Die emotionalen Grundlagen des Denkens: Entwurf einer fraktalen Affektlogik [4 ed.] 9783666014376, 9783525014370, 9783647014371

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Die emotionalen Grundlagen des Denkens: Entwurf einer fraktalen Affektlogik [4 ed.]
 9783666014376, 9783525014370, 9783647014371

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Sammlung Vandenhoeck

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014370 — ISBN E-Book: 9783647014371

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Luc Ciompi

Die emotionalen Grundlagen des Denkens Entwurf einer fraktalen Affektlogik

Mit 6 Abbildungen

4., unveränderte Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014370 — ISBN E-Book: 9783647014371

Im Größten das Kleinste Im Kleinsten das Größte – unendlich abgewandelt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-01437-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

Umschlagabbildung: Benita Koch-Otte, Farbfächer, um 1925; Historische Sammlung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel © 2016, 1997 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg

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Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Über dieses Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil Theoretische Grundlagen Erstes Kapitel Zur erkenntnistheoretischen Ausgangslage: Ein obligat beschränkter Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild vom obligat beschränkten Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . Postmoderne Pluralität in Philosophie und Wissenschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt als radikales Konstrukt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Radikaler versus relativer Konstruktivismus . . . . . . . . . . . . . . . . Der Mensch als »Sensor der Wirklichkeit« . . . . . . . . . . . . . . . . . Persönliche Horizontbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paradoxe Schlußfolgerung. Relative Sicherheit in der Unsicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweites Kapitel Grundbegriffe der Affektlogik. Ausgangspostulate, biologische Grundlagen, Definitionen und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . Integrierte funktionelle Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme als grundlegende Bausteine der Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Biologische Grundlagen der Affektlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind »Affekte«, »Gefühle«, »Emotionen« und »Stimmungen«? – Definitorische Verwirrung und Klärung . . . . . Zum Begriff der Kognition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Zum Begriff der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was für Gefühle gibt es? – Grundgefühle und deren unendliche Abwandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trieb und Instinkt, Motivation und Wille, Wertsysteme und Werthaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur reziproken strukturellen Koppelung zwischen dem psychischen, sozialen und biologischen Phänomenbereich . . . . . Drittes Kapitel Affekte als grundlegende Operatoren von kognitiven Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisatorisch-integratorische Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektspezifische Formen von Denken und Logik . . . . . . . . . . . . Stimmige Denkwege sind lustvoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkenntnis kommt von Leiden, Leid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auch Abstraktion ist lustvoll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorläufige Synthese. Ein Grundgesetz, fünf Grundgefühle – und unendlich viele kognitive Modulationen . . . . . . . . . . . . . . . Bewußtes und Unbewußtes aus der Sicht der Affektlogik . . . . . . Ein neurophysiologischer »affektiver Inprint« in kognitive Strukturen als Grundlage der Operatorwirkungen der Affekte? . . Viertes Kapitel Fraktale Affektlogik – ein chaostheoretischer Zugang zur Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Schlüsselbegriff des »deterministischen Chaos« . . . . . . . . . Nichtlineare Phasensprünge, Bifurkationen und dissipative Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hohe Sensitivität für Anfangsbedingungen – der sogenannte Schmetterlingseffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von Attraktoren und Repulsoren oder Energiesenken und -kuppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Selbstähnlichkeit oder Fraktalität in deterministischchaotischen Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein chaostheoretisch-affektlogisches Modell der Psyche . . . . . . . Methodologische Knacknüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aspekte der Fraktalität von psychischen Systemen . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Relativierung. Die fraktale Affektlogik als Grundlage einer neuen Psychologie und Psychopathologie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Zweiter Teil Facetten der fraktalen Affektlogik. Beispiele Fünftes Kapitel Zur Entstehung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angst und Angstlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wut und Wutlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trauer und Trauerlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Freude, Lust- und Liebeslogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über Interesse-, Alltags- und Wissenschaftslogik . . . . . . . . . . . . . Sechstes Kapitel Psychopathologie – Über krankhafte affektiv-kognitive Verrückungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Mann, der nie nein sagen konnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sucht oder »psychischer Krebs« – eine weitere Form von affektiv-kognitiver Verrückung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dissoziative Störungen, multiple Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . Sprunghafte »Verrückungen« des Fühlens und Denkens im Rahmen von Psychosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ist auch die Schizophrenie eine »affektive Psychose?« . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick – Zur Schlüsselrolle der Affekte in der Psychopathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Siebentes Kapitel Kollektive fraktale Affektlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affekte als Energielieferanten und Organisatoren des sozialen Raums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Kommunikation, emotionale Ansteckung und Versklavung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affekte als kontinuitätsschaffende Öffner und Schließer von kollektiven Gedächtnispforten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Über kollektive affektiv-kognitive Verrückungen und Verblendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtlineare Phasensprünge und »Schmetterlingseffekte« im sozialen Klein- und Großraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit: Bestätigung des Konzepts einer fraktalen Affektlogik und neue Einsichten zum Problem der Emergenz . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Dritter Teil Theoretische und praktische Konsequenzen Achtes Kapitel Theoretische Vernetzungen und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalyse, genetische Epistemologie und allgemeine Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neurobiologie, Emotionsforschung, evolutionäre Erkenntnistheorie und biologisch fundierter Konstruktivismus . . Psychopathologie, Strukturdynamik, Phänomenologie und Zeiterleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung: Was bringt die fraktale Affektlogik Neues? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuntes Kapitel Praktische Konsequenzen. Möglichkeiten und Gefahren . . . . . . . Psychiatrisch-psychotherapeutische Anwendungen . . . . . . . . . . . Fraktale Affektlogik und Körpererleben, Körpertherapien, und verwandte Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltagspraktische Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ängste, Gefahren, Hoffnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zehntes Kapitel Zum Menschenbild der fraktalen Affektlogik und seinen ethischen Konsequenzen – oder: »Denken mit Gefühl« . . . . . . . . Das Problem des Bewußtseins aus der Sicht der Affektlogik . . . . Willensfreiheit und Gedankenfreiheit, Verantwortung . . . . . . . . . Zum Welt- und Menschenbild der fraktalen Affektlogik . . . . . . . Was tun und wohin zielen? – Das Gleichnis vom Wasser . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363

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Danksagung

Vielen Menschen, mit denen ich während der mehrjährigen Arbeit an diesem Buch im Austausch stand, bin ich für Anregung und Kritik zu Dank verpflichtet. An erster Stelle nenne ich Professor Rupert Riedl aus Wien, der mir mit seiner Einladung ans Konrad-Lorenz-Institut in Altenberg ermöglicht hat, viele Monate lang in einer denkbar günstigen interdisziplinären Umgebung an meinem Manuskript zu arbeiten. Viel habe ich dort auch von seinen jungen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unterschiedlichster Fachrichtung – namentlich von Manfred Wimmer, Manuela Delpos und Martin Baatz – gelernt. Großen Dank schulde ich des weiteren den Professoren Ilya Prigogine und René Thomas von der Université Libre in Brüssel, an deren Forschungsinstituten ich während einer Vorphase mehrere Wochen lang chaostheoretische Zugänge zur Dynamik komplexer Systeme studieren konnte. Meinen früheren Mitarbeitern Hanspeter Dauwalder und Wolfgang Tschacher habe ich für viel Anregung in der gemeinsamen jahrelangen Auseinandersetzung mit dem Problem der Anwendung chaostheoretischer Konzepte auf den psychologischen und psychopathologischen Phänomenbereich zu danken. Das permanente Gespräch mit meinem besten Freund seit Jugendzeiten, dem Psychoanalytiker Dieter Signer und seiner Frau Rita aus Bern bedeutete mir einmal mehr eine unschätzbare Hilfe. Auch mein früherer Chef und lieber Freund Christian Müller war mir weiterhin in mancher Hinsicht Vorbild und Mentor. Philippe, mein Sohn, hat von Anfang an als gewissenhafter Lektor und scharfer Kritiker zum Gelingen des Werkes beigetragen. Und Mary, meine Frau, hat mich die ganze Zeit in jeder nur möglichen Weise unterstützt. – Darüber hinaus möchte ich vielen hier nicht mit Namen zu nennenden Freundinnen und Freunden, Kollegen, auch früheren Mitarbeitern und Patienten aus der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern, und selbst einigen Feinden oder Widersachern für bedeutsame emotionale Erfahrungen danken, die sie

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Danksagung

mir in der täglichen Arbeit, in der Psychotherapie, in Zusammenarbeit und Streit, in kritischen wie glücklichen Augenblicken durch Jahre hindurch vermittelt haben. Zusammen mit wissenschaftlichen Befunden bilden solche Erfahrungen die wichtigste Grundlage dessen, was ich in diesem Buch über die emotionalen Grundlagen des Denkens mitzuteilen versuche.

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Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser! Emotionale Einflüsse auf Denken und Verhalten sind bisher hauptsächlich als Störfaktoren betrachtet worden, die aus dem »reinen Denken« und »rationalen Handeln« so radikal wie nur möglich zu verbannen wären. Daß indessen affektive Komponenten nicht nur mit allem Denken immerzu untrennbar verbunden sind, sondern darin auch unverzichtbare organisatorische und integratorische Funktionen zu erfüllen haben, ist eine Erkenntnis, die sich erst in den letzten Jahren auf mehreren Gebieten der Wissenschaft zugleich Bahn zu brechen beginnt. Zu den Faktoren, die eine solche Erkenntnis jahrzehntelang verzögert haben, gehört der Umstand, daß Fühlen und Denken – oder Emotion und Kognition, Affekte und Logik – von der spezialisierten psychologischen und biologischen Forschung in der Vergangenheit ganz vorwiegend gesondert, nicht aber in ihren gesetzmäßigen Wechselwirkungen untersucht worden sind. Überhaupt wurden von der Wissenschaft emotionale Phänomene, nicht zuletzt aus methodologischen und definitorischen Gründen, lange Zeit vergleichsweise stark vernachlässigt. Die Folge war ein einseitig intellektzentriertes Welt- und Menschenverständnis, das, obwohl mit der beobachteten Wirklichkeit offensichtlich nicht übereinstimmend, das wissenschaftliche Denken doch lange Zeit fast ausschließlich beherrscht hat. Seit einiger Zeit ist – parallel zu gleichsinnigen gesellschaftlichen Entwicklungen – in dieser Hinsicht ein Umschwung im Gang. Einerseits sind dank großer Fortschritte in der neurobiologischen Grundlagenforschung die zentralnervösen Grundlagen von Emotionen und deren enge Verflechtungen mit Wahrnehmung und Denken wie Verhalten immer genauer aufgedeckt worden. Andererseits, und damit zusammenhängend, ist ebenfalls in der Psychologie das Interesse für

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affektiv-kognitive Wechselwirkungen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Nach einer »kognitiven Wende« in den siebziger Jahren, die eine Abkehr vom radikal nur am beobachtbaren äußeren Verhalten orientierten Behaviorismus bedeutete, ist heute mancherorts bereits von einer zweiten, nämlich einer »emotionalen Wende« die Rede. Immer klarer wurde überdies, daß sich – teilweise im Gefolge von großen geistigen Bahnbrechern wie Charles Darwin, Sigmund Freud, Jean Piaget, auch Konrad Lorenz – eine Reihe von Pionieren abseits vom Hauptstrom gerade mit Interaktionen zwischen Fühlen und Denken schon vor Jahrzehnten auseinandergesetzt und dabei Einsichten gewonnen haben, deren Bedeutung erst heute allmählich anerkannt wird. Zu ihnen gehören die Neurobiologen Paul McLean und Magda Arnold, die Soziologen Norbert Elias und Thomas Kuhn, die Erkenntnistheoretiker und Philosophen Ludwik Fleck und Otto F. Bollnow. Ludwik Fleck etwa hatte schon in den dreißiger Jahren Theorien zum wissenschaftlichen »Denkstil« vorweggenommen, die den späteren revolutionären Thesen von Thomas Kuhn zu den sozialen (und damit implizit auch emotionalen) Hintergründen der Wissensentwicklung verblüffend ähnlich sehen. Otto Bollnow seinerseits weitete in den fünfziger Jahren Heideggers Erkenntnisse zur zentralen existentiellen Bedeutung der Angst durch Einbezug auch von Glücksgefühlen zu einer umfassenden anthropologischen Theorie über den Einfluß von affektiven Stimmungen auf unsere gesamte Weltsicht aus. Auch Psychiater wie Eugen Bleuler mit seiner Lehre von der »Schaltkraft der Affekte« aus den zwanziger Jahren, Werner Janzarik mit seiner schon seit den fünfziger Jahren entwickelten »Strukturdynamik«, und in den späten siebziger Jahren ebenfalls Autoren wie William Gray und Paul LaViolette mit ihren Ideen zur Bedeutung von emotional-kognitiven Strukturen beim kreativen Denken wären hier zu nennen. In jüngerer Zeit wurde in der Psychologie die Frage von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen namentlich im Zusammenhang mit grundlegenden Untersuchungen Paul Ekmans zum transkulturellen Ausdruck von Emotionen und einer langwierigen Kontroverse zwischen Forschern wie R. B. Zajonc und Richard Lazarus für oder wider ein Primat der Emotion über die Kognition aktuell. Nicht zuletzt eine ganze Reihe von Publikationen, die erst während der Niederschrift dieses Buches (1994–96) erschienen sind (vgl. Kap. 8, S. 281), deuten darauf hin, daß zusammengenommen all diese Entwicklungen im Begriff sind, zu einem grundlegend neuen Verständnis der Bedeutung von emotionalen Faktoren für alles Denken hinzuführen, das zweifellos für unser ganzes Menschen- und Weltverständnis nicht ohne Folgen bleiben wird.

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Im vorliegenden Buch wird diese Problematik von einer Perspektive her aufgerollt, die ich, ausgehend von Untersuchungen zur Langzeitentwicklung der Schizophrenie und anderen psychiatrischen Fragestellungen, vor über zwanzig Jahren zu entwickeln begonnen und 1982 unter dem Namen »Affektlogik« erstmals in Buchform vorgestellt habe. Wichtigster Ausgangspunkt war dabei von Anfang an das Postulat, daß affektive und kognitive Komponenten – oder Fühlen und Denken – in sämtlichen psychischen Leistungen obligat zusammenwirken. Inzwischen haben die damaligen Konzepte, die wesentlich auf einer systemtheoretisch fundierten Synthese von klinischen Beobachtungen mit Erkenntnissen aus der Piagetschen genetischen Epistemologie und der Freudschen Psychoanalyse beruhten, durch den Einbezug von neuen biologischen Forschungsbefunden und theoretischen Gesichtspunkten eine beträchtliche Vertiefung und auch Veränderung erfahren. Gleichzeitig hat sich das Blickfeld von der Psychiatrie und Psychologie auf Fragestellungen allgemeinerer Art ausgeweitet, in denen emotionale Wirkungen auf das Denken eine mindestens ebenso große Rolle spielen wie in der Psychopathologie. Von zentraler Bedeutung für diese Grenzüberschreitung waren dabei für mich namentlich neue Erkenntnisse zur nichtlinearen Dynamik und sogenannten fraktalen – also auf Ebenen verschiedenster Größenordnung selbstähnlichen – Struktur von komplexen Systemen und Prozessen genau von der Art, wie sie im psychosozialen Klein- wie Großraum durchwegs anzutreffen sind. Sie ergaben eine tragfähige wissenschaftliche Basis für die in diesem Buch entwickelte Hypothese, daß grundsätzlich gleichartige affektiv-kognitive Dynamismen in psychischen und sozialen Phänomenen jeglicher Dimension wirksam sind. Das Ergebnis ist der vorliegende »Entwurf einer fraktalen Affektlogik«, der die emotionalen Grundlagen von Denken und Verhalten in individuellen Mikro- und sozialen Makroprozessen unter einheitlich systemdynamischen Gesichtspunkten zu verstehen sucht. Der Aufbau des Buches ist einfach: In einem ersten Teil werden die empirisch-forschungsmäßigen und theoretischen Grundlagen dieser neuartigen Sichtweise psychischer Phänomene dargestellt, in einem zweiten Teil folgt die Analyse von konkreten Beispielen aus verschiedensten individuellen und kollektiven Ebenen mit Einschluß von psycho- und soziopathologischen Erscheinungen, und in einem dritten Teil werden deren mögliche praktische und theoretische Konsequenzen reflektiert. Das erste und letzte Kapitel ist den komplexen erkenntnistheoretischen Problemen gewidmet, die durch das Postulat von unausweichlichen emotionalen Einflüssen auf alles Denken und Erkennen aufgeworfen werden. Auch ethische Fragen kommen – unter anderem

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angesichts möglicher Mißbräuche der vorgeschlagenen Konzepte – abschließend zur Sprache. Der Schwerpunkt der Betrachtung liegt dabei durchweg auf den emotionalen Einwirkungen auf die kognitiven Funktionen, während ebenso wichtige, aber schon zur Genüge bekannte umgekehrte Effekte von Kognition und Sprache auf die Emotion, ohne deren Bedeutung im geringsten zu verkennen, weniger im Brennpunkt der Betrachtung stehen. Auch haben übergeordnete strukturelle und dynamische Aspekte einen gewissen Vorrang vor spezifischen Inhalten. Entsprechend seiner facettenreichen Thematik wendet sich das Buch an eine Leserschaft, die neben Spezialisten der berührten Wissensgebiete – insbesondere der Psychologie und Psychiatrie, der neurobiologischen Grundlagenwissenschaften sowie der Soziologie und der evolutionären Erkenntnistheorie – ebenfalls Fachleute aus weiteren Sachbereichen und Laien umfassen könnte, die sich für emotionale Einflüsse auf Denken und Verhalten interessieren. Interdisziplinäre Allgemeinverständlichkeit ist demnach angestrebt. Indes handelt es sich nicht etwa um eine bloße popularisierende Zusammenfassung von bereits in der Fachpresse erschienenen Befunden für ein größeres Publikum, sondern um die erstmalige wissenschaftliche Darstellung eines Gesamtkonzepts zum Fragenkomplex der emotionalen Grundlagen des Denkens, von dem mehrere wichtige Bausteine allerdings schon seit den achtziger Jahren publiziert worden sind. Fast die Hälfte der für die Niederschrift des Manuskripts nötigen rund zwei Jahre durfte ich, nach meiner im Herbst 1994 erfolgten Emeritierung als akademischer Lehrer und Leiter der früheren Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern, als Gastprofessor am Konrad Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung in Altenberg bei Wien verbringen. Sicher hat die einzigartige Atmosphäre dieses interdisziplinären Forschungsinstituts und gleichzeitigen Geburts- wie Sterbehauses von Konrad Lorenz, vielleicht sogar etwas vom dort sehr spürbaren genius loci, auf meine Schreib- und Denkarbeit nachhaltig abgefärbt. In erster Linie die auf Schritt und Tritt spürbare evolutionär-konstruktivistische Grundperspektive, aber auch manche interessanten Einzelkenntnisse verdanke ich den unvergeßlichen täglichen Mittagsdiskussionen mit dem Institutsleiter Rupert Riedl und seinem Kreis. Auf weitere wesentliche Einflüsse wird im Text selbst sowie in der voranstehenden Danksagung hingewiesen. Vielleicht wird ebenfalls spürbar, daß das, was Sie, sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, in den nachfolgenden zehn Kapiteln erwartet, für mich keineswegs von Anfang an einfach feststand, sondern über allerhand Um- und Irrwege, viel Lektüre und manche sicher nach

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wie vor stehengebliebene blinde Flecke hinweg erst Schritt für Schritt erarbeitet werden mußte. Ich hoffe, daß die Lust am Erhellen und Verstehen von zunächst schmerzlich Unklarem, die durch das ganze Buch hindurch eine zentrale Rolle spielt, auch Sie ein Stück weit packen wird, und wünsche dazu viel Vergnügen! Luc Ciompi

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Erster Teil Theoretische Grundlagen

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Erstes Kapitel Zur erkenntnistheoretischen Ausgangslage: Ein obligat beschränkter Horizont

Statt mich aber im Hafen der Philosophie umzuschauen, welche Schaluppen oder welchen Dampfer ich besteigen soll, [...] bleibt mir nichts anderes übrig, als mein eigenes Floß zu besteigen, um so mehr als ich mich mit ihm schon längst in diesem Ozean herumtreibe, ohne Ruder und ohne Segel. Friedrich Dürrenmatt (1990, S. 206)

Das Bild vom obligat beschränkten Horizont – Ich weiß, daß ich nichts weiß. – Ich weiß nicht, daß ich nichts weiß. – Ich weiß nicht, daß ich weiß. – Ich weiß, daß ich weiß. Alle diese Aussagen, und weitere mögliche Abwandlungen dazu, sind auf bestimmte Weise richtig, sinnvoll, »wahr«. Sie kennzeichnen unsere Grundsituation der Welt und uns selbst gegenüber und enthalten mit dem berühmten sokratischen »Ich weiß, daß ich nichts weiß« zugleich ein seit zweieinhalb Jahrtausenden nicht gelöstes Paradoxon. Wir wissen etwas von uns und der Welt und wissen zugleich nicht – und auch das wissen wir nicht recht! Seit seinen Uranfängen ringt das abendländische Denken mit der Frage, ob (und wie) wir überhaupt etwas Sicheres wissen und erkennen können. Auch heute noch, oder wieder, spielt dieses Problem in den verschiedensten Sparten der Wissenschaft und Philosophie eine bedeut-

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Theoretische Grundlagen

same Rolle, von der genetischen Epistemologie Jean Piagets über die evolutionären Erkenntnistheorien der Biologie bis zum postmodernen Konstruktivismus. Es stellt sich ebenfalls, und zwar in mindestens zweifacher Weise, im Rahmen der vorliegenden Untersuchung: Zum einen geht es um die Grenzen unseres wissenschaftlichen Erkennens im allgemeinen, und zum anderen fragt es sich, welche besonderen Probleme sich allenfalls aus dem Versuch ergeben, die affektiven Grundlagen des Denkens mit ebendiesem Denken selbst zu explorieren. Vorgängig der Hinwendung zu unserem eigentlichen Thema sollen in der Folge – gewissermaßen als Prolog – aus dieser komplexen Fragestellung einige für uns besonders wichtige Aspekte herausgegriffen werden. Ziel dieser Vorüberlegungen ist es, die erkenntnistheoretischen Grundlagen unseres ungewissen Wissens vom Wissen zumindest so weit zu reflektieren, daß wir daraus – wiederum paradox, wie sich zeigen wird – eine einigermaßen tragfähige Ausgangsbasis für alle weiteren Überlegungen zu gewinnen vermögen. Eine ins einzelne gehende Erörterung der damit aufgeworfenen, tief in die ganze Philosophie und Erkenntnistheorie hineinreichenden Problematik ist freilich hier weder möglich noch beabsichtigt. Auf zusätzliche Facetten des angeschnittenen Fragenkreises werden wir überdies im Lauf unserer Untersuchung immer wieder stoßen. Als Leitmetapher für unsere erkenntnistheoretische Reflexion benützen wir das Bild vom obligat beschränkten Horizont. Wo immer wir uns befinden, wird unser Blick begrenzt durch Hügel oder Berge, durch die Erdkrümmung, oder auch durch das Auflösungsvermögen unserer Augen selbst. Dies gilt, wie die Astronomen mit dem Begriff des sogenannten Ereignishorizontes klargemacht haben, selbst dann noch, wenn wir unser Gesichtsfeld mit starken Fernrohren oder sonstigen Hilfsmitteln maximal erweitern: Hinter einem kosmischen »Ereignishorizont« verbergen sich alle diejenigen Ereignisse, die aus verschiedensten Gründen der menschlichen Beobachtung für immer entzogen bleiben müssen – also beispielsweise Lichtstrahlen aus sogenannten »schwarzen Löchern« (Himmelskörper von so ungeheuerlicher Dichte und gravitationeller Anziehung, daß selbst das Licht ihnen nicht mehr zu enfliehen vermag) oder Galaxien an der Peripherie des expandierenden Universums, die sich so schnell von uns (und wir von ihnen) wegbewegen, daß ihr Licht uns niemals wird erreichen können (Kanitschneider 1984, S. 390). Das Bild vom beschränkten Horizont kennzeichnet in trefflicher Weise die Situation, in welcher sich sowohl jeder einzelne wie auch jede Gruppe, ja letztlich die Menschheit als ganze grundsätzlich immerzu befindet: Unser Wissens- und Verstehenshorizont ist unaus-

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weichlich begrenzt. Gleichzeitig aber bilden wir mit unserem Bewußtseinsfokus ständig das subjektive Zentrum des Universums und neigen deshalb fortwährend zu der naiven Annahme, das Wahrgenommene sei bereits »die ganze Welt«. Dies gilt gleichermaßen auf der individuellen wie kollektiven Ebene. Erst wenn wir uns in Raum oder Zeit bewegen, werden wir fähig, etwas von der steten Begrenztheit dieses Horizonts zu erfassen. Mit wachsender Klarheit erkennen wir dann, daß wir das, was wir gerade sehen, immer wieder gewaltig überschätzen. Momentweise mag uns sogar bewußt werden, daß wir – wie Dürrenmatt so schön beschreibt – mit unserem mit Wissen vollbepackten Schifflein die ganze Zeit in einem ungeheuren Meer von Nichtwissen herumschwimmen. Piaget stellt den langwierigen Prozeß der sogenannten Dezentration, wie er die Entwicklung von einem zunächst (beim Säugling oder primitiven Menschen) gänzlich egozentrischen zu einem zunehmend allozentrischen Weltbild nennt, in den Mittelpunkt der geistigen Entwicklung nicht nur des Kindes, sondern des Menschen überhaupt. Sowohl auf der individuellen wie kollektiven Ebene ist dieser ständig rückfallgefährdete Prozeß zweifellos noch lange nicht abgeschlossen. Namentlich das Verhalten von Kollektivitäten mag vielfach so aussehen, als hätte er so richtig noch gar nicht begonnen (was natürlich nicht stimmt, denn allein schon die Bildung einer Kollektivstruktur setzt mannigfache Dezentrationen voraus). Für die Tatsache, daß unser Horizont obligat begrenzt ist, gibt es zahlreiche Gründe, darunter seit langem bekannte sinnesphysiologische, biologische, wissenschaftstheoretische und philosophische – und hinter den alten Argumenten, die für diese schmerzliche Einsicht sprechen, tauchen sozusagen laufend neue auf. Dazu gehören, wie wir sehen werden, auch diejenigen der Affektlogik. Insgesamt führt die zunehmende Dezentration unserer Weltsicht unweigerlich zur Verneinung jedes absoluten Wahrheitsanspruchs, ja wohl überhaupt jeder Möglichkeit zur Erkenntnis irgendeiner ontologischen »Wahrheit an sich«, entsprechend den Positionen sowohl des aktuellen Konstruktivismus wie auch der postmodernen Philosophie. Bevor wir (in den nachfolgenden Kapiteln) spezifisch affektlogische Aspekte eines solchermaßen begrenzten Horizonts ins Auge fassen, wollen wir uns mit einigen der für uns wichtigsten philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der These von der unausweichlichen Beschränkung unserer Erkenntnismöglichkeiten vertraut machen. Für die philosophischen Zugänge stütze ich mich hauptsächlich auf Gianni Vattimos »Das Ende der Moderne« (1990) und Wolfgang Welschs »Unsere postmoderne Moderne« (1988), für die wissenschaftstheoretisch-konstruktivistischen Zugänge auf Jean Piaget,

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Ernst von Glasersfeld, Rupert Riedl und weitere Autoren (Lorenz 1973; Piaget 1974, 1977a, 1977b; Riedl 1979, 1994; Maturana 1982; von Glasersfeld 1991; Fischer et al. 1992; Rusch et al. 1994).

Postmoderne Pluralität in Philosophie und Wissenschaftstheorie Die »Moderne« kann nach Vattimo und Welsch verstanden werden als die durch die Aufklärung begründete Epoche der ungebrochenen Hoffnung auf einen virtuell grenzenlosen Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis in geradliniger Fortsetzung der Tradition des gesamten abendländischen Denkens seit Plato und Aristoteles. Die aktuelle Post- oder auch Spätmoderne dagegen bezeichnet nach den genannten Autoren weniger eine zeitlich neue Phase der Philosophie als vielmehr eine seit langem im modernen Denken selbst angelegte Haltung der Überwindung (oder, wie Heidegger formuliert, der »Verwindung« oder verändernden Vollendung) der Moderne. Die radikale Besonderheit dieser Postmoderne besteht im schmerzlichen Bewußtsein, daß nach mehr als zweitausend Jahren vergeblicher Suche nach einer zuverlässigen ontologischen Begründung unseres Wissens von der »Realität« oder »Wirklichkeit« heute der Anspruch auf die Erkenntnis von irgendwelchen absoluten Wahrheiten definitiv aufgegeben werden muß. Nichts anderes war schon mit Nietzsches schockierendem Ausspruch »Gott ist tot« gemeint (»Gott« hier verstanden als der absolute Grund, die absolute Wahrheit), und in die gleiche Richtung weisen auch die Schlüsse, zu denen Jahrzehnte vor den zeitgenössischen »Denkern der Postmoderne«* wie Derrida, Lyotard, Rorty zumindest in der Interpretation Vattimos auch schon der in seinen Augen profundeste Philosoph unseres Jahrhunderts, nämlich Martin Heidegger, gelangt ist. Daß ein Erkennen einer absoluten Wahrheit oder Realität grundsätzlich nicht möglich ist, liegt zunächst und in erster Linie an den unausweichlichen Beschränkungen unserer Sinnes- und Denkorgane. Wir vermögen von der Welt um uns nur wahrzunehmen, was unsere Sinnesorgane – und allfällig noch deren technische Verbesserungen durch Fernrohre, Mikroskope, Wellendetektoren und andere Geräte, die wir indessen wiederum nur mit unseren beschränkten Sinnes- und Denkmöglichkeiten bauen und beurteilen – davon übermitteln. Irgendein * Genitivus subjectivus und objectivus.

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Außenkriterium, an dem wir unsere Wahrnehmung und Deutung der Wirklichkeit validieren könnten, gibt es nicht. Zudem ist auch die Faßkraft unseres Denkapparats beschränkt, woran sich durch die Tatsache der enormen Ausweitung unseres Speicher- und Informationsverarbeitungsvermögens durch moderne Computer prinzipiell wenig ändert: Denn erstens sind es wiederum nur Menschen mit begrenzten Fähigkeiten, die Computer bauen und ihnen damit »ihren Geist einhauchen«, und zweitens sind es nur Menschen – und letztlich trotz aller »kollektiven Führung« oder »delegierten Verantwortung« nur je einzelne Menschen –, die die Ergebnisse der Computerarbeit sinnvoll in den Gesamtkontext ihres Denkens und Handelns einzubeziehen haben. In der Tat plädiert die (post-)moderne Philosophie und Wissenschaftstheorie in hunderterlei Weisen immer wieder für den gleichen Abschied von einer absoluten Wahrheit, respektive (was dasselbe ist) für eine radikale Pluralität der Wahrheit. »Modernes Wissen hatte je die Form der Einheit, und diese Einheit war durch den Rückgriff auf große Meta-Erzählungen zustande gekommen«, schreibt Welsch. »Die gegenwärtige Situation hingegen ist dadurch gekennzeichnet, daß diese Einheitsbande hinfällig geworden sind […]. Totalität wurde als solche obsolet, und so kam es zu einer Freisetzung der Teile« (Welsch 1988, S. 32). Und Vattimo, der dem alten Suchen und Denken einer absoluten »starken Wahrheit« das »schwache Denken« einer pluralistischen »schwachen Wahrheit« entgegensetzt (1983), spricht (mit Nietzsche und Heidegger) von einer »Destruktion der Ontologie«, von einem historisch-temporären und kontextgebundenen (statt »ewigen« und kontextunabhängigen) »ereignishaften Charakter der Wahrheit und Logik«, einem notwendigen, ja (um seiner befreienden Wirkung willen) durchaus positiv zu konnotierenden »Denken des Irrtums« beziehungsweise des Irrens und der Vermischtheit oder Kontamination verschiedener möglicherweise widersprüchlicher Wahrheiten (»In der Tat geht es nicht darum, Irrtümer zu entlarven und aufzulösen, sondern sie als eigentliche Quelle des Reichtums zu sehen, der uns ausmacht und der Welt Interesse, Farbe und Sein verleiht« (Vattimo 1990, S. 185). – Freilich impliziert die Anerkennung einer Pluralität der Wahrheit zugleich die Unausweichlichkeit von Spannung und Konflikt, denn »auf mehreren Hochzeiten zugleich tanzen« bleibt trotz des Willens zu Toleranz sowohl im praktischen Leben wie in Theorie und Wissenschaft, wo Stellungen zu beziehen und Entscheidungen zu fällen sind, schwierig. Unsicherheit und Orientierungslosigkeit machen sich breit. Gibt es also beliebig viele »Wahrheiten« – »anything goes«, nach dem vielzitierten Wort von Feyerabend (1983)? Auf welche von ihnen sollen und können wir abstellen, wenn zuverlässige Kriterien fehlen?

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Nicht umsonst heißt Lyotards Hauptwerk »Der Widerstreit« (1983). Was dies gerade auch aus der Perspektive einer fraktalen Affektlogik bedeuten mag, wird uns noch nachhaltig zu beschäftigen haben. Gleichzeitig wird von allen Denkern der Postmoderne (im Gefolge insbesondere von Wittgenstein und Gadamer) die Bedeutung der Sprache beziehungsweise der »Sprachspiele« betont, durch welche jede Erkenntnis notwendig bestimmt sei. »Nicht ist der Mensch Herr der Sprache, sondern die Sprache ist strukturell wie ereignishaft vorgängig, und der Mensch tritt in das von der Sprache eröffnete Spiel nur ein«, sagt Lyotard (1979, 1983, zit. nach Welsch 1988, S. 249). Folgerichtig sind alle Wahrheiten im Grunde rhetorischer Art im Sinn von Gadamer (1976, nach Vattimo 1990, S. 145 ff.). Sogar wissenschaftliche Theorien lassen sich »... nur innerhalb von Paradigmen beweisen, die ihrerseits nicht ›logisch‹ bewiesen, sondern nur aufgrund einer Überredung rhetorischer Art akzeptiert sind – wie auch immer sie sich faktisch etablieren« (Vattimo 1990, S. 99, 148). – Wer den Wissenschaftsbetrieb von innen kennt, wird eine solche auf den ersten Blick vielleicht überraschende Aussage nur bestätigen. In der Tat bedarf es neben »harter Fakten« zur Annahme von neuen Wahrheiten oder Thesen selbst in der Naturwissenschaft »... eines komplexen Systems von Überredungen, von aktiver Teilnahme, von Interpretationen und Antworten« (S. 100), in welchem auch ästhetische, hermeneutische oder rhetorische (und ich würde anfügen: zwischenmenschliche, soziale, politische) Aspekte eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Parallel zur Philosophie ist ebenfalls innerhalb der Naturwissenschaft die Idee einer absoluten Wahrheit im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts immer brüchiger und schließlich völlig obsolet geworden. Schon mit Einsteins Relativitätstheorie (1905) wurde klar, daß es einen festen Bezugspunkt nicht gibt und selbst Raum und Zeit nicht zum vornherein gegeben sind, sondern von Ereignissen abhängen, das heißt sich verändern können. Und mit der Quantentheorie und der Heisenbergschen Unschärferelation (1927), die die Unmöglichkeit einer gleichzeitigen exakten Bestimmung von Ort und Impuls eines Ereignisses und deren Abhängigkeit vom Meßvorgang selbst nachwiesen, erwies sich die Hoffnung auf eine eindeutige Erfassung der Realität noch radikaler als trügerisch. Goedels Unvollständigkeitstheorem von 1931 zeigte vollends, daß selbst in der Mathematik ein in sich geschlossenes System ohne irgendwelche Vorannahmen nicht denkbar ist. Damit entfällt zugleich die langgesuchte Möglichkeit einer mathematisch begründbaren widerspruchsfreien formalen Logik – »eine Kathedrale stürzte zusammen«, wie Riedl kommentiert (1994, S. 238). Etwa gleichzeitig machte Popper klar, daß wissenschaftliche Hypothesen

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nur widerlegt, nicht aber positiv bewiesen werden können, so daß auch alle Erkenntnisse der Wissenschaft bloß als vorläufige und bis zu ihrer Falsifizierung durch neue Fakten operational sinnvolle Annahmen innerhalb bestimmter Voraussetzungen und Perspektiven, nicht mehr aber als ein für allemal gesicherte »ewige Wahrheiten« betrachtet werden müssen. Damit postuliert die zur Zeit zweifellos führende wissenschaftliche Erkenntnistheorie zwar die Unmöglichkeit, eine absolute Wahrheit zu erkennen, wohl aber die Möglichkeit der Erkenntnis einer (beinahe) absoluten Unwahrheit. Nicht zu vergessen ist ferner, daß Grundphänomene wie »Materie« oder »Energie«, die sämtlichen Vorgängen in der Natur zugrunde liegen, ungeachtet der relativitätstheoretischen Erkenntnis ihrer tiefen Äquivalenz letztlich undefinierbar, das heißt in ihrem »eigentlichen Wesen« so rätselhaft bleiben wie eh und je (Russel 1972). Sicher zu Recht bezieht Welsch ebenfalls das in den letzten 20 bis 30 Jahren von Thom, Prigogine, Mandelbrot, Feigenbaum, Haken und anderen Forschern entwickelte revolutionäre Paradigma der Katastrophen- und Chaostheorien, das auch in der vorliegenden Untersuchung eine wichtige Rolle spielen wird, in dieselbe Denkrichtung mit ein. Zentral postulieren diese Theorien eine grundsätzliche Nichtlinearität – und damit Unvorhersehbarkeit – vieler fundamentaler Naturvorgänge. »Deterministisch chaotische«* Schwankungen sind offenbar selbst im vermeintlich »ehernen Lauf der Gestirne« nachweisbar. Bezieht man schließlich auch noch die Thesen von Ludwik Fleck (1935) und Thomas Kuhn (1962) zur zeit- und kontextbedingten Natur aller wissenschaftlichen Erklärungssysteme (der sogenannten Paradigmata nach Kuhn, s. später) in diese Übersicht mit ein (Fleck 1935, 1993; Kuhn 1967), so wird die Relativität einer jeden Erkenntnis noch einmal überdeutlich.

Die Welt als radikales Konstrukt? Von ganz anderer Warte aus gelangt ebenfalls der zeitgenössische Konstruktivismus zu grundsätzlich gleichlautenden Schlüssen, obwohl Querverweise auf diese sicher nicht zufällige Parallelentwicklung in der oben zitierten Literatur erstaunlicherweise fast völlig fehlen. Er basiert wesentlich auf Jean Piagets genetischer Epistemologie, in welcher gezeigt wird, daß und wie das Kind alle seine geistigen Begriffe * Näheres zu diesem paradoxen Begriff siehe Kapitel 4, S. 131 ff.

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»aus der Aktion«, das heißt aus dem handelnden Erleben richtiggehend konstruiert. Analoges gilt, mutatis mutandis, höchstwahrscheinlich für die Menschheit als ganze. Ausgangspunkt sämtlicher kognitiver mentaler Strukturen oder »Schemata« sind demnach zunächst immer wieder senso-motorische Abläufe, die auf der Grundlage angeborener Reflexe vom ersten Lebenstag an stufenweise weiterentwickelt, auf jeweils höherem Niveau neu äquilibriert, operationalisiert und schließlich zu rein mentalen Abläufen verinnerlicht werden*. »Denken ist Probehandeln mit kleinen Energiequanten«, sagte ganz übereinstimmend auch Freud; umgekehrt kann man Handeln gewissermaßen als »Probedenken mit großen Energiequanten« auffassen. Die sprachliche oder anderweitige symbolische Kodierung solcher mentaler Schemata ist, wie Piaget nachwies, nicht etwa Ursache, sondern Folge dieses Prozesses (Sinclair 1976). Eine Schlüsselrolle spielen dabei die komplementären Phänomene der Assimilation und Akkommodation. Unter ersterer ist der Einbau neuer Elemente in bereits bestehende kognitive Strukturen, unter letzterer der Umbau dieser vorbestehenden Strukturen unter Anpassung an die begegnende Realität zu verstehen. Beide gegenläufigen Vorgänge sind untrennbar miteinander verbunden und entsprechen fundamentalen biologischen Prozessen auf rein stofflicher Ebene (zum Beispiel bei der Verdauung). – Piagets hohes Verdienst ist es, als erster die Verankerung von geistigen Strukturen in der Biologie nicht nur in ihrem Prinzip verstanden, sondern auch in zahlreichen Einzelaspekten minutiös nachgewiesen zu haben. Jede biologische Tätigkeit hat nach Piaget insofern kenntnisgewinnenden Charakter, als sie bestimmten Bedingungen der Umwelt Rechnung trägt. Gleichzeitig stellt sie eine typische Konstruktion entsprechend den eigenen Gesetzmäßigkeiten des Organismus dar. Seiler nennt dies in seiner Diskussion des Piagetschen Konstruktivismus treffend den »Erkenntnischarakter der Strukturen« (Piaget 1969, 1974, 1977b; vgl. auch Seiler 1994, S. 74 ff.), denn schon im reinen Handeln ist ein intuitives Vorstellungswissen enthalten. Bei der Konstruktion von kognitiven Strukturen im Sinn von Piaget handelt es sich also keineswegs um einen notwendigerweise bewußten oder gar gewollten Prozeß, sondern um ein typisch selbstorganisatorisches Phänomen. Neben dem Konstruktivismus Piagetscher Prägung gibt es noch eine ganze Reihe von – teilweise davon abgeleiteteten und teilweise unabhängigen – Varianten, darunter namentlich den ebenfalls biologisch begründeten evolutionären Konstruktivismus von Konrad Lorenz und * Diese »Mentalisierung« ist allerdings in ihrem Wesen, so nahtlos sich der Übergang von der Sensorimotorik zum »Geist« auch anhören mag, nach wie vor zutiefst rätselhaft.

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Rupert Riedl (Lorenz 1973; Riedl et al. 1980, 1994). Letzterer hat eine differenzierte »Systemtheorie der Evolution« und »Evolutionäre Erkenntnistheorie« entwickelt, in welcher der stufenweise Erwerb von Wissen über eine (zwar nie »an sich« erkennbare, aber doch durchaus vorhandene) äußere Realität als evolutionärer Selektionsprozeß vom niederen Tier bis zum Menschen verstanden wird, der unter dem Einfluß von evolutionsbegünstigenden wie -beschränkenden Faktoren (Dispositionen und Prädispositionen, »Bürden« und »Constraints«) steht. Aus der gleichen Perpektive analysiert Riedl auch die Entwicklung des ganzen abendländischen philosophischen und wissenschaftlichen Denkens und identifiziert darin zwei große Stränge, die beide bis zu den Vorsokratikern (Parmenides, Zenon, Heraklit) zurückreichen: Der eine, aristotelische, beginnt bei den ionischen Naturphilosophen und führt zum modernen wissenschaftlichen Empirismus und Positivismus. Die dominierende, vor allem auf die Sinne vertrauende Denkmethode ist hier die Induktion. Der andere, platonische, mißtraut dagegen den Sinnen zugunsten von sprachlicher Logik und Deduktion. Er geht von den Pythagoräern aus und führt bis zum neuzeitlichen Idealismus, zum Rationalismus, zur formalen wie mathematischen Logik, und letztlich auch zum zeitgenössischen Konstruktivismus. Ersterer stütze sich auf den Selektionsvorteil einer möglichst guten Übereinstimmung (»Korrespondenz«) mit einer »außersubjektiven Wirklichkeit«, letzterer dagegen auf den Selektionsvorteil einer möglichst kohärenten und eindeutigen Kommunikation. Als Nachteil (»Bürde«) handelt sich die induktive Methode nach Riedl die Abhängigkeit von angeborenen Formen der sinnlichen Anschauung ein, während die deduktive Methode durch allgegenwärtige sprachliche Grundstrukturen – die sogenannten Universalien – limitiert wird. Unter letzteren ist insbesondere die unausweichlich lineare Grundstruktur der Sprache sowie die Unterscheidung zwischen Verb und Substantiv hervorzuheben. Die Linearität der Sprache zwingt zu einer in der Zeit gestaffelten Darstellung von eigentlich als gestalthaft-simultanes Ganzes erlebten (oder »gesehenen«) Zusammenhängen – eine grundsätzliche Schwierigkeit, die sich nicht zuletzt beim Schreiben eines Buches wie dem vorliegenden noch und noch bemerkbar macht. Ähnlich führt ebenfalls die zumindest im Okzident praktisch durchgängige Verwendung einer Copula (»ist« beziehungsweise »sein«) zu einer versachlichenden und ontologisierenden Verzerrung der erlebten Wirklichkeit mit Tendenz zur Überbetonung von definitorischen Unterschieden und Grenzen auf Kosten von Übergängen. Des weiteren sind evolutionär tief verankerte Denkautomatismen identifiziert worden, die die evolutionären Erkenntnistheoretiker als »angeborene Lehrmeister« bezeichnen (Piaget 1973c; Lorenz 1973; Riedl

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et al. 1980; Kihlstrom 1987). Darunter sind automatisierte Vorannahmen über Wahrscheinlichkeits- und Kausalbeziehungen zwischen ähnlichen, kurz nacheinander oder miteinander auftretenden Ereignissen (beispielsweise Blitz und Donner) zu verstehen, die häufig (aber nicht immer) zutreffen und deshalb im Lauf der Evolution als überlebensgünstig selektioniert wurden. All dies hat weitreichende Folgen für die Art und Weise, wie wir gewohnheitsmäßig die Welt wahrnehmen und konstruieren. »Keiner der beiden Zugänge wird darum entbehrlich. Jeder für sich aber wird in die Irre führen; zunächst in einen Irrglauben, dann in einen Konflikt mit der Welt«, schließt Riedl seine Überlegungen über die Vorund Nachteile von Deduktion und Induktion (Riedl 1994, S. 274). Er diagnostiziert dabei eine gefährliche »deduktive Schlagseite unserer Zivilisation« und leistet so auch einen Beitrag zum sogenannten kulturhistorischen Konstruktivismus, der auf dem gestaltpsychologischen Ansatz von Kurt Levin aufbaut und die hochgradige soziale Bedingtheit jeder Auffassung von Wirklichkeit aufzeigt. Gergen und andere soziale Konstruktivisten (oder vielmehr »Konstruktionisten«, wie sie sich zu nennen vorziehen; Gergen 1985, 1991, vgl. Portele 1994, S. 127 f.) bezeichnen die Begriffe, in denen wir die Wirklichkeit verstehen, geradezu als soziale Artefakte. Das Wirklichkeitsverständnis sei nicht in erster Linie von der empirischen Gültigkeit von Begriffssystemen, sondern von sozialen Austauschprozessen (wiederum mit Einschluß insbesondere der Sprache) und deren historischen Wandel abhängig. Eine ähnliche Wichtigkeit räumt dem »Linguieren« und »Konversieren«, wie das hier genannt wird, der ebenfalls biologisch begründete Konstruktivismus von Humberto Maturana und Francisco Varela ein. »Nichts existiert außerhalb der Sprache«, behauptet Maturana geradezu (1988, S. 80). Diese beiden Autoren, die – als meines Wissens einzige Konstruktivisten – auch die grundlegende Bedeutung von Emotionen (»des Emotionierens«) für alles Denken erkannt haben und uns schon aus diesem Grund noch wiederholt beschäftigen werden, entwickeln seit den siebziger Jahren mit großer Folgerichtigkeit eine streng konstruktivistische Theorie der kognitiven Entwicklung, in deren Zentrum die Konzepte der Autopoiese und strukturellen Koppelung oder Ko-Ontogenese zwischen in sich operational geschlossenen, aber interagierenden Systemen stehen* »Was in einem lebenden System vor sich geht, entspricht dem Geschehen bei einem Instrumentenflug, bei dem * Der Begriff der »operationalen Geschlossenheit« hat vielfach zu Mißverständnissen Anlaß gegeben. Er ist keineswegs gleichbedeutend mit einem stofflich oder energetisch geschlossenen System, was ein lebender Organismus natürlich nie ist, sondern impliziert in erster Linie eine funktionelle und organisatorische Selbstbezüglichkeit.

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der Pilot keinen Zugang zur Außenwelt hat und lediglich als Regulator der durch seine Fluginstrumente angezeigten Werte fungieren darf«, schreibt Maturana (1982, S. 74). Jede biologische Tätigkeit impliziere zwar einen Erwerb von Wissen über die Welt, aber dieser sei in erster Linie »strukturdeterminiert«, das heißt durch die vorbestehende Struktur und Organisation des betreffenden Organismus selbst bestimmt. Als Struktur werden »… die Bestandteile und Relationen, die in konkreter Weise eine bestimmte Einheit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen«, als Organisation dagegen die Relationen zwischen den Bestandteilen eines Systems definiert, die es als Mitglied einer bestimmten Klasse kennzeichnen. Unter Autopoiese schließlich ist die Tatsache zu verstehen, daß Lebewesen in der Anpassung an das umgebende Milieu zwar andauernd ihre Struktur verändern, gleichzeitig aber ihre Organisation aufrechterhalten. Deren Zusammenbruch wäre gleichbedeutend mit dem Tod. Zwischen interagierenden und damit koevolutionierenden Systemen – also etwa zwischen einem Lebewesen und seiner Umwelt – komme es in einem begrenzten Interaktionsbereich zu wechselseitigen Strukturveränderungen, die »strukturelle Koppelung« heißen (S. 244). – Erkenntnistheoretisch besonders wichtig ist nach den beiden Autoren dabei die klare Unterscheidung von verschiedenartigen Phänomenbereichen, darunter namentlich auch des Bereichs des Beobachters selbst, der allein nach ebenfalls in erster Linie durch seine eigene Struktur und Sprache determinierten Gesetzen zwischen verschiedenen Systemen, ihren Interaktionen, strukturellen Koppelungen und so weiter unterscheidet. Auch so gesehen wird jede »unvoreingenommene« Wahrnehmung einer »Realität an sich« prinzipiell unmöglich. Wie das nachfolgende Zitat von Varela sehr klar zeigt, interveniert die »Eigenstruktur« des Beobachters bereits beim Setzen von elementaren Unterscheidungen – ein Umstand, der, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, über unsere operationalen Definitionen von Kognition und Logik auch im Rahmen der Affektlogik eine grundlegende Rolle spielt. »Der Ausgangspunkt […] ist das Setzen einer Unterscheidung. Mit diesem Urakt der Trennung scheiden wir Erscheinungformen voneinander, die wir dann für die Welt selbst halten. Davon ausgehend bestehen wir dann auf dem Primat der Rolle des Beobachters, der seine Unterscheidungen an beliebiger Stelle macht […]. Sie beziehen sich viel mehr auf den Standpunkt des Beobachters als auf die wahre Beschaffenheit der Welt, die infolge der Trennung von Beobachter und Beobachtetem immer unerfaßbar bleibt« (Varela 1979 [nach Seiler 1994, S. 79 ff.]).

Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick und andere haben solche Überlegungen konsequent zu einem »radikalen Konstruktivismus« ausgebaut, der jede Möglichkeit von Realitäts-

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erkenntnis grundsätzlich leugnet (v. Foerster 1985; v. Glasersfeld 1985, 1991, 1994; Watzlawick 1981, 1991). Hauptanliegen des radikalen Konstruktivismus ist das Begreifen der Interdependenz zwischen Beobachter und beobachteter Welt. Strenggenommen existiert die Wirklichkeit für die radikalen Konstruktivisten einzig in unserem Gehirn, respektive in unseren konstruierten Begriffen. Überlegungen, wie weit zwischen diesen Konstrukten und der effektiven Realität allenfalls irgendwelche Beziehungen bestehen könnten, werden – etwa unter Hinweis auf Wittgensteins »Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen« – vermieden oder mit Verdacht belegt. Von Glasersfeld bekämpft, ganz ähnlich wie Maturana und Varela, in erster Linie jede Idee von irgendwelchen »Repräsentanzen« der Wirklichkeit im Gehirn; er möchte auch Piagets häufigen Gebrauch dieses Ausdrucks umdeuten in »Re-präsentanzen«, das heißt bloße Vergegenwärtigungen von Konstrukten aus dem Gedächtnis. Sogar für den zentralen Piagetschen Begriff der Kognition als assimilatorisch-akkommodatorischen Adaptationsprozeß verneint von Glasersfeld (1994, S. 29) vehement jede Übereinstimmung der konstruierten Begriffe mit »an sich« in einer Außenwelt existierenden Objekten. Er zieht den Begriff der »Viabilität« oder des »Passens« demjenigen der »Anpassung« oder »Adaptation« an eine äußere Wirklichkeit vor und sieht darin nur eine interne »Verbesserung des organismischen Gleichgewichts relativ zu den erfahrenen Beschränkungen«. – Einen ebenfalls sehr radikalen Ausdruck findet eine solche Position bei dem Physiker Olaf Diettrich (1991, 1996), der unter Rekurs auf die evolutionäre Erkenntnistheorie vorschlägt, den einzig durch die operationalisierten Meßinstrumente definierten Realitätsbegriff der Physik auf den gesamten kognitiven Erkenntnisbereich zu übertragen. Den Meßinstrumenten der Physik würden dabei die »kognitiven Operatoren« (das heißt, der ganze Sinnesapparat oder »ratiomorphe Apparat« im Sinn von Konrad Lorenz) entsprechen, und sämtliche Beobachtungen, auf die wir die Naturbeschreibung stützen, wären einzig als Invarianzen von solchen Operatoren zu verstehen. Da validierende Außenkriterien wie gesagt fehlen, fällt folgerichtigerweise auch für Diettrich jede Möglichkeit der Erfassung einer »an sich« bestehenden Außenwelt dahin. Ebenso folgerichtig muß freilich ebenfalls der radikale Konstruktivismus selbst bloß als ein Konstrukt verstanden werden, das keiner »ontologischen Wahrheit« entspricht. Maturana und Varela geben dies auch ohne weiteres zu, wenn sie gestehen, daß sie – ganz im Sinn der oben erwähnten Rhetorik – ihre Leser oder Hörer zur Annahme ihrer Konzepte nur »überreden« oder »verführen« wollen, ohne deren absolute Gültigkeit zu behaupten.

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Radikaler versus relativer Konstruktivismus Einer solchen Verführung braucht man indessen allein schon aus Gründen, die vom Konstrukt des radikalen Konstruktivismus selbst nahegelegt werden, nicht unbedingt zu erliegen. An der operationalen Nützlichkeit oder Viabilität eines Konstrukts, das mit der Leugnung jeglichen Realitätsgehalts unserer Welterfahrung auch alle Schranken zur vollen Beliebigkeit beseitigt und zugleich, statt Verflechtungen nach allen Seiten aufzuzeigen, das menschliche Fühlen und Denken aus dem Ganzen des Naturgeschehens radikal herauslöst, kann man nämlich zweifeln. Mindestens ebenso sinnvoll für das kollektive Überleben erscheint jedenfalls die Annahme, daß wir mitsamt all unseren Theorien Teil eines ungeheuren Wirkgefüges – eben der angenommenen »ontischen Realität« – sind, für welche unsere mentalen Produkte, genauso wie unser Körper und unsere Existenz überhaupt, in einer allerdings von uns selber nie klar erfaßbaren Weise signifikant sind. Ein solcher nur »relativer Konstruktivismus«, wie ich diese meines Erachtens nötige Einschränkung eines allzu radikalen Konstruktivismus nennen möchte, anerkennt zwar voll, daß unsere Welterklärungen durch unsere eigenen Bedürfnisse und Strukturen determinierte Konstrukte sind, die sich an keinerlei externer »Realität an sich« validieren lassen. Zugleich aber hält er an der Hypothese fest, daß es eine solche Realität tatsächlich gibt, und daß gerade auch die genannten Bedürfnisse und Strukturen mitsamt den dadurch hervorgebrachten Welterklärungen nichts als ein Teil dieser Realität sind, die sie also sowohl enthalten wie auch (anhand von informationsverarbeitenden Strukturen, wie zu zeigen sein wird) ein Stück weit laufend verdichten (und gleichzeitig sicher auch verzerren). Von »Wissen« in einem strengen Wortsinn kann dabei freilich nicht die Rede sein. Zu den Gründen, die für einen solchen bloß relativen statt radikalen Konstruktivismus sprechen, zählt zunächst der Umstand, daß letzterer wesentlich eine (Über-)Reaktion auf einen ebenso radikalen wissenschaftlichen Positivismus und reduktionistischen Realismus darstellt, der, obwohl unbestreitbar in manchen Bereichen der Naturwissenschaft weiterhin grassierend, doch wissenschafts- und erkenntnistheoretisch in Wirklichkeit längst überholt ist. Anstelle eines naiven Realismus (es gibt eine reale Welt, und diese ist so, wie wir sie wahrnehmen) oder auch kritischen Realismus (es gibt eine reale Welt, aber sie ist nicht in allen Zügen so beschaffen, wie sie uns erscheint) dominiert heute wissenschaftstheoretisch entweder der »streng kritische Realismus« (es gibt eine reale Welt, aber keine ihrer Strukturen ist so, wie sie uns erscheint) oder aber der »hypothetische Realismus« im Sinne von

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Campbell (wir nehmen an, daß es eine reale Welt gibt und daß deren Strukturen teilweise erkennbar sind, aber alle unsere diesbezüglichen Aussagen haben hypothetischen Charakter; Campbell 1974, 1984; Vollmer 1980; Riedl 1994). Beide letzteren Positionen, auf denen wesentlich auch die evolutionären Erkenntnistheorien von Konrad Lorenz und Rupert Riedl fußen, werden meines Wissens von den radikalen Konstruktivisten nicht vertieft reflektiert. Auch Jean Piaget war, allen gegenteiligen Interpretationen zum Trotz, höchstwahrscheinlich kein so radikaler Konstruktivist, wie ihn die Vertreter dieser Auffassung gerne hinstellen möchten, unter anderem indem sie in seinen Konzepten einseitig bloß assimilatorische, das heißt durch die eigene Struktur bedingte Mechanismen in der »Konstruktion der Realität« betonen, akkommodatorische, das heißt fremdbestimmte Mechanismen dagegen vernachlässigen. Zu diesem Schluß gelangen jedenfalls praktisch alle Autoren außer von Glasersfeld selber, die sich in einem kürzlich erschienenen Sammelband zum Thema »Piaget und der radikale Konstruktivismus« geäußert haben (Rusch et al. 1994). Daß Piaget zutiefst Konstruktivist sei, bestreitet niemand. Zugleich sei er mit seiner gleichgewichtigen Mitberücksichtigung einer akkommodatorischen Anpassung und Einpassung an die begegnende Wirklichkeit aber auch Adaptionist. Nach Seiler geht Piaget »… sogar so weit, die Erkenntnisentwicklung als ein Streben nach, vielleicht sogar einen Marsch hin zu Objektivität und Wahrheit zu konzipieren. Menschliches Erkennen erreicht zwar dieses Ziel nie oder nie ganz, aber es nähert sich ihm konstant an« (Seiler 1994, S. 84). Ob eine solche extensive Interpretation tatsächlich berechtigt ist, bleibe dahingestellt. Fest steht indessen, daß sich nach Piaget alles Denken von einem anfänglichen egozentrischen Übergewicht von assimilatorischen über zunehmend auch akkommodatorische Mechanismen zu einem Gleichgewicht mit seiner Umwelt hin entwickelt, das gleichbedeutend ist mit einer wachsenden Fähigkeit zum Absehen vom eigenen Standpunkt, das heißt zur früher schon genannten Dezentration. Dieses Gleichgewicht ist indessen massiv gestört, wenn der radikale Konstruktivismus die ganzen erdrückend wahrscheinlichen Befunde der empirischen Wissenschaften kurzerhand »ausklammern« (wie Maturana sagt) will, die für einen seit Milliarden von Jahren vor (und jedenfalls auch nach) dem Menschen ganz unabhängig von ihm evoluierenden Kosmos sprechen und dadurch Entscheidendes zu ebendieser Dezentration beitragen. Ähnlich ungleichgewichtig müßten dem radikalen Konstruktivisten frühere Weltentwürfe bloß als wirre Folge von Hirngespinsten erscheinen, während ein relativer Konstruktivismus es zwanglos erlaubt, »Wahrheitstheorien« aller Art, von tastend

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erarbeiteten frühen animistischen Welterklärungen über komplexe religiöse Systeme bis zu den Theorien der modernen Wissenschaft als in bestimmtem Kontext eine Zeitlang viable »Lösungen« innerhalb einer evoluierenden Gesamtsituation zu verstehen, die alle einen gewissen Realitätsgehalt besitzen. Ähnlich ist auch für Konrad Lorenz die Evolution bereits auf der rein organismischen Ebene immer schon ein kenntnisgewinnender, weil Informationen über die umgebende Wirklichkeit zunehmend differenziert verwertender und verarbeitender Prozeß. Alle biologischen »Lösungen«, die dieser Wirklichkeit nicht hinreichend Rechnung tragen, werden mit der Zeit unbarmherzig ausgemerzt. Es ist leicht einzusehen, daß analog auch auf dem Niveau der evoluierenden kognitiven Konstrukte Welterklärungen, die einer »externen Realität« kraß widersprechen, von einem bestimmten Punkt an nicht mehr gangbar, sondern tödlich sind. Einfach beliebig können operante Denksysteme deshalb nicht sein. So würde etwa jede (wörtlich gemeinte) Theorie, wonach der Mensch imstande wäre zu fliegen, zum sofortigen Tod all seiner Adepten führen. Alles, was viabel ist, hat sich der »Natur der Dinge« notgedrungen ein Stück weit angepaßt und spiegelt sie deshalb auch in irgendeiner Weise wider. Allein schon durch die Eliminierung von gravierend überlebenswidrigen Ideen durch den evolutionären Selektionsprozeß aber enthalten die »überlebenden« Theorien, so abstrus sie sonst auch sein mögen, obligat ein »Körnchen Wahrheit«. Im selben gleichsam negativen Sinn in erster Linie, und viel weniger in ihren positiven Aussagen, besteht nach Popper ebenfalls in der Wissenschaft der Wahrheitsgehalt von immer bloß vorläufigen operationalen Hypothesen. Ein weiteres Argument, das gegen einen allzu radikalen Konstruktivismus spricht, ist die Tatsache, daß die Vernachlässigung von externen Einflüssen und Zwängen (constraints) auf das Denken geradewegs zu einer neuen Art von ego- oder anthropozentrischer Überschätzung der Eigenständigkeit des menschlichen Denkens, das heißt von Solipsismus zu führen droht, dessen Folgen auf die Dauer verheerend sein könnten. Denn im Ernst anzunehmen, es gebe eine »außersubjektive Realität« nur »in unserem Kopf«, läuft ja auch darauf hinaus, den Menschen und seinen Geist noch mehr, als dies ohnehin der Fall ist, illusionistisch abzukoppeln von einem ungeheuren Geschehen außerhalb und über und lange vor und nach uns, dem wir – sofern jedenfalls Viabilität, das heißt Nützlichkeit für unsere ureigensten Bedürfnisse tatsächlich zum obersten Kriterium erhoben werden soll – vielmehr wohl unsere Konstrukte mit Vorteil so gut wie irgendmöglich akkommodieren sollten, anstatt die ganze Natur gewaltsam unseren eigenen

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Bedürfnissen assimilieren zu wollen. Wohin uns die Vernachlässigung von naturgegebenen Grenzen und Zwängen möglicherweise einmal bringen könnte, zeigt sich unter anderem daran, daß bereits die Möglichkeit in Sicht kommt, daß wir uns eines Tages selbst ausrotten könnten, wenn wir unser Denken und Handeln einer übergeordneten »Natur der Dinge« nicht rechtzeitig und tief genug anpassen. Streng logisch ist dank dem Kardinalargument vom fehlenden Außenkriterium zur Validation unseres Erkennens freilich die Position des radikalen Konstruktivismus zweifellos unangreifbar. Indes kann man die radikalkonstruktivistische Theorie auch für ein flagrantes Beispiel jener einseitigen Überschätzung von sprachlich-logischen Deduktionen zuungunsten einer induktiven Hypothesenbildung halten, die Rupert Riedl als »deduktive Schlagseite des abendländischen Denkens« bezeichnet hat. Im gleichen Sinn erscheint ebenfalls der Diettrichsche Vorschlag, unser gesamtes Realitätsverständnis nach dem Muster der Physik zu operationalisieren und damit auf jeden externen Realitätsbegriff zu verzichten, trotz seiner logischen Stringenz als unzulässige Ausweitung einer physikalisch nützlichen Methode auf unser gesamtes Weltverständnis. Dies mag zwar in der Physik, nicht zwingend aber auch überall sonst sinnvoll sein. Ohnehin läßt sich eine rein physikalistische Operationalisierung der Biologie und Psychologie nicht konsequent durchführen, da sie einmal mehr einen fundamentalen Widerspruch, der allen solchen naturwissenschaftlichen Übergriffen fast immer unbemerkt innewohnt, geflissentlich übersieht: Die »streng objektivierende« Naturwissenschaft tätigt ja sämtliche ihre Entdeckungen und methodenkritischen Überlegungen selbst immerzu einzig und allein mit jenem von affektiven Einflüssen nie freien Instrument – nämlich der Psyche –, deren Existenz und Validität sie, weil ungenügend operationalisierbar, zugleich mit Verdacht belegt oder leugnet. Nicht so entgegen der Saga allerdings Descartes, der Erzvater des modernen naturwissenschaftlichen Rationalismus, der ja, was oft übersehen wird, sein ganzes nach Objektivität strebendes Gedankengebäude mit seinem berühmten »cogito, ergo sum« – »ich denke, also bin ich« – ausdrücklich gerade auf eine Art von Subjektivität gegründet hat. Zudem sonderte er, wenn man neueren Untersuchungen Glauben schenken darf, affektive Faktoren keineswegs so scharf von kognitiven, wie man das immerzu von ihm behauptet. »Descartes, der dem spezifisch Emotionalen der Rationalität sehr wohl Rechnung getragen hat, ist nie der Buchhalter eines gereinigten Denkens effektiver Zweckmäßigkeit gewesen. Vielleicht kann sich das am ehesten verdeutlichen, wer Descartes’ – zweitletzte – Schrift, die »Passions de l’âme« kon-

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sideriert. Dort jedenfalls zeigt sich der »Begründer der neuzeitlichen Rationalität« […] als Vertreter einer ganz spezifischen Rationalität, welche die Nähe zur Affektlehre sucht«, ist etwa bei J. P. Jauch zu lesen (1996). In einer modernen Version hätte Descartes also sein grundlegendes »Ich denke, also bin ich« möglicherweise explizit in »Ich denke und fühle, also bin ich« umformuliert. In jedem Fall aber bleibt sein subjektivistisches »cogito«, richtig bedacht, als Ausgangspunkt allen weiteren Fragens und Nachdenkens über das Realitätsproblem auch im Zusammenhang mit der Frage »Radikaler versus relativer Konstruktivismus?« unverzichtbar. Denn ohne eine solche existentielle Grundlegung müßte die formallogisch durchaus richtige Behauptung der Radikalkonstruktivisten, es gebe nichts Beweisbares außerhalb der »Realität in unserem Kopf«, letztlich ja auf die Absurdität hinauslaufen, es gebe auch diesen Kopf, beziehungsweise uns selbst, »in Wirklichkeit« gar nicht.

Der Mensch als »Sensor der Wirklichkeit« Nicht nur der Mensch, sondern jedes Lebewesen, ja letztlich überhaupt alles, was ist, erscheint in diesem Sinn sowohl als Zeichen oder Indikator wie auch als »Sensor« für »das, was wirkt« – für die Wirklichkeit also in einem sehr genauen und meines Erachtens auch erkenntnistheoretisch relevanten Wortsinn. Manche der geschilderten Schwierigkeiten hängen möglicherweise nämlich mit dem Umstand zusammen, daß konstruktivistische und andere Erkenntnistheorien vielfach mit einem inadäquat statischen und abstrakten Realitätsbegriff operieren, der bereits im Terminus »Realität« selbst enthalten ist. Denn dieser stammt vom lateinischen »res« = »Sache« und hat damit einen substantivistischen, das Begegnende versachlichenden und verdinglichenden, kurzum: ausgesprochen ontologisierenden Charakter. Das deutsche Wort »Wirklichkeit« dagegen verweist auf die Verben »wirken« und »bewirken«, auch auf »werken« oder »Werk«, allenfalls noch auf das Gewirkte und Gewobene, das heißt Strukturierte. All dies bringt viel stärker als das Abstraktum »Realität« zum Ausdruck, worum es eigentlich und ursprünglich immer geht: nämlich um Prozeß und Wirkung, um Aktion und Interaktion, um Handlung und Handgreiflichkeit (so könnte man geradezu sagen) – im psychischen Bereich also um ein handelndes Erleben des (oder vielmehr im) Begegnenden zunächst noch ganz jenseits von jeder Spaltung zwischen Subjekt und Außenwelt. Die Realität ist, so gesehen, nicht mehr eine statische »Sache« oder

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gar »Sachheit« (wie man wörtlich eigentlich übersetzen müßte), sondern die Summe alles Wirkenden. – Was ist damit gewonnen? Ein wesentlich dynamischerer und wohl auch plausiblerer Begriff des Gemeinten, denn kein Mensch wird vermutlich abstreiten wollen, daß wir andauernd einer unübersehbaren Fülle von Wirkungen ausgesetzt sind. Was und wie wir sind, ist durch diese Wirkungen bestimmt und stellt (wie alles, was ist) hierfür zugleich ein signifikantes Zeichen dar. Des weiteren wird klar, daß wir von all diesen Wirkungen immer nur einen beschränkten – nämlich einerseits den uns physiologisch überhaupt zugänglichen und andererseits den gerade jetzt für uns als relevant beachteten – Ausschnitt wahrzunehmen vermögen. An dieser (komplexitätsreduzierenden) »Selektion des Relevanten« aber sind, so werden wir sehen, immer auch Affekte maßgeblich beteiligt. Denn was für uns Realität ist oder wird, hängt (auch) von unserer affektiven Stimmung ab. Gleichzeitig wandeln wir uns selbst in der Perspektive, die ein solcher Wirklichkeitsbegriff eröffnet, vom unbeteiligten Außenstehenden zum Mitwirkenden – zum Mitspieler, sozusagen – in einem unübersehbar weitverzweigten Wirkgefüge, das wir mit unserem eigenen Handeln und Denken (wenn auch vielleicht bloß in minimalstem Ausmaß) mitbeinflussen. Mit berücksichtigt ist in einem solchen Realitätsbegriff ferner, daß – denken wir nur an das bekannte Phänomen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung – auch unsere Weltbilder und Vorstellungen ihrerseits einer »Wirklichkeit« im genannten Sinn entsprechen: Sie entfalten Wirkungen, die keineswegs bloß die »weiche Realität« des psychischkognitiven oder sozialen Bereichs betreffen müssen, sondern unter Umständen – wie etwa die Wirkungen unseres aktuellen Welt- und Naturverständnisses bis hin zu einer möglichen »hausgemachten« Klimaveränderung drastisch zeigen – durchaus auch die »harte Realität« unserer materiellen Umwelt massiv zu verändern imstande sind. Wirklichkeit im selben Sinn ist somit ebenfalls das gemäß unseren Plänen oder VorStellungen künftig zu Erwartende und bereits Vorauswirkende, wie auch das aus der Vergangenheit weiter Nachwirkende, für das wir dank unserem hochdifferenzierten Sensorium sensibel sind. In einem in diesem Sinn dynamisierten und gleichsam handgreiflich gemachten (weil dem subjektiven Erleben, Erleiden, »Begreifen« und »Behandeln« viel näheren) Begriff der Wirklichkeit klingt deshalb immer zugleich auch das Motiv der Verantwortung für unsere Wirklichkeitskonstrukte mit an, mit dem wir uns indes erst gegen Schluß des Buches des näheren beschäftigen wollen. Halten wir zusammenfassend vorderhand lediglich fest, daß wir im weiteren Verlauf unserer Untersuchung von einem Realitäts- und Menschenverständnis ausgehen, in

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welchem der Mensch mit all seinen Konstrukten sowohl als Produkt und signifikanter »Sensor der Wirklichkeit« wie auch als aktiver (Mit-)Gestalter und Bewirker dieser Wirklichkeit selber erscheint. Damit aber sind, weil sowohl Wirkungspotential wie Sensibilität eines derartigen Sensors naturgemäß den vielfältigsten Beschränkungen unterliegen, neben Möglichkeiten der Erkenntnis im Sinn eines relativen Konstruktivismus, nach allen Seiten hin erneut auch unüberschreitbare Grenzen in all unserem Verstehen aufgezeigt.

Persönliche Horizontbeschränkungen Zu diesen Grenzen gehören ebenfalls alle Horizontbeschränkungen, die man als »persönliche« bezeichnen kann, obwohl auch sie prinzipiell unausweichlich sind. Trotz ihrer Allgegenwart werden sie meines Wissens weder von konstruktivistischen noch von anderen Erkenntnistheorien gebührend reflektiert, sei es, weil sie zum vornherein als selbstverständlich gelten, sei es, weil die Beschäftigung mit ihnen besonders unangenehm ist. Um die Ausgangsbasis einer interdisziplinären Untersuchung wie der vorliegenden genauer zu bestimmen, ist es aber unumgänglich, sich auch hierüber einige Gedanken zu machen. Alles, was ich wahrnehme und denke, ist unweigerlich von meiner Herkunft, meinem persönlichen wie beruflichen Werdegang und, allgemeiner gesagt, von der Summe meiner Erfahrungen geprägt und limitiert. Ebenso beschränkt sind meine persönliche Wahrnehmungsund Aufnahmefähigkeit, mein Gedächtnis und meine intellektuellen Fähigkeiten überhaupt. Weitere Grenzen sind mir von meinem Charakter, meinen Energien, meinem Alter und meiner gesamten persönlichen Situation gesetzt. Auch der Moment, in dem ich gerade zu leben das Privileg habe, ist eine unüberwindbare Grenze: Schon morgen wird das, was heute gilt, zum größeren Teil überholt sein. Solchen Schranken entgeht, ganz gleich ob sie im einzelnen weiter oder enger gezogen sein mögen, grundsätzlich niemand. Ein wesentlicher Aspekt dieser Sachlage ist die Tatsache, daß heute selbst der trefflichste Gelehrte nicht mehr imstande ist, auch nur sein engstes Spezialgebiet einigermaßen erschöpfend zu beherrschen – geschweige denn interdisziplinär fundiert zuständig zu sein. Im Gegenteil: Je besser er eine umschriebene Fragestellung kennt, desto bewußter werden ihm neben den generellen auch die persönlichen Beschränkungen, die selbst da noch seinen Verstehenshorizont einengen. So ist es beispielsweise sogar in einem für den Außenstehenden so

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marginalen Problembereich innerhalb einer ohnehin eher randständigen Wissenschaft, wie es die Psychiatrie und darin das Schizophrenieproblem – meine persönlichen Spezialgebiete seit über 30 Jahren – sind, völlig unmöglich geworden, auch nur einen Bruchteil der jährlich hierzu veröffentlichten neuen Forschungsresultate zur Kenntnis zu nehmen. Denn Jahr über Jahr erscheinen darüber Hunderte von Büchern und Zehntausende von Zeitschriftenartikeln. Kennt man dieses scheinbar periphere Problemfeld von innen, so scheinen sich in ihm überdies nicht nur alle anderen psychologischen Probleme zu einem zentralen pluridisziplinären Fragenkomplex erster Güte – der Frage nämlich nach der psycho-sozio-biologischen Funktionsweise unserer Psyche überhaupt – zu verdichten, sondern diese »marginale Frage« fächert sich ihrerseits weiter auf in eine unübersehbare Fülle von neuroanatomischen und neurophysiologischen, psychopathologischen, psycho- und soziodynamischen, epidemiologischen, ökonomischen, ethnokulturellen, psychiatriehistorischen (usw.) Spezialproblemen, die sich ihrerseits wieder in zahllose Einzelfragen mit komplexen Querbeziehungen zu unbestimmt vielen anderen solchen Einzelfragen weiter differenzieren. Darüber hinaus gibt es – nicht nur in der Psychiatrie und Schizophrenielehre, aber hier vielleicht besonders ausgeprägt – eine Vielzahl von unterschiedlichen ideologischen Schulen und Perspektiven (beispielsweise die biologische, klinisch-phänomenologische, behavioristische, psychoanalytische, familien- und soziodynamische, system- und chaostheoretische), unter denen die gleichen Einzelbefunde in immer wieder anderem Licht und Zusammenhang erscheinen. Gerade diese sehr unterschiedlichen möglichen Beleuchtungen enthüllen zudem mit erschreckender Deutlichkeit, wie sehr die persönlich gewählte Sichtweise von den oben erwähnten Umständen und Begrenzungen abhängt. Versucht man gar, alle bisher nur auf abstrakter Ebene beschriebenen Zugangsmöglichkeiten auf eine konkrete Sonderfrage – etwa einen einzelnen kranken Menschen oder einen einzelnen Untersuchungsbefund – anzuwenden, so potenziert sich die erwähnte Problematik zusätzlich durch die Tatsache, daß solche allgemeine Erkenntnisse immer wieder der Spezifikation je nach individuellem Kontext bedürfen. Je tiefer man in irgendein psychisches Sonderproblem eindringt, desto mehr wird somit die Brüchigkeit dessen offenbar, was darüber mit angeblicher Sicherheit gewußt und ausgesagt werden kann. Nun mag man freilich einwenden, eine solche Sachlage sei vielleicht für die ungenauen »Wissenschaften von der Seele«, keinesfalls aber für die exakten Naturwissenschaften typisch. Allein, von nahe besehen scheint ebenfalls in der Molekularbiologie, der Chemie, ja der Physik

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und Mathematik die Problemlage grundsätzlich wenig anders zu sein, wie uns die nachdenklicheren unter den Vertretern dieser Sparten versichern. Zum mindesten gilt auch dort, daß längst kein Mensch mehr in der Lage ist, die in jedem kleinsten Untergebiet exponentiell wachsende Informationsflut wirklich zu bewältigen. Weil das affektiv-kognitive Fassungsvermögen des einzelnen, der mit dieser Information sinn- und kontextgerecht umgehen sollte, so beschränkt bleibt wie eh und je, vermag, wie schon einmal vermerkt, auch die enorme Vergrößerung der Speicher- und Verarbeitungskapazität durch immer leistungsfähigere Computer keine Abhilfe zu bringen. Außerdem erzeugt gerade die moderne elektronische Datenverarbeitung selbst infolge der ungeheuren Beschleunigung der Produktion und Verbreitung von Information, die sie kennzeichnet, eine ständig wachsende Datenmenge. Aber nicht nur der einzelne, sondern auch eine Gruppe ist prinzipiell überfordert, denn die Kollektivisierung der Denkabläufe bringt ihrerseits neue und – wie schon weiter oben im Zusammenhang mit der »Pluralität der Wahrheit« und den daraus unausweichlich sich ergebenden Konflikten deutlich wurde – nicht zuletzt auch affektiv bedingte Probleme der Kommunikation und Informationsverarbeitung mit sich. Leichter noch als beim einzelnen nehmen angesichts dieser Überforderung in der Gruppe die ältesten und nach wie vor effizientesten Mittel zur Komplexitätsreduktion überhand, die es gibt: nämlich die affektiven, von der passiven Gleichgültigkeit gegenüber allem, was nicht zur eigenen Ideologie paßt, bis zur aktiven Abwehr alles Störenden durch Aggression und offene Verachtung. So berichtete Konrad Lorenz (1987, S. 30), daß für einen seiner Königsberger Kollegen, den Philosophen Leider, die gesamte Naturwissenschaft nichts als »der Gipfelpunkt der dogmatischen Borniertheit« war, während umgekehrt sein berühmter naturwissenschaftlicher Lehrer Heinroth alle Philosophie kurzerhand als »pathologischen Leerlauf der dem Menschen zum Zwecke der Naturerkenntnis mitgegebenen Fähigkeiten« zu bezeichnen pflegte.

Jeder Versuch, interdisziplinäre Schranken zu überwinden – ein angesichts der immer extremeren Spezialisierung überall dringliches und im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geradezu unausweichliches Gebot – wird mit bewußten oder unbewußten Abwehrhaltungen dieser Art zu rechnen haben. Aber auch der gegenteiligen Gefahr, nämlich der Gefahr, problematische Befunde aus benachbarten Disziplinen mangels präzisen Sachwissens zu wenig kritisch zu begegnen, ist ein Stück weit überhaupt nicht zu entgehen. Je größer die Entfernung vom eigenen Sachgebiet, desto mehr verdünnen sich unweigerlich Quantität und Qualität von Teilkenntnissen; mögliche Vorteile einer weiteren Distanz ergeben sich nur in Glücksfällen. Als einzige Lösung bleibt, will man

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nicht auf jeden Versuch eines Brückenschlags zu Nachbardisziplinen zum vornherein verzichten, derartige Einschränkungen bewußt in Kauf zu nehmen und ihrer eingedenk aus der eigenen Perspektive nichts als Vorschläge zu machen, deren Beurteilung dann Sache der jeweiligen Partner aus anderen Disziplinen ist. Spätestens an dieser Stelle dürfte im übrigen klargeworden sein, daß zusätzlich zu allen bisher in Sicht gekommenen Faktoren, die unseren Verstehenshorizont obligat einengen, noch zahlreiche weitere zu berücksichtigen wären, die mit spezifischen Affektwirkungen auf Denken und Verhalten zu tun haben. Diese sind indessen Thema der nachfolgenden Kapitel und müssen vorderhand ausgeklammert bleiben. Damit überlappend ist außerdem an den gewaltigen unbewußten Unterbau zu denken, von dem sich nach Sigmund Freud und der Psychoanalyse alles herleitet, was wir bewußt denken, fühlen und tun. Die Existenz eines solchen »affektiven Unbewußten« – zur Zeit seiner Entdeckung durch Freud ein Ärgernis, das weltweite Empörung hervorrief – ist heute allgemein anerkannt. Forscher wie Piaget und Lorenz, neuerdings auch Kihlstrom, postulieren darüber hinaus sogar noch ein eigenes »kognitives Unbewußtes«, in welches namentlich sämtliche automatisierten kognitiv-sensorischen Abläufe im Sinn des weiter oben erwähnten »intuitiven Handlungswissens« und der sogenannten »Erkenntnis der Strukturen«, sowie auch alle angeborenen Formen der Anschauung mit Einschluß der früher erwähnten sprachlichen Universalien und angeborenen »Lehrmeister« des Denkens einzuordnen wären (Piaget 1973; Lorenz 1973; Riedl et al. 1980; Kihlstrom 1987). Obzwar aus meiner Sicht die Auftrennung in ein affektives und kognitives Unbewußtes wenig Sinn macht, da nach der eingangs erwähnten Grundthese der Affektlogik beide Komponenten gerade auch im Unbewußten untrennbar miteinander verbunden sind, ist doch klar, daß die Anerkennung eines zunehmend ausgedehnten unbewußten Unterbaus all unseres Denkens, Fühlens und Handelns einer zusätzlichen Einschränkung unseres persönlichen wie kollektiven Horizonts unbestimmten Ausmaßes gleichkommt. Je genauer wir die Voraussetzungen unseres Denkens überdenken, desto mehr schrumpfen also unsere Freiheitsgrade. Bevor wir hier weiterdenken, wollen wir uns kurz noch mit der schon einmal gestreiften, im angelsächsischen Schrifttum etwa als sogenanntes »cross-mappingproblem« (vgl. z. B. Cicchetti 1983, S. 117) bezeichneten Frage befassen, ob es wohl grundsätzlich überhaupt möglich und zulässig sei, dem Problem von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen, oder von affektiven Phänomenen überhaupt, vorwiegend mit den Mitteln des Denkens und der Wissenschaft beikommen zu wollen, oder ob etwa

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Gefühle nur über spezifisch affektive, Gedanken dagegen nur über intellektuelle Wege zugänglich sein mögen. – Eine erste Antwort könnte sein, daß diese Frage für uns im Grund gegenstandslos sein muß, da wegen des Ausgangspostulats eines obligaten Zusammenwirkens von Fühlen und Denken beide Komponenten an sämtlichen psychischen Leistungen unausweichlich beteiligt sind, ganz gleich welche Seite dieses Bipols wir zu untersuchen haben. Darüber hinaus ist indes auch einzuräumen, daß wir wohl kein einziges vernünftiges Wort über Gefühle zu sagen vermöchten, wenn wir nicht ständig auf unsere eigenen emotionalen Erfahrungen zurückgreifen könnten. Und ebenso selbstverständlich wird unser Denken stets an fremde und eigene gedankliche Vorarbeit anknüpfen müssen. Im weiteren Verlauf unserer Untersuchung sollte überdies klarwerden, daß affektive Komponenten – unter anderem in Form der sogenannten Intuition – auch Wesentliches zur Lösung von intellektuellen Problemen beizutragen haben, genauso wie umgekehrt unser Denken die Gefühle in mannigfachster Weise beeinflußt und erhellt.

Paradoxe Schlußfolgerung. Relative Sicherheit in der Unsicherheit Wenn wir uns abschließend die verschiedenen Aspekte unseres Wissens und Nichtwissens, die innerhalb des uns zugänglichen Horizontes in diesem Kapitel nacheinander zum Vorschein gekommen sind, nochmals vergegenwärtigen, so finden wir uns als Ausgangsbasis für alles Folgende in einer zwiespältigen Situation. Auf der einen Seite muß der Versuch, diese Basis durch irgendwelche Sicherheiten im uns zugänglichen Wissen und Erkennen zu befestigen, wohl definitiv als gescheitert betrachtet werden. Höchstens sind wir zu mehr Klarheit über unser fundamentales Nichtwissen, und als einzigen Trost darüber zu der Vermutung gelangt, daß wir mit der Zeit vielleicht immer besser wissen werden, was sicher nicht stimmt. Beides ist paradox und unbefriedigend. Auf der individuellen wie kollektiven Ebene gleicht unsere Lage, erkenntnistheoretisch gesehen, tatsächlich derjenigen des ruderlosen Schiffers im uferlosen Weltmeer der Ignoranz, die Friedrich Dürrenmatt im Leitwort, das diesem Kapitel voransteht, so drastisch zum Ausdruck bringt. Auf der anderen Seite aber schwimmen und überleben wir mit diesen unseren beschränkten Mitteln immerhin. Offenbar bietet das Floß, auf dem wir da fahren, eine gewisse zumindest relative Sicherheit.

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Zudem gibt es eine ganze Reihe von Anhaltspunkten für die Annahme, daß unsere Fahrt durch das Weltmeer der Unwissenheit möglicherweise gar nicht ganz so ohne Orientierung und Kompaß verläuft, wie uns die radikalsten Konstruktivisten gerne glauben machen möchten. Wenn es nämlich stimmt, daß wir Teil eines ungeheuren großen Ganzen sind, das selbst noch in seinen winzigsten fraktalen Splittern ein Quentchen echter Information über sich selbst enthält, so werden wir – und sei es nur in hochgradig verzerrter Weise – stets irgend etwas Signifikantes spüren und wahrnehmen, und damit in einem weiteren Sinn auch wissen von der »eigentlichen Wirklichkeit« aufgrund unserer durch diese Wirklichkeit selber herausgebildeten Fühl-, Denk- oder Sensorstrukturen. Daß wir überhaupt überleben, verdanken wir aller Wahrscheinlichkeit nach einzig gerade diesen Spuren von richtiger Information über das Ganze, die sich in und hinter unseren falschen Welterklärungen (mit Einschluß der wissenschaftlichen) verbergen. Die gleiche Sachlage dürfte dafür verantwortlich sein, daß wir bei all unserem Un- oder Teilwissen im handelnden Erleben beständig nicht nur weniger, sondern zugleich auch sehr viel mehr zu wissen scheinen, als wir »wissen, daß wir (nicht) wissen«. Denn immerzu stellen wir ganz unwillkürlich ja jedes einzelne Wissenselement in einen viel umfassenderen Kontext, als wir uns bewußt sind. Wir verwenden also im Grund bei allem Denken und Tun andauernd die gesamte Information, über die wir dank unserer Erfahrung verfügen. Auch dieser – weitgehend unbewußte – Mechanismus stellt eine wichtige Orientierungshilfe dar, ohne die wir nicht zu überleben vermöchten. Des weiteren deutet manches darauf hin, daß in den sukzessiven (Spannungs-)Lösungen, die unsere wechselnden Welterklärungen darstellen, ein verstecktes System und damit auch eine Richtung enthalten sein könnte, die wir allerdings, weil selbst darin befangen, nur höchst unzulänglich zu erkennen vermögen. Immerhin werden wir in Form der »Lust an der Lust« im Lauf unserer Untersuchung auf eine Art von »affektiven Kompaß« oder »Attraktor« treffen, der vermutlich diese Richtung ständig beeinflußt. Und schließlich sind möglicherweise die im vorangegangenen aufgezeigten Grenzen unseres Erkennens, evolutionär gesehen, gar nicht bloß ein Nachteil, sondern zugleich ein Vorteil: Denn Horizontbeschränkung ist gleichzeitig auch Komplexitätsreduktion, die die Aktion erleichtert; wüßten wir immerzu »alles«, so vermöchten wir vor lauter Ambivalenz vielleicht gar nicht mehr zu handeln, also zu überleben. Auch aus energieökonomischen Gründen mag (zu)viel Wissen deshalb gefährlich, Beschränkung auf das Nötigste dagegen zweckmäßig sein; gerade seines vielen Wissens wegen könnte der

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Mensch langfristig sogar wesentlich gefährdeter sein als, sagen wir, die Ameise. Insofern stellt die unausweichliche Beschränkung unseres Horizonts möglicherweise gar nicht nur einen unerträglichen »Constraint«, eine beklagenswerte Unzulänglichkeit, sondern zugleich eine weise Konzentration auf das Wesentliche dar, die ebenfalls dem Überleben dient. Welche erkenntnistheoretische Grundlage ergibt sich aufgrund solcher Überlegungen, alles in allem, für die Untersuchung über das Fühlen und Denken, die wir mit den Mitteln dieses Fühlens und Denkens selbst im Sinn haben? – Insgesamt gewinnt, allgemein formuliert, jeder einzelne Mensch oder »Sensor«, aber auch jede Theorie oder Welterklärung, eine Art von relativer Dignität und paradoxer Sicherheit in der Unsicherheit. Denn wo all die erwähnten Horizontbeschränkungen – mit Einschluß derer, die wir als »persönliche« bezeichnet haben – prinzipieller und unausweichlicher Natur sind, wo es also keinerlei absolute Autorität, keinen unfehlbaren Gelehrten oder »Papst«, kurz niemand »wirklich Kompetenten« gibt und geben kann, sondern bloß auf unterschiedlichen Beobachterposten situierte Sensoren der Wirklichkeit mit je anders begrenztem Blickfeld, da darf grundsätzlich jede solche Erklärung, sofern sie sich über einen genügenden Grad an Operationalität und »Viabilität« (oder, wie wir sehen werden, »Spannungslösung«) auszuweisen vermag, eine gewisse Gültigkeit beanspruchen. Der eigene Standpunkt, die eigene Perspektive und auch die bewußte Verwendung möglichst der gesamten von dort aus überblickbaren Information sind legitim, sofern wir stets der Tatsache eingedenk bleiben, daß sie innerhalb eines vielfach beschränkten Horizonts gewonnen wurde. Indem wir unser Wissen und Erkennen, ohne es radikal zu entwerten, immer nur als Annäherung an eine zwar anzunehmende, aber nie wirklich faßbare ontische Realität betrachten, entgehen wir einer doppelten Gefahr: der Gefahr nämlich, entweder unsere unpräzisen Ahnungen (mit Einschluß der wissenschaftlichen) als echtes Wissen zu verkennen, oder aber umgekehrt eine immerhin phantastische Menge von Information über diese Realität, die von »Sensoren« aller Art im Lauf der Onto- wie Phylogenese angesammelt worden ist, allzu kleinmütig einfach über Bord zu werfen. Entgegen einer naheliegenden Kritik öffnet eine derartige, scheinbar alles gleichmachende Relativierung und zugleich relative Validierung unserer je beschränkten Erkenntnismöglichkeiten keineswegs Tür und Tor zur Beliebigkeit. Im Gegenteil: mit der Bejahung der Legitimität des eigenen Blick- und Standpunktes und seiner gleichzeitigen Infragestellung geht – zumal wenn es sich, wie im vorliegenden Entwurf oder Vorschlag, um den Versuch eines interdisziplinären Dialogs han-

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delt – die Verpflichtung einher, diesen Standpunkt so gut wie nur möglich zu erhellen. Das harte Selektionskriterium der Operationalität oder Viabilität, dem sich jede Theorie so gut wie jedes Lebewesen, auch jeder Gebrauchsgegenstand, ausgesetzt sieht, wird ein übriges tun, um die Spreu vom Weizen zu sondern. Abschließend kann das Ergebnis unseres Versuchs, die erkenntnistheoretische Ausgangsbasis für die nachfolgende Untersuchung der emotionalen Grundlagen des Denkens zu klären, in wenigen Worten zusammengefaßt werden: Gewiß ist unser Horizont immer in vielfacher Weise eingeengt. Aber »beschränkter Horizont« ist nicht gleichbedeutend mit »kein Horizont«. Was wir gewahren, ist in irgendeiner Weise signifikant; wir wissen bloß nicht genau, wie und wofür. So dürfen wir getrost hoffen, daß auch in unserem Beitrag »ein Körnchen Wahrheit« enthalten sein wird. Wären wir nur imstande, tief genug zu schauen, so vermöchten wir wohl noch im kleinsten Ausschnitt, der uns gerade vor Augen liegt, den ganzen Kosmos zu erblicken.

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Zweites Kapitel Grundbegriffe der Affektlogik. Ausgangspostulate, biologische Grundlagen, Definitionen und Phänomenologie

Denken ohne Fühlen ist irrational. F. B. Simon (1984, S. 79)

Wie schon in der Einleitung vermerkt, geht unsere Untersuchung vom Konzept der Affektlogik aus, dessen Grundlagen erstmals 1982 in einem Buch gleichen Namen vorgestellt und seither in einer Reihe von Folgepublikationen systematisch weiterentwickelt worden sind (Ciompi 1982, 1986, 1988a–c, 1989, 1993)*. Dabei zeigte sich, daß dieser Ansatz, der ursprünglich vorwiegend im Zusammenhang mit psychopathologischen Fragen erarbeitet wurde, auch für psycho- und soziodynamische Prozesse ganz anderer Art und Dimension von Interesse ist. – In diesem Kapitel werden zunächst die theoretischen, empirischen und definitorischen Ausgangspositionen dieses Konzepts zusammenfassend erläutert; in den beiden Folgekapiteln sollen diese dann nach verschiedenen Richtungen, die für alles Weitere von Belang sind, weiter differenziert werden. Für eine ausführlichere Darstellung der Grundlagen der Affektlogik und insbesondere ihrer psychiatrischen und therapeutischen Implikationen muß auf die erwähnten Vorpublikationen verwiesen werden.

* Weitere Publikationen zur Affektlogik sind im Literaturverzeichnis kursiv gekennzeichnet.

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Theoretische Grundlagen

Integrierte funktionelle Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme als grundlegende Bausteine der Psyche Der Terminus »Affektlogik« hat eine doppelte Bedeutung: Er meint sowohl eine »Logik der Affekte« wie auch eine »Affektivität der Logik«. Der genaue Sinn dieses Doppelsinns wird sich im Verlauf unserer Untersuchung stufenweise klären. Er ergibt sich aus dem zentralen Ausgangspostulat der affektlogischen Theorie, wonach emotionale und kognitive Komponenten – oder Fühlen und Denken, Affekte und Logik – in sämtlichen psychischen Leistungen untrennbar miteinander verbunden sind und gesetzmäßig zusammenwirken. Dieses Postulat beruht einerseits auf psychodynamisch-psychotherapeutischen Beobachtungen und Alltagserfahrungen mit Einschluß der Introspektion, und andererseits auf Befunden aus der aktuellen emotions- und kognitionspsychologischen, neurobiologischen und vergleichend ethologischen Forschung, die sich gegenseitig stützen und ergänzen. Ein wichtiger Ausgangs- und Angelpunkt ist Jean Piagets schon im Vorkapitel erwähnte Einsicht, daß sämtliche mentalen Strukturen aus der Aktion, das heißt aus ursprünglich rein senso-motorischen Abläufen oder »Schemata« hervorgehen. Wie dort bereits hervorgehoben, gelingt es Piaget, mit dieser Erkenntnis den Graben zwischen biologischen und mentalen Phänomenen ein Stück weit zu überbrücken. Nach seinen Untersuchungen (und übereinstimmenden Befunden auch aus mehreren anderen Forschungsbereichen) werden angeborene senso-motorische Schemata im handelnden Erleben vom ersten Lebenstag an Stufe um Stufe weiterentwickelt, untereinander koordiniert, äquilibriert, automatisiert und schließlich zunehmend »verinnerlicht« oder »mentalisiert«, das heißt in einen psychischen (oder geistigen) Phänomenbereich übergeführt (Piaget 1977a, 1977b). Was freilich das Wesen dieser Mentalisierung – und damit auch des »psychischen Phänomenbereichs« – genauer sein mag, ist nach wie vor nicht befriedigend geklärt. Fest steht einzig, daß dank höchstdifferenzierten neuronalen Strukturen bei der Genese des menschlichen Bewußtseins ein Prozeß der progressiven Informationsverdichtung bis zu einem Grad der Klarheit und Kompaktheit möglich wird, wie er von keinem anderen Tier erreicht wird. Von größter Wichtigkeit ist ferner, daß sich parallel zum Bewußtsein ebenfalls die sogenannte semiotische Funktion, das heißt die Fähigkeit zur symbolischen Darstellung von Konkreta durch abstrakte gestuelle, bildhafte und vor allem sprachliche Zeichen entwickelt – ein entscheidender Schritt der Rationalisierung und Komplexitätsreduktion, der indes nach Piagets Untersuchungen nicht etwa als Voraussetzung, sondern vielmehr

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Grundbegriffe der Affektlogik

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als Folge des genannten mentalen Verdichtungsprozesses zu verstehen ist. Im Unterschied zu Piagets genetischer Epistemologie, die sich fast ausschließlich auf die Entstehung der kognitiven Strukuren konzentriert, berücksichtigt nun aber die Affektlogik systematisch, daß jede Art von Aktivität neben kognitiven auch emotionale Komponenten enthält. Ohne emotionalen Anstoß gibt es keine Aktion. Gemäß konvergierenden Befunden aus verschiedensten Bereichen der Verhaltensforschung und Psychologie, die auch mit der Alltagserfahrung übereinstimmen, gehen solche affektive Komponenten obligat in sämtliche sich bildenden kognitiven Strukturen und Gedächtnisspuren mit ein. Mit anderen Worten, als Niederschlag der Aktion oder Erfahrung entstehen nicht bloß kognitive, sondern immer typisch affektiv-kognitive Bezugssysteme oder Schemata. Eine solche regelmäßige Verbindung von kognitiven mit affektiven Elementen ist namentlich bei der Entstehung von bedingten Reflexen und anderen Lernprozessen extensiv erforscht und erscheint dort sowohl aus ökonomischen wie biologischevolutionären Gründen als zutiefst sinnvoll. So ist schon bei einfachen bedingten Reflexen etwa vom Typus des sprichwörtlichen »Gebrannte Kinder fürchten das Feuer« offensichtlich, daß ein mit einer spezifischen kognitiven Gestalt (hier dem Feuer) fest verbundener Angstaffekt dauerhaft vor Schaden zu bewahren vermag. Aber auch bei der mnestischen Speicherung einer erstmals durchlaufenen Wegstrecke beispielsweise ist es für Tier wie Mensch gleichermaßen lebenswichtig, zusammen mit rein kognitiven Kennzeichen dieses Weges auch Angst- oder Lustgefühle im Gedächtnis zu behalten, die mit drohenden Gefahrenquellen oder mit Orten verbunden sind, die Nahrung oder Schutz bieten. Damit werden situationsgerechte psychische Gestimmtheiten und Verhaltensweisen wie Vorsicht, gespannte Aufmerksamkeit oder Entspannung mitsamt den zugehörigen körperlichen Bereitschaften bei jedem erneuten Begehen desselben Weges quasi automatisch reaktiviert. In den beschriebenen affektiv-kognitiven Bezugssystemen ist also die relevante diachrone Erfahrung zu einem synchronen »Programm« kondensiert, das für künftige Aktionen immer wieder zur Verfügung steht und sich, mobilisiert von geeigneten Auslösern, in ähnlichem Kontext jeweils neu aktualisiert, oder gewissermaßen diachron »entrollt«. Solche erfahrungsgenerierten affektiv-kognitiven Bezugssysteme oder integrierte Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme, wie wir sie in der Folge bevorzugt nennen werden, reichen in ihrem Komplexitätsgrad von reflexartigen elementaren Abläufen bis zu hochkomplexen Verhaltensweisen mit zahlreichen Abwandlungsmöglichkeiten und Freiheits-

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Theoretische Grundlagen

graden. Ausgehend von angeborenen elementaren Reflexschemata wie beispielsweise dem Saug- oder Greifreflex beginnt ihre Konstruktion und Weiterdifferenzierung am ersten Lebenstag und hört virtuell während des ganzen Lebens nicht mehr auf. In den ersten Monaten und Jahren erfolgen dabei grundlegende Prägungen sowohl kognitiver wie namentlich auch affektiver Art, deren Wirkung lebenslang anhalten kann. Neue Lernerfahrungen generieren aber auch teilweise neue Programme, und ein gewisser Um- und Neubau von Gedächtnisinhalten findet, wie einschlägige Untersuchungen zeigen, unter dem Einfluß von neuen Sichtweisen und Erlebnissen bis ins hohe Alter statt. Die in der Aktion, also im handelnden Erleben sich bildenden Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme betreffen alle möglichen Bereiche des Lebens, vom Umgang mit alltäglichen Gegenständen und örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten über technische Fertigkeiten aller Art bis zu differenzierten zwischenmenschlichen Verhaltensweisen. Erstere sind namentlich im Rahmen der Piagetschen genetischen Epistemologie und der behavioristischen Lerntheorien, letztere dagegen im Rahmen der psychoanalytischen Praxis und Theorie minutiös erforscht worden. Dementsprechend umfassen die genannten »Programme« alle nur möglichen Denk- und Wahrnehmungsobjekte von einfachsten kognitiven Gestalten (etwa einzelnen Sinnesreizen, Gegenständen, Personen) bis hin zu differenzierten Gedankengebäuden und ganzen Theorien oder Ideologien. Nach dem Grundkonzept der Affektlogik bilden solche affektiv-kognitiven Bezugssysteme oder Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme auf unterschiedlichsten hierarchischen Ebenen immer wieder die grundlegenden »Bausteine der Psyche«. Ein Beispiel für derartige Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme sind elementare Angst- oder Vermeidungsreaktionen von der Art der »bedingten«, das heißt durch Erfahrung erworbenen Reflexe. Ein maximal komplexes, aber in seiner Grundstruktur durchaus analoges Beispiel stellen dagegen die sogenannten Selbst- und Objektrepräsentanzen im psychoanalytischen Sinn dar (Kernberg 1976, 1980). In solchen Repräsentanzen sind relevante affektiv-kognitive Erlebnisse mit den Eltern und anderen emotional wichtigen Bezugspersonen aus frühkindlichen Prägephasen gespeichert und zu zentralen Leitvorstellungen über sich selbst und andere Menschen verdichtet. Sie bestimmen nicht nur den Umgang mit den ursprünglichen Zentralfiguren, sondern die ganze soziale Wahrnehmung und Kommunikation. Als sogenannte Übertragungsreaktionen – etwa in Form einer unterwürfigen und zugleich untergründig aggressiven Haltung gegenüber Autoritätspersonen als späte Folge einer als übermächtig und gefährlich erlebten Vaterfigur – können derartige »Programme« nach psychoanalytischen Erkennt-

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nissen das gesamte Fühlen, Denken und Verhalten unbewußt ständig mitbestimmen. In prinzipiell ganz gleicher Weise heften sich aber, wie wir im weiteren Verlauf unserer Untersuchung noch genauer sehen werden, charakteristische Affektfärbungen, die mit der Zeit genauso unbewußt werden, auch an alle anderen Kognitionen mit Einschluß sogar von scheinbar affektneutralen, in Wirklichkeit aber versteckt lustvollen Abstraktionen und logischen Operationen. Die fortdauernden Wirkungen solcher Affektkomponenten sind dafür verantwortlich, daß unser Denken – sinnvollerweise – mit situativ bedingten Varianten bevorzugt immer wieder in bestimmten Bahnen oder Schienen kreist, die sich in der Vergangenheit als besonders zweckmäßig (oder »viabel«) erwiesen haben. Einfache wie komplexe kognitive Objekte sind demnach obligat mit einer charakteristischen affektiven Färbung oder Affektmischung versehen, die auf prägende Erfahrungen zurückgeht und um so stabiler bleibt, je häufiger sich gleichartige Erfahrungen wiederholen. Solche Affektkomponenten, die inhaltlich die ganze Palette von möglichen Grundgefühlen (siehe unten) und deren unendliche Abwandlungen umfassen, brauchen nicht notwendig bewußt zu sein; im Gegenteil: Je besser sich die funktionellen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme einschleifen und automatisieren, um so weniger sind sie mit bewußter Aufmerksamkeit belegt. Insgesamt gleichen die mentalen Strukturen oder Programme somit einem durch den Gebrauch selbst angelegten und im Gebrauch ständig weiter aus- und umgebauten Weg- oder Straßensystem mit einigen früh schon festgelegten breit ausgewalzten Hauptachsen und einer komplex verschachtelten Hierarchie von mehr oder weniger fixen Verbindungsstraßen und -sträßchen zweiter und dritter bis n-ter Ordnung. Selbst Fuß- und Schleichwege fehlen nicht, und aus einem zunächst ganz unaufälligen Seitenpfad mag sich mit der Zeit ein immer häufiger benutzter Fühl-, Denk- und Verhaltensweg, zuletzt vielleicht sogar ein vollautomatisierter »Gemeinplatz« entwickeln. – Im nachfolgenden Unterkapitel werden wir sehen, daß dieser Vergleich seine recht genaue Entsprechung im neuronalen Netz- oder Wegsystem findet, das ebenfalls zu einem guten Teil durch die Aktion selbst gebahnt und durch Wiederholung und Habituation zu einem hochkomplexen funktionellen Netzwerk mit automatisch bevorzugten breiten Heerstraßen und zahllosen Haupt- und Nebenwegen verschiedenster Ordnung ausgebaut wird. Beim niederen Tier sind die meisten dieser »Straßen« im vornhinein phylogenetisch festgelegt, wogegen bei den höheren Primaten und speziell beim Menschen die Umweltplastizität dieses »Straßennetzes« enorm wird. Zu bedenken ist dabei aber, daß ebenfalls vererbte

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Verhaltensweisen letztlich nichts als Aktionen kondensieren, die aufgrund ihrer Zweckmäßigkeit evolutionär selektioniert worden sind. Emotionale Komponenten sind nach den Konzepten der Affektlogik in dieses Netzwerk nicht nur überall funktionell eingebaut, sondern sie spielen auch bei seiner Organisation und Strukturierung von Anfang an eine zentrale Rolle. Wir werden uns mit diesen für unsere gesamte Untersuchung zentral wichtigen organisatorisch-integratorischen sogenannten Operatorwirkungen von Affekten auf das Denken erst im folgenden Kapitel genauer beschäftigen. Einen vorläufigen Zugang vermittelt indes bereits die Entstehung der oben erwähnten Selbst – und Objektrepräsentanzen: Nach übereinstimmenden Befunden von Untersuchern unterschiedlicher Fachrichtung entstehen diese mentalen Repräsentanzen nämlich in den ersten beiden Lebensjahren in einem langwierigen Prozeß, der von den frühesten Kontakten zwischen Mutter und Kind ausgeht und unter anderem auf den oben genannten Saug- und Greifreflexen, ferner auf reflektorischen Augenbewegungen und anderen angeborenen senso-motorisch-affektiven Schemata aufbaut. Namentlich psychoanalytische Rekonstruktionen, aber auch direkte Beobachtungen von Kleinkindern lassen darauf schließen, daß der Säugling in den ersten Monaten sein gesamtes »Weltbild« zunächst in zwei (und nur zwei) scharf voneinander geschiedene Kategorien einteilt, die durch eine gegensätzliche Affekttönung charakterisiert sind: Einerseits werden alle mit positiven Affekten belegten kognitiven Erfahrungen (Situationen von angenehmer Wärme, Trinken, Sättigung, Behaglichkeit, Geborgenheit vermittelnde Präsenz einer wichtigen Bezugsperson usw.) zu einer lustbetonten »Alles-gut-Welt«, wie Kernberg formuliert, vereinigt. Auf der anderen Seite verbinden sich alle affektiv negativ konnotierten Kognitionen (Situationen von Kälte, Hunger, Naßliegen, unangenehm schmerzhafte oder störende Gegenstände, Geräusche, Lichtreize, Einsamkeit usw.) zu einer unlustbetonten »Alles-schlechtWelt« (Kernberg 1976, 1980). Erst mit der Zeit werden in diese beiden gegensätzlichen affektiv-kognitiven Konglomerate im Zug eines – wiederum stark affektgeleiteten – Differenzierungsprozesses zunehmend feinere Unterscheidungen (und Unterscheidungen von Unterscheidungen …) eingeführt. Affekte wie Lust und Unlust spielen hier also klar die Rolle von Organisatoren und Integratoren von kognitiven Inhalten; diese elementar affektorganisierten einseitigen »Alles-gut-« oder »Alles-schlecht-Welten« können übrigens im Rahmen von euphorischen oder depressiven Stimmungsschwankungen unter Umständen auch im späteren Leben immer wieder überhandnehmen. Wie ebenfalls einleitend schon erwähnt, ist – von der Psychoanalyse und den Lerntheorien einmal abgesehen – die Bedeutung von solchen

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obligaten Koppelungen zwischen affektiven und kognitiven Komponenten, obwohl an sich von niemandem grundsätzlich geleugnet, von der spezialistisch meist entweder auf kognitive oder emotive Aspekte zentrierten psychologischen wie biologischen Forschung lange Zeit gewaltig unterschätzt worden. Entsprechend wenig Interesse fand bis vor kurzem auch das Phänomen von systematischen affektiv-kognitiven Wechselwirkungen. Piaget zum Beispiel hat sich damit meines Wissens einzig in einer heute berühmt gewordenen, unter dem Druck kritischer Studenten 1953/54 zustande gekommenen Semestervorlesung an der Pariser Sorbonne gezielt auseinandergesetzt, die postum erst 1981 auf englisch und 1995 schließlich auch auf deutsch publiziert wurde (Piaget 1981, 1995). Er räumt dort – ganz in Übereinstimmung mit zahlreichen verstreuten Textstellen in seinem immensen Werk – zwar immer wieder ein, daß »komplementäre« oder »isomorphe« affektive Komponenten mit sämtlichen kognitiven Funktionen stets untrennbar verbunden seien. Nicht selten spricht er auch von »affektiven Schemata« und gelegentlich sogar von einer »affektiven Logik«, worunter er die Folgerichtigkeit zu verstehen scheint, die sich aus der Wirkung permanenter Gefühle wie etwa des Gerechtigkeitsgefühls oder anderer »moralischer Gefühle« auf Denken und Verhalten ergibt. In einigem Widerspruch dazu gesteht er gleichzeitig den Affekten aber einzig energetisierende und motivierende oder demotivierende Wirkungen auf die Kognition zu, wogegen er zusätzliche organisatorische und integratorische Effekte, wie ich sie weiter oben schon kurz beschrieben habe, kategorisch ablehnt (»… even if affectivity can cause behavior, even if it is constantly involved in the functioning of intelligence, and even if it can speed up or slow down intellectual development, it nevertheless does not, itself, generate structures of behavior and does not modify the structures in whose functioning it intervenes« [Piaget 1981, S. 6; s. a. S. 2, 60 u. 74]). Von solchen Wirkungen war bis vor kurzem aber auch in der übrigen psychologischen und biologischen Forschung kaum je die Rede. Wir werden uns mit derartigen Diskrepanzen erst des näheren befassen können, wenn wir (im nächsten Kapitel) die Natur von vielfältigen Zusatzwirkungen der Affekte auf das Denken genauer analysiert haben werden. Halten wir als Abschluß dieser knappen Darstellung der wichtigsten Ausgangspositionen der Affektlogik vorerst lediglich fest, daß das Konzept der operationalen affektiv-kognitiven Bezugssysteme – oder Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme – als »Bausteine der Psyche« ein bemerkenswertes integratives Potential besitzt. In der Tat stellt es sinnvolle Beziehungen zwischen mehreren zunächst scheinbar ganz heterogenen Zugängen zu psychischen Phänomenen her. So erfaßt es nicht nur Zusammenhänge zwischen emotionalen und kognitiven Pro-

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zessen in funktioneller Weise, sondern integriert über die Tatsache, daß in Struktur und Hierarchie der beschriebenen »mentalen Wegsysteme« immer auch die gesamten Umweltbeziehungen mit eingespeichert sind, ebenfalls familiäre und soziale Einflüsse aller Art. Zwischen der individuellen Struktur von affektiv-kognitiven Bezugssystemen und dem familiären und sozialen Geschehen bestehen demnach zirkuläre Wechselbeziehungen. Des weiteren besitzen die systematisch in alles Denken und Verhalten einbezogenen Affekte, wie wir bei der Erörterung definitorischer Probleme weiter unten noch genauer zeigen werden, immer auch eine spezifisch psychosomatische Dimension. Damit aber ergibt sich eine natürliche Basis für eine simultan individuum- wie auch familien- oder umweltbezogene Betrachtungsweise allen psychischen Geschehens, die gleichzeitig auch genuin psychosomatisch ist. Vielfach als praktisch unvereinbar betrachtete individuumzentrierte psychodynamisch-psychoanalytische, behavioristische, soziodynamisch-systemtheoretische und körperbezogene Verstehensweisen der Psyche lassen sich somit in der affektlogischen Theorie fruchtbar miteinander in Verbindung bringen. In den Abschlußkapiteln wird sich zeigen, daß dieses integrative Potential auch praktisch vielfach genutzt werden kann. Zusammenfassend darf oder vielmehr muß nach dem Konzept der Affektlogik der »psychische Apparat« als ein komplex hierarchisiertes Gefüge von internalisierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen verschiedenster Größenordnung und Wertigkeit aufgefaßt werden. Diese Programme oder affektiv-kognitiven Bezugssysteme entstehen von angeborenen Grundlagen aus selbstorganisatorisch in der Aktion durch operationale Zuordnung bestimmter Affekte zu bestimmten Kognitions- und Verhaltenssequenzen. Sie werden durch repetitive Erfahrung laufend befestigt, verändert oder neu konstruiert, und jeweils in verwandtem Kontext durch spezifische kognitive oder affektive Auslöser reaktiviert. – Bevor wir uns anschicken können, uns mit einer Fülle von – unter anderem definitorischen und phänomenologischen – Folgefragen auseinanderzusetzen, die durch diese Ausgangspositionen aufgeworfen werden, müssen wir uns indes mit den neurobiologischen Grundlagen dieser Konzeptualisierung vertraut machen.

Biologische Grundlagen der Affektlogik In der Aufklärung der zerebralen Grundlagen von affektiven wie kognitiven Phänomenen sind, wie schon einleitend betont, in den letzten 10 bis 20 Jahren enorme Fortschritte erzielt worden. Während die obigen,

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in ihren Anfängen bis in die späten siebziger Jahre zurückreichenden Postulate ursprünglich ganz vorwiegend von klinisch-psychologischen und psychopathologischen Befunden ausgingen, können sie sich heute zu einem guten Teil auf – fast durchweg frappant konvergierende – Erkenntnisse aus der neurobiologischen Grundlagenforschung stützen. Auch für die Hirnforscher ist inzwischen das lange Zeit marginale Problem von Emotionen und emotional-kognitiven Wechselwirkungen zu einem wichtigen Brennpunkt des Interesses geworden. Aktuelle Zugänge zu diesem Fragenkreis basieren denn auch in allererster Linie auf den Ergebnissen von neueren neurobiologischen Untersuchungen (vgl. z. B. Panksepp 1991; Derryberry et al. 1992; LeDoux 1993; Schore 1994, Damasio 1995). Forscher wie Papez (1937), Klüver-Buci (1939), McLean (1949, 1952, 1993), Hess (1957), Arnold (1960) und Delgado (1969) hatten aufgrund von eigenartigen affektiven Veränderungen, die bei Läsionen oder Reizungen im Bereich des sogenannten limbisch-paralimbischen Systems auftraten, allerdings schon vor Jahrzehnten immer wieder die Vermutung geäußert, daß in diesem Bereich wichtige affektregulierende Zentren lokalisiert seien. Diese Annahme hat sich inzwischen immer eindeutiger bestätigt. Unter dem limbischen System (von lat. limbus = Rand, ein bereits 1878 von Broca eingeführter Begriff) ist nach den Vorschlägen von Paul McLean (1952) eine subkortikale, zwischen dem entwicklungsgeschichtlich jungen Großhirn (dem Neokortex) und dem viel ältern Mittelhirn und Hirnstamm (dem Palaeoencephalon) eingeschobene Rand- und Übergangsregion von komplexer Struktur zu verstehen, zu welcher vor allem der Hippocampus und die Mamillarkörper, die Mandelkerne (nuclei amygdalae), der Gyrus cinguli und das Septum pellucidum gehören (vgl. Abb. 1). Die genauen Grenzen dieses Systems stehen indessen nicht fest; gewisse Autoren zählen ihm ebenfalls das Riechhirn (bulbus olfactorius), den Gyrus parahippocampalis und andere Nachbarregionen zu. McLean (1970) faßte dieses der Affektregulation dienende »niedrige Säugergehirn« aus evolutionärer Sicht als zentrales Element eines dreiteiligen (»triunen«) Primatengehirns auf, das außerdem aus einem alten, die körperlichen Grundfunktionen und das Instinktverhalten gewährleistenden »Reptiliengehirn« sowie einem viel jüngeren, hochdifferenzierte kognitive Funktionen ermöglichenden »höhern Säugergehirn« aufgebaut sei. In einer seiner letzten Publikationen (1993) bringt er diese Dreierstruktur auch ausdrücklich mit einer zwiebelschalenartigen »fraktalen Biologie« in Verbindung. Ganz im Sinn der affektlogischen Konzepte würden die emotionalen Regulationen demnach eine typische Mittel- und Vermittlerposition zwischen einem

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kognitiv-geistigen Pol auf der einen und einem sensomotorisch-körpernahen Pol auf der anderen Seite einnehmen.

Abb. 1: Lage des limbischen Systems im Gehirn (Senkrechtschnitt; aus Ciompi 1993a, Spektrum der Wissenschaft)

Allerdings ist die schematische Idee eines solchen »triunen Gehirns«, – gleich wie auch das ganze Konzept eines scharf abgrenzbaren »limbischen Systems« selbst –, inzwischen unter erheblichen Beschuß geraten. Unter anderem wird darauf hingewiesen, daß auch schon die Reptilien und niederen Säuger über ein recht hochentwickeltes kognitives System verfügen. Zudem scheint die Verquickung von affektiven und kognitiven Funktionen noch sehr viel weiter zu gehen, als ursprünglich angenommen. Emotionale Prozesse sind nach neueren Erkenntnissen nicht nur im limbischen Bereich lokalisiert, sondern reichen vom Hirnstamm und Hypothalamus über das limbisch-paralimbische System bis

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weit in die höheren, insbesondere rechtsseitigen präfrontalen Rindenbezirke des Großhirns hinauf. Andererseits sind wichtige kognitive Funktionen offenbar ebenfalls in den limbischen Strukturen angesiedelt (Derryberry u. Tucker 1992; Borod 1992; Schore 1994). Joseph LeDoux, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, vertritt heute sogar die Meinung, daß eigentlich nur die Mandelkerne – ein aus über zehn Unterbereichen bestehendes Zellsystem im limbischen Bereich – ein gesichertes Element des in seiner Komplexität erst ungenügend bekannten affektregulierenden Netzwerkes darstellten, während andere zunächst ebenfalls als »emotional« aufgefaßte limbische Strukturen wie der Hippocampus und die Mamillarkörper in erster Linie für kognitive Funktionen, darunter namentlich für bestimmte Gedächtnisleistungen, zuständig seien (LeDoux 1993). Daß affektive Komponenten für alle Gedächtnisleistungen – und damit auch für die ganze Persönlichkeitsorganisation – von großer Wichtigkeit sind, postulierte im übrigen aufgrund von Läsionsexperimenten vor Jahrzehnten auch schon Magda Arnold mit ihrem Begriff eines »affektiven Gedächtnisses« (1960, 1970). Für zirkuläre affektiv-kognitive Interaktionen sorgt ein dichtes System von auf- und absteigenden Assoziationsfasern. Über sie sind die Mandelkerne nicht nur mit den präfrontalen Rindenregionen, die als Sitz der höheren geistigen Funktionen gelten, sondern ebenfalls mit dem Thalamus, dem wichtigsten Schaltzentrum für sensorische Stimuli, eng verbunden. Es gilt heute als gesichert, daß sie sämtlichen einlaufenden sensorischen Reizen eine positive oder negative emotionale Färbung verleihen. Über zusätzliche Verbindungen mit den motorischen Rindenregionen und den unmittelbar benachbarten hypothalamisch-hypophysären Hormonregulationszentren beeinflussen die emotionsgenerierenden und -regulierenden Bereiche außerdem den vegetativen Apparat und damit die gesamten inneren Organe. Auch anatomisch wie funktionell sind also alle Voraussetzungen für die von der Affektlogik postulierten engen Wechselwirkungen nicht nur zwischen affektiven und kognitiven Funktionen, sondern auch zwischen der affektiven Stimmung und dem ganzen »peripheren Körper« mit Einschluß von sensorischen Funktionen und Psychomotorik erfüllt. Von besonderem Interesse ist im Hinblick auf langwierige Kontroversen der Psychologen für oder wider ein Primat der Affekte über die Kognition (s. unten) außerdem die Erkenntnis, daß sensorische Reize nicht nur über den Umweg über die Großhirnrinde, sondern ebenfalls über direkte subkortikale Bahnen vom Thalamus zu den Mandelkernen zu gelangen und dort emotionale Reaktionen ganz ohne Beteiligung des Neokortex auszulösen vermögen. LeDoux (1989, 1993) interpre-

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tiert diesen von ihm entdeckten direkten Zugang als ein Frühwarnsystem, welches im Notfall – zum Beipiel bei plötzlich auftauchender Gefahr – ein adäquates Verhalten auch ohne zeitraubende bewußte Reflexion erlaubt. Erst sekundär würden blitzschnelle Schreck- oder Angstreaktionen über die längeren Verbindungsbahnen vom Thalamus zur Hirnrinde dann einer bewußten kognitiven Kontrolle und Verarbeitung unterzogen. Ein weiteres fundamentales neurobiologisches Phänomen, das im Konzept der Affektlogik eine große Rolle spielt, ist dasjenige der sogenannten neuronalen Plastizität. Darunter ist die Tatsache zu verstehen, daß neuronale Verbindungen um so durchgängiger werden, je häufiger sie aktiviert werden. Zu diesem Phänomen trägt sowohl die sogenannte Langzeitpotenzierung der Synapsen wie auch eine funktionsentsprechende Neubildung von neuronalen Verzweigungen (dendritisches Wachstum) bei. Das neuronale Netzwerk gleicht somit tatsächlich einem Weg- oder Straßensystem, dessen Verbindungswege sich durch den Gebrauch selbst bahnen. Das vergangene Erleben ist in ihrer Struktur gewissermaßen als Kondensat gespeichert, oder anders gesagt: Die gewachsene Feinstruktur des neuronalen Verbindungsnetzes stellt das eigentliche »Gedächtnis« dar. Dieses ist entgegen ursprünglichen Annahmen also nicht in einem eigenen »Gedächtniszentrum« lokalisiert, sondern vielmehr über (fast) das ganze Gehirn verteilt. Dank dem Phänomen der neuronalen Plastizität verbinden sich senso-motorische und kognitive Abläufe über repetitive Aktivität mit zugehörigen affektiven, hormonalen und vegetativen Komponenten zu funktionell integrierten neuronalen Assoziationssystemen – eine Tatsache, die experimentell, wie schon erwähnt, bei der Genese von bedingten Reflexen (beispielsweise in Form einer dauerhaften Verbindung von bestimmten Verhaltensweisen mit Angst vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung) längst nachgewiesen ist. Auf diesem Phänomen beruhen aber auch alle komplexeren Lernvorgänge mit Einschluß derjenigen, die in der Erziehung wirksam werden. Ein großer Teil des Alltagsdenkens und -verhaltens ist durch derartige affektiv-kognitivsensomotorische Assoziationen konditioniert und kanalisiert. Als typische Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme, die durch spezifische Affekte charakterisiert sind, erscheinen ebenfalls mehrere (allerdings erst teilweise bekannte) affektspezifische übergeordnete neuronale Funktionssysteme mit integrierten emotionalen, kognitiven, senso-motorischen und hormonal-neurovegetativen Komponenten. Gleichzeitig stellen solche Systeme, die auf der Grundlage von angeborenen Anlagen via neuronale Plastizität durch Erfahrung laufend weiter differenziert werden, eindrucksvolle Belege für typisch organi-

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satorisch-integratorische Wirkungen von Affekten auf Denken und Verhalten dar, wie wir sie im nachfolgenden Kapitel näher analysieren werden. Ein schon seit den siebziger Jahren bekanntes Beispiel für ein solches integriertes Funktionssystem ist das sogenannte Belohnungssystem. Es wurde durch Experimente mit Ratten entdeckt, die über eine ins Hirn eingepflanzte Elektrode mittels Druck auf eine Taste bestimmte zerebrale Regionen elektrisch reizen konnten, die offenbar intensive Lustgefühle provozierten. Wurde die Elektrode ins mediale Vorderhirnbündel – eine wichtige Verbindungsbahn zwischen limbischem System und Frontalhirn – eingepflanzt, so wurden die Tiere derart süchtig, daß sie tagelang lebenswichtige Aktivitäten wie Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, Schlaf und sogar Sexualität vernachlässigten. Die Erregung benachbarter Hirnformationen hatte ähnliche, wenn auch weniger dramatische Wirkungen. Teile eines solchen »Belohnungssystems« erstrecken sich vom präfrontalen Kortex entlang der Hirnunterseite über Hypothalamus und limbisches System bis zum Hirnstamm. In den in dieses System einbezogenen präfrontalen Rindenbereichen speziell der rechten Hemisphäre sind nach heutiger Auffassung beim Menschen die hierarchisch höchsten Affektregulationen lokalisiert (Routtenberg 1978). Ein anderes bereits recht gut identifiziertes affektspezifisches Funktionssystem ist das sogenannte Furcht-Angst-System. Sein wichtigstes Zentrum scheinen wiederum die Mandelkerne zu sein, von denen beteiligte Assoziationsbahnen zu vegetativen, hormonalen und sensomotorischen Schaltzentren weiterlaufen. Stimulations- und Läsionsexperimente zeigen, daß über dieses System eine umfassende Umstimmung praktisch aller Körperfunktionen entsprechend einem dominierenden Angstaffekt erfolgen kann. Über eine Erhöhung von Vigilanz und Sensibilität der Sinnesorgane wird dabei auch die ganze Wahrnehmung affektkonform verändert (Davis 1992; LeDoux 1994). Weitere zum Teil bereits bekannte, aber meines Wissens noch nicht in vergleichbarer Weise erforschte affektspezifische Funktionssysteme sind ein Neugier-Interesse-System, ein Wut-Ärger-System, und – vielleicht – ein Trauer-Depressions-System. So haben Ploog und seine Mitarbeiter in München beim Totenkopfäffchen – das seines reichhaltigen Stimmrepertoires wegen laut dieser Autoren besser »Zwitscheräffchen« heißen sollte – die Aktivierung von ganz unterschiedlichen zerebralen Systemen vom Stirnhirn über den limbisch-hypothalamischen Bereich bis zum Hirnstamm nachweisen können, je nachdem ob sich das Tier gemäß seinem Vokalisations- und Allgemeinverhalten in einer aufgeregten, gedrückten, aggressiven oder ängstlichen Grundstimmung befand (Ploog 1989, 1992; ferner Panksepp 1992, 1993; Gainotti

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1989). Panksepp, ein amerikanischer Neuropsychologe, beschrieb ferner ein mit einem Angst-Flucht-System offenbar nicht identisches Verlassenheits-Panik-System, das mit dem charakteristischen Hilferuf des von der Mutter getrennten Säugerjungen gekoppelt ist, und vermutete auch ein eigenes Spiel-System, das das Hirnwachstum stimuliert und für die späteren Fähigkeiten des Erwachsenen wichtig ist (1991). In diesem Zusammenhang ist ein umfangreiches Übersichtswerk zu den neurobiologischen Grundlagen der frühen Mutter-Kind-Beziehung von Interesse, das kürzlich von dem amerikanischen Psychonanalytiker Allan N. Schore (1994) veröffentlicht worden ist. Darin wird mit vielen konvergierenden Einzelheiten belegt, daß die Reifung der relevanten limbofrontalen Verbindungen, die wesentlich in einer kritischen Entwicklungsphase zwischen dem 12. und 18. Monat stattfindet, entscheidend durch eine positive emotionale Grundstimmung zwischen Mutter und Kind stimuliert wird. Dieser Stimulationseffekt wird von lustprovozierenden endogenen Opiaten (sogenannten Endorphinen) vermittelt, die das Wachstum dopaminerger Fasern anregen. Die Mutter (beziehungsweise die zentrale kontinuierliche Bezugsperson), über welche stimulierende oder hemmende Umgebungseinflüsse sich direkt auf das Zentralnervensystem übertragen, funktioniert dabei gewissermaßen wie ein weiterer, diesmal aber externer »Mediator« zwischen Umgebungswirkungen und biologischem Substrat. Da über dieselben limbofrontalen Bahnen wesentliche affektiv-kognitive Interaktionen während des ganzen Lebens laufen, scheinen diese Befunde die schon lange vermutete zentrale Bedeutung der frühen Mutter-Kind-Beziehung für die gesamte spätere Affektregulation und Persönlichkeitsstruktur, das heißt für das »Selbst« im psychoanalytischen Sinn klar zu bestätigen. Zu ganz analogen Schlüssen hatten in den letzten 20 bis 30 Jahren bereits klinische Beobachtungen von Margaret Mahler (1968) und John Bowlby (1973) zu den frühkindlichen Bindungsund Autonomisierungsprozessen zwischen Mutter und Kind geführt, die in der Folge zu einer wichtigen Grundlage der modernen Weiterentwicklung der Psychonanalyse zu einer sogenannten Objektbeziehungspsychologie geworden sind. Auch mit Forschungsergebnissen aus verschiedensten weiteren Quellen stimmen die von Schore gezogenen Schlußfolgerungen gut überein, darunter die von Mesulam und Geschwind entwickelten Konzepte zur Entstehung eines rechtshemisphärisch verankerten Selbstwertsystems (nach Schore 1994, S. 542) sowie die von Maturana und Verden-Zöller kürzlich berichteten Beobachtungen zur fundamentalen Bedeutung von Liebe und Spiel zwischen Mutter und Kind in der frühen Kindheit (1993). Neben der erwähnten Relation zwischen Lustgefühlen und Endor-

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phinen haben auch andere Affekte mehr oder weniger spezifische Beziehungen zu bestimmten Neurotransmittern, so etwa Angst zu Dopamin, Aggressivität zu Epinephrin und Norepinephrin, Depressivität zu Serotonin. Verschiedene Affektzustände entsprechen zweifellos unterschiedlichen chemischen »Stimmungen« weiter Hirnbereiche. Indessen ist die Neurochemie der verschiedener Affekte und Affektsysteme mit Sicherheit ganz wesentlich komplexer, als solche einfachen Beziehungen vermuten lassen. So ist in den letzten fünf bis zehn Jahren immer klarer geworden, daß neben den erwähnten biogenen Aminen und körpereigenen Opiaten einerseits ebenfalls einfache Aminosäuren wie Glutamat und Gammaaminobuttersäure (GABA), andererseits und vor allem aber auch eine kaum mehr überblickbare Zahl von komplizierteren Neuropeptiden (darunter bekannte Hormone wie Insulin, Wachstumshormone, verschiedene Hypophysen- und Nebennierenrindenhormone wie ACTH, Oxytoxin, Vasopressin, Testosteron, Östrogen und andere mehr) vielfältige teils gegenläufige und teils überlappende Wirkungen auf die Emotionalität haben. Zur Zeit sind speziell die NeuropeptideGegenstand einer intensiven Forschung (Panksepp 1991, 1993). Von großem Interesse sind für die Affektlogik des weiteren neuere Befunde zu den hirnelektrischen Manifestationen von affektiven und kognitiven Erscheinungen. So ist es Wielant Machleidt und seinen Mitarbeitern aus Bonn 1989 erstmals gelungen, mit spektralelektroencephalographischen Methoden im Hirnstrombild (EEG) fünf sogenannte Grund- oder Basisgefühle – nämlich Interesse (oder »Hunger«, »Appetenz«), Angst, Wut, Trauer und Freude – zu identifizieren (Machleidt et al. 1989; Machleidt 1992). Andere affektive Zustände imponieren zum Teil als Mischung von solchen elementaren Grundgefühlen. Klinische und neurophysiologische Indizien scheinen nach Machleidt ferner darauf hinzudeuten, daß die genannten Basisaffekte Tendenz haben, bei jedem neuen »Ereignis« (im biologischen oder wahrnehmungspsychologischen Sinn) gerade in der oben angegebenen Reihenfolge abzulaufen (Machleidt et al. 1989, 1992, 1994). Eine solche »Affektspirale«, wie er dies nennt, wäre insofern auch aus biologisch-evolutionärer Perspektive plausibel, als bei der Begegnung mit einem unbekannten Objekt der anfänglichen, von Interesse, Schreck oder Neugier bestimmten Aufmerksamkeitsreaktion zunächst ein vorsichtig-ängstlicher Rückzug, diesem ein aggressives Zupacken oder Sich-Stellen, darauf ein (»trauerndes«) Loslassen des Objekts und dem ganzen Ablauf schließlich ein Zustand von Entspannung als Ausgangspunkt für ein neues »Ereignis« folgen würde.* * Klinische Befunde, darunter die oben erwähnte Bindungstheorie, sprechen allerdings eher

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Durch Überlagerung, Akzentuierung oder Abschwächung einzelner Affektkomponenten würde nach Machleidt diese zumindest für das menschliche Gefühlsleben sicher allzu schematische Grunddynamik in vielfacher Weise differenziert. Sollten sich die genannten EEG-Befunde auf breiterer Basis bestätigen lassen, so könnte es in absehbarer Zeit möglich werden, affektive Zustände nicht nur wesentlich zuverlässiger als bisher zu objektivieren, sondern auch affektiv-kognitive Wechselwirkungen mit dem EEG genauer zu untersuchen. Dies um so mehr, als seit geraumer Zeit ebenfalls kognitive Prozesse mit spektralelektroencephalographischen Verfahren exploriert worden sind. Speziell bedeutsam sind für uns dabei Befunde, die für eine sogenannte zustandsspezifische, das heißt vom jeweiligen globalen Hirnfunktionszustand abhängige Informationsverarbeitung sprechen. So haben Martha Koukkou und Dieter Lehmann aus Bern und Zürich unter anderem nachgewiesen, daß Speicherung und Reaktivierung von kognitiver Information im Wachen oder Schlafen, im Traumzustand oder in psychotischen, hypnotischen oder drogeninduzierten Zuständen signifikant variieren. Informationen, die in bestimmten Funktionszuständen (zum Beispiel im Wachen) gespeichert wurden, bleiben bemerkenswerterweise in gleichen oder weniger differenzierten Zuständen (zum Beispiel im Traum oder in hypnotischer Trance) frei verfügbar, während umgekehrt in solchen Zuständen gespeicherte Information im Normalzustand nicht oder kaum mehr zugänglich ist. Die genannten Forscher haben auf dieser Basis ein Hirnfunktionsmodell vorgeschlagen, in welchem bestimmte Gedächtnisspeicher zustandsspezifisch geöffnet oder geschlossen werden (Overton 1964; Koukkou et al. 1983, 1986; Koukkou 1987). – Da viele Indizien – darunter die eben berichteten EEG-Befunde zu den Grundgefühlen – dafür sprechen, daß auch die verschiedenen Affektzustände je unterschiedlichen globalen Bewußtseins- und Hirnfunktionszuständen entsprechen, ist dieses Modell aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls für die Affekt-Kognitionsdynamik relevant. Es vermag beispielsweise zu erklären, warum unter gleichartigen Affekten – etwa in der Wut, in depressiven Verstimmungen oder in manischen Erregungszuständen – oft immer wieder ähnliche kognitive Inhalte auftauchen. Darüber hinaus sind zustandsabhängige Denkinhalte für affektspezifische Veränderungen des Denkens wichtig, die wir im nächsten Kapitel unter dem Begriff einer spezifischen Angstlogik, dafür, ein »psychisches Ereignis« mit einem Traueraffekt (dem »Loslassen des Alten« als Voraussetzung für die Zuwendung zu Neuem) anstelle einer freudvollen Entspannung abzuschließen.

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Wutlogik, Trauerlogik, Freude- oder Liebeslogik und so weiter kennenlernen werden. Auf denselben Zusammenhang deutet ebenfalls die Tatsache hin, daß in repetitiven psychotischen Zuständen bei manchen Kranken Mal für Mal die gleichen Wahnideen aktiviert werden. Von großer potentieller Bedeutung gerade auch für die Affektlogik scheinen schließlich neuere EEG-Untersuchungen zur Gleichzeitigkeit oder Synchronizität hirnelektrischer Abläufe zu sein, die gezeigt haben, daß sowohl »zerebrale Repräsentanzen« der Außenwelt wie auch zugehörige kognitive Verarbeitungsprozesse flüchtigen dynamischen Erregungsmustern von spezifischer Konfiguration entsprechen, die simultan in verschiedenen Hirnregionen auftreten. Funktionelle Koppelungen zwischen verschiedenen Hirnregionen manifestieren sich durch Gleichzeitigkeit der Erregung, wobei die Frequenz der gekoppelten EEG-Aktivität mit der Intensität der Koppelung steigt (Searle 1990; Diedling et al. 1991; Singer 1993). Erstmals liegen damit Hinweise auf spezifische neurobiologische Entsprechungen von so komplexen psychischen Erscheinungen wie die Aufmerksamkeit, das Lernen und die mentalen Bilder oder Repräsentanzen vor. Gleichzeitig stimmen diese Beobachtungen erstaunlich gut mit der Computersimulation von Vorgängen in künstlichen neuronalen Netzwerken im Rahmen des sogenannten Konnektionismus überein. Vorgebahnte derartige Aktivierungsmuster mit integrierten affektiven, kognitiven, sensomotorischen und neurovegetativ-hormonalen Anteilen scheinen funktionell weitgehend den »affektiv-kognitiven Bezugssystemen« oder »Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen« zu entsprechen, die in der Konzeptualisierung der Affektlogik die wesentlichen »Bausteine der Psyche« darstellen. Synchronizität steht naturgemäß zudem in enger Beziehung zum Phänomen der Koordination zwischen vorher unkoordinierten, zunächst senso-motorischen und später mentalen Abläufen, das nach Piaget beim Aufbau aller geistigen Strukturen eine zentrale Rolle spielt. Ebenso interessant ist die Synchronizität unter chaostheoretischen Gesichtspunkten, so namentlich im Zusammenhang mit dem plötzlichen Erscheinen von Synergien zwischen vorher ganz unverbundenen Phänomenen, die, wie wir im übernächsten Kapitel sehen werden, nach Haken den Umschlag eines globalen dynamischen Funktionsmusters in ein anderes charakterisiert. Von der weiteren Untersuchung mentaler Aktivitäten mit den genannten Methoden darf man sich deshalb zahlreiche zusätzliche, für unseren Ansatz hochwichtige Aufschlüsse erwarten; denkbar wäre zum Beispiel, daß auch spezifische Affekte durch die Synchronisierung bestimmter Zellgruppen generiert oder doch charakterisiert sein könnten. Insgesamt ist jedenfalls die Behauptung nicht übertrieben, daß sich

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heute praktisch alle Grundpostulate der Affektlogik, von der allgegenwärtigen Verflechtung von affektiven und kognitiven Phänomenen im Rahmen von affektintegrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensystemen über die aktionsgenerierte neuronale Bahnung und Speicherung von affektiv-kognitiven Erfahrungen bis zur zustandsabhängigen Informationsverarbeitung und neuronalen Musterbildung neurobiologisch belegen lassen. Weitere biologisch verankerte Bestätigungen werden sich bei der Besprechung von chaostheoretischen Aspekten der AffektKognitionsdynamik (in Kapitel 4) zeigen. Auf widersprechende Befunde sind wir dagegen bisher überhaupt nicht gestoßen. – Dies alles gilt freilich erst in relativ groben Zügen; im einzelnen sind nach wie vor unzählige Fragen offen, die sowohl mit den Unsicherheiten der Erfassung psychischer Phänomene wie auch mit dem dem – trotz aller Fortschritte – nach wie vor sehr lückenhaften neurobiologischen Wissen in diesem zweifellos komplexesten aller Forschunggsgebiete zusammenhängen.

Was sind »Affekte«, »Gefühle«, »Emotionen« und »Stimmungen«? – Definitorische Verwirrung und Klärung Vorgängig aller weiteren Vertiefung des affektlogischen Ansatzes bedarf sowohl der Begriff des Affekts wie auch derjenige des Denkens und der Logik einer definitorischen Klärung, denn solche Termini und deren zahlreiche Varianten werden in der Literatur alles andere als einheitlich verwendet. Zwar mag gerade bei derart zentralen Grundbegriffen auch eine Vielzahl von verschiedenartigen und vielleicht sogar widersprüchlichen Bedeutungen einen gewissen Sinn machen, kann diese doch – etwa im Rahmen der im vorangehenden Kapitel diskutierten Pluralität der Wahrheit – als Ausdruck der Komplexität der in Frage stehenden Phänomene verstanden werden. Zugleich aber bleibt es sicher sinnvoll, hinter den verschiedenen Bedeutungen nach den wesentlichen Gemeinsamkeiten auf einer höheren Verstehensebene zu suchen. Der Begriff der Affekte wird in der Literatur bald als synonym und bald als verschieden von anderen ebenso uneinheitlich definierten Ausdrücken wie »Gefühle«, »Emotionen«, »Stimmungen«, »Launen« oder »Gemütsbewegungen« verwendet, wobei das umgangssprachliche »Gefühl« dem subjektiven Körpererleben und auch der Intuition besonders nahesteht, während der – seinerzeit interessanterweise von Descartes in die Wissenschaft eingeführte – Begriff der »Emotion« (vom lateinischen motio = Bewegung) mehr die energetische und moti-

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vationale Seite des Gemeinten betont. Gemeinsam ist all diesen unscharf voneinander abgegrenzten Phänomenen immerhin, daß sie alle sich gleichzeitig sowohl auf einer zentralnervösen wie auf einer peripher körperlich-vegetativen, senso-motorisch-ausdruckspsychologischen Ebene und (jedenfalls beim Menschen) zumeist auch auf einer subjektiven Ebene manifestieren. Alles deutet also darauf hin, daß hinter all den genannten Begriffen ein in seinen Erscheinungsformen zwar sehr vielgestaltiges, in seinem Wesen aber doch recht ein- und ganzheitliches psychobiologisches Grundphänomen steht. Die vergleichende Verhaltensforschung zeigt effektiv, daß affektähnliche Erscheinungen bis tief ins Tierreich hinab zu beobachten sind. Auch sind zumindest die sogenannten Grundgefühle (s. unten), wie seinerzeit schon Darwin erkannt hatte, zweifellos angeboren und in allen Kulturen im Prinzip identisch. Dies gilt trotz gewissen kulturbedingten Variationen nach den einschlägigen Untersuchungen Ekmans ebenfalls für ihren mimischen Ausdruck. In Analogie zu sprachlichen Universalien kann man deshalb auch von »emotionalen Universalien« reden (Darwin 1965 [1872], vgl. ferner Tinbergen 1951, 1973; Bowlby 1973; Seligman et al. 1971; Ekman 1984, 1989). Namentlich bei den höheren Primaten manifestieren sich solche bereits sehr ähnlich wie beim Menschen; in der Kommunikation zwischen Mensch und Tier werden Affekte zudem – wie Tierliebhaber sehr gut wissen – bis hinab zu niederen Säugern und Vögeln erstaunlich gut verstanden. Für psychodynamisch orientierte Autoren stehen zumeist die subjektiven und zwischenmenschlichen Aspekte von affektiven Erscheinungen im Vordergrund, während Verhaltensforscher und Neurobiologen sich mehr für deren objektivierbare ausdruckspsychologische, psychophysiologische oder zentralnervöse Aspekte interessieren. Immer wieder wechselnde Kriterien der Erscheinungsform, Prägnanz, Dauer, Bewußtseinsnähe und Genese stiften aber auch hier mehr Verwirrung als Klarheit. So wird etwa in neurophysiologischen Untersuchungen der Begriff der Emotion häufig auf zeitlich scharf umschriebene Ereignisse von nur wenigen Sekunden Dauer eingeengt (vgl. z. B. Ekman 1984), wogegen aus anderen Perspektiven gesehen Dauer und auch Stärke von emotionalen Phänomenen durchaus offenbleiben. Etwas Längerdauerndes, psycho-physisch Ganzheitliches und zugleich – im Unterschied zu den meisten Gefühlen oder Emotionen – kaum Gerichtetes wird allgemein zwar unter dem Begriff der Stimmung, der Gestimmtheit oder auch Grundbefindlichkeit verstanden (»Die Stimmungen haben keinen bestimmten Gegenstand, sie bilden den tragenden Untergrund, aus dem sich das gesamte sonstige Seelenleben entwickelt«, schreibt Bollnow in seinem Buch »Zum Wesen der

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Stimmungen« [1956, S. 54]; vgl. ferner Ekman 1984). Einigkeit herrscht aber auch hier weder über deren Dauer noch über die Frage, ob Stimmungen immer bewußt oder im Gegenteil meist, oder gar immer, unbewußt sein sollen. Ebensowenig lassen sie sich anhand des Kriteriums der Ungerichtetheit eindeutig von Gefühlen abtrennen: Bollnow selbst berichtet (1956, S. 51) über typische Stimmungen etwa der Andacht und Feierlichkeit oder Festlichkeit, die immer auf bestimmte (zum Beispiel religiöse) kulturell geprägte Inhalte und Situationen gerichtet sind. Auch werden primär scheinbar ganz ungerichtete Grundstimmungen und -befindlichkeiten letztlich doch wohl immer erst gebunden an bestimmte kognitive Objekte (die eigene Person, der eigene Leib, die umgebende Natur, die ganze Welt) erkenn- und erlebbar. Nur diese Kumulation von Unklarheiten aller Art vermag zu erklären, daß Kleinginna und Kleinginna in ihrer Übersichtsarbeit über den Begriff der Emotion 1981 in der Fachliteratur nicht weniger als 92 verschiedene Definitionen oder Umschreibungen fanden. Sie schlagen aufgrund dieser Studie je nach vorwiegendem Aspekt eine Aufteilung in insgesamt elf (erheblich überlappende) Unterklassen vor, nämlich solche mit vor allem subjektivem, affektivem, kognitivem, auf externe Stimuli zentriertem, psychophysiologischem, expressivem, adaptativem, disruptivem, restriktivem, motivationalem und multizentrischem Fokus. Was sie allerdings etwa unter »spezifisch affektiven Aspekten von Emotionen« (»affective aspects of emotions«) verstehen, bleibt gleich wie manches andere ungeklärt. Der eigene Definitionsvorschlag, den sie abschließend formulieren, ist wenig mehr als eine gedrängte Aufzählung der verschiedenen genannten Perspektiven; er lautet (in der Übersetzung von Euler und Mandl [1983], die ihrerseits nur die Einteilung von Kleinginna und Kleinginna [1981] übernehmen und definitorisch keine größere Klarheit schaffen) wie folgt: »Emotion ist ein komplexes Interaktionsgefüge subjektiver und objektiver Faktoren, das von neuronal/hormonalen Systemen vermittelt wird, die [a] affektive Erfahrungen, wie Gefühle der Erregung oder Lust/Unlust, bewirken können; [b] kognitive Prozesse, wie emotional relevante Wahrnehmungseffekte, Bewertungen, Klassifikationsprozesse, hervorrufen können; [c] ausgedehnte physiologische Anpassungen an die erregungsauslösenden Bedingungen in Gang setzen können; [d] zu Verhalten führen können, welches oft expressiv, zielgerichtet und adaptativ ist.«

Ebenfalls eine Vielzahl von Unterteilungen (in insgesamt 28 Kategorien) sind bei Plutchik (1980) und weiteren Autoren zu finden. Auch was überhaupt als »Emotion« oder aber bloß als »Stimmung« (mood) zu bezeichnen ist, ob eine Unterscheidung beider sinnvoll sei und wie allenfalls die Grenze zwischen ihnen zu ziehen wäre, ist hochgradig

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kontrovers. Lazarus (1991b) zum Beispiel – ein lange Zeit führender amerikanischer Kognitions- und Emotionsforscher – zählt neben Angst, Wut, Schuld, Scham, Ekel, Neid, Eifersucht und Freude zwar auch Stolz, Dankbarkeit und Liebe, nicht aber Trauer, Depression, maniforme Expansivität und Erregung zu den Emotionen, sondern zu den Stimmungen, obwohl »auch diese natürlich emotional« seien. Gleichzeitig verteidigt dieser Autor hartnäckig die Überzeugung, daß eine Emotion ohne vorgängige kognitive Bewertung (appraisel) nicht möglich sei, während andere namhafte Autoren ebenso hartnäckig zusätzliche (zum Beispiel hormonale, neuronale, pharmakologische, bioelektrische) Auslösemechanismen postulieren (Zajonc 1980, 1984; Leventhal und Scherer 1987; Izard 1993a). Wesentlich um solche Fragen drehte sich über Jahre hin eine zwar hochinteressante, aber schließlich doch zu keiner wesentlichen Klärung führende öffentliche Kontroverse zwischen Lazarus, Zajonc und weiteren Emotions- und Kognitionsforschern zum Problem des Primats von Emotion oder Kognition in affektiv-kognitiven Wechselwirkungen (Zajonc 1980, 1984; Lazarus 1981, 1982, 1991; Izard 1992; Murphy et al. 1993). Zur allgemeinen Verwirrung trägt ferner bei, daß auch allseits anerkannte Oberbegriffe fehlen. Für manche Autoren sind zwar die Affekte ein solcher Oberbegriff, dem die Emotionen unterzuordnen wären; für andere aber ist es gerade umgekehrt. Einig sind sich praktisch alle Forscher einzig darin, daß seit Jahrzehnten nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der beteiligten Fachbereiche eine beklagenswerte definitorische Konfusion herrscht. Einzelne Autoren plädieren deshalb sogar dafür, auf ein Emotionsbeziehungsweise Affektkonzept überhaupt zu verzichten. Wie ist es möglich, daß die beteiligten Wissenschaftler sich derart schwertun, zu einer klaren Definition eines bei aller Vielfalt doch auch typisch ganzheitlichen Phänomens zu gelangen, das nicht nur jedermann aus eigener Erfahrung kennt und selbst vom Laien intuitiv als etwas Einheitliches verstanden wird, sondern dessen wesentlicher Kern, so könnte man meinen, auch recht offen zutage liegt? – Man mag in der geradezu karikaturalen Zersplitterung, die sich in der genannten Übersicht von Kleinginna und Kleinginna manifestiert, ein frappantes Beispiel jener erkenntnisbehindernden Tendenz unserer westlichen Kultur zur spezialistischen Überbetonung von definitorischen Unterschieden bei gleichzeitiger Vernachlässigung von Gemeinsamkeiten und Übergängen erblicken, von der im vorangehenden Kapitel die Rede war. Ein wichtiger Faktor ist sicher ebenfalls die jahrzehntelange Vernachlässigung der biologisch-entwicklungsgeschichtlichen Wurzeln von affektiven Phänomen in der Mainstream-Psychologie. Das zentrale Problem aber besteht meines Erachtens in der Tatsache,

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daß ein fundamentaler Wesensunterschied zwischen affektiven und kognitiven Phänomenen, so wie er im nachfolgenden herausgearbeitet werden soll, nirgends mit zureichender Klarheit erfaßt wird. Aus diesem Grund kann die Grenze zwischen den beiden Phänomenbereichen willkürlich immer wieder anders gezogen werden; die Folge ist notwendigerweise eine ständige Vermengung und Verwechslung von affektiven mit kognitiven Phänomenen. So ist vielfach von der Emotion selbst zugehörigen kognitiven Komponenten die Rede, was in Anbetracht des engen funktionellen Zusammenwirkens von Emotion und Kognition zwar naheliegt, aber doch das Verständnis für die Natur beider und ihrer Interaktion in keiner Weise befördert. Ein gutes Beispiel hierfür ist die – kürzlich auch wiederum von Izard postulierte – praktische Gleichsetzung von Emotion mit Motivation, da dadurch die spezifisch kognitiven Anteile dieses typisch affektiv-kognitiven Mischphänomens (man ist motiviert, das heißt hegt positive Gefühle für ganz bestimmte Ideen, Projekte, Aktivitäten etc.) einmal mehr vernebelt werden (z. B. Euler u. Mandl 1983; Izard 1993a). Ganz ähnlich wie seit einigen Jahren immer mehr pragmatische Neurowissenschafter (z. B. Panksepp 1991; Derryberry et al. 1992; Maturana et al. 1993) sehe ich demgegenüber den zentralen gemeinsamen Kern, und damit das – jedenfalls aus der Perspektive der Affektlogik – einzig wirklich Wesentliche in allen affektiven Phänomenen in der Tatsache, daß es sich in jedem Fall um umfassende körperlich-psychische Gestimmtheiten oder Befindlichkeiten handelt. Die genauere Erscheinungsform, Prägnanz, Dauer, Bewußtseinsnähe und Auslösung einer solchen Gestimmtheit dagegen ist außerordentlich variabel. So können affektive Befindlichkeiten mit massiven (zum Beispiel mimischen) oder aber nur sehr versteckten (unter Umständen einzig in Haltung und Muskeltonus manifesten) Ausdrucksqualitäten einhergehen. Sie mögen bald nur Minuten oder gar Sekunden, bald aber Stunden bis Tage (und in pathologischen Verstimmungen wie der Melancholie oder Manie manchmal sogar Wochen bis Monate) andauern, und sie können auch klar bewußt werden oder aber weitgehend unbewußt bleiben. Des weiteren können affektive Gestimmtheiten in diesem umfassenden Sinn von verschiedensten äußeren oder inneren Auslösern in Gang gesetzt werden. Dazu gehören sowohl typisch kognitive Reize (wie sprachliche Mitteilungen, Gedanken, Bilder und Symbole) wie auch endo- oder exogene biochemisch-hormonale, neuronale, eventuell sogar elektrische, mechanische oder drogeninduzierte Einflüsse. Zudem ist mit vielfältigen zirkulären Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Auslösern zu rechnen. Aus dieser Sicht geht es beim erwähnten Streit für oder wider ein Primat von Emotion oder Kognition

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um ein Scheinproblem: Ein aus vielen eng miteinander verbundenen Elementen bestehender Regelkreis kann prinzipiell von jedem seiner Glieder aus in Gang gesetzt werden – und genau dies ist es auch, was aus den scheinbar gegensätzlichen vorliegenden Untersuchungsbefunden meines Erachtens in erster Linie hervorgeht. Von großer Bedeutung ist schließlich, daß sämtliche in der obigen Bedeutung als »typisch affektiv« einstufbare Erscheinungen neben der Psyche im engeren Sinn immer auch den ganzen Körper mit Einschluß des Zentralnervensystems implizieren oder vielmehr »affizieren«. Auf dieser Basis ergibt sich ein sowohl umfassender wie auch eindeutiger Begriff der Affekte, den wir der vorliegenden Untersuchung durchgehend zugrunde legen und nunmehr formal wie folgt definieren können: Ein Affekt ist eine von inneren oder äußeren Reizen ausgelöste, ganzheitliche psycho-physische Gestimmtheit von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewußtseinsnähe. Evidenterweise darf eine solche Definition keinerlei »ontische Realität« beanspruchen, sondern ist (wie alle anderen definitorischen Varianten) als ein Konstrukt mit gewissen Stärken und Schwächen zu verstehen, das aus den verfügbaren Möglichkeiten ausgewählt wurde, weil es besser als andere geeignet scheint, die anvisierte Fragestellung zu erhellen. Zu den Vorteilen der vorgeschlagenen, auf die oben beschriebenen Gemeinsamkeiten abgestützten Definition zählt die Tatsache, daß es sich um einen handlichen und klaren Oberbegriff ohne jegliche kognitiven Einsprengsel handelt, der sämtliche in der Literatur oder Umgangssprache genannten Charakteristika von affektiven Erscheinungen umfaßt. Auch sind prinzipiell gleichartige Phänomene, wie schon erwähnt, bis tief hinab ins Tierreich zu beobachten, womit eine – vor allem aus der evolutionären Perspektive sinnvolle – konzeptuelle Kontinuität zwischen Phylo- und Ontogenese hergestellt ist: Als eigentliche Prototypen von affektiven Gestimmtheiten erscheinen bei Mensch wie Tier auf dieser Basis die entweder sympathicotonen oder parasympathicotonen (grob gesagt: angespannten oder entspannten) Grundbefindlichkeiten mitsamt ihren zugehörigen hormonalen und verhaltensmäßigen Regulationen. Erstere gehen mit sogenannt »ergotropen« (energiekonsumierenden) Verhaltensweisen wie Kampf oder Flucht, letztere dagegen mit »trophotropen« (aufbauenden, energiekonservierenden) Verhaltensweisen wie Nahrungsaufnahme, Sexualität, Brutpflege und Schlaf einher. Auf weitere evolutionäre Aspekte des gewählten Affektbegriffs werden wir weiter unten zurückkommen. Ein zusätzlicher Vorteil der gewählten Definition ist, wie weiter oben schon vermerkt, der Umstand, daß der vorgeschlagene Affektbe-

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griff mit seinen untrennbar verbundenen psychischen, neuronalen und körperlichen Komponenten im vorhinein in einem umfassenden Sinn »psycho-somatisch« ist. In Anbetracht auch der Tatsache, daß Affekte im genannten Sinn unter Umständen weitgehend unbewußt bleiben und doch körperlich manifest sein können, erscheint als das eigentliche »Organ« von Gefühlen deshalb ganz klar der ganze Körper: Gefühle »sträuben die Haare«, »kriechen über die Leber«, lassen »das Herz höher schlagen«; sie spannen auch die Muskeln oder machen »weiche Knie«, »Schiß« und so weiter. Damit ist eine nützliche konzeptuelle Brücke nicht nur zur Psychosomatik im engeren Sinn, sondern ebenfalls zu anderen wichtigen Nachbargebieten wie der Psychoimmunologie, der Physiologie und allgemeinen Biologie, und nicht zuletzt auch zu verschiedenen Formen der körperorientierten Psychotherapie geschlagen. Auf evidente praktisch-therapeutische Konsequenzen eines solchen Affektbegriffs werden wir in einem Abschlußkapitel zu sprechen kommen. Forschungsmethodologisch könnte die Breite der vorgeschlagenen Definition allerdings auch ein Nachteil sein, der sich aber, falls notwendig, durch entsprechende Spezifizierung der anvisierten Untergruppen (etwa »kurzdauernde, bewußte, mimisch erkennbare Affekte von dieser und jener Qualität«) minimisieren ließe. Zudem verlieren weniger scharf erfaßbare Unterbegriffe wie der des »Gefühls« (vorwiegend im Sinn eines körperlich spürbaren bewußten Affekts), der »Emotion« (vorwiegend im Sinn eines kurzfristigen Übergangs von einem Affektzustand zu einem anderen) und der »Stimmung« (vorwiegend im Sinn einer langdauernden ungerichteten psycho-physischen Befindlichkeit oder »Bereitschaft«) mit der Schaffung eines klar definierten Oberbegriffes »Affekt« im obigen Sinn keineswegs jeden Wert; ähnlich wie die sogenannte »fuzzy logic« in der Informatik hat die Verwendung von unscharfen Begriffen für die Lösung ebenfalls schwer abgrenzbarer Probleme möglicherweise sogar gewisse Vorteile. Manches deutet im übrigen darauf hin, daß über kurz oder lang objektive neurobiologische Parameter verfügbar sein werden, die imstande sind, wesentliche Aspekte der zum vorgeschlagenen Affektbegriff gehörigen Phänomene genauer zu erfassen. Eine weitere methodologische Schwierigkeit könnte schließlich darin bestehen, daß Affekte im definierten Sinn sich ein Stück weit überlappen mit andersartigen psycho-physischen Befindlichkeiten umfassender Art, so zum Beispiel mit Bewußtseinsstörungen, psychotischen Zuständen, Schlaf oder Müdigkeit, Hunger oder Durst. Diese Nähe ist indessen aus unserer Sicht überhaupt kein Nachteil, ganz im Gegenteil, denn sie macht die enge Verwandschaft deutlich, die in der

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Tat zwischen affektiven Phänomenen auf der einen und globalen Veränderungen des Bewußtseinszustandes auf der anderen Seite besteht. Im Lauf unserer Untersuchung wird sich sogar zeigen, daß unterschiedliche Affektzustände durchaus als globale unterschwellige Bewußtseinsveränderungen mit je spezifischen Formen des Wahrnehmens, Denkens und Verhaltens verstanden werden können, oder vielmehr müssen. Dies führt zu einer letzten wichtigen Konsequenz der obigen Definition, deren Bedeutung sich im Verlauf unserer Untersuchung als absolut zentral erweisen wird: Wenn Affekte umfassende psycho-physische Gestimmtheiten oder Befindlichkeiten von wechselnder Bewußtseinsnähe sind, so ist man immer in irgendeiner Weise affektiv gestimmt, ob sich dies nun in einer nach außen oder innen deutlichen »Emotion« (etwa im oben präzisierten Sinn eines manifesten kurzfristigen Überganges von einem Affektzustand in einen anderen) äußert oder nicht. Vor allem aber erscheint auch die scheinbar affektneutrale, in Wirklichkeit aber durch eine mehr oder weniger entspannte mittlere Affektlage charakterisierte Alltagsstimmung als ein spezifisch affektiver Zustand mit, wie wir sehen werden, um so bedeutsameren Auswirkungen auf das ganze Denken, als diese meist weitgehend unbewußt bleiben. Daß »das Dasein je schon immer gestimmt ist«, hatte im übrigen bereits Heidegger (1927, S. 134, zit. nach Bollnow 1956, S. 54) zu einer wesentlichen Grundlage seiner Existentialphilosophie gemacht; sein Schüler Bollnow seinerseits hat, wie früher schon einmal vermerkt, Heideggers einseitig nur von der existentiellen Angst ausgehende Sichtweise kritisierend dieselbe Grunderkenntnis dann zur Basis einer alle Stimmungen umfassenden »philosophischen Anthropologie« ausgebaut, auf die wir noch mehrfach zurückkommen werden. – Ebenfalls von zentraler Wichtigkeit ist die Tatsache, daß man immer nur in einer affektiven Grundstimmung sein kann, so subtil gemischt und von Erinnerungen an andere Gefühle durchzogen diese auch anmuten mag. Dies geht schon aus unserer Definition des Affekts als einer ganzheitlichen psychophysischen Gestimmtheit oder Befindlichkeit hervor, die eine andersartige ganzheitliche Befindlichkeit gleichzeitig ausschließt: Das Herz schlägt entweder schnell oder langsam, die Muskeln (oder gewisse Muskeln) sind gespannt oder entspannt, die Pupille ist weit oder eng, die Durchblutung der Haut oder anderer Körperteile entweder stark oder schwach. Mischstimmungen, Stimmungslabilität, Ambivalenz und so weiter erscheinen in diesem Sinn entweder als ganzheitliche Gestimmtheiten eigener Prägung oder aber als rasche Wechsel zwischen unterschiedlichen Stimmungslagen.

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Theoretische Grundlagen

Evidenterweise hat die Tatsache, daß man immer in irgendeiner Art affektiv gestimmt ist, im Rahmen einer Untersuchung, die von obligaten affektiv-kognitiven Wechselwirkungen ausgeht, wesentliche Konsequenzen – so unter anderem für einen auch affektlogische Konzepte einbegreifenden Konstruktivismus. Bevor wir indessen solche Interaktionen systematisch ins Auge fassen können, muß ebenfalls der Begriff der Kognition noch klarer als bisher definiert werden.

Zum Begriff der Kognition Obwohl kognitive Prozesse wesentlich besser erfaß- und auch meßbar sind als affektive, besteht doch ebenfalls in diesem Bereich nach wie vor eine erhebliche definitorische Konfusion. Unter Hinweis auf die Tatsache, daß »Kognition« von der einfachsten Wahrnehmung und Informationsverarbeitung bis zu den höchsten Denkprozessen buchstäblich alles bedeuten kann, möchten deshalb gewisse Autoren auch diesen Begriff am liebsten gänzlich über Bord werfen. Die Ursachen sind praktisch dieselben wie bei den Affekten: verwirrende Vermengung von emotionalen und kognitiven Komponenenten in Folge beidseits unklarer Definitionen, Überbetonung von feinen Unterschieden auf Kosten von fundamentalen Gemeinsamkeiten, mangelnde Berücksichtigung der tiefen evolutionären Wurzeln eines biologischen Grundphänomens, dessen Ursprünge ebenfalls bis zu den elementarsten Formen des Lebens hinabreichen. »Kognition« bedeutet wörtlich zunächst gar nichts anderes als Erkennen, und etwas von ihrer Umwelt zu »erkennen« vermögen, wie bereits im vorangehenden Kapitel deutlich wurde, in der Tat auch schon sehr einfache Organismen. Eine der definitorischen Hauptschwierigkeiten besteht denn auch gerade in der Frage, ob primitive Formen der Erkenntnis, die bis hinab zur sogenannten organischen Informationsverarbeitung bei elementaren Organismen – und je nach Perspektive sogar bis zur molekularen Informationsverarbeitung durch das Genom – reichen könnten, in eine sinnvolle Definition von Kognition mit aufgenommen werden sollen oder nicht. Evolutionäre Erkenntnistheoretiker wie Konrad Lorenz, die generell Leben als gleichbedeutend mit Erkenntnisgewinn auffassen und sogar einfachste Formen von biologischer Adaptation als eine Art von »kognitiver Theorie der Realität« verstehen, plädieren für ersteres, ausschließlicher an menschlichen Formen von Erkennen und Denken interessierte Forscher dagegen eher für letzteres. Lazarus zum Beispiel, der zweifellos dezidierteste

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Verfechter eines Primats der Kognition über die Emotion im erwähnten jahrelangen Disput der Psychologen über deren gegenseitiges Verhältnis, bezieht in seine weite Auffassung von Kognition zwar praktisch jede Art von unterscheidender und wertender Evaluation (appraisel) mit ein, möchte aber reflexartige angeborene Mechanismen im Sinn etwa von Tinbergens Beutefangreflexen (Lazarus 1991; Tinbergen 1951) doch ausschließen. Sein Begriff von »appraisel« enthält indessen auch motivationale und damit in unserem Sinn eindeutig affektive Komponenten. Izard seinerseits, der im erwähnten Disput ähnlich wie Leventhal und Scherer eine Mittelposition einnimmt und neben kognitiven Auslösern von Emotion ebenfalls neuronale, senso-motorische und hormonale Reize ohne jegliche Mitbeteiligung von spezifisch »kognitiven« Komponenten gelten läßt, will unter Kognition einzig höhere mentale Phänomene verstehen, die mit Gedächtnisprozessen, erworbenen Repräsentanzen und entsprechenden Vergleichsmöglichkeiten einhergehen. Andere Formen der Informationsverarbeitung bezeichnet er als »non-cognitive«. Wie schon erwähnt ist Motivation dabei für ihn praktisch gleichbedeutend mit Emotion. Auch Zajonc schließlich, zweifellos der prononcierteste Verfechter eines Primats der Emotion über die Kognition, schränkt letztere im Wesentlichen auf gedächtnismäßiges Wiedererkennen, Identifizieren und Kategorisieren ein und versteht (ganz im Gegensatz zur oben erwähnten Position von Lazarus) jede Art von positiver oder negativer Bedeutungszuweisung (appraisel) bereits als affektiv (Zajonc 1984; Leventhal u. Scherer 1987; Izard 1993a; Murphy u. Zajonc 1993). Was Kognition genau ist oder nicht ist, steht also ebenfalls nicht fest, sondern hängt stark von der Perspektive des Beurteilers und insbesondere der gewählten Abgrenzung zur Emotion ab. Auch hier aber ist es meines Erachtens durchaus möglich und zugleich sehr sinnvoll, hinter allen als kognitiv im engeren oder weiteren Sinn bezeichneten Phänomenen fundamentale Gemeinsamkeiten zu suchen und daraus dann einen allgemeingültigen Oberbegriff zu bilden. Wiederum lassen sich besondere Ausformungen dabei, wenn nötig, leicht spezifizieren. Nur aufgrund einer definitorisch klaren Unterscheidung kann es nämlich gelingen, das Wesen der beiden grundlegenden biologischen Funktionssysteme der Emotion und Kognition und ihrer obligaten komplementären Interaktion, um die es uns in diesem Buch zentral geht, zureichend zu erfassen. In klarem Gegensatz zu den als ganzheitliche psycho-physische Gestimmtheiten definierten und eng mit dem gesamten Körpererleben verquickten Affekten sehe ich die wesentliche Gemeinsamkeit bei allen erkenntnisgewinnenden Prozessen in dem Umstand, daß es dabei

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in jedem Fall um das Erfassen und weitere neuronale Verarbeiten von sensorischen Unterschieden (oder Differenzen, Varianzen) geht. Zu beachten ist dabei, daß ein Erkennen von Unterschieden immer auch ein Erkennen von Gleichheiten (oder Indifferenzen, Invarianten) voraussetzt. Mit anderen Worten, eigentlich handelt es sich bei kognitiven Prozessen stets um ein Erfassen von Relationen (dieses ist größer oder kleiner, heller oder dunkler, wärmer oder kälter als jenes etc.), und damit um etwas in seinem Wesen letztlich Immaterielles und sogar mathematisch-Abstraktes, das sich vom körper- und damit materienahen Affektbegriff scharf unterscheidet und zugleich in einer interessanten (aber erst später weiter zu explorierenden) Beziehung mit dem Phänomen des »Geistes an sich« steht. – Wenn wir den Begriff der Kognition auf dieser Basis ebenso scharf zu formulieren suchen wie weiter oben die Affekte, so gelangen wir zu der folgenden Definition: Unter Kognition ist das Erfassen und weitere neuronale Verarbeiten von sensorischen Unterschieden und Gemeinsamkeiten beziehungsweise von Varianzen und Invarianzen zu verstehen. Mit »weiterem neuronalem Verarbeiten« (oder »Verrechnen«) ist hier dasselbe gemeint, was gewöhnlich als Informationsverarbeitung bezeichnet und zur Zeit unter anderem vom sogenannten Konnektionismus anhand von kybernetischen Computermodellen neuronaler Netzwerke intensiv erforscht wird. Dabei wird immer klarer, daß der Aktivität solcher Netzwerke bereits bei sehr einfachen Organismen in der Tat fundamentale biologische Verrechnungsprozesse durchaus mathematischer Natur zugrunde liegen. Von Interesse ist auch, daß neurophysiologisch das Wahrnehmen von Unterschieden durch den genetisch verankerten Mechanismus der sogenannten lateralen Inhibition – der Akzentuierung von kontrastierenden Rändern beispielsweise zwischen weiß und schwarz, hell und dunkel und so weiter – systematisch verstärkt wird. In bester Übereinstimmung mit unserer Definition von Kognition steht überdies die Tatsache, daß der britische Mathematiker Spencer Brown schon vor Jahren gezeigt hat, daß alle Kognition als das Resultat der Erfassung und weiteren Verrechnung von Unterschieden oder Differenzen (beziehungsweise von Differenzen von Differenzen von Differenzen) verstanden werden kann (Brown 1979). Genau denselben Sachverhalt hat Francisco Varela im Auge, wenn er – wie das Zitat von Seite 29 zeigt – die auch aus konstruktivistischer Sicht fundamentale Wichtigkeit des Erfassens von Unterschieden betont. Eine solche »Verrechnung« von sensorischen Differenzen liegt damit nicht nur den höchsten Formen des Denkens zugrunde, sondern beginnt im Grund bereits bei den einfachen photo- oder chemotaktischen Reak-

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tionen des einzelligen Pantoffeltierchens, das beispielsweise zwischen hellem und dunklem, saurem und basischem Milieu zu unterscheiden und sein Verhalten überlebenswirksam danach zu richten weiß. Von zentraler Wichtigkeit ist auf höheren Stufen solcher Verrechnungsprozesse zudem das Mustererkennen, also das differenzierte Wahrnehmen von Unterschieden (Varianzen) und Gleichheiten (Invarianzen) zugleich. Wie die Gestaltpsychologie gezeigt hat, spielen bei der Erfassung derartiger Strukturen gestaltbildende Mechanismen eine große Rolle; so werden etwa fehlende Elemente (zum Beispiel Fragmente eines Gesichts) immer wieder zu einer »guten Form« ergänzt. Vieles spricht zugleich dafür, daß solche differenzierte Formen der Informationsverarbeitung ganz wesentlich auf der Fähigkeit beruhen, den Wahrnehmungsfokus flexibel zwischen einer niedrigeren und einer höheren Wahrnehmungsebene hin- und herwandern zu lassen. Daß Bewußtsein im menschlichen Sinn kein notwendiges, sondern bloß ein mögliches Kennzeichen eines so verstandenen Begriffs von Kognition sein kann, liegt auf der Hand. Tatsächlich ist es in der letzten Zeit immer klarer geworden, daß selbst beim Menschen viele sicher der Kognition zuzurechnende Prozesse genauso unbewußt ablaufen können wie ein guter Teil der affektiven Prozesse. Hierzu gehören beispielsweise die schon im Vorkapitel erwähnten evolutionär selektionierten Denkautomatismen, die die Lorenzsche Schule als »evolutionäre Lehrmeister« bezeichnet, ferner gewisse, unter anderem von Piaget aufgezeigte automatisierte Anteile einer jeden Kognition, sowie auch eine ganze Serie von – erstmals bereits vor hundert Jahren von Freud postulierten – Verdrängungsmechanismen mit sowohl kognitiven wie affektiven Komponenten. Zahlreiche weitere ursprünglich bewußte kognitive Abläufe verfallen, wie kürzlich wieder von Kihlstrom aufgezeigt wurde, mit der Zeit aus Ökonomiegründen einer sekundären Automatisierung. Sie werden damit zum Bestandteil eines zusehends umfangreicher erscheinenden sogenannten »kognitiven Unbewußten« (Freud 1975 (1895); Piaget 1973c; Riedl et al. 1980; Kihlstrom 1987b) – wobei aber aus unserer Sicht, wie schon einmal erwähnt, gerade auch im Unbewußten kognitive Komponenten immer untrennbar mit affektiven Komponenten verbunden bleiben. Die obige Definition von Kognition entspricht also sehr genau auch einer evolutionären Perspektive. Des weiteren paßt sie ausgezeichnet zu seit längerer Zeit bekannten Befunden aus der Neurophysiologie, wonach das Erfassen von sensorischen Unterschieden (beziehungsweise von Varianzen und Invarianzen) bereits auf elementaren Stufen eine der grundlegendsten Leistungen des neuronalen Informationsverarbeitungssystems überhaupt darstellt. Wahrgenommene Unterschiede

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werden, wie oben vermerkt, durch neuronale Mechanismen sogar systematisch verstärkt. In diesem Zusammenhang sei auch noch auf die (schon in der Erstpublikation der Affektlogik 1982 eingehend diskutierte) Tatsache hingewiesen, daß typische »Strukturen« oder auch »Systeme« aller Art (wozu neben materiellen Gebilden ebenfalls abstrakte Begriffe, Theorien usw. zu zählen sind) letztlich nichts anderes als Kombinationen von bestimmten Invarianzen mit bestimmten Varianzen darstellen. Jedes Erkennen von Strukturen setzt deshalb zwingend die – meist ganz intuitive – Erfassung sowohl einer gewissen Zahl von Varianzen (beispielsweise der bestehenden Unterschiede zwischen einer Reihe von hohen und niedrigen, hölzernen und steinernen, ein- oder mehrbeinigen etc. Tischen) wie auch der all diesen Abwandlungen gemeinsamen Invarianzen (nämlich des in sämtlichen Tischen identischen Konstruktionsprinzips der Kombination einer waagerechten Abstellplatte mit einer oder mehreren Stützen) voraus (Ciompi 1982, S.94 ff.). Die vorgeschlagene Definition stützt sich also auch auf grundlegende Mechanismen der Gestaltwahrnehmung. Nur am Rand sei schließlich vermerkt, daß ebenfalls die ganze Kybernetik von einem Informationsbegriff ausgeht, dem just das Erfassen von Varianzen und Invarianzen zugrunde liegt: Die Einheit der Information, das »bit«, ist definiert als der kleinste noch feststellbare Unterschied (Abkürzung von »binary digit«; vgl. Shannon u. Weaver 1949) – wobei aber Gregory Batesons bekannter Ausspruch: »An information is a difference which makes a difference« (Bateson 1983, S. 408) auf eine energetische und damit letztlich auch affektive Komponente von Information verweist, die aus der Perspektive der Affektlogik von besonderem Interesse ist und uns noch nachhaltig beschäftigen wird. Symmetrisch zu der Situation bei den Affekten liegen somit die Vorteile der – ebenfalls auf fundamentale biologische Gegebenheiten abgestützten – obigen Definition von Kognition in ihrer Klarheit und Ökonomie, im Fehlen irgendwelcher Vermengung mit affektiven Elementen, sowie in ihrer vollen Übereinstimmung mit der neurobiologischen und evolutionären Perspektive. Wiederum ist indessen zu fragen, ob ihre erhebliche Bandbreite nicht zugleich einen Nachteil bedeuten könnte. Caroll Izard (1993a) zum Beispiel verneint den heuristischen Nutzen einer extensiven, auch elementare »organismische« Erkenntnisvorgänge einschließenden Definition von Kognition und möchte diese deshalb wie gesagt auf Vorgänge einschränken, die auf Gedächtnis und »mentalen Repräsentanzen« beruhen. Aber wo fangen solche Gedächtnisspuren wirklich an, wenn bereits einfache Plattwürmer und Schnecken mit ihrem aus nur

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wenigen Ganglien bestehenden Zentralnervensystem anhand einer adäquaten Dressur mit Nahrung oder elektrischen Reizen imstande sind, eine Art von Revier zu internalisieren und somit offensichtlich sowohl über ein primitives Gedächtnis wie auch über gewisse neuronale Äquivalente oder Repräsentanzen der wahrgenommenen Wirklichkeit verfügen (Menzel et al. 1984; von Frisch 1967)? Noch viel differenziertere Kenntnisse über ihr Revier erwerben sich beispielsweise Bienen und andere sozial hochentwickelte Insekten. Eine Grenze, bei der »kognitive Prozesse im engeren Sinn« erstmals in Erscheinung treten, ist also kaum zu ziehen. Eine breite Definition von Kognition im obigen Sinn mit, bei Bedarf, wiederum der Möglichkeit von einengenden Spezifizierungen erscheint deshalb zumindest im hier gegebenen Rahmen nach wie vor als die sinnvollste Lösung. Damit verfügen wir als Ausgangspunkt für alles Weitere über je eine klare Definition von Affekt und Kognition auf vergleichbarer Ebene, deren Trennschärfe die Erfassung von affektiv-kognitiven Interaktionen wesentlich erleichtern sollte. Phylogenetisch könnten Affekt und Kognition auch als Extrempole in einem bipolaren Kontinuum von zwei obligat zusammengehörigen biologischen Funktionsweisen oder »Achsen« aufgefaßt werden, die sich von einem gemeinsamen Ursprung aus in unterschiedlicher Richtung weiter differenziert haben (vgl. Wimmer 1995, ferner Wimmer et al. 1996): die »affektive Achse« in Richtung auf eine zunehmend differenzierte, aber prinzipiell immer den gesamten Organismus affizierende Ausbreitung einer spezifischen Information bzw. psycho-physischen »Gestimmtheit« oder Bereitschaft, die »kognitive Achse« dagegen in Richtung auf eine ständig zunehmende neuronale Konzentration oder Verdichtung und Verrechnung der einlaufenden Information in einem immer komplexer organisierten Zentralnervensystem. Ersterer Prozeß entspricht damit auch einem primär körperlichen Umsetzen und Konkretisieren des Erlebten, letzterer dagegen einem progressiven Abstrahieren und Codieren oder Symbolisieren. Beide komplementären Vorgänge stehen eminent im Dienst des Überlebens und gehören auch insofern untrennbar zusammen. Der fundamentale Mechanismus, der im Zentrum unseres Interesses steht, ist dabei die aktionsgenerierte operationale Zuordnung von bestimmten Affekten, oder psycho-physischen Gestimmtheiten, zu bestimmten Kognitionen beziehungsweise Verknüpfungen und Verrechnungen von Kognitionen im obigen Sinn. Seine Konsequenz besteht in der Generierung einer affektspezifischen Logik in einem erweiterten Sinn, die es nun ebenfalls noch genauer zu definieren gilt.

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Zum Begriff der Logik Der Begriff der Logik – der »Kunst des Denkens« oder des »richtigen Schließens« – stammt vom griechischen »logos« = »vernünftige Rede« ab und hat im wesentlichen zwei Bedeutungen, eine engere und eine weitere. Im engeren Sinn geht es dabei um die »Lehre von den formalen Beziehungen zwischen Denkinhalten, deren Beachtung im tatsächlichen Denkvorgang für dessen (›logische‹) Richtigkeit entscheidend ist«, das heißt um die formale Logik, so wie sie sich als streng rationale Wissenschaft seit Aristoteles bis heute herausgebildet und in eine Reihe von Unterdisziplinen wie mathematische und philosophische Logik, Aussagelogik, Prädikatenlogik und so weiter aufgegliedert hat. Als ihren Kern kann man die berühmten Sätze von der Identität, vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten betrachten: Eine Aussage ist identisch mit sich selbst, eine Aussage und ihr Gegenteil (oder ihre Negation) können nicht beide zugleich wahr sein, eine Aussage kann nur entweder wahr oder falsch sein. »Tertium non datur« – ein Drittes gibt es nicht. Auf dieser Basis haben die formalen Logiker im Lauf der Jahrhunderte ein komplexes System von logisch richtigen oder falschen Verknüpfungen von Denkinhalten entwickelt, das in der Folge zur Grundlage des ganzen neuzeitlichen Denkens und insbesondere des naturwissenschaftlichen und mathematischen Rationalismus wurde. Im weiteren Sinn dagegen bedeutet »Logik« nicht mehr als eine folgerichtige, das heißt in sich schlüssige oder auch nur gewohnte Verknüpfung von Sachverhalten, Handlungen, Verhaltensweisen. »Logisch ist, was alle denken«, behauptete seinerzeit schon Parmenides, und Anesidemos nahm an, daß »wahr wohl sei, was allen als wahr erscheint« (nach Riedl 1994, S. 192 ff.). Auch Piaget faßt in seiner Beschreibung der verschiedenen Stadien, die das Kind von einer aktionsgeleiteten Prälogik bis zu formallogischen (das heißt auf abstrakter Ebene reversiblen) mentalen Operationen durchläuft, den Begriff der Logik maximal weit, nämlich als »Koordination aller biologischen Aktionen«; einmal erwähnt er sogar eine alltägliche »Logik der Gefühle«, die durch Kohärenz und Verläßlichkeit von Haltungen, Gefühlen und Wertsystemen charakterisiert sei (Piaget 1962, 1969). Ganz in diesem Sinn ist umgangssprachlich oft von einer »Logik der Situation« oder »Logik der Sache« die Rede. Während des Golfkriegs beispielsweise sprach der französische Präsident Mitterand explizit von einer »Logik des Krieges«, welche von einem gewissen Punkt der weltpolitischen Entwicklung an das ganze weitere Geschehen bestimmt (man könnte durchaus auch sagen »konstruiert«) habe. Umgekehrt setzt die Welt im Zusammenhang mit dem Palästinakonflikt ihre Hoff-

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nung immer wieder auf eine »Logik des Friedens«, welche endlich einer jahrzehntelang von einer gegenseitigen Haß- und Aggressionslogik dominierten Entwicklung ein Ende setzen sollte. In dieser zweiten und viel allgemeineren Bedeutung von Logik geht es also weniger um eine Vorschrift, wie korrekterweise gedacht werden sollte, als vielmehr um die Feststellung, wie in einem bestimmten Kontext tatsächlich gedacht wird. Auf diese zweite Bedeutung beziehe ich mich vorwiegend, wenn ich in den nachfolgenden Kapiteln untergründige organisatorische Wirkungen von Affekten auf das Denken untersuchen werde, die zur Ausbildung von affektspezifischen Weisen des Denkens im Sinn einer charakteristischen »Angstlogik«, »Wutlogik«, »Trauerlogik«, »Freudelogik« oder auch »Alltagslogik« führen. Zugleich aber ist es mir auch ein wichtiges Anliegen zu zeigen, daß affektive Komponenten – wie wir sehen werden in erster Linie Lustkomponenten, die mit Ökonomie und Spannungslösung zu tun haben – ebenfalls bei der Entstehung und Funktion der formalen Logik sowie des rational-abstrakten und wissenschaftlichen Denkens überhaupt eine Rolle spielen. In diesem Sinn gibt es nicht nur eine einzige Logik, sondern deren viele, vielleicht potentiell sogar unzählige. Zu einem ganz ähnlichen Schluß führt ebenfalls der Konstruktivismus. Formallogisch durchaus widerspruchsfreie Argumentationsketten können, wie sich in jeder Polemik, jeder Sonntagspredigt, aber auch jeder wissenschaftlichen Kontroverse zeigt, je nach Auswahl und affektiven Gewichtung ihrer einzelnen Elemente unter Umständen zu hochgradig unterschiedlichen Schlußfolgerungen führen. Zu bedenken ist ferner, daß neben der okzidentalen Logik auch andere Hochkulturen wie die chinesische oder indische erheblich formalisierte, aber ganz andersartige Denkweisen oder »Logiken« hervorgebracht haben (Schenk 1990, S. 92 ff.). Sie unterscheiden sich von den unsrigen offenbar insbesondere in ihrer affektiven Grundstimmung. Aber auch innerhalb ein- und derselben Kultur, ja innerhalb ein und derselben Wissenschaft können sich verschiedenartige logische Systeme mit (zumindest in der anfänglichen Revolutions- und Oppositionsphase) deutlich unterschiedlicher affektiver Grundtönung ausbilden; man denke nur an die nichteuklidsche versus die euklidsche Geometrie, oder die relativistische versus die nichtrelativistische Physik. Jede Logik entsteht aus der spezifischen Art und Weise, wie einzelne kognitive Komponenten – das heißt also Systeme von Unterschieden – zu größeren operationalen Ganzen zusammengebaut werden. Oder anders gesagt: Der Modus der Verknüpfung von kognitiven Elementen begründet eine Logik. Dies gilt gleichermaßen für den weiteren wie

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engeren Begriff von Logik. In diesem allgemeinen und für unsere Zwecke besonders relevanten Sinn läßt sich Logik somit wie folgt definieren: Als »Logik« bezeichnen wir die Art und Weise, wie kognitive Inhalte miteinander verknüpft werden. Zusammen mit den gegebenen Definitionen von Affekt und Kognition bildet diese Begriffsbestimmung die Grundlage, auf welcher sich das konzeptuelle Gebäude der Affektlogik aufbaut. Es erlaubt eine eindeutige definitorische Unterscheidung zwischen rein kognitiven Mechanismen und der daraus resultierenden Logik auf der einen, und affektiven Erscheinungen und Mechanismen auf der anderen Seite. Zugleich ermöglicht es, klarer als bisher zu erkennen, daß und wie kognitive und affektive Elemente ständig untrennbar zusammenwirken: Indem ich nämlich aufzeigen werde, daß sowohl die Auswahl wie auch die Verknüpfung von kognitiven Elementen zu einer operationalen Logik im definierten Sinn immer affektiv und (in einem weiten Sinn) historisch-situativ mitbestimmt ist, hoffe ich zu belegen, daß jede Art von Logik eigentlich (auch) eine Affekt-Logik ist. Bevor wir so weit sind, müssen wir uns indessen mit einer weiteren recht kniffligen – und entsprechend umstrittenen – (Vor-)Frage befassen: Was gibt es überhaupt für Gefühle? Gibt es sogenannte Grundgefühle, und wenn ja, wie viele?

Was für Gefühle gibt es? – Grundgefühle und deren unendliche Abwandlungen Wenn wir uns zunächst im alltäglichen Sprachgebrauch umsehen, so stoßen wir auf eine schier unerschöpfliche Palette von Ausdrücken, die einerseits verschiedenartige Gefühlszustände bezeichnen, andererseits und bemerkenswerterweise aber praktisch durchs Band weg ebenfalls gewisse kognitive Elemente im definierten Sinn enthalten. Die Alltagssprache dokumentiert damit nicht nur den unendlichen Nuancenreichtum von Gefühlen mit unzähligen Überlappungen und feinen Übergängen, sondern belegt zugleich auch eindrucksvoll das Grundpostulat der Affektlogik, wonach affektive, kognitive und verhaltensmäßige Elemente immer untrennbar miteinander verquickt sind. – Das untenstehende »Inventar« von geläufigen solchen Ausdrücken vermittelt eine gewisse Übersicht; es ist indessen mit Sicherheit unvollständig, da zusätzliche Abwandlungen sich stets aufs neue entdecken lassen. Allerdings könnte man sich über die Berechtigung streiten, ge-

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wisse Begriffe mit besonders stark ausgeprägten Kognitions- oder Verhaltenskomponenten (wie etwa »Hohn«, »Spott«, »Rache«, »Reue«, »Feigheit«, »Kühnheit«) überhaupt noch in dieses Verzeichnis aufzunehmen. Eine gewisse Willkür ist hier nicht zu vermeiden. Ebenfalls nicht ohne Willkür ist die versuchte Gliederung in sechs große Gruppen, deren erste fünf vielleicht so etwas wie Grund- oder Primärgefühle widerspiegeln. Begriffe, die sonst nirgends recht hinpassen, figurieren in der heterogenen sechsten Sammelgruppe. Fremdsprachliche Synonyma werden nur dann aufgeführt, wenn sie eine besondere Bedeutungsnuance besitzen. Die Schwierigkeit, Gefühle mit Worten zu kategorisieren, spiegelt sich weiter in der Abgrenzung und Reihenfolge von lockeren Untergruppen sowie in der durchgehenden Wahl der substantivischen statt der (dem wirklichen Erleben zwar näheren, aber interessanterweise nicht in jedem Fall verfügbaren) verbalen oder adjektivischen Sprachform. Unter Inkaufnahme dieser unausweichlichen Problematik lassen sich zumindest die folgenden Gefühlsvarianten eruieren: – Angst, Furcht, Grauen, Horror, Panik – Bangigkeit, Ängstlichkeit, Unsicherheit – Sorge, Besorgtheit – Mißtrauen, Scheu, Schüchternheit, Verlegenheit, Befangenheit – Mutlosigkeit, Kleinmut, Feigheit, Unterwürfigkeit, Servilität ... – Wut, Zorn, Jähzorn, Empörung, Erbitterung – Aggressivität, Haß, Feindseligkeit, Antipathie – Ärger, Gereiztheit, Verdruß, Mißmut, Unmut – Trotz, Grimm, Ingrimm, Groll, Verachtung, Geringschätzung, Hochmut, Arroganz – Spott, Hohn, Rache, Schadenfreude, Häme, Niedertracht – Eifersucht, Mißgunst, Neid, Geiz, Eigennutz, Selbstsucht – Unhöflichkeit, Unanständigkeit, Rüdheit, Rauheit, Derbheit, Grobheit, Wildheit – Widerborstigkeit, Störrigkeit, Bockigkeit, Unwirschheit – Härte, Strenge, Sadismus, Grausamkeit – Mut, Tapferkeit, Kühnheit, Wagemut, Edelmut – Zähigkeit, Ehrgeiz, Hartnäckigkeit, Verläßlichkeit, Unerschütterlichkeit … – Trauer, Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Schwermut, Melancholie, Depression – Gram, Kummer, Leid, Schmerz, Jammer, Klaghaftigkeit, Weinerlichkeit, Verzagtheit, Ergebenheit – Unmut, Mißmut, Unbehagen, Trübsinn, Düsterkeit, Vergrämtheit, Verdrossenheit, Beklemmung, Pessimismus – Verschlossenheit, Bedrücktheit – Unlust, Gleichgültigkeit, Apathie, Langeweile – Scham, Reue, Demut, Erniedrigung, Zerknirschung, Schuldgefühl – Enttäuschung, Frustration, Überdruß, Bitterkeit – Wehmut, Nostalgie, Sehnsucht, Heimweh ... – Freude, Glück, Seligkeit – Lust, Entzücken, Wollust, Verzückung,

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Verklärung, Ekstase – Verliebtheit, Zärtlichkeit, Zuneigung, Liebe, Wohlgefallen, Wohlwollen, Rührung, Dankbarkeit, Großmut – Anmut, Heiterkeit, Lieblichkeit, Frohmut, Lustigkeit, Vergnügtheit, Fröhlichkeit, Leichtsinn, Übermut, Überschwang, Albernheit, Ausgelassenheit – Gehobenheit, Festlichkeit, Hochgefühl, Optimismus, Euphorie, Begeisterung, Jubel, Stolz, Triumph – Zufriedenheit, Entspanntheit, Gelöstheit, Behaglichkeit, Ruhe, Muße, Gelassenheit, Gleichmut, Lässigkeit, Gefaßtheit – Zutraulichkeit, Vertrauen, Achtung, Bewunderung, Verehrung, Ehrfurcht, Andächtigkeit, Ernst, Feierlichkeit, Tiefsinn – Mitleid, Mitgefühl, Sympathie, Empathie, Milde, Sanftmut, Erbarmen, Barmherzigkeit, Feinfühligkeit, Empfindlichkeit, Zartheit ... – Interesse, Aufmerksamkeit, Neugier – Erwartung, Hoffnung, Zuversicht – Aufregung, Ungeduld, Erregung, Spannung – Appetenz, Hunger, Verlangen, Begehren, Gier, Begierde, Geilheit, Leidenschaft, Passion – Erstaunen, Überraschung, Verwunderung, Verblüffung, Perplexität, Schreck … – Ekel, Abscheu, Grausen – Unausgeglichenheit, Unschlüssigkeit, Zweifel, Ambivalenz – Wankelmut, Flatterhaftigkeit, Rauschhaftigkeit – Oberflächlichkeit, Sorglosigkeit, Nachlässigkeit, Verspieltheit, Leichtsinn – Distanzlosigkeit, Dreistigkeit – Nachdenklichkeit, Staunigkeit, Versunkenheit, Verstörtheit, Verwirrtheit – Verblendung, Eigensinn, Verstiegenheit, Verbohrtheit, Verschrobenheit, Fanatismus, Besessenheit – Knorrigkeit, Skurrilität, Rigidität … Neben qualitativen Differenzen und feinen gradmäßigen Abstufungen tragen offensichtlich auch unterschiedliche kognitive Modulationen Wesentliches zu dieser enormen Vielfalt bei. Keiner der vielen Ansätze, die Gefühle in große Klassen oder »Familien« einzuteilen, hat sich bisher eindeutig durchsetzen können. Zum Teil werden mehrdimensionale Klassifikationen versucht; Plutchik (1993) zum Beispiel schlägt eine räumliche Darstellung auf einem auf dem Kopf stehenden Kegel vor, dessen vertikale Achse die Intensität, die horizontale Achse dagegen die (zum Teil polare) Qualität der Gefühle bezeichnet. Daß sich hinter der beeindruckenden Fülle von Affektvarianten eine beschränkte Zahl von »Grundgefühlen« (oder »Primärgefühlen«, »Basisgefühlen«) verbirgt, wird indessen heute fast allgemein bejaht; die Zahl der angenommenen Grundgefühle schwankt zwischen etwa fünf und zehn (vgl. Hinde 1972; Izard 1977; Kemper 1987; Gainotti et al. 1989; Machleidt et al. 1989; Lazarus 1991; Plutchik 1993). Angst, Wut, Trauer, Freude und auch eine mit Ausdrücken wie Interesse, Erwartung, Hunger oder Appetenz bezeichnete Kategorie von sogenanntem »Initialge-

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fühlen« gehören praktisch immer dazu; weitere mehr oder weniger eigenständige affektive Phänomene wie Ambivalenz, Ekel, Schreck, Überraschung, Schuld und Scham dagegen werden meist, aber nicht immer, als zusammengesetzt aus anderen Grundgefühlen verstanden. In den weiter oben erwähnten EEG-Untersuchungen Machleidts etwa konnten nur die fünf Grundgefühle Interesse, Wut, Angst, Trauer und Freude zuverlässig identifiziert werden; andere Gefühlstönungen entpuppten sich als Mischgefühle oder gradmäßige Varianten. Die Existenz von mindestens fünf solchen Grund- oder Primärgefühlen wird ebenfalls durch die vergleichende Verhaltensforschung nahegelegt, die sich vor allem auf die Mimik abstützt. Im Bereich der übrigen körperlichen Veränderungen und speziell der peripheren vegetativen Reaktionen dagegen ist es trotz jahrzehntelangen intensiven Bemühungen mit immer wieder neuen methodologischen Ansätzen bisher nicht gelungen, konstante affektspezifische Muster zu identifizieren (Cacioppo et al. 1993) – möglicherweise nur, weil solche Muster persönlichkeitsspezifisch sind. Gleiche Grundgefühle werden aber, wie schon berichtet, in allen Kulturen mimisch praktisch gleich ausgedrückt und auch ohne weiteres kulturübergreifend verstanden. Schon Darwin hat darüber hinaus gezeigt, daß dieselben »emotionalen Universalien« in Ausdruck und Verhalten ebenfalls bei den Primaten existieren und bis tief in die Reihe der Säuger hinab nachweisbar sind. Ihren Ursprung haben die Basisgefühle höchstwahrscheinlich in den weiter oben schon erwähnten elementaren organismischen Verhaltensmustern wie Kampf oder Flucht auf der einen, entspannte soziale Interaktion, Brutpflege, Sexualität oder Nahrungsaufnahme und Schlaf auf der anderen Seite, die mit einer sympathico- oder parasympathicotonen psycho-physischen Gesamtstimmung verbunden sind. Wegen der Vielzahl von Gefühlen und Gefühlskombinationen, den Schwierigkeiten ihrer gegenseitigen Abgrenzung und Klassifizierung und, letztlich, den weiter oben berichteten definitorischen Unklarheiten des Emotionsbegriffs überhaupt ist allerdings das Konzept von Grundgefühlen nicht unbestritten (Ortony et al. 1990). Auch die Tatsache, daß keine Einigkeit über deren genaue Zahl und Art besteht, zeigt, daß im einzelnen vieles nach wie vor der Klärung bedarf. Mit besonderer Dringlichkeit stellt sich die Frage, wie denn von einigen wenigen Basisaffekten aus der ganze, in der obigen Zusammenstellung dokumentierte Nuancenreichtum der Gefühle entstanden sein mag. – Eine naheliegende und, wie schon erwähnt, auch elektroencephalographisch ein Stück weit belegte Erklärung ist, daß die vielen Gefühlsschattierungen, ganz ähnlich wie die unzähligen Farbnuancen der Natur, aus den wechselnden Mischungsverhältnissen ihrer Grundele-

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mente entstehen. Als Alternativerklärung zur Mischungshypothense schlägt Caroll Izard (der übrigens, ganz ähnlich wie wir selbst, integrierte Emotions-Kognitionsstrukturen postuliert) vor, die Vielfalt der menschlichen Gefühle aus ihrer virtuell unendlichen Kombinierbarkeit mit kognitiven Komponenten zu verstehen (Izard 1977, 1992) – eine Deutung, die wie gesagt bei manchen der im obigen »Inventar der Gefühle« aufgelisteten Affektvarianten klar zuzutreffen scheint. Deutliche affektiv-kognitive Wechselwirkungen sind ferner im Zusammenhang mit Wertgefühlen unter andern stark kognitions- und zugleich kulturdeterminierten Gefühlen wie etwa Scham oder Schuld, Begeisterung oder Ergriffenheit zu verzeichnen. (Auch Wertvorstellungen aller Art sind, wie bei dieser Gelegenheit zu vermerken und weiter unten noch genauer zu diskutieren ist, typische Beipiele von integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen, beziehungsweise operationalen affektiv-kognitiven Bezugssystemen unterschiedlicher hierarchischer Wertigkeit.) So werden elementare Grundaffekte offensichtlich auch dadurch ein Stück weit verändert und differenziert, daß sie sich an unterschiedliche kognitive Oberbegriffe wie etwa an eine soziale Gruppe oder Partei, an ein Land, an ein ganzes Glaubenssystem heften. Auch andere stark kognitionsbestimmte affektiv-kognitive Phänomene wie Trotz, Stolz, Neid, Hohn, Spott, Rache und so weiter aus unserem »Inventar der Gefühle« verdeutlichen, daß Kultur und Sprache gewissermaßen die Gefäße bereitstellen, in denen elementare Affekte (wie in den genannten Beispielen in erster Linie Aggressivität) sekundär durch kulturspezifische kognitive Elemente moduliert und differenziert werden. Erst mit dieser kulturellen Prägung werden sie zu einer Art von handlichem Wechselgeld, mit welchem im Kontext einer bestimmten Sozietät dann auch in adäquater Weise »gehandelt«, das heißt sozial umgegangen werden kann. Für die gleiche Annahme sprechen ethnologische Beobachtungen, wonach Gefühle, für die es keinen sprachlichen Begriff gibt, offenbar gleichsam gar nicht existieren. So soll zusammen mit dem entsprechenden Wort bei gewissen Amazonasindianern auch das Gefühl für Liebe in unserem Sinn völlig fehlen, während bei einigen polynesischen Stämmen, die angeblich kein Wort für Wut besitzen, seltene aggressive Gefühle höchstens durch Trommeln auf den Boden ausgedrückt würden. Ein analoges Beipiel aus unserer eigenen Kultur wäre etwa die Tatsache, daß mit dem Begriff der mittelalterlichen höfischen Minne ebenfalls die zugehörige hochdifferenzierte Gefühlsskala aus unserem Erleben praktisch ganz verschwunden ist. Andererseits werden zweifellos durch Film, Fernsehen und andere Media neuartige affektive Verhaltensweisen, darunter namentlich sexuelle und aggressive, richtiggehend gebahnt. Auf prä-

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gende soziale Einflüsse auf die Gefühle haben, wie in einem späteren Kapitel genauer zu berichten sein wird, ebenfalls führende Soziologen wie Norbert Elias (1976 [1939]) oder Niklas Luhmann (1982) hingewiesen. Andere Autoren nehmen eine »Differenzierung« von Affekten im Lauf der kindlichen Entwicklung bis zur Ausbildung von unzähligen feinen Nuancen an, bleiben aber die Antwort schuldig, wie es zu dieser Entwicklung kommt (Cray 1972; La Violette 1979). Denkbar wäre zum Beispiel, daß die Differenzierung von unterschiedlichen globalen Befindlichkeiten oder Funktionsweisen stufenweise aus einem gemeinsamen Ursprung erfolgt, der wohl am ehesten in einem unspezifischen Zustand der Anregung (arousel) im Sinn von Aufmerksamkeit oder Interesse zu vermuten wäre. Aus dieser Wurzel könnte sich, wie Beobachtungen aus der frühkindlichen Entwicklung nahelegen, ein erster elementarer Bipol von Unlust oder Lust (spannungserzeugende Störung der Homöostase oder spannungslösende Rückkehr zu ihr) herausbilden, der durch die gegensätzlichen Impulse »weg von« und »hin zu« charakterisiert wäre. Dieser elementare Unlustpol würde sich weiter entweder zu Angst oder Wut, vielleicht auch zu Scham und Ekel oder Schreck weiterdifferenzieren, der Lustpol dagegen einerseits zu Freude, Liebe, Heiterkeit und ähnlichen Gefühlen, und in Form der Verbindung von Liebe mit einer Verlustsituation andererseits zu Trauer, Sehnsucht, Heimweh und ähnlichem. Gezielte einschlägige Untersuchungen gibt es hierzu meines Wissens bisher allerdings kaum. Wie ein spekulativer Versuch von Shaver und Mitautoren der Konstruktion eines solchen Verzweigungsbaums zeigt, werden die weiteren Schritte nach ersten elementaren Differenzierungen allerdings sehr rasch problematisch (Shaver et al. 1987). Aufgrund der vorliegenden Indizien ist es vorläufig deshalb insgesamt wohl am sinnvollsten, bei der Entstehung der beschriebenen Vielfalt von Affektnuancen ein Zusammenwirken aller drei beschriebenen Mechanismen – Affektmischungen, kognitiv-sprachliche und soziale Einflüsse sowie evolutionäre Differenzierung – anzunehmen. Ohne den unendlichen Variantenreichtum der menschlichen Gefühle aus den Augen zu verlieren, werde ich mich aus Gründen der Ökonomie im weiteren Verlauf unserer Untersuchung ganz vorwiegend auf die fünf sowohl neurobiologisch wie evolutionär und emotionspsychologisch am besten gesicherten Grundgefühle Interesse, Angst, Wut, Trauer und Freude (in der Regel in dieser Reihenfolge) konzentrieren. Im Vergleich zur ungeheuer facettenreichen Wirklichkeit wird sich daraus zum Teil zwar ein holzschnittartig vergröbertes Bild ergeben. Auf der anderen Seite aber lassen sich wohl gerade in einer solchermaßen

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vereinfachten Darstellung grundlegende Wirkungen der Affekte auf das Denken, um deren Analyse es mir ja in erster Linie geht, besonders deutlich herausarbeiten. Gewiß wird der geneigte Leser die fehlenden Zwischentöne, wo nötig, von sich aus zu ergänzen wissen.

Trieb und Instinkt, Motivation und Wille, Wertsysteme und Werthaltungen Bei aller zumindest semantischen Klärung, die unsere breit abgestützten Oberbegriffe von Affekt, Kognition und Logik im Rahmen unserer Untersuchung zu bringen vermögen, dürfen doch gewisse nach wie vor bestehende begriffliche Schwierigkeiten in wichtigen, eng mit affektivkognitiven Interaktionen zusammenhängenden Bereichen nicht außer acht gelassen werden. Dazu gehört vor allem die Frage, wie so bedeutsame Begriffe wie diejenigen der Triebe, Instinkte, Motivationen, auch des Willens und der längerfristigen Wertsysteme und Werthaltungen, um deren genaue Abgrenzung in der Literatur ebenfalls seit Jahrzehnten gerungen wird, aus affektlogischer Sicht zu verstehen seien. Besonders komplex gestaltet sich diese Frage für den vorliegenden disziplinenüberschreitenden Ansatz auch deshalb, weil je nach Sachgebiet und ins Auge gefaßter Evolutionsphase die obigen Termini recht unterschiedliche Bedeutungen haben können. Obwohl wir uns hier vor allem mit dem Menschen beschäftigen, ist doch die Mitberücksichtigung der evolutiven Dimension zur Klärung des Trieb-, Instinkt- und teilweise auch des Motivationsbegriffs unumgänglich. Allerdings ist es nicht möglich, die ganze verwickelte Problematik dieser Begriffe hier im einzelnen aufzurollen. Für unsere Zwecke muß es genügen, deren Bezüge zu unserem zentralen Konzept der operationalen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme (oder affektiv-kognitiven Schemata, affektiv-kognitiven Bezugssysteme) als Bausteine der Psyche nach Möglichkeit zu klären. Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, daß in allen erwähnten Erscheinungen affektive, kognitive und verhaltensmäßige Komponenten jeweils zu einem funktionellen Ganzen vereint sind. Mit anderen Worten, sie stehen offensichtlich alle mit typischen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen zumindest im Zusammenhang. Unter Ausnützung der integrativen Potenz dieser Gemeinsamkeit und gleichzeitiger Berücksichtigung der einschlägigen Literatur ergibt sich daraus die folgende Sichtweise: Instinkte sind in der Biologie als kurzdauernde umschriebene Verhaltensmuster definiert, die durch bestimmte kognitive Auslöser akti-

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viert werden und mit einer spezifischen affektiven Gestimmtheit einhergehen. Gute Beispiele sind etwa das Beutefangverhalten bei Tieren oder auch große Teile des im engen Sinn sexuellen Verhaltens (der umschriebenen sexuellen Handlungsmuster) bei Tier wie Mensch. Triebe wie der Sexualtrieb oder der Aggressionstrieb dagegen sind – soweit der eine Zeitlang namentlich in der Psychologie inflationär ausgeweitete Triebbegriff weiterhin gültig bleibt – langdauernd oder auch permanent präsente, angeborene komplexe Verhaltensbereitschaften, die den Instinkten hierarchisch übergeordnet sind. Auch sie werden durch ganz bestimmte interne oder externe Auslöser (zum Beipiel durch hormonelle Veränderungen oder sensorische Reize, bestimmte Situationen etc.) aktiviert. Triebe und Instinkte unterscheiden sich voneinander also in erster Linie durch ihre hierarchische Wertigkeit und durch ein spezifisch zeitliches Moment. In beiden aber sind spezifische affektive Befindlichkeiten wie Hunger, Interesse, Angst, Wut oder Aggressivität, oder auch Entspannungs- und Lustgefühle von wechselnder Intensität und Dauer an spezifische kognitive Gestalten (zum Beispiel Nahrungsmittel, Reviermerkmale, Freund- und Feindbilder, Geschlechtspartner, Nachwuchs, etc.) und zugleich auch an spezifische Verhaltensweisen wie Nahrungsaufnahme, Umgebungsexploration, Flucht oder Kampf, Revierverteidigung, Sexualität, Brutpflege und so weiter, gekoppelt. Instinkte wie Triebe sind aus der Sicht der Affektlogik deshalb nichts anderes als angeborene Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme von unterschiedlicher zeitlich-hierarchischer Wertigkeit und Komplexität. Im Lauf der Evolution über die höheren Säuger bis zum Menschen gewinnen diese »Programme« fortwährend an Komplexität und Umweltplastizität. Gleichzeitig kombinieren und überlagern sie sich – speziell beim Menschen – manchmal fast bis zur Unkenntlichkeit mit kulturell erworbenen Verhaltensweisen. So kann man im Händedruck, Kuß oder Lächeln die Spur von auch bei anderen Primaten und Säugern beobachtbaren instinktiven Freundlichkeits- und Demutsbezeugungen nur noch mit Mühe erkennen. Dasselbe gilt für die vielen sublimierten Ausdrucksformen des menschlichen Sexualtriebs. Trotz maximalen Freiheitsgraden aber bleiben Triebe und Instinkte, wie die vergleichende Verhaltensforschung zeigt, auch im menschlichen Verhalten in vielfach unterschätztem Ausmaß wirksam. Instinkte und Triebe überlappen sich ihrerseits mit dem Phänomen oder Begriff der Motivation, die aus der Sicht der Affektlogik wiederum nur einen besonderen – nämlich den mobilisierenden und dynamisierenden – Aspekt von integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen bezeichnet. Denn alle in solchen Programmen eingebauten

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Affektkomponenten üben dynamische Wirkungen aus, die sich, wie weiter oben schon angedeutet, auf elementarem Niveau am besten als Bewegungsimpulse »hin zu« (im Fall von lustbetonten Affekten) oder »weg von« (im Fall von unlustbetonten Affekten) beschreiben lassen. Auf differenzierterer Stufe entwickeln sie sich in der Folge zu den vielfältigen sogenannten Operatorwirkungen der Affekte auf Denken und Verhalten, mit denen wir uns im nächsten Kapitel gezielt beschäftigen werden. Mit dem Begriff der Motivation sind somit einfach die Bereitschaften oder Antriebe für bestimmte Verhaltensweisen beschrieben, die allen funktionellen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen immanent sind. Solche Motivationen treten sowohl im Rahmen von angeborenen Trieben und Instinkten wie – speziell beim Menschen – von differenzierteren erworbenen Verhaltensprogrammen in Erscheinung. Ihre Aktivierung erfolgt je nach Situation durch spezifische Außenreize oder auch durch innere (zum Beispiel hormonale) Veränderungen. Daß ebenfalls »Motivation« nichts als ein Teilaspekt eines typischen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramms darstellt, zeigt sich insbesondere in dem Umstand, daß Motivation immer durch eine bestimmte (z. B. positive, oder negative) Affektqualität charakterisiert und gleichzeitig obligat auch mit bestimmten kognitiven Inhalten (zum Beispiel mit der Vorstellung eines erstrebten oder gemiedenen Gegenstands oder Orts, eines Projekts, einer Tätigkeit, eines Menschen usw.) verbunden ist. Von Interesse ist des weiteren die große zeitliche Spannweite von derartigen Motivationen oder »Programmen«: Sie reichen von bloß momentanen Phänomenen (etwa der Motivation, heute nachmittag baden zu gehen) bis zu jahre- oder gar jahrzehntelangen Zielsetzungen (etwa ein Buch zu schreiben, eine Familie zu gründen oder diese oder jene berufliche Stellung zu erreichen). Indes beruht in der Regel auch eine nur sehr kurze Aktivierung einer bestimmten Motivation auf einer längerfristigen latenten Verbindung von bestimmten Kognitionen mit bestimmten (so zum Beispiel beim Badengehen mit angenehmen) Affekten. Die erwähnten positiven oder negativen Affekte binden somit die relevanten Kognitions- und Verhaltenssequenzen (etwa für das Badengehen oder das Bücherschreiben) zu einem operationalen Ganzen – eben einem »Programm« – zusammen; insofern zeigen sich gerade beim Phänomen der Motivationen wiederum langfristige organisierende und integrierende sogenannte Operatorwirkungen von Affekten auf Kognition und Verhalten mit großer Deutlichkeit. Sobald dagegen solche Affektbesetzungen wegfallen, zerfällt das betreffende Programm in seine einzelnen Bestandteile, beziehungsweise wird es latent und verödet unter Umständen – darin einem nicht mehr benutzten Fußweg nicht unähnlich – mit der Zeit völlig.

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Prinzipiell ähnliche Verhältnisse treten ebenfalls beim lange Zeit sehr rätselhaften Phänomen des Willens zutage. Auch dieses läßt sich nämlich (wie an anderer Stelle [Ciompi 1988c, S. 195 ff.] bereits eingehend diskutiert) ohne Schwierigkeit in das Konzept der affektlogischen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme einordnen. Dabei ist eine scharfsinnige Analyse Piagets in seiner Sorbonner Vorlesung über Affekt und Intellekt besonders hilfreich: Nachdem sich ihm praktisch alle bisherigen philosophischen und psychologischen Erklärungen als unzulänglich erwiesen hatten, kommt der Genfer Psychologe dort zu dem Schluß, daß der »Wille« eine übergeordnete »affektive Regulation von Regulationen«, das heißt ein sozusagen kompakter und schwächere Affekte dominierender Affekt sei (Piaget 1981, 1995). Auch dieser heftet sich ad hoc an bestimmte kognitive Strukturen und zugehörige Verhaltensmuster, womit einmal mehr ein typisches, vom betreffenden Affektbeziehungsweise Willensimpuls organisiertes und integriertes Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramm vorliegt. Wir werden auf das wichtige Phänomen des (»freien«?) Willens vor allem im Zusammenhang mit ethischen Fragen gegen Schluß des Buches nochmals zurückkommen. Sehr typische Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme von langdauernder Wirkung stellen schließlich ebenfalls alle übergeordneten Wertsysteme und Werthaltungen dar, indem ja auch diese nichts anderes als eine – hier in der Regel dauerhafte – Kombination von ganz bestimmten kognitiven Inhalten (zum Beipiel politischen Ideologien, Glaubenssystemen, sozialen Verhaltensweisen aller Art) mit positiven und negativen Affekten darstellen. Alle sozialen, politischen, moralischen, aber durchaus auch sportlichen oder andersartigen Spielregeln mit Einschluß von denjenigen, die – wie wiederum Piaget sehr präzise nachgewiesen hat – etwa die Kinderspiele organisieren, müssen als das Resultat der festen Verbindung von spezifischen Affekten mit spezifischen Kognitionen und Verhaltensweisen oder -tendenzen aufgefaßt werden. – Eine ganz ähnlich affektiv-kognitive Struktur und Dynamik wie die Wertsysteme weisen übrigens ebenfalls zwischenmenschliche Beziehungen wie Freundschaften, Liebesverhältnisse, vorübergehende oder dauernde Bindungen an bestimmte Gruppen und ihre Ideologien auf. Da wie dort haben sich bestimmte affektive Qualitäten im Lauf der Zeit mit bestimmten Kognitionen und Verhaltensweisen gewissermaßen zu fixen Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen verkoppelt, denen entlang sich die aktuelle affektiv-kognitive Dynamik in der Folge mit relativ geringfügigen Variationen repetitiv bewegt. Grundlegende Umstellungen solcher affektiv-kognitiver Bezugssysteme werden nur noch aufgrund von besonderen Situationen und Erlebnissen vorgenommen. Erst aus der Geschichte und Struktur solcher »Fühl-, Denk-

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und Verhaltensschienen« läßt sich deshalb – wie wir namentlich im Kapitel über kollektive Affektlogik noch genauer sehen werden – sonst vielleicht fast unverständliches (beispielsweise sektiererisches) Verhalten von Individuen wie Gruppen verstehen. Schon an dieser Stelle sei im übrigen darauf hingewiesen, daß sich bereits beim Phänomen der Motivation, und noch viel klarer bei demjenigen des Willens und der Wertsysteme, sehr deutlich zeigt, daß ebenfalls die Affekte, und nicht nur die Kognitionen, eine hierarchische Struktur besitzen: Gewisse Affekte sind anderen, zum Beispiel gegenläufigen, über- oder untergeordnet, und diese Hierarchie kann in Verbindung mit bestimmten Kognitionen dauernden oder auch nur vorübergehenden Charakter gewinnen. Dabei sind wiederum affektivkognitive Wechselwirkungen zu beachten: Gewisse »höhere« Gefühle wie etwa die Verehrung für ein bestimmtes moralisches oder religiöses System vermögen sich evidenterweise erst dann auszubilden, wenn die entsprechenden kognitiven Abstraktionen vorgängig gebildet worden sind. Aber auch elementarere Gefühle von Neid, Scham, Eifersucht, Trauer oder Schuld setzen bereits mehr oder weniger weitgehende kognitive Differenzierungen voraus. Hervorgehoben zu werden verdient schließlich auch die außerordentlich breit gefächerte zeitliche Dynamik von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen: Gewisse Fühl-, Denk- und Verhaltenskoppelungen können fast nur momentan oder doch sehr vorübergehend auftreten, wie dies etwa bei einmaligen Willensimpulsen oder – beispielsweise während einer Reise – ad hoc entstehenden affektivkognitiven Konstellationen der Fall ist. Sie mögen sich aber auch vielfach wiederholen und so mit der Zeit – wie beispielsweise bei vielen Werthaltungen und langfristigen Motivationen – zu über Jahre und Jahrzehnte lang wirksamen Verhaltensprogrammen einschleifen. Überhaupt sind im allgemeinen affektiv-kognitive Bindungen wesentlich stabiler, als man aufgrund der sprichwörtlichen Mobilität der Gefühle gewöhnlich annimmt. Dies zeigt sich besonders klar auch anhand der sogenannten Vorurteile, die ja nichts anderes als besonders veränderungsresistente Werthaltungen sind. – Von Interesse sind im gleichen Zusammenhang ebenfalls Jahrzehnte überdauernde individuelle wie kollektive Einstellungen oder Mentalitäten, die durch umfassende, hierarchisch übergeordnete Affekt-Kognitionsbindungen und entsprechende Verhaltenstendenzen charakterisiert sind. Kürzerfristige Abwandlungen davon manifestieren sich unter anderem im Phänomen der Mode(n). Auch ganze kulturelle Epochen können durch spezifische affektive Gestimmtheiten, die an bestimmte kognitive Inhalte gebunden sind, geprägt sein. So spricht man wohl nicht zu

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Unrecht vom »Hochgefühl des Barock«, vom besonderen Interesse der Romantik für Natur, Gefühl, Geschichte und Ursprung, später dann von einer allgemeinen Aufbruchs- und Pionierstimmung im Europa und Amerika des ausgehenden 19. Jahrhunderts oder heute vielleicht von einer für unsere Zeit charakteristischen allgemeinen Hektik und Aggressivität. Affekte in unserem Sinn können ihre Wirkungen auf das Denken also sowohl sehr kurzfristig, sozusagen akut, wie auch über lange und längste Zeiträume, das heißt »chronisch« entfalten. Bei aller Kontinuität im großen bleiben affektiv-kognitive Bindungen im einzelnen indes sehr anpassungsfähig. Zumal beim Menschen dürfen die beschriebenen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme deshalb keineswegs als rigid vorprogrammierte Schemata mißverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um erheblich umweltplastische Grundmuster mit vielen Ad-hocVariationsmöglichkeiten und Freiheitsgraden. Grundsätzliche Aspekte ihrer organisatorisch-integratorischen Effekte auf die Kognition aber bleiben – wie wir in den nachfolgenden Kapiteln namentlich im Zusammenhang mit dem Phänomen der Selbstähnlichkeit oder Fraktalität noch genauer sehen werden – über unterschiedlichste Entwicklungsphasen und Dimensionen hinweg dieselben. Auch über diesen Zugang stoßen wir somit auf tiefgehende strukturelle Gemeinsamkeiten, die sich hinter scheinbar recht heterogenen Begriffen wie denjenigen des Instinkts, der Triebe, der Motivation, des Willens und der Wertsysteme verbergen.

Zur reziproken strukturellen Koppelung zwischen dem psychischen, sozialen und biologischen Phänomenbereich Zum Abschluß dieser Erörterung von Grundbegriffen der Affektlogik wollen wir uns einige Gedanken über das Zusammenwirken von psychischen, sozialen und biologischen Komponenten in psychischen Erscheinungen aller Art machen, wie es im Konzept der erfahrungsgenerierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme ja im vorhinein impliziert ist. Es handelt sich dabei um eine grundlegende Frage – eigentlich um den ganzen Fragenkomplex rund um das berühmte LeibSeele-Problem, um das sich ein guter Teil der wissenschaftsphilosophischen Diskussion seit Jahrhunderten dreht. Nach wie vor stehen sich dabei »Psychiker« und »Somatiker«, das heißt Vertreter einer qualitativen Eigenständigkeit geistiger Phänomene und Verfechter eines radi-

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kalen biologischen Reduktionismus auf kaum vereinbaren Positionen gegenüber. »Geisteswissenschaft ist letztlich nichts anderes als Hirnwissenschaft«, formulierte kürzlich wieder ein bekannter Neurowissenschaftler mit dem Argument, daß heute schon »hinter« praktisch jedem Fühlen und Denken spezifische neuronale Prozesse nachgewiesen werden könnten (Roth 1996). Ohne ein solches »materielles Substrat« gäbe es, so behauptet die positivistische Naturwissenschaft seit jeher, auch keinerlei »Geist«. Konsequenterweise leugnet oder übersieht sie auch irgendwelche geistigen Wirkungen auf die Materie. Psychische und geistige Erscheinungen auf ihr – natürlich vorhandenes – biologisches Substrat einfach zu reduzieren geht indessen schon deshalb nicht an, weil sie sich in vieler Hinsicht in einem »Zwischenraum« situieren: Es handelt sich, wie speziell bei allen abstrakten Relationen bis hin zur Mathematik sehr deutlich wird, wesentlich um immaterielle Beziehungsgefüge, die von einem bestimmten Punkt der Komplexität an weit über deren einzelne materielle Träger oder Exponenten hinaus emergieren. So ist etwa der »Geist« einer Epoche oder die geschichtliche Entwicklung dieses Geistes über Jahrhunderte und Jahrtausende hin kein Phänomen, das in irgendeinem einzelnen Gehirn, und auch nicht einfach in deren Summe, lokalisiert werden kann, sondern einzig »dazwischen«, das heißt in einem hochabstrakten und eben deshalb spezifisch geistigen Raum. Einmal mehr ist es nicht möglich, auf den mit diesen paar Hinweisen implizierten komplexen Fragenkreis hier näher einzugehen; auf einzelne Aspekte davon werden wir indes in anderen Zusammenhängen mehrfach zurückkommen. An dieser Stelle wollen wir uns damit begnügen, nachdrücklich auf ein zu diesem Fragenkreis gehöriges Konzept hinzuweisen, das sich im Rahmen der Affektlogik und ihrer Anwendungen seit langem bewährt hat: nämlich auf das seit den siebziger Jahren von den chilenischen Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela vorgeschlagene Konzept der reziproken strukturellen Koppelung zwischen wesensmäßig unterschiedlichen Phänomenbereichen, dem wir im Zusammenhang mit konstruktivistischen Fragestellungen auch schon im vorangegangenen Kapitel begegnet sind. Im Bemühen nach einer methodologisch sauberen Trennung zwischen den Vorstellungen des Beobachters einerseits und den von ihm beobachteten Phänomenen andererseits postulieren diese konstruktivistischen Hirnforscher seit langem, daß die eigenen Vorstellungen des Beobachters, die hirnphysiologischen Vorgänge selbst, und das beobachtbare »äußere« Verhalten je einem »phänomenalen Bereiche« sui generis angehören würden, der sich nach seinen eigenen Gesetzen

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selbst organisiere. Gleichzeitig aber würden sich diese unterschiedlichen Phänomenbereiche gegenseitig in einem Interaktionsbereich fortwährend so beeinflussen, daß sich dort – und nur dort – ihre Strukturen und dynamischen Organisationsformen einander wechselseitig angleichen (Maturana 1982). Der Vorteil dieser sehr klaren, ursprünglich in erster Linie zur Abgrenzung der Position des forschenden Beobachters vom beobachteten Gegenstand entwickelten Konzeptualisierung besteht in meinen Augen vor allem darin, daß sie jeden einseitig biologischen oder auch psychologisch-konstruktivistischen Reduktionismus vermeidet, ohne zugleich die Idee einer engen gegenseitigen Abhängigkeit zwischen den involvierten Phänomen- beziehungsweise Prozeßbereichen einfach aufzugeben. Das gleiche Kozept läßt sich nämlich ohne Schwierigkeit zu einem umfassenden psycho-sozio-biologischen Interaktionsmodell* weiterentwickeln, wenn man bloß anstelle des »Beobachterbereichs« die nur introspektiv direkt erfaßbaren innerpsychischen Vorstellungen und Dynamismen insgesamt, anstelle der »neurophysiologischen Vorgänge« den biologischen Phänomenbereich als ganzen, und anstelle des »beobachtbaren äußeren Verhaltens« den Bereich der sozialen Interaktionen setzt. Auch für diese drei im Vergleich zu Maturana und Varela deutlich weiter gefaßten, aber nach wie vor eindeutig unterschiedlichen Phänomenbereiche gelten, wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe (Ciompi 1986, 1988, 1989, 1991a), die obigen Interaktionsregeln ganz unverändert: Sowohl der psychische, der soziale wie der biologische Bereich organisieren sich nach je eigenen Gesetzmäßigkeiten selbst, und gleichzeitig beeinflussen sie sich in ihrer Struktur dort, wo sie interagieren, fortwährend gegenseitig. Eine solche erweiterte Version des Maturana-Varelaschen Konzepts der reziproken strukturellen Koppelung werden wir als Ausgangsbasis für alle weiteren Überlegungen benutzen. Sie kann sich inzwischen auch auf zahlreiche psychobiologische Befunde stützen, anhand derer sich die gegenseitige Beeinflussung zwischen psychischen, sozialen und biologischen Erscheinungen konkret nachweisen läßt. Zu den typischen Vermittlern oder »psycho-sozio-biologischen Mediatoren« (Ciompi 1989) zwischen den verschiedenen Ebene gehört in erster Linie, wie schon weiter oben hervorgehoben, das Phänomen der neuronalen Plastizität. Über sie wirken innerpsychische und soziale * Ich ziehe die Reihenfolge »psycho-sozio-biologisch« dem gebräuchlicheren »bio-psychosozial« vor, um den Hauptfokus auf den psychischen Phänomenbereich im vorliegenden Interaktionsmodell hervorzuheben.

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Prozesse in der Tat sehr klar auf das neuronale Substrat ein, was dann reziprok wiederum das subjektive psychische Erleben und das zwischenmenschliche Verhalten beeinflußt. Ganz ähnlich sind Streßphänomene aller Art sowohl auf der psychosozialen wie biologischen Ebene gleichzeitig manifest. Neben vielfältigen körperlich-neurovegetativen Spannungs- und Überforderungssymptomen führen sie, wie die moderne psychoimmunologische Forschung gezeigt hat, auch auf der immunbiologischen Ebene zu Veränderungen im zellulären Abwehrsystem – einer Art von mobilem Nervensystem –, und alle diese körperlichen Veränderungen wirken ihrerseits dann sowohl auf den innerpsychischen Zustand wie auf das soziale Verhalten in vielfacher Weise zurück. – Oft wird ferner übersehen, daß gerade die Affekte selbst ebenfalls auf allen drei Ebenen – der innerpsychischen, der sozialen und biologischen – wechselwirkend eine bedeutsame Rolle spielen und deshalb psycho-sozio-biologische »Brücken« oder Mediatoren erster Güte darstellen. Ein gutes Beispiel hierfür sind etwa die weiter oben berichteten Einflüsse von positiven Affekten auf die Reifung von wichtigen limbofrontalen Verbindungsbahnen zwischen dem 12. und 18. Monat im Rahmen der frühen Mutter-Kind-Beziehung: Sie spielen sich abwechselnd oder gleichzeitig sowohl auf der innerpsychischen und sozialen wie auf der neurotransmittorischen und hormonalen Ebene ab, werden wiederum über das Phänomen der neuronalen Plastizität in die neuronalen Assoziationsbahnen enkodiert und beeinflussen in der Folge nicht nur das innerpsychische Erleben, sondern auch das Sozialverhalten nachhaltig. Mit solchen Befunden gewinnt das theoretische Konstrukt der reziproken strukturellen Koppelung zwischen dem biologischen, sozialen und intrapsychischen Bereich ein solides empirisches Fundament. Gleichzeitig liefert es eine ausgewogene (Teil-)Antwort auf das LeibSeele-Problem, die sich sinnvoll nicht nur in den affektlogischen Ansatz, sondern auch in andere ganzheitliche Betrachtungsweisen des Wechselspiels zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Phänomenen einfügt. – Es wird sich auch als nützlich erweisen, wenn wir uns im nächsten Kapitel nunmehr mit den vielfältigen Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken und im übernächsten Kapitel dann mit den chaostheoretischen Grundlagen der fraktalen Affektlogik beschäftigen werden.

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Drittes Kapitel Affekte als grundlegende Operatoren von kognitiven Funktionen

Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe Ewigkeit. Nietzsche

Von der bisher erarbeiteten Basis aus können wir uns nunmehr der genaueren Analyse der schon mehrfach erwähnten organisatorischintegratorischen Wirkungen der Affekte auf das Denken zuwenden. Wir fassen sie unter der Bezeichnung von Operatorwirkungen der Affekte auf die Kognition zusammen. Der Begriff eines Operators stammt aus der Physik und Mathematik und bedeutet dort, wie schon einmal vermerkt, eine Kraft, die auf eine Variable einwirkt und diese beeinflußt. Zwar ist in der Philosophie, allen voran von Heidegger, schon seit den zwanziger Jahren thematisiert worden, daß untergründige affektive Gestimmtheiten unser Denken ständig tiefgehend beeinflussen. Unter dem Aspekt der Angst machte Heidegger diese Erkenntnis sogar zu einem Angelpunkt seiner gesamten Existentialphilosophie, und auch bei Bollnow, der Heideggers Ansatz als zu einseitig angstzentriert kritisiert, bilden allgegenwärtige Wirkungen von Stimmungen auf das Denken die Basis einer allgemeinen anthropologischen Philosophie (Bollnow 1956). In der Psychologie dagegen sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die wir in einem Folgekapitel zurückkommen werden, unausweichliche affektive Einflüsse auf die Kognition jahrzehntelang weitgehend übersehen oder vernachlässigt worden. Selbst ein sonst so umsichtiger Forscher wie Piaget gesteht den Affekten, wie wir schon sahen, ausschließlich energetisch-mobilisatorische Wirkungen auf kognitive Prozesse und Inhalte zu (Piaget 1981, 1995). Erst in der neueren emotionsbiologischen und -psychologischen Literatur bricht sich die Erkenntnis allmählich Bahn, daß emotionale Komponenten viel tiefergehende Wirkungen auf Denken und Verhalten aus-

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üben. Jaak Panksepp zum Beispiel, ein führender Experte im Bereich der integrierten affektspezifischen Funktionssysteme, schreibt 1991 in einer Übersicht über den aktuellen Stand der »affektiven Neurowissenschaft« (»affective neuroscience«): »Die primäre Funktion der emotionalen Systeme ist die Generierung von kohärenten Verhaltenstendenzen, und die autonomen Veränderungen mögen den zielgerichteten, in die emotionalen Schaltkreise eingebauten Verhaltensweisen untergeordnet sein«* (S. 89). Auch Caroll Izard, der bereits in seinem Buch »Human Emotions« aus dem Jahr 1977 auf frühe Publikationen hingewiesen hatte, in denen derartige Organisatorwirkungen vermutet wurden, diskutiert in einem Artikel aus dem Jahr 1993 explizit »organisatorische und motivationale Funktionen von diskreten Emotionen« auf die Kognition. Trotz einem seit kurzem schon beinahe boomhaften Anstieg der Beschäftigung mit Affektwirkungen auf das Denken scheint indessen in den bisherigen neurobiologischen oder emotionspsychologischen Publikationen nach wie vor weder die Breite und Tiefe der unausweichlichen organisatorisch-integratorischen Operatoreinflüsse der Affekte auf alle kognitiven Funktionen noch deren Tragweite für unser ganzes Menschenverständnis mit zureichender Klarheit erfaßt zu sein.

Organisatorisch-integratorische Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken Im Rahmen der Affektlogik standen zwar vielfältige Wirkungen von Affekten auf das Denken von allem Anfang an im Zentrum des Interesses. Eine präzisere Konzeptualisierung im Sinn der im folgenden zu beschreibenden Operatorwirkungen erfolgte aber auch hier erst in den letzten Jahren (Ciompi 1991a, 1993b). – Solche Operatoreffekte lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: nämlich einerseits in allgemeine Wirkungen, die allen Affekten in gleicher Weise eigen sind, und andererseits in spezielle Wirkungen, die von Affekt zu Affekt variieren. In beiden erweist sich eine phylo- wie ontogenetisch lebenswichtige Funktion der Gefühle, die dagegen völlig verborgen bleiben muß, solange man solche als bloße Störung des rationalen Denkens verkennt. Zu den allgemeinen organisatorisch-integratorischen Affektwirkungen auf das Denken gehören namentlich die folgenden Mechanismen:

* Übersetzung v. L. C.

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Affekte als grundlegende Operatoren

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– Affekte sind die entscheidenden Energielieferanten oder »Motoren« und »Motivatoren« aller kognitiven Dynamik. Diese längst bekannte und – im Prinzip – auch allgemein anerkannte Wirkung von Affekten auf die Kognition verdient es, an erster Stelle erwähnt zu werden, da alle anderen organisatorisch-integratorischen Operatoreffekte damit mehr oder weniger eng zusammenhängen. In der Tat bringen erst affektive Kräfte aller Art – Ängste, Wünsche, Strebungen, und darunter, wie wir weiter unten zeigen werden, ganz wesentlich auch der Wunsch nach Stimmigkeit, Harmonie, Konfliktund Spannungslösung – die kognitive Dynamik in Gang, liefern ihr die nötige Energie, wirken darin also sozusagen als »Motoren«. Gerade diese bewegenden, mobilisierenden Wirkungen sind auch in dem Terminus »Emotion« erfaßt. Ohne die Energie der Affekte gäbe es wohl überhaupt kein Wollen und Handeln, kein Über-legen und Miteinander-Inbezugsetzen von kognitiven Elementen in einem wörtlichen wie übertragenen Sinn. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, können sogar die ganzen affektiv-kognitiven Strukturen, die unsere Psyche ausmachen, als je unterschiedliche Muster der Affektenergieverteilung auf die verfügbaren Kognitionen (also als sogenannte »dissipative Strukturen« im chaostheoretischen Sinn) aufgefaßt werden – eine Interpretation, die im Lauf unserer Untersuchung eine zunehmende Bedeutung erlangen wird. Zu bedenken ist beim (von Piaget stammenden) Vergleich der Affekte mit Motoren allerdings, daß Gefühle manchmal auch gerade gegenläufige, nämlich bremsende Wirkungen auf Denken und Verhalten entfalten: Während Angst, Wut oder Freude das Denken und Verhalten in der Regel beschleunigen, wirken insbesondere Trauer und Depression, unter speziellen Umständen gelegentlich auch Angst und Schreck oder Wut, hemmend und verlangsamend. Auch das Bremsen einer Dynamik braucht indessen Energie, wie sich etwa bei pathologischen Trauerreaktionen und Erschöpfungsdepressionen zuweilen sehr drastisch zeigt. Obwohl wie gesagt alle weiteren organisatorischen Operatorwirkungen der Affekte auf die kognitiven Funktionen irgendwie mit diesen aktivierenden oder auch hemmenden Effekten zusammenhängen, lassen sie sich doch keineswegs einfach darauf reduzieren. Vielmehr zeigen sich einer genaueren Betrachtung zumindest noch die folgenden zusätzlichen Aspekte: – Affekte bestimmen andauernd den Fokus der Aufmerksamkeit. Je nachdem, wie wir gerade gestimmt sind – ob traurig oder freudig, ängstlich oder wütend, aufgeregt oder entspannt –, richten sich Aufmerksamkeit und Wahrnehmung auf völlig unterschiedliche kogni-

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tive Inhalte. Laufend wählen wir aus dem Feld der möglichen Wahrnehmungen und Denkverbindungen vorwiegend diejenigen aus, die zu unserer Grundstimmung passen. Unsere Bewußtseinsinhalte sind deshalb stets affektiv mitbestimmt. Gleichzeitig »färben« wir unsere ganze Umgebung je nach momentaner emotionaler Stimmung in einer affektentsprechenden Weise ein. Sind wir zum Beispiel untergründig ärgerlich, so sehen wir ringsum nur Unschönes, Störendes, Widerliches. In einer gehobenen Stimmung dagegen bemerken wir in genau der gleichen Umwelt nun vorwiegend Schönes, Erfreuliches, Erhebendes. Irgendwelche störenden Gegenstände – etwa eine von einem Partner unordentlich hingeworfene Zeitung, die uns vorher ärgerte – perzipieren wir nun vielleicht als Zeichen freundlicher Aufmerksamkeit. Auch die Eigenheiten des Wetters, der ganzen Umgebung, von Land und Leuten, in deren Mitte wir leben, funktionieren viel eher als ein Projektionsschirm oder Spiegel für unsere eigenen affektiven Gestimmtheiten denn als neutrale Abbilder einer inexistenten »objektiven« Wirklichkeit. Sind wir aber »alltäglich« oder »durchschnittlich« gestimmt, das heißt weder sonderlich verärgert und verspannt noch besonders freudig oder fröhlich, so beachten wir vielleicht nichts von alledem, sondern bleiben absorbiert von unseren Berufs- oder sonstigen Alltagssorgen. Gleichzeitig steht uns, auslösbar von vielerlei Reizen, ein breiter Satz von kognitiven Inhalten und Denkverbindungen zur relativ freien Verfügung. Mobilität und potentielle Breite des Aufmerksamkeitsfokus sind in diesem Zustand von relativer Affektflachheit also besonders groß; während intensivere Affekte ihn sowohl verengen wie vertiefen. Die obigen Beispiele von selektiver Aufmerksamkeit in Abhängigkeit von Affekteinflüssen ließen sich beliebig vermehren und variieren. Sie gelten analog für ängstliche, traurige oder andersartige (Ver-)Stimmungen und sind für die momentane Aufmerksamkeitsfokusierung genauso wichtig wie, mutatis mutandis, für die langfristige. Auch in Gruppen und größeren Kollektivitäten sind, wie wir später noch genauer aufzeigen werden, ganz ähnliche Operatorwirkungen der Affekte auf die Aufmerksamkeit dauernd am Werk. Gut sichtbar wird gerade auch im kollektiven Denken ferner, wie eminent affektbedingt ebenfalls die ganze Art und Weise ist, wie sich unser Aufmerksamkeitsfokus von einem kognitiven Inhalt zum nächsten weiterbewegt: Die affektive Grundstimmung bestimmt nicht nur zu einem guten Teil, auf welche Wahrnehmungsobjekte unsere Aufmerksamkeit im Moment bevorzugt fällt, sondern auch, wie lange sie an einem bestimmten kognitiven Gegenstand haften-

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bleibt und zu welchem Inhalt sie anschließend weiterwandert. Aus der perlenschnurartigen Aneinanderreihung von affektselektionierten kognitiven Elementen aber ergibt sich folgerichtig eine ganz bestimmte, wiederum stark affektdeterminierte Wirklichkeitserfassung oder »Logik« genau im weiter oben definierten Sinn. Was nicht zur aktuellen Stimmung paßt, wird ausgespart. »Was ich nicht weiß, macht mir nicht heiß«, sagt das Sprichwort zu Recht: Insgesamt bestimmt der unbewußt affektgeleitete Aufmerksamkeitsfokus kurzwie langfristig die Selektion der für uns relevanten Information, und damit letztlich unser ganzes Weltbild. Ohne die Berücksichtigung dieses Mechanismus lassen sich deshalb weder unser momentanes Verhalten noch die zeitüberdauernden Weltbilder und Verhaltensweisen, die uns individuell wie kollektiv leiten und bestimmen, zureichend verstehen. – Affekte wirken wie Schleusen oder Pforten, die den Zugang zu unterschiedlichen Gedächtnisspeichern öffnen oder schließen. Ebenfalls im Alltaggeschehen bereits gut erkennbar ist die Tatsache, daß spezifische Affekte zur Speicherung von affektkonformen kognitiven Inhalten im Gedächtnis führen und ebenfalls bei deren Reaktivierung eine wichtige Rolle spielen. Auf der biologischen Ebene ist uns dieses Phänomen bereits als zustandsabhängiges Speichern und Erinnern begegnet. So werden etwa in der Wut bevorzugt lauter Erinnerungen aus dem Gedächtnis hervorgeholt, die die vorherrschenden aggressiven Gefühle bestätigen und verstärken, während gegenläufige Inhalte unterdrückt werden. Im Zustand der Liebe und Freude dagegen ist es gerade umgekehrt, in Angst und Trauer analog. Von besonderem Interesse ist auch hier wiederum die breite Palette von scheinbar recht affektneutralen, in Wirklichkeit aber nicht weniger affektselektionierten Gedanken und Wahrnehmungen, die wie selbstverständlich, aber in Wirklichkeit wiederum ausgesprochen persönlichkeits- und kulturspezifisch, mit einer durchschnittlichen Alltagsstimmung einhergehen. Affekte wirken somit in der Tat wie Pforten oder Schleusen, die je nach Stimmung und Kontext bestimmte Gedächtnisspeicher aufschließen und andere wegsperren. Durch eine gemeinsame Affektstimmung verbundene Kognitionen werden gemeinsam abgespeichert und bevorzugt gemeinsam remobilisiert. Auch durch diese schleusen- und pfortenartige Operatorwirkung der Affekte ist das Denken also andauernd emotional mitdeterminiert. Die sogenannte »Schaltkraft der Affekte«, deren zentrale Bedeutung in der Psychopathologie seinerzeit schon von Eugen Bleuler (1926) immer

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wieder betont wurde, beruht zu einem erheblichen Teil auf demselben Mechanismus. – Affekte schaffen Kontinuität; sie wirken auf kognitive Elemente wie ein »Leim« oder »Bindegewebe«. Die Welt der sensorischen Reize und kognitiven Inhalte, mit der wir andauernd konfrontiert sind, ist zunächst von einer chaotischen Vielfalt und Heterogenität. Erst ihre Filterung und Kanalisierung durch die beschriebenen schleusen- und pfortenartigen Operatorwirkungen der Affekte schafft darin kontextgerechte funktionelle Einheiten. Indem kognitive Elemente, die durch gleiche oder ähnliche Affekte charakterisiert sind, miteinander funktionell verbunden werden, entsteht ein Zusammenhang zwischen einer Auswahl von situativ belangvollen kognitiven Inhalten. Auch dies gilt gleichermaßen im zeitlichen Querschnitt wie im Längsschnitt. Die Affekte wirken somit wie ein »Leim« oder »Bindegewebe«, das eine kontextadäquate Kohärenz und Kontinuität in alles Denken und Verhalten hineinbringt. Auch experimentell ist nachgewiesen, daß Kognitionen, die an gleiche oder ähnliche Affekte gekoppelt sind, im Gedächtnis bevorzugt miteinander verbunden werden. So ließen sich über das ganze Leben verstreute Erinnerungen, die dem gleichen Gefühl – zum Beipiel Scham oder Angst, Wut, Trauer – zugehören, durch die (hypnotische, pharmakologische oder anderweitige) Induktion von entsprechenden Affektstimmungen experimentell »en bloc« remobilisieren. Stanislav Grof, der bei der Erforschung dieses Phänomens auch mit halluzinogenen Drogen wie LSD oder Psilocybin experimentierte, nannte solche affektdeterminierte Gedächtniskomplexe deshalb COEX-Erinnerungen (von »condensed experiences«; Grof 1975; vgl. ferner Bower 1981; Koukkou 1987). – Affekte bestimmen die Hierarchie unserer Denkinhalte. Die vorherrschende affektive Befindlichkeit bestimmt von Moment zu Moment die hierarchische Ordnung unserer Gedanken. Die kognitiven Hierarchien etwa, die im Zustand der Verliebtheit, der Wut oder Angst wirksam sind, sind in ein und derselben äußeren Situation – etwa in einer Versammlung, oder auf der Straße – völlig unterschiedlich. In jedem Fall wird eine Prioritätenordnung im Denken und Wahrnehmen hergestellt, die dem dominierenden Affekt und dem ganzen emotionalen Kontext entspricht. Auch an ein und demselben kognitiven Objekt, beispielsweise einer aufgrund unterschiedlicher Erlebnisse im Prinzip ambivalent konnotierten Person oder Sache, werden je nach Stimmung affektkonforme Qualitäten bevorzugt beachtet und allen anderen Aspekten aktionswirksam vorangestellt.

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Die hierarchiebegründenden Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken haben damit zugleich wichtige Beziehungen zum Phänomen des Wollens oder Willens, den wir (zusammen mit dem Wünschen, Sehnen, Verlangen und Begehren) ja mit Piaget als eine besondere Art von übergeordnetem Affekt aufgefaßt haben. Starke, an bestimmte Kognitionen geknüpfte Affekte – etwa ein heftiges Verlangen nach einer Person, aber auch nach einem Ort oder nach einem komplexen Ziel – dominieren oder verdrängen schwächere und gegenläufige; entsprechend hierarchisiert sich unser bewußtes Wollen und Verhalten. Einmal mehr erweist sich in diesem Zusammenhang übrigens, daß das übergeordnete Konzept der (angeborenen oder in der Aktion erworbenen) integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme, die hier jeweils aktionswirksam werden, sowohl triebhafte und instinktuelle wie auch sozial erworbene Verhaltensweisen abdeckt: In jedem Fall manifestieren sich die beschriebenen Operatorwirkungen von Affekten in grundsätzlich ganz gleichartiger Weise und setzten sich auch in ähnliche Willensimpulse um. – Affekte sind eminent wichtige Komplexitätsreduktoren. Praktisch alle obigen organisatorisch-integratorischen Operatorwirkungen der Affekte lassen sich unter dem Stichwort der Komplexitätsreduktion zusammenfassen. Nur dank den kontextangepaßt mobilisierenden, selektionierenden, hierarchisierenden, kohärenzund kontinuitätsschaffenden Filterwirkungen der Affekte auf die Kognition gelingt es uns, die ungeheure Fülle von Informationen, die unserem »Denkapparat« aus extern-sensorischen wie internen Quellen fortwährend zufließen, sinnvoll zu beschränken. Wo dagegen dieser affektive Filter zu breit oder zu eng wird, wie dies zum Beispiel in manischen, schizophrenen, depressiven oder auch obsessionell-zwangshaften Zuständen der Fall ist, stellen sich alsbald schwerste und unter Umständen lebensgefährdende Störungen des gesamten Denkens und Verhaltens ein. Bereits die allgemeinen Operatorwirkungen der Affekte auf die Kognition beschränken sich also keineswegs, wie Piaget noch annahm, auf bloß energetisch-mobilisatorische Effekte. Vielmehr erfüllen sie durch und neben ihrer Wirkung als Motoren und Motivatoren des Denkens gleichzeitig eine ganze Reihe von hochwichtigen organisatorisch-integratorischen Zusatzaufgaben. – Mindestens ebenso klar treten ihre überlebensrelevanten Funktionen zutage, wenn wir nun auch noch die je speziellen Operatorwirkungen der einzelnen (Grund-)Affekte untersuchen:

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Die Interesse- beziehungsweise Intentions- oder »Hungergefühle« dienen in erster Linie der allgemeinen psychophysischen Anregung und Erregung (arousel) und damit indirekt auch der Fokussierung der Aufmerksamkeit: Sie funktionieren als elementare Energieaktivatoren und schaffen so überhaupt erst die Voraussetzung dafür, daß etwas von der Umgebung wahrgenommen wird. Gleichzeitig stellen sie den ganzen Körper auf Aktivität ein. Sie haben also auch eine Beziehung zu der zentral wichtigen Aufmerksamkeits- oder Orientierungsreaktion, die sich bei jedem unerwarteten oder neuen Reiz einstellt. Über dieses Phänomen stehen sie außerdem, wie später noch genauer zu erörtern sein wird, mit dem nach wie vor rätselhaften Phänomen des Bewußtseins in Zusammenhang. In Wechselwirkung mit dem Angsteffekt, der wohl allem Neuen gegenüber untergründig mitschwingt und zur Vorsicht mahnt, ist dem Interesse überdies ein ambivalenter Bewegungsimpuls (eine »Motivation«) des »Hin-zu« eigen, der die Basis des lebenswichtigen Neugier- und Explorationsverhaltens bildet. Ohne den Affekt des Interesses wäre weder Mensch noch Tier in der Lage, seine Umwelt zu erforschen und damit seinen Lebensraum (auch in einem übertragenen und geistigen Sinn) zu differenzieren. – Angstgefühle ihrerseits sind in erster Linie lebenswichtige Warner vor Gefahr, also typische »Repulsoren« oder »Abschrecker« vor potentiell gefährlichen Umwelt- wie auch Denk- und Verhaltensbereichen. Sie sind mit einer grundlegenden Motivation des »Hinwegvon«, das heißt im Extremfall der Flucht verbunden und setzen so allem Verhalten (und damit bis zu einem gewissen Grad auch dem Wahrnehmen und Denken) ständig überlebenswichtige Grenzen. Wie sich schon bei jedem Überqueren einer Straße, bei jedem Spaziergang im Gebirge und noch viel mehr bei jeder Begegnung mit etwas oder jemand Unbekanntem zeigt, ist somit auch die Angst ein höchst sinnvoller Affekt – eine Banalität, die nur deshalb besonders hervorgehoben werden muß, weil heutzutage (zum Beispiel in der Psycho-, aber nicht selten auch in der Politszene) vielfach die Meinung vertreten wird, Angst sei an sich schlecht und müsse mit irgendwelchen Mitteln um jeden Preis aus der Welt geschafft werden. (Daß allerdings der Angst vor dem Unbekannten naturgemäß zugleich eine wahnhafte Komponente innewohnt, die unter Umständen dysfunktional überhandnehmen kann, ist damit in keiner Weise bestritten.) – Nicht viel anders ist es mit Wut und Aggressivität, von denen man spätestens seit Konrad Lorenz’ Buch über »Das sogenannte Böse« (1963) weiß, daß auch sie lebenswichtige Funktionen zu erfüllen

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haben. Beide steigen im gesamten Tierreich proportional zum Eindringen eines Rivalen ins eigene Revier und dienen, im Verein mit den entsprechenden Verhaltensmustern, phylogenetisch zunächst vor allem der Verteidigung des jedem Lebewesen nötigen Lebensraums. Desgleichen ist ein aggressives Verhalten, das seine natürliche Grenze bei der aggressiven Selbstbehauptung des Artgenossen findet, beim Kampf um Nahrung, sexuelle Partner und in anderen Konkurrenzsituationen sowohl selbst- wie arterhaltend. – Auf den Menschen übertragen geht es, abgesehen von denselben elementaren Grundfunktionen, individuell wie kollektiv zugleich um die Sicherung von psychologischen Grenzen, das heißt der (persönlichen oder kollektiven) Identität. Der aggressive Affekt kanalisiert auch hier sowohl das Wahrnehmen wie das Denken. Ob darüber hinaus der Mensch mit seinen vielen Freiheitsgraden auch in dieser Hinsicht ein Stück weit aus den natürlichen Gebundenheiten herausgetreten und vielleicht sogar, wie Erich Fromm seinerzeit (1977) behauptete und in der Tat manche Verhaltensweisen nahelegen, eine spezifisch menschliche Destruktivität entwickelt hat, ist eine vieldiskutierte und nach wie vor offene Frage. Zu einem Überborden der menschlichen Aggressivität trägt nach Lorenz unter anderem die Tatsache bei, daß natürliche Hemmechanismen, die im Tierreich das Töten des besiegten Artgenossen verhindern, beim Menschen wegfallen, sobald er – wie etwa im modernen Druckknopfkrieg – seinem Gegner nicht mehr physisch nahe ist. Eine andere mögliche Erklärung ist, daß der Homo sapiens sapiens eine besonders aggressive Mutante eines Hominiden darstellt, der sich gerade deswegen evolutionär radikal durchgesetzt hat und heute nun, nachdem er sämtliche friedlicheren Rivalen (und viele Tiere dazu) ausgerottet hat, sicher noch sehr viel Lehrgeld bezahlen muß, bis er es gelernt hat, diesen seinen hohen Aggressionspegel überhaupt adäquat zu begreifen, geschweige denn sinnvoll mit ihm umzugehen. Andererseits darf aber auch nicht übersehen werden, daß der Mensch die schon beim Tier angelegte Fähigkeit, aggressive Selbstbehauptungs- und Grenzsetzungsimpulse auch anders als mit grober Gewalt – so etwa mittels symbolischer Gesten und Drohgebärden – zu verwirklichen, unter anderem in Form der Möglichkeit zur verbalen Verhandlung in außerordentlichem Maß weiterentwickelt hat. – Wir werden uns mit den zentralen Problemen von Wut und Aggression noch vielfach zu beschäftigen haben. Vorderhand geht es nur um die Feststellung, daß der lebenswichtige Sinn von aggressiven Gefühlen und entsprechenden Funktionsweisen in erster Linie darin besteht, physische wie psychologische Grenzen zu setzen, zu bewahren und,

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wenn möglich, auch auszuweiten. Außerdem ist Aggressivität aufgrund dieser abgrenzenden Funktion auch ein häufig eingesetztes psychologisches »Lösemittel« zur Überwindung von dysfunktional gewordenen emotionalen Bindungen. – Das wichtigste solche »Lösemittel« ist indessen zweifellos die Trauer. Die gelungene sogenannte »Trauerarbeit« besteht bekanntlich darin, daß – wie Freud (1916) als erster erkannt und auch klar von der mißglückten Trauer, nämlich der Depression und Melancholie abgegrenzt hat – positive, das heißt verbindend-liebevolle Gefühle sozusagen Faden um Faden von einem geliebten, aber verlorenen Objekt abgelöst werden. Auch dieser schmerzhafte Prozeß ist, wie alle Psychotherapeuten wissen, zutiefst sinnvoll, denn er allein macht die unnütz gebundenen emotionalen Energien wieder frei für neue Objekte und Aufgaben. Dem Schmerz über einen erlittenen Verlust auszuweichen, sei es durch psychologische oder medikamentös vermittelte Verdrängung bringt dagegen – buchstäblich wie im übertragenen Sinn, und wiederum sowohl auf der individuellen wie kollektiven Ebene – keine Lösung. – Lustbetonte Gefühle wie Freude, Liebe, Vergnügen schließlich wirken im Gegenteil als übermächtige Attraktoren, die Bindungen schaffen und damit ebenfalls eine individuell wie sozial gleich lebenswichtige Funktion erfüllen. Die zentrale Bedeutung der Bindung bei allen höheren Tieren mit Einschluß des Menschen ist in der Ethologie namentlich von Konrad Lorenz und in der Psychologie (nach René Spitz) ganz übereinstimmend von John Bowlby, Margaret Mahler und der psychoanalytischen Objektbeziehungspsychologie erkannt worden (Mahler 1968; Bowlby 1969; Lorenz 1973). Solche Bindungen entwickeln sich aufgrund von Lusterlebnissen nicht nur mit Personen, sondern ebenfalls mit Tieren, mit Räumen, Häusern und Örtlichkeiten bis zu ganzen Städten oder Ländern, des weiteren mit unbelebten Objekten aller Art (Spielund Werkzeuge, Automobile, Schiffe …), ja sogar mit rein geistigen Gebilden wie Religionen, Ideologien und Theorien. Ganz generell verleihen positive Gefühle der psychischen Dynamik eine (»motivierende«) Richtung des »Hin-zu« und des »Miteinander«, das heißt des Suchens von größerer Nähe und Verbindung mit den »geliebten« kognitiven Gebilden. Dies gilt durchaus nicht nur für elementare Lustgefühle, sondern in subtilerer Form auch für sämtliche unter der entsprechenden Rubrik in unserem »Inventar der Gefühle« aufgelisteten Abwandlungen davon. Positive Gefühle sind also ein psychologisches Bindemittel par excellence, dem ebenfalls im Rahmen der weiter oben beschriebenen Wirkung der Affekte als »Leim« zwi-

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schen kognitiven Inhalten aller Art eine kaum zu überschätzende (und im nächsten Abschnitt noch weiter zu analysierende) strukturund kontinuitätsschaffende Bedeutung zukommt. Der weiteren Differenzierung und Nuancierung bedürften ebenfalls alle anderen beschriebenen Operatorwirkungen von Grundaffekten auf das Denken. Wir werden sie (im zweiten Teil dieses Buches) anhand von konkreten Beispielen noch genauer analysieren. In ihrer Gesamtheit bewirken und begründen die Affekte eine gesetzmäßig geregelte kognitive Dynamik, die einem mengenmathematischen Bewegungsspiel (Distanzierung oder Annäherung, Verknüpfung oder Trennung, Hierarchisierung, Überschneidung, Fokuserweiterung oder -verengung etc.) gleichkommt und sicher zu Recht als ein Aspekt einer immanenten »Logik der Affekte« betrachtet werden darf. Gleichzeitig ist damit auch eine spezifische »Affektivität der Logik« impliziert.

Affektspezifische Formen von Denken und Logik Im Verein mit der Tatsache, daß wir immer in irgendeiner Weise affektiv gestimmt sind, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von allgemeinen und speziellen Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken eine stete flexible Modulation unserer kognitiven Aktivitäten in Abhängigkeit von Kontext und Stimmung. Zwischen Emotion und Kognition laufen dabei unaufhörliche zirkuläre Wechselwirkungen: Bestimmte kognitive Reize induzieren oder verstärken bestimmte Affekte und Stimmungen, und diese wiederum kanalisieren und organisieren die Wahrnehmung und das Denken. Da anfänglich intensiv bewußte Affektkomponenten sich mit der Zeit zunehmend abflachen und automatisieren, ohne aber ihre organisatorisch-integratorischen Wirkungen zu verlieren, läuft der Großteil dieser Anpassungsleistungen ganz außerhalb von Aufmerksamkeit und Bewußtsein. Sie führen, im Verein mit den körperlich-vegetativen Wirkungen der an alle Kognitionen gekoppelten Affektkomponenten, in jedem Moment zu einer sinnvollen Einstimmung des Gesamtorganismus auf eine gegebene Situation. Dank der zustands- und kontextabhängigen Reaktivierung von erfahrungsgenerierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen fließt fortwährend auch die gesamte bisher gesammelte Erfahrung affektkonform in die aktuelle Informationsverarbeitung mit ein. Zugleich führt die selektive Fokussierung, Speicherung, Mobilisierung und Verknüpfung von kognitiven Elementen zur Ausbildung einer je affektspe-

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zifischen Logik genau im Sinn der im letzten Kapitel gegebenen Definition dieses Begriffs: Entsprechend der vorherrschenden Stimmung kommt es aufgrund der beschriebenen Operatorwirkungen der Affekte also zur Ausbildung einer spezifischen »Interessenlogik«, »Angstlogik«, »Wutlogik«, »Trauerlogik«, »Freudelogik« oder »Liebeslogik« etc., beziehungsweise einer ihrer unzähligen Abwandlungen und Mischformen. Von großer Wichtigkeit ist im Rahmen der affektlogischen Konzeptualisierung aber auch die sogenannte »Alltagslogik«, das heißt die Denkweise, die mit einer mittleren Stimmung der Entspanntheit mit relativ schwachen und mobilen Affekten einhergeht und ebenfalls mit charakteristischen kognitiven Inhalten verbunden ist. Ihr gehören alle »durchschnittlichen« und »selbstverständlichen«, das heißt weitgehend automatisierten kognitiven Operationen an, die unser Alltagsdenken ausmachen. Des Weiteren sind, wie wir weiter unten noch ausführlicher begründen werden, zu ihnen ebenfalls alle automatisierten formallogischen und mathematischen Operationen zu zählen. Auch letztere sind also aus dieser Sicht nicht etwa affektfrei, sondern vielmehr durch eine ausgesprochen spezifische, wenn auch weitgehend unbemerkte Gestimmtheit von mittlerer (»kühler«) emotionaler Entspannung gekennzeichnet. Der augenfälligste Unterschied zwischen den teilweise diametral gegensätzlichen globalen Weisen des Denkens, Fühlens und Verhaltens, der sich in solchen unterschiedlichen Typen von »Logik« manifestiert, ist zunächst inhaltlicher Art: In jeder spezifischen affektiven Befindlichkeit werden ganz andere kognitive Inhalte bevorzugt aus Umwelt und Gedächtnisspeichern selektioniert und zu umfassenden Sichtweisen oder »Wahrheitssystemen« verbunden. Was nicht dazu paßt, wird entweder ausgeblendet oder affektkonform eingefärbt. Ein und dieselbe Landschaft, Stadt oder auch Gesellschaft kann deshalb je nach Stimmung in höchst unterschiedlicher Weise wahrgenommen oder vielmehr »konstruiert« werden. Wir treffen somit hier auf einen hoch bedeutsamen, aber in den gängigen konstruktivistischen Theorien, wie früher schon erwähnt, praktisch unberücksichtigt gebliebenen Aspekt der Wirklichkeitskonstruktion. Außerordentlich variabel ist dabei aber die Dauer von solchen affektbestimmten Auffassungsweisen der Welt: Im Jähzorn und ebenso in der jähen Angst oder Freude zum Beispiel währen sie nur einen kurzen Moment, in pathologischen Angst-, Euphorie- oder Depressionszuständen dagegen können einseitig affektverzerrte Formen des Wahrnehmens und Denkens manchmal wochen- oder gar monatelang anhalten. Noch viel stabiler sind die weitgehend unbewußt gewordenen, und doch das ganze Fühlen, Denken und Verhalten ständig tiefgehend beeinflussenden Affekt-Kognitionsbindungen, die die

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durchschnittliche Alltagslogik charakterisieren und – etwa in Form von »selbstverständlichen« Vorannahmen, Wertvorstellungen, zeitübergreifenden Motivationen und »Mentalitäten« bzw. »Vorurteilen« – jahrzehntelang unser tägliches Leben determinieren können. Auch in bezug auf formale Merkmale unterscheiden sich die verschiedenen Typen von Affektlogik zum Teil erheblich voneinander. So steigen zum Beispiel in euphorischen Zuständen Beweglichkeit und Tempo von kognitiven Prozessen stark an; das Denken wird schließlich sprunghaft, ausufernd, ideenflüchtig. Recht ähnliche formale Eigenschaften finden wir – bei indessen ganz anderen Inhalten – meist auch in der akuten Angst oder Wut; zuweilen aber beobachten wir, wie schon erwähnt, gerade hier im Gegenteil eine (wohl als momentaner Schutzmechanismus zu interpretierende) Hemmung. In traurig-depressiven Zuständen dagegen engt sich das Denken durchgehend auf wenige rigid immer wieder um die gleichen Themen kreisende Inhalte ein. Es wird stereotyp und zähflüssig, langsam, ja »steht sogar still«, während in einer mittelgradig entspannten und relativ affektflachen Alltagsstimmung auch Beweglichkeit, Kohärenz und Tempo von kognitiven Operationen flexibel um ein (breit variierendes) Mittelmaß fluktuieren. Manches spricht im übrigen dafür, daß gerade das unterschiedliche Zeiterleben oder psychische Tempo, das die verschiedenen Affektzustände charakterisiert, ein besonders »tiefes« formales Merkmal darstellt, das möglicherweise Inhalt und Art des Denkens kausal determiniert. Jedenfalls gehen affektive Veränderungen praktisch immer auch mit Änderungen des Zeiterlebens einher, und umgekehrt (vgl. Binswanger 1960; Ciompi 1961, 1988c). Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist im Rahmen unseres ganzen Konzepts bei all dem die Tatsache, daß formallogisch die einzelnen Verbindungen und Schlüsse innerhalb einer jeden affektspezifischen Variante von Affektlogik durchaus korrekt sein mögen, obwohl daraus schließlich global ganz unterschiedliche Denkweisen resultieren. Dies wird speziell dann sehr deutlich, wenn intensive Emotionen wie Haß, Neid oder auch Sympathie und Liebe bloß unterschwellig am Werk sind, während an der Oberfläche eisige Ruhe bewahrt wird. Mit anderen Worten, mit ein und derselben formalen Logik kann man aufgrund einer affektbedingt andersartigen Selektion, Verknüpfung und Gewichtung von kognitiven Inhalten innerhalb ein und derselben Situation zu völlig andersartigen globalen Ergebnissen gelangen. Beispiele hierfür sind etwa die sehr gegensätzlichen Schlußfolgerungen, die politische Gegner, Kontrahenten in einem Ehestreit oder Gerichtshändel und überhaupt Vertreter unterschiedlicher Ideologien über formallogisch korrekte Argumentionsketten von gleichen »objektiven Fak-

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ten« her abzuleiten vermögen. Die Abgründe, die schließlich die so entstandenen Denkgebäude voneinander trennen, liegen kaum je an den formallogischen Fehlern der einen oder anderen Seite, sondern an den beidseits wirksamen affektbedingten Selektions-, Bindungs- und Gewichtungseffekten, die sämtliche intellektuellen Operationen fortwährend begleiten und beeinflussen. Namentlich in religiösen oder politischen Randgruppen können sich über derartige Argumentationsketten, wie wir im zweiten Teil des Buches auch anhand von konkreten Beispielen noch belegen werden, individuell wie kollektiv höchst eigenartige »affektiv-kognitive Eigenwelten« (oder »Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen«) ausbilden. Wie schon erwähnt, zielen alle affektspezifischen Veränderungen, die den Denkvorgängen von affektiven Operatoren auferlegt werden, auf eine massive und, von den Eigeninteressen des Individuums oder Kollektivs aus gesehen, im Prinzip durchaus adäquate Informationsund damit zugleich Komplexitätsreduktion ab. Eine solche affektgesteuerte Komplexitätsreduktion ist zweifellos auch evolutionär zutiefst sinnvoll. In der akuten Angst, beispielsweise bei einem Feuerausbruch, verschwinden sämtliche kognitiven Inhalte außer denjenigen, die unmittelbar lebensgefährdend oder -rettend sind, blitzschnell aus dem Wahrnehmungs- und Bewußtseinsfeld. Simultan beschleunigen sich alle zielgerichteten Denkvorgänge, stellt sich der ganze Körper auf Aktivität um und engt sich das Verhalten situationsentsprechend ein. Von so drastisch angstdominierten bis zu nur noch unterschwellig ängstlichen Funktionsweisen mit prinzipiell gleichartiger, aber quantitativ weit geringerer Komplexitätsreduktion gibt es alle nur möglichen Schattierungen. Analoge fließende Übergänge existieren vom Jähzorn zur unbewußten Gereiztheit, von der akuten Trauerreaktion zur leisen ständigen Traurigkeit, vom lärmenden Triumph zur stillen Freude oder kaum noch bemerkbaren Gehobenheit. Mit jeder feinsten Gefühlsvariante gehen ebenso feine Varianten von Form und Inhalt des Denkens einher. Am unspektakulären Ende dieser Ergänzungsreihen finden wir die oben genannte Alltagslogik mit ihren zahllosen halb- oder ganzautomatisierten und längst zur unreflektierten Selbstverständlichkeit gewordenen Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern. Keine dieser wenig aufwendigen Fühl-, Denk- und Verhaltensgewohnheiten versteht sich indes in Wirklichkeit von selbst; vielmehr mußte jede von ihnen mit erheblichem und erst mit der Zeit abflauendem Aufwand von emotionaler Energie zunächst einmal neu erworben und konstruiert werden. Indes bleiben, obwohl je länger desto weniger bewußt, die seinerzeit in die entsprechenden »Programme« eingebauten Affektoperatoren darin

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dynamisch weiterhin wirksam. Zur Alltagslogik gehören neben unreflektierten Wertsystemen, Überzeugungen und sozialen Vorurteilen aller Art auch alle automatisierten Normvorstellungen, die das Verhalten beispielsweise in der Famile, auf der Straße oder in einer Kirche regulieren, ferner »Selbstverständlichkeiten« jeder Art in bezug auf Sprechweise, Kleidung, Wert- und Schönheitsbegriffe sowie auch alle eingeschliffenen kognitiven Fähigkeiten wie Reden, Lesen, Schreiben und Rechnen, Verkehrsmittel benutzen, mit Automaten umgehen, Straßensignale kennen und so weiter. Viele solche »Denk- und Verhaltensmoden« sind somit stark zeit- und kulturabhängig. Selbst scheinbar tiefverwurzelte Fühl- und Denkverbindungen wie etwa diejenigen, die die religiösen Wertvorstellungen oder das Verhältnis zwischen den Geschlechtern regulieren, können sich – wie gerade heute in allen westlichen Gesellschaften spektakulär zu beobachten – unter veränderten sozialen Bedingungen in kurzer Zeit erheblich wandeln. Wie wenig affektneutral die Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster des Alltags in Wirklichkeit sind, zeigt sich frappant nicht nur an den heftigen Emotionen, die anfänglich regelmäßig ihre Infragestellung zu begleiten pflegen, sondern auch an den schweren Ängsten und Verhaltensstörungen, die etwa mit dem »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« (Blankenburg 1971) in schizophren-psychotischen Zuständen einhergehen.

Stimmige Denkwege sind lustvoll Wie schon mehrfach angedeutet, stellt aus der Sicht der Affektlogik selbst die wissenschaftliche und formale Logik, so überraschend sich dies zunächst auch anhören mag, nichts als eine spezielle Form des affektgeleiteten Denkens dar. Auch sie ist nämlich (zunächst) an eine besondere psycho-physische Befindlichkeit gebunden, die vielleicht am besten als schöpferische Entspannung bezeichnet werden könnte. Tatsächlich stellen sich, wenn wir den Berichten kreativer Forscher glauben dürfen, neue wissenschaftliche Ideen, und ebenfalls bedeutsame Entdeckungen und Erfindungen, kaum je im Zustand der angespanntesten Arbeit ein, viel eher wie unbeabsichtigt nach langer vergeblicher Bemühung plötzlich zum Beispiel bei einem Spaziergang, beim nächtlichen Wachliegen oder Dösen vor dem Aufstehen, sogar im Traum. Aber auch das damit nahe verwandte »rationale« (oder eigentlich besser: »rationelle«, ökonomische) Denken und formallogische Schließen entsteht und funktioniert, so behaupte ich, zunächst bevor-

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zugt in ganz ähnlichen Befindlichkeiten. Beide entsprechen ursprünglich einer lustvollen Spannungslösung nach unlustvollen Spannungen. Die dabei als Operator wirksame (Denk-)Lust verbindet sich nicht nur alsbald mit stimmigen kognitiven Lösungen, sondern sie öffnet und bahnt durch ihre attraktiven Wirkungen auch schon im voraus den Weg zu ihnen. Zweifellos steht sie im Zusammenhang mit der besonderen Art von ökonomischer Stimmigkeit und energiesparender Leichtigkeit des Denkens (und Handelns), die allen rationalen mentalen Operationen innewohnt. Auch sie bleibt – so ist meine These – selbst dann noch als Operator wirksam, wenn mit fortschreitender Automatisierung die ursprünglich durchaus manifesten Lustgefühle, die mit solchen Lösungen verbunden waren, zunehmend abblassen – mit anderen Worten: wenn die anfänglich sehr wohl bewußte »Lustlogik« zur viel affektschwächeren und -neutraleren Alltagslogik wird. Die spezifische Denklust, die alle neuentdeckten rationalen Lösungen leitet und begleitet, steht damit der schließlich nur noch unterschwellig bewußten, aber bei einem Patzer über ihr Gegenteil, die Unlust, sofort wieder bewußtseinsnahen Funktionslust nahe, welche sich beispielsweise auch beim Spitzensportler oder Klaviervirtuosen einstellt, wenn ihm eine mühsam eingeübte schwierige Bewegungsfolge endlich mit perfekter Ökonomie und sozusagen schwereloser Eleganz gelingt. Greifen wir, um die auch dem rationalen Denken zugrundeliegenden Affektmechanismen noch besser zu veranschaulichen, nochmals auf den Vergleich eines eingeschliffenen Denksystems mit einem in der Aktion angelegten Weg- und Verhaltenssystem zurück: Wenn ich in eine fremde Stadt komme, von der ich zunächst fast nichts kenne als vielleicht zwei, drei große Straßen oder Plätze, so werde ich alsbald gewisse Bereiche der Stadt zu Fuß oder mit Verkehrsmitteln genauer erkunden. Bald einmal werde ich mich in einem bestimmten »Revier«, in welchem ich mich anfänglich noch häufig verirrt hatte, recht gut auskennen. Aufgrund angenehmer oder unangenehmer Erlebnisse werde ich dabei einzelne Straßen, Plätze oder Lokale, die ich deshalb künftig bevorzuge, mit positiven Gefühlen belegen, während andere, die ich nach Möglichkeit vermeide, eine unangenehme und antipathische Affektkonnotation erhalten. Mit Vergnügen entdecke ich zudem plötzlich da und dort praktische Abkürzungen und Durchgänge, die ich in der Folge immer wieder benutze. Andere Bezirke der Stadt dagegen bleiben mir nach wie vor fremd und – etwa aufgrund eines einzelnen unangenehmen Erlebnisses oder einer entsprechenden Information – vielleicht auch recht unsympathisch oder unheimlich. So lege ich mir im handelnden Erleben mit der Zeit ein zunehmend differenziertes Gefüge von Vorstellungen an, in welchem sich jeweils spezifisch kognitive Elemente (die Lage und Konfiguration der Straßen und Plätze, das System der Verkehrsmittel, die Lokalisation und Charakteristik von bestimmten Läden, Lokalen, Institutionen usw.) mit affektiven Komponenten (angenehme, praktische und attraktive versus unangenehme, unpraktische und abstoßende Gefühle) zu einem komplexen Ganzen verbinden. Aus der Aktion entstanden, bleiben diese Vor-Stel-

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lungen im buchstäblichen Sinn weiterhin als integrierte Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme aktionswirksam. Je besser ich die Stadt kennenlerne, um so automatischer bewege ich mich in ihr. Dabei flachen die intensiven Affektkomponenten, die anfänglich mit diesen »Programmen« verbunden waren, mehr und mehr ab und transformieren sich zu einer Welt von mit der Zeit ganz selbstverständlich gewordenen Regeln oder »Vorurteilen«. Auch eine übergeordnete affektive Konnotation dieser Stadt im Vergleich zu anderen Städten wird sich als positives oder negatives »Vorurteil« herausbilden und mein diesbezügliches Wahrnehmen und Denken künftig ständig unbewußt beeinflussen.

Nicht anders als wie beim schrittweisen Kennenlernen einer fremden Stadt, auch eines ganzen Landes oder Kontinents, verfahren wir bei der Exploration eines neuen Gebiets im übertragenen Sinn, das heißt eines Sach- und Wissensgebiets, einer Theorie oder einer ganzen Wissenschaft. Immer wieder werden wir uns darin mit der Zeit eine differenzierte »innere Landschaft« mit angenehmen und unangenehmen Zonen, gängigen Hauptstraßen und Nebenwegen, praktischen Abkürzungen und Tricks, aber auch mit »weißen Flecken« und unlustkodierten »Problembereichen« richtiggehend konstruieren. Alle einmal lustvoll gefundenen Problem- beziehungsweise Spannungslösungen werden mit früher schon lustvoll gefundenen »Durchgängen« zu zunehmend ökonomischen »Lustwegen« verbunden. Ursprünglich intensive positive und negative Affekte, die mit fortschreitender Automatisierung weitgehend in den Hintergrund treten, dienen dabei sowohl als »Wegweiser«, das heißt (wie später genauer zu erklären) als Attraktoren und Repulsoren, wie auch als sinnvoll kohärenz- und strukturschaffende Organisatoren in einem immer differenzierter ausgebauten Gefüge von gängigen Lösungwegen. Die Affektlogik geht nun davon aus, daß genau dieselben Mechanismen zur Ausbildung der formalen Logik, und des rationalen Denkens überhaupt, geführt haben. Auch in ihnen bleiben, so behaupte ich, die ursprünglich beteiligten Affektoperatoren in den angelegten Denkwegen unterschwellig weiterhin wirksam. Sie treten unter anderem in den wütenden Stürmen der Entrüstung wieder zutage, die sich alsbald erheben, sobald jemand ernsthaft an den einmal eingeschliffenen Denkgewohnheiten rüttelt. Nicht von ungefähr hat die katholische Kirche Galileo Galileis Lehren zur Konfiguration des Sonnensystems, für die er 1616 von der Inquisition verurteilt wurde, erst vor wenigen Jahren, nämlich 1992, endlich offiziell anerkannt. Entgegen gängigen Meinungen sind aber auch in der Wissenschaft grundlegende Paradigmenwechsel, wie namentlich Thomas Kuhn eindrücklich gezeigt hat (1962), keineswegs einfach willkommen. Denn alle revolutionären Entdeckungen – von Kepler und Galilei über Darwin bis zu Freud und Einstein – zwingen auch emotional zu tiefgehenden Umstellun-

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gen. Neben der Destabilisierung rein geistiger Begriffsgebäude sind sie oft auch mit schweren persönlichen Identitätskrisen sowie Macht- und Prestigeverlust verbunden. In jedem Fall bedeuten sie, wie schon früher einmal betont, Unruhe und enormen Energieaufwand. Schon aus Gründen eines (an anderer Stelle ausführlich beschriebenen) »psychosozialen Trägheitsprinzips« (Ciompi 1980a, 1988c, S. 312) stehen mächtige emotionale Kräfte jeder tieferen Veränderung eingeschliffener Fühl-, Denk- und Verhaltenssysteme entgegen. Zu einem allgemeinen Paradigmawechsel im Sinn von Kuhn kann es deshalb nur unter ganz bestimmten affektenergetischen Voraussetzungen kommen, die im übernächsten Kapitel aus chaostheoretischer Perpektive genauer untersucht werden sollen. Machen wir uns vorderhand nur klar, daß jede Lösung einer konflikthaften Spannung, wie sie sich bei wachsenden Widersprüchen in einem übergeordneten Fühl- und Denksystem aufbaut, gleichbedeutend ist mit einem Lusterlebnis. Alle listigen wissenschaftlichen Problemlösungen stellen deshalb nach ihrer Genese und Funktion genauso typische »Lustwege« beziehungsweise »Unlustvermeidungstrajektorien« dar, wie das plötzliche Finden eines neuen praktischen Durchgangs in einem verwirrlichen Wegsystem. Jedes Denken kommt ursprünglich aus dem Handeln, ist eigentlich Probehandeln, wie Piaget und Freud übereinstimmtend erkannt haben. Umgekehrt könnte das Handeln aber mit Fug und Recht auch als ein »Probedenken« aufgefaßt werden. Piaget hat überzeugend aufgezeigt, daß und wie ebenfalls abstrakt logische und mathematische Operationen aus einer konkreten »Logik des Tuns« (beispielsweise aus dem Klassieren, Einreihen, Ein- und Ausschließen, Wegnehmen, Wiederholen, Aufteilen etc. von Gegenständen) hervorgehen (Piaget et al. 1972); ein frappierendes altes Beispiel für die Genese eines komplexen abstrakten Begriffsgebäudes aus der Aktion ist ebenfalls die bekanntlich aus der Landvermessung entstandene Geometrie. Wo aber Aktion ist, da ist notwendigerweise zugleich Emotion. Selbst die maximal ökonomische formale Logik und Mathematik, die spannungserzeugende Unstimmigkeiten aus dem Denken optimal zu eliminieren trachtet, läuft ursprünglich typischen »Lustgewinn-« beziehungsweise »Unlustvermeidungstrajektorien« entlang. Mit der Zeit werden aber auch hier die einmal lustvoll erschlossenen Fühl-, Denk- und Verhaltenswege derart perfekt automatisiert und mit allen mitbetroffenen affektiv-kognitiven Programmen so reibungsfrei koordiniert, daß ihre unterschwelligen affektiven Komponenten höchstens noch über Umwege erschließbar werden. Ein Abglanz des anfänglichen Hochgefühls der Entdecker über die endlich gefundene (Er-)Lösung von der vorherigen Unlustspannung

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manifestiert sich indes etwa noch in der Bewunderung des Mathematikers für eine besonders »elegante« oder »schöne« Problemlösung, oder in der schon erwähnten sogenannten »Denklust«, oder »Funktionslust«, die jedes scharfe logische Denken und Schließen mehr oder weniger unbewußt begleitet. Auch Logik und Wissenschaft, ökonomisch rationales Denken überhaupt, sind, so dürfen wir zusammenfassend schließen, ursprünglich durch affektive Operatoren generiert und organisiert. »Stimmige Denkwege sind lustvoll«, so ist der vorliegende Abschnitt überschrieben, und genau dies ist denn auch das Fazit aus allen obigen Überlegungen. Wenn Spannungslösung innerhalb eines gegebenen Spannungspotentials gleichbedeutend mit Lust ist, so erscheint ein generelles Streben nach Lustgewinn beziehungsweise Unlustvermeidung, und sei es über komplizierte Umwege, als Motor und Organisator aller geistigen Entwicklung schlechthin. »Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe Ewigkeit«, so sagte schon Nietzsche, und Freud postulierte im gleichen Sinn, daß jede einmal erfahrene Lust nach Wiederholung dränge. Etwas von der ursprünglich bewußten Lust an der »rationalen Lösung« wird bei jeder verborgen lustvollen Denkoperation wiederholt, das heißt unbewußt buchstäblich »wieder hervorgeholt«. Sobald aber ein solcher »Lustweg« einmal gebahnt und durch vielfältige Wiederholung breit ausgewalzt ist, so gehen die ursprünglich am rationalen Denken mitbeteiligten affektiven Komponenten – die »affektiven Komponenten der Logik« also – immer nahtloser in jenen riesigen Pool von scheinbar affektneutralen »Selbstverständlichkeiten« ein, ohne die schon aus energieökonomischen Gründen weder die unreflektierte Alltagslogik noch das wissenschaftliche Alltagsdenken auskommt. Drei auf den ersten Blick gewichtige Einwände bedürfen allerdings der weiteren Überlegung: Erstens kann man bestreiten, daß Lust einfach mit Spannungslösung identisch ist, zweitens mag eine totale Entspannung – etwa in der physischen oder psychischen Erschöpfung – unter Umständen auch unlustvoll sein, und drittens liegt die Frage nahe, wo denn die behaupteten Lustaffekte etwa in computerisierten logischen Abläufen zu finden wären. In der Tat scheint, wie im gleichen Zusammenhang seinerzeit schon von Freud diskutiert, insbesondere die sexuelle Lust – eine Art von Prototyp aller Lust – durchaus auch mit dem Aufbau von Spannung, und nicht bloß mit deren orgastischer Auflösung verbunden zu sein. Indessen geht es hier um den Aufbau einer, wie Freud sagte, »Vorlust« im Hinblick auf den maximal lustvoll entspannenden Orgasmus, das heißt um eine raffinierte Zusatzstrategie zur Erhöhung des Lustgewinns. Prinzipiell Ähnliches ist in zahlreichen anderen menschlichen

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Verhaltensweisen zu beobachten, von der Provokation von prickelnder Angst und Spannung im Abenteuer bis zur spezifisch menschlichen Fähigkeit des – oft mit viel Mühsal verbundenen – vorläufigen Triebaufschubs zugunsten eines späteren um so höheren Lustgewinns. Auch praktisch die gesamte Vergnügungsindustrie, von der angsteinflößenden Achterbahn im Lunapark bis zum Kriminalroman und Horrorfilm, beruht auf demselben Mechanismus. Wenn das Abenteuer schiefgeht oder der Triebaufschub zu keinem positiven Ergebnis führt, so ist nicht Lust, sondern intensive Unlust die Folge. Selbst wenn ein Lustgewinn erst über komplexe Umwege erreicht wird, so besteht bei genauer Betrachtung die eigentliche Lust, so dürfen wir verallgemeinern, letztlich doch immer wieder in der abrupten Lösung einer emotionalen Spannung. Diese lustvolle Spannungslösung darf indessen, wie zum zweiten Einwand zu bemerken ist, nicht bis zu einem absoluten Nullpunkt (zum Nirwana, wie Freud sagte, oder in kybernetischer Sprache: bis zur maximalen Entropie, die mit dem Tod identisch wäre) gehen, sondern bloß bis auf ein gewisses homöostatisches Mittelmaß und Gleichgewicht. Was darunter liegt, wird in der Regel als unangenehm empfunden. Dies dürfte unter anderem mit der bedeutsamen Tatsache zusammenhängen, daß alle lebenden Systeme andauernd eine gewisse Eigenaktivität benötigen, um ihre Struktur aufrechtzuerhalten: Sie sind dynamische sogenannte Fließgleichgewichte unter der Herrschaft der Autopoiese, vergleichbar etwa einem nur rennend im Gleichgewicht bleibenden Läufer. Das dynamische Äquilibrium der psychischen Homöostase stellt also eine ökonomische Spannungslösung bis auf ein funktionsgünstigstes Durchschnittsniveau dar, das enge Beziehungen zur beschriebenen Alltagslogik hat und mit einem minimalen (beziehungsweise optimalen) Energieaufwand zur Aufrechterhaltung der eigenen Struktur identisch sein dürfte. Lust bereitet jeweils die Rückkehr zu dieser Basis, während ein Abfall darunter, dem Straucheln und Fallen des oben erwähnten Läufers vergleichbar, ebenfalls einer unlustund spannungserzeugenden Abweichung von der Homöostase gleichkommt. Selbst eine Wiederherstellung des optimalen Gleichgewichts von einem unteren Niveau her, wie sie etwa bei der Erholung von einer momentanen Erschöpfung oder auch bei der Genesung von einer schweren Krankheit zu beobachten ist, kann deshalb – wenn auch über Umwege – noch in die vorgeschlagene verallgemeinernde Auffassung von Lust als Spannungslösung eingeordnet werden. Was schließlich den Einwand anbetrifft, daß natürlich irgendwelche Computer, die logische Operationen ausführen, dabei keinerlei Lust verspüren, so läßt auch er sich ohne Schwierigkeiten entkräften. Denn

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es sind ja immer nur Menschen mit ihren Affekten, die diese Rechenmaschinen zwecks Lustgewinn erfunden und programmiert haben. Die affektgeleitete menschliche Logik ist somit im vorhinein in die Computer eingebaut. Auch ist deren ganze Funktionsweise – so etwa ihre praktische Ökonomie, ihre Schnelligkeit und (relative) Sicherheit – völlig auf die affektiv-kognitiven Bedürfnisse des Menschen abgestimmt. Auch alle Verbesserungen und Erweiterungen der Computertechnik dienen im weiteren Sinn immer nur dem Lustgewinn und sind zugleich – genau wie ein zunächst noch sehr funktionelles, im zunehmend intensiven Gebrauch dann aber zunehmend überlastetes Wegund Straßensystem – durch neu auftretende Unlustkomponenten konditioniert. Computer sind also – wenn alles gutgeht! – nichts anderes als mechanisierte Lusterzeuger beziehungsweise Unlustverminderer. Auch sie widersprechen damit den hier postulierten allgemeinen Gesetzmäßigkeiten in keiner Weise.

Erkenntnis kommt von Leiden, Leid Obwohl im Vorangegangenen schon auf Schritt und Tritt offenbar, mag es doch nicht überflüssig sein, in einem eigenen kleinen Abschnitt ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß Erkenntnis – oder lustvolle affektivkognitive Spannungslösung nach unserem Verständnis – immer eine vorauslaufende und als solche auch bewußt empfundene Unlustspannung voraussetzt, also letztlich aus irgendeiner Art von Leiden, oder allgemeiner gesagt: »aus dem Leid« hervorgeht. »Was Geist ist, erfaßt nur der Bedrängte«, sagte seinerzeit schon Hugo von Hofmannsthal (nach Binswanger 1955, S. 242). Dieser typisch »affektlogische« Sachverhalt mag, richtig bedacht, bis in alle Tiefen des Menschseins hinabführen. Er bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß der Motor oder Stachel allen geistigen Fortschritts immer wieder ein spannungserzeugender Konflikt, eine unangenehme Widersprüchlichkeit und Unstimmigkeit ist. Solange alles in bester – das heißt spannungsarmer – Ordnung ist, besteht keinerlei Grund, irgend etwas zu verändern. Erst die Störung der Harmonie (der »Symmetriebruch«, wie dies in der Theorie der Dynamik komplexer Systeme heißt) zwingt »das System« in neue Funktionsweisen hinein. Solche Störungen liegen, wie Piaget (allerdings ohne die Gefühlskomponente zu berücksichtigen) nachwies, auch jedem neuen Erkenntnisschritt in der geistigen Entwicklung des Kindes zugrunde. Die Entwicklung des Menschen im Großen verläuft nicht anders. Ebenso hängt

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jeder technische oder wissenschaftliche Fortschritt – sofern wir diesen problematisch gewordenen Begriff überhaupt noch zu benutzen wagen – mit einer Unlustspannung beziehungsweise dem Streben nach der Behebung einer solchen zusammen. Versuch und Irrtum, neuer Versuch und neuer Irrtum – dies ist, so etwa nach Popper, der fundamentale Mechanismus, über welchen sowohl die biologische und geistige wie jedenfalls auch die soziale Entwicklung in scheinbar wirren Rösselsprüngen voranschreitet. Jedes Erkennen eines Irrtums aber ist schmerzhaft und wird gerade deshalb zunächst einmal so lange wie irgend möglich verleugnet und verdrängt. Zum »Leid, das vorwärtsbringt«, gehört deshalb ebenfalls, und sogar ganz wesentlich, die Kritik. Auch Kritik schafft Spannung, schafft Unlust, denn zutiefst liebt es niemand, kritisiert zu werden, selbst wenn er vordergründig das genaue Gegenteil beteuert. Wo keinerlei Kritik mehr, sondern bloß noch Lob oder gar Schmeichelei möglich sind, kommt es unweigerlich zur Stagnation und Erstarrung. Veränderung bedarf, auf welcher Ebene auch immer, der affektiven (Unlust-)Spannung, und hinter diesem einfachen Sachverhalt verbergen sich weitere bedeutsame Zusammenhänge affektenergetischer Art, die, wie wir noch genauer analysieren werden, unter anderem bei aller Kreativität und Emergenz von Neuem eine zentrale Rolle spielen. Von Interesse ist im gleichen Kontext ferner, daß sich der Mensch nicht selten neue Spannungen und Konflikte geradezu vorsätzlich, sozusagen aus lauter Langeweile selbst zu schaffen scheint, wenn eine Situation der problemlosen Harmonie über allzulange Zeit hin andauert. Dies mag mit dem weiter oben beschriebenen Zwang zu einer gewissen Eigenaktivität beziehungsweise der Möglichkeit des Lustgewinns durch vorbereitende Spannungserhöhung zu tun haben. Auch die schon von Goethes Faust beklagte Unfähigkeit, je definitiv im »schönen Augenblick« zu verweilen, dürfte hier eine ihrer Wurzeln haben. »Durch Schaden wird man klug«, weiß im übrigen auch schon der Volksmund; auf einer weniger trivialen Ebene wird, wie unzählige künstlerische und philosophische Werke bezeugen, mit Leid und Schmerz seit jeher die Möglichkeit von Läuterung und geistigem Wachstum verbunden. Selbst im kollektiven Makrobereich sehen wir, ungeachtet der allzu pauschalen Behauptung, der Mensch vermöge aus seiner Geschichte nichts zu lernen, einen verwandten Mechanismus in den nach geschichtlichen und sozialen Katastrophen folgenden Versuchen, gleiches Unglück beispielsweise durch neue politische oder wirtschaftliche Organisationsformen (der Völkerbund, die Vereinten Nationen, die Einigung Europas …) zu vermeiden. Der Krieg sei »der Vater aller Dinge«, heißt es in diesem Sinn nicht zu Unrecht. Erst der Krieg

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– und gewiß ebenso der »Krieg« im Kleinen, der Krieg im übertragenen Sinn – macht ja die lustvolle Spannungslösung zum Frieden hin so richtig spür- und erlebbar. Ein weiteres Bild, das sich in den selben Zusammenhängen aufdrängen könnte, wäre etwa der Schmerz der kreißenden Frau unter der Geburt als Symbol allen Schmerzes überhaupt, der mit dem Hervorbringen von Neuem, auch von neuer Erkenntnis, verbunden ist. Und weiter noch mögen wir letztlich an jenes größte Leid denken, mit dem der Mensch als einziges Wesen bewußt konfrontiert ist: nämlich mit dem Tod – dem eigenen Tod oder auch dem Tod eines geliebten Menschen, die beide erst Weg und Perspektive zur tieferen Erkenntnis eröffnen, was das Leben, wer der andere, und wohl auch, wer man selbst »eigentlich« war oder ist. Im geistigen Gewinn, der auf vielen Ebenen gleichermaßen aus der Dialektik zwischen dem schmerzhaften Anwachsen einer Spannung und ihrer Lösung zu ziehen ist, mag man deshalb einen tiefsten Sinn von Unglück und Leid überhaupt erblicken.

Auch Abstraktion ist lustvoll In analoger Weise läßt sich ebenfalls der Sprung auf eine höhere Ebene des Verstehens, den wir als Abstraktion bezeichnen, als lustvolle Entspannung einer bestimmten Art von konflikthafter Unlustspannung – das heißt als ein »Lustweg« besonderer Art – verstehen. Piaget – immer wieder er! – hat sich auch mit diesem Vorgang, der naturgemäß in der kognitiven Entwicklung des Kindes (und des Menschen überhaupt) eine entscheidende Rolle spielt, aufs eingehendste beschäftigt. Er bezeichnet ihn als »majorisierende Äquilibration« oder »reflektierende Abstraktion« und erfaßt damit verschiedene Aspekte ein- und desselben Prozesses, den er auf den störenden Einfluß von nicht mehr an die bisherigen Denkschemata assimilierbaren Widersprüchen zurückführt. Unter dem Druck von vorher gar nicht bemerkten, aber von einem bestimmten Punkt der geistigen Entwicklung an zunehmend irritierenden Unvereinbarkeiten komme es über mehrere prinzipiell immer wieder gleichartig ablaufende Etappen krisenhaft zu einer radikalen Neuorganisation von kontextspezifischen kognitiven Strukturen, welche die vorherigen Widersprüche unter einem übergeordneten Gesichtspunkt überwindet. Zu den meistzitierten Beispielen für solche majorisierende Äquilibrationen gehört etwa der denkerische Schritt des Fünfbis Sechsjährigen von der einfachen Vorstellung, daß ein Flüssigkeitsspiegel in einem Gefäß immer rechtwinklig zur Gefäßwand steht, bis

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hin zur wesentlich komplexeren Erkenntnis, daß dieser Spiegel unabhängig vom Neigungswinkel der Gefäßwand in Wirklichkeit immer waagerecht bleibt, das heißt seinen Winkel zur Gefäßwand in Funktion der Neigung des Gefässes verändert. Ein anderes von Piaget genau untersuchtes Beispiel ist die stufenweise aufdämmernde Erkenntnis eines etwa Gleichaltrigen, daß eine Flüssigkeit, von einem hohen und dünnen in ein niederes, aber breites Glas umgeschüttet, sein Volumen bewahrt (vorher wurde widersprüchlich sowohl »höher« wie »breiter« an »mehr Flüssigkeit« beziehungsweise »dünner« oder »niedriger« an »weniger Flüssigkeit« assimiliert). Ganz ähnlich kann von einem bestimmten Zeitpunkt an das gleichbleibende Volumen einer lang und dünn oder aber dick und kurz ausgewalzten Plastillinwurst, oder die immer gleichbleibende Gesamtlänge einer mit wechselnd langen Teilstücken um einen eingeschlagenen Nagel gezogenen Schnur erkannt werden. Als »reflektierende Abstraktion« oder »majorisierende Äquilibration« bezeichnet Piaget einen solchen Prozeß einerseits wegen der dabei implizierten Reflexion im Sinn des Nachdenkens und plötzlichen »Nachkommens« hinsichtlich der vorliegenden Wechselbeziehungen und andererseits, weil einzelne auf einer niedrigeren Ebene isoliert perzipierte kognitive Elemente dabei auf eine höhere Ebene gewissermaßen gespiegelt oder projiziert, und dort dann gemeinsam neu geordnet und äquilibriert, das heißt mit anderen kognitiven Konzepten vernetzt und koordiniert werden. Ähnliche »Majorationen« laufen von früher Kindheit bis ins vorgerückte Alter auf immer neuen Stufen, wobei nach Piaget jedesmal die gleichen drei Stadien α, β, und γ durchlaufen werden: Im Stadium α werden die störenden Elemente, wie schon erwähnt, zunächst noch möglichst übersehen und zugunsten des alten Verstehensschemas verleugnet oder vernebelt. Im Stadium β ist ein unstabiles Hin- und Herspringen zwischen der alten und der neuen Verstehensweise zu beobachten, und erst im Stadium γ schließlich glückt die majorisiernde Äquilibration – nicht selten mit einem plötzlichen freudigen AhaErlebnis – definitiv. In den minutiösen Protokollen Piagets über derartige Beobachtungen sind vielfältige emotionale und auch zwischenmenschlich-interaktive Elemente wie Ausrufe, Zwischenbemerkungen, Zeichen von Verunsicherung im Stadium α und β und von Triumph und Freude in γ durchaus verzeichnet. Dennoch hat er diese in seine theoretischen Konzepte zur Genese kognitiver Strukturen überhaupt nicht, oder nur ganz am Rand, einbezogen. Aus der Sicht der Affektlogik dagegen gehören gerade auch sie zentral mit zum Vorgang der Abstraktion. Wie an anderer Stelle schon ausführlich erörtert (Ciompi 1982, 1986, 1988c), kann

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nämlich jede Abstraktion mit Gewinn auch als »Auszug von Invarianz aus Varianz«, also als Erfassen einer versteckten Gemeinsamkeit in einer vorher nur als ungeordnetes Durch- oder Nebeneinander wahrgenommenen Vielfalt verstanden werden. »Abstrahere« bedeutet ja wörtlich gar nichts anderes als »ausziehen« oder »abziehen«, und in der Tat wird bei jeder Abstraktion etwas Gemeinsames aus einer Vielfalt gewissermaßen »herausgezogen« und zu einem neuen Oberbegriff verdichtet. Beispiele hierfür wären etwa das Erfassen der Invarianzen, die von Äpfeln, Birnen und Pflaumen zum Oberbegriff der Früchte, von Stuhl, Tisch und Bett zum Oberbegriff der Möbel, von Hund, Katze und Kuh zum Oberbegriff der Haustiere führen. – Die mit jedem solchen »Auszug« verbundene lustvolle Entspannung hängt eng mit dem Begriff der Komplexitätsreduktion zusammen. Zu beachten ist dabei aber auch, daß eine Abstraktion in diesem Sinn die genaue Umkehrung einer natürlichen Entwicklung oder Differenzierung darstellt, die ja durch die Einführung von immer mehr Varianz in eine übergeordnete Invarianz entsteht – neue Varianten von Früchten, Möbeln, Haustieren entstehen durch Abwandlung des je entsprechenden »Prinzips«. Auch ergibt sich aus der Kombination von Varianz mit Invarianz in jedem Fall eine Struktur, beziehungsweise ein »System« (= ein »Zusammengestelltes« nach dem ursprünglichen griechischen Wortsinn), was alles auf ein bedeutsames Gefüge von sowohl strukturellen und dynamischen wie auch geistig-abstrakten Zusammenhängen hindeutet, die uns noch vielfach beschäftigen werden. Jedes Erkennen einer Gemeinsamkeit in einem vorher ungeordneten Durch- und Nebeneinander aber ist – um zum eigentlichen Thema zurückzukehren – grundsätzlich lustvoll, weil spannungsvermindernd, genauso wie das Wiederfinden und -erkennen eines »guten alten Bekannten« (kybernetisch ausgedrückt: das Konstatieren einer Redundanz) im (eigentlich »un-heimlichen«) Unbekannten lustvoll ist. Dazu kommt noch die mit jeder solchen Abstraktion verbundene Lust oder Spannungsminderung, die aus der enormen Vereinfachung des Umgangs mit übergeordneten Objekten und Begriffen aller Art erwächst, die jeder solche »Auszug einer Invarianz« mit sich bringt: Statt mit allen Unterbegriffen einzeln umzugehen, genügt nun ein einziger abstrakter Oberbegriff. Genau auf diesem energiesparenden Trick beruht letztlich nicht nur die ganze, für die geistige Entwicklung des Menschen zentral wichtige sogenannte semiotische Funktion, das heißt seine Fähigkeit der Umsetzung und Darstellung von zunächst als heterogen erfahrenen konkreten Vorgängen und Wahrnehmungen in bildhafte, gestuelle, sprachliche oder mathematische Zeichen, die immer wieder gerade solche Invarianzen unter einem gemeinsamen Begriff

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(»Tisch«, »Stuhl«, »Möbel«, auch »ich«, »du«, »Erde«, »Weltall« usw.) zusammenfassen. Auch ein großer Teil der technischen Entwicklung folgt gleichartigen Gesetzmäßigkeiten. Die Erfindung des Rades zum Beispiel, des Gelds, der Schrift, aber auch diejenige der allermeisten zivilisatorischen Errungenschaften mit Einschluß – um ein bereits an anderer Stelle ausführlich besprochenes Exempel nochmals heranzuziehen (Ciompi 1988b, S. 199) – etwa der Autobahnen erweisen sich, von nahe besehen, immer wieder als »Auszüge von Invarianz«, das heißt als typische Abstraktionen im obigen Sinn: Das Rad zum Beispiel vereinigt in sich genial das ökonomische Prinzip eines immer wieder angelegten Hebels mit demjenigen der schiefen Ebene, das Geld kondensiert die Invarianz der hinter allen möglichen konkreten Produkten oder andersartigen Werten stehenden Arbeitsleistung zu einem viel handlicheren symbolischen Tauschobjekt, und das Bauprinzip der Autobahnen beruht auf nichts anderem als auf dem »Ausziehen« und Kombinieren von vielerlei lustvollen, beziehungsweise unlustvermeidenden Erfahrungen im Autoverkehr wie etwa der Kreuzungsfreiheit, der Gegenverkehrsfreiheit, der Kurvenarmut, der gefahrlosen Überholmöglichkeiten und so weiter. Alle diese zunächst miteinander nicht zu einem kohärenten »System« verbundenen Einzelelemente werden bei der Erfindung der Autobahn durch den gemeinsamen Affekt »Lust« als relevante Invarianz zu einem neuen und spannungsreduzierenden Ganzen zusammengefügt: Lustkomponenten in erster Linie lenken die Aufmerksamkeit auf solche Elemente, speichern und mobilisieren sie kontextadäquat im Gedächtnis, setzen sie hiearchisch obenan und schließen gleichzeitig andere, weniger lustvolle Lösungen aus, und erst aufgrund einer solchen affektgeleiteten Komplexitätsreduktion werden die lustselektionierten Kognitionselemente schließlich aus dem Gesamt aller Möglichkeiten »herausgezogen« und zu einem Funktionssystem höherer Ordnung integriert. Am Beispiel der Autobahn wird besonders deutlich, daß und wie lustbetonte affektive Elemente den besagten Vorgang der Abstraktion nicht etwa bloß begleiten, sondern richtiggehend leiten. Ganz Analoges geschieht indes ebenfalls bei der majorisierenden Äquilibration von mentalen Weg- und Straßensystemen auf höhere Abstraktionsebenen, und genau dasselbe Lustprinzip reguliert auf einer ebenfalls sehr abstrakten Ebene wiederum die aktuelle Entwicklung von elektronischen »Datenautobahnen«. Komplexitätsreduzierende, kontinuitätsund kohärenzschaffende organisatorisch-integratorische Operatorfunktionen der Affekte sind deshalb, so behauptet die fraktale Affektlogik, auf allen Ebenen beim Vorgang der Abstraktion genauso am

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Werk wie bei allen übrigen Denkvorgängen, und die beteiligten affektiven Komponenten werden auch auf allen Ebenen in das Abstrahierte – quasi als »Schmiermittel« – ebenso sinnvoll eingebaut wie in alle anderen kognitiven Strukturen. Mit anderen Worten: Selbst beim zentralen kognitiven Phänomen der Abstraktion spielt demnach eine Art von »Affektivität der Logik« eine hoch bedeutsame Rolle. Noch viel direkter wirken sich selektionierende und organisierende Operatoreffekte von unterschiedlichen affektiven Grundgestimmtheiten auf die praktischen Anwendungen von neu gefundenen kognitiven Lösungen aus. Die Chinesen zum Beispiel sollen aus der Entdeckung des Schießpulvers lange vor seiner Nutzung in Europa seinerzeit nur eine neue und sensationelle Lustbarkeit, nämlich diejenige des Feuerwerks abgeleitet haben, während die westliche Kultur daraus eine neue Kategorie von Mordwaffen mit all ihren fürchterlichen Folgen entwickelte. Man könnte aus dieser Tatsache auf eine vorwiegend freudigspielerische unbewußte Grundstimmung in der damaligen chinesischen, und auf eine aggressive oder defensive Grundstimmung in der späteren westlichen Welt schließen. Auch bei den Arbeiten, die zur Entdeckung der Atomenergie und ihrer möglichen Anwendungen geführt haben, spielten, wie man weiß, völlig unterschiedliche affektive Motivationen der beteiligten Forscher eine wichtige Rolle: bei den einen die reine wissenschaftliche Neugier und Entdeckerfreude, bei den anderen Ehrgeiz und Konkurrenzstreben, bei dritten idealistische Hoffnungen auf wunderbare friedliche Nutzungen, und bei den vierten Angst oder Wut im direkten Zusammenhang mit dem damaligen Kriegsgeschehen. Entsprechend unterschiedlich waren denn auch die individuellen Haltungen und weiterführenden Überlegungen. Gewisse deutsche Forscher zum Beispiel sollen aus Angst vor den fürchterlichen Folgen der Atombombe in den Händen Hitlers ihre Denkarbeit bewußt gebremst und verheimlicht haben, während andere sie um so fieberhafter vorantrieben. Zusammenfassend zeigt sich, daß untergründige affektive Komponenten die kognitiven Funktionen ständig in vielerlei Weise beeinflussen. Sie wirken keineswegs, wie lange angenommen, nur als energiespendende Motoren und Motivatoren, sondern ebenfalls als alles Denken stets in subtiler Weise organisierende, hierarchisierende und strukurierende Operatoren von viel umfassenderer Art. Sowohl allgemeine wie spezielle solche Operatorwirkungen erscheinen dabei im Prinzip als zutiefst sinnvoll: Nicht nur führen sie zu einer hochwirksamen kontextadäquaten Komplexitätsreduktion und zu einer entsprechenden Ökonomie bei der Verarbeitung einer zunächst ungeordneten Flut von sensorischen Informationen, sondern sie passen über ihre kör-

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perlichen und psychischen Wirkungen auch den Gesamtorganismus fortwährend flexibel an die Erfordernisse des Moments an. Gleichzeitig mobilisieren diese lebenswichtigen – und evolutionär entsprechend tief verankerten – Mechanismen die zugehörigen gedächtnismäßigen Ressourcen und setzen sie über Dynamismen, mit welchen wir uns in den nachfolgenden Kapiteln noch genauer beschäftigen werden, immerzu auf möglichst ökonomische Weise ein. Die vorgeschlagene Generalisierung des Lustbegriffs als »Lösung einer Spannung« scheint sich dabei durchweg zu bewähren.

Vorläufige Synthese. Ein Grundgesetz, fünf Grundgefühle – und unendlich viele kognitive Modulationen Obwohl noch nicht sämtliche Elemente vorliegen, auf die sich die Hypothese einer fraktalen Affektlogik schließlich abstützen wird – es fehlt insbesondere der Einbezug von fraktalen und nichtlinear-dynamischen Aspekten aufgrund des erst im nächsten Kapitel zu besprechenden chaostheoretischen Zugangs –, so ist es für den weiteren Fortgang unserer Untersuchung doch von Vorteil, die bisher besprochenen Grundbegriffe der Affektlogik schon jetzt zu einer vorläufigen Synthese zusammenzufassen. Aufgrund der gewählten breiten Definitionen von Affekt, Kognition und Logik, der Konzentration auf fünf biologisch besonders gut abgesicherte Grundgefühle und der Berücksichtigung ihrer in diesem Kapitel beschriebenen allgemeinen und speziellen Operatorwirkungen läßt sich die ganze Komplexität des psychischen Geschehens als Resultante einer im Grund recht einfachen Kombinatorik im Sinn des im obigen Titel formulierten Algorithmus »Ein Grundgesetz, fünf Grundgefühle – und unendlich viele kognitive Modulationen« verstehen. Freilich erfaßt diese schematische Kurzformel nur die Form und nicht, oder doch nur ganz am Rand, auch schon den Inhalt psychischer Prozesse. Es versteht sich von selbst, daß sie, um der Komplexität psychischer Erscheinungen auch nur annähernd gerecht zu werden, der vielfältigsten inhaltlichen Konkretisierung bedarf. Eine Palette von konkreten Beispielen unterschiedlicher Art und Dimension wird dies im zweiten Teil des Buches verdeutlichen. Ebenso ist natürlich die Reduktion der ungeheuer differenzierten Skala von Gefühlsnuancen auf lediglich fünf Grundaspekte eine grobe Vereinfachung, die nicht etwa »die (psychi-

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sche) Wirklichkeit abbilden«, sondern exemplarisch bloß einige ihrer grundlegenden Strukturen und Dynamismen freilegen will. Mit »Grundgesetz« ist hier der zentrale Ausgangspunkt der ganzen Affektlogik, nämlich das Postulat eines ständigen komplementären Zusammenwirkens eines umfassenden Affektsystems mit einem davon wesensverschiedenen Kognitionssystem im definierten Sinn gemeint. Die »fünf Grundgefühle« entsprechen der Minimalzahl der aus biologisch-evolutionärer Sicht zur Zeit als »elementar« oder »basal« erkennbaren Affektsysteme (Interesse, Angst, Wut, Trauer, Freude) mitsamt ihren je unterschiedlichen organisatorisch-integratorischen Wirkungen auf das Denken und Verhalten, und die »unendlichen kognitiven Modulationen« schließlich ergeben sich aus der unbegrenzten Zahl von möglichen Kombinationen dieser fünf Grundaffekte (nebst ihren unzähligen Abwandlungen und Überlappungen) mit einfachen wie komplexen kognitiven Strukturen. Die grundlegende Leistung und Dynamik des psychischen Apparats besteht, so gesehen, einerseits in der Generierung von immer wieder neuen integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen unterschiedlichster Dimension aus der Aktion, und andererseits in der ständigen affektgeleiteten Anpassung des Gesamtorganismus an die jeweilige Situation. Eine wichtige Grundlage dieser Psychodynamik (oder genauer: Psycho-Sozio-Biodynamik) im weitesten Sinn ist, wie erläutert, der Mechanismus der neuronalen Plastizität, also der bevorzugten Bahnung von häufig aktivierten Assoziationswegen, über welchen die besagten »Programme« in der neuronalen Feinstruktur enkodiert werden. In der Struktur und Funktionsweise des neuronalen Assoziationssystems selbst ist damit ein sinnvoller »Auszug« des vergangenen Geschehens konserviert: Vergangene relevante Erfahrungen werden reaktiviert durch ähnliche affektive und/oder kognitive Stimuli. Damit stehen frühere Erfahrungen zur ökonomischen Bewältigung von ähnlichen Situationen in der Gegenwart jederzeit kontextgerecht zur Verfügung. Über die beschriebenen Operatorwirkungen der Affekte, die den gesamten Organismus sinnvoll um- und einstimmen, wird alles Denken und Verhalten fortwährend zu einem der jeweiligen Situation angepaßten Ganzen integriert. Gleichartige solche Affektwirkungen sind in elementaren wie hochkomplexen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen (von einfachsten bedingten Reflexen über komplexe Übertragungsreaktionen bis zu übergeordneten Wert- und Verhaltenssystemen, Ideologien und Theorien) am Werk. Die unendliche Vielfalt von psychischen Erscheinungen entsteht nach diesem Modell aus der komplexen Dynamik, die sich aufgrund von äußeren oder inneren Reizen aus dem ständigen Wechselspiel zwi-

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schen erfahrungsgenerierten Strukturen oder Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen einerseits und den situationsabhängig aktivierenden oder hemmenden aktuellen Operatorwirkungen der Affekte auf ebendiese Strukturen andererseits ergibt. Dieses Zusammenspiel bewirkt, daß Fühlen, Denken und Verhalten, obwohl sehr flexibel und umweltplastisch, sich doch mit einer bemerkenswerten Konstanz in immer wieder ähnlichen, durch Erfahrung gesicherten Bahnen bewegen. Erfahrungs- beziehungsweise strukturabhängig kommt es je nach psychischem Zustand und äußerer Situation, schematisch dargestellt, zur Aktivierung einer spezifischen Angstlogik, Wutlogik, Trauerlogik, Freudelogik oder Alltagslogik. Für unendliche Variationen sorgen neben allen möglichen Intensitätsabstufungen und kognitionsbeeinflußten Abwandlungen der fünf Grundgefühle (nebst weiteren möglichen Basisaffekten wie Scham, Ekel, Überraschung), wie sie in unserem »Inventar der Gefühle« (Seite 79 f.) aufgelistet sind, des weiteren die zahllosen Möglichkeiten der Mischung und Überlagerung einzelner Affektnuancen. Nicht unähnlich wie die ungeheure biologische Vielfalt bekanntlich auf der unendlichen Kombinatorik eines aus nur vier fundamentalen Aminosäuren bestehenden »Alphabets« im Genom (nämlich Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin) beruht, könnte also, will man die im vorliegenden Modell enthaltenen Hypothesen annehmen, ebenfalls der enorme Formenreichtum psychischer Erscheinungen aus dem Zusammenspiel einer sehr beschränkten Zahl von grundlegenden Komponenten und Mechanismen verstanden werden. Jedenfalls scheinen die postulierten Algorithmen durchaus in der Lage, eine Emotions- und Kognitionsdynamik von einem Grad der Komplexität zu generieren, der dem ungeheuren Facettenreichtum der menschlichen Psyche und ihrer Leistungen entspricht. In der genannten Parallele zu biologischen Strukturierungsgesetzen könnte sich zudem ein weiterer Aspekt der tiefen Kontinuität zwischen biologischen und psychisch-geistigen Phänomenen enthüllen, wie sie uns in anderer Form schon mehrfach begegnet ist. Natürlich aber bleiben in dieser Zusammenfassung der bisher in Sicht gekommenen affektiv-kognitiven Wechselwirkungen zu einem – wenn auch nur vorläufigen und recht schematischen – Gesamtbild der »Psyche« noch zahllose Fragen offen. Besonders wichtig wäre die genauere Abklärung einer von Umweltstimuli möglicherweise unabhängigen Eigendynamik der Affekte, wie sie etwa Machleidt mit seiner angeblich immer wieder gleichartig von einem initialen Interesse an einem neuen Ereignis über Angst, Wut und Trauer bis zu terminalen Freude- und Entspannungsgefühlen laufenden »Affektspirale« postu-

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liert hat. Als wirklich gesichert kann hierzu vorderhand wohl nur gelten, daß intensive Affekte aller Art, ausgeprägten Wellenbergen und -tälern vergleichbar, dazu tendieren, immer wieder zu jenem entspannteren, mit relativ geringen Ausschlägen um ein Mittelmaß herum fluktuierendem Basiszustand zurückzukehren, der dem Alltagsverhalten entspricht. Affektenergetische Aspekte spielen nach unserer Annahme in dieser Dynamik eine zentrale Rolle: Während die Alltagslogik (genauer: das Alltagsfühlen, -denken und -verhalten) einer halbautomatisierten Basisfunktionsweise mit relativ geringem Energieaufwand gleichkommt, werden für außerordentliche – zum Beispiel neue, besonders schwierige oder gefährliche – Situationen je nach Kontext die energetisch weit aufwendigeren Funktionsweisen der intensiven Angst, Wut, Freude, auch des hohen Interesses mobilisiert. In Trauer und Depression dagegen scheint sich der Energieverbrauch zu vermindern. Erst die genauere Erforschung solcher sowohl qualitativer als auch quantitativer Aspekte der Affekt- und Kognitionsdynamik, wie sie mit dem zu erwartenden Fortschritt der Neurowissenschaften durchaus im Bereich des Möglichen liegt, wird zu zeigen vermögen, welcher operational-heuristische Wert dem vorgeschlagenen algorithmischen Funktionsmodell der Psyche genauer zukommen mag. Aus den vielen Folgefragen, die sich aus den obigen Überlegungen ergeben, greifen wir vorderhand nur noch deren zwei heraus, nämlich erstens das Problem der Dialektik zwischen bewußten und unbewußten Vorgängen und zweitens dasjenige einer vielleicht möglichen zusätzlichen Komplexitätsreduktion durch eine übergreifende biologische Gesamthypothese. Obwohl keine dieser Fragen hier einfach »gelöst« werden kann, ist es doch sinnvoll, uns zur Abrundung dieses den Operatorwirkungen der Affekte gewidmeten Kapitels zu beiden noch einige zusätzliche Gedanken machen.

Bewußtes und Unbewußtes aus der Sicht der Affektlogik Wie schon mehrfach hervorgehoben, läuft ein großer Teil der beschriebenen Affektwirkungen auf das Denken ganz außerhalb des Bewußtseins ab. Dies gilt insbesondere für die meisten der als Operatorwirkungen bezeichneten Effekte von emotionalen Grundbefindlichkeiten. Daß unser ganzes Denken und Verhalten zum Beispiel die längste Zeit vom Modus einer Angst-, Wut- oder auch Freudelogik beherrscht ist,

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mag uns, wenn überhaupt, erst dann bewußt werden, wenn sich unsere Grundstimmung merklich verändert, das heißt wenn eine neue Emotion im Sinn der engen Definition der Neurophysiologie auftritt. Noch viel weniger bewußt ist in der Regel der subtile Einfluß jener leicht gedrückten, verspannten, gereizten oder auch gehobenen und fröhlich entspannten Grundgestimmtheiten, die längerfristig unser Alltagsdenken und -verhalten (unsere »Alltagslogik«) organisieren: Je nach Stimmung werden wir – mehr oder weniger unabhängig von der »objektiven Wirklichkeit« – um uns eine düstere oder fröhliche, aggressiv gespannte oder friedliche, angstvolle, traurige, schöne und liebe oder auch banale und sinnentleerte Welt wahrnehmen beziehungsweise richtiggehend konstruieren. Rekursiv werden unsere Sicht- und Verhaltensweisen überdies zur tatsächlichen Entstehung gerade so einer Umwelt, wie wir sie aus affektiven Gründen erleben oder vielmehr sowohl projizieren wie praktizieren, ständig beitragen (»Wie man in den Wald ruft, so tönt es heraus«). Unbewußte affektive Operatormechanismen erscheinen damit nicht nur als beiläufig neues Element, sondern als essentieller Aspekt unserer jeweiligen individuellen Wirklichkeitskonstruktion und Weltsicht. Welche übergreifenden affektiven Gestimmtheiten schließlich unsere Sicht- und Denkweisen während ganzer Lebensphasen oder, auf kollektiver Ebene, vielleicht gar während ganzer kultureller Epochen mitbestimmen, wird unserem Bewußtsein in der Regel, wenn überhaupt, so höchstens retrospektiv zugänglich. Auch die Regulierung des Aufmerksamkeitsfokus je nach Stimmung sowie das affektgeleitete Speichern und Mobilisieren von Gedächtnisinhalten läuft, wie beschrieben, größtenteils ganz außerhalb des Bewußtseins ab. Aus der Sicht der Affektlogik handelt es sich auch hierbei in erster Linie um ökonomisch höchst sinnvolle, ja lebenswichtige normalpsychologische Vorgänge. Neurotische oder psychotische sogenannte Abwehrmechanismen im Sinn der Psychoanalyse (wie Verdrängung, Verleugnung, Verschiebung, Abspaltung, Projektion und Introjektion usw.), mit denen sich solche Regulierungen weitgehend überlappen, stellen damit nur Spezialfälle von allgegenwärtigen Phänomenen in pathologischem Kontext dar. Ebenfalls in erster Linie dem normalpsychologischen Bereich gehören die vielen gewöhnlicherweise völlig unbewußten Prozesse an, die, wie früher schon berichtet, von einigen Autoren einem (als separate Instanz aus unserer Sicht allerdings zweifelhaften) »kognitiven Unbewußten« zugeordnet werden (darunter angeborene kognitive Vorannahmen, sprachliche und soziale Universalien, über Lernprozesse eingeschliffene senso-motorische Automatismen aller Art, auch zahlreiche kulturspezifische soziale Verhaltensweisen; vgl. Piaget 1973; Kihlstrom 1987).

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Berücksichtigt man überdies die von der Evolutionsforschung neuerdings aufgezeigten Aspekte des Unbewußten – darunter namentlich die unter dem Stichwort der »angeborenen Lehrmeister« beschriebenen kognitiven Automatismen –, so erscheint das bewußte Denken und Fühlen schließlich nur noch als ein winzig kleiner Ausschnitt der psychischen Gesamtaktivität. An anderer Stelle habe ich die Idee entwickelt, daß es sich beim Bewußtsein um eine Art von »hochenergetischem Luxus« handelt, der funktionell in erster Linie einerseits der Bewältigung von ungewohnten und potentiell gefährlichen Situationen, und andererseits dem Einüben von neuen und (noch) schwierigen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen (also Lernprozessen) vorbehalten bleibt (Ciompi 1982, S. 163 ff.). Alles, was den Luxus des Bewußtseins nicht benötigt, verfällt sinnvollerweise dem halb oder ganz Unbewußten. Sowohl im Licht der neueren Forschung wie auch aus der Perspektive der fraktalen Affektlogik gewinnt das Unbewußte somit eine Dimension, die über die von der Psychoanalyse erschlossene noch beträchtlich hinausgeht. Ein gewisses Neuüberdenken des Begriffs des Unbewußten im Vergleich zu traditionellen psychoanalytischen Konzepten drängt sich auch deshalb auf, weil sich der Schwerpunkt des Unbewußten aufgrund der berichteten Befunde zunehmend vom pathologischen ins normalpsychologische Feld verlagert. Die meisten beschriebenen Operatorwirkungen der Affekte sind keineswegs nur im Rahmen von krankhaften Störungen wirksam, die eine »Aufhebung der Verdrängung« im psychoanalytischen Sinn möglich oder auch nur wünschenswert machen könnten. Das gleiche gilt für praktisch alle dem oben erwähnten »kognitiven Unbewußten« zugeschriebenen Mechanismen. Auch sie erscheinen vielmehr in erster Linie als sinnvoller Teil des ganz gewöhnlichen Fühlens und Denkens. So überraschend dies zunächst vielleicht auch klingen mag: Nicht im Feld der Psychopathologie, sondern mitten im unauffälligen Alltagsdenken und -verhalten hält sich aus unserer Sicht also »das Unbewußte« in allererster Linie versteckt. Paradox könnte man, alles in allem, sogar zu dem Schluß kommen, daß, genau besehen, selbst noch das bewußteste Denken zu einem erheblichen Teil »unbewußt ist«, das heißt (ganz ähnlich wie ein Großteil unserer biologischen Aktivitäten) von fundamentalen Gesetzmäßigkeiten organisiert und reguliert ist, von denen wir weder etwas wissen noch wissen können.

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Ein neurophysiologischer »affektiver Inprint« in kognitive Strukturen als Grundlage der Operatorwirkungen der Affekte? Wenn wir uns abschließend die erläuterten Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken nochmals vergegenwärtigen und zugleich an die im Vorkapitel beschriebenen biologischen Grundlagen von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen denken, so scheint es möglich, die meisten vorangegangenen Überlegungen zu einer (von mir erstmals bereits vor Jahren vorgeschlagenen [Ciompi 1991a, 1993a]) Gesamthypothese zu verdichten, die praktisch alle beschriebenen Zusammenhänge durch einen einzigen grundlegenden Mechanismus biologischer Art zu erklären vermag. Konkrete experimentelle Indizien für deren Richtigkeit liegen allerdings meines Wissens bisher erst vereinzelt vor. Diese Hypothese läßt sich wie folgt formulieren: Die Entstehung von kognitiven neuronalen Strukturen wird durch einen spezifischen »affektiven Inprint« stimuliert; der gleiche Affekt (beziehungsweise sein neurophysiologisches Äquivalent) ist in der Folge zur Reaktivierung der gleichen affektiv-kognitiven Strukturen nötig. Gemeint ist damit, daß ein und derselbe neurophysiologische Mechanismus von allem Anfang an affektive Komponenten mit kognitiven Prozessen verbinden und später für das obligate Zusammenwirken beider verantwortlich sein könnte. Oder anders gesagt: alle kognitiven Assoziationsbahnen besäßen damit von Anfang an eine mehr oder weniger spezifische affektive »Färbung« oder »Prägung«. Dies könnte zum Beispiel zustande kommen durch die Stimulation von kognitionsspezifischer synaptischer Sprossung und Bahnung durch affektspezifische Transmitter oder Transmitterkombinationen, worauf die gleichen Bahnungen in der Folge immer wieder durch ebendiese chemischen Stoffe aktiviert würden. Ein solcher Mechanismus vermöchte maximal ökonomisch auf einen Schlag zumindest die folgenden von der Affektlogik postulierten Phänomene zu erklären: – das obligate ständige Zusammenspiel von Affekt und Kognition, – die affektabhängige Entstehung von funktionell integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen, – die affektspezifische Fokussierung der Aufmerksamkeit, – die affektabhängige Speicherung und Mobilisierung von kognitivem Gedächtnismaterial, – die schalter- oder schleusenartig kanalisierenden und komplexitätsreduzierenden Operatorwirkungen der Affekte auf bestimmte kognitive Inhalte,

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– die synchron wie diachron kontinuitätsschaffenden (»leim- oder bindegewebsartigen«) Funktionen der Affekte auf kognitive Elemente. Auch der enge funktionelle Zusammenhang – zum Teil geradezu die Identität oder doch breite Überlappung – zwischen all diesen Phänomenen würde so gut verständlich. Darüber hinaus wäre in Form der affektspezifischen Aktivierung von kognitivem Material durch bestimmte Neurotransmitter eine energetische Grundlage von kognitiven Prozessen identifiziert, die namentlich auch aus der chaostheoretischen Perspektive, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, von zentraler Bedeutung sein könnte. Nicht zuletzt würde eine solche Hypothese mit der alten psychoanalytischen Vorstellung einer zur Aktivierung von kognitivem Gedächtnismaterial nötigen »affektiven Besetzung« und weiteren, früh schon von Freud ins Auge gefaßten energetischen Überlegungen zur Fühl- und Denkdynamik übereinstimmen. Das gleiche gilt für die damit nahe verwandte, von dem Psychopathologen Werner Janzarik schon vor Jahrzehnten entwickelten Vorstellung einer wechselnden »affektiven Befrachtung« oder Aktualisierung und Desaktualisierung von kognitiven Repräsentationen, auf die wir in Verbindung mit psychopathologischen Fragen in einem späteren Kapitel noch näher zu sprechen kommen werden (Janzarik 1988). Die Inprint-Hypothese läßt sich auch noch durch das folgende, ebenfalls aus dem Konzept der Affektlogik direkt ableitbare Erklärungselement weiter abrunden: Ausgehend von unserer Definition von Kognition als Wahrnehmung und Verarbeitung von sensorischen Differenzen wäre denkbar, daß (ähnlich wie in einem digitalen Computer) jedem relevanten kognitiven Unterschied eine funktionelle Verzweigung im neuronalen Netzwerk entsprechen würde, über welche die von bestimmten sensorischen Reizen herrührende neuronale Erregung je nach Kontext und Stimmung entweder in die eine oder die andere von zwei möglichen Richtungen umgelenkt würde. Wenn nun affektspezifische Transmittoren oder Modulatoren im Sinn des postulierten »affektiven Inprints« bei der Entstehung wie Aktivierung von solchen Bifurkationen wirksam würden, so ergäbe sich insgesamt das Bild einer einfachen Beziehung zwischen den kognitiven Prozessen und der funktionellen neuroanatomischen Feinstruktur einerseits, und den affektiven Prozessen und der biochemisch-humoralen Aktivierung dieser Feinstruktur durch bestimmte Neurotransmittoren andererseits. Zugleich ließen sich affektive und kognitive Elemente zu einer ebenso ökonomischen wie biologisch sinnvollen Hypothese über deren funktionelles Zusammmenspiel vereinen: Bildlich dargestellt entspräche das kognitive System damit einem komplex konfigurierten Röhrensystem, dessen Verzwei-

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gungen durch den Druck der darin fließenden Flüssigkeit (die spezifischen Affekte beziehungsweise ihre neurotransmittorischen Äquivalente) selbst sowohl gebildet wie auch in der Folge immer wieder geöffnet (das heißt, affektspezifisch aktiviert) oder auch geschlossen (affektspezifisch gehemmt, blockiert) würden. Zu den konkreten Hinweisen auf einen solchen Zusammenhang darf man die im vorangehenden Kapitel erwähnten Befunde zur affektstimulierten Reifung von dopaminergen Verbindungsbahnen zwischen präfrontalem Kortex und limbischem System in früher Kindheit zählen. Wie beschrieben beeinflussen diese Verbindungsbahnen die Qualität der späteren zwischenmenschlichen Beziehungen entscheidend. Nach Schore (der sich übrigens auf unsere Inprint-Hypothese ausdrücklich bezieht) wird die Reifung der besagten Bahnen durch Endorphine stimuliert, deren Ausschüttung ihrerseits von einer positiven MutterKind-Beziehung abhängt (Schore 1994). Gleichzeitig aktivieren dieselben Endorphine die betreffenden Verbindungsbahnen. Die Annahme liegt damit nahe, daß prinzipiell sehr ähnliche, aber durch andere Affekte (beziehungsweise Transmittoren) vermittelte biochemische Einflüsse bei der Entstehung auch von weiteren kognitiven Bahnungen eine analoge Rolle spielen könnten.

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Viertes Kapitel Fraktale Affektlogik – ein chaostheoretischer Zugang zur Psyche

Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Nietzsche

Im neuen Bild von Psyche und Psychodynamik, das sich aufgrund einer konsequenten Berücksichtigung von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen abzeichnet, ist der Einbezug von chaostheoretischen Erkenntnissen ein essentielles Element. Erst er ermöglicht ein vertieftes Verständnis von sprunghaften nichtlinearen Veränderungen des gesamten Denkens und Verhaltens unter dem Einfluß von Affektschaltungen, wie wir sie sowohl im Alltag wie namentlich auch beim Auftreten von krankhaft psychotischen Störungen immer wieder beobachten können. Gleichzeitig liefert er hierfür plausible energetische Erklärungen. Auch massive Wirkungen von Kleinsteffekten in Krisenzuständen und andere unvorhersehbare Rösselsprünge der Psyche werden aus chaostheoretischer Perpektive besser verständlich. Die Erkenntnis, daß viele Vorgänge in der Natur grundsätzlich nicht vorhersehbar sind, ist ein zentrales Element dieses neuen Ansatzes. Vor allem aber vermittelt erst der chaostheoretische Begriff der Selbstähnlichkeit oder Fraktalität von Strukturen und Prozessen, unabhängig von ihrer Größenordnung, das nötige theoretische Rüstzeug zum Verständnis von frappanten Übereinstimmungen, die in den (Operator-)Wirkungen der Affekte auf das Denken und Verhalten sowohl auf individueller wie auch auf mikround makrosozialer Ebene bestehen. Zu zeigen, daß solche sogenannte »skalenunabhängige Selbstähnlichkeiten« im Bereich der affektivkognitiven Wechselwirkungen auf Schritt und Tritt anzutreffen sind, ist ein zentrales Anliegen nicht nur dieses Kapitels, sondern des ganzen Buches überhaupt.

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Nun gibt es freilich mit der Chaostheorie und ihrer Anwendung auf psychische und psychosoziale Fragestellungen eine ganze Reihe von Problemen. Zunächst existiert nach wie vor keine einheitliche solche Theorie, sondern vielmehr ein Sammelsurium von teilweise heterogenen Elementen, die erst im Lauf der Jahre unter dem – obendrein, wie wir sehen werden, zum Teil irreführenden – Oberbegriff des »Chaos« zu einem Ganzen zusammenzuwachsen begannen. Auch sonst bestehen allerhand terminologische Unklarheiten. Die meisten chaostheoretischen Erkenntnisse wurzeln zudem in einer komplexen Mathematik und Physik, die dem mathematischen Laien schwer zugänglich ist. Trotzdem ist die Chaostheorie dank ihres suggestiven Namens und einer Flut von teilweise sehr oberflächlichen Darstellungen in Medien aller Art in den achtziger- und frühen neunziger Jahren schnell populär geworden – nur um dann, als sich entsprechend inflationäre Erwartungen als unhaltbar erwiesen, ohne zureichendes Verständnis für ihren »harten Kern« mancherorts ebenso schnell wieder als bloße Modeerscheinung in Verruf zu geraten. Ein ähnliches Schicksal droht gegenwärtig ihrem Kind, der sogenannten Komplexitätstheorie, in welcher zentrale chaostheoretische Ansätze systematisch weiterentwickelt und auf komplexe Erscheinungen aller Art ausgeweitet werden. Das anfänglich vor allem von auffälligen Analogien zwischen psychischen und andersartigen Prozessen stimulierte Interesse von Psychologen und Psychiatern für die Chaostheorie schließlich mag zunächst ebenso problematisch erscheinen wie jede andere Übertragung naturwissenschaftlicher Begriffe auf das wesensmäßig ganz andersartige Feld der Psyche. Indessen hat sich gerade die brückenbildende systemtheoretische Sichtweise, von der die Chaosttheorie nur ein neuer und besonders interessanter Bestandteil ist (s. unten), im psychosozialen Bereich seit langem als überaus fruchtbar erwiesen. Auch sind, wie ebenfalls zu zeigen sein wird, in den letzten Jahren sowohl neurobiologische wie auch psychosoziale und psychopathologische Dynamismen chaostheoretischer Art entdeckt worden, die weit über bloße Analogien hinausgehen. Manche »bloßen Analogien« haben sich als echte Selbstähnlichkeiten über künstliche Systemgrenzen hinweg enthüllt. Trotz berechtiger Einwände und Mahnungen zur Vorsicht kann insgesamt jedenfalls an der zunehmenden Bedeutung des »chaostheoretischen Paradigmas« auch für die Psychodynamik (dieser Begriff immer im weitesten Sinn verstanden) meines Erachtens heute nicht mehr gezweifelt werden. Eine umfassende Darstellung der Chaos- oder gar Komplexitätstheorie und ihrer Problematik ist freilich im hier gegebenen Rahmen weder möglich noch beabsichtigt. Hierfür muß auf die Fachliteratur

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verwiesen werden.* Dazu gehören auch Arbeiten aus einer eigenen Forschungsgruppe, die sich insbesondere mit dem Schizophrenieproblem befassen (Ciompi et al. 1992c; Ambühl et al. 1992; Tschacher et al. 1996a und b; Ciompi 1997a). Vielmehr geht es in diesem Kapitel nur darum, diejenigen chaostheoretischen Erkenntnisse, die sich mir selbst in vieljähriger Auseinandersetzung mit diesem Ansatz für das hier zu erabeitende neue Bild der Psyche als fruchtbar erwiesen haben, in möglichst allgemeinverständlicher Weise darzustellen.

Zum Schlüsselbegriff des »deterministischen Chaos« Der »harte Kern« der Chaostheorie ist die schrittweise Erforschung und mathematische Formalisierung von selbstorganisatorischen Vorgängen rund um unregelmäßige plötzliche Entwicklungssprünge und schließliche chaotische Turbulenzen, die in dynamischen Systemen verschiedenster Art dann auftreten können, wenn sie durch fortgesetzte Energiezufuhr immer weiter vom Gleichgewicht weggetrieben werden. Gleichzeitig geht es zentral um die Rolle, die die Zeit in Prozessen, die solche Nichtlinearitäten enthalten, spielt. Hervorgegangen aus der Thermodynamik und Wetterforschung, der Laserforschung und dem Studium der Turbulenz von Flüssigkeiten, hat sich die Chaostheorie in den letzten 20 Jahren zu einem neuartigen wissenschaftlichen Paradigma entwickelt, das mittlerweilen in zahlreichen Bereichen der Natur- und auch Geisteswissenschaften Anwendung findet. Da die gefundenen Gesetzmäßigkeiten in selbstorganisierenden dynamischen Systemen aller Art auftreten, vom physiko-chemischen über den biologischen bis zum psychosozialen und sozioökonomischen Bereich, darf die Chaostheorie, wie oben schon vermerkt, sicher mit Fug als eine moderne Weiterentwicklung der allgemeinen Systemtheorie L. von Bertalanffys (L. von Bertalanffy 1950; Miller 1969, 1975) aus den zwanziger und fünfziger Jahren verstanden werden. Zu den wichtigsten Wegbereitern der aktuellen Theorien zur Dynamik nichtlinearer Systeme gehört der französische Mathematiker * Vgl. insbesondere Shaw 1981; Haken 1982, 1990; Babloyantz 1986; Nicolis 1986; Nicolis et al. 1977; Degn et al. 1987; Schuster 1989; Herrmann 1994. – Gute allgemeinverständliche Einführungen vermitteln u. a. Prigogine et al. 1980; Gleick 1987; Briggs et al. 1989; Cramer 1989: Haken 1991; Toifl 1994; gute Zugänge zu den mathematischen Grundlagen der Chaostheorie Seifritz (1987), Herrmann (1994); für wichtige Teilbereiche vgl. ferner das auch graphisch spektakuläre Werk »The beauty of fractals« von Peitgen u. Richter 1986.

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Henri Poincaré, der bereits 1899 eine mathematische »nichtlineare Systemtheorie« aufgestellt hatte. Ebenfalls aus Frankreich stammt ein anderer früher Versuch, nichtlineare Prozesse mathematisch zu erfassen, nämlich die sogenannte Katastrophentheorie von René Thom. Parallel zur europäischen Forschung hat die Exploration von nichtlinearen Dynamismen in den letzten 20 bis 30 Jahren indes vor allem in den USA große Fortschritte gemacht, wobei zum Teil erhebliche terminologische Diskrepanzen auftraten. So spielt etwa der für den belgischen Thermodynamiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine zentrale Begriff der sogenannten dissipativen Struktur – eine dissipative Struktur ist ein dynamisches Fließgleichgewicht, das durch ein bestimmtes zeit-räumliches Energieverteilungsmuster charakterisiert ist und unter gewissen Bedingungen in nichtlinearen Systemen plötzlich auftreten kann – bei den amerikanischen Autoren nur eine untergeordnete Rolle, obwohl sie ganz gleichartige Phänomene im Auge haben. Eigenständige – und für unsere Zwecke, wie wir sehen werden, in verschiedener Hinsicht sehr nützliche – Konzepte hat unter dem Begriff der Synergetik seit rund 30 Jahren ebenfalls der deutsche Physiker und Laserforscher Hermann Haken für die gleichen Vorgänge entwickelt. Der wissenschaftliche Begriff des »Chaos« ist, wie schon erwähnt, für den Außenstehenden teilweise irreführend, denn im Gegensatz zum umgangssprachlichen Wortverständnis ist damit im Rahmen der Chaostheorie in der Regel kein gänzlich ungeordnetes Durcheinander, sondern ein sogenanntes deterministisches Chaos gemeint. Genauer, aber auch weit umständlicher wäre deshalb die Bezeichnung »Theorie der nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme«. – Der paradox anmutende Begriff des deterministischen Chaos beschreibt eine eigenartige Mischung von Ordnung und Unordnung im Übergangsbereich zwischen den linearen Gesetzmäßigkeiten der klassischen Physik auf der einen und einer stochastischen Zufallsdynamik – einem »Chaos« im üblichen Sinn – auf der anderen Seite. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das Wetter, das zwar durch wenige physikalische Variablen im großen recht genau bestimmbar ist und doch im einzelnen mittel- wie langfristig ganz unvorhersehbar variiert. Eine solche deterministischchaotische Mischdynamik wurde in den sechziger Jahren denn auch erstmals vom amerikanischen Meteorologen Edward Lorenz mit einem System von drei Differentialgleichungen modelliert und in einem ersten sogenannten »seltsamen Attraktor« – dem berühmten Lorenz-Attraktor – visualisiert (siehe unten, Abb. 3 d). Eine gewisse Rolle spielt dabei ebenfalls der Einfluß von Zufallsfaktoren (des sogenannten »Lärms« oder »Rauschens«, wie dieses Phänomen unter Verallgemeinerung eines Begriffs aus der Elektronik in der Physik heißt).

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Aber auch ohne einen solchen »Lärm« kann ein Potential zur Entwicklung einer in obigen Sinn chaotischen Dynamik unter bestimmten Bedingungen bereits in scheinbar ganz einfachen repetitiven Prozessen verborgen sein. Ein grundsätzlich gleichartiges Zusammenspiel von Freiheit und Gebundenheit, oder Zufall und Notwendigkeit, konnte in der Folge in zahllosen weiteren Naturerscheinungen nachgewiesen werden, von der Physik und Chemie über die Biologie bis weit in die Sozial- und Geisteswissenschaften hinein. Es spielt auch beim schon genannten Phänomen der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit oder Fraktalität eine wichtige Rolle, mit der wir uns weiter unten befassen werden. Daß ein erheblicher Teil aller natürlichen Funktionssysteme letztlich von typisch deterministisch-chaotischer und gleichzeitig auch fraktaler Struktur ist, hat sich in den letzten Jahren immer eindeutiger herausgestellt. Auch aus dieser Perspektive erscheint die Chaostheorie deshalb sowohl als Vertiefung wie auch als Weiterentwicklung der allgemeinen Systemtheorie für den Sonderbereich der nichtlinearen Dynamismen, der für psychische und soziale Phänomene von besonderem Interesse ist. Die präzise Erforschung ebenfalls von psychosozialen Systemen unter chaostheoretischen Gesichtspunkten steckt freilich noch immer in den Kinderschuhen, wofür hauptsächlich die besonderen methodologischen Schwierigkeiten verantwortlich gemacht werden müssen, die im schwer objektivierbaren Feld des Psychischen zu überwinden sind. Indes werden auch hier die Anhaltspunkte für typisch deterministischchaotische Dynamismen von fraktaler Struktur immer zahlreicher.* Die vielen Freiheitsgrade und multiplen Feedbackmechanismen, die dieses Feld charakterisieren, sprechen sogar dafür, daß im Bereich der Psyche Nichtlinearität und Unvorhersehbarkeit noch viel häufiger auftreten als in jedem anderen Gebiet der Natur – eine Annahme, die ebenfalls die Alltagsbeobachtung tausendfach zu bestätigen scheint.

* Vgl. u. a. King et al. 1983; Elkaim et al. 1987; Brunner et al. 1991; Ambühl et al. 1992; Ciompi et al. 1992c; Rössler 1992a, 1992b; Schiepek et al. 1992a, 1992b; Emrich 1992; Tschacher et al. 1992, 1994; Globus et al. 1994.

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Theoretische Grundlagen

Nichtlineare Phasensprünge, Bifurkationen und dissipative Strukturen Die klassische Physik, und die Naturwissenschaft überhaupt, gründet sich wesentlich auf das Phänomen der Linearität, das heißt der strengen Voraussehbarkeit und Berechenbarkeit von Naturvorgängen aller Art. Ein Stein fällt – zumindest theoretisch, das heißt im völlig luftleeren Raum – in linearer Abhängigkeit vom zurückgelegten Weg und der konstanten Erdanziehung mit immer gleicher Beschleunigung dem Boden zu. Ebenso gesetzmäßig bewegen sich die Himmelskörper aufgrund der vorliegenden Massen und Gravitationskräfte, dehnt sich ein Körper in Funktion seiner Erwärmung, verbreiten sich Schallwellen im Raum. Bei näherem Zusehen erweisen sich allerdings alle diese Aussagen als Idealvorstellungen, die – wie etwa die Fallgesetze im absoluten Vakuum – nur dann ganz genau zutreffen, wenn wir von den »vernachlässigbaren« Einflüssen aller möglichen größeren und kleineren Störfaktoren aus der Umgebung, die in Wirklichkeit nie völlig fehlen, absehen. Zudem kommen unabhängig von diesem »Lärm« neben linearen Entwicklungen in der Natur auch zahlreiche nichtlineare Phasensprünge vor, deren exakte Vorausberechnung und Erklärung schon wesentlich größere Schwierigkeiten bereitet. So geht Wasser bei Temperaturen am Siede- oder Gefrierpunkt sprunghaft von der flüssigen in die gasförmige oder feste Phase über. Eine Lawine reißt sich los, ein Gasgemisch explodiert, ein Blitz durchzuckt die Nacht und beschreibt dabei völlig unvorhersehbare Zickzacklinien, wenn linear steigende Spannungen einmal einen kritischen Schwellenwert erreicht und überschritten haben. Genau mit derartigen nichtlinearen Vorgängen und der Rolle, die dabei auch Zufälligkeiten im Sinn des obengenannten »Lärms« spielen, beschäftigt sich die Chaostheorie in erster Linie. Zugleich interessiert sie sich besonders für ständig wiederholte sogenannte iterative Prozesse, bei denen die in einer ersten Runde erreichte Endsituation zur Ausgangssituation für die nächste Runde wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist wiederum das Wetter. Aber auch die jährliche Zu- oder Abnahme von Pflanzen- oder Tierpopulationen unter wechselnden Umgebungseinflüssen oder ebenso – wie wir vorgreifend anmerken können – die Entfaltung psychischer und psychosozialer Prozesse von Moment zu Moment, von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr sind typisch iterative Vorgänge. Im Unterschied zu immer wieder gleichen mechanischen Abläufen (wie etwa denjenigen in einer Rotationsmaschine) sind in solchen Iterationen dauernd vielfältige Rückkoppelungsprozesse am Werk. Jede Periode beeinflußt und verändert die nachfolgende. Gewisse Störein-

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Fraktale Affektlogik

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flüsse können sich deshalb mit der Zeit potenzieren oder auch annulieren. So bauen sich unter Umständen große Spannungen auf, die die Systemdynamik weit vom Gleichgewicht hinweg- und in ganz neue »Regimes« hineintreiben. Wenn unter fortgesetzter Energiezufuhr die internen Spannungen einen kritischen Punkt erreichen, an welchem sie nicht mehr in der bisherigen Weise abgeführt (»dissipiert«) werden können, so kommt es in Systemen aller Art zu einem plötzlichen Umschlag, einer sogenannten Bifurkation in ein global neues Energieverteilungsmuster – in eine neue dissipative Struktur nach Prigogine (Prigogine u. Stengers, 1980; Babloyantz 1986; Nicolis et al. 1977). Obwohl die entstehenden Funktionsmuster systemspezifisch variieren, bleiben grundlegende Gesetzmäßigkeiten bei solchen Umschlagspunkten immer wieder dieselben. Ein vielzitiertes Paradebeispiel hierfür ist die sogenannte Bénard-Instabilität, die dann auftritt, wenn eine Flüssigkeitsschicht in einer flachen Schale von unten her aufgeheizt wird: Vor der Wärmezufuhr befand sie sich »im Gleichgewicht«, das heißt in einer konstanten Temperatur mit geringfügigen, durch die Brownsche Molekularbewegung verursachten Zufallsschwankungen. Bei fortgesetzter Erwärmung verstärken sich diese Fluktuationen zunächst linear, wobei die zugeführte Energie durch einfache Wärmeleitung von Molekül zu Molekül abgeführt wird. Am kritischen Punkt angelangt aber verändert sich die Situation schlagartig. Es treten nun plötzlich große makroskopische Konvektionsströme auf, in welchen Milliarden von erhitzten und deshalb leichteren Molekülen miteinander nach oben gerissen werden, sich dort wieder abkühlen und absinken, erneut aufsteigen, und so fort. Dabei bildet sich ein wabenförmiges Muster von sechseckigen Konvektionszellen, worin jeweils eine Zelle im Uhrzeigersinn und die Nachbarzelle gegen ihn rotiert. Bei fortgesetzter Erwärmung wird die Bewegung immer heftiger, bis sich dieses regelmäßige »dissipative Muster« wieder auflöst. An einem zweiten kritischen Punkt beginnt die Flüssigkeit schließlich zu verdampfen und damit in einem erneuten nichtlinearen Phasenübergang in eine andersartige dissipative Struktur überzugehen. Großräumige solche Konvektionszellen entstehen ebenfalls im Meer und in der Atmosphäre. Grundsätzlich ähnliche Phasenübergänge mit spezifischen Musterbildungen sind aber auch in dynamischen Systemen ganz anderer Art zu beobachten, wiederum vom physikalischen und chemischen über den biologischen bis zum psychosozialen Bereich. Besonders gut untersucht sind beispielsweise die plötzlich auftretenden farbigen Girlanden in einem chemischen Gemisch bei der sogenannten Belusow-Zhabotinski-Reaktion, die zyklischen Form-

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Theoretische Grundlagen

veränderungen des sporenbildenden Schleimpilzes Dictyostelium discoideum, die von Jahr zu Jahr unregelmäßig schwankende Populationengrößen von Räubern und Opfern – zum Beispiel Füchsen und Hasen – in den sogenannten Lotka-Volterra-Populationen (vgl. Babloyantz 1986; Peitgen et al. 1986; Seifritz 1987; Herrmann 1994). Wird ein solches System durch Erhöhung der Wachstumsraten immer weiter vom Gleichgewicht abgetrieben, so treten kaskadenartig zunehmend schneller plötzliche Bifurkationen (verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten bei gleichen Wachstumsraten) auf, bis die Systemdynamik schließlich völlig chaotisch wird (vgl. Abb. 2, graue Zonen). Dennoch ist sie durch eine einfache nichtlineare Gleichung – die berühmte, auch auf zahlreiche andere dynamische Systeme anwendbare Verhulst-Gleichung – exakt erfaßbar.

Abb. 2: Populationsgrößen bei steigenden Wachstumsraten nach der Verhulst-Gleichung: Anfänglich linear stabile Zonen (links) gehen über Kaskaden von Bifurkationen ins Chaos (graue Zonen rechts) über. Der vergrößerte Ausschnitt zeigt eine selbstähnliche Feinstruktur im Kleinen. Die hellen Streifen im Grau sind sogenannte Intermittenzen von Ordnung mitten im Chaos (aus Peitgen 1986, S. 21).

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Dem amerikanischen Physiker Mitchell Feigenbaum gelang 1978 zudem der Nachweis, daß der Faktor, um welchen sich das Intervall von einer Bifurkation zur nächsten bis zum Auftreten von Chaos verkürzt, in nichtlinearen Systemen aller Art konstant den Wert von 4,66920160… hat. Chaos tritt unter Energiezufuhr also immer wieder am selben Punkt auf. Auch diese allgemeingültige Feigenbaumsche Konstante zeigt, daß hinter einem völlig chaotisch scheinenden Geschehen überraschend deterministische Gesetzmäßigkeiten verborgen liegen können. Weitere im Chaos versteckte Ordnungspoteniale manifestieren sich in der Tatsache, daß bei zusätzlicher Steigerung der Wachsumsraten (allgemeiner formuliert: der Energiezufuhr) plötzlich mitten in den chaotischen Bereichen wiederum Streifen oder »Fenster« von Ordnung auftauchen können, die bei noch höherem Energieinput ebenso überraschend wieder verschwinden. Diese ebenfalls in Systemen beliebiger Art auftretenden sogenannten Intermittenzen (Abb. 2, helle Streifen im Grau) scheinen darauf hinzuweisen, daß komplexe Ordnungen bevorzugt in Rand- oder Zwischenzonen von chaotischen Turbulenzen zu finden sind. Prigogine ist sogar der Meinung, daß das Leben insgesamt nichts als eine solche Intermittenz zwischen dem passiven Chaos der maximalen Entropie und dem aktiven Chaos der Turbulenz weit vom Gleichgewicht darstellt. Auf neue Art scheint sich in solchen Befunden also eine seit jeher schon dem Chaos zugeschriebene Rolle als Quelle von Kreativität zu bestätigen. Bemerkenswerte Ordnungsstrukturen enthüllen sich – wie der vergrößerte Ausschnitt aus Abbildung 2 zeigt – in der Feinstruktur der Systemdynamik schließlich dann, wenn man die Randzonen des Chaos rechnerisch vergrößert. Im kleinen und kleinsten treten dabei nämlich immer wieder dieselben Verzweigungsmuster von Bifurkationen auf, wie wir sie bereits im großen gefunden hatten. Mit anderen Worten, jede solche Dynamik zeigt eine in allen Maßstäben (oder Größenordnungen, Dimensionen) gleichartige Selbstähnlichkeit – ein für die ganze Chaostheorie zentrales Phänomen, das Benoit Mandelbrot 1975 aus Gründen, die weiter unten noch genauer erklärt werden sollen, mit dem Namen »Fraktalität« belegt hat. Dimensions- beziehungsweise skalenunabhängige derartige Selbstähnlichkeiten sind inzwischen in zahlreichen natürlichen Systemen – etwa in der Formation von Gewitterwolken, Küstenlinien, Pflanzenstrukturen, Tierformen, im Bronchialbaum oder Blutgefäßsystem, aber auch in zeitlichen Rhythmen verschiedenster Art – nachgewiesen worden. Ein besonders anschauliches Beispiel für das Phänomen der »Struktur in Struktur in Struktur« bietet ebenfalls der altbekannte Blumenkohl. Die graphische Visualisierung solcher Fraktalstrukturen im

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sogenannten »Apfelmännchen« – einer ebenfalls auf der VerhulstGleichung beruhenden Darstellung von immer wieder neuen und überraschenden Selbstähnlichkeiten in den Übergangszonen zwischen Ordnung und Chaos – ist inzwischen sogar in unzähligen Variationen zum eigentlichen Wahrzeichen der Chaostheorie geworden (Peitgen et al. 1986)

Hohe Sensitivität für Anfangsbedingungen – der sogenannte Schmetterlingseffekt Die allgemeine Gültigkeit der erwähnten Dynamismen macht es sehr wahrscheinlich, daß ähnliche selbstorganisatorische Gesetzmäßigkeiten ebenfalls im Bereich der (typisch nichtlinearen) psychosozialen Prozesse am Werk sind. Enge Beziehungen zu derartigen Prozessen legt des weiteren die Tatsache nahe, daß nichtlineare Phasensprünge in Systemen verschiedenster Art analoge formale Charakteristika zeigen wie typische psychosoziale Krisen. Hier wie dort durchläuft das System zunächst eine Phase linear ansteigender Labilität, bevor ein nichtlinearer Umschlag in ein neues globales Funktionsmuster erfolgt, und hier wie dort sind im Vorfeld dieses Bifurkationspunktes typische sogenannte Fluktuationen – heftige Ausschläge der Systemdynamik zu den Extrempolen hin – zu beobachten, die die kommende Erschütterung wie ein Vorbeben ankünden. Diese Schwankungen sind einerseits auf die zunehmende Labilität des Systems selbst, andererseits aber auch auf den Einfluß des schon erwähnten Umgebungslärms zurückzuführen, für welchen das labilisierte System nun zunehmend sensibel wird. Auf die gleiche Sensibilitätssteigerung ist die bemerkenswerte Tatsache zurückzuführen, daß in allen Systemen während der Krise kleinste Ursachen unter Umständen unverhältnismäßig große Wirkungen zu zeitigen vermögen – eine eminent nichtlineare Erscheinung, die der gewohnten Proportionalität von Ursache und Wirkung kraß widerspricht. Genau dies ist aber auch charakteristisch für psychosoziale Krisen. Damit im Zusammenhang steht das ebenfalls für alle deterministisch-chaotischen Systeme typische Phänomen der hohen Sensitivität für Ausgangsbedingungen. Damit ist gemeint, daß winzige anfängliche Unterschiede sich durch zahlreiche Iterationen (repetitive Durchgänge) kumulieren und schließlich zu ganz beträchtlichen Abweichungen führen können. Die mathematische Operation, die dies zum Ausdruck bringt, wird Bäcker-Transformation genannt, da sie dem vielfach wie-

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derholten Strecken und Zusammenfalten eines gekneteten Teigs gleichkommt. Durch sie kann die Entfernung zwischen zwei anfänglich eng benachbarten Punkten – etwa zwei kleinen Körnchen oder Verunreinigungen im Teig – ständig wachsen. Umgekehrt mag sich unter Umständen der Abstand zwischen zwei ursprünglich weit auseinanderliegenden Punkten mit der Zeit enorm verringern. Der Wetterforscher Eduard Lorenz, wie erwähnt einer der Erzväter der Chaostheorie, veranschaulichte solche Erscheinungen (allzu?) drastisch im berühmten Bild des sogenannten Schmetterlingseffekts. Demnach wäre theoretisch der winzige Windhauch vom Flügelschlag eines Schmetterlings in Japan (oder wo auch immer, die Ortsbezeichnungen variieren von Autor zu Autor) unter zureichend labilisierten Bedingungen imstande, Wochen oder Monate später auf Hawaii einen Taifun auszulösen. Diese erstaunliche Behauptung geht auf eine Lorenzsche Zufallsentdeckung aus dem Jahr 1963 anläßlich der Computersimulation einer Wetterentwicklung zurück, bei welchem der Einfluß einer vermeintlich völlig vernachlässigbaren Veränderung des xten Werts einer Konstanten nach dem Komma zu unerwartet riesigen Abweichungen von einer früher mit der gleichen Formel berechneten Kurve geführt hatte, nachdem der Computer irrtümlicherweise tagelang weitergelaufen war. Dieser abweichungsverstärkende Effekt beruht auf den in der Lorenzschen Wetterformel enthaltenen Nichtlinearitäten. Diese Beobachtung bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß trotz beliebiger Erhöhung der Genauigkeit von solchen Berechnungen langfristig eine sichere Voraussage der Systemsentwicklung (konkret hier also des Wetters) illusorisch wird. Kurzfristig dagegen ist eine zuverlässige Prognose durchaus möglich. Diese eigentümliche Verbindung von Voraussagbarkeit und Unvorhersehbarkeit ist ein weiterer Ausdruck des Doppelcharakters des »deterministischen Chaos«. Die in den Bildern vom teigknetenden Bäcker oder flügelschlagenden Schmetterling dargestellte hohe Sensitivität solcher Systeme für Kleinsteinflüsse besteht in Wirklichkeit keineswegs nur am Anfang, sondern manifestiert sich bei jeder Iteration von neuem. Mit anderen Worten, nichtlineare Systeme, die eine durch sogenannte seltsame Attraktoren (s. unten) beschreibbare deterministisch-chaotische Dynamik aufweisen, sind ständig hochsensibel für Umwelteinflüsse. Sie sind damit auch hervorragende »Sensoren« für Informationen (oder Unterschiede) aller Art. Diese Tatsache ist aller Wahrscheinlichkeit nach gerade bei psychischen oder neurobiologischen Systemen, wie wir noch sehen werden, von größter Bedeutung, denn sie erst ermöglicht eine laufende flexible Feinanpassung dieser Systeme an eine fortwährend wechselnde Umwelt. Zugleich enthüllt sich in diesem infor-

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mationsverarbeitenden Potential einer derartigen Systemdynamik eine neue und besonders interessante Eigenschaft des »Chaos«.

Von Attraktoren und Repulsoren oder Energiesenken und -kuppen Attraktoren sind Bereiche im sogenannten Zustandsraum oder Phasenraum, auf welche die Systemdynamik obligat zutreibt, beziehungsweise innerhalb deren sie sich notwendigerweise abspielt. Der Zustandsraum ist ein abstrakter vieldimensionaler Raum (hyperspace), der durch die relevanten Systemvariablen aufgespannt wird. Diese können im Fall des Wetters zum Beispiel aus der Temperatur, dem Luftdruck, der Luftfeuchtigkeit, der Strahlungsintensität usw. bestehen. Der Attraktorbereich setzt sich aus sämtlichen Verlaufswegen oder Trajektorien zusammen, welche ein System unter der Wirkung von bestimmten Zwängen (constraints) in einem solchen Phasenraum iterativ zu durchlaufen vermag. Es gibt, wie die Abbildung 3 a–f zeigt, sowohl sehr einfache wie auch sehr komplexe Attraktoren. Zu ersteren gehören der Punkt- sowie der Kreisattraktor oder Grenzzyklus, zu letzteren namentlich die vorerwähnten sogenannten seltsamen Attraktoren (strange attractors), während die torus- oder autoreifenförmigen Attraktoren eine Mittelstellung einnehmen. Ein Punktattraktor (Abb. 3a) ist, wie der Name sagt, ein ausdehnungsloser Punkt im Zustandsraum, auf welchen sich die Systemdynamik obligat zubewegt und in welchem sie schließlich stillsteht. Ein einfaches Beispiel hierfür ist ein nur einmal angestoßenes Pendel, welches nach immer kleineren Ausschlägen zum Stillstand kommt. Zur Darstellung dieses Vorgangs genügt ein Zustandsraum von nur zwei Variablen oder Dimensionen, nämlich einerseits die (je nach Richtung positive oder negative) Geschwindigkeit des Pendels und andererseits deren (ebenfalls positive oder negative) Distanz von der Mittellinie. Beim Pendelschlag auf die eine oder andere Seite erreicht diese Distanz jeweils ein Maximum, während die Geschwindigkeit zu null wird. Andererseits wird in der Mittellinie (also bei einer Distanz von null) die Pendelgeschwindigkeit in die eine oder andere Richtung maximal. Im zweidimensionalen Zustrandsraum stellen sich die abnehmenden und schließlich völlig erlahmenden Ausschläge des Pendels deshalb als eine Spirale dar, die sich obligat auf einen Punkt zubewegt, in welchem sowohl die Distanz vom Nullpunkt wie auch die Geschwindigkeit zu null werden (Abb. 3a).

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a = Punktattraktor

b = Kreisattraktor (Grenzzyklus)

c = Torusattraktor

d = Lorenzattraktor

e = Rößlerattraktor

f = psychopathologischer Attraktor

Abb. 3: Verschiedene Typen von Attraktoren in einem mathematischen (a–e) und psychischen Zustandsraum (f)

Wird das Pendel dagegen beispielsweise durch eine Feder gleichmäßig angetrieben, so entsteht im gleichen Phasenraum eine Kreisfigur, die einem einfachen periodischen Kreisattraktor oder Oszillator, genannt Grenzzyklus entspricht (Abb. 3b). Trotz kleiner, beispielsweise durch äußere Erschütterungen bedingter Störungen, die die Pendelbewegung momentan etwas beschleunigen oder verlangsamen mögen, kehrt die Pendeldynamik doch immer wieder in den besagten Kreisattraktor zurück. Der immer noch regelmäßige, aber doch bereits erheblich komplizierter konfigurierte autoreifenförmige Torusattraktor (Abbildung 3c) entsteht aus einem einfachen Grenzzyklusattraktor dann, wenn dem Pendel zusätzlich zum Pendelschlag in einer Ebene noch eine Lateralbewegung in einer dritten Dimension verliehen wird. Die einfache zweidimensionale Periodizität wird dadurch sinusförmig überlagert und moduliert, was der einzelnen Trajektorie die autoreifenartige Form von Abbildung 3 c verleiht. Der »Autoreifen« wird dabei gebildet aus sämtlichen Trajektorien, die die Systemdynamik innerhalb der Grenzen eines solchen Attraktors durchlaufen kann. In allen sogenannten seltsamen oder auch chaotischen Attraktoren

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schließlich verlaufen solche Trajektorien nicht mehr regelmäßig, sondern – obzwar sie einen genau umschreibbaren Bereich ausfüllen – im einzelnen ganz unvorhersehbar. Bemerkenswert ist dabei, daß sie sich nie und nirgends schneiden, also bei jedem Umlauf etwas andere Wege einschlagen. Steigert man die Genauigkeit der Darstellung durch mathematische Vergrößerung, so splittert sich eine jede solche Einzeltrajektorie in eine beliebige Zahl von selbstähnlichen Feintrajektoren auf, die ihrerseits noch weiter aufgesplittert werden könnten – ein typischer Ausdruck der fraktalen Struktur von chaotischen Attraktoren, auf die wir noch zurückkommen werden. – Das »Seltsame« eines solchen Attraktors besteht damit unter anderem in dem Umstand, daß im großen seine Ausdehnung und Form genau angegeben werden kann, während der Verlauf einer jeden einzelnen iterativen Trajektorie von den oben beschriebenen Kleinsteinflüssen abhängt. Auch seltsame Attraktoren veranschaulichen also das Wesen eines deterministischen Chaos in eindrücklicher Weise. Solche zunehmend unregelmäßigen chaotischen Attraktoren sind in Abbildung 3 d–f gezeigt. Die Abbildungen 3 d–e betreffen durch nichtlineare mathematische Differentialgleichungen exakt beschreibbare und deshalb noch relativ regelmäßig erscheinende Abläufe, während in der Abbildung 3f ein rein empirisch gefundener iterativer Prozeß von ebenfalls chaotischer Struktur aus dem psychopathologischen Bereich (er ist gebildet aus Variablen, die den Grad der Realitätsentfremdung bei einem psychotischen Patienten erfassen; nach Tschacher et al. 1996) wiedergegeben ist. Es gibt eine unerschöpfliche Fülle von konkreten Systemdynamismen, die durch derartige Attraktoren charakterisiert sind. So bewegen sich auf einen Punktattraktor alle Systeme hin, die irgendeinmal zu einem definitiven Stillstand gelangen – neben dem besagten nicht angetriebenen Pendel also auch ein in einen Talkessel stürzender Felsblock, eine in ein Loch rollende Golfkugel oder ein zu Tode gekommenes lebendiges System. Alle streng periodischen Rhythmen, zum Beispiel die zur Zeitmessung genutzten regelmäßigen Oszillationen eines Quarzkristalls, die Bahnen der Himmelskörper oder die regelmäßigen periodischen Schwankungen von biologischen Rhythmen gehorchen dagegen (im Prinzip) Grenzzyklus-Attraktoren. Mit seltsamen Attraktoren schließlich läßt sich heute, wie schon vermerkt, die nichtlineare Dynamik einer ständig wachsenden Zahl von physikalischen, chemischen, biologischen und zunehmend auch psychosozialen Vorgängen beschreiben, von der Entwicklung von Galaxien und anderen kosmischen Erscheinungen wie der Saturnringe oder des »roten Flecks« auf dem Planeten Jupiter über die Turbulenzen in Gasen und

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Flüssigkeiten bis zu den Rösselsprüngen des Wetters, zu den den Baugesetzen von Termitenhaufen oder Großstädten, und zu den Fieberkurven der Börse. Aber auch manche zunächst streng periodisch anmutende Biorhythmen erweisen sich bei genauerem Zusehen als deterministisch-chaotisch, darunter beispielsweise die Herzrhythmen oder die Rhythmen der elektroencephalographisch registrierten Hirnströme. Eine rigide, durch sofortige Reaktion auf kleine Außeneinflüsse nicht mehr flexibel modulierbare Grenzzyklus-Periodizität dagegen wäre in beiden Bereichen dysfunktionell und krankhaft. Ganz entgegen der naiven Annahme, Chaos sei in jedem Fall schlecht, stellen deterministisch-chaotische Dynamismen dank ihrer feinen Reaktionsfähigkeit (Informationsverarbeitung) gerade in der Biologie also häufig etwas funktionell ausgeprochen Sinnvolles dar. Von großem Interesse ist des weiteren, wie früher schon angedeutet, die energetische Betrachtung von Attraktorwirkungen. Aus Punkt- oder Kreisattraktoren vermögen unter Energiezufuhr in einem dynamischen System zunehmend komplexe torusförmige und schließlich seltsame Attraktoren zu werden. Umgekehrt können sich seltsame Attraktoren oder Tori bei abnehmender Energiezufuhr zu Grenzzyklen oder Punktattraktoren entspannen. Sämtliche Attraktoren sind aber auch typische »Energiesenken«, das heißt Zustände relativ geringeren Energieaufwandes im Vergleich zu ihrem Umfeld. Mit anderen Worten, die Trajektorien innerhalb eines Attraktors entsprechen immer den Wegen des geringsten Widerstands in Anbetracht der vorliegenden Energieverhältnisse – also nichts anderem als »Lustwegen« im Sinn der im letzten Kapitel vorgeschlagenen Verallgemeinerung des Lustbegriffs. Wo es aber Senken gibt, da gibt es auch Höhen und Kuppen, und in der Tat hat die chaostheoretische Forschung innerhalb von mehrdimensionalen Zustandsräumen Bereiche (relativ) hohen Energieaufwands, auch Repulsoren genannt, ausgemacht, von denen die Systemdynamik wiederum aus Gründen des geringsten Widerstands so schnell wie möglich hinwegstrebt. Attraktorbereiche sind sowohl energiesparend wie auch relativ stabil, Repulsorbereiche dagegen energiekonsumierend und relativ unstabil. Komplex strukturierte abstrakte Phasenräume, zu denen sich Attraktoren und Repulsoren kombinieren, können deshalb durch ganze Hügellandschaften mit Mulden und Kuppen veranschaulicht werden, welche beispielsweise die Bahnen von herumrollenden Kugeln bestimmen. Ganz gleich wirkt das Relief einer Spieltrommel im Kasino auf eine darin herumrollende Kugel. Eine solche die Systemdynamik symbolisierende »Kugel« eine Zeitlang auf einer Kuppe festzuhalten – ein kaum wahrscheinlicher, aber doch nicht ganz unmöglicher Balanceakt, den alle lebenden Systeme zustande brin-

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gen – gelingt nur unter Aufbietung von listigen Tricks oder Zusatzkräften. Ein Repulsor entspricht somit einem relativ unwahrscheinlichen, weil stark energiekonsumierenden Zustand. Konkret könnte es sich dabei etwa um einen hoch aufgeschichteten schlanken Turm von Steinen oder Bauklötzen, um eine Ansammlung von sich gegenseitig befehdenden Lebewesen an ein und derselben Stelle oder, allgemeiner gesagt, auch um jede hochdifferenzierte Ordnung entgegen der allem Bestehenden bekanntlich innewohnenden Tendenz zur maximalen Unordnung (zur Entropie) handeln.

Abb. 4: Fraktal-chaotische Attraktorlandschaft mit Attraktoren A (Energiesenken) und Repulsoren R (Energiekuppen) (nach Globus 1994).

Höchst unwahrscheinlich ist, energetisch gesehen, in der Tat auch das Leben selbst, denn zum Aufrechterhalten eines lebendigen Fließgleichgewichts bedarf es beständig eines hochkomplex organisierten (beziehungsweise dissipierten) Energieflusses. Sinnreicherweise aber stellen alle biologischen dissipativen Strukturen zugleich typische Attraktoren, das heißt lokale relative Energiesenken dar, und gerade in dieser lokalen Aufrechterhaltung einer relativen Energiesenke auf einer hohen energetischen Kuppe, die die generellen Entropiegesetze unter-

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läuft, besteht, chaostheoretisch gesprochen, der ganze »Trick« des Lebens (und auf einer noch viel generelleren Betrachtungsebene letztlich wohl alles Bestehenden überhaupt). Neben Attraktoren und Repulsoren – beziehungsweise Energiesenken und -kuppen – kennt die Chaostheorie aber auch noch komplexere Konstellationen wie Sattelpunkte, Scheidelinien zwischen verschiedenen Attraktorbecken (Separatrices) und in die Länge gezogene Täler. Sattelpunkte sind halbstabile Kombinationen von attrahierenden Energiesenken mit unstabilen Repulsorzonen, auf die sich eine Systemdynamik von benachbarten Kuppen aus zunächst zubewegen mag wie auf eine Wasserscheide. Von dort mag sie dann über vorgegebene Bifurkationsmöglichkeiten in Richtung auf verschiedenartige benachbarte Tal- beziehungsweise Attraktorbecken hin abdriften. Da die Grenzen solcher Becken, von nahe besehen, genauso hochkomplex verlaufen können wie diejenigen der früher erwähnten Randzonen des Chaos, erfolgen Entscheidungen in der halbstabilen Übergangszone von einem Attraktor zum anderen wiederum sensitiv für Kleinsteinflüsse. In einem abstrakten Phasenraum von derartiger Struktur lassen sich somit die vielfältigsten potentiellen Systemdynamismen zugleich abbilden. Konkret mag es in einem biologischen System dabei beispielsweise um die Frage gehen, ob bestimmte Pflanzen- oder Tierpopulationen unter gewissen Bedingungen in einer ökologischen Nische gerade noch Fuß zu fassen vermögen oder nicht, und im psychosozialen Bereich könnte eine ähnlich halbstabile Bifurkationszone etwa in Form einer komplexen Entscheidungssituation privater oder politischer Art vorliegen, von welcher aus die Entwicklung nach längerem Hin und Her dann unwiderruflich in dieser oder jener Richtung weiterrollen wird. Insgesamt kann die selbstorganisatorische Dynamik komplexer Systeme also durch komplizierte Landschaftsformationen mit Bergspitzen oder -rücken, Scheidelinien, regelmäßigen oder unregelmäßigen trichterartigen Talmulden, Tälern – sogenannte Potentiallandschaften – dargestellt werden. Die dadurch modellierbare Systemdynamik entspricht damit in erster Annäherung dem Lauf von Wasser in einem hügeligen Gelände oder (weil unter Energiezufuhr auch Aufwärtsbewegungen möglich sind) besser noch den Trajektorien der vorstehend schon zur Veranschaulichung herangezogenen rollenden Kugeln, welche sich bald unstabil auf einer Sattellinie oder gar, von äußeren Kräften vorübergehend festgehalten, auf einem Gipfelpunkt aufhalten, bald wieder sich in einem Attraktorbecken stabilisieren oder eine Zeitlang durch eine Talrinne auf ein anderes Attraktorbecken zurollen. – Allerdings haben derartige Veranschaulichungen eines

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komplizierten Systemgeschehens auch ihre Grenzen, denn abstrakte Potentiallandschaften haben oft keineswegs nur drei, sondern beliebig viele Dimensionen. Außerdem bleiben reale Landschaften zumindest kurzfristig stabil, während sich die »Reliefs« von abstrakten Potentiallandschaften dynamisch verändern können. So mögen Attraktorbecken und -täler plötzlich tiefer (attraktiver) oder Bergkuppen höher (repulsiver) werden. Gewisse Attraktormulden mögen sich abflachen oder völlig verschwinden, und andere mögen neu entstehen. Auch kann das ganze System durch fortgesetzte Energiezufuhr so stark erschüttert und labilisiert werden, daß die »rollende Kugel« plötzlich von einem tieferen Attraktorbecken über eine Schwelle in ein höheres hinaufzuschwappen vermag, und anderes mehr. Wann und wo solche »Übersprünge« von einem Attraktorbecken in ein anderes zustande kommen und was für dissipative Muster sich durch iterative Trajektorien innerhalb ein und desselben Attraktors dann konkret bilden, hängt, wie Hermann Haken in seiner »Synergetik« (der Lehre vom Zusammenwirken) allgemeingültig konzeptualisiert hat, in erster Linie von den im ganzen Geschehen wirksamen Kontroll- und Ordnungparametern ab. Kontrollparameter sind relevante Rahmenbedingungen der Systemdynamik wie beispielsweise die Temperatur oder Luftfeuchtigkeit beim Wetter oder, allgemeiner formuliert, spannungserhöhende oder -vermindernde Variablen in dynamisch sich entwickelnden Systemen. Ordnungsparameter dagegen sind umgrenzte strukturbildende Elemente, so etwa kleine lokale Wirbel oder andersartige, zunächst noch ganz periphere Nebenattraktoren, die aber unter geeigneten Bedingungen plötzlich die Oberhand gewinnen und dann das gesamte System mehr oder weniger schlagartig neu zu ordnen – oder zu »versklaven«, wie Haken dies nennt – vermögen. Nebst den schon genannten Fluktuationen kommt es nahe am Umschlagspunkt dabei interessanterweise auch zu einer charakteristischen kritischen Verlangsamung der Systemdynamik. Gleichzeitig entspricht die Versklavung eines vorher stark diversifizierten Feldes durch einen einzigen Kontrollparameter aber auch einer drastischen Komplexitätsreduktion, beziehungweise einer Einschränkung der verfügbaren Freiheitsgrade. Derartige Dynamismen sind von Haken seit den sechziger Jahren zuerst im Laser erforscht und mathematisch formalisiert worden: Anfänglich ganz diffus nach allen Richtungen strahlende Photonen geraten im Laser unter Energiezufuhr (Kontrollparameter) unter die Herrschaft einer lokal zufällig momentan etwas dominierenden Schwingung (Ordnungsparameter), die an einem kritischen Punkt dann sämtliche anderen Komponenten »versklavt« und so das abgestrahlte

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Licht in eine einzige Richtung bündelt. Von allgemeiner Bedeutung ist ferner, daß durch solche Mechanismen molekulare Prozesse (oder Informationen, wie man verallgemeinernd auch sagen kann) gewissermaßen von einer Mikroebene auf eine Makroebene transponiert und zugleich amplifiziert werden. Etwas ganz Ähnliches ist uns weiter oben bereits bei Beschreibung der Bénard-Instabilität begegnet. Grundsätzlich ganz gleichartige Versklavungsprozesse durch einen (oder eventuell auch mehrere) anfänglich ganz periphere Ordnungsparameter unter dem labilisierenden Einfluß von relevanten Kontrollparametern können in chemischen, biologischen und neuronalen Systemen aller Art stattfinden (Haken 1982, 1990, 1991). Daß, wie wir sehen werden, analoge Dynamismen auch im psychosozialen Feld eine bedeutsame Rolle spielen, überrascht deshalb wenig.

Selbstähnlichkeit oder Fraktalität in deterministischchaotischen Systemen Das Bild einer Hügel- beziehungsweise Potentiallandschaft mit Kuppen, Mulden, Sätteln und Tälern eignet sich ebenfalls hervorragend zur Veranschaulichung des Phänomens der Fraktalität, also der schon mehrfach erwähnten skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit (oder »Struktur in Struktur in Struktur«) von iterativen Vorgängen innerhalb von deterministisch- chaotischen Attraktoren. Denn auch in natürlichen Landschaften ist eine solche Selbstähnlichkeit im kleinsten wie größten oft sehr evident: Bestimmte Grundformen zum Beispiel von Erosionslandschaften, Gebirgs- und Küstenformationen oder Sanddünen wiederholen sich in winzigen Geländeausschnitten wie in großräumigsten Flug- oder Satellitenansichten. Die Chaostheorie versteht solche Grundformen wiederum als Attraktoren, in welchen sich die Systemdynamik in immer neuen Variationen von unterschiedlichster Größenordnung iterativ bewegt. Wenn wir uns einen derartigen Attraktor als trichterartige Senke in einer abstrakten Potentiallandschaft denken, in welcher eine für alle möglichen Kleinsteinflüsse sensible Kugel unter Energiezufuhr rotiert, so resultiert das Phänomen der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit aus der Tatsache, daß die kreisende Kugel bei jeder Trajektorie gezwungenermaßen eine ähnliche, aber auch – wegen ihrer Sensibilität für irgendwelche Oberflächenunregelmäßigkeiten oder andere Störfaktoren – jedesmal etwas abgewandelte Bahn beschreibt. Rotiert die Kugel mit relativ wenig Energie nahe dem Grund des Trichters, so sind ihre

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Trajektorien klein und eng, während sie auf höheren Energieniveaus naturgemäß um ein Vielfaches größer und weiter werden. Trotzdem bleibt ihre Grundgestalt auf allen denkbaren Niveaus dieselbe. Selbstähnlichkeit produzierende Algorithmen liegen nach chaostheoretischen Erkenntnissen wie gesagt der Entstehung von unzähligen natürlichen Formen zugrunde, so neben den bereits erwähnten Wolkenformationen, Landschaftsbildern, Pflanzen- oder Tierarten ebenfalls Strömungsmustern, Blatt- oder Blütenformationen, Kristallvariationen. Aber auch künstliche Erzeugnisse, so zum Beispiel das »System aller Tischformen« oder alle in einem charakteristischen Stil konstruierten Häuser einer mittelalterlichen Stadt, können im großen wie kleinen selbstähnliche Gebilde sein, die alle auf der skalenunabhängigen Anwendung von immer wieder den gleichen Grundregeln beruhen. Dasselbe gilt – um bereits auf den Bereich des Psychischen vorzugreifen – etwa vom Fühl-, Denk- und Handlungsstil einer bestimmten Person, vom Stil eines Kunstwerks, und sogar vom »Stil« eines abstrakten Denkgebäudes. Der Terminus »fraktal« (von fractus = gebrochen), mit welchem das Phänomen der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit von Benoit Mandelbrot belegt worden ist, hat mit der nicht ganzzahligen geometrischen Dimension von seltsamen Attraktoren im Zustandsraum zu tun. Die Dimension (oder genauer: »Dimensionalität«) eines Attraktors ist ein Maß für die Zahl der darin bestehenden Freiheitsgrade. Während Punkt, Linie, Fläche und Kubus beliebiger Größe die ganzzahligen Dimensionen 0, 1, 2 und 3 aufweisen, situieren sich die Dimensionen von Fraktalattraktoren irgendwo dazwischen. Sehr schön kann dies anhand der sogenannten Kochschen Kurve (oder Schneeflockenkurve) gezeigt werden, deren Konfiguration halbwegs zwischen einer Linie und einer Fläche liegt und durch die folgende iterative Operation entsteht (Abb. 5; vgl. Herrmann 1994, S. 149): Über dem mittleren Drittel einer Strecke von beliebiger Länge wird ein gleichseitiges Dreieck errichtet –, so daß nun vier gleich lange Streckenabschnitte entstehen. Bei der nächsten Iteration wird über dem mittleren Drittel eines jeden Abschnitts nochmals ein gleichseitiges Dreieck konstruiert, so daß nun 16 schon komplizierter konfigurierte Abschnitte vorliegen. In jeder nachfolgenden Iteration wird über jedem Abschnitt wiederum ein Dreieck errichtet und so weiter. Die entstehende Kurve ist nicht nur bis in ihre mikroskopischsten Verkleinerungen immer wieder selbstähnlich, sondern sie wird auch unendlich lang – genau wie (um ein oft angeführtes Beispiel eines natürlichen selbstähnlichen Gebildes zu zitieren) etwa eine Küstenlinie sich ebenfalls als unendlich lang erwiese, die man mit immer kleinerem Maßstab bis hinab auf die mikroskopische

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Ebene messen würde. Die »Dimensionalität« von solchen typisch fraktalen Gebilden läßt sich indes exakt angeben: Sie beträgt zum Beispiel bei der Schneeflockenkurve genau 1,2619 (log 4 geteilt durch log 3) und liegt damit irgendwo zwischen derjenigen einer Linie (= 1) und einer Fläche (= 2). Auch die Dimensionalität von natürlich vorkommenden Fraktalen wie Küstenlinien, Pflanzenformen, Schneeflocken und so weiter kann mit geeigneten Methoden präzise berechnet werden.

Abb. 5: Die Kochsche Kurve mit der fraktalen Dimension von 1,2619, entstanden durch die iterative Errichtung eines gleichseitigen Dreiecks auf dem Mittelabschnitt einer jeden Geraden (aus Seifritz 1987, S. 158)

Neben geometrischen gibt es, wie schon einmal vermerkt, auch zeitliche und sogar statistische Fraktale. Bei ersteren kehren – was gegenwärtig beispielsweise in computergenerierter Musik ausgenützt wird – selbstähnliche rhythmische Gestalten in verschiedensten Zeitdimensionen wieder, während in letzteren statistische Verteilungen im großen wie kleinen sich selbst ähnlich sehen. Durch analoge, aber komplexere iterative Techniken wie bei der Kochschen Kurve ist es den Chaoswissenschaftlern gelungen, selbstähnliche Gebilde künstlich zu erzeugen, die den in der Natur vorgefundenen Gelände-, Pflanzen- oder Tierformen verblüffend ähnlich sehen. Eines der ersten aufsehenerregenden Beispiele hierfür war das Farnblatt von Michael Barnsley, das im großen wie kleinen (in der Gestalt des gesamten Farnblatts wie in jedem kleinsten Federblätt-

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chen) immer wieder eine selbstähnliche Geometrie aufweist. Es entsteht durch Iteration von nur vier relativ einfachen, immer wieder gleich ablaufenden selbstorganisatorischen Operationen (Abb. 6a; nach Herrmann 1994, S. 177 ff.). Durch Kombination von mehreren solchen Fraktalen können Computer inzwischen nicht nur Bilder von ganzen Sträuchern und Bäumen, sondern auch von Tier- und Pflanzenformen von beinahe schon beliebiger Konfiguration erzeugen. Eine ständig wachsende Zahl von spektakulären Bildbänden, darunter das schon erwähnte Buch »The Beauty of Fraktals« von Peitgen und Richter (1986; s. auch Briggs 1992) macht seit einigen Jahren auch das große Publikum mit dem Begriff des Fraktals vertraut. Schon entwickelt sich auf dieser Grundlage ebenfalls eine »fraktale Computerkunst«, und sogar die Filmindustrie hat sich des Phänomens der Fraktalität zur künstlichen Erzeugung von komplizierten Phantasielandschaften und selbst von belebten Pflanzen und Tieren, wie den so wirklichkeitsnahen Dinosauriern im berühmten »Jurassic Park« von Steven Spielberg, bereits bemächtigt. Die Einsicht, daß eine riesige Zahl – und bei genügend scharfem Zusehen wohl sogar der größte Teil – von natürlichen Phänomenen eine fraktale Struktur aufweist, erfaßt somit immer neue Bereiche von Wissenschaft und Alltag. Ein Stück weit handelt es sich dabei nur um eine mathematische Neuformulierung der alten, von Goethe, Leibniz, Husserl und vielen anderen Dichtern und Denkern seit jeher auf tausenderlei Weisen formulierten intuitiven Erkenntnis, daß in jedem kleinsten Teil der Natur immer schon das Ganze, und andererseits im Ganzen auch schon jeder Teil verborgen liegt. Etwas Verwandtes hatten ebenfalls die alten Chinesen mit ihrer alles Bestehende umfassenden Yinund Janglehre im Auge. Aber auch die seinerzeit bereits in der »Affektlogik« eingehend analysierte fundamentale Tatsache, daß jede Struktur (und damit auch jedes »System«) das Produkt aus einer spezifischen Invarianz (oder Redundanz) und einer Varianz (oder Innovation) darstellt (Ciompi 1982; Kapitel 3), gehört in denselben Zusammenhang; Ausdruck oder Träger der Fraktalität sind dabei naturgemäß skalenunabhängige Invarianzen. – Von gewissen Kritikern wird die ungeheure Verbreitung von Fraktalstrukturen dem Konzept selbst zum Vorwurf gemacht: Wenn es überall gültig sei, so bedeute es soviel wie »alles und nichts« – ein absurder Vorwurf in meinen Augen, den man ja genausogut etwa der seinerzeitigen Entdeckung der (fast) durchgehenden Zellstruktur alles Lebendigen oder der Atomar- oder Molekularstruktur (fast) alles Bestehenden machen könnte. Auch deren Allgemeingültigkeit bedeutet keineswegs »so viel wie nichts«, sondern belegt vielmehr nur die enorme Tragweite der neu gewonnenen Einsicht.

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Abb. 6: Verschiedene computersimulierte fraktale Pflanzenformen a = das Farnblatt von Barnsley b–d = verschiedene Sträucher und Bäume (aus Herrmann 1994, S. 180)

Richtig ist freilich, daß der Begriff des Fraktals nicht überdehnt werden darf. Zu beachten ist insbesondere, daß eine bloße Analogie zwischen gewissen Formen noch keineswegs eine Fraktalstruktur impliziert; um eine solche handelt es sich erst, wenn tatsächlich eine dimensions- oder skalenunabhängige Selbstähnlichkeit auf unterschiedlichsten Ebenen nachgewiesen werden kann. Des weiteren ist zu berücksichtigen, daß in natürlichen Systemen in der Regel mehrere Fraktale verschiedener Größenordnung in komplexer Weise zusammenwirken. So sind am typisch fraktalen Aufbau des Bronchialbaums der Lunge mehrere von Abschnitt zu Abschnitt unterschiedliche »Unterfraktale« nachgewiesen worden (West 1986; Briggs 1992, S. 71). Ein wichtiges allgemeines Problem, das zur Zeit insbesondere innerhalb der Evolutionsforschung oft diskutiert wird, ist außerdem die Frage, ob von Fraktalität im strengen Sinn nur innerhalb eines gleichartigen Phänomenbereichs – etwa einer bestimmten Landschafts-, Pflanzen- oder Tierform – oder auch

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über solche Grenzen hinweg bis zu Systemen die Rede sein darf, die sich durch die Emergenz von grundsätzlich neuen Eigenschaften auszeichnen. Eine solche Emergenz – oder, wie Konrad Lorenz sagte, Fulguration – liegt beispielsweise beim Übergang vom Atom zum Molekül, vom Einzeller zum Vielzeller, vom Fisch zum Reptil oder vom Individuum zur Gesellschaft vor. Nie kann die höhere Ebene aus den Eigenschaften der niedrigeren restlos erklärt werden (Lorenz 1973; Riedl et al. 1980, 1994). Indessen enthält sie diese in der Regel weiterhin als Baustein und entwickelt sie durch Einführung innovativer Elemente – zum Beispiel eines neuen Bau- oder Funktionsprinzips – weiter. So zieht sich etwa ein ähnlicher zellulärer Aufbau, und zu einem guten Teil auch ein gleichartiger Organaufbau, durch fast das gesamte Tierreich. Und alle Wirbeltiere weisen einen gleichartigen Grundbauplan des Skeletts auf, obwohl innerhalb dieses Grundmusters vom Fisch zum Reptil, zum Vogel und zum niedrigeren sowie höheren Säuger immer neue Variationen und Fulgurationen auftreten. Wie weit eine Fraktalstruktur reicht, hängt offenbar ein Stück weit von der willkürlich gewählten Betrachtungsebene des Beobachter selber ab – eine etwas verwirrende Situation, wie sie ganz analog indessen seinerzeit auch schon bei der Analyse dessen, was ein typisches »System« sei, nachgewiesen worden ist (Bateson 1971).

Ein chaostheoretisch-affektlogisches Modell der Psyche Wir stehen nun vor der faszinierenden Aufgabe, die vorstehend zusammengefaßten chaostheoretischen Erkenntnisse in das im vorangegangenen Kapitel entwickelte affektlogische Modell der Psyche einzufügen (oder umgekehrt). Mit diesem Unterfangen betreten wir praktisch Neuland, denn nicht nur sind – von ersten eigenen Versuchen abgesehen (Ciompi 1982, 1988c, 1989, 1996c, 1997a, 1997b, 1997c) – affektiv-kognitive Wechselwirkungen meines Wissens bisher noch nie systematisch unter chaostheoretischen Gesichtspunkten betrachtet worden. Überhaupt sind fundierte theoretische Überlegungen wie vor allem auch empirische Befunde zur nichtlinearen Dynamik psychischer oder psychosozialer Systeme noch außerordentlich selten. Neben einigen grundsätzlichen Abhandlungen (Ciompi 1982, S. 301 ff., Emrich 1992; an der Heiden 1992, Globus 1996) und den oben schon erwähnten Untersuchungen gehören dazu vor allem Computersimulationen von normalpsychologischen oder psychopathologischen Dyna-

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mismen (King et al. 1983, Singer 1990, 1993; Tschacher et al. 1992, 1994; Schiepek et al. 1992b) sowie erste Ansätze, die Zeitstruktur von psychischen Prozessen analog wie andere komplexe Systemprozesse in einem abstrakten »psychischen Zustandsraum« darzustellen (Sabelli 1990; Globus 1994; Dauwalder 1996). Allgemeinere Ideen zu einer fraktalen Gesamtstruktur der Psyche haben darüber hinaus interessanterweise weniger die Fachpsychologen oder -psychiater als vielmehr Physiker wie Hermann Haken oder auch der Nobelpreisträger Gerd Binning entwickelt. Ersterer beschäftigt sich insbesondere mit wahrnehmungspsychologischen Aspekten, speziell dem Erkennen von Gesichtern aus kleinen »fraktalen« Fragmenten (Partialmustern), und letzterer mit dem Phänomen der Kreativität. Binning geht von einer generellen Fraktalstruktur der Evolution aus und hält auch eine Fraktalstruktur des Denkens – an einer Stelle spricht er sogar von einem »Gefühls-Verstandes-Fraktal« – schon aus Ökonomiegründen für wahrscheinlich (Haken 1981,1991; Binning 1989, S. 191, 218). Hier wie dort fehlt es jedoch – als meines Erachtens unerläßliche Voraussetzung für eine fruchtbare Integration von kognitions- und emotionspsychologischen mit chaostheoretischen Erkenntnissen – an differenzierten Modellvorstellungen nicht nur zu Aufbau und Funktion der Psyche im allgemeinen, sondern auch zum Stellenwert von affektivkognitiven Wechselwirkungen und den energetischen Funktionen der Affekte im besondern. Genau um die Erarbeitung eines solchen integrativen Modells geht es indessen sowohl in diesem Kapitel wie im vorliegenden Buch überhaupt. Zahlreiche Aspekte der Chaostheorie sind psychodynamisch von Interesse. Intuitiv wohl am wichtigsten sind darunter einerseits die vermuteten Attraktoreffekte und Fraktalstrukturen von spezifischen affektiven Befindlichkeiten, und andererseits die Vorgänge rund um den krisenhaften Umschlag von einem globalen psychischen Funktionsmuster in ein anderes – also etwa von einer »Angstlogik« in eine »Wutlogik«, aber auch von einer normalen in eine psychotische Funktionsweise, mit Einschluß möglicher »Schmetterlingseffekte«. Auf den ersten Blick scheint eine Verbindung von affektlogischen mit chaostheoretischen Konzepten deshalb nicht allzu schwierig zu sein, ja sich nach dem Gesagten geradezu aufzudrängen. So funktionieren – um zunächst nur die Grundzüge eines solchen Modells zu skizzieren – alle im vorangegangenen Kapitel als »Angstlogik«, »Wutlogik«, »Trauerlogik«, »Freudelogik« oder »Alltagslogik« bezeichneten affektspezifischen Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster ganz klar als typische Attraktoren (oder »dissipative Strukturen«), die, solange der betreffende Affekt vorherrscht, alles Wahrnehmen und Denken in ihren Bann ziehen. Man

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könnte sie auch als »affektiv-kognitive Eigenwelten« bezeichnen, auf die hin sich, einmal eingespurt, innerhalb einer spezifischen affektiven Befindlichkeit jedes Fühlen und Denken fast zwangsläufig zubewegt. Aber auch jedes andere einmal angelegte und durch spezifische emotionale Gestimmtheiten charakterisierte Denkgebäude – also jede Ideologie und Theorie mit Einschluß jener automatisierten Selbstverständlichkeiten, die wir im vorangegangenen Kapitel dem großen Bereich der »Alltagslogik« zugeordnet haben – stellt funktionell einen solchen Attraktor mit der Tendenz dar, alles in seinem Einflußkreis befindliche Fühlen, Denken und Verhalten wie ein Magnet anzuziehen. Genau besehen übt sogar noch jedes kleine einzelne »Konzept«, ja jede einzelne »gute Idee« derartige anziehende Wirkungen aus, mit dem Effekt, daß einmal gebahnte Gedankenwege in ähnlichem Kontext und Affekt in der Folge bevorzugt immer wieder durchlaufen werden. Gleichzeitig wirken freilich derartige Automatismen nur im großen ganzen, während die Feindynamik von selbstähnlichen Fühl-, Denk- und Gedankenwegen in einer bestimmten affektiven Stimmung fortwährend durch äußere Einflüsse – also durch den »Lärm« im kybernetischen Sinn – situationsgerecht abgewandelt wird. Gerade eine solche unendliche Wandelbarkeit der Feinstruktur und -dynamik innerhalb eines vorgegebenen Rahmens aber haben wir weiter oben als Charakteristikum eines »seltsamen« oder »deterministisch-chaotischen« Attraktors kennengelernt. Alles spricht deshalb dafür, daß die besagten affektspezifischen Attraktoren oder Eigenwelten fraktal-chaotisch strukturiert sein müssen. In der Tat wäre jede andere Struktur eines Attraktors (also zum Beispiel diejenigen eines Grenzzyklus oder Torus) viel zu rigide, um die flexible Vielfalt selbstähnlicher Abläufe zu produzieren, die wir im psychischen Feld ständig beobachten können. Wie weiter oben schon erklärt, vermögen zudem nur »seltsame Attraktoren« als hochsensible Sensoren oder »Informationsverarbeiter« für Umgebungseinflüsse zu funktionieren. Auch psychische und psychosoziale Abläufe (oder Fühl-, Denk- und Verhaltenstrajektorien) aller Art können und müssen deshalb, chaostheoretisch betrachtet, als selbstähnliche iterative Trajektorien in einem mehrdimensionalen abstrakten Phasen- oder Zustandsraum verstanden werden. Jede affektive Stimmung wirkt dabei als typischer Attraktor, der alles Denken und Verhalten konditioniert. Aus dem Gesamt aller Fühl-, Denk- und Verhaltensabläufe (Trajektorien), die in einem bestimmten Affekt und Kontext (beispielsweise in einer Konfliktsituation) repetitiv durchlaufen werden, entsteht in einem abstrakten affektiv-kognitiven Zustandsraum jeweils jene charakteristische Gestalt und Konfiguration, die wir als »seltsamen Attraktor« beschrieben haben.

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Wenn wir nun statt eines einzelnen solchen Attraktors (beziehungsweise Affektzustandes) die Gesamtheit aller möglichen Zustände und psychischen Bewegungen gleichzeitig ins Auge fassen, so differenziert sich auch der psychische Zustandsraum zu einer hochkomplexen Potentiallandschaft mit wandelbaren attraktiven Senken, repulsiven Kuppen und zahlreichen affekt- und kontextspezifischen Attraktorbecken, die durch Kreten und Sättel (Separatrices) voneinander getrennt sind. Durch solche individuumstypischen abstrakten »Landschaften« pflegen die selbstorganisiernden psychischen Zustände dem (Lust-)Weg des geringsten Widerstands folgend rekursiv zu »rollen«. Und die symbolische »Kugel«, die da rollt, wäre (in erster Lesung) nichts anderes als der jeweilige Aufmerksamkeits- und Bewußtseinsfokus. Die Frage bleibt allerdings offen, wie ein solcher »psychischer Zustandsraum« genau zu konstituieren wäre. Bevor wir uns mit diesem kniffligen methodologischen Problem beschäftigen, wollen wir aber noch einige zusätzliche Aspekte des anvisierten affektlogisch-chaostheoretischen Funktionsmodells der Psyche ins Auge fassen, die ebenfalls zumindest im Umriß bereits recht deutlich zutage treten. Dazu gehört namentlich die Tatsache, daß – wie schon mehrfach vermerkt – die früher besprochenen kognitionsmobilisierenden oder -bremsenden Wirkungen der Affekte eine ausgezeichnete Grundlage für eine konsequent energetische Betrachtungsweise auch von psychischen Prozessen liefern. Eine solche Betrachtungsweise spielt chaostheoretisch eine zentrale Rolle, denn erst über sie lassen sich in Systemen aller Art lineare Entwicklungen bis zu einem plötzlichen nichtlinearen Umschlag von einer dissipativen Struktur in eine andere, die jeweils entstehenden Energieverteilungsmuster sowie die Wirkungen von spezifischen Kontroll- und Ordnungsparametern hinreichend verstehen. Wiederum ist dabei die Vorstellung einer komplexen energetischen Potentiallandschaft, die sich aus der Kombination von zahlreichen Attraktoren und Repulsoren ergibt, zur Erfassung der gesamten in Frage stehenden Dynamik überaus hilfreich. Wenn wir nun annehmen, daß die Träger der »psychischen Energien« oder Kräfte – was immer man darunter, über ihre neurophysiologischen Äquivalente hinaus, auch genau verstehen mag – in erster Linie die Affekte sind, und daß zudem diese Kräfte alles Denken bewegen und organisieren, so entsteht eine weitere Brücke zwischen Affektlogik und Chaostheorie, die ungeachtet der (noch) fehlenden präzisen Meßbarkeit der besagten Energien theoretisch wie praktisch von erheblichem Interesse ist. Neben dem generellen Verständnis psychischer Abläufe und Verhaltensweisen als entspannungssuchende ökonomi-

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sche »Lustwege« oder »Unlustvermeidungswege« im weitesten Sinn erlaubt nämlich erst die energetische Betrachtungsweise, krisenhafte Veränderungen von übergeordneten Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern gleich wie nichtlineare Phasensprünge in anderen dynamischen Systemen als typisch selbstorganisatorische Phänomene zu verstehen, in welchen die insgesamt verfügbaren Affektenergien in andersartigen dissipativen Mustern auf die vorliegenden Kognitionen verteilt werden. Gewonnen ist damit gegenüber dem Herkömmlichen nicht nur ein wesentlich ganzheitlicheres, ökonomischeres und zugleich den – essentiellen – Selbstorganisationsaspekt zentral mitberücksichtigendes Verständis komplexer psychodynamischer Prozesse, sondern auch die Möglichkeit, gezielt nach den dabei wirksamen Kontroll- und Ordnungsparametern zu suchen und diese dann, einmal gefunden, eventuell auch gezielt zu beeinflussen. Darüber hinaus eröffnet erst die energetische Betrachtungsweise die – methodologisch in vielen anderen Wissenschaftsbereichen ungeheuer fruchtbare – Möglichkeit, psychosoziale Abläufe ähnlich wie andere Prozesse mathematisch zu formalisieren, mittels Computermodellen in allen möglichen Varianten zu simulieren und die Simulationsergebnisse dann systematisch mit den tatsächlich beobachteten Entwicklungen zu vergleichen. Bereits haben sich erste empirische Untersuchungen auf dieser Spur als sehr aufschlußreich erwiesen. So ließen sich etwa von uns selber seinerzeit beobachtete scheinbar regellose Langzeitverläufe von Schizophrenien mittels eines dynamischen Simulationsmodells, in welchem die Intensität von Emotionen auch als wichtiger Kontrollparameter mit einging, erstaunlich realitätsgetreu nachbilden (Schiepek 1992a). Auch krisenhafte plötzliche Umschläge der subjektiven Befindlichkeit in individullen Lebenskrisen oder in Gruppenprozessen konnten bei Berücksichtigung der Affektdimension eindrücklich dargestellt werden (Tschacher et al. 1995; Tschacher 1996). Aufgrund solcher Befunde erscheint es als höchst wahrscheinlich, daß steigende oder sinkende affektive Spannungen im psychosozialen Feld vielfach als entscheidende Kontrollparameter funktionieren, während sogenannte »fixe« oder »überwertige« Ideen als Ordnungparameter in Erscheinung treten, die bei einem Phasensprung von einem kritischen Punkt an alles Denken und Verhalten dominieren und organisieren (beziehungsweise »versklaven«, nach Haken). Besonders kraß tritt, wie wir in einem späteren Kapitel noch genauer sehen werden, die Wirkung derartiger Kontroll- und Ordnungsparameter im Rahmen von psychopathologischen und speziell psychotischen Störungen in Erscheinung. Steigende Affektspannungen im sozialen Umfeld scheinen gerade hier nicht selten für den plötzlichen Umschlag allen

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Fühlens, Denkens und Verhaltens von einer normalen Funktionsweise in ein alptraumartig verwirrtes und verzerrtes »Regime« verantwortlich zu sein; als typische Ordnungsparameter, die von einem bestimmten Punkt an alsbald alles Fühlen, Denken und Verhalten »versklaven«, imponieren dabei überwertige Wahnideen. Prinzipiell ganz gleichartige Prozesse lassen sich aber auch im Alltag beobachten: So mag es etwa an einem kritischen Punkt von aggressiven Spannungen zwischen zwei sich beschimpfenden Streithähnen plötzlich zum »Phasensprung« in offene Gewalttätigkeit, und bei einem kritischen Punkt der Entspannung dann wiederum zum Aufhören dieser Gewalttätigkeit kommen. Und auch hier spielen nicht selten bestimmte fixe Ideen die Rolle von typischen Ordnungsparametern, so etwa rassistische oder andersartige Vorurteile, die nach einer Labilitätsphase plötzlich alles Fühlen und Denken zu beherrschen und »versklaven« beginnen.

Methodologische Knacknüsse Prüft man freilich solche Modellvorstellungen genauer, so bleiben nach wie vor zahlreiche methodologische wie konzeptuelle Fragen offen: Was ist unter »psychischer Energie« genau zu verstehen? Aus welchen Variablen spannt sich im einzelnen der psychische Phasenraum auf? Wie ist er sowohl im allgemeinen (bei jedermann und jederzeit) wie auch im Speziellen (bei einer bestimmten Person, in einer bestimmten Situation oder Zeit etc.) genau konfiguriert? Wie entstehen überhaupt die besagten Attraktoren und Repulsoren, und sind diese tatsächlich obligat fraktal-chaotisch strukturiert? Stimmt die einfache Gleichung: affektiver Input = Energie beziehungsweise Spannungserhöhung; gibt es nicht vielmehr auch klar spannungsreduzierende Affekte? Wie ist das Verhältnis zwischen den obengenannten affektintensiven Attraktorzuständen und dem viel unspezifischeren Attraktor »Alltagslogik«? Und wie steht es angesichts von so viel Leid und Unsinn in der Welt mit dem generalisierenden Verständnis psychischer Prozesse als »Lustwege«? Und ferner: Wo bleibt das Unbewußte, wenn die Gleichsetzung der »rollenden Kugel« mit Aufmerksamkeit und Bewußtsein richtig ist? Rotiert diese »Kugel« (beziehungsweise unser Fühl-, Denk- und Verhaltensfokus) tatsächlich iterativ immerzu in selbstähnlichen Attraktorbahnen herum? Wenn ja, wie sind denn Freiheit und Kreativität zu verstehen? Und so weiter, und so weiter … Selbstverständlich ist es nicht möglich, alle diese Fragen hier zu beantworten. Mehrere von ihnen müssen wohl noch für längere Zeit

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offenbleiben, und andere werden sich erst im zweiten, speziellen Teil dieses Buches ein Stück weit klären lassen. Nur wenige von ihnen wollen wir schon jetzt kurz diskutieren. – Dazu gehört zunächst das heikle Problem der psychischen Energie. Je nach Betrachtungsebene kann man darunter ganz verschiedenartige Phänomene verstehen: Auf der phänomenologisch-psychologischen Ebene geht es dabei zunächst, genau wie umgangssprachlich und intuitiv erfaßt, um den Antrieb, der alle unsere Aktivitäten in Schwung hält und ohne den wir gar nicht leben könnten. Diese »Energie«, die man recht weitgehend wohl auch mit dem Affekt »Interesse« (arousel) und damit mit einer globalen psycho-physischen Befindlichkeit gleichsetzen darf, kann zunächst nur subjektiv erlebt werden; sie läßt sich auf diesem Niveau, wie jedermann anhand von täglich beobachtbaren Veränderungen des energetischen Zustands aus eigener Erfahrung weiß, sogar außerordentlich fein erfassen. Genauer faßbar ist dieses subjektive Erleben indessen höchstens indirekt über Selbst- oder Fremdbeurteilungen auf Schätzskalen, die letztlich ebenfalls immer nur subjektiv bleiben. – Auf der neurophysiologischen Ebene dagegen geht es bei den »Äquivalenten von Affekten« nach dem heutigen Erkenntnisstand um biochemische und bioelektrische Prozesse, die allerdings, obwohl an sich genau meßbar, einzelnen Gefühlen größtenteils noch nicht präzise zugeordnet werden können. Besonders unklar sind, wie im Unterkapitel über die biologischen Grundlagen der Affektlogik im zweiten Kapitel berichtet, nach wie vor die biochemischen Äquivalente von spezifischen Gefühlen, während ihre bioelektrischen Aspekte im EEG zum Teil schon recht genau identifiziert und auch quantifiziert werden konnten. Ein Maß für den energetischen Aufwand sind im Spektralelektroencephalogramm sowohl die Amplitude wie auch die Breite der Erregung. Es darf als sicher gelten, daß anhand von solchen und anderen neurophysiologischen Methoden der Energieaufwand von spezifischen Gefühlen über kurz oder lang noch viel präziser erfaßbar werden wird. Entsprechende kybernetische Modelle können unter Vorwegnahme einer solchen empirischen Quantifizierung indessen auch heute schon entworfen und getestet werden. Die wesentlichen Träger (oder »Vektoren«) von »psychischer Energie« sind nach meiner Auffassung, wie gesagt, immer die Affekte. Zugleich sind diese Affektenergien dynamische Träger und Vermittler von kognitiver Information. Auch der Begriff der (relevanten) Information (dessen, was in die bestehenden affektiv-kognitiven Bezugssysteme tatsächlich in-formiert wird) ist somit, affektlogisch gesehen, nie bloß als etwas Kognitives, sondern immer als etwas gleichzeitig Kognitives und Affektives zu verstehen. Informationsverdichtung oder auch

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Bewußtseinsverdichtung bedeutet also immer auch Energieverdichtung – ein interessanter Zusammenhang, der uns in einem späteren Kapitel noch zu Folgeüberlegungen im Zusammenhang mit dem Phänomen des »Geistes« anregen wird. – Von Interesse ist ferner, daß es bei fortgesetzter Erhöhung der psychischen Spannung durch zu viel Informations- beziehungsweise Energiezufuhr, chaostheoretisch ganz folgerichtig, an bestimmten Punkten obligat zum Umschlag in ein anderes globales Funktions- beziehungsweise Energiedissipationsmuster kommen muß. Verwirrend scheint im ersten Moment bloß, daß solche Umschläge, wie die Erfahrung zeigt, auch durch affektive Befindlichkeiten wie Trauer und Depression provoziert werden können, die, wie wir sahen, eher einem Zustand der Energieverarmung als einer Energieerhöhung entsprechen. Auch dies aber steht mit einer chaostheoretischen Betrachtungsweise nicht im Widerspruch, denn besagte Umschläge können prinzipiell sowohl durch eine kritische Spannungserhöhung als auch durch eine kritische Spannungsverminderung entstehen. Letzteres ist beispielsweise der Fall, wenn sich bei kritischer Verminderung der Energiezufuhr ein Torusattraktor zu einen energieärmeren Grenzzyklus oder (wenn etwa ein Pendel nicht mehr angetrieben wird) ein Grenzzyklus zu einem Punktattraktor entspannt. Einer derartigen kritischen Entspannung weit unter einen normalen Schwellenwert entsprechen im psychischen Bereich vermutlich gewisse depressive oder schizophrene Zustände von völliger Antriebslosigkeit und affektiv-kognitiver Einengung. Darüber hinaus müssen wir annehmen, daß das mittlere (homöostatische) Energieniveau selbst, um welches der psychische AlltagsZustand schwankt, gewissen Veränderungen unterworfen ist. In depressiven Zuständen zum Beispiel scheint es längerfristig erniedrigt, in maniformen Zuständen dagegen erhöht zu sein. Als längerfristige Attraktorzustände (oder Energiesenken) wirken im Rahmen derartiger Störungen jedenfalls auch Affekte, die gewöhnlich als unlustvoll erlebt werden, zum Beispiel Trauer, Depression, Angst oder Wut. Aus labilen Energiekuppen (Repulsoren) im Phasenraum würden krankhafterweise in diesem Fall recht stabile Energiesenken (Attraktoren), was das manchmal wochenlange Verweilen in hochgradig unlustvollen pathologischen Zuständen solcher Art verständlich machen könnte. Ein weiteres schwieriges Problem ist, wie schon angedeutet, dasjenige der operationalen Struktur eines abstrakten psychischen Zustandsraums überhaupt. Ein solcher Zustandsraum spannt sich, wie gesagt, aus allen für eine bestimmte Dynamik relevanten Variablen auf. Entsprechend den im Vorkapitel formulierten algorithmischen Modellvorstellungen müßte ein allgemeiner »psychischer Phasenraum« deshalb

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zunächst aus den fünf Grundgefühlen (oder »Dimensionen«) Interesse, Angst, Wut, Trauer und Freude (und je nach Problemstellung eventuell aus diesen Grobkategorien unterzuordnenden feineren Affektnuancen) sowie aus einer oder mehreren kognitiven Dimensionen bestehen. Während sich aber die relevanten Affektdimensionen (ungeachtet ihrer erst teilweisen Quantifizierbarkeit) operational noch relativ leicht auffinden lassen, erscheint die Identifikation der zugehörigen kognitiven Dimensionen wegen der unendlichen Vielfalt von möglichen Inhalten schon bedeutend schwieriger. Generelle »kognitive Variablen« gibt es, über die Erfassung von sensorischen Differenzen (beziehungsweise Differenzen von Differenzen von Differenzen) hinaus nicht; die Erfassung von spezifischen kognitiven Inhalten über repetitive derartige Unterscheidungen wäre operational wohl viel zu umständlich. Immerhin ließe sich über diesen Weg vermutlich die Entstehung eines einzelnen affektiv-kognitiven Konstrukts oder Konzepts – beispielsweise der früher besprochenen stufenweisen Entstehung des Mutterbilds und weiterer Objekt- oder Selbstrepräsentanzen beim Neugeborenen – aus einzelnen sensorischen Fragmenten, die mit bestimmten Affekten belegt werden, recht genau nachbilden. Eine wesentlich rationellere (und deshalb in einzelnen Arbeiten auch bereits konkret versuchte [vgl. z. B. Cloninger 1987; Sabelli et al. 1990; Dauwalder 1996]) Möglichkeit besteht darin, eine beschränkte Zahl von affektiven und kognitiven Variablen, die innerhalb einer spezifischen Untersuchung interessieren, im vorhinein zu bestimmen und daraus dann einen problemspezifischen affektiv-kognitiven Phasenraum zu konstituieren. Beide genannten Wege sollten, obwohl in einzelnen Aspekten methodologisch weiterhin problematisch, mit der Zeit zur Möglichkeit der Modellierung beliebiger affektiv-kognitiver Dynamismen in einem zunächst von Fall zu Fall unterschiedlich auszuspannenden und in der Folge zu generalisierenden psychischen Zustandsraum führen. Über das Konzept einer komplexen Potentiallandschaft mit veränderlichem Profil, in welcher, wie weiter oben erklärt, die Idee eines mehrdimensionalen Zustandsraums differenziert und generalisiert ist, müßten auf diese Weise schließlich alle möglichen Systemdynamismen ökonomisch darstellbar werden. Auf einer solchen Basis läßt sich denn auch die oben gestellte Frage nach dem Verhältnis zwischen Alltagslogik und spezifischeren Formen von Affektlogik relativ leicht beantworten: Der vergleichsweise emotionsflache, »ausgeglichene« Zustand des alltäglichen Fühlens, Denkens und Verhaltens entspricht dem Geschehen in einer abstrakten affektivkognitiven Potentiallandschaft, die neben flachen Senken und Kuppen auch breit ausgewalzte und zugleich reichverzweigte Täler beziehungsweise »Straßen« oder »Schienen« aufweist. Solchen breiten ener-

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getischen »Schienen« entlang bewegt sich das alltägliche Fühlen, Denken und Verhalten mehr oder weniger automatisiert mit wenig Energieaufwand und – im Vergleich zu einseitigeren Affektzuständen – relativ vielen kontextabhängigen Freiheitsgraden. Indessen können sich die darin wirksamen, kaum noch bewußten attrahierenden Senken und repulsiven Kuppen unter geeigneten (Kontroll-)Bedingungen rasch wieder vertiefen beziehungsweise erhöhen, beispielsweise über emotional besonders »sensible« sensorische Reize und Erlebnisse, die stark affektbefrachtete Erinnerungen aufwühlen, oder auch über endogene, etwa hormonell bedingte Stimmungsveränderungen. Aus der dominierenden Alltagslogik wird unter solchen Einflüssen vorübergehend dann eine viel einseitigere Angstlogik, Wutlogik, Trauer- oder Freudelogik, die indessen zur erneuten Abflachung zu einer ökonomischeren Alltagslogik hintendiert. Gewissermaßen liegen also sämtliche intensiveren Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen (beziehungsweise -attraktoren) mitten im Alltagserleben ständig bereit; umgekehrt aber enthalten auch die intensiveren Affektzustände das alltägliche, relativ emotionsflache Fühlen, Denken und Verhalten als untergründigen potentiellen Attraktor. Zur Frage, inwiefern Trajektorien im psychischen Zustandsraum immer »Lustwege« (oder weniger provokant formuliert: »Unlustvermeidungswege«) darstellen, obwohl konkrete psychische Erlebnisse oft alles andere als lustvoll sind, genügt der Hinweis auf die Entstehung aller affektiv-kognitiven Gebilde aus der Aktion: Selbst im höchsten Schmerz steckt hinter jeder Einzelaktion immer noch das Streben nach Unlustvermeidung, und das gilt, wie die Psychoanalyse gezeigt hat, durchaus auch noch für die indirekte Lustsuche über Unlust etwa in Form des alltäglich nötigen sogenannten Triebaufschubs (zum Beispiel der Notwendigkeit, zuerst hart zu arbeiten, bevor ich essen kann). In pathologischer Form sind derartige Mechanismen offenbar sogar noch im Phänomen des Masochismus wirksam. Die Auffassung von psychischen Trajektorien als »Wegen des geringsten Widerstands« paßt ebenfalls sehr gut zum chaostheoretischen Verständnis von Attraktoren als Energieminima und Repulsoren als Energiemaxima. Gordon Globus, einer der wenigen anderen Autoren, die versucht haben, chaostheoretische Erkenntnisse differenziert auf den psychischen Bereich zu übertragen, formuliert genau die gleiche Einsicht, wenn er alle psychischen Abläufe als »bedürfnisgerechte Trajektorien« (need satisfying trajectories) bezeichnet und obendrein auch die Abhängigkeit dieser Trajektorien vom jeweiligen psycho-physischen »tuning« – das heißt von der ganzheitlichen Stimmung oder Gestimmtheit des psycho-physischen Systems – betont (Gordon 1994, 1995). Wenn ich also generell die effektiv realisierten Fühl-, Denk- und Verhaltenstrajektorien als »Lust-

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wege« bezeichne, so heißt das noch lange nicht, daß alle psychischen Aktivitäten deshalb subjektiv auch explizit als Lust bewußt werden müssen. Was schließlich das Problem des Unbewußten im Rahmen des hier vorgeschlagenen affektlogisch-chaostheoretischen Modells der Psyche anbetrifft, so stellt der bewußte Aufmerksamkeits- oder Bewußtseinsfokus immer nur einen – allerdings hoch bedeutsamen – Teil des psychischen Gesamtzustandes dar, um dessen Erfassung es im vorliegenden Modell geht. Wie früher schon einmal erklärt, ist das Bewußtsein aus der Sicht der Affektlogik in erster Linie ein relativ scharfer psychischer und zugleich neurophysiologischer Fokus der Aufmerksamkeit, in welchem simultane multimodale Verarbeitungsprozesse aus verschiedenen Sinnesgebieten konstant einfließen und sich dort dann zu einem energiereichen Brennpunkt bündeln (Ciompi 1982, Kapitel 4). In diesem hellen Fokus wird vorzüglich all das bearbeitet, was in der aktuellen Situation gerade besonders wichtig und dringlich – also beispielsweise besonders neu und interessant, besonders schwierig oder auch besonders schön oder gefährlich – ist, wärend eine Unzahl von gleichzeitig automatisch nebenher laufenden »selbstverständlichen« Fühl-, Denk- und Verhaltensprozessen fast oder ganz unbewußt bleiben. Abseits vom zentralen Fokus des Bewußtseins sind im verhaltensbestimmenden Potentialfeld der Psyche also (wie ebenfalls Gordon Globus beschreibt und seinerzeit auch schon Lempp mit seinem treffenden Begriff der »Nebenrealität« und deren Rolle bei der Entstehung psychotischer Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen interessant konzeptualisiert hatte; Lempp 1973; Gordon 1994) ständig auch noch sekundäre oder periphere Attraktoren unbewußter Art am Werk. Unter veränderten Kontrollbedingungen – etwa im Traum, im Halbschlaf, unter Drogenwirkung, in der Psychose – können diese Nebenattraktoren oder -realitäten ihrerseits zu Hauptattraktoren oder -realitäten werden, das heißt das gesamte psychische Feld mitsamt dem Bewußtseinsfokus invadieren und unter Umständen kürzer- oder längerfristig richtiggehend »versklaven«. Demselben weiten Grund des Unbewußten entspringen zweifellos ebenfalls alle kreativen oder sogenannten intuitiven Prozesse, die oft genug nichts als ein plötzliches bewußtes Offenbarwerden von Zusammenhängen sind, die weitab vom normalen Aufmerksamkeitsfokus – zum Beispiel wiederum im Traum oder Halbschlaf oder während langweilig einschläfernden mechanischen Aktivitäten – zuvor unbewußt schon längst repetitiv bearbeitet und sozusagen vorgebahnt worden waren. Gerade auch dieses kreative Bahnen von neuen Fühl- und Denkwegen erscheint übrigens wiederum als ein in seinem Wesen zutiefst

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lustvoller Prozeß, was sicher in erster Linie auf die dabei geschehende Lösung von affektiv-kognitiven Spannungen durch Harmonisierung von lange Zeit quälenden oder beunruhigenden Widersprüchen zurückgeht. Mit diesem kurzen Seitenblick auf das Phänomen der Kreativität wollen wir die Diskussion der oben gestellten Fragen vorläufig abschließen. Manche von ihnen sollen, wie gesagt, im zweiten Teil des Buches noch weiter vertieft werden. Schon jetzt aber dürfte klargeworden sein, daß die Verbindung von Affektlogik und Chaostheorie zu einer neuartigen dynamischen Sichtweise von normalen wie pathologischen psychischen Prozessen hinzuführen vermag, die nicht nur neueste Erkenntnissen zum Wesen der »Psyche« aus verschiedensten Wissensgebieten integriert, sondern – wie erst im dritten Teil des Buches genauer gezeigt werden kann – auch vielfältige praktische und therapeutische Anwendungen zuläßt.

Aspekte der Fraktalität von psychischen Systemen Ein letzter und im Rahmen dieses Buches besonders bedeutsamer Aspekt des chaostheoretisch-affektlogischen Modells der Psyche betrifft die von mir postulierte durchgehende Fraktalstruktur von psychischen Erscheinungen über verschiedenste Dimensionen hinweg. Was rechtfertigt diese Behauptung? Fraktalität bedeutet, wie erläutert, Selbstähnlichkeit in kleinsten wie größten Dimensionen, »Struktur in Struktur in Struktur«. Sie liegt somit dann – und nur dann – vor, wenn es gelingt, analoge Strukturen oder Dynamismen über mehrere hierarchische Ebenen eines bestimmten Phänomens hinweg nachzuweisen. Anhaltspunkte für eine solche Fraktalstruktur finden wir im psychischen Bereich nun in der Tat in großer Zahl. Zu den wichtigsten gehören die folgenden: – Hierarchisch unter- wie übergeordnete Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme – oder »Bausteine der Psyche« – unterschiedlichster Größenordnung enthalten obligat affektive Komponenten, die mit kognitiven Elementen funktionell eng verbunden sind. Diese Affekte üben überall gleichartige allgemeine und spezifische Operatorwirkungen auf die kognitiven Elemente aus. Dies begründet skalenunabhängig selbstähnliche grundlegende affektiv-kognitive Dynamismen sowohl innerhalb von elementaren wie von hochdifferenzierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen. – Unter dem Einfluß derselben Operatorwirkungen der Affekte sind selbstähnliche affektiv-kognitive Dynamismen in ganz kurzfristigen

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wie auch in lang- und längstfristigen Sequenzen – das heißt auf allen nur möglichen zeitlichen Ebenen – zu beobachten. – Analoge Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken sind ferner auf der individuell-innerpsychischen, auf der mikrosozialen (z. B. intrafamiliären) und auf der makrosozialen (z. B. internationalen) Ebene am Werk. – Umgekehrt läßt sich jede Fühl-, Denk- und Verhaltenstrajektorie auf übergeordneter (zum Beispiel makrosozialer) Ebene in eine beliebige Zahl von selbstähnlichen Trajektorien auf unteren (zum Beispiel mikrosozialen oder individuellen) Ebenen auflösen. – Selbstähnliche affektiv-kognitive Dynamismen sind ebenfalls auf der biologischen, psychologischen und sozialen Ebene zu vermuten. Zum Teil können diese (und weitere) Selbstähnlichkeiten allerdings erst dann voll einsichtig werden, nachdem wir sie – im nachfolgenden zweiten Teil des Buches – mit ausführlichen Beispielen veranschaulicht haben werden. Indessen sollen sie schon jetzt genauer begründet werden. Daß sämtliche allgemeinen Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken innerhalb von kleinsten wie größten affektiv-kognitiven Bezugssystemen wirksam sind, ist bereits bei der Darstellung dieser Effekte im vorangegangenen Kapitel deutlich geworden. So selektioniert und mobilisiert beispielsweise ein Grundgefühl wie die Wut, ganz gleich ob es im Rahmen eines kleinen Streits um ein Spielzeug im Kindergarten, eines schon erheblich komplexeren Ehestreits oder Partnerkonflikts, einer jahrzehntelange Familien- oder Gruppenfehde oder gar eines politischen Konflikts großen und größten Ausmaßes in Erscheinung tritt, auf allen Ebenen in prinzipiell durchaus gleichartiger Weise aggressiv eingefärbte diesbezügliche Denkinhalte und Verhaltensprogramme, fokussiert und hierarchisiert die Aufmerksamkeit affektentsprechend, verbindet aufgrund der zustandsabhängigen Erinnerung den aktuellen Wutanlaß mit ähnlichen früheren zu einer durchgehenden »Wutlogik« und verdrängt zugleich alle anderen Denkinhalte weitgehend aus dem aktuellen Bewußtseinsfeld. Ganz analoge allgemeine Operatorwirkungen entfalten auf allen Ebenen auch die anderen Grundgefühle, das heißt Interesse, Angst, Trauer oder Freude und ihre unzähligen Abwandlungen. Genau dasselbe gilt für die spezifischen Operatorwirkungen der einzelnen Affekte: Angst zum Beispiel übt auf allen hierarchischen Stufen die gleichen aversiven Wirkungen auf ein kognitives Objekt beliebiger Dimension und Komplexität aus, an das sie gebunden ist – also etwa auf eine einzelne angstkonnotierte Sinneswahrnehmung, auf ein kogni-

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tives Gebilde von mittlerer Komplexität (einen bestimmten Ort, eine umschriebene Situation, eine bestimmte Person) oder auf einen hochkomplexen kognitiven Inhalt wie ein ganzes Land, eine Religion oder eine politische Ideologie. Ganz Analoges gilt wiederum für alle anderen Grundgefühle und deren zahllose Kombinationen oder Abwandlungen, also etwa für die grenzsetzenden oder aggressiv-invadierenden Wirkungen von Wut, für die lösenden Wirkungen der Trauer oder die bindenden Wirkungen von Freude und Liebe. Auf den prinzipiell immer gleichartigen Operatorwirkungen der Affekte auf die Kognition beruht ebenfalls die erwähnte Selbstähnlichkeit von affektiv-kognitiven Prozessen über alle zeitlichen Dimensionen hinweg – also beispielsweise im Rahmen einer kleinen momentanen Gedankenkette ebenso wie im Rahmen einer vielleicht über Monate und Jahre hin das Leben bestimmenden Gedankenwelt von immer gleicher Affekttönung: Momentan wie langfristig werden etwa dominierende Ängste und Sorgen die Aufmerksamkeit selektiv auf angstbesetzte und potentiell gefährliche kognitive Inhalte lenken und diese zu einer entsprechend eingefärbten umfassenden »Angstlogik« verbinden, die kurz- oder langfristig die ganze Denk- und Verhaltenshierarchie affektentsprechend organisieren wird. Ganz Analoges gilt wiederum für aggressive, traurige oder freudige Gefühle sowie für alle möglichen Zwischentöne und deren je spezielle Wirkungen. Ein anderer Aspekt derselben zeitlichen Fraktalstruktur der Psyche sind unsere habituellen Kommunikations- und Informationsverarbeitungsmuster. So spielen sich über kaum bewußte Feinwahrnehmungen und übertragungsartige Sofortsympathien oder -antipathien bei einer erstmaligen Begegnung zwischen zwei oder mehr Personen nicht selten blitzschnell bestimmte Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen ein, die in der Folge dann das ganze weitere Verhältnis zwischen den betreffenden Partnern dauerhaft bestimmen. Nicht anders bauen wir unsere langfristigen Überzeugungen (und entsprechenden Verhaltensweisen) oft aus lauter Ad-hoc-Informationen auf, die wir ähnlich affektgeleitet beim flüchtigen Zeitungslesen oder Fernsehen kaum bewußt aufnehmen. Mit der Zeit verfestigen sich solche Muster zu richtigen »Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen«, die schließlich zu festen Persönlichkeitszügen werden. Deren typisch fraktale Struktur äußert sich frappant im Umstand, daß gute Psychologen in der Lage sind, langfristig wirksame Persönlichkeitsmerkmale bereits aus kleinsten Äußerungen – im Extremfall aus einem Wort, einer Geste, einem Schriftzug – zu erschließen. Auf der selben impliziten Fraktalhypothese beruhen sämtliche projektiven Persönlichkeitstests. Letztlich muß vermutlich sogar die ganze Persönlichkeitsorganisation und Lebensführung, der permanente

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»persönliche Stil« eines Menschen als große »fraktale Gestalt« verstanden werden, in welcher das große Ganze schon im kleinsten und einzelnen angelegt und dem Kundigen auch durchaus erkennbar ist. Nicht von ungefähr haben insbesondere Dichter und Schriftsteller in immer neuen Varianten darzustellen gewußt, daß und wie in der Psyche im kleinsten schon das größte und im größten das kleinste verborgen liegt. Daß affektiv-kognitive Dynamismen auch auf individuellem, mikrosozialem und makrosozialem Niveau selbstähnlich ablaufen, zeigt sich beispielsweise daran, daß ein akuter Anfall von Jähzorn auf der individuellen Ebene oder aber von Volkszorn auf der kollektiven Ebene das individuelle oder kollektive Denken prinzipiell ganz gleichartig polarisiert und organisiert. Ebenso finden wir auf beliebigen Ebenen selbstähnliche Affektwirkungen auf das Denken über zeitlich kleinste wie größte Sequenzen wieder: So konditionieren im genannten Fall eines momentanen Jähzorns oder Volkszorns, oder auch von andersartigen ephemeren Sensationen, wie sie täglich die Spalten der Boulevardblätter füllen, bestimmte Affekte alles Denken und Verhalten von Individuen und Kollektivitäten beliebiger Größenordnung sowohl kurzfristig wie, je nach Umständen, auch langfristig. Beispiele für letzteres wäre etwa eine jahrelange persönliche oder kollektive Fehde oder ein jahrzehntelanger politischer und militärischer Konflikt wie derjenige zwischen Juden und Arabern. In jeder zeitlichen wie räumlichen Dimension sind es wiederum die gleichen emotionalen Operatorwirkungen, die selektive kognitive Inhalte zu übergeordneten kognitiven Gestalten – etwa zur Geschichte einer glücklichen oder unglücklichen Beziehung oder zur Geschichte aller je erlebten angst-, wut-, trauer-, ruhmoder schmachvollen Ereignisse – verleimen, die sie dann als Ganzes in der Erinnerung abspeichern und von dort auch je nach der (momentanen oder zeitüberdauernden) affektiven Gestimmtheit immer wieder affektgeleitet hervorholen – oder im Gegenteil verdrängen, verneinen, abspalten, projezieren. Ein typisch fraktales Phänomen von besonderem Interesse ist außerdem die schon erwähnte Tatsache, daß sich auf jedem Niveau praktisch jede einzelne Fühl-, Denk- und Verhaltenstrajektorie in eine beliebige Zahl von selbstähnlichen Untertrajektorien auflösen läßt. Genau dies hat die Chaostheorie in deterministisch-chaotischen Systemen aller Art aufgezeigt; es wird auch in den skalenunabhängigen selbstähnlichen Bifurkationsprozessen der Abbildung 2 (Seite 136) gut sichtbar. Insbesondere die Psychoanalyse hat anhand des Phänomens der multiplen Determiniertheit des Verhaltens indes längst schon in durchaus ähnlicher Weise beschrieben, daß selbst eine scheinbar ganz simple Hand-

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lung wie – um ein etwas drastisches Beispiel zu wählen – etwa die Tatsache, daß ein Lehrer einem Schüler in einem bestimmten Moment eine Ohrfeige gibt, bei genauer Untersuchung eine schier grenzenlose Komplexität enthüllen kann. Immer neue fraktale Perspektiven erschließen sich bei dem Versuch, die vielfältigen Hintergründe einer solchen elementaren Impulshandlung genau zu ergründen, von ihren Wurzeln in der persönlichen Geschichte von Lehrer wie Schüler und deren multiplen übertragungs- und gegenübertragungsmäßigen Ausläufern bis zu all ihren aktuell-situativen und sogar künftigen Implikationen. Typische Übertragungsphänomene (also in der Kindheit konditionierte typische Reaktionsweisen gegenüber Elternfiguren) sind – wie bei dieser Gelegenheit hervorgehoben zu werden verdient – überhaupt prinzipiell selbstähnlich und skalenunabhängig konfiguriert; die ganze Erscheinung der Übertragung stellt damit ein fraktales Phänomen par excellence dar. Neben dem psychoanalytischen wären aber auch noch zahlreiche andere Zugänge zum selben (Ohrfeigen-)Ereignis möglich, zum Beispiel lerntheoretische, soziodynamische oder systemische. Zusätzliche Dimensionen würden sichbar, wenn man darüber hinaus die ganze historisch-kulturelle Mikro- und Makrosituation von Lehrer wie Schüler mit einbeziehen wollte: Deren gesamte Lebenstrajektorien würden aus einer solchen Perspektive ihrerseits wiederum nur als ein fraktales Mikroelement einer um ein Vielfaches gröberen Trajektorie innerhalb des gleichen übergeordneten Fraktalattraktors erscheinen, dem auch die ominöse Ohrfeige zugehört ... Die Komplexität einer einzelnen psychosozialen Trajektorie wächst ins Uferlose, wenn man überdies die Tiefenstruktur eines jeden Affektattraktors näher in Betracht zieht. Psychoanalytische wie auch alltagspsychologische Beobachtungen lassen nämlich vermuten, daß in jedem scheinbar eindeutigen Grundgefühl in Wirklichkeit »fraktal« auch noch alle anderen Gefühle, zumindest aber die geraden Gegenteile der aktuell manifesten, untergründig mitschwingen. Etwas Derartiges klang bereits in der früher einmal erwähnten Möglichkeit an, daß die affektive Grundstimmung der Alltagslogik sämtliche übrigen Gefühlsattraktoren in abgeschwächter Form enthält. So mag in jeder Freude schon ein Quentchen Angst oder Trauer, in jeder Wut und Aggression noch ein Quentchen Liebe, in jeder Liebe ein Quantum Aggression verborgen sein – von unzähligen subtileren Gefühlsnuancen ganz zu schweigen. Freud (1910) sprach in verwandtem Zusammenhang geradezu von einer »Identität der Gegenteile«. – Nicht ganz unbegründet scheint im gleichen Zusammenhang die sich etwa dem Psychotherapeuten zuweilen aufdrängende Vermutung, daß für manche Menschen die »Summe des Unglücks« (oder auch des Glücks) recht unabhängig

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von den Umweltbedingungen im Grund immer mehr oder weniger konstant bleibt. Hierfür sprechen auch Beobachtungen in Kriegs- oder Krisenzeiten, nach denen gewisse notorische Lebenskünstler sich mitten im allgemeinen Unglück immer wieder ein kleines privates GIück zu »organisieren« wissen. Auf der anderen Seite aber zeigt gerade auch die jüngere Geschichte (der Nationalsozialismus, der Algerien- oder Vietnamkrieg, der Israel-Palästina- und der Jugoslawienkonflikt, die Wirren in Afrika …), daß unter bestimmten Umständen selbst im friedfertigsten Alltagsmenschen die fürchterlichste Gewalttätigkeit aufbrechen kann. Dies alles führt weiter zum Traum und zu jenen schon erwähnten »Neben- oder Gegenrealitäten«, die nicht nur unter der Oberfläche alle psychische Aktivität fortwährend begleiten, sondern nicht selten gewissermaßen erst die »eigentliche Realität« auszumachen scheinen. Was schließlich die möglichen Fraktalbeziehungen zwischen den wechselseitig strukturell gekoppelten Phänomenbereichen des innerpsychischen, sozialen und biologischen Geschehens anbetrifft, so spricht allein schon die im Konzept der strukturellen Koppelung implizierte gegenseitige strukturelle Angleichung von grundlegenden Mechanismen und Organisationsformen für gewisse Selbstähnlichkeiten über die Systemgrenzen hinweg. Des weiteren dürfen wir annehmen, daß auf allen drei Ebenen grundsätzlich ähnliche affektiv-kognitive Dynamismen ablaufen: Während es auf der psychologischen und sozialen Ebene individuelle oder kollektive psychische Gestimmtheiten sind, die das Denken kanalisieren und regulieren, sind es auf der biologischen Ebene die biochemischen Äquivalente solcher Stimmungen oder Grundbefindlichkeiten, die die kognitiven Funktionen in analoger Weise beeinflussen. Die implizierten drei Phänomenbereiche sind indessen von ganz unterschiedlicher Dimension und auch Qualität: Biologische Prozesse spielen sich auf mikroneuronal biochemisch-bioelektrischem Niveau ab, psychologische Prozesse dagegen laufen auf der Ebene des individuellen Bewußtseins, während soziale Prozesse innerhalb von Entitäten vor sich gehen, die von Familien und kleinen Gruppen bis zu ganzen Völkern reichen. Zusätzliche Aspekte der Fraktalität von psychischen Prozessen ließen sich theoretisch aus der Tatsache erschließen, daß, wie wir sahen, Alltagslogik, Angstlogik, Wutlogik, Trauerlogik, Freudelogik und so weiter als typische Attraktoren von deterministisch-chaotischer Struktur wirken. Allein schon der Umstand, daß in jedem spezifischen Affektzustand einerseits die ganze Fühl-, Denk- und Verhaltensdynamik im großen innerhalb eines durch die jeweilige Stimmung vorgegebenen Rahmens abläuft, im einzelnen aber hochsensitiv für Umweltreize unvorhersehbar variiert, deutet klar auf selbstähnliche iterative Prozesse

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hin. Wie weiter oben erläutert, kommen für derartige Dynamismen schon aus Kapazitätsgründen einzig sogenannte »seltsame«, das heißt deterministisch-chaotisch strukturierte Attraktoren in Frage. Seltsame oder chaotische Attraktoren aber sind, wie wir anhand des Bildes einer auf verschiedenen Energieniveaus selbstähnlich in einer Potentialsenke rotierenden Kugel erläutert haben, immer fraktal strukturiert. Jeder einzelne konkrete Fühl-, Denk- und Verhaltensablauf stellt, chaostheoretisch ausgedrückt, eine affektiv-kognitive Trajektorie im psychosozialen Zustandsraum dar. Aus der Summe solcher Einzeltrajektorien setzt sich je nach Betrachtungsebene schließlich das Gesamterleben eines Tages, eines Jahres oder auch des ganzen Lebens zusammen. So bilden sich mit der Zeit ausgedehnte vernetzte Attraktorbereiche oder becken aus, innerhalb derer spezifische kognitive Inhalte (beispielsweise eine bestimmte Person, Gruppe oder Sache betreffend) mit spezifischen Affektfärbungen verbunden bleiben. Repetitive psychische Prozesse sind darin zu komplexen »Eigenwelten« mit charakteristischen affektiv-kognitiven Verknüpfungen gebündelt. Über Zeit – etwa im Rahmen einer langdauernden Liebes- oder Haßbeziehung – verdichten sich entsprechend eingefärbte kognitive und affektive Erlebnisse zu kompakten Strängen oder »affektiv-kognitiven Schienen«, denen entlang sich der Bewußtseinsfokus dann in selbstähnlichen Mustern bewegt. Solche Muster werden damit in kurz- wie langdauernden psychischen und psychosozialen Prozessen in grundsätzlich ganz gleicher Weise sichtbar, wie Küstenlinien – um nochmals ein in der Chaostheorie oft zitiertes Schulbeispiel heranzuziehen – aus nächster Nähe oder aber aus großer Ferne etwa vom Flugzeug oder von einem hochfliegenden Satelliten aus betrachtet, immer wieder grundsätzlich die gleichen Fraktalstrukturen zeigen. Der wohl allgemeinste Ausdruck einer durchgehenden Fraktalstruktur der Psyche sind letztlich die tiefgehenden strukturellen Gemeinsamkeiten, die wir aufgrund von allgegenwärtigen affektiv-kognitiven Gesetzmäßigleiten hinter den unendlichen Abwandlungen von selbstähnlichen Fühl- und Denkweisen – oder auch »Mentalitäten«, »Sprachen«, »Dialekten« – von einem Individuum zum anderen, von einer Sozietät zur anderen und von einer Zeit zur anderen feststellen können. Insgesamt liegen jedenfalls so viele konvergierende Anhaltspunkte für eine grundlegende Fraktalstruktur der Psyche vor, daß ich es gewagt habe, die Fraktalhypothese zu einem Angelpunkt meiner ganzen Konzeptualisierung zu machen. Weitere Fraktalaspekte werden sich bei der nachfolgenden Analyse von konkreten Beispielen erschließen: Wie es für jedes Fraktal typisch ist, fördert seine genauere Betrachtung immer neue Seiten ein und desselben Grundsachverhalts zutage. Bevor ich im

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zweiten und dritten Teil des Buches auf einige dieser prinzipiell unerschöpflichen Facetten näher eingehe, will ich zum Abschluß des ersten Teils das neue Bild der Psyche, das sich aus dem Einbezug von chaostheoretischen Erkenntnissen in die Affektlogik abzeichnet, noch einmal als Ganzes zu überblicken versuchen.

Zusammenfassung und Relativierung. Die fraktale Affektlogik als Grundlage einer neuen Psychologie und Psychopathologie? Das neue Verständnis der zeitlichen Dynamik und fraktalen Struktur von psychischen Vorgängen, das sich aus der Integration von chaostheoretischen Konzepten in die Vorstellungen vom »psychischen Apparat« ergibt, wie ich sie im vorangegangenen Kapitel unter der Formel »Ein Grundgesetz, drei Phänomenbereiche, fünf Grundgefühle – und unendliche kognitive Modulationen« zusammengefaßt habe, scheint geradewegs zu einer grundsätzlich neuartigen dynamischen Psychologie und Psychopathologie insgesamt hinzuführen. Besser verständlich als bisher wird dabei insbesondere, daß und wie es unter der Wirkung von spezifischen Kontroll- und Ordnungsparametern auch innerhalb von psychischen und psychosozialen Systemen, ganz gleich wie in vielen anderen komplexen Entitäten, zu plötzlichen nichtlinearen Phasensprüngen – zu einem plötzlichen »Überschnappen« oder »Verrücken«, kann man mit Fug auch sagen – zu global andersartigen Fühl-, Denkund Verhaltensmustern kommen kann. Wenn man davon ausgeht, daß die Affekte im Bereich der Psyche als die entscheidenden Energieträger funktionieren, gewinnen affektenergetische Aspekte dabei eine zentrale Wichtigkeit: Unter Anwendung von chaostheoretischen Erkenntnissen wird es auf dieser Basis möglich, die genannten globalen Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen als umfassende Energieverteilungsmuster (spezifische affektenergetische Besetzungen des operationalen kognitiven Feldes) oder »dissipative Strukturen« im Sinn von Prigogine zu verstehen. Daraus wiederum ergibt sich, wie erklärt, die Einsicht sowohl in die deterministisch-chaotischen Attraktorwirkungen von spezifischen affektiven Zuständen wie auch in eine typische Fraktalstruktur von psychischen Prozessen aller Art. Mit Hilfe solcher Vorstellungen gelingt es also, moderne Erkenntnisse zur nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme auch für die Psychologie und Psychopathologie nutzbar zu machen. Sollten sich – was

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mehr als nur wahrscheinlich ist – die bereits sich anbahnenden Möglichkeiten der neurophysiologischen Objektivierung und Messung von kognitiven und affektiven Phänomenen zu einer umfassenden Psychoneurophysiologie weiterentwickeln, so dürften diese Vorstellungen, gebührend konsolidiert und vertieft, schon bald einmal zu einer hinreichenden theoretischen Ausgangsbasis für eine mathematische Formalisierung und damit auch Computersimulation von psychosozialen Prozessen unterschiedlichster Art werden – mit entsprechenden Möglichkeiten der praktischen Anwendung auf verschiedenste zum Beispiel therapeutische, aber auch allgemeinpsychologische und soziodynamische Phänomene. Der potentielle Anspruch einer solchen neuartigen Psychologie und Psychopathologie ist somit groß – ja vielleicht erschreckend groß, wenn wir von der Annahme ausgehen, daß affektiv-kognitive Dynamismen von der beschriebenen Art in praktisch allen psychischen Phänomenen eine Rolle spielen und sich selbstähnlich auch noch weit in den mikro- und makrosozialen Raum hinaus erstrecken. Indessen enthält das Konzept einer fraktalen Affektlogik, wie bereits im Eingangskapitel deutlich wurde, in sich selbst zugleich auch schon die Notwendigkeit seiner methodologischen Beschränkung und Relativierung. Zunächst ist nochmals zu betonen, daß es sich – allen vielfältigen empirischen Verankerungen zum Trotz – dabei nach wie vor um eine Hypothese handelt, die noch in vielen Einzelheiten verifikationsbedürftig bleibt. Darüber hinaus muß sich die fraktale Affektlogik aufgrund ihrer resolut konstruktivistischen Basis logischerweise im vorhinein auch selbst bloß als ein möglicherweise viables und vielleicht besonders ökonomisches Konstrukt betrachten, mittels welchem die disparaten Fragmente von Erkenntnis zum hochkomplexen Bereich der Psyche beim gegenwärtigen Stand des Wissens (oder vielmehr des Irrtums, wie man konsequenterweise immer sagen müsste) in einen sinnvollen Gesamtzusammenhang gebracht werden könnten. In Erinnerung zu rufen ist an dieser Stelle des weiteren, daß, wie einleitend bemerkt, unsere Aufmerksamkeit in diesem Buch in erster Linie den noch wenig erforschten Wirkungen von Affekten auf die Kognition (oder eben den »emotionalen Grundlagen des Denkens«) gilt, viel weniger dagegen den längst gut bekannten umgekehrten Wirkungen der Kogniton auf die Affekte. Auch dieser im vorhinein gewählte Fokus führt zu einer gewissen Einseitigkeit der entwickelten Perspektive, und damit zur Notwendigkeit ihrer Relativierung. Ebenfalls schon im ersten Kapitel sind wir ferner auf die unausweichlichen allgemeinen und auch persönlichen Grenzen einer jeden wissenschaftlichen Erkenntnis gestoßen, die allein schon durch den

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Umstand gegeben sind, daß die heute verfügbare Information von keinem Menschen mehr adäquat zu bewältigen ist. Solche Grenzen sind im Bereich der psychischen Problematik und ihrer vielfältigen naturwie geisteswissenschaftlichen Verflechtungen noch offensichtlicher als anderswo. Ferner postuliert ja gerade die Affektlogik, daß jedes wissenschaftliche Gedankengebäude, genau wie jede »Ideologie« überhaupt, obligat durch affektive Faktoren mitbedingt sei, das heißt notwendigerweise nur über kultur-, situations- und persönlichkeitsspezifische »affektiv-kognitive Schienen« entstehen kann, was die Allgemeingültigkeit eines jeden solchen Konstrukts weiter einschränkt. Wie viabel, ökonomisch oder, um in der Sprache der Affektlogik zu reden, im weitesten Sinn »lustvoll« ein solches Fühl- und Denkwegsystem schließlich sein mag, kann sich deshalb nur auf dem Prüfstein der Kritik, der Praxis und der Konkurrenz zu anderen möglicherweise besseren Vorschlägen erweisen. Besonders attraktiv scheint allerdings andererseits die Hypothese oder Vision einer fraktalen Affektlogik zunächst in Anbetracht der Tatsache zu sein, daß sie ja nicht nur affektive und kognitive Komponenten der Psyche, sondern (über das Konzept der strukturellen Koppelung und der dabei wirksamen bio-psychosozialen Mediatoren) auch innerpsychische, soziale und biologische Phänomene ohne Verlust ihrer Eigenständigkeit ökonomisch in einen funktionalen Gesamtzusammenhang zu bringen vermag. Viel zu einer Komplexitätsreduktion trägt ebenfalls das Konzept der Fraktalität bei, das – wie etwa der PhysikