechung ihn mit der erforderlichen Deutlichkeit klarstellen28 • Wenn kaum eine Untersuchung wegen schwerer Delikte vor sich geht, ohne daß der in Gewahrsam befindliche Verdächtige zum Verhör aus dem Schlaf geholt und stundenlang (womöglich von wechselnden Beamten) vernommen wird, dann deutet dies darauf hin, daß dabei in vielen Fällen keine sachliche Notwendigkeit gegeben war, sondern die mißbräuchliche Anwendung einer nicht grundsätzlich unzulässigen Untersuchungsmethode vorliegt. 3. V e r s p r e c h e n u n d G e w ä h r e n v o n Vergünstigungen

Gesetzliche Regelung. Der Gesetzgeber hat bei seinem Verbot von Versprechungen in erster Linie Zusagen im Auge, die für den Fall gemacht werden, daß der Beschuldigte bestimmte, von ihm bisher geleug28 Für die Rechtsprechung ist kennzeichnend einerseits das der Ermittlungsbehörde viel Spielraum belassende Urteil des BGH vom 30. 10. 1951 (Juristenzeitung 1952 S. 87) und andererseits die Entscheidung des BGH vom 24. 3. 1959 (NJW 1959 S. 1142).

Die Befragung des Beschuldigten

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nete Umstände zugibt oder in anderer Beziehung seine Haltung ändert, z. B. indem er die unbekannten Mittäter namhaft macht. Versprechungen dieser Art sind insoweit unzulässig, als durch sie Vorteile in Aussicht gestellt werden, die das Gesetz nicht vorsieht. Aussagen des Beschuldigten, die auf Grund eines solchen Versprechens zustande gekommen sind, dürfen nach deutschem Recht nicht verwertet werden(§ 136 a StPO). Der Gesetzgeber hat damit praktisch eine Beeinflussung des Vernommenen durch Versprechen von Vorteilen überhaupt unterbunden. Denn eine Zusage von gesetzlich vorgesehenen Vergünstigungen ist für den Beschuldigten meist wenig interessant, weil er mit diesen bei korrekter Handhabung ohnehin rechnen kann. Sie würde daher auch wenig geeignet sein, ihn zur Abstandnahme von seiner bisherigen Einstellung zu veranlassen.

Ursächlicher Zusammenhang zwischen Versprechen und Aussage. Werden nur geringfügige Vorteile versprochen oder gewährt, so wird die Aussagefreiheit durch sie vielfach nicht beeinträchtigt sein. Gleichwohl ist auch hier Zurückhaltung angebracht. Wenn der Beschuldigte ein starker Raucher ist und unter der erzwungenen Abstinenz sehr leidet, kann schon das Versprechen einer Zigarette der Aussagefreiheit Abbruch tun20 • Stark gefährdet ist die Entschließungsfreiheit in der Regel, wenn man dem in Haft befindlichen Beschuldigten seine Freilassung für den Fall verspricht, daß er ein Geständnis ablegt. Denn es muß dann allzu sehr damit gerechnet werden, daß der Beschuldigte der Wahrheit zuwider gesteht, lediglich um seine Freiheit zu erlangen. Trotzdem kann ein durch unzulässige Versprechungen erwirktes spezifiziertes Geständnis dadurch wertvoll sein, daß es Hinweise für weitere Ermittlungen gibt. Mitunter gelingt es dann, den Beschuldigten durch andere Beweismittel zu überführen, so daß die mit Hilfe unerlaubter Versprechungen erlangten Geständniserklärungen mittelbar schließlich doch die Sachaufklärung fördern. Daraus erklärt sich letzten Endes, daß die Untersuchungsorgane, unbeeindruckt von dem gesetzlichen Verwertungsverbot, auch jetzt noch bisweilen versuchen, den Beschuldigten durch Versprechungen zur Aufgabe des Widerstands oder zu Sachangaben bestimmter Art zu bringen, die der Wahrheitsforschung dienlich sein können.

Versprechungen, deren Erfüllung der Vernehmende nicht völlig in der Hand hat. Zusagen dieser Art sind in jedem Falle verfehlt. Manchmal glaubt der Vernehmende, eine bestimmte Zusicherung einhalten 21

1953

Eine ähnliche Frage erörtert das Urteil des BGH vom 7. 5. 1953 (NJW

s. 1114).

Unzulässige Vernehmungsmethoden

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zu können, muß aber später einsehen, daß dies nicht möglich ist. Wenn er verspricht, daß im Fall des Geständnisses von der Vernehmung der Ehefrau des Beschuldigten, deren Befragung dieser vermeiden möchte, abgesehen werden wird, so geht er damit meist bereits über die Grenze dessen hinaus, was er zu garantieren imstande ist. Denn der Beamte vermag kaum jemals mit Sicherheit zu sagen, ob nicht andere in der Sache tätige Polizeidienststellen oder Gerichte später aus irgendwelchen Gründen die Vernehmung dieser Zeugin für notwendig halten werden. Eine solche Zusage könnte, wenn der Vernehmende sich überhaupt auf Versprechungen einlassen will, höchstens dahin lauten, daß er seinerseits alles tun werde, was in seinen Kräften steht, um den vom Beschuldigten erstrebten Erfolg zu erreichen. Der Untersuchungsführer kann meist auch nicht mit Sicherheit sagen, ob es möglich sein wird, bestimmte Angaben, die der Beschuldigte aus geschäftlichen Gründen nicht publik machen möchte, vor dem Bekanntwerden zu bewahren. Er muß sich darüber klar sein, daß die etwa später mit der Bearbeitung der Sache befaßten Stellen eine Einengung ihrer Ermessensfreiheit in diesem Punkt nicht anerkennen werden und wird seine Zusage zum mindesten entsprechend einzuschränken haben. Aber auch beim lnaussichtstellen von Vergünstigungen, zu deren Gewährung der Vernehmende selbst in der Lage wäre (Erlaubnis zu rauchen oder Besuch zu empfangen; Versprechen, daß von einer Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten abgesehen werden wird), ist Vorsicht angebracht. Selbst wenn der Vernehmende Anlaß zu der Annahme hat, daß eine Haussuchung nicht notwendig sein wird, kommt mitunter doch noch etwas Unerwartetes hinzu, so daß ihn sein Versprechen hinterher reut. In größeren Untersuchungsverfahren, wo zahlreiche Beamte tätig sind und jeder von ihnen nur einen bestimmten Ausschnitt bearbeitet, ist es für den Einzelnen schon aus diesem Grunde meist kaum möglich, den weiteren Verlauf der Ermittlungen zu übersehen. Erfüllung von Zusagen. Hat der Vernehmungsleiter dem Beschuldigten einmal ein Versprechen gegeben, das ohne Verstoß gegen die gesetzlichen Vorschriften erfüllt werden kann, so sollte er es auch halten, selbst wenn ihm das schwerfällt. Entsprechendes gilt, wenn einem Zeugen oder Sachverständigen bestimmte Zusicherungen gegeben worden sind30 • 30 Einen solchen Fall behandelt die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 17. 11. 1953, wo dem Anzeigeerstatter versprochen worden war, seinen Namen geheimzuhalten (Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte Bd. 7, S. 365).

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Die Befragung des Beschuldigten

In manchen Ländern wird es bei großen Strafsachen, die auf keine andere Weise aufgeklärt werden können, unter Umständen für zulässig gehalten, einem von mehreren Beteiligten Straffreiheit in Aussicht zu stellen, um von ihmAngaben überdasVersteck derDiebesbeute, über die Namen der übrigen Beteiligten usw. zu erhalten. Derartige Zusagen werden dann auf Grund einverständlichen Zusammenwirkens aller beteiligten Behörden regelmäßig erfüllt. Auch in der deutschen Justizgeschichte ist bis ins 19. Jahrhundert hinein gelegentlich eine solche Handhabung vorgekommen, insbesondere bei Bandendiebstählen31 • 6. Quälerei Eine unzulässige Quälerei in dem hier in Betracht kommenden Sinne liegt vor, wenn dem Beschuldigten, um von ihm eine bestimmte Aussage zu erreichen, starke Unbilden auferlegt werden, die ihn in einen Zustand äußerster Pein versetzen. Hinzukommen muß ferner, daß es sich um die Zufügung von Leiden handelt, die entweder durch den Untersuchungszweck nicht erfordert werden oder zwar zur Erlangung der Wahrheit dienlich sind, den Beschuldigten aber zu stark unter Druck setzen. Da die meisten Mittel, mit denen der Beschuldigte gequält werden könnte (Mißhandlung, Drohung usw.) bereits als solche untersagt sind, hat das Verbot der Quälerei in der Hauptsache für die Fälle Bedeutung, wo grundsätzlich erlaubte Untersuchungsmaßnahmen dazu benutzt werden, den Verdächtigen in unangemessener Weise zu peinigen81. Es versteht sich jedoch von selbst, daß nicht alles, was dem Beschuldigten Qual bereitet, deshalb bereits unzulässig ist. Unangenehme Fragen muß er sich gefallen lassen, wenn sie sachdienlich sind und der Beamte nicht etwa ausnahmsweise durch pflichtwidriges Gebaren bei der Fragestellung den Vernommenen ganz unnötig quält. Auch andere, grundsätzlich erlaubte Maßnahmen, die dem Beschuldigten vielleicht größte Pein bereiten, können nicht beanstandet werden, -

wenn sie als zur Aufklärung notwendig angesehen werden müssen,

-

wenn sie der größeren oder geringeren Wichtigkeit der Untersuchungssache augepaßt sind und

31 Paul Chr. Henrici, Lebenserinnerungen (1897) S. 58. Entsprechende Tendenzen bestehen heute noch in der anglo-amerikanischen Gerichtspraxis. Meist wird unter dem Stichwort "Kronzeuge" über sie berichtet; aus dem deutschen Schrifttum vgl. dazu "Die Polizei" .Jg. 1949 S. 133. 32 Erbs NJW 1951 S. 387.

Unzulässige Vernehmungsmethoden -

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wenn sie schließlich auf die berechtigten Belange des Beschuldigten die erforderliche Rücksicht nehmen.

Eine gute Illustration dazu gibt folgender Fall: Der Beschuldigte war verdächtig, sein Kind, das er über alles liebte, getötet zu haben. Er hatte das Verbrechen bereits gestanden, sich aber geweigert, die Einzelheiten der Tatausführung anzugeben. Der Ermittlungsbeamte erklärte ihm daraufhin, daß man ihn, wenn er darüber keine genauere Darstellung geben wolle, zur Leiche des Kindes führen müsse. Der Beschuldigte bat unter Tränen, davon Abstand zu nehmen. Als man ihn gleichwohl zum Leichnam brachte, brach er schreiend zusammen und legte daraufhin schriftlich ein Geständnis ab, das nunmehr zusätzliche Angaben über den Tathergang enthielt. Der BGH hat diese (grundsätzlich erlaubte) Konfrontierung des Beschuldigten mit der Leiche des Getöteten unter den angegebenen besonderen Umständen als eine Quälerei im Sinne des Gesetzes angesehen, durch die der Beschuldigte, der (wenn er nicht will) keine Aussage zu machen braucht, in unzulässiger Weise in seiner Willensentschließung beeinträchtigt worden ist33 • 7. Chemische Mittel

Haltung der Gesetzgebung und der Rechtsprechung. In Deutschland und einigen anderen Ländern ist es ausdrücklich verboten, dem Beschuldigten Drogen, die enthemmend wirken oder die Willenskraft schwächen, beizubringen mit dem Ziel, von ihm ein Geständnis zu erlangen; in manchen Staaten besteht dagegen ein entsprechendes Verbot nicht. Die Verlockung, sich chemischer Mittel für den genannten Zweck zu bedienen, ist besonders groß, wenn ein starkes allgemeines Interesse an der Aufklärung eines Straffalles vorliegt und ohnedem keine Aussicht auf Erfolg besteht. Die deutsche Rechtsprechung hat bisher jedoch keine Neigung gezeigt, das gesetzliche Verbot durch einschränkende Auslegung irgendwie abzuschwächen. Sie hält mit großer Konsequenz daran fest, daß Aussagen, die nach Einspritzungen von Evipan, Eunarcon, Pentothal, Narkonumal oder ähnlichen Narkotika in einer Art Dämmerzustand gemacht worden sind, nicht verwertet werden dürfen. Dabei liegt zunächst die Überzeugung zugrunde, daß ein so intensives Eindringen in den inneren Bereich des Beschuldigten, wie es bei Anwendung chemischer Mittel möglich wird, mit dem Gedanken der Menschenwürde unvereinbar ist. Unausgesprochen wirkt aber wohl auch die 33

Urteil vom 7. 10. 1960 (NJW 1961 S. 84).

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Die Befragung des Beschuldigten

Einsicht mit, daß die richtige Bewertung der mit Hilfe von Drogen gewonnenen Angaben erheblich erschwert ist und daß der Beurteiler infolgedessen leicht zu falschen Ergebnissen kommen kann.

Unsichere Würdigung der unter dem Einfluß von Medikamenten gemachten Aussagen. Diese Schwierigkeit wird in vollem Umfang dort spürbar, wo- wie z. B. in Italien- ein Verbot der Verabreichung von Drogen nicht besteht34 • Bei der Narkoanalyse ergibt sie sich einmal daraus, daß die Trennung zwischen Illusion und Wirklichkeit hier weitgehend aufgehoben wird. Angaben, die der Beschuldigte in diesem Zustand macht, müssen, zumal wenn sie für ihn belastend sind, mit viel mehr Mißtrauen betrachtet werden als gleichartige Äußerungen, die ein Verdächtiger im Wachzustand getan hat. Da die Suggestibilität in der Narkose eine Steigerung erfährt, muß damit gerechnet werden, daß durch die vom Sachverständigen gestellten Fragen eine Aussage hervorgerufen wird, die durch Einbildung verfälscht ist. Bei manchen Menschen erscheint schon im Wachzustand das wirklich Erlebte mit Phantasievorstellungen verwoben. Unter der Einwirkung chemischer Mittel kann es noch viel leichter zu einer unkritischen Vermengung von Wunschvorstellungen oder sonstigen Illusionen mit der Wirklichkeit kommen. Bei depressiv veranlagten Personen können auf diese Weise aus einem vielleicht ganz unbegründeten Gefühl moralischer Schuld unrichtige Selbstbezichtigungen hervorgehen.

Anhaltspunkte für die Bewertung. Es bedarf in Ländern, wo die Rechtsordnung eine Benutzung der unter Drogeneinwirkung zustandegekommenen Aussagen gestattet, jeweils einer sehr umsichtigen Würdigung. Ein zutreffendes Ergebnis kann dabei nur erwartet werden, wenn nicht allein die Besonderheit des verwandten Medikaments und die verabreichte Dosis in Betracht gezogen wird, sondern auch einigermaßen taxiert werden kann, wie das angewandte Mittel gerade auf Menschen von der Art des Beschuldigten zu wirken pflegt. Intelligenten und willensstarken Personen ist es, wie die Erfahrung gelehrt hat, unter Umständen möglich, auch unter Mittelwirkung und selbst in der Narkose ihre Aussage zu steuern. Sie sind mitunter imstande, bestimmte Momente, die sie bei vollem Bewußtsein nicht wahrhaben wollten, auch unter dem Einfluß des Medikaments der Wahrheit zuwider zu verneinen. Sie haben ferner die Möglichkeit, umgekehrt unzutreffende positive Angaben, die sie im Wachzustand vorgebracht hatten, in der Narkose aufrechtzuerhalten. Gerade von ärztlicher Seite ist verschiedentlich versichert worden, daß Menschen, die bei vollem Bewußtsein ein Geständnis hartnäckig 34

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Unzulässige Vernehmungsmethoden

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verweigert haben, ihren Widerstandswillen unter Umständen auch in der Narkose durchsetzen 35 • Bei Personen mit starkem Eigenwillen kann es daher nur als ein sehr fragwürdiges Entlastungsindiz betrachtet werden, wenn die Narkoanalyse nichts für sie Nachteiliges erbringt. Andererseits kann es gegebenenfalls für die Unschuld eines Verdächtigen sprechen, wenn ein willensschwacher Mensch unter der Einwirkung von Narkotika redselig plaudert, ohne daß dabei etwas Verfängliches herauskommt. Trotz der Erschwernisse für die Beweiswürdigung in solchen Fällen, die hier nur angedeutet werden können, sollte man eine angemessene Bewertung der unter Mittelwirkung zustande gekommenen Aussagen nicht als ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen betrachten. Je genauer in Zukunft der Einfluß der einzelnen Drogen studiert werden kann, desto mehr sind mit der Zeit auch verläßlichere Ergebnisse zu erwarten36 • 8. L ü g e n d e t e k t o r ( P o I y g r a p h , Psychogal vanometer) Dieser zunächst in den USA konstruierte und erprobte Apparat ist dazu bestimmt, die Atembewegungen des Beschuldigten während der Befragung zu registrieren, ferner die Blutdruckveränderungen, den Puls und die Schweißabsonderung in den verschiedenen Phasen der Vernehmung festzustellen. Auf diese Weise soll Klarheit darüber geschaffen werden, ob der Vernommene bewußt die Unwahrheit gesagt hat. Man macht sich dabei die Erfahrung zunutze, daß der Gang der Brustatmung, der Grad der Schweißabsonderung usw. sich zu verändern pflegen, wenn der Vernommene bewußte Unwahrheiten vorbringt 37 • In Deutschland ist eine Verwertung der mit Hilfe des Lügendetektors gewonnenen Ergebnisse durch das Strafgericht unzulässig und auch in Sowjetrußland steht man bisher dieser Erfindung mit Mißtrauen gegenüber, während in zahlreichen anderen Staaten mehr oder weniger erfolgreich versucht worden ist, sie für die Wahrheitsforschung nutzbar zu machen38 • H. Ehrhardt, Chemische und psychische Aussagebeeinflussung (1954) S. 20. Nach Sauer braucht durch Verabreichung von Drogen die freie Willensbestimmung des Beschuldigten nicht geschmälert zu werden (Juristische Rundschau 1949 S. 501); der Verfasser meint, daß diese sich bei richtiger Anwendung chemischer Präparate gerade erst voll entwickeln werde; er wendet sich gegen die in Deutschland herrschende Lehre, nach welcher der Gebrauch chemischer Mittel schlechthin einen Eingriff in die freie Willensbestimmung darstellt, der die daraufhin gemachten Angaben unv,erwertbar macht. 37 Einzelheiten bei Mergen, Das kriminologische Gutachten (1959) S. 167. 38 Die deutsche Rechtsprechung leitet das Verwertungsverbot der durch Lügendetektor erlangten Ergebnisse aus § 136 a StPO her (BGH Str Bd. 5 35

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Die Befragung des Beschuldigten

Soweit die Polizei nicht beabsichtigt, die durch den Lügendetektor gewonnenen Ergebnisse im Strafverfahren vorzuführen, sondern den Apparat lediglich im inneren Dienst verwendet, um festzustellen, in welcher Richtung ihre Ermittlungen Erfolg haben könnten, werden dagegen nirgendwo Bedenken zu erheben sein. In jedem Falle bedürfen die mit Hilfe des Lügendetektors erlangten Unterlagen einer sorgfältigen und sachkundigen Würdigung. Einer der wichtigsten Einwände gegen die Benutzung des Lügendetektors besteht gerade darin, daß dem Richter hier eine selbständige Beweiswürdigung erschwert sei und daß er dazu verleitet werde, sich ganz auf die Einsicht der mitwirkenden Kriminaltechniker zu verlassen. Es bedarf stets genauer Feststellung, ob das Bedienungspersonal über die erforderlichen fachlichen Spezialkenntnisse sowie hinreichende Erfahrung verfügt und im gegebenen Fall korrekt gearbeitet hat. Dabei muß auch geklärt werden, ob technische Fehler der Apparatur oder verkehrte Handhabung das Ergebnis verfälscht haben könnten. Ferner ist zu erwägen, ob der Beschuldigte, der unter Umständen in der Lage ist, das Resultat durch allerlei Kunstgriffe (willkürliche Anspannung der Muskeln, absichtlich unregelmäßige Atmung usw.) zu verunklaren, sich während der Prüfung ordnungsmäßig verhalten hat. In aller Regel werden die Bedienungspersonen als Zeugen bzw. als Sachverständige zu vernehmen sein. Der Umstand, daß ihre Tätigkeit eine besondere Sachkunde voraussetzt, schließt nicht aus, daß der Richter sich anhand ihrer Aussagen ein eigenes Urteil bildet.

Hergang des Geständnisses

Erste Anzeichen der Geständnisbereitschaft. Die Vorboten eines Geständnisses sind vielfach so unauffällig, daß zunächst keineswegs sicher ist, ob sich beim Beschuldigten wirklich eine Tendez zur Aufgabe des Widerstands anbahnt. Unter Umständen liegt nur ein winziger, kaum S. 337). Die sachliche Brauchbarkeit derartiger Vorrichtungen für die Verbrechensverfolgung wird im Schrifttum vielfach günstig beurteilt oder doch wenigstens bedingt bejaht (Hellwig S. 222 f.; Seelig, Lehrbuch S. 242); für Frankreich Legeais S. 215 ff., ablehnend dagegen Mellor, a. a. 0., S. 305; für die Schweiz: Graven, Droit et verite (1946) S. 155, ders., Les pr.ocedes nouveaux d'investigation scientifique et la protection des droit de la defense: Schweizerische Beiträge zum 5. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung (Zürich 1958) S. 203 ff.; Pfenninger in der Festschrift für Th. Rittler (1957) S. 372, ders. in: Die Rechtsordnung im technischen Zeitalter (1961) S. 163; wegen der ablehnenden sowjetischen Haltung vgl. Golunski, über die Würdigung der Beweise im sowjetischen Strafprozeß: Rechtswissenschaftlieber Informationsdienst 1956 S. 374 ff.

Hergang des Geständnisses

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wahrnehmbarer Hinweis vor, der erst durch Nachfrage verdeutlicht werden muß. Manchmal kündigt sich das Geständnis überhaupt nicht durch sachliche Mitteilungen, sondern lediglich durch gewisse Anzeichen in den Bewegungen des Beschuldigten und in seinem Mienenspiel an. Wenn er lange standhaft geleugnet hat, dokumentiert sich der innere Kampf, der in solchen Fällen dem Geständnis vorauszugehen pflegt, in einer unruhigen Mimik, in krampfhaftem Schlucken oder ähnlichen Merkmalen, bis mit wenigen kurz hervorgestoßenen Worten bruchstückartige Erklärungen zutage kommen, die es dem Beamten ermöglichen, durch sofortiges Nachfassen mit Vorhalten und Fragen die Einbruchstelle im Verteidigungssystem des Beschuldigten zu vergrößern. Verdeckt wird die Geständnisbereitschaft mitunter noch dadurch, daß der Beschuldigte sich scheut, seine Tat mit den Redewendungen zuzugeben, die eigentlich der Sache angemessen wären. Er will nicht sagen, daß er seine Frau erschlagen oder daß er den Ring gestohlen habe. Er verschränkt seine Angaben statt dessen zuweilen auf eine ganz eigenartige Weise und sucht nach weit hergeholten, vielleicht gar nicht richtig passenden Umschreibungen, nur um nicht jene ominösen Worte gebrauchen zu müssen, die ihmnichtüber die Lippen wollen. Der Vernehmende sollte auf solche Hemmungen Rücksicht nehmen, hat aber andererseits darauf bedacht zu sein, daß der sachliche Inhalt dessen, was der Beschuldigte sagen will, klar herauskommt.

Verhalten des Vernehmenden. Wenn der Beschuldigte mit Geständniserklärungen beginnt, sollte der Verhörsbeamte möglichst keine Genugtuung erkennen lassen. Anfängern kann man mitunter den Triumph aus ihrem Gesicht ablesen, wodurch sie sich die Sache jedoch nur unnötig schwer machen. Der Beschuldigte erhält dadurch leicht den Eindruck, daß es von seinem Standpunkt aus verkehrt sei, den Widerstand aufzugeben. Er versucht dann manchmal, den "Fehler" wieder auszugleichen und hält mit seinen Mitteilungen inne. Er möchte das soeben Gesagte nach Möglichkeit ungeschehen machen, zum Beispiel durch den Hinweis, daß er sich nicht richtig ausgedrückt habe oder daß er mißverstanden worden sei. Wer als Vernehmender einige Mühe hat, bei Entgegennahme eines Geständnisses indifferent und gleichgültig zu erscheinen, der mag daran denken, daß mit der Einräumung der Täterschaft allein, so wichtig sie sein kann, noch nicht allzuviel gewonnen ist und daß daher vorerst kein Grund zum Frohlocken besteht.

Feststellung des Geständnisinhalts. Wenn der Beschuldigte zum Geständnis ansetzt, bedarf es zunächst der Erforschung, was er im einzel-

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Die Befragung des Beschuldigten

nen sagen will. Vielfach kommt das, was er zum Ausdruck bringen möchte, anfangs recht undeutlich zutage. Vor allem muß klargestellt werden, ob es sich um umfassende Einräumungen handelt oder ob nur ein teilweises Geständnis vorliegt und wie weit dieses inhaltlich geht. Das Teilgeständnis ist überhaupt die in der Praxis am häufigsten vorkommende Form der Anerkennung von Tatsachen. Es geht kaum ein Strafverfahren zu Ende, in dem der Beschuldigte nicht bestimmte Umstände des ihm zur Last gelegten Sachverhalts zugibt, während er die übrigen bestreitet. Er erkennt z. B. an, mit der Frau, die er vergewaltigt haben soll, geschlechtlich verkehrt zu haben, behauptet aber, daß sie damit einverstanden gewesen sei. Oder er räumt ein, den Verletzten geschlagen zu haben, beruft sich aber darauf, daß er angegriffen worden sei und sich in Notwehr befunden habe.

Notwendigkeit einer Prüfung des Geständnisses. Mit dem abstrakten Schuldbekenntnis ist der Wahrheitsforschung nicht gedient. Es bedarf vielmehr der Untersuchung, ob das Geständnis der Wahrheit entspricht. Im anglo-amerikanischen Strafprozeß begnügt man sich während der Hauptverhandlung im Falle des sog. pleading guilty allerdings in der Regel mit der bloßen Schuldanerkennung; wenn der Angeklagte erklärt, daß er "schuldig" sei, sieht man davon ab, ihn nach den Einzelheiten des Tatvorgangs zu fragen und die Richtigkeit seiner Angaben zu prüfen. Die angloamerikanischen Gerichte geben sich also in aller Regel mit dem Schuldbekenntnis als solchem zufrieden39 • Diese einigermaßen zweckwidrige, noch auf Rechtsgedanken vergangener Zeiten beruhende Handhabung ist jedoch für die Gegenwart nicht mehr brauchbar. SiE; eröffnet die Möglichkeit zu Fehlsprüchen vor allem in Fällen, wo Bedenken gegen die Richtigkeit des Geständnisses erst auf Grund kontrollierender Nachforschungen hervortreten kön· nen. Manche Länder, die sonst weitgehend unter dem Einfluß des angloamerikanischen Rechts stehen, haben daher davon abgesehen, das pleading guilty in der von diesem herausgearbeiteten Form zu übernehmen40 • Die Polizeibehörden bemühen sich übrigens in allen Ländern darum, ihren Fall ungeachtet des Geständnisses restlos zu klären. Für sie gibt es auch im angelsächsischen Rechtskreis (anders als für die Gerichte) in dieser Hinsicht keine einengenden Rechtsvorschriften. Der Ermittlungsbeamte kann sich schon im eigenen Interesse nicht mit dem bloßen Schuldgeständnis des Verdächtigen zufrieden geben; denn er muß damit rechnen, daß dieses infolge Widerrufs oder aus anderen Gründen später nicht mehr zulangt und daher Anlaß besteht, sich durch zusätzliche 39 Einzelheiten bei Gl. Williams, The proof of guilt (1955) S. 154; K. M. Newman, Das englisch-amerikanische Beweisrecht (Heidelberg 1949) S. 30. 4 ° Für Indien: Dahm in der Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 66 (1954) S. 609 und für Japan: W. Röhl, Fremde Einflüsse im modernen japa-

nischen Recht (1959) S. 54 f.

Hergang des Geständnisses

223

Nachforschungen von dem oft so unsicheren Beweismittel des Geständnisses möglichst unabhängig zu machen41 . Es bedarf also (wenn man von den Besonderheiten des pleading guilty in der angloamerikanischen Hauptverhandlung absieht) allenthalben einer Befragung des geständigen Beschuldigten über die konkreten Umstände des Tatgeschehens; ferner ist festzustellen, ob die von ihm gemachten Einzelangaben durch ergänzende Ermittlungen bestätigt werden42. Die Arbeit des Tatsachenforschers ist daher in der Regel mit der bloßen Entgegennahme des Geständnisses keineswegs beendet. Sie tritt vielmehr nach dem Geständnis in ein neues Stadium und wird dann unter veränderten Gesichtspunkten weiter fortgesetzt. Das gilt auch dort, wo der Gesetzgeber, wie z. B. in Italien und Sowjetrußland, für den Fall des Schuldbekenntnisses prozessuale Erleichterungen vorsieht. Denn diese hindern das Gericht nicht, von sich aus weitere Ermittlungen vorzunehmen. Der Richter hat vielmehr trotz der vom Gesetz vorgesehenen Verfahrensvereinfachungen das Recht und die Pflicht, ohne Rücksicht auf das Geständnis weiterzuforschen, wenn ihm dies zur Erlangung der Wahrheit notwendig erscheint. Erfragen der konkreten Tatumstände. Der Beschuldigte hat meist keine sonderliche Neigung, von sich aus die Einzelheiten des Tathergangs vorzubringen. Auf Grund von uralten, längst überholten Rechtsvorstellungen, die heute noch nachwirken, glaubt er vielfach, durch sein Bekenntnis zur Tat alles Erforderliche getan zu haben. Der Vernehmende muß ihn daher oft erst dazu veranlassen, daß er Näheres über den ganzenAblauf mitteilt und auch die dazugehörigen psychischenBegleitmomente beschreibt: so etwa die von ihm hinsichtlich der Durchführung des Vorhabens gehegten Bedenken; die unerwarteten Schwierigkeiten, welche sich der Verwirklichung entgegenstellten; die zur Sicherung der Beute getroffenen Maßnahmen usw.

Der Vernehmende kann bei der Erkundigung nach solchen konkreten Tatsachen oft nicht genau genug sein. Vielfach hat es zunächst den Anschein, als wenn der Beschuldigte sich über alles irgendwie Wichtige erklärt habe, bis bei nochmaligem Überlegen doch noch Momente gefunden werden, die der Aufhellung bedürfen. 41 C. F. Calahane, The Policeman's guide (1952) S. 96. Die Freiwilligkeit des vor der Polizei abgelegten Geständnisses wird in der Hauptverhandlung von den angelsächsischen Gerichten meist sehr gewissenhaft geprüft. Ergibt sich jedoch, daß die Freiwilligkeit zu bejahen ist, so wird regelmäßig angenommen, daß das Bekenntnis inhaltlich zutrifft; eine besondere Nachforschung findet darüber im Regelfall dann nicht mehr statt. 42 Hellwig S. 71; Mimin S. 56 f., Wyschinski S. 277 ff. In Sowjetrußland wird dies infolge von Mißbräuchen bei der Strafverfolgung während der StaUnära jetzt mit besonderem Nachdruck betont (Fragen des Beweisrechts im Strafprozeß, 1957, S. 38, 80, 112 ff., 144).

224

Die Befragung des Beschuldigten

Ganz besondere Sorgfalt ist bei der Kontrolle der mit dem Geständnis zusammenhängenden Einzelangaben notwendig, wenn stark mit dem Widerruf des Geständnisses gerechnet werden muß, wie dies oft in Brandstiftungssachen der Fall ist. Bei Kapitalverbrechen empfiehlt es sich wegen der zu erwartenden schweren Strafe ganz allgemein, trotz umfassenden Schuldbekenntnisses die Ermittlungen zur Sache möglichst weit voranzutreiben, um auf diese Weise zusätzliche Klärungen zu erreichen. Es wäre viel zu gewagt, wenn man beim Verdacht eines Giftmordes von der Obduktion der Leiche absehen wollte, nur weil der Beschuldigte die Giftbeibringung und Tötungsabsicht in einer zur Zeit glaubhaft erscheinenden Weise eingeräumt hat. Es würde einen schweren Schlag für die Wahrheitstindung bedeuten, wenn der Beschuldigte sein Geständnis später widerruft und nunmehr die Frage, ob dem Verstorbenen wirklich Gift beigebracht worden ist, wegen fortgeschrittener Zersetzung der Leiche nicht mehr mit Sicherheit beantwortet werden kann. Gewiß wird der vielbeschäftigte Untersuchungsführer ebenso wie der überlastete Richter oftmals glauben, sich die mit solchen zusätzlichen Nachforschungen verbundene Mühe sparen zu können. Doch lohnt es sich bei bedeutenderen Strafsachen in der Regel, den Beweis so zu vervollständigen, daß die Rekonstruktion des Vorgangs auch ohne das Geständnis mit Hilfe des sonstigen Beweismaterials erfolgen kann.

Sicherung des Geständnisses gegen Widerruf. Es gibt eine ganze Reihe von Schutzmaßnahmen gegen einen späteren unbegündeten Widerruf. Da der Beschuldigte in der Hauptverhandlung sehr häufig von seinen einräumenden Erklärungen Abstand nimmt, muß der Ermittlungsbeamte darauf bedacht sein, daß ihm diese Art der Verteidigung nicht unnötig leicht gemacht wird. Oft hängt es in erster Linie vom Vernehmenden ab, ob der Beschuldigte später einen Widerruf mit Erfolg anzubringen vermag. Daß die bei Ablegung des Geständnisses vorzunehmende Klärung der näheren Tatumstände den nachträglichen Widerruf erschwert, war bereits erwähnt worden. In gleichem Sinne pflegt es zu wirken, wenn der Vernehmende dafür sorgt, daß die am meisten belastenden Momente an mehreren Stellen des Protokolls in gleicher Weise vorkommen. Der Beschuldigte kann sich dann später kaum noch darauf berufen, daß ein Mißverständnis vorliege, weil ein an so vielen Stellen sich wiederholendes Mißverständnis wenig glaubhaft erscheinen würde. Mitunter erweist es sich auch als nützlich, wenn der Vernehmungsleiter dem Beschuldigten die Urschrift des Protokolls zum Durchlesen und zur eigenen Korrektur etwaiger Fehler vorlegt. Aus den Verbesserungen kann nachträglich bisweilen entnommen werden, wie intensiv

Vorgehen beim Widerruf des Geständnisses

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sich der Beschuldigte beim Durchlesen in die Einzelheiten hineingearbeitet und auf welche Momente er dabei sein besonderes Augenmerk gerichtet hat. Es wird ihm dann jedenfalls schwerfallen, das Gericht davon zu überzeugen, daß er einfach auf gut Glück unterschrieben habe, ohne sich den Inhalt seiner Aussage nochmal zu überlegen 43 • Bei Beschuldigten, die gern schreiben, kann man auch darauf hinwirken, daß sie unabhängig von der im Protokoll gegebenen Darstellung noch unter dem Einfluß der geständnisfreudigen Stimmung den Hergang erneut von sich aus niederschreiben. Als Hindernis für einen wahrheitswidrigen Geständniswiderruf erweist es sich mitunter auch, wenn man den Beschuldigten am Tage nach dem Geständnis veranlaßt, dieses in Gegenwart von Zeugen nochmal zu wiederholen. Das Prozeßgericht sieht bei dieser Handhabung, daß der Beschuldigte auch am Tage nach dem ursprünglichen Geständnis noch keinen Grund zur Abstandnahme von seinen Einräumungen gesehen hat. Außerdem stehen zwei weitere Zeugen für die Ordnungsmäßigkeit des Geständnisses zur Verfügung, was dem Beschuldigten die Durchsetzung seines neuerlichen Widerrufs erschwert. Vorgehen beim Widerruf des Geständnisses Haltung des Vernehmenden. Wenn der Beschuldigte von seinem Geständnis abrückt, sollte der Beamte das mit Gleichmut hinnehmen. Er darf sich nichts von Enttäuschung merken lassen und auf keinen Fall Unwillen oder gar Verärgerung zur Schau tragen. Denn für den Beschuldigten würde es eine Genugtuung darstellen und ihm im Kampf um die Durchsetzung des Widerrufs von vornherein Oberwasser geben, wenn er sähe, daß er dem Vernehmenden durch sein Verhalten Schwierigkeiten gemacht hat.

Für den Untersuchungsführer liegt zudem im Fall des Widerrufs kein eigentlicher Grund vor, sich enttäuscht zu fühlen. Anfänger werden aus diesem Anlaß manchmal von Mutlosigkeit befallen. Es kommt ihnen so vor, als wenn die bisher geleistete Arbeit vergeblich gewesen und die aufgewandte Zeit nutzlos vertan worden sei. Das beruht jedoch auf einer Verkennung der Sachlage. Denn ein Geständnis, das nach sorgfältiger Prüfung für glaubhaft gehalten werden durfte, büßt seinen Wert durch den Widerruf nicht ohne weiteres ein. Ermittlung, auf welchen Grundlagen der Widerruf beruht. Für den Beschuldigten ist der Widerruf oft zunächst nur ein Versuchsballon, durch den er erkunden will, inwieweit er damit Eindruck macht. Er 43

n

Meinert, BrandstiftungS. 283.

Döhrine

226

Die Befragung des Beschuldigten

richtet dann sein weiteres Verhalten unter Umständen hauptsächlich danach ein, inwieweit er damit Erfolg hat. Wenn der Beschuldigte erkennt, daß der Beamte mit Sachlichkeit und Konsequenz darangeht, die neuentstandene Lage Schritt für Schritt zu prüfen, dann sieht er manchmal sehr bald ein, daß sein Beginnen aussichtslos ist und nimmt aus eigenem Antrieb den Widerruf zurück. Tut er das nicht, so sind die Ermittlungen ungesäumt darauf zu richten, ob der Widerruf der Wahrheit entspricht. Diese Möglichkeit kann im Einzelfall durchaus naheliegen; so etwa, wenn gegen die Richtigkeit des Geständnisses bereits einige Bedenken bestanden, weil es mit bestimmten objektiven Feststellungen nicht in Einklang stand, oder wenn der Beschuldigte zusammen mit dem Widerruf neue sachliche Einzelheiten vorbringt, die nachprüfbar sind und sich als zutreffend erweisen. Beruft sich der Beschuldigte darauf, daß er bei Abgabe der Geständniserklärungen mißverstanden worden sei, so ist zu untersuchen, ob nach Lage der Umstände ein Mißverständnis obgewaltet haben kann. Hat der Beschuldigte nach seiner eigenen Angabe bei Ablegung des Schuldbekenntnisses absichtlich eine falsche Darstellung gegeben, so muß ein Motiv dafür vorhanden gewesen sein, das es zu erforschen gilt.

Mehrfacher Wechsel zwischen Geständnis und Widerruf. Manchmal schwankt der Beschuldigte zwischen Geständnis und Widerruf in der Weise hin und her, daß er nach dem Widerruf erneut gesteht, dann nochmals widerruft usw. Obwohl dadurch die Aufklärung der Sache beträchtlich erschwert wird, besteht auch hier für den Vernehmenden kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Gerade die Argumente, mit denen der Beschuldigte den Widerruf, das erneute Geständnis, den nochmaligen Widerruf usw. auf Befragen erklärt, erlauben oft einen guten Einblick in die Absichten, die er mit seiner Verwirrungstaktik verfolgt bzw. in die besondere psychische Verfassung des Beschuldigten, die vielfach ein so eigenartiges Verhalten verständlich macht. Auch hier ist ein Erfolg nur durch ruhiges unbeirrbares Vorgehen des Vernehmenden zu erreichen. Primitive Beschuldigte nehmen manchmal an, sie brauchten nur zu widerrufen, um das einmal abgelegte Geständnis ganz und gar hinfällig zu machen. Sie geben ihre Taktik jedoch meist auf, sobald ihnen klar wird, daß sie sich in dieser Hinsicht getäuscht haben. Der Vernehmende muß bei mehrfachem Wechsel zwischen Geständnis und Widerruf durch konsequente Aufklärungsarbeit den roten Faden bloßzulegen versuchen, der die richtige Deutung für dieses scheinbar widersprüchliche Hin und Her ermöglicht. Meist ist das in solchen Fällen überhaupt die einzige Chance für den Untersuchungsführer, sich aus dem Labyrinth herauszuretten, in dem er Gefahr läuft, sich zu verirren

Aufklärungswert der von der Prozeßpartei gemachten Angaben

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und seine Kräfte vorzeitig zu verbrauchen. Er muß versuchen, die innere individuelle Logik des Beschuldigten zu durchschauen und auf Grund dessen sein Verhalten zu deuten. Wenn der Vernehmende schon von Anfang an die Persönlichkeit des Beschuldigten studiert hat und dessen Eigenart zu seinem Prozeßverhalten in Beziehung setzen kann, so wird ihm dies dabei zustatten kommen.

Aufklärungswert der von der Prozeßpartei gemachten Angaben

Verschiedene Arten von Stellungnahmen. Im Schrifttum hat man den Erklärungen des Beschuldigten lange Zeit nur insofern Aufmerksamkeit geschenkt, als sie Eingeständnisse enthielten. Neben solchen Äußerungen stehen jedoch zahlreiche andere, die keine Einräumung darstellen, sondern zutreffendenfalls im Gegenteil zugunsten des Beschuldigten sprechen würden, und schließlich solche, von denen man zunächst nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie sich zugunsten oder zum Nachteil des Beschuldigten auswirken werden. Es ist notwendig, auch diese beiden letzten Gruppen von Stellungnahmen in die systematische Erörterung einzubeziehen. Alle drei Arten von Erklärungen des Beschuldigten werden hinsichtlich ihres Wahrheitswertes einander dadurch angenähert, daß das Geständnis, obwohl ihm von vornherein eine beträchtliche Überzeugungskraft zuzukommen scheint, von der modernen Tatsachenforschung kritischer als früher betrachtet wird (S. 242) und daß andererseits die Einsicht in die Sachdienlichkeit von Angaben des Beschuldigten, die für ihn eine unmittelbare Entlastung enthalten, zugenommen hat. Damit wird die herkömmliche Auffassung, nach der Mitteilungen mit Geständnischarakter stets bedeutungsvoll erscheinen und solche ohne Geständniseigenschaft für die Sachaufklärung als mehr oder minder nutzlos anzusehen sind, zwar nicht schlechthin unzutreffend; aber sie bleibt nur mit mancherlei Einschränkungen richtig und verliert auf diese Weise viel von ihrem Wahrheitswert Man sollte daher Entlastungserklärungen des Beschuldigten bei aller Skepsis, die ihnen gegenüber angebracht ist, doch nicht vorschnell als bloße Zweckbehauptung abtun.

Bedeutung der Regel "in dubio pro reo" 44 • Durch den Grundsatz in dubio pro reo erhalten die vom Beschuldigten zu seiner Entlastung gemachten Angaben noch besondere Bedeutung. Nach dieser Maxime müssen nämlich auch seine nicht hinlänglich bewiesenen Schutzbehaup" über sie im einzelnen Walter Stree, In dubio pro reo (1962) mit ausführlichen Schrifttumsangaben. 15•

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Die Befragung des Beschuldigten

tungen, wenn ihre Widerlegung mißlungen ist, bei der Feststellung des Sachverhalts so behandelt werden, als wenn sie zutreffend wären. Oder anders ausgedrückt: Verteidigungsbehauptungen, mit deren Richtigkeit immerhin gerechnet werden muß, sind als wahr anzunehmen, wenn es trotz aller Bemühungen nicht möglich war, ihre Unrichtigkeit darzutun. Dadurch wird einer großen Anzahl von unbewiesenen Behauptungen des Beschuldigten die gleiche Wirkung beigelegt, die im Prozeß sonst nur vollbewiesenen Tatsachen zukommt. Die Grenzlinie zwischen den Entlastungsangaben des Beschuldigten, die der Beurteilung des Falls zugrunde zu legen sind, und denen, die dabei außer Betracht zu bleiben haben, wird hier von der Rechtsordnung (zum Schutz des Beschuldigten) an einer anderen Stelle gezogen, als man es nach allgemeinen Beweisgrundsätzen eigentlich vermuten würde. Sie verläuft nicht dort, wo die voll bewiesenen Entlastungsumstände an die nicht mehr sicher feststellbaren angrenzen. Vielmehr werden die voll bewiesenen Entlastungstatsachen mit denjenigen, die zwar nicht erwiesen sind, mit deren Verwirklichung im vorliegenden Fall aber immerhin gerechnet werden muß, zu einer einheitlichen Klasse zusammengefaßt. Der Trennungsstrich liegt mithin zwischen dieser großen Gruppe von entweder voll bewiesenen oder nicht bewiesenen, aber auch nicht widerlegbaren Entlastungsbehauptungen einerseits und dem regelrecht widerlegten Verteidigungsvorbringen des Beschuldigten andererseits. Aber auch abgesehen von der durch die Maxime in dubio pro reo geschaffenen Modifikation stellen die Angaben des Beschuldigten über den Sachverhalt ähnlich wie die des Zeugen ein mehr oder minder starkes Indiz für die Richtigkeit einer bestimmten Tatsachenannahme dar. Das gilt sowohl für Stellungnahmen, die der Beschuldigte während der Vernehmung abgibt, als auch für Äußerungen, die er außerhalb der Vernehmung im Ermittlungsverfahren oder in der Hauptverhandlung macht.

Vergleich des Werts von Beschuldigtenangaben und von Zeugenaussagen. Der Beschuldigte hat als Nachrichtenträger dem Zeugen gegenüber meist voraus, daß er dem Sachverhalt näher steht als dieser45 • Im allgemeinen kann man davon ausgehen, daß er über die wichtigeren Einzelheiten des Vorfalls Bescheid weiß. Oft besitzt er eine genauere Kenntnis vom Hergang als irgendein anderer. Das ist zunächst dann klar, wenn seine Täterschaft feststeht und es sich nur um die Einzelheiten der Tatausführung handelt. Aber auch in Fällen, wo die Täterschaft zweifelhaft ist, hat der Beschuldigte oft eine so enge räumliche und zeitliche Beziehung zum Sachverhalt, daß er ganz gleich, ob er schuldig oder unschuldig ist - über bestimmte Umstände Bescheid wissen und zur Auskunftserteilung in der Lage sein 45 R. Schindler: Leitfaden des Strafprozeßrechts in der deutschen demokratischen Republik (1959) S. 105.

Aufklärungswert der von der Pi'ozeßpartei gemachten Angaben

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muß. Er kann sich manchmal weit weniger als der Zeuge darauf berufen, daß ihm dies oder jenes entgangen sei oder daß er es inzwischen vergessen habe.

Einfluß der Parteilichkeit des Beschuldigten auf die Bewertung seiner Angaben. Beim Beschuldigten besteht mehr als beim Durchschnittszeugen die Gefahr, daß er durch sein starkes Interesse am Ausgang des Verfahrens von der Wahrheit abgelenkt wird. Er läßt sich begreiflicherweise in erster Linie von seiner Vorteilsberechnung leiten und macht sich meist kein Gewissen daraus, Falsches mit Wahrem zu vermengen, wenn er dadurch in günstigerem Licht erscheinen und ein besseres Endergebnis erwarten kann. Er denkt den Vorfall so um, wie es seiner Interessenlage entspricht. Von ihm ist zudem auch deshalb keine sonderlich objektive Schilderung zu erwarten, weil er nicht unter dem gleichen Zwang zur wahrheitsgemäßen Aussage steht wie der Zeuge, der bei vorsätzlich oder fahrlässig falschen Angaben mit strafrechtlicher Ahndung zu rechnen hat. Man wird sich vielleicht fragen, ob unter solchen Umständen die Erklärungen des Beschuldigten zur Wahrheitstindung etwas Nennenswertes beitragen können. Das muß jedoch entschieden bejaht werden. Wenn man aus ihnen auch nicht sofort und unmittelbar die Wahrheit ablesen kann, so bildet die starke Interessiertheit des Beschuldigten am Ausgang der Sache doch kein unbedingtes Hindernis für die nutzbringende Verwertung seiner Angaben. Viele seiner Schutzbehauptungen sindtrotzihrer Fragwürdigkeit für die Wahrheitsforschung verwendbar, wenn die notwendigen Korrekturen an ihnen vorgenommen werden. Oft geben gerade die vom Interesse diktierten Äußerungen des Beschuldigten Hinweise für die weitere Erforschung. Die Lage ist hier ähnlich wie bei der Verwertung von Bekundungen eines stark parteiischen Zeugen (S. 147 ff.). Auch wenn die Angaben des Beschuldigten nicht die ganze Wahrheit wiedergeben und selbst wenn sie einwandfrei falsch sind, können sie zur Aufhellung des Sachverhalts dienlich sein. Nicht selten machen gewisse Äußerungen des Beschuldigten seine typische Einstellung sichtbar, aus der unter Umständen wiederum auf ein bestimmtes Verhalten bei dem zu untersuchenden Vorgang geschlossen werden kann; oder sie werfen ein bezeichnendes Licht auf seine Verteidigungstaktik46. Fast jede seiner Stellungnahmen eröffnet, wenn sie in einem größeren Zusammenhang betrachtet wird, Einblicke, die den Wahrheitsforscher weiterführen. 46 Mezger in der Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 40 (1919) S. 156 ff.; Liepmann das. Bd. 44 (1924) S. 665.

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Die Befragung des Beschuldigten

Wenn besseres Erkenntnismaterial als die Angaben des Beschuldigten vorhanden ist, wird man dieses in erster Linie benutzen. Wo dagegen verläßliche Beweismittel anderer Art fehlen und eine Aufklärung des fraglichen Punktes nur anhand der vom Beschuldigten abgegebenen Erklärungen möglich erscheint, werden diese ganz von selbst zum Mittelpunkt der Nachforschungen. Wenn psychische Zustände und Abläufe im Beschuldigten selbst zur Zeit der Tat festzustellen sind, bilden seine eigenen Darlegungen darüber häufig die einzige Handhabe zur Erforschung der Wahrheit. Nicht als ob seine Angaben über die eigene seelische Verfassung besonders glaubwürdig wären; aber sie können, wenn man sie richtig zu benutzen weiß, wichtige Hinweise geben, die den Beurteiler der Lösung näher bringen. Selbstverständlich muß bei der Auswertung die Tendenz des Beschuldigten zum Frisieren und Beschönigen berücksichtigt und darauf Bedacht genommen werden, die etwa entstandenen Verzerrungen auszuschalten.

Umstände, die den Angaben des Beschuldigten Glaubhaftigkeit verschaffen können. Einiges Gewicht kann seine Darstellung, auch wenn sie nicht direkt durch Zeugen oder Urkunden bewiesen ist, dadurch erhalten, daß sie im Einklang mit der Lebenserfahrung steht 47 • Mitunter erreicht die Übereinstimmung seiner Darstellung mit dem Erfahrungswissen einen solchen Grad, daß sie schon deshalb plausibel wirkt und die allgemeine Skepsis gegenüber Stellungnahmen der Partei zurückdrängt48. Einige Glaubhaftigkeit kann ferner aus der Harmonie der vom Beschuldigten abgegebenen Erklärungen mit den sonstigen bekannten Einzelheiten hervorgehen. Bisweilen passen seine Angaben in den speziellen Zusammenhang, der dem Beschuldigten nur teilweise bekannt gewesen sein kann, so auffällig gut hinein, daß sie dadurch ziemliche Wahrscheinlichkeit erlangen. Auch die nachdrückliche und überzeugende Art, in der der Beschuldigte seine Schilderung vorgetragen hat, und die Präzision, mit der er etwa auftretende Zweifel zu zerstreuen vermag, kann seine Entlastungsbehauptungen sehr einleuchtend machen. Manchmal hat sich der Beschuldigte schließlich durch seine Haltung im Prozeß, insbesondere durch einen augenscheinlich nicht allein von der Vorteilsberechnung gelenkten Sachvortrag ein gewisses Renomme verschafft, das ihm dann bei der Würdigung seiner Schutzbehauptungen zustatten kommt. 47 411

v. Kries, Lehrbuch S. 395. Globig, Theorie !.245 ff.

Aufklärungswert der von der Prozeßpartei gemachten Angaben

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Selbst dort, wo das nicht der Fall ist, erscheint bisweilen ein Bestreiten der Täterschaft oder ein sonstiges Verteidigungsvorbringen auf Grund bestimmter Erwägungen plausibel; so wenn ein gerichtsgewohnter Beschuldigter eine Serie von 14 Einbruchsdiebstählen unumwunden zugibt, obwohl er in Einzelfällen sich mit einiger Aussicht auf Erfolg hätte aufs Leugnen verlegen können, und nur einen einzigen weiteren Einbruch\ der seiner Art nach keineswegs besonders belastend ist, unentwegt bestreitet. Hier ist es für ihn ohne weiteres erkennbar, daß angesichts der Vielzahl der zur Aburteilung gelangten Einbrüche der von ihm geleugnete Vorgang bei der Strafzumessung kaum nennenswert ins Gewicht .fallen würde. Der Beschuldigte hat also kein sonderliches Interesse daran, diesen einen Vorfall der Wahrheit zuwider abzuleugnen, was seinem Bestreiten einige Glaubhaftigkeit verleiht.

Zivil-, Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtssachen. Auch in den außerstrafrechtlichen Verfahrensarten zeigt sich oftmals die beweisende Kraft, die eine einfache formlose Parteierklärung haben kann, obwohl sie keine Einräumung enthält, sondern mit der Interessenlage der Partei, die sie vorträgt, in Einklang steht. Selbst der vorsichtige Beurteilerist mitunter genötigt und dann meist auch ohne weiteres bereit, bestimmte Angaben des Klägers (Beklagten) für wahr zu halten, obwohl sie nicht durch klassische Beweismittel wie Urkunden, Augenschein oder Zeugen, sondern nur durch die Umstände und durch Erwägungen allgemeiner Art bestätigt werden49 • Man denke etwa an die Feststellung intimer Vorgänge des ehelichen Lebens, von denen im Grunde nur die Parteien selbst. nähere Kenntnis haben können. Im Schrifttum hielt man es lange Zeit für außerordentlich bedenklich, in einem zwischen den Parteien strittigen Punkt einem der Streitteile auf Grund von Erfahrungen hinsichtlich des gewöhnlichen Hergangs bzw. auf Grund des persönlichen Eindrucks der Partei oder sonstiger allgemeiner Überlegungen Glauben zu schenken, wenn keine bestätigenden Zeugenaussagen vorhanden waren. Die Gefahr der Willkür schien dabei allzu groß zu sein. Gleichwohl sind gegen dieses Verfahren, wenn es richtig gehandhabt wird, keine grundsätzlichen Bedenken zu erheben. Die Angaben einer Partei können infolge günstigen Ausgangs der mit ihr angestellten psychologischen Erprobung oder aus anderen Gründen so überzeugend wirken, daß es gerechtfertigt erscheint, ihnen zu glauben. Sie können unter Umständen sogar mehr Glaubhaftigkeit besitzen als die Darstellung der Zeugen über den gleichen Punkt, wenn diese selbst verdächtig sind oder nur eine unsichere Kenntnis vom Vorgang haben. Manchmal vermögen Parteiangaben eine abweichende Zeugendarstellung wenigstens so weit zu entkräften, daß statt einer der Partei nachteiligen Tatsachenfeststellung ein non liquet herbeigeführt wird. Vielfach spricht bei der Würdigung einer Parteiangabe auch die besondere Art des Verfahrens mit, in welchem sie aufgestellt wurde: Wenn z. B. im Finanzgerichtsprozeß der Kläger behauptet, Betriebsausgaben gehabt zu haben, ohne daß er sie in genügender Weise belegen kann, so wird seiner Dar49 Für Sozialgerichtssachen: Krebs, Die Berufsgenossenschaft, Jg. 1957 S. 203; für Finanzgerichtsprozesse Heinlein in den Blättern für Steuerrecht Jg. 1951 s. 104 ff.

Die Befragung des Beschuldigten

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stellung oft ohne weiteres geglaubt werden können, sofern bei einem solchen Betrieb Ausgaben dieser Art in der angegebenen Höhe durchaus üblich sind. Die Angaben der Partei erscheinen dann möglicherweise bereits durch die allgemeine Erfahrung hinreichend dargetan. Übersteigen die behaupteten Aufwendungen das gewöhnliche Maß und pflegen für solche Ausgaben Belege erteilt und aufbewahrt zu werden, so spricht der Umstand, daß Belege nicht vorgelegt werden können, gegen die Richtigkeit der Parteidarstellung. Weist die Partei jedoch nach, daß die Belege ihr durch Unglücksfall verlorengegangen sind, so wirkt ihr Fehlen als solches oft nicht mehr belastend. Häufig müßte jedoch, wenn die Aufwendungen getätigt wurden, der Betroffene in der Lage sein, genauere Einzelheiten über den Entstehungsgrund, die Anschaffungswei'Se und die Person des Lieferanten zu machen. Wenn er darüber trotz Vorhalts nur ganz allgemeingehaltene Erklärungen abgibt, wird man seiner Darstellung mit einiger Reserve gegenüberstehen50 • Oft wird bei der Beurteilung auch die Persönlichkeit der Partei und ihre allgemeine Vertrauenswürdigkeit mitsprechen. Wenn ihr auf Grund früherer Vorfälle oder infolge ihr.es Verhaltens im gegenwärtigen Verfahren ein gewisses Mißtrauen entgegengebracht werden muß oder wenn es sich gar um einen Steuerschuldner handelt, der es offenbar regelrecht darauf anlegt, die Finanzbehörde zu übervorteilen, so beeinftußt das die Bewertung seiner Angaben regelmäßig nachteilig 51 • Solange jedoch die frühere oder gegenwärtige Aufführung der Partei festere Anhaltspunkte in dieser Hinsicht nicht bietet, wird das Finanzgericht ähnlich wie die Steuerbehörde von der Redlichkeit des Steuerschuldners auszugehen haben.

Würdigung von Schutzbehauptungen des Beschuldigten

Notwendigkeit ihrer vorurteilslosen Bewertung. Das Verteidigungsvorbringen ist anhand der vorhandenen objektiven Momente sorgfältig zu prüfen 52 • Vielfach fällt die Entscheidung schwer, ob eine an sich wenig wahrscheinlich klingende Darstellung des Beschuldigten nicht doch soviel für sich hat, daß sie als nicht regelrecht widerlegt anzusehen und somit nach dem Grundsatz in dubio pro reo als wahr anzunehmen ist. Nicht selten erweist sich das, was zunächst als reine Zweckbehauptung erschien, später doch als die Wahrheit. Es wäre für den Vernehmenden daher höchst gefahrvoll, wenn er in blindem Verfolgungseifer das Entlastungsvorbringen des Beschuldigten ohne gründliche Erforschung von vornherein als leere Ausrede qualifizieren wollte. Das gilt nicht zuletzt auch von der Berufung des Beschuldigten auf den großen Unbekannten, die zwar oftmals eine bloße Ausflucht ist, sich aber ande5o

Dazu Ritter in der Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern Jg. 1951

s. 86 ff.

51 Hugo Krauer, Die Erfahrungszahlen im schweiz. Steuerrecht (Diss. Zürich 1952) s. 96. 52 H. v. Hentig, Psychologie der Ausrede: Festgabe für Aschaffenburg (1926) s. 97 ff. 53 Rittler: Schweiz. Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43 (1929) S. 199.

Würdigung von Schutzbehauptungen des Beschuldigten

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rerseits mitunter dort, wo man es kaum für möglich gehalten hätte, als begründet erweist53 • Gewiß sind die Angaben des Beschuldigten meist im Hinblick auf sein Verteidigungsziel geformt. Aber auch die vom Verteidigungsinteresse diktierten Mitteilungen können zutreffend sein und müssen daher auf ihren Wahrheitswert geprüft werden. Als unbeachtlich darf man sie nur ansehen, wenn sie sich nach gewissenhafter Erwägung als unrichtig erwiesen haben.

Kasuistik. Manche Schutzbehauptungen sind sogleich mit ziemlicher Sicherheit als unzutreffend zu erkennen; andere können hinsichtlich ihres Wertes erst dann genauer taxiert werden, wenn man den Sachverhalt auf ihrer Grundlage durchdenkt. 1. Wird der Beschuldigte dabei betroffen, wie er Sachen, die nachweislich soeben gestohlen worden waren, in einem zusammengeschnürten Paket wegträgt, und behauptet er, ein Unbekannter habe ihm das Bündel "zum Tragen" gegeben, so wird er damit keinen Erfolg haben, wenn er nicht wenigstens anzugeben vermag, wohin er das Paket auf Grund der Weisungen des Unbekannten zu bringen hatte. Jedenfalls ist es, sofern nicht ganz besondere Umstände mitsprechen, wenig wahrscheinlich, daß der Beschuldigte ein Paket von einem Fremden entgegengenommen haben sollte, ohne daß er eine Vorstellung darüber besaß, was damit zu geschehen hat.

2. Gibt der Beschuldigte (um bei der gleichen Deliktsgruppe zu bleiben) an, daß er sich das von ihm weggenommene Fahrrad nicht aneignen, sondern es nur für einen Nachmittag benutzen wollte, so wird man dieses Vorbringen als unrichtig anzusehen haben, wenn sich herausstellt, daß er das Fahrrad bereits umgebaut hatte, um es unkenntlich zu machen. Denn eine solche Maßnahme würde für ihn keinen Sinn gehabt haben, wenn nur eine vorübergehende Benutzung beabsichtigt gewesen wäre. 3. Behauptet der wegen Diebstahls (Unterschlagung) einer Uhr Belangte, daß er die Uhr gefunden habe und sie auf der Fundstelle abliefern wollte, so richtet sich dieses Vorbringen in der Regel von selbst, wenn der Beschuldigte die Uhr bei sich behalten hat, obwohl er genügend Zeit zur Ablieferung besaß. Freilich wird er meistens geltend machen, daß er inzwischen krank geworden sei und sich um die Abgabe der Fundsache nicht mehr habe kümmern können, daß er seinen Kopf mit geschäftlichen Dingen voll gehabt und die Ablieferung vergessen habe, daß er seine Ehefrau mit der Uhr zum Fundbüro geschickt habe, dieses aber geschlossen gewesen sei usw. Es hängt dann von der genauen Erwägung dieser Einwendungen anhand des Erfahrungswissens ab, inwieweit sie Wahrscheinlichkeit für sich haben.

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Die Befragung des Beschuldigten

Manchmal weiß man nicht, was mehr zu bewundern ist: die phantasievolle Findigkeit, die der Beschuldigte beim Ersinnen passender Ausflüchte an den Tag legt oder die Natürlichkeit und Unbekümmertheit, mit der er sie vorbringt. 4. Wenn ein anerkannt rauflustiger Beschuldigter sich nach einer Schlägerei der Festnahme durch die Polizei aufs Heftigste widersetzt und dabei - offenbar zum Äußersten entschlossen - in seine Hosentasche greift, um, wie der Beamte annimmt, sein Messer herauszuholen, so kann, wenn sich ein solches in der Tasche befand, meist davon ausgegangen werden, daß der Polizist die Absichten des Beschuldigten zutreffend beurteilt hat. Erklärt der wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt belangte Beschuldigte später gleichwohl, er habe nur eine Zigarette aus der Tasche holen wollen, um sich durch Rauchen zu beruhigen, so wird diese Darstellung, wenn kein sonstiges Beurteilungsmaterial hinzukommt, als durch die Umstände widerlegt betrachtet werden können 54• 5. Erklärt der des Heiratsschwindels Verdächtige, er habe an seinen Opfern lediglich psychologische Studien machen wollen, so wird er damit, falls dieser Sachvortrag nicht durch ganz konkrete Einzelausführungen eine Bestätigung erfährt, schwerlich Erfolg haben. 6. Wenn ein Lehrer an Schulkindern Handlungen vorgenommen hat, die das allgemeine Sittlichkeitsempfinden verletzen, so wird meist auch anzunehmen sein, daß seine Absicht auf eine Befriedigung geschlechtlicher Regungen gerichtet war. Beruft sich der Beschuldigte in einem solchen Fall jedoch darauf, daß er mit seinen objektiv unzüchtigen Berührungen lediglich unverfängliche Zwecke verfolgt habe, so wird er damit einen schweren Stand haben, wenn diese Schutzbehauptung nicht durch besondere Umstände irgendwie wahrscheinlich gemacht wird. In einem vom Reichsgericht entschiedenen Fall hatte der Angeklagte einer Schülerin durch den Schlüpfer an den nackten Oberschenkel gegriffen und berief sich darauf, daß er dabei erzieherische Absichten verfolgt habe, was das Untergericht für nicht widerlegt hielt. Das Reichsgericht erklärte jedoch demgegenüber mit Recht, es widerspreche jeder Lebenserfahrung, daß der Angeklagte derartigen Handlungen einen erzieherischen Zweck beigemessen haben könnte. Zwar sei denkbar, daß unverfängliche Berührungen (wie das Streichen mit der Hand über den Scheitel des Kindes) vorgenommen würden, um es von der Angst vor dem Lehrer zu befreien, dagegen sei es gänzlich unglaubhaft, daß der Angeklagte den Griff an den Oberschenkel des Mädchens für geeignet oder gar notwendig gehalten habe, um dem Kind seine Scheu zu nehmen55 • 54

W. Sachs, Beweiswürdigung S. 126.

Bewertung von Widersprüchen

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Ähnliches wird zu gelten haben, wenn der wegen unzüchtiger Handlungen an Minderjährigen in Untersuchung Befindliche sich darauf beruft, er habe das Mädchen nur auf die Probe stellen wollen, oder wenn er geltend macht, er habe es geschlechtlich aufklären wollen. Das sind in aller Regel ziemlich fadenscheinige Motivierungen, die nur in seltenen Ausnahmefällen eine gewisse Aussicht auf Erfolg haben können. Bewertung von Widersprüchen

Mögliche Ursachen für widersprüchliches Vorbringen. 1. Unstimmige Erklärungen des Beschuldigten können dadurch zustande kommen, daß er in einzelnen Punkten unwahre Angaben gemacht hat und infolgedessen nicht imstande ist, seine Bekundungen miteinander und mit dem bereits feststehenden Sachverhalt in Einklang zu halten. Sein Vorstellungsvermögen, seine Schlagfertigkeit und Erfindungsgabe reichen nicht mehr aus, um die für ihn immer schwieriger werdende Situation zu meistern. Daß ein Fall dieser Art vorliegt, zeigt sich besonders deutlich, wenn der Beschuldigte den Widerspruch zunächst nicht bemerkt hatte und ihn nachträglich entdeckt. Es kann sehr eindrucksvoll sein, wenn er dabei zusammenzuckt oder auf andere Weise sein Schreck darüber erkennbar wird, daß er sich festgefahren und durch seine Erklärungen dem Vernehmenden die Elemente für seine Überführung in die Hand gegeben hat. Manchmal kann eine unlogische oder widerspruchsvolle Antwort des Beschuldigten auf die ihm vorgehaltenen Belastungsindizien mehr zu seiner Entlarvung beitragen als ein Geständnis, das stets erst noch auf seine Richtigkeit geprüft werden muß. 2. Geringen Überführungswert haben widersprüchliche Angaben des Beschuldigten über Einzelheiten, die ihm möglicherweise selbst nicht genau bekannt sind. Noch weniger beweiskräftig sind widerspruchsvolle Stellungnahmen, wenn der fragliche Umstand ihm nach seiner - möglicherweise zutreffenden - Behauptung völlig rätselhaft ist (wie etwa der auf den ersten Blick verräterische Farbfleck auf seinem Handwerkszeug oder der Salzsäurespritzer auf seinen Schuhen) und wenn er deshalb lediglich Erklärungshypothesen aufzustellen vermag. Es kann dann vorkommen, daß der Beschuldigte auf der Suche nach einer brauchbaren Deutung ganz verschiedenartige Vermutungen aufstellt und, wenn sie ihm selbst nicht recht überzeugend erscheinen, vielleicht auf die merkwürdigsten Erklärungen verfällt, ohne daß ihn dies sonderlieh belastet. Widersprüche solcher Art können auch bei einem völlig Unschuldigen leicht vorkommen. Mitunter stellen sie geradezu ein Indiz für seine Un-

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Die Befragung des Beschuldigten

schuld dar; denn der wirkliche Täter besitzt gute Detailkenntnisse. Er hat sich seine Ausreden meist schon im voraus zurechtgelegt und kann daher mit präzisen Angaben auch über die kleinsten Einzelheiten aufwarten, während den Unschuldigen der Verdacht manchmal völlig überraschend trifft und ihn deshalb unter Umständen in die größte Verlegenheit versetzt 56 • 3. Auch dort, wo das Leben selbst mitunter höchst widerspruchsvoll ist, kann man nicht verlangen, daß die Angaben des Beschuldigten jede Unstimmigkeit vermeiden. Die Beweggründe für ein bestimmtes Verhalten spiegeln manchmal die verschiedenartigsten Tendenzen wider; sie setzen sich bisweilen aus sehr heterogenen Bestandteilen zusammen (S. 112). Wenn der Beschuldigte dieses Motivationsgefüge, soweit es in die Bewußtseinssphäre hineinragt, zu beschreiben versucht, kann seine Schilderung trotzanscheinender Widersprüche durchaus der Wahrheit gemäß sein. In gleicher Weise lassen auch andere psychische Vorgänge oder Zustände nicht selten die Einheitlichkeit und Konsequenz vermissen, die man nach den Grundsätzen der verstandesmäßigen Logik glaubt erwarten zu können. Widersprüchliche Sachdarstellung auf Grund prozeßtaktischer Erwägungen. Zuweilen führt das Bestreben des Beschuldigten, alle erdenklichen Verteidigungsmöglichkeiten auszunutzen zu gewissen Unstimmigkeiten in seiner Darstellung, ohne daß daraus Schlüsse gezogen werden könnten, die für ihn nachteilig sind: Der Beschuldi~te hatte in seinem Hause eine Öffnung im Fußboden ausgebrochen, durch die jemand zu Fa.ll ~tekommen und schwer verletzt worden war. Die Verteidigung des Beschuldigten ging da.hin, daß die Öffnung keine Gefahr dargestellt und daß er sie nicht für gefährlich gehalten habe. Er machte ferner geltend, daß durch ihn gewisse Sicherungsvorkehrungen getroffen worden seien, was jedoch erwiesenermaßen nicht zutraf. Das Gericht glaubte daraus, daß der Beschuldigte Sicherungsmaßnahmen getroffen haben wollte, schließen zu können, daß er die Gefährlichkeit der Bodenöffnung gekannt habe. Aber ein solcher Schluß war nicht gerechtfertigt. Wenn der Beschuldigte in einem derartigen Fall behauptet, daß er schützende Vorkehrun~en getroffen habe, so hat es sich dabei augenscheinlich lediglich um einen vorsorglichen (hier zudem als unrichtig erwiesenen) Sachvortrag gehandelt, aus dem keine für den Beschuldigten nachteiligen Folgerungen gezogen werden können. Auch der unschuldige Verdächtige greift, wenn er sich eingekreist sieht, in der Not unter Umständen nach jedem irgendwie in ss RG JW 1938 S. 789

Nr. 1.

Unrichtige Angaben des Beschuldigten als Schuldindiz

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Betracht kommenden Verteidigungsargument. Man sollte das bei der Bewertung von Unstimmigkeiten dieser Art berücksichtigen. Im Zivilprozeß nimmt die Praxis meist keinen Anstoß daran, daß der auf Rückzahlung eines Darlehens Verklagte einerseits geltend macht, er habe kein Darlehen empfangen, und sich eventuell darauf beruft, daß die Rückzahlung bereits erfolgt bzw. daß der Betrag noch nicht zur Rückzahlung fällig sei. Hier wird der Partei also unter Umständen das Recht zu einem widerspruchsvollen Sachvortrag stillschweigend zugestanden. Man sollte daher auch im Strafverfahren solche Anomalien nicht kurzerhand zum Nachteil des Beschuldigten auswerten, sondern für die taktischen Schwierigkeiten Verständnis haben, mit denen dieser manchmal zu kämpfen hat57 • Andere Prozeßarten. Vor den Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichten bedarf es nicht weniger als im Zivilprozeß einer dem Einzelfall angepaßten Erwägung, welche Bedeutung einem widersprüchlichen Parteivortrag beizumessen ist. Wenn der Kläger im ersten Rechtszug eine bestimmte Sachdarstellung gegeben hat und trotz entsprechender Vorhalte dabei verblieben ist, dann aber nach Klageabweisung im zweiten Rechtszug seine Angaben ins Gegenteil verkehrt, legt dieses inkonsequente Verhalten unter Umständen den Schluß nahe, daß die ursprünglich vorgetragene Version der Wahrheit entsprach58 und die später mitgeteilte lediglich deshalb aufgestellt wurde, weil der Kläger mit ihr in der ersten Instanz keinen Erfolg gehabt hat. Doch kann mitunter auch gerade die entgegengesetzte Auffassung die richtige sein, wenn nämlich bei der ursprünglichen Darstellung der Parteivertreter eine nur unzulängliche Information besaß oder wenn er seine Partei mißverstanden hat und dies erst später zutage kam. Unrichtige Angaben des Beschuldigten als Schuldindiz

Schwäche und Stärke dieses Beweisanzeichens. Wenn der Beschuldigte über die unrichtig mitgeteilten Einzelheiten möglicherweise selbst nicht genau Bescheid wußte, so kann darin, daß er unzutreffende Angaben gemacht hat, kein Belastungsmoment erblickt werden. Ist dagegen den Umständen nach zu vermuten, daß ihm die Unrichtigkeit seiner Darstellung im fraglichen Punkt bekannt gewesen ist, so wird man das als in gewisser Weise belastend registrieren. Noch stärker ist das in einer unzutreffenden Angabe liegende Schuldindiz, wenn f es t steht , daß der Beschuldigte regelrecht gelogen hat. Freilich geht, auch wenn er bewußt die Unwahrheit sagte, daraus zunächst nur soviel hervor, daß er von seinem Standpunkt aus Grund zur Gorphe S. 241. Im Ergebnis ebenso Wimmer NJW 1954 S. 1298 mit näheren Darlegungen zu dem obigen Beispiel. 58 Für den Zivilprozeß RG Recht Jg. 1914 Nr. 1710. 56

57

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Die Befragung des Beschuldigten

Verfälschung der Wirklichkeit zu haben glaubte. Trotzdem besitzt das in der absichtlichen Irreleitung der Ermittlungsorgane liegende Überführungsindiz zuweilen eine beträchtliche Kraft 59 , gleichgültig, ob es sich um Lügen handelt, die den Schluß auf die Täterschaft des Beschuldigten verhindern sollen oder um solche, mit deren Hilfe der Beschuldigte bei nachgewiesener Täterschaft seinen Schuldanteil verringern möchte. Die Überzeugungskraft des Arguments, daß unwahre Angaben des Verdächtigen auf Schuldbewußtsein und letzten Endes auch auf das Vorhandensein von Schuld hindeuten, beruht auf der im allgemeinen berechtigten Erwartung, der Verdächtige werde, wenn er sich völlig unschuldig fühlt, nicht seine Zuflucht zur Verfälschung des wahren Sachverhalts nehmen. Man geht davon aus, daß er in der Regel darauf vertraut, seine Unschuld werde im Laufe des Verfahrens auf Grund der von ihm gegebenen wahrheitsgemäßen Hinweise an den Tag kommen. Diese Vermutung wird durch die tägliche Erfahrung immer wieder bestätigt. Auch der nicht sonderlich Intelligente hat meist ein sicheres Gefühl dafür, daß er sich, wenn er unschuldig ist, durch Lügen nur unnötig ins Unrecht setzen würde und pflegt sich entsprechend zu verhalten.

Spezielle Lagen. Nur beim Vorliegen besonderer Umstände kann gelegentlich eine abweichende Beurteilung angebracht sein. Manchmal spricht der Schein so stark gegen einen unschuldigen Verdächtigen, daß er meint, sich nicht anders als durch eine unwahre Tatsachenangabe retten zu können: Wenn jemand bereits mehrfach wegen Unzucht mit Kindern bestraft worden ist, trifft ihn, sobald sich in seiner näheren Umgebung ein ähnlicher Fall zuträgt, für den der Täter noch nicht feststeht, meist sogleich ein starker Verdacht. Denn aus seinen Vorstrafen geht hervor, daß er eine Tendenz zu dieser Art geschlechtlicher Betätigung besitzt. Da solche anormalen Neigungen verhältnismäßig selten sind und der Kreis der als Täter in Betracht kommenden Personen infolgedessen eingeengt ist, erscheint er lediglich auf Grund seiner (vielleicht ganz zufälligen) räumlichen Beziehung zum Tatvorgang als der vermutliche Täter. In einer solchen Verfahrenssituation hält es auch der Unschuldige möglicherweise für taktisch richtiger, wahrheitswidrig zu bestreiten, daß er das vom Delikt betroffene Kind kenne und daß er sich zur fraglichen Stunde in der Nähe des Tatorts aufgehalten habe. Derartige Lagen, in denen nicht nur der Täter, sondern auch der nur scheinbar Schuldige zur Lüge seine Zuflucht nimmt, können stets gegeben sein, wenn sich der Verdächtige Überführungsmomenten gegen59

RG Str Bd. 59 S. 161.

Unrichtige Angaben des Beschuldigten als Schuldindiz

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über sieht, zu deren Entkräftung er unfähig zu sein glaubt 60 • Vor allem einfältige, hinterwäldlerische Menschen werden leicht zur Lüge gedrängt, wenn ihnen diese das einzige Mittel zu sein scheint, um der vermeintlich drohenden Umklammerung zu entgehen. Sie sehen sich in ihrer dumpfen Primitivität im Untersuchungsverfahren einer Maschinerie gegenüber, deren Gesetzmäßigkeiten ihnen fremd sind, und greifen in ihrer Not bisweilen zu unwahren Schutzbehauptungen, auch wenn sie es gar nicht nötig haben. Beschuldigte dieser Art verteidigen sich - obwohl sie unschuldig sind - unter dem Einfluß ihrer Ratlosigkeit manchmal in so widersinniger Weise, daß ihnen gegenüber alle normalen psychologischen Berechnungen ihre Geltung verlieren 61 •

Allgemeine Richtlinie. In jedem Fall ist zu überlegen, ob der Beschuldigte nicht etwa einen Grund zur Verfälschung bestimmter Tatsachen haben könnte, der mit dem gegenwärtigen Strafverfahren nichts zu tun hat. Manchmal möchte er vermeiden, daß unerfreuliche häusliche Verhältnisse bekanntwerden. Bisweilen wieder will er verhindern, daß bestimmte geschäftliche Einzelheiten in die Öffentlichkeit dringen, daß seine engen Beziehungen zu einer übel beleumdeten Person oder sein Verkehr in einem anrüchigen Lokal publik wird. Solche Rücksichten sprechen nicht nur in kleinen und mittleren Strafsachen mit, sondern können auch bei der Untersuchung von schweren Verbrechen gelegentlich Bedeutung haben62 • ZiviZprozeß. Auch in Zivilsachen muß die Partei sich gegebenenfalls gefallen lassen, daß der Richter es zu ihren Ungunsten wertet, wenn sie geglaubt hat, zur Lüge ihre Zuflucht nehmen zu müssen63 • Wenn im Vaterschaftsprozeß der als außerehelicher Erzeuger in Anspruch genommene Beklagte nicht nur den Geschlechtsverkehr mit der Kindesmutter in Abrede gestellt, sondern auch bestritten hat, daß er sie nach dem Tanzvergnügen, auf dem er mit ihr zusammen war, nach Hause brachte und sich herausstellt, daß er dabei bewußt von der Wahrheit abgewichen ist, so kann dies ein Indiz dafür sein, daß er auch den Geschlechtsverkehr zu Unrecht geleugnet hat64 • Ob dieser Schluß im Einzelfall gerechtfertigt erscheint, bedarf jedoch jeweils einer Prüfung an Hand der Umstände.

60 Hirschberg, Die Lüge als Schuldbeweis: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform Bd. 20 S. 337; M. Liepmann in der Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 44 (1924) S. 663. 61 Hentig, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Jg. 1929 S. 31 :ff.; Gorphe S. 241. e2 Glaser, Beweis S. 172. 63 RGRecht Jg. 1912 Nr. 3856; RG HRR 1930 Nr. 172. 64 W. Gautschi, Beweislast und Beweiswürdigung (Zürich 1913) S. 363.

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Die Befragung des Beschuldigten Unzulängliche Verteidigung des Beschuldigten als Belastungsmoment

Eigenart dieses Beweisanzeichens. Bisweilen kann der Umstand, daß der Verdächtige zur Entkräftung des gegen ihn erhobenen Vorwurfs nichts Rechtes hat vorbringen können, ein Indiz für seine Schuld bilden. Es wird dabei an die Fälle gedacht, in denen er von seinem Recht zu schweigen keinen Gebrauch gemacht, vielmehr versucht hat, sich zu verteidigen, was ihm jedoch so wenig gelungen ist, daß daraus Schlußfolgerungen zu seinen Ungunstengezogen werden können. Das auf diese Weise zustandekommende Beweisanzeichen erhält seine Überzeugungskraft hauptsächlich durch die Erwartung, daß der Beschuldigte, wenn er sich einmal grundsätzlich entschlossen hat, Angaben zu seiner Verteidigung zu machen, auch alle in dieser Hinsicht in Betracht kommenden Momente vorbringen wird, die zur Aufklärung der Sache in seinem Sinne nötig sind.

Voraussetzungen für die Brauchbarkeit des Arguments. Diese Erwartung trifft oftmals in der Tat zu. Es wäre jedoch viel zu weitgehend, wenn man regelmäßig annehmen wollte, daß der Beschuldigte durch jede sachlich unzulängliche Stellungnahme ein neues Schuldindiz gegen sich schafft65 • Vielmehr kann die Tatsache der ungenügenden Rechtfertigung nur dann gegen den Beschuldigten verwertet werden, wenn er den Beweismöglichkeiten so nahesteht, daß er zu einleuchtenden Tatsachenangaben imstande sein müßte. Es kommt also darauf an, ob er überhaupt Zugang zum Wissen gehabt hat und ob es ihm nach Lage der Sache leicht sein müßte, etwaige für ihn günstige Momente zur Sprache zu bringen.

Besonderheiten bei Darlegung des Alibi. Wenn der Verdächtige seine Anwesenheit am Tatort bestreitet, aber darüber, wo er sich zur Tatzeit befunden hat, nur vage Angaben machen kann, darf das in manchen Fällen als belastend gewertet werden. Gewiß wird der Beschuldigte oft recht gut wissen, wo er sich zur fraglichen Zeit befunden hat und daher imstande sein, präzise Auskunft darüber zu geben. Unter Umständen kann ihm die Klärung dieser Frage aber auch beträchtliche Schwierigkeiten bereiten, ohne daß daraus für ihn ungünstige Schlüsse gezogen werden dürfen. Dies wird vor allem dann der Fall sein, wenn der Beschuldigte viel unterwegs ist und keine geregelte Zeiteinteilung kennt. Steht fest, daß die Straftat erst gestern geschehen ist, so wird der Verdächtige in aller Regel noch die Möglichkeit haben, den fraglichen Tagesablauf richtig zu rekonstruieren, so daß man von ihm - zum min11s

RG JW 1923 S. 689 Nr. 6.

Unzulängliche Verteidigung des Beschuldigten

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desten nach einer gewissen Überlegungsfrist- genauere Darlegungen darüber erwarten kann. Anders dagegen, wenn die Straftat bereits Wochen oder vielleicht gar Monate zurückliegt und der Beschuldigte wegen Fehlens von Aufzeichnungen keine festen Anhaltspunkte mehr dafür besitzt, wo er sich zur Tatzeit aufgehalten hat. Zwischen diesen beiden Extremen liegen die vielen Fälle, in denen der unschuldige Verdächtige zwar noch mancherlei Handhaben zur Feststellung seines Aufenthaltsorts im Zeitpunkt der Tat hat, aber bei seinen Rekonstruktionsversuchen im Grunde doch nicht über Vermutungen hinauskommt. Hier muß vom Beurteiler jeweils abgewogen werden, inwiefern allgemein gehaltene, unklare, widerspruchsvolle Angaben, die der Beschuldigte über sein Alibi macht, etwa als belastend zu werten sind.

Hinreichende Gelegenheit zu wohlüberlegten Verteidigungserklärungen. Der Beschuldigte muß, wenn ungünstige Schlußfolgerungen aus seiner unzulänglichen Verteidigung gerechtfertigt sein sollen, auch genügend Zeit und Gelegenheit gehabt haben, die etwa zu seinen Gunsten sprechenden Momente dem Ermittlungsbeamten oder dem Gericht gegenüber anzubringen. Daran kann es unter Umständen fehlen, wenn zur sachgemäßen Verteidigung die Übersicht über ein umfangreiches Tatsachenmaterial vorausgesetzt wird, wie das im Verfahren wegen Betrugs oder Untreue mitunter der Fall ist. Auch sonst können Ungeschick, Verwirrung usw. eine einleuchtende Gegendarstellung verhindert haben. Bei der Würdigung muß daher die Intelligenz des Beschuldigten, seine geistige Beweglichkeit und seine Konzentrationsfähigkeit mit in Anschlag gebracht werden. Manchmal kommt der Verdächtige, obwohl die angemessenen Verteidigungsargumente auf der Hand liegen, deshalb nicht zu einer brauchbaren Rechtfertigung, weil er irrigerweise glaubt, daß ein bestimmtes, naheliegendes Schutzvorbringen sich für ihn in gewisser Hinsicht nachteilig auswirken könnte. Wenn solche Fälle auch nicht allzu häufig sein werden, muß bei der Beurteilung doch gegebenenfalls an sie gedacht werden.

Ergebnis. Zusammenfassend läßt sich sagen: Eine unzulängliche Verteidigung, die vielleicht lediglich auf Unkenntnis oder Ungeschick des Beschuldigten beruht, stellt kein tragfähiges Schuldindiz dar. Größere Kraft erhält dieses vielmehr erst, wenn es gelingt, die Umstände, die auch bei einem unschuldigen Verdächtigen zu einer so ungenügenden Erwiderung hätten führen können, für den gegebenen Fall auszuschließen66 • 66 Schaper im Archiv für Strafrecht Bd. 12, S. 459; für das Steuerrecht Heinlein: Blätter für Steuerrecht Jg. 1951, S. 104 ff.

16 Döluing

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Die Befragung des Beschuldigten

Manchmal erhält das Indiz der unzulänglichen Rechtfertigung erst nach und nach stärkere Überzeugungskraft; so etwa, wenn der Beschuldigte für den gleichen Punkt eine Reihe von Schutzbehauptungen aufstellt, ohne daß sich bei der Nachprüfung auch nur eine einzige von ihnen wahrscheinlich machen ließe. Bisweilen kann eine solche Kette von mißglückten Entlastungsversuchen nicht lediglich als das Ergebnis des Zufalls betrachtet werden, sondern stellt ein Beweisanzeichen dafür dar, daß es sich bei den Verteidigungsausführungen des Beschuldigten um bloße Zweckbehauptungen handelt, die der realen Grundlage entbehren. Ungenügende Rechtfertigung außerhalb des Strafverfahrens. Auch im Zivilprozeß und vor den Verwaltungsgerichten kommt der Gesichtspunkt der unzulänglichen Verteidigung zur Geltung. Bei den Prozeßarten, die eine regelrechte Beweislastverteilung kennen, setzt er sich nicht selten auch zum Nachteil der nicht beweispflichtigen Partei durch. Wenn sie nach Lage der Verhältnisse genauere Kenntnis von den Einzelheiten haben muß, aber gleichwohl nichts für sie Günstiges vorzubringen weiß, so wirkt sich das belastend für sie aus, obwohl die prozessuale Beweislast den Gegner trifft. Gibt der Beklagte z. B. zu, daß .er Gesellschafter einer bestimmten offenen Handelsgesellschaft gewesen ist, bestreitet aber, daß er es zur maßgeblichen Zeit noch war, ohne nähere Angaben über sein angebliches Ausscheiden aus der Gesellschaft zu machen, und bringt er auch auf Nachfrage in dieser Hinsicht nichts vor, so wird das in der Regel zu seinem Nachteil zu werten sein, selbst wenn die Beweislast für seine Beteiligung an der Handelsgesellschaft den Kläger trifft.

Würdigung von einräumenden Erklärungen Der Grund, weshalb meist einiges für die Richtigkeit der vom Beschuldigten gemachten Zugeständnisse spricht, liegt in der Erwägung, daß sein Selbsterhaltungstrieb ein wahrheitswidriges Geständnis zu verhindern pflegt. In der Tat kommt es nicht allzu oft vor, daß ein Beschuldigter sich unzutreffenderweise selbst belastet. Immerhin ereignen sich solche Fälle häufiger, als der noch wenig Erfahrene meist annimmt67. Die Gefahr, daß der Wahrheitsforscher einräumenden Erklärungen des Beschuldigten auch dort Vertrauen schenkt, wo sie es nicht verdienen, ist daher eine beträchtliche. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit gewissenhafter Erprobung. Das Geständnis kann als brauchbarer Beitrag zur Sachaufklärung erst dann angesehen werden, wenn es einer gründlichen Prüfung standgehalten hat. Mögliche Ursachen für ein falsches Geständnis. Die Annahme, der natürliche Egoismus werde es verhindern, daß jemand der Wahrheit

07 Zum folgenden finden sich bei Mittermaier, Lehre vom Beweise (1834) S. 255 ff. Darlegungen, die auch heute noch lesenswert sind.

Würdigung von einzuräumenden Erklärungen

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zuwider seine Beteiligung an einer strafbaren Handlung anerkennt, hat keine Gültigkeit mehr, wo der Selbsterhaltungstrieb aus irgendeinem Grunde nicht zur Geltung kommt. Merkwürdigerweise ereignen sich Fälle dieser Art nicht nur bei kleineren Delikten, für die lediglich eine Geld- oder eine kurze, verhältnismäßig leicht zu verschmerzende Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Vielmehr kommen falsche Geständnisse gerade auch bei Delikten vor, die mit hohen Zuchthausstrafen oder mit lebenslänglicher Freiheitsentziehung bedroht sind. Diese Strafen machen mitunter auf den Betroffenen keinerlei Eindruck; entweder weil er hofft, daß sich seine Unschuld noch rechtzeitig herausstellen werde, oder weil die Gefahr einer langen Untersuchungshaft und der nachfolgenden Verurteilung in seinen Augen durch bestimmte Vorteile aufgewogen wird; diese können z. B. darin bestehen, daß er sich eine innere Genugtuung verschaffen will oder auf einen materiellen Gewinn in späterer Zeit rechnet.

Geständnis infolge von Ruhmsucht. Ein solches liegt vor, wenn das Schuldbekenntnis erfolgt, weil der sich zu Unrecht zur Täterschaft Bekennende ein stark ausgeprägtes Geltungsbedürfnis befriedigen will. Er möchte im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen. Aller Augen sollen sich auf ihn richten. Man soll seine Geschicklichkeit und sein Raffinement bewundern. Wenn Selbstanklagen dieser Art gerade bei den schwersten Delikten verhältnismäßig häufig vorkommen, so erklärt sich dies nicht zuletzt daraus, daß bei ihnen die Anteilnahme aller Bevölkerungskreise besonders stark ist und daher das durch ein Geständnis hervorgerufene Aufsehen beträchtlich zu sein pflegt. Meist sind es psychopathisch veranlagte Naturen, bei denen ein übersteigerter Geltungsdrang so vorherrscht, daß sie eine Verhaftung und andere schwere Unbilden nicht scheuen, um zu dem gewünschten Erfolg zukommen.

Taktische Erwägungen des Beschuldigten. Nicht selten liegen einem falschen Geständnis ganz bestimmte Nützlichkeitserwägungen zugrunde. Das ist der Fall, wenn der unschuldige Verdächtige gesteht, weil er der ihm drohenden Verhaftung entgehen will, die er nicht anders als auf diese Weise glaubt vermeiden zu können; oder wenn er gesteht, weil er den Ermittlungsbeamten vom wirklichen Täter ablenken und diesem Zeit zur Flucht bzw. zur Beseitigung der Tatspuren verschaffen will. Ist der Geständige Mitglied einer Verbrecherbande, so will er unter Umständen durch das Eingestehen einer Straftat, die er nicht begangen hat, andere Angehörige der Bande vor der Strafverfolgung schützen. Manchmal deckt ein Unschuldiger auf diese Weise den Führer seiner politischen Partei oder das Haupt einer revolutionären Bewegung und opfert sich aus idealen Gründen für die gemeinsame Sache in der Hoffnung, diese dadurch entscheidend fördern zu können. 16.

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Die Befragung des Beschuldigten

Auch wenn solche Motive fehlen, nimmt ein Einzelner mitunter willig eine Schuld auf sich, die ihn nicht trifft, um einen Menschen, dem er zugetan ist, zu schützen; so etwa, wenn ein Pfarrer sich der anonymen Briefschreiberei oder des Devisenvergehens schuldig gemacht hat und einer seiner Angehörigen für ihn einspringt, um eine strafgerichtliche Verfolgung des Geistlichen zu vermeiden und die ihm dadurch entstehenden beruflichen Nachteile abzuwenden. Manchmal tritt bei einer vielköpfigen Familie, die in Armut lebt und durch harte Arbeit ihr Brot verdienen muß, ein schwächliches oder verkrüppeltes Kind, das wegen seiner geringen Leistungsfähigkeit bisher den Angehörigen zur Last gefallen ist und dies als mißlich empfindet, durch ein falsches Geständnis für den Vater oder für eins der Geschwister ein, gleichsam um zu zeigen, daß es doch noch zu etwas nütze sein könne 68 • Zuweilen soll durch ein falsches Bekenntnis eine schwerere Straftat verdeckt werden; so wenn jemand wahrheitswidrig einen Einbruchsdiebstahl, dessen Täter gesucht wird, einräumt, um einen von ihm begangenen Raub oder einen Mord zu verheimlichen.

Kombination von uneigennützigen und selbstsüchtigen Beweggründen. Mitunter können egoistische und altruistische Tendenzen beim Zustandekommen eines unrichtigen Geständnisses zusammenwirken: Der Sohn gesteht z. B., die Brandstiftung begangen zu haben, die in Wahrheit dem Vater zurLast fällt; einmal weil er den Vater in Schutz nehmen will und weiterhin, weil der Vater Eigentümer des abgebrannten Anwesens ist und die Feuerversicherung keinen Ersatz leistet, wenn der Eigentümer den Brand selbst angelegt hat. Vielleicht stellt der Sohn auch noch in Rechnung, daß er als einziges Kind das Besitztum später einmal erben wird und auf diese Weise vielleicht einen Nutzen von der Sache haben kann, ferner daß er mit seinen 17 Jahren noch unter Jugendstrafrecht steht und deshalb im Strafverfahren eine günstigere Position haben wird als der Vater usw. Ähnliche Situationen können sich auch bei kleineren Delikten ergeben: Die Ehefrau sitzt am Steuer eines Kraftwagens, obwohl sie keinen Führerschein besitzt. Sie streift bei der Vorbeifahrt ein parkendes Fahrzeug und beschädigt es leicht. Der Ehemann, der neben ihr gesessen hat, erklärt der Polizei, er habe den Wagen gefahren und den Unfall verursacht; er tut dies, weil er seine Frau vor dem Strafgericht bewahren möchte, aber auch, weil die Versicherung nicht zahlt, wenn der Halter des Wagens jemandem zu fahren erlaubt hat, der keinen Führerschein besaß. ss Schaper im Archiv für Strafrecht Bd. 12 S. 446 ff.

Würdigung von einzuräumenden Erklärungen

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Falsches Geständnis auf Grund von Irrtum. Daß auch der wahrheitswillige Beschuldigte irrigerweise ein unzutreffendes Geständnis ablegen kann, wird vielleicht nicht sogleich einleuchten; und doch kommt dergleichen gar nicht so selten vor. Man darf dabei nur nicht lediglich an ganz simple, leicht überschaubare Sachverhalte denken, sondern muß den gesamten, so überaus vielgestaltigen Anschauungsstoff berücksichtigen, den das Leben vor uns ausbreitet. Eigenartigerweise ist der Wahrheitsforscher meist ohne weiteres bereit, zuzugeben, daß die Aussage eines Zeugen infolge von Irrtum unrichtig sein kann, während ihm die Einsicht, daß beim Beschuldigten gelegentlich das Gleiche möglich sein könnte, weniger naheliegt Gewiß wäre es natürlich verkehrt, wenn man überall einen Irrtum des Beschuldigten vermuten wollte. Im allgemeinen pflegt dieser über die Einzelheiten des Hergangs gut unterrichtet zu sein und dort, wo er sich selbst belastet, keinem Irrtum zu unterliegen. Er wird, wenn er sich über Umstände zu äußern hat, die zu seinem Nachteil ausgelegt werden können, meist eher zu wenig als zuviel anerkennen und sich durch vorsichtige Zurückhaltung vor irrigen Einräumungen zu schützen wissen. Gleichwohl können auch bei ihm falsche Geständniserklärungen infolge von Irrtum vorkommen: a) Zu kurze Beobachtungszeit. In Verkehrsstrafsachen hindert die Schnelligkeit des Ablaufs den Beschuldigten vielfach ebenso wie den Zeugen an der richtigen Wahrnehmung und Wiedergabe der Einzelheiten. Oft weiß er im Grunde nicht mehr, wieviel Meter man zur Zeit des Unfalls sehen konnte, welche Geschwindigkeit er damals gerade einhielt, mit welchem Abstand von der rechten Bordsteinkante er gefahren ist usw. Er pflegt sich dann bei seinen Angaben in der Hauptsache danach zu richten, was seiner Meinung nach zur Verbesserung seiner Position am ehesten beiträgt. Gerade in Verkehrsstrafsachen übersieht er aber unter Umständen seine Interessenlage nicht richtig und räumt infolgedessen vielleicht zu seinem Nachteil etwas Unzutreffendes ein. In einem durch BGH-Urteil vom 9. 6.1953 entschiedenen Fall wäre es für den Beschuldigten günstig gewesen, wenn er trotz hereinbrechender Dunkelheit noch eine größere Sichtmöglichkeit gehabt hätte; denn er war nachweislich mit beträchtlicher Geschwindigkeit gefahren, die sich nur bei einigermaßen guter Sicht rechtfertigen ließ. Der Angeklagte verkannte das jedoch und behauptete (in der Meinung, sich damit gut zu verteidigen) wahrheitswidrig, daß er zur Zeit des Unfalls nur 20 m weit habe sehen können68 • 69

Verkehrsrechtssammlung Bd. 5 S. 550.

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Die Befragung des Beschuldigten

b) Hochgradige Erregung. Bei Affektverbrechen sind Irrtümer des Beschuldigten auf Grund der beträchtlichen Aufregung, in der er sich zur Zeit der Tat befand, leicht möglich. Die Gewalt, mit der sich die in ihm aufgestauten Kräfte Bahn brechen, pflegt seine Fähigkeit zu verläßlicher Wahrnehmung zu beeinträchtigen. Meist erlebt er zwar einige Momente sehr intensiv und empfängt insoweit entsprechend starke Eindrücke, erfaßt und verarbeitet dafür aber andere Umstände entweder gar nicht oder nur ungenau. Bezüglich der Einzelheiten, die dem Beschuldigten im Augenblick der Tat wichtig waren, wird er sich gewiß selten irren. Hinsichtlich der Fakten jedoch, die ihm damals nebensächlich erschienen, ist ein Irrtum um so leichter möglich. Wenn- um ein ganz alltägliches Beispiel zu wählen- der Beschuldigte bei den Ermittlungen über eine Wirtshausschlägerei zugibt, daß er mit dem ihm von früher her aufs äußerste verhaßten X in der Gastwirtschaft in Streit geraten sei, dabei von ihm Schläge empfangen und auch seinerseits geschlagen habe, so werden diese Angaben kaum dem Irrtum unterworfen sein. Dagegen versteht sich nicht in gleicher Weise von selbst, daß der Beschuldigte über das Zustandekommen des Zerwürfnisses mit X, also über die vorausgegangenen beiderseitigen Anzüglichkeiten und Beschimpfungen sowie über ihre zeitliche Reihenfolge richtig Auskunft zu geben vermag, zumal wenn längere wörtliche Auseinandersetzungen stattgefunden hatten. Denn es ist eine allgemeine Erfahrung, daß starke Erregungen eine Minderung der Wahrnehmungsfähigkeit, eine Trübung des Gedächtnisses und eine Schwächung der Urteilskraft zur Folge zu haben pflegen. Häufig führt in solchen und ähnlichen Fällen auch der Umstand, daß der Beschuldigte bereits einiges getrunken hatte, dazu, seine Auffassungskraft herabzusetzen, woraus ebenfalls leicht Fehlleistungen hervorgehen können70 • c) Sonstige Gründe. Bei einem nächtlichen Einsteigediebstahl erschwert die gespannte Aufmerksamkeit des Täters auf bestimmte, für den Erfolg des Unternehmens wichtige Einzelheiten die verläßliche Beobachtung anderer tatsächlicher Momente. Die Dunkelheit, die die Sicht beeinträchtigt, und die Furcht vor Entdeckung tun ein übriges, um Irrtümer bezüglich der Einzelumstände hervorzurufen und die Entstehung von Beobachtungsfehlern zu begünstigen. Bei komplizierten Vermögensdelikten wie Untreue und Bankrott können Irrtümer des Beschuldigten dadurch entstehen, daß er die Buchführungsunter lagen, die getätigten Vertragsschlüsse usw. nicht alle 70 über unrichtige Geständnisse infolge von starken Suggestionen durch die vernehmenden Polizeibeamten: Lord Altrincham and Jan Gilmour, The Case of Timothy Evans, London 1956.

Würdigung von einzuräumenden· Erklärungen

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gegenwärtig hat oder den Gesamtvorgang nicht voll zu überblicken vermag. Fällt das strafbare Geschehen in einen Lebensbereich, der dem Beschuldigten nicht vertraut ist, und hat er infolgedessen von bestimmten Zusammenhängen, auf die sich seine Einräumung bezieht, keine verläßliche Kenntnis gehabt, so ist sein Geständnis mit Vorsicht zu bewerten71 • Mitunter ist auch bei durchaus normal begabten Beschuldigten der Grad von Intelligenz nicht vorhanden, der sie bei einem komplizierten Sachverhalt vor irrigen Zugeständnissen bewahren könnte. Äußert der Beschuldigte sich über eigene seelische Vorgänge in einer für ihn nachteiligen Weise, so sind dabei vor allem dann Fehlleistungen möglich, wenn es sich um psychische Tatsachen handelt, die ganz oder teilweise unterhalb der Bewußtseinsschwelle liegen. Depressiv gestimmte Menschen kommen manchmal aus einer Art Versündigungswahn dahin, daß sie sich irrtümlicherweise der Täterschaft bezüglich eines Delikts bezichtigen, das sie nicht begangen haben. Daß falsche Selbstanklagen auch auf einer regelrechten Geisteskrankheit beruhen können, mag wenigstens erwähnt sein, ohne daß darauf hier näher eingegangen werden könnte.

Irrtum des Beschuldigten über den belastenden Charakter einer zugestandenen Tatsache. Die Frage, inwieweit die Überzeugungskraft einer Einräumung dadurch beeinträchtigt wird, daß der Beschuldigte den zugestandenen Tatumstand nicht oder nicht in vollem Umfang als belastend erkennt, ist bereits mehrfach gestreift worden. Man kann nicht sagen, daß jedes Geständnis wertlos sei, bei dem der Beschuldigte seine Interessenlage zunächst unrichtig beurteilt hat. Oft wird im Gegenteil seine Unkenntnis darüber, wie die von ihm zugestandene Einzelheit gewürdigt werden wird, gerade der Wahrheit dienen, indem sie verhütet, daß der Beschuldigte den Sachverhalt auf Grund von Nützlichkeitserwägungen verfälscht. Andererseits muß bedacht werden, daß irrige Verteidigungsvorstellungen des Beschuldigten ihn unter Umständen an der richtigen Wiedergabe des Sachverhalts hindern können. Es kommt vor, daß er Behauptungen, die das Eingeständnis eines Belastungsmoments enthalten, der Wahrheit zuwider und nur deshalb aufstellt, weil er (zu Unrecht) meint, daß sie für ihn günstig seien. Ein solches, von falschen Voraussetzungen ausgehendes Geständnis ist zuweilen geeignet, den Beurteiler in die Irre zu führen. Eine solche Situation kann eintreten, wenn der Beschuldigte der Wahrheit zuwider hartnäckig in Abrede stellt, daß sein 11

Alsberg-Nüse S. 224.

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Die Befragung des Beschuldigten

Vorsatz sich von vornherein auf die Begehung einer ganzen Anzahl gleichartiger Deliktshandlungen bezogen hat, weil er in dem verständlichen Irrtum befangen ist, daß dieser umfassende Tätervorsatz für ihn besonders belastend sei, während durch ihn gerade die Auffassung des Gesamtgeschehens als "fortgesetzte Handlung" ermöglicht und damit der Weg zur Strafmilderung eröffnet wird. Anzeichen für die Richtigkeit des Geständnisses Für die Vertrauenswürdigkeit von einräumenden Erklärungen des Beschuldigten kann es sprechen, wenn die Art, wie das Geständnis während der Vernehmung zustandegekommen ist und wie der Beschuldigte es von sich gegeben hat, darauf hindeutet, daß seine Selbstbezichtigung zutreffend ist; wenn ferner der Hergang des Tatgeschehens, wie das Geständnis ihn wiedergibt, mit den physikalischen Gesetzen und den bereits bekannten Tatumständen in Einklang steht und wenn auch keine psychologischen Unwahrscheinlichkeitengegeben sind.

Konkretes Wissen des Beschuldigten, das auf seine Täterschaft hindeutet. Ein starkes Indiz für die Richtigkeit des Geständnisses kann darin liegen, daß der Beschuldigte bisher unbekannte Umstände, die mit der Tat zusammenhängen und die nur ein unmittelbar Beteiligter wissen könnte, richtig anzugeben vermocht hat. Selbst wenn solche Einzelumstände juristisch ohne Belang sind, kann dadurch die Glaubwürdigkeit des Geständnisses entscheidend bekräftigt werden. Beispiel: Der Beschuldigte vermag in einer Mordsache die noch unbekannte Stelle anzugeben, wo die Leichenteile vergraben liegen; oder er ist in einem Diebstahlsfall imstande, das bisher vergeblich gesuchte Versteck des Diebesguts richtig zu bezeichnen oder sonstige Umstände mitzuteilen, die eine intime Sachkunde bezüglich der Straftat verraten71. Freilich sind auch solche Momente nur dann ein untrügliches Indiz für seine Beziehung zur Tat, wenn feststeht, daß der Beschuldigte seine Kenntnisse nicht etwa durch zufällige Beobachtung oder durch Mitteilung seitens des Täters erlangt haben kann.

Das Geständnismotiv als Glaubwürdigkeitsindiz. Der Beweggrund für die Ablegung des Schuldbekenntnisses kann oft den Weg zu dessen richtiger Würdigung weisen. Soweit die vom Beschuldigten beim Geständnis gemachten Einzelangaben nachgeprüft werden können, wird man sich in erster Linie dieser Erprobungsmöglichkeiten zu bedienen haben. Wo dagegen solche Handhaben nicht gegeben sind, ist oft nur 72

Wimmer: Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 50S. 546.

Anzeichen für die Richtigkeit des Geständnisses

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durch genaue Ermittlung des für den Beschuldigten maßgebenden Geständnismotivs weiter zu kommen. Solange der Beweggrund für die Einräumungen nicht festgestellt werden kann, bleibt deren Bewertung in der Regel zweifelhaft.

Beweggründe, die für die Richtigkeit des Geständnisses sprechen. Ein Zeichen für die Vertrauenswürdigkeit des Geständnisses ist es im allgemeinen, wenn der Beschuldigte gesteht, weil er sich eingekreist sieht und keinen anderen Ausweg mehr besitzt. Dabei wird freilich vorausgesetzt, daß die Vernehmung mit erlaubten Methoden durchgeführt und der Beschuldigte nicht unzulässigerweise unter Druck gesetzt worden ist. Glaubhaft kann das Schuldbekenntnis aber auch sein, wenn der Beschuldigte zu einem Zeitpunkt gesteht, wo er sich nicht in einer hoffnungslosen Beweissituation befindet, sondern durchaus noch imstande wäre, den Widerstand eine Zeit lang fortzusetzen, sofern offenbar wird, daß er auf Grund nüchterner Vorteilserwägungen frühzeitig gestanden hat, um das Gericht günstig zu stimmen und sich eine milde Beurteilung zu sichern; wenn der Beschuldigte also wie der Feldherr rechtzeitig Opfer bringt, um dadurch möglichst viel für sich zu retten.

Ermittlung des Geständnismotivs in besonderen Fällen. Erscheint der Beweggrund für die Geständniserklärungen zunächst fraglich, dann führt es unter Umständen zur Klärung, wenn man den Zeitpunkt ins Auge faßt, in dem die Einräumungen erfolgt sind. Es muß dabei überlegt werden, welche Auffassung vom Stand des Ermittlungsverfahrens der Beschuldigte hatte, als er im Anfangsstadium der Sachaufklärung seine Täterschaft abstritt und welche Kenntnis vom Sachstand er besaß, als er später das Geständnis ablegte. Es ist zu erwägen, welche Aussichten hinsichtlich des Verfahrensausgangs sich zunächst für ihn ergaben und in welchem Maß sie sich mit dem Fortschreiten der Untersuchung verschlechtert hatten. Auf diese Weise läßt sich manchmal klarstellen, inwiefern für den Beschuldigten inzwischen eine neue Lage entstanden war, die ihn zur Aufgabe des Leugnens veranlassen konnte. Der Wahrheitsforscher erhält so einen Einblick in die taktischen Überlegungen des Beschuldigten, die dieser nicht ohne weiteres preisgibt, weil sie wie der Feldzugsplan im Kriege mit dem Bekanntwerden ihren Wert verlieren. Der Kriminalist vermag mitunter auf Grund der genannten Überlegungen das Zustandekommen der Geständnisbereitschaft in ihren einzelnen Phasen zu verfolgen und sozusagen die psychische Genese des Geständnisses aufzudecken.

250

Die Befragung des Beschuldigten Verwertung von Geständnissen, die unter Druck zustande gekommen sind?

Inwieweit in solchen Fällen eine Beweiswürdigung notwendig werden kann. Ergibt sich, daß der Beschuldigte, als er das Geständnis ablegte, durch Drohung, Mißhandlung oder Täuschung seitens des Vernehmenden in seiner Aussagefreiheit beeinträchtigt war, dann ist nach deutschem Recht die Verwertung der Geständniserklärungen für die Urteilsfindung verboten73 • Solche Geständnisse können zwar trotz der augewandten Zwangsmittel durchaus der Wahrheit entsprechen. Es wäre also an sich sehr wohl möglich, ihre größere oder geringere Überzeugungskraft festzustellen und sie dementsprechend für die Wahrheitsfindung nutzbar zu machen. Aber der deutsche Gesetzgeber hat es für richtig gehalten, die Verwertung von Einräumungen, die auf so fragwürdige Weise zustandegekommen sind, ganz und gar zu unterbinden. In anderen Ländern, die nicht so strenge Bestimmungen besitzen, ist die Brauchbarkeit derartiger Geständnisse von Fall zu Fall zu prüfen und das Schuldanerkenntnis mit dem ihm danach zukommenden Wert in Anschlag zu bringen. Aber auch bei uns ist zu beachten, daß sich das gesetzliche Verwertungsverbot nur auf Geständnisse bezieht, die durch inkorrektes Verhalten der Untersuchungsbehörden oder der Gerichte beeinflußt worden sind. Es trifft also nicht Schuldbekenntnisse, die der Beschuldigte auf Grund eines von den Eltern, dem Lehrherrn oder anderen Privatpersonen geübten Zwanges diesen gegenüber abgegeben hat. Solche Schuldbekenntnisse können (selbst wenn die Entschlußfreiheit des Beschuldigten durch den geübten Zwang beeinträchtigt worden war) entsprechend ihrem Beweiswert berücksichtigt werden. In derartigen Fällen kann sich also auch für die deutschen Untersuchungsbehörden die Frage ergeben, welcher Wert solchen Einräumungen im Einzelfall beigemessen werden darf. Eine ganz ähnliche Beweiswürdigungstätigkeit wird vom Wahrheitsforscher verlangt, wenn der Beschuldigte sein Geständnis nach einer mehrstündigen Vernehmung abgelegt hat, die für ihn mit einem erheblichen Kraftverbrauch verbunden war, ohne daß dadurch seine Aussagefreiheitangetastet worden ist. Die Verwertung solcher Geständnisse ist grundsätzlich erlaubt; aber es bedarf einer besonnenen Erwägung, in welchem Umfang sie der Wahrheit entsprechen. Die Beweiskraft der vom Beschuldigten gemachten Einräumungen kann durch die augewandte Verhörsmethode, obwohl sie rechtlich zulässig war, bereits in 73 Für Deutschland ist § 136 a StPO maßgebend. Natur und Reichweite des in dieser Vorschrift enthaltenen Verwertungsverbots hat Jürgen Baumann im Archiv für Strafrecht Jg. 1959 S. 33 ff. eingehend untersucht.

Bewertung des Geständniswiderrufs

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gewisser Weise gemindert sein, zumal wenn der Beschuldigte sich über komplizierte, für ihn möglicherweise schwer übersehbare Einzelvorgänge zu äußern hatte.

Gesichtspunkte für die Beurteilung in solchen Fällen. Man könnte denken, daß ein Geständnis, das auf Grund einer gewissen seelischen Belastung erfolgt, stets von geringerer Beweiskraft sei als ein solches, bei dem jeder auch noch so geringe psychologische Druck entfällt; so einfach liegen jedoch dieDingenicht. EinerderartigenAuffassung würde vor allem die Beobachtung entgegenstehen, daß gerade dort, wo die Freiwilligkeit am stärksten ausgeprägt ist, nämlich wo eine bisher in keiner Weise verdächtige Person sich selbst eines Verbrechens beschuldigt, oft beträchtliche Zweifel an der Richtigkeit ihres Geständnisses angebracht sind74 • Mitunter ist es regelrecht verdachterregend, wenn der Beschuldigte sich aus eignem Antrieb als den Täter bezeichnet. Es bedarf dann, sofern die Richtigkeit seiner Selbstanzeige sich nicht etwa aus objektiven Merkmalen einwandfrei ergibt, stets erst der Ermittlung, was ihn zu seinem Schuldbekenntnis veranlaßt hat. Umgekehrt brauchen Einräumungen des Beschuldigten, die unter einer gewissen seelischen Belastung erfolgt sind, dadurch nichts von ihrer Überzeugungskraft einzubüßen. Für die kriminalistische Praxis ist das von erheblicher Bedeutung. Denn in der großen Mehrzahl der Fälle geht nun einmal das Geständnis nicht aus einer von Anfang an vorhandenen Bereitschaft des Verdächtigen zur Offenlegung des Sachverhalts hervor. Bewertung des Geständniswiderrufs

Grundsätzliche Einstellung der Gerichte. Die allgemeine Haltung der Rechtsprechung gegenüber einem Widerruf des Geständnisses ist keine ganz einheitliche. Einerseits besteht (so z. B. teilweise bei den französischen Gerichten) eine ausgesprochene Neigung, den Beschuldigten, wenn er einmal aus freien Stücken oder doch ohne unzulässige Bedrükkung ein Geständnis abgelegt hat, daran festzuhalten. Man läßt sich dabei mehr oder minder von der Idee leiten, daß jemand, der die Justiz durch ein falsches Geständnis in grober Weise irreführt, es sich selbst zuzuschreiben habe, wenn er infolgedessen zu Unrecht verurteilt wird. Andererseits ist der Wahrheitsforscher vielfach allzu sehr geneigt, allgemeine Erklärungen des Beschuldigten, die er zur Begründung sei74 Vgl. oben S. 243; ferner J. Kitka, Beiträge zur Lehre von der Erhebung des Tatbestandes (Wien 1843) S. 120 ff.; L. v. Jagemann, Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde (1838) Bd. 1, S. 20 f.

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Die Befragung des Beschuldigten

nes Geständniswiderrufs abgibt ("Ich habe es gesagt, weil der Beamte es so haben wollte", "Ich wollte nur meine Ruhe haben", "Ich weiß nicht, was mit mir damals los war"), für bare Münze zu nehmen. Bei den deutschen Untergerichten geht diese Tendenz mitunter schon reichlich weit. Die Bewertungsgrundsätze im einzelnen. 1. Ein Schuldbekenntnis, das seiner Zeit nach gründlicher Erprobung für glaubhaft befunden worden ist, verliert seinen Wert als Überführungsmoment infolge des Widerrufs nur dann, wenn durch die mit ihm verbundenen Erklärungen oder durch anschließende Ermittlungen neue Gesichtspunkte hinzukommen, die den Beweiswert des Geständnisses infrage stellen. Je vollständiger die objektiven Belastungsmomente bereits herausgearbeitet worden sind und je mehr somit die Überführung des Verdächtigen auch ohne das widerrufene Geständnis möglich sein würde, desto weniger wird der Beschuldigte durch den Widerruf die Lage zu seinen Gunsten wenden können. 2. War seinerzeit das Geständnis zögernd abgelegt worden und zeigte dabei der Beschuldigte eine Tendenz zur vorsichtigen Begrenzung der ihm nachteiligen Angaben, so spricht das mehr für deren Richtigkeit, als wenn sie sorglos und nonchalant ohne irgendwelche Einschränkungen gemacht worden sind. 3. Hatte der Verdächtige bei Erklärung des Geständnisses auf Befragen genauere Angaben über die Tatausführung gemacht, die durch nachträgliche Beweisaufnahme bestätigt worden sind, so kann das der Selbstbezichtigung ungeachtet des späteren Widerrufs eine große Überzeugungskraft geben. Wenn z. B. in einer Mordsache der Hergang der Tathandlung zunächst für jedermann unklar oder gar rätselhaft war und der Beschuldigte beim Geständnis spezifizierte Angaben darüber gemacht hat, wie er sein Opfer zu Tode brachte, dann stellt es ein starkes Indiz für die Richtigkeit des Geständnisses dar, wenn seine Darstellung durch die nachfolgende Obduktion der Leiche bestätigt wird. Der Beschuldigte wird bei einem späteren Widerruf seines Schuldbekenntnisses unter solchen Umständen meist wenig Aussicht auf Erfolg haben. 4. Hat der Verdächtige seinerzeit nach einer gründlichen Vernehmung augenscheinlich deshalb gestanden, weil seine ursprüngliche Schilderung immer mehr an Glaubwürdigkeit verlor, so daß er sich in seiner Ratlosigkeit zum Schuldbekenntnis gedrängt sah, und erfolgt der Widerruf nach Behebung der Notlage, so spricht dies in der Regel dafür, daß dem Widerruf lediglich der verständliche, für die Wahrheitsfindung jedoch unbeachtliche Wunsch des Beschuldigten zur erneuten Aufnahme des Widerstandes zugrunde liegt. Er hat inzwischen Gelegenheit gehabt, sich zu besinnen und neue Verteidigungsmöglichkeiten auszudenken, auf die er in seiner früheren bedrängten Lage nicht gekommen war. Oft

Bewertung des Geständniswiderrufs

253

peinigt den Beschuldigten, nachdem sein Selbsterhaltungstrieb neu erwacht ist, der Gedanke, daß er den Kampf ohne zwingende Notwendigkeit aufgegeben haben könnte. Er bereut, daß er durch sein Geständnis einen zusätzlichen Beweis für seine Überführung geliefert hat und möchte den begangenen Fehler nach Möglichkeit wieder gutmachen75 • Nicht selten tritt der Beschuldigte dabei mit einem bis ins einzelne zurechtgelegten neuen Verteidigungsplan hervor, den er genau auf das abgestimmt hat, was ihm nach und nach vom Stand der Ermittlungen bekanntgeworden ist. 5. Eine ähnliche Situation ergibt sich, wenn das Schuldbekenntnis durch einen Überraschungserfolg des Vernehmenden zustandegekommen ist; so etwa wenn der Beschuldigte, der seine Tatbeteiligung zunächst hartnäckig leugnete, gestanden hat, nachdem ihm - wahrheitsgemäß- mitgeteilt worden war, daß das Diebesgut in seiner Wohnung im dortigen Versteck gefunden worden ist; oder wenn das Geständnis erklärt wurde, nachdem Briefe des Beschuldigten, die ihn stark belasten und mit deren Bekanntwerden er nicht gerechnet hatte, ihm vorgelegt worden sind. In solchen Fällen beruht der spätere Geständniswiderruf unter Umständen lediglich darauf, daß dem Beschuldigten, der beim Vorweisen dieser Überführungsmomente sein Schicksal als besiegelt ansah, nach dem Abklingen der ersten Überraschung neue Verteidigungsmöglichkeiten eingefallen sind, die er mit Hilfe des Widerrufs realisieren möchte. Trotzdem bedarf es auch hier einer sorgfältigen Prüfung, inwieweit die neuen Angaben des Beschuldigten etwas für sich haben könnten. Wenn sich freilich für die nachprüfbaren Einzelheiten keinerlei Bestätigung finden läßt, wird meist anzunehmen sein, daß der Widerruf nur einen unzulänglichen Versuch des Beschuldigten darstellt, das zusammengebrochene Verteidigungssystem wieder aufzurichten. Widersprach dagegen das Geständnis von vornherein schon gewissen allgemeinen Erwägungen oder war es mit bestimmten, gut bezeugten Einzeltatsachen nicht recht in Einklang zu bringen, so kann dies wesentlich dazu beitragen, daß auch ein dem ersten Anschein nach lediglich zweckbedingter Widerruf größere Glaubhaftigkeit erhält. Würdigung des Widerrufs im Gesamtzusammenhang. Aus dem Gesagten geht bereits hervor, daß derWahrheitregelmäßig nur auf den Grund zu kommen ist, wenn zugleich mit dem Widerruf auch das Geständnis selbst nochmal einer kritischen Betrachtung unterzogen wird. Dies ist auch dann nötig, wenn das Geständnis seinerzeit bereits gewissenhaft erprobt wurde. Je mehr die Art, in welcher der Widerruf erklärt und 75

Ernst Lohsing, Das Geständnis in Strafsachen (1905) S. 134 ff.

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Die Befragung des Beschuldigten

begründet worden ist, diesem einige Beachtlichkeit verleiht, desto mehr wird das früher als glaubhaft befundene Geständnis erneut auf seine Richtigkeit zu untersuchen sein. Es laufen dann beide Prüfungen, die des Geständnisses und die des Widerrufs, nebeneinander her. Die dabei zutage kommenden Einzelergebnisse beeinflussen sich gegenseitig und bestimmen zugleich auch den Verlauf der weiteren Überlegungen. Manchmal ergibt eine solche wiederholte Prüfung des Geständnisses, daß dieses in der seinerzeit geäußerten Form nicht in vollem Umfang der Wahrheit entsprach, daß aber andererseits auch die beim Widerruf gegebene neue Sachdarstellung in bestimmten Punkten nicht zutreffend sein kann. Der Beurteiler ist dann u. U. genötigt, aus beiden lediglich halbwahren Versionen die der Wirklichkeit entsprechende Mittelmeinung selbst zu bilden. Eine umfassende Würdigung, die das Geständnis in die Erwägungen über die Beachtlichkeit des Widerrufs mit einbezieht, ist auch deshalb notwendig, weil Geständnis und Widerruf unter Umständen zu einem einheitlichen Verteidigungsplan gehören; so etwa wenn der Beschuldigte mit dem Geständnis nur einen Augenblickserfolg erstrebt und von vornherein den späteren Widerruf in Aussicht genommen hae 6 • Klärung des Motivs für den Widerruf. Wenn sich feststellen läßt, wodurch der Beschuldigte zur Abstandnahme vom Geständnis veranlaßt worden ist, so kann das die zutreffende Würdigung des Widerrufs sehr erleichtern. Ähnlich wie bei der Bewertung des Geständnisses selbst ist auch hier eine einfühlende psychologische Erforschung der maßgebend gewesenen Beweggründe nötig.

Dabei verdient wiederum der Zeitpunkt, in dem der Widerruf erfolgte, besondere Beachtung. Mitunter hat der Beschuldigte sein Geständnis längere Zeit aufrechterhalten und bezeichnenderweise mehrere Gelegenheiten zur Abstandnahme davon ungenutzt vorübergehen lassen, um schließlich in einer bestimmten Verfahrenslage den Widerruf auszusprechen. In solchen Fällen ist es, wenn man den vermutlichen Überlegungen des Beschuldigten nachspürt, oft nicht schwer herauszufinden, was ihn gerade in diesem Zeitpunkt zum Widerruf bewogen hat, und von dort aus auf die Beachtlichkeit oder Unbeachtlichkeit seiner Widerrufserklärung zu schließen77 : Haben zum Beispiel zwei Beschuldigte längere Zeit in glaubwürdiger Weise daran festgehalten, daß sie eine Straftat gemeinsam begangen hätten und widerruft, nachdem der eine von ihnen gestorben ist, der Vgl. S. 243 unten. Über einen komplizierten Fall dieser Art hat A. Hellwig in der Monatsschrift für Kriminalpsychologie Bd. 25 (1934) S. 52 berichtet. 78

77

Bewertung des Geständniswiderrufs

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andere sein Geständnis, indem er nunmehr alle Schuld auf den Verstorbenen abzuwälzen sucht, so ist ein solcher Widerruf mit einiger Skepsis aufzunehmen. Meist wird es sich dabei nur um einen primitiven Versuch des Beschuldigten handeln, seine Position auf Grund der sich ihm durch den Tod des Mitbeschuldigten bietenden Gelegenheit zu verbessern.

F'ünftes Kapitel

Die Vernehmung des Sachverständigen Grundfragen

Aufgabe des Sachverständigen. Er soll ebenso wie der Zeuge sein Wissen im Rahmen des Prozesses anwenden und dadurch zur Klärung des Tatbestands beitragen. Doch handelt es sich bei ihm, anders als beim Zeugen, nicht um die Wiedergabe konkreter Beobachtungen über den zu rekonstruierenden Vorgang. Der Gutachter wird vielmehr wegen seiner besonderen Fachkunde hinzugezogen; er soll seine Spezialkenntnisse zur Verfügung stellen. Im einzelnen hat er dem Richter bzw. der Untersuchungsbehörde zunächst Erfahrungssätze zu vermitteln, die dem Nichtfachmann unbekannt sind. Er hat ferner zur Anwendung dieses Erfahrungswissens auf den gegebenen Fall anzuleiten. Wenn bereits zur verständnisvollen Wahrnehmung bestimmter Einzelheiten besondere Fachkenntnisse nötig sind, hat der Sachverständige auf diese Momente aufmerksam zu machen. Es ist schließlich, wenn der ihm erteilte Auftrag das mit umfaßt, seine Aufgabe, gewisse Indizien selbst herbeizuschaffen und zu verwerten, z. B. durch Anstellung von psychologischen Tests mit dem ihm zur Beobachtung überwiesenen Beschuldigten, durch Vornahme chemischer Versuche usw. 1•

Geltungsbereich der auf den Experten bezüglichen Grundsätze. Die hier in Betracht kommenden Sonderregeln gingen ehedem ausschließlich den Richter an, weil meist er allein in die Lage kam, einen Sachverständigen zu hören. Heute können sie in gleicher Weise auch dem 1 Auf den seit langem bestehenden Meinungsstreit über den Begriff des Sachverständigen und seine Abgrenzung gegenüber dem Zeugen braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Aus dem Schrifttum darüber sind vor allem zu nennen Fr. Stein, Das private Wissen S. 54 ff.; Hegler im Archiv für zivilistische Praxis Bd. 104 (1909) S. 151 ff.; Mezger, Der psychiatrische Sachverständige S. 3 ff., 12, 58, 84, 127, 166 ff.; H. Mayer: Festschrift für MezgerS. 463 ff.; Eb. Schmidt, Lehrkommentar 1!.171 ff.; E. Schmidhäuser: Zeitschrift für Zivilprozeß Bd. 72 (1959) S. 365 ff. Über den Sachverständigen als Richtergehilfen s. unten S. 258. Das anglo-amerikanische Recht sieht den Sachverständigen nicht als eine Beweisperson besonderer Art an, sondern betrachtet ihn als Zeugen.

Grundfragen

257

Staatsanwalt dienlich sein, der häufiger als früher schon im Vorverfahren einen Sachverständigen hinzuzieht, um feste Anhaltspunkte dafür zu gewinnen, ob eine Anklageerhebung in Betracht kommt. Aber auch die Polizeibehörde ist, wenn der Staatsanwalt die Ermittlungen nicht schon im Anfangsstadium selbst in die Hand nimmt, zur Klärung der Sache nicht selten genötigt, sofort von sich aus einen Sachverständigen zu befragen; so unter Umständen bei einem Explosionsunglück, bei schwereren Betriebsunfällen, komplizierten Verkehrsdelikten und vor allem bei Brandstiftung. Wo die zur Aufklärung benötigte Sachverständigenarbeit von den der Polizei angegliederten kriminaltechnischen Instituten geleistet werden kann (wie bei der Sicherung und Auswertung von Fingerabdrücken) liegt es für die Kriminalpolizei besonders nahe, das erforderliche Gutachten dort sogleich einzuholen 2 • Je wichtiger die Sachverständigentätigkeit infolge der Fortschritte wird, die Naturwissenschaft und Psychologie in den letzten Jahrzehnten gemacht haben, desto notwendiger ist es, daß die zur Auswertung von fachlichen Gutachten berufenen Stellen sich mit den dabei auftretenden grundsätzlichen Fragen beschäftigen. Zwar sind in erster Linie die für den Personalbeweis im allgemeinen und für die Zeugenbefragung geltenden Regeln (S. 23 ff.) anwendbar. Doch erfordern die bei der Sachverständigenvernehmung zu beachtenden speziellen Gesichtspunkte noch eine zusätzliche Unterweisung. Die Eigenart der Sachverständigentätigkeit. Der Gutachter hat die tatsächlichen Einzelheiten, auf denen er seine Stellungnahme aufbaut, nicht - wie es beim Zeugen der Fall zu sein pflegt - v o r Prozeßbeginn mehr oder minder gelegentlich beobachtet. Vielmehr hat er sie in der Regel während des Verfahrens mit konzentrierter Aufmerksamkeit eigens für die Zwecke seines Gutachtens aufgefaßt und verarbeitet. Seine Stellungnahmen besitzen auf Grund der ihm zuteil gewordenen Fachausbildung, der abgelegten Prüfungen und der aus praktischer Tätigkeit gewonnenen Einsichten meist ein beträchtliches Niveau. Daraus ergibt sich seine eigenartige Stellung im Prozeß und die Haltung, mit der der Richter bzw. der Untersuchungsführer ihm gegenübersteht3 • Diese Besonderheiten führen dazu, daß der Vernehmende im Gutachter mehr als im Zeugen seinen engeren Mitarbeiter sieht, obwohl auch der Zeuge auf seine Art einen wichtigen Beitrag zur Wahrheits2 Über die Zusammenarbeit zwischen Ermittlungsbeamten und Kriminaltechnikern: Grundfragen der Kriminaltechnik (1958) S. 21 ff. 3 Darüber sowie zum Folgenden: L. Retail, Principes et Cadre juridique de !'Expertise judiciaire (Paris 1951); A. J. Winberg, Die Hauptprinzipien der sowjetischen kriminalistischen Expertise (deutsch Berlin 1957).

l7 Döhrlni

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Die Vernehmung des Sachverständigen

findung leistet. Darin liegt der berechtigte Kern der neueren Lehre, die den Sachverständigen in erster Linie als Richtergehilfen betrachtet4 •

Herstellung günstiger Arbeitsbedingungen. Wenn der Gutachter häufiger für das Gericht oder die Untersuchungsbehörde tätig ist und die an ihn gestellten Anforderungen kennt, wird es nicht schwer sein, ihn für eine brauchbare Mitarbeit an der Sachklärung zu gewinnen. Bei Experten dagegen, denen die Gutachtertätigkeit noch ungewohnt ist, bedarf es in dieser Hinsicht mitunter besonderer Bemühungen. Denn der Sachverständige befindet sich während des Prozesses in einer gänzlich anderen Situation als bei seiner sonstigen Berufstätigkeit Der Arzt z. B. hat es nicht mit einem Patienten zu tun, der von ihm Heilung erwartet. Der Buchprüfer sieht sich nicht einem kaufmännischen Unternehmen gegenüber, für das er arbeiten soll. Im Prozeß hat der Sachverständige vielmehr seine Stellungnahme zu bestimmten Fragen abzugeben, die vom Standpunkt der Sachaufklärung wichtig sind; ferner hat er sich mit der von den Verfahrensbeteiligten an seiner Auffassung etwa geäußerten Kritik auseinanderzusetzen. Er muß daher eine entsprechende Umstellung vollziehen, die man dem nicht gerichtsgewohnten Experten nach Möglichkeit erleichtern sollte. Auch sonst bedarf der Sachverständige bei der mündlichen Erörterung eines besonderen Schutzes. Das Zustandekommen eines auf hohem Niveau stehenden Gutachtens wird erschwert, wenn er in einer Atmosphäre des Streits und der Unruhe arbeiten muß. Man sollte von ihm daher, soweit der Aufklärungszweck es zuläßt, unnötige Aufregungen und sonstige Einflüsse fernhalten, die ihn behindern könnten. Der Vernehmende hat dafür zu sorgen, daß dem Gutachter nicht durch grundlose ehrenrührige Vorwürfe oder durch ärgerliche Szenen die Möglichkeit zu sachlicher Arbeit eingeengt wird. Der Partei muß zwar die volle Freiheit zum Vorbringen sachlicher Beanstandungen belassen werden, selbst wenn diese dem Experten vielleicht wenig angenehm sind. Aber man sollte es zu vermeiden suchen, daß der Sachverständige ohne eigentliche Notwendigkeit in eine Art Angeklagtenstellung hineingedrängt wird, die ihn unter Umständen dazu bringt, daß er sich den seiner Auffassung etwa entgegenstehenden Bedenken von vornherein verschließt und sich auf die einmal geäußerte Ansicht versteift. 4 Besonderen Nachdruck auf diese Charakterisierung des Experten hat R. v. Hippel gelegt (Strafprozeß S. 411). Allzuviel Gewinn darf man sich davon jedoch nicht versprechen. Stein war schon 1893 der Ansicht, daß der Streit über die Auffassung des Sachverständigen als eines Richtergehilfen dogmatisch wenig fruchtbar sei und nachgerade beendigt werden könne; kritische Äußerungen auch bei Peters S. 265; vgl. ferner Eb. Schmidt, Lehrkommentar

1!.174 Anm. 16.

Grundfragen

259

Dem in die Enge getriebenen Gutachter muß in fairer Weise der Weg zur Berichtigung seiner Darlegungen geebnet werden. Oft wird es ihm schwerfallen, von der Stellungnahme, auf die er sich festgelegt hat, abzuweichen. Der Vernehmende kann ihm hier in geeigneten Fällen eine Modifikation seiner bisherigen Ansicht leicht machen; z. B. durch den Hinweis, daß neue, bisher unbekannte tatsächliche Momente hinzugekommen seien, die das Bild möglicherweise verändern könnten, und daß dadurch eine Überprüfung der früheren gutachtlichen Stellungnahme nötig werde. Mitunter ist der Vernehmende geradezu verpflichtet, auf diese oder ähnliche Weise darüber zu wachen, daß der Sachverständige beweglich bleibt und sich nicht aus Prestigegründen an seine einmal geäußerte Auffassung gebunden fühlt. Andernfalls kommt es leicht dahin, daß der Gutachter, in dem verständlichen Bestreben sich durchzusetzen, an einer These festhält, die zum mindesten in der von ihm gewählten Formulierung unzutreffend ist5 • Art der Befragung. Auf sie kommt es beim Sachverständigen nicht weniger an als beim Zeugen (S. 48). Der Vernehmende hat, ohne auf die eigene Urteilsbildung im geringsten zu verzichten, erkennbar zu machen, daß er grundsätzlich bereit ist, sich vom Gutachter als dem auf seinem Spezialgebiet Erfahreneren belehren zu lassen.

Der Sachverständige muß Gelegenheit erhalten, sich auf die an ihn gerichteten Fragen im Zusammenhang zu äußern. Auch im angelsächsischen Recht, wo der Sachverständige als Zeuge angesehen und wie dieser ins Kreuzverhör genommen wird, verlangt man nicht unbedingt, daß er wie der Zeuge ganz kurze Antworten gibt, sondern läßt bei entsprechender Sachlage vielfach weiter ausholende Erklärungen zu0 • Wenn die Befragung des Gutachters im anglo-amedkanischen Prozeß meist eine weniger respektvolle und zudemangreifendereist als vor den kontinentalen Gerichten, so erklärt sich dies zum guten Teil daraus, daß er dort seinen Auftrag nicht vom Gericht erhält, das bereits bei der Auswahl auf seine Unparteilichkeit besonders zu achten hat, sondern von einer der Parteien hinzugezogen und von ihr bezahlt wird. Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß ein solcher Gutachter sich der Partei, die ihn beauftragt hat, leicht irgendwie verpflichtet fühlt und daß es im Interesse einer gründlichen Sachaufklärung vielfach nötig ist, ihn einer unnachsichtigen Befragung zu unterwerfen und Erprobungen auszusetzen, wie sie im kontinentalen Prozeß nur selten vorkommen. Bei ungewandten Sachverständigen hängt der Erfolg der Vernehmung oft davon ab, daß die Erörterung langsam vorwärts schreitet und, zumal bei komplizierten Beweisthemen, auf die Schwierigkeiten Rück5 8

17*

Ein Beispiel aus der Rechtsprechung: Autorecht Jg. 1956 S. 293. E. J. Cohn, Der englische Gerichtstag (1956) S. 70.

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Die Vernehmung des Sachverständigen

sieht nimmt, denen der Gutachter sich gegenübersieht. Dem neuralgischen Punkt hat sich der Vernehmende vorsichtig tastend Schritt für Schritt zu nähern, damit der Gutachter nicht plötzlich vor einer unlösbaren Aufgabe steht. Fragen, bei denen zweifelhaft ist, ob sich auf sie eine wissenschaftlich haltbare Antwort wird geben lassen, sollten möglichst nicht gestellt oder, wenn sie notwendig erscheinen, nur mit einem entsprechenden Vorbehalt an den Sachverständigen gerichtet werden. Macht dieser geltend, daß eine Frage in der vom Vernehmenden gewählten Form nicht beantwortet werden kann, so ist sie, wenn seine Einwendung einleuchtend erscheint, entsprechend umzuformen.

Suggestivfragen. Sie können keinen sonderlichen Schaden anrichten, wenn man es mit einem häufig vor Gericht auftretenden und zudem sehr selbständigen Sachverständigen zu tun hat, der keine Neigung besitzt, sich durch die suggestive Art der Erkundigung beeinflussen zu lassen. Sie sind jedoch gefährlich, wenn es dem Gutachter an der nötigen Härte und an der wünschenswerten geistigen Unabhängigkeit fehW. Wie beim Zeugen kann auch beim Sachverständigen nicht nur durch Fragen, sondern auch schon durch das bloße Gehaben des Vernehmenden die Meinung hervorgerufen werden, daß dieser es dem Gutachter trotz des unzulänglichen Indizienmaterials als Unfähigkeit auslegen wird, wenn er nicht zu einem sicheren, die Überführung ermöglichenden Ergebnis gelangt. Hat der Vernehmende bereits erkennen lassen, daß er vom Verfolgungseifer allzu sehr beherrscht ist, dann kann es dahin kommen, daß ein Sachverständiger, der seine Gutachterpraxis in Schwung bringen oder sich der Stelle, die ihn hinzugezogen hat, gefällig erweisen möchte, seine Hauptaufgabe darin erblickt, unter Vernachlässigung der Entlastungsmomente Überführungsmaterial gegen den Beschuldigten zu liefern. Bewertung des Sachverständigengutachtens im allgemeinen

Pflicht des Vernehmenden zur kritischen Würdigung. Diese Verpflichtung war im Vorangegangenen stillschweigend als gegeben angenommen worden; sie bedarf jedoch jetzt noch einer richtigstellenden Erörterung. Der Richter ist an die vom Sachverständigen vertretene Auffassung nicht gebunden; er hat sie einer eindringenden Prüfung zu unterwerfen und darf ihr nur folgen, wenn sie ihn voll überzeugt. 7 H. Lepmann, Fehlerquellen bei Ermittlung des Sachverhalts durch Sachverständige (Mannheim 1912) S. 21 ff.

Bewertung des Sachverständigengutachtens im allgemeinen

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Der gleiche Grundsatz gilt auch für den Ermittlungsbeamten, wenn er im Vorverfahren ein Gutachten eingeholt hat. Daß auch der Anwalt den Darlegungen des Sachverständigen kritisch gegenüberzustehen hat, bedarf keiner weiteren Ausführung. Entsprechend seiner Parteistellung wird er besonders bei gutachtlichen Stellungnahmen, die seinem Mandanten nachteilig sind, darauf achten, inwieweit sich der Sachverständige etwa Angriffspunkte gegeben hat. Die Pflicht des prozessualen Wahrheitsforschers zu eigener Urteilsbildung auch in den Fachfragen, über die sich der Sachverständige zu äußern hat, erhält ihre Rechtfertigung dadurch, daß er zusätzliche Mittel der Tatsachenforschung besitzt, die dem Experten nicht zur Verfügung stehen: Während der Gutachter der ihm gestellten Aufgabe regelmäßig nur von einem verengten Blickfeld her gerecht werden kann, sieht der Richter (der Staatsanwalt, der Untersuchungsbeamte) das Beweisproblem, zu dem der Sachverständige Stellung zu nehmen hat, in größerem Rahmen. Der Richter ist deshalb im Vergleich zum Sachverständigen der (im ganzen gesehen) bessere Beurteiler, obwohl ihm die spezielle Sachkunde weitgehend fehlt. Vor allem dort, wo der Gutachter Tatsachen zu bewerten hat, kann seine Arbeit für die Sachverhaltsfeststellung keine endgültige Bedeutung haben. Denn seine Werturteile gehen notwendigerweise in erster Linie von seinem beruflichen Erfahrungskreis aus. Sie würdigen die Einzelheiten lediglich von den speziellen fachlichen Gesichtspunkten des Arztes, des Kaufmanns, des Handwerksmeisters her, während der Richter (Untersuchungsführer) sie im Gesamtzusammenhang des sozialen Lebens zu betrachten und zugleich auch vom Standpunkt der Rechtsgemeinschaft aus zu bewerten hat8 • Daß die Arbeit des Sachverständigen unbedingt einer Überwachung bedarf, wird ohne weiteres einleuchten. Ebenso wenig kann aber zweifelhaft sein, daß diese Kontrolle letztlich allein vom Richter, freilich unter Mitwirkung der übrigen Verfahrensbeteiligten, ausgeübt werden kann9 • Gewiß wird ihm eine wirksame Überwachung des Gutachtersmitunter nicht leicht fallen, insbesondere wenn komplizierte technische oder psy8 Grundlegende Ausführungen dazu bei Mezger, Der psychiatrische SachverständigeS. 172; s. auch Scheuerle, Rechtsanwendung S. 57. 9 BGH Str Bd. 7 S. 239. Die Obergerichte haben die Notwendigkeit einer kritischen Würdigung gutachtlicher Äußerungen durch den Rkhter immer wieder nachdrücklich betont; diese Notwendigkeit ist nicht nur für Straf- und Zivilsachen, sondern auch für den Verwaltungsr.echtsstreit zu bejahen (dazu H. Klecatsky: Österreichische Juristenzeitung Jg. 1961 S. 309 und die dort angeführte Rechtsprechung).

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Die Vernehmung des Sachverständigen

chologische Probleme zu erörtern sind. Doch kann eine entsprechende Vorbereitung, für die im folgenden wenigstens die Ansatzpunkte gegeben werden sollen, ihm diese Arbeit wesentlich erleichtern. Eigene Meinungsbildung auch unter ungünstigen Umständen. 1. In der Praxis nimmt man es mitunter aus Bequemlichkeit oder infolge von übertriebenem Respekt vor der Sachkunde des Experten mit der Prüfung seiner Stellungnahme nicht sonderlich genau. Gewiß hat der Richter (Ermittlungsbeamte) manchmal nur wenige Handhaben zur kritischen Würdigung der Sachverständigenarbeit. Aber auch in schwierigen Fällen muß er die dazu gegebenen Möglichkeiten ganz ausschöpfen. Er kann sich zu diesem Zweck in der Fachliteratur über die einschlägigen Fragen informieren oder sich durch Erkundigung bei sachverständigen Personen seines Bekanntenkreises formlos die fachlichen Kenntnisse verschaffen, deren er zur Stellung der notwendigen Kontrollfragen bedarf. Auf diese Weise ist er imstande, sich selbst auf entlegenen Spezialgebieten angemessen vorzubereiten. Die Justizgeschichte kennt Beispiele, wo der Richter (der Verteidiger, der Staatsanwalt) mit einer so gründlichen Detailkenntnis über ein bestimmtes technisches Problem in die Erörterung mit dem Sachverständigen eintrat, daß dessen Auffassung, obwohl sie anfangs mit großer Bestimmtheit vorgetragen worden war, schließlich in sich zusammenfiel. Die Obergerichte verlangen mit Recht, daß der Richter bei der Verwertung gutachtlic..~er Äußerungen in die Problematik eindringt und auch im Urteil erkennen läßt, inwieweit das geschehen ist10 • 2. Gewiß wird der Wahrheitsforscher bei reinen Fachfragen der Meinung des Sachverständigen, wenn sie eindeutig ausgesprochen und gut begründet worden ist, vielfach zu folgen haben. Diese Notwendigkeit ergibt sich für ihn einigermaßen zwingend, wenn er trotz Benutzung aller vorhandenen Informationsmöglichkeiten zu keiner besseren Erkenntnis, als sie der Sachverständige besitzt, durchdringen kann. Vielfach finden sich jedoch auch dort, wo man es auf den ersten Blick nicht vermuten sollte, Ansatzpunkte für eine kritische Erwägung der gutachtlichen Stellungnahme; so etwa hinsichtlich der Frage, ob eine durch ärztliche Untersuchung nicht nachweisbare Erkrankung in der Tat als nicht gegeben anzusehen ist. Auch bei der Erwägung, ob ein vorhandenes Leiden als Folge eines bestimmten Unfalls anzusehen ist, wird der Sachbearbeiter mitunter zu einer selbständigen Stellungnahme kommen. Das Gericht ist selbst hinsichtlich des Kausalzusammenhangs befugt, einen vom ärztlichen Gut10 BGH Str vom 26. 4. 1955: NJW 1955 S. 1642 und das bereits angeführte Urteil BGH Str Bd. 7 S. 238.

Bewertung des Sachverständigengutachtens im allgemeinen

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achten abweichenden Standpunkt einzunehmen, wenn es diesen einleuchtend zu begründen vermag 11 • Es muß sich dabei auf Gesichtspunkte stützen, gegen die auch vom wissenschaftlichen Standpunkt nichts Grundlegendes einzuwenden ist. 3. Verhältnismäßig leicht findet sich für den prozessualen Wahrheitsforscher Gelegenheit zu kritischer Überprüfung der Sachverständigentätigkeit dort, wo neben reinen Fachfragen noch andere Gesichtspunkte mitsprechen. Wenn festzustellen ist, um wieviel Prozent die Arbeitsfähigkeit des Verletzten durch den Unfall gemindert worden ist, dann hängt das nicht allein von den für einen Nichtfachmann schwer zu beurteilenden medizinischen Fragen ab, sondern es kommt dabei auf die ganze Persönlichkeit des Betroffenen an, insbesondere auf seine Willenskraft, seine Intelligenzrichtung und, wenn eine Umschulung in Betracht zu ziehen ist, auch auf seine Anpassungsfähigkeit

Herzhaftes, aber gleichwohl maßvolles Vorgehen. Die kritische Einstellung gegenüber dem Gutachter darf nicht dazu führen, daß diesem durch kleinliche und verständnislose Einwände das Leben sauer gemacht wird. Es ist beim Vernehmenden eine gewisse Bescheidenheit notwendig. Er sollte sich vor jener Arroganz hüten, die meint, all und jedes sogleich sicher beurteilen und über abweichende Auffassungen kurzerhand absprechen zu können. Andererseits darf er sich nicht scheuen, etwaige Bedenken auch auf die Gefahr hin auszusprechen, daß sie sich letzten Endes als unbegründet erweisen. Sofern das in der richtigen Form geschieht, wird die Sachaufklärung davon in der Regel irgendwie Vorteil haben. Wenn der Vernehmende die Arbeit des Experten in dieser Weise Stück für Stück wachsam verfolgt, braucht man nicht zu befürchten, daß durch die häufige Heranziehung von Gutachtern dem Gericht (der Untersuchungsbehörde) die eigentliche Leitung der Tatsachenforschung aus der Hand genommen werden könnte.

Würdigung der Stellungnahme des Sachverständigen aus sich heraus. Ebenso wie die Aussage des Zeugen ist auch die des Experten zunächst für sich allein zu betrachten. Es wäre oftmals verhängnisvoll, wenn man bei ihrer Bewertung sogleich von dem gesamten Beweisstoff ausgehen wollte. Dies würde dazu führen, daß die Auffassung des Sachverständigen, wenn sie in den allgemeinen Zusammenhang und in die vom Vernehmenden zugrunde gelegte Hypothese vom Hergang der Sache hineinpaßt, eben deshalb schon zu drei Viertel für richtig gehalten und kaum mehr einer eindringenden Kritik unterworfen wird. Anderer11 Teilweise anderer Ansicht Krebs: Die Berufsgenossenschaft, Jg. 1957 S. 204. Das Problem tritt besonders häufig in Sozialgerichtssachen hervor.

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Die Vernehmung des Sachverständigen

seits würde der Vernehmende bei dieser Art des Vorgehens dazu verleitet werden, über die Auffassung des Gutachters ungerecht abzusprechen, wenn sie mit der prozessualen Gesamtlage nicht recht in Einklang zu bringen ist. Dadurch mindern sich von vornherein die Aussichten auf ein verläßliches Ergebnis. Ansatzpunkte für eine Kritik des Gutachtens

Anregung zu eingehenderen Darlegungen. Die Stellungnahme des Sachverständigen soll den Richter (den Ermittlungsbeamten) so in die Problematik des Falles einführen, daß ihm eine eigene Meinungsbildung möglich wird. Sie muß zunächst erkennen lassen, auf welchen tatsächlichen Unterlagen das Gutachten beruht. Ohnedem würde der Vernehmende zu einer Prüfung, ob das Tatsachenmaterial vollständig erfaßt worden ist, nicht in der Lage sein. Wenn der Gutachter es daran hat fehlen lassen, ist er zu näheren Ausführungen zu veranlassen. Mitunter ergibt sich dann, daß er bestimmte Beweismomente nicht berücksichtigt oder unzutreffend gewürdigt hat. Die Arbeitsweise des Gutachters. DerSachverständige hat auch erkennen zu lassen, welche Untersuchungsmethode von ihm angewandt worden ist und auf welchen fachlichen Prinzipien das Gutachten beruht. Er hat ferner zum Ausdruck zu bringen, wie daraus die von ihm für zutreffend gehaltene Beurteilung im einzelnen hervorgeht. Wenn er nur die allgemeinen Grundüberzeugungen bezeichnet, von denen er ausgegangen ist und sodann gleich das Endresultat gibt, ohne den Weg genauer zu beschreiben, auf dem er zu seinem Ergebnis gelangt ist, so macht das eine Nachprüfung oft ganz und gar unmöglich. Auch insoweit ist gegebenenfalls auf ergänzende Ausführungen hinzuwirken.

Einfluß der fachlichen Grundeinstellung der Sachverständigen. Bisweilen gehören die Hauptthesen, auf denen das Gutachten beruht, zum speziellen Glaubensbekenntnis einer bestimmten Fachrichtung und sind keineswegs allgemein anerkannt. Besonders deutlich tritt das hervor, wenn bei der Bewertung von künstlerischen Leistungen die Kunstrichtung mitspricht, der der Sachverständige selbst angehört. Auch in vielen anderen Wissenschaftszweigen, wie z. B. in der Medizin (Allopathie, Homöopathie, Naturheilkunde) und den im engeren Sinn naturwissenschaftlichen Fächern, gibt es zahlreiche Schulen, von denen jede auf besondere, nur von ihren Anhängern uneingeschränkt gutgeheißene Grundsätze eingeschworen ist. Der Vernehmende hat hier Klarheit darüber zu schaffen, ob die vom Sachverständigen vertretene Fachrichtung allein vertrauenswürdig ist oder ob auch andere Auffassungen, die möglicherweise zu einem ab-

Ansatzpunkte für eine Kritik des Gutachtens

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weichenden Ergebnis führen würden, Beachtung verdienen' 2 • Es muß überhaupt vom Gutachter erwartet werden,daßerzumAusdruck bringt, inwieweit etwa Zweifel hinsichtlich der Beurteilung möglich sein könnten. Wenn verschiedene Ansichten in Betracht kommen, darf er die von seiner Meinung abweichenden vielfach nicht mit Stillschweigen übergehen, sondern hat sie zu erwähnen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Manchmal geht der Gutachter von einer These aus, die immer noch als die herrschende bezeichnet werden kann; aber es sind unverkennbar starke Kräfte am Werk, die sie ins Wanken zu bringen drohen. Auch das muß ans Licht gestellt und gegebenenfalls vom Vernehmenden erfragt werden. Gelegentlich läßt sich der Sachverständige von seiner eigenen, sonst kaum irgendwo vertretenen Auffassung leiten. Er ist dann zu Darlegungen darüber anzuregen, inwiefern seine Ansicht der herrschenden überlegen ist. Auf diese Weise kann der Bearbeiter sich durch Fragen und Vorhalte, die der Sachlage angepaßt sind, nach und nach in die Problematik hineinarbeiten und sich eine konkrete Vorstellung von der Sorgfalt und Verläßlichkeit des Gutachters verschaffen. Er ist dann oftmals imstande, pseudowissenschaftliche Ausführungen des Sachverständigen zu erkennen und Scheinwahrheiten als solche klarzustellen.

Bestimmtheitsgrad der gutachtlichen Außerung. Der Sachverständige hat sowohl für die einzelnen Teile seiner Darlegungen als auch für das schließliehe Endresultat anzugeben, mit welchem Maß an Verläßlichkeit er seine Feststellungen treffen kann. Manchmal ist das mit wenigen Worten getan. In anderen Fällen sind dazu eingehende Erörterungen nötig. Bestimmtheitsbezeichnungen wie "wahrscheinlich", "sehr wahrscheinlich", "höchst wahrscheinlich" werden von verschiedenen Sachverständigen mitunter in recht unterschiedlichem Sinn gebraucht, so daß diese Ausdrücke der Erläuterung bedürfen. Für manche wissenschaftlichen Forschungsgebiete ( so z. B. bei erbbiologischen Gutachten) hat sich nach und nach eine ziemlich allgemein anerkannte Skala von Bezeichnungen für die verschiedenen Sicherheitsgrade herausgebildet, deren Sinn eindeutig festgelegt ist. Dadurch wird die Verständigung wesentlich erleichtert. Genauere Erprobung des Bestimmtheitsgrades. Mitunter möchte der Vernehmende vom Sachverständigen gern eine definitive Erklärung haben, ob ein Maß an Sicherheit gegeben ist, das er als zur Verurteilung hinreichend ansehen kann. Doch sollte man die in diesem Zusammenhang zu stellenden Fragen vorsichtig formulieren, damit die Ent12

BGH Str Bd. 5 S. 36.

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Die Vernehmung des Sachverständigen

Schlußfreiheit des Gutachters voll gewahrt bleibt. Der Vernehmende hat zwar ohne weiteres das Recht, einen verantwortungsscheuen Gutachter dazu zu nötigen, daß er Farbe bekennt. Aber nicht selten ist entweder wegen der Unzulänglichkeit des Indizienmaterials oder wegen des noch unvollkommenen Standes der wissenschaftlichen Erforschung auch für einen verantwortungsfreudigen Experten ein sicheres Ergebnis nicht erreichbar. Wenn der Sachverständige das glaubhaft macht, darf man ihn nicht zu Formulierungen drängen, die einen höheren Sicherheitsgrad ausweisen als den von ihm zunächst bezeichneten. Der Beurteiler verfällt manchmal in den Fehler, d e n Sachverständigen für den besten zu halten, der auf alle Fragen eine sichere Antwort parat hat. Solche Gutachter scheinen auf den ersten Blick sehr brauchbar zu sein, weil sie bereit sind, dem Beamten die Verantwortung weitgehend abzunehmen. Doch steht noch dahin, ob sie damit der Bachaufklärung im Einzelfall einen wirklichen Dienst erweisen. Oft genug ist die Sicherheit, mit der sie ihre Auffassung vortragen, sachlich unbegründet und nur geeignet, den Wahrheitsforscher irrezuführen. Dieser muß die notwendige und daher lobenswerte Vorsicht des Gutachters und die nicht zu rechtfertigende Verantwortungsscheu zu unterscheiden wissen. Bestehen gegen den vom Sachverständigen bezeugten Sicherheitsgrad Bedenken, weil das vorhandene Tatsachenmaterial fragwürdig ist oder das in Betracht kommende Erfahrungswissen nicht zureicht, dann gelangt man bisweilen zur richtigen Auffassung durch die Überlegung, ob bei so lückenhaften oder widerspruchsvollen Unterlagen ein derartig hoher Sicherheitsgrad überhaupt gegeben sein k an n.

Kompliziertheit der dem Gutachter gesteilten Aufgabe. Der Vernehmende sollte sich bei Einwänden und Bedenken, die er dem Sachverständigen vorhält, die Schwierigkeiten klarmachen, mit denen dieser unter Umständen zu kämpfen hat, und entsprechend behutsam zu Werke gehen. Wenn die gutachtlicheStellungnahmezunächst nicht einleuchtend wirkt, so braucht sie nicht unzutreffend zu sein. Vielleicht überzeugt sie zunächst nur deshalb nicht, weil der Sachverständige einen Einzelpunkt nicht genügend erläutert hat. Mitunter setzt er auch zuviel Fachkenntnisse voraus oder rechnet mit einem Allgemeinwissen, das der jeweilige Richter (Untersuchungsführer) nicht besitzt, und vermag deshalb seine Auffassung nicht plausibel zu machen. Je mehr sich die Forschungsmethoden auf allen Wissensgebieten vervollkommnet haben, desto schwerer wird es dem Gutachter, die Einzelheiten dem Nichtfachmann begreiflich zu machen. Das zeigt sich vor allem, wenn er genötigt ist, den Prozeßbeteiligten komplizierte tech-

Ansatzpunkte für eine Kritik des Gutachtens

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nische Vorgänge zu erläutern oder ihnen schwierige mathematische Berechnungen nahezubringen. In Bereichen, die der allgemeinen Bildung sehr fern stehen, kann er oft nicht einmal die allereinfachsten Begriffe seiner Wissenschaft als bekannt voraussetzen, sondern muß eingehende vorbereitende Erläuterungen geben, wenn ein leidliches Verständnis erreicht werden soll. Manchmal wird die Aufgabe des Sachverständigen noch besonders dadurch erschwert, daß er dem Richter (Untersuchungsführer) Einsichten zu vermitteln hat, die dem Laien unglaubhaft und mitunter geradezu widersinnig erscheinen. Zuweilen muß der Gutachter, um seiner Argumentation die volle Überzeugungskraft zu verschaffen, zunächst mit bestimmten, schwer zu bekämpfenden Vorurteilen aufräumen, was stets eine undankbare Aufgabe ist. Oft kommen noch Zweifel hinsichtlich der Tatsachengrundlage hinzu. Manchmal muß das ganze Rüstzeug der Wissenschaft aufgeboten werden, um einen unklaren Sachverhalt zu entwirren. Selbst Vorgänge, die auf den ersten Blick einfach zu liegen scheinen, erweisen sich bei genauerer Betrachtung nicht selten als ein unbegreifliches, schwer zu enträtselndes Geschehen. Wenn der Psychiater sich über den Geisteszustand des Täters bei Begehung des Delikts zu äußern hat, steht er mitunter vor einer außerordentlich heiklen Aufgabe. Sein Bemühen, nachträglich aus bestimmten Anzeichen auf die psychische Verfassung des Beschuldigten zur Tatzeit zu schließen, kann trotz großer beruflicher Erfahrung an der geringen Schlüssigkeit der vorhandenen Indizien scheitern. Aber auch bei physiologischen Untersuchungen ist manchmal wegen der Fragwürdigkeit der Tatsachenunterlagen ein sicheres Ergebnis nicht zu erreichen; so etwa, wenn diese durch Rost, Säureeinwirkung, Verwitterung gelitten haben oder wenn das zur Ermittlung der Schriftgleichheit benutzte handschriftliche Material zum Teil verdorben ist. Trotz solcher Erschwerungen wird, wenn der Vernehmende diese Einzelheiten beachtet, eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Sachverständigen möglich sein, die im positiven oder im negativen Sinne die zur Sachklärung benötigten Aufschlüsse liefert.

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Die Vernehmung des Sachverständigen Welche Beweiskraft hat die Stellungnahme des Gutachters im Einzelfall?

Hauptgesichtspunkte für die Bewertung 13 • Allgemein läßt sich sagen: Eine fachkundliche Äußerung ist nur dann als vertrauenswürdig anzusehen, wenn sich ergibt, daß sie auf den richtigen tatsächlichen Unterlagen beruht; daß die fachlichen Grundsätze, von denen der Sachverständige ausgeht, Billigung verdienen; daß der Gutachter dort, wo er kontrolliert werden kann, korrekt vorgegangen ist; daß er die Gewähr für ordnungsmäßige Arbeit auch in dem nicht überprüfbaren Bereich bietet. Der Bildungsgang des Sachverständigen und sein Einfluß auf die Beweiswürdigung. Die fachliche Schulung, die der Gutachter genossen hat, und die Stellung, welche er innerhalb seines Berufsstandes einnimmt, können einen wichtigen Anhaltspunkt für die Bewertung seiner Angaben darstellen 14 • Je nachdem, ob er ein Kleingewerbetreibender mit einem in mancher Hinsicht begrenzten Erfahrungswissen oder ein Innungsobermeister mit erweitertem Gesichtskreis oder der fachliche Leiter eines Großbetriebs der einschlägigen Art ist, wird man ihm für die Beantwortung bestimmter Einzelfragen mehr oder weniger spezielle Sachkunde zutrauen. Ferner kann bei der Bewertung mitsprechen, ob der Experte die für seinen Beruf staatlich vorgeschriebene Ausbildung genossen oder die erforderlichen Kenntnisse als Autodidakt erworben hat. Auf Wissensgebieten, für die es sowohl eine Hochschulausbildung als auch eine solche auf anerkannten Fachschulen gibt, wird man bei Beweisthemen, die beträchtliche theoretische Kenntnisse voraussetzen, zu dem Gutachten eines Akademikers im allgemeinen das größere Zutrauen haben dürfen. In Fragen dagegen, zu deren Beantwortung lediglich praktische Kenntnisse nötig sind, wird die bessere Sachkunde oft bei einem Gutachter zu finden sein, der sein Handwerk in erster Linie ausübend erlernt hat. Die Experten mit Hochschulbildung stehen sich untereinander hinsichtlich ihrer Sachkunde oft keineswegs gleich. Der gewöhnliche Arzt ist, wenn es sich um diffizile Fragen aus einem medizinischen Spezial13 Die meisten Regeln für die Würdigung der Sachverständigentätigkeit sind ziemlich spezieller Natur. Sie beziehen sich lediglich auf einzelne Arten von Gutachten und können daher nur im Zusammenhang mit den Gutachtengruppen, für die sie Geltung haben, besprochen werden (S. 275 ff.). Doch gibt es auch gewisse Grundsätze, die allgemeine Gültigkeit besitzen. 14 Schindler: Neue Justiz, Jg. 1955, S. 30L

Welche Beweiskraft hat die Stellungnahme des Gutachters im Einzelfall?

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gebiet handelt, dem Facharzt in der Regel unterlegen. Ein Psychologe, der keine besondere berufliche Übung im Umgang mit Kindern hat, wird zur Begutachtung kindlicher Zeugen im allgemeinen weniger geeignet sein als ein solcher mit reichen Erfahrungen auf diesem Gebiet.

Prozessuales Verhalten des Sachverständigen als Indiz. Neben dem Bildungsgang und dem speziellen Erfahrungskreis des Gutachters kann auch sein Auftreten während der Vernehmung bei der Bewertung seiner Darlegungen mitsprechen. Gerade dort, wo die Korrektheit seiner Arbeit nur schwer überprüft werden kann, wird die Überzeugungskraft seiner Ausführungen oft davon abhängen, inwieweit er sich bei der mündlichen Erörterung des Gutachteninhalts einiges Vertrauen erworben hat 15 • Die Art, wie der Experte auf Fragen antwortet und die gegen seine Ansicht erhobenen Bedenken zu zerstreuen weiß, gibt mitunter auch Anhaltspunkte für die sachliche Würdigung seiner Stellungnahmen16 • Je weniger sich bei der fortschreitenden Verfeinerung der Untersuchungsmethoden gewisse subjektive Einflüsse auf die Gutachtertätigkeit ausschalten lassen, desto mehr kommt es darauf an, ob der Sachverständige es durch seine persönliche Aufführung verstanden hat, den Richter bzw. den Untersuchungsführer von der Ordnungsmäßigkeit seiner Arbeitsweise zu überzeugen. Freilich muß auch daran gedacht werden, daß ein Gutachtertrotz gediegener Sachkenntnisse infolge allgemeiner Unbehilflichkeit oder wegen Fehlens forensischer Erfahrungen unter Umständen nicht in der Lage ist, seine wohlbegründete Meinung nach außen hin, insbesondere gegenüber unangenehmen und verfänglichen Fragen des Staatsanwalts oder des Verteidigers, eindrucksvoll zu vertreten. Es wäre unrecht, wenn man die Auffassung eines solchen Sachverständigen lediglich danach bewerten wollte, ob er sich bei der Erörterung den anderen Prozeßbeteiligten im Diskutieren überlegen gezeigt hat. In vielen Fällen ist die eigentliche Arbeit des Gutachters vor der Vernehmung im Laboratorium oder im Studierzimmer, und zwar unter ganz anderen Bedingungen zu leisten, als sie bei der mündlichen Erörterung gegeben sind. Es bedarf daher in solchen Fällen der Erwägung, ob die Ungewandtheit des Gutachters bei der Auseinandersetzung mit den Prozeßparteien zugleich auch Bedenken gegen die von ihm erarbeiteten sachlichen Ergebnisse hervorruft oder ob das zu verneinen ist. 15 RG vom 13. 7. 1939 (HRR 1940 Nr. 203): Der Sachverständige hatte, ohne daß die äußeren Umstände dies rechtfertigten, dreimal seine Stellungnahme geändert und dadurch sein Renomee verloren. 16 Eb. Schmidt, Lehrkommentar II.685.

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Die Vernehmung des Sachverständigen

Hohes berufliches A.nsehen des Sachverständigen als Beweisanzeichen. Wenn ein fachliche Autorität als Experte tätig wird, so wirkt ihr wissenschaftlicher Ruf als solcher meist schon vertrauenerweckend. Doch darf das Gutachten nicht etwa mit Rücksicht auf das Ansehen des Sachverständigen mehr oder minder unbesehen hingenommen werden. Vielmehr muß der Wert der Darlegungen auch in solchen Fällen in erster Linie aus der Gediegenheit der angeführten Argumente hervorgehen. MöglicheVoreingenommenheitendes Gutachters Bewußte Parteilichkeit auf Grund persönlicher Bindungen des Sachverständigen zur Prozeßpartei wird es dort, wo der Richter (der Untersuchungsbeamte) den Experten auswählt und beauftragt, nicht allzu häufig geben, weil dann meist schon durch die Auswahl der Einfluß von Sympathie und Antipathie weitgehend ausgeschaltet werden kann. Im angloamerikanischen Prozeß dagegen, wo die Partei ihren Gutachter selbst aussucht und dabei mitunter ziemlich einseitig zu Werke geht, muß häufiger mit einer gewissen Parteilichkeit des Sachverständigen gerechnet werden. In Sensationsprozessen kann der Experte nicht nur in den angelsächsischen Ländern, sondern überall in die Gefahr kommen, daß er sich zum Nachteil für die Wahrheit von der leidenschaftlichen Parteinahme der öffentlichen Meinung mitreißen läßt, zumal wenn nationale Gefühle oder das vermeintliche Staatsinteresse dabei stark im Vordergrund stehen17 •

Obertriebenes Wohlwollen des Gutachters gegenüber einem Berufsgenossen. Wenn der Sachverständige sich in einem Verfahren zu äußern hat, das gegen einen seiner Kollegen wegen fahrlässiger Berufsausübung gerichtet ist, kann er sich mitunter von seinem standesmäßig begründeten Solidaritätsgefühl nicht ganz freimachen. Der regelmäßig für das Gericht (die Ermittlungsbehörde) arbeitende Gutachter unterliegt manchmal der Versuchung, bei seiner Stellungnahme allzu sehr darauf Rücksicht zu nehmen, auf welches Ergebnis das Gericht seiner Meinung nach hinaus will. Er möchte den ihm erteilten Auftrag unbedingt in diesem Sinne erledigen und fürchtet vielleicht auch, man werde ihn für unbrauchbar halten, wenn er die hinsichtlich des Ergebnisses gehegten Erwartungen nicht erfüllt.

Private Sachverständige. Daß der beamtete Gutachter in der Regel weniger voreingenommen ist als der freiberuflich tätige, kann in dieser 17

Mönkemöller S. 247; Schindler: "Neue Justiz" Jg. 1955, S. 301; Locard

s. 223.

Mögliche VoreingenommenheUen des Gutachters

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Allgemeinheit nicht gesagt werden. Privatsachverständige, die von der Partei angenommen und bezahlt werden, wird man allerdings mit einiger Reserve zu betrachten haben. Denn es liegt immerhin nahe, daß sie sich nicht in gleicher Weise wie die vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft ausgewählten Experten zur Objektivität verpflichtet fühlen. Bisweilen halten sie es geradezu für ihr gutes Recht, mit einer gewissen Einseitigkeit den Interessen der Partei zu dienen, die sie hinzugezogen hat. Es wäre jedochnicht gerechtfertigt, wenn man ihnengegenüberdurchweg einen ausgesprochenen Argwohn hegen wollte. Hat der Privatgutachter einen wissenschaftlichen Ruf und ist anzunehmen, daß er seinen guten Namen nicht durch parteiliche Haltung in Frage stellen wird, so kann er auch dann großes Vertrauen verdienen, wenn er nicht von einer staatlichen Stelle, die auf völlige Unparteilichkeit Wert legt, ausgesucht worden ist, sondern seinen Auftrag von der Partei erhalten hat. Falls er seine Auffassung gut zu begründen weiß, sollte man sie entsprechend berücksichtigen. Besonderen Wert können die Darlegungen eines Privatgutachters haben, wenn er über Erkenntnismittel verfügt, die andere Sachverständige nicht besitzen; so etwa wenn er eine unmittelbare Anschauung von Untersuchungsobjekten hat, die inzwischen verlorengegangen oder durch Zersetzung entwertet worden sind.

Störender Einfluß der Aktenlage und der augenblicklichen Beweissituation. Eine gewisse Einseitigkeit des Gutachtens kann daraus hervorgehen, daß der Experte sich in allzu starker Abhängigkeit vom Inhalt der Akten befindet, die er eifrig gelesen und auf die er seine Stellungnahme ausgerichtet hat. Das vorausgegangene Aktenstudium verleitet ihn mitunter dazu, den später neu hinzukommenden Tatumständen nicht die gebührende Beachtung zu schenken. Manchmal wirkt es auch nachteilig auf die gutachtliche Stellungnahme, wenn sie allzu sehr auf die jeweilige Prozeßlage Rücksicht nimmt. Der Experte beurteilt dann die gestellte Beweisfrage nicht mehr lediglich auf Grund fachlicher Erwägungen, sondern richtet sich allzu sehr nach der jeweiligen Verfahrenssituation, wie er sie auffaßt. Das ist z. B. der Fall, wenn er sich bei seiner Äußerung zu stark von dem allgemeinen Eindruck bestimmen läßt, daß es zu einer Verurteilung des Beschuldigten doch nicht kommen werde oder umgekehrt von der Auffassung, daß das Schicksal des Beschuldigten bereits besiegelt sei.

Voreingenommenheit des Sachverständigen auf Grund seiner früheren Stellungnahmen. In der Hauptverhandlung ist eine unbefangene Äußerung des Gutachters oft erschwert, wenn dieser bereits im

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Die Vernehmung des Sachverständigen

Vorverfahren auf Veranlassung der Ermittlungsbehörde tätig gewesen ist und sich dabei auf eine bestimmte Ansicht festgelegt hat. Es muß dann damit gerechnet werden, daß er an seiner einmal vorgetragenen Meinung, auch wenn er nachträglichihre Fragwürdigkeit erkennt, festhält, weil er sich keine Blöße geben möchte. Die Chancen für eine gründliche Sachklärung verringern sich daher unter Umständen beträchtlich, wenn das Gericht sich in der Hauptverhandlung ausschließlich auf den bereits im Vorverfahren tätig gewesenen Experten verläßt, dessen Auffassung allzu leicht durch Furcht vor Prestigeverlust beeinträchtigt sein kann. Sofern die Untersuchungsobjekte noch gut erhalten sind, so daß sie neu geprüft und beurteilt werden können, sollte daher möglichst ein anderer als der im Vorverfahren tätig gewesene Gutachter zur Hauptverhandlung hinzugezogen werden. Selbst wenn die zu untersuchenden Stoffe inzwischen bereits gelitten haben, kann es manchmal nötig sein, n e b e n dem bisherigen einen neuen Gutachter zu beauftragen, der gegebenenfalls über die Korrektheit der vom Hauptsachverständigen angewandten Arbeitsweise Klarheit zu schaffen hat. Ohne diese Vorsichtsmaßnahme ist in solchen Fällen selbst der befähigte und erfahrene Wahrheitsforscher mangels brauchbarer Beurteilungsmöglichkeiten viel zu sehr vom Zufall abhängig.

FachkundLiche Einseitigkeit. Bisweilen ist der Sachverständige durch das dauernde berufliche Training verbildet. Sein Gesichtskreis ist durch ständige Gewöhnung mitunter so eingeengt, daß er die Wahrheit verfehlt. Der Vernehmende steht dann dem Beweisproblem möglicherweise unbefangener gegenüber und findet den Zugang zur Wahrheit leichter als der Experte, obwohl er keine Fachkenntnisse besitzt, sich diese vielmehr erst vom Sachverständigen verschaffen muß. Der Vernehmende ist daher- vorausgesetzt, daß er sich gut in die Einzelheiten eingearbeitet hat - nicht selten in der Lage, die beim Gutachter etwa vorhandenen Einseitigkeiten richtigzustellen 18 • Damit soll freilich nicht einem Dilettantismus das Wort geredet werden, der auf Grund von Augenblickseinfällen und unkontrollierten Eingebungen eine sorgfältig begründete gutachtliche Stellungnahme glaubt beiseiteschieben zu können. Irrationale Grundlagen des Gutachtens. Manchmal erhält man Anhaltspunkte für eine sachgemäße Kritik der vom Gutachter geäußerten Ansicht durch Bloßlegung gefühlsmäßiger, vielfach im Unbewußten verwurzelter Anschauungen, von denen der Sachverständige stillschweigend ausgeht. Es ist nicht gesagt, daß solche Grundüberzeugungen überall im Spiel sein müßten. Immerhin sprechen sie häufiger mit, als man es 18

H. Lepmann, Fehlerquellen (1912) S. 24.

Mögliche Voreingenommenheiten des Gutachters

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meist wahrhaben will. Mitunter liegen sie ziemlich offen zutage; in anderen Fällen sind sie hinter der verstandesmäßigen Argumentation des Gutachtens verborgen und müssen erst klargestellt werden19 • Sie lassen sich zuweilen durch eine geschickt gelenkte Befragung schnell zum Vorschein bringen. Manchmal kann der Sachverständige aber erst auf Grund längerer Erörterungen dazu veranlaßt werden, daß er direkt oder indirekt erkennbar macht, welche unausgesprochenen Grundanschauungen neben den von ihm vorgebrachten rationalen Erwägungen für seine Stellungnahme bestimmend gewesen sind. Nicht selten ist sich der Experte über das gefühlsmäßige Fundament seiner Darlegungen selbst keineswegs klar und deshalb nicht ohne weiteres in der Lage, sich darüber zu äußern. Manchmal scheut er sich auch aus Klugheitsgründen, sie offen zuzugeben und hält sie geheim, weil er Mißdeutungen vermeiden möchte und sich nicht unnötigerweise Angriffspunkte geben will. Gelingt es dem Vernehmenden, etwaige irrationale Tendenzen aufzudecken, die bei der Erstattung des Gutachtens mitgesprochen haben, so erhält er damit regelmäßig auch wichtige Anhaltspunkte für eine zutreffende Bewertung der Sachverständigenarbeit. Er vermag dann nämlich in eine Erwägung darüber einzutreten, inwieweit die festgestellte gefühlsmäßige Grundlage als geeignetes Fundament für das Gutachten anerkannt werden kann.

Beschränkung des Sachverständigen auf die zu seinem Fachgebiet gehörigen Fragen. Nicht selten ergibt sich ein brauchbarer Gesichtspunkt für die Würdigung, wenn man prüft, ob der Gutachter etwa unzulässigerweise die Grenzen des Fachwissens überschritten hat. Manchmal ist der Experte ganz treuherzig der Ansicht, daß er mit gleicher Sicherheit wie auf seinem Fachgebiet auch außerhalb des engeren beruflichen Bereichs Urteile abzugeben vermag, obwohl ihm dort keine spezielle Sachkunde zur Verfügung steht. Ein solcher Fall ist z. B. gegeben, wenn der ärztliche Gutachter die durch einen Unfall eingetretene Körperbeschädigung zunächst gradmäßig umschreibt und sich sodann mit großer Sicherheit auch über die dadurch für die Zukunft entstehende Erwerbsbehinderung äußert, ohne zu berücksichtigen, daß diese nicht zuletzt von der künftigen Arbeitsmarktlage und von sonstigen Umständen abhängt, die mit der ärztlichen Wissenschaft nichts mehr zu tun haben. Aufdeckung von Fragwürdigkeiten in der gutachtlichen Stellungnahme. Die schwachen Punkte in der Argumentation des Sachverständigen sind bisweilen schwer zu erkennen, zumal wenn er seine Darlegungen planmäßig zu einem in sich geschlossenen, widerspruchslosen Gedankensystem ausgestaltet hat. Manchmal können sie trotzdem dan

W. Eliasberg, Rechtspflege und Psychologie (1933) S. 4, 97 ff.

18 Dl!hrine

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Die Vernehmung des Sachverständigen

durch aufgespürt werden, daß man das Gutachten systematisch auf Lükken oder Fehler untersucht und jede einzelne Schlußfolgerung daraufhin ansieht, ob sie zwingend ist. Manchmal führt es auch zur Klärung der Lage, wenn man sich fragt, ob der Experte nicht etwa die einmaligen Besonderheiten gerade dieses Falles zu wenig in Anschlag gebracht hat. Nicht selten geht er allzu sehr von der Gestaltung der Einzelheiten aus, wie er sie aus langjähriger Erfahrung kennt, ohne der speziellen Situation Rechnung zu tragen, wie sie gerade im gegebenen Fall vorliegt. Klärung der Beweislage, wenn zwei Experten sich widersprechen

Ernennung eines dritten Sachverständigen? Es besteht stets die Möglichkeit, einen Obergutachter hinzuzuziehen, dem die Aufgabe zufällt, die vorhandenen Unstimmigkeiten zu bereinigen. Das ist für den prozessualen Wahrheitsforscher ein gewiß sehr bequemer, aber oftmals unsachgemäßer Ausweg. Denn die Anforderung eines Obergutachtens kostet Geld und Zeit. Zudem ist oftmals ungewiß, ob ein solches geeignet sein wird, eine wirkliche Überzeugung zu schaffen oder nur eine mehr formale Lösung herbeizuführen vermag. Es sollte daher versucht werden, möglichst ohne die Ernennung eines weiteren Sachverständigen auszukommen. Gewissenhafte Erprobung der Differenzen. In jedem Falle ist zunächst festzustellen, inwieweit die in ihren Ansichten voneinander abweichenden Gutachter sich einig sind und an welcher Stelle die Auffassungen auseinander gehen. Mitunter klärt sich der Widerspruch schon dadurch auf, daß die Experten von Tatsachenannahmen ausgegangen sind, die nicht ganz übereinstimmen. Manchmal ergibt sich bei genauerer Erörterung der differierenden Auffassungen, daß beide Sachverständige die gestellte Beweisfrage von verschiedenen Seiten her behandelt haben und daß sie sich daher im Grunde nicht widersprechen. Vielfach läßt sich dann eine gemeinsame Formel finden, auf die sich die Gutachter einigen und der das Gericht ebenfalls zuzustimmen vermag. Aber auch wenn das nicht gelingt, können die Standpunkte der beiden Sachverständigen einander mitunter so angenähert werden, daß die Wahl, welche der widersprechenden Stellungnahmen die zutreffende ist, nicht mehr schwer fällt.

Einzelhinweise für die Würdigung von Unstimmigkeiten. Manchmal betreffen die unterschiedlichen Stellungnahmen der Gutachter zwar

Besonderheiten der Bewertung bei einzelnen Gutachtentypen

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nicht völlig die gleiche Frage, aber im Grunde doch denselben Gesamtsachverhalt; so wenn zur Nachprüfung des Abstammungsverhältnisses sowohl eine Blutgruppenuntersuchung als auch ein erbbiologisches Gutachten und schließlich ein solches über die Tragzeit des Kindes vorliegt und diese nicht miteinander übereinstimmen. Unüberwindliche Schwierigkeiten werden sich in solchen Fällen jedoch nicht allzu häufig ergeben. Denn der unterschiedliche Charakter der drei Gutachten gibt bereits wichtige Anhaltspunkte zur Klärung der Differenzen. Das erbbiologische Gutachten vermag das Ergebnis der Blutgruppenuntersuchung regelmäßig nicht außer Kraft zu setzen, weil diese (bei ordnungsmäßiger Handhabung) ein völlig verläßliches Ergebnis erbringt, während die erbbiologische Untersuchung bestenfalls zu einem Resultat führen kann, das hohe Wahrscheinlichkeit für sich hat. Das Tragzeitgutachten wiederum wird im allgemeinen eine sorgfältig durchgeführte erbbiologische Untersuchung nicht aus den Angeln heben können. Denn die tatsächlichen Unterlagen, auf denen es beruht, gehen in der Regel auf Angaben der Beteiligten über den Zeitpunkt des Geschlechtsverkehrs und den Eintritt der letzten monatlichen Regel zurück, die schwer nachprüfbar sind und infolge von Irrtum oder absichtlicher Verfälschung unzutreffend sein können. Infolgedessen pflegt den darauf aufbauenden Berechnungen selbst bei sorgfältigster Arbeit des Sachverständigen die letzte Sicherheit zu fehlen. Besonderheiten der Bewertung bei einzelnen Gutachtentypen

Es können an dieser Stelle nur einige wenige Arten von fachlichen Stellungnahmen besprochen werden. Doch treten bei den nicht erörterten Gutachtengruppen im Grunde immer wieder die gleichen Beweiswürdigungsprobleme hervor, so daß der Wahrheitsforscher mit den gegebenen allgemeinen Regeln unter Zuhilfenahme eigener Gedankenarbeit auch mit den Fällen zurechtkommen wird, auf die nicht näher eingegangen werden kann; also etwa mit fachlichen Äußerungen über Brandentstehung, Explosionsursachen, Schreibmaschinenschriften und Geschoßspuren, über die Herkunft von Blut- und Spermaflecken, über die Zusammensetzung von Bodenproben, Staubanalysen und Materialuntersuchungen aller Art usw. Die nötigen Grundkenntnisse über das Spezialgebiet, um das es sich gerade handelt, muß der Beurteiler sich ohnehin oftmals von Fall zu Fall beschaffen. Im deutschen Schrifttum unterrichten darüber vor allem Groß-Seelig, Handbuch der Kriminalistik, Bd. 2 (1944-54), A. Mergen, Das kriminologische Gutachten (1959) und die vom Bundeskriminalamt Wiesbaden herausgegebenen Sammelwerke "Das kriminalpolizeiliche Ermittlungsverfahren" (1957) "Grundfragen derKriminaltechnik" (1958). U!"

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Die Vernehmung des Sachverständigen Buchführungsgutachten

Allgemeines. Sie gehören zu der großen Gruppe von fachkundlichen Äußerungen über wirtschaftliche Vorgänge aller Art, für die als Sachverständige die vereidigten Buchprüfer, vielfach aber auch die Steuerberater und Wirtschaftsprüfer in Betracht kommen. Benötigt werden solche Gutachten vor allem bei den Ermittlungen wegen Vergehens gegen das Preisrecht und gegen die Kartellgesetzgebung sowie bei der Untersuchung von Wirtschaftsdelikten. Nicht selten sind dabei große Mengen von Geschäftsvorgängen zu prüfen, was viel Zeit erfordert und beträchtliche Kosten verursacht. Lückenhafte Unterlagen. Wenn die Bücher bis zuletzt ordnungsmäßig geführt worden sind, dann macht die Beurteilung möglicherweise keine sonderlichen Schwierigkeiten. Mitunter kompliziert sich jedoch die dem Gutachter zufallende Aufgabe dadurch, daß in den Buchungsunterlagen von einem bestimmten Zeitpunkt ab gewisse Arten von Einzelvorgängen nicht mehr vermerkt worden sind oder gar alle Eintragungen aufhören. Kritik der Bilanz. Ist die wahre Lage des Unternehmens während eines begrenzten Zeitraums oder für einen Stichtag klarzustellen und in diesem Zusammenhang die vom Beschuldigten vorgelegte Bilanz auf ihre Richtigkeit zu prüfen, so muß erwogen werden, ob die Bewertung der Aktivmasse (insbesondere der Warenbestände) zutreffend erfolgt ist, ob nicht etwa uneinbringliche Forderungen zu Unrecht aktiviert wurden, ob die Abschreibungen als angemessen betrachtet werden können und die gemachten Rücklagen gerechtfertigt sind. Besonders im Verfahren wegen Konkursvergehens, Untreue, Steuerhinterziehung erhalten Erwägungen dieser Art oftmals entscheidende Bedeutung. Die Feststellung einer absichtlichen Verschleierung scheitert in solchen Fällen vielfach daran, daß der Beschuldigte möglicherweise nicht gewußt hat, wie der Vorfall buchungs- und bilanzmäßig richtig zu behandeln war; so bei einem in der Schwebe befindlichen Geschäft oder bei Verlusten, die ihm ihrem Umfang nach vielleicht noch nicht völlig geklärt erschienen.

Prüfung der Belege. Stets muß Klarheit darüber geschaffen werden, ob der Sachverständige nur die Buchungen als solche kontrolliert oder ob er auch die dazugehörigen Belege eingesehen, die Geschäftskorrespondenz überprüft und sich auf diese Weise von der Korrektheit der Eintragungen überzeugt hat. Sind im Einzelfall Belege und Korrespondenz in die Prüfung einbezogen worden, so fragt sich, ob sie vollständig erfaßt wurden oder ob der Gutachter, was bei umfangreichen Sachen meist nicht zu vermeiden ist, sich auf Stichproben beschränkt hat. Wenn

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lediglich Stichproben gemacht wurden, kann das Ergebnis gleichwohl verläßlich sein, sofern der Sachverständige über die nötige Erfahrung verfügt, einen gewissen Spürsinn besitzt und die genommenen Proben der Zahl nach als zureichend anzusehen sind.

Betrachtung des Unternehmens im Ganzen. Manchmal faßt der Experte seine Aufgabe zu eng auf. Gewiß soll er dem Gericht (der Ermittlungsbehörde) bei der Gesamtwürdigung nicht vorgreifen. Aber er darf andererseits auch nicht mit allzu begrenzter Blickrichtung an die Arbeit gehen. Wenn z. B. bei Wirtschaftsdelikten oder Konkursvergehen die subjektive Tatseite geklärt werden muß, kommt der Gutachter mit einer rein buchungsmäßigen Bewertung der Einzelheiten nicht aus. Er ist in solchen Fällen vielmehr genötigt, den Blick auch auf den Geschäftsbetrieb im ganzen zu richten. Handelt es sich dabei darum, nach Indizien dafür zu fahnden, ob dem Beschuldigten seine Zahlungsunfähigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannt gewesen ist, so kann die Tatsache, daß gegen ihn zahlreiche Prozesse und Zwangsvollstreckungen anhängig waren, eine Bejahung dieser Frage nahelegen. In die gleiche Richtung deuten unter Umständen Wechselprolongationen, die ursprünglich nicht vorgesehen waren, um die der Beschuldigte sich vielmehr bei Fälligkeit immer wieder hat bemühen müssen. Manchmal ist gerade bei Buchführungsgutachten festzustellen, daß zwar die benutzten Tatsachenunterlagen sehr ausführlich beschrieben werden, daß aber die Würdigung des Materials darüber zu kurz kommt. Zuweilen gibt der Sachverständige überhaupt nur das Endergebnis der Auswertung wieder ohne genauere Darlegungen, in welcher Weise es aus dem Tatsachenstoff hervorgeht. Es muß dann durch entsprechende Fragen auf eine Ergänzung hingewirkt werden. Feststellung der Schriftidentität

Auswahl des Sachverständigen. In keinem Fach sind von jeher so viele falsche Gutachten erstattet worden wie auf dem Gebiet der Schriftanalyse. Infolge zahlreicher Mißgriffe in allen Ländern pflegt man dem Schriftsachverständigen nicht ohne Grund mit einiger Reserve zu begegnen. Es kommt hier noch mehr als sonst auf die sorgfältige Auswahl des Gutachters an, zumal hochqualifizierte Kräfte dieser Art nur beschränkt zur Verfügung stehen. Immerhin ist die Handschriftenkunde heute bereits wissenschaftlich so fundiert, daß in den meisten Fällen zuverlässige Ergebnisse erreichbar sind20 • 20 Schrifttum: 0. Deitigsmann, Grundlagen und Praxis der gerichtlichen Handschriftenvergleichung (1954); H. Pfanne, Die Schriftexpertise und ihre Be-

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Grundvoraussetzungen. Der graphologische Sachverständige hat bestimmte Schriftzüge, deren Herkunft festgestellt werden soll, zu untersuchen. Seine Aufgabe besteht im Prozeß in der Regel darin, sie mit Schriftmaterial zu vergleichen, das von dem als Urheber Verdächtigen stammt und eigens zum Zweck der Gegenüberstellung herbeigeschafft worden ist. Die erste Bedingung für ein zutreffendes Ergebnis ist dabei, daß die der Beurteilung zugrunde gelegten Vergleichsschriften tatsächlich von demjenigen herrühren, der im Verdacht steht, die zu prüfende Urkunde geschrieben zu haben. Wenn in dieser Hinsicht Zweifel vorhanden sind, ruht das Gutachten, so sorgfältig es sonst auch abgefaßt sein mag, auf sehr unsicherer Grundlage. Ferner ist zu erwägen, ob das Vergleichsmaterial mengenmäßig zulangt. Besonders umfangreich muß es sein, wenn das zu prüfende Schriftstück und die Vergleichsproben in zwei verschiedenen Schriftarten verfaßt sind; z. B. teils mit lateinischen, teils mit deutschen Buchstaben, oder gar in dreifach verschiedener Schrift, etwa teils in lateinischen, teils in hebräischen, teils in arabischen Zeichen.

Einzelgesichtspunkte. Wenn der Gutachter in den zu prüfenden Schriftzügen bezeichnende Merkmale findet, die auch in den vom Beschuldigten (der Zivilprozeßpartei) stammenden Vergleichsschriften vorkommen, so muß er sich darüber äußern, welche dieser Merkmale selten und daher besonders beweiskräftig sind. Die Gefahr für den Sachverständigen liegt darin, daß, wenn er nach übereinstimmenden Kennzeichen in den zu vergleichenden Handschriften sucht, es ihm meist leicht fallen wird, Besonderheiten aufzufinden, die ihm charakteristisch und sehr beweiskräftig erscheinen, obwohl sie im Grunde nur wenig besagen.

Wertung der Schriftzüge im Ganzen. Der Gutachter hat die Aufgabe, nicht nur die an einzelnen Buchstaben sichtbar werdenden Eigenheiten in Betracht zu ziehen, sondern auch das Schriftbild im ganzen ins Auge zu fassen. Falls er dies nicht schon von sich aus tut, ist er dazu anzuregen. Es muß ihm nahegelegt werden, das Größenverhältnis der Buchstaben zueinander, die Linienführung und vor allem die Bewegungsformen beim Schriftenvergleich mit zu verwerten. Auf diese Weise kommen mitunter Beweisanzeichen für oder gegen die Identität des Schreibers zutage, die so unauffällig sind, daß mit ihrer willkürlichen Nachahmung nicht gerechnet zu werden braucht. Sie besitzen nicht selten eine beträchtliche Überzeugungskraft, weil in ihnen meist etwas von den charakteristischen Eigentümlichkeiten des Schriftdeutung für die Rechtsprechung (1954); ders., Lehrbuch der Graphologie (1961); M. Bisehoff in: Grundlagen der Kriminaltechnik (1958) S. 219 ff.

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urhebers erhalten geblieben ist 21 • Der Gutachter hat kenntlich zu machen, welche der von ihm erwähnten Kennzeichen als besonders bewegungsbezogen anzusehen sind und daher kaum willkürlich hervorgebracht worden sein können. Wenn sich an einzelnen Buchstaben bestimmte Tendenzen zeigen, bedarf es auch der Feststellung, ob sie das Gesamtbild eindeutig beherrschen oder ob etwa an anderer Stelle wieder gegenteilige Momente zutage treten. Eine Verdeutlichung der Einzelheiten durch Hinweispfeile kann den Prozeßbeteiligten das Verständnis erleichtern. Vorsicht ist jedoch beim Gebrauch vergrößerter Wiedergaben von einzelnen Buchstaben oder ganzen Schriftzügen geboten. Selbst wenn die Vergrößerung sachgemäß vorgenommen worden ist, kann durch sie - zumal bei Laienrichtern mitunter ein irreführender Eindruck hervorgerufen werden. Bei den vom Sachverständigen vorgewiesenen Kennzeichen handelt es sich regelmäßig nicht um Belege, die einen allgemein feststehenden Wert besitzen, sondern um solche, deren Beweiskraft in dem gegebenen speziellen Zusammenhang immer wieder neu untersucht werden muß. Dabei kann sich der Experte gewissen subjektiven Einflüssen mitunter nicht ganz entziehen. Deshalb darf sich der Wahrheitsforscher keinesfalls auf die Stellungnahme des Gutachters verlassen, sondern hat ihr nur zu folgen, wenn die Bewertung der Schriftmerkmale ihn überzeugt. Schließlich muß beachtet werden, daß mit dem Schriftgutachten der Sachverhalt meist noch keineswegs vollständig geklärt ist, daß vielmehr die für oder gegen die Schriftidentität sprechenden Beweisanzeichen in der Regel nur einen Teil des gesamten Beweismaterials ausmachen. Prüfung von Fingerabdrücken Die Nutzbarmachung daktyloskopischer Unterlagen für die Tatsachenforschung erfolgt durch eine Gegenüberstellung der am Tatort vorgefundenen Fingerspur, deren Herkunft erforscht werden soll, mit dem vom Beschuldigten zu erkennungsdienstliehen Zwecken genommenen Fingerabdruck. Für diesen Vergleich werden bestimmte Merkmale an den Papillarlinien verwendet, die besonders kennzeichnend sind und daher indiziellen Wert haben. Die Papillarlinien bilden an der Fingerkuppe Bogenmuster, Haken, Augen, Schlingen, Liniengabelungen, Wirbelmuster usw. Zum Identitätsnachweis sind im allgemeinen zwölf solcher anatomischen Merkmale (Minutien) erforderlich. Der hohe Beweiswert eindeutiger 21 Bohne NJW 1953 S. 1378; Deitigsmann: Juristenzeitung 1953 S. 494; Specht im Archiv für Strafrecht 1955 S. 129 ff.; Pfanne, Schriftexpertise S. 48.

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daktyloskopischer Unterlagen beruht darauf, daß die zahlreichen, bei jedem Menschen vorhandenen Papillarlinien einen ganz verschiedenen Verlauf haben können; es sind unendlich viele Formen möglich, zumal das Charakteristische der einzelnen Kennzeichen nicht nur in ihrer Gestalt als solcher, sondern auch in der Art ihrer Placierung innerhalb des Gesamtbildes liegen kann. Sind weniger als zwölf übereinstimmende Minutien festgestellt, so kann unter Umständen gleichwohl die Annahme, daß die verglichenen Fingerabdrücke von der gleichen Person herrühren, gerechtfertigt sein, wenn unter den fraglichen Merkmalen sich solche befinden, die sehr selten sind und daher ganz besonders überzeugend wirken22 • Die Blutgruppenuntersuchung 1. Sie dient in der Hauptsache dem Abstammungsnachweis. In Strafsachen kann sie ähnlich wie das erbbiologische Gutachten überall dort bedeutsam werden, wo für die Strafbarkeit eines Verhaltens das Bestehen einer nahen Verwandtschaft vorausgesetzt wird und diese zweifelhaft erscheint; ferner umgekehrt, wo bei Bestehen eines Verwandtschaftsverhältnisses die Bestrafung entfallen würde (§ 52, 54, 232, 247, 263 StGB). Im Zivilprozeß kommt die Blutgruppenuntersuchung zum Zuge beim Streit um die Zahl-Vaterschaft und bei den Abstammungsklagen im eigentlichen Sinn. Vor den Sozialgerichten wird sie nicht selten notwendig, wenn die Berechtigung zum Rentenbezug von der Abstammung abhängig ist und diese klargestellt werden muß.

Neben den sog. klassischen Blutgruppen A, B, AB, Null gibt es die Untergruppen A 1 und A 2 • Man arbeitet ferner mit einer Reihe von Blutfaktoren, von denen die bisher am besten erforschten (M/N und Rh) einen beträchtlichen Beweiswert besitzen. Da die zur Zeit bekannten Untersuchungsverfahren durch neue Forschungen immer weiter vervollkommnet werden, sind nicht nur die Sachverständigen, sondern auch Untersuchungsbehörden und Gerichte genötigt, ständig hinzuzulernen. Wegen der Einzelheiten muß auf das Schrifttum verwiesen werden23 • 22 Schrifttum: R. Heindl, System und Praxis der Daktyloskopie (1927), H. Schneickert, Der Beweis durch Fingerabdrücke (1943), A. T. Field, Fingerprint Handbook, Oxford 1960. Von den Obergerichten ist der hohe Beweiswert des Fingerabdruckverfahrens wiederholt betont worden: RG vom 1. 2. 1934 (HRR 1934 Nr. 686). Aus der neueren Rechtsprechung ist vor allem die Entscheidung des BGH vom 11. 6. 1952 (Lindenmaier-Möhring zu § 261 StFO Nr. 9) bemerkenswert. 23 P. Dahr, Technik der Blutgruppen- und Blutfaktorenbestimmung (6) 1952; Fr. Pietrusky, Das Blutgruppengutachten 1956; G. Beitzke, H. Hosemann, P. Dahr, H. Schade, Vaterschaftsgutachten für die gerichtliche Praxis, 1956; eine Übersicht über die Österreichische Rechtsp11echung gibt V. Steininger, Rechtsfragen der außerehelichen Vaterschaft, 1961.

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2. Fehler bei Begutachtung der Blutgruppenzugehörigkeit können dadurch vorkommen, daß der Arzt zu Unrecht die Identität dessen, von dem die Blutprobe genommen worden ist, mit der Person, von der sie genommen werden sollte, bejaht hat. Eine Verwechslung von Blutproben ist insbesondere möglich, wenn mehrere Personen zur Blutentnahme erschienen sind und gleichzeitig abgefertigt wurden. Immerhin werden Irrtümer dieser Art wegen der fast allenthalben angeordneten Sicherungsmaßnahmen nicht häufig vorkommen. Gänzlich ausgeschlossen erscheinen sie, wenn die Blutentnahme durch einen Privatarzt erfolgt ist, für den diese Art der Tätigkeit einen Einzelfall darstellte, so daß keine Verwechslungsmöglichkeit gegeben war. Unrichtige Resultate können auch sonst aus den verschiedensten Gründen zustande kommen; so etwa dadurch, daß die untersuchte Blutprobe zu alt war, daß sie bei der Versendung durch starke Kälte- oder Hitzeeinwirkung beeinträchtigt worden ist, daß die verwandten Testseren nicht vollwertig gewesen sind usw. Bei allen Bluttypen ist möglich, daß ein nur schwach entwickeltes Merkmal übersehen oder in seltenen Fällen auch umgekehrt ein nicht gegebenes als vorhanden angenommen wird. Falls solche Mängel nach Lage der Sache in Betracht kommen, empfiehlt es sich, durch eine Wiederholung der Blutgruppenuntersuchung Klarheit zu schaffen 24 • Feststellung von Alkohol im Blut 1. Gutachten dieser Art kommen im Prozeß nicht nur dann vor, wenn der auf Grund eines Unfalls oder auch ohne einen solchen von der Polizei kontrollierte Autofahrer einer Beeinflussung durch Alkohol verdächtig ist und dem Arzt zur Blutentnahme zugeführt wird, sondern mitunter auch bei Widerstand gegen die Staatsgewalt, Sabotage und anderen Straftaten, wenn Zweifel bestehen, ob der Täter im Vollrausch gehandelt hat, und zur Klärung sogleich eine Blutuntersuchung veranlaßt wird.

2. An der Exaktheit der allgemein anerkannten Verfahren zur Feststellung des Alkoholgehalts im Blut ist nicht zu zweifeln 25 • Über die 24 Über die starke Beweiskraft von Blutgruppengutachten im Fall ordnungsmäßiger Entnahme, Aufbewahrung und Untersuchung der Blutproben: BGHZ Bd. 2, S. 6 ff, ferner BGHZ Bd. 12, S. 22 ff. Zweifel an der absoluten Beweiskraft der Blutgruppenuntersuchung sind in der Schrift von Fr. Mattil, "Offenbar unmöglich" (1957) vorgetragen worden. Doch können diese Bedenken nicht als berechtigt anerkannt werden, zumal der Verfasser das umfangreiche medizinische Schrifttum nicht verwertet hat. 25 Zu dem ganzen Abschnitt: "Blutalkohol und Verkehrssicherheit" (1956); H. ·Elbel, Blutalkohol (1956); Jarosch u. Mueller, Blutalkohol und Strafrecht (1958); Mueller in: Grundfragen der Kriminaltechnik (1958) S. 167 ff.

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neueren Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet wird hier nicht berichtet; es handelt sich vielmehr lediglich darum, einige spezielle Hinweise für die Würdigung von Gutachten dieser Art zu geben. 3. Obwohl das Untersuchungsverfahren als solches keiner Einwendung unterliegt, können gleichwohl Fehler passieren; so wenn besondere Umstände, die mit in Anschlag gebracht werden müssen (z. B. das Einatmen von Essigsäureäthylester in bestimmten Fabriken), nicht berücksichtigt werden oder wenn das Ergebnis durch inkorrektes Verfahren bei der Blutentnahme (Reinigung der Einstichstelle mit Alkohol) verfälscht wird. 4. Bei der Errechnung des Alkoholgehalts im Blut zur Zeit der Tat können dadurch falsche Feststellungen zustande kommen, daß der Sachverständige die Zeitspanne zwischen der Tat und der Blutentnahme unrichtig taxiert hat. Das Resultat erscheint ferner fragwürdig, wenn der Beschuldigte zwischen der Tat und der Blutentnahme noch Alkohol zu sich genommen hat und dies nicht angemessen in Rechnung gestellt worden ist. Von Bedeutung ist auch die körperliche Konstitution des Untersuchten (z. B. seine Körpergröße); desgleichen die Frage, ob er den Alkohol auf leeren Magen zu sich genommen hat oder ob er vorher gegessen hatte, ob der Alkohol schnell oder langsam getrunken worden ist. Ebenso muß die Art des genossenen Alkohols wegen der unterschiedlichen Resorptionsgeschwindigkeit in Anschlag gebracht werden. Schließlich bedarf gegebenenfalls der Berücksichtigung, daß der Blutalkoholwert sich bei starker Übermüdung des Betroffenen, bei Einnahme von Schlafmitteln oder von Insulin sowie beim Vorliegen von Hirnverletzungen unter Umständen verändert. Hat der Sachverständige bei Abgabe seiner Stellungnahme auf einen dieser Umstände nicht genügend Bedacht genommen, so muß er dazu angeregt werden, seine bisherigen Erwägungen an Hand der neu hinzugekommenen Gesichtspunkte nochmal zu überprüfen. Eine starke Alkoholgewöhnung, auf die sich der Beschuldigte mitunter beruft, um das ihm ungünstige Gutachten des Sachverständigen in Frage zu ziehen, vermag das Untersuchungsergebnis nicht zu beeinflussen. Sie kann allenfalls dazu führen, daß es dem Betroffenen gelingt, rein äußerlich gewisse grobe Trunkenheitszeichen zu unterdrükken, ohne daß die Alkoholeinwirkung sich verringert. 5. Manchmal wird versucht, ein Gutachten, das einen hohen Alkoholgehalt im Blut feststellt, durch den Hinweis anzugreifen, daß nach Angaben des Arztes, der die Blutprobe entnommen hat, beim Beschuldigten nichts von einer Alkoholbeeinflussung zu merken gewesen 'Sei und daß dieser gewisse mit ihm angestellte Tests gut überstanden habe.

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Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß der Kraftfahrzeugunfall, das Eintreffen der Polizei und die Vorführung beim Arzt auf den Beschuldigten meist stark ernüchternd wirken, so daß es ihm infolgedessen unter Umständen gelingt, sich für einige Zeit zu beherrschen und gewisse Trunkenheitssymptome zu verbergen, obwohl bereits starke psychische Ausfallerscheinungen gegeben sind. 6. Hatte der Beschuldigte nach der Aussage der Zeugen nur sehr wenig Alkohol getrunken, während das Gutachten einen hohen Alkoholgehalt im Blut feststellt, dann wird das vom Sachverständigen erarbeitete Ergebnis, sofern bei der Untersuchung ordnungsmäßig verfahren worden ist, im allgemeinen mehr Glaubwürdigkeit beanspruchen können als die ihm widersprechenden Zeugenaussagen. Wenn jedoch die Umstände einigermaßen zwingend ergeben, daß der Beschuldigte die dem Gutachten entsprechende Alkoholmenge nicht genossen haben kann, dann werden sich die Ermittlungen ganz besonders darauf zu richten haben, ob etwa bei der Entnahme der Blutprobe oder bei ihrer Aufbewahrung Fehler vorgekommen sein könnten. Möglicherweise verstärken sich daraufhin die Bedenken gegen das Ergebnis der Blutuntersuchung so weit, daß dieses keine rechte Überzeugungskraft mehr besitzt16.

An th rop o log is eh- erbbiologischer Vaterschaftsnachweis 1. Um die Abstammung eines Menschen zu klären, benutzt man charakteristische Formen des Kopfes, deren Erblichkeit erwiesen ist, ferner entsprechende Merkmale der Nase, des äußeren Ohrs, des Gebisses, des Haars usw. Der hohe Wert der erbkundliehen Vergleichung wird durch die obergerichtliche Rechtsprechung allgemein anerkannt27 •

Man kann beim erbbiologischen Vaterschaftsnachweis noch weniger als etwa bei der Würdigung von einzelnen Schriftmerkmalen einen feststehenden Bewertungsmaßstab zugrundelegen. Neben der Körperform als solcher sind auch die Unterschiede des Alters und des Geschlechts zu berücksichtigen, ferner die Häufigkeit des betreffenden Merkmals innerhalb der Bevölkerung, der der Untersuchte entstammt. Kommt ein bestimmtes Zeichen in der fraglichen Landschaft öfters vor, so geht dadurch seine Beweiskraft für den vorliegenden Fall möglicherweise weitgehend verloren, während das gleiche Merkmal in anderen Gegenden, wo es selten anzutreffen ist, einen großen Hinweiswert haben kann. 16 Ein solcher Fall ist vom OLG Köln durch Urteil vom 22. 5. 1953 entschieden worden (Archiv für Strafrecht Jg. 1953, S. 126). 27 BGH Str Bd. 5, S. 36 ff. und die dort angeführten Entscheidungen.

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Die Vernehmung des Sachverständigen

Schlechthin zwingende Bewertungsregeln gibt es in diesem Bereich verhältnismäßig wenig. Kein Fall gleicht völlig dem anderen. Jeder Sachverhalt liegt im Grunde irgendwie besonders. Dasselbe Kennzeichen kann hier und dort eine verschiedene Würdigung verdienen. 2. Die Vielgestaltigkeit der zu beachtenden Gesichtspunkte und die Kompliziertheit der Bewertungsgrundsätze erschweren für den fachlich nicht bis ins einzelne vorgebildeten Betrachter eine selbständige Beurteilung. Trotzdem ist er zur Einarbeitung in die Einzelheiten und zur kritischen Erwägung verpflichtet. Das hatte bereits das Reichsgericht betont; der Bundesgerichtshof hat an diesem Grundsatz ebenfalls in ständiger Rechtsprechung festgehal ten28 • Es kommt gerade bei Gutachten dieser Art einerseits darauf an, daß die vom Sachverständigen angeführten Ähnlichkeitsmerkmale richtig festgestellt und andererseits darauf, daß sie von ihm zutreffend bewertet worden sind. 3. Obwohl nur bestqualifizierte Kräfte zur Durchführung solcher Untersuchungen zugelassen werden, stehen- zur Zeit wenigstens- nicht alle erbbiologischen Gutachten auf dem gleichen hohen Niveau. Darauf ist gerade in Fachkreisen von maßgeblicher Seite hingewiesen worden. Daß mehrere Gutachten über den gleichen Fall hinsichtlich der darin festgestellten Tatsachen voneinander abweichen, kommt sehr selten vor. Dagegen können Differenzen auf Grund unterschiedlicher Würdigung der Befunde leichter entstehen. Denn die Bewertung der Merkmale läßt sich nicht völlig objektivieren. Es kommen dabei notdigerweise gewisse höchstpersönliche Elemente zur Geltung, deren Einfluß der Gutachter oft nicht ganz auszuschalten vermag. 4. Soweit Bedenken gegen die Arbeit des Experten hervortreten, sollte zunächst versucht werden, sie durch Erörterung mit diesem zu klären. Je kürzer der Gutachter sich gefaßt hat und je weniger eingearbeitet der Richter (Untersuchungsführer) auf diesem Spezialgebiet ist, desto häufiger werden sich Rückfragen als notwendig erweisen. Daß der Wahrheitsforscher sich auf diesem ihm meist ziemlich fernliegenden Gebiet den Aufklärungen und Hinweisen des Gutachters gegenüber aufgeschlossen zeigen sollte, wird keiner näheren Darlegung bedürfen. Wenn sich gleichwohl die gegen das erbbiologische Gutachten vorhandenen Bedenken nicht zerstreuen lassen, wird der Richter jedoch kaum jemals seine abweichende Meinung ohne weiteres an die Stelle der vom 28 RGZ Bd. 167, S. 272; BGH vom 14. 7. 1952 (Juristenzeitung Jg. 1952, S. 628); s. auch BGH vom 24. 11. 1955 im Archiv für Strafrecht Jg. 1956, S. 264.

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Gutachter vertretenen setzen können, sondern zur Kontrolle ein weiteres Gutachten anzufordern haben 29 • Testpsychologische Gutachten Die zutreffende Bewertung von psychologischen Tests bietet gewisse Schwierigkeiten, auf die in diesem Zusammenhang näher eingegangen werden muß. Der Nichtfachmann erwartet oftmals zuviel von ihnen; auch der Sachverständige steht mitunter den von ihm angewandten Testmethoden nicht kritisch genug gegenüber.

Begrenzter Nutzen des psychologischen Tests. Regelmäßig ist der Test irgendwie einseitig und erfüllt daher seinen Zweck nicht vollkommen. Ein brauchbareres Ergebnis ist im allgemeinen zu erwarten, wenn man mehrere Testverfahren in sinnvoller Weise miteinander verbindet, wodurch manche Einseitigkeiten ausgeglichen werden können. Aber auch bei Verwendung einer solchen "Testbatterie" darf nicht ohne weiteres ein zutreffendes Resultat erwartet werden. Das aus einer Kombination mehrerer Testverfahren hervorgehende Gesamtbild kann im Einzelfall mehr oder weniger fragwürdig sein. Am ehesten pflegt der Test bei den Naiven, die sich der Erprobung ohne Widerstand hingeben, an die Wahrheit heranzukommen. Aber auch bei ihnen kann es geschehen, daß trotz des guten Willens, den der Betroffene besitzt, seine charakteristische Eigenart nicht herauskommt. Der Test vermag die Wahrheit vor allem dann nicht zutage zu fördern, wenn es dem Betroffenen an der nötigen Gelöstheit, Intelligenz und Ausdruckskraft fehlt; d. h. er versagt auch beim Naiven, wenn dieser unter starken Hemmungen leidet, wenn er unterbegabt ist oder von Natur eine allzu geringe Ausdruckskraft besitzt. Die Mehrzahl der Prüflinge läßt sich nicht gutwillig auf den Test ein, sondern verhält sich skeptisch und reserviert. Der Betroffene sieht voraus, daß für ihn vom Ausgang der Testversuche viel abhängt und versucht daher, das Resultat in seinem Sinne zu beeinflussen. Er stellt infolgedessen das in den Vordergrund, was seiner Meinung nach einen günstigen Eindruck machen wird und unterdrückt die Momente, die für ihn nachteilig sein könnten. Wenn er über die Bewertung einer bestimmten Antwort im unklaren ist, wird er sich möglichst vage ausdrücken und versuchen, auf diese Weise das Beste für sich herauszuholen. 2u Schrifttum: H. Schade, Vaterschaftsbegutachtung, 1954; A. Harrasser, Das anthropologisch-erbbiologische Vaterschaftsgutachten, 1957.

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Beide Verhaltensarten -- die naive und die kritische - können sowohl bei ethischhochstehenden Menschen als auch bei solchen mit kriminellen Neigungen vorkommen. In gleicher Weise ist ein sicherer Schluß darauf, daß der Prüfling im Leben die gleichen Wesenszüge zeigt, wie sie das Testverfahren offenbart, in vielen Fällen nicht möglich. Der hier Gehemmte kann in anderen Lebenssituationen gelockert und beweglich sein und umgekehrt. Oft ist freilich die beim Test gezeigte Haltung für den Menschen im ganzen doch irgendwie charakteristisch.

Reichweite der testpsychologischen Arbeit. Der Umfang der Erforschung kann je nach der Art der klärungsbedürftigen Momente ein sehr verschiedener sein. Manchmal erscheint die Herstellung eines umfassenden Charakterbildes notwendig. In anderen Fällen kommt es für die Zwecke des Prozeßverfahrens nur darauf an, einzelne psychische Bereiche zu untersuchen, so etwa die Intelligenz des Beschuldigten oder das Maß der allgemeinen Glaubwürdigkeit, das einem bestimmten Zeugen zukommt. Notwendigkeit einer Bewertung der Ergebnisse. Der Nichtfachmann ist zuweilen der Ansicht, daß der psychologische Test in gleichem Sinne wie der naturwissenschaftliche Versuch im wesentlichen fertige Resultate ergibt, die man nur entgegenzunehmen braucht. In Wahrheit bedarf es einer intensiven Würdigung der Ergebnisse, die nicht selten Schwierigkeiten macht. Manchmal wertet der Sachverständige zu schematisch. Zuweilen verliert er sich auch in Spekulationen und verpaßt dadurch denAnschluß an die Wirklichkeit. Mitunter wiederwirken seine Deutungen zwar theoretisch einleuchtend, halten aber einer Prüfung nach praktischen Gesichtspunkten nicht stand. Wenn das Gesamtmaterial bis zuletzt uneinheitlich bleibt, dann liegt die Gefahr einer willkürlichen Würdigung oftmals nahe. Auch bei sorgfältigem Vorgehen kommt in solchen Fällen häufig nur eine fragwürdige Deutung zustande. Nachprüfung der Sachverständigentätigkeit. Bei jeder gutachtlichen Stellungnahme, die auf systematischen Beobachtungen mit Hilfe von Tests beruht, lassen sich die Grundlagen in gewissen Grenzen vorweisen. Der Gutachter hat demgemäß, wenn er es nicht schon von sich aus tut, auf Erfordern die tatsächlichen Unterlagen für seine deutende Tätigkeit vorzulegen und die von ihm dabei angestellten Erwägungen mitzuteilen. Wenn der Sachverständige sich nicht nur auf eigene Wahrnehmungen stützt, sondern auch Angaben Dritter über den Beurteilten benutzt hat, so ist klarzustellen, welche Bedeutung er im Rahmen der Begut-

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achtung den Angaben der Nachbarn, des Lehrers, des Dienstherrn, der Arbeitskameraden des Betroffenen beigemessen hat und ob er dabei richtig vorgegangen ist. Oft wird das durch Testversuche gewonnene Ergebnis nur einleuchten, wenn der Sachverständige den Test in seinen Einzelheiten genauer beschreibt und dadurch eine Prüfung der von ihm gewonnenen Ergebnisse möglich macht. Vielfach fehlt es heute noch an sicheren Kriterien zur Feststellung bestimmter Eigenschaften oder Verhaltenstendenzen. In solchen Fällen nimmt das subjektive Fürwahrhalten des Gutachters verständlicherweise einen nicht unbeträchtlichen Raum ein. Es bedarf dann einer besonders gewissenhaften Kontrolle seiner Arbeit. Wenn es ihm oft auch schwerfallen wird, seine Wertung des Materials bis ins einzelne zu erläutern, so sollte er doch dazu angeregt werden, in dieser Hinsicht alles irgendwie Zurnutbare zu tun.

Vervollständigung des durch Testversuche beschafften Beweismaterials. Obwohl die mit Hilfe des Tests gewonnenen Erkenntnisse für die Sachklärung sehr aufschlußreich sein können, ergeben sie für sich allein meist nur ein unvollständiges Bild. Bessere Resultate lassen sich oft erreichen, wenn daneben durch direktes Befragen des Beschuldigten (Zeugen) eine Erforschung seiner Wesensart stattfindet. Mitunter ist nur dadurch einige Klarheit zu erreichen, daß man sich auch spezielle Kenntnisse über den beruflichen Werdegang dieses Menschen sowie über sein sonstiges Vorleben verschafft und den unmittelbaren Anlaß zu dem Geschehen näher ins Auge faßt, das Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens ist. Vielfach kommt es nicht allein auf das Vorhandensein bestimmter Charaktereigenschaften an, sondern auch darauf, welche individuelle Note sie beim Beschuldigten bzw. beim Zeugen haben. Meist erhält die einzelne Persönlichkeit ihre spezielle Eigenart dadurch, daß allgemein bekannte Züge bei ihr eine besondere Ausprägung erfahren haben. Oftmals muß auch festgestellt werden, welche Fähigkeiten beim Betroffenen im Vordergrund stehen, welche Ausdauer ihnen beigegeben ist und mit welcher Kraft sie sich gegenüber andersartigen Neigungen durchsetzen. Die Testserie erfaßt diese Einzelheiten manchmal gar nicht oder doch nur unvollkommen.

Zweiter Teil Erstes Kapitel

Der Urkundenbeweis Seine charakteristischen Besonderheiten

Stellung im System der Beweismittel. Urkunde im Sinne des Prozeßrechts ist eine in Schriftzeichen verkörperte gedankliche Äußerung. Man könnte den Beweis mit Hilfe von Urkunden ganz allgemein als Augenscheinsbeweis charakterisieren, weil die Urkunde, wenn man sie zur Sachaufklärung nutzen will, betrachtet und gelesen werden muß. In der Tat kann der Augenschein dabei niemals entbehrt werden. Aber meist steht nicht er im Vordergrund, sondern die Erfassung des Gedankeninhalts und seine deutende Verarbeitung. Deshalb befriedigt die Unterordnung des Urkundenbeweises unter den Begriff "Augenschein" nicht 1 • Auch seine Einreihung in die Kategorie der Sachbeweise würde nicht sonderlich glücklich sein. Zwar ist die Urkunde ein lebloser Gegenstand, mithin eine Sache. Aber dadurch, daß sie Träger eines von Menschen geformten, schriftlich fixierten Gedankens ist, der ihr zu Mitteilungszwecken anvertraut wurde, wird sie dem Personalbeweis soweit angenähert, daß ihre uneingeschränkte Unterstellung unter den Begriff "Sachbeweis" das Wesentliche mehr verdeckt als klarstellt.

Eigenart des Urkundenbeweises im Vergleich zum Personalbeweis. Der Wahrheitsforscher hat beim Urkundenbeweis nicht einen lebendigen Menschen vor sich, der ihm die benötigten Angaben zubringt und durch 1 M. Guldener, Schweizerisches Zivilprozeßrecht, 1958, Bd. 1 S. 350 bezeichnet die Urkunde als Augenscheinsobjekt besonderer Art. Soweit es nach der Prozeßordnung zur Beantwortung von Einzelfragen auf die genaue Abgrenzung zwischen Urkunden- und Augenscheinsbeweis ankommt, muß das Nähere den einschlägigen Lehrbüchern und Kommentaren entnommen werden. Daß im materiellen Strafrecht (insbesondere bei den Bestimmungen über Urkundenfälschung) vielfach ein weiterer Urkundenbegriff als der im Text zugrunde gelegte maßgebend ist, mag der Vollständigkeit halber angemerkt sein.

19 Döhrlnr

Der Urkundenbeweis

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Rückfragen zur Ergänzung bzw. Berichtigung seiner Darstellung veranlaßt werden kann. Die Urkunde gibt vielmehr die in ihr verkörperten Gedanken formalisiert wieder. Dies hat den Vorteil, daß sie die ihr anvertrauten Äußerungen zuverlässig aufbewahrt. Aber mehr als den zur Zeit der Herstellung des Schriftstücks festgelegten Text gibt sie nicht von sich. Nur wo Teile des Urkundentextes zunächst unsichtbar sind und erst durch Röntgenstrahlen oder chemische Mittel lesbar gemacht werden müssen, besteht eine entfernte Ähnlichkeit mit der beim Personalbeweis gegebenen Situation insofern, als es dann ausnahmsweise möglich ist, dem Schriftstück über das anfangs Dargebotene hinaus weitere Angaben zu entlocken. Von diesem Sonderfall abgesehen kann der Urkunde lediglich durch geistige Verarbeitung ihres Inhalts nach und nach noch etwas abgerungen werden. Doch ist es dann eben nicht mehr die Urkunde, die der in ihr enthaltenen Erklärung weiteres Material hinzufügt; dieses wird vielmehr durch die Denkarbeit des Sachbearbeiters eingebracht.

Obersicht über den Gang der Erörterung. Wenn eine Urkunde zur Klarstellung des Sachverhalts beitragen soll, ist in aller Regel festzustellen, -

ob sie echt und ob sie unversehrt ist. Es muß ferner erforscht werden,

-

was der Verfasser zum Ausdruck bringen wollte; schließlich bedarf der Klärung,

-

inwieweit die in dem Schriftstück enthaltenen tatsächlichen Angaben der Wirklichkeit entsprechen.

Diese Gesichtspunkte haben auch den Aufbau der folgenden Darstellung zu bestimmen.

Echtheit und Unversehrtheit der Urkunde Ein Schriftstück, in dem jemand sich durch Unterschrift oder auch durch Namensnennung im Text als Aussteller zu erkennen gibt, ist echt, wenn es von dieser Person herstammt. Bei Urkunden, die keinen Hinweis auf den Urheber enthalten, wie anonyme Briefe oder Bücher ohne Angabe des Autors, tritt das Problem in etwas anderer Fassung auf. Von einer Feststellung der Echtheit in dem eben genannten Sinn kann in solchen Fällen nicht eigentlich gesprochen werden, weil die Urkunde den Verfasser nicht angibt und daher eine Prüfung, ob diese Angabe zutreffend ist, entfällt. Es kann sich dann lediglich darum handeln, klarzustellen, wer der Urheber ist. Damit erledigt sich dieFrage der Echtheit von selbst.

Echtheit und Unversehrtheit der Urkunde

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Bei Wiegezetteln, Listen für die Sammlung von Geldspenden, Karteikarten, Krankenblättern und ähnlichen Belegen muß unter Umständen zunächst ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Betrieb auf Grund der vorgedruckten Rubriken, der Art des Papiers und sonstiger Anhaltspunkte geklärt werden, ehe erforscht werden kann, wer die Eintragungen gemacht hat.

Feststellung, wie eine echte Urkunde zustandegekommen ist. 1. Der Beweiswert eines Schriftstücks ist nicht nur davon abhängig, daß es von dem darin als Aussteller Bezeichneten herrührt, sondern auch davon, wie seine Errichtung vor sich gegangen ist. Bei der Erwägung darüber werden mitunter Möglichkeiten, die durchaus aktuell sind, zu Unrecht gar nicht in Betracht gezogen. Es lohnt sich daher, wenigstens auf einige typische Fälle dieser Art hinzuweisen. Oft ist das Schriftstück nicht handschriftlich gefertigt, sondern mit der Schreibmaschine hergestellt und lediglich handschriftlich unterzeichnetworden. DerText kann dann vom Unterzeichner in die Maschine diktiert worden sein. Denkbar ist aber auch, daß dieser den Text nicht selbst diktiert, ihn aber vor der Unterschrift gelesen und genehmigt hat. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, daß der Unterzeichner, der die Urkunde nicht selbst verfaßt hat, die Unterschrift leistete, ohne den Text gelesen zu haben, daß er aber nachträglich vom Inhalt Kenntnis nahm und ihn billigte. Damit sind die denkbaren Sachgestaltungen noch keineswegs erschöpfend aufgezählt. 2. Unter Umständen kann die Unters c h r i f t echt sein, ohne daß das Schriftstück dem Aussteller bei der Unterschrift vorgelegen hat. Das kann vorkommen, wenn der Text ohne sein Wissen im Wege des Blankettmißbrauchs darübergesetzt worden ist. Auch mit einem Namenszug, der nicht als Blankounterschrift für einen noch auszufüllenden Text gegeben wurde, kann Mißbrauch getrieben worden sein; so wenn das Vorsatzpapier eines Buches, auf dem der Namenszug als Eigentümervermerk steht, herausgetrennt und der darüber befindliche Platz durch Unbefugte mit einem Text versehen wird, von dem der Hersteller des Namenszuges nichts weiß.

Nachträgliche Anderungen. 1. Vielleicht haben zur Zeit der Unterschrift nur Teile der jetzigen Urkunde vorgelegen, während andere Teile ohne Wissen des Unterzeichners nachträglich hinzugefügt worden sind. Dahin kann es kommen, wenn ein mit der Schreibmaschine hergestelltes Schriftstück mehrere, nicht fest miteinander verbundene Blätter umfaßt. Möglicherweise wurden keine neuen Blätter hinzugefügt, wohl aber eins der ursprünglich vorhanden gewesenen herausgenommen, ohne daß dies auffiel. Besonders bei Privatkorrespondenz lli"

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können, zumal wenn der Briefschreiber seine Mitteilungen in etwas regelloser Weise zu Papier gebracht hat und die angefangenen Sätze teilweise nicht folgerichtig zu Ende geführt worden sind, leicht Zweifel entstehen, ob der Brief vollständig vorliegt oder etwas daran fehlt. Für jemanden, der auf Fälschung des Urkundeninhalts ausgeht, stellt auch die Numerierung der Blätter bisweilen kein Hindernis dar, wenn diese nicht zugleich fest miteinander verbunden wurden. Es besteht dann die Möglichkeit, daß ein einzelnes Blatt entfernt und durch ein anderes ersetzt worden ist. Zuweilen muß damit gerechnet werden, daß Textänderungen, die offenbar nachträglich erfolgten, vom Aussteller selbst - befugt oder unbefugt - vorgenommen wurden. Manchmal sind sie mit seiner Billigung oder vielleicht sogar auf seine Veranlassung von einem anderen eingefügt worden. Das Leben bringt dabei mitunter die merkwürdigsten Kombinationen zustande. 2. Kleinere Eingriffe in den Urkundentext, wie sie das Einfügen einzelner Buchstaben, Worte oder Zahlen darstellt, können durch Radieren und Überschreiben der freigewordenen Stellen erfolgt sein oder durch Zusätze am Zeilenende. Auch hier kann unter Umständen der Verfasser des Schriftstücks selbst in redlicher Absicht nachträgliche Verbesserungen vorgenommen haben; so etwa, wenn er sein eigenes handschriftliches Testament durch Hinzufügen einzelner Worte oder durch Streichung bestimmter Teile modifiziert. Andererseits kann bei späteren Änderungen durch den Hersteller der Urkunde auch eine Täuschungsabsicht vorliegen; so z. B. wenn ein Kaufmann in seiner Kladde eigens für die Zwecke eines bestimmten Prozesses nachträglich an freigebliebenen Stellen bestimmte Vermerke einschiebt, um den Eindruck hervorzurufen, als seien sie zusammen mit den sie umgebenden Eintragungen notiert worden.

Maßnahmen zur Klärung von Bedenken dieser Art. Ob Zweifel an der Echtheit der Urkunde oder an der Unversehrtheit des Textes angebracht sind, muß von Fall zu Fall erwogen werden. Da die große Mehrzahl der zu Beweiszwecken vorgelegten Schriftstücke in dieser Hinsicht keinen Beanstandungen unterliegt, pflegt man zunächst meist die Echtheit und Unversehrtheit als gegeben vorauszusetzen. Treten im Einzelfall Bedenken dagegen hervor, so wird der Wahrheitsforscher bei einfacherer Sachlage von sich aus (ohne Heranziehung von Sachverständigen) eine Klärung versuchen. Bei öffentlichen Urkunden können Zweifel an der Echtheit meist durch Befragung der Behörde (Gericht, Notar, Standesamt) geklärt werden, von der das Schriftstück angeblich stammen soll. Bei Privaturkunden ist es mitunter möglich, ohne Beauftragung eines Gutachters durch einen sorgfältigen Handschriftenvergleich verläßliche

Interpretation von Urkunden

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Anhaltspunkte dafür zu erhalten, ob das Schriftstück vom Aussteller selbst stammt bzw. ob etwaige Zusätze von fremder Hand gefertigt worden sind. In schwierigeren Fällen sollte jedoch der Nichtfachmann einen geeigneten Sachverständigen hinzuziehen, statt sich auf seine Einfühlungsgabe und seine notwendigerweise lückenhaften graphologischen Kenntnisse zu verlassen.

Das Ausstellungsdatum. Der Zweifel, ob das Schriftstück an dem darin genannten Tage abgefaßt worden ist, kann mit Bedenken gegen die Echtheit der Urkunde zusammentreffen. Dann vervielfachen sich die Unsicherheiten. Die Ungewißheit darüber, ob das Ausstellungsdatum in der Urkunde zutreffend genannt ist, kann aber auch isoliert, d. h. dort vorkommen, wo die Urkundenechtheit außer Frage steht. Manchmal stimmt der angegebene Ausstellungstag infolge eines Versehens nicht, so wenn der Schreiber in den ersten Januartagen des neuen Jahres aus alter Gewohnheit noch die Zahl des eben abgelaufenen Jahres angibt. Steht fest, daß bewußt ein unzutreffendes Datum angegeben worden ist, so braucht das nicht auf betrügerischer Absicht zu beruhen. Zuweilen wird der Aussteller durch ziemlich harmlose Erwägungen zu Voroder Rückdatierungen verleitet. Ein Indiz dafür, daß das Schriftstück zu einem späteren Zeitpunkt als angegeben verfaßt worden ist, kann darin liegen, daß es Kenntnisse verrät, die zu der genannten Zeit noch nicht vorhanden sein konnten; oder auch darin, daß der Inhalt der Urkunde mit der Gesamtsituation zur angeblichen Ausstellungszeit nicht in Einklang zu bringen ist. Bei einem Schriftstück, das um Jahrzehnte zurückdatiert worden ist, zeigt sich dies mitunter darin, daß der Stil und die Rechtschreibung zu der Zeit, in der es entstanden sein soll, nicht passen. Manchmal verrät sich der Urkundenverfasser bereits durch Nennung von Münzsorten, die es am Ausstellungstag noch nicht gab. Unter Umständen führt auch die Untersuchung des Papiers und der Tinte zu der Schlußfolgerung, daß das Schriftstück nicht so alt sein kann, wie es glauben machen will. Interpretation von Urkunden Zweifel darüber, was der Verfasser des Schriftstücks gemeint hat, sind häufig vorhanden. Man denke etwa an die Auslegung eines in sich uneinheitlichen, von Stimmungen beeinflußten privaten Briefwechsels oder an die Ermittlung des Sinnes von verworrenen, vielleicht sogar absichtlich undeutlich gehaltenen geschäftlichen Mitteilungen2 • Ein weiteres 2 Im zivilrechtliehen Bereich sind Untersuchungen dieser Art nicht selten mit der Überlegung gekoppelt, wie bestimmte urkundliche Erklärungen im

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Beispiel dieser Art stellt die Erforschung dessen dar, was der Verfasser eines (möglicherweise) beleidigenden Zeitungsartikels, einer angeblich unzüchtigen oder sonst anstößigen Erzählung zum Ausdruck bringen wollte. Im Urteil des Reichsgerichts vom 11. 1. 19263 war der Sinn einiger Verse zu ermitteln, die Anlaß zur Anklage wegen Gotteslästerung gegeben hatten. Der Gerichtshof analysierte die vom Beurteiler bei Würdigung des Gedichtinhalts zu leistende Denkarbeit; er umschrieb die Erwägungen, von denen bei Interpretation der beanstandeten Stelle auszugehen war und nötigte durch Aufhebung des angefochtenen Urteils das Untergericht zu genauerer Auseinandersetzung mit den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten. Zur Klarstellung, was der Schreiber gemeint hat, sind außer dem Wortlaut die äußeren Umstände heranzuziehen, unter denen das Schriftstück entstanden ist, ferner die allgemeinen psychologischen Bedingungen, wie sie zur Zeit seiner Entstehung vorlagen, sodann die Interessenrichtung des Urkundenverfassers und schließlich seine individuelle Wesensart. Zuweilen ist eine verläßliche Sinndeutung überhaupt nur möglich, wenn man die Persönlichkeit des Schreibers studiert und die Ziele genauer erforscht, denen er bei Abfassung der Urkunde nachstrebte. Mehr kann über diese wichtige Materie hier nicht gesagt werden. Klarstellung, ob die in der Urkunde gemachten Angaben zutreffen

Einführende Hinweise. Vielfach macht weder die Prüfung der Echtheit noch die Ermittlung des Sinns der Urkunde Schwierigkeiten, wohl aber die Frage, ob die im Schriftstück enthaltenen tatsächlichen Angaben zutreffen. Bei Klärung dieses Punkts muß (ähnlich wie bei der Würdigung von Zeugenaussagen) erwogen werden, wie stark der Wahrheitswille des Urkundenverfassers bei Herstellung des Schriftstücks gewesen ist, ob er durch seine Interessenrichtung, durch suggestive Einwirkungen oder auf sonstige Weise irregeführt worden sein kann usw. Doch hat diese Prüfung im Rahmen des Urkundenbeweises ein in mancher Hinsicht abweichendes Aussehen, was mit seinen speziellen Eigentümlichkeiten zusammenhängt. Rechtsverkehr vom Normalbürger aufgefaßt werden mußten. Dabei handelt es sich jedoch bereits um normative Erwägungen, die an dieser Stelle außer Betracht bleiben müssen; sie haben einen grundsätzlich anderen Charakter als die hier gemeinte, allein auf der Tatsachenebene liegende Prüfung, welchen Sinn der Urkundenverfasser seinen Worten beigelegt hat. 3 JW 1928 S. 1225 mit Anmerkung von Oetker.

Klarstellung, ob die in-der Urkunde gemachten Angaben zutreffen

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Gegenüber der Zeugenaussage besitzt die in der Urkunde enthaltene, im Zeitpunkt der Niederschrift sozusagen erstarrte Gedankenäußerung den Vorzug, daß sie nicht nachträglich durch Verblassen der Erinnerung, durch Objektvertauschung und andere wahrheitswidrige Einflüsse verdorben werden kann. Auch eine spätere Änderung der Interessenlage oder der allgemeinen Einstellung des Urkundenverfassers kann auf sie keine Wirkung mehr ausüben. Dies hat zur Folge, daß die in der Urkunde enthaltenen tatsächlichen Angaben ebenso wie die daran geknüpften Meinungsäußerungen noch nach längerer Zeit die gleiche Prägnanz wie zur Zeit der Niederschrift besitzen. Sie sind nicht wie beim Zeugen, wenn er über weiter zurückliegende Vorgänge berichten soll, zu einem summarischen Bild zusammengeschrumpft, das seine konkrete Anschaulichkeit zum guten Teil verloren hat. Sie werden auch nicht durch die beim Zeugen so häufig bemerkbare Neigung verdorben, frühere Ereignisse in erster Linie vom gegenwärtigen Standpunkt aus zu betrachten. Darauf beruht die große Überzeugungskraft vieler urkundlich festgelegter Stellungnahmen. Sie geben mit unbestechlicher Genauigkeit die Ansicht wieder, die der Schreiber seinerzeit hatte oder zu haben behauptete. Zufalls- oder Absichtsurkunden. Für die Wertung der in einem Schriftstück enthaltenen Stellungnahmen kann es von Bedeutung sein, ob es sich um eine Urkunde handelt, bei deren Abfassung der Erklärende nicht den Willen gehabt hat, damit für später Beweismaterial zu schaffen; vielleicht war er sich zur Zeit der Niederschrift nicht einmal dessen bewußt, daß das von ihm Geschriebene unter Umständen zu Beweiszwecken benutzt werden könnte (Zufallsurkunde). Dahin gehören im allgemeinen häusliche Notizen für den eigenen Gebrauch; ferner meist Briefe, die im engeren Familienkreis gewechselt worden sind. Solche Materialien müssen in mancher Hinsicht anders gewürdigt werden als Dokumente, die eigens errichtet wurden, um einen bestimmten Sachverhalt für die Zukunft klarzustellen.

In die Gruppe der Absichtsurktmden gehören zunächst vertragliche Vereinbarungen aller Art, und zwar nicht nur die behördlich beurkundeten, sondern auch die von den Beteiligten selbst aufgesetzten; ferner gewisse einseitige Erklärungen, wie z. B. Testamente; schließlich Zeugnisurkunden, die im Prozeß speziell für Beweiszwecke hergestellt worden sind: das schriftliche Sachverständigengutachten, die schriftliche Auskunft einer Behörde, die dienstliche Äußerung eines Beamten usw. Daß Absichtsurkunden stets oder auch nur im Regelfall die reine Wahrheit wiedergeben, kann natürlich nicht gesagt werden. Immerhin fühlt sich der Erklärende bei ihrer Herstellung, soweit er es überhaupt ehrlich meint, oftmals in besonderem Maße zur wahrheitsgemä-

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ßen Angabe der tatsächlichen Einzelheiten verpflichtet. Es braucht daher bei ihnen nicht in gleichem Maße wie bei Zufallsurkunden damit gerechnet zu werden, daß der Erklärende sich bei seinen Äußerungen von unkoutrollierten Einfällen hat leiten lassen. Wenn die Tendenz zur Wahrheit beim Verfasser des Schriftstücks überhaupt vorhanden ist, wird dieser bei Absichtsurkunden den Beweiszweck, dem sie dienen sollen, meist irgendwie im Auge behalten und (unter sonst gleichen Bedingungen) eher eine der Wirklichkeit entsprechende Darstellung geben als bei Zufallsurkunden. Briefe als Aufklärungsmaterial

Beweiswert der Korrespondenz im allgemeinen. Bisweilen sind die Anhaltspunkte, die der Briefwechsel hinsichtlich der zu klärenden Frage gibt, so eindeutig, daß kein vernünftiger Zweifel darüber mehr obwalten kann. Wenn A, der sich im Prozeß auf die Mangelhaftigkeit der gelieferten Ware beruft, sagt, er habe den Mangel mündlich sofort gerügt, so wird man diese Darstellung als widerlegt ansehen können, wenn die Beteiligten über die Streitpunkte lang und breit korrespondiert haben und A in dem lückenlos erhaltenen Briefwechsel zwar zahlreiche Einwendungen vorbrachte, um die unterbliebene Kaufpreiszahlung zu rechtfertigen, aber nirgends die Mangelhaftigkeit der Ware erwähnt hat oder sonst auf die angeblich mündlich erhobene Mängelrüge zurückgekommen ist. Nicht selten läßt sich aus den Geschäftsbriefen des Beschuldigten oder des Zeugen ziemlich zuverlässig entnehmen, wie er die finanzielle Lage seines Unternehmens einschätzte, wie er die Konjunktur in seiner Branche beurteilte usw. Man sieht daraus unter Umständen deutlich, daß er damals bestimmte Auffassungen darüber hatte oder doch kundzugeben für richtig fand, daß er gewisse Befürchtungen hegte oder Maßnahmen bestimmter Art erwog.

Klärung interner Vorgänge durch den Briefwechsel. Manchmal können ein paar geschriebene Worte einen anscheinend hoffnungslosen Fall vollkommen aufhellen. Wenn festgestellt werden soll, ob zwischen dem verheirateten A und einem Fräulein X intime Beziehungen bestanden haben und diese von beiden in Abrede gestellt worden sind, so glaubt der Sachbearbeiter vielleicht bereits, am Ende der Aufklärungsmöglichkeiten zu sein. Kommen dann jedoch noch ein paar von der X flüchtig auf einen Zettel geschriebene Zeilen intimen Inhalts zutage, die sie seinerzeit an A gerichtet hat, so werden dadurch meist alle gegenteiligen Versicherungen der beiden unmittelbar Betroffenen aus dem Felde geschlagen, selbst wenn sie beeidigt worden sind. Der fragliche Punkt wird dann durch die Urkunde so gründlich außer Zweifel gesetzt, wie

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das mit Hilfe von Zeugenaussagen wahrscheinlich nie zu erreichen gewesen wäre. Auch die mitunter recht schwierige Frage, welches Ausmaß die Entfremdung zweier Ehegatten erreicht hat, wieweit die eheliche Gesinnung bei ihnen bereits zerstört ist, wird nicht selten durch Vorlage von Briefen schneller als auf jede andere Weise klargestellt. In Hochverratssachen ist - um noch einen weiteren Beleg zu geben - mit Hilfe des Personalbeweises oft nicht weiterzukommen, weil die Zeugen, von denen sich Aufschluß über die politische Gesinnung usw. des Beschuldigten erwarten ließe, alle entsprechend ihrer Grundhaltung von vornherein Stellung bezogen haben, so daß ihre Glaubwürdigkeit gering ist. Der Briefwechsel dagegen, den der Beschuldigte mit Gesinnungsgenossen geführt hat, läßt seine politischen Anschauungen und seine Absichten oft besser hervortreten und liefert dadurch unter Umständen wichtiges Material.

Einzelgesichtspunkte für die Bewertung von persönlicher Korrespondenz. Vielfach sind Privatbriefe für die Wahrheitstindung gerade deshalb so aufschlußreich, weil der Schreiber hier Gelegenheit hatte, sich mit einer Unbefangenheit zu äußern, wie sie meist nicht gegeben ist, wenn er bei seiner Vernehmung als Zeuge oder gar als Beschuldigter zum Sachverhalt Stellung nehmen soll. Je weniger er die Verwendung seiner schriftlichen Darlegungen zu Beweiszwecken vorausgesehen hat, desto weniger braucht befürchtet zu werden, daß sie mit Rücksicht auf ein späteres Gerichtsverfahren abgegeben worden sind. Gewiß kann sich auch der Schreiber eines privaten Briefes durch konventionelle Rücksichten, durch übersteigertes Mitteilungsbedürfnis, durch Prahlsucht oder Fabuliertrieb beträchtlich von der Wahrheit entfernen. Gleichwohllassen sich die Gesichtspunkte, die bei ihm im Vordergrund stehen, oft gut erkennen. Selbst Beweggründe, die er sonst vielleicht sorgfältig zu verbergen versucht hat, treten im persönlichen Briefwechsel unter Umständen ziemlich unverhüllt hervor. Freilich sprechen auch bei brieflichen Stellungnahmen mitunter bestimmte taktische Erwägungen des Schreibers mit. Zuweilen wollte er beim Empfänger eine bestimmte Wirkung hervorrufen und hat zu diesem Zweck den wahren Sachverhalt entsprechend gefärbt: Wenn die getrennt lebende Ehefrau an ihren Mann, der sie wegen eines Mädchens verlassen hat, schrieb, sie habe sich jetzt auch einen Freund angeschafft, muß gegebenenfalls damit gerechnet werden, daß diese Mitteilung nicht zutraf, sondern lediglich darauf angelegt war, den Ehepartner eifersüchtig zu machen und ihn auf diese Weise zurückzugewinnen. Solche in der seinerzeitigen Interessenlage des Briefschreibers begründeten Ten-

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denzenzur Entstellung der Wahrheit müssen- wie sich von selbst versteht - klargestellt und bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. Manchmal ist ein Privatbrief lediglich der Ausdruck einer vorübergehenden Gemütsbewegung; er kann dann nur als eine höchst persönliche und oft recht einseitige Äußerung betrachtet werden, die für die Sachaufklärung von geringem Wert ist.

Würdigung von Geschäftsbriefen. Auch die geschäftliche Korrespondenz kann mitunter leicht zu voreiligen Schlüssen verleiten, wenn man nicht gewissenhaft nach dem wirklichen Willen forscht. Es kommt vor, daß die Firma ihrem beruflich erfolgreichen, aber unzuverlässigen Provisionsreisenden nach stattgehabten Differenzen schreibt, sie lehne es ab, weiter mit ihm zu arbeiten und kündige den mit ihm bestehenden Beschäftigungsvertrag, daß sie aber trotz dieser Erklärung und ohne die Kündigung zu widerrufen, die geschäftlichen Beziehungen mit ihm weiter fortsetzt, weil ihr dies letzten Endes als das Vorteilhafteste erscheint. Auch der Briefwechsel zwischen zwei Teilhabern eines Geschäftes, die sich veruneinigt haben, kann mitunter zu einer völlig verkehrten Auffassung vom Sachverhalt führen, wenn man die Korrespondenz nur obenhin prüft. Manchmal kommt in ihr wiederholt das definitive Verlangen beider Teile nach Auflösung der Gesellschaft und nach Auseinandersetzung zum Ausdruck, während in Wahrheit der Zwang der äußeren Umstände und die Unwirtschaftlichkeit einer Trennung der Partner sie trotz ständiger gegenteiliger Versicherungen immer wieder dahin bringt, daß sie das Gesellschaftsverhältnis unter Zurückstellung ihrer Differenzen fortsetzen.

Vorprozeßakten. Die in früheren Prozeßakten enthaltenen Erklärungen des Beschuldigten oder der Zivilprozeßpartei können manchmal in gleicher Weise wie Briefe und ähnliches Urkundenmaterial die Zweifel am Sachverhalt weitgehend klären. Allerdings darf die gegenwärtige Darstellung der Partei nicht schon deshalb als verkehrt angesehen werden, weil diese in einem früheren Prozeß gegenteilige Angaben gemacht hat. Man muß vielmehr daran denken, daß es sich bei den seinerzeitigen Angaben um lediglich zweckbedingte, dem damaligen Prozeßziel angepaßte Stellungnahmen handeln kann, die an der Wahrheit vorbeigingen. Es bedarf stets einer eingehenden Erwägung, welche der sich widersprechenden Darstellungen die zutreffende ist. Häusliche Notizen als Beweismittel Es ist dabei an unvollkommene Unterlagen gedacht, wie sie im täglichen Leben häufig vorkommen: formlose Aufzeichnungen einer Pro-

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zeßpartei über Geschehnisse, von denen vorauszusehen war, daß sie später zur Klärung von Rechtsverhältnissen wichtig werden könnten; Strichlisten über private oder geschäftliche Vorgänge, die sich einzeln schwer im Gedächtnis behalten lassen; schriftliche Festlegung zusammengehöriger Einzelvorfälle auf losen Zetteln, die als solche zu Beweiszwecken vorgelegt werden.

Ihr Beweiswert im allgemeinen. Man wird solche Materialien begreiflicherweise mit einiger Reserve betrachten, weil ihr Urheber regelmäßig Gelegenheit gehabt hat, sie ohne Rücksicht auf den wahren Sachverhalt nach Belieben anzufertigen. Früher war man aus diesem Grunde vielfach der Auffassung, daß ihnen kaum ein Beweiswert beizumessen sei4 • Gleichwohl können sie bei kritischer Würdigung der Tatsachenforschung unter Umständen gute Dienste leisten5 • Selbst Aufzeichnungen, die wegen der benutzten Abkürzungen zunächst nicht für jedermann verstiindlich sind, können dem Beweis dienen, wenn sie sorgfältig angefertigt wurden und nachträglich einleuchtend dargelegt werden kann, wie sie zu deuten sind6 •

Kasuistik. Die richtigen Gesichtspunkte für die Bewertung solcher Notizen ergeben sich meist erst, wenn man in Betracht zieht, von wem sie stammen und unter welchen Umständen sie zustande gekommen sind. Vermerke des Polizeibeamten im Dienstnotizbuch oder in polizeilichen Akten werden im allgemeinen einiges Vertrauen verdienen7 ; desgleichen amtliche Vermerke anderer Staatsdiener über Einzelheiten, deren Beobachtung zu ihrem speziellen Aufgabenkreis gehört. Man wird, wenn der Fall nicht irgendwie besonders gelagert ist, die Redlichkeit des Verfassers oft ohne weiteres als gegeben ansehen können. Doch kommt viel auf den allgemeinen Ruf der betreffenden Behörde an. In Ländern mit einem wenig verläßlichen oder gar regelrecht korrupten Beamtenkörper kann eine sehr viel zurückhaltendere Wertung geboten sein. Meist wird man auch annehmen können, daß der rechtschaffene Beamte zur richtigen Auffassung und Verarbeitung dienstlicher Vorgänge in der Lage ist, obwohl auch bei ihm unter gewissen Umständen Irr4 Stein, ZPO (11. Aufl. 1913) zu§ 286 Anm. III 4 a. s So bereits Planck, Lehrbuch II.238; Konr. HeHwig, System des Zivilprozeßrechts (1903 ff.) I. 702; Hegler: Rechtsgang, Jg. 1916 S. 411. 6 Einen solchen Fall behandelt die Entscheidung des Bayer. Ob. LG im "Recht" Jg. 1913, Nr. 3809. 7 OLG Kiel vom 13. 6. 1946: Schleswig-Holsteinische Anzeigen Jg. 1946, s. 289.

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tümer nicht ausgeschlossen sind, zumal wenn der Betreffende überlastet war oder im maßgebenden Augenblick abgelenkt worden ist. Skeptischer wird man Aufzeichnungen eines kaufmännischen Angestellten über angebliche Unregelmäßigkeiten eines unliebsamen Kollegen zu betrachten haben. Einiger Argwohn ist auch angebracht bei Aufzeichnungen einer Zimmervermieterin darüber, wie oft und wie lange ihre Untermieterin, die sie loswerden möchte, Herrenbesuch bei sich gehabt haben soll. Gleichwohl können solche Unterlagen je nach den Umständen einigen Beweiswert haben. Die Rechtsprechung hat gelegentlich sogar anerkannt, daß selbst Notizen eines Ehemanns über Szenen, die ihm seine Frau gemacht hat, im Ehescheidungsprozeß ein brauchbares Beweismittel darstellen können, obwohl die Ehepartner sich dort als Parteien gegenüberstehen und der Verfasser der Aufzeichnungen selbst ein dringendes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits hat8 • Freilich muß in allen derartigen Fällen damit gerechnet werden, daß der Notizenverfasser es bei der Aufzeichnung an der nötigen Objektivität hat fehlen lassen und, wenn er nicht regelrecht fingierte Vorgänge aufschrieb, vielleicht doch in seinem blinden Wunschdenken den Einzelheiten eine unzutreffende oder zum mindesten fragwürdige Ausdeutung gegeben haben kann. Mehr Wert haben manchmal Notizen, die mit erkennbarer Sachlichkeit offenbar ohne Rücksicht auf ein bestimmtes Prozeßziel gemacht worden sind. Das kann der Fall sein, wenn eine Kindesmutter mit zahlreichen Herrenbekanntschaften sich in der Genugtuung über die auf diesem Gebiet gemachten Eroberungen laufend notiert hat, an welchen Tagen die einzelnen Partner ihr geschlechtlich beigewohnt haben.

Notizen einer Hausangestellten über die ehelichen Streitigkeiten ihrer Dienstherrschaft haben, selbst wenn darin über das Datum und den Hergang genaue Angaben enthalten sind, im Strafverfahren oder im Ehescheidungsprozeß des Arbeitgeberehepaares oft einen sehr beschränkten Wert. Es kommt viel darauf an, inwieweit die Zeugin im Streit der Ehegatten bereits Partei ergriffen hat. Der krasseste Fall der Parteinahme würde gegeben sein, wenn die Zeugin zum Hausherrn intime Beziehungen unterhält und nunmehr zu seinen Gunsten Notizen macht, die nicht falsch zu sein brauchen, aber wegen der starken Befangenheit der Verfasserin doch keine sonderliche Beweiskraft haben werden, sofern nicht noch objektive Momente bestätigend hinzukommen. Hat der Urheber der Aufzeichnungen keine engeren Bindungen zu einem der Streitteile, auch nicht solche, die lediglich auf Mitgefühl oder allgemein menschlicher Sympathie beruhen, so wird man, falls der s RG vom 16. 9. 1912, JW 1912 S. 1061.

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Wahrheitswille als gegeben anzusehen ist, den Notizen einige Bedeutung beimessen können, zumal wenn der Anlaß für die Notizen ein solcher war, der ihre Glaubwürdigkeit nicht infrage stellt. Doch pflegt jeder Fall dieser Art irgendwie besonders zu liegen. Es kommt vor, daß ein neugieriges oder vorwitziges, aber sonst gutartiges Hausmädchen Vorgänge aus dem Familienleben ihres Arbeitgeberehepaars lediglich auf Grund einer Art von Sensationsbedürfnis notiert. In anderen Fällen wieder gerät eine Hausangestellte durch ständige Auftritte zwischen den Ehegatten wegen des von ihr vorausgesehenen Gerichtsverfahrens in panische Angst und führt von sich aus über sie Buch, um später bei ihrer Vernehmung gut gerüstet zu sein. Bisweilen erhält sie auch von einem der Ehegatten die ausdrückliche Anweisung, sich alles, was passiert, laufend aufzuschreiben. Solche Umstände können neben der Art und Weise, in der die Zeugin sich vor Gericht ihrer Aufgabe entledigt hat, auf die Würdigung ihrer Eintragungen Einfluß erhalten. Behördliche Auskünfte

Ihre Stellung im Beweisrecht. Sachlich gehört die schriftlich erteilte Auskunft einer Behörde zu den Zeugnisurkunden. Freilich fehlt bei ihr (anders als etwa beim Protokoll über eine Zeugenvernehmung) eine individuelle Persönlichkeit, die für die Richtigkeit der gemachten Angaben einzustehen hat und für alle sichtbar die Verantwortung übernimmt. Auch wenn der Namenszug unter der amtlichen Auskunft leserlich und der zeichnende Beamte der Ermittlungsbehörde bzw. dem Gericht, das die Stellungnahme erfordert hat, bekannt ist, wird dadurch die Glaubwürdigkeit der Äußerung meist nicht nennenswert erhöht; schon deshalb nicht, weil regelmäßig offenbleibt, ob der zeichnende Dienststellenleiter das der Auskunft zugrundeliegende Tatsachenmaterial selbst geprüft und ausgewertet oder sich dabei auf seine Untergebenen verlassen hat. Auch wenn einmal ausnahmsweise bekannt sein sollte, daß eine eigene Prüfung durch den unterzeichnenden Beamten stattgefunden hat, ist nicht eigentlich die Glaubwürdigkeit dieser Einzelperson das Moment, welches der abgegebenen Stellungnahme ihre Beweiskraft verleiht, sondern die mehr oder minder anonyme Autorität der Behörde, in deren Namen sie erteilt worden ist9 • 9 Die Prozeßordnungen haben die behördliche Auskunft trotz ihrer beträchtlichen praktischen Bedeutung meist ziemlich kurz abgetan. Am ehesten beschäftigen sie sich noch mit der hier nicht im einzelnen zu erörternden Frage, inwieweit die Verwertung behördlicher Auskünfte prozessual zulässig ist; für Deutschland ist dabei zu verweisen auf § 256 StPO, § 272 b ZPO. Danach dürfen in Strafsachen schriftliche Erklärungen öffentlicher Behörden, die ein

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Der Urkundenbeweis

Amtliche Stellungnahmen mit Beurteilungscharakter. Soweit die Behörde in ihrer Auskunft nur nackte Tatsachen bezeugt, für deren einwandfreie Feststellung sie spezielle Einrichtungen besitzt, werden Bedenken gegen die Richtigkeit in der Regel nicht obwalten. Erklärungen der Eichämter und der meteorologischen Stationen über Einzelheiten, deren Registrierung zum besonderen Aufgabengebiet dieser Dienststellen gehört, wird man im allgemeinen als zuverlässig ansehen dürfen. Besondere Verläßlichkeit wird dort vorliegen, wo eine Behörde eigens zur Erteilung bestimmter Auskünfte geschaffen worden ist, wie z. B. das Strafregister. Man kann dann, sofern nicht etwa entgegengesetzte Erfahrungen vorliegen, erwarten, daß durch die ständige Bemühung um Vollständigkeit und Zuverlässigkeit auf dem der Behörde zugewiesenen schmalen Sektor eine Präzision erreicht wird, die im Regelfall Zweifel an der Richtigkeit der mitgeteilten Angaben nicht aufkommen läßt. Ähnliches wird auch sonst für amtliche Erklärungen zu gelten haben, wenn sie Feststellungen enthalten, welche die Behörde in dieser Art Tag für Tag zu treffen hat und erfahrungsgemäß zuverlässig trifft. Bedeutend kritischer sind amtliche Äußerungen zu betrachten, wenn sie sich auf Vorgänge beziehen, die in dieser Form nur selten vorkommen oder geradezu einmaligen Charakter haben. Einer sorgfältigen Prüfung bedürfen ferner behördliche Auskünfte, die ähnlich wie manche Zeugenaussagen starke Wertungen enthalten. Das gilt für gewisse gutachtliche Äußerungen der Industrie- und Handelskammern, der Berufsgenossenschaften, der Krankenanstalten usw. Der Sachbearbeiter hat dann zu erwägen, welche Sachkunde die stellungnehmende Behörde allgemein auf dem betreffenden Gebiet hat, welche Hilfsmittel ihr zur ordnungsmäßigen Beantwortung der zu klärenden Fragen zur Verfügung stehen und welche Routine sie gerade in der in Betracht kommenden Hinsicht besitzt.

Das der Auskunft zugrundeliegende Tatsachenmaterial. Soweit in der amtlichen Stellungnahme Tatsachen enthalten sind, muß die Behörde genau genommen ebenso wie der Zeuge und der Sachverständige die Unterlagen im einzelnen vorweisen, auf denen ihre Äußerung beruht. Am besten wird schon bei Einholung der Auskunft durch die Fragestellung auf nähere Darlegungen darüber hingewirkt. Wenn von vornLeumundszeugnis enthalten, nicht verwertet werden, desgleichen nicht ärztliche Atteste über schwere Körperverletzungen. Die Gerichte sind vielmehr, wenn es sich um Bekundungen dieser Art handelt, genötigt, die betreffenden Auskunftspersonen als Zeugen zu laden.

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herein klar ist, daß spezielle Angaben dieser Art im gegebenen Fall schwer zu machen sind, so müssen die tatsächlichen Unterlagen zum mindesten in groben Zügen umrissen werden. Es ist dann wenigstens klarzustellen, ob die Auskunft auf Einzelwahrnehmungen eines bestimmten Angehörigen der Dienststelle beruht oder auf amtlichen Erkundigungen bei Personen, die Kenntnisse der in Betracht kommenden Art zu besitzen pflegen oder auf Vermerken in amtlichen Registern bzw. älteren Akten, auf mündlicher Überlieferung innerhalb der stellungnehmenden Behörde oder worauf sonst. Die Fragestellung im Ersuchen um Auskunft hat um so ausführlicher zu sein, je weniger erwartet werden kann, daß ohnedem eine auch die Glaubwürdigkeitsindizien umfassende Stellungnahme abgegeben werden wird. Erfolgt gleichwohl eine allzu abstrakt gehaltene Mitteilung, so muß gegebenenfalls eine nachträgliche Ergänzung herbeigeführt werden.

Begrenztes Blickfeld der sich äußernden Behörde. Eine richtige Bewertung der amtlichen Auskunft ist oft nur möglich, wenn der Gesichtskreis und die spezielle Beobachtungsrichtung der befragten Dienststelle beachtet werden. Jede Behörde wird bei ihren Erklärungen in erster Linie die Umstände berücksichtigen, auf die sie ihrer Eigenart nach ohnehin ihr Hauptaugenmerk zu richten hat. Mehr ist in der Regel von ihr nicht zu erwarten. Was dann etwa noch fehlt, muß auf andere Weise herbeigeschafft werden. Mögliche Voreingenommenheiten. 1. Befindet sich die angefragte Behörde in Verteidigungsstellung, weil sie gerade wegen des zu erörternden Vorgangs in der Öffentlichkeit heftig angegriffen worden ist, so braucht ihre Unparteilichkeit dadurch nicht beeinträchtigt zu sein. Immerhin gibt es Fälle, in denen die Behörde mit dem Beschuldigten (der Zivilprozeßpartei) in so ärgerliche Zwistigkeiten geraten ist, daß besonderer Anlaß besteht, ihre den Beschuldigten betreffenden Erklärungen kritisch aufzunehmen. 2. Dienstliche Auskünfte kleinerer Stadt- und Landgemeinden können, was im Grunde nicht verwunderlich ist, durch deren wirtschaftliche Interessen beeinflußt sein und infolgedessen an der Wahrheit vorbeigehen. Es kann vorkommen, daß die Gemeinde sich mit Hilfe ihrer amtlichen Stellungnahme einen ihr lästigen Fürsorgeempfänger vom Halse schaffen oder eine unliebsame geschäftliche Konkurrenz für ortsansässige gewerbliche Unternehmungen fernhalten will; daß sie dem Eindringen von Ortsfremden in die Gemeinschaft der Alteingesessenen entgegenwirken möchte usw. Manchmal üben auch allgemeine vom Zeitgeist eingegebene Vorurteile einen Einfluß auf die erteilte Auskunft aus; desgleichen persönliche

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Der Urkundenbeweis

Antipathien oder gerüchtweise Verdächtigungen, die unter Umständen nur leeres Gerede sind. Gutes Belegmaterial in dieser Hinsicht liefert vor allem die Praxis der Verwaltungsgerichte, die verhältnismäßig viel mit behördlichen Äußerungen arbeiten müssen. 3. Falsche amtliche Auskünfte können auch einfach dadurch entstehen, daß ländliche Behördenleiter fürchten, sie könnten sich bei einer ganz gerade durchgehenden Amtsausübung mit den Bezirkseingesessenen grundlegend entzweien. Der ehrenamtliche Bürgermeister auf dem Lande ist genötigt, mit den Menschen, über die er berichten soll, weiterhin auszukommen. Eine ungünstige Stellungnahme, auch wenn sie gerechtfertigt ist, wird ihm von dem Betroffenen vielleicht noch nach Jahrzehnten verdacht. Die enge Interessenverflechtung aller miteinander, wie sie auf dem Lande meist gegeben ist, veranlaßt ihn nicht selten zu einer Behutsamkeit und Zurückhaltung, die der Wahrheitsfindung nachteilig werden kann.

Sonstige Fehlerquellen. Manchmal gibt die Behörde sich dadurch gewisse Angriffspunkte, daß sie ihre Auskunft allzu summarisch gefaßt oder in einem Nebenpunkt etwas regelrecht Unzutreffendes mitgeteilt hat. Zur richtigen Bewertung einer solchen Stellungnahme bedarf es dann genauerer Nachforschungen. Wenn sich dabei zeigt, daß die Auskunft trotz nicht ganz glücklicher Formulierung auf sorgfältigen Erwägungen beruht, so kann sie volle Überzeugungskraft haben. Besondere Umsicht erfordert die richtige Bewertung mitunter, wenn Auskünfte gewürdigt werden sollen, welche von Behörden erteilt worden sind, die dem gleichen Verwaltungszweig wie die ersuchende Stelle angehören; so etwa, wenn das Finanzgericht sich auf Mitteilungen des Finanzamts stützt. Die sich äußernde Dienststelle steht dann derjenigen, die um Auskunft ersucht hat, im Behördenaufbau nahe; sie ist ihr aus ständigem amtlichem Verkehr gut bekannt. Dies kann möglicherweise dazu führen, daß die mitgeteilten Angaben nicht kritisch genug betrachtet werden und daß, wenn ihnen die Äußerung eines nichtbeamteten Sachverständigen entgegensteht, der Beurteiler sich allzu leicht die behördliche Auskunft zu eigen macht. B uchfüh rungsun terl agen Wenn Eintragungen in den Geschäftsbüchern über strittige Vorgänge zugunsten desjenigen lauten, indessenBetriebsie vorgenommen worden sind, so wird oft zweifelhaft sein, ob sie als brauchbares Beweismaterial anerkannt werden können, weil damit gerechnet werden muß, daß sie eigens angefertigt worden sind, um dem Prozeß aufzuhelfen.

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Verläßlichkeitsindizien. Als Zeichen für die Korrektheit der Buchungen kann es in gewisser Weise angesehen werden, -

wenn die einzelnen Geschäftsvorfälle den anerkannten Buchungsgrundsätzen entsprechend vermerkt worden sind;

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wenn keine rechnerischen Fehler vorliegen;

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wenn sämtliche buchungspfl.ichtigen Vorgänge buchmäßig erfaßt wurden;

-

wenn auch sonst der allgemeine Eindruck der Buchführung ein günstiger ist;

-

wenn das offenbar korrekt zustande gekommene buchmäßige Resultat den für diese Branche vorhandenen Erfahrungen entspricht.

Ein umfangreiches Erfahrungsmaterial für die verschiedenen Arten von Betrieben, das dauernd ergänzt und vervollkommnet wird, steht den Steuerbehörden und Finanzgerichten in Form der sog. Meßzahlen zur Verfügung10 • Wo das Buchungsergebnis mit den Meßzahlen nicht in Einklang zu bringen ist, werden seiner Richtigkeit trotz formell ordnungsmäßiger Eintragungen meist Bedenken entgegenstehen. Freilich muß jeweils auch erwogen werden, ob nicht die Besonderheiten des fraglichen Unternehmens oder sonstige Umstände die Abweichung von der Durchschnittserfahrung hinreichend erklären können. In Fällen, wo Belege für die einzelnen Geschäftsvorgänge eingesehen werden können, ist es zweifellos das sicherste Indiz für die Richtigkeit der vorgenommenen Buchungen, wenn auch die Belege geprüft und in Ordnung befunden worden sind.

Wirkung einzelner Fehler auf die Würdigung der Buchführung im Ganzen. Wenn unrichtige Eintragungen festgestellt worden sind, so werden die Bücher dadurch als Beweismittel nicht ohne weiteres untauglich. Vielmehr ist der Fehler entsprechend seiner Eigenart und Schwere zu bewerten und sein Einfluß auf die Vertrauenswürdigkeit der Buchführung zu taxieren. Bisweilen handelt es sich (zumal in kleineren Betrieben) um Unrichtigkeiten, die auf entschuldbarer Unkenntnis beruhen und nicht allzu ernst angesehen werden dürfen. Eine in jeder Hinsicht fehlerfreie Buchführung kommt überhaupt verhältnismäßig selten vor11 • Vielfach läßt sich die Entstehungsweise des Fehlers und seine Tragweite gut klären, so daß es ohne Schwierigkeit möglich ist, seinen Einfluß abzuschätzen und auszugleichen. 10 Hugo Krauer, Die Erfahrungszahlen im schweizerischen Steuerrecht, Diss. Zürich 1952. 11 Einzelheiten zu diesem Abschnitt bei A. Gnam = A. Sirch, Buchführungsschliche (1953) und Th. Mommsen, Modeme Wirtschaftsdelikte

(1954).

20 Dllhring

Der Urkundenbeweis

306

Auch wenn die Buchführung in mehrfacher Hinsicht Mängel aufweist, verliert sie dadurch nicht völlig ihre Brauchbarkeit als Beweismittel. Ist eins der vorhandenen Bücher wegen schwerer Defekte für Beweiszwecke gänzlich unbrauchbar, so können die anderen dazu immerhin wenigstens bedingt tauglich sein. Selbst ausgesprochen schlecht geführte Bücher können gelegentlich in einer bestimmten Hinsicht immerhin soviel Material liefern, daß bei Hinzunahme des sonstigen Beweisstoffes eine leidlich sichere Beurteilung möglich wird.

Verdacht absichtlicher Falschbuchungen. Handelt es sich darum, ob eine einzelne in den Büchern vorhandene Eintragung zur Zeit des Geschäftsvorfalls, der der Buchung zugrundeliegt, vorgenommen oder später zu Täuschungszwecken hinzugesetzt worden ist, so spricht es für die ordnungsmäßige Handhabung, wenn die fragliche Eintragung räumlich von anderen, offenbar korrekt vorgenommenen Buchungen umgeben und derartig in sie eingebettet ist, daß sie nicht gut nachträglich hinzugefügt worden sein kann. Freilich ist das gute Hineinpassen der Eintragung in das Gefüge der übrigen Buchungsvermerke kein sicheres Argument dafür, daß die Eintragung zu dem darin angegebenen Zeitpunkt erfolgt ist, wenn damit gerechnet werden muß, daß das ganze Buch mit Rücksicht auf den schwebenden Prozeß völlig umgeschrieben worden ist. Oft wäre jedoch eine solche nachträgliche Neuanfertigung mit einem Arbeitsaufwand verbunden, der sich für die Beteiligten keinesfalls gelohnt haben würde. Vielfach wird sie auch deshalb unwahrscheinlich sein, weil das Gesamtbild der Eintragungen nicht dafür spricht, daß sie in einem Zuge neu geschrieben worden sind, sondern weil es schwer nachzuahmende Ungleichheiten zeigt, wie sie gerade bei einer ordnungsmäßigen sukzessiven Vornahme der Buchungen zu entstehen pflegen. Würdigung von Urkunden, denen Mängel anhaften

Zeugnisurkunden mit Formfehlern. Sie können unter Umständen trotz des vorhandenen Mangels noch einige Beweiskraft besitzen; so etwa das Protokoll über eine Zeugenvernehmung, das entgegen der gesetzlichen Vorschrift dem Zeugen nicht vorgelesen und ihm auch nicht zum Durchlesen vorgelegt worden ist12 • Wenn der Zeuge zur Nachholung des Versäumten erneut geladen werden kann, wird der Beamte in erster Linie diesen Weg zur Bereinigung der Angelegenheit zu beschreiten haben. Besteht diese Möglichkeit nicht mehr, so kommt es (falls der Gesetzgeber nicht etwa die Verwertung solcher Protokolle völlig untersagt hat) darauf an, inwieweit 11

Gautschi S. 252.

Klarstellung, ob die in der Urkunde gemachten Angaben zutreffen

307

der vorliegende Mangel den Beweiswert der Vernehmungsniederschrift beeinträchtigt.

Unbeglaubigte Abschriften. Zuweilen ist von einer Urkunde, die ohne Zweifel existiert hat, nur noch eine einfache, amtlich nicht beglaubigte Abschrift vorhanden, deren Schwäche eben darin besteht, daß man nicht weiß, ob sie mit dem verlorengegangenen Original übereinstimmt. Je schonungsloser der moderne Krieg ganze Gerichts- und Notariatsarchive vernichtet, desto mehr ist die Tatsachenforschung auf solche abschriftlichen Unterlagen angewiesen, die trotz der fehlenden amtlichen Beglaubigung den Inhalt der Urschrift meist verläßlicher wiedergeben als Zeugen, die das Original seinerzeit gelesen haben und seinen Inhalt aus dem Gedächtnis umschreiben sollen. Für die Frage, ob die Abschrift den Inhalt des Originals richtig wiedergibt, kommt es nicht zuletzt darauf an, wer sie angefertigt hat, auf welche Weise sie zustandegekommen ist und welches Vertrauen man demnach zu ihr haben kann. Manchmal sprechen bei einem Schriftstück, das sich als gerichtliche oder notarielle Beurkundung gibt, schon der Schreibstil, die benutzten technischen Ausdrücke sowie der Gesamtaufbau der Erörterung dafür, daß der Text nicht von den ungewandten Parteien hergestellt worden sein kann, sondern zum mindesten von kundiger Hand gefertigt worden ist. Die Richtigkeit und Vollständigkeit der Abschrift wird vielfach anzunehmen sein, wenn eine Behörde von den ihr vorgelegten, aber wieder zurückgegebenen und inzwischen verlorengegangenen Unterlagen für ihre Zwecke unbeglaubigte Abschriften gefertigt und sie zu ihren Akten genommen hat 13 ; ferner wenn von einem inzwischen durch Bombenschaden vernichteten Testament unbeglaubigte Abschriften erhalten geblieben sind, die nach dem Tode des Erblassers durch das zuständige Nachlaßgericht hergestellt und an die Erben verschickt wurden. Manchmal sind die Beteiligten sogar noch in der Lage, den mit der gleichen Schreibmaschine beschrifteten gerichtlichen Briefumschlag vorzulegen, in welchem ihnen die Testamentsabschrift zugesandt wurde und können dadurch deren gerichtliche Herkunft belegen.

Nachlässigkeiten bei Herstellung der Abschrift. Erscheint nach Lage der Sache eine bewußte Verfälschung des nur abschriftlich erhaltenen Textes ausgeschlossen, so muß immerhin daran gedacht werden, daß einzelne Worte verkehrt abgeschrieben bzw. ganze Sätze oder Halbsätze versehentlich ausgelassen worden sein könnten, ohne daß dies auf den ersten Blick zu erkennen ist. Sind in dem Schriftstück bereits Ab18

20•

RG vom 10. 11. 1900 im "Recht" Jg. 1901, Nr. 102.

308

Der Urkundenbeweis

Schreibfehler gröberer Art festgestellt worden, so muß, wie sich von selbst ergibt, mehr als sonst auch mit weiteren Mängeln gerechnet werden.

Nichtige Verträge als Beweishilfen. Auch Urkunden, die wegen schwerer Gebrechen der rechtlichen Wirkung entbehren, vermögen manchmal zur Klärung des Sachverhalts beizutragen. Sie können, wenn die Abmachungen später in gehöriger Form nachgeholt worden sind, gegebenenfalls .zu deren Auslegung dienen, sofern der nachträglich beurkundete Text in Einzelheiten weniger präzise gefaßt ist, ohne daß offenbar eine sachliche Änderung gegenüber der früheren Formulierung beabsichtigt war. Ebenso kann ein bloßer Vertragsentwurf mitunter zur Interpretation der später perfekt gewordenen Vertragsurkunde beitragen, wenn der Urkundenhersteller in der endgültigen Fassung augenscheinlich das gleiche wie im Konzept zum Ausdruck bringen wollte, sich aber im Konzept deutlicher geäußert hat. Wenn die im Entwurf enthaltene Regelung später geändert worden ist, dann zeigt dieser zum mindesten die ursprünglichen Absichten; er läßt im Vergleich mit der perfekt gewordenen Urkunde den Wandel erkennen, der sich insoweit vollzogen hat und kann dadurch manchmal für die Auslegung der endgültigen Fassung eine sichere Grundlage schaffen. Ist der Entwurf in Maschinenschrift abgefaßt worden, während die Urkunde selbst später mit der Hand geschrieben wurde, dann können die in der letzteren enthaltenen unleserlichen Stellen unter Umständen mit Hilfe des Entwurfs entziffert werden. Das gleiche gilt, wenn zwar das Konzept und die perfekt gewordene Urkunde beide handschriftlich abgefaßt wurden, aber das Konzept besser lesbar ist. In einem praktischen Fall hatte der Erblasser trotz der rapiden Abnahme seiner Kräfte die letzten Tage vor seinem Tode unentwegt damit zugebracht, sein Testament zu schreiben und auf diese Weise neben einem vollständigen, durch Unterschrift vollzogenen, aber großenteils unleserlichen Testament vier nicht unterschriebene und auch sonst nicht fertiggewordene Entwürfe hinterlassen. Hier war es mit Hilfe der vier Entwürfe, die- wie sich ergab- alle den gleichen Wortlaut hatten und bei denen bald die Niederschrift der einen, bald die der anderen Partie besser gelungen war, möglich, den Text der einzigen vollständigen Testamentsurkunde schließlich einwandfrei zu entziffern.

Würdigung von kommissarischen Zeugenvernehmungen. Die Notwendigkeit zum Arbeiten mit Vernehmungsprotokollen, die nicht vom Beurteiler selbst, sondern von einem anderen Beamten auswärts aufgenommen worden sind, ergibt sich nicht nur für den Richter. Vielmehr muß auch der Staatsanwalt sich oftmals auf Vernehmungsnieder-

Klarstellung, ob die in der Urkunde gemachten Angaben zutreften

809

schriften stützen, die nicht von ihm, sondern von einer anderen Dienststelle stammen. In gleicher Weise kommt der Polizeibeamte nicht selten in die Lage, beim Schlußbericht Bekundungen würdigen zu müssen, die ohne seine Mitwirkung zustandegekommen sind. In solchen Fällen steht dem Sachbearbeiter nicht der persönliche Eindruck zur Verfügung, den die Aussageperson bei der Vernehmung gemacht hat. Es fehlt ihm auch jene spezielle Kenntnis vom Hergang der Befragung, die derjenige besitzt, der diese durchgeführt hat. Mithin fallen ganze Gruppen von Beweisanzeichen weg, die dem Tatsachenforscher sonst die Auffindung der Wahrheit erleichtern können. Bei einer lediglich auf das Protokoll gegründeten, durch kein weiteres Material unterstützten Würdigung ist besondere Umsicht notwendig14 • Es kommt dabei einerseits darauf an, daß die in der Niederschrift vorhandenen Anhaltspunkte voll ausgenutzt werden, und andererseits darauf, daß den in ihr enthaltenen Indizien keine übertriebene, ihnen nicht zukommende Bedeutung beigemessen wird. Häufig liegt die Gefahr nahe, daß der Sachbearbeiter der Niederschrift in einzelnen Punkten größere Exaktheit beilegt, als diese offenbar besitzt. Es werden dann Redewendungen im Text der Vernehmung, denen man es ansieht, daß sie vielleicht ein reines Zufallsprodukt darstellen, zu ernst genommen. Die Versuchung dazu ist vor allem groß, wenn der Beurteiler in einem bestimmten Punkt unbedingt eine klare Auskunft haben möchte und sie mangels anderer Beweismittel nur in dem fraglichen Vernehmungsprotokoll finden könnte. Er täuscht sich dann mitunter darüber, wie nichtssagend bzw. wie fragwürdig die Belege sind, die er für die von ihm in Aussicht genommene Tatsachenfeststellung in der kommissarischen Zeugenaussage vorfindet.

Arbeiten mit unzulänglichen Vernehmungsniederschriften. Ist die Befragung allzu summarisch durchgeführt worden, so läßt sich das Fehlende auch durch geschickte Auslegung in der Regel nicht ergänzen. Dem Sachbearbeiter bleibt, falls er zu der Überzeugung gelangt, daß der Vernehmungsbeamte die Möglichkeiten zur Aufklärung nicht ausgeschöpft hat, meist nichts übrig, als die Beweisperson selbst nochmal zu hören. Das wird vor allem dann nötig sein, wenn nicht zu erkennen ist, auf welche Weise der Vernommene seine Sachkunde erlangt hat, und deshalb auch nicht festgestellt werden kann, wie nahe oder wie fern er dem Sachverhalt steht; ferner wenn der Aussagende, obwohl er zu konkreten Angaben über bestimmte Punkte imstande sein müßte, seine Bekundungen so abstrakt gehalten hat, daß sich aus ihnen kein zuverlässiges Bild von der Sache gewinnen läßt; schließlich wenn die 14

Im Ergebnis ebenso R. v. Hippel, Strafprozeß S. 390.

810

Der Urkundenbeweis

Beweisperson nicht nur Fakten mitgeteilt, sondern auch eine Beurteilung abgegeben hat und nicht zu ersehen ist, auf welche Weise sie zu dieser gelangte und welche Maßstäbe sie dabei zugrunde legte. Für die Bewertung von Vernehmungsprotokollen, die nicht im gegenwärtigen Rechtsstreit, sondern in einem früheren Verfahren aufgenommen worden sind, gelten noch einige Besonderheiten. In solchen Fällen kann es für die Würdigung von Wichtigkeit sein, ob es sich bei dem früheren Prozeß um ein Strafverfahren gehandelt hat oder um einen Zivilrechtsstreit, ob die damalige Stellungnahme vor dem Finanz- oder Sozialgericht, im Disziplinarverfahren oder gegenüber der Zollfahndungsstelle abgegeben worden ist. Manchmal hat sich der jetzige Zeuge seinerzeit als Beschuldigter oder als Zivilprozeßpartei über den gleichen Sachverhalt zu äußern gehabt. Dieser Wechsel in seiner prozessualen Stellung nötigt meist zur Vorsicht bei der Beweiswürdigung. Es muß berücksichtigt werden, daß der gegenwärtig zu klärende Punkt vielleicht im Vorprozeß nur nebenbei erörtert und daher möglicherweise nicht mit konzentrierter Aufmerksamkeit erforscht worden ist usw. 15 •

Schriftliche Aussagen, die nicht auf mündlicher Erörterung mit dem Vernehmenden beruhen. Es gibt Fälle - und sie sind gar nicht so selten -, in denen der Aussagende seine Stellungnahme allein erarbeitet, formuliert und zu Papier gebracht hat, ohne vom Vernehmenden dabei kontrolliert worden zu sein. Man denke an die dienstliche Äußerung eines Beamten, an das Gutachten eines Sachverständigen, das dieser lediglich schriftlich erstattet; ferner an Stellungnahmen, die Zeugen in bestimmten Ausnahmefällen ohne mündliche Befragung abgeben dürfen 18 ; an eidesstattliche Versicherungen, die jemand der Prozeßpartei zur Verwendung im Rechtsstreit gegeben hat usw. In allen diesen Fällen fehlt der regulierende Einfluß des Vernehmenden, der den Denkvorgang, wie er sich in der Beweisperson vollzieht, überwacht und nötigenfalls in die richtige Bahn lenkt; der einer tendenziösen Aussageperson das Ausweichen erschwert, sie zur Überprüfung ihrer Darstellung nötigt und auf diese Weise unter Umständen ein höchst aufschlußreiches Beurteilungsmaterial herbeischafft. Den geringsten Beweiswert aus dieser Gruppe haben meist eidesstattliche Versicherungen, die ein Dritter der Prozeßpartei auf ihr Verlangen erteilt. Wie leichtfertig sie gegeben werden, zeigt sich allzu oft, 15 Ebenso v. Kries in der Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 6, S. 96 und Hegler: Rechtsgang, Jg. 1915, S. 417 (keine Garantie des gleichen Gesichtswinkels). 16 § 251 Abs. 2 StPO, § 377 Abs. 3 ZPO, § 175 Abs. 2 Reichsabgabenordnung V. 13. 12. 1919.

Klarstellung, ob die in der Urkunde gemachten Angaben zutreffen

811

wenn der Betreffende später über die gleiche Frage als Zeuge vernommen wird und dabei genötigt ist, seine früheren schriftlichen Angaben zurückzunehmen oder doch einzuschränken. Nicht selten ergibt sich dann auch, daß der Zeuge die eidesstattliche Versicherung gar nicht selbst verfaßt hat, daß sie vielmehr von der Partei in mehr oder weniger tendenziöser Weise aufgesetzt und vom Zeugen ohne kritische Prüfung des Inhalts unterschrieben worden ist. Behörden und Gerichte, die viel mit derartigen privaten Versicherungen, Bestätigungen und Bescheinigungen zu arbeiten haben, besitzen in dieser Hinsicht ein umfangreiches, meist wenig erfreuliches ErfahrungsmateriaL

Zweites Kapitel

Die Augenscheinseinnahme Prinzipielle Bemerkungen

Ihre Wesensmerkmale. Die Einnahme des Augenscheins ist eine Handlung, durch die der Wahrheitsforscher zum Zweck der Sachaufklärung von einem konkreten Gegenstand selbst Kenntnis nimmt, statt sich von anderen darüber berichten zu lassen. Der Augenschein kann sich, obwohl das Wort lediglich auf Wahrnehmungen hinweist, die mit Hilfe der Augen erfolgen, auf Beobachtungen jeder Art beziehen; also auch auf solche, die durch das Ohr, die Nase und den Tastsinn vermittelt werden (Feststellung, inwieweit durch einen gewerblichen Betrieb Lärm, Rauchentwicklung oder unangenehme Gerüche hervorgerufen werden). Der Augenschein kann bewegliche Objekte betreffen, die ins Polizeibüro bzw. in den Gerichtssaal gebracht worden sind oder solche, die an Ort und Stelle besichtigt werden müssen; er kann sich nicht nur auf leblose Gegenstände beziehen, sondern auch auf Tiere und Menschen. Die Kenntnisnahme des Sachbearbeiters erfolgt entweder mit unbewaffnetem Auge oder unter Zuhilfenahme besonderer Apparaturen (Mikroskop, Fernglas). Sie kann sich moderner technischer Vermittlungsvorrichtungen bedienen, die wie die Photographie und das Tonband eine Konservierung der in Augenschein zu nehmenden Einzelheiten auf lange Sicht ermöglichen. Oft richtet sich die Augenscheinseinnahme nicht unmittelbar auf das zu besichtigende Objekt selbst, sondern auf Surrogate wie Lagepläne, Landkarten und dergleichen. Wie beim Zeugenbeweis die Aussage des Vernommenen und beim Urkundenbeweis die Urkunde das Beweismittel darstellt, so muß hier das Objekt, auf das sich der Augenschein richtet, als das eigentliche Beweismittel angesehen werden\ während die Augenscheinseinnahme 1 Eindringende, wenn auch nicht allenthalben billigenswerte Ausführungen zu dieser viel erörterten Frage bei N. T. Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses (1804) II.274, 412 ff.; wie im Text Fr. Stein, Grundriß des Zivilprozeßrechts S. 256, 264 ff.; Beling S. 290; J. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage (1925) S. 437. Aus dem Schrifttum der letzten Jahre sind vor

Prinzipielle Bemerkungen

313

ähnlich wie die Vernehmung des Zeugen oder die Kenntnisnahme vom Urkundeninhalt den Vorgang bezeichnet, durch den das Beweismittel für die Wahrheitstindung nutzbar gemacht wird. Im System des Beweisrechts nimmt der Augenschein eine eigenartige Stellung ein: Der Zeuge ist in erster Linie nicht Augenscheinsobjekt, sondern Übermittler von Nachrichten. Auch die Urkunde ist Nachrichtenträger, weil sie regelmäßig eine Gedankenäußerung enthält und somit Aussagequalität besitzt. Das Augenscheinsobjekt dagegen bringt dem Wahrheitsforscher zwar (wie jedes Beweismittel) etwas für die Sachklärung Wissenswertes zu. Aber der Beweisstoff bietet sich dem Sachbearbeiter hier nicht in einer von Menschen geformten Gedankenäußerung, sondern sozusagen im Rohzustand dar. Der Augenschein fällt daher in die Gruppe der Sachbeweise hinein. Er gehört zu den Beweismitteln, die lediglich durch ihre Sachqualität für die Wahrheitstindung Bedeutung erlangen2 • Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß nicht nur leblose Gegenstände, sondern gegebenenfalls auch Personen zum Objekt des Augenscheins werden können; so wenn der Ermittlungsbeamte bzw. der Richter die Kopfwunde des Verletzten besichtigt und die dabei gemachten Beobachtungen für die Wahrheitsfindung verwertet.

Unterschiedliche Formen des Augenscheins. Im Gesetz ist nur von der Augenscheinseinnahme die Rede, die in Anwesenheit sowie unter tätiger Mitwirkung der Parteien vor sich geht und deren Ergebnis zu Protokoll genommen wird. Daneben finden im Prozeß aber zahlreiche formlose Besichtigungen und Kenntnisnahmen statt, die nicht im Verhandlungsprotokoll festgehalten werden und doch große Bedeutung für die Rekonstruktion des Sachverhalts und die Entscheidung haben können. Dahin sind unmittelbare Wahrnehmungen des Sachbearbeiters zu rechnen, die sich auf das Mienenspiel des Zeugen, die Körperkraft des Beschuldigten, seine nervenmäßige Verfassung, die Art, wie er sich gibt und vieles andere beziehen3• Wichtigkeit der unmittelbaren Besichtigung. Ihr hoher Wert als Beweiselement läßt sich nicht voll ermessen, wenn man nur die gesetzlich geregelten Fälle der Augenscheinseinnahme in Betracht zieht, wie die Prozeßrechtswissenschaft das bisher vorwiegend getan hat. Ihre Bedeutung für die Wahrheitstindung nimmt ständig zu, je mehr infolge von allem hervorzuheben die Züricher Dissertation von Hans Ulrich Walder, Die Stellung des Augenscheinsrichters im glarnerischen Zivilprozeßrecht (1953) S. 183 und der gedankenreiche Aufsatz von Bruns: Juristenzeitung Jg. 1957, s. 492. 2 Ebenso Beling S. 290, Wyschinski S. 295. 3 Aus der Rechtsprechung: RG Str Bd. 39, S. 303 ff.

314

Die Augenscheinseinnahme

neuen Untersuchungsmethoden selbst ganz geringfügige Sachmerkmale für die Aufklärung verwertet und den Verfahrensbeteiligten durch Photos, Diagramme und ähnliche Hilfsmittel zugänglich gemacht werden können.

Auftreten der Augenscheinseinnahme im Zusammenhang mit Beweisführungen der verschiedensten Art. Es ist bemerkenswert, daß sich der Augenscheinsbeweis schwerer als etwa der Zeugen- und der Urkundenbeweis auf ein engeres, nur ihm zugehöriges Gebiet festlegen läßt. Er durchdringt die ganze Tatsachenfeststellung und kann sich mit jedem der gesetzlich zugelassenen Beweismittel verbinden. Wir finden ihn nicht nur bei der Besichtigung des Tatorts und der Werkzeuge, mit denen das Delikt ausgeführt worden ist. Vielmehr kommt er im Rahmen des Personalbeweises - wie bereits dargelegt - überall zur Geltung, wo die Mimik und Gestik der Aussageperson während der Vernehmung sowie das, was sonst noch zum persönlichen Eindruck gehört, für die Wahrheitsfindung verwertet werden soll. Im Bereich des Urkundenbeweises ist die Augenscheinseinnahme ebenfalls unentbehrlich.

Verläßlichkeit der Augenscheinsergebnisse? Man hat viel darüber gestritten, ob das, was der Beurteiler im Verfahren durch seine unmittelbare Beobachtung feststellt, als verläßlich anzusehen ist oder nicht. Bedeutende Gelehrte wie Andreas Heusler haben die Ansicht vertreten, daß solche Wahrnehmungen den denkbar sichersten Beweis darstellten und in der Regel volle Gewißheit gäben4 • Diese Auffassung gründete sich nicht zuletzt darauf, daß die Situation des Beurteilers hier insofern eine besonders günstige ist, als er sich nicht - wie sonst regelmäßig von Dritten über die tatsächlichen Einzelheiten belehren zu lassen braucht, sondern selbst von ihnen Kenntnis nehmen kann. Andere Autoren haben sich weit weniger optimistisch geäußert. Ein Teil der Schriftsteller hält ein gewisses Mißtrauen des Wahrheitsforschers gegenüber seinen unmittelbaren Wahrnehmungen für angebracht. Friedrich Stein erklärt sogar geradezu, keine Stütze für die Wahrheitstindung sei schwächer als die der eigenen Sinneswahrnehmung des Beurteilers5. 4 A. Heusler, Die Grundlagen des Beweisrechts: Archiv für Zivilistische Praxis Bd. 62 (1879) S. 238 ff. Als besonders sicher wurde das Ergebnis des richterlichen Augenscheins auch angesehen von Planck (Lehrbuch II.261 ff.) und Rich. Schmidt (JW 1913 S. 767 ff.); in neuerer Zeit nähern sich dieser Ansicht K. Engisch, Logische Studien S. 62 f., 68 f. und W. Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre S. 184. 5 Privates WissenS. 29. Sehr skeptisch äußert sich M. Rumpf; er bezeichnet den Augenschein als das Hätschelkind der sensualistischen Psychologie, die der sinnlichen Wahrnehmung einen viel zu hohen Wert beigemessen habe

Prinzipielle Bemerkungen

315

Beide Auffassungen enthalten Elemente, die der Anerkennung wert sind. Aber in solcher Allgemeinheit müssen sie irrige Vorstellungen hervorrufen. Erst eine konkrete Erörterung kann Ergebnisse zeitigen, die dem Wahrheitsforscher für den Ernstfall eine brauchbare Richtlinie geben:

Vorzüge und Nachteile des Augenscheinsbeweises. Im Grunde unterliegt der Richter (der Ermittlungsbeamte) bei der Augenscheinseinnahme den gleichen Fehlermöglichkeiten wie der Zeuge, wenn dieser Wahrnehmungen macht und sie zu einer Aussage formt. Er ist wie der Zeuge in Gefahr, schon im Stadium der Beobachtung zu irren. Ihm können infolge von Erwartungssuggestionen oder auf Grund sonstiger Suggestivwirkungen Fehler unterlaufen. Er kann durch unrichtige Verarbeitung seiner Wahrnehmungen zu einem falschen Ergebnis kommen oder sich unter dem Einfluß eines Vorurteils, mit dem er an die Sache herangeht, von der Wahrheit entfernen6 • Auch vor Erinnerungstäuschungen ist er nicht völlig sicher. Das alles wird im einzelnen noch näher zu erläutern sein. Freilich nimmt der Sachbearbeiter im Prozeß meist unter sehr viel günstigeren Bedingungen wahr als ein Gelegenheitszeuge, der zur Zeit der Beobachtung oft nicht voraussehen kann, daß er später genötigt sein wird, darüber auszusagen und daher keinen Anlaß sieht, sich um eine zuverlässige Erfassung der Einzelheiten zu bemühen. Der Sachbearbeiter im Augenscheinstermin weiß, daß es auf genaue Wahrnehmungen ankommt und wird daher von vornherein mit konzentrierter Aufmerksamkeit beobachten. Er kann sich hierfür zudem mehr Zeit nehmen, als der Zeuge für die Auffassung der Tatsachen zur Verfügung gehabt hätte. Störungen des Beobachtungsvorgangs lassen sich bei der Ortsbesichtigung durch geeignete Vorkehrungen weitgehend ausschalten. Es kommt hinzu, daß der Leiter der Ortsbesichtigung in der Regel zusammen mit den Parteien sowie gemeinsam mit den etwa hinzugezogenen Sachverständigen die Einzelheiten wahrnimmt. Es handelt sich also um eine Kollektivbesichtigung, deren Ergebnis durch die Mitwirkung der sich gegenseitig kontrollierenden Prozeßbeteiligten gegen Irr("Der Strafrichter" !.79); vgl. auch Alsberg-Nüse, Der Strafantrag S. 272 ff. sowie Helm. Mayer: Festschrift für Mezger (1954) S. 460 f. In der Rechtsprechung hat vor allem das Urteil RGZ Bd. 15 S. 339 betont, daß selbst im Falle unmittelbarer Anschauung aller Prozeßbeteiligten, wie sie während des Besichtigungstermins vorliegt, Fehler möglich sind. 8 Wigmore S. 645 ff. Auf die mit dem Augenschein zusammenhängenden erkenntniskritischen Probleme kann nur andeutungsweise eingegangen werden.

316

Die Augenscheinseinnahme

turn verhältnismäßiggutgesichert isf. Erinnerungsfehler werden, wenn das Ergebnis der Besichtigung sogleich schriftlich fixiert und dabei alles Wesentliche zu Protokoll genommen wird, ebenfalls nicht allzu oft vorkommen. Dies sind in der Hauptsache die Erwägungen, die zu der Auffassung Anlaß geben konnten, daß der Augenschein die sicherste Beweisart sei. Bei einfacheren Wahrnehmungen ist im Augenscheinstermin in der Tat meist volle Gewißheit hinsichtlich der dort beobachteten Einzelheiten erreichbar. Wenn der Beamte in einer Verkehrsstrafsache zu Protokoll feststellt, daß die Straße in der Unfallkurve 5 m breit ist, daß sie eine Asphaltdecke hat und daß am Straßenrand Bäume stehen, so wird ihm dabei kaum ein Irrtum unterlaufen.

Einzelne Gefahrenpunkte. Größer sind die Fehlermöglichkeiten, wenn es sich um die Feststellung von Momenten handelt, die auch von einem aufmerksamen Beobachter möglicherweise unrichtig aufgefaßt werden können; so etwa wenn in dem eben gegebenen Beispiel (5 m breite Asphaltstraße, von Pappeln umsäumt) in der Niederschrift weiterhin gesagt wird, daß die Pappeln die Sicht in der Kurve "nur wenig" behindern. Es kommt dabei nämlich unter Umständen auch darauf an, wie hoch der Fahrer sitzt, ob die Bäume belaubt sind oder nicht usw. Oft liegt jedoch die Gefahr fehlerhafter Beobachtungen bei der Augenscheinseinnahme weniger darin, daß die wahrgenommenen Einzelheiten nicht korrekt gesehen worden sind als vielmehr darin, daß nicht alles bemerkt wurde, daß dadurch etwas Wichtiges verlorenging und auf diese Weise ein falsches Bild zustande gekommen ist. Wie leicht das unter Umständen geschehen kann, hat Prof. Karl Ponsold an einem eigenen Erlebnis gezeigt, das von ihm in freimütiger Weise beschrieben worden ist. Er hatte in einer Strafsache wegen Totschlags Photos einer weiblichen Leiche vorgelegt erhalten. Der Beschuldigte behauptete, er habe der Frau während der geschlechtlichen Beiwohnung in Zärtlichkeitsahsicht an den Hals gegriffen; infolgedessen sei sie gestorben. Ponsold war von vornherein der Ansicht, daß die auf den Photos am Hals der Toten sichtbare Spur kaum von einem Zugreifen des Beschuldigten herrühren könne, hatte aber auf den Lichtbildern zunächst keinen festen Anhaltspunkt für die Widerlegung dieser Darstellung gefunden. Den weiteren Fortgang der Aufklärungsbemühungen schildert er wie folgt: "Die Hauptverhandlung wurde mit einer außergewöhnlichen Gründlichkeit durchgeführt und an den ersten beiden Tagen, als nur von den wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen des Angeklagten die 7

Glaser, Handbuch !.658.

Prinzipielle Bemerkungen

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Rede war, hatte ich die bisher vorliegenden Abbildungen und eine Reihe neuer Abbildungen, wie sie von der Polizei am Tatort gemacht worden waren, auf meinem Tisch ausgebreitet. Ich sah mir nun Abbildung für Abbildung genauestens an, und erst am zweiten Tage- ich muß mich schämen, daß ich es erst am zweiten Tage entdeckte - sah ich, daß sich in der Fortführung des Streifensam Halse zum Ohr hin Abdrücke eines Stricks befanden. Ich muß sagen: Eineinhalb Tage habe ich über diesen Bildern gebrütet, ohne weiterzukommen und mit einem Schlage war mir klar, was ich schon vermutete" 8 • Dieses Beispiel macht deutlich, wie schwer es trotz spezieller Schulung des Beobachters und trotz Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf den richtigen Punkt manchmal ist, alles Sachdienliche wahrzunehmen. Sehr viel geringer ist begreiflicherweise die Chance, daß die maßgebenden Umstände vollständig bemerkt werden, wenn es dem Wahrheitsforscher an der Routine für solche Besichtigungen fehlt. Zu enge Blickrichtung als Hindernis. Was der Beobachter von den zahlreichen Einzelheiten, die er während der Augenscheinseinnahme an Ort und Stelle vor sich hat, wahrnimmt und verwertet, hängt weitgehend davon ab, für welche Umstände er aufgeschlossen ist und auf welche Momente er vorzugsweise sein Augenmerk richtet. Nicht selten wird der Sachbearbeiter durch die einseitige Haltung gehemmt, mit der er an seine Aufgabe herangeht. Sie kann zur Folge haben, daß er auf bestimmte Wahrnehmungen, die an sich naheliegen, nicht gefaßt ist und daß sie ihm deshalb entgehen. Er neigt dann unter Umständen dazu, von mehreren Möglichkeiten des Verlaufs eine bestimmte zu Unrecht gar nicht in Betracht zu ziehen. Infolgedessen treten vielleicht auch gewisse tatsächliche Einzelheiten, die sich auf diese Möglichkeit beziehen, nicht in seinen Gesichtskreis. Manchmal wird der Betrachter durch eine fragwürdige Arbeitshypothese in die verkehrte Richtung gelenkt. Aber auch unbewußte Zielsetzungen und Tendenzen können die Sinnesorgane von vornherein ablenken und die Wahrnehmungstätigkeit schon im Anfangsstadium lähmen. Unzulängliche Verarbeitung. Nicht nur die bei der Augenscheinseinnahme gemachten Beobachtungen können fehlerhaft sein, sondern auch die sich daran anschließende Gedankenarbeit, die der Wahrheitsforscher bei Vornahme der Besichtigung ebenso zu leisten hat wie der Zeuge (S. 105). Stellt der Leiter des Ortstermins (um bei dem Beispiel eines Verkehrsunfalls zu bleiben) z. B. fest, daß die Unfallstelle sich bereits außerhalb der geschlossenen Ortslage befindet oder daß ein bestimmtes Verkehrszeichen, so wie es zur Zeit aufgestellt ist, irreführend wirkt, 8

In: Kalicinski-Knoche, Die Polizei und ihre Aufgaben (1957) S. 202.

318

Die Augenscheinseinnahme

dann ist dazu bereits eine geistige Arbeit nötig, die über ein einfaches Wahrnehmungsurteil weit hinausgeht.

Unkontrollierte Schlußfolgerungen. Mitunter hat die durch Augenschein vermittelte Beobachtung auch noch gefühlsmäßige Nachwirkungen, die dem Betrachter bestimmte, unter Umständen verkehrte Schlußfolgerungen nahelegen. Vor allem dort, wo mit der Augenscheinseinnahme ein starkes Erlebnis verbunden ist, besteht die Gefahr, daß den gemachten Wahrnehmungen gleichsam instinktiv Schlußfolgerungen hinzugefügt werden, die sich keineswegs von selbst verstehen, sondern auf ihre Berechtigung sorgfältig untersucht werden müssen. Ein Messer oder ein Gewehr, das als Beweisstück vorgelegt wird, macht auf den Beobachter merkwürdigerweise manchmal einen tiefen Eindruck, obwohl vielleicht noch nicht einmal feststeht, daß es für die zu untersuchende Straftat benutzt worden ist. Der Betrachter (und zwar nicht nur der Laienrichter, sondern zuweilen auch der berufsmäßige Wahrheitsforscher) scheint im Unterbewußtsein den Schrecken zu empfinden, der ihn befallen würde, wenn er diese Waffe auf sich gerichtet sähe. Das durchschossene Herz einer Frau, das- in Spiritus konserviertwährend der ganzen Verhandlung auf dem Gerichtstisch steht, kann eine starke Anteilnahme für die Getötete und eine entsprechende Antipathie gegen den Angeklagten schaffen, auch wenn dessen Täterschaft noch keineswegs völlig klargestellt ist.

Obermächtige Gewalt dessen, was man sieht. Augenscheinsobjekte dieser Art machen auf den Sachbearbeiter nicht selten einen Eindruck, der über ihren wirklichen Beweiswert weit hinausgeht. Sie wirken, auch wenn ihre wahrheitweisende Kraft sehr gering ist, manchmal stärker als irgendwelche verstandesmäßigen Überlegungen. Das mit ihrem Anblick verbundene Erlebnis wird dann unter Umständen unberechtigterweise zu einem Hauptgesichtspunktfür die Tatsachenforschung: Die am Verfahren Beteiligten wissen zwar, daß der Angeklagte seine Täterschaft bestreitet und daß er erst überführt werden muß. Aber der menschliche Geist hält sich in zweifelhaften Fällen gern an das, was handgreiflich vor Augen ist9 • DieTeilnehmer an der Verhandlung haben den Angeklagten nun einmal ständig in ihrem Blickfeld gehabt und neigen, wenn ein anderer Tatverdächtiger zur Zeit nicht bekannt ist, dazu, die ihnen vorgeführten Einzelheiten der Tatbegehung mehr oder minder mit seiner Person zu verbinden und ihm zuzurechnen. Man denke etwa an den Fall, daß dem Angeklagten vorgeworfen wird, ein 9

Scheuerle im Archiv für zivilistische Praxis Bd. 152 (1952/53) S. 359.

Prinzipielle Bemerkungen

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Eisenbahnattentat begangen zu haben und die grauenerregenden Einzelheiten des Tatvorgangs dem Beurteiler durch Photos zur Kenntnis gebracht werden. Diese Gefahr ist übrigens nicht nur bei Untersuchung von Kapitalverbrechen gegeben. Auch in ganz simplen Fällen kann es dahin kommen, daß die unmittelbare Wahrnehmung, die der Augenschein verschafft, den Wahrheitsforscher um seine ruhige Überlegung bringt und seinen kritischen Sinn lähmt, der sich bei anderen Beweisführungen, wie z. B. bei der Vernehmung von Zeugen, nicht so leicht hätte außer Kraft setzen lassen. Man hat vor allem in England von jeher auf solche Situationen Obacht gegeben. Dort setzte Lord Thomas Erskine als Verteidiger im Horne Tooke Case durch, daß die Verlesung eines für den Angeklagten nachteiligen Schriftstücks in der Hauptverhandlung vom Gerichtsvorsitzenden untersagt wurde, weil damit gerechnet werden mußte, daß es sich um eine Fälschung handelte. Der Richter ging dabei von der einleuchtenden Erwägung aus, daß die Urkunde, obwohl ihre Echtheit nicht feststand, bei den Geschworenen starke affektive Wirkungen gegen den Angeklagten hervorrufen könnte. Er sah voraus, daß sie sich von den auf diese Weise zustande gekommenen Eindrücken möglicherweise nicht wieder würden freimachen können, selbst wenn das Schriftstück später als gefälscht erwiesen werden sollte. Gewiß wird der berufsmäßige Wahrheitsforscher sich auf Grund seines ständigen Trainings leichter als die Geschworenen von solchen irreführenden Eindrücken lösen können. Aber auch für ihn ist je nach seiner Veranlagung manchmal eine ungewöhnliche Selbstzucht nötig, wenn er sie aus seinen Überlegungen über den Fall ganz und gar verbannen will.

Allgemeine Richtlinie. Eigenliebe und Selbstgerechtigkeit können dem Sachbearbeiter bei der Augenscheinseinnahme einen Streich spielen. Es muß daher von ihm verlangt werden, daß er sich, zumal wenn ein komplizierterer Sachverhalt erfaßt werden soll, die Frage stellt, ob er richtig und vollständig beobachtet hat. Die verständliche Neigung, das, was man unmittelbar wahrgenommen zu haben glaubt, ohne weitere Prüfung für richtig und maßgebend zu halten, ist meist viel zu groß. Die Theorie hat die in dieser Hinsicht oft allzu stark ausgeprägte Selbstsicherheit auf das richtige Maß zurückzuführen. Das mag die zu diesem Problem gemachten ausführlichen Darlegungen rechtfertigen. Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei noch darauf hingewiesen, daß der hier erörterte Fragenkomplex nichts mit dem philosophischen Streit darüber zu tun hat, ob der menschliche Geist imstande ist, die Wirklichkeit selbst zu erfassen oder ob ihm nur Sinnbilder bzw. Gleichnisse der Wirklichkeit zugänglich sind. Es wird an dieser Stelle

320

Die Augenscheinseinnahme

lediglich auf bestimmte Fehlermöglichkeiten bei der Augenscheinseinnahme hingewiesen, die durch die Eigenart des menschlichen Geistes bedingt sind, und zu zeigen versucht, wie sie ausgeschaltet werden können. Auch wenn man der Ansicht ist, daß der Mensch die Wirklichkeit unmittelbar zu erfassen vermag, besteht Anlaß, ihn zu strenger Selbstkritik gegenüber seinen Wahrnehmungen im Ortstermin usw. anzuhalten. Keine philosophische Richtung, welcher Art sie auch sein mag, kann es sich leisten, den Tatsachenforscher in seinem mitunter kindlichen Glauben an die unbedingte Verläßlichkeit des von ihm unmittelbar Wahrgenommenen allzu sehr zu bestärken. Unzulänglichkeiten des besichtigten Gegenstands

Inaugenscheinnahme eines falschen Objekts. Trotz sorgfältiger Betrachtung der dem Ermittlungsbeamten bzw. dem Richter vorgelegten oder von ihm an Ort und Stelle aufgesuchten Sachen sind die daran gemachten Wahrnehmungen nutzlos und geradezu irreführend, wenn der Zusammenhang des Augenscheinsobjekts mit dem zu klärenden Vorfall nicht hinreichend gesichert ist. Daran fehlt es z. B., wenn das besichtigte Überführungsstück versehentlich verwechselt oder absichtlich ausgetauscht worden ist, wenn also eine Schußwaffe als zu dieser Sache gehörig vorgelegt wird, während sie zu einem anderen oder zu gar keinem Strafverfahren in Beziehung steht. Auch bei der Tatortbesichtigung kann gelegentlich zweifelhaft sein, an welcher Stelle das Delikt begangen worden ist. Besonders in Verkehrsstrafsachen kann es leicht geschehen, daß zwei sich begegnende Kraftwagen einander streifen und sich dabei gegenseitig leicht beschädigen; wenn sie beide weiterfahren und die Zusammenstoßstelle nicht etwa durch Splitterwirkung markiert ist, kann bei der Ortsbesichtigung Ungewißheit darüber bestehen, wo eigentlich der Unfall passiert ist und welche Straßenstelle in Augenschein genommen werden muß.

Das Augenscheinsobjekt ist nach der Tat umgestaltet worden. Steht fest, welches der zu besichtigende Tatort ist, so kann gleichwohl fraglich sein, ob sich die Örtlichkeit zur Zeit des Ortstermins noch in dem gleichen Zustand wie zur Tatzeit befindet. Nur geringe Schwierigkeiten werden in dieser Hinsicht auftreten, wenn die Besichtigung sofort nach der Deliktsbegehung erfolgt und inzwischen niemand Zugang zum Tatort gehabt hat; so etwa, wenn eine Polizeistreife den Einbrecher auf frischer Tat ertappt und sogleich ihre Feststellungen trifft. Kann dagegen der Augenschein erst später eingenommen werden, dann sind fast stets irgendwelche Veränderungen eingetreten. Man denke etwa an einen Autozusammenstoß, der sich bei nebligem Wetter

Unzulänglichkeiten des besichtigten Gegenstands

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ereignet hat. Wie dicht der Nebel zur fraglichen Zeit an der Unfallstelle war, läßt sich vielleicht schon nach ein bis zwei Stunden nicht mehr durch Ortsbesichtigung feststellen. Wieweit die zur Tatzeit noch belaubten Bäume am Straßenrand die Sicht erschwerten, ist, nachdem im Herbst die Blätter gefallen sind, nicht mehr durch Augenschein zu klären. Wenn feststeht, daß die Unfallstelle sich inzwischen nicht verändert hat und daß auch die allgemeinen Sichtverhältnisse (starker Regen, hereinbrechende Dämmerung) bei der Augenscheinseinnahme etwa die gleichen sind wie zur Zeit der Tat, so können trotzdem bei der Besichtigung aus Gedankenlosigkeit allerlei Fehler vorkommen: Ist der Beschuldigte mit seinem Wagen kurz vor dem Unfall aus dem hellen Tageslicht binnen kurzem in einen stark verschatteten Straßenteil gekommen und dort auf ein Hindernis aufgefahren, so gewinnen die Prozeßbeteiligten bezüglich der Frage, was der Beschuldigte bei Annäherung an die Unfallstelle sehen konnte, ein falsches Bild, wenn sie sich im verschatteten Bereich längere Zeit aufhalten und von dort aus ihre Feststellungen treffen, ohne die Umstellung des Auges von hell auf dunkel durchgemacht zu haben. Solche Fehler können nur durch eine möglichst genaue Wiederholung des Tatvorgangs (S. 322) vermieden werden10 • Sind seit der Tatzeit mit dem Augenscheinsobjekt Veränderungen vor sich gegangen, so muß nach Klarstellung, wie die Situation zur Zeit des Vorfalls gewesen ist, versucht werden, von den nachträglichen Abweichungen abzusehen. Mitunter macht das beträchtliche Schwierigkeiten. Wenn die zu besichtigende Höllenmaschine auf dem Transport zur Polizeidienststelle oder zum Gericht beschädigt worden ist, so kann man sich auf Grund der vorhandenen Teile unter Umständen noch eine ziemlich gute Anschauung von ihrem früheren Zustand verschaffen. Ist die durch eine Schlägerei verursachte Wunde bereits teilweise verheilt, so wird der Beurteiler sich vielleicht ebenfalls durch Besichtigung der Narbe eine zutreffende Vorstellung davon machen können, wie die Wunde ursprünglich ausgesehen hat. Viel schwerer ist es dagegen, sich bei der im Sommer stattfindenden Ortsbesichtigung klarzumachen, wie die Örtlichkeit im Winter ausgesehen hat. Es erfordert ferner, um ein ganz einfaches Beispiel zu nennen, mitunter ein hohes Maß an Selbstdisziplin, geistiger Beweglichkeit und Vorstellungskraft, wenn man von den nach dem Unfall getroffenen Sicherungsvorkehrungen (Schutzzaun, Straßenverbreiterung usw.) wirk10

s. 16. 21

Beispiel nach H. Lossack, Sinnestäuschungen und Verkehrsunfall (1953)

Döhring

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Die Augenscheinseinnahme

lieh vollkommen absehen will. Der plastische Eindruck, den der Betrachter bei der Besichtigung der Örtlichkeit mit Schutzzaun erhält, läßt sich durch die bloße von keiner unmittelbaren Anschauung gestärkte Überlegung, daß der Zaun zur Unfallzeit noch nicht dastand, mitunter nicht vertreiben. Selbst der intelligente und umsichtige Betrachter kann sich diesen psychologischen Gesetzmäßigkeiten manchmal nicht ganz entziehen.

Mehrfache Veränderungen. Sind gegenüber dem Zustand zur Tatzeit in verschiedener Hinsicht Abweichungen zu verzeichnen (nachträgliche Straßenbegradigung, teilweise Entfernung von Chausseebäumen, klare Sicht beim Ortstermin statt des diesigen Wetters am Tattage), so kompliziert sich dadurch die Beurteilung. Es bedarf dann jeweils einer ohne Hast vorzunehmenden besonnenen Erwägung, was von dem gegenwärtigen Bilde wegzunehmen, was hinzuzutun ist und was gänzlich umgedacht werden muß, wenn die seinerzeitige Situation wieder hergestellt werden soll.

Wiederholung des Vorgangs als Erforschungsmittel

Wesensmerkmale der Rekonstruktion. Oft können die Möglichkeiten zu unmittelbarer Wahrnehmung dadurch erweitert werden, daß man mit Hilfe der vorhandenen Augenscheinsobjekte, wenn diese für sich allein noch keine befriedigende Klärung erbringen, künstlich neues Anschauungsmaterial schafft. Dies ist vor allem dadurch zu erreichen, daß der in der Vergangenheit liegende Tatvorgang unter möglichst gleichartigen äußeren und inneren Bedingungen wiederholt wird, soweit das ohne Schaden für die beteiligten Personen und Sachgüter geschehen kann. In der Praxis wird heute nicht nur bei Verkehrsstrafsachen, sondern auch sonst immer häufiger von dieser nützlichen Methode Gebrauch gemacht. In manchen Ländern ist die Wiederholung des Tatvorgangs für bestimmte Gruppen von Fällen gesetzlich zwingend vorgeschrieben11 • Die Rekonstruktion des Sachverhalts kann im Polizeibüro oder im Gerichtssaal vorgenommen werden, wenn die unmittelbare Umgebung, in der sich die Sache zugetragen hat, dafür ohne Bedeutung ist, wenn also alle irgendwie wichtigen Faktoren, die mitgewirkt haben, auch an der Amtsstelle gegeben sind. Man denke daran, daß ein chemischer Versuch, der in der Unterrichtsstunde zur Körperbeschädigung einer Schülerin geführt hat, im Gerichtssaal unter Assistenz des Sachverstän11

Für Italien Eug. Florian, Delle Prove penali (Mailand 1924) !!.562.

Wiederholung des Vorgangs als Erforschungsmittel

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digen mit entsprechenden Schutzvorkehrungen nochmal wiederholt wird. In anderen Fällen ist ein Aufklärungserfolg durch Rekonstruktion nur zu erwarten, wenn diese dort erfolgt, wo das Geschehnis sich ereignet hat.

Nachprüfung von Verteidigungsbehauptungen. Wenn kein brauchbares Indizienmaterial dafür vorhanden ist, wie sich der Vorgang zugetragen hat, sondern lediglich die Darstellung des Beschuldigten darüber existiert, dann dient die Rekonstruktion unter Umständen in erster Linie der Überprüfung, ob die Sache so zugegangen sein kann, wie der Beschuldigte es behauptet: Ein Autobesitzer, dem vorgeworfen wird, seine Frau vorsätzlich getötet zu haben, gibt an, sie sei ihm bei einem Tempo von 80 km/h versehentlich aus dem Wagen gefallen, weil die Tür nicht richtig verschlossen war. Der Zustand der Getöteten und ihrer Bekleidung nach dem angeblichen Unfall sind bekannt. Der Vorgang kann dann so, wie der Beschuldigte ihn darstellt, bei gleicher Geschwindigkeit mit einer gleich schweren und entsprechend bekleideten Puppe wiederholt werden. Unter Umständen läßt sich dabei aus der Wirkung des Sturzes auf die Kleidung und aus anderen Anhaltspunkten feststellen, ob die vom Beschuldigten gegebene Schilderung zutreffen kann oder ob dies verneint werden muß 12 •

Vorteile der Rekonstruktion für die Sachaufklärung. Die einer korrekten Wiederholung des Geschehens häufig entgegenstehenden Schwierigkeiten sollten den Wahrheitsforscher nicht zu schnell veranlassen, ganz von ihr Abstand zu nehmen. Selbst eine nur unvollkommene Rekonstruktion, d. h. eine solche unter teilweise abweichenden Bedingungen, kann manchmal wichtige Resultate ergeben. Mitunter bringt sie Gesichtspunkte zutage, die dem Beurteiler sonst gänzlich entgangen sein würden. Wenn der angeklagte Automobilist im Ortstermin vorfährt, wie er am Unfalltage gefahren sein will, so ist gewiß nicht gesagt, daß er sich seinerzeit so verhalten hat, wie er bei der Rekonstruktion glauben machen will. Aber der Sachbearbeiter bekommt doch dadurch, daß er den Beschuldigten unmittelbar am Tatgeschehen mitwirken sieht, oft ein genaueres Bild von der Sache, als er es sonst haben würde. Der Beschuldigte beschreibt dabei den Hergang nicht nur mit Worten, sondern erscheint als Handelnder. Man sieht sein Auftreten und seine mehr oder weniger große Sicherheit in der Handhabung. Daraus können sich Anhaltspunkte zu seinen Gunsten ergeben. Andererseits kommt 12

21"

Gerh. Buhtz, Der Verkehrsunfall (1938) S. 184.

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Die Augenscheinseinnahme

auf diese Weise unter Umständen auch Belastungsmaterial zutage, das fast unwiderleglich ist. Wenn der Beschuldigte im Augenscheinstermin, obwohl er jetzt wissen mußte, worauf es ankommt, die Fahrbewegung unvorschriftsmäßig ausführt, so wird das im allgemeinen den Schluß rechtfertigen, daß er auch am Tattage so unkorrekt gefahren ist. Der Beschuldigte legt dann durch seine Fahrweise im Ortstermin sozusagen ein Geständnis mittels schlüssiger Handlung ab. Zwar muß dieses ebenso wie das wörtliche Geständnis erst noch auf seine Richtigkeit geprüft werden; aber unter den angegebenen Umständen wird es wohl meist für zutreffend zu halten sein. Eine Wiederholung des Tatvorfalls ist vor allem dann dringend zu empfehlen, wenn zur Erforschung des Sachverhalts technische Kenntnisse nötig sind, die der Beurteiler sich erst mit Rücksicht auf den vorliegenden Fall erwerben muß; sie überzeugt dann mitunter gründlicher als bloße mündliche Darlegungen der am Vorgang beteiligt Gewesenen oder des Sachverständigen das tun könnten.

Herstellung der Bedingungen, wie sie zur Tatzeit vorhanden waren. Nicht immer wird es gelingen, sämtliche am Tattage gegeben gewesenen Umstände herbeizuschaffen. Gleichwohl muß, wenn die Wiederholung des Vorgangs den Fall der Klärung entgegenführen soll, in dieser Hinsicht das irgend mögliche versucht werden. Handelt es sich um die Rekonstruktion eines Autounfalls an Ort und Stelle, so ist der äußere Rahmen des Geschehens (Straßenbreite, Straßenbeschaffenheit usw.) meist der gleiche wie zur Tatzeit. Auch die beteiligt gewesenen Kraftwagen können in der Regel herbeigeschafft werden. Ist einer von ihnen nicht mehr reparaturfähig, so kann ein anderer Wagen des gleichen Typs ersatzweise benutzt werden, falls es nicht ausnahmsweise gerade auf gewisse Besonderheiten des durch den Unfall zerstörten Fahrzeugs ankommt. Schwerer ist es dagegen - wie bereits angedeutet -, den Moment der Rekonstruktion so zu wählen, daß die Sichtbedingungen (Mondlicht bei halbbewölktem Himmel usw.) denen zur Tatzeit entsprechen. In einem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall waren zwei Straßenbahnzüge auf einer eingleisigen Strecke des Schienenwegs zusammengestoßen. In der Hauptverhandlung hatte das Gericht zu prüfen, inwieweit der angeklagte Straßenbahnfahrer den entgegenkommenden Trambahnzug bei gehöriger Aufmerksamkeit hätte sehen können. Dazu bedurfte es u. a. des Zusammentreffens folgender Momente: a) dichter Nebel, b) teilweise vereiste Fensterscheiben, c) eingeschalteter Scheinwerfer der entgegenkommenden Straßenbahn13 • 13

Urteil vom 2. 6. 1953 (Verkehrsrechtssammlung Bd. 5 S. 613).

Sonstige Augenscheinssurrogate

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Wenn geklärt werden soll, ob Worte, die weder besonders laut noch ungewöhnlich leise, sondern in normaler Tonstärke gesprochen worden sind, auf eine feststehende Entfernung an einer bestimmten Stelle gehört werden konnten, so müssen bei der Rekonstruktion möglichst alle Umstände zusammentreffen, die auf die Hörbarkeit einen Einfluß haben könnten. Ist das Gespräch nachts geführt worden, so hat auch die anzustellende Erprobung nachts stattzufinden, weil die Wahrnehmungsmöglichkeiten zur Nachtzeit vielfach grundlegend andere sind als am Tage. Es muß ferner daran gedacht werden, daß Wind die Hörbarkeit erleichtern oder erschweren kann. Schließlich ist die individuelle Hörfähigkeit dessen, der die Worte aufgefaßt und verstanden haben will, zu berücksichtigen, soweit sie von der Normallage abweicht. Besonders schwer sind die psychologischen Bedingungen, wie sie am Tattage vorhanden waren, willkürlich herbeizuschaffen. Der seinerzeit gleichgültige Kraftfahrer ist bei der Rekonstruktion wachsam und kritisch. Der ehedem Angeheiterte ist nunmehr vollkommen nüchtern. Der bei Begehung einer Affekthandlung aufs äußerste erregt und gespannt gewesene Beschuldigte zeigt sich jetzt ruhig und gelockert. Solche Unterschiede zur Situation am Tattag müssen, soweit sie sich nicht beseitigen lassen, bei der Würdigung der durch Rekonstruktion erlangten Ergebnisse angemessen in Anschlag gebracht werden. Sonstige Augenscheinssurrogate

Karten, Risse, graphische Darstellungen. Wenn eine Kenntnisnahme vom eigentlichen Besichtigungsobjekt infolge des damit verbundenen Zeitverlustes oder aus sonstigen Gründen nicht möglich ist, bietet oftmals die Inaugenscheinnahme von Modellen, Lageplänen, Landkarten dafür einen gewissen Ersatz. Durch eine graphische Darstellung kann auch die Arbeitsweise einer Maschine klargemacht oder ein Vorgang der Elektrotechnik veranschaulicht werden. Brauchbar sind solche Hilfsmittel freilich nur, wenn das Modell den nachgebildeten Gegenstand in den wesentlichen Beziehungen richtig abgeformt hat; wenn also z. B. die Handzeichnung entweder maßstabgerecht ist oder trotz fehlender Maßstabgenauigkeit die im gegebenen Fall wichtigen Verhältnisse doch hinreichend verdeutlicht. Wenn ein Zufallszeuge, der berufsmäßig nichts mit der Anfertigung von Lageplänen zu tun hat, zum Termin eine Handskizze mitbringt, so bedarf zunächst der Klärung, ob sie von ihm selbst stammt oder ob er sich bei ihrer Herstellung der Hilfe anderer bedient hat. Eine sicherere Grundlage für den Augenschein erhält man meist, wenn der Betreffende die Zeichnung im Termin fertigt. Der Beamte weiß dann jedenfalls, daß

326

Die Augenscheinseinnahme

sie vom Vernommenen selbst stammt. Zudem hat er Gelegenheit, während der Anfertigung darauf hinzuwirken, daß alle maßgeblichen Verhältnisse in der Skizze zum Ausdruck kommen; er ist ferner in der Lage, durch Kontrollfragen auf die Berichtigung offenbarer Fehler hinzuwirken. Ob die so unter verhältnismäßig günstigen Umständen zustande gekommene Zeichnung der Wirklichkeit entspricht, muß freilich jeweils noch besonders erwogen werden. Doch wird dem Beurteiler diese Prüfung erleichtert, wenn er unmittelbar erlebt hat, wie die Skizze entstanden ist und beobachten konnte, welches Gefühl für richtige Maßangaben der Vernommene besitzt und mit welcher Umsicht er die Einzelheiten markiert hat.

Photos als Beweismittel. Daß photographische Aufnahmen als Beweismittel verwandt werden dürfen, kann nicht zweifelhaft sein, obwohl die meisten Prozeßordnungen sich darüber ausschweigen. Die Rechtsprechung hat das seit langem anerkannt und den Wert von Lichtbildern als Beweismaterial teilweise sogar sehr günstig beurteilt 14 • Immerhin ist einige Skepsis in dieser Hinsicht notwendig. Das Lichtbild hat den unbestreitbaren Vorteil, daß es die zur Zeit der Aufnahme vorhandenen Einzelheiten für dauernd festhält. Mitunter gibt es die Einzelumstände mit einer Anschaulichkeit wieder, wie sie durch keine noch so geschickte wörtliche Beschreibung zu erreichen gewesen wäre. Es konserviert zudem oft auch Momente, deren Erheblichkeit zur Zeit der Aufnahme noch nicht erkannt worden war. Manchmal vermittelt das Photo eine Anschauung, die eine spätere Ortsbesichtigung nicht geben könnte, nämlich den Eindruck der Örtlichkeit gerade zu der Zeit, während deren der Vorgang sich ereignet hat. Ein wichtiges Hilfsmittel ist die Photographie auch dort, wo sie Einzelheiten vergrößert wiedergibt, die mit dem bloßen Auge nicht wahrzunehmen gewesen und den Prozeßbeteiligten auch durch das Mikroskop nur unvollkommen zur Kenntnis zu bringen gewesen wären, wie etwa die Schnittfläche eines durchschlagenen Drahtseils, unvollkommen ausgewaschene Blutflecken an einem Kleidungsstück, Rasuren auf dem Papier, die mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbar sind.

Irreführende Lichtbilder. Andererseits können durch das Photo auch falsche Eindrücke hervorgerufen werden. Durch die Art, wie der Photograph den Ausschnitt wählt, den das Lichtbild wiedergibt, werden mitunter wichtige Einzelheiten verunklart oder ganz verschwiegen. Wenn er auf die Neigung des Betrachters zu perspektivischem Sehen nicht geu

RG Str Bd. 47 S. 232.

Sonstige Augenscheinssurrogate

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nügend Rücksicht nimmt, kann bei der Aufnahme eines Kraftfahrzeugs die Vorstellung entstehen, daß dieses hart an der rechten Straßenkante abgestellt gewesen sei, während es in Wirklichkeit ziemlich weit zur Straßenmitte hin stand. Eine Treppe kann je nachdem, ob die Aufnahme aus der Hockstellung oder im Stehen gemacht ist, steil oder weniger steil erscheinen. Schriftzüge machen oft einen ganz unterschiedlichen Eindruck, je nachdem von welcher Seite und in welcher Weise man das Licht auf sie fallen läßt. Dies ist auch der Grund, weshalb die meisten Schriftgutachter die Beurteilung einer Handschrift auf Grund von photographiertem Schriftmaterial ablehnen oder sie doch nur mit entsprechenden Vorbehalten übernehmen. Der Lichtbildner hat es also vielfach in der Hand, gewisse Momente zu übertreiben oder zu verkleinern und dadurch den Betrachter zu einer Vorstellung zu bringen, die der Wirklichkeit nicht entspricht15. Die Person des Photographen. Für die Bewertung des Lichtbildes ist es somit wichtig, wer es hergestellt hat. Handelt es sich um die Gelegenheitsaufnahme eines Amateurs, die nicht zu Beweiszwecken angefertigt wurde, so kann sie für die Sachaufklärung nur mit Vorsicht benutzt werden. Nicht viel anders sind die Bilder eines Berufsphotographen zu beurteilen, die dieser für außerprozessuale Zwecke hergestellt hat. Nur wenn er unter Anleitung eines Ermittlungsbeamten gearbeitet und dessen Weisungen befolgt hat, könnte im Einzelfall uneingeschränkt brauchbares Beweismaterial zustande kommen. Das verhältnismäßig größte Vertrauen verdienen im allgemeinen Aufnahmen, die von einem als zuverlässig bekannten Fachmann stammen, der ständig für das Gericht bzw. die Ermittlungsbehörde tätig ist und daher die Punkte kennt, über .die im Prozeß eine wirklichkeitsgetreue bildliehe Wiedergabe benötigt wird. Er wird von vornherein darauf achten, daß gerade diese Momente auf dem Lichtbild richtig herauskommen. Er wird ferner, falls das mit einer einzigen Aufnahme nicht erreicht werden kann, schon von sich aus so viele Photos von verschiedenen Seiten her anfertigen, als zur Herbeiführung einer zutreffenden Anschauung vom Objekt nötig sind. Der besondere Vorteil liegt in solchen Fällen gerade darin, daß der Photograph den Beweiszweck seiner Aufnahmen von vornherein gekannt und sich bei seiner Arbeit darauf eingerichtet hat.

Klarstellung des einem Lichtbild zukommenden Wahrheitswerts. Nach alledem ist die um die Jahrhundertwende im Enthusiasmus über 15 A. Bessemans, Optische Täuschung beim Betrachten von Photographien (Archiv für Kriminologie Bd. 114 S. 124 f.).

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Die Augenscheinseinnahme

die Erfolge der Photographie vielfach vertretene Meinung, daß das Lichtbild niemals lüge, unzutreffend. In keinem Fall darf ein Photo leichthin und ohne kritische Erwägung als getreue Wiedergabe der Wirklichkeit angesehen werden. Auch das korrekt aufgenommene Bild bedarf stets noch einer Interpretation; d. h. es ist eine Überlegung notwendig, welche Einzelheiten ihm mit Sicherheit zu entnehmen sind. Der Beurteiler hat den speziellen Fehlerquellen nachzugehen, die gerade bei Herstellung solcher Aufnahmen, wie sie ihm vorliegen, in Betracht kommen. In wichtigeren Fällen wird der Photograph unter Umständen als Zeuge zu vernehmen und darüber zu befragen sein, nach welchen Gesichtspunkten er sich seinen Standpunkt ausgesucht hat und welche Arbeitsgrundsätze sonst für ihn maßgebend gewesen sind. Ist ein unmittelbar nach Deliktsbegehung aufgenommenes Lichtbild vom Tatort wegen der dort nachträglich eingetretenen Veränderungen von großer Bedeutung, so kann der Sachbearbeiter sich darüber, inwieweit es die Wirklichkeit richtig wiedergibt, mitunter vergewissern, wenn er die Aufnahme bezüglich der unverändert gebliebenen Einzelheiten durch Ortsbesichtigung überprüft und sie sodann zum Umdenken der gegenwärtigen Tatortsituation in die bei Deliktsbegehung vorhanden gewesene Lage benutzt.

Drittes Kapitel

Der Indizienbeweis Allgemeine Grundlagen

Die Bedeutung des Anzeichenbeweises für die Sachaufklärung ist unterschiedlich beurteilt worden. Wenn sein Wert heute teilweise ziemlich gering eingeschätzt wird, so wirkt dabei noch eine bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus sehr verbreitet gewesene Auffassung nach, die ihn als ein höchst unzuverlässiges und sozusagen minderwertiges Instrument der Wahrheitstindung ansah. Ein bedeutender Schriftsteller des 19. Jahrhunderts hat sie dahin formuliert, daß, wenn man jemanden gern hängen möchte, für ihn im Indizienbeweis der Strick leicht gefunden werden könne 1 • Diese Unterbewertung des Indizienbeweises ist nicht gerechtfertigt, wenngleich kritischer Sinn bei seiner Handhabung ebensowenig entbehrt werden kann wie bei der Würdigung von Zeugenaussagen oder der Benutzung von Urkundenmaterial". Der Indizienbeweis kommt im Strafverfahren ebenso zur Geltung wie im Zivilprozeß, vor den Arbeitsgerichten ebenso wie in Verwaltungsstreitsachen. Die Gerichte und Ermittlungsbehörden sind allenthalben auf ihn angewiesen. Mit Hilfe von Indizien kann, was mit Nachdruck betont werden muß, nicht nur eine mehr oder minder fragwürdige Wahrscheinlichkeit dargetan, sondern oftmals volle Sicherheit bezüglich eines bestimmten Punktes erreicht werden. Der Anzeichenbeweis läßt bei richtiger Handhabung durchaus ein verläßliches Ergebnis erwarten.

Der Indizienschluß als selbständiges Beweisverfahren. Die im Rahmen des Indizienbeweises zu vollziehenden Gedankenoperationen gehen in der Regel unauffälliger vor sich als die meisten anderen Beweiserhe1 H. J. Siegen, Juristische Abhandlungen (1834) S. 115; ähnlich neuerdings Th. Reik, Der unbekannte Mörder (1935) S. 143. Auch Th. Rittler sagt, die Tauglichkeit des Indizienbeweises zur Aufklärung des Sachverhalts werde meist viel zu hoch angeschlagen (Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43 S. 193). 2 So auch Meixner, Der Indizienbeweis S. 91; Walder, Kriminalistisches Denken S. 133.

330

Der Indizienbeweis

bungen. Es bedarf hier vielfach keiner besonderen äußeren Zurüstungen. Diese Eigentümlichkeit hat dazu geführt, daß man den Indizienbeweis (zu Unrecht) teilweise nicht als eine besondere Art der Wahrheitsermittlunghat anerkennen wollen, zumal er sich in das herkömmliche Beweissystem nicht recht einfügen ließ. Manche Prozeßrechtslehrbücher bezeichnen ihn als ein Beweisverfahren besonderer Art; andere wieder sehen ihn im Gegensatz zu den klassischen Beweismitteln (Urkunden, Augenschein usw.) als bloßen Hilfsbeweis an, weil er auf Grund von (lediglich mittelbar erheblichen) Hilfstatsachen zu einem Schluß auf das Vorliegen des eigentlich rechtserheblichen Umstands zu kommen versucht 3 • Zivilprozeß. Gelegentlich ist die Meinung geäußert worden, daß der Anzeichenbeweis im zivilprozessualen Bereich nur geringe Bedeutung habe. Das erweist sich j.edoch bei näherer Betrachtung als unzutreffend. Oft kommt es dem Beurteiler nur wegen der Leichtigkeit, mit der er vom Indizienschluß Gebrauch macht, nicht recht zum Bewußtsein, wie häufig er sich seiner bedient. Der Anzeichenbeweis ist zur Ergründung des Parteiwillens, soweit dieser zweifelhaft erscheint, vielfach unentbehrlich. Auch die Geschäftsgewandtheit der Beteiligten, ihre Unverträglichkeit, ihr phlegmatisches Temperament und viele andere tatsächliche Momente können, falls es auf sie ankommt, meist nur auf Grund von Indizien festgestellt werden. Freilich hat man von den Möglichkeiten, die der Anzeichenbeweis bietet, im Zivilprozeß lange Zeit nur sparsamen Gebrauch gemacht. Solange der Zeugenund Parteieid als ein Aufklärungsmittel betrachtet wurde, auf das sich der Richter im allgemeinen glaubte verlassen zu können, schien zu einer intensiven Ausnutzung von Indizien kein zwingender Grund vorzuliegen. So kam es, daß noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts im Zivilprozeß der Indizienbeweis eine untergeordnete Rolle spielte4 • Heute dagegen ist der Richter durch die veränderten Umstände ganz von selbst zu stärker.er Auswertung von Indizien genötigt. Die erweiterten Möglichkeiten zu formloser Parteibefragung und zur regelrechten Parteivernehmung, von denen zunehmend Gebrauch gemacht wird, geben ihm vielfach beste Handhaben zur Herbeischaffung von IndizienmateriaL Auf der gleichen Linie liegt das Vordringen des Prima-facie-Beweises, der- so sehr man ihn auch gegen den eigentlichen Indizienbeweis abzugrenzen versucht- zum guten Teil auf der Auswertung indizieller Momente beruht.

Notwendigkeit gediegener allgemeiner Grundsätze für diesen Bereich. Da der Indizienbeweis nicht selten kompliziertere Überlegungen 3 Stein, Grundriß des Zivilprozeßrechts S. 253, 256; Rosenberg, Lehrbuch S. 541; vgl. ferner Engisch, Logische Studien S. 64 ff. und E. Siegrist, Grundfragen aus dem Beweisr.echt des Zivilprozesses (Diss. Bern 1938) S. 197 f. Ein näheres Eingehen auf die noch keineswegs abschließend erforschten philosophischen Grundlagen des Indizienbeweises ist in diesem Zusammenhang nicht möglich. 4 0. Bähr in den Jahrbüchern für Dogmatik Bd. 25 (1887) S. 397; ferner Wendt im Archiv für zivilistische Praxis Bd. 36 (1880) S. 254; E. Jacobsohn, Der Indizienbeweis im Zivilprozeß: JW 1906 S. 644; H. Reichel: Judicium Bd. 2 (1930) S. 351.

Allgemeine Grundlagen

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erfordert, bedarf es einer bis in die Einzelheiten durchgearbeiteten Theorie, mit deren Hilfe etwaige Schwierigkeiten behoben werden können. Es ist notwendig, die gerade auf diesem Gebiet typischen Gefahrenquellen zu beschreiben und Leitsätze aufzustellen, die geeignet sind, Mißerfolge zu verhindern5 • Die theoretische Fundierung sollte so weit vervollkommnet werden, daß unrichtige Ergebnisse nur durch Verstoß gegen anerkannte Grundregeln zustande kommen können. Daran ist in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern gearbeitet worden; in Deutschland vor allem von Rittler, in Frankreich von Locard und Gorphe, in Italien von Gianturco, in Rußland von Wyschinski. In den angloamerikanischen Ländern gibt es eine ganze Reihe gründlicher Abhandlungen über diesen Problemkreis.

Plan der Darstellung. Im einzelnen muß zunächst über das Auffinden brauchbarer Beweisanzeichen gesprochen worden (S. 331 ff.), sodann ist die Struktur des Indizienbeweises im allgemeinen (S. 333 ff.) und die Eigenart der daran beteiligten Elemente (S. 338 ff.) darzustellen. Schließlich bedarf der Erörterung, wie die Beweiskraft der einzelnen Indizien zu beurteilen ist (S. 373 ff.) und wie das Zusammenwirken mehrerer für einen bestimmten Umstand vorhandener Beweisanzeichen festgestellt und gewürdigt werden muß (S. 365 ff.). Heranschaffung des Indizienmaterials Vielfach erfolgt die Fahndung nach tauglichen Beweisanzeichen während der Beweiserhebung, also bei der Vernehmung der Zeugen, ferner im Zusammenhang mit der Urkundenbenutzung oder der Tatortbesichtigung. Doch kann sie auch außerhalb der eigentlichen Beweisaufnahme bei der mündlichen Erörterung der Sache mit den Parteien vor sich gehen. Sie kann sich schließlich selbst nach Verhandlungsschluß einfach im gedanklichen Bereich vollziehen, so etwa wenn der Ermittlungsbeamte bei Fertigung seines Schlußberichts die Einzelheiten nochmals überdenkt und dabei die bisher nicht erkannte Hinweiskraft bestimmter, im Tatsachenmaterial enthaltener Umstände entdeckt oder wenn das Gericht kurz vor Erlaß des Urteils in der Beratung nochmal den gesamten Tatsachenstoff auf indizielle Momente durchforscht.

Form der Indiziensuche. Bei Vorgängen, die an eine bestimmte Örtlichkeit gebunden sind, wie der Autounfall oder der Einbruchsdiebstahl, steht die Spurensuche am Ort der Handlung meist am Anfang der Ermittlungen. Wo der Tatort dagegen für die Aufklärung der Sache nur geringe Bedeutung hat, wie etwa bei der Untreue, findet das Forschen nach brauchbaren Beweisanzeichen vorwiegend bei der Vernehmung des Beschuldigten bzw. der Befragung der Zeugen statt. s

Ritaer S. 191.

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Der Indizienbeweis

Nur selten bietet der Zeuge die Indizien in so präziser Fassung dar, daß der Vernehmungsleiter sie nur entgegenzunehmen braucht. Oft muß das, was die Beweisperson infolge von Nachlässigkeit und Ungeschick oder aus böser Absicht zu sagen unterließ, erst durch Vorhalte und Rückfragen herausgebracht werden. Mitunter ist der Vernehmungsleiter gezwungen, die für einen verläßlichen Indizienbeweis nötigen Tatsachenunterlagen mit vieler Mühe aus verworrenen und widerspruchsvollen Angaben der Beteiligten herauszusuchen. Unter Umständen ist dazu eine monatelange oder im strafprozessualen Ermittlungsverfahren manchmal sogar jahrelange Tätigkeit notwendig, die in der Stille und ohne daß der Beweisforscher dabei im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht, vollbracht werden muß. Gleichwohl stellt diese zeitraubende und anstrengende Suche nach schlüssigen Beweisanzeichen in vielen Fällen den einzigen Weg dar, auf dem eine Klärung des Sachverhalts erreicht werden kann. Sicherung der Indizien. Ist ein brauchbares Beweisanzeichen einmal aufgespürt worden, so kommt es darauf an, seinen vorzeitigen Untergang zu verhindern. Wenn Einzelheiten in Frage stehen, denen ihrer Art nach einige Beständigkeit innewohnt, so wird man in dieser Hinsicht keine Not haben. Anders dagegen, wenn es auf leicht vergängliche Momente ankommt, wie einen Schuhabdruck im schmelzenden Schnee oder Staubablagerungen, die durch eine einzige unzweckmäßige Bewegung weggewischt werden können.

Wird in solchen Fällen nicht sogleich das Nötige unternommen, so kann dies den endgültigen Verlust des Beweismaterials und damit unter Umständen eine Verfälschung des Ergebnisses zur Folge haben. Dienen die verlorengegangenen Indizien der Belastung des Beschuldigten, so ist die Folge möglicherweise ein ungerechtfertigter Freispruch. Handelt es sich bei den zerstörten Beweisanzeichen um solche, die zur Entlastung des Beschuldigten hätten beitragen können, so vervollständigt ihr Fehlen den Überführungsbeweis vielleicht derartig, daß es zu einer unbegründeten Verurteilung kommt. Für das Auffinden und die Sicherung von Indizien am Tatort gibt die sog. Spurenkunde wertvolle Hinweise 6 • Über die nicht weniger wichtige Sicherung von psychologischen Indizien S. 89 ff. 6 R. Mally, Kriminalistische Spurenkunde (1958); H. Huelke, Spurenkunde für Polizeibeamte (1956); zu vergleichen sind auch die in dieser Hinsicht außerordentlich lehrreichen Sammelveröffentlichungen des Bundeskriminalamts in Wiesbaden: Das kriminalpolizeiliche Ermittlungsverfahren (1957) und: Grundfragen der Kriminaltechnik (1958), ferner zahlreiche Aufsätze in der Zeitschrift: Kriminalistik, Jg. 1947 ff. und im Archiv für Kriminologie (von 1899 ab 128 Bände). Frankreich besitzt in dem Handbuch von J. Gayet, Manuel de police scientifique, Paris 1961, ein umfassendes Werk über diese

Allgemeine Grundlagen

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Mehrfache Sicherheit. Die Suche nach Beweisanzeichen für einen aufklärungsbedürftigen Punkt darf nicht zu früh eingestellt werden. Selbst wenn das vorhandene Material im Augenblick völlig zureichend zu sein scheint, sollte man sich (soweit das irgend geschehen kann) um seine weitere Vervollständigung bemühen. Vieles von dem, was bei Herstellung des Indizienbeweises durch Intelligenz und Scharfsinn plausibel gemacht worden ist, kann durch Anwendung der gleichen Geistesgaben auch wieder in Zweifel gezogen werden. Beweisanzeichen, die zunächst überaus belastend erschienen, können später durch zusätzliche Darlegungen des Beschuldigten, die oft gar nicht voraussehbar waren, in Frage gestellt werden. Keine Beweisart ist so anfällig gegenüber Entwertungsversuchen wie der Indizienbeweis. Oft bedarf es dazu nicht einmal des Vorbringens von neuen Tatsachen. Unter Umständen wird der Indizienschluß schon allein durch gedankliche Arbeit entscheidend geschwächt, so etwa durch das Aufzeigen bestimmter Möglichkeiten der Tatsachengestaltung, die bisher unbeachtet geblieben waren, oder durch Herstellung einer einleuchtenden gedanklichen Kombination, auf die bis dahin niemand gekommen war. Selbst wenn die vom Beschuldigten gegen einen ihn belastenden Indizienschluß angeführten Argumente nicht sonderlich überzeugend wirken, lassen sie sich oft doch nicht einwandfrei widerlegen, was nach dem Grundsatz in dubio pro reo zur Folge hat, daß sie respektiert werden müssen. Der Wahrheitsforscher hat sich daher von vornherein darauf einzurichten, daß selbst völlig durchschlagend scheinende Beweisanzeichen später ernstlich in Frage gestellt werden. Die allgemeine Regel lautet, daß für jeden wichtigeren Punkt möglichst viele Indizien bereitgestellt werden sollten. Der Sachbearbeiter muß sich daran gewöhnen, mit dreifacher und bei den Hauptpunkten sogar mit vier- bis fünffacher Sicherheit zu arbeiten. Die Struktur des Indizienbeweises Die Tatsachengrundlage als Ausgangspunkt. Der Indizienbeweis verlangt vom Wahrheitsforscher ein aktives Vorgehen. Angeknüpft wird dabei regelmäßig an ein tatsächliches Merkmal. Dieses wird mit einer Erfahrungsregel so in Verbindung gebracht, daß sich daraus eine Schlußfolgerung ableiten läßt. Man schließt von einem bestimmten äußeren Merkmal, nämlich der Indizientatsache, mit Hilfe der Erfahrung auf das Materie; aus dem sehr beachtlichen sowjetrussischen Schrifttum ist hier vor allem zu nennen V. J. Popov, Die Besichtigung des Tatorts, Moskau 1959 (russisch).

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Der Indizienbeweis

Vorliegen des Tatumstands, der im Wege des Anzeichenbeweises klargestellt werden solF.

Der auf der Indizientatsache aufbauende Denkvorgang. Das Hauptstück des sich aus diesen Bestandteilen zusammensetzenden Beweisverfahrens ist nicht eigentlich die Ausgangstatsache, sondern der daran anknüpfende Denkprozeß, vermöge dessen auf das Gegebensein des rechtserheblichen Tatumstandes geschlossen wird. Die Indizientatsache kann lediglich im Zusammenhang mit der Erfahrungsregel und der darauf gegründeten Schlußfolgerung für die Wahrheitstindung Wert erlangen8. Erst wenn zwischen ihr und dem festzustellenden gesetzlichen Tatbestandsmerkmal mit Hilfe des Erfahrungsschlusses eine überzeugende Verbindung geschaffen worden ist, kann sie zur Aufklärung des Sachverhalts mithelfen. Die Indizientatsache erhält ihre Bedeutung für die Wahrheitstindung somit erst durch die geistige Leistung, vermöge deren sie mit den übrigen notwendigen Elementen zu einem verläßlichen Indizienbeweis formiert wird. Zusammenwirken der Einzelteile beim Indizienbeweis. Das Gesagte läßt sich am besten an einem Beispiel einfachster Art verdeutlichen: Im Straßengraben wird eine Leiche gefunden. Man sucht zu erforschen, auf welche Weise der Mann zu Tode gekommen sein kann. Bei näherem Zusehen zeigt sich, daß der Leichnam im Gesicht und an den Händen Hautverletzungen bestimmter Art aufweist. Das ist die tatsächliche Grundlage, von der bei Ermittlung der Todesursache ausgegangen werden kann. Mit ihr wird sodann die Erfahrungsregel verknüpft, daß Hautschädigungen dieser Art durch Einwirkung von ätzenden Flüssigkeiten hervorgerufen zu werden pflegen. Daraus leitet der Beurteiler die Schlußfolgerung ab, daß der Tote entweder durch eigene Unvorsichtigkeit oder durch Handlungen Dritter mit Salzsäure oder ähnlichen Stoffen, die die Haut stark angreifen, in Berührung gekommen ist. Bemühung um ein Zustandekommen des Indizienschlusses. Bei der praktischen Handhabung des Schlußverfahrens bieten sich die dazugehörigen Einzelteile dem Sachbearbeiter keineswegs immer von selbst an. Er muß sie sich oft erst zusammensuchen und einige Mühe dafür aufwenden. 7 Zu dem ganzen Abschnitt: Th. Rittler, Der Indizienbeweis und sein Wert: Schweiz. Zeitschrift f. Strafrecht Bd. 43 S. 173 ff; G. Bohne, Verständigung S. 96 ff.; Vito Gianturco, La prova indiziaria, Mailand 1958, S. 33 ff. 8 Mittermaier, Lehre vom Beweis S. 427; Rupp, Der Beweis im Strafverfahren (1884) S. 29 f., 85 f., 92 f., 104; Stein, Privates Wissen S. 112; Engisch, Logische Studien S. 82; Scheuerte, Rechtsanwendung S. 85 weist im Anschluß an Heinrich Maier besonders auf die Bedeutung der kognitiven Phantasie für das Zustandekommen des Indizienschlusses hin.

Allgemeine Grundlagen

335

Die Indizientatsache erscheint belanglos, solange nicht der dazugehörige Erfahrungssatz gefunden worden ist, durch den die gedankliche Verbindung hergestellt wird. Der Erfahrungssatz wiederum muß mitunter erst durch intensive geistige Tätigkeit ermittelt und herauspräpariert werden. Die Suche nach einer schlüssigen Indizientatsache ist immer zugleich auch ein Forschen nach dem dazugehörigen Erfahrungssatz. Vielfach sind die Erfahrungen, auf Grund deren man zu einem brauchbaren Indizienschluß kommen könnte, dem Beurteiler zunächst nicht gegenwärtig. Er muß sie häufig erst durch Nachdenken sich ins Bewußtsein rufen. Dazu können auch Anregungen beitragen, die der Sachbearbeiter durch formlose Besprechung mit anderen erhält. Mitunter genügt der bloße private Hinweis eines Kollegen oder die kurze Bemerkung eines Prozeßbeteiligten, um ihm eine bestimmte Erfahrungsregel einleuchtend zu machen und dadurch einen Indizienschluß zu ermöglichen, der die Sachlage weitgehend klärt.

Herausarbeiten und Zusammenpassen der Einzelteile. Das für einen bestimmten Fall in Betracht kommende Erfahrungsmaterial befindet sich zunächst meist in einer Art Rohzustand und muß erst in die der jeweiligen Sachgestaltung augepaßte Form gebracht werden (S. 348). Der Beurteiler ist dabei genötigt, bald das eine, bald das andere der zum Zustandekommen des Indizienschlusses nötigen Teilstücke ins Auge zu fassen. Manchmal ist ein passender Erfahrungssatz zur Hand, während die dazugehörige Anknüpfungstatsache erst noch bewiesen werden muß, so daß sich die ganze Aufmerksamkeit auf diesen Beweis richtet. Manchmal wieder sind umgekehrt zahlreiche Indizientatsachen vorhanden, aus denen sich etwas machen ließe; aber das Zupassen der Erfahrungsregel auf sie verursacht Schwierigkeiten. Dann besteht die Hauptaufgabe in der Erarbeitung einer genau auf den gegebenen Sachverhalt abgestimmten ErfahrungsregeL In beiden Fällen kann sich der Wahrheitsforscher auf die Prüfung eines begrenzten Bereichs konzentrieren; er ist also nicht gezwungen, sich nach verschiedenen Richtungen hin zu verzetteln, was ihm seine Aufgabe in gewisser Weise erleichtert.

Mehrfache Irrtumsmöglichkeiten. Mitunter bestehen aber auch nach beiden Seiten hin gewisse Schwierigkeiten. Wo die Indizientatsache erst durch Zeugenaussagen bewiesen werden muß, kommen zu den Gefahren, die der Anzeichenbeweis mit sich bringt, noch die speziellen Fehlerquellen des Zeugenbeweises hinzu. In ungünstig liegenden Fällen können auf diese Weise wahrheitswidrige Einflüsse unterschiedlichster Art zusammenwirken. Andererseits dürfen die vorhandenen Irrtumsmöglichkeiten auch nicht überschätzt werden. Selbst beim Vorhandensein zahlreicher Fehlerquellen sind Mißgriffe vermeidbar, wenn der Bearbeiter sachgemäß vorgeht.

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Der Indizienbeweis

Die typische Gefahr des Indizienbeweises. Sie besteht vor allem darin, daß einzelne Umstände, obwohl sie bedeutsam sind, leicht übersehen und infolgedessen zu Unrecht außer Ansatz gelassen werden. Manchmal handelt es sich dabei um Momente, mit deren Vorliegen anfangs kaum zu rechnen war und die dem forschenden Blick daher trotz konzentrierter Aufmerksamkeit entgehen konnten. Teilweise liegt die Gefahr nicht so sehr darin, daß bestimmte in Betracht zu ziehende Einzelheiten unentdeckt bleiben, sondern darin, daß sie nicht angemessen bewertet werden. Besonders bei kleineren Unstimmigkeiten im Indizienmaterial ist es oft schwer zu sagen, ob der Beurteiler ihnen einige Bedeutung beizumessen hat oder ob er sie als zufällig und nebensächlich ansehen darf.

Zuversichtliche Grundhaltung. Diese Gefahren dürfen gewiß nicht gering geachtet werden. Doch sollte man sich durch sie die optimistische Grundstimmung nicht rauben lassen9 • Wer sich mit den Eigenheiten des Indizienbeweises vertraut gemacht hat und es mit einer kritischen Prüfung der Beweiselemente genau nimmt, braucht Enttäuschungen nicht zu befürchten. Reihenfolge der Tätigkeiten. Der Anfänger neigt mitunter dazu, sich das zeitliche Verhältnis der notwendigen Denkoperationen dahin zurechtzulegen, daß zunächst die Indizientatsache voll bewiesen werden muß, ehe mit der daran anknüpfenden Schlußfolgerung gearbeitet werden kann. Aber diese durch die Logik nahegelegte Aufeinanderfolge läßt sich bei der praktischen Arbeit häufig nicht einhalten. Vielmehr sind für das zeitliche Verhältnis der beim Indizienbeweis zu vollziehenden Denkvorgänge neben logischen auch Zweckmäßigkeitserwägungen verschiedener Art maßgebend. Der Sachbearbeiter wird auf die Klarstellung der Indizientatsache, wenn diese einige Mühe macht, vernünftigerweise nur dann Zeit und Kraft verwenden, wenn der Erfahrungssatz, den er mit ihr verbinden will, genügend gesichert ist oder wenn er durch weitere Anpassungsarbeit mit hinreichender Überzeugungskraft ausgestattet werden kann. Ergeben sich nach beiden Seiten hin Zweifel, so wird der Beurteiler auf Grund von arbeitsökonomischen Erwägungen zunächst die Klarstellungen in Angriff nehmen, die ihm am schnellsten Gewißheit darüber verschaffen, ob sich die zur Herausarbeitung des Indizienschlusses notwendige Arbeit lohnt.

Beweisführung mit Hilfe von fragwürdigem Material. Charakteristisch für die auf das Zustandekommen des Indizienschlusses gerichtete 8 So bereits Mittermaier, Lehre vom Beweise, S. 441 und Anton Bauer, Die Theorie des Anzeig.enbeweises (1843) S. 201.

Allgemeine Grundlagen

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Tätigkeit ist das Umgehen mit vorerst unzulänglichen tatsächlichen Unterlagen. Die älteren Anleitungen für die Handhabung des Indizienbeweises gingen mehr oder minder davon aus, daß der Wahrheitsforscher es mit Einzelteilen zu tun hat, deren Beweiseignung für den gegebenen Fall außer Zweifel steht. Der Sachbearbeiter ist aber im Rahmen des Indizienbeweises vielfach genötigt, auch Einzelheiten im Auge zu behalten und mit zu verwenden, deren Tauglichkeit als Indizientatsache noch nicht feststeht 10 • Gerade das Umgehen mit Beweiselementen, deren Brauchbarkeit zunächst noch fraglich erscheint, ist in diesem Bereich etwas ganz Gewöhnliches. Die theoretische Darstellung hat darauf Rücksicht zu nehmen, damit der Wahrheitsforscher im Ernstfall den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten nicht unvorbereitet gegenübersteht.

Richtlinien für das Arbeiten mit unzulänglichen Unterlagen. Oft ist zunächst zweifelhaft, ob eine bestimmte Einzelheit als Indiz für einen rechtserheblichen Umstand geeignet ist bzw. ob sie (umgekehrt) dem Nachweis zu dienen vermag, daß eine bestimmte tatsächliche Gestaltung nicht vorgelegen hat11 • Im Anfangsstadium kann manchmal lediglich gesagt werden, daß die betreffende Einzelheit unter Ums t ä n den zur Klärung beitragen könnte. Sie muß dann, obwohl im Augenblick die Herstellung eines brauchbaren Indizienschlusses noch nicht möglich ist, im Blickfeld behalten werden. Selbst wenn vorerst nicht viel dafür spricht, daß sie wertvoll werden könnte, ist ihre völlige Außerachtlassung vielfach nicht zu verantworten. Bisweilen steht fest, daß ein bestimmter Tatumstand als Indizientatsache geeignet sein würde, wenn dazu noch dieses oder jenes tatsächliche Moment hinzukäme. Er erscheint dann zur Klärung immerhin bedingt tauglich, nämlich unter der Voraussetzung, daß die Tatsachengrundlage des Indizienbeweises entsprechend erweitert wird. Der Wahrheitsforscher hat demgemäß zu prüfen, welche Möglichkeiten in dieser Hinsicht vorhanden sind. Ähnlich wie der Wahrheitsforscher zunächst mit einer noch unfertigen Indizientatsache arbeiten darf, wenn zu erwarten ist, daß sich die an ihr vorhandenen Unvollkommenheiten später beseitigen lassen, muß unter Umständen auch probeweise mit einer Erfahrungsregel gearbeitet werden, von der zur Zeit noch nicht sicher gesagt werden kann, ob ihre Anwendung bei der gegebenen speziellen Sachlage zu rechtfertigen ist. In allen solchen Fällen darf sich der Sachbearbeiter daher von der

°

1

11

Fragen des Beweisrechts im Strafprozeß (1957) S. 49. Dies ist im Urteil RG Str Bd. 65 S. 330 vorbildlich dargelegt worden.

22 Döbring

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Der Indizienbeweis

augenblicklichen Unfertigkeit und Fragwürdigkeit der für den Indizienschluß vorhandenen Unterlagen nicht allzu sehr beeindrucken lassen. Gegen die Arbeit mit Beweiselementen, deren Aufklärungswert zunächst zweifelhaft erscheint, ist nichts einzuwenden, wenn damit gerechnet werden kann, daß ihre anfängliche Schwäche sich wird beheben lassen. Freilich darf ihnen jeweils nur die Aufmerksamkeit zugewandt werden, die sich angesichts der vorhandenen Aussichten auf ein verläßliches Ergebnis rechtfertigen läßt. Der Sachbearbeiter hat sich dabei von jener Leichtgläubigkeit fernzuhalten, mit der in der Praxis nicht selten ohne genauere Überlegung Arbeitsenergien nutzlos vertan werden. Die Klarstellung der Indizientatsache

Notwendigkeit ihrer Verifizierung. Die tatsächliche Unterlage für den Indizienbeweis muß erwiesen sein; sonst würde dieser auf einem zu unsicheren Fundament ruhen. Auch wenn die Schlußfolgerung als solche im Einzelfall außerordentliche Kraft besitzt, ist sie wertlos, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen, von denen sie ausgeht, nicht hinreichend feststehen. Man sollte denken, daß gegen diese ohne weiteres einleuchtende Grundregel kaum jemals verstoßen werden wird. Wer längere Zeit in der Praxis tätig gewesen ist, neigt meist eher zurGegenansicht. DieObergerichte haben denn auch oftmals Gelegenheit genommen, darauf hinzuweisen, daß es nicht genügt, wenn die Indizientatsache mehr oder weniger wahrscheinlich ist, daß sie vielmehr voll bewiesen sein muß 12 •

Der Beweis im einzelnen. Ihre Feststellung geht in vielen Fällen durch Zeugen oder Urkunden, durch Einnahme eines Augenscheins, Einholung behördlicher Auskünfte usw. vor sich. Sie kann aber auch im Wege des Indizienbeweises erfolgen; im älteren Schrifttum war man teilweise abweichender Meinung gewesen, heute dagegen können in dieser Hinsicht kaum noch Zweifel aufkommen 13 • Nicht immer ist zur Klarstellung des indiziellen Umstands eine förmliche Beweisaufnahme nötig. Allgemein bekannte Tatsachen sind bereits auf Grund ihrer Offenkundigkeit hinreichend bezeugt, so daß es zu ihrer Bekräftigung keiner Beweiserhebung bedarf. Aber auch sonst ergibt sich die tatsächliche Unterlage für den Indizienbeweis oft ohne u RG JW 1936 S. 3187 Nr. 11; OGH brit. Zone Str. Bd. 1 S. 165 f.; BGH NJW 1952 S. 1137 Nr. 13. 13 Ebenso bereits Schwarze im Archiv für Strafrecht Bd. 6 S. 730, ferner neuerdings Engisch, Logische Studien S. 72.

Die Erfahrungsregel

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weiteres aus dem, was von vornherein über den Fall bekannt ist. Selbst eine "bloße" Parteiangabe kann in Ausnahmefällenangesichts der Umstände so glaubhaft sein, daß sie ohne besondere Beweisanstrengungen völlig einleuchtend und damit als Grundlage für einen daran anknüpfenden Indizienschluß geeignet ist. Oftmals wird die Indizientatsache kurzerhand einfach durch unmittelbare Beobachtung des Beurteilers festgestellt; so wenn der Vernehmungsleiter die Freimütigkeit des Beschuldigten oder die Verlegenheit des Zeugen in einer bestimmten Verfahrenssituation wahrnimmt und daraus Schlüsse zieht. In vielen Fällen bleibt trotz aller Bemühungen die Tatsachengrundlage fragwürdig. Mitunter ist schon von vornherein erkennbar, daß sie sich niemals völlig wird sichern lassen; so wenn der Indizienschluß sich auf einen nur unvollkommen erhaltenen Fingerabdruck gründet oder auf Materialien, die infolge eingetretener chemischer Veränderungen keine völlig verläßliche Beurteilung mehr erlauben. Dann muß die daraus hervorgehende größere oder geringere Schwäche des Indizienschlusses abgeschätzt und dieser im Rahmen des für den fraglichen Punkt sonst noch vorhandenen Beweisstoffs angemessen berücksichtigt werden.

Vielgliedrige Tatsachengrundlage. Wenn bisher der Kürze halber von "der" Indizientatsache gesprochen worden ist, so muß dabei bedacht werden, daß diese sich vielfach aus zahlreichen Einzelstücken zusammensetzt. Häufig handelt es sich um ein ganzes Bündel von Einzeltatsachen; so etwa wenn durch Indizienbeweis festgestellt werden soll, ob gewohnheits- bzw. gewerbsmäßiges Handeln vorliegt oder ob beim Beschuldigten eine bestimmte Dauerhaltung wie Gewinnsucht, Hinterlist, ehrlose Gesinnung usw. gegeben ist. In solchen Fällen sind mitunter große Mengen tatsächlicher Einzelheiten durchzuprüfen, wenn das notwendige Fundament für einen bestimmten Indizienschluß geschaffen oder umgekehrt demonstriert werden soll, daß hinreichendes Tatsachenmaterial für einen solchen nicht vorhanden ist.

Die Erfahrungsregel

Allgemeine Grundlagen. Das Erfahrungswissen ist für die Handhabung aller Arten von Beweismitteln wichtig. Für den Indizienbeweis hat es jedoch eine geradezu zentrale Bedeutung. Daher ist hier der rich22*

340

Der Indizienbeweis

tige systematische Ort für die notwendigen prinzipiellen Bemerkungen14. Die Erfahrungsregel geht von Erlebnissen gleicher oder ähnlicher Art aus, die nicht anläßlich des vorliegenden Falls, sondern bereits vorher gemacht worden sind. Teilweise handelt es sich dabei um höchst persönliches Erleben des jeweiligen Beurteilers, das ihm noch mehr oder minder deutlich vor Augen steht. Teilweise beruht das Erfahrungswissen aber auch auf einem Kollektiverlebnis des ganzen Volkes oder kleinerer Gemeinschaften, das sich im Sachbearbeiter wie in vielen anderen Personen zu bestimmten Erkenntnissen verdichtet hat. Er benutzt die aus früheren Vorgängen gewonnenen Einsichten, um von ihnen auf die tatsächliche Gestaltung des vorliegenden, noch ungeklärten Falles zu schließen. Der Erfahrungssatz ist jedoch, wie daraus bereits hervorgeht, kein bloßer Zusammenschluß erlebter Begebenheiten. Diese stellen vielmehr lediglich das Material dar, aus dem durch Abstraktion eine Regel abgeleitet wird 15 • Der Wahrheitsforscher zieht in zusammenfassender Betrachtung aus den früheren Vorfällen das Fazit; auf diese Weise kommt er zu einer Aussage, die auch in späteren gleichliegenden Fällen Geltung beanspruchen kann und der Anhaltspunkte dafür zu entnehmen sind, wie der Hergang in der vorliegenden Sache gewesen sein wird. Die Überzeugungskraft der Erfahrungsregel beruht auf der Erwartung, daß die früher in gleichartigen Situationen gemachten übereinstimmenden Beobachtungen sich jetzt wiederum bewähren werden 18 •

Pflicht zum korrekten Arbeiten mit dem Erfahrungsstoff. Der Sachbearbeiter ist aus seinem Privatleben an das Umgehen mit der Erfah14 Aus dem allgemeinen philosophischen Schrifttum über das Wesen der Erfahrung mögen genannt sein R. Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung (1888 ff.); J. Volkelt, Erfahrung und Denken (1886); J. Dewey, Experience and Nature (London 1925); W. H. Walsh, Reason and Experience (London 1947). 15 Stein, Privates Wissen S. 16 ff.; Engisch, Logische Studien S. 43; Scheuerle, Rechtsanwendung S. 89; Gianturco S. 41 ff. Es ist bezeichnend für die Art, in der die deutsche Jurisprudenz bis in die neuere Zeit hinein den beweisrechtlichen Problemen gegenübergestanden hat, daß wir zur Ausbildung allgemeiner Lehren über die Handhabung des Erfahrungsstoffs im Rahmen der Tatsachenforschung nicht gekommen sind. Diese wichtige Materie ist seit Friedrich Steins trefflicher Monographie über das private Wissen des Richters (1893) nicht mehr entscheidend gefördert worden. 16 In der Rechtsprechung ist der normartige Charakter der Erfahrungsregel meist im Zusammenhang mit der Frage erörtert worden, ob das Revisionsgericht nicht nur die richtige Anwendung von Gesetzesbestimmungen, sondern auch die zutreffende Handhabung von Erfahrungssätzen durch den Tatrichter zu überwachen hat. Aus dem Schrifttum sind vor allem zu vergleichen L. Rosenberg, Beweislast (1956) S. 180 ff.; Scheuerle, Rechtsanwendung S. 87 ff.; E. Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts (2) 1960 S. 186 ff.

Die Erfahrungsregel

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rung gewöhnt und kennt daher die dabei zu beachtenden Grundregeln. Gleichwohl werden diese nicht selten allzu sorglos und mitunter geradezu leichtfertig gehandhabt. Für die Wahrheitsfindung ist das höchst nachteilig. Niemand vermag zu sagen, was bei einem Indizienschluß herauskommt, wenn das Erfahrungswissen dabei nicht ordnungsmäßig angewandt wird. Der Sachbearbeiter unterliegt zudem insoweit einer Kontrolle durch die übergeordneten Instanzen. Die Tätigkeit der Ermittlungsbehörden wird durch die richterliche Entscheidung überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Das Untergericht wiederum muß, wenn es eine Erfahrungsregel unrichtig anwendet, mit der Aufhebung seines Urteils durch die Obergerichte rechnen. Der Wahrheitsforscher hat also allen Anlaß, sich mit der Erfahrung und den für ihre Anwendung maßgebenden Prinzipien theoretisch eingehender zu beschäftigen. Das Tatsachenfundament, auf dem der Erfahrungssatz beruht

Wichtigkeit der Ausgangserlebnisse. Jede Erfahrungsregel hat, was bereits angedeutet wurde, eine bestimmte erlebnismäßige Grundlage. Diese ist deshalb so wichtig, weil die Reichweite des Erfahrungssatzes von dem Tatsachenmaterial abhängig bleibt, aus dem er gewonnen worden ist17 • Frühere Erfahrungen können nur dann mit Nutzen verwandt werden, wenn die wesentlichen Bestandteile der damaligen Situation sich im gegenwärtigen Fall wiederfinden. Es muß daher jeweils festzustellen versucht werden, auf welchem Tatsachenfundament eine Erfahrungsregel beruht. Dies ist die notwendige Konsequenz des allgemeinen Prinzips, daß bei der Erforschung des Sachverhalts nicht mit Elementen gearbeitet werden soll, deren Voraussetzungen sich nicht übersehen lassen. Daraus ergeben sich, wie noch zu zeigen sein wird, einige unbequeme Probleme, die lange Zeit nicht oder doch nicht in ihrer wahren Bedeutung gesehen worden sind.

Zwei Kategorien von tatsächlichen Grundlagen. Der Sachbearbeiter hat es beim Indizienbeweis demgemäß mit zwei verschiedenen Arten von Tatsachenunterlagen zu tun, nämlich einmal mit den indiziellen Tatsachen, die den Anknüpfungspunkt für die zum Indizienbeweis gehörige Schlußfolgerung bilden und ferner mit den tatsächlichen Vorgängen, welche der dabei anzuwendenden Er f a h r u n g s rege 1 zugrunde liegen. Die Indizientatsache pflegt in naher Beziehung zu dem zu erforschenden Sachverhalt oder den im Verfahren benutzten Beweismitteln 17

s. 42.

Stein, Privates WissenS. 28; Mezger, Der psychiatrische Sachverständige

342

Der Indizienbeweis

zu stehen. Den Erlebnissen dagegen, die dem Erfahrungssatz zugrunde liegen, fehlt in der Regel eine engere Beziehung zu dem zu klärenden Tatbestand. Beide Gruppen von Tatsachenunterlagen lassen sich wegen ihrer verschiedenen Herkunft und ihrer unterschiedlichen Bestimmung im allgemeinen leicht auseinanderhalten, was nicht ausschließt, daß sie sich gelegentlich ziemlich ähnlich sehen, so daß Verwechslungen möglich sind18• Der Unterschied zwischen diesen beiden Gruppen von Tatsachen ist nicht nur theoretisch wichtig; er hat vielmehr auch eine beträchtliche praktische Bedeutung. Denn es gelten für beide Kategorien von Tatsachen verschiedene Beweisgrundsätze: Die Indizientatsache kann nur mit den in der Prozeßordnung geregelten Beweismitteln (Zeugen, Urkunden, Augenschein, Indizien usw.) und nur in den strengen Formen der prozessualen Beweisaufnahme klargestellt werden. Über Tatsachen dagegen, die das Fundament für eine Erfahrungsregel bilden, darf sich der Wahrheitsforscher, ohne den Parteien Rechenschaft schuldig zu sein, auf jede ihm geeignet erscheinende Weise Gewißheit verschaffen. Er kann dabei seine Erinnerung zu Rate ziehen mit dem Ziel, erlebte Vorgänge und die aus ihnen hervorgehenden Einsichten sich wieder bewußt zu machen. Wenn zur Heranschaffung von neuem Erfahrungsmaterial fachliche Kenntnisse erforderlich sind, so ist der Sachbearbeiter nicht wie sonst genötigt, einen Sachverständigen förmlich zu vernehmen; er kann sich vielmehr durch zwanglose Gespräche mit befreundeten Sachkennern, durch privaten Briefwechsel usw. informieren10• Diese Formlosigkeit findet ihre Rechtfertigung darin, daß es sich hier um eine Vergewisserung ganz anderer Art handelt, als sie das prozessuale Verfahren voraussetzt. Auf sie sind die vom Gesetz geschaffenen Beweisgrundsätze nicht zugeschnitten. Es wäre daher auch nicht sinnvoll, den Wahrheitsforscher bei der Verifl.zierung von Erfahrungssätzen an sie zu binden. Ermittlung des erlebnismäßigen Unterbaus für den Erfahrungssatz.

Je genauer die der Erfahrung zugrunde liegenden Ausgangstatsachen feststellbar sind, desto sicherer läßt sich das Erfahrungsergebnis auf spätere Fälle anwenden. Manchmal besteht hinsichtlich des Tatsachenstoffs, auf dem die Erfahrungsregel beruht, völlige Klarheit; so etwa wenn ein Sachverständiger aus Versuchen, die er eigens für die Zwecke des Prozesses angestellt hat, einen Erfahrungssatz ableitet und darüber in seinem Gutachten berichtet. In anderen Fällen liegt der Tatsachenstoff, aus dem die Erfahrungsregel hervorgeht, nicht so offen zutage. Auch bei höchst persönlichen Erfahrungen des Beurteilers läßt sich die Grundlage mitunter nur mit einiger Mühe feststellen. Der Erfahrungssatz hat nämlich nicht selten die Neigung, sich von der konkreten Situation, aus der er erwachsen ist, zu lösen. Die Einzelerleb1s 10

Mezger S. 130 ff. Stein, Privates Wissen S. 74 ff. und die daran anschließende Literatur;

andererseits vgl. Goldschmidt, Der Prozeß als Rechtslage S. 440 f.

Die Erfahrungsregel

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nisse, auf denen er beruht, scheinen in der abstrakten Aussage völlig aufzugehen. Trotzdem sollte man überall, wo die Anwendbarkeit von Erfahrungswissen auf den zu klärenden Fall zweifelhaft erscheint, versuchen, sich über die Ausgangstatsachen eine genauere Vorstellung zu verschaffen. Auch wenn die Umstände dafür nicht sonderlich günstig sind, kann manchmal durch gedankliche Beschäftigung mit früheren Erlebnissen der in Betracht kommenden Art das ins Unbewußte abgesunkene Gedankengut wieder aktiviert werden; oder es läßt sich wenigstens der spezielle Lebensbereich ermitteln, in dem die fragliche Erfahrung wurzelt. Es nützt oft schon viel, wenn der Wahrheitsforscher klarstellen kann, ob die dem Erfahrungsergebnis zugrunde liegenden Vorgänge seiner beruflichen Tätigkeit oder der privaten Sphäre entstammen, ob es sich um Kindheitserinnerungen des Beurteilers handelt; ob Erlebnisse bestimmend waren, die er während seiner Tätigkeit im Bergbau hatte; ob Vorgänge mitwirken, die seiner Militärzeit angehören oder sich auf seinen Auslandsaufenthalt beziehen usw.

Vergleich des Tatsachenmaterials, auf dem die Erfahrungsregel beruht, mit dem zu klärenden Sachverhalt. Der Sachbearbeiter hat sich in jedem nicht ganz einfachen Fall zu fragen, inwieweit in den tatsächlichen Unterlagen, auf denen das Erfahrungswissen beruht, charakteristische Momente enthalten sind, die sich in der vorliegenden Sache nicht nachweisen lassen und ob dadurch die uneingeschränkte Anwendbarkeit eben dieser Erfahrungen im gegebenen Fall zweifelhaft gemacht wird. Dieser Grundsatz gilt nicht nur im physischen, sondern auch im psychischen Bereich. Der in Mitteldeutschland gesammelte Erfahrungsstoff kann, wenn Sitten und Gebräuche, Temperament und Charakter der Bevölkerung dabei mitsprechen, nicht ohne weiteres in Süd- oder Westdeutschland angewandt werden. Die in den Notzeiten der Inflation und der Zwangsbewirtschaftung gewonnenen Erfahrungen erscheinen, nachdem sich diese Ausnahmezustände zurückgebildet haben, nicht mehr brauchbar usw. In allen solchen Fällen sind auf Grund der Gesamtsituation, der das Erfahrungsmaterial entstammt, in die Ausgangserlebnisse Momente eingegangen, die die Anwendbarkeit der Erfahrungsregel auf den vorliegenden Fall fraglich erscheinen lassen. Auch wenn der Wahrheitsforscher eigenpsychische Beobachtungen auf andere Menschen anwenden will, hat er zu erwägen, inwieweit sie etwa auf Voraussetzungen beruhen, an denen es bei der zu beurteilenden Person

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fehlt.

auf Grund des Milieus, in das sie hineingehört, infolge der persönlichen Eigenart dieses Menschen, wegen der besonderen Lage, in der er sich zur fraglichen Zeit befand, Analoge Anwendung von Erfahrungswissen

Oft steht Erfahrungsstoff, der unmittelbar einschlägig ist, nicht zur Verfügung. Dann können unter Umständen Erfahrungen ähnlicher Art herangezogen werden, die jedoch nur entsprechend, d. h. mit den nötigen Änderungen, benutzt werden dürfen. Die analoge Anwendung von Erfahrungsergebnissen stellt ein Aushilfsmittel dar, von dem bei der Tatsachenforschung immer wieder Gebrauch gemacht werden muß: Der Angeklagte hat nach Verabreichung von Pervitin ein Geständnis abgelegt. Der Sachbearbeiter kennt dieses Medikament noch nicht, wohl aber andere ähnlich wirkende Mittel. Er verwendet die mit Bezug auf sie gemachten Wahrnehmungen, um sich eine Vorstellung von der entspannenden und befreienden Wirkung zu machen, die von Pervitin ausgeht. Oder: Dem Beurteiler sind die im Bergbau zur Steinkohlenförderung eingesetzten Spezial-Bohrmaschinen, bei deren HandhabungeinArbeiter verunglückt ist, nicht näher bekannt. Er kennt aber die Konstruktion und Arbeitsweise von Bohrapparaten ähnlicher Art und verwertet die mit ihnen gemachten Erfahrungen zum Verständnis des Grubenunfalls. Meist hat der Wahrheitsforscher für die zu beurteilenden Vorgänge einigen Analogiestoff zur Verfügung. In der Regel findet er in dem von ihm selbst Erlebten eine Art Simile, das ihm weiterhilft. Ohnedem würde es gar nicht möglich sein, sich verarbeitend und wertend durch die Vielgestaltigkeit des Geschehens hindurchzufinden. Bei jeder Benutzung von Erfahrungen, die nicht genau auf den Fall passen, muß jedoch erwogen werden, ob sie vorliegend uneingeschränkt brauchbar sind. Mitunter handelt es sich bei den Übereinstimmungen, durch die eine entsprechende Anwendung nahegelegt wird, nur um reine Äußerlichkeiten, die angesichts der vorhandenen wesentlichen Abweichungen im Grunde nichts besagen. Der Sachbearbeiter darf sich bei der Prüfung nicht durch den äußeren Schein täuschen lassen, sondern muß versuchen, tiefer einzudringen.

Analogie zur Aufklärung seelischer Sachverhalte. Besondere Bedeutung hat die analoge Anwendung von Erfahrungen im psychischen Bereich. Bei Aufklärung fremdpsychischer Vorgänge ist eine unmittelbare Benutzung von Beobachtungen, die der Beurteiler an sich selbst gemacht hat, verhältnismäßig selten möglich. Meist sind die eignen psychischen Erfahrungen nur entsprechend verwendbar.

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Gerade bei Beurteilung der Denk- und Empfindungsweise von Delinquenten fehlt es dem Betrachter im eignen Seelenleben vielfach an unmittelbar verwertbaren Vorlagen. Er kann sich jedoch unter Umständen dadurch Anschauungsstoff verschaffen, daß er in seinem persönlichen Erleben entsprechende Ausgangssituationen aufsucht und sie ins Kriminelle weiterdenkt. Der Wahrheitsforscher ist dann meist genötigt, das durch Selbstbeobachtungen gewonnene Material zu verstärken oder abzuschwächen oder sonst umzuformen, wenn er brauchbare Gesichtspunkte für die Sachaufklärung gewinnen will. Er muß dabei von seinen charakterlichen und temperamentsmäßigen Besonderheiten, soweit sie für die zu beurteilende Person keine Gültigkeit besitzen, absehen. Gewisse Elemente, die sich für einen Ähnlichkeitsschluß nutzbringend verwenden lassen, wird man im eignen Seelenleben fast stets vorfinden, selbst wenn der Mensch, auf den sie angewandt werden sollen, höchst eigenartig und die Situation, aus der heraus er gehandelt hat, dem Betrachter sehr ungewohnt ist. Auch bei der Erforschung sexueller Abnormitäten ist hauptsächlich dadurch voranzukommen, daß der Sachbearbeiter seine Kenntnisse über normale geschlechtliche Beziehungen mit der nötigen Vorsicht umdenkt und in dieser abgewandelten Form verwertet. Selbst die Enträtselung psychischer Vorgänge bei Geisteskranken geschieht zum guten Teil durch analoge Anwendung von Erfahrungen, die aus der Beobachtung des Seelenlebens geistig gesunder Menschen hervorgegangen sind. Gesichtspunkte für die entsprechende Anwendung psychologischer Erfahrungen. Für diese Arbeit ist neben verstandesmäßigen Überlegungen oft auch die Betätigung der Intuition nötig. Vorausgesetzt wird ferner, daß gewisse psychologische Grundkenntnisse vorhanden sind und daß der Sachbearbeiter einiges Training besitze0 • Fehler entstehen vor allem dadurch, daß der Beurteiler zu sehr von sich auf andere schließt. Brauchbare Resultate sind nur zu erwarten, wenn er sich klarmacht, daß seine aus Selbstbeobachtung gewonnenen Erfahrungen in vielen Fällen keine Allgemeingültigkeit besitzen und für die Aufklärung seelischer Vorgänge in einer anders gearteten Persönlichkeit oft nur begrenzten Wert haben können. Die Bedingungen für das Zustandekommen einer gefühlsmäßigen Regung sind z. B. bei den einzelnen Menschen mitunter grundlegend verschieden. Die gleiche Situation löst manchmal ganz unterschiedliche Empfindungen aus. Auch die Verhaltungsweisen, mit denen sich der einzelne in ihr zu behaupten sucht, sind einander oft denkbar unähnlich. Eine 20 Lersch, Aufbau der Person (4) S. 359 f.; J. Volkelt, Erfahrung und Denken (1886) S. 420 ff.

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Der Indizienbeweis

schematische Übertragung der eigenen Reaktionstendenzen auf andere muß daher zwangsläufig zu Mißerfolgen führen. Je fremder für den Sachbearbeiter die Wesensart des zu Beurteilenden ist, desto mehr wird er zu einer entsprechenden Umformung seiner Erfahrung genötigt sein. Vielfach ist es für ihn bereits schwer zu ergründen, was bei einem bestimmten Anlaß in einem primitiven Menschen vor sich geht und welche Ideenverbindungen ihm am nächsten liegen. Noch größere Vorsicht ist erforderlich, wenn es sich darum handelt, psychologische Erfahrungen, die am psychisch gesunden Menschen gemacht worden sind, auf einen Geisteskranken entsprechend anzuwenden. Dazu sind meist Spezialkenntnisse erforderlich, die nur dem Psychiater zur Verfügung stehen. Herausarbeiten eines brauchbaren Erfahrungssatzes Oft erscheint zunächst zweifelhaft, ob eine Erfahrungsregel, die sich im gegebenen Fall vielleicht würde anwenden lassen, als bestehend angenommen werden kann. Manchmal sind darüber, wie ein solcher Erfahrungssatz allenfalls lauten könnte, ganz unterschiedliche Ansichten möglich. In der Rechtsprechung finden sich dafür instruktive Beispiele. Die Obergerichte sind nicht selten zu der Feststellung genötigt gewesen, daß der Unterrichter einen Erfahrungssatz als bestehend betrachtet und angewandt hat, der in Wahrheit nicht existiert oder den es zum mindesten in der gedachten Form nicht gibt.

Inbetrachtkommen zweier gegensätzlicher Erfahrungsregeln. Mitunter tritt der Fall ein, daß das Obergericht einen Erfahrungssatz für gegeben hält, der eine regelrechte Umkehrung dessen darstellt, was vom Unterrichter als gesicherte Erfahrung angesehen worden war: Die Angeklagte hatte sich wegen eines Deliktes zu verantworten, das bei Rückfälligkeit mit besonders harten Strafen bedroht ist. Sie war wegen des gleichen Vergehens (es handelte sich um Steuerhinterziehung) bereits früher mit Strafe belegt worden, jedoch nicht im Rahmen eines Strafprozesses vor dem ordentlichen Gericht, sondern durch die Steuerbehörde im Unterwerfungsverfahren. Objektiv betrachtet lagen die Voraussetzungen des strafschärfenden Rückfalls vor. Die Angeklagte machte jedoch geltend, sie habe nicht gewußt, daß es sich bei der vorausgegangenen Maßregelung im Unterwerfungsverfahren um eine Strafe handelte; sie habe die ihr auferlegten Zahlungen als Säumniszuschläge angesehen. Da nach Auffassung des erkennenden Gerichts eine Verurteilung wegen Rückfalls nur erfolgen konnte, wenn der Angeklagten der Strafcharakter der Vorstrafe zum Bewußtsein gekommen war, bedurfte diese

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Frage der genaueren Klärung. Das Untergericht hatte sie auf Grund eines Indizienschlusses verneint. Es war dabei von einem Erfahrungssatz des Inhalts ausgegangen, daß die im Unterwerfungsverfahren verhängten Strafen von den Betroffenen im allgemeinen nicht als Strafe im eigentlichen Sinn erkannt würden und hatte daraustrotzder Intelligenz und geistigen Regsamkeit der Angeklagten geschlossen, daß ihr diese Kenntnis gefehlt habe. Das Obergericht war demgegenüber der Ansicht, daß der vom Vorderrichter behauptete Erfahrungssatz nicht existiere. Es neigte vielmehr gerade zur Bejahung der gegenteiligen Erfahrungsregel und erklärte, die Annahme, daß ein geschäftsgewandter Angeklagter die im Unterwerfungsverfahren verhängte Strafe nicht als solche erkannt habe, könne nur unter ganz besonderen Umständen mit der Lebenserfahrung in Einklang gebracht werden; schon der gesetzliche Hergang des Unterwerfungsverfahreng wirke in aller Regel darauf hin, daß dem Betroffenen der Strafcharakter der ihm auferlegten Geldzahlungen nicht verborgen bleibt und daß bei ihm die Meinung, es handele sich um bloße Säumniszuschläge, nicht aufkommen kann21 • Zusammentreffen von Erfahrungen aus verschiedenen Bereichen Vielfach wirken beim Zustandekommen des Indizienschlusses einmal Erfahrungen mit, die aus Wahrnehmungen über allgemein menschliches Verhalten in bestimmten Lagen stammen; ferner solche, die sich auf allenthalben zu beobachtende berufliche Gepflogenheiten beziehen und schließlich solche, die einer bestimmten Zeitsituation entnommen und an sie gebunden sind. Dieses Zusammentreffen mag folgender Sachverhalt veranschaulichen: A verklagt den Kaufmann B auf Rückzahlung einer Hypothekensumme. B. erkennt an, das der Hypothek zugrunde liegende Darlehen erhalten zu haben, behauptet jedoch, daß er es kurz vor Beendigung des Weltkriegs II zurückgezahlt habe. Ein offenbar redlicher Zeuge bekundet, er habe 1944 von Personen, die in der Tat als gut orientiert gelten konnten, gehört, daß B damals Wertsachen verkauft und die Hypothek davon abgezahlt habe. Das erschien jedoch unglaubhaft, und zwar auf Grund von Erfahrungen aus den drei obengenannten unterschiedlichen Erlebnis bereichen: Es lagen nämlich keine Anhaltspunkte dafür vor, daß der Gläubiger bezüglich der schon seit langer Zeit bestehenden Hypothek 1944 auf Zahlung gedrängt hatte (allgemein menschliche Vorteilserwägung). Zudem 21

Urteil des Bayer. Ob.LG v. 7. 10. 1953 (Amtliche Sammlung N. F. 1953,

s. 175).

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war eine löschungsfähige Quittung nicht erteilt worden. Es erschien aber kaum glaublich, daß B als Geschäftsmann gezahlt haben sollte, ohne sich gleichzeitig eine solche aushändigen zu lassen (übliche kaufmännische Verhaltensweise). Es war auch kaum anzunehmen, daß B von sich aus noch kurz vor Kriegsende, wo jeder seine Sachwerte festzuhalten trachtete, Wertsachen eigens zu dem Zweck verkauft haben sollte, um eine Hypothek abzuzahlen, zu deren Ablösung für ihn kein unmittelbarer Anlaß bestand (Erwägungen, die aus der Zeitlage entnommen sind). Der Beweis der Hypothekenrückzahlung war damit mißlungen. Die Zeugenaussage, die in gewisser Weise für eine Rückzahlung hätte sprechen können, verlor (obwohl der Zeuge unverdächtig war) den größten Teil ihrer Überzeugungskraft, weil sie nach der allgemeinen Erfahrung allzu fragwürdig erschien 22 • Die Abstimmung des Erfahrungswissens auf die jeweilige Sachgestaltung

Notwendigkeit einer solchen Anpassung. Es genügt nicht, daß der Erfahrungssatz in einem gewissen gedanklichen Zusammenhang mit dem zu klärenden Punkt steht. Er muß vielmehr auf die Besonderheiten des Falles so genau zugeschnitten sein, daß eine überzeugende Schlußfolgerung möglich wird. Früher hat man in dieser Hinsicht meist keine sonderlich hohen Anforderungen gestellt. Noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein wurde vorwiegend mit starr formulierten Erfahrungssätzen gearbeitet, die ähnlich wie die alten Rechtssprichwörter zwar einen kostbaren Schatz an allgemeiner Lebensweisheit enthielten, aber mangels genauerer Zupassung des Erfahrungswissens auf die jeweilige Sachlage vielfach in die Irre führten. Selbst nach Einführung der freien Beweiswürdigung, die den Wahrheitsforscher zu einer stärker differenzierenden Anwendung des Erfahrungsstoffs hätte anleiten können, hatte man häufig noch die allzu stark vereinfachenden Formeln der älteren Zeit bei der Hand und wandte sie mitunter ziemlich kritiklos weiter an. Es hat jahrzehntelanger Anstrengungen bedurft, ehe es nach und nach gelang, die Erfahrungselemente mit Hilfe eines individualisierenden Vergehens angemessener zu verwerten. Während der letzten Jahrzehnte ist in dieser Hinsicht von der Rechtsprechung, ohne daß es sonderlich bemerkt worden wäre, eine beachtliche Arbeit geleistet worden 23 • 22 Einen derartigen Sachverhalt behandelt das Urteil des Kammergerichts Berlin-Ost vom 16. 9. 1954 in "Neue Justiz" Jg. 1954 S. 640. 23 Im Zivilprozeß liefert besonders die ständige Vervollkommnung des Prima fade-Beweises dafür einen eindrucksvollen Beleg. Die große Bedeu-

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Allgemein gefaßte Erfahrungsregeln, die dem Beurteiler stets fertig zur Verfügung stehen, gibt es heute nicht mehr allzu oft. Die wenigsten Regeln lassen sich ohne spezielle Anpassung verwenden. Meist müssen die einzelnen Elemente je nach Lage der Sache immer wieder neu zusammengefügt werden, wenn verläßliche Resultate zustande kommen s:Jllen24.

Hergang der Angleichung an die konkrete Sachlage. Der Wahrheitsforscher hat die Erfahrungsregel, ohne daß er dabei willkürlich mit ihr umgehen darf, seinem Fall durch denkende Verarbeitung so anzupassen, daß sie mit dessen wesentlichen Merkmalen zusammenstimmt. Die Suche nach einem brauchbaren Erfahrungsergebnis und seine Abstimmung auf die bereits feststehenden individuellen Einzelheiten des Sachverhalts vollziehen sich nicht selten in verschiedenen Stufen. Bevor die Feinarbeit beginnen kann, wird sich der Sachbearbeiter zunächst bemühen, einen Erfahrungssatz zu finden, der wenigstens ungefähr auf die zu klärende Frage hinzielt. Oft gelingt es erst nach einigen Anstrengungen, ihn auf den vorliegenden Sachverhalt zuzuschneiden. In anderen Fällen wieder schlagen diese Versuche ganz und gar fehl. Zuweilen ergibt sich, wenn man die in Aussicht genommene Erfahrungsregel der individuellen Situation entsprechend umbildet, daß sie dann ihre Schlüssigkeit einbüßt und damit ihren Aufklärungswert verliert. Das folgende Beispiel mag zeigen, wie notwendig eine sorgfältige Angleichung des Erfahrungssatzes an den speziellen Fall ist: In einem vom Reichsgericht am 11. 6. 1932 entschiedenen Rechtsstreit war jemand über eine schadhafte Fußmatte gefallen und dabei zu Schaden gekommen. Nach der dem Urteil in der amtlichen Entscheidungssammlung gegebenen Überschrift stellt dieses einen Erfahrungssatz des Inhalts fest, daß man auch beim vorsichtigen Überschreiten einer mit Kanten eingefaßten Kokosmatte, wenn sie stark abgenutzt ist, leicht mit dem Fuß hängen bleiben und dadurch zu Fall kommen kann. Diese Formulierung wird aber in ihrer Kürze dem Inhalt des Urteils, das die Erfahrungsregel sehr viel genauer auf den vorliegenden Sachverhalt zupaßt, nicht gerecht und wirkt dadurch g&adezu irreführend. Die Entscheidung beschreibt nämlich die Beschaffenheit der Kokosmatte, um die es sich handelte, noch konkreter: Sie war mit tung des Erfahrungswissens tritt auf diesem Gebiet besonders deutlich hervor. Demgemäß macht sich auch die Tatsache, daß es an eindringenden theoretischen Arbeiten über die Anwendung von Erfahrungsergebnissen mangelt, nirgends so unangenehm bemerkbar wie beim Beweis des ersten Anscheins. Das Schrifttum über diese Spezialmaterie ist zusammengestellt bei H. Wassermeyer, Der Prima facie-Beweis (1954) und E. Schneider, Die Beweiswürdigung (1960). 24 Die Erfahrungsregel ist in ihrer besonderen, auf den jeweiligen Fall abgestellten Fassung- wie sich von selbst versteht- auf andere Sachverhalte nur beschränkt anwendbar. Das ist jedoch kein Grund, die Brauchbarkeit des Begriffs "Erfahrungssatz" überhaupt zu bezweifeln, wie W. Sauer es (Allgemeine Prozeßrechtslehre S. 188) getan hat.

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einer zopfartigen Kante umflochten, die sich infolge der starken Abnutzung an einigen Stellen von der Matte gelöst hatte. Die Kante lag jedoch nach wie vor an der Matte an, so daß ihre Abtrennung auch bei genauerem Hinsehen nicht zu bemerken war. Wenn beim Überschreiten der Matte die Schuhspitze zwischen Kante und Mattenkörper geriet, konnte man infolgedessen leicht hängen bleiben und dadurch zu Fall kommen. Alle diese Einzelheiten waren nötig, um den vom Gericht in Aussicht genommenen Erfahrungssatz der gegebenen Sachlage genau anzupassen und so eine verläßliche Schlußfolgerung zustande zu bringen. Das Reichsgericht bezog sie daher auch sämtlich in seine Argumentation ein, indem es erklärte, bei jeder in der fraglichen Weise abgenutzten Matte bestehe die Gefahr, daß man mit dem Fuß hängen bleibe 25 • Wenn das Erfahrungswissen und der bisher bekannte Sachverhalt nicht sogleich miteinander in Einklang zu bringen sind, so ist übrigens unter Umständen nicht nur dadurch eine Übereinstimmung zwischen ihnen zu erreichen, daß man den Erfahrungssatz modifiziert. Mitunter hat die auf das Zustandekommen eines überzeugenden Indizienschlusses gerichtete Arbeit gerade dann Erfolg, wenn man umgekehrt bei gleichbleibendem Erfahrungssatz die Anknüpfungstatsachen, soweit das angängig ist, ergänzt oder entsprechend umformt. Manchmal ist es sogar nötig, sowohl die Tatsachengrundlage des Indizienschlusses als auch die Erfahrungsregel in angemessener Weise umzubilden. Prüfung der Erfahrungsregel auf ihre Verläßlichkeit Allgemeines. Es gibt Erfahrungsergebnisse, die absolute Geltung haben, wie z. B. der Satz, auf den sich der Alibibeweis gründet, daß niemand an zwei Orten zugleich sein könne. Wir kennen ferner Erfahrungsregeln, die sich mit gleicher Kraft durchsetzen, wie ein allgemein anerkanntes Naturgesetz; so etwa die Grundsätze, welche die Wissenschaft bei der Blutgruppenuntersuchung hinsichtlich der Blutgruppen A, B und Null entwickelt hat. Sie sind im Rahmen der gegenwärtigen Naturerkenntnis so sicher verbürgt, daß ihre Geltung in jedem Einzelfall bejaht werden muß.

Als sozusagen unumstößlich kann auch der Erfahrungssatz angesehen werden, daß die Papillarlinien an den Fingerkuppen einer Person sich von denen aller anderen Menschen unterscheiden. Die Aussicht, daß zwei Personen den gleichen Fingerabdruck haben könnten, entspricht, wie man berechnet hat, dem Verhältnis von eins zu einer Septillion. Eine so starke Sicherheit, wie sie die Daktyloskopie hier verschafft, ist jedoch nur in verhältnismäßig wenigen Fällen gegeben. Die meisten Erfahrungsergebnisse vermögen für sich allein genommen nur eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit zu schaffen. 2s

JW 1932 S. 3618.

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Die Zahl der Beobachtungsfälle. Sie kann von Einfluß darauf sein, ob die Erfahrung im Einzelfall als gesichert anzusehen ist oder nicht. Der Sachbearbeiter hat daher stets zu prüfen, ob der vorhandene Erfahmngsstoff mengenmäßig die Bildung einer verläßlichen Erfahrungsregel ermöglicht. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Erfahrungssatz sich auch in der vorliegenden Sache bewährt hat, ist eine beträchtliche, wenn seine Geltung durch zahlreiche Beobachtungen an gleichartigen Tatbeständen immer wieder bestätigt worden ist. Wo dagegen nur wenige als Beleg geeignete Fälle bekannt sind, pflegt das die Gewinnung verläßlicher Erfahrungsergebnisse nicht gerade zu erleichtern. Andererseits kommt es nicht immer allein auf die Zahl der Vorgänge an, aus denen eine bestimmte Erfahrung abgeleitet wird. Auch wenn nur verhältnismäßig wenige Probefälle vorhanden sind, können diese für die Sachaufklärung wertvoll sein, sofern sie über einen längeren Zeitraum verteilt sind und sich unter verschiedenartigen Umständen ereignet haben, das Resultat aber stets das gle1che geblieben ist. Manchmal sind schon zwei oder drei Vorfälle gleicher Art, die der Beurteiler in Erinnerung hat, mit dem in ihnen verkörperten Erfahrungsmaterial für die Aufklärung von Nutzen, falls es sich dabei nicht um Zufallserlebnisse, sondern um solche handelt, die gerade in der fraglichen Hinsicht aufschlußreich und typisch sind. Selbst ein einziges Erlebnis vermag, wenn es in seinen Voraussetzungen und seinem Hergang klar liegt und als repräsentativ für eine größere Zahl gleicher Vorfälle gelten kann, unter besonderen Umständen gewisse Erkenntnisse zu liefern.

Künstliche Erweiterung der Erfahrungsgrundlage. Wenn das vorhandene Material nicht zulangt, läßt es sich bisweilen durch eigens für diesen Fall angestellte Versuche vervollständigen. Vorausgesetzt wird dabei, daß die für eine Erprobung erforderliche tatsächliche Situation sich durch willkürliche Vorkehrungen herbeiführen läßt. Mitunter werden solche Versuche von dem hinzugezogenen Sachverständigen vorgenommen; in einfacheren Fällen unternimmt sie der Beurteiler selbst. Dieser Weg ist jedoch nicht gangbar, wenn zur Beschaffung von hinreichendem Erfahrungsstoff eine Beobachtungszeit von etlichen Jahren erforderlich sein würde, während die prozessuale Tatsachenforschung spätestens in einigen Monaten abgeschlossen sein muß. Bei neu konstruierten Maschinen oder eben erst eingeführten technischen Verfahren bedarf es oft einer längeren Praxis, ehe sich über ihre Bewährung etwas Sicheres sagen läßt.

Unausgeglichene ErfahTungsergebnisse. Die Verläßlichkeit eines Erfahrungssatzes ist auch davon abhängig, inwieweit die zur Verfügung

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stehenden Beobachtungsfälle ein einheitliches Resultat ergeben. Es kommt darauf an, ob sie alle in die gleiche Richtung weisen. Wo es an einer hinlänglichen Eindeutigkeit der Erfahrungsergebnisse fehlt, nützt natürlich auch die große Zahl der beobachteten Vorgänge wenig. Soweit die für die Bildung eines Erfahrungssatzes in Betracht kommenden Erlebnisse konkret faßbar sind, ist zu erwägen, ob sich Fälle darunter befinden, in denen die Erfahrungsregel nicht bestätigt wurde. Bejahendenfalls ist festzustellen, mit welcher Häufigkeit und welcher Streubreite sie auftraten, wie groß die Abweichungen vom Hauptergebnis im einzelnen waren; ob diese nicht etwa durch besondere Umstände zufälliger Art veranlaßt wurden und daher die Geltung des in Aussicht genommenen Erfahrungssatzes nicht beeinträchtigen. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich mitunter, daß wirkliche Widersprüche innerhalb des Erfahrungsmaterials gar nicht vorhanden sind. Bleibt dieses allerdings letzten Endes zwiespältig und unausgeglichen, so erschwert das stets die Bildung einer starken Regel. Zuweilen scheint es mehrere einander widersprechende Erfahrungsgrundsätze zur Verfügung zu stellen26 • In solchen Fällen besteht die bei Anwendung des Erfahrungswissens zu leistende Arbeit hauptsächlich darin zu klären, welche der von ihm nahegelegten gegensätzlichen Regeln die zutreffende ist. Manchmal löst sich die Schwierigkeit, wenn man die beiden voneinander abweichenden Erfahrungsnormen darauf untersucht, welche von ihnen unter Berücksichtigung aller Umstände als die stärkere anzusehen ist. Nur selten haben sie die gleiche Kraft. Oftmals ist eine von ihnen trotz des Vorliegens gegenteiliger Momente als die für den gegebenen Fall eigentlich maßgebende anzusehen.

Fragwürdige Auslese des Erfahrungsstoffs. Der Umstand, daß zahlreiche Beobachtungsfälle mit gleichem Ergebnis vorliegen, besagt nur wenig, wenn das Material keinen soliden Durchschnitt darstellt und daher kein getreues Abbild der Wirklichkeit ist. Eine solche Einseitigkeit kann ohne menschliches Zutun allein infolge äußerer Umstände zustande kommen z. B. dadurch, daß die dienstlichen Erfahrungen des Beurteilers, von denen er ausgeht, im Rahmen einer speziellen, immer wiederkehrenden Situation gewonnen und stets unter dem gleichen besonderen Gesichtswinkel allzu eng aufgefaßt worden sind. Eine einseitige Auswahl des Materials kann aber auch daraus hervorgehen, daß das Erfahrungsgedächtnis dem Sachbearbeiter auf Grund einer ihn beherrschenden vorgefaßten Meinung nur eine tendenziöse Auswahl von Beobachtungsfällen präsentiert. Dergleichen kann beson26

Joh. Wilh. Tevenar, Theorie der Beweise im Zivilprozeß (1780) S. 36.

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ders vorkommen, wenn nationales Ressentiment oder religiöse Leidenschaft mit im Spiel sind. Der Beurteiler wird dann unter Umständen leicht zur Annahme eines unzutreffenden Erfahrungssatzes veranlaßt, weil seine innere Parteinahme eine unbefangene Erwägung verhindert27. Berichtigung überhoLter Erfahrungen. Unser empirisches Wissen ist in den meisten Fällen kein endgültiges. Es kann durch neue Beobachtungsfälle jederzeit ganz oder teilweise außer Kraft gesetzt werden. Manchmal sind bestimmte Erfahrungsergebnisse längere Zeit als völlig gesichert angesehen worden, bis sich schließlich herausstellt, daß sie in irgendeiner Hinsicht der Berichtigung bedürfen. Auch Erfahrungssätze, die Jahrzehnte oder, wenn man von kleineren Schwankungen absieht, vielleicht sogar Jahrhunderte unangefochten gegolten haben, können unter dem Ei~fluß neuer Realfaktoren, mit denen lange Zeit nicht gerechnet zu werden brauchte, an Überzeugungskraft verlieren. Selbst eine für so verläßlich gehaltene Regel wie die, daß das Kind vom Manne gezeugt sein, daß also eine geschlechtliche Beiwohnung im üblichen Sinne stattgefunden haben müsse, erscheint durch die Möglichkeit künstlicher Befruchtung neuerdings nur noch bedingt gültig.

Eine Korrektur langjähriger Erfahrungen kommt aber nicht nur auf naturwissenschaftlichem Gebiet vor, sondern kann jederzeit ebenso im psychologischen Bereich notwendig werden. Die so selbstverständlich erscheinende Regel, daß ein heruntergekommen aussehender Mensch nicht rechtmäßiger Eigentümer eines kostbaren Ringes oder einer wertvollen Schreibmaschine sein kann, hat im Kriege, wo viele Flüchtlinge unterwegs sind, die von ihrem Besitz nur das Wertvollste haben mitnehmen können, keine unbeschränkte Gültigkeit mehr. Ebenso kann der Erfahrungssatz, daß, wer von einem Unbekannten auf der Straße einen größeren Posten Zigaretten kauft, die strafbare Herkunft der Ware gekannt haben müsse, durch die Zeitsituation völlig außer Kraft gesetzt werden. Er hat vor allem dann keine Geltung mehr, wenn Tabakerzeugnisse unter Zwangsbewirtschaftung stehen und infolgedessen Waren dieser Art in beliebiger Menge nur im Schwarzhandel zu haben sind. Unter solchen Umständen wird leicht auch der rechtmäßige Eigentümer, wenn er höhere Gewinne erzielen will, genötigt, sich auf den Schwarzmarkt zu begeben und unter obskuren Begleiterscheinungen seine Vorräte anzubieten 28 . 21

Ritaer S. 86.

28 OLG Braunschweig v. 6. 12. 1947: Niedersächsische Rechtspflege Jg. 1948 S. 96; Zeitschriftfür Zölle und Verbrauchssteuern Jg. 1950 S. 79. 23 Döhring

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Der Indizienbeweis Auseinandersetzung mit Gegenerwägungen, die das Erfahrungsergebnis in Frage stellen

Notwendigkeit eingehender Prüfung. Gegen die meisten Erfahrungsregeln sind gewisse Einwände möglich. Es muß versucht werden, sie möglichst frühzeitig aufzuspüren. Manchmal ist dazu ein beträchtliches Maß an Scharfsinn, Vorstellungsvermögen und Kombinationsfähigkeit notwendig. Sind die aktuellen Gegenerwägungen erst einmal ausfindig gemacht worden, dann hat der Sachbearbeiter sich mit ihnen in angemessener Weise auseinanderzusetzen29 , indem er die letzten Endes nicht stichhaltigen Bedenken als solche klarstellt und den begründeten Einwänden Geltung verschafft. Der Indizienbeweis kann nur dann als hieb- und stichfest betrachtet werden, wenn alle Einwendungen, die geeignet sein könnten, seine Überzeugungskraft zu schwächen, ins Auge gefaßt und erwogen worden sind. Die dabei zu leistende D~nkarbeit mag folgendes Beispiel veranschaulichen, auf das später noch mehrfach zurückgegriffen werden wird: Eine Kindesmutter geriet in den Verdacht, ihr Kind gleich nach der Geburt getötet zu haben, bestritt jedoch die Tat. Als Indiz dafür, daß die Kindestötung von ihr im voraus geplant gewesen (und demgemäß auch durchgeführt worden) sei, bot sich unter anderem der Umstand an, daß sie für den Fall der Entbindung keinerlei Kinderwäsche beschafft hatte. Man ging dabei von dem Erfahrungssatz aus, daß eine werdende Mutter regelmäßig solche Vorbereitungen zu treffen pflege und schloß aus der Unterlassung vorsorgender Maßnahmen, daß die Beschuldigte von Anfang an auf Tötung des Kindes ausgegangen sei.

Gegenerwägungen allgemeiner Art. 1. Dieser Erfahrungsregel kann vielleicht entgegengehalten werden, daß in der Gegend, wo die Sache sich zugetragen hat oder in den sozialen Verhältnissen, in denen die Beschuldigte lebt, eine derartige Vorsorge nicht üblich sei, daß die werdende Mutter sich dort vielmehr auf die Hilfe der Nachbarn oder auf staatliches Eingreifen zu verlassen pflege. Dies wäre dann eine Gegenerwägung allgemeiner Art. Sie zielt darauf hin, daß der fragliche Erfahrungssatz nicht die ausgedehnte Geltung besitze, die er nach der gegebenen Formulierung für sich in Anspruch nimmt, und daß er somit nur beschränkt verwertbar sei30 • 2. Einen ähnlichen Charakter würde der Einwand haben, daß viele Frauen (zu denen unter Umständen auch die Beschuldigte gehört) die 30 BGHZ Bd. 12 S. 25; dort wird die Notwendigkeit einer gewissenhaften Auseinandersetzung mit etwaigen Gegengründen betont. zg BGH v. 1. 12. 1961: NJW 1962 S. 549.

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vorherige Beschaffung von Babywäsche aus einer Art von Aberglauben heraus unterlassen, indem sie fürchten, das Kind werde, wenn Vorsorge in dieser Hinsicht getroffen wird, nicht gesund zur Welt kommen. Auch diese Gegenerwägung zielt darauf ab, daß der Erfahrungssatz nur beschränkte Gültigkeit hat und infolgedessen vorliegend nicht zutrifft. Doch ist in diesem Fall der von gegenteiligen Vorstellungen beherrschte Personenkreis nicht so sehr durch die Herkunft aus einer bestimmten Gegend oder die Zugehörigkeit zu einem besonderen Milieu abgegrenzt, sondern durch den Einfluß abergläubischer Ansichten, die an allen Orten und in den verschiedensten sozialen Schichten vorkommen können.

Einwendungen aus der speziellen Sachlage heraus. 1. Wenn in dem angeführten Beispiel die der Kindestötung verdächtige Mutter geltend macht, daß sie sich bei der Berechnung des voraussichtlichen Geburtstermins um einen Monat geirrt und aus diesem Grunde noch keine Maßnahmen zur Beschaffung von Kinderwäsche getroffen habe, so wird dadurch der Erfahrungssatz als solcher nicht angegriffen, sondern im Gegenteil als bestehend vorausgesetzt. Der Einwand bemängelt vielmehr, es liege eine stillschweigende Voraussetzung der Erfahrungsregel nicht vor, daß nämlich geeignete Vorbereitungentrotz Kenntnis des richtigen Zeitpunktes der Niederkunft unterlassen worden seien. In der Tat würde sich, falls diese notwendige Bedingung nicht erfüllt war, die Unanwendbarkeit der Erfahrungsregel ergeben. 2. Eine andere Gegenerwägung individueller Art, die den Erfahrungssatz selbst bestehen läßt, ihn aber für den vorliegenden Fall aus besonderen Gründen unanwendbar macht, würde gegeben sein, wenn sich herausstellt, daß die Kindesmutter bereits zwei Totgeburten gehabt und daß sie vorsorgende Maßnahmen in der Annahme unterlassen hat, es werde wiederum zu einer Totgeburt kommen. 3. Einen noch persönlicheren Charakter würde die Überlegung haben, daß die Beschuldigte vielleicht einfach auf Grund ihres angeborenen Phlegmas zu keinen Vorkehrungen für den Fall der Geburt gekommen ist.Alle solche Einwendungen (gleichgültig, ob sie allgemeiner oder spezieller Natur sind) stellen ernst zu nehmende Bedenken gegen die Anwendbarkeit der Erfahrungsregel dar. Sie können dem Strafverteidiger als Hilfsmittel dienen, wenn er einen Erfahrungssatz, der zur Überführung des Beschuldigten beitragen würde, außer Kraft setzen will. Sie kommen aber auch der Ermittlungsbehörde zustatten, wenn es sich für sie darum handelt, Erfahrungselemente, die zur Entlastung des Beschuldigten mithelfen könnten, als im gegebenen Fall nicht zutreffend zu erweisen. 23*

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Trotz möglicher Einwände gegen die Erfahrungsregel kann diese im Einzelfall völlig intakt sein. Es kommt stets darauf an, ob sie als solche fest gegründet ist oder etwa von vornherein auf schwachen Füßen steht; ferner darauf, wie schwer die gegen sie gerichteten speziellen Bedenken wiegen. Selbst wenn die Gegenerwägung sich nicht völlig widerlegen läßt, kann der Erfahrungssatz immer noch sehr stark sein und entscheidend ins Gewicht fallen.

Planmäßiges Forschen nach aktuellen Einwänden. Manche Gegenargumente sind von der Art, daß sie am ehesten vom Betroffenen bemerkt und daher im allgemeinen auch von ihm selbst geltend gemacht werden; so wird im genannten Beispiel die Einwendung, daß die Kindesmutter den Termin ihrer Niederkunft irrtümlich um einen Monat zu spät angenommen habe, meist von ihr selbst vorgebracht werden. Der Sachbearbeiter darf sich jedoch nicht ganz und gar darauf verlassen, daß die Beteiligten ihm solche Materialien von sich aus beibringen. Auch bei höchst persönlichen Einwendungen kann es geschehen, daß die Partei sie aus irgendwelchen Gründen nicht geltend macht. Daher ist eine vorsichtige, tastende Wachsamkeit in dieser Hinsicht erforderlich, zumal wenn dem Betroffenen durch hochgradige Aufregung, Intelligenzmängel oder ähnliche Umstände eine sachgemäße Mitarbeit erschwert wird. Einseitige Einstellung des Beurteilers als Hindernis. Mitunter wird auch der redliche Sachbearbeiter durch eine gewisse Voreingenommenheit an der genauen Erforschung der Gegenerwägungen gehindert. Dazu kann es z. B. kommen, wenn er sich bereits eine feste Meinung gebildet hat, die er für sicher zutreffend hält und die er auf alle Fälle beibehalten möchte. Er neigt dann manchmal dazu, Beweismomente, die in die gewünschte Richtung deuten, allzu stark zu beachten und darüber die Gegenerwägungen zu vernachlässigen. Zuweilen liegt dabei eine tief im Unbewußten gehegte Besorgnis zugrunde, daß ein allzu genaues Eingehen auf abweichende Überlegungen die Lösung der Tatfrage in dem vom Beurteiler für richtig gehaltenen Sinne erschweren könnte. Wenn jedoch die dem Sachbearbeiter vorschwebende Rekonstruktion des Hergangs dem wahren Sachverhalt entspricht, wird es in der Regel auch möglich sein, etwaige gegen sie gerichtete Einwände zu entkräften. Man muß sich stets vor Augen halten, daß erst nach gewissenhafter Prüfung der Gegenargumente abgeschätzt werden kann, ob die vom Wahrheitsforscher erstrebte Lösung wirklich so gesichert erscheint, daß sie als die allein zutreffende angesehen werden darf. Manchmal will der Beurteiler einen begründeten Einwand nur deshalb nicht recht gelten lassen, weil er ihn in seiner Bedeutung nicht erkannt hatte und erst von einem anderen Prozeßbeteiligten darauf auf-

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merksam gemacht worden ist. Wenn man sich jedoch beizeiten an den Gedanken gewöhnt, daß der Beschuldigte, der Ermittlungsbeamte, der Anklagevertreter, der Richter und der Verteidiger alle zur tätigen Mitwirkung am Verfahren berufen sind, wird die bereitwillige Berücksichtigung fremder Einwände nicht sonderlich schwerfallen. Werden berechtigte Gegenerwägungen erst am Ende des Verfahrens als solche erkannt und macht ein Eingehen auf sie eine völlige Neuorientierung nötig, dann ist für den Verfahrensleiter dazu freilich unter Umständen einige Selbstverleugnung nötig.

Trügerische Sicherheit. Der Beurteiler darf sich durch eine nur scheinbare Verläßlichkeit der Argumentation nicht täuschen lassen, sondern muß erproben, ob die einzelnen Teile des Indizienbeweises einer starken Beanspruchung standhalten. Er sollte auch nicht zuviel aus einem einzigen Indiz herleiten wollen. Manchmal wird bestimmten Beweisanzeichen mit einiger Unbekümmertheit ein viel zu großer Erkenntniswert beigelegt. Der Grund für eine Überforderung des Beweismaterials kann verschiedener Art sein; er kann u. a. auch darin liegen, daß dem Beurteiler das nötige Training für die Handhabung des Indizienbeweises fehlt. Eine häufige Ursache fehlerhafter Indizienschlüsse ist ferner die Sorglosigkeit, mit der subjektive Elemente, die in die Argumentation hineingelangt sind, ohne weitere Erprobung für maßgebend gehalten werden. Daß sie hier und da in die Tatsachenfeststellung eindringen, ist manchmal gar nicht zu vermeiden. Der Sachbearbeiter darf sich dabei jedoch nicht beruhigen, sondern muß sich bemühen, sie durch kritische Betrachtung zu objektivieren. Er ist verpflichtet, sie, soweit irgend möglich, an Hand exakter, Sicherheit gewährender Anhaltspunkte zu überprüfen. Erst wenn das geschehen ist, besteht Aussicht auf ein verläßliches Ergebnis. Für geistige Hasardeure, die sich ganz auf ihre Intuition verlassen, ist in der Tatsachenforschung und speziell im Bereich des Indizienbeweises keine Stelle. Berücksichtigung des Atypischen

Das Problem. Die Erfahrung kann, obwohl sie in vielen Fällen zur Entdeckung des wahren Sachverhalts führt, nicht die alleinige Richtschnur für die Wahrheitstindung bilden31 • Das Erfahrungswissen vermag oft nur den allgemeinen Rahmen zu geben, innerhalb dessen den Besonderheiten des Falles, die nicht im Erfahrungsmaterial enthalten sind, Rechnung getragen werden muß. 31

E. Seelig, Schuld, Lüge, Sexualität (1955) S. 123.

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Der Beurteiler ist nur dann des Erfolges sicher, wenn er neben den allgemeinen Erfahrungsregeln auch die individuelle Eigenart des gerade vorliegenden Sachverhalts hinreichend beachtet. Er hat jeweils zu prüfen, ob Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß die aus früheren Beobachtungen abgeleitete allgemeine Regel sich hier möglicherweise nicht bewahrheitet hat. Man könnte denken, daß die Besonderheiten des Falles nur ausnahmsweise eine ausschlaggebende Bedeutung für die richtige Feststellung des Sachverhalts haben werden. Aber die auf die Erfassung der individuellen Momente abgestellte Betrachtung bleibt dem Wahrheitsforscher kaum irgendwo erspart. Er muß sie sogar besonders pflegen, um ein Gegengewicht gegen die starke Suggestivkraft der Erfahrungsregeln zu schaffen. Zuweilen erweist sich diese als so mächtig, daß widersprechende Erwägungen dagegen in keiner Weise aufkommen können. Selbst für den routinierten Praktiker ist es im modernen Massenbetrieb oft schwer, sich den Blick dafür zu erhalten, daß das Leben sich gar nicht so selten in einer vom Üblichen abweichenden Weise vollzieht und daß vielleicht gerade diese, den bisherigen Beobachtungen entgegengesetzte Gestaltung im vorliegenden Fall Wirklichkeit geworden ist. Damit soll nicht gesagt sein, daß der Beurteiler vorzugsweise dem von der Erfahrung Abweichenden seine Aufmerksamkeit zuwenden sollte. Er ist im Gegenteil angesichts der vielen zu bearbeitenden Vorgänge genötigt, immer wieder vom üblichen Verlauf auszugehen und wird damit oftmals das Richtige treffen. Aber er sollte doch nie ganz außer acht lassen, daß gelegentlich auch das Unwahrscheinliche Ereignis werden kann, und den Mut aufbringen, das Regelwidrige gelten zu lassen, wenn die Sachlage dies hinreichend nahelegt. Das gilt nicht nur für die Erforschung physischer, sondern auch für die Aufhellung psychischer Tatbestände.

Atypische Gestaltung seelischer Vorgänge. Bei ihnen kommt es besonders leicht vor, daß die im Erfahrungssatz nicht enthaltenen Besonderheiten gerade das Charakteristische des Falles ausmachen. Freilich kann vielfach vorausgesetzt werden, daß Menschen in derselben Lage die gleiche Empfindung haben und sich gleichförmig verhalten. Dieselbe Situation ruft auch bei Personen von unterschiedlicher Wesensart oft übereinstimmende Reaktionen hervor. Manchmal kann sogar gesagt werden, daß in der fraglichen Lage alle geistig gesunden Menschen in gleicher Weise zu reagieren pflegen. Die Schlußfolgerung, daß auch der im vorliegenden Fall Betroffene sich ebenso verhalten haben wird, ist besonders überzeugend, wenn er bisher keinerlei Neigung zu eigenwilligem oder absonderlichem Benehmen gezeigt hat.

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Andererseits ist die Annahme, daß eine bestimmte psychologische Erfahrung sich vorliegend wiederum bewahrheitet haben wird, häufig nur mit Einschränkungen gerechtfertigt, weil jeder Mensch ein irgendwie unbekanntes und in mancher Hinsicht unberechenbares Wesen ist, das sich vielleicht gerade in der in Betracht kommenden Beziehung den allgemeinen Verhaltensgewohnheiten nicht fügt. Der Sachbearbeiter hat daher die Frage, in welchem Umfang sein Fall überhaupt den herkömmlichen Erfahrungsregeln untersteht, gründlich zu erwägen. Entbehrlich ist das Erfahrungswissen freilich auch bei sehr speziell gelagerten Geschehenszusammenhängen nicht. Selbst bei ausgesprochen singulären Gestaltungen muß auf allgemeine Erfahrungen zurückgegriffen werden; aber eben nur in den Punkten, die nicht durch die Besonderheit der Sachlage bereits entscheidend vorbestimmt sind. In einem der Rechtsprechung entnommenen Fall handelte es sich darum, klarzustellen, ob der Beschuldigte bei einer bestimmten Gelegenheit unzüchtige Handlungen an einem jungen Mädchen vorgenommen hatte. Es stand fest, daß die konkrete Situation, in der er sich mit seiner Partnerin befunden hatte, dazu sehr verlockte. Das Untergericht sah die unzüchtige Handlung mit der Begründung als erwiesen an, daß es bei dem gegenwärtigen allgemeinen moralischen Tiefstand jeder Lebenserfahrung widersprochen haben würde, wenn der in der Vollkraft der Jahre stehende Beschuldigte unter so günstigen Umständen nicht wenigstens einen unzüchtigen Griff gewagt hätte. Auf die sittlichen Qualitäten gerade dieses Beschuldigten und seine Widerstandskraft angesichts der in der Situation liegenden Versuchung wurde dabei nicht näher eingegangen. Demgegenüber wies das Obergericht mit Recht darauf hin, daß der Beweis der unzüchtigen Handlung nicht allein mit Hilfe einer lediglich auf die allgemeine Durchschnittserfahrung gegründeten Argumentation geführt werden könne 32 • In einer Verkehrsstrafsache bedurfte es (um noch ein weiteres Beispiel anzuführen) der Klärung, ob der angeklagte Kraftfahrer, statt auf der rechten Straßenseite zu bleiben, vorschriftswidrig die Straßenmitte befahren hatte. Das Untergericht hielt dies für erwiesen und verwertete dabei unter anderem die Erfahrungstatsache, daß bei so stark gewölbter Straßendecke, wie sie im fraglichen Fall gegeben war, die meisten Kraftfahrer die Mitte der Straße zu befahren pftegen33 • Aber die Erwägung, daß das vorschriftswidrige Befahren der Straßenmitte durch die Umstände nahegelegt war, ist als Argument zum mindesten so lange schwach, als die Persönlichkeit des Fahrers nicht näher in Augenschein genommen wird. Vielleicht gehörte er gerade zu den pflichtbewußten 3!

~3

KG vom 15. 7. 1929: JW 1931 S. 234. RG JW 1938 S. 3161.

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Menschen, die einer in der konkreten Situation liegenden Verlockung zu widerstehen vermögen. Vielleicht hatte er sonstige Gründe, sich allgemein oder doch in der fraglichen Beziehung korrekt zu verhalten. Manchmal kann sich wegen dieses Einflusses der individuellen Eigenart auf das menschliche Verhalten ein fester Erfahrungssatz überhaupt nicht bilden. In anderen Fällen wiederum läßt sich zwar eine allgemeine Erfahrungsregel aufstellen; aber es gelingt nicht, ihr stärkere Überzeugungskraft zu verschaffen. Wie vorsichtig bei der Beurteilung psychischen Geschehens auf Grund von Erfahrungswissen vorgegangen werden muß, mag noch folgender Fall zeigen: Der Angeklagte stand wegen Totschlags vor Gericht. Er bestritt nicht, das Verbrechen begangen zu haben, führte aber zu seiner Verteidigung an, daß die Getötete ihm, ehe er sie erwürgte, mit einer Strafanzeige bestimmter Art gedroht habe. Das Schwurgericht hielt dieses Entlastungsvorbringen auf Grund der Erwägung für unwahr, daß eine solche Drohung vom Standpunkt der Getöteten "völlig unsinnig" gewesen wäre, weil sie durch eine Strafanzeige der gedachten Art zugleich sich selbst einer strafgerichtliehen Verfolgung ausgesetzt haben würde. Die Richter gingen also von der psychologischen Erfahrung aus, daß niemand im Ernst mit einer Strafanzeige drohen wird, durch die er sich selbst der Strafverfolgungsbehörde überliefern würde. Indessen, soviel diese Erwägung in der Regel für sich haben mag: Ein ganz uneingeschränkt gültiger Erfahrungssatz dieser Art läßt sich nicht aufstellen. Es gibt vielmehr Situationen, in denen die natürliche Rücksicht auf das eigene Wohlergehen nicht mehr zur Geltung kommt. Die Getötete konnte mit einer Strafanzeige der vom Angeklagten genannten Art trotz der für sie damit verbundenen erheblichen Nachteile gedroht und ihre Drohung durchaus ernst gemeint haben, wenn eine starke Verbitterung oder heftige Rachegefühle dazu geführt hatten, daß sie den in Aussicht stehenden eigenen S~aden willig in Kauf nahm. Die allgemeine Regel, daß niemand mit einer Strafanzeige drohen wird, durch die er sich selbst hereinlegt, enthält zwar einen berechtigten Kern. Aber volle Überzeugungskraft besitzt sie nur, wenn zugleich dargetan werden kann, daß für den, der gedroht haben soll, keine Gründe vorlagen, die ihn dazu bringen konnten, daß er den ihm selbst aus der Anzeige erwachsenden Nachteil für gering hielt34 • Auch sonst darf niemals schematisch davon ausgegangen werden, daß die Beteiligten ihre Handlungsweise rein rational durchdacht und sich so verhalten haben, daß sie dabei die - verstandesmäßig betrachtet 34

OGH Brit. Zone Str. Bd. 1 S. 146.

Die Erfahrungsregel

361

günstigste Chance wahrnahmen. Man erlebt es in der gerichtlichen Praxis nicht selten, daß Parteien sich in einer Weise benehmen, die jeder vernunftmäßigen Überlegung widerspricht. Der Wahrheitsforscher hat dem bei geeigneter Sachlage Rechnung zu tragen 35 • Im Zivilprozeß kommen ebenfalls häufig Fälle vor, in denen die persönliche Eig.enart des einzelnen zur Abweichung vom landläufigen Hergang führt. Wenn ein Ehemann seine Pflichten gegenüber der Ehepartnerin gröblich verletzt und diese sich trotz Kenntnis der Verfehlungen auf eine Beiwohnung eingelassen hat, kann zweifelhaft sein, ob dies als "Verzeihung" im Sinne des Gesetzes zu werten ist. Man pflegt das auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung meist zu bejahen und tut in der Regel recht daran. Doch ist die Annahme, daß im Gestatten der Beiwohnung eine Verzeihung der vorausgegangenen Eheverfehlungen des Partners liegt, nicht immer zwingend. Vielmehr können u. U. Gestaltungen vorkommen, auf die dieser an sich gut bezeugte Erfahrungssatz wegen der Eigenart der Sachlage nicht anwendbar ist. Auch in anderen Fällen kann die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten des verletzten Ehegatten als Verzeihung zu werten ist, oft nur zutreffend beantwortet werden, wenn dessen persönliche Eigenart und die besonderen Umstände angemessen berücksichtigt werden. Soll man es als Verzeihung ehebrecherischer Beziehungen des Ehemanns betrachten, wenn die Frau ihren Mann, nachdem er wegen einer Reihe von Unterschlagungen rechtskräftig verurteilt worden ist, im Gefängnis besucht? Wer will, wenn die sonstigen Umstände keine sicheren Anhaltspunkte für die Beurteilung bieten, sagen, was in dieser Frau vorging, als sie sich zum Besuch im Gefängnis entschloß? Vielleicht beabsichtigte sie lediglich, die Chancen für einen Wandel in der Haltung ihres Ehemanns auf Grund der letzten Ereignisse zu prüfen und kam dabei zu einem negativen Ergebnis. Vielleicht hielt sie es ihrer ganzen Einstellung nach einfach für ihre menschliche Pflicht, diese Geste zu machen, ohne dabei an eine Verzeihung zu denken. Die Mannigfaltigkeit menschlicher Seelenregungen, die Verschiedenheit der Charaktere und Temperamente führt mithin häufig dazu, daß gerade bei Aufklärung psychischer Sachverhalte auch Möglichkeiten ernsthaft in Betracht gezogen werden müssen, die einem an sich gut bezeugten Erfahrungssatz widersprechen.

Begrenzter Wert von statistisch unterbauten Erfahrungen. Besonders naheliegend ist es, etwaige Besonderheiten des Falles zu Unrecht außer acht zu lassen, wenn die in Betracht kommenden Erfahrungen durch Zahlenmaterial bekräftigt werden. Auf den modernen Menschen wirken statistische Unterlagen mitunter so überzeugend, daß ihnen ein zu großer Beweiswert beigelegt wird. Man vergißt allzu leicht, daß statistische Angaben stets von einem gewissen Durchschnitt ausgehen müssen, dessen Wahrheitswert durch die Art des zugrunde gelegten Tatsachenstoffs und durch das angewandte Auswertungsverfahren sehr herabgemindert sein kann: Ein Benutzer der Eisenbahn war aus dem fahrenden Zug gestürzt. Im Prozeß versuchte die auf Zahlung verklagte Staatsbahn das Verschulden des Verunglückten durch Vorlage einer Aufstellung zu er35

Moore§ 171.

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Der Indizienbeweis

weisen, nach welcher alle in einem bestimmten Zeitraum bei der Eisenbahn vorgekommenen Unfälle dieser Art, soweit sie sich hatten aufklären lassen, auf ein schweres Verschulden des Fahrgastes zurückzuführen waren. Der Bundesgerichtshof hob jedoch hervor, daß für den Sturz eines Reisenden aus dem Zug mannigfache Ursachen denkbar seien, bei denen ihn kein Verschulden treffen würde:J•. Die vorgelegte Statistik war zudem auch deshalb ohne sonderliche Überzeugungskraft, weil sie keinen Aufschluß über die bei ihrer Anfertigung für ungeklärt gehaltenen Vorkommnisse gab, in denen unter Umständen ein hoher Prozentsatz von Unfällen enthalten sein konnte, für die der Verletzte nicht verantwortlich zu machen war.Zuweilen sind die statistischen Ergebnisse auf Grund eines Materials gewonnen worden, das aus einem engeren räumlichen Bereich stammt und daher für andere Gegenden und die dort wohnenden andersartigen Menschen nicht maßgebend sein kann. Manchmal wieder ist der Beobachtungsbereich der Statistiker so weit umgrenzt, daß infolgedessen ganz verschiedenartige Umstände und Verhältnisse mit erfaßt werden, wodurch sich die Aussicht auf ein dem vorliegenden Einzelfall voll gerecht werdendes Ergebnis stark verringert. Die Statistik kann somit bei der Sachaufklärung - so wertvoll ihre Hilfe mitunter ist - meist keine zwingenden Resultate liefern, sondern lediglich gewisse Anhaltspunkte geben, deren Brauchbarkeit für den Einzelfall jeweils zu prüfen ist.

Die Schlußfolgerung Feststellung, welche Sicherheit ihr innewohnt. Es war zunächst die Indizientatsache als solche ins Auge gefaßt und anschließend die Funktion des Erfahrungswissens beim Zustandekommen des Indizienbeweises betrachtet worden. Nunmehr richtet sich der Blick auf die Endphase des Denkvorgangs, nämlich auf die Schlußfolgerung, durch welche Indizientatsache und Erfahrungsregel miteinander verknüpft werden. Ihre Verläßlichkeit ist jeweils besonders zu erwägen. Sie versteht sich auch in den Fällen nicht von selbst, wo die indizierende Tatsache hinreichend gesichert ist und die Anwendbarkeit der Erfahrungsregel auf den gerade vorliegenden Sachverhalt keinen Bedenken unterliegt. Das Gesetz läßt begreiflicherweise auch in dieser Hinsicht im Stich. Die Rechtsprechung gibt ebenfalls nur wenige direkte Hilfen. Es bleibt daher in erster Linie der Theorie überlassen, die allgemeinen Grundsätze herauszuarbeiten. :Jft

BGH vom 7. 7. 1954: Autorecht Jg. 1955 S. 30.

Die Schlußfolgerung

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Gewiß kommen Fälle vor, in denen mit der Schlußfolgerung als solcher kein Irrtumsrisiko verbunden ist. Aber sehr oft wird der Indizienschluß doch durch irgendwelche Zweifel beeinträchtigt. Die Bedenken gegen seine Stichhaltigkeit lassen sich dann in die Frage zusammenfassen, die sich der Beurteiler immer zu stellen hat: Inwieweit kann die Schlußfolgerung als zwingend angesehen werden? Der Wahrheitsforscher muß prüfen, wie eng nach der Erfahrung der Zusammenhang zwischen der Indizientatsache und dem festzustellenden Umstand ist; er hat zu erwägen, ob zwischen ihnen eine so dauerhafte Verbindung besteht, daß im gegebenen Fall vom Indiz auf das Vorliegen des zu beweisenden Faktums geschlossen werden kann. Es bedarf dabei stets der Überlegung, ob trotz der vorhandenen, vielleicht sehr starken Hinweise auf eine bestimmte Sachgestaltung die Sache nicht doch anders gelegen haben könnte. Der Bearbeiter darf sich bei Erwägungen dieser Art zwar keiner übertriebenen Zweifelsucht hingeben, aber er hat etwaigen Bedenken gewissenhaft nachzugehen. Er sollte sich den Respekt vor der Vielgestaltigkeit des Lebens bewahren und mit den zahlreichen Möglichkeiten, die es für uns bereithält, rechnen. Wo ernst zu nehmende Zweifel vorliegen, die sich trotz intensiver Durehrlenkung nicht zerstreuen lassen, ist der Wahrheitsforscher verpflichtet, beherzt die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu ziehen. Bei einem Belastungsindiz, das zunächst überzeugend wirkt, ist zu prüfen, ob es sich nicht auch mit der Unschuld des Verdächtigen vereinbaren läßt. Bei einem Entlastungsindiz bedarf es ebenfalls der Überlegung, ob es unter den besonderen, hier gegebenen Umständen nicht auch im Falle der Täterschaft des Beschuldigten vorliegen könnte.

Häufige Schwäche des lndizienschlusses. Selbst wenn der mit Hilfe des Erfahrungswissens gezogene Schluß ziemlich verläßlich erscheint, ist er in der Regel doch nicht schlechthin zwingend 37 • Besonders bei komplizierten Sachverhalten fehlt rlem Ergebnis oft die völlige Eindeutigkeit; desgleichen bei Geschehnissen, die starke individuelle Eigenheiten aufweisen. In vielen Fällen ergibt der einzelne Indizienschluß nur eine mehr oder minder große Wahrscheinlichkeit. Der Wahrscheinlichkeitsgrad muß jeweils klargestellt werden. Wollte der Wahrheitsforscher sich in dieser Hinsicht seine Arbeit allzu leicht machen, so würde er Gefahr laufen, Indizien, denen nur unterstützende Wirkung zukommt, zur Hauptgrundlage der Entscheidung zu machen und umgekehrt. Es ist notwendig, daß einerseits die Kraft des Indizienschlusses- mag er nun zur Belastung oder zur Entlastung der Partei 37

Rupp

S. 97; Bohne, überzeugungsbildung S. 10 ff.

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Der Indizienbeweis

dienen - voll in Anschlag gebracht und andererseits sein Beweiswert nicht überschätzt wird. Nur wenn der Beurteiler das Gewicht der Schlußfolgerung zutreffend zu taxieren weiß, kann er diese entsprechend ihrer Bedeutung in das Gesamtbild einsetzen (darüber S. 429).

Doppelsinnige Beweisanzeichen. Einige Schwierigkeiten bieten in dieser Hinsicht zweideutige Indizien, die in dem einen wie im entgegengesetzten Sinne (z. B. sowohl zur Belastung als auch zur Entlastung des Beschuldigten) verwandt werden können: Wenn eine Scheune, augenscheinlich auf Grund von Brandstiftung, niederbrennt und der Besitzer sich noch kurz vor Ausbruch des Feuers in der Scheune zu schaffen gemacht hat, so kann man diesen Umstand als Indiz dafür ansehen, daß er den Brand selbst angelegt hat, und dieser Schluß würde, zumal wenn noch andere Beweisanzeichen unterstützend hinzukommen, einer gewissen Berechtigung nicht entbehren. Aber ebensogut kann man folgern, daß jemand, der einen Brand anlegen will, es nicht nötig hat, sich bis zum letzten Augenblick am Tatort aufzuhalten, daß er vielmehr umgekehrt eher versuchen wird, nach Legung spät wirkender Brandmittel auf die Reise zu gehen, um sich ein möglichst beweiskräftiges Alibi zu verschaffen. Solche doppelsinnigen (ambivalenten) Beweisanzeichen kommen ziemlich oft vor; am häufigsten in der Form, daß der auf eine bestimmte Sachgestaltung hinweisende indizielle Umstand allenfalls auch mit der gegenteiligen Auffassung vereinbar sein würde, daß er sich also auch in diese einfügt oder ihr doch wenigstens nicht geradezu hinderlich ist. Bei manchen Indizien handelt es sich in Wahrheit um regelrechte Verlegenheitsargumente, die als Füllmaterial überall verwandt werden können, wo man ihrer bedarf. Sie sind so anpassungsfähig, daß sie kaum irgendwo ernstliche Anstände verursachen. Ihr Zusammenstimmen mit der vom Beurteiler zugrunde gelegten Gesamtkonzeption besagt im Grunde nichts und kann daher auch nicht als Bestätigung für deren Richtigkeit angesehen werden. Es ist dies die Art von Beweisanzeichen, von denen man nicht mit Unrecht gesagt hat, daß sie, ohne wirkliche Verbindlichkeit zu besitzen, wie eine Hure jedem zu Willen sind, der sich ihrer bedienen möchte 38 • Manchmal passen zu der Annahme, daß A der Täter ist, alle bekannten Einzelheiten vorzüglich, bis schließlich aus irgendeinem vielleicht zufälligen Anlaß klargestellt werden kann, daß in Wahrheit B die Tat begangen hat. Nicht selten ergibt sich dann, daß die Indizien, die so sicher auf A als den Täter hinzuweisen schienen, ohne weiteres auch mit der Täterschaft des B in Einklang zu bringen sind, daß ihnen also ~8

Reik, Der unbekannte Mörder (1935) S. 143.

Beobachtung einer Vielzahl von Indizien in ihrem Zusammenwirken 365 für die Überführung des A in Wahrheit kein entscheidender Beweiswert zukam. Jeder lernt in der Praxis solche Fälle kennen, an denen man nach endgültiger Aufklärung der Sache genau studieren kann, auf Grund welcher Fehler in der Argumentation ein unzutreffender Indizienschluß zunächst so überzeugend wirken konnte39 •

Beobachtung einer Vielzahl von Indizien in ihrem Zusammenwirken

Notwendigkeit einer isolierten Prüfung. Wenn mehrere Beweisanzeichen für den gleichen Punkt vorliegen, ist zunächst jedes für sich auf seinen inneren Wert zu prüfen. Gewiß kann der Wahrheitsforscher auch in den Anfangsstadien ihre Wirkung im Zusammenhang nicht ganz außer acht lassen; aber die isolierte Erprobung hat zunächst doch im Vordergrund zu stehen. Es wäre in jedem nicht ganz einfach liegenden Fall gefährlich, wenn der Beurteiler das für einen bestimmten Punkt vorliegende Material gleich auf einmal einwerfen und versuchen wollte, das Endergebnis sozusagen in einem einzigen Arbeitsgang zu erzwingen4o. Zurechtlegen der Beweisanzeichen nach sachlichen Gesichtspunkten. Vielfach gruppiert sich das Material, wenn es geordnet worden ist und jedes Indiz den ihm zukommenden Platz erhalten hat, ohne sonderliche Mühe. Wo das nicht der Fall ist, muß auf Grund genauerer Erwägung jedem der Einzelteile sein richtiger Standort zugewiesen werden. Wenn geklärt werden soll, ob der Beschuldigte eine bestimmte Tat begangen hat, dann werden meist die für Tatzeit und Tatort vorhandenen Beweisanzeichen einen in sich geschlossenen Verband darstellen; desgleichen die Beweiselemente, die für den Aufenthalt des Beschuldigten am Tatort sprechen; ebenso die Indizien, die auf seine unmittelbare Mitwirkung bei der Verbrechensbegehung hindeuten usw. Innerhalb dieser großen Indiziengruppen können zur besseren Übersicht je nach der Art des Sachverhalts Untergruppen gebildet werden, die eine kleinere oder größere Anzahl von Beweisanzeichen zusammenhalten.

Die Zahl der Indizien und ihre Bedeutung für die Beweiswürdigung. Bei der Abschätzung des Wertes, den die für einen Umstand vorhanGroß-Seelig 1.47. Dieser Gesichtspunkt ist in anderem Zusammenhang bereits mehrfach erwähnt worden. Man wird solche Wiederholungen hoffentlich nicht auf leichtfertige Abfassung des Textes zurückführen. Sie sind auch in einer gut durchgearbeiteten systematischen Darstellung oft nicht zu vermeiden, zumal wenn Momente wiederholt erwähnt werden müssen, die erfahrungsgemäß leicht in Vergessenheit geraten. 38 40

Der Indizienbeweis

ll66

denen Beweisanzeichen in ihrer Gesamtheit haben, kommt es in erster Linie auf die Qualität der Indizien an, wenn ihre Zahl auch nicht ganz gleichgültig ist. Im 19. Jahrhundert hatte man der Zahl der Beweisanzeichen meist eine zu große Bedeutung beigemessen. Auch der Gesetzgeber versuchte damals vielfach ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Einzelfalls, eine Mindestzahl von Indizien zu bestimmen, die zur Feststellung eines Tatumstands notwendig sein sollte. Man glaubte, dadurch Fehler in der Handhabung des Indizienbeweises vermeiden zu können. Nennenswerte Erfolge konnten auf diese Weise jedoch nicht erzielt werden. Freilich gewinnt, wenn zahlreiche Indizien in die gleiche Richtung weisen, oft auch die darauf gegründete Schlußfolgerung irgendwie an Wahrscheinlichkeit. Hinzukommen muß aber stets, daß die Beweisanzeichen in ihrer Gesamtheit genügend Durchschlagskraft haben (S. 366 f.). Wichtiger als die Zahl ist ferner die Genauigkeit, mit der die Indizien sich in den Gesamtzusammenhang einfügen (S. 367), ihre größere oder geringere Reichweite (S. 368) und schließlich die Selbständigkeit, die das einzelne Beweisanzeichen den übrigen gegenüber besitzt (S. 369).

Indizien, die sich gegenseitig verstärken. Manchmal liegen zahlreiche Schuldindizien vor, von denen jedes für sich allein nur wenig besagt, die aber, weil sie alle gleichgerichtet sind, durch ihr Zusammenwirken doch ein leidlich sicheres Ergebnis liefern. In einer Strafsache wegen Einbruchsdiebstahls lagen für die Täterschaft des bereits wegen Hehlerei vorbestraften Beschuldigten folgende Beweisanzeichen vor, die alle gewissen Einwendungen ausgesetzt waren, aber insgesamt gleichwohl beträchtlichen Hinweiswert besaßen: -

ein nur teilweise erhaltener Fingerabdruck an dem erbrochenen Schreibtisch wies mit dem des Beschuldigten immerhin fünf charakteristische Übereinstimmungen (Minutien) auf, während für einen völlig verläßlichen Beweis seiner Anwesenheit am Tatort etwa zwölf solcher Merkmale nötig gewesen wären;

-

die bei der Festnahme des Beschuldigten in seiner Tasche gefundenen Einbrecherwerkzeuge paßten zu den Werkzeugspuren am Schreibtisch; doch war daraus noch nicht sicher zu entnehmen, daß der Beschuldigte es gewesen war, der sie dort benutzt hatte;

-

in der Wohnung des Beschuldigten wurden in einem Versteck Gegenstände gefunden, die aus dem fraglichen Einbruchsdiebstahl stammten. Darin konnte angesichts der Hehlerei-Vorstrafe ein Anhaltspunkt dafür erblickt werden, daß der Beschuldigte sich bezüglich dieser Sachen zum mindesten der Hehlerei schuldig gemacht habe; ein zwingender Hinweis auf seine Beteiligung am Einbruch lag im Besitz der gestohlenen Sachen nicht.

Beobachtung einer Vielzahl von Indizien in ihrem Zusammenwirken 367 Für sich allein erwies sich also jedes dieser Indizien als verhältnismäßig schwach; doch führte die Art, in der sie zusammenwirkten, dazu, daß die von ihnen nahegelegte Tatsachenannahme eine viel größere Überzeugungskraft erhielt als das einzelne Indiz bei isolierter Betrachtung ihr jemals hätte verschaffen können.

Beachtlicher Einfluß, den auch schwächere Indizien mitunter haben können. Wenn für einen Punkt zahlreiche kraftvolle Beweisanzeichen zur Verfügung stehen, die alle auf der gleichen Linie liegen, wird der Wahrheitsforscher keinen Anlaß haben, sich mit Indizien von geringerem Wert abzugeben. Wenn dagegen das Beweisergebnis aus irgendwelchen Gründen noch gewisse Zweifel übrig läßt, muß alles herangezogen werden, was zur Sachaufklärung allenfalls beitragen könnte. Dabei kann selbst ein schwaches Indiz auf Grund der Würdigung im Zusammenhang manchmal durchaus eine gewisse Wirkung haben. Mitunter erhält es schon allein dadurch einige Bedeutung, daß es die durch andere Indizien bereits sehr nahegelegte Tatsachenfeststellung eher begünstigt als behindert. Das alles gilt, wie immer wieder betont werden muß, sowohl für den auf Überführung des Beschuldigten gerichteten als auch für den zu seiner Entlastung dienenden Indizienbeweis. Harmonie zwischen den einzelnen Beweisanzeichen. Der Grad der Übereinstimmung zwischen den Indizien muß sorgfältig taxiert werden. Manchmal zeigen sich, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet, gegenläufige Tendenzen, die eine gewisse Unsicherheit in die Beurteilung bringen. Bisweilen scheint zwar eine vollkommene Harmonie der Beweiselemente vorhanden zu sein. Aber sie besagt bei genauerer Betrachtung doch nicht viel, weil sie nur dadurch zustande gekommen ist, daß die Teile allzu zweckbestimmt und nicht ganz ohne Gewaltsamkeit zusammengefügt wurden. Beim Zeugenbeweis wird unter Umständen durch Massensuggestion oder auch durch bewußte Parteilichkeit der Aussagepersonen ein lediglich äußerlicher Gleichklang der Bekundungen herbeigeführt, dem kein Erkenntniswert zukommt (S. 167). Beim Indizienbeweis wiederum kann ein unrichtiges Resultat daraus hervorgehen, daß der Sachbearbeiter selbst willkürlich mit dem Beweisstoff umspringt und so eine Harmonie herbeiführt, die auf Schein beruht. Ein überzeugender, auf die Richtigkeit des Ergebnisses hinweisender Zusammenklang liegt nur vor, wenn sich die Teile ohne eigenmächtiges Zurechtrücken ineinanderfügen. Auch eine ohne Künstelei völlig korrekt zustande gekommene Harmonie der Beweisanzeichen kann natürlich nur dann ein verläßliches Resultat erbringen, wenn die Indizien qualitativ zulangen. Wo für einen bestimmten Punkt nur die bekannten AllerweHsargumente vorliegen,

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Der Indizienbeweis

die stets zur Hand sind und in Wahrheit nichts besagen (S. 364), da hat die zwischen ihnen bestehende Übereinstimmung keinen Beweiswert

Geringe Reichweite einer Mehrheit von Beweisanzeichen. Die Überzeugungskraft des Indizienmaterials hängt außer von den eben genannten Momenten nicht zuletzt davon ab, wie ausgedehnt der Bereich ist, auf den es Bezug hat. Manchmal sind zahlreiche Indizien vorhanden; aber sie erstrecken sich nur auf einen schmalen Ausschnitt des zu erforschenden Gebiets. Sie klären diesen Ausschnitt zwar relativ gut, liefern aber doch nur einen kleinen Beitrag zur Aufhellung des Sachverhalts im ganzen. Beispiel: Der Eigentümer eines Landguts steht im Verdacht, sein Anwesen vorsätzlich in Brand gesteckt zu haben, um in den Besitz der Versicherungssumme zu kommen. Für seine Täterschaft liegen folgende Indizien vor: Der Beschuldigte befand sich in sehr ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Gläubiger hatten bereits mit dem Antrag auf Zwangsversteigerung gedroht. Der Feuerversicherungsvertrag war vom Beschuldigten, nachdem dieser lange überhaupt nicht versichert gewesen war, erst vor kurzem geschlossen worden, und zwar über eine ungewöhnlich hohe Summe. Der Beschuldigte konnte bei seiner schlechten finanziellen Lage kaum annehmen, daß er in der Lage sein werde, die hohen Prämien für längere Zeit aufzubringen. Er kam denn auch sogleich mit der Prämienzahlung in Rückstand. Der Versicherungsschutz wäre mangels Zahlung der Prämie am 30. 11. zum Erlöschen gekommen. Zwei Tage vorher brannten die Gutsgebäude ab. Obwohl alle diese Indizien in gewisser Weise aufschlußreich sind, weisen sie doch im Grunde nur darauf hin, daß angesichts der schlechten wirtschaftlichen Situation des Beschuldigten und der durch den Prämienrückstand entstandenen Zwangslage bei ihm ein starkes Interesse daran vorhanden war, daß sein Anwesen noch vor dem 30. 11. abbrannte. Aber keins dieser Beweisanzeichen zeigt den Beschuldigten bei der Vorbereitung der Brandlegung oder bei der Deliktshandlung selbst, so daß sie alle zusammen - wenn nichts weiter hinzukommt - nicht allzu viel besagen und für sich allein zur Überführung des Beschuldigten keineswegs hinlangen. Daß selbst eine große Zahl von Indizien unter Umständen keinen sicheren Beweis für die Täterschaft des Beschuldigten ergibt, weil sie sich alle nur auf einen kleinen Teil der zu klärenden Umstände beziehen, mag noch folgender, einer ganz anderen Sphäre entstammender Fall illustrieren: In einer Raubmordsache wurde am Tatort eine Schuhspur entdeckt, die mit den sichergestellten Schuhen des Beschuldigten übereinstimmte.

Beobachtung einer Vielzahl von Indizien in ihrem Zusammenwirken 369 Es wurde ferner in der Nähe des Tatorts im Gebüsch ein abgerissener Schnürsenkel gefunden, der zu dem im Schuh verbliebenen Senkelstück paßte. Schließlich ergab die Untersuchung der Erdreste an den Schuhen des Beschuldigten, daß sie die gleiche charakteristische Zusammensetzung aufwiesen wie das Erdreich am Tatort. Aber alle diese Beweisanzeichen tun lediglich dar, daß jemand mit den Schuhen des Beschuldigten vor kurzem in der Nähe des Tatorts gewesen ist. Ob das der Beschuldigte war und ob er sich gerade zur Tatzeit dort aufhielt, steht, wenn kein weiteres Indizienmaterial vorhanden ist, noch nicht fest. Zudem zeigt keins der Beweisanzeichen den Beschuldigten in engerem Zusammenhang mit der eigentlichen Verbrechenshandlung. Selbst wenn aus neu hinzukommendem Überführungsmaterial hervorgehen sollte, daß er gerade zur Tatzeit am Ort des Verbrechens gewesen ist, bliebe zweifelhaft, ob er der Haupthandelnde war oder sich durch Schmierestehen vielleicht lediglich als Gehilfe betätigt hat. Beweisanzeichen aus verschiedenen Richtungen. Das Zustandekommen eines sicheren Indizienschlusses wird dadurch sehr gefördert, daß übereinstimmende Beweisanzeichen vorhanden sind, die aus verschiedenen, voneinander unabhängigen Bereichen stammen. Das würde der Fall sein, wenn im letztgenannten Beispiel außer den Schuhspuren auch mündliche Äußerungen des Beschuldigten nachgewiesen werden, aus denen hervorgeht, daß er den verübten Raubüberfall geplant hat; wenn ferner unmittelbar am Tatort Indizien entdeckt werden, die auf eine Beteiligung des Beschuldigten an der Verbrechenshandlung hinweisen; wenn bei sexuellen Straftaten die Untersuchung seines Trieblebens ergibt, daß bei ihm ein starker Hang zur Begehung des verübten Delikts vorhanden war usw.

Die beträchtliche Beweiskraft eines solchen Buketts von Beweisanzeichen beruht darauf, daß diese sozusagen von verschiedenen Seiten auf die Sache zukommen und inhaltlich doch alle auf das gleiche Ergebnis hinzielen41 • Je unabhängiger die einzelnen Indizien bzw. Indizienbündel voneinander sind, desto mehr kann man - vorausgesetzt, daß sie auch qualitätsmäßig befriedigen -Zutrauen zu ihnen haben. Man hat die Situation, in der sich der Beurteiler bei dieser Prüfung befindet, derjenigen des Naturwissenschaftlers gegenübergestellt, wenn er eine in sein Fach einschlagende Untersuchung mit Hilfe verschiedener Methoden mehrfach wiederholt und dabei immer wieder zu demselben Ergebnis gelangt. Gewiß ist dieser Vergleich in mancher Hinsicht anfechtbar; doch vermag er das Gesagte gut zu veranschaulichen. 41 Mittermaier S. 433 f.; Bierting, Juristische Prinzipienlehre Bd. 4 8.120; Ritaer S. 203 ff. mit Beispielen aus dem älteren Schrifttum.

24 Döhrlng

(1911)

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Ineinandergreifen mehrerer lndizienschlüsse. Wenn der seine Täterschaft leugnende Beschuldigte durch Anzeichenbeweis überführt werden soll, so ist zu diesem Zweck meist ein umfangreiches Material nötig. Wie sich dabei die einzelnen Schlußfolgerungen gegenseitig ergänzen, mag der Harris-Fall, ein Prozeß aus der neueren englischen Justizgeschichte, illustrieren42 • Er ist zugleich ein Beleg dafür, mit welcher Gründlichkeit und welchem Ernst im angelsächsischen Rechtskreis Probleme der Tatsachenforschung auch dann behandelt werden, wenn dies weder durch staatspolitische Erwägungen nahegelegt wird noch das allgemeine Sensationsbedürfnis im Spiel ist. Allerdings kann von den vielen Problemen, die das Verfahren gegen Harris aufgeworfen hat, an dieser Stelle nur das erwähnt werden, was in dem hier gegebenen Zusammenhang wichtig erscheint. Die folgende Darstellung ist so gefaßt, daß nichts lediglich der Illustration halber mitgeteilt wurde, sondern ausschließlich Einzelumstände angegeben worden sind, die für die Beurteilung der Tatfrage eine gewisse Wichtigkeit besitzen. Der Fall erfordert, obwohl er tatbestandsmäßig ziemlich einfach liegt, eine eingehendere Überlegung, wenn er seinen Zweck als Musterbeispiel für das Zusammenwirken zahlreicher Indizien auf ein bestimmtes Ziel hin erfüllen soll. Die Frage, ob die gegen den Angeklagten Harris sprechenden Beweisanzeichen die Annahme seiner Täterschaft rechtfertigen, ist übrigens- wie gleich vorweg bemerkt seinmag-im englischenRechtsschriftturn unterschiedlich beantwortet worden: Dem Polizisten Harris wurde zur Last gelegt, acht Einbruchsdiebstähle begangen zu haben, die nacheinander in verhältnismäßig kurzer Zeit im Gebäude einer Handelsgesellschaft passiert waren. Der Angeklagte bestritt, an den Einbrüchen beteiligt gewesen zu sein. Bei dem Bereich, in dem die Diebstähle verübt worden waren, handelte es sich um einen mit einer Umzäunung versehenen Platz, auf dem mehrere Gebäude standen. Nachts war der Raum durch die Einzäunung und die verschlossenen Tore für den Verkehr gesperrt. Der unbekannte Täter war jeweils zur Nachtzeit in das Gebäude eingedrungen, wo sich in einem Büro die Kassette befand, die das gestohlene Geld enthielt; er hatte daraus jedesmal größere Geldbeträge entwendet. Der Angeklagte war in seiner Eigenschaft als Polizist regelmäßig in unmittelbarer Nähe des fraglichen Gebäudes zum Patrouillendienst eingesetzt gewesen, während die Diebstähle passierten. Nachdem bereits siebenmal eingebrochen worden war, ohne daß man dem Täter auf die Spur kommen konnte, wurde ihm eine Falle gestellt. Man hatte das Geld in der Kassette gezeichnet, so daß es nachträglich identifiziert '~

All England Law Reports Jg. 1952 Vol. 1, S. 1044 ff.

Beobachtung einer Vielzahl von Indizien in ihrem Zusammenwirken 371 werden konnte und unter den Fußbodenbrettern eine Alarmvorrichtung angelegt. Als im 8. Fall die Alarmanlage in Tätigkeit trat, ohne daß davon am Tatort oder draußen auf dem Platz etwas zu merken war, eilten zwei Privatdetektive auf den umzäunten Bereich zu. Während der eine von ihnen dabei war, das Tor zu öffnen und der andere oben über das Tor kletterte, sahen sie den Angeklagten ganz in der Nähe des Eingangstors und dieser sah sie ebenfalls. Obwohl der Angeklagte die Detektive von früher her kannte, nahm er zunächst keine Notiz von ihnen, sondern verschwand. Er kehrte aber bald wieder zurück und sprach nunmehr die Detektive an. Daß er sie nicht gleich angeredet hatte, war belastend für ihn. Denn man hätte erwarten sollen, daß er sich als diensthabender Polizeibeamter jedem näherte, der den von ihm kontrollierten eingefriedigten Bereich betrat. Als der Angeklagte später darüber befragt wurde, erklärte er, er habe die Detektive zunächst nicht erkannt, sondern angenommen, es seien Marktleute, die den Platz rechtmäßigerweise betraten. Dem widersprach jedoch, daß er zum mindesten den einen der Detektive in einer ganz ungewöhnlichen Situation, nämlich beim Übersteigen des Hoftors, angetroffen hatte. Geld fand man beim Angeklagten auf Grund der sogleich angestellten Visitation nicht. Deraus derKassetteentwendete Betrag wurde in einem Kohleneimer versteckt gefunden. Der Eimer stand so, daß die Zeit zwischen dem Verschwinden des Angeklagten, nachdem er der Detektive ansichtig geworden war, und seiner Rückkehr gerade genügte, um den Kohleneimer zu erreichen und den Geldbetrag dort zu verbergen. Mithin sprach viel dafür, daß der Angeklagte, als er die Detektive erstmalig erblickte, das Geld bei sich gehabt und es dann im Eimer versteckt hatte, ehe er den Detektiven wieder entgegentrat. Der Überführungsbeweis konnte nach alledem in diesem achten Diebstahlsfan als voll erbracht angesehen werden, wenn es gelang, die ziemlich entfernte Möglichkeit auszuschließen, daß eine andere Person als Harris den Diebstahl durchgeführt, das Geld im Eimer niedergelegt und dann unbemerkt die Flucht ergriffen haben könnte. Gegen die Aktualität dieser Möglichkeit sprachen jedoch folgende Überlegungen: Da die neben der Kassette angebrachte Alarmvorrichtung, als die Detektive am Tor erschienen, erst eben ausgelöst worden war, stand fest, daß zu diesem Zeitpunkt jemand an der Kassette gewesen sein mußte. Außer dem Angeklagten war niemand auf dem eingefriedigten Areal gefunden worden. Es lagen auch sonst keine Anzeichen für die Anwesenheit einer weiteren Person auf diesem polizeilich überwachten Gelände vor. Somit deutete eigentlich alles darauf hin, daß der Angeklagte sich an der Kassette zu schaffen gemacht und das dort fehlende Geld entnommen hatte. Diese Beweisanzeichen waren derartig belastend, daß im 8. Diebstahlsfall der volle Beweis für die Täterschaft des Angeklag24*

372

Der Indizienbeweis

ten als erbracht anzusehen war, ohne daß es zur Verstärkung der Hinzunahme von Indizien bedurfte, die den vorangegangenen 7 Fällen entnommen waren. Zweifelhafter erschien es dagegen, ob die Täterschaft von Harris bezüglich der ersten 7 Diebstähle als hinreichend nachgewiesen betrachtet werden konnte. Zweifellos sprach auch in den Fällen 1-7 eine Reihe starker Schuldindizien gegen den Angeklagten. Denn alle 8 Einbrüche waren in den Nächten verübt worden, in denen der Angeklagte in unmittelbarer Nähe des Tatorts Polizeidienst gehabt hatte. Nicht ein einziger Diebstahl war passiert, während ein anderer Beamter dort patrouillierte. In allen 8 Fällen hatten der oder die Täter nachweislich den gleichen Zugangsweg zum Büro gewählt, was ebenfalls darauf hindeutete, daß stets die gleiche Person am Werk gewesen war. Schließlich hatte der Dieb in allen 8 Fällen eigentümlicherweise nur einen Teil des vorhandenen Geldes an sich genommen und den Rest unangerührt liegen lassen. Dies war ein ungewöhnlicher Umstand, der wiederum darauf hindeutete, daß alle Einbrüche vom gleichen Täter verübt worden waren. Es ließ sich schwer denken, daß alle diese auffälligen Übereinstimmungen rein zufällig zustande gekommen sein sollten. Vielmehr lag die Annahme sehr nahe, daß der Angeklagte auch die früheren 7 Taten begangen hatte. Andererseits bestand in den ersten 7 Fällen keine so enge räumliche und zeitliche Beziehung des Angeklagten zum Tatvorfall wie im Fall 8, wo man ihn, unmittelbar nachdem die Entwendung passiert sein mußte, unter sehr verdächtigen Umständen betroffen hatte. Für die ersten sieben Diebstähle stand zwar fest, daß der Angeklagte sich zur Tatzeit in dem räumlichen Bereich aufgehalten hatte, in dem der Diebstahl geschah. Aber es fehlte im Gegensatz zum achten Fall der sichere Beweis dafür, daß er unmittelbar am Tatort und an der Kassette gewesen war. Es bestand immerhin noch eine entfernte Möglichkeit, daß ein Dritter die Einbrüche verübt hatte, daß der Angeklagte daran also nicht beteiligt war und denTäterseinerseitsnichtgesehenhatte. DerNachweis, daß ein Dritter auf keine Weise unbemerkt durch die Umzäunung hindurch zum Tatort hätte gelangen und dort die Einbrüche ausführen können, würde den Überführungsbeweis für die ersten sieben Fälle entscheidend vervollständigt haben; aber er konnte nicht mit hinreichender Sicherheit geliefert werden. Man wird es verständlich finden, daß bei dieser Sachlage die Geschworenen den Angeklagten zwar im Fall 8 für überführt hielten, aber den Schuldbeweis in den ersten sieben Fällen nicht als erbracht ansahen. Selbst wer geneigt sein würde, den Beweis der Täterschaft auch in den

Einzelne Indiziengruppen

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Fällen 1-7 für geführt zu halten, wird es nicht ohne weiteres als verfehlt bezeichnen können, daß die Geschworenen den Schuldbeweis insoweit für nicht erbracht hielten; denn dem nachträglichen Beurteiler fehlt die Kenntnis der Imponderabilien (persönlicher Eindruck des Angeklagten, Art und Weise seiner Verteidigung usw.), welche nur die Teilnahme an der Hauptverhandlung verschaffen kann. Im Schrifttum war man sich bei der Erörterung des Harris-Prozesses ziemlich darüber einig, daß bezüglich der ersten sieben Einbrüche kein völlig hinlänglicher Beweis für die Täterschaft des Angeklagten vorgelegen habe. Hier kann die BesprechungdesFalles abgebrochen werden. EineReihe von Momenten, die in allzu engem Zusammenhang mit der besonderen Gestalt des anglo-amerikanischen Beweisrechts stehen, müssen außer Betracht bleiben, so interessant die Auseinandersetzung mit ihnen an sich auch sein würde. ÜberdenAusgang des dem erstinstanzliehen Urteil folgenden Rechtsmittelverfahrens braucht ebenfalls nicht berichtet zu werden. Es kam in diesem Zusammenhang lediglich darauf an zu zeigen, in welcher Weise die verschiedenen Beweisanzeichen beim Nachweis der Täterschaft zusammenwirken.

Einzelne Indiziengruppen Allgemeines. Die im Vorangegangenen gegebenen Hinweise kehren in diesem Kapitel großenteils in konkreterer Form wieder. Vielleicht wird dabei in manchen Fällen die bisherige Zuversicht des Sachbearbeiters bezüglich bestimmter Indizien, die ihm bis jetzt unbedingt schlüssig erschienen, gemindert werden. Das ist jedoch unvermeidbar und kann für eine korrekte Sachaufklärung nur nützlich sein. Andererseits wird die methodische Durchdenkung der ganzen Materie dem Beurteiler vielfach dort neue Sicherheit geben, wo er bisher im Ungewissen steckengeblieben war.

Es ist schwer zu begreifen, warum man die systematische Darstellung der einzelnen Kategorien von Indizien bisher so wenig vorangetrieben hat, daß sie über die allerersten Anfänge noch nicht hinausgediehen ist. Den älteren Juristengenerationen erschien diese Arbeit offenbar als ein nutzloses Unterfangen. Selbst ein so kluger und zugleich unvoreingenommener Prozessualist wie Friedrich Stein hielt die Aufstellung von Regeln über den Umgang mit einzelnen Indizien oder Indiziengruppen für ganz abwegig und ironisierte die wenigen zaghaften Versuche, die seinerzeit in dieser Hinsicht gemacht worden waren43 • (3

Fr. Stein, Das private Wissen (1893) S. 17.

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Der Indizienbeweis Beweisanzeichen für das Vorliegen einer Straftat

Wenn ein Sachverhalt strafrechtliche Bedeutung zu haben scheint, wird man bei seiner Erforschung meist geneigt sein, mit der Suche nach dem Täter zu beginnen. Genaugenammen hat jedoch die Ermittlung vorauszugehen, ob überhaupt ein Delikt vorliegt. Das Forschen nach dem Delinquenten hat nur Sinn, wenn eine strafbare Handlung begangen worden ist. Deshalb sind auch in der systematischen Darstellung vor Behandlung der auf die Täterschaft hinweisenden Indizien die Beweisanzeichen zu erörtern, die für das Vorhandensein einer Straftat sprechen. In der beruflichen Arbeit läßt sich diese logische Reihenfolge freilich nicht immer einhalten. Bisweilen sind beide Fragen, nämlich die nach dem Vorliegen einer Straftat und die nach der Person des Täters kaum zu trennen. Der Beamte ist dann genötigt, gleichzeitig nach beiden Richtungen zu forschen. Dagegen sind keine Einwendungen zu erheben. Jedoch darf niemals die Suche nach dem Täter betrieben werden, ohne daß mindestens gleichzeitig die Frage, ob eine Straftat gegeben ist, gewissenhaft erwogen und bis zur völligen Klärung fest im Auge behalten wird. Manchmal ist von vornherein sicher, daß ein Delikt vorliegt. In anderen Fällen ist die Annahme, daß eine Straftat verübt wurde, zwar ziemlich naheliegend, aber keineswegs absolut zwingend. Wenn ein Bauerngehöft abbrennt, kann ein Delikt in Gestalt von vorsätzlicher oder fahrlässiger Brandstiftung vorliegen. Bei der Brandentstehung können aber auch, ohne daß Vorsatz oder strafbare Fahrlässigkeit gegeben zu sein brauchen, Kurzschluß, Heißlaufen von Maschinen, Selbstentzündung von Heu usw. als Ursache gewirkt haben44 • Wenn jemand durch Gift zu Tode gekommen ist, kann unter Umständen vorsätzliche oder fahrlässige Tötung gegeben sein. Es bleibt aber auch zu erwägen, ob der Tod nicht vielleicht auf Selbstmord beruht oder ob die Vergiftung durch eigene Unachtsamkeit des Verstorbenen zustande gekommen ist, ohne daß einem Dritten eine Fahrlässigkeit zur Last fällt. Wo die Buchführung einen Fehlbetrag ergibt, so daß zunächst eine Unterschlagung gegeben zu sein schien, liegt unter Umständen nur ein Buchungsfehler vor. Wo der Anzeigeerstatter, dem 100 DM fortgekommen sind, ohne weiteres Diebstahl vermutet, stellt sich möglicherweise 44 Grundfragen der Kriminaltechnik, S. 187 ff.; Fr. Geerds, Die Brandstiftungsdelikte im Wandel der Zeiten S. 45 (: "Brandermittlung und Brandverhütung", hrsg. vom Bundeskriminalamt, Wiesbaden 1962) mit weiteren Schrifttumsangaben.

Beweisanzeichen für das Vorliegen einer Straftat

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heraus, daß er den fehlenden Geldschein nur verlegt hat. Vielleicht sind die abhanden gekommenen Gegenstände lediglich durch Nachlässigkeit der Familienangehörigen oder der Dienstboten verlorengegangen, ohne daß ein Diebstahl oder eine Unterschlagung in Betracht käme. Mitunter ist das Delikt von einer interessierten Person nur vorgespiegelt worden, um von anderen Straftaten abzulenken, die der Betreffende begangen hat, oder um außerstrafrechtliche Sachverhalte zu verheimlichen, die nicht ans Tageslicht kommen sollen. Es ist Aufgabe des Wahrheitsforschers, solche Umstände aufzudecken, damit rechtzeitig klargestellt wird, daß der vermutete Deliktstatbestand gar nicht vorliegt und es daher keinen Zweck hat, nach dem dazugehörigen Delinquenten zu suchen. Das anglo-amerikanische Recht hat für seinen Bereich durch Ausbildung der Lehre vom corpus delicti dafür gesorgt, daß der Frage, ob überhaupt eine Straftat vorliegt, von vornherein die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die kontinentale Jurisprudenz besitzt keinen entsprechenden Begriff, der den gleichen Zweck erfüllen könnte. Der Wissenschaft bleibt hier daher nur übrig, durch eindringliche Hinweise die Aufmerksamkeit immer wieder auf diesen Gesichtspunkt zu lenken und dadurch seine Beachtung sicherzustellen. Die Indizien, welche speziell für das Vorhandensein einer Straftat sprechen, sind je nach der Eigenheit des in Betracht kommenden Delikts unterschiedlicher Art. Behauptet ein Mädchen, vom Beschuldigten vergewaltigt worden zu sein, so würde, wenn gröbere Verletzungen an ihren Geschlechtsorganen festzustellen sind, dies dafür sprechen, daß nicht etwa eine einverständliche Beiwohnung, sondern eine solche unter Gewaltanwendung stattgefunden hat. Ist eine infolge von Lähmung völlig unbewegliche Frau im Lehnstuhl verbrannt und macht der des Mordes beschuldigte Ehemann geltend, daß der Brand durch Feuer entstanden sein müsse, das unbemerkt aus dem in der Nähe befindlichen eisernen Ofen fiel, so spricht es für das Vorhandensein einer Straftat, wenn festgestellt wird, daß der Getöteten ein Knebel in den Mund gesteckt worden war, um sie am Schreien zu verhindern. Wenn in einem Gebäude Feuer ausbricht, so ist es ein Anzeichen für vorsätzliche Brandstiftung, also für das Vorliegen eines Verbrechens, wenn am Brandherd Reste von Vorrichtungen festzustellen sind, wie sie üblicherweise zur Brandlegung benutzt werden. Das gleiche gilt, wenn das Feuer mit solcher Schnelligkeit um sich gegriffen hat, daß auf die Verwendung brandfördernder Stoffe wie Benzin geschlossen werden muß und wenn außerdem leere Benzinkanister in der Nähe des Brandorts gefunden werden.

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Der Indizienbeweis

Es braucht sich bei den Anzeichen für das Vorliegen eines strafbaren Sachverhalts nicht immer unbedingt um reale Merkmale zu handeln. Vielmehr können auch psychologische Momente wie verdächtiges Verhalten des Beschuldigten vor oder nach dem Schadensvorgang das Gegebensein einer Straftat zur Genüge dartun. Hat der Beamte diese ganze Indiziengruppe erst einmal als solche in sein Blickfeld bekommen, dann mindert sich dadurch die Gefahr, daß er die Frage, ob überhaupt eine Straftat begangen worden ist, vernachlässigt. Wenn- wie das oftmals der Fall ist- von vornherein feststeht, daß ein Delikt vorliegt und um welches Delikt es sich im einzelnen handelt, dann bleibt noch zu prüfen, a) wer der Täter ist (S. 376 ff.) und b) ob er den in Betracht kommenden gesetzlichen Tatbestand in allen seinen Teilen verwirklicht hat (S. 404 ff.). Indizien für und gegen die Täterschaft

Wichtigkeit dieser Gruppe von Beweiselementen. Ihre große Bedeutung ergibt sich schon allein daraus, daß für den Beschuldigten das Leugnen seiner Tatbeteiligung in aller Regel die nächstliegende und zugleich aussichtsreichste Art der Gegenwehr darstellt. An dieser Stelle pflegt er daher den hartnäckigsten Widerstand zu leisten. Ermittlungsbehörde und Gericht andererseits können es als einen wesentlichen Fortschritt der Sachverhaltserforschung ansehen, wenn über die Frage, wer der Täter ist, Klarheit geschaffen werden konnte. Hat sich erst einmal die Täterschaft des Beschuldigten einwandfrei feststellen lassen, so ergibt sich oft alles übrige von selbst. Wenn dieser Einbruch in sein Verteidigungssystem gelungen ist, hat es für ihn unter Umständen gar keinen Sinn mehr, noch weiter zu leugnen. Allenfalls bleibt ihm eine Möglichkeit zum Widerstand noch insofern übrig, als er bezüglich der Einzelheiten der Tatbegehung versuchen kann, die Version als zutreffend darzutun, die ihn am wenigsten belastet. Gegenwart am Tatort Bei den Delikten, deren Ausführung an einen bestimmten räumlichen Bereich gebunden ist, kann der Umstand, daß der Beschuldigte sich zur Zeit der Tatbegehung am Ort der Handlung oder doch in seiner unmittelbaren Nähe aufgehalten hat, mitunter ein wichtiges Beweisanzeichen für seine Tatbeteiligung sein. Manchmalliegt darin geradezu ein Hauptüberführungsindiz. In anderen Fällen ist der Aufenthalt am Tatort dagegen wieder als Überführungsmoment nahezu wertlos.

Indizien für und gegen die Täterschaft

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Anwesenheit aus harmlosem Anlaß. Wenig oder gar nichts besagt die Gegenwart des Beschuldigten am Tatort, wenn er dort auch zu unverfänglichen Zwecken gewesen sein kann. Wird in einem Warenhaus zur Verkaufszeit, während deren sich dort viele Menschen aufhalten, ein Taschendiebstahl verübt, dann ist die Tatsache, daß der Beschuldigte anwesend war, für sich allein kein irgendwie beweiskräftiges Indiz für seine Täterschaft. Doch behält sie gleichwohl eine gewisse Bedeutung: Der Beschuldigte gehört, wenn zur fraglichen Zeit auch noch so viele Personen am Tatort zugegen gewesen sind, infolge seiner Anwesenheit immerhin zu dem (vorerst allerdings sehr großen) Kreis der als Täter in Betracht kommenden Personen. Einen ziemlich starken Hinweis auf die Tatbeteiligung des Beschuldigten kann seine Anwesenheit am Ort des Geschehens darstellen, wenn trotz gründlicher Erwägung kein halbwegs plausibler Grund zu finden ist, zu welchem anderen Zweck als dem der Tatausführung der Beschuldigte ausgerechnet diesen ihm fremden Stadtteil, dieses isoliert gelegene Gehöft, dieses einsame Waldstück aufgesucht haben sollte.

Sichere Feststellung der Tatzeit als Voraussetzung für ein brauchbares Ergebnis. Aus dem Gesagten ergibt sich bereits, daß die Gegenwart des Beschuldigten am Tatort als Überführungsindiz nur dann größere Kraft entfalten kann, wenn die Tatzeit einigermaßen sicher festgestellt worden ist. Je präziser sich diese aufStunde undMinutebestimmenläßt, desto wertvoller kann auch das Argument der Anwesenheit des Beschuldigten am Ort der Handlung sein. Das gilt ganz besonders, wenn andere Personen mit gleich naher räumlicher und zeitlicher Beziehung zum Deliktsvorgang sich nicht haben ermitteln lassen. Nur geringe Schlüs~igkeit besitzt das Indiz, wenn der Zeitraum, während dessen das Delikt begangen worden sein kann, sehr ausgedehnt ist; so etwa wenn ein Einbruchsdiebstahl nicht gleich bemerkt wurde und sich daher nicht feststellen läßt, ob er am 17., am 18. oder am 19. 10. verübt worden ist. Manchmal entdeckt der lange Zeit verreist gewesene Wohnungsinhaber den Einbruch erst bei seiner Rückkehr, so daß die mögliche Begehungszeit sich über Wochen oder gar Monate erstreckt.

Niemand war sonst zugegen. Mitunter hatte der Beschuldigte für seine Gegenwart am Tatort zwar einen völlig unverfänglichen Grund und kann trotzdem durch sie stark belastet sein, weil nachweislich außer ihm niemand, der den Diebstahl verübt haben könnte, anwesend gewesen ist; so wenn aus einem unverschlossenen Schrank Geld gestohlen wurde und allein der Stubenkamerad des Bestohlenen Zugang zu diesem Schrank gehabt hat. Freilich wird sich oft nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen lassen, daß in dem Zeitraum, während dessen der Diebstahl erfolgt sein muß, niemand außer dem Verdächtigen an

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den Schrank gelangen konnte. Wenn in der fraglichen Zeitspanne immerhin noch eine weitere Person- sei es auch nur für Augenblickeeinen ähnlich nahen räumlichen Zusammenhang mit dem Aufbewahrungsort der gestohlenen Sache gehabt hat wie der Beschuldigte, dann verliert das Indiz meist einen wesentlichen Teil seiner Schlüssigkeit.

Spezielle Hinweise auf die Anwesenheit am Ort des Geschehens. Häufig läßt sich die Gegenwart des Beschuldigten am Tatort, die selbst lediglich ein Beweisanzeichen für seine Täterschaft ist, nicht durch Zeugenaussagen, sondern wiederum nur durch Indizien im engeren Sinne nachweisen. Der Wahrheitsforscher arbeitet dann sozusagen mit Vorindizien, die das Hauptindiz, nämlich die Anwesenheit am Deliktsort, klarstellen sollen. 1. Zu den zahlreichen Tatumständen dieser Art sind z. B. zu rechnen Schuhspuren des Beschuldigten am Ort des Geschehens, Fadenreste von seiner Kleidung, die dort zurückgeblieben sind, ein abgerissener Knopf, eine in der Eile verlorene Mütze, Papierschnitzel, Zigarettenstummel und andere Kleinigkeiten, die im Zusammenhang mit dem, was beim Verdächtigen gefunden wird, als ihm gehörig angesehen werden müssen.

2. Damit ist bereits der Übergang zu einer weiteren großen Gruppe von Beweismomenten gegeben, die auf die enge Beziehung des Verdächtigen zum Ort des Geschehens und zur Straftat selbst hindeuten, nämlich die in seiner Wohnung vorgefundenen und dort gesicherten Indizien. Man denke etwa den Fall, daß die Polizei dort ein zu den Werkzeugspuren am erbrochenen Schrank passendes Stemmeisen entdeckt oder daß bei der Erforschung eines Tötungsverbrechens in der Behausung des Verdächtigen ein mit Menschenblut befleddes Messer gefunden wird, das den Stichen im Körper des Getöteten entspricht, oder daß sich im Anwesen des Beschuldigten eine Drahtrolle sicherstellen läßt, von der augenscheinlich die zur Straftat verwandten Drähte abgeschnitten worden sind. 3. Dazu kommen schließlich die am Beschuldigten selbst vorhandenen Beweisanzeichen, wie Bißwunden an seiner Hand, die von dem Opfer herrühren, Farbreste an seiner Hose, die von dem Gartenzaun stammen, den der Täter überstieg; Blut an seiner Jacke, das die Blutgruppe aufweist, die der Getötete hatte. Zu jeder Straftat gehören bestimmte, gerade für sie charakteristische Beweisanzeichen. Wenn z. B. nach einem Verkehrsunfall mit anschließender Fahrerflucht die Frage der Täterschaft zu klären ist, sind es meist die von dem flüchtigen Kraftfahrzeug stammenden Zeichen, die den Zusammenhang zwischen der Straftat und einem bestimmten Täter herstellen: Rutschspuren des Wagens, Abdrücke des Reifenprofils im Stra-

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Benstaub oder im weichen Boden, Glassplitter, abgesprungene Lacktenehen von bestimmter Farbe und dgl.

Würdigung von AnhaLtspunkten dieser Art. Zur Auswertung solcher Tatortspuren ist in vielen Fällen die Hinzuziehung eines Sachverständigen nötig. Aber auch das Sachverständigengutachten erbringt, selbst wenn es auf Grund der Materialuntersuchung zu einem positiven Ergebnis kommt, in der Regel noch nicht vollen Beweis hinsichtlich der Täterschaft, sondern liefert nur ein Teilresultat, mit dessen Hilfe das Endergebnis erst erarbeitet werden muß. Geht aus bestimmten Überlegungen hervor, daß die am Tatort zurückgebliebenen Sachen und die sonstigen dort vorgefundenen Spuren nicht vom Beschuldigten stammen können, so ist das in gewisser Hinsicht ein Anzeichen dafür, daß er nicht der Täter ist. Wie schwer dieses Entlastungsindiz wiegt, hängt jedoch von den Umständen ab. Wenn möglicherweise mehrere Personen an der Ausführung des Delikts beteiligt waren, so muß unter Umständen damit gerechnet werden, daß der Beschuldigte, ohne selbst Spuren zu hinterlassen, zusammen mit anderen, von denen die vorgefundenen Spuren stammen, tätig gewesen ist.

Schlußfolgerungen auf Gmnd des Fingerabdrucks. 1. Die am Tatort gesicherte daktyloskopische Spur beweist, selbst wenn sie einwandfrei vom Beschuldigten stammt, zunächst nur, daß der Beschuldigte den Gegenstand, an dem sich der Fingerabdruck befindet, vor nicht allzu langer Zeit berührt hat. Handelt es sich um einen beweglichen Indizienträger, also etwa einen Stuhl, eine Flasche, ein Eßbesteck, so muß oft damit gerechnet werden, daß dieser Gegenstand sich zur Zeit der Entstehung des Fingerabdrucks nicht am Tatort, sondern an anderer Stelle befand und daß der Beschuldigte ihn dort, ohne am Delikt beteiligt zu sein, in unverfänglicher Weise berührt haben kann. Der Fingerabdruck würde dann noch nicht einmal strikt beweisen, daß der Beschuldigte zu irgendeinem Zeitpunkt am Tatort gewesen ist, geschweige denn, daß er sich gerade zur Tatzeit dort aufgehalten und sich am Delikt beteiligt hat. Für den Beurteilerist also die Aufklärungsarbeit mit dem Sichern und Auswerten des Fingerabdrucks am Tatort noch nicht beendet. Vielmehr muß sie im Anschluß daran, oft sogar mit besonderer Intensität, weiter fortgesetzt werden. 2. Einen starken Hinweis auf die Täterschaft des Beschuldigten enthält die daktyloskopische Spur nur: -

wenn erwiesen werden kann, daß der Gegenstand, an dem sich der Abdruck befindet, bereits zur Tatzeit am Ort des Geschehens gewesen ist;

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-

wenn sich ferner dartun läßt, daß die am Deliktsort vorgefundene Fingerspur nicht etwa vor oder nach der Tat aus unverfänglichem Anlaß entstanden sein kann.

In letzterer Hinsicht sind meist Zweifel vorhanden, wenn die Tat im Hause begangen worden ist und der Beschuldigte als Familienangehöriger oder als Mitglied des Personals dort ständig Zugang hatte. Wenig Beweiskraft besitzt der am Tatort gesicherte Fingerabdruck auch, wenn der Beschuldigte geltend machen kann, daß er sich als Reisevertreter oder als Fensterputzer oder in ähnlicher Eigenschaft in den fraglichen Räumen aufgehalten und dabei möglicherweise die Fingerspur hinterlassen habe. 3. Weitgehend entwertet ist das Indiz ferner, wenn der Täter zur Nachtzeit in einen Kaufladen oder in ein Restaurant eingebrochen war, wo tagsüber viele Menschen aus unverfänglichen Gründen anwesend sind, und der Verdächtige behauptet, daß auch er dort zugegen gewesen sei, um einzukaufen oder ein Glas Bier zu trinken, und daß dabei der Fingerabdruck zustande gekommen sein müsse. Gleichwohl kann der Beschuldigte auch unter solchen Umständen durchaus noch als Täter in Betracht kommen. Aber zwingende Kraft besitzt die Fingerspur dann nur, wenn sie sich an Gegenständen befindet, mit denen der Beschuldigte beim Einkaufen im Laden bzw. beim Besuch des Restaurants nicht in Berührung kommen konnte. 4. Trotz mancher im Einzelfall auftretender Unsicherheiten kann der Fingerabdruck am Tatort unter Umständen für sich allein, d. h. ohne Vorliegen sonstiger unterstützender Beweisanzeichen, die Täterschaft des Beschuldigten beweisen. Nötig ist aber, daß die in Betracht kommenden Irrtumsmöglichkeiten im gegebenen Fall ausgeschaltet sind und keine ernst zu nehmenden Gegenindizien, wie sie etwa in einem einleuchtenden Alibibeweis oder im völligen Fehlen eines Tatmotivs zu erblicken sein würden, gegeben sind. Ein allgemeiner Grundsatz, daß der auf die Täterschaft hinweisende Fingerabdruck niemals allein die Überführung des Verdächtigen zuwege bringen kann, daß vielmehr stets noch andere gleichgerichtete Beweisanzeichen hinzukommen müßten, läßt sich nicht aufstellen45 • Der Alibibeweis

Seine systematische Stellung. Den Gegensatz zu Indizien für die Anwesenheit am Deliktsort bilden die Hinweise darauf, daß sich der Verdächtige zur fraglichen Zeit nicht am Tatort, sondern anderswo befunden hat. Für den Beschuldigten stellt diese Art von Beweis das klas45

BGHvom 11.6. 52 in der Monatsschrift für deutsches Recht Jg.1952, S. 659.

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sische Abwehrmittel gegen die Versuche dar, durch Klarstellung seiner Gegenwart am Ort des Geschehens seine Tatbeteiligung darzutun. Beim Alibibeweis formieren sich die zugunsten des Verdächtigen sprechenden Argumente viel fester, als dies sonst bei den Entlastungsindizien der Fall zu sein pflegt, zu einem in sich geschlossenen Gefüge von Grundsätzen und Regeln, das einer gesonderten Darstellung bedarf. Die beim Alibibeweis notwendigen Denkoperationen. Will man den hier vor sich gehenden Denkprozeß nach dem bekannten Schema von Obersatz-Untersatz-Schlußfolgerung gliedern, so ist als Obersatz die allgemeine Regel anzusehen, daß niemand an zwei Orten zugleich sein könne. Den Untersatz bildet etwa die Feststellung, 1. daß die Straftat am 25. 10. 1963, 22 Uhr in Harnburg begangen worden ist und 2. daß der Verdächtige zu diesem Zeitpunkt von zuverlässigen Zeugen in Hannover gesehen wurde. Die aus Obersatz und Untersatz hervorgehende Schlußfolgerung lautet sodann dahin, daß der Beschuldigte nicht der Täter sein könne. Dieses logische Schema trifft jedoch das Charakteristische der in solchen Fällen anzustellenden Überlegungen nur zum Teil. Man kommt daher mit ihm lediglich in ganz einfachen Fällen aus. War der Beschuldigte in Hannover nicht um 22 Uhr (d. h. genau zur Tatzeit) gesehen worden, sondern um 21 Uhr, so werden ergänzende Erwägungen notwendig. Es muß dann an Hand von Erfahrungsregeln festgestellt werden, ob es dem Beschuldigten mit den ihm zur Verfügung stehenden Verkehrsmitteln möglich gewesen sein könnte, die Entfernung Hannover-Harnburg in der auch für moderne Verhältnisse außerordentlich kurzen Zeit von einer Stunde zu überwinden. Falls das bejaht werden muß, hätte der Beschuldigte, obwohl er sich um 21 Uhr noch in Hannover befand, um 22 Uhr am Tatort sein können und ist dann als möglicher Täter nicht auszuschließen. Hat der Sachbearbeiter es mit einem gewitzten und entschlossenen Verdächtigen zu tun, so müssen dergleichen Betrachtungen mit einiger Strenge angestellt werden. Denn mitunter legt es der Täter geradezu darauf an, sich in großer Entfernung vom Tatort zu zeigen, um dann mit bereitgehaltenen schnellsten Beförderungsmitteln die Strecke zur Tatstelle in einer vom Uneingeweihten kaum für möglich gehaltenen Rekordzeit zurückzulegen. Ob mit solcher Raffiniertheit des Beschuldigten gerechnet werden muß, ist jeweils zu erwägen. Zum mindesten darf bei Menschen, die im Verbrechermilieu leben oder aus anderen Gründen mit den Möglichkeiten zur Herstellung eines falschen Alibibeweises vertraut sind, dieser Gesichtspunkt nicht außer acht gelassen werden.

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Unpräzise tatsächliche Unterlagen. Wenn sich die Zeit, in der das Verbrechen begangen wurde, nicht genau feststellen läßt, fällt es oft schwer, dem Alibibeweis einige Durchschlagskraft zu verleihen. Je größer die Spanne ist, innerhalb deren die Tat ausgeführt worden sein kann, desto mehr verringert sich in der Regel auch die Aussicht, einen schlüssigen Alibibeweis zustande zu bringen. Manchmal steht die Tatzeit fest, während der Zeitpunkt, zu dem der Beschuldigte in größerer Entfernung vom Tatort beobachtet worden ist, sich nur sehr ungenau ermitteln läßt; so wenn in dem eben gegebenen Beispiel der Beschuldigte nicht" um 21 Uhr" in Hannover gesehen wurde, sondern lediglich gesagt werden kann, daß er etwa zwischen 20 und 21 Uhr dort noch anwesend war. In solchen Fällen muß bei Würdigung des Alibibeweises jede aktuelle Möglichkeit, die der Beschuldigte innerhalb der Zeit von 20-22 Uhr besaß, um die Entfernung HannoverHarnburg zu überwinden, berücksichtigt werden: Hielt er sich noch um 21 Uhr in Hannover auf, so bedeutet dies, wenn mit der Inanspruchnahme des Flugverkehrs im gegebenen Fall nicht gerechnet zu werden braucht, daß er keinesfalls zur Tatzeit in Harnburg gewesen sein kann. Nimmt man jedoch an, daß er sich bereits um 20.30 Uhr von Hannover in Richtung Harnburg entfernt hat, so ist diese Schlußfolgerung bereits viel weniger überzeugend. Geht man schließlich davon aus, daß der Verdächtige die Fahrt nach Harnburg bereits kurz nach 20 Uhr angetreten hat, so würde der Tatort für ihn ohne sonderliche Schwierigkeiten bis 22 Uhr erreichbar gewesen sein. Einige Durchschlagskraft hat der Alibibeweis nur, wenn von den mehreren in Betracht kommenden Sachgestaltungen selbst die für die Gegenwart am Tatort günstigste dem Beschuldigten eine Anwesenheit am Ort der Handlung nicht möglich machte.

Die Bekundungen von Alibizeugen und ihre Bewertung. Wenn ein Zeuge, der mit dem Beschuldigten in Hausgemeinschaft lebt, erklärt, er wisse, daß der Beschuldigte zur Tatzeit zu Hause gewesen sei, so ist diese Aussage, selbst wenn der Zeuge allgemein glaubwürdig erscheint, keine hinreichende Unterlage für einen Alibischluß. Es müßte vielmehr genauer festgestellt werden, ob die häusliche Gemeinschaft zwischen dem Zeugen und dem Beschuldigten so eng war, daß dieser nichts hätte unternehmen können, ohne vom Zeugen bemerkt zu werden48 • Ist die Straftat nachts verübt worden, so nützt es dem Verdächtigen meist wenig, wenn der Zeuge bestätigen kann, daß er mit dem Beschuldigten zusammen schlafengegangen sei und daß er (der Zeuge) es wahrgenommen haben würde, wenn der Beschuldigte sich während der Nacht •e RG Str. Bd. 54 S. 181.

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heimlich hätte entfernen wollen. Falls der Zeuge einen leidlich guten Schlaf hat, besteht in solchen Fällen häufig die Möglichkeit, daß der Beschuldigte sich unbemerkt entfernte und nach vollbrachter Tat wieder unbemerkt ins Bett zurückgekehrt ist. Größere Beweiskraft würde der Zeugenaussage dagegen zukommen, wenn in ihr glaubwürdig dargelegt wird, daß derZeuge wegenheftigerSchmerzen oder aus sonstigen Gründen die ganze Nacht wachgelegen habe und dafür einstehen könne, daß der Beschuldigte während der Nacht das Bett nicht verlassen hat. Bekundet ein Alibizeuge, daß er den Beschuldigten zur Tatzeit anderswo in weiter Entfernung vom Deliktsort gesehen habe, so bedarf es ebenfalls der kritischen Prüfung, ob diese Angabe verläßlich erscheint. Es kann in dieser Hinsicht auch bei einem gutwilligen und ehrlichen Zeugen ein Wahrnehmungsfehler vorliegen, der seine Darstellung unrichtig macht. Gerade bei Bekundungen über die Identität von Personen kommt es leicht zu Fehlleistungen, die auf unrichtiger Beobachtung, auf subjektiven Einwirkungen usw. beruhen47 •

Unvoreingenommene Beurteilung der Entlastungsmomente. Das Mißtrauen der Ermittlungsbehörden und Gerichte gegenüber dem Alibibeweis beruht zum guten Teil darauf, daß dieser vom Beschuldigten nicht selten vor der Tatbegehung mit den Alibizeugen bis ins einzelne verabredet wird und daß solchen Machenschaften mitunter schwer auf die Spur zu kommen ist. In manchen Ländern gehört der bis ins kleinste vorbereitete Alibibeweis ebenso zur Planung des Verbrechens wie das Auskundschaften der Gelegenheit und die Beschaffung der Werkzeuge zur Tatausführung. Das sollte jedoch den Wahrheitsforscher nicht daran hindern, den Alibibeweis loyal zu würdigen. Es muß dabei bedacht werden, daß bisweilen auch ein völlig Unschuldiger sich größten Schwierigkeiten gegenübersieht, wenn er angeben soll, wo er sich zu der vielleicht bereits länger zurückliegenden Tatzeit anderweit aufgehalten hat. Ist der Beschuldigte durch ein unerwartetes polizeiliches Verhör überrascht und verwirrt worden, so kann es manchmal durchaus verständlich sein, daß er trotz eines guten Gewissens über seinen Aufenthaltsort zur Zeit des Geschehens nur unsichere Angaben machen kann. Man darf es dann nicht ohne weiteres als für ihn belastend ansehen, wenn er in dieser Hinsicht zunächst eine unrichtige Darstellung gibt, die er später widerrufen muß.

Einzelgesichtspunkte für die Beweiswürdigung. Steht nicht ein im Affekt begangenes Delikt in Frage, sondern eine wohlvorbereitete Straf47 Groß-SeeZig, Handbuch der Kriminalistik 1.383 ff.; BGH vom 28. 6. 1961 (NJW 1961 S. 2070).

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tat, so kann es geradezu für die Unschuld des in Verdacht Geratenen sprechen, wenn er sein Alibi, das bei einem sorgfältig geplanten Delikt von vornherein mit überlegt zu werden pflegt, nicht sogleich zur Hand hat. Aus denselben Erwägungen kann es umgekehrt als Indiz für einen gestellten, d. h. künstlich zurechtgemachten Alibibeweis angesehen werden, wenn der Beschuldigte über seinen anderweitigen Aufenthalt sofort Bescheid weiß, obwohl es dazu der ganzen Sachlage nach eigentlich einer gewissen Überlegungsfrist bedurft hätte. Auf vorherige Verabredung deutet es hin, wenn die Hauptelemente des Alibibeweises von allen Alibizeugen ziemlich wörtlich mit den gleichen Redewendungen wiedergegeben werden, wenn aber andererseits diese auffällige und unnatürliche Übereinstimmung schwindet, sobald Fragen zu beantworten sind, die nicht vorauszusehen waren und daher nicht vorher abgesprochen worden sein können. Mitunter ist es aufschlußreich zu sehen, wie vage sich die Zeugen bei solchen Erkundigungen plötzlich ausdrücken, obwohl sie eigentlich in der Lage sein müßten, über die von ihnen erfragten Einzelheiten auf Anhieb Auskunft zu geben, wenn ihren Angaben ein wirkliches Erlebnis zugrunde liegt. Welcher Beweiswert dem Alibibeweis im Einzelfall beizumessen ist, läßt sich oft nur im Zusammenhang mit den übrigen Beweismaterialien sagen. Auch ein unvollkommener, nicht völlig zulänglicher Alibibeweis kann, wenn immerhin einiges Beachtliche über den anderweitigen Aufenthalt des Beschuldigten beigebracht worden ist, in begrenztem Umfang zu dessen Entlastung beitragen, wenn sonstiger Beweisstoff unterstützend hinzukommt. Andererseits braucht selbst ein völlig gelungener Alibibeweis nicht ohne weiteres zur völligen Entlastung des Verdächtigen zu führen. Denn er stellt zwar klar, daß dieser an der Verbrechenshandlung nicht unmittelbar teilgenommen haben kann. Gleichwohl kommt er möglicherweise als Anstifter oder als Begünstiger in Betracht.

Der mißglückte Alibibeweis als Schuldindiz. Die gelegentlich aufgestellte These, daß Anstrengungen, die der Beschuldigte zum Nachweis seines anderweitigen Aufenthalts macht, sich für ihn im Falle des Mißlingens regelmäßig belastend auswirken, geht in dieser Allgemeinheit viel zu weit. Wenn die Alibizeugen nur unsichere Angaben zu machen vermögen, so beruht das unter Umständen auf flüchtiger Beobachtung oder darauf, daß ihre Erinnerung lückenhaft ist. Es besteht keinerlei Grund, solche Zufälle, an denen der Verdächtige nicht schuld ist, zu seinen Ungunsten zu werten. Als Belastung kann sich das Mißlingen des

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Alibibeweises für den Beschuldigten freilich dann auswirken, wenn die von ihm namhaft gemachten Alibizeugen alle nichts zur Sache zu sagen wissen, so daß die Annahme naheliegt, daß der vom Beschuldigten in Szene gesetzte Entlastungsbeweis nur der Verzögerung dienen sollte. Doch müssen die Einzelheiten sorgfältig erwogen werden, ehe man eine solche, dem Beschuldigten ungünstige Schlußfolgerung zieht. Besitz der Mittel zur Deliktsbegehung Wenn in der Behausung des Beschuldigten Geräte oder Substanzen entdeckt werden, die zur Ausführung der Straftat, deren er verdächtig ist, verwandt zu werden pflegen, so kann das manchmal viel, manchmal aber auch nur wenig besagen. Ein stärkeres Indiz für die Täterschaft werden solche Funde meist darstellen, wenn es sich bei den aufgespürten Werkzeugen und Materialien um solche handelt, die schwer zu beschaffen sind und in der Hand gerade dieses Beschuldigten eigentlich nur widerrechtlichen Zwecken dienen können; so unter Umständen, wenn bei einem Handwerksburschen eine Spezialapparatur zum Knacken von Geldschränken gefunden wird oder wenn ein Musiklehrer größere Mengen von Kokain bei sich hat. Viel weniger deutlich weist der Besitz der zur Tatausführung nötigen Mittel auf die Täterschaft hin, wenn der Verdächtige von Berufs wegen ständig mit ihnen umgeht. Sind bei einem Schlosser Dietriche vorhanden, so besagt das für seine Täterschaft, wenn nicht andere Belastungsindizien hinzukommen, kaum etwas. Trotzdem kann auch in Fällen, wo der Beschuldigte die Mittel zur Tatausführung auf Grund seines Berufes stets zur Hand hat, ihrBesitz ein wichtiges Überführungsmoment bilden, wenn der Verdächtige in weitem Umkreis der einzige ist, dem solche Werkzeuge oder Stoffe überhaupt zugänglich sind, wie das etwa bei einem Apotheker in der Kleinstadt der Fall ist, der dort als einziger über gewisse stark wirkende Gifte verfügt. Bei scharfen Chemikalien, die in gewerblichen Betrieben oder auch im Privathaushalt vielfach zu u:werfänglichen Zwecken verwandt werden (Salzsäure zum Reinigen von Toiletten, gesundheitsschädliche chemische Lösungen zum Desinfizieren von Apparaten, Mittel zur Schädlingsbekämpfung in der Landwirtschaft), ist die Tatsache, daß jemand Zugang zu ihnen gehabt hat, für sich allein meist kein sonderlich starkes Beweisanzeichen für seine Täterschaft. Der Besitz des Gewehrs, aus dem die tödliche Kugel abgeschossen worden ist, wird in der Regel ein starkes Indiz für die Täterschaft dessen sein, der es um die Tatzeit herum in Benutzung hatte. Nur geringe Beweiskraft hat dieser Umstand jedoch, wenn der, bei dem das Gewehr gefunden worden ist, Kreisen angehört, in denen Schußwaffen erfah25 Döbring

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rungsgemäß häufig von heute auf morgen ihren Besitzer wechseln, und der Verdächtige behauptet, die Waffe zu einem nach der Tat liegenden Zeitpunkt erhalten zu haben. Besitz von Gegenständen, die durch eine Straftat hervorgebracht worden sind Wenn jemand solche Objekte bei sich hat, so ergibt sich daraus unter Umständen ein ähnlicher Verdachtsgrund wie aus dem Besitz von Verbrecherwerkzeugen. Man denke etwa an die Belastung, die aus einem gefälschten Paß für den Inhaber hervorgeht oder daraus, daß jemand Falschgeld bei sich hat. Allerdings muß unterschieden werden: Wenn festgestellt wird, daß der Beschuldigte Falschgeld in geringer Menge besitzt, so kann er dadurch zwar in einen gewissen Verdacht des Münzvergehens geraten. Aber das Indiz wird dann meistens nicht schwer wiegen, weil damit gerechnet werden muß, daß der Verdächtige das Geld beim Einkaufen auf rechtmäßige Weise erhalten und nicht gewußt hat, daß es sich um gefälschte Münzen handelte. Findet sich neben der geringen Menge gefälschten Geldes später beim Beschuldigten noch ein größerer Falschgeldbetrag vor, so liegt darin bereits ein weit stärkeres Beweisanzeichen für seine Beteiligung an einem Münzdelikt. Dies gilt besonders, wenn von ihm keine glaubhafte Erklärung für den ordnungsmäßigen Erwerb des Geldes zu erlangen ist, das er nicht gut als Wechselgeld beim Einkaufen erhalten haben kann und das vielleicht auch der Höhe nach mit seinen geringen Einnahmen nicht zusammenstimmt. Man wird sich dann nämlich vergeblich fragen, wie eine so beträchtliche Summe in die Hand dieses Mannes gelangt sein sollte, ohne daß er das Geld als gefälscht erkannte. Manchmal muß bedacht werden, daß auch Personen, die nur geringe Einnahmen zu haben scheinen, möglicherweise aus dunklen Geschäften, die strafrechtlich uninteressant sind, beträchtliche Summen erlösen. Es ist jeweils zu erwägen, ob der Verdächtige die bei ihm gefundenen Beträge, ohne sie als Falschgeld zu erkennen, durch Unternehmungen dieser Art erhalten haben kann. Eine weitere Verstärkung würde die Annahme einer Beteiligung des Beschuldigten am Münzverbrechen erfahren, wenn außer dem bei ihm festgestellten Falschgeld in seinem Keller auch Prägestöcke und andere Utensilien sichergestellt werden, die einwandfrei auf Falschgeldanfertigung hindeuten.

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Besitz der gestohlenen Sachen als Täterschaftsindiz Er kommt als verläßliches Beweisanzeichen für Diebstahl nur in Betracht, - wenn sicher ist, daß die beim Beschuldigten gefundenen Gegenstände aus dem ihm zur Last gelegten Einbruch herrühren und -

wenn die Möglichkeit ausgeschlossen werden kann, daß der Beschuldigte, ohne am Diebstahl beteiligt gewesen zu sein, sie vom Dieb oder irgendwelchen Mittelsmännern erworben hat.

Die Feststellung, daß es sich um Stehlgut aus der Straftat handelt, deren der Beschuldigte verdächtig ist, kann Schwierigkeiten bereiten, wenn fabrikmäßig hergestellte Gegenstände in Frage stehen. Gelingt es jedoch, die Sachen mit Hilfe bestimmter Kennzeichen als dem Bestohlenen gehörig auszumachen, so kann die Tatsache, daß solche Stücke in vielen gleichartigen Exemplaren in Benutzung sind, die Beweiskraft des Indizes nicht mehr schwächen. Sind fabrikneue Waren aus einem Geschäft gestohlen worden, so fehlt es zwar an Merkmalen, die durch Benutzung entstanden sind; aber es kann möglicherweise aus der Preisauszeichnung oder sonstigen unauffälligen Kennzeichen auf die Herkunft aus einem bestimmten Diebstahl geschlossen werden. Hühner und Enten, von denen vermutet wird, daß sie einem bestimmten Eigentümer gestohlen worden sind, zeigen, wenn man sie in der Nähe von dessen Gehöft absetzt, ihre Vertrautheit mit der Örtlichkeit zuweilen dadurch, daß sie schnurstracks zu ihrer alten Futterstelle laufen. Es gibt also - die Reihe der Beispiele ließe sich weiter fortsetzenmancherlei Methoden und Möglichkeiten, um die Herkunft der beim Beschuldigten sichergestellten Objekte aus einer bestimmten Straftat zu klären. Kann das Stehlgut käuflich erworben worden sein? Behauptet der Beschuldigte, daß er die gestohlenen Sachen von einem Dritten gekauft habe, so ist, wenn ihm das nicht widerlegt werden kann, der Besitz der gestohlenen Gegenstände als Indiz für seine Beteiligung am Diebstahl unbrauchbar. Trotzdem kann der Umstand, daß diese Sachen bei ihm gefunden wurden, immer noch auf das Vorliegen von Hehlerei hindeuten, sofern sich dartun läßt, daß der Beschuldigte beim Erwerb der Objekte wußte, daß sie durch strafbare Handlung erlangt worden waren.

Finden sich Gegenstände verschiedenster Art, die nachweislich aus ein und demselben Diebstahl stammen, beim Beschuldigten vor, so wird das mehr auf seine Beteiligung am Diebstahl als auf einen Erwerb der Sachen von Dritten hindeuten, zumal wenn der Beschuldigte mit einer 2!>*

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solchen Sachgesamtheit in ihrer bunten Zusammensetzung den Umständen nach kaum etwas anfangen konnte. Doch kommt es dabei jeweils auf die Besonderheiten des Falles an. Wenn der Zeitraum zwischen dem Einbruch, aus welchem die Gegenstände stammen, und dem Moment, von dem ab sie beim Beschuldigten nachweisbar sind, sehr kurz ist, wird man in erster Linie an einen Diebstahl des Beschuldigten (und nicht an Hehlerei) zu denken haben. Lassen sich dagegen die gestohlenen Gegenstände erst einige Wochen nach dem Diebstahl oder noch später beim Beschuldigten nachweisen und ist ihr Verbleib in der Zwischenzeit ungeklärt, so muß weit mehr damit gerechnet werden, daß die Sachen nach dem Diebstahl bereits durch mehrere Hände gegangen sind.

Besitz bestimmterGeldsarten oder Geldstücke als Indiz für Diebstahlsbeteiligung. 1. Bei Geldbeträgen läßt sich die Herkunft aus einer bestimmten Straftat meist nur schwer klarstellen. Gelingen kann das unter Umständen, wenn eine Reihe verschiedener Geldsorten entwendet wurde und bekannt ist, wieviel Exemplare von jeder Geldart dem Täter in die Hände fielen (z. B. zwei 20-Markscheine, ein 5-Markschein, fünf 10-Pfennigstücke, ein 2-Pfennigstück und drei 1-Pfennigstücke). Wird dieses Sammelsurium VonGeldscheinen undMünzen beimBeschuldigten genauso und unvermischt mit seinem eigenen Geld vorgefunden, so kann das ein starkes Beweisanzeichen dafür sein, daß er den Diebstahl ausgeführt hat. Je vielfältiger die Zusammenstellung der Münzsorten ist und je weniger daran gedacht werden kann, daß die gleiche Stückelung sich zufällig auch bei Personen vorfinden könnte, die mit dem Diebstahl nichts zu tun haben, desto belastender ist das Indiz für den Beschuldigten. Die Klarstellung, daß die beim Beschuldigten vorhandenen Gelder aus einem bestimmten Diebstahl stammen, ist ferner dann leicht möglich, wenn die Nummern der entwendeten Geldscheine feststehen oder wenn Hartgeldstücke, um dem Täter eine Falle zu stellen, so gezeichnet worden sind, daß sie einwandfrei wiedererkannt werden können.

Fingierte Beweisanzeichen. Überall, wo der Besitz verfänglicher Gegenstände (Stehlgut, Deliktswerkzeug, Skizzen vom Tatort, verräterische Kassiber) als Indiz für Tatbeteiligung verwandt werden soll, muß auch daran gedacht werden, daß diese Sachen dem Beschuldigten ohne sein Wissen in die Tasche gesteckt oder ihm sonst heimtückischerweise zugespielt worden sein können48 • Solche Fälle werden sich nicht allzu oft ereignen. Wenn jedoch derartige Praktiken in einer Gegend oder in einem Betrieb erst einmal in 48

Glaser, Beweis S. 162; Gorphe S. 318.

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Übung gekommen sind, so finden sie unter Umständen auch häufiger Anwendung. Manchmal sind berechtigte Zweifel vorhanden, ob es den Umständen nach überhaupt möglich gewesen sein könnte, dem Beschuldigten den indiziellen Gegenstand in sein Jackett zu stecken oder sonst in seinen unmittelbaren Herrschaftsbereich zu bringen, ohne daß er es gewahr wurde. Falls das jedoch zu bejahen ist, wird es darauf ankommen, ob der Beschuldigte Widersacher hatte, die augenscheinlich darauf ausgingen, ihm Schaden zuzufügen, und ob sie die nötige Gewissenlosigkeit besaßen, den Beschuldigten auf solche Weise hereinzulegen. In Ländern, in denen der Gesetzgeber durch strenge Beweisregeln die Möglichkeiten der Ermittlungsorgane zur Überführung von Verbrechern stark beschränkt hat, soll es vorkommen, daß Polizeibeamte im festen Glauben an die Täterschaft des Beschuldigten gegen diesen willkürlich Scheinindizien der genannten Art schaffen und so einen Schuldbeweis "arrangieren", weil sie einen solchen mit den zulässigen Beweismitteln nicht führen können.

Der Besitz größerer Geldbeträge als Belastungsmoment. Zuweilen kann schon der Umstand, daß der Beschuldigte beträchtliche Geldsummen zur Verfügung hat, die Annahme nahelegen, daß er ein bestimmtes Delikt begangen hat, auch wenn die strafbare Herkunft der Geldstücke selbst nicht feststellbar ist. Besonderen Hinweiswert pflegt der Besitz größerer Geldmittel zu haben, wenn der Beschuldigte sich bis vor kurzem nachweislich in sehr beengten wirtschaftlichen Verhältnissen befunden hat und nunmehr auf großem Fuß lebt oder doch finanziell dazu in der Lage wäre: wenn er Aufwendungen macht, an die er vorher nicht denken konnte- wenn er jetzt seine Gläubiger bezahlt, die ihn lange Zeit vergeblich gemahnt hatten - wenn er es plötzlich nicht mehr nötig hat zu arbeiten, während er bisher Geld verdienen mußte, um sein Leben fristen zu können usw. Große Beweiskraft können diese Momente erhalten, wenn der Beschuldigte über die Herkunft der ihm neuerdings zur Verfügung stehenden Summen keine plausible Erklärung abgeben kann; oder wenn er zu diesem Punkt Einzelheiten vorbringt, die als unrichtig erwiesen werden; oder wenn er eine Darstellung gibt, die zwar nicht direkt zu widerlegen ist, aber zur Rechtfertigung seiner plötzlichen Wohlhabenheit offensichtlich nicht hinreicht. Freilich kann der Erwerb des Geldes, obwohl der Beschuldigte seine Einnahmequellen nicht nennt, ordnungsmäßig erfolgt sein. Aber wenn sich trotz gewissenhafterNachforschungenkeine Möglichkeit eines rechtmäßigen Erwerbs abzeichnet, wird die Überzeugungskraft des im Geldbesitz liegenden Beweisanzeichens doch meist beachtlich sein.

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Häufig ist der ungewöhnliche Geldverbrauch überhaupt der erste Anhaltspunkt, durch den die Ermittlungsbehörde bei der Suche nach dem Täter auf einen Verdächtigen aufmerksam wird, der sonst vielleicht niemals in ihr Blickfeld gekommen wäre. Andererseits ist es nicht möglich, den Beschuldigten allein auf Grund des von ihm in letzter Zeit gemachten Aufwands zu überführen. Vielmehr müssen stets noch andere Indizien hinzukommen, die ihn in eine engere Beziehung zum eigentlichen Tatvorgang bringen. Frühere Äußerungen des Beschuldigten als Indiz In erster Linie ist dabei an Redewendungen zu denken, die auf das Vorliegen der Absicht zur Deliktsbegehung hindeuten. Es kann dann (unter Umständen) von der Äußerung des Beschuldigten zunächst darauf geschlossen werden, daß bei ihm der Wille zur Durchführung der Straftat vorlag und vom Vorhandensein dieses Willens wiederum darauf, daß er sich entsprechend verhalten hat49 • Es ist nicht unnütz, wenn man sich die Mehraktigkeit dieses Denkvorgangs auch in der Praxis immer wieder ins Bewußtsein ruft. 1. Hat der Beschuldigte, ohne daß der Gesundheitszustand seiner Ehefrau dazu Anlaß bot, zu Dritten gesagt, seine Frau werde einmal früh sterben, so kann dies, wenn die Ehefrau bald darauf durch Gift zu Tode kommt, in gewisser Weise darauf hindeuten, daß der Ehemann ihre Vergiftung, als er seine Äußerung tat, bereits geplant und dann auch durchgeführt hat. Aber das Indiz ist, was keiner weiteren Darlegung bedarf, für sich allein verhältnismäßig schwach. Hat der Beschuldigte, der im Verdacht steht, seine Scheune in Brand gesteckt zu haben, einige Zeit vor dem Brande gesagt, es sei das beste, wenn die Scheune abbrenne, so wird sich diese Redewendung für ihn meist irgendwie belastend auswirken. Doch kann die Äußerung durch die Umstände, unter denen sie erfolgte, auch einen harmlosen Charakter erhalten und dadurch als Täterschaftsindiz ganz ungeeignet sein: Wenn z. B. Kaufinteressenten bei Besichtigung des Hofes zum Ausdruck brachten, daß die Scheune zu nahe am Wohnhaus stehe und daß dadurch die Bewirtschaftung erschwert werde, so muß die daraufhin vielleicht halb scherzhaft, halb resigniert gemachte Bemerkung des Beschuldigten, es sei am besten, wenn sie abbrenne, im Rahmen dieser Kaufverhandlungen gesehen werden; sie kann dann durchaus einen unverfänglichen Sinn gehabt haben. u

Wigmore S. 202 :ff.

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2. Drohungen, die der Verdächtige gegen den von der Straftat Betroffenen ausgesprochen hat, stellen kein brauchbares Beweisanzeichen für seine Täterschaft dar, wenn es sich lediglich um Unmutsäußerungen gehandelt hat, die aus einer augenblicklichen Stimmung hervorgegangen sind und nicht sonderlich ernst genommen werden dürfen. Allgemein gehaltene Redewendungen haben eine sehr viel geringere indizielle Kraft als solche, die bei dem, der ein Übel androht, bereits den speziellen Plan zu einer bestimmten Straftat erkennen lassen. Wenn X von einem Unbekannten nachts überfallen und verprügelt worden ist, so kann darin, daß der Verdächtige vorher im Streit zu ihm gesagt hat, er werde es ihm "noch einmal heimzahlen", ein gewisser Hinweis auf dessen Täterschaft liegen. Doch ist, wenn nicht besondere Umstände hinzukommen, der indizielle Wert der Äußerung gering. Es muß bei früheren Drohungen auch berücksichtigt werden, wie lange sie bereits zurückliegen und ob die feindselige Einstellung des Beschuldigten späterhin aufrechterhalten worden ist oder ob sich die Streitenden zur Zeit der Tat wieder gut miteinander gestanden haben. Selbst gefährlich klingende Verwünschungen gegen den Betroffenen sind mitunter kein brauchbares Indiz für die Absicht zur Tatbegehung; z. B. dann nicht, wenn der Beschuldigte sie gewohnheitsmäßig im Munde führt, ohne sich viel dabei zu denken oder gar eine Verwirklichung ins Auge zu fassen. Mitunter spiegeln frühere Äußerungen des Verdächtigen den unbändigen Haß des Sprechers freilich mit großer Klarheit wider. In einem der Praxis entnommenen Fall hatte der Beschuldigte einige Wochen, bevor seine Frau von unbekannter Hand getötet wurde, zu einem Nachbarn gesagt: "Ich möchte ihr (der Ehefrau) das Messer durch die Kehle stoßen, sie in Stücke schneiden, die Teile auf die Erde werfen, sie zertrampeln und dann rufen ,Du Biest, lebst du noch?"' Auch dunkle Redewendungen, deren Sinn nicht voll verständlich erscheint, können eine starke Hinweiskraft haben, wenn aus ihnen jedenfalls soviel zu ersehen ist, daß der Beschuldigte mit Bezug auf den Verletzten höchst unheilvolle Absichten hegte und daß er zum Äußersten entschlossen war. 3. Geht aus früheren Reden des Beschuldigten nicht nur die Absicht der Tatbegehung, sondern auch die Art, wie sie geplant war, hervor, so wird darin im allgemeinen ein wichtiges Beweisanzeichen für seine Täterschaft liegen, sofern das verübte Delikt mit den vorher gemachten Andeutungen übereinstimmt. Doch muß auch an die Möglichkeit gedacht werden, daß der Beschuldigte trotz festen Plans für eine bestimmte Straftat von deren Ausfüh-

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rung aus irgendwelchen Gründen Abstand genommen haben kann. Eine solche Möglichkeit ist vor allem dann in Erwägung zu ziehen, wenn die Bereitschaft zur Begehung von Straftaten der in Betracht kommenden Art zur fraglichen Zeit in einem größeren Personenkreis latent vorhanden war und deshalb damit gerechnet werden muß, daß statt des Beschuldigten ein anderer die günstige Gelegenheit zur Deliktsausführung wahrgenommen hat. Zuweilen sind die vom Beschuldigten früher getanen Äußerungen als Indiz für seine Täterschaft deshalb nicht brauchbar, weil der Sinn mehrdeutig und nicht völlig zu klären ist. In einer Strafsache wegen Anstiftung zur Kindestötung hatte der Verlobte der außerehelichen Mutter vor der Geburt des Kindes zu dieser gesagt, wenn das Kind lebend zur Welt komme, dann "müsse es weg". Die Kindesmutter hatte darauf erwidert, das könne man doch nicht tun. Wenn diese Äußerungen sich, wie zunächst ohne weiteres angenommen worden war, darauf bezogen, ob das Kind im Fall der Lebendgeburt getötet werden solle, so wäre aus dem Gespräch zum mindesten zu entnehmen gewesen, daß die Frage der Tötung zwischen der Kindesmutter und ihrem Verlobten erörtert worden war. Später wurde der Sinn der genannten Redewendungen jedoch zweifelhaft: Vielleicht hatte der Verlobte nur gemeint, daß das Kind nach der Geburt nicht bei der Mutter bleiben könne, sondern in Pflege gegeben werden müsse. Vielleicht hatte er auch die Antwort der Kindesmutter, das könne man doch nicht tun, dahin aufgefaßt, daß sie sich vom Kinde nicht trennen wolle. Zum mindesten ließ der Sachverhalttrotz sorgfältigster Ermittlungen auch diese Deutung zu 50 • Sonstiges Verhalten vor oder nach der Tat Dahin gehören zunächst alle Maßnahmen, die zur Durchführung des Delikts nötig waren. Wenn der Beschuldigte deswegen einen Zeugen um Rat gefragt hat, wenn er andere zur Teilnahme überreden wollte, wenn er nach Personen suchte, die ihm die zu erwartende Beute abnahmen, so legt das die Annahme seiner Täterschaft nahe. Wurde ein Verbrechen mit Hilfe eines elektrisch geladenen Drahtes in der Weise verübt, daß dazu fachliches Wissen nötig war, und ergaben die Ermittlungen, daß ein ohnehin bereits Verdächtiger sich vorher einen Leitfaden für Elektrotechnik beschafft und darin das Kapitel studiert hat, in dem die Grundkenntnisse für die Durchführung des Unternehmens zu finden waren, so kann dies den Beweis seiner Täterschaft sehr erleichtern. 5o

A. Hellwig: "Kriminalistik" Jg. 1942 S. 108.

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Aber auch ein Verhalten, das nicht eigentlich als Vorbereitungshandlung anzusehen ist, führt unter Umständen zu einer nicht unbeträchtlichen Belastung des Beschuldigten. Wenn er im Verdacht geschlechtlicher Beziehungen zu seiner eigenen Tochter steht und bewiesen wird, daß er sich ihr gegenüber wie ein Liebhaber aufgeführt, ihr teuren Schmuck geschenkt und sie eifersüchtig von jedem Umgang mit anderen männlichen Partnern ferngehalten hat, so spricht dieses merkwürdige Benehmen unter Umständen mehr gegen den Beschuldigten als das in solchen Fällen üblicherweise sonst noch vorliegende Indizienmaterial. Auch das Verhalten nach der Tat kann zuweilen die Belastungsindizien sehr vervollständigen. Wenn der Bauer beim Pflügen frische Leichenteile zutage fördert und seine Leute herbeiruft, um ihnen den Fund zu zeigen, dann wird es sich in der Regel belastend für seinen Knecht auswirken, wenn dieser, obwohl er von allen die stärksten Nerven hat, als einziger der Aufforderung keine Folge leistet, sondern seine Arbeit anscheinend uninteressiert weiter verrichtet51 • Wenn von X vermutet wird, daß er an einem kleinen Mädchen unzüchtige Handlungen vorgenommen hat und X auf Vorhalt des Verdachts durch die Mutter des Kindes zu dieser sagt, er wisse, daß er Unrecht getan habe, so ist das, wenn nicht ganz besondere Umstände mitsprechen, ein ziemlich eindeutiges Überführungsmoment Immerhin wird der Beurteiler in allen solchen Fällen zu prüfen haben, ob nicht auch ein Unschuldiger sich so verhalten haben könnte, wie der in Verdacht Geratene es getan hat. Wenn der Verdächtige eine vorsätzliche Beweismittelvernichtung begangen hat, so wird darin im allgemeinen ein starkes Anzeichen dafür zu erblicken sein, daß er sich schuldig fühlte. Trotzdem läßt selbst eine absichtliche Zerstörung von Beweismaterial einen Schluß auf vorhandenes Schuldbewußtsein des Betreffenden nicht immer zu: A und B waren mit ihren Kraftwagen zusammengestoßen. Während sie auf die Polizei warteten, versuchte A die infolge des einsetzenden Regens langsam verlöschende Bremsspur vom Fahrzeug des B mit einem Stück Kreide nachzuziehen, um den Verlust dieses Beweismittels zu verhindern. Daraufhin verwischte B die Kreidestriche mit den Füßen, so daß die Bremsspur nicht mehr zu verwerten war. Zur Rechtfertigung berief er sich später darauf, daß A die Spur nicht richtig nachgezogen habe. Da ihm dies nicht widerlegt werden konnte, hatte das in der Beweismittelvernichtung liegende Überführungsindiz seinen Wert verloren. st

Wigmore S. 62 f.

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Wenn der Beschuldigte verdächtige Farb-, Blut- oder Spermaflecke an seiner Kleidung ausgewaschen hat, so kann das unter Umständen auf seinem Reinlichkeitssinn beruhen. Wenn jedoch die ohnehin stark verschmutzte Jacke offenbar seit langem nicht gesäubert worden ist und der Beschuldigte nicht die Jacke im ganzen, sondern nur die verräterischen Flecke mit ungewöhnlicher Gründlichkeit zu tilgen versucht hat, so deutet dieses Verhalten sehr auf vorhandenes Schuldbewußtsein hin, weil allzu offenkundig ist, daß das Reinlichkeitsbedürfnis des Beschuldigten nicht der Grund für die Säuberungsarbeit gewesen sein kann. In der Flucht vor der Polizei kann ein überzeugendes Schuldindiz liegen. Doch muß je nach Lage des Falles unter Umständen auch damit gerechnet werden, daß der Verdächtige, ohne von Schuldgefühlen erfüllt zu sein, lediglich den Unannehmlichkeiten entgehen wollte, die ein Kontakt mit der Polizei unter den obwaltenden Umständen mit sich gebracht hätte 52 • Manchmal liegt, wenn der Verdächtige flieht, zwar Schuldbewußtsein zugrunde, aber nicht wegen des aufzuklärenden Delikts, sondern auf Grund einer anderen Straftat, um derentwillen er eine Berührung mit der Obrigkeit vermeiden möchte. Auch dann kommt die Flucht nicht als Überführungsmoment in Betracht, wenn der Beschuldigte in einer Strafsache mit politischem oder weltanschaulichem Einschlag voraussieht, daß er selbst bei einer für ihn günstigen Beweislage von den völlig voreingenommenen Richtern kein freisprechendes Urteil zu erwarten hat. In diese Indiziengruppe gehört schließlich das gesamte Prozeßverhalten des Beschuldigten, soweit es ihn belastet. Beweisanzeichen solcher Art sind im Vorangegangenen bereits mehrfach erwähnt worden. Manchmal wirken sie sich für den Beschuldigten nachteiliger aus als die seiner Darstellung entgegenstehenden Zeugenaussagen und Urkundenbeweise. Zuweilen kann es sehr aufschlußreich sein, wenn sich aus dem Verhalten des Beschuldigten entnehmen läßt, wo seiner Meinung nach die Schwächen seiner Position liegen, in welchen Punkten er von dem eigentlich Wesentlichen ablenken möchte und ganz allgemein, in welchem Umfang er sich zur sachlichen Mitarbeit bereit zeigt53 • Manchmal ist ein wichtiges Überführungsindiz darin zu erblicken, daß die Stellungnahmen des Verdächtigen eine größere Kenntnis verraten, als er angesichts der von ihm behaupteten Unbekanntschaft mit der Sache eigentlich haben dürfte. Mitunter machen bestimmte ErklärunAttavilla 11.93 . BGH vom 4. 6. 1955 (in "Hochverrat und Staatsgefährdung" Bd. 1 S. 127); dort wurde die richterliche Beurteilung vornehmlich auf Gesichtspunkte dieser Art gegründet. s!

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gen des Beschuldigten, selbst wenn sie von ihm vielleicht nur in hypothetischer Form ausgesprochen worden sind ("Man hätte doch z. B. auch dadurch ins Haus gelangen können, daß ... "), es klar, daß er sich nicht nur in die Situation eines unbekannten Täters hineinversetzt hat, sondern detaillierte Kenntnisse besitzt, die man von ihm, wenn er gar nichts mit der Angelegenheit zu tun hatte, nicht erwarten konnte; daß ihm eine intime Sachkunde zu Gebote steht, die nur auf eigener unmittelbarer Erfahrung beruhen kann. Freilich müssen die Einzelheiten dabei sorgfältig erwogen werden. Der Umstand, daß dem Beschuldigten die Tat zuzutrauen ist

Übersicht. Dieses Argument für die Täterschaft einer bestimmten Person umfaßt genaugenommen eine ganze Gruppe von Beweisanzeichen. Man schließt bald aus dem Milieu, dem der Verdächtige entstammt, bald aus seinem Vorleben und den sich darin dokumentierenden Charaktereigenschaften, daß er die Tat begangen hat oder daß er nicht gut der Täter gewesen sein kann. Den Ausgangspunkt für Überlegungen dieser Art bildet die allgemeine Erfahrung, daß der Mensch sich dem prägenden Einfluß seiner Umgebung meist nur schwer entziehen kann und daß die in seinem Vorleben hervortretenden Verhaltenstendenzen sich immer wieder durchzusetzen pflegen. Wo die Rechtsordnung, wie das im anglo-amerikanischen Rechtskreis der Fall ist, der Berücksichtigung des Vorlebens und der Vorstrafen Grenzen setzt, sind diese Beschränkungen selbstverständlich zu beachten. Die folgenden Ausführungen kommen mithin nur insoweit zum Zuge, als eine Verwendung von Indizien dieser Art im Prozeß überhaupt zugelassen ist. Umweltein:flüsse. Dahin gehören zunächst allgemeine Zeitverhältnisse, die nicht nur auf den Beschuldigten, sondern auch auf viele andere Menschen ihre Wirkung üben, wie Krieg, Hungersnot, Flüchtlingselend; aber auch stimmungsmäßige Momente, die den Personenkreis beherrschen, dem der Beschuldigte nahesteht. Sie können (im Zusammenhang mit der speziellen Tatsituation oder mit den individuellen Eigenschaften des Beschuldigten) die Annahme, daß er der Täter ist, sehr nahelegen oder umgekehrt in weite Ferne rücken 54 • Dazu kommt die besondere Umwelt, in der gerade der Verdächtige bisher gelebt hat, einschließlich seiner wirtschaftlichen Lage, seiner mitmenschlichen Beziehungen und der beruflichen Atmosphäre, die ihn umgab. 54 Fr. Exner, Kriminologie (1949) S. 22 ff.; E. Mezger, Kriminologie (1951) S. 200 ff.; G. Naß, Erforschung der Täterpersönlichkeit (1958) S. 41 ff.; H. v. Hentig, Das Verbrechen (1962) II.1 ff.

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Je genauer festgestellt werden kann, inwieweit sich der Beschuldigte in die spezielle Umgebung, der er zugehörte, eingeordnet, ihre Denkgewohnheiten angenommen und sich ihre Zielsetzungen zu eigen gemacht hat, desto sicherer läßt sich der Einfluß der einzelnen Umweltfaktoren auf ihn abschätzen. Zwar gibt es Menschen, die ihrer Umgebung gegenüber weitgehend unabhängig sind. Meist wird aber durch ein bestimmtes Milieu, wenn es lange und vielleicht gerade in den entscheidenden Lebensabschnitten auf den Verdächtigen eingewirkt hat, eine deliktverhütende bzw. deliktfördernde Disposition geschaffen werden, die beim Beweis der Täterschaft ins Gewicht fallen kann; so etwa, wenn der Beschuldigte viele Jahre in Freundschaft mit einem vielfach überführten Verbrecher gelebt oder in enger geschäftlicher Verbindung mit einer übel beleumdeten Person gestanden hat; wenn er sich trotz vorhandener Arbeitsmöglichkeiten lange Zeit beschäftigungslos mit wechselndem Wohnsitz herumtrieb; wenn er schon als Kind von seinenEitern zur Begehung von strafbaren Handlungen angelernt wurde und später in einem regelrechten Verbrechermilieu groß geworden ist.

Vorleben 55 • Aus der Lebensgeschichte des Verdächtigen lassen sich Tendenzen, die auf seine Täterschaft im vorliegenden Fall hinweisen, z. B. dann entnehmen, wenn dem Beschuldigten eine Gewalttat zur Last gelegt wird und sein Lebenslauf zeigt, daß er eine ausgesprochene Neigung zu rücksichtslosem Dreinschlagen besitzt, sich leicht zu unbeherrschten Reaktionen hinreißen läßt. Auch sexuelle Straftaten, Zuhältertum, Ladendiebstähle gehen teilweise aus einer bestimmten wesensmäßigen Veranlagung hervor, so daß es unter Umständen einen beachtlichen Hinweis auf die Täterschaft des Verdächtigen darstellt, wenn sich aus seinem Vorleben ergibt, daß entsprechende Charaktereigenschaften oder Verhaltensgewohnheiten bei ihm gegeben sind. Umgekehrt kann es gegen die Annahme, daß der Beschuldigte der Täter ist, sprechen, wenn nach allem, was von früher her über ihn bekannt ist, das Delikt zu seiner Persönlichkeit und seiner Wesensart in keiner Weise paßt (S. 77). Jemand, der über große Körperkräfte verfügt und gewöhnt ist, von ihnen ständig Gebrauch zu machen, wie z. B. ein Schmied oder ein Boxer, wird dort, wo er sich mit Gewalt durchsetzen will, im allgemeinen auf seine Armkraft vertrauen und nicht auf ein Attentat mit Salzsäure verfallen, das als ein typisches Gewaltmittel körperlich unterlegener Personen angesehen werden kann. Wenn die verübte Straftat von der Art ist, daß der Täter sich durch die Begehung von der gesellschaftlichen Ordnung völlig lossagt, wie 55 Grau, Vorleben und Persönlichkeit des Beschuldigten als wichtige Grundlage seiner Bestrafung, in: Beiträge zur Rechtserneuerung Heft 4 (1937); Klee: Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht 1937 S. 548 ff.

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z. B. bei einem Raubüberfall, so kann es in gewisser Weise gegen die Tatbegehung durch den Verdächtigen sprechen, wenn er bisher ganz und gar das Leben des Biedermanns geführt hat und trotz gewissenhafter Nachforschung keine Momente ermittelt werden konnten, die ihn zu einem solchen Bruch mit seinen bisherigen Lebensgrundsätzen hätten veranlassen können. Freilich wird das meist nur ein schwaches Indiz für die Unschuld sein, solange nicht spezielle Umstände dem Argument eine besondere Überzeugungskraft geben. Der Beweisstoff, mit dessen Hilfe über die frühere Lebensführung des Verdächtigen Klarheit geschaffen wird, pflegt vor allem in Zeugenaussagen zu bestehen. Eine sicherere Grundlage bilden jedoch meist Akten über Vorprozesse, die gegen den Beschuldigten geführt worden sind.

Frühere Strafverfahren. Das Vorhandensein von einschlägigen Vorstrafen kann manchmal die Neigung zu Verfehlungen bestimmter Art überzeugend beweisen, besonders wenn die früheren Straftaten zahlenmäßig ins Gewicht fallen und in ihren Einzelheiten charakteristisch sind. Mitunter können frühere Prozeßverfahren auch dann einen gewissen Überführungswert haben, wenn es letzten Endes nicht zu einer Verurteilung des Beschuldigten gekommen ist. Man hat das teilweise in Abrede stellen wollen; doch lag dabei wohl in erster Linie die Befürchtung zugrunde, daß manche Sachbearbeiter zur ordnungsmäßigen Benutzung von Beweiselementen dieser Art nicht in der Lage sein könnten. Aber der Wahrheitsforscher läßt sich dadurch, daß man ihm die Verwertung von solchen Vorprozessen untersagt, erfahrungsgemäß nicht beeindrucken. Es erscheint daher notwendig, die doch nicht zu verhindernde Benutzung derartiger Beweisanzeichen durch Ausbildung fester Grundsätze in die richtigen Bahnen zu lenken. Die Ansatzpunkte dazu sind in der Rechtsprechung bereits vorhanden. Es kommt nur darauf an, die hinter den wechselnden Begründungen steckenden Grundgedanken aufzuspüren und sichtbar zu machen. Mitunter ist im Vorprozeß, obwohl es dort zu einer Verurteilung des Beschuldigten nicht gekommen ist, an ihm ein sehr starker Tatverdacht haften geblieben, der auch für den Nachweis der Täterschaft im vorliegenden Fall mit in die Wagschale geworfen werden kann. Bisweilen geht aus der im früheren Verfahren ergangenen gerichtlichen Entscheidung hervor, daß der Beschuldigte nur aus formalen Gründen (Verjährung, Fehlen des notwendigen Strafantrags) nicht verurteilt werden konnte, obwohl die einzelnen Deliktsmerkmale völlig klargestellt waren. Zuweilen zeigt sich, obwohl der Beschuldigte im Vorprozeß "mangels hinreichenden Beweises" freigesprochen worden ist, daß gerade die Teile des gesetzlichen Tatbestands, die im gegenwärtigen Fall interes-

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sieren, dort völlig bewiesen waren. Manchmal ergibt sich, daß dem Beschuldigten, dem zur Zeit Unzucht mit Kindern vorgeworfen wird, im früheren Verfahren objektiv unzüchtige Handlungen eindeutig nachgewiesen worden sind und daß der Freispruch im Vorprozeß lediglich erfolgt war, weil damals gewisse Bedenken bestanden, ob der Beschuldigte in wollüstiger Absicht gehandelt hatte. Dann haben unter Umständen die im Vorprozeß getroffenen Feststellungen indiziellen Wert für die Beantwortung der Frage, ob es in dem jetzt zur Aburteilung stehenden Fall zu objektiv unzüchtigen Handlungen des Beschuldigten gekommen ist. Welche Kraft solchen, einem früheren Verfahren entnommenen Beweiselementen im einzelnen beigemessen werden kann, wird sogleich näher zu erörtern sein. Wenn der noch unbekannte Täter das Delikt auf eine nicht alltägliche Weise ausgeführt hat, kann ein Indiz für die Täterschaft des Beschuldigten darin liegen, daß er nach den Vorakten bereits früher dieselbe Straftat in jener charakteristischen Art verübt hat. Die besondere Begehungsweise (der modus operandi) kann dann einen brauchbaren Hinweis darauf darstellen, daß er am Werk war 55 •

Strenge Erprobung des MateriaLs. Die Tatsache an sich, daß gegen den Verdächtigen schon einmal ein Verfahren ähnlicher Art geschwebt hat, besagt für seine Täterschaft im gegenwärtigen Fall gar nichts. Es muß vielmehr hinzukommen, daß er durch den Vorprozeß eindeutig belastet erscheint. Selbst wenn bereits mehrere Verfahren gleicher Art gegen den Beschuldigten anhängig waren, stellt dieser Umstand für sich allein noch kein irgendwie verläßliches Schuldindiz dar. Es können dabei mannigfache Zufälle mitsprechen. Die Justizgeschichte berichtet von Verfahren, in denen auf Grund zahlreicher anonymer Anzeigen, die -wie sich später ergab- sämtlich aus der gleichen Quelle stammten, immer wieder Ermittlungen gegen einen bestimmten Beschuldigten geführt wurden, bis sich ganz zum Schluß, nachdem die Rechtspflege lange Zeit irregeführt worden war, einwandfrei ergab, daß alle diese Vorprozesse zu Unrecht in Gang gebracht worden und die ihnen zugrunde liegenden Beschuldigungen unbegründet gewesen waren. Brauchbar wird ein Vorprozeß gleicher Art als Beweisanzeichen für die Täterschaft in der gegenwärtigen Sache erst, wenn man auf die Einzelheiten der früheren Fälle eingeht und feststellt, inwieweit die damaligen Belastungsmomente auch heute noch Überzeugungskraft besitzen: 55• über den modus operandi als kriminalistischen Behelf: "Schriftenreihe des Bundeskriminalamts", Wiesbaden Jg. 1959/60 und 1963.

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Der Angeklagte war der gleichgeschlechtlichen Unzucht verdächtig. Das Untergericht hielt ihn für überführt, und zwar teils wegen der belastenden Angaben des Zeugen Z, teils weil der Angeklagte bereits in drei früheren Verfahren des gleichen Delikts beschuldigt worden war. Es hatte in diesen Sachen zu einer Verurteilung nicht gelangt. Das Gericht führte jedoch aus, man könne nicht annehmen, daß gegen eine wirklich schuldlose Person so zahlreiche Verdächtigungen gleicher Art ganz ohne Grund erhoben worden seien. Es arbeitete also mit dem im täglichen Leben zwar vielfach verwandten, aber für den prozessualen Wahrheitsforscher ganz und gar unzulänglichen Argument, daß bei so vielen vorausgegangenen Strafanzeigen doch etwas an der Sache gewesen sein müsse. Das Urteil unterlag infolgedessen der Aufhebung 56 •

Bloßer Verdacht. Die aus dem oben Gesagten gewonnenen Erkenntnisse lassen sich zu einem allgemeinen Prinzip erweitern, nach welchem der aus früheren Verfahren gegen den Beschuldigten hervorgehende Verdacht als solcher kein ernst zu nehmendes Beweisanzeichen für seine Täterschaft im gegenwärtigen Fall bildet. Einigen Wert kann dieses Schuldindiz vielmehr nur erhalten, wenn die Grundlagen des früheren Verdachts ins Auge gefaßt und gewürdigt werden. Daß dieser Grundsatz der Sache nach von der Rechtsprechung teilweise auch früher schon anerkannt worden ist, mag folgendes Urteil des Reichsgerichts zeigen: Dem Angeklagten wurde zum Vorwurf gemacht, daß er seine Mühle vorsätzlich in Brand gesteckt habe, was er jedoch bestritt. In dieser Mühle hatte es vorher bereits zweimal gebrannt, was allerdings auffällig war. Auch bei den früheren Bränden war der Angeklagte in gewisser Weise der Brandstiftung verdächtig gewesen; doch hatte man ihm nichts nachweisen können. Das Untergericht erkannte demgemäß an, daß die Frage der Täterschaft damals ungeklärt geblieben sei, verwertete aber den aus den früheren Fällen gegen den Angeklagten hervorgehenden Argwohn als Schuldindiz im gegenwärtigen Verfahren. Das würde allenfalls möglich gewesen sein, wenn früher erhebliche Verdachtsgründe gegen den Angeklagten vorhanden gewesen wären. Aber es lag in dieser Hinsicht lediglich die Bekundung eines Zeugen vor, nach der die Ortseinwohner der Auffassung waren, daß der Angeklagte die vorausgegangenen Brände selbst angelegt habe. Das war jedoch ein gänzlich unzuverlässiges Argument. Eine so leichtfertige, lediglich mit nicht näher untersuchten Verdachtsgründen operierende Beweisführung sollte in einer wohlgeordneten Justiz nicht einmal als Ausnahme vorkommen. Der eigentliche Fehler lag hier wiederum darin, daß die Tatsache eines früheren Argwohns als Belastungsindiz gegen 55

RG vom 2. 12. 1940 (HRR 1941 Nr. 411).

400

Der Indizienbeweis

den Beschuldigten verwandt wurde, ohne daß auch nur der Versuch gemacht worden wäre, darzulegen, worauf sich der Verdacht im einzelnen gründete und welche Stärke er besaß 57 •

Nachweis des Vorlebens durch Polizeizeugen. Wenn frühere Verdachtsmomente nicht in Vorprozeßakten festliegen, sondern von einem Polizeibeamten bestätigt werden, der sich darüber als Zeuge aus seiner Erinnerung äußert, so erschwert das ihre Verwertung meist beträchtlich. Gewiß wird der Polizist aus seinem Gedächtnis oft präzise und glaubwürdige Angaben machen können; so etwa darüber, daß der einer Körperverletzung gegenüber anderen Hausbewohnern beschuldigte X schon mehrfach im Hause Streitigkeiten vom Zaun brach und daß die Polizeistreife wiederholt eingreifen mußte, weil er mit Tätlichkeiten gedroht hatte. Aber vielfach wird, wenn der Polizeizeuge keinen Vermerk in seinem Dienstnotizbuch gemacht hat, seinen Angaben die nötige Bestimmtheit fehlen. Manchmal kann er sich nur noch allgemein dahin äußern, daß der Beschuldigte bereits in frühere Ermittlungen wegen gleichartiger Straffälle "verwickelt" gewesen sei. Solchen Angaben mangelt jedoch jene spezielle Fassung, durch die allein sie einen gewissen Beweiswert erhalten könnten. Sie werden im Vorverfahren der Ermittlungsbehörde zwar einen Fingerzeig für die Lenkung der weiteren Nachforschungen geben, sind aber bei der endgültigen Beweiswürdigung in dieser Gestalt nicht zu brauchen: Der Angeklagte wurde wegen gewerbsmäßiger Abtreibung verfolgt. Es stand fest, daß er mehrfach Abtreibungen vorgenommen hatte. Zweifelhaft blieb dagegen, ob Gewerbsmäßigkeit gegeben war, d. h. ob der Angeklagte sich durch wiederholte Begehung eine ständige Einnahmequelle hatte schaffen wollen. Das Gericht bejahte diese Frage und stützte sich dabei auf die nicht durch konkrete Einzelangaben belegte Bekundung eines Kriminalbeamten, nach welcher der Angeklagte bei der örtlichen Polizei seit Jahren in dem Verdacht gestanden hatte, daß er Abtreibungen vornehme. Aber in dieser vagen Form war die Angabe als Belastungsmoment unbrauchbar. Sie würde nur dann einiges Gewicht gehabt haben, wenn der Polizeizeuge die Stärke des Verdachts durch konkrete Hinweise hätte dartun können.

Begrenzter Wert des Arguments, daß dem Beschuldigten die Tat zuzutrauen oder nicht zuzutrauen ist. Zugunsten des Beschuldigten kann dieser Beweisgrund sich bisweilen trotz des Vorliegens starker Belastungsmomente auswirken, wenn die Tat mit der Wesensart und dem bisherigen Lebenslauf des Beschuldigten in Widerspruch steht. Zu sei57

RG vom 14. 12. 1939 (HRR 1940 Nr. 342).

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nen Ungunsten kann er den Ausschlag geben, wenn die Deliktsbegehung Verhaltenstendenzen voraussetzt, die ziemlich selten vorkommen, und diese gerade beim Beschuldigten festgestellt werden. Darauf beruht es z. B., daß beim Verdacht gleichgeschlechtlicher Unzucht manchmal schon der bloße Nachweis entsprechender Neigungen des Beschuldigten für diesen eine starke Belastung bildet. Im allgemeinen hat der Umstand, daß dem Beschuldigten die Tat zuzutrauen ist, keine schlechthin prozeßentscheidende Wirkung. Meist dient dieses Indiz mehr zur Bestätigung bzw. zur Korrektur des sonstigen Beweismaterials und zur Abrundung des Gesamtbildes. Für diese Zwecke ist es oft unentbehrlich. Das zeigt sich mitunter in recht unangenehmer Weise, wenn bei schwieriger Beweislage brauchbare Auskünfte über das Vorleben des Verdächtigen bzw. das Milieu, in dem er gelebt hat, nicht zu erhalten sind und auch die mit ihm selbst darüber angestellten Erörterungen nichts Näheres zutage gefördert haben. Der Beurteiler hat dann vielfach das Empfinden, mit seinen Erwägungen im luftleeren Raum zu schweben, eben weil die Bekräftigung fehlt, die eine sichere Kenntnis der genannten Momente ihm verschafft haben würde. Besonders wichtig kann das Wissen um den Lebenslauf des Beschuldigten und seine daraus zu entnehmenden Verhaltenstendenzen werden, wenn keine unmittelbaren Tatzeugen vorhanden sind oder die zur Verfügung stehenden Beweispersonen alle irgendwie fragwürdig erscheinen. Behauptet z. B. ein junges Mädchen, daß es vom Beschuldigten vergewaltigt worden sei, so kann, wenn dieser standhaft leugnet und weitere durchschlagende Beweise nicht vorliegen, der Frage, ob dem Beschuldigten die Tat zuzutrauen ist, besonde:ce Bedeutung zukommen. Aber auch sonst gibt es nicht selten Beweissituationen, die eine Ergänzung des Überführungs- (oder des Entlastungs-) Beweises durch Feststellungen über das Vorleben, die charakterlichen Neigungen usw. des Verdächtigen wünschenswert erscheinen lassen: Zwischen A und B hat eine Schlägerei stattgefunden. A wird Körperverletzung zum Nachteil des B zum Vorwurf gemacht. Er beruft sich demgegenüber darauf, daß B ihn angegriffen habe, was B in Abrede stellt. Wenn die Zeugenaussagen über diesen Punkt keine volle Klarheit bringen, kann man u. U. mit Hilfe einer zuverlässigen Kenntnis der allgemeinen Verhaltenstendenzen des A und des B doch noch der Wahrheit auf den Grund kommen. Wenn sich nämlich herausstellt, daß A ein ausgemachter Schläger ist, der ständig Händel sucht und bereits mehrfach bei ähnlichen Gelegenheiten als Angreifer festgestellt wurde, während B als friedfertig bekannt ist und sehr dazu neigt, tätlichen Auseinandersetzungen auszuweichen, so wird dadurch (sofern nicht etwa die 26 Döhrlng

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Der Indizienbeweis

übrigen Beweise etwas Gegenteiliges ergeben) die Annahme nahegelegt, daß A auch in diesem Fall der Angreifer war. Freilich muß dabei auch erwogen werden, ob nicht Umstände vorlagen, die A trotz der bei ihm vorhandenen Angriffstendenz in diesem besonderen Fall vielleicht veranlassen konnten, sich Zurückhaltung aufzuerlegen. Manehrrial hindert ihn schon die Rücksicht auf die Geschicklichkeit und die beträchtliche Körperkraft des Gegners oder auf die in der Nähe befindliche Polizeistreife, sich so zu verhalten, wie es seinem eigentlichen Naturell entspricht. Ebenso kann der moralisch Minderwertige sich auch einmal entgegen seiner Gewohnheit so aufgeführt haben, daß er mit dem Strafgesetz nicht in Konflikt gekommen ist. Ein Beschuldigter, der, wie der Volksmund sich ausdrückt, "nichts liegen lassen kann", ist möglicherweise im vorliegenden Fall aus irgendwelchen Gründen mit seiner Diebstahlsneigung nicht zum Zuge gekommen. Vielleicht warertrotz guter Gelegenheit zur Tatausführung durch äußere Zufälle, verkehrte Berechnungen oder auch nur durch böse Ahnungen daran gehindert worden, seinem Hang zu strafwürdigem Verhalten freien Lauf zu lassen. Auch die Hineingehörigkeit des Verdächtigen in ein ausgesprochenes Verbrechermilieu vermag für sich a 11 ein die Feststellung, daß er im gegebenen Fall der Täter war, natürlich nicht zu rechtfertigen. Der Beschuldigte kann mit einem notorischen Übeltäter im gleichen Raum wohnen, mit ihm aus derselben Schüssel essen und im gleichen Bett schlafen, ohne daß er mit der von seinem Genossen begangenen Straftat etwas zu tun hat. Die Rechtsprechung weist mancherlei Fälle auf, wo das nicht genügend beachtet wurde und dadurch Fehlurteile zustande gekommen sind58• Eine gewisse Skepsis ist in dieser Hinsicht also unbedingt angebracht. Selbst wenn die dem Vorleben, den Charaktereigentümlichkeiten usw. entnommenen Hinweise auf die Täterschaft sehr zahlreich sind und insgesamt ziemlich schlüssig wirken, bedarf es zur Überführung des Beschuldigten stets weiterer Indizien, die eine konkrete Beziehung zwischen ihm und dem Tatvorgang herstellen. Falls diese sich trotz intensiver Nachforschungen nicht finden lassen, muß der Beschuldigte außer Verfolgung gesetzt bzw. freigesprochen werden. In der Praxis wird das manchmal nicht klar erkannt, weshalb darauf mit besonderem Nachdruck hingewiesen werden muß: In einem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall war dem Angeklagten ein Einbruchsdiebstahl zur Last gelegt worden. Er gab an, daß 58 E. Sello, Irrtümer der Strafjustiz und ihre Ursachen (1911) S. 397 ff.; Rittler, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43, S. 193; Anuschat, Die Gedankenarbeit des Kriminalisten (1921) S. 54. W. Hardwig, Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft Bd. 66, S. 247 spricht dem Umstand, daß dem Verdächtigen die Tat zugetraut werden kann, jeden indiziellen Wert ab.

Indizien für und gegen die Täterschaft

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er nichts mit der Straftat zu tun habe. Für seine Täterschaft konnte folgendes angeführt werden. Er gehörte zu dem engeren Personenkreis, der für die Tatbegehung in Betracht kam. Er war einschlägig vorbestraft, lebte unter Verbrechern und hatte, wie Zeugen bekundeten, gelegentlich selbst erklärt, daß er ein Verbrecher sei. Er hatte seit längerer Zeit keine Arbeit mehr gehabt, trotzdem aber erheblichen Aufwand getrieben. In derGastwirtschaftdesK, wo er regelmäßig verkehrte, machte er große Zechen, die er oft schuldig blieb, was auf ein engeres Einvernehmen zwischen ihm und dem Gastwirt K schließen ließ. Bei K wurden zwei Oberhemden und ein Pappkarton gefunden, die aus dem Einbruch stammten, den man dem Beschuldigten zur Last legte. Das Untergericht ging bezüglich der Täterschaft davon aus, daß K selbst für die Begehung des fraglichen Einbruchs nach Lage der Sache nicht in Betracht komme; es erwog, daß die Straftat andererseits nur von jemandem ausgeführt worden sein könne, der zu K in näherer Beziehung stand und daß dies gerade beim Beschuldigten der Fall sei. Das Gericht sah die Täterschaft des Beschuldigten auf Grund dieser Überführungsmomente als erwiesen an und verurteilte ihn wegen Einbruchsdiebstahls. Der BGH stellte jedoch klar, daß die Indizien dazu nicht hinreichten. Er wies mit Recht darauf hin, daß alle für die Täterschaft des Beschuldigten sprechenden Einzelheiten im Grunde nur soviel besagten, daß ihm die Tat zuzutrauen sei und daß darauf allein eine Verurteilung nicht gegründet werden könne 59 • Diese aus der Natur der Sache hervorgehenden Grundsätze haben allenthalben Geltung. Sie konnten sich nicht nur in den Rechtsordnungen des europäischen Festlandes durchsetzen, sondern sind auch im anglo-amerikanischen Rechtskreis anerkannt. Man hat dort die Grenzen des Arguments, daß dem Beschuldigten die Tat zugetraut werden könne, zwar von jeher besonders hervorgehoben. Aber auch die angelsächsische Jurisprudenz versäumte nicht, durch Ausbildung der Lehre über propensity evidence sich dieser Indiziengruppe in gewissem Umfang zu bedienen60 •

Feststellung, daß der Beschuldigte die zur Tatbegehung nötigen Fähigkeiten besitzt. Hier wird der Umstand, daß dem Beschuldigten die Tat zuzutrauen ist, in etwas abgewandelter Form verwertet. Es handelt sich jetzt nicht mehr darum, daß von erwiesenen Neigungen des Beschuldigten auf die Begehung des Delikts durch ihn geschlossen werden soll, sondern um die Klarstellung, daß der Beschuldigte über die körperlichen und seelischen Kräfte zur Tatausführung verfügte und daher als möglicher oder gar vermutlicher Täter in Betracht kommt. 59 60

26*

Urteil vom 26. 10. 1954 (Juristische Rundschau 1954 S. 468). Darüber im einzelnen Coven and Carter, Essays S. 149 ff.

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Dieses Überführungsindiz besitzt freilich nur dort e1mge Schlüssigkeit, wo zur Ausführung der Straftat Fähigkeiten nötig waren, die seltener vorkommen (große Körperkräfte, besonderes Raffinement, Fachkenntnisse spezieller Art). Ergibt sich, daß der Täter zum Deliktsort nur durch eine schmale Maueröffnung gelangt sein kann, die für den Beschuldigten angesichts seiner Körpermaße zu eng ist, so scheidet er als Täter aus. Ist der Dieb, um in das Gebäude zu kommen, an einem Obstspalier hinaufgestiegen und besitzt der Beschuldigte die dazu nötige Behendigkeit nicht, so kann er den Einsteigediebstahl nicht begangen haben. Indizien für das Vorliegen des ursächlichen Zusammenhangs

Beweisschwierigkeiten. Der Kausalzusammenhang ist als solcher nicht wahrnehmbar. Wenn A dem B im Wirtshaus mit einer Bierflasche auf den Kopf geschlagen hat und B anschließend auf dem Transport ins Krankenhaus gestorben ist, so sind das zwei Tatsachen, die sich in der Außenwelt sichtbar abzeichnen und daher in der Regel ohne allzu große Schwierigkeiten klargestellt werden können. Für den Beweis dagegen, daß beide Umstände im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen, sind die Bedingungen nicht ebenso günstig. Der Wahrheitsforscher ist dabei lediglich auf Schlußfolgerungen aus der Erfahrung angewiesen. Dadurch kompliziert sich in gewisser Weise der Feststellungsvorgang. Es kommt hinzu, daß die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang gegeben ist, auch durch Experiment oft nicht völlig geklärt werden kann. Die Konstatierung des Kausalnexus ist daher vielfach nicht in so exakter Form möglich wie die anderer tatsächlicher Einzelheiten.

Das Problem der ursächlichen Verknüpfung. Die darüber in der Rechtslehre vorhandenen Meinungsverschiedenheiten betreffen nicht den hier zu behandelnden Fragenbereich, so daß sie an dieser Stelle nicht näher erörtert zu werden brauchen. Im folgenden wird vom natürlichen Ursachenbegriff ausgegangen, nach dem jeder Umstand als für den Erfolg kausal anzusehen ist, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß die eingetretene Wirkung entfiele61 • Die abweichenden indi81 Handelt es sich bei dem Umstand, der für die unerwünschte Wirkung kausal sein soll, um eine Unterlassung, so ist der ursächliche Zusammenhang zu bejahen, wenn die unterlassene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Schadenserfolg entfiele. Eine Übersicht über die Einzelheiten gibt H. Welzel, Das deutsche Strafr.echt (1960) § 9 II. Zum Kausalitätsproblem als solchem ist hinzuweisen auf K. Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände (1931), G. Spendel, Die Kausalitätsformel der Bedingungstheorie für die Handlungsdelikte (1948); Rol. Gmür, Der Kausalzusammenhang im Strafrecht, Diss. Zürich 1958; E.v.Caemmerer, DasProblem

Indizien für das Vorliegen des ursächlichen Zusammenhangs

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vidualisierenden Theorien heben unter mehreren mitwirkenden Bedingungen eine bestimmte heraus und bezeichnen sie allein als ursächlich. Doch sind ihre Vertreter ebenfalls genötigt, vorweg zu prüfen, ob jeder einzelne der ins Auge gefaßten Umstände nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfällt. Auch dadurch rechtfertigt es sich, daß im folgenden von dieser Überlegung ausgegangen wird. Die Erfahrung als Hilfsmittel. Beim Suchen nach der Ursache muß das zum Vergleich herangezogen werden, was in früheren gleichartigen Fällen über den Kausalzusammenhang in Erfahrung gebracht worden ist. Man geht dabei von der Erwartung aus, daß ein Umstand, der bisher immer wieder als Ursache für eine bestimmte Erscheinung festgestellt wurde, auch bei dem gegenwärtig zu klärenden Geschehensablauf kausal gewesen sein wird. Manchmal läßt sich auf diese Weise der Ursachenzusammenhang mit großer Sicherheit dartun; so etwa, wenn gesagt werden kann, daß noch niemand einen Fall beobachtet hat, in welchem dem als Wirkung aufgefaßten Umstand nicht die als Ursache in Aussicht genommene Tatsache vorausgegangen und für den Erfolg als kausal anzusehen gewesen wäre. Doch darf der Beurteiler sich nicht kritiklos auf das verlassen, was sich ihm als angeblich gesicherte Erfahrung darbietet. Gerade bei Erforschung der kausalen Beziehung werden wir manchmal allzu schnell durch früher beobachtete Fälle eingenommen. So sehr der Wahrheitsforscher sich beim Suchen nach der richtigen Ursache auf die Erfahrung stützen soll, so wenig darf er dabei die Bedeutung des oft fragwürdigen Erfahrungswissens überschätzen. Zuweilen zeigt sich, daß zwei Erscheinungen nur aus äußerlichen Gründen längere Zeit hindurch zusammen aufgetreten sind, ohne daß daraus mit hinreichender Sicherheit auf eine zwischen ihnen bestehende ursächliche Verknüpfung geschlossen werden könnte. Auch statistisches Material kann, selbst wenn seine Verläßlichkeit außer Frage steht, die vorhandenen Zweifel oft nicht restlos beseitigen, was der folgende Sachverhalt veranschaulichen mag: Der von einem Heilpraktiker behandelte Patient war an Diphtherie gestorben. Im Verfahren gegen den Heilkundigen wegen fahrlässiger Tötung wurde festgestellt, daß dieser die Diphtherie als solche erst am des Kausalzusammenhangs im Privatrecht (1956). Aus dem italienischen Schrifttum vgl. Franc. Antolisei, 11 rapporto da causalita nel diritto penale (Turin 1934), dort S. 61 ff. auch über das anglo-amerikanische und französische Schrifttum; zum nordamerikanischen Recht W. Prosser, Kausalzusammenhang und Fahrlässigkeit (1958).

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dritten Krankheitstag erkennen konnte und erkannt hatte, daß er den Kranken aber weiter selbst betreute, statt ihn dem Arzt zur Serumbehandlung zu überweisen. Hinsichtlich der Frage, ob dadurch der Tod des Patienten verursacht worden war, wurde folgendes erwogen: Die Statistik besagte (zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung) über die Gesundungsaussichten von Diphtheriekranken, die am dritten Tag der Serumbehandlung zugeführt werden, daß von zehn Kranken dieser Art 9,1 bis 8,4 mit dem Leben davonkommen. Bei dieser Sachlage muß damit gerechnet werden, daß das vorliegende Krankheitsgeschehen zu den 1 bis 2 von zehn Fällen gehört, die trotz der Serumbehandlung vom dritten Tage ab tödlich verlaufen, und daß daher die ursächliche Verbindung zwischen dem Verhalten des Heilpraktikers und dem Tod des Patienten auch auf Grund der statistischen Ergebnisse fraglich erscheint. Gleichwohl kann der Kausalnexus bejaht werden, wenn der Patient auf Grund seiner Konstitution erhöhte Widerstandskraft besaß oder die Heilungsaussichten wegen äußerster Umsicht und Verläßlichkeit des vorhandenen Pflegepersonals besonders groß waren oder sonstige Umstände hinzukamen, die den Schluß nahelegen, daß die Erkrankung zu den 8 bis 9 günstig verlaufenden Fällen gehört haben würde 62 •

Unmittelbare zeitliche Aufeinanderfolge. Oft spricht ein naher zeitlicher Zusammenhang der Ereignisse für das Vorhandensein einer ursächlichen Verknüpfung zwischen ihnen. Jedenfalls ist, wo er vorliegt, die Wahrscheinlichkeit einer kausalen Beziehung meist größer als bei zeitlich weit auseinanderliegenden Erscheinungen. Wenn einem Opernsänger auf der Bühne während der Probe ein herabstürzender Balken auf den Kopf fällt und er noch am gleichen Tage stirbt, so weist dies sehr darauf hin, daß das Herabfallen des Balkens die Todesursache gewesen ist. Oftmals sind jedoch für den unerwünschten Erfolg, dessen Zustandekommen festgestellt werden soll, verschiedene Ursachen denkbar, mag auch der zeitliche Zusammenhang mit einer der möglicherweise ursächlichen Tatsachen ein besonders enger sein. Dann ist Gewißheit über den Kausalzusammenhang nur zu bekommen, wenn es gelingt, alle denkbaren Ursachen bis auf eine als im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommend auszuschließen. Wenn ein Radfahrer, der an fortgeschrittener Arteriosklerose leidet, mitten im Straßenverkehr mit seinem Fahrrad umfällt, so liegt vielleicht die Annahme nahe, daß der ihm unmittelbar folgende Kraftwagen ihn vom Rade gestoßen hat. Andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, daß der Radfahrer ohne Zutun eines Dritten auf Grund 62

RG Str. Bd. 75 S. 372.

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seiner Krankheit, die eine ständige latente Lebensbedrohung darstellt, zu Boden gestürzt ist. War das nachfolgende Auto an den Radfahrer bereits so nahe herangekommen, daß man, um diesen aufzuheben, den Kraftwagen zurückschieben mußte, so besagt dies noch nicht, daß der Kraftwagen ihn angefahren und zu Fall gebracht hat63 • Selbst wenn sich ergibt, daß der Kraftwagen den Radfahrer angestoßen hat, kann die Berührung nach dem Sturz erfolgt sein, so daß sie als Ursache für das Herabfallen vom Rade nicht in Betracht kommt. Unter solchen Umständen wird oft, wenn die Leichensektion nichts Gegenteiliges zutage fördert, die Annahme eines natürlichen Todes innerhalb des Verkehrs am nächsten liegen. Für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Verhalten des nachfolgenden Kraftfahrers und dem Hinstürzen des Radlers würde es dagegen sprechen, wenn der Kraftwagen den Radfahrer zwar nicht berührt, aber durch unvorschriftsmäßige Fahrweise so in Bedrängnis gebracht hat, daß bei dem Radler infolge des Schrecks in Verbindung mit der bei ihm vorhandenen Blutdrucksteigerung der Tod eintrat54 •

Zeitliches Auseinanderfallen der als Ursache und Wirkung in Betracht kommenden Ereignisse. Je weiter die Geschehnisse, deren kausale Verknüpfung erwogen wird, zeitlich voneinander entfernt sind, desto mehr muß damit gerechnet werden, daß das Ereignis, dessen Ursache ermittelt werden soll, durch andere Momente als den dafür in Aussicht genommenen Umstand hervorgerufen worden ist. Wenn- um bei dem S. 406 mitgeteilten Beispiel zu bleiben - der Opernsänger, dem der Balken auf den Kopf gefallen war, nicht am gleichen Tage, sondern erst zwei Wochen später stirbt, läßt sich die Frage des Kausalzusammenhangs zwischen beiden Vorgängen unter Umständen bereits schwerer beantworten, zumal wenn die ärztliche Untersuchung ergibt, daß der Verstorbene eine Geschwulst im Gehirn hatte und damit gerechnet werden muß, daß sie ohne Zusammenhang mit dem Bühnenunfall den Tod herbeigeführt hat. Andererseits kann auch dort, wo eine ursächliche Verbindung im allgemeinen nur bei engem zeitlichem Zusammenhang gegeben zu sein pflegt, diese mitunter trotz zeitlicher Trennung vorhanden sein; so z. B. wenn infolge einer leichteren Unfallverletzung sich ein Blut53 Die Entscheidung des OLG Tübingen vom 24. 4. 1952 behandelt einen solchen Fall vom Zivilistischen Gesichtspunkt aus (Deutsches Autorecht Jg. 1952 s. 92). 64 Zu dem ganzen Fragenkreis Buhtz, Verkehrsunfall (1938) S. 209.

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gerinnsei gebildet hat, das zunächst unbemerkt blieb, später aber durch Lungenembolie zum Tode führte.

Erwiesene Inkorrektheiten des Beschuldigten als Indiz für den Kausalzusammenhang. 1. Wenn feststeht, daß der Beschuldigte eine Polizeivorschrift übertreten hat, die der Verhütung von Nachteilen dient, so kann dieser Umstand, falls im Zusammenhang damit ein Schaden eintritt, in gewisser Weise als Indiz dafür angesehen werden, daß der Schaden durch die Übertretung verursacht worden ist. 2. Aber andererseits darf in solchen Fällen der Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Beschuldigten und dem entstandenen Schaden nicht schon auf Grund seiner Zuwiderhandlung gegen gesetzliche Bestimmungen als gegeben angesehen werden. Mitunter hat der Lotse oder der Flugzeugführer einen Fehler gemacht, ohne daß dieser eine Bedingung für das Zustandekommen des Unfalls darstellt. Es fehlt dann an dem notwendigen Zusammenhang zwischen dem Schadenseintritt und dem Verhalten des Beschuldigten: Der Angeklagte hatte seinen Lastzug im Dunkeln auf der Autobahn mit vorschriftswidriger Schlußbeleuchtung abgestellt. Ein nachfolgender Kraftfahrer, der den parkenden Lastzug nicht bemerkte, war auf ihn aufgefahren und dadurch zu Tode gekommen. Das Untergericht nahm an, daß der Unfall durch das unvorschriftsmäßige Schlußlicht verursacht worden war und verurteilte demgemäß den Fahrer des parkenden Lastzugs wegen fahrlässiger Tötung. Es fehlte jedoch an einem zureichenden Nachweis des Kausalzusammenhangs. In der Hauptverhandlung ließ sich nämlich lediglich feststellen, daß die zu beanstandende Schlußbeleuchtung für den Getöteten allenfalls eine gewisse Gefahr der Irritierung mit sich gebracht hatte. Nicht zu erweisen war, daß dem tödlich Verunglückten gerade wegen des unvorschriftsmäßigen Schlußlichts das Hindernis auf der Fahrbahn entgangen war. Gegen eine solche Annahme sprach, daß eines der beiden Schlußlichter, und zwar gerade das linke, auf das es in erster Linie ankam, die ordnungsmäßige rote Farbe gehabt hatte und gut zu sehen gewesen war, während das rechte orangerot leuchtete und daher unter Umständen seinen Zweck nicht voll erfüllen konnte. Der Verunglückte hätte also zum mindesten an dem linken Schlußlicht erkennen können, daß ein Hindernis auf der Fahrbahn vorhanden war. Aus den von ihm kurz vor seinem Tode abgegebenen Erklärungen ging jedoch hervor, daß er gar kein Schlußlicht bemerkt hatte, was darauf hindeutete, daß er unaufmerksam gewesen war. Es fehlte daher an einem hinreichenden Nachweis für den Kausalzusammenhang zwischen der vorschriftswidrigen Beleuchtung des Lastzugs, für die der Beschuldigte verantwortlich war,

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und dem durch den Zusammenstoß eingetretenen Tod des nachfolgenden Fahrers85 • 3. Wenn ein Kraftfahrer zur Zeit des Unglücks erwiesenermaßen mehr als 1,5 %o Alkohol im Blut hatte, so ist er in den meisten Ländern auf alle Fälle strafbar, weil er sich unter Alkoholeinfluß ans Steuer gesetzt hat66 • Inwieweit er jedoch die auf einer solchen Fahrt durch Unfall entstandenen Personenschäden verursacht hat (und demgemäß wegen fahrlässiger Körperverletzung zu verurteilen ist), hängt von seiner Fahrweise ab, die von Fall zu Fall besonders zu prüfen ist. Der Kausalzusammenhang würde hier fehlen, wenn der Beschuldigte trotz der Alkoholbeeinflussung durch sein Verhalten im Straßenverkehr keine Bedingung für das Zustandekommen des Unfalls gesetzt hat 67 • 4. An den Nachweis, daß die vom Beschuldigten gesetzte Bedingung nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Schadenserfolg entfällt, dürfen keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Das mag folgender Sachverhalt illustrieren: Ein Arbeiter in einer Eisengießerei hatte auf Anweisung des Gießermeisters mit einem Handlöffel flüssiges Eisen abgefangen und war dabei durch ausspritzende Sternchen am Auge verletzt worden. Der Gießermeister hatte es fahrlässigerweise unterlassen, die gesetzlich vorgeschriebene Schutzbrille zur Verfügung zu stellen. Die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dieser Unterlassung und der Augenverletzung lag sehr nahe. Im Prozeß machte die auf Schadensersatz verklagte Betriebsinhaberin geltend, daß der Schaden auch bei Anlegung der Schutzbrille hätte entstehen können. Das Reichsgericht sagte dazu, eine Feststellung des Inhalts, daß bei Benutzung der Brille der Schaden keinesfalls hätte eintreten können, sei nicht möglich, denn diese gewähre stets nur eine relative Sicherheit; es stehe aber fest, daß durch eine Schutzbrille die Gefahr der Augenverletzung sehr wesentlich gemindert werde. Da im gegebenen Fall keinerlei Anzeichen OLG Celle vom 6. 5.1955: Deutsches Autorecht, Jg. 1956 S. 16. Für Deutschland: § 2 Straßenverkehrs-Zulassungsordnung, § 21 Straßenverkehrsgesetz vom 19. 12. 1952. 67 Mitunter ist (worauf des Unterschieds wegen hingewiesen sein mag) zwar der Kausalzusammenhang zwischen der vorwerfbaren Fahrweise des Beschuldigten und dem unerwünschten Erfolg gegeben. Aber der letztere steht nicht in der (vom Gesetz erforderten) engen Beziehung zur Sorgfaltsverletzung des Beschuldigten; er wäre vielmehr auch ohne diese eingetreten: Der vorschriftswidrig schnell fahrende Kraftwagenführer überfährt ein Kind, welches so blitzartig auf die Straße sprang, daß es auch von einem in zulässigem Tempo fahrenden Auto getötet worden wäre. Derartige Sachverhalte gehören trotz scheinbarer Ähnlichkeit nicht in die Erörterungen über den ursächlichen Zusammenhang. 65

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dafür gegeben waren, daß die Brille wirkungslos geblieben wäre, wurde der ursächliche Zusammenhang als dargetan angesehen 68 • Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fahrlässigkeit

Einführung in die Problematik. Fahrlässigkeit setzt ein Verhalten voraus, durch das der Beschuldigte oder die Zivilprozeßpartei von einer bestimmten Tatsachengrundlage aus, ohne es zu wollen, aber in vorwerfbarer Weise einen von der Rechtsordnung mißbilligten Erfolg herbeigeführt hat; so etwa das Zustandekommen einer falschen Aussage, die Verursachung eines Brandes, die Tötung eines Menschen usw. In der Regel handelt es sich bei dem vom Angeklagtenschuldhaft verursachten "Erfolg" um ein schadenstiftendes Ereignis. Manchmal besteht die unerwünschte Wirkung jedoch auch darin, daß nur die Gefahr eines Schadens hervorgerufen wird, so z. B. beim Tatbestand der Eisenbahn-Transportgefährdung (§ 316 StGB). Zur Beantwortung der Frage, ob Fahrlässigkeit im Rechtssinn vorliegt, ist einmal die Klärung der tatsächlichen Umstände notwendig, die als Grundlage für eine gegen den Beschuldigten gerichtete Schuldfeststellung dienlich sein würden, und ferner die wertende Beurteilung, ob der Beschuldigte sich ungewollt 1. nicht so verhalten hat, wie ein einsichtiger und besonnener Mensch es in der fraglichen Situation getan hätte und ob er auch 2. nach seinen individuellen Fähigkeiten bei gehöriger Willensanspannung den unerwünschten Erfolg hätte voraussehen und durch sachgemäßes Verhalten vermeiden können. Im gegebenen Zusammenhang interessiert nur die als Fundament des Fahrlässigkeitsvorwurfs dienende Tatsachengrundlage. Die darauf aufbauende Wertung fällt dagegen als ein normatives Element nicht mehr in das Gebiet der Sachverhaltsfeststellung und braucht daher hier nur insoweit berücksichtigt zu werden, als das für unseren unmittelbaren Zweck erforderlich ist. Freilich bringt die enge Verbindung zwischen dem Tatsachenfundament und der daran anknüpfenden Wertung es mit sich, daß die letztere (des besseren Verständnisses wegen) teilweise in die Darstellung mit einbezogen werden muß 69 • 68 RGZ Bd. 1 S. 271; das Urteil behandelt nur die zivilrechtliche Seite; seine Ausführungen über den ursächlichen Zusammenhang können aber in gleicher Weise für den Strafprozeß Geltung beanspruchen. Auch im Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen den Gießermeister wäre der Kausalzusammenhang aus den vom Reichsgericht angeführten Gründen zu bejahen gewesen. 69 Das Schrifttum zum Fahrlässigkeitsproblem erörtert vor allem die im Text nur angedeuteten normativen Gesichtspunkte: Fr. Exner, Das Wesen

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Die tatsächlichen Unterlagen, an welche die wertende Betrachtung anknüpfen soll, sind entsprechend den oft ziemlich komplizierten normativen Erwägungen zur Fahrlässigkeitsfrage in der Regel mehrgliedrig. Zur Einführung in die Aufgaben des Tatsachenforschers werden zunächst einige typische Gestaltungen vorgeführt, in denen die Fahrlässigkeit vorzukommen pflegt. Sie sollen ein gewisses Anschauungsmaterial vermitteln und dadurch das Verständnis der weiteren Ausführungen vorbereiten. 1. Mannigfaltigkeit der Formen, in denen fahrlässiges Verhalten auftritt. Manchmal liegt die Fahrlässigkeit darin, daß der Beschuldigte (die Zivilprozeßpartei) die vorgefundene tatsächliche Situation, obwohl sie erkennbar war, nicht richtig erfaßte und infolgedessen nicht so gehandelt hat, wie es verlangt werden mußte; man denke etwa an den Arzt, der auf Grund eines leichtfertig erhobenen Befundes eine verkehrte Maßnahme trifft, die den Tod des Patienten herbeiführt. 2. Mitunter hat der Beschuldigte die Ausgangslage zwar zutreffend beurteilt, aber in vorwerfbarer Weise nicht erkannt, welche Vorkehrungen angemessen gewesen wären, und sich demgemäß zweckwidrig verhalten. 3. Zuweilen besteht die Fahrlässigkeit auch darin, daß der Beschuldigte die Angelegenheit nicht genügend durchdacht hat, obwohl das von ihm erwartetwerdenmußte; so etwa wennderBaumeister es unterließ, seine Berechnungen nochmals nachzuprüfen bzw. Literatur nachzulesen, obwohl der Sachverhalt dazu Anlaß bot. Nicht selten hat es der Beschuldigte versäumt, sich von dem Einfluß der im Alltagsbetrieb nach und nach erworbenen Gleichgültigkeit freizumachen. Unter Umständen ist sein Verschulden darin zu finden, daß er sich von bestimmten beruflichen Voreingenommenheiten, gegen die er hätte ankämpfen müssen, nicht gelöst hat. 4. Mitunter liegt der gegen ihn gerichtete Vorwurf in erster Linie darin, daß er sich an ein gefahrvolles Vorhaben herangewagt hat, ohne daß er die dazu erforderlichen (und beschaffbaren) Hilfsvorrichtungen zur Hand hatte. der Fahrlässigkeit (1910); K. Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht (1930); W. Niese, Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit (1951). Über den Fahrlässigkeitsbegriff im nordamerikanischen Straßenverkehrsrecht E. C. Stiefel in: Ernst Meyer, Typische Unfallursachen (Godesberg 1959). Für das Zivilrecht ist die umfassende Monographie von E. Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt (1963) zu vergleichen, in der auch manche Hinweise auf die strafrechtlichen Gesichtspunkte enthalten sind; sie umschreibt die Gestaltungen, in denen die Fahrlässigkeit auftreten kann, sehr viel eingehender als das in der hier gegebenen grundrißartigen Übersicht geschehen konnte.

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Seine Leichtfertigkeit kann auch darin bestehen, daß er die für bestimmte Gefahren im voraus bereitgehaltenenAbwehrmittel wie Feuerlöschgeräte, Schiffspumpen, Rettungsboote usw. nicht in gebrauchsfähigem Zustand gehalten hat, so daß sie im entscheidenden Augenblic:X versagten. Manchmal ist die Fahrlässigkeit hauptsächlich in der Tatsache zu erblicken, daß der Beschuldigte, obwohl er es hätte besser wissen müssen, sich auf ein Unternehmen eingelassen hat, für das seine Sachkunde und seine Geschicklichkeit nicht zulangten, daß er also seine Fähigkeiten in allzu gedankenloser Weise überschätzt hat. 5. In anderen Fällen hätte der Beschuldigte angesichts seiner Kenntnisse und Gaben der Lage Herr werden können, zumal er die Gefahr kannte und die in Betracht kommenden Gegenmittel zur Stelle waren; aber er hat die Abwehrmaßnahmen infolge von strafbarer Nachlässigkeit nicht ordnungsgemäß durchgeführt. Vielfach gehen die Gestaltungen, in denen die Fahrlässigkeit auftritt, auch aus der besonderen Eigenart des einzelnen Delikttyps hervor, was für ein Sondergebiet durch die folgenden Hinweise veranschaulicht werden soll:

Gestaltungen der Fahrlässigkeit bei falscher Aussage. Wenn der Beschuldigte in einem Vorprozeß als Zeuge eine objektiv unrichtige Aussage gemacht hat und zu klären ist, ob ihm deswegen Fahrlässigkeit zur Last fällt, so kann diese in ganz verschiedenen Umständen gefunden werden, nämlich entweder - darin, daß der Beschuldigte, obwohl er dazu in der Lage gewesen wäre, es unterlassen hat, seine undeutlich gewordene Erinnerung durch gedankliche Beschäftigung mit der Sache besser zu aktivieren; oder -

-

darin, daß er von den ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten zur Überprüfung seines Erinnerungsbildes nicht gehörig Gebrauch gemacht hat; darin, daß er die vorhandenen Kontrollmöglichkeiten zwar benutzt hat, aber auf Grund von Gleichgültigkeit oder Oberflächlichkeit nicht zur zutreffenden Anschauung durchgedrungen ist;

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darin, daß er sich nicht genügend bemüht hat, den verfälschenden Einfluß von Suggestionen durch Gruppengeist usw. in sich zu bekämpfen;

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darin, daß er sein (wie er erkennen konnte) fragwürdiges Wissen mit großer Bestimmtheit vorgetragen und als sicher ausgegeben hat, also bei Angabe des Sicherheitsgrades nachlässig zu Werke gegangen ist usw.

Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fahrlässigkeit

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Allgemeine Kennzeichnung der Tatsachengrundlage. Ähnlich wie die normativen Gesichtspunkte für die Annahme von fahrlässigem Verhalten weisen auch die zur Feststellung von Fahrlässigkeit notwendigen tatsächlichen Unterlagen, von denen hier in erster Linie die Rede sein soll, eine große Verschiedenheit auf. Allgemein gesagt muß bei der Klärung, ob Fahrlässigkeit gegeben ist, festgestellt werden: a) Welcher Art war die Situation, mit der der Beschuldigte sich abzufinden hatte? b) Wie hat er sich unter den gegebenen tatsächlichen Umständen verhalten? c) Besteht ein Zusammenhang zwischen der Aufführung des Beschuldigten und dem Ereignis, dessen fahrlässige Herbeiführung von der Rechtsordnung mißbilligt wird? d) Wie hätte ein einsichtiger und besonnener Mensch den unerwünschten Erfolg durch angemesseneres Verhalten vermeiden können? e) Hat der Beschuldigte erkannt oder hätte er bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennen können, daß seine Handlungsweise unter Umständen die eingetretene unerwünschte Wirkung haben würde? f) Kannte der Beschuldigte die geeigneten Gegenmittel und Abwehr-

maßnahmen bzw. hätte er sie bei seinen geistigen Fähigkeiten und seiner Vorbildung erkennen und von ihnen Gebrauch machen können?

Zu a) und b ): Für die Ermittlung, wie der Beschuldigte sich in der Ausgangslage, mit der er in Berührung kam, verhalten hat, kann auf das über die Zeugenvernehmung usw. allgemein Gesagte Bezug genommen werden. Zu c): Hinsichtlich der Frage, ob zwischen dem Verhalten des Beschuldigten und der eingetretenen Wirkung eine ursächliche Verbindung besteht, ist auf die Ausführungen über Kausalzusammenhang zu verweisen (S. 404). Zu d): Bei der Erwägung, wie der Beschuldigte den Geschehensablauf durch angemesseneres Verhalten hätte vermeiden können, hat sich der Beurteiler ebenfalls der Kategorien des kausalen Denkens, also der Begriffe von Ursache und Wirkung, zu bedienen. Doch ist seine Aufmerksamkeit in diesem Stadium der Erörterung nicht auf das Erkennen der Wirklichkeit gewordenen ursächlichen Verknüpfung gerichtet, sondern darauf, inwiefern der Geschehensablauf sich bei einem bestimmten, von der tatsächlichen Aufführung des Beschuldigten abweichenden Verhalten anders gestaltet haben würde. Diese Überlegung muß zu einer fest umrissenen Vorstellung darüber führen, wie der Beschuldigte sich angemessener hätte verhalten können. Der Beurteiler vermag darüber

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Der Indizienbeweis

nicht nur eine höchstpersönliche Ansicht, sondern eine objektive Auffassung zu gewinnen, die auch für Dritte verbindlich ist.

Zu e: Die Frage, ob Voraussehbarkeit des Schadenseintritts vorlag, betrifft einerseits die Seinssphäre und gehört insoweit zur tatsächlichen Feststellung. Bei ihrerBeantwortungsprechen aber auch Vorstellungen darüber mit, welcher Maßstab bezüglich der Voraussehbarkeit angelegt werden soll. Hinsichtlich dieser normativen Elemente werden hier wieder nur einige wenige Andeutungen gegeben, die das Verständnis für den Gesamtzusammenhang erleichtern sollen: Die Ansichten darüber, was als voraussehbar zu betrachten ist, hängen einerseits mit der Auffassung des Beurteilers vom Wesen der Fahrlässigkeit zusammen und werden andererseits durch sein Streben bestimmt, in allen Fällen, die nach dem Rechtsempfinden eine Ahndung verdienen, diese nicht an einem zu engen Begriff der Voraussehbarkeit scheitern zu lassen. Im Strafrecht geht bei Beurteilung der Voraussehbarkeit des Erfolgs die Tendenz heute vielfach auf eine weitgehende Berücksichtigung der individuellen Geistesverfassung des Beschuldigten. Teilweise wird dabei vornehmlich an die Beachtung seiner wesensmäßigen Besonderheiten gedacht; teilweise will man auch zeitweilige Erregungs- und Ermüdungszustände des Beschuldigten mit in Betracht ziehen. Die Gegenrichtung betont demgegenüber, daß die Rücksicht auf höchstpersönliche Besonderheiten des Beschuldigten nicht übertrieben werden dürfe. Sie möchte seine psychische Gesamtausrüstung nur insoweit in Anschlag gebracht wissen, als sie sehr beträchtliche Abweichungen von der Normallage aufweist, was u. a. bei schweren Intelligenzmängeln, bei ganz ungewöhnlicher geistiger Schwerfälligkeit oder hochgradiger Nervenschwäche der Fall sein kann. Im Zivilrecht wird bei Schadensersatzklag,en auf Grund fahrlässigen Verhaltens in erster Linie von den Anforderungen ausgegangen, die an den Normalbürger zu stellen sind, ohne daß die individuelle Beschaffenheit des Betroffenen sonderlich beachtet würde. Allerdings pflegt man auch im Zivilrecht typische Eigenheiten ganzer Menschengruppen, wie sie sich aus dem verschiedenen Alter, der unterschiedlichen Bildung und Lebensstellung ergeben, in gewissem Maße mildernd oder schärfend zu berücksichtigen. Die anglo-amerikanische Jurisprudenz neigt sowohl im Zivil- als auch im Strafrecht zu einer mehr objektiven Auffassung des Fahrlässigkeitsbegriffs im allgemeinen und der Voraussehbarkeit im besonderen. In keinem Fall braucht das Geschehen für den Täter in allen seinen Einzelheiten im voraus erkennbar gewesen zu sein. Es ist nicht erforderlich, daß er eine genaue Vorstellung von der Art des Schadens gehabt hat oder bei gehöriger Obacht hätte haben können. Es genügt im allgemeinen, wenn für ihn voraussehbar war, daß ein Schaden entstehen konnte. Doch gehen auch insoweit die Ansichten teilweise auseinander.

Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fahrlässigkeit

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Dadurch, daß bezüglich der normativen Gesichtspunkte verschiedene Auffassungen bestehen, wird oft auch die Klarstellung der tatsächlichen Grundlagen für die Voraussehbarkeit in gewisser Weise erschwert. Der Beurteiler sollte sich in dieser Hinsicht eine feste Auffassung bilden. Die folgenden Erörterungen setzen voraus, daß er über den anzulegenden allgemeinen Maßstab im großen und ganzen mit sich einig ist.

Beweisanzeichen für die Berechenbarkeit der eingetretenen Wirkung. 1. Dafür, daß der unglückliche Verlauf der Sache hätte erkannt werden

können, spricht oftmals die Tatsache, daß jeder Einsichtige ihn als reale Möglichkeit erkannt haben würde; so etwa, wenn der Beschuldigte wußte, daß der von ihm benutzte Kraftwagen in keiner Weise mehr verkehrssicher war, und dadurch in der Folge ein Unfall herbeigeführt worden ist. Für die Voraussehbarkeit des schadenstiftenden Ereignisses spricht es auch, wenn - wie beim Hantieren mit Schußwaffen und mit Sprengstoffen- bereits die allgemeine Situation als besorgniserregend zu erkennen war. Der Beschuldigte kann in der Regel auch dann das Unglück auf sich zukommen sehen, wenn er eine neu konstruierte Maschine, die ihrer Art nach eine erhebliche Gefahr für die Umgebung darstellt und über deren Funktionieren noch kein Erfahrungsmaterial vorliegt, ohne die nötigen Sicherheitsmaßnahmen in Betrieb setzt. War nur auf Grund genauerer Nachprüfungen erkennbar, daß mit Schadenswirkungen gerechnet werden mußte, so wird Voraussehbarkeit in aller Regel anzunehmen sein, wenn für den Beschuldigten die Notwendigkeit solcher Nachprüfungen auf der Hand lag und er sie auf Grund einer nicht zu rechtfertigenden Sorglosigkeit unterlassen hat. 2. Berechenbar ist die unerwünschte tatsächliche Entwicklung meist auch dann, wenn der Beschuldigte sich darüber klar war, daß er von grundlegenden und allgemein anerkannten beruflichen Regeln abwich und daher einen unglücklichen Verlauf befürchten mußte, mag es sich dabei nun um die Errichtung eines Bauwerks handeln, das infolge unrichtiger Konstruktion einstürzt oder um einen Operationsfehler des Arztes, durch den der Patient zu Schaden kommt. 3. Für Voraussehbarkeit können ferner frühere Erlebnisse des Beschuldigten sprechen, die ihm deutlich vor Augen geführt haben, wie leicht aus Situationen bestimmter Art eine unheilvolle Entwicklung hervorgehen kann. Je mehr der Beschuldigte durch solche Erfahrungen auf einen unglücklichen Geschehensablauf vorbereitet war, desto eher wird anzunehmen sein, daß er ihn auch im gegebenen Fall voraussehen konnte. Bei Unglücksfällen im Berufsleben spricht es für Voraussehbarkeit, wenn der Beschuldigte durch Warnungen der Betriebsleitung, der vor-

Der Indizienbeweis

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gesetzten Behörde, des Lehrpersonals zur richtigen Einschätzung der vorhandenen Gefahr angeleitet wurde oder wenn er durch den täglichen Umgang mit heimtückischen Apparaturen oder todbringenden chemischen Mitteln auf die Notwendigkeit vorsichtigen Verhaltens hingewiesen worden ist. 4. Ein Beweisanzeichen dafür, daß der stattgehabte unerwünschte Verlauf vom Beschuldigten nicht vorausgesehen werden konnte, liegt z. B. darin, -

daß die Situation, in der er zu handeln hatte, allgemein unübersichtlich oder doch für ihn bei seinem begrenzten Erfahrungswissen nicht durchschaubar war;

-

daß ein Moment beim Zustandekommen des Erfolges mitgesprochen hat, dessen Vorliegen der Beschuldigte in keiner Weise ahnen konnte;

-

daß der Bereich, in dem sich der Vorgang ereignete, dem Beschuldigten zur fraglichen Zeit noch fremd war und daß er keine Gelegenheit gehabt hatte, sich mit den vorhandenen Gefahrenquellen vertraut zu machen;

-

daß eine hinreichende berufliche Anlernung nicht erfolgt war und die Materie ein schnelles Zurechtfinden ohne gründliche Unterweisung nicht gestattete.

5. Mitunter war die Voraussehbarkeit der Schadensentwicklung zwar anfangs nicht gegeben, jedoch von einem bestimmten späteren Zeitpunkt ab vorhanden. In anderen Fällen wieder lag Voraussehbarkeit von vornherein vor, aber nur bezüglich einer weniger schlimmen Ausprägung des Gesamthergangs, was für die Beurteilung von Bedeutung sein kann und u. U. klargestellt werden muß. Folgender Fall mag illustrieren, wie der Beschuldigte den unglücklichen Verlauf mitunter nicht bis ins einzelne berechnen konnte, während ihm die wesentlichen Züge der eingetretenen Schadensentwicklung durchaus erreichbar waren: Eine Scheune geriet dadurch in Brand, daß der Beschuldigte, um Licht zu haben, dort eine brennende Petroleumlaterne auf den Bock einer Dreschmaschine gestellt hatte. Die Laterne war heruntergefallen und hatte die Scheune in Brand gesteckt. Es konnte nicht festgestellt werden, ob die Lampe dadurch herunterfiel, daß die im Göpel gehenden Pferde anzogen oder dadurch, daß ein draußen vorbeifahrender Wagen den Boden erschüttert hatte oder dadurch, daß jemand die Laterne anstieß. Dies war aber letzten Endes auch gleichgültig. Denn die wesentlichen Momente hätte der Beschuldigte auf alle Fälle erkennen können: daß nämlich die Laterne auf der Dreschmaschine einen ganz unsicheren Stand hatte, daß jede kleine Erschütterung sie umwerfen

Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fahrlässigkeit

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konnte und daß bei dem allenthalben herumliegenden Stroh ein Umsichgreifen des Feuers dann nicht mehr zu verhindern sein würde70 • 6. Bei Beurteilung der Frage, ob die eingetretene tatsächliche Entwicklung für den Beschuldigten vorauszusehen war, hat der Wahrheitsforscher sich in die Situation zur Zeit des Geschehens hineinzuversetzen. Es wäre nicht gerechtfertigt, wenn erdieimAugenblick der strafgerichtliehen Untersuchung vorhandenen Kenntnisse und Erfahrungen kurzerhand auf die vielleicht sehr viel unklarere frühere Lage übertragen und sie ohne weiteres als im damaligen Zeitpunkt zur Verfügung stehend annehmen wollte. Die speziellen Lehren, die gerade der vorliegende Fall mit seinem unheilvollen Verlauf enthält, müssen bei der Erwägung der Voraussehbarkeit außer Betracht bleiben, soweit sie dem Beschuldigten nicht auch vorher schon zugänglich waren. 7. Wird dem Beschuldigten vorgeworfen, daß er als Zeuge in fahrlässiger Weise eine falsche Aussage gemacht hat, so verschiebt sich die Problemstellung nur unwesentlich. Auch hier ist, wenn die Unrichtigkeit seiner Bekundung feststeht, die Frage zu stellen, ob der Beschuldigte bei gehöriger Aufmerksamkeit die Verkehrtheit seiner Darstellung zu erkennen vermochte, ob er die darin liegende Beeinträchtigung der Rechtspflege voraussehen und sich entsprechend verhalten konnte (vgl. oben unter d, e, f). Wenn er seinerzeit als Zeuge über selbsterlebte Fakten vernommen wurde, die sich erst vor kurzem ereignet hatten und die ihrer Art nach in der Erinnerung zu haften pflegen, so kann oft davon ausgegangen werden, daß er in der Lage war, sie im Gedächtnis zu behalten oder doch sein Erinnerungsbild durch Nachdenken wieder zu beleben. Bei Sachverhalten, die schon einige Zeit zurückliegen, wird unter den genannten Voraussetzungen häufig das gleiche anzunehmen sein, zumal wenn der Beschuldigte inzwischen selbst mündlich oder schriftlich auf den fraglichen Umstand Bezug genommen hat, wenn er durch Mitteilungen anderer nachträglich auf ihn hingewiesen worden ist oder wenn seine Interessenlage die Erinnerung an ihn wachgehalten hat. Ein Indiz dafür, daß der Beschuldigte die Unrichtigkeit seiner Bekundungen hätte erkennen können, liegt unter Umständen auch darin, -

daß ihm die Erheblichkeit des Punktes, über den er als Zeuge auszusagen hatte, von vornherein bekannt gewesen ist; er war dann imstande, die Sache vorher zu überdenken und sich seine Stellungnahme zurechtzulegen;

1o RG Str. Bd. 6 S. 147. 27

Dllhrln11

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daß bei seiner Vernehmung Einzelheiten zur Sprache gekommen sind, die ihm die Berichtigungsbedürftigkeit seiner Angaben hätten zum Bewußtsein bringen müssen; daß er durch klare Fragen zur besonderen Aufmerksamkeit bezüglich des von ihm falsch dargestellten Punkts genötigt und durch Vorhalt bestimmter Gegenerwägungen zur Nachprüfung seiner Bekundungen veranlaßt worden war; daß ihm bei gehöriger Obacht die Fragwürdigkeit seiner (vielleicht in der Erregung oder unter Alkoholeinfluß gemachten) Wahrnehmungen hätte klar werden müssen.

Bei alledem ist die Gedächtniskraft des Beschuldigten und seine größere oder geringere Fähigkeit zur Selbstkritik in Anschlag zu bringen. Es müssen aber auch die sonstigen psychologischen Bedingungen berücksichtigt werden, wie sie für den Beschuldigten zur Zeit seiner Zeugenaussage vorlagen. Mitunter ergibt sich, daß ihm trotz zweckentsprechender Vorhalte eine Korrektur seiner irrigen Vorstellungen kaum möglich war; so etwa wenn die Erinnerung sich durch mehrfache vorausgegangene Vernehmungen über den gleichen Punkt so formalisiert hatte, daß das Gewißheitsempfinden des Beschuldigten hinsichtlich der von ihm gegebenen Darstellung immer stärker geworden und schließlich durch nichts mehr ins Wanken zu bringen war. Es werden dabei unter Umständen psychologische Gesetzmäßigkeiten wirksam, denen sich der Zeuge, wenn er einmal in eine solche Situation geraten ist, kaum ganz zu entziehen vermag. Auch sonst kann zuweilen ein unzutreffendes Erinnerungsbild so festgefügt sein, daß der Beschuldigte trotz guten Willens nicht mehr imstande ist, es einer unbefangenen Nachprüfung zu unterziehen. Manchmal hat er sich in eine falsche Auffassung des Hergangs derartig verrannt, daß ihn auch Vorhalte, durch die er eigentlich hätte bedenklich werden müssen, nicht mehr zur Erkenntnis seines Irrtums bringen können71.Freilich wird es sich dabei nur um Ausnahmefälle handeln, in denen der besondere Grund für eine solche, dem Beschuldigten nicht zuzurechnende Verhärtung der Erinnerung jeweils klargestellt werden muß. Zu f): Die Frage, ob der Beschuldigte die Mittel zur Vermeidung des unerwünschten tatsächlichen Verlaufs hätte erkennen und von ihnen Gebrauch machen können, ist oft ohne weiteres zu bejahen. Häufig lagen die zu treffenden Gegenmaßnahmen so auf der Hand, daß über sie ein Zweifel kaum aufkommen konnte. Handelt es sich um einen 71 RG Str. Bd. 25 S. 122. Einzelheiten zur fahrlässig falschen Aussage bei Fr. Geerds, Rechtspflegedelikte unter I im Handwörterbuch der Kriminologie,

2. Aufl.

Beweisanzeichen für psychische Tatsachen

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Schadenserfolg, der bei der Arbeit des Ingenieurs, des Handwerkers, des Arztes eingetreten ist, so gibt meist die berufliche Ausbildung oder die praktische Erfahrung bestimmte Hilfsmittel an die Hand, auf die auch der Beschuldigte hätte kommen können. Freilich sind hinsichtlich ihrer Brauchbarkeit im konkreten Fall unter Umständen Zweifel möglich. Das gilt vor allem bei ungewöhnlichen Situationen, die neuartige Gegenmittel erforderten und dem Beschuldigten die Wahl der geeigneten Abwehrmaßnahmen erschwerten. Beweisanzeichen für psychische Tatsachen Einführende Bemerkungen. Welche Willensrichtung der Beschuldigte hatte, von welchen Motiven er sich leiten ließ, ob ihm bestimmte Tatumstände bekannt waren usw., kann nicht durch unmittelbare Beobachtung geklärt werden. Der Beurteiler vermag lediglich die äußeren Anzeichen wahrzunehmen, aus denen mit Hilfe des Indizienbeweises auf seelische Vorgänge im Beschuldigten geschlossen werden kann72 •

Damit hängt es zusammen, daß oftmals, während der äußere Hergang der Sache von Anfang an feststeht, die eigentliche Schwierigkeit in der Aufhellung der inneren Tatseite liegt. Die psychischen Vorgänge sind vielfach weitgehend das Geheimnis des Beschuldigten. Wenn er über sie keine Auskunft erteilen will oder eine Darstellung gibt, deren Richtigkeit Zweifeln unterliegt, dann erscheint es manchmal zunächst fast aussichtslos, das verwickelte Gefüge seiner seelischen Strebungen zu durchschauen, ihr kompliziertes Mit- und Gegeneinander zu entwirren und zu ergründen, wie sie sich überschneiden, durchkreuzen und wechselseitig in Schach halten. Der Beschuldigte weiß zudem meist recht gut, daß viele seiner Angaben über seelische Vorgänge nur schwer nachprüfbar sind und daß darin unter Umständen die beste Möglichkeit für eine erfolgreiche Verteidigung liegt. Er zögert in der Regel auch nicht, diese Chance nach Kräften auszunutzen, was die Ermittlungsarbeit beträchtlich erschweren kann. Trotzdem läßt sich häufig selbst dort, wo eine völlige Aufklärung zunächst kaum zu erwarten war, schließlich doch ein verläßliches Ergebnis erreichen. Die dem Wahrheitsforscher in dieser Hinsicht obliegende Aufgabe ist deshalb besonders verantwortungsvoll, weil die allgemeine Tendenz im Strafrecht dahin geht, es mit der Erforschung psychischer Sachverhalte genau zu nehmen. Man ist in neuerer Zeit weit weniger als ehedem 72

27*

Wendtim Archiv für Zivilistische Praxis Bd. 36 (1880) S. 283.

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Der Indizienbeweis

geneigt, es bei schematischen Feststellungen über seelische Fakten bewenden zu lassen. Kenntnis von Tatumständen

Kannte der Täter das Alter des Mädchens? Mitunter ist die Anwendung einer bestimmten Strafvorschrift davon abhängig, daß der vom Delikt betroffene, von der Rechtsordnung geschützte Mensch noch nicht 14 oder noch nicht 16 Jahre alt war oder das 21. Lebensjahr noch nicht erreicht hatte 73 • Wo feste Beweise für eine entsprechende Kenntnis des Beschuldigten fehlen, gibt meist die körperliche und geistige Entwicklung der Person, mit der er sich abgegeben hat, einen gewissen Anhalt dafür, welche Meinung der Täter sich über ihr Alter gemacht haben wird. Wenn das Mädchen sowohl das Lebensalter als auch das Aussehen und Gehaben eines elf- bis zwölfjährigen Kindes hatte, wird in der Regel auch dem Beschuldigten zum Bewußtsein gekommen sein, daß es sich noch unterhalb der Grenze von 14 Jahren befand. War dagegen die Verletzte zwar noch nicht ganz 14 Jahre alt, machte sie aber auf Grund ihrer schon sehr entwickelten Körperformen den Eindruck einer bereits Fünfzehnjährigen, so wird es dem Beschuldigten meist schwer zu widerlegen sein, daß er ihr Alter diesem Eindruck entsprechend taxiert hat. War das noch nicht 14 Jahre alte Mädchen körperlich normal entwickelt, so wird man, je näher es der 14-Jahr-Grenze steht, desto mehr damit rechnen müssen, daß der Beschuldigte das geringe Alter seiner Partnerin nicht gekannt hat. Völlig sicher kann diese Deutung unter Umständen sein, wenn das Mädchen der Auffassung, daß es älter als 14 Jahre sei, Vorschub geleistet hatte; z. B. durch Redensarten, die auf seine sexuelle Aufgeklärtheit schließen ließen oder dadurch, daß es sich dem Beschuldigten gegenüber ausdrücklich als über 14 Jahre alt ausgab. Für die Feststellung, daß der Beschuldigte das geringe Alter der Betroffenen kannte, genügt es nicht, daß er die Elemente für diese Kenntnis zur Verfügung hatte; vielmehr muß regelmäßig auch noch geprüft werden, ob er die Frage nach dem Alter der Partnerin bewußt oder halb bewußt in den Kreis seiner Überlegungen einbezogen hat und wieweit er bei den Erwägungen darüber gekommen ist.

Wußte der Beschuldigte, daß die Zustimmung seiner (volljährigen) Partnerin zur geschlechtlichen Beiwohnung fehlte? Das ist regelmäßig zu bejahen, wenn die Hilferufe der Betroffenen, ihre zerrissene Klei73 Unzüchtige Handlungen an Personen unter 14 Jahren, Verführung eines Mädchens unter 16 Jahren zum Beischlaf, Mißbrauch einer vom Täter abhängigen Person, die nochnicht 21 Jahre alt ist(§ 176 Ziff. 3, § 182, § 174 Ziff. 1 StGB).

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dung, die Kratzwunden im Gesicht des Beschuldigten die ernsthafte Gegenwehr gegen seine Annäherung beweisen. Fehlen dagegen deutliche Anzeichen dafür, so kann zunächst oft schwer gesagt werden, ob der Beschuldigte sich dessen bewußt gewesen ist, daß die Frau, zu der er intime Beziehungen aufgenommen hat, mit der geschlechtlichen Beiwohnung nicht einverstanden war. Schwierigkeiten wird dieser Nachweis besonders dann machen, wenn der Betroffenen die Annäherung als solche offenbar nicht unerwünscht gewesen ist, wenn sie diese anfangs geduldet und vielleicht sogar gefördert hat. Mitunter hatte der Beschuldigte auf Grund der Wesensart der Partnerin einigen Anlaß zu der Annahme, daß ihr eine gewisse Gewaltanwendung nicht unwillkommen war und daß sie ihren Widerstand nicht sonderlich ernst genommen wissen wollte. In solchen Fällen muß Klarheit darüber geschaffen werden, - ob es sich bei der Gegenwehr um eine solche handelte, wie sie vor Beginn sexueller Beziehungen zwischen sich bisher Fernstehenden vielfach vorzukommen pflegt, ohne daß daraus auf mangelndes Einverständnis geschlossen werden könnte oder - ob die Stärke des weiblichen Widerstands und das Maß der Gewaltanwendung durch den Beschuldigten dafür sprechen, daß der Rahmen einer einverständlichen geschlechtlichen Beziehung bereits überschritten war. Zuweilen ist zwar die Ernstlichkeit der Gegenwehr für den unbefangenen Betrachter deutlich genug hervorgetreten; doch muß unter Umständen damit gerechnet werden, daß der Beschuldigte die Sachlage insoweit verkannt hat74 • Manchmal gibt das Verhalten der Partnerin unmittelbar nach der Beiwohnung Hinweise darauf, wie das Geschehen von ihr (und entsprechend auch vom Beschuldigten) gewertet worden ist. Wenn der Beschuldigte als Reisevertreter der Betroffenen in ihrer Wohnung Textilien zur Ansicht vorlegt, sich ihr bei dieser Gelegenheit nähert und es zur geschlechtlichen Vereinigung kommt, so spricht es gegen das Vorliegen von Notzucht, wenn die beiden nach dem Verkehr die Kaufverhandlungen fortsetzen und der Beschuldigte die Bestellung noch in Gegenwart der Partnerin in seine Bücher einträgt75 • Wenn die Frau nach dem Geschlechtsverkehr mit dem Reisevertreter zwar keine geschäftlichen Besprechungen mehr führt, ihn aber mit der Redewendung "Auf Wiedersehen! Frohes Pfingstfest!" verabschiedet, so wird man ebenfalls schwerlich sagen können, daß es an ihrem Ein74

1s

K. Peschke und P. Plaut, Notzuchtsdelikte (1930) S. 59. Peschke und Plaut S. 83.

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verständnis zur Beiwohnung gefehlt habe. Zum mindesten sprechen solche Umstände dafür, daß der Beschuldigte sich der Notzuchtsituation, wenn eine solche vorgelegen haben sollte, nicht bewußt geworden ist.

Wußte der Beschuldigte, daß die Waren durch strafbare Handlung erlangt wurden76 ? 1. Ein Beweisanzeichen dafür, daß der Beschuldigte beim Erwerb der Waren deren strafbare Herkunft gekannt hat, liegt gar nicht selten in der Art des Kaufgeschäfts. Wenn der Beschuldigte an seiner Wohnungstür von einem wenig vertrauenswürdig aussehenden Unbekannten Schmuck erwirbt, dessen hoher Wert ihm bekannt ist, so sprechen die Umstände dafür, daß er mit der strafbaren Herkunft der erworbenen Sachen gerechnet hat. Man wird dann in der Regel anzunehmen haben, daß sich ihm die gar nicht zu übersehende Frage aufgedrängt hat, wie dieser heruntergekommene Mann auf ehrliche Weise zu derartigen Kostbarkeiten gekommen sein sollte. Es kann dem Beschuldigten auch kaum entgangen sein, daß solche Werte nicht an der Tür zum Kauf angeboten zu werden pflegen. Nur bei Menschen von großer Naivität und Weltfremdheit wäre es allenfalls denkbar, daß ihnen dieser so naheliegende Gesichtspunkt verborgen geblieben sein könnte77 • 2. Ein Indiz für die Kenntnis des Beschuldigten von der anrüchigen Herkunft der durch ihn erworbenen Sachenliegtmitunter ferner in dem Benehmen des Verkäufers bei den Verhandlungen; so wenn dieser erkennbar machte, daß ihm viel an einem schnellen und unauffälligen Absatz der Ware gelegen war. 3. Schließlich kann der Umstand, daß der Verkäufer einen ungewöhnlich niedrigen Preis verlangt hatte, ein brauchbares Beweisanzeichen für die Kenntnis des Erwerbers von der strafbaren Erlangung der Ware sein. Voraussetzung ist dafür jedoch erstens, daß der Erwerber über den regulären Preis solcher Gegenstände einigermaßen im Bilde war (also taxieren konnte, wie weit unter dem angemessenen Preis das Angebot lag) und zweitens, daß er dem von ihm angekauften echten Perserteppich bzw. den von ihm erworbenen Goldwaren einen beträchtlichen Wert beigemessen hat; wenn er sie für billige Imitationen hielt, 78 Die nicht hierher gehörige materiellrechtliche Frage, welche Anforderungen bei der Hehlerei an die innere Tatseite zu stellen sind (§ 249 StGB: "kennen müssen"), braucht in diesem Zusammenhang nicht erörtert zu werden; insoweit wird auf die Lehrbücher und Kommentare zum StGB verwiesen (vgl. dazu insbesondere Bockelmann NJW 1954 S. 1745). Es ist dies nicht der einzige Fall, in dem der Gesetzgeber durch die Fassung einer Rechtsregel Richtlinien für die Handhabung des Indizienbeweises zu geben versucht hat; vgl. im einzelnen H. Henkel: Festschrift für Eb. Schmidt (1961) S. 570 ff. 77 Darüber, daß ung.ewöhnliche Zeitverhältnisse ausnahmsweise eine abweichende Beurteilung nötig machen können, vgl. S. 353.

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würde der geringe Preis kein Indiz dafür sein, daß die strafbare Herkunft der Objekte dem Erwerber zum Bewußtsein gekommen ist.

Wissen um die Mängel der verkauften Sachen. Wenn festgestellt werden soll, ob dem Besitzer einer Autofabrik bekannt war, daß ein von ihm in den Handel gebrachter Kraftwagentyp durch häufiges Blockieren der Räder eine erhebliche Verkehrsgefahr darstellte, so kann ein Indiz für die Richtigkeit dieser Tatsachenannahme darin liegen, daß der Firmeninhaber von Belegschaftsmitgliedern mehrfach auf diesen Mangel hingewiesen worden war, ferner daß er gewisse Abhilfemaßnahmen angeordnet und eine genauere Untersuchung über die Ursachen des Fehlers veranlaßt hatte. Wenn es sich darum handelt, ob der Beschuldigte (oder die Zivilprozeßpartei) wußte, daß das von ihm verkaufte Haus vom Schwamm befallen war, so spricht für die Bejahung der Frage in gewisser Weise die Tatsache, daß der Mieter X sich einmal beim Beschuldigten als dem Hauswirt über Schwammvorkommen in seiner Wohnung beschwert hat. Doch sind die Umstände genau zu beachten. Wenn X z. B. mit dem Beschuldigten als dem Hauseigentümer ständig Streit gehabt und ihm gegenüber zahlreiche, zum großen Teil unbegründete Beanstandungen erhoben hat, so muß möglicherweise damit gerechnet werden, daß der Beschuldigte diesen Hinweis von vornherein als unzutreffend angesehen und nicht ernst genommen hat. Das Maß der Unterrichtung. Welcher Grad von Kenntnis zur Erfüllung des gesetzlichen Tatbestands im einzelnen erforderlich ist, ob ein völlig sicheres Wissen vorliegen muß oder eine nur oberflächliche Unterrichtung hinreicht, ob eine konkrete und anschauliche Kenntnis verlangt wird oder ob eine abstrakte Bekanntschaft mit dem fraglichen Umstand genügt, ist jeweils dem Gesetz, der Rechtslehre und der Rechtsprechung zu entnehmen. Zuweilen ergibt sich, daß im maßgeblichen Zeitpunkt nicht einmal ein flüchtiges Wissen vorhanden war. Manchmal hat der Beschuldigte (die Zivilprozeßpartei) zwar nachweislich den Brief gelesen oder den Kassenzettel bearbeitet, aus dem die Tatsache, auf deren Kenntnis es ankommt, hervorging, jedoch augenscheinlich ohne daß die fraglichen Einzelheiten überhaupt in sein Bewußtsein getreten sind. Aber auch wo dies der Fall gewesen ist, war der Eindruck, den sie bei ihm hervorgerufen haben, unter Umständen so matt, daß er nach kurzer Zeit bereits wieder völlig verlorenging. Ermittlung der Willensrichtung des Beschuldigten Die Schwierigkeit solcher Feststellungen läßt sich vielleicht nirgends so deutlich zeigen, wie am Beispiel der Beamtenbestechung.

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Der Indizienbeweis

Wollte der Beschuldigte, dem aktive Bestechung zum Vorwurf gemacht wird, durch seine Zuwendungen den Beschenkten zu einer Gegenleistung im Rahmen seiner amtlichen Tätigkeit veranlassen? Hatte der Empfänger der Zuwendung den Willen, sich durch die Annahme in diesem Sinne beeinflussen zu lassen? In der Praxis ist es oft schwierig, darüber zur Klarheit zu kommen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat daher früher versucht, dem Richter seine Aufgabe zu erleichtern, indem sie hinsichtlich des Bestechungsvorsatzes mehr oder minder schematische Feststellungen zuließ. Heute nimmt der Bundesgerichtshof auf die in dieser Materie vorhandenen typischen Beweisschwierigkeiten nicht mehr die gleiche Rücksicht. Es wird vielmehr hinsichtlich der subjektiven Seite der Straftat eine genaue Erforschung der speziellen Einzelheiten verlangt. Je größer der hingegebene Wert ist, desto mehr spricht dafür, daß beim Geber der Wille vorhanden war, den Empfänger in seinem amtlichen Verhalten zu beeinflussen. Besonders klar kann die Bestechungsabsicht zutage liegen, wenn kein unverfänglicher Anlaß für die Hingabe des Geschenks vorlag, wie ihn etwa die Silberne Hochzeit, der 60. Geburtstag, das Dienstjubiläum des Beschenkten darstellt. Für den Willen des Beamten, sich im Sinne des Schenkers beeinflussen zu lassen, spricht es, wenn für ihn kein Zweifel daran vorhanden sein konnte, daß die Zuwendung für den Geber ein beträchtliches Opfer bedeutete und daß er daher Maßnahmen, die ihn favorisierten, als eine Art Gegenleistung erwartete. Die Absicht des Schenkers, den Empfänger durch die dargebotene Gabe zu begünstigenden Amtshandlungen zu bringen, wird besonders naheliegen, wenn der Beamte bei der Vergebung von großen Aufträgen die Wahl zwischen verschiedenen Firmen hatte und infolgedessen offenkundig war, daß er dadurch eine beträchtliche Macht in den Händen hielt. Im einzelnen kommt es jedoch sehr auf die Umstände an. Der Beurteiler darf nicht etwa rein schematisch mit der Vermutung arbeiten, daß in solchen Fällen der Bestechungsvorsatz regelmäßig gegeben seF8 • Es gibt Fälle, in denen der Schenker kein Äquivalent durch amtliches Handeln erstrebt hatte. Wenn bei ihm die Vorstellung von einer Gegenleistung für seine Gabe noch nicht einmal in groben Umrissen vorhanden war, dann fehlt meist der Wille, den Beamten durch die Zuwendung in seinem dienstlichen Verhalten zu beeinflussen. Manchmal hat es der Schenker lediglich darauf abgesehen, das allgemeine Wohlwollen des 78 Dazu sowie zu der ganzen Materie Eb. Schmidt, Die Bestechungstatbestände in der höchstrichterlichen Rechtsprechung (1960) S. 127 ff.

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Beschenkten hervorzurufen, dessen er auch bei unparteiischer Führung der Verhandlungen durch diesen bedarf. Mitunter können für die Zuwendung auch Gründe maßgebend gewesen sein, die mit der dienstlichen Arbeit des Begünstigten gar nichts zu tun haben, z. B. das Mitgefühl mit ihm und seiner trostlosen wirtschaftlichen Lage. Einiges Gewicht kann dieser Gesichtspunkt insbesondere erhalten, wenn eine engere private Verbindung zwischenSchenkerund Beschenktem bereits vorhanden war, bevor sich dienstliche Beziehungen ergaben, und wenn auch später die private Seite im Vordergrund stand 79 •

Feststellung, ob Täter- oder Gehilfenvorsatz gegeben war. Die begrifflichen Abgrenzungen sind auch hier umstritten. Es ist nicht beabsichtigt, zur Bereinigung der insoweit bestehenden Meinungsverschiedenheiten etwas beizutragen. Die folgenden Erörterungen über die Tatsachengrundlage für den Täter- bzw. Gehilfenvorsatz gehen vielmehr, ohne sich einer der aufgestellten Theorien ganz zu verschreiben, von den Unterscheidungsmerkmalen aus, die in der Rechtsprechung am meisten Anerkennung gefunden haben. Danach pflegt man denjenigen als Täter (und nicht nur als Gehilfen) anzusehen, der 1. durch sein Verhalteil zu erkennen gegeben hat, daß er die Tat als eigene wollte und der

2. zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Verwirklichung des Delikts geleistet hat. Um den ersten Punkt zu klären, sind konkrete Feststellungen darüber nötig, welche Einstellung der Beschuldigte zur Tat hatte, d. h. ob er sie als fremde angesehen hat oder ob seine Beziehung zum Delikt eine engere gewesen ist. Sowohl von der höchstrichterlichen Rechtsprechung als auch von der Rechtslehre ist mit Recht bemängelt worden, daß die Praxis sich in dieser Hinsicht allzu oft mit der abstrakten Behauptung begnügt, der Beschuldigte habe die Tat "als eigene gewollt", ohne daß die Momente genauer dargelegt würden, auf welche sich im Einzelfall diese Annahme stützt80 • 79 Eingehende Darlegungen über die in dieser Hinsicht maßgeblichen Gesichtspunkte bei Fr. Geerds, Über den Unr.echtsgehalt der Bestechungsdelikte (1961) s. 77 ff., 85. 80 RG Str. Bd. 71 S. 365; Welzel, Das deutsche Strafrecht (1960) § 15 IV,2. Auch soweit Rechtslehre und Rechtsprechung die Voraussetzungen der Täterschaft vorwiegend mit Hilfe des Begriffs der "objektiven Tatherrschaft" bestimmen, werden daneben in der Regel gewisse subjektive Erfordernisse für unerläßlich gehalten, insbesondere das Bewußtsein des Beschuldigten von seiner Tatherrschaft s. W. Sax, Juristenzeitung Jg. 1963 S. 338 u. C. Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (1963). Nach allen Lehrmeinungen ist also die Willensrichtung des Beschuldigten bzw. sein Wissen um bestimmte Tatumstände für die Bejahung des Tätervorsatzes irgendwie bedeutsam.

426

Der Indizienbeweis

Die Anzeichen dafür, welche Willensrichtung der Beschuldigte hatte, lassen sich meist nur aus den Umständen entnehmen. Wenn er Teile der zum Delikt gehörigen Ausführungshandlung selbst vorgenommen hat, so wird dies im allgemeinen dafür sprechen, daß er den Täterwillen besaß. Je intensiver der Beschuldigte an der eigentlichen Tathandlung mitwirkte, desto mehr wird man zu der Annahme neigen, daß er Mittäter sein wollte. Aber auch bei bloßen Vorbereitungshandlungen des Beschuldigten kann er den Täterwillen gehabt haben. Für eine solche Deutung kann es sprechen, wenn die Tatwerkzeuge, die der Beschuldigte dem anderen Mitwirkenden verschaffte, diesem sonst in keiner Weise erreichbar gewesen wären und der Beschuldigte dies wußte. Ein Indiz für den Tätervorsatz kann ferner darin liegen, daß der Beschuldigte sich im voraus einen großen Teil der erwarteten Beute versprechen ließ oder anderweit ein starkes Interesse an der Durchführung des Delikts nahm, weil daraus (in Verbindung mit dem von ihm geleisteten sonstigen Tatbeitrag) unter Umständen sein Wille zu sehr intensiver Beteiligung hervorgeht. Die Verneinung dieses Willens und die Annahme eines bloßen Gehilfenvorsatzes wird bisweilen dadurch erleichtert, daß der Beschuldigte sich in einem auf engen familiären oder ähnlichen Bindungen beruhenden Abhängigkeitsverhältnis zum anderen Tatbeteiligten befindet und seine Unfreiheit so groß ist, daß er nur wenig Eigenwillen entwickeln kann. Eine solche Situation kann unter Umständen gegeben sein, wenn eine Ehefrau sich bei der Begehung einer Straftat gegenüber dem hauptsächlich handelnden Ehemann in gedrückter und unselbständiger Lage befindet81 • Daß der Täterwille gefehlt hat, wird vielfach anzunehmen sein, wenn der Beschuldigte sehr geringen Einfluß darauf hatte, ob, wann und auf welche Weise die Tat ausgeführt wurde; wenn also die Durchführung und das Gelingen des strafbaren Unternehmens nicht maßgeblich von seinem Willen abhängig gewesen ist82 • Dafür, daß der Beschuldigte die Straftat als eigene gewollt hat, kann es u. U. sprechen, wenn er zwar weder an der eigentlichen Verbrechenshandlung beteiligt gewesen ist, noch Vorbereitungshandlungen im engeren Sinne vorgenommen, aber durch intensives Drängen und ständig wiederholte Überredung den Willen des anderen Beteiligten zur Tatausführung entscheidend gestärkt hat. Bei den weniger nachhaltigen Formen geistiger Beeinflussung wird man jedoch in erster Linie an den Beihilfevorsatz zu denken haben. BI R2

BGH V. 19. 12. 1950 NJW 1951 BGH Str. Bd. 8, s. 396.

s. 204.

Beweisanzeichen für psychische Tatsachen

427

Klarstellung des Tätervorsatzes im einzelnen. 1. Welchen tatsächlichen Ablauf des strafbaren Unternehmens der Täter erstrebte und welche von dem ursprünglichen Plan abweichenden Entwicklungen er als möglich voraussah, ergibt sich oft ziemlich deutlich aus den Umständen. Wenn jemand mit der Axt oder Spitzhacke seinem Opfer mehrmals auf den Kopf schlägt, so wird man im allgemeinen annehmen können, daß er nicht nur mit Körperverletzungs-, sondern mit Tötungsvorsatz gehandelt hat. Als Beweisanzeichen für den Tötungswillen kann ferner in Betracht kommen: die bereits früher zutage getretene ungewöhnliche Brutalität des Beschuldigten; seine erwiesene Skrupellosigkeit, die ihn auch vor dem Äußersten nicht zurückschrecken läßt; seine stark ausgebildete Rachsucht, die ihn zur völligen Vernichtung des Gegners antreibt; sein dringendes Interesse, den Getöteten aus dem Wege zu schaffen, etwa weil dieser von schweren Verbrechen des Beschuldigten wußte und Miene machte, ihn der Polizei zu überliefern usw. 2. Manchmal wird die Feststellung der Willensrichtung dadurch vereinfacht, daß mehrere Vorgänge ähnlicher Art gegen denselben Täter zusammen zur Aburteilung kommen. Wenn in drei Fällen der auf Beraubung gerichtete Wille klar zutage liegt, kann es gegebenenfalls für die Annahme eines entsprechenden Vorsatzes auch im vierten Fall sprechen, wenn dort die Willensrichtung des Beschuldigten zwar nicht mit gleicher Deutlichkeit zum Ausdruck gekommen ist, der Vorgang aber im übrigen in die Serie erwiesener Raubüberfälle auffällig gut hineinpaßt83 • Manchmal können auch frühere Strafverfahren gegen den gleichen Beschuldigten einer zutreffenden Beurteilung den Weg bereiten. Wenn dieser bereits fünfmal wegen Betrugs vorbestraft worden ist, so macht das die gewissenhafte Erwägung, ob er im sechsten Fall mit Betrugsvorsatz gehandelt hat, zwar in keiner Weise überflüssig; aber die früheren Delikte können, zumal wenn sie auf Grund der Vorprozeßakten in ihren Einzelheiten feststehen, die Bejahung des Betrugsvorsatzes in der vorliegenden Sache sehr erleichtern.

Verschiedene Reichweite des Vorsatzes bei einzelnen Mittätern. Wenn bei Begehung des Delikts mehrere Personen mitgewirkt haben und der ursprüngliche Plan sich wegen des Dazwischentretens unerwarteter Umstände nicht durchführen ließ, sondern in überstürzter Weise geändert werden mußte, dann ergeben sich manchmal Zweifel, ob ein bestimmter Mittäter den Vorsatz für all das gehabt hat, was von den anderen Teilnehmern in der Eile improvisiert worden ist. 83

Dazu Huth: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 60 S. 436.

4,28

Der Indizienbeweis

Meist wird anzunehmen sein, daß ein einzelner Beteiligter innerhalb eines bestimmten Rahmens auch mit Abweichungen von dem gemeinsam ausgearbeiteten Plan einverstanden war, zumal mit gewissen Änderungen fast immer gerechnet werden muß und von den Mitwirkenden erfahrungsgemäß auch gerechnet wird. Es kommt dann darauf an, auf Grund der für die vorliegende Tat bezeichnenden Einzelheiten und unter Berücksichtigung der Wesensart des betreffenden Mittäters zu taxieren, welche Abweichungen von ihm im voraus gebilligt worden waren. Bei unerwarteten Abläufen, die keine allzu krasse Änderung des geplanten Hergangs darstellen, wird vielfach anzunehmen sein, daß der einzelne Beteiligte die von anderen Mitwirkenden aus dem Stegreif ergriffenen Abwehrmaßnahmen gut geheißen und als eigene gewollt hat. Für Billigung durch alle Mitwirkenden spricht es, wenn die angewandten Gegenmittel relativ risikolos waren und den an der Straftat Beteiligten infolge der entstandenen Situation sachdienlich erscheinen mußten; anders dagegen unter Umständen, wenn der Hergang des Geschehens ganz außerhalb der angestellten Berechnungen lag und die getroffenen Gegenmaßnahmen ein beträchtliches Wagnis bedeuteten: Wenn A und B bei einem gemeinsam verabredeten Einsteigediebstahl unerwarteterweise vom Eigentümer überrascht werden und A diesen mit einem Stemmeisen, das er gerade in der Hand hat, kurzerhand erschlägt, dann spricht es gegen das Vorliegen des Tötungsvorsatzes bei B, wenn er den A am Schlagen mit dem Stemmeisen verhindern wollte oder sonst zu erkennen gab, daß er mit Gewalttätigkeiten gegenüber dem hinzukommenden Eigentümer nicht einverstanden war. Wo es an einer derartigen Meinungsäußerung seitens des B fehlt, wird gleichwohl anzunehmen sein, daß er mit der Totschlagshandlung seines Kumpans nicht einverstanden war, wenn eine gute Fluchtmöglichkeit bestand und B seiner Veranlagung nach Gewalttätigkeiten abgeneigt ist.

Aufhellung sonstiger psychischer Sachverhalte. Es ist nicht möglich, für das ganze weite Feld seelischer Vorgänge die jeweils in Betracht kommenden Beweisanzeichen zu erörtern. Das ist aber auch nicht unbedingt notwendig, weil trotz der äußerlich verschiedenartigen Aufgaben, die in diesem Bereich zu bewältigen sind, die Erforschungsmethode im Grunde immer die gleiche bleibt, mag es sich nun um die Feststellung handeln, welche Wichtigkeit der Beschuldigte einem bestimmten Umstand beimaß; oder um die Ermittlung, welches Risiko er zu übernehmen bereit war; oder um die Erforschung, ob der Beschuldigte aus Eigennutz, aus Gewinnsucht, aus Böswilligkeit, auf Grund ehrloser Gesinnung gehandelt hat, ob er hinterlistig bzw. niederträchtig vorgegangen ist usw. Die in diesem Abschnitt gegebenen Hinweise sind ohnehin nur als Beispiele aufzufassen, die mit entsprechenden Abwandlungen auch anderweit als Vorlage dienen können.

Viertes Kapitel

Endgültige Beweiswürdigung Allgemeines

Eigenart der abschließenden Bewertung des Beweisstoffs. Der Wahrheitsferseher faßt im Endstadium das gesamte Beweismaterial ins Auge. Er vergleicht die Zeugenaussagen mit den Urkunden, die Urkunden mit den Augenscheinsergebnissen und setzt diese wiederum zu den Darlegungen des Sachverständigen in Beziehung usw., um festzustellen, ob sich alles zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügt1 • Der Beurteiler hat, nachdem er in den ersten Abschnitten der Tatsachenforschung genötigt war, seine Aufmerksamkeit vorwiegend auf begrenzte Bereiche zu richten, sich jetzt von der Einzelarbeit zu lösen und die Teilstücke nunmehr im Hinblick auf ihr Zusammenwirken zu betrachten. Dabei ergibt sich für ihn die letzte Gelegenheit zu einer kritischen Würdigung des gesamten Stoffs einschließlich der dem persönlichen Eindruck der Beteiligten entnommenen Beweiselemente. Fehler, die vorher bei der Bewertung gemacht worden sind, können jetzt noch berichtigt werden.

Unzulässige Beweismittel, d. h. solche, die nach den Verfahrensvorschriften nicht benutzt werden dürfen, müssen spätestens bei dieser Gelegenheit ausgemerzt werden. Man denke etwa an privates Wissen des Beurteilers, das nicht ordnungsmäßig zum Prozeßstoff gemacht worden ist, an behördliche Auskünfte, die nur telefonisch eingeholt wurden, an eidesstattliche Versicherungen, soweit das Gesetz ihre Verwendung untersagt hat usw. In gleicher Weise sind Beweismaterialien außer Betracht zu lassen, die durch Verstoß gegen wesentliche Rechtsvorschriften erlangt worden waren; so z. B. Buchungsunterlagen, die durch eine gesetzwidrige Haussuchung herbeigeschafft worden sind oder Korrespondenzen des Beschuldigten, die nur durch einen Bruch des Briefgeheimnisses in die Hände der Untersuchungsbehörde kommen konnten 2 • Glaser, Handbuch !.744; Engisch S. 77; Wyschinski S. 323. Einzelheiten bei Schneider, Beweiswürdigung S. 50 f.; Feldmann, Verwertbarkeit widerrechtlich erlangter Beweise (NJW 1959 S. 853 ff.). 1

2

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Endgültige Beweiswürdigung

An dieser Stelle hat der Bearbeiter sich auch letztmalig darüber schlüssig zu machen, ob er seine Aufklärungspflicht voll erfüllt hat, d. h. ob die vorhandenen Erforschungsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden oder Aussicht besteht, den Sachverhalt durch neue Beweiserhebungen weiter zu klären 3 •

Wesen der Betrachtung im Zusammenhang. Beim Gesamtüberblick werden die Stücke nicht einfach mechanisch zusammengefügt. Vielmehr bestätigt sich bei dieser Gelegenheit die alte Wahrheit, daß das Ganze mehr ist als die Summe der Teile. Es entsteht bei der Betrachtung im Zusammenhang auf Grund eines schöpferischen Denkvorgangs etwas Neues 4 • Die Einzelheiten, aus denen sich das Beweismaterial zusammensetzt, sind dem Sachbearbeiter meist bereits von früher her bekannt und vertraut. Aber die Art, wie sie voneinander abhängen und miteinander in Beziehung stehen, bringt ihm weiteren Beurteilungsstoff zu und vervollständigt sein Wissen über den Fall. Zustandekommen des Gesamtbildes. Die Erarbeitung einer umfassenden Vorstellung vom Hergang ist nur mit Hilfe der kombinatorischen Phantasie möglich, die dunkle Zusammenhänge der Klärung entgegenzuführen vermag. Von dieser hat der Beurteiler andererseits mit einer gewissen Zurückhaltung Gebrauch zu machen; sonst würde er sich in phantastische Spekulationen ohne Wahrheitswert verlieren. Die Vorstellungskraft befähigt den Sachbearbeiter, wenn er sich ihrer in der richtigen Weise bedient, zwischen tatsächlichen Momenten, die zunächst ohne Zusammenhang zu sein schienen, jene gedanklichen Verbindungen herzustellen, die zur Aufklärung des Falles führen. Sie macht es ihm möglich, das anfängliche Durcheinander der Einzelheiten zu einem sinnvollen, folgerichtigen Gesamtbild zu ordnen. Die ganzheitliche Betrachtung bereitet auf diese Weise einer natürlichen Auffassung der Zusammenhänge den Weg. Sie vermittelt dem Beurteiler eine geläuterte Ansicht vom Sachverhalt und verschafft ihm Zugang zu einer Wahrheit höherer Art.

Funktion der Ganzheitsschau im Rahmen der Wahrheitsfindung. Häufig besteht die verantwortungsvollste Aufgabe des Sachbearbeiters ge3 Über den Umfang der Aufklärungspflicht Löwe-Rosenberg, StPO zu §244; Wieczorek, ZPO zu§ 286 unter C IV; A. Schänke, Der Umfang der Beweisaufnahme im Zivilprozeß in: Festgabe für L. Rosenberg (1949) S. 217 ff. 4 Die Wiederentdeckung dieser Erkenntnis während des 19. Jahrhunderts geht vor allem auf Hegel zurück. Für die Jurisprudenz wurden aus ihr insbesondere von R. Köstlin die Folgerungen gezogen (Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens, Tüb. 1849, S. 118 ff.). Später hat im Anschluß an Wilh. Diltheys Forschungen die Einsicht in die Unentbehrlichkeit und den großen heuristischen Wert der Ganzheitsbetrachtung dem juristischen Denken immer wieder neue Anregungen gegeben.

Allgemeines

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rade darin, mit Hilfe der Bruchstücke, die sich ihm darbieten, zu einer in sich widerspruchslosen, der Wirklichkeit gemäßen Anschauung vom Geschehensablauf zu kommen. Er darf keinesfalls bei einer Aneinanderreihung der Einzelheiten und einem bloß mosaikartigen Zusammensetzen der Teile stehenbleiben, sondern hat sich von ihrem funktionellen Zusammenwirken ein Bild zu machen. So notwendig es ist, jedes Beweisstück für sich zu prüfen, so unentbehrlich ist andererseits die Würdigung der Beweise im Zusammenhang. Manche Einzelheiten können allein auf Grund der isolierten Prüfung niemals voll verstanden werden; ihre Bedeutung läßt sich vielmehr mit einiger Sicherheit nur aus einer umfassenden Betrachtung entnehmen. Die Obergerichte haben daher immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig die intensive Bemühung um ein überzeugendes Gesamtbild ist5 •

Hemmnisse bei Bildung der Gesamtansicht. Unter Umständen fällt es schwer, widerstrebende Beweiselemente auf einen Nenner zu bringen, ohne daß man ihnen Gewalt antut und infolgedessen die Wirklichkeit verfehlt. Besondere Anstrengungen sind in dieser Hinsicht meist nötig, wenn der Beurteiler lange Zeit ganz und gar durch die Kleinarbeit in Anspruch genommen worden ist und dabei die Fähigkeit zum Überblick in gewissem Grade verloren hat. Stets sollten die Bemühungen um ein zutreffendes Bild vom Geschehensablauf im ganzen so lange fortgesetzt werden, bis sich zum mindesten eine haltbare Deutung ergibt. Die Einzelheiten zeigen sich dabei oft sehr viel weniger fügsam als das bei den fiktiven Geschehenszusammenhängen des Kriminalromans der Fall ist, wo zum Schluß regelmäßig alles recht gut zusammenpaßt.

Zwanglosigkeit des Sicheinfügens der Teile. Die bloße Tatsache des Hineinpassens in den Zusammenhang besagt als solche nur wenig. Sie kann auf einem täuschenden Schein beruhen, der durch eigenartige Zufälle hervorgerufen worden ist. Der Wahrheitsforscher muß daher taxieren lernen, ob ein nur oberflächliches Sicheingliedern vorliegt oder ob eine echte Harmonie zwischen den Einzelheiten besteht. Je vollkommener die Gleichgerichtetheit der Teile ist, desto mehr wird die Überzeugungskraft des Beweisergebnisses gestärkt. Besonders einleuchtend kann mitunter das allseitige Zusammenpassen wirken, wenn bestimmte, bei isolierter Würdigung nicht erklärliche Umstände erst auf Grund der Betrachtung im ganzen verständlich werden. 5 Für Zivilsachen hat bereits das Reichsgerichtsurteil vom 10. 5. 1897 (JW 1897 S. 343 Nr. 10) diesen Gesichtspunkt gebührend hervorgehoben; für Strafsachen vgl. RG Str. Bd. 71 S. 26. Die Kunst der Sachverhaltsfeststellung mit Hilfe des Totaleindrucks ist vor allem in Frankreich von jeher gepflegt worden; eingehende Darlegungen darüber bei Zink Bd. 1, S. 80 ff.

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Endgültige Beweiswürdigung

Manchmal fügt sich alles gut zusammen bis auf ein oder zwei scheinbar nebensächliche Momente, die sich nicht recht einordnen lassen. Meist fällt es dem Beurteiler dann nicht schwer, sie mit etwas Nachhilfe ebenfalls dem Gesamtgefüge einzugliedern. Vielleicht trifft er damit, ohne den Dingen Zwang anzutun, gerade das Richtige. Aber im allgemeinen ist es doch ratsam, solchen sperrigen Elementen besondere Aufmerksamkeit zu widmen und zu überlegen, ob sie nicht mehr wahrheitweisende Kraft besitzen, als man ihnen zunächst beigemessen hatte. Der Bearbeiter sollte erwägen, ob sie nicht die Annahme eines anderen Hergangs als des bisher für zutreffend gehaltenen nahelegen.

Berichtigung der bisherigen Ergebnisse. Auf Grund der Gesamtschau erhalten nicht selten Umstände, die ursprünglich ziemlich gleichgültig zu sein schienen, erheblichen Beweiswert. Andererseits können Momente, die bei der isolierten Prüfung sehr wesentlich zu sein schienen, hier viel von ihrer anfänglichen Wichtigkeit einbüßen. Deutungen des Sachverhalts, die zunächst durchaus erwägenswert gewesen waren, erweisen sich nunmehr unter Umständen als so abwegig, daß sie aus der Argumentation praktisch ausscheiden. Auf diese Weise kann es zu einer Verschiebung der Akzente kommen, die auch das Endergebnis der Tatsachenfeststellung grundlegend verändert. Viele Unsicherheiten, die sich bei der vorläufigen Beweiswürdigung nicht hatten beseitigen lassen, schwinden dahin, wenn man das Material im Überblick ins Auge faßt. Andererseits können dabei in Punkten, die bereits als geklärt angesehen worden waren, nachträglich neue Zweifel hervortreten. Beseitigung etwaiger Bedenklichkeiten. Der Beurteiler sollte sich bewußt machen, welche Erwägungen für das Vorliegen einer bestimmten tatsächlichen Gestaltung sprechen und sich mit den vorhandenen Gegengründen auseinandersetzen. Bei komplizierter Sachlage wird es ihm weiterhelfen, wenn er sich konsequent auf das bereits voll Bewiesene zurückzieht und sich von dort aus Stück für Stück vorwärts arbeitet. Der Wahrheitsforscher hat vor allem Klarheit darüber zu schaffen, - welche Teile des Überführungsmaterials das Hauptfundament für die zu treffende Feststellung bilden, - welche Beweiselemente zwar nicht zu den eigentlich tragenden gehören, aber immerhin beträchtliche Bedeutung besitzen und - welche Beweisstücke lediglich als unterstützend (adminikulierend) in Betracht kommen. Zeigt sich, daß ein Beweismittel durch Ungewißheiten irgendwelcher Art beeinträchtigt ist, so bedarf es der Überlegung, welche Kraft ihm trotz der vorhandenen Bedenken innewohnt und in welchem Umfang es das Gesamtergebnis noch zu beeinflussen vermag.

Beachtung aller ernst zu nehmenden Möglichkeiten

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Im übrigen muß eine Beseitigung der vorhandenen Unklarheiten versucht werden: - durch Präsentmachen weiterer einschlägiger Erfahrungen, durch Aufdeckung neuer Beziehungen zwischen den Einzelteilen und ganz allgemein - durch wiederholte Erwägung der Zusammenhänge. Der Sachbearbeiter hat die Pflicht, systematisch nach schwachen Stellen in seiner bisherigen Argumentation zu suchen. Scheingründe, die den unkritischen Betrachter allzu leicht für sich einnehmen und ihm ein unbegründetes Sicherheitsgefühl geben, müssen als solche erkannt und ausgeschaltet werden.

Schrittweises Vorgehen. Je verwickelter sich die Ermittlungsarbeit gestaltet, desto bedächtiger ist von einem Punkt zum andern vorwärtszuschreiten. Bei ausgesprochen schwierigen Überlegungen wird meist eine weitgehende Zerlegung der einzelnen Denkoperationen dem Beurteiler weiterhelfen. Überhaupt kann durch schrittweises Vorgehen die Gefahr von Mißgriffen vermindert werden. Man vermeidet dabei gewagte Abkürzungen des Denkwegs, in denen unerkannt gebliebene Fehler stecken. Gelegentlich führt auch eine schriftliche Fixierung der anzustellenden Überlegungen zur Selbstkontrolle und zur weiteren Klärung. Auf diese Weise wird der Wahrheitsforscher in aller Regel Fortschritte erzielen, wenn er es an der nötigen Beharrlichkeit nicht fehlen läßt.

Beachtung aller ernst zu nehmenden Möglichkeiten Im Vorangegangenen ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die der Erwägung würdigen Eventualitäten sämtlich erkannt und angemessen berücksichtigt werden müssen. Doch bedarf dieser Punkt noch einer eingehenderen Erörterung. 1. Selten ist die Tatfrage von Anfang an so vollkommen geklärt, daß neben der Version, die am meisten für sich zu haben scheint, nicht auch andere Gestaltungen des Sachverhalts als vielleicht in Betracht kommend erwogen werden müssen.

Es handelt sich dabei um die Frage, was unter den obwaltenden Umständen noch als aktuelle Möglichkeit anzusehen ist. Der Bearbeiter hat klarzustellen, ob eine höchst unwahrscheinliche Gestaltung des Hergangs nicht wenigstens so viel für sich hat, daß mit ihrer Verwirklichung im vorliegenden Fall immerhin gerechnet werden muß. Es wird in diesem Zusammenhang absichtlich von (obj-ektiven) Möglichkeiten des Ablaufs gesprochen und nicht etwa von Zweifeln des Beurteilers, die sich an solche Möglichkeiten heften. Freilich werden, wenn mehrere Versio28 Döhrini

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Endgültige Beweiswürdigung

nen des Hergangs in Betracht kommen, beim Bearbeiter zunächst meist auch entsprechende Zweifel vorhanden sein; nämlich darüber, welche der zur Wahl stehenden Sachgestaltungen ernsthaft zu erwägen sind und welche von den als aktuell erkannten Möglichkeiten sich im gegebenen Fall verwirklicht hat. Aber der Begriff "Zweifel" bezeichnet nun einmal in erster Linie das an dieser Stelle nicht zu erörternde psychologische Phänomen und könnte in diesem Zusammenhang zu Mißverständnissen Anlaß geben. Er sollte daher auch nur zur Charakterisierung der psychologischen Seite der Wahrheitsfindung verwandt werden, nämlich für die Erörterung über das Zustandekommen der inneren Überzeugung (S. 466 ff.). Auf einem so schwierigen Gebiet ist ein besonders vorsichtiges Umgehen mit dem zur Verfügung stehenden Wortmaterial erforderlich, zumal wenn die Begriffe, auf welche die Wissenschaft angewiesen ist, durch sorglosen Gebrauch ihre ursprüngliche Präzision bereits eingebüßt haben. Vielfach sind durchaus erwägenswerte Sachgestaltungen, die von der nächstliegenden Rekonstruktion des Hergangs abweichen, nicht auf den ersten Blick erkennbar; mitunter können sie überhaupt nur durch konzentrierte Aufmerksamkeit entdeckt werden. Wird eine nicht sonderlich in die Augen fallende Möglichkeit übersehen, so gerät der Bearbeiter dadurch leicht auf Irrwege. Im besten Fall kommt er zu einem Zufallsergebnis, auf dessen Richtigkeit man sich nicht verlassen kann. Eben deshalb ist es notwendig, alle Versionen, mit deren Realisierung gerechnet werden muß, in den Kreis der Betrachtung zu ziehen. Keine von ihnen darf ungeprüft bleiben. 2. Welche Möglichkeiten dem Beurteiler beim Nachdenken über die Sache bewußt werden, hängt nicht zuletzt von seinem Erfahrungswissen, seinem Vorstellungsvermögen und seiner Kombinationsfähigkeit ab. Wenn man sich die im gegebenen Fall in Betracht kommenden Versionen recht lebhaft vorzustellen versucht, wird dadurch ihre Entdeckung ungemein gefördert. Die Phantasie, die sonst immerfort gezügelt werden muß, kann hier kaum nachteilig werden, sofern man nur die vorgestellten Eventualitäten kritisch würdigt und die als nicht aktuell erkannten ausscheidet. Auch Möglichkeiten, die im Augenblick wenig für sich zu haben scheinen, hat der Beurteiler im Blickfeld zu behalten, ohne daß er sich durch sie irritieren zu lassen braucht. Handelt es sich darum, ob dem Beschuldigten die ihm zur Last gelegte Straftat nachgewiesen werden kann, so ist stets zu überlegen, ob nicht Tatsachenkombinationen in Betracht kommen könnten, bei denen er als Täter ausscheidet. Bisweilen stellt der Sachbearbeiter sich diese Frage gar nicht oder er beantwortet sie nur obenhin allein aus dem Gefühl heraus. Viele Menschen haben in der Hetze der Tagesarbeit nicht mehr die nötige innere Sammlung, um sich alle der Erwägung werten Möglichkeiten vorstellen zu können. Sie lassen sich sogleich von der Tatsachenannahme, die ihnen am nächsten liegt, mit Beschlag belegen und

Beachtung aller ernst zu nehmenden Möglichkeiten

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finden es sozusagen in der Ordnung, wenn sie ohne weitere Umstände dabei verbleiben. Selbst der routinierte Praktiker verfällt mitunter in den Fehler, sich nur mit zwei Sachgestaltungen auseinanderzusetzen, obwohl genaugenommen drei oder vier aktuelle Möglichkeiten vorhanden sind. Dies hat u. U. zur Folge, daß er, wenn die eine der beiden in Erwägung gezogenen Versionen im Laufe der Ermittlungen ausgeschlossen werden kann, kurzerhand die andere als erwiesen ansieht und nicht daran denkt, daß noch weitere Möglichkeiten vorhanden sind, die ebenfalls der von ihm in Aussicht genommenen Tatsachenfeststellung entgegenstehen. 3. Die Mühe, die ein systematisches Forschen nach abweichenden Sachgestaltungen, mit deren Verwirklichung gerechnet werden muß, verursacht, macht sich - aufs Ganze gesehen - immer bezahlt. Im Grunde ist dies überhaupt die einzige Methode, die zu einem sicheren Ergebnis führen kann. Beispiel: Ein PKW-Fahrer hält mit seinem Wagen vor einer Gastwirtschaft und sagt in der Gaststube Bescheid, daß vor dem Haus auf der Straße ein Mann liege, der stark blute und nach Alkohol rieche. Der Fahrer erzählt ferner, er habe, als er sich dem Gasthaus näherte, eben noch einen Lastzug um die Ecke biegen sehen; mehr könne er über das Zustandekommen des Unfalls nicht sagen. Es ergibt sich anschließend, daß der verletzte Mann betrunken aus dem Wirtshaus herausgekommen war. Ferner wird festgestellt, daß er - von der Fahrtrichtung des PKW-Fahrers aus gesehen - auf der linken Straßenseite liegt und tot ist. Bei der Leichensektion zeigt sich, daß seine Wirbelsäule eine gröbere Verletzung aufweist, die auf Stoßeinwirkung schließen läßt und daß durch sie der Tod verursacht worden ist. Bei dieser Sachlage bestehen in der Hauptsache folgende Möglichkeiten: a) Der Verunglückte kann infolge seiner Trunkenheit auf der Straße hingefallen und dadurch zu Tode gekommen sein, ohne daß Dritte dabei mitgewirkt haben. (Hiergegen spricht jedoch, daß die Verletzung der Wirbelsäule nicht gut allein durch das Hinstürzen entstanden sein kann.) b) Der Verunglückte kann infolge seiner Trunkenheit von selbst zu Boden gefallen und in dieser Lage überfahren worden sein. Hiergegen spricht in gewisser Weise, daß Beschädigungen nur an der Wirbelsäule vorhanden waren, während eigentlich anzunehmen ist, daß bei dem vorausgesetzten Hergang auch andere Körperteile in Mitleidenschaft gezogen worden wären. 28•

Endgültige Beweiswürdigung

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c) Der zu Tode Gekommene kann beim Überqueren der Straße, ehe der PKW-Fahrer zur Unfallstelle gelangte, von einem vorausfahrenden Lastzug erfaßt und dadurch getötet worden sein; d) er kann von dem PKW-Fahrer zu Fall gebracht und tödlich verletzt worden sein. Die Beschädigungen an der Wirbelsäule waren von der Art, daß sie auch durch Radwirkung von einem PKW verursacht worden sein konnten, ohne daß sich Spuren am PKW zu zeigen brauchten. e) Der Verunglückte konnte von einem vorausfahrenden LKW nur zu Boden geworfen und sodann vom nachfolgenden PKW so überfahren worden sein, daß der Tod eintrat usw. 6 • 4. Die Ermittlung der in Betracht kommenden Möglichkeiten braucht sich nicht, wie in dem eben mitgeteilten Fall, auf den äußeren Ablauf eines Vorgangs zu beziehen. Sie kann ebenso auch die Aufklärung von psychischen Sachverhalten betreffen. Wird bei der Erforschung seelischer Tatsachen (Motiv, Absicht, Kenntnis) eine aktuelle Möglichkeit nicht als solche erkannt, so geht die Ermittlungsarbeit infolgedessen unter Umständen völlig an der Wirklichkeit vorbei: Dem Angeklagten wurde Körperverletzung zur Last gelegt. Er hatte gesehen, wie X auf der Straße auf einen am Boden liegenden Mann einschlug und äußerte sich darüber zu den Umstehenden wie folgt: "Da drüben schlagen sie einen tot und es ist kein Polizist da." Anschließend lief der Angeklagte auf den X zu, versetzte ihm einen Messerstich in den Oberarm und benachrichtigte sodann die Polizei. Das Untergericht verurteilte den Angeklagten wegen Körperverletzung und führte dazu aus, seine Handlungsweise lasse sich nur so erklären, daß er sich nicht habe beherrschen können und durch den Messerstich Vergeltung dafür habe üben wollen, daß X den amBoden liegenden Mann schlug. Möglich ist aber auch, daß der Angeklagte den X durch den Messerstich in den Oberarm am Weiterschlagen hindern wollte. Wenn außer dem Gesagten keine weiteren Momente hinzukommen, wird die letztere Tatsachenannahme sogar als die wahrscheinlichere zu betrachten sein. Für sie spricht jedenfalls die vorausgegangene Äußerung des Angeklagten, nach der er das Eingreifen der Polizei für notwendig hielt und der Umstand, daß er nach dem Messerstich sogleich die Polizei benachrichtigte7 • Hat der Wahrheitsforscher die in Betracht kommenden Eventualitäten erst einmal aufgespürt, so sind die Aussichten auf ein der Wirklich6 Über diesen im Text nur geringfügig veränderten Sachverhalt Buhtz, Der Verkehrsunfall (1938) S. 190 ff. 7

RG JW 1932 S. 3070.

Beachtung aller ernst zu nehmenden Möglichkeiten

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keit entsprechendes Ergebnis erheblich günstigere. Er muß sich dann freilich noch im einzelnen mit ihnen auseinandersetzen. Unbeachtlichkeit allzu fern liegender Möglichkeiten. Sowohl im Strafverfahren als auch in den übrigen Prozeßarten haben nur die Möglichkeiten Anspruch auf Berücksichtigung, mit deren Verwirklichung - mag sie auch wenig wahrscheinlich sein - nach der Erfahrung immerhin gerechnet werden muß 8 • Eventualitäten, die zwar nicht ganz undenkbar, aber so weit hergeholt sind, daß sie nach praktischen Begriffen keinerlei Wahrheitswert besitzen, sind außer Betracht zu lassen. Sie können die Richtigkeit der durch das Beweismaterial bestätigten Tatsachenannahme nicht in Frage stellen. DerBeurteilersieht sie zwar; aber er braucht sich durch sie nicht an einer anderweitigen Tatsachenfeststellung gehindert zu fühlen 9 • 1. Dafür, daß allzu fern liegende, lediglich theoretische Möglichkeiten außer Ansatz zu lassen sind, spricht zunächst die Erwägung, daß der Justizapparat nicht mehr arbeitsfähig sein würde, wenn sie gegenteilige Feststellungen inhibieren könnten. Die Justiz würde sich durch einen solchen Rigorismus um jeden Einfluß auf das Leben bringen. Sie müßte dann darauf verzichten, die gesellschaftlichen Beziehungen nach Recht und Gerechtigkeit zu ordnen und in der großen Mehrzahl der Fälle die Dinge völlig sich selbst überlassen. Schon aus diesem Grunde ist für die Rechtspflege wie für jede andere praktische Tätigkeit der vorsichtig gehandhabte Ausschluß allzu entfernter Möglichkeiten eine Notwendigkeit. 2. Aber es wäre auch vom Standpunkt der Wahrheitstindung aus nicht sinnvoll, auf ganz ausgefallene Tatsachenkombinationen Rücksicht zu nehmen, deren Realisierung vielleicht nur durch eine Art Wunder hätte bewirkt werden können. Wenn man sie außer Betracht läßt, wird dadurch der Sachverhaltsforschung kein Schaden zugefügt. Vielmehr ist gerade auf diese Weise der Wahrheit am ehesten beizukommen. Wenn Möglichkeiten, die keine Verwirklichungschance gehabt haben, die Tatsachenfeststellung hindern könnten, dann würde man vielfach um unwirklicher Eventualitäten willen ohne Notwendigkeit auf die Erfassung der Wahrheit verzichten. Die Tatfrage würde dann unter dem Schein der Genauigkeit in einer ganz vernunftwidrigen Weise abgetan werden. 8 RG Str. Bd. 61 S. 202; BGH Str. Bd. 10 S. 208; Mattil im Archiv für Strafrecht (1954) S. 340; Wyschinski S. 322. 9 Die Unterscheidung zwischen logischen und praktischen Möglichkeiten stammt nicht etwa aus neuerer Zeit, sondern geht bereits auf Leibniz zurück.

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Endgültige Beweiswürdigung

Abgrenzung zwischen aktuellen und bloß theoretischen Möglichkeiten. 1. Eine an sich allzu fern liegende Sachgestaltung kann zu einer ernst zu nehmenden dadurch werden, daß außer ihrer rein logischen Denkbarkeit noch etwas hinzukommt, was ihre Verwirklichung im vorliegenden Fall nicht ganz unwahrscheinlich macht 10 • Diese Lage ist z. B. gegeben, wenn in dem beigebrachten Tatsachenmaterial ein Hinweis enthalten ist, der für das Vorliegen eben dieser abweichenden Version spricht. Manchmal kann eine Möglichkeit auch ohne spezielle Hinweise im Sachverhalt einfach durch sicheres Erfahrungswissen so gut als aktuell bezeugt sein, daß es weiterer Belege in dieser Beziehung nicht bedarf. Wenn es an hinlänglichen Anhaltspunkten sowohl der einen wie der anderen Art fehlt, liegt die erwogene Tatsachenkombination so fern, daß mit ihrer Realisierung nicht gerechnet zu werden braucht: Der Angeklagte stand im Verdacht, als Autofahrer nachts dadurch einen Zusammenstoß verschuldet zu haben, daß er ohne Notwendigkeit von der rechten Straßenseite nach links hin abgewichen war. Er konnte die Linksabweichung nicht in Abrede stellen, gab auch keine bestimmten Gründe an, die ihn im gegebenen Fall zu einer solchen Fahrweise veranlaßt hatten. Sein Verteidiger machte jedoch geltend, daß dafür mancherlei Ursachen, die dem Angeklagten nicht zur Last gelegt werden könnten, d e n k b a r seien, wie z. B. das Entgegenkommen eines vorschriftswidrig unbeleuchteten Fahrzeugs, die Blendung des Angeklagten durch einen anderen Wagen, das plötzliche Auftauchen von Wild auf der Fahrbahn, das unsachgemäße Verhalten des eigenen Beifahrers usw.U. Aber solange diese Ausnahmegestaltungen, für deren Verwirklichung im vorliegenden Fall nichts sprach, lediglich abstrakt vorgeführt werden, ohne daß der Angeklagte ihr Gegebensein auch nur behauptet, sind sie nicht geeignet, den Beurteiler zu beeindrucken12• 2. Zur Abrundung des Bildes mag noch folgender, in eine andere Umwelt hineingehöriger Sachverhalt dienen: Ein Packmeister der Staatsbahn stand im Verdacht von Gelddiebstählen. Es wurde ihm eine Falle gestellt, indem man in eine Schublade zwei Geldstücke legte, die Heinsheimer: Festschrift für Franz Klein (1914) S. 144. BGH vom 10. 12. 1952 bei Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk zu § 286 ZPO Nr. 7. 12 In den außerstrafrechtlich.en Verfahrensarten bleiben ebenfalls Versionen, die allzuweit hergeholt erscheinen, unberücksichtigt. Im Zivilprozeß hat die Partei, die auf eine zu ihren Gunsten sprechende Möglichkeit hinweist, deren Aktualität darzutun; sie hat den Nachteil zu tragen, wenn das nicht gelingt: RG JW 1936 S. 3187 und BGH vom 7. 4. 1951: Verkehrsrechtssammlung Bd. 6 S. 341 (Anscheins beweis). 10

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durch scharfe Messereinschnitte an einer bestimmten Stelle deutlich gekennzeichnet waren. Die Schublade wurde durch einen Streifen Briefmarkenpapier unter der Tragleiste zugeklebt. Nachdem festgestellt worden war, daß der Packmeister den Raum, in welchem das Geld sich befand, aufgesucht hatte, visitierte man dessen Kleidung. Dabei fand sich bei ihm eins der Geldstücke wieder, das nach Jahreszahl und Prägebuchstaben mit dem in die Schublade gelegten übereinstimmte und auch den Messereinschnitt an der fraglichen Stelle trug. Zugleich ergab sich, daß der Klebestreifen an der Schublade zerrissen war, woraus hervorging, daß diese inzwischen aufgezogen worden sein mußte. Das Tatgericht sprach den Angeklagten trotz dieser schweren Belastungsmomente frei, indem es (unter anderem) davon ausging, daß außer dem gezeichneten Geldstück auch sonst noch 25-Pfennigstücke mit derselben Jahreszahl und demselben Prägebuchstaben sowie dem gleichen charakteristischen Einschnitt im Umlauf sein könnten, während diese Möglichkeit derartig fernliegend war, daß sie keine Berücksichtigung verdiente13.

Ausschließung zu entfernter Möglichkeiten. Wenn verschiedene Sachgestaltungen in Betracht kommen, darf nicht kurzerhand derjenigen der Vorzug gegeben werden, die verhältnismäßig am besten bezeugt ist. Vielmehr ist jede Version, die von der in Aussicht genommenen Tatsachenfeststellung abweicht, gewissenhaft daraufhin zu prüfen, ob sie sich realisiert haben könnte und demgemäß für aktuell zu gelten hat. Ist das zu bejahen und gelingt es nicht, sie noch nachträglich für den vorliegenden Fall auszuschließen, so wird dadurch das Zustandekommen des vollen Beweises im Sinne der geplanten Tatsachenfeststellung verhindert. 1. Liegen mehrere, einander widersprechende Möglichkeiten vor, so muß versucht werden, durch den Ausschluß einzelner von ihnen den Bereich, innerhalb dessen die richtige Lösung der Tatfrage liegen muß, nach und nach einzuengen. Auf diese Weise gelingt es bei einer mit vielen verschiedenartigen Eventualitäten belasteten Beweislage nicht selten, die Vieldeutigkeiten so weit zurückzudrängen, daß sich schließlich ein sicheres Wissen ergibt.

2. Im einzelnen pflegt der Ausschluß bestimmter Möglichkeiten so vor sich zu gehen, daß der Beurteiler erkundet, ob sich die am besten bezeugte Version weiter verstärken läßt und andererseits die von ihr abweichenden Sachgestaltungen so in die Ferne gerückt werden können, daß sie keine Beachtung mehr verdienen. 13 Über diesen nur auszugsweise wiedergegebenen Fall hat A. Zeiler in der Rheinischen Zeitschrift für Zivilprozeß 10. Jahrgang (1919/20) S. 199 ff., 203 und in: Meine Mitarbeit (1938) S. 28 ausführlich berichtet.

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Endgültige Beweiswürdigung

Wenn ein starker Überführungsbeweis gegen den Beschuldigten vorliegt und die Entlastungsmöglichkeiten ziemlich entfernt zu liegen scheinen, dann bedarf es der Prüfung, ob sie sich vielleicht als so abwegig dartun lassen, daß sie für die Wahrheitstindung bedeutungslos werden und somit außer Ansatz zu bleiben haben. Ebenso ist gegebenenfalls auch umgekehrt der Ausschluß von Möglichkeiten zu versuchen, die für den Beschuldigten eine Belastung darstellen.

Das dabei zu beobachtende Verfahren. Die anzuwendende Technik ist im Strafprozeß und im Zivilprozeß die gleiche. Freilich wird die Skrupulosität, mit der man etwaigen andersartigen Möglichkeiten nachgeht, in gewisser Weise von der Wichtigkeit des zu entscheidenden Falles abhängig sein. In Strafsachen hat man es infolgedessen damit ganz besonders genau zu nehmen, obwohl auch in den anderen Verfahrensarten sorgfältig vorgegangen werden muß, zumal wenn schwerwiegende Maßnahmen in Frage stehen. Das beste Verfahren zum ordnungsmäßigen Ausschluß bestimmter Möglichkeiten ist eine gründliche Durehrlenkung der in Betracht kommenden Sachgestaltungen und der mit ihnen notwendig verbundenen Einzelheiten. Sie hat von den bereits feststehenden Umständen auszugehen und sowohl das physische wie das psychologische Erfahrungswissen zu berücksichtigen. 1. Handelt es sich darum, ob ein Schadensfeuer, das der Angeklagte angelegt haben soll, vielleicht nicht durch vorsätzliche Brandstiftung, sondern durch elektrischen Strom verursacht worden sein könnte, so kann zur Ausschließung dieser letzteren Entstehungsursache die Überlegung beitragen, daß die Entstehung eines Brandes durch elektrische Anlagen von der Art, wie sie in dem abgebrannten Gebäude vorhanden waren, allgemein sehr selten ist; daß die im Hause vorhandenen elektrischen Leitungen erst vor kurzem überprüft und in Ordnung befunden worden waren; daß die Schnelligkeit, mit der der Brand sich ausgebreitet hat, nicht für eine Verursachung durch schadhafte elektrische Anlagen spricht, sondern für eine vorsätzliche Brandstiftung unter Verwendung von brandfördernden Mitteln wie Petroleum oder Benzin.

2. Gute Hinweise, wie gegebenenfalls beim Ausschluß nicht aktueller Möglichkeiten vorgegangen werden kann, gibt auch der folgende Rechtsfall: Der Angeklagte hatte als Zollbeamter in dienstlicher Eigenschaft von einem Ausländer einen holländischen Zehnguldenschein entgegengenommen, diesen aber nicht an seine Behörde abgeliefert. Im Strafverfahren gegen ihn wegen Amtsunterschlagung galt es festzustellen, ob er sich den Geldschein zugeeignet und ihn im eigenen Interesse verbraucht hatte. Der Angeklagte bestritt das und machte geltend, die Banknote könne auch in seinem Dienstzimmer zur Erde gefallen

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und dort von zwei Häftlingen, die er anschließend vernommen habe, unbemerkt eingesteckt worden sein. Das Gericht hielt diese Möglichkeit auf Grund des vom Angeklagten gezeigten Verhaltens (insbesondere auf Grund der von ihm in dieser Sache vorgenommenen Falschbuchungen) für widerlegt und fühlte sich durch sie nicht an der Feststellung gehindert, daß der Angeklagte den Geldschein für sich verwandt habe. Die Richter gingen dabei von folgenden Erwägungen aus: Wenn der Angeklagte, nachdem er das Abhandenkommen der Banknote bemerkte, auf die beiden Häftlinge einen Verdacht hatte, hätte man erwarten sollen, daß er sie, was nicht geschehen war, darüber vernahm und durchsuchen ließ, um den Geldschein wieder herbeizuschaffen. Ferner hätte man annehmen können, daß er bei Feststellung des Verlusts der Banknote zu seiner Deckung zum mindesten einen Aktenvermerk über den Sachverhalt machte. Das wäre, falls das Geld verlorenging, für ihn nicht nur der korrekte Weg, sondern auch die einfachste und am nächsten liegende Maßnahme gewesen. Er hätte es dann zudem nicht nötig gehabt, zur Verschleierung des Sachverhalts falsche Eintragungen in die dienstlichen Listen zu machen, wie er es getan hatte14 • 3. Bisweilen zeigt sich, daß eine Möglichkeit des Hergangs, die zunächst 'ganz abwegig erschien, in Wahrheit ziemlich nahe liegt. Manchmal entwickelt sie sich, wenn man ihr im einzelnen nachgeht, sogar zu einem entscheidenden Argument gegen die Deutung, die bis dahin am meisten für sich hatte.

Fehler können nicht nur daraus hervorgehen, da6 (aktuelle) Möglichkeiten unentdeckt bleiben, sondern auch daraus, daß man bekannten Möglichkeiten nicht mit der nötigen Gewissenhaftigkeit nachgeht. Manchmal ist die Erfahrungsbasis, von der aus die Verwirklichungschance einer bestimmten Version abgeschätzt wird, so schmal, daß ein brauchbares Ergebnis nicht erwartet werden kann. Mitunter wird auch allzu schematisch von allgemeinen Erwägungen ausgegangen, ohne daß der Beamte sich der besonderen Sachlage genügend anpaßt. Muß mit der Täterschaft eines unbekannten Dritten gerechnet werden? 1. Wenn der Beschuldigte seine Täterschaft bestreitet, so ist genau zu prüfen, ob nicht ein anderer der Täter sein könnte 15 • Wird in dieser Hinsicht etwas versäumt, so kann es leicht geschehen, daß der Beurteiler, wenn erst einmal ein Verdächtiger gefunden worden ist, allzu schnell auf eine intensive Fahndung nach Personen, die sonst noch als Täter in Betracht kommen, verzichtet. Solche Nachforschungen sind selbst dort, RG Str. Bd. 66 S. 163 f. Das gleiche gilt, wenn der Beschuldigte zwar ein Geständnis abgelegt hat, dieses aber nicht sonderlich vertrauenswürdig erscheint. 14 15

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wo sie ziemlich aussichtslos erscheinen, dringend anzuraten. Es könnte aus den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Fällen angeführt werden, in denen sich schließlich wider Erwarten ergab, daß derjenige, der anfangs allein als Täter in Betracht zu kommen schien, trotz schwerster Belastungsmomente nicht der Täter war. 2. Freilich müßte bisweilen eine merkwürdige Kombination von Umständen vorliegen, wenn statt des Beschuldigten ein Dritter, der vorerst nur in der Phantasie des Beurteilers existiert und für dessen Vorhandensein keinerlei konkrete Anhaltspunkte gegeben sind, der Täter sein sollte. Aber der Wahrheitsforscher muß gegebenenfalls auch mit ungewöhnlichen Zufällen rechnen, auf Grund deren der wirklich Schuldige unerkannt geblieben sein kann16 . Stets ist zu fragen, ob es nicht, wenn man besonders günstige Umstände voraussetzt, einem anderen als dem Beschuldigten gelungen sein könnte, die Tat auszuführen, sodann ohne Hinterlassung von Spuren unerkannt zu entkommen und trotz der stattgehabten Nachforschungen unentdeckt zu bleiben. Gewiß erweist sich die immer wiederkehrende Berufung des Beschuldigten auf den Unbekannten, der statt seiner die Tat begangen haben müsse, allzu oft als bloße Ausrede. Aber der Sachbearbeiter sollte sich in dieser Hinsicht auch durch viele negative Erfahrungen nicht gleichgültig machen lassen, sondern, falls die näheren Umstände es irgendwie zulassen, daß statt desBeschuldigten einDritter das Delikt begangen haben könnte, diese Möglichkeit in seine Überlegungen mit einschließen17. 3. Wichtigste Voraussetzung für ein verläßliches Resultat ist, daß man etwaigen Möglichkeiten, die der in Aussicht genommenen Tatsachenfeststellung widersprechen würden, aufgeschlossen gegenübersteht und sie unbefangen auf sich wirken läßt18 . Es wäre verkehrt, wenn der Beurteiler sich gegen eine sorgfältige Erwägung von Eventualitäten, die nicht in sein Konzept passen, absperren wollte. Manche Sachbearbeiter besitzen eine bemerkenswerte Geschicklichkeit darin, berechtigte Einwände mit Scheinargumenten abzutun. Sie können sich in einen Zustand versetzen, in dem sie sich selbst glauben machen, was sie gern wahrhaben möchten und verstehen es, dadurch die Stimme des Gewissens zu beschwichtigen. Es wird keiner weiteren Ausführung 16 Anuschat, Die Gedankenarbeit des Kriminalisten (1921) S. 51; Alsberg JW 1929 S. 863; Seelig, Lehrbuch S. 341; für den Steuerprozeß: Ritter, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern Jg. 1951 S. 88. 17 Rittler: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43 S. 195. 18 Niese im Archiv für Strafrecht Jg. 1954 S. 150.

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darüber bedürfen, daß von einer solchen Haltung aus kein brauchbares Ergebnis zu erwarten ist. 4. Besonderer Anlaß zu einer gründlichen Prüfung abweichender Möglichkeiten ist vorhanden, - wenn das Tatsachenmaterial einen konkreten (sei es auch nur geringfügigen) Anhaltspunkt für die Täterschaft eines Dritten enthält; das sind die Momente, die "aus dem Fall selbst warnend ihre Hand emporstrecken" 19 ; ferner wenn zwar ein spezieller Hinweis dieser Art in dem bekannten Sachverhalt nicht vorliegt, aber dem Beschuldigten die Tat trotz mancher Verdachtsgründe nicht zugetraut werden kann.

Argumente aus der Erfahrung. Vielfach kann die Frage, ob eine bestimmte Möglichkeit als aktuell anzusehen ist, auf Grund von Beobachtungen geklärt werden, die in früheren Fällen gleicher oder ähnlicher Art gemacht worden sind. Mit Hilfe des Erfahrungswissens kann der Beamte, ohne daß dies der Wahrheitsforschung irgendwie nachteilig zu werden braucht, sich die Möglichkeiten vom Halse schaffen, deren Verwirklichung im Einzelfall zwar nicht undenkbar, aber doch höchst unwahrscheinlich ist20 • Zu jeder speziellen Sachgestaltung gehören gewisse Begleiterscheinungen. Wenn der Hergang ein bestimmter gewesen sein soll, dann müßten auch die regelmäßig damit verbundenen Nebenumstände irgendwie bemerkbar geworden sein. Ist von ihnen nichts zu ermitteln, so spricht das mitunter so sehr gegen die Verwirklichung dieser Version, daß sie als praktisch ausgeschlossen angesehen werden kann. Ist während des ganzen Verfahrens kein noch so geringfügiger Anhaltspunkt dafür hervorgetreten, daß eine bestimmte, ziemlich entfernt liegende Sachgestaltung hier zur Tatsache geworden sein könnte, so darf sie jedoch nur dann als nicht aktuell außer Betracht gelassen werden, - wenn anzunehmen ist, daß sich im Falle ihrer Verwirklichung den Umständen nach irgendwelche Anzeichen davon hätten finden lassen müssen; wenn ferner während der gesamten Ermittlungen eine geschärfte Aufmerksamkeit mit Bezug auf solche Zeichen vorhanden war und die in dieser Hinsicht gegebenen Erforschungsmöglichkeiten voll ausgenutzt worden sind.

Ausgleich zwischen Feststellungsoptimismus und Feststellungsvorsicht. Der Wahrheitsforscher hat einerseits gewissenhaft die Argumente 19 20

v. Scanzoni JW 1928 S. 2182. Glaser, Beweis S. 56.

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zu prüfen, die der Rekonstruktion des Sachverhalts, auf welche er zustrebt, widersprechen. Er darf andererseits sich nicht von übergroßer Bedenklichkeit hinnehmen lassen. Seine Aufgabe ist es vielmehr, zwischen übertriebener Feststellungsbereitschaft und allzu weitgehender Zurückhaltung die richtige Mitte zu finden 21 . 1. Manchmal wird diese ausgeglichene Haltung durch Zeiteinflüsse erschwert, die Ermittlungsbehörden und Gerichte mit unwiderstehlicher Gewalt zu einem der beiden Extreme hindrängen. Wohl jedes Volk hat in seiner Geschichte schon einmal Zeiten gehabt, in denen starke Einseitigkeiten nach der einen oder der anderen Richtung vorhanden waren. Bei den preußischen Gerichten war während der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts eine solche Zweifelsucht eingerissen, daß - wie der damalige Justizminister Kircheisen erklärte - der Richter selbst dort die Wahrheit nicht sah, wo jedes gesunde Auge sie entdecken konnte22 . Man gefiel sich geradezu darin, immer wieder neue Bedenken herauszusuchen und stellte teilweise auch in den klarsten Sachen mit einer Art Genugtuung fest, daß der Beweis nicht erbracht worden sei. Etwas Ähnliches hat sich - wenn auch in sehr viel milderer Form während der zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts bei uns wiederholt, so daß das Reichsgericht sich damals veranlaßt sah, den immer mehr zunehmenden dubitativen Neigungen der Untergerichte entgegenzutreten23. Nach 1933 waren dagegen in der deutschen Rechtsprechung teilweise gerade entgegengesetzte Tendenzen erkennbar. Sie fanden, um nur ein Beispiel anzuführen, in einer Mahnung des damaligen thüringischen Justizministers an die Richter Ausdruck, die dahin lautete: "Habt Mut zur Feststellung von Tatsachen! Hinweg mit der abgegriffenen, unmännlichen Begründung: ,Dem Angeklagten ist nicht zu widerlegen, daß .. .', wenn dem Tatsachen und innere Wahrscheinlichkeit entgegenstehen24." 21 Rumpf !.194; Krönig, Kunst der Beweiserhebung S. 84; K. Hellwig, System des deutschen Zivilprozeßrechts (1912) !.679. 22 E. Landsberg, Gutachten der rheinischen Immediat-Justizkommission (1914)

s. 296, 299, 321.

23 RG Str. Bd. 61 S. 202 ff. und die an dieses Urteil anschließende Rechtsprechung. In Anwaltskreisen war man damals freilich vielfach der Ansicht, daß kein Grund bestehe, den Mut der Gerichte zur Tatsachenfeststellung zu stärken, sondern daß es nötiger sei, sie umgekehrt zur peinlich genauen Erwägung auch sehr fernliegender Bedenklichkeiten anzuhalten; statt vieler Belege Alsberg JW 1929 S. 863. 24 Kleiner Katechismus für die Justizbeamten (1934).

Das Beweismaß

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2. Neben den Zeitverhältnissen übt auch die individuelle Veranlagung des Beurteilers einen gewissen Einfluß darauf aus, ob er große Feststellungsfreudigkeit an den Tag legt oder sich mehr zurückhält. Wer in dieser Hinsicht zum Draufgängertum, zur "Husarenjustiz" neigt, hat besonderen Anlaß, sich die vielleicht zahlreichen Möglichkeiten gewissenhaft zu vergegenwärtigen, die bei einem unaufgeklärten Fall bedacht werden müssen. Er braucht seine optimistische Grundhaltung keineswegs aufzugeben, sollte sich aber zur sorgfältigen Prüfung aller in Betracht kommenden Sachgestaltungen zwingen. Mancher hat wieder so viel Einsicht in die Fehlsamkeit menschlicher Wahrheitsforschung, daß ständige Ermahnungen zur Vorsicht ihn in eine regelrechte Zweifelsmanie stürzen würden. Es muß somit jeder aus den vorstehenden Hinweisen das für ihn Passende entnehmen und sollte, wenn er in dieser Beziehung im Einzelfall nicht das Richtige getroffen hat, die Schuld nicht auf den Autor schieben. Wer dahin tendiert, abwegige Bedenken allzu sehr zu kultivieren und sich mit undiskutablen Möglichkeiten über Gebühr abzugeben, mag die Rechtspflegeaufgabe der Gerichte bedenken, die es nicht erlaubt, daß der Beurteiler über dem Streben nach einer illusionären, dem menschlichen Geist nicht erreichbaren absoLuten Sicherheit sich die Wahrheit aus den Händen gleiten läßt. Je mehr der Sachbearbeiter seiner Wesensart nach dem einen oder dem anderen Extrem zuneigt, desto mehr wird er sich einem systematischen Training unterwerfen müssen, auf Grund dessen er die richtige Mittellinie zwischen zu großer Feststellungsfreudigkeit und unangebrachter Skrupulosität schließlich zu finden vermag.

Das Beweismaß

ProbLemsteLlung. Eine gerichtliche Entscheidung darf nur auf vollen Beweis gegründet werden. Im Strafverfahren ist es ein Hauptprinzip, daß der Angeklagte nur verurteilt werden darf, wenn die dazu nötigen tatsächlichen Feststellungen mit Sicherheit getroffen werden konnten. Ebenso ist im Zivilprozeß und in den übrigen Verfahrensarten eine Verurteilung des Beklagten nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des gegen ihn erhobenen Klaganspruchs regelrecht bewiesen sind. Das Erfordernis des vollen Beweises gilt aber auch sonst allenthalben, wo eine tatsächliche Feststellung als Unterlage für die gerichtliche Entscheidung dienen soll; mitunter selbst dort, wo das Gesetz, um die Prozedur in

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gewisser Weise zu vereinfachen, statt von Beweis von "Glaubhaftmachung" spricht oder ähnliche Ausdrücke verwendet25 • Die Frage, ob in einer bestimmten Hinsicht voller Beweis gegeben ist, erfordert ein Nachdenken in zweifacher Richtung. Einmal muß erwogen werden, welche Beweisanforderungen in Fällen dieser Art zu stellen sind; es handelt sich dabei um den allgemeinen Maßstab, der an das Beweismaterial anzulegen ist. Ferner bedarf der Prüfung, ob das danach erforderliche Beweisquantum im gegebenen Fall vorhanden ist oder nicht. Es muß also einerseits der zutreffende Maßstab festgestellt und andererseits dieser an den herbeigeschafften Tatsachenstoff richtig angelegt werden. Fehler können dabei sowohl dadurch zustande kommen, daß der Beurteiler das abstrakte Beweismaß als solches verkennt, als auch dadurch, daß er die Frage, ob es im vorliegenden Fall erfüllt ist, unrichtig beantwortet26 • Der allgemeine Maßstab, dessen Umschreibung im folgenden unternommen werden muß, ist bisher, um die Darstellung nicht unnötig zu komplizieren, als feststehend vorausgesetzt worden. In Wirklichkeit sind über ihn nicht selten Zweifel vorhanden. Es bedarf deshalb jetzt noch einiger allgemeiner Erörterungen zu diesem Punkt. Die Bestimmung des Beweismaßes erfolgt nach allgemeingültigen Merkmalen27 • Es handelt sich dabei nicht um eine Frage des Beliebens, sondern um eine solche, die nach streng objektiven Grundsätzen zu beantworten ist. Sie sollte daher, zumal in komplizierteren Fällen, auch gesondert gestellt und nicht von vornherein mit der Erwägung verquickt werden, ob in concreto die erforderliche Beweismenge für den in Betracht kommenden Punkt des Sachverhalts vorhanden ist. Daraus ergibt sich zugleich die Notwendigkeit, in der systematischen Darstellung beide Probleme getrennt zu behandeln. 25 Ditzen, S. 8; anders dagegen, wenn das Gesetz (wie im § 252 BG B) erkennen läßt, daß es bloße Wahrscheinlichkeit genügen lassen will. Vgl. neuerdings auch E. Peters, Der sog. Freibeweis im Zivilprozeß (1963) S. 65 ff. 26 Helm. Mayer in Festschrift für Mezger S. 474. Die Prozeßrechtslehrbücher erörtern die wichtige Frage des Beweismaßes heute meist nicht näher, während die gemeinrechtliche Doktrin des 17.-19. Jahrhunderts sich mit ihr sehr eingehend beschäftigt hat. Der Grund dafür muß wohl hauptsächlich in der gegenwärtigen Tendenz der Prozeßrechtswissenschaft gesehen werden, bei der Behandlung des Beweises in erster Linie vom Gesetz auszugehen und die dort nicht geregelten Materien außer Betracht zu lassen. 27 Rupp S. 27; Mezger, Der psychiatrische Sachverständige S. 159 ff.; K. Moser, In dubio pro reo (Diss. München 1933) S. 43 ff.; andere scheinen dagegen die Mitwirkung subjektiver Momente bei der Festlegung des Beweismaßes für nicht vermeidbar zu halten. Ausdrückliche Stellungnahmen zu dieser Frage sind im deutschen Schrifttum jedoch ziemlich selten.

Das Beweismaß

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Frühere Lösungsversuche. Die nähere Umschreibung der volle Sicherheit gewährenden Beweismenge hat man bisher sowohl in Deutschland als auch in den meisten anderen Ländern mit Hilfe des Wahrscheinlichkeitsbegriffs vorgenommen28 • Dieser ist dazu jedoch wenig geeignet. Wenn man ihn in diesem Bereich zur zentralen Denkform erhebt, ist c1ie Versuchung allzu groß, daß auf Grund von mehr oder weniger vagen Vorstellungen über Wahrscheinlichkeit etwas als hinreichender Beweis ausgegeben wird, was nicht als solcher angesehen werden darf.

Das hat nicht zuletzt die viel erörterte Entscheidung RGStr. Bd. 61 S. 206 gezeigt, durch die das Reichsgericht seine auf das Wahrscheinlichkeitsdenken gegründete Rechtsprechung zum Beweismaß weiter auszubauen versuchte. Sie fand schon innerhalb des Gerichtshofs keine ungeteilte Zustimmung und wurde auch von der Rechtslehre ziemlich einhellig abgelehne 9 • Wenig glücklich war insbesondere der dort gegebene Hinweis, daß der Richter sich mit einem so hohen Grade von Wahrscheinlichkeit zu begnügen habe, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Erkenntnismittel entsteht. Damit war sicher nicht gemeint, daß der Sachbearbeiter die verfügbaren Beweismöglichkeiten nur gewissenhaft auszuschöpfen brauche und den sich dabei ergebenden (vielleicht nicht recht zulänglichen) Grad von Wahrscheinlichkeit dann als vollen Beweis ansehen dürfe. Aber die Darlegung war doch in mehrfacher Hinsicht mißverständlich und dazu angetan, unrichtigen Auffassungen Vorschub zu leisten. Der Sachbearbeiter wird durch solche und ähnliche Formulierungen dazu verführt, Tatsachen auch dort, wo eine exakte Ermittlung durchaus möglich ist, mehr aufs Geratewohl festzustellen. Das Wahrscheinlichkeitsdenken läßt ganz allgemein den Aufklärungseifer erlahmen und übt dadurch einen ungünstigen Einfluß auf die Wahrheitsforschung aus. Gewiß läßt sich jeder Begriff mißbrauchen; selbst eine noch so gut durchgearbeitete Theorie vermag die Gefahr leichtfertiger Tatsachenarbeit nicht völlig zu bannen. Aber die an den Wahrscheinlichkeitsbegriff anknüpfenden Abgrenzungen machen es dem Beurteiler doch allzu leicht, sich bei fragwürdigen Sachverhaltsfeststellungen einzubilden, 28 Ein früher Beleg ist das Urteil RGZ Bd. 15 S. 339; vgl. ferner die Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichts Bd. 74 (1948) II.81; Gorphe S. 345; Coven and Carter S. 247. 2 g v. Scanzoni JW 1928 S. 2181 und NJW 1951 S. 222; Ehrenzweig JW 1929 S. 85; Niethammer: Deutsche Richterzeitung 1934 S. 6; H. Henkel, Strafverfahrensrecht (1953) S. 404; Loewe-Rosenberg (20) zu § 261 StPO Anm. 5; Piontkowski in: Staat und Recht, Jg. 1957 S. 867; Eb. Schmidt, Lehrkommentar 1.158; vgl. ferner G. Bohne, Überzeugungsbildung S. 20 ff. sowie aus der Rechtsprechung vor allem RG Str. Bd. 66 S. 165 und BGH Str. Bd. 10 S. 208.

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daß seine Arbeitsweise mit den anerkannten Regeln der Beweiswürdigung in Einklang stehe.

Wahrscheinlichkeitserwägungen in den Anfangsstadien der Beweiserhebung. Andererseits wäre es nicht angebracht, das Wahrscheinlichkeitsdenken in Bausch und Bogen zu verdammen. Seine Bedeutung für die Naturwissenschaft und die theoretische Philosophie steht außer Frage. Auch für die prozessuale Tatsachenforschung ist es von einiger Wichtigkeit. Während der Aufklärungsarbeit ist der Beurteiler immerfort genötigt, Wahrscheinlichkeitserwägungen anzustellen. Sie gehören hier zu seinem unentbehrlichen Handwerkszeug 30 • Wer sich jedoch speziell bei Bestimmung des Beweismaßes in erster Linie am Wahrscheinlichkeitsbegriff zu orientieren versucht, wird sich bald vielen Zweideutigkeiten gegenübersehen, die jede Hoffnung auf brauchbare allgemeine Grundsätze zunichte machen 31 • Abstellen auf volle Sicherheit. Besser sind die Aussichten auf eine verläßliche Richtlinie für die Bestimmung des Beweisquantums, wenn dabei der Begriff der Sicherheit in den Mittelpunkt gestellt wird. Es kann dann jedenfalls nicht so leicht wie beim Arbeiten mit Wahrscheinlichkeitsvorstellungen die Erkenntnis verlorengehen, daß das gesammelte Material einen vollen Beweis nur ergibt, wenn ein einsichtiger und unvoreingenommener Betrachter es auf Grund von erprobten Erfahrungsgrundsätzen für in jeder Beziehung hinlänglich halten darf 32 • Was als volle Sicherheit angesehen werden kann, ist freilich auch für den, der Schrifttum und Praxis jahrzehntelang aufmerksam verfolgt hat, schwer in einem kurzen Satz zusammenzufassen. Die Formulierungen der Gerichte zu dieser Frage sind oft unausgeglichen. Das ist nicht verwunderlich; denn das Hauptanliegen des Richters besteht nicht in der Herausarbeitung eines geschlossenen wissenschaftlichen Systems, sondern in erster Linie darin, die anhängige Sache richtig zu entscheiden. 30 Bohne, Überzeugungsbildung S. 11 ff.; Wimmer: Deutsche Rechtszeitschrift 1950 S. 392. 31 Im wesentlichen übereinstimmend Eb. Schmidt, Lehrkommentar 11.749 Anm. 11; Löwe-Rosenberg (20) zu § 261 StPO Anm. 5; Müller-Reitherger zu § 261 StPO Anm. 2; Mattil im Archiv für Strafrecht 1954 S. 338; für den Zivilprozeß: Wassermeyer S. 95. 32 Es erschwert das Verständnis, wenn man (wie es im Schrifttum teilweise geschieht) neben dem Begriff der vollen Sicherheit sozusagen als gleichbedeutend den der vollen Gewißheit verwendet. Denn das Wort "Gewißheit" bezieht sich schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch in erster Linie auf die subjektive Haltung, die der Beurteiler zum Sachverhalt einnimmt, während die Frage nach dem Beweismaß und dem Vorliegen der vollen Sicherheit objektiven Charakter hat.

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Gleichwohl sind die Ansatzpunkte für eine theoretische Grundlegung in der Judikatur bereits enthalten. Bevor die Ordnungsprinzipien aufgespürt werden können, bedarf es jedoch, wenn die Erörterung nicht sogleich in ein falsches Geleise geraten soll, einer schrittweisen Rekognoszierung des Geländes.

Mindestanforderungen. Zunächst muß klargestellt werden, daß es sich bei der Prüfung, wieviel Beweis vorliegen muß, damit ein Tatumstand voll bewiesen ist, stets nur um die Herausarbeitung der Mindestvoraussetzungen handelt, die in dieser Hinsicht zu stellen sind. Innerhalb des Bereiches, der volle Sicherheit gewährleistet, sind noch mancherlei Abstufungen möglich. Das tritt in der richterlichen Urteilsbegründung mitunter deutlich hervor, wenn dort zahlreiche Argumente für eine bestimmte Tatsachenannahme genannt werden und dann gesagt wird, die bisher angeführten Beweise rechtfertigten bereits die vom Gericht getroffene tatsächliche Feststellung, doch kämen noch foLgende Beweismomente hinzu: ... Es versteht sich von selbst, daß der Sachbearbeiter versuchen wird, aus dem Gebiet der bloßen Wahrscheinlichkeit möglichst tief in die Zone der vollen Sicherheit einzudringen, sofern das Beweismaterial sich noch weiter vervollständigen läßt. Aber in den kritischen Fällen, in denen dazu keine Handhabe mehr vorhanden ist, stellt sich dann doch die Frage, wie hoch die Mindestanforderungen für den vollen Beweis sind und ob ihnen hier und jetzt Genüge geschehen ist33•

Konkretisierung der abstrakten Richtlinie. Allgemein ausgedrückt liegt volle Sicherheit vor, wenn die Tatsachenfeststellung so fest gegründet ist, daß bei einem besonnenen, lebenserfahrenen und gewissenhaften Beurteiler beachtliche Gegengründe nicht mehr vorhanden sind. Die beabsichtigte Rekonstruktion des Sachverhalts muß so verläßlich sein, daß sie auch einen vorsichtigen und kritischen Beurteiler zu befriedigen vermag. Diese Regel bedarf jedoch einer weiteren Spezialisierung, die der Sachbearbeiter je nach der besonderen Sachlage selbst vorzunehmen hat. Wenn man z. B. vorzugsweise auf die Frage der Täterschaft abstellt, läßt sich etwa sagen: Volle Sicherheit, daß der Beschuldigte die Tat begangen hat, ist gegeben, wenn angesichts des auf seine Beteiligung hinweisenden Materials die Annahme, daß ein anderer der Täter sein könnte, ausgeschlossen erscheint. Kann das Delikt nach Lage der Sache nur von einer Einzelperson verübt worden sein und kommen mehrere Verdächtige wahlweise nebeneinander dafür in Betracht, so darf nicht kurzerhand derjenige als der Täter angesehen werden, dessen Täteraa

Glaser, Beweis S. 180.

29 Döhring

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schaft am wahrscheinlichsten ist. Dies würde unter Umständen dazu führen, daß die Frage, wer die Straftat begangen hat, auf Grund von bloßen Vermutungen entschieden wird. Der Umstand, daß für die Täterschaft des Beschuldigten eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht, vermag die Feststellung, daß er der Täter ist, nicht zu rechtfertigen. Zur vollen Sicherheit wird vielmehr ein höherer Grad von Unanfechtbarkeit und Stabilität erfordert, als ihn die hohe Wahrscheinlichkeit zu geben vermag 34 • Entsprechende, auf den Einzelfall zugepaßte Richtlinien dafür, was völlige Verläßlichkeit bedeutet, lassen sich auch für alle anderen des Beweises bedürftigen Tatumstände aufstellen. Solche Umschreibungen dürfen zwar selbst in so konkreter Gestalt nicht als Zauberformel angesehen werden, die automatisch das richtige Resultat erbringt; aber sie geben dem mitdenkenden Sachbearbeiter in Zweifelsfällen doch mitunter eine brauchbare Regel an die Hand. Definition der vollen Sicherheit durch die Judikatur. Das Reichsgericht legte seiner Umschreibung des für die Feststellung von Tatumständen erforderlichen Beweisquantums einen strengeren als den hier verwandten Sicherheitsbegriff zugrunde, indem es von der absoluten Sicherheit ausging. Es bediente sich zugleich der Wahrscheinlichkeitsterminologie und definierte die für den vollen Beweis kennzeichnende Verläßlichkeitsstufe als die "an (absolute) Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit". Diese von der Praxis früher viel benutzte Formulierung entspricht jedoch nicht mehr den heutigen Anforderungen. Es ist bereits dargelegt worden, daß der Wahrscheinlichkeitsbegriff in diesem Zusammenhang zu Mißverständnissen Anlaß geben muß und gegeben hat. Beweisquantum in Strafsachen und in Zivilsachen. In Strafsachen ist, weil es sich dort um schwerwiegende Entscheidungen handelt, die Leben, Freiheit und Ehre betreffen, für den Schuldbeweis eine besonders hohe Sicherheitsstufe erforderlich. Für den Nachweis von Umständen, die den Beschuldigten belasten, ist ein so strenger Maßstab anzulegen, wie er sich mit der Rechtspflegeaufgabe der Gerichte gerade noch vereinbaren läßt. Das gilt nicht nur für die Kapitalverbrechen, sondern auch für die übrigen Strafsachen (wegen der Übertretungen vgl. S. 451 f.). Im Zivilprozeß und in den anderen Verfahrensarten bewirkt die Tatsache, daß die gerichtlichen Entscheidungen dort im allgemeinen nicht von ebenso einschneidender Bedeutung sind wie in Strafsachen, daß für die zur Verurteilung des Beklagten nötigen Nachweise nicht den in Strafsachen maßgebenden höchsten Sicherheitsgrad zu haben brauchen. Meist lassen die für den Zivilprozeß in Literatur und Rechtsprechung gegebenen Umschreibungen des Beweismaßstabs das durch Formulie34 Darüber, daß zu diesen objektiven Voraussetzungen die subjektive Überzeugung des Beurteilers von der Richtigkeit der geplanten Tatsachenfeststellung hinzukommen muß, vgl. S. 463 ff.

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rungen erkennen, die dem Beurteiler etwas mehr Spielraum gewähren3•. In der Regel wird in ihnen nicht unbedingt die höchste, sondern lediglich eine sehr hohe Sicherheit des Beweisergebnisses verlangt oder auch einfach von zureichender bzw. "hinlänglicher Sicherheit" gesprochen. Gegen die letztgenannte Fassung des Begriffs würde in sachlicher Hinsicht nichts einzuwenden sein; doch erscheint fraglich, ob sie von der Praxis in dieser Form ernst genommen und nicht zum Vehikel für saloppe Tatsachenfeststellungen gemacht werden würde. Aus psychologischen Gründen ist es daher besser, wenn man von völlig zureichender bzw. "völlig hinlänglicher Sicherheit" spricht, um einen Mißbrauch der Wendung durch leichtfertige Handhabung möglichst zu erschweren36 . Einzelausführungen. Diese unterschiedliche Bestimmung des Beweismaßes für Straf- und Zivilsachen hat nicht nur auf dem Kontinent, sondern auch in der angloamerikanischen Jurisprudenz Geltung 37 . Sie bedarf jedoch noch weiterer Differenzierungen, die sich nur schwer in einer kurzen Richtlinie zusammenfassen lassen.

1. Eine der Modifikationen besteht darin, daß in Strafsachen von den Höchstanforderungen, die dort sonst an den vollen Beweis zu stellen sind, nicht betroffen werden:

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die Schuldfeststellungen bei regelrechten Bagatelldelikten, die der Sache nach lediglich Polizeiübertretungen darstellen und genaugenommen nicht in das Strafrecht hineingehören (Verstoß gegen die Polizeistunde, Vernachlässigung der Straßenreinigungspfl.icht, Ausgießen von Flüssigkeiten zur öffentlichen Straße hin usw.); ferner

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Nachweise, die für den Beschuldigten keine Belastung mit sich bringen, wie z. B. solche zur Bekräftigung seiner Unzurechnungsfähigkeit, seiner Notwehrlage, der ihm zugute kommenden Milderungsgründe.

35 Wieczorek, ZPO zu § 282 Anm. DII (hoher Grad von Wahrscheinlichkeit); ähnlich Guldener, Beweiswürdigung und Beweislast S. 6 ff. 36 Die Grenzziehung erfolgt im Schrifttum immer noch vorwiegend mit Hilfe des Wahrscheinlichkeitsbegriffs; im einzelnen vgl. statt vieler Belege RGZ Bd. 15 S. 339, Bd. 95 S. 249 und Bd. 162 S. 229; ferner die Kommentare zur Zivilprozeßordnung von Skonietzki-Gelpke (1911), Stein-Jonas-SchönkePohle (1952), Wieczorek (1957), sämtlich zu § 286 bzw. 282 ZPO; M. Guldener, Beweiswürdigung S. 6 ff.; L. Rosenberg, Lehrbuch (1960) S. 538. 37 Auf dLe dogmatisch gut durchgearbeitete angelsächsische Lehre vom quantum of proof kann nicht näher eingegangen werden. Sie vermag dem festländischen Betrachter mancherlei Anregungen zu geben, bietet für ihn aber andererseits gewisse Schwierigkeiten; nicht zuletzt durch ihre Verquikkung mit dem Beweislastproblem, die auch von manchen anglo-amerikanischen Juristen als nicht sehr glücklich empfunden wird; darüber Coven and Carter S. 224 f.

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Es wird keiner näheren Darlegung bedürfen, daß in allen derartigen Fällen die materielle Wahrheit ebenfalls gewissenhaft zu erforschen ist 38 • Doch kommt dann für den Beweis eben nicht das Höchstmaß zum Zuge, dessen Anwendung unter den genannten Umständen von niemandem verstanden werden würde, sondern der für Zivil- und Verwaltungssachen zutreffende Normalmaßstab 39 • 2. Noch in anderer Hinsicht bedarf das unterschiedliche Beweismaß in Straf- und Zivilsachen einer Erläuterung. Es muß nämlich klargestellt werden, daß auch im Zivilprozeß und den ihm nachgebildeten Verfahrensarten die zu fällende Entscheidung für den Betroffenen manchmal sehr einschneidende Wirkungen haben, daß sie (wie etwa bei ruinösen Schadensersatzprozessen) den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch eines großen Unternehmens zur Folge haben kann. Unter Umständen steht für die Zivilprozeßpartei auch der Verlust ihrer bisherigen Berufsstellung und ihres sozialen Ansehens auf dem Spiel; so wenn dem Chefarzt eines Krankenhauses wegen (angeblicher) fachlicher Kunstfehler von seinem Arbeitgeber gekündigt wird und er sich im Prozeß gegen die seiner Berufsehre abträglichen Behauptungen zur Wehr setzt. Bei derartig schwerwiegenden Zivilklagen, in denen das Gewicht des gegen den Betroffenen erhobenen Vorwurfs der im Strafverfahren vorliegenden Situation nichts nachgibt, wird für den Nachweis der Belastungsmomente die gleiche Beweismenge zu verlangen sein, wie sie in Strafsachen nötig ist.

Einfluß der allgemeinen Lebensanschauungen auf das Beweismaß. Nicht nur der Umstand, daß die zu fällende Entscheidung für den Betroffenen von schwersten Folgen bzw. nur von ganz geringer Bedeutung ist, übt einen Einfluß auf den Beweismaßstab. Dieser kann vielmehr auch durch andere Faktoren modifiziert werden; so etwa durch die Tatsache, daß in einem Volk besondere Grundauffassungen Geltung haben, auf denen die gesamte staatliche Ordnung beruht und die auch das Prozeßrecht berücksichtigen muß: Bei Ehescheidungsprozessen pflegt man in Ländern mit starker Neigung zur Aufrechterhaltung der Ehe sehr hohe Anforderungen an den Beweis der Scheidungsgründe zu stellen, während in Nationen ohne derartige Tendenzen hinsichtlich der Scheidungstatsachen der normale Beweismaßstab angewandt wird. In den unter angelsächsischem Recht stehenden Gebieten legt man z. B., soweit der puritanische Einfluß reicht, beim Nachweis von Scheidungsgründen ein ebenso strenges Maß "Fragen des Beweisrechts im Strafprozeß" (1957) S. 18. A. v. Overbeck, "Beweisrecht und materielles Strafrecht" in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht Bd. 33 (1920) S. 235; A. HeHwig, "Wahrheit und Wahrscheinlichkeit im Strafverfahren": Gerichtssaal Bd. 88 (1922) S. 428. 38 39

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zugrunde wie im Strafrecht beim Überführungsbeweis, obwohl der Eherechtsstreit in das zivilprozessuale Gebiet hineingehört, in dem sonst lediglich der Normalmaßstab gilt. Man verlangt demgemäß, daß beim Nachweis von Scheidungsgründen jeder Zweifel, der noch als vernünftig angesehen werden kann (reasonable doubt), ausgeschlossen ist. Nach anglo-amerikanischer Auffassung ist in solchen Fällen mithin der schärfste Beweismaßstab zugrunde zu legen, der in Rechtssachen überhaupt in Betracht kommt40 • Solche Abweichungen vom üblichen Beweismaß können hingenommen werden, wenn dabei allgemeine Überzeugungen zugrunde liegen, die in der betreffenden Gegend uneingeschränkte Anerkennung genießen. Jedoch ist große Zurückhaltung gegenüber solchen Korrekturen des Beweismaßstabs geboten, wenn diese Grundauffassungen selbst kontrovers sind oder vielleicht gar lediglich vom Beurteiler und einer kleineren Gruppe Gleichgesinnter gutgeheißen werden.

Modifikationen der erforderlichen Beweismenge in Krisenzeiten. Auch die besondere Zeitsituation kann in gewisser Weise auf eine Erhöhung oder Herabsetzung der für den vollen Beweis erforderlichen Beweismenge hinwirken. Wenn bestimmte Vergehen plötzlich so häufig auftreten, daß sie die öffentliche Ordnung gänzlich zu untergraben drohen, dann liegt es nahe, daß die Gerichte, um dem Übel Einhalt zu gebieten, keinen Vorstoß dieser Art ungesühnt lassen wollen. Sie suchen es möglichst zu vermeiden, daß ein Schuldiger infolge allzu strenger Beweisgrundsätze frei ausgeht und kommen dabei in Versuchung, die Anforderungen an den vollen Beweis über Gebühr zu vermindern41 • Ein Beispiel dafür bildete nach dem ersten Weltkrieg die deutsche Rechtsprechung zu den Bestimmungen über Schleichhandel, Höchstpreisüberschreitung und Preistreiberei. Die Richter in den für solche Strafsachen geschaffenen sog. Wuchergerichten waren damals großenteils der Ansicht, daß sie dem Gesetz auf diesem Spezialgebiet nur dann hinreichend Geltung würden verschaffen können, wenn zum Nachweis bestimmter tatsächlicher Voraussetzungen für die Verurteilung bereits eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades als genügend angesehen wurde, und haben sich vielfach entsprechend eingestellt42 •

Fragwürdigkeit solcher Veränderungen des Beweismaßstabs. Bei allen derartigen Modifikationen der für den vollen Beweis nötigen 40 Neuerdings macht sich zwar in einem Teil des englischen Schrifttums eine gewisse Milderungstendenz geltend; doch steht keineswegs fest, daß sie sich durchsetzen wird (Coven and Carter S. 249 ff.). 41 E. Zürcher: Festgabe für Heinr. Zangger (1935) !.382. 42 A. HeHwig, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit: Gerichtssaal Bd. 88 S. 429.

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Beweismenge handelt es sich - trotz der dabei verfolgten guten Absicht- um ein Eindringen von Erwägungen in die Wahrheitsfindung, die mit dieser nichts zu tun haben und daher für sie stets eine Gefahr darstellen. 1. Es muß in solchen Fällen jeweils geprüft werden, ob die beabsichtigte Milderung oder Schärfung des Beweismaßes mit den Grundsätzen einer korrekten Tatsachenforschung vereinbar ist. Gerechtfertigt kann eine Herabsetzung der Beweisanforderungen für bestimmte Kategorien von Rechtssachen sein, wenn sich einwandfrei ergibt, daß der bisherige Maßstab zu streng war und infolgedessen die innerhalb eines engeren Bereichs für richtig gehaltene Minderung des Beweisquantums die an die Verläßlichkeit des Ergebnisses zu stellenden Ansprüche nicht unterschreitet. Ferner kann umgekehrt eine Erhöhung der Beweisanforderungen für gewisse Gruppen von Rechtssachen zulässig sein, wenn der bisherige allgemeine Maßstab sich, wie Fehler bei der Sachaufklärung zeigen, als zu milde erwiesen hat und die geplante Verschärfung des Beweismaßes vom Standpunkt einer exakten Wahrheitstindung als notwendig anzusehen ist.

2. Meistens erscheint jedoch die Erhöhung oder Herabsetzung der Beweismenge für bestimmte Gruppen von Fällen bedenklich. Vor allem sollte sie nicht vorgenommen werden, um eine sonst nicht erreichbare Tatsachenfeststellung zustande zu bringen, mit deren Hilfe der Sachbearbeiter zu der von ihm für richtig gehaltenen rechtlichen Lösung kommen will. Es wird dann trotz zweifelhafter Sachlage (eben des juristischen Ergebnisses wegen) eine bestimmte Tatsachenfeststellung angestrebt, obwohl keine Beweismaterialien hinzugekommen sind, die dem Wahrheitsforscher diese Feststellung erleichtern könnten. Dadurch werden normative Erwägungen in die Tatsachenforschung hineingetragen, die dort keinen Einfluß haben sollen. 3. Neigungen dieser Art sind nicht nur bei den Berufsrichtern zu beobachten. Sie treten vielmehr auch bei Laienrichtern hervor, und zwar selbst dann, wenn diese lediglich über den Sachverhalt zu befinden und mit der rechtlichen Erwägung als solcher genaugenommen nichts zu tun haben. Im anglo-amerikanischen Rechtskreis ist mehrfach darauf hingewiesen worden, daß die Geschworenen in Kapitalprozessen bei ihrer Stellungnahme zur Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten sich zuweilen von der Überlegung leiten lassen, welche Strafe voraussichtlich vom Gericht verhängt werden wird, falls sie sich zur Bejahung der Schuldfrage entschließen würden. Erscheint ihnen die zu erwartende Strafe als allzu hart, so kommen sie auch dort, wo über die Täterschaft des Angeklagten kein Zweifel sein kann, mitunter in Versuchung, den Beweismaßstab ungeachtet aller amtlichen Belehrungen,

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die das verhindern wollen, so zu verschärfen, daß der Beweis als nicht erbracht anzusehen ist und damit eine Verurteilung des Angeklagten überhaupt verhindert wird. Je unangemessener die voraussichtliche Strafe erscheint, die der Angeklagte bei Bejahung der Schuldfrage zu erwarten hat, desto mehr werden die Geschworenen in dieser Hinsicht nach Zweifeln und Bedenklichkeiten suchen, mag auch die Sache noch so klar sein. 4. Im Zivilprozeß machen sich (sowohl bei Berufs- als auch bei Laienrichtern) gelegentlich ähnliche Tendenzen geltend, wenn die erstrebte rechtliche Lösung Tatsachenfeststellungen voraussetzt, die bei Anlegung des regulären Beweismaßstabs nicht zu erreichen sind. Beispiel: Der Privatversicherte klagt nach Eintritt des Schadens gegen die Versicherung die Schadenssumme ein. Das Gericht hat dabei zu klären, ob bestimmte von der beklagten Versicherungsgesellschaft zu beweisende Behauptungen zutreffen. Wenn dann nur aus der Erwägung heraus, daß der Versicherungskonzern einen Prozeßverlust eher verschmerzen könne als der Versicherte, das Beweismaß für die gegen den Klaganspruch erhobenen Einwendungen über das Normalmaß hinaus verschärft wird, um dem schutzbedürftigeren Versicherungsnehmer zum Siege zu verhelfen, so würde darin ein nicht gutzuheißender übergriff normativer Erwägungen auf die Tatsachenfeststellung liegen. Besonders verlockend pflegt ein solches Vorgehen zu sein, wenn bei gewissen Arten von Klagen r e g e 1m ä ß i g der wirtschaftlich schwachen Prozeßpartei ein mächtiger und kapitalkräftiger Gegner gegenübersteht. Dann kann es dazu kommen, daß die Veränderung des Beweismaßes zugunsten der schutzbedürftigen Partei nicht mehr ein gelegentlich benutztes Aushilfsmittel darstellt, sondern zu einem allgemeinen, fest in die Rechtsprechung eingebauten Behelf wird43 • Beweismaßstab bei schwierigen Sachklärungen

Notwendigkeit der vollen Sicherheit auch in solchen Fällen. Bei Nachweisen, die stets mit beträchtlichen Erschwerungen verbunden sind, bedarf die Art, wie ein hinreichend verläßlicher Beweis zustande kommt, noch einer besonderen Betrachtung. Zeugen, Urkunden und andere klassische Beweismittel stehen hier oft nicht zur Verfügung. Der Beurteiler ist vielmehr unter Umständen lediglich auf Indizien angewiesen, und zwar nicht selten auf solche von mehr andeutender als unmittelbar anzeigender Natur. Das Beweismaß muß dann mit Sorgfalt erwogen werden. Oberster Grundsatz bleibt dabei trotz der nicht sonderlich günstigen Beweissitua43 Bei der Prüfung, ob das Gericht in dem von ihm entschiedenen Einzelfall von einem gemilderten oder verschärften Beweismaßstab ausgegangen ist, sollte übrigens vorsichtig zu Werke gegangen werden. Nicht selten stellt sich auf Grund genauerer Betrachtung heraus, daß die zunächst vermutete Abweichung vom Normalmaßstab nicht gegeben ist.

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tion die Wahrung der vollen Verläßlichkeit. Andererseits darf das Verlangen nach höchster Sicherheit nicht in offenbare Unvernunft ausarten. Vielmehr hat sich der Beurteiler mit einem für das praktische Leben unbedenklich ausreichenden Beweismaß zu begnügen. Es wäre nicht gerechtfertigt, wenn er in doktrinärer Weise aus einer Art von Wahrheitsfanatismus heraus Anforderungen stellen wollte, die das Gelingen des Beweises in den weitaus meisten Fällen verhindern würden. Ein ständiges Versagen der Beweisforschung bei Sachklärungen, mit denen die Gerichte täglich und stündlich zu tun haben, würde eine wirksame Einflußnahme der Rechtsprechung auf das Leben und die soziale Ordnung unmöglich machen und damit zu Auswirkungen führen, die kein geordnetes Staatswesen auf sich nehmen kann. Es ist vielmehr wünschenswert, daß auch bei Beweisführungen, die ihrer Art nach fast stets Schwierigkeiten zu bieten pflegen, wenigstens in günstiger liegenden Fällen einige Aussicht auf ein positives Ergebnis besteht. Freilich darf das Streben nach positiven Feststellungen nicht so weit gehen, daß man darüber vom Erfordernis der vollen Sicherheit Abstand nimmt. Der Sachbearbeiter ist genötigt, auf beide Gesichtspunkte angemessen Rücksicht zu nehmen und sich mit ihnen so abzufinden, daß er dabei auf die Zustimmung aller Einsichtigen rechnen kann.

Modifikation des Beweisquantums durch Gesetz oder Rechtsprechung. Gerechtfertigt ist eine Milderung oder Verschärfung der Beweisanforderungen für gewisse Arten von Sachklärungen, 1. wenn das Gesetz sie anordnet oder 2. wenn die Gerichte sie unter Berufung auf anerkennenswerte Prinzipien in ständiger Rechtsprechung für notwendig erklärt haben. Eine vom Ge s e t z verfügte Herabsetzung der Beweisanforderungen hat die deutsche Zivilprozeßordnung z. B. dort vorgenommen, wo zu klären ist, wie sich ein bestimmtes Schadensereignis in späteren Jahren auswirken wird. Den Gerichten wird bei Feststellung der Schadenshöhe in solchen Fällen keine sichere Prognose zur Pflicht gemacht, die meist gar nicht möglich sein würde. Vielmehr darf der Richter sich mit einer Vorschau begnügen, wie sieangesichtsder Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnismittel erreichbar ist44 • Eine Minderung des Beweismaßstabs hat das Gesetz zuweilen auch dort beabsichtigt, wo es unter gewissen Voraussetzungen eine Vermutung tatsächlicher Art aufstellt45 • § 287 ZPO und die Kommentare dazu. Das ist z. B. im § 180 des Bundesentschädigungsgesetzes vom 29. 6. 1956 geschehen, der den Todesnachweis bei Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung erleichtern und dadurch dem Ersatzberechtigten den Weg zur Durch44

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Eine durch die Rechts p r e c h u n g eingeführte, legitime Reduktion des zur Tatsachenfeststellung nötigen Beweisquantums ist in Deutschland und mehr oder minder offen auch in zahlreichen anderen Ländern im Sozialversicherungsrecht zu verzeichnen. Der innere Grund für diese Verschiebung des Beweismaßstabs liegt vor allem darin, daß in Rentenprozessen der Rechtsanspruch des Sozialversicherten wegen der z. T. schwierigen tatsächlichen Feststellungen allzu oft an Beweisschwierigkeiten scheitern würde, wenn man stets die normale Beweismenge verlangen wollte. Dadurch würde aber der Zweck der großen sozialrechtlichen Gesetzeswerke in Frage gestellt werden. Die Rechtsprechung hat es daher beim Nachweis der Voraussetzungen, von denen der Rentenanspruch des Sozialversicherten abhängig ist, teilweise bei verminderten Anforderungen bewenden lassen, insbesondere soweit es sich um die Feststellung des Kausalzusammenhangs und andere schwierig zu klärende Beweisfragen handelt 46 • Es wird dabei ähnlich wie man im Strafverfahren den Beschuldigten durch erhöhte Anforderungen an den Schuldbeweis schützt, der Sozialversicherte bei Verfolgung seines Rentenanspruchs durch eine Verminderung des Beweismaßes begünstigt. Eine ähnliche Tendenz macht sich aus den gleichen Gründen auch im Kriegsversorgungsrecht geltend.

Typische Beweisschwierigkeiten, auf die das Gesetz keine Rücksicht nimmt. Hat der Gesetzgeber die Bestrafung des Beschuldigten oder den Eintritt anderer Rechtsfolgen von schwer zu klärenden Voraussetzungen abhängig gemacht, ohne dabei den Gerichten mit Sondervorschriften zu Hilfe zu kommen, so wird im allgemeinen anzunehmen sein, daß die sich ergebenden Feststellungsschwierigkeiten von ihm erwogen und- mit Recht - als bezwingbar angesehen worden sind. Man sollte dann nicht sofort "Beweiserleichterungen" für notwendig halten, von denen im Schrifttum in diesem Zusammenhang ohnehin viel zuviel die Rede ist. setzung seiner Ansprüche ebnen will. Die Vorschrift lautet: "Hat ein Verfolgter seinen letzten bekannten Aufenthalt in Gebieten, die am 31. 12. 1937 zum Deutschen Reich gehört haben, ... gehabt und ist sein Aufenthalt seit dem 8. 5. 1945 unbekannt, so wird vermutet, daß er am 8. 5. 1945 verstorben ist, es sei denn, daß ... ". 46 Die Obergerichte pflegen sich auch hier des Wahrscheinlichkeitsbegriffs zu bedienen. Sie sprechen meist davon, daß in solchen Fällen nicht eine höchste oder sehr hohe Wahrscheinlichkeit nötig sei, sondern daß der Richter sich mit hoher Wahrscheinlichkeit und beim Nachweis des Kausalzusammenhangs geg.ebenenfalls auch mit einer (stark) überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu begnügen habe: Urteil des Reichsversicherungsamts v. 30. 10. 1925 (Entscheid. u. Mitteil. des RVA Bd. 18, 1926 S. 188); Urteil des Bundessoziaigerichts v. 31. 8. 1956: Sozialrecht, zu SGG § 128 Nr. 15; s. jetzt auch Bundesversorgungsgesetz v. 20. 12. 1950 § 1 Abs. 3. Für die Schweiz: Edwin Waldvogel, Das Beweisrecht im eidgenössischen Versicherungsprozeß, Diss. Zürich 1928 s. 50.

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Statt dessen muß in erster Linie versucht werden, die einer exakten Erforschung entgegenstehenden Hindernisse durch desto intensivere Bemühungen um die Sachklärung aus dem Wege zu räumen. Nicht selten kann mit Hilfe von Ermittlungsmethoden, die der besonderen Eigenart des Beweisthemas angepaßt sind, ein Aufklärungserfolg erreicht und so verhindert werden, daß die Ordnungsaufgabe der Gerichte durch ein allzu häufiges Fiasko der Beweisanstrengungen illusorisch wird. Denkbar ist allerdings auch, daß der Gesetzgeber die Beweisschwierigkeiten nicht voll gewürdigt und infolgedessen zu wenig berücksichtigt hat. Es kann geschehen, daß die von ihm bezeichneten Bedingungen für den Eintritt der Rechtsfolge kaum jemals mit einem Sicherheitsgrad festzustellen sind, den man mit gutem Gewissen als hinreichend verläßlich ansehen könnte. Ein Beleg dafür sind die in § 42 e des deutschen Strafgesetzbuchs normierten Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsverwahrung. Dort wird die Verhängung dieser einschneidenden Maßnahme von der Feststellung abhängig gemacht, daß der angeklagte Gewohnheitsverbrecher auch nach Verbüßung der von ihm verwirkten beträchtlichen Freiheitsstrafe nicht gebessert sein, sondern wiederum straffällig werden wird. Das Gericht muß sich also bei der Verurteilung vorausschauend eine feste Auffassung darüber bilden, wie der Angeklagte sich etliche Jahre später im sozialen Leben verhalten und ob er dann noch für die öffentliche Sicherheit eine Gefahr darstellen wird. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß volle Sicherheit bei einer solchen Voraussage kaum jemals zu erreichen ist47 • Handelt es sich bei der im Gesetz enthaltenen Zumutung kaum erfüllbarer Feststellungsaufgaben um einen Ausnahmefall, so wird die Rechtsprechung versuchen müssen, durch verstärkte Bemühungen um eine Klärung der maßgeblichen Gesichtspunkte aus der gesetzlichen Regelung das beste zu machen48 • Kommt es dagegen häufiger vor, daß der Gesetzgeber die Größe der Beweisschwierigkeiten offenbar verkennt oder trotz vorhandener Kenntnis desinteressiert und allzu sorglos darauf vertraut hat, daß die Rec..1.tspflegeorgane sich mit der Unmöglichkeit hinreichend sicherer Feststellungen schon irgendwie abfinden werden, dann sind die Gerichte unter Umständen genötigt, durch ein immer wieder ausgesprochenes Non liquet dem Gesetzgeber die Unlösbarkeit der ihnen zugewiesenen Aufgabe vor Augen zu führen. Leichten Herzens wird sich sicher kein Richter zu einem solchen Vorgehen 47 Wetzet, Strafrecht (7) S. 232; Jagusch im Leipziger Kommentar zum StGB (8) S. 182, 194 sagt, wenn man völlige Gewißheit verlangen wollte, würde die ganze Institution der Sicherungsverwahrung an Beweisschwierigkeiten scheitern. 18 So mit Recht Bruns, Juristenzeitung 1958 S. 648.

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entschließen; gleichwohl kann dies im allgemeinen Interesse notwendig sein. Denn wenn der Gesetzgeber den Wahrheitsforscher Tag für Tag unter Nichtachtung der Schwierigkeiten vor nicht zu bewältigende Beweisprobleme stellt, muß der Praxis das Gefühl für die genaue Einhaltung der Verläßlichkeitsgrenze nach und nach verlorengehen. Es kann dann nicht ausbleiben, daß den Gerichten das Sichzufriedengeben mit einer geringeren Verläßlichkeitsstufe als der vollen Sicherheit so zur zweiten Natur wird, daß darüber der Sinn für korrekte Tatsachenarbeit überhaupt dahinschwindet. Beweiserleichterung in bestimmten Sonderfällen? Allgemeines. Zu den Beweisführungen, die regelmäßig gewisse Erschwerungen mit sich bringen, rechnet man meist den Beweis des Kausalzusammenhangs, ferner die Klärung psychischer Sachverhalte, den Beweis negativer Tatsachen, die Feststellung zukünftiger Fakten und hypothetischer Geschehenszusammenhänge~ 9 • Zweifellos bereiten derartige Beweisvorhaben dem Bearbeiter oftmals einiges Kopfzerbrechen, doch sind die Hindernisse häufig keineswegs unüberwindlich. Ursächlicher Zusammenhang. Die Feststellung des Kausalnexus ist vielfach als die heikelste Aufgabe des Wahrheitsforschers bezeichnet worden. Aber eine Sonderstellung nimmt sie gegenüber den anderen, typischerweise schwierigen Beweisführungen im Grunde nicht ein 50 • Von einem allgemeinen Beweisnotstand kann insoweit nicht gesprochen werden.

Gewiß muß bei Klarstellung der Tatsachen, die das Fundament für den Kausalschluß bilden sollen, auf Belege von solcher Handgreiflichkeit verzichtet werden, wie sie oft bei Ereignissen vorliegen, die sich im physischen Bereich vollzogen haben. Der Sachbearbeiter hat hier ausschließlich mit Indizien zu arbeiten; aber das ist auch bei vielen anderen Beweisvorhaben der Fall. Die Anwendung des Erfahrungswissens, mit dessen Hilfe der Kausalitätsschluß gezogen wird, bereitet häufig ebenfalls keine sonderlichen Schwierigkeiten. Die weit verbreitete Auffassung, daß beim Nachweis des ursächlichen Zusammenhangs regelmäßig Beweiserleichterungen notwendig seien51 , trifft daher in dieser Allgemeinheit nicht zu. 49 Vgl. darüber bereits S. 404 (Kausalzusammenhang), S. 419 (psychische Tatsachen), S. 130 (hypothetische Vorgänge). 50 Im Ergebnis ebenso Eb. Schmidt, Lehrkommentar 1.159 f. 51 Niethammer, Deutsche Richterzeitung 1934 S. 6 ff.; Löwe-Rosenberg (20) zu§ 261 StPO Anm. 5; 21. Auft. jetzt wie oben.

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Beträchtliche Nachweisschwierigkeiten können allerdings auftreten, wenn die Kausalität bestimmter Unterlassungen für den Erfolg zu prüfen ist; so wenn der Beschuldigte zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet war und geklärt werden soll, ob dadurch, daß er sie unterließ, der Schadenserfolg verursacht worden ist. Vielfach steht fest, daß der Beschuldigte eine bestimmte Handlung pflichtwidrig unterlassen hat, während die Feststellung, daß der Schaden durch Vornahme dieser Handlung hätte abgewandt werden können, sich nicht mit gleicher Leichtigkeit treffen läßt. Manchmal liegt dies daran, daß das einschlägige Erfahrungswissen nicht zureicht. Manchmal ist der vorhandene Beobachtungsstoff zwar reichhaltig und im wesentlichen auch eindeutig; gleichwohl macht die Frage des ursächlichen Zusammenhangs möglicherweise Schwierigkeiten. Das kann unter anderem beim Arbeiten am lebenden Material vorkommen; so etwa wenn der Arzt pflichtwidrig gewisse schadenverhütende Vorkehrungen unterlassen hat und geklärt werden soll, ob der eingetretene Schaden durch Anwendung dieser Gegenmaßnahmen vermieden worden wäre. Nicht nur in Strafsachen, sondern auch im Zivilprozeß können Zweifel dieser Art auftreten. Soweit es sich in Zivilsachen um sog. typische Geschehensabläufe handelt, die einen bestimmten Kausalzusammenhang besonders nabelegen, kann der Wahrheitsforscher auf Grund der Regeln über den Primafade-Beweis oft verhältnismäßig rasch zu einem verläßlichen Ergebnis kommen. Die Grundsätze des Prima-fade-Beweises gestatten ihm, falls gewisse Umstände stark auf eine bestimmte kausale Verknüpfung hindeuten, diesen Ursachenzusammenhang als erwiesen anzusehen. Darin liegt zweifellos eine Vereinfachung des Nachweisverfahrens. Aber eine Herabsetzung des allgemeinen Beweismaßstabs ist damit nicht verbunden. Vielmehr sind die Anforderungen an die Sicherheit keine geringeren als anderswo. Der Prima-fade-Beweis will vielmehr gerade ohne Verminderung des Beweisquantums durch Sonderregeln, die der jeweiligen Aufklärungssituation angepaßt sind, eine sichere Erfassung der Wirklichkeit gewährleisten.

Negative Tatsachen. Die Ansicht, daß der Beweis einer Tatsachenverneinung stets erhebliche Erschwerungen mit sich bringt, bedarf ebenfalls der Berichtigung. Oft sind die Chancen für ein Zustandekommen der vollen Sicherheit hier nicht schlechter als beim Beweis von positiven Tatsachen. Eine allgemeine Beweiserleichterung für diese Fälle, wie sie im Schrifttum mitunter gefordert wird, erscheint daher nicht gerechtfertigt52 • 52 Moore spricht (§ 43) ganz ohne Einschränkung davon, daß negative Tatsachen nicht so akkurat dargetan werden könnten und daher nicht so genau bewiesen zu werden brauchten wie positive. Aus dem neueren Schrifttum ist vor allem zu vergleichen Christ. v. Greyerz, Der Beweis negativer Tatsachen, Bern 1963.

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Manchmalläßt sich eine negative Feststellung (z. B. die, daß die Zeugin A nicht vergewaltigt worden ist) dadurch sicher dartun, daß Umstände erwiesen werden, die mit der entsprechenden positiven Tatsache (der Vergewaltigung) nicht vereinbar sein würden; ein solcher Umstand kann die durch ärztliche Untersuchung der Zeugin festgestellte Unversehrtheit der Jungfernhaut sein53 • Wenn der Beschuldigte behauptet, daß er eine bestimmte Einzelheit, die zum gesetzlichen Tatbestand des ihm zur Last gelegten Delikts gehört, nicht gekannt habe, so läßt sich die Richtigkeit dieser Angabe möglicherweise an Hand seines früheren Verhaltens, das seine Unkenntnis deutlich zeigt, klarstellen. Der Beurteiler ist in solchen Fällen keineswegs schlechthin auf bloße Wahrscheinlichkeitsberechnungen angewiesen. Wo keine so günstigen Aufklärungsmöglichkeiten gegeben sind, kann gleichwohl die Bejahung des Umstandes, daß dem Beschuldigten eine bestimmte Einzelheit unbekannt gewesen ist, durch die Erfahrung sehr nahegelegt werden. Manchmal spricht die Gesamtsituation so stark für das Fehlen der Kenntnis, daß auch der gewissenhafte Beurteiler auf Grund dessen zu einer entsprechenden Feststellung kommen kann. Zuweilen wird eine Tatsachen-Negation noch durch Erwägungen spezieller Art so beglaubigt, daß auf diese Weise der volle Beweis zustande kommt: Daß der A noch nie mit Wechseln gearbeitet hat; daß der B nicht weiß, was ein Konnossement ist; daß der C als Zeichenlehrer nichts vom Brunnenbau versteht; daß der Korsettfabrikant D noch nie mit der Spirituosen-Firma Kantorowicz Handelsgeschäfte getätigt hat, kann sich im Einzelfall aus den Umständen mit großer Sicherheit ergeben. Relativ günstig sind die Aussichten dafür, daß der Beweis einer Negative gelingt, wenn der Vorgang, von dem behauptet wird, daß er nicht geschehen sein soll, nur bei einer bestimmten, zeitlich und örtlich genau festliegenden Gelegenheit passiert sein könnte und diese sich beweismäßig gut übersehen läßt. Größere Schwierigkeiten können sich jedoch ergeben, wenn die Negation sich auf eine unbestimmte Zahl von Anlässen bezieht, bei denen die fragliche Tatsache sich verwirklicht haben könnte und ein genauer Überblick über alle diese Gelegenheiten nur schwer möglich ist. An solche Fälle wird in der Regel gedacht, wenn man von den typischen Erschwerungen spricht, die sich beim Nachweis negativer Umstände einstellen. Aber selbst hier kann der volle Beweis zuweilen verhältnis53 Darüber, daß dieses Indiz keine absolute Kraft besitzt, vgl. das BGH-Urteil v. 4. 3. 1960 (Monatsschrift für deutsch,es Recht 1960 S. 600).

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mäßig leicht zustande gebracht werden, wenn, falls die verneinte Tatsache sich realisiert hätte, dadurch Wirkungen hervorgerufen worden sein müßten, die einem größeren Personenkreis bemerkbar waren und daher nicht ganz verborgen bleiben konnten.

Vorausschauende Feststellungen. Die vielleicht schwerste Aufgabe des Wahrheitsforschers dürfte in der Klärung noch zu erwartender Entwicklungen bestehen. Da der Mensch nicht in die Zukunft zu sehen vermag, kann es sich dabei stets nur um eine Vorausschau handeln, wie sie unter Zuhilfenahme des Erfahrungswissens auf Grund umsichtiger Benutzung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel zur Zeit möglich ist. Manchmal lassen sich in dieser Hinsicht zuverlässige Feststellungen treffen. Vielfach dagegen wird der Sachbearbeiter nur zu mehr oder minder unsicheren Ergebnissen kommen. In der Mehrzahl der Fälle kann lediglich ein vermutungsweises Endresultat erwartet werden. Wenn eine junge Frau, die bisher in der ihr gehörigen Fleischerei die Kundschaft im Laden bedient und dabei alle anfallenden Arbeiten verrichtet hat, durch vorsätzliche Körperverletzung des A den rechten Arm verliert und geklärt werden muß, wie sich die daraus hervorgehende Behinderung auf ihre Berufstätigkeit auswirken wird, dann ist jedenfalls sicher, daß sie ihre Arbeit künftig nicht mehr in der früheren Weise ausüben kann. Ferner wird in der Regel feststehen, daß eine Umschulung auf einen anderen Beruf nicht in Betracht kommt, weil die Betroffene nicht gewillt ist, unter Aufgabe ihres Geschäfts eine abhängige Stellung ganz anderer Art anzunehmen und ihr dies auch nicht zugemutet werden kann. Weniger sicher läßt sich dagegen voraussehen, ob der Fleischereibetrieb nicht etwa in einigen Jahren an Umfang so zugenommen haben wird, daß im Laden nunmehr eine Vertrauensperson nötig ist, die lediglich die Aufsicht führt und deren Obliegenheiten die Verletzte auch nach dem Verlust des Armes übernehmen könnte. Noch größere Unsicherheit bekommt das Ergebnis, wenn man in einem solchen Fall versuchen wollte, die Auswirkungen der Körperbehinderung auf das gesamte Lebensschicksal der Betroffenen zu taxieren (Minderung der Heiratsaussichten für den Fall, daß der Ehemann vorzeitig sterben sollte usw.). Vberzeugung des Beurteilers

Die bei ihrer Entstehung mitwirkenden Faktoren. Die Wahrheitsforschung ist keine reine Verstandessache. An ihr sind a 11 e seelischen Kräfte beteiligt. Neben der rationalen Denktätigkeit sprechen auch gefühlsmäßige Regungen mit. Der Sachbearbeiter darf sich nicht rein ver-

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standesmäßig an Hand der objektiven Unterlagen seine Meinung bilden, sondern hat bei der endgültigen Beweiswürdigung auch die innere Stimme angemessen zu berücksichtigen. Das ist eins der grundlegenden Prinzipien, auf denen die prozessuale Tatsachenforschung beruht. Insoweit ist der Einfluß emotionaler Kräfte auf die Wahrheitstindung heute (anders als früher) ein völlig legitimer; er wird von der Rechtsordnung dadurch ausdrücklich anerkannt, daß diese nicht allein auf vernunftmäßige Überlegungen des Beurteilers abstellt, sondern auch seiner höchstpersönlichen Überzeugung und den in ihr enthaltenen, verstandesmäßig nicht faßbaren Elementen ein Mitwirkungsrecht einräumt54 •

Roher Wert der persönlichen Gewißheit. Die innere Stimme des Betrachters hat, wenn sie gewissenhaft erprobt worden ist, Anspruch auf Beachtung. Bei verworrenen, schwer zu erhellenden Geschehensabläufen kann sie der ausschlaggebende Faktor für die Endentscheidung werden. Sie bietet Erkenntnismöglichkeiten, die bei lediglich verstandesmäßigem Argumentieren nicht gegeben sind. Erst die innere Zustimmung des Bearbeiters zu der auf Grund des Beweismaterials erfolgten Rekonstruktion des Sachverhalts schafft die erforderliche Sicherheit. Das Vorliegen (bzw. Fehlen) der vollen Überzeugung stellt eine wichtige Sicherung dar. Wenn trotz starker Beweise für eine Tatsachenfeststellung sich das Gefühl der Gewißheit beim Beurteiler nicht einstellen will, dann liegt darin regelmäßig ein Warnungszeichen, das zu erhöhter Aufmerksamkeit anspornen sollte. Man darf die innere Stellungnahme des Sachbearbeiters zum Beweisergebnis nicht etwa deshalb als obskur und verdächtig ansehen, weil sie mit verstandesmäßigen Mitteln häufig nicht erklärbar ist. Vielmehr muß den an der Beweiswürdigung beteiligten subjektiven Regungen ihr Eigenrecht zugestanden werden. Es ist notwendig, sie gegen jene allzu engherzigen Auffassungen in Schutz zu nehmen, die jede Mitwirkung von Gefühlselementen, selbst wenn sie gehörig überprüft worden sind, für bedenklich halten und mit größtem Argwohn betrachten.

Allgemeine Anerkennung der inneren Stellungnahme als Kontrollmittel. Die hohe Wertschätzung der persönlichen Überzeugung ist nicht etwa ein Zufallsergebnis der modernen Rechtsentwicklung. Sie beruht vielmehr auf der erst in neuerer Zeit wiedergewonnenen Einsicht, daß 54 Zu dem ganzen Abschnitt G. Bohne, Psychologie der richterlichen Überzeugungsbildung (1948); A. Wimmer, Überzeugung, Wahrscheinlichkeit und Zweifel: Deutsche Rechtszeitschrüt Jg. 1950 S. 390 ff.; Fr. Mattil: Archiv für Strafrecht Jg. 1954 S. 334 ff.; Fr. Franke, Die irrationalen Elemente der richterlichen Entscheidung: "Das Richteramt", München 1958; ders.: Deutsche Richterzeitung Jg. 1960, S. 434; Eb. Schmidt, Lehrkommentar I S. 158, insbes. Note 47; Löwe-Rosenberg (21) S. 1060 ff.

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durch Abstellen auf das subjektive Gewißheitserlebnis vielfach unrichtige Sachverhaltsfeststellungen vermieden werden können. Die innere Stimme des Beurteilers ist als Überprüfungsmittel heute nicht nur in der kontinentalen Jurisprudenz anerkannt, sondern auch im angloamerikanischen Rechtskreis und in Sowjetrußland, ferner in weiten Gebieten der asiatischen und afrikanischen Völkergemeinschaft. Im einzelnen sind dabei freilich entsprechend der geistigen Struktur der verschiedenen Nationen mannigfache Unterschiede vorhanden. Teilweise wird die Bedeutung, die der inneren Stimme des Beurteilers zukommt, emphatisch und ohne nennenswerte Einschränkungen betont. Das ist vor allem in Frankreich der Fall, nach dessen Vorbild in vielen Staaten durch Einführung der Schwurgerichte eine stärkere Beteiligung des subjektiven Elements an der Wahrheitstindung erreicht worden ist. Teilweise wird dagegen (so z. B. in Sowjetrußland) nachdrücklich hervorgehoben, daß die innere Überzeugung für die Sachverhaltserforschung nur dann von Wert ist, wenn sie auf einem rechtsgültig erlangten und ordnungsmäßig ausgewerteten Beweismaterial beruht55 • Die Oberzeugung als Teil des gesamten Beweisvorgangs. Wenn die Rechtsordnung verlangt, daß die auf den Beweisstoff gegründete Tatsachenfeststellung durch die innere Zustimmung des Beurteilers bestätigt werden muß, so geschieht dies, um die wahrheitweisende Kraft auszunutzen, welche die subjektive Stellungnahme des Beurteilers haben kann. Durch dieses Zusammenwirken von objektiven und subjektiven Momenten bei der Meinungsbildungwirddie Erfassung der Wirklichkeit besser garantiert, als wenn man sich allein auf die rein verstandesmäßige Auswertung von Zeugenaussagen, Urkundenmaterial und Indizien verlassen wollte. 55 Für die französische Auffassung: Code d'instruction criminelle art. 342 und die dazugehörige Literatur; charakteristisch einerseits Maurice Gart;on, La Justice contemporaine (1933) S. 626; andererseits Gorphe S. 471. Für Sowjetrußland Wyschinski, Theorie S. 90 ff., 193; Tschelzow, Der sowjetische Strafprozeß (1958) S. 82 ff.; vgl. auch Poljanski, Die Beweiswürdigung in Strafsachen in: Sowjetstaat und Sowjetrecht Jg. 1951, Heft 7 S. 28 ff. und Golunski, Über die Würdigung der Beweise in: Rechtswissenschaftlicher Informationsdienst, Jg. 1956 S. 374 ff. Für Finnland: 0. Brusiin, Über die Objektivität der Rechtsprechung (Helsinki 1949) S. 39. Im deutschen Schrifttum pflegt man meist allein auf die Überwachungsfunktion der inneren Stimme hinzuweisen, ohne sonderlich zu betonen, daß korrektes Vorgehen bei der Beweisaufnahme und bei der Meinungsbildung eine unerläßliche Vorbedingung für das Zustandekommen einer brauchbaren subjektiven Überzeugung ist; doch wird dieser letzte Gesichtspunkt von Schindler (Staat und Recht, Jg. 1956 S. 203 ff.) und von Piontkowski (das. Jg. 1957 S. 884 ff.) angemessen berücksichtigt.

Überzeugung des Beurteilers

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Schwierigkeiten können sich dabei ergeben, wenn das Beweisergebnis und die persönliche Überzeugung des Beurteilers unerklärlicherweise nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, wenn also e n tweder persönliche Gewißheit hinsichtlich des Vorliegens einer bestimmten Sachgestaltung besteht, obwohl das Beweisfundament noch lückenhaft ist, oder wenn (umgekehrt) trotz Vorhandenseins starker Beweise die entsprechende individuelle Überzeugung sich nicht einstellen will. Ein starker objektiver Befund ohne subjektive Gewißheit ergibt keinen vollen Beweis. Zu dem, was der kritische Verstand erarbeitet hat, muß vielmehr noch das Ja aus der Tiefe der Persönlichkeit hinzukommen56 • Andererseits kann aber auch eine individuelle Überzeugung ohne solide Beweisunterlagen nie einen vollen Beweis ergeben. Solange die innere Gewißheit eines bestimmten Hergangs nicht durch verläßliche Anhaltspunkte beglaubigt ist, stellt sie keine geeignete Grundlage für die Sachverhaltsfeststellung dar 57 •

Form und Inhalt der Oberzeugung. Inhaltlich kann sich die Überzeugung des Bearbeiters immer nur darauf beziehen, daß sich bestimmte, rechtlich bedeutsame Tatumstände verwirklicht oder nicht verwirklicht haben oder darauf, daß sich eine hinreichend sichere Feststellung weder in dem einen noch in dem anderen Sinn treffen läßt" 7•. Die endgültige Auffassung des Beurteilers von der Sache stellt sich in der Regel als ein ganzes Bündel von Einzelüberzeugungen bezüglich aller Punkte dar, auf die es bei dem fraglichen Delikt ankommt: Bei einem Verkehrsunfall bezieht sich die Überzeugung des Betrachters etwa darauf, daß der Beschuldigte zur gedachten Zeit mit seinem PKW die Straße zwischen X und Y befuhr, daß er dabei eine Geschwindigkeit von etwa 90 km/st einhielt, daß er, statt die rechte Straßenseite zu benutzen, die Mitte der Straße befuhr, daß er kurz vor dem Unfall durch Unterhaltung mit dem neben ihm sitzenden Fahrgast abgelenkt worden ist usw., usw.Zu den Einzelumständen, bezüglich deren eine Überzeugungsbildung stattzufinden hat, gehören nicht nur Handlungen von Personen oder psychische Sachverhalte (wie die Willensrichtung des Beschuldigten oder seine Kenntnis von bestimmten Besonderheiten der Sachlage), sondern auch die historische Aufeinanderfolge der Ereignisse, ihre

Ritaer, Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43 (1929) S. 193. So bereits Glaser, Handbuch !.344. 57 " Abgesehen wird hier von der überzeugung, auf Grund deren der Staatsanwalt nach Abschluß der Ermittlungen Anklage erhebt; sie braucht inhaltlich nur dahin zu gehen, daß "zureichende tatsächliche Anhaltspunkte" vorliegen, die den Beschuldigten einer bestimmten strafbaren Handlung verdächtig erscheinen lassen (§ 152 StPO). 56

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30 Dllhring

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ursächliche Verknüpfung und sonstige Momente, die im gesetzlichen Tatbestand enthalten sind. Wenn die erlangte Überzeugung eine positive ist, dann erstreckt sie sich im allgemeinen darauf, daß der Hergang eine bestimmte konkrete Gestaltung gehabt hat. Wenn sie negativer Art ist, geht sie dahin, daß gewisse, für die rechtliche Beurteilung wesentliche Umstände sich nicht verwirklicht haben; z. B. daß der Beschuldigte, dem Diebstahl zur Last gelegt wird, die Sache, welche er an sich nahm, nicht als fremde, einem anderen gehörige erkannt hat. Oftmals kommt eine Überzeugung weder in dem einen noch in dem anderen Sinne zustande, weil sich nicht mit Sicherheit sagen läßt, daß der bestimmte, rechtlich bedeutsame Umstand vorgelegen hat, aber auch nicht festgestellt werden kann, daß er nicht gegeben war. Diese Situation hat der Gesetzgeber kaum im Sinn gehabt, als er bestimmte, daß das Urteil sich stets auf die richterliche Überzeugung zu gründen habe. Wenn man gleichwohl daran festhalten will, daß der gerichtlichen Entscheidung auch in solchen Fällen eine Überzeugung zugrunde liegen müsse, dann könnte diese nur prozessualer Natur sein und sich inhaltlich lediglich darauf erstrecken, daß trotz gewissenhafter Bemühungen weder ein positiver Beweis des rechtlich relevanten Faktums noch die Feststellung zu erreichen sei, daß es nicht vorgelegen hat. Die Überwindung von Zweifeln. Fast in jedem Fall sind zunächst Bedenken hinsichtlich des Sachverhalts vorhanden. Wenn sie sich auf ordnungsmäßige Weise zerstreuen lassen, so wird damit der Weg zur vollen Überzeugung frei. Manchmal vollzieht sich die dabei zu leistende Denkarbeit so rasch und mühelos, daß sie dem Bearbeiter kaum zum Bewußtsein kommt. In komplizierteren Fällen dagegen sind zur Überwindung der Bedenken in der Regel einige Anstrengungen nötig. Daß eine stärkere Aktivität zum Zweck der Zweifelsbeseitigung zulässig ist, kann schwerlich in Abrede gestellt werden. Der Wahrheitsforscher ist nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, in dieser Hinsicht sein Bestes zu tun. Denn das Vorhandensein des Zweifels als solches besagt für die Tatfrage zunächst gar nichts. Er kann nicht nur ein Zeichen für die Gewissenhaftigkeit des Beurteilers sein, sondern genausogut auf ungenügender Durchdenkung der Sache oder auf Verantwortungsscheu beruhen. Gerade Beamte, die alles recht einfach haben und sich nicht anstrengen möchten, machen sich manchmal auf Grund von Zweifeln, die in keiner Weise stichhaltig sind, kurzerhand dahin schlüssig, daß die Sache unaufklärbar sei, obwohl sich bei gründlicher Überlegung sehr wohl eine positive Feststellung hätte treffen lassen.

Überzeugung des Beurtellers

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Fälle, in denen für Zweifel kein Raum ist. Der Bearbeiter hat zu erwägen, ob seine Bedenken nicht etwa Einzelheiten betreffen, die auf Grund der Erfahrung ausnahmsweise so zuverlässig feststehen, daß mit Bezug auf sie keine Gelegenheit für eine individuelle Überzeugungsbildung vorhanden ist. Wenn z. B. der im Prozeß als Kindesvater in Anspruch genommene Beklagte die Blutgruppe 0 (Null) hat, während Mutter und Kind die Blutgruppe AB besitzen, dann ist der Beklagte dadurch als Erzeuger des Kindes auf Grund völlig feststehender Erfahrungsergebnisse mit so großer Sicherheit ausgeschlossen, daß eine abweichende Meinungsbildung des Richters oder des Ermittlungsbeamten nicht mehr in Frage kommt. Der Beurteiler hat sich wissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu fügen, deren völlige Verläßlichkeit allgemein anerkannt ist. In dem genannten Fall handelt es sich (vorausgesetzt, daß die Korrektheit der Blutuntersuchung nicht zweifelhaft erscheint), um ein fachliches Resultat, das für eine abweichende Auffassung keinen Raum mehr läßt. Beachtlichkeit "leiser" Zweifel. Alle sonstigen Bedenken haben dagegen, wenn sie sich nicht überwinden lassen, Anspruch auf Berücksichtigung. Auch Zweifel, die sich dem Betrachter keineswegs aufdrängen, hindern das Zustandekommen der vollen Überzeugung, sofern sie trotz nachhaltiger Bemühungen nicht zum Schwinden zu bringen sind58 • Manchmal geht eine Ungewißheit aus abweichenden Möglichkeiten hervor, deren Realisierung zwar wenig wahrscheinlich ist, mit deren Verwirklichung aber doch gerechnet werden muß. Auch solche Zweifel verdienen Beachtung (im Gegensatz zu denen, die sich an Möglichkeiten ohne jeden Wirklichkeitswert heften, vgl. S. 437). Hat der Beurteiler alles nur Erdenkliche zur Auflösung der Zweifel getan und diese gleichwohl nicht überwinden können, so bleibt ihm nichts übrig, als daraus die Konsequenzen zu ziehen und sich dabei zu bescheiden. Das ist der Zoll, den die Wahrheitstindung an das Leben mit seinen manchmal undurchschaubaren Rätseln zahlen muß. Wenn der Bearbeiter seine Pflicht redlich erfüllt hat, wird er im allgemeinen auch damit rechnen können, daß seine Haltung dienstlich als korrekt und sachgemäß anerkannt wird. Aber selbst wenn er aus irgendwelchen Gründen damit nicht glaubt rechnen zu können, sollte er der Stimme des Gewissens folgen und die gesetzmäßige Amtsausübung nicht zweitoder drittrangigen Rücksichten aufopfern. Mitwirkung des Willens bei der Oberwindung von Bedenken. Man hat- vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus mit Recht - darauf hingewiesen, daß die Zweifelsbeseitigung nur durch einen Willens68

JO•

RG Str. Bd. 66 S. 164; BGH Str. Bd. 10 S. 208 ff.

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Endgültige Beweiswürdigung

entschluß möglich wird 59 • Aber solche Ausführungen können bei Tatsachenforschern, die im Umgang mit dem theoretischen Begriffswerk nicht hinreichend geschult sind, zu Mißverständnissen führen, wenn nicht gleichzeitig hinzugefügt wird, daß die Mitwirkung des Willens bei Auflösung von Bedenklichkeiten rein sachlicher Art zu sein hat und nicht auf ein bestimmtes, vom Gefühl empfohlenes inhaltliches Ergebnis gerichtet sein darf. Eine ungestüme Willensbetätigung, die zu einem durch die Beweislage nicht gerechtfertigten Endresultat kommen möchte und zu diesem Zweck die vorhandenen Zweifel mehr oder minder willkürlich zum Schweigen bringt, wäre ganz und gar unzulässig. Manchmal steht der Beurteiler dem Ergebnis der Sachaufklärung als solchem zwar gleichgültig gegenüber; er möchte jedoch zu irgendeiner positiven Feststellung kommen, um ein als unerwünscht empfundenes Non liquet zu vermeiden60. Aber auch dabei sind Vorsicht und Zurückhaltung am Platze.Der Umstand, daß sich die innere Gewißheit erst nach längerem Schwanken oder gar nach hartem Kampf einstellt, kann, sofern der Bearbeiter dabei den Dingen nicht etwa Gewalt angetan hat, den Wert der schließlich erlangten vollen Überzeugung nicht beeinträchtigen. Oft vermag gerade eine intensive Auseinandersetzung mit den Unsicherheitsmomentenden Weg zu einem verläßlichen Ergebnis zu ebnen. Vielfach kann überhaupt nur auf diese Weise eine sichere Tatsachenfeststellung erreicht werden. Begriff der vollen Überzeugung. Wenn im Prozeß geklärt werden soll, ob der X die Tat beging und der Beurteiler die persönliche Gewißheit erlangt hat, daß das zu bejahen ist, dann stellt diese seine individuelle Überzeugung sozusagen das subjektive Gegenstück zu der vorher erfolgten verstandesmäßigen Durchdenkung der Beweisunterlagen dar. Volle Überzeugung ist ein Fürwahrhalten bestimmter tatsächlicher Umstände, das durch keine Vorbehalte abgeschwächt wird. Der Beurteiler muß die Tatsachenannahme, auf die sich seine Überzeugung bezieht, als Notwendigkeit empfinden. Nur wenn ihm die Tatfrage bei Abschluß der Überlegungen in keiner Hinsicht mehr zweifelhaft erscheint, ist volle Überzeugung gegeben 61 • 59 Eindringende Darlegungen dazu bei Bohne, Überzeugungsbildung S. 76 ff., ferner bei Scheuerte, Rechtsanwendung S. 39, 59, 94. Aus dem älteren Schrifttum sind vor allem zu nennen Mezger S. 159 ff. und Rumpf, Strafrichter 1.190 ff., der jedoch leicht mißverstanden werden kann, wenn er sagt, der Wahrheitsforscher habe mit Hilfe des Willensmoments allzu fernliegende Zweifel resolut abzuschneiden. 6° König (-Reinhardt), Richter und Rechtsfindung, (1957) S. 36 f. 61 Joh. Meile, Die Beweislehre des kanonischen Prozesses (1925) S. 150; Schaper im Archiv für Strafrecht Bd. 12 (1864) S. 444; Rittler, Schweizerische

Überzeugung des Beurteilers

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Hat das Ringen um die Wahrheit im Einzelfall zu einer intensiven geistigen Auseinandersetzung geführt, so kündigt sich das Zustandekommen der vollen Überzeugung dadurch an, daß das Hin und Her, wie es bei einem heftigen Kampf der Argumente entsteht, abklingt. Das Eintreten dieser Beruhigung kann, besonders in schwierigen Fällen, etwas Befreiendes und mitunter geradezu Erhebendes haben.

Ungewißheit, ob volle Oberzeugung vorliegt. Manchmal meint der Beurteiler bezüglich der Täterschaft des Beschuldigten oder hinsichtlich der Schuldvoraussetzungen hinreichende Klarheit zu besitzen, während in Wirklichkeit volle Überzeugung bei ihm nicht vorliegt. Unter Umständen lassen die schriftlichen Urteilsgründe erkennen, daß die Richter ihre Zweifel nicht eigentlich überwunden, sondern, ohne sie regelrecht zu zerstreuen, sich über sie hinweggesetzt haben. Wenn die Feststellung der Täterschaft beim Bearbeiter noch Unbehagen hervorruft und dieses trotz sorgfältiger Erwägung nicht zum Schwinden zu bringen ist, fehlt es bei ihm an der vollen subjektiven Gewißheit. Solange ein Beurteiler, der einerseits zu zweifeln gelernt hat und andererseits keineswegs dazu neigt, unbegründeten Bedenklichkeiten Raum zu geben, sich noch fragt, ob er wirklich überzeugt sei, liegt die zur vollen Überzeugung notwendige Gewißheit nicht vor. Der Bearbeiter sollte dann die Sache wiederholt überdenken und seine Auffassung erneut prüfen, damit Klarheit geschaffen wird, ob die volle Überzeugung sich doch noch erlangen läßt oder ob sie als nicht erreichbar angesehen werden muß. Bindung des Beurteilers an seine endgültige Überzeugung

Das Problem. Solange die Tatsachenfeststellung noch nicht abgeschlossen ist, besteht für den Wahrheitsforscher die Möglichkeit, von seiner im Laufe der Ermittlungen erworbenen Ansicht über den Sachverhalt Abstand zu nehmen. An die ordnungsmäßig erlangte Auffassung jedoch, die er am Schluß der Ermittlungstätigkeit besitzt, hat er sich zu halten 62 • Der Polizeibeamte hat sie seinem Schlußbericht zugrunde zu legen; das Gericht ist ebenfalls genötigt, auf sie seine Entscheidung zu gründen. Zeitschrift für Strafrecht Bd. 43 S. 193 f. Nur eine scheinbare Ausnahme bilden die Fälle, in denen die Rechtsordnung eine alternative Feststellung des Sachverhalts zuläßt (BGH Str. vom 23. 2. 1954 bei Lindenmaier-Möhring § 261 StPO Nr. 16). 62 BGH vom 9. 2. 1957 bei Lindenmaier-Möhring zu § 261 StPO mit Anmerkung von Jagusch.

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Endgültige Beweiswürdigung

Hat der Richter die Überzeugung erlangt, daß der Angeklagte der Täter und der Überführungsbeweis auch im übrigen gelungen ist, so ist er verpflichtet, ihn entsprechend zu verurteilen. Hat der Richter sich dagegen davon überzeugt, daß die zur Verurteilung nötigen Nachweise trotz pflichtmäßiger Bemühung nicht zu erlangen sind, so hat er dies e r Auffassung entsprechend zu entscheiden. Der Sachbearbeiter darf also, wenn bei ihm nach sorgfältiger Würdigung der Beweise die volle subjektive Gewißheit von der Täterschaft und der Schuld des Angeklagten vorhanden ist, diese nicht ignorieren und sich nicht so verhalten, als wenn ihm die Gewißheit fehle 63 • Er darf ferner umgekehrt, wenn keine volle Überzeugung bezüglich der genannten Punkte besteht, nicht so vorgehen, als wenn sie gegeben wäre. Einzelfälle. Der Beurteiler verschweigt manchmal, daß es bei ihm an der vollen Überzeugung mangelt, weil ihm immerhin ein Beweismaterial vorzuliegen scheint, das von anderen Kollegen als völlig zulänglich angesehen werden würde 8'.

Zur Verleugnung des Umstands, daß keine volle Überzeugung bezüglich des der Entscheidung zugrunde gelegten Tathergangs gegeben ist, kann es auch durch das Streben nach einer bestimmten rechtlichen Lösung kommen. Der Bearbeiter geht dann auf Grund von Voreingenommenheiten dazu über, Bedenken gegen das von ihm gewünschte Ergebnis gewaltsam zu verdrängen, statt sie auf korrekte Weise zu überwinden. Zugkräftige Gegengründe werden hinwegdisputiert, weil das Resultat, auf das sie hinführen würden, dem Bearbeiter "gegen den Strich" geht. Er deutelt solange an ihnen herum, bis sie dem erstrebten Ergebnis nicht mehr entgegenzustehen scheinen. Der Beurteiler tröstet sich dann nicht selten mit der von ihm gutgeheißenen Endlösung darüber hinweg, daß ihm hinsichtlich der Tatsachengrundlage die volle Überzeugung fehlt. Ein solches Hinarbeiten auf ein bestimmtes Resultat kann nicht nur durch pflichtwidrige Befangenheit verursacht werden, sondern auch auf durchaus achtbaren Gerechtigkeitsvorstellungen des Beurteilers beruhen, die ihm einen bestimmten Ausgang der Sache als allein annehmbar erscheinen lassen. Dies ändert jedoch nichts daran, daß die Bindung des Wahrheitsforschers an seine endgültige Auffassung vom Sachverhalt nicht außer acht gelassen werden darf. 63

Ditzen, Dreierlei Beweis S. 85.

Eine solche unangebrachte Rücksichtnahme auf die Meinung, welche a n d e r e Beurteiler bezüglich der Tatfrage voraussichtlich haben würden, kam nach Meinung des Bundesgerichtshofes in der durch Urteil vom 21. 5. 1953 entschiedenen Sache in Betracht (BGH Str. Bd. 10 S. 208 ff.). 64

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Man kann meist nicht sagen, daß der Bearbeiter hier wider besseres Wissen handelt. Sofern affektive Beweggründe am Werk sind, die ihn zu der ihm vorschwebenden Endlösung drängen, erscheint ihm auf Grund seiner Befangenheit ein wenig verläßlicher Schuldbeweis unter Umständen als völlig überzeugend und zur Verurteilung durchaus hinlänglich. Aber auch dort, wo keine Voreingenommenheit auf Grund von unsachlichen Motiven vorliegt, wird sich der Betrachter vielfach einzureden versuchen, daß er mit rechtmäßigen Mitteln und zum guten Zweck auf sein vorgefaßtes Ziel lossteuert. Mitunter trifft der Beurteiler umgekehrt, obwohl er voll überzeugt ist, die Tatsachenfeststellung so, als wenn er die letzte innere Gewißheit nicht habe erlangen können. Es werden dann zuweilen sehr fernliegende Bedenklichkeiten über Gebühr kultiviert und irgendwelche Zweifel in unangemessener Weise aufgebauscht bzw. künstlich herausstaffiert, um die positive Feststellung bestimmter Tatumstände zu verhindern.

Zweckerwägungen als Grund für ein Verleugnen der Vberzeugung. Manchmal verfährt der Bearbeiter so, um hinsichtlich der Tatsachenfeststellung mit den oberen Stellen konform zu gehen. Das kann naheliegen, wenn vorauszusehen ist, daß die obere Instanz sich trotz völlig zureichender Beweise nicht ebenso wie der Sachbearbeiter zur vollen Überzeugung durchringen wird. Dieser sollte sich jedoch, wenn er allen berechtigten Zweifeln pflichtmäßig nachgegangen ist und auf Grund dessen die volle Gewißheit erlangt hat, nicht dadurch beirren lassen, daß anderen Beurteilern die Beweisfrage nicht genügend geklärt erscheinen könnte. Wenn die innere Überzeugung des Bearbeiters auf einer gründlichen Erprobung beruht, dann ist sie durchaus mit der Tatsache vereinbar, daß andere Betrachter vielleicht noch Zweifel haben könnten, die sie nicht zu überwinden vermögen85 • Es soll keineswegs der erzieherische Zweck verkannt werden, den die Auffassung der übergeordneten Stellen, also die vermutliche Ansicht der Staatsanwaltschaft für den Ermittlungsbeamten oder die zu erwartende Stellungnahme des Rechtsmittelgerichts für den Unterrichter berechtigter Weise haben kann. Der Bearbeiter darf seine Aufmerksamkeit durchaus auf die voraussichtliche Stellungnahme anderer verantwortungsbewußter Beurteiler zur Tatfrage richten. Er soll das sogar tun; denn nur im Vergleich mit abweichenden Meinungen vermag er die Stichhaltigkeit seiner eigenen Ansicht zu erkunden. Wer seinen Standpunkt mit der Gegenmeinung konfrontiert, kommt häufig zur Be65 Schultz, Der Schuldbeweis in Strafsachen: Leipz. Zeitschrift für deutsches Recht 1930, S. 639; Wimmer, Deutsche Rechtszeitschrift 1950 S. 391 ff.; M. Guldener, Beweiswürdigung S. 7.

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richtigung gewisser Einseitigkeiten und zu einer Würdigung, die der Wahrheit besser gerecht wird als seine ursprüngliche Ansicht. Der Wahrheitsforscher darf sich jedoch nicht allzu bereitwillig die Haltung zu eigen machen, die andere Betrachter zur Tatfrage vermutlich einnehmen werden 66 • Es wäre verfehlt, wenn er seine persönliche Auffassung schon allein deshalb als die unterlegene ansehen wollte, weil sie von der allgemein gebräuchlichen Art der Beurteilung abweicht. Wie oft müssen sich im Leben Wertungs- und Deutungsgewohnheiten, die bei der großen Masse der Sachbearbeiter eingebürgert sind, eine Korrektur durch die Anschauung eines einzelnen gefallen lassen, weil dieser zu einer besser ausgereiften Auffassung und zu einem Sachgemäßeren Ergebnis gelangt ist! Nichts wäre für die Wahrheitsforschung nachteiliger als eine sklavische Angleichung des Beurteilers an das, was als die Meinung des durchschnittlichen Betrachters angesehen werden kann 67 • Kritik der subjektiven Überzeugung Zwei Gruppen von Fehlern. Da die höchstpersönliche Überzeugung sich einerseits auf die vorhandenen Beweise zu stützen hat und andererseits die innere Stellungnahme des Bearbeiters wiedergeben soll, kann sie durch Fehlleistungen aus diesen beiden Bereichen beeinträchtigt sein.

Jede Inkorrektheit bei der Heranschaffung und Auswertung der Beweisunterlagen kann auch die innere Stellungnahme des Beurteilers in eine falsche Richtung lenken. Wenn die Schwäche des Belastungsindizes nicht erkannt wird, so führt dies unter Umständen dahin, daß eine fragwürdige Überzeugung von der Schuld des Verdächtigen zustande kommt. Hat der Bearbeiter die einem Entlastungsindiz entgegenstehenden Bedenken nicht richtig gewürdigt, so stellt sich bei ihm vielleicht der feste Glaube an die Nichterweislichkeit der Schuldvoraussetzungen ein, obwohl der Schuldbeweis durchaus geführt werden konnte. Ebenso kann die Überzeugungsbildung dadurch verfälscht werden, daß einschlägige Erfahrungssätze nicht berücksichtigt oder nicht richtig angewandt worden sind; desgleichen durch Überspannung des Beweismaßes mit der Wirkung, daß ein völlig hinlänglicher Beweis als unzureichend erscheint. Wie solche Fehler vermieden bzw. berichtigt werden Beachtenswerte Einzelausführungen darüber in RG Str. Bd. 68, S. 129. Abgesehen wird dabei von jenen hoffnungslos zweiflerisch veranlagten Naturen, die sich selbst in den sichersten Fällen nicht zu einer positiven Tatsachenfeststellung durchringen können. Sie sind im Grunde zu jeder Art von praktischer Tätigkeit, mithin auch zur prozessualen Wahrheitsforschung untauglich. Wo sie sich in diesem Bereich gleichwohl eine Zeitlang behaupten, sind sie allerdings gezwungen, darauf abzustellen, wie sich in ihrer Lage die Mehrzahl der Kollegen voraussichtlich verhalten würde. 88

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können, ist bereits in den früheren Kapiteln dargelegt worden. An dieser Stelle bedürfen nur noch die Irrtumsmöglichkeiten einer Erörterung, die speziell aus der Mitwirkung des subjektiven Elements bei der Meinungsbildung hervorgehen können. Prüfungspflicht des Beurteilers. Das Gewißheitsempfinden des Betrachters kann erst, wenn es genauer erprobt worden ist, als ein hinlängliches Indiz für die Richtigkeit der entsprechenden Tatsachenannahme angesehen werden. Das Gewißheitserlebnis stellt sich nämlich mitunter auch ein, obwohl die für den fraglichen Punkt vorhandenen Beweise keineswegs zulangen: Der unerfahrene, der gleichgültige, der voreingenommene Betrachter kommt schnell zu einer festen Überzeugung, die, obwohl sie ihm völlig sicher erscheint, der Wirklichkeit vielleicht in keiner Weise gerecht wird. Es wäre daher nicht zu verantworten, wenn man den Beurteiler für befugt halten wollte, der aus seinem Innern kommenden gefühlsmäßigen Stellungnahme blindlings zu vertrauen. Dies würde dazu führen, daß auf Grund der - möglicherweise unrichtigen - Überzeugung des Bearbeiters unbegründete Tatsachenfeststellungen zustande kommen. Durch ein solches Verfahren würde die betroffene Prozeßpartei in nicht zu rechtfertigender Weise benachteiligt und die Wahrheitstindung im ganzen aufs schwerste beeinträchtigt werden. Die Rechtsordnung erkennt daher nicht jedes Ergebnis, das der Beurteiler in seinem Innern (vielleicht ganz zu Unrecht) für sicher hält, ohne weiteres als maßgeblich an. Der Gesetzgeber hat ausschließlich um der Wahrheit willen der persönlichen Überzeugung des Sachbearbeiters einen Einfluß auf die Tatsachenfeststellung eingeräumt. Er kann daher nicht daran denken, dem bloßen Meinen und Dafürhalten des Wahrheitsforschersvöllig freie Hand zu lassen. Daher geht der Staatsanwalt über die persönliche Überzeugung des Ermittlungsbeamten hinweg, wenn sie fehlerhaft zustande gekommen ist oder wenn sie zwar korrekt erarbeitet wurde, aber inhaltlich nicht gerechtfertigt erscheint. Ebenso wird die Überzeugung des Unterrichters vom Obergericht korrigiert; dieses setzt, wenn es als zweite Tatsacheninstanz zu einer abweichenden Auffassung hinsichtlich der Tatfrage kommt, mit großer Selbstverständlichkeit seine eigne Überzeugung an Stelle der des Unterrichterse8 • 88 Gewiß hat der Richter seiner inneren Stimme zu folgen. Er ist bei der Überzeugungsbildung insofern frei, als man von ihm auch bei sehr starker Belastung des Angeklagten nicht verlangen kann, daß sich bei ihm das Gewißheitsempfinden hinsichtlich der Täterschaft des Angeklagten einstellt und er sich demgemäß davon überzeugt, daß der Angeklagte der Täter ist (BGH v. 9. 2. 57: NJW 1957 S. 1039). Aber die Auffassung des Richters, daß die

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Nur für das Revisionsgericht ist die Feststellung des Sachverhalts durch die letzte Tatsacheninstanz bindend. Das beruht jedoch nicht auf der grundsätzlichen Unantastbarkeit der beim Vorderrichter vorhandenen subjektiven Überzeugung, sondern lediglich darauf, daß die Revisionsinstanz (das gehört zu ihren Besonderheiten) die Beweiswürdigung des Tatrichters hinzunehmen und lediglich die Rechtsfragen sowie die Ordnungsmäßigkeit des Verfahrens zu überprüfen hat.Das subjektive Gewißheitserlebnis muß also bestimmten Anforderungen genügen. Es hat nur dann Anspruch auf Beachtung, wenn es einer nachhaltigen Kritik durch den Wahrheitsforscher selbst und durch andere Beurteiler standzuhalten vermag. Welche Möglichkeiten zur Erprobung der inneren Gewißheit sind vorhanden? Man könnte einwenden, daß die persönliche Überzeugung wegen ihres gefühlsbestimmten Charakters jeder Kontrolle entzogen sei. Das war in der Tat um die Mitte des 19. Jahrhunderts die herrschende Ansicht. Doch gehören auch irrationale Regungen immerhin zum Bereich des Erfahrbaren. In anderem Zusammenhang wurde bereits dargelegt, daß sie in beschränktem Umfang überprüft werden können (S. 272). Es gibt auch auf diesem Gebiet Möglichkeiten der Vergewisserung. Die von innen heraus kommende Stellungnahme ist, obwohl sie auf irrationaler Grundlage beruht, in gewissem Grade analysierbar89 • Oft vermag der Wahrheitsforscher, wenn seine persönliche Überzeugung mit dem objektiven Befund nicht übereinstimmt, sich zum mindesten klarzumachen, welcher Art die gefühlsmäßigen Kräfte sind, die den inneren Widerstand hervorrufen und danach einigermaßen zu taxieren, inwiefern dieser auf solider Grundlage beruht und für die Wahrheits~ findung von Wert ist. Falls irgendwelche Korrekturen nötig sind, sollten sie möglichst vom Bearbeiter selbst vorgenommen werden. Wenn er diese Prüfung gewissenhaft durchführt, kann er viele Unannehmlichkeiten vermeiden, die dadurch entstehen, daß die oberen Stellen sich später genötigt sehen, ihre abweichende Auffassung durchzusetzen. Der Beurteil er ist im Wege der Selbstprüfung in der Lage, nicht nur die objektiven, sondern auch die subjektiven Grundlagen seiner Überzeugung kritisch zu betrachten und dadurch zu einer geläuterten, von mancherlei individuellen Unzulänglichkeiten befreiten Auffassung zu kommen70 • Täterschaft nicht voll bewiesen sei, besitzt, wenn sein Urteil mit der Berufung angefochten wird, eben doch keine endgültige Kraft; sie wird vom Obergericht als zweiter Tatsacheninstanz kritisch geprüft und gegebenenfalls beiseite geschoben. 89 So mit Recht Tschelzow, Der sowjetische Strafprozeß S. 189. 70 Im Ergebnis ebenso Glaser, Handbuch !.356 ff.

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Einzelausführungen dazu. Naturgemäß können Neigung und Geschick zu einer solchen Selbstkontrolle je nach der Schulung, die der einzelne genossen hat, und je nach seiner persönlichen Veranlagung sehr verschieden sein. Auch die Tradition des Landes, in dem der Sachbearbeiter tätig ist, kann dabei mitsprechen. Ein fachwidriger Einfluß affektiver Gesichtspunkte wird seltener vorkommen, wenn der Beurteiler von vornherein dazu angeleitet wurde, den Sachverhalt ohne Voreingenommenheit aufzuklären, und wenn in den öffentlichen Verhältnissen seines Landes alles darauf angelegt ist, die Tatsachenfeststellung gegen tendenziöse Einwirkungen abzuschirmen. Schwierig ist eine unbefangene Selbstkritik begreiflicherweise dort, wo die Wahrheitsfindung in einer Atmosphäre vor sich zu gehen hat, die durch künstlich angefachte rassische, religiöse oder nationale Leidenschaften vergiftet ist, zumal wenn der Beurteiler an ihnen selbst innerlich teil hat und nicht imstande ist, sich von ihnen unabhängig zu machen.Zur Überprüfung emotionaler Regungen, die beim Zustandekommen der subjektiven Gewißheit mitgewirkt haben, ist nicht etwa nur der hauptberufliche Wahrheitsforscher genötigt; vielmehr sind auch die Laienrichter dazu verbunden. Sie dürfen nicht einfach bei unkoutrollierten Gefühlen stehen bleiben, sondern sind gezwungen, ihre Auffassung gewissenhaft zu erproben. Soweit die Geschworenen im Schwurgericht alter Art ohne Mitwirkung von Berufsrichtern über die Tatfrage allein beraten und Beschluß fassen, besteht für sie zwar kein Zwang, ihren Wahrspruch näher zu begründen 71 • Aber sie haben ebenfalls die Pflicht, ihr gefühlsmäßiges Ahnen darauf zu untersuchen, inwieweit es stichhaltig ist. Auch sie müssen sich darüber vergewissern, was hinter den irrationalen Regungen steht, durch die sie zum "Schuldig" oder zum "Nicht schuldig" geführt werden. Falls in der Beratung der Geschworenen verschiedenartige Ansichten über die Tatfrage vertreten werden, ist der Einzelne sogar regelrecht darauf angewiesen, seine innere Stellungnahme den Widersachern gegenüber durch Darlegungen zu bestärken, die darauf angelegt sind, den Andersgesonnenen zu beeindrucken und bei ihm die gleiche Überzeugung hervorzurufen. Die Urteilsgründe als Ausweis für die stattgehabte Selbstprüfung. Für den beruflichen Wahrheitsforscher liegt ein heilsamer Zwang zur Selbstkontrolle darin, daß er verpflichtet ist, seine Tatsachenannahmen schriftlich zu rechtfertigen. Das gilt für den Ermittlungsbeamten, der 71 Anders in Sowjetrußland, wo die Geschworenen Rechenschaft schuldig sind (Poljanski: Sowjetstaat und Sowjetrecht Jg. 1951 Heft 7 S. 28 ff.).

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seinen Schlußbericht erstattet, ebenso wie für den Staatsanwalt, der Anklage erhebt, und ganz besonders für den Richter, der im Urteil seine Auffassung vom Sachverhalt näher zu begründen hat. Vor allem das Revisionsgericht verlangt, wenn starke Beweise für die Schuld des Angeklagten vorliegen, der Vorderrichter aber gleichwohl höchstpersönliche Zweifel in dieser Hinsicht hat, eine genauere Umschreibung dieser Bedenken, damit geprüft werden kann, ob die Hauptgrundsätze der Überzeugungsbildung, deren Einhaltung das Revisionsgericht zu überwachen hat, beachtet wurden72 • Konnte der Vorderrichter trotz schwerster Überführungsmomente, die geeignet scheinen, selbst Skeptiker zu überzeugen, nicht zu der für eine Verurteilung nötigen Gewißheit kommen, so ist er verpflichtet, sich wenigstens andeutungsweise über die Art seiner Bedenken auszusprechen. Freilich dürfen die Ansprüche an Darlegungen dieser Art nicht überspannt werden73 • Man sollte stets bedenken, wie schwer es manchm a 1 fällt, auch für beachtliche irrationale Bedenken eine halbwegs einleuchtende Begründung zu geben. Dem Beurteiler geht es, wenn er seine Zweifel näher umschreiben will, mitunter ähnlich wie manchem Kranken, der seine Schmerzen deutlich fühlt, ohne sie genau lokalisieren zu können. Dies sollte für das Revisionsgericht Anlaß genug sein, in weiterem Umfang auch verstandesmäßig nicht näher begründbare Zweifel gelten zu lassen. Andernfalls würde die vom Gesetzgeber angeordnete Mitwirkung der inneren Stellungnahme bei der Tatsachenfeststellung zum guten Teil illusorisch werden.

Widerstand gegen illegitime Einflüsse auf die Oberzeugungsbildung. Wünsche und Anregungen von außen her, die auf ein bestimmtes Endergebnis der Sachverhaltsforschung hinzielen, hat der Bearbeiter abzulehnen, soweit sie mit den Grundsätzen der Wahrheitstindung nicht in Einklang zu bringen sind. Es kann nicht anerkannt werden, daß die im konkreten Fall zu ermittelnde Wahrheit rechtmäßigerweise durch die politischen Anschauungen des Bearbeiters mitbestimmt wird und daß sie für die herrschende Klasse ein anderes Aussehen haben kann als für die übrigen Volksgenossen74. 72 Statt vieler Belege: RG Str. Bd. 68 S. 154. Eine gesetzliche Festlegung dieser Verpflichtung enthielt§ 260 der Österreichischen StPO von 1853. 73 Zu weitgehend in dieser Hinsicht BGH vom 21. 5. 1953: Archiv für Strafrecht 1954 S. 152 mit Besprechung von Niese das. S. 151. 74 Wyschinski, Theorie der Beweise S. 190, 193, 195/6; M. Mora u. M. Kocsis, A magyar büntetö eljäräsi jog (Das ungarische Strafverfahrensrecht), Budapest 1961, S. 253: "Die richterliche Beweisführung hat Klassensinn"; R. Schindler {Staat und Recht Jg. 1962 S. 1514): Wichtigkeit des ideologischen Faktors bei Ermittlung der Wahrheit.

Oberzeugung des Beurteilers

477

Es gibt nur eine Wahrheit. Diese wird keineswegs durch die speziellen Interessen der an der Macht befindlichen Volksschicht geprägt, sondern ist von der Art, daß sie auch bei ihren politischen Gegnern Anspruch auf Anerkennung hat. Das Ziel der Wahrheitstindung besteht gerade darin, den Sachverhalt so aufzuklären, daß das Ergebnis für jedermann verbindlich ist. Selbst die politischen Schauprozesse, deren man sich bedient, um bestimmte Tatsachen vor einem großen Personenkreis klarzustellen, können ihren Zweck nur erfüllen, wenn nicht lediglich das ermittelt wird, was die herrschende Schicht als die Wahrheit angesehen wissen möchte, sondern wenn das Ergebnis selbst denen Zustimmung abnötigt, die dem Regime und den von ihm mit dem Schauprozeß verfolgten politischen Absichten skeptisch gegenüberstehen. Auch das sozialistische Rechtsbewußtsein, mit dessen Hilfe in den Volksdemokratien der Richter zu sachdienlichen Entscheidungen befähigt werden soll, erstreckt sich, wie der Name bereits andeutet, nur auf die rechtliche Beurteilung und nicht auf die Tatsachenfeststellung. Es soll darauf hinwirken, daß die juristische Lösung des Falles mit den herrschenden Rechtsanschauungen in Einklang steht. Das ist ein Wunsch, der verständlich erscheint und überall in der Welt in irgendeiner Form vorhanden sein wird; doch sollte man ihn nicht auf dem Umweg über die Wahrheitsforschung verwirklichen, die dadurch nur irregeleitet und schließlich regelrecht korrumpiert werden würde. Es trifft nicht zu, daß- wie A. J. Wyschinski es ausgedrückt hat- die innere Überzeugung des Wahrheitsforschers vom Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts stets organisch mit seiner klassenbedingten Weltanschauung verbunden sei und daß die Beweiswürdigung bereits ideologisch gelenkt sein müsse. Nur die rechtliche Bewertung kann durch weltanschauliche Momente mitbestimmt werden. Demgemäß sind die Beispiele, welche im Rechtsschrifttum der Oststaaten für eine rechtmäßigerweise politisch beeinfl.ußte Sachaufklärung angeführt werden, denn auch vorwiegend solche, die nicht in das Gebiet der eigentlichen Tatsachenfeststellung hineingehören, sondern sich auf die Wertung der in Frage stehenden Deliktsart vom Standpunkt des Volksganzen, auf die Bestimmung des Strafmaßes usw. beziehen75 • Im Vorangegangenen ist mehrfach vor der Gefahr gewarnt worden, die sich ergibt, wenn man die Tatsachenfeststellung dem Einfluß weltanschaulicher Überzeugungen ausliefert. Die letzteren sind - so große Bedeutung ihnen für die Rechtsfindung im engeren Sinne auch zukommen mag - im Bereich der Wahrheitsforschung als sachfremd anzu75

Wyschinski, Theorie der Beweise S. 191.

478

Endgültige Beweiswürdigung

sehen und müssen dort außer Betracht bleiben. Selbst bei wichtigen politischen Prozessen darf die große Bedeutung des Falles nur dahin wirken, daß die Aufklärung des Sachverhalts ( mit den zulässigen Mitteln) intensiviert wird; sie sollte dagegen nicht dazu führen, daß die Untersuchung der Tatfrage von vornherein bestimmten Endzielen dienstbar gemacht und mit entsprechender Einseitigkeit betrieben wird. Für jede staatliche Gemeinschaft würde es schweren Schaden mit sich bringen, wenn man eine Ausrichtung der prozessualen Wahrheitsforschung nach ideologischen Gesichtspunkten zulassen oder ihr gar Vorschub leisten wollte.

Nur dem Ernst, den keine Mühe bleichet, rauscht der Wahrheit tief versteckter Born Friedrich Schiller, Das Ideal und das Leben

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Sachverzeichnis Arbeitsatmosphäre beim Verhör 30,

A Abergläubische

Vorstellungen

des

Beschuldigten 144, 205, 355 Abnutzung des Gedächtnisses durch wiederholte Vernehmungen 101 Abstriche von den Angaben des Zeugen 134, 150 Affektive Regungen beim Zeugen 138 ff., 151, 153, 162; beim Beschuldigten 195; beim Wahrheitsforscher 319, 471, 475 Affektlage, charakteristische - des Beschuldigten 78 Afrikanische Völkergemeinschaft 464 Aktivierung des Gedächtnisses 412 Alibibeweis 380 ff., 240, 350 Alkoholeinfluß zur Zeit der Beobachtung beim Zeugen 99; beim Beschuldigten 110, 246, 409 Alleinstehender Zeuge 171 Alternative Feststellung des Sachverhalts 469 Anm. Analyse von Zeugenurteilen 114; des äußeren Eindrucks der Beweisperson 71 Analoge Anwendung von Erfahrungsmaterial 344 ff. Angloamerikanisches Recht 2, 10, 23, 33, 69, 114, 158, 179 f., 198 f., 210, 216, 223, 256, 259, 319, 370, 403, 414, 451 ff., 453 Anpassungsbedürfnis des Zeugen 141, 162 f. Anregung der Beweisperson zur Mitarbeit 182, zu konkreten Angaben 223, zur Erzählung im Zusammenhang 32, 259 Anscheinsbeweis 18, 330, 348 f., 438 Anm., 460 Anwesenheit am Tatort 377 ff.

185, 258

Arbeitshinweise für den Tatsachen-

forscher VII, 4 f., 18

Arbeitshypothese 34 ff., 317 Arbeitsökonomie des Vernehmenden

18, 188, 336, 338

Asiatischer Rechtskreis 464 Atypische Gestaltung des Hergangs

357 ff.

Aufeinanderfolge, zeitliche- der Vor-

gänge 105

Aufklärungspflicht des Wahrheitsfor-

schers 138, 430

Aufklärungswille des Vernehmenden

6 f., 187

Aufregung während der Beobachtung

beim Zeugen 98, beim Beschuldigten 246 Aufsässigkeit der Beweisperson 178, 190 ff. Augenscheinsbeweis 312 ff.; sein Wert 315, mannigfache Gestaltung 313, Fehlermöglichkeiten 316 ff. Augenscheinssurrogate 325 Ausdrucksweise des Zeugen 39, des Vernehmenden (bei der Protokollfassung) 87 ff. Auslegung von Urkunden im allgemeinen 293 f., von Vernehmungsprotokollen 309 f., von eidesstattlichen Versicherungen 310 f., von außergerichtlichen Stellungnahmen des Beschuldigten 127, 293, 392 Ausreden des Beschuldigten 232 A ussagefehler, Zusammentreffen mehrerer - 172 Aussagefreiheit des Beschuldigten 199,214 Aussagegewissenhaftigkeit 79, 159

Sachverzeichnis Aussageleistung 28, 63, 107 Aussagepsychologie 80 Außere Erscheinung der Beweisper-

son 67 ff.

Außerungen, frühere - des Beschul-

digten als Schuldindiz 190

Auswahl des Sachverständigen 16, 277 Ausweichtaktik der Beweisperson 91,

190

Autoritäres Auftreten des Verneh-

menden 177

B

Bagatelldelikte (Beweismaßstab bei

-n) 451

Behinderungen, prozessuale - für die

Wahrheitsforschung, ihr Abbau 8

Behördliche Auskünfte 429 Besitz von Gegenständen als Indiz für

Täterschaft 385 ff.; von Verbrecherwerkzeug 385, Falschgeld 386, Stehlgut 387, großen Geldbeträgen 389 Bestimmtheitsgrad des Gutachtens 265 Beweggründe für die Straftat 78, 236, für das Geständnis 249, für ein falsches Geständnis 242 ff., für den Geständniswiderruf 254 Beweis (begriffliche Grundlegung) 12 Beweisanzeichen für Kausalzusammenhang 404, für Fahrlässigkeit 410, für psychische Tatsachen 420 ff., für Bestechungsvorsatz 424. Beweiserleichterungen 459 ff. Beweislage, ständige Überprüfung der -18 Beweislast 18 Beweismaß 445 ff. Beweismaterial, unzulängliches beim Indizienbeweis 267, 337; gesetzwidrig erlangtes - 429 Beweissammlung 15 Beweiswürdigung von Zeugenaussagen i. allg. 92 ff.; - bei schwierigen Beweisthemen 109 ff., bei Angaben befangener Zeugen 147 ff., des Beschuldigten 227 ff., der Mitange-

klagten 152 ff., des Sachverständigen 268 ff.;- bei behördlichen Auskünften 301; bei Bewertung von Indizien i. allg. 362 ff., von Buchungsergebnissen 276, 305, Photos 326; Geständnissen, die unter Druck abgelegt wurden 250, bei Aussagen unter Mittelwirkung 218, bei Urkunden, die formelle Mängel aufweisen 306 Bewußtmachen des nichtpräsenten Erfahrungsstoffs 335 Bewußtseinsschwelle, Vorgänge (im Beschuldigten) unterhalb der Bewußtseinsschwelle 78, 247 Bilanzprüfung 276 Blutalkohol, Gutachten über- 281 Blutgruppen, Gutachten über - 280 Briefe als Beweismittel 296 Briefgeheimnis, Verstoß gegen das durch die Ermittlungsbehörde 429 Buchführungsgutachten 276 ff.

c

Charaktereigenschaften des Beschul-

digten (des Zeugen) 76 ff., - eines Dritten 118 China, Vernehmungspraxis in - 32, 201 Corpus delicti 374 D

Daktyloskopisches Gutachten 279, 379 Denkweg des Zeugen 109, des Sach-

verständigen 264;- des Wahrheitsforschers b. Indizienbeweis 334 ff., 381 Diagramme 19, 314 Disharmonien im Beweismaterial16B, im Erfahrungsstoff 351 f. Distanz des Vernehmenden von der Auskunftsperson 175 Doppelsinnige Beweisanzeichen 364 Dorfgemeinschaft als Gruppe 143, als Interessengemeinschaft 304 Dritter, unbekannter - als möglicher Täter 232

487

Sachverzeichnis Drogen zur Beeinflussung des Be-

Erklärungshypothesen des Beschul-

Drohungen des Beschuldigten 391,

Ermüdung des Zeugen zur Zeit der

schuldigten 217 ff.

des Opfers 360, des Vernehmenden 206 ff.

E Eid des Zeugen 10 Eidetische Veranlagung des Zeugen 102 Eigenpsychische Bekundungen des Zeugen 111 Eindrücke der Beweisperson 117 Einfältigkeit des Beschuldigten 184, 239 Einschüchterung seitens des Aussagenden 83, 208 Einseitige Blickrichtung des Zeugen 138 ff., 149 ff.; des Beschuldigten 229, des Sachverständigen 270 ff., des Sachbearbeiters 38, 317 Einstellung, fehlerhafte- der Beweisperson 137 ff., 145 Einteilung der Kräfte des Verhörsleiters 26, 188 ff. Einwände gegen die Verläßlichkeit des Indizienschlusses 354 ff.; gegen die Darstellung d . Zeugen 64, 137 ff.; des Beschuldigten 229; gegen das Augenscheinsergebnis 316 ff., 320, 326 Einweisung der Beweisperson in ihre Aufgabe 31, 1333 Energisches Vorgehen des Vernehmenden 62, 147, 189 Entwicklungsstadium des Kindes 85 Erbbiologischer Abstammungsnachweis 275, 283 ff., Erfahrungsgedächtnis 352 Erfahrungsregeln, begriffliche Grundlage 340, 349 Anm.; ihre Erarbeitung 16, 346; beim Indizienbeweis 339 ff.; bei Überprüfung von Aussagen 41, 64; bei Ermittlung der aktuellen Möglichkeiten 443 Erfolgsstreben d. Vernehmenden 187 Erkenntnistheorie 6, 315 Anm., 319, 467

digten 235

Beobachtung 99; des Beschuldigten während der Vernehmung 209 ff. Erprobung der Beweisperson 11 ff., 74, 222; des persönlichen Eindrucks, den sie hervorruft 71; der inneren Gewißheit des Wahrheitsforschers 474 Erregung, starke - während der Beobachtung durch den Aussagenden 98,246 Erschöpfungsverhör 211 Explosion 35, 99 F Fachkenntnisse des Beschuldigten als

Indiz für Täterschaft 392, 404

Fachliche Einseitigkeit beim Zeugen

97, beim Sachverständigen 272

Fachpsychologie 11, 21, 68 Fälschung d. Glaubwürdigkeitssym-

ptome 73f.

Fahrlässigkeit des Zeugen bei seinen

Angaben 412

Fehler des Zeugen 155 ff.; des Sach-

verständigen 270 ff.; des Wahrheitsforschers beim Augenschein 316 ff., beim Indizienbeweis 335, 356 ff., bei der Überzeugungsbildung 472 ff. Feststellungsoptimismus des Sachbearbeiters 443 Finanzgerichte 181, 231, 237, 304 Fingerabdruck 279 f., 379 ff. Fingierter Vorfall (den die Beweisperson schildert) 52 f., 159 Fingierte Schuldindizien 388 f. Finnland 464 Flucht vor der Polizei 394 Fragetaktik i. allg. 48 ff., 59, 133; gegenüber dem Sachverständigen 259 Französische Jurisprudenz 8 f., 49, 178 Anm., 201, 220 Anm., 251, 431, 464 Freie Beweiswürdigung 2 Fremdpsychische Tatsachen, ihre Feststellung 109 Fundament der Bekundung 109 ff.

Sachverzeichnis

488

G Ganzheitsbetrachtung 430 Gebärden der Beweisperson 67 ff. Gedächtnisbrücken 102 Gehirnwäsche 201 Geisteskranke 247, 345 f. Geisteszustand des Delinquenten zur

Tatzeit 267

Geistige Struktur des Aussagenden

81

Geistige Überlegenheit des Verneh-

menden 177

Geltungssucht des Beschuldigten 243 Gemeinschaftsarbeit der Auskunfts-

person und des Vernehmenden 27, 107 Gesamtbild des zu klärenden Vorgangs im Frühstadium 34, bei Abschluß der Ermittlungen 430 ff. Geständnis; Momente, die sein Zustandekommen begünstigen 195 ff., sein Nutzen für die Wahrheitsftndung 193 ff., Hergang des Geständnisses 220 ff., seine Würdigung 242 ff., sein Widerruf 225, 251 ff. Gewissen des Wahrheitsforschers als Richtschnur 442 Gewissenskonflikt der Beweisperson 65 Glaubwürdigkeitsindizien 67 ff., 89 Gleichförmigkeit der Zeugenaussagen 167 Grundhaltung des Zeugen; (Wahrheitswille) 137, (Einseitigkeit) 145 ff. Gruppengeist 87, 142 f., 170 f. H Harmonie zwischen den Beweisele-

menten 367, 431

Harmonisierung von Unstimmigkei-

ten im Beweismaterial 88, 168 f.

Haßgefühl391 Häusliche Notizen als Beweismittel 298 ff. Hörensagen, Zeugnis vom- 119 ff. Hörprobe 324 Hypnose als Vernehmungshilfe 202

Hysteriker 199 I Identitätszeugen 116 Anm. Indien 209, 222 Individualisierendes Vorgehen b. An-

wendung von Erfahrungsregeln 348

Individuelle Besonderheiten des Falles als Mittel der Sachaufklärung 10 f. Individuelle Behandlung des Aussa-

genden 62, 185; 29 f., 49, 59, 85 145 f., 147 189, 195 f. Indizien, die sich gegenseitig verstärken 366; Einfluß schwacher - 367; Reichweite der- 368; doppeldeutige -364 Indizienbeweis 329 ff. Indiziensuche 331 In dubio pro reo 227 f., 333 Induktives Denken 1 Intensive Befragung des Aussagenden 65 ff. Intelligenzmängel der Beweisperson

184

Intime Vorgänge, ihre Feststellung

231

Intuitives Handeln des Vernehmen-

den 71, 192

Ironie des Beschuldigten 189 Irrationale Grundlagen des Gutach-

tens 272, der Überzeugung vom Hergang 462 ff. Irrtum d. Beschuldigten 205, 241, 245, 247, 355 Irrtumsrisiko im Bereich der Tatsachenforschung 2, 36 Isolierte Erprobung der einzelnen Beweismittel173, 263, 365,431 Isolierte Zeugen 171 Italien (Ermittlungspraxis) 9, 218, 223, 322

J

Japan222

Sachverl!:eichnis K

Kassiber, verräterische - als Schuldindiz 388 Kausalzusammenhang 404 ff., 459 Kenntnisse, spezielle - des Beschuldigten als Indiz für Täterschaft 248, 394 f.; des Zeugen über die Prozeßlage 43 ff. Kinder, ihre Vernehmung 83 ff., Würdigung ihrer Angaben 85, 167 Konformität der Aussagen 167 ff. Konfrontierung des Verdächtigen mit dem Opfer 217 Kontaktnahme mit der Beweisperson 28 Kopfverletzte Zeugen 103 Korrektur der Zeugen-(Beschuldigten-)Darstellung durch Beweiswürdigung 134 Kraftausdrücke des Aussagenden 89 Kraftersparnis des Verhörsleiters 188 Kreuzverhör 23, 53, 158, 180, 210, 259 Kritische Haltung gegenüber d. Zeugenaussage i. allg. 107; gegenüber redlichen Zeugen 93, Hörensagenzeugen 123, Vielwissern 94; gegenüber dem Beschuldigten 185, dem Sachverständigen 264fT., denAugenscheinsergebnissen 316 ff., dem Indizienmaterial 336 ff., 354, 362; gegenüber der subjektiven Überzeugung des Bearbeiters 472 ff. Kronzeuge 216 Anm. L Lächeln des Aussagenden 73, 189 Ladung der Beweisperson 23 Anm. Leumundszeugnisse 118, 302 Anm. Lichtbild 326 ff. Lügen der Auskunftsperson 48, 160,

164, 177, 239

Lügendetektor 11, 219

Methoden derWahrheitsftndung; ihre

Vervollkommnung 10

Milieu, sein Einfluß auf die Aussage

167

Mindestanforderungen an den vollen

Beweis 3 Anm., 449

Minutien 279 f., 366 Mißhandlung des Beschuldigten 203 Mitbeschuldigter 152 ff.

als

Beweisperson

Mittelmeinung des Zeugen 142 Mitteilungsbedürfnis des Beschuldig-

ten 195

Modus operandi 398 Möglichkeiten, ernst zu nehmende 433 ff., zu entfernte- 437, 439 ff. Mohammedanischer Rechtskreis 204 Mondlicht 96, 324 Motiv des Beschuldigten für die Tat

78, für einräumende Erklärungen 248 f., für falsche Geständnisse 242 ff., für den Geständniswiderruf 254 N

Nachdrückliche Hinweise des Ver-

nehmenden 145

Nächtliche Verhöre 213 Namhaftmachen der Mittäter durch

den Beschuldigten 214, 216

Narkotika als Vernehmungshilfe 11,

217

Nationales Ressentiment 353, 475 N aturwissenschaftl. Untersuchungsmethoden 11, 280 ff. Non liquet 9, 231, 458, 468 Normative Erwägungen 294 Anm.,

410 Anm., 454 f.

Nützlichkeitsberechnung des Zeugen

143, 149; des Beschuldigten 229

M

0

Mädchen als Zeugen 86, 133 Massensuggestion 68, 135, 367 Menschliche Qualitäten des Verneh-

Obergutachter 274 Österreich 32 Offenkundigkeit von Tatumständen

menden 27, 183

338

Sachverzeichnis

490

Ohnmacht, vorgetäuschte - des Be-

schuldigten 206 Optimistische Grundhattung des Bearbeiters 445 Ordnen des Beweismaterials i. allg. 34, 188; der Indizien 365 Ortsbesichtigung 314 ff. p Personalbeweis 20, 23 ff. Persönlicher Eindruck, den der Aus-

sagende hinterläßt 71, 90 f., 231

Persönlichkeit d. Beschuldigten 76 ff.,

227; des Zeugen 79 Phantasie des Wahrheitsforschers als Hilfsmittel 434 Phasen der Sachaufklärung 15 Photos als Beweismittel326 f. Physiognomie, Schlüsse aus der - des Aussagenden 69 Planung der Beweiserhebungen 26 PolitischeAnschauungen des Beschuldigten 79, 297; des Zeugen 138 Politische Polizei 201 Politische Propagandareden des Beschuldigten 34 Politische Prozesse 32, 142, 154, 200, 394 Polizeibeamte 3, 17, 222, 257, 299, 309, 469; -als Zeugen 122, 150 f., 198, 400 Polizeibehörde 187, 203, 257 Präsentmachen von Erfahrungen 433 Prestigeverlust, Furcht vor - beim Zeugen 144, 149; beim Sachverständigen 259, 272 Prima facie-Beweis 18, 330, 348 f., 460 Primitivität des Beschuldigten 239, 346 Privates Wissen 429 Privatgutachter 270 Protokollierung der Aussage 87 ff.; von suggestiven Vorhalten 58, von Frage und Antwort 90, 190 Provokationen des Beschuldigten 191 Prozeßlage, ständige Änderung der 18; Einfluß der jeweiligen- auf den Aussagenden 141, 271; Mitteilungen über die - an die Beweisperson 43

Prozeßtaktische Erwägungen des Be-

schuldigten 326, 243

Prozeßverhalten als Indiz beim Beschuldigten 180 ff., 230, 240 ff., 394;

beim Sachverständigen 269

Pseudowissenschaftliche A usführungen des Gutachters 265 Psychischer Druck auf den Beschuldigten 59, 197 ff. Psychische Tatumstände, ihr Nachweis 77, 109 ff., 230, 358 ff. Psychologische Erprobung 11 f., 22,

74f.

Psychologische Gutachten 269 Psychopathen als Beschuldigte 243 Pubertät 86, 133 R

Rechtsanwalt (Verteidiger) 19, 108 261,

269, 355, 357, 444

Rechtsfrage, ihr Zusammenhang mit

der Tatfrage 13

Reichweite des Tätervorsatzes 427,

des Indizes 368

Reihenfolge, zeitliche - der Ermitt-

lungshandlungen 15

Rekonstruktion des Vorgangs 322 ff. Religiöse Bindungen der Auskunfts-

person 137, 146

Resignation des Beschuldigten 71 Risiko der Tatsachenforschung 2, 36

s Sachbeweis 20 Sachfremde Erwägungen innerhalb

der Wahrheitsforschung 161 f., 454, 470 ff., 476 ff. Sachverständigenbeweis 256 ff. Schamgefühl 65, 85 Schauprozesse 477 Scheinindizien 389 Schiffsbesatzung, Mitglieder der - als Gruppenzeugen 143 Schlußbericht des Polizeibeamten 14, 17, 309, 469 Schlußfolgerungen des Zeugen 124 ff. Schmerzeinwirkung 99

Sachverzeichnis Schonendes Vorgehen des Verneh-

menden 61, 65 ff., 83 Schriftidentität 277 Schuhspuren 368 f. Schuldbewußtsein des Verdächtigen 71, 393 Schutzbehauptungen des Beschuldigten 232 ff., 323 Schweigerecht des Beschuldigten 178 Schweiz (Ermittlungspraxis) 118, 200 Selbstbezichtigung 242 f., 251 Selbstkontrolle des Sachbearbeiters 24, 191, 221, 318 f., 475 f. Sensationsprozeß, Haltung des Zeugen im - 162, 164; des Sachverständigen 270; des Wahrheitsforschers 187 Sicherheit, volle - bei der Tatsachenfeststellung 448 ff. Sicherungsverwahrung, Voraussetzungen der- 76, 458 Situationsfragen 52 Solidaritätsgefühl des Aussagenden

138, 270

Südamerika, Zivilprozeß in- 9 Südrhodesien 144

T Täterschaft, Beweis der -77, 376 ff. Täuschung d. Auskunftsperson durch

den Vernehmenden 203 ff.

Taktik des Aussagenden 91, 186 f., 226,

243; des Vernehmungsleiters 26, 50, 63 f., 185, 192, 259 Tatort 320 ff. Tatsachengrundlage für die Zeugenaussage 109 ff.; für das Sachverständigengutachten 264, 267, 276; für den Indizienschluß 333, 337, 338 f., 341 ff., 382, 404, 413 Teilvertauschungen 104 Testpsychologische Gutachten 285 ff. Tonband 11, 208, 312 Totaleindruck 431 Toter Punkt bei Befragung der Auskunftsperson 59 Triebleben des Beschuldigten 78

u

Sowjetrussische Jurisprudenz 8, 10,

22 Anm., 26 Anm., 201 Anm., 220 Anm., 223, 257 Anm., 464, 475 Anm., 476 ff. Soziales Detail als Erkenntnismittel 11 Sozialgerichtssachen 231, 237, 263, 457 Spanien, Zivilprozeß in - 9 Sperrige Beweiselemente 37 f., 431 Spontane Darstellung der Auskunftsperson 60 Starrsinn des Aussagenden 191 Spuren am Tatort 378 ff. Spurenkunde 332 Statistisches Beweismaterial 361 f., 405 f. Sterbende alsNachrichtenträger 120 f. Stimmungsmache durch die Presse 135 Suggestive Beeinflussung der Beweisperson vor der Vernehmung 134 f., während der Vernehmung 54 ff., 260

491

Vberlastung der Ermittlungsbeamten

12, 60, 92

Vberlegenheit des Vernehmenden 61,

177, 174

Vberlistung des Beschuldigten 182 f., 203, 205 f. Oberzeugung des Beurteilers (vom

Vorliegen einer bestimmten Sachgestaltung) 462 ff. Umfang der Aufklärungspflicht 138 Umwelt als Täterschaftsindiz 395 Unausgeglichenheit des Erfahrungsergebnisses 351 Unbekannter Dritter als möglicher Täter 232, 441 Unbesonnene Antworten; vermeidbare - der Beweisperson 31 f., 50, 145, 258 f. Unbewußte Regungen im Sachbearbeiter; ihr Einfluß auf die Wahrheitsfindung 356 Uniformität der Aussage 167 f.

492

Sachverzeichnis

Unmutsäußerungen 391 Unrichtige Angaben des Beschuldig-

ten als Schuldindiz 237 ft.; - des Zeugen als Zeichen der Unglaubwürdigkeit 155 ft. Unsicherheit der Beweisperson 70, 187 Unstimmigkeiten in den Angaben des Vernommenen 40, 168ft., 235 f., 274; im Indizienmaterial 336 Unwürdige Behandlung der Auskunftsperson 176 Unzulängliche Verteidigung des Beschuldigten als Schuldindiz 240 ft. Unzulässige Beweismittel 429 Unzulässige

199 ff.

Vernehmungsmethoden

Urkunde - Begriff 289, ihre Echtheit

290 f., Unversehrtheit 291, Interpretation 293. USA (Ermittlungspraxis) 200, 219 V

Veränderungen am Augenscheinsobjekt 320 ff.; am Indizienmaterial

339; am Urkundentext 291

Veranlagung (individuelle) d. Wahr-

heitsforschers 25, 191, 445; der Beweisperson 63, 76 ff., 99, 191 f. Verantwortungsscheu des Sachverständigen 266, des Wahrheitsforschers 466 Verarbeitung der Wahrnehmungen durch die Auskunftsperson 105, durch den Leiter der Ortsbesichtigung 317 Verbrecherbande 144, 216, 243 Verdacht; früherer - als Schuldindiz 399 Verfeinerung der Ermittlungsmethoden 10 ff. Verhalten, außergerichtliches - des Beschuldigten als Täterschaftsindiz 392 Verhandlungen, längere - über die der Zeuge berichtet 128 Vernehmungsmethode bei Voreingenommenheit d. Aussagenden 145 ff.; - bei Widerspenstigkeit der Beweisperson 62; - bei hypothetischen

Stellungnahmen des Zeugen 133; Wechsel der - 63 f. Vernichtung von Beweismitteln 393 Verschönerungstendenz des Aussagenden 111, 230 Versprechungen gegenüber dem Beschuldigten 213 f. Verstellungstaktik der Auskunftsperson 22, 73 f.; - des Vernehmenden 182 f. Versündigungswahn 247 Verteidigungssystem des Beschuldigten 221, 253 f. Verwaltungsstreitverfahren 13, 80, 180, 231, 237, 242, 261 Anm. Vielwisser im Zeugenstand 94 Volkstumsmäßige Besonderheiten

VII, 63, 74, 82, 343

Vorausschauende Feststellungen 458,

462

Vorbildung des Tatsachenforschers;

berufliche - 2 f.

Voreingenommenheit des Zeugen 137 ff.; des Beschuldigten 229; des Sachverständigen 270 ff.; des Un-

tersuchungsführers 267, 442

Vorhalt von Gegenargumenten 46 ff. Vorleben als Beweisanzeichen für Tä-

terschaft 396, 400

Vorprozesse als Schuldindiz 397 Vortäuschen einer Straftat 151

w Wahrheit; die volle- als Ziel der Er-

mittlung 6; Unzulänglichkeit der Klassenwahrheit 476 f. Wahrheitswille d. Aussagenden 135 ff. Wechselnde Angaben der Beweisperson 162 ff. Weltanschauliche Einflüsse auf die Überzeugungsbildung 476 ff. Wert der Angaben des Beschuldigten 228; der Zeugendarstellung 92; der Kinderaussage 85 f. Wesensart; individuelle - des Sachbearbeiters 161, 191, 445 Widerruf der Zeugenaussage 165; der Angaben des Beschuldigten 175

Sachverzeichnis Widersprüche in der Darstellung des

Zeugen 40 ff., des Beschuldigten 40, 235; im Erfahrungsmaterial 351 ff.

Wiederholte Vernehmungen führen

zur Formalisierung der Aussage 418

Wiederholung des zu klärenden Vor-

gangs als Erkenntnismittel 322 ff.

Wissen des Beschuldigten um das Le-

bensalter des Verletzten 420; - die Mängel der verkauften Sache 423; - die strafbare Herkunft der Ware 422

z Zahl der übereinstimmenden Zeugen-

aussagen; ihre Bedeutung für das Beweisergebnis 167; - der gleichgerichteten Indizien 365 f.; - der Beobachtungsfälle, die einen Erfahrungssatz stützen 351

Zeitliches Verhältnis zwischen Sach-

verhaltsaufklärung und rechtlicher Durchdenkung 14

493

Zermürbungstaktik des Vernehmen-

den 203

Zersetzung des Untersuchungsmate-

rials 339

Zeugenaussagen mit Beurteilungscharakter 114 ff.; über den Sinn be-

stimmter Äußerungen eines Dritten 127; über Kenntnisse vom Hörensagen 119, über hypothetische Beweisthemen 130 ff., über die Wesensart dritter Personen 118 Zickzackverhör 49 ZiviZprozeß 9, 18, 22, 35, 46, 80, 180, 231, 237, 239, 242, 280, 296 ff., 312 f., 330, 347 ff., 361, 414, 438, 445, 450 ff., 455 f., 460 Zusammenhängende Darstellung

beim Zeugen und Beschuldigten 32, beim Sachverständigen 259 Zusammenfügen der Teilergebnisse 172, 429 f., 431 ZweifeZ bezüglich eines Tatumstands; Begriffliches 433 f., Überwindung der- 466; Beachtlichkeit geringer467; rein akademische - 6 ZweifeZsucht des Bearbeiters 444, 472 Anm.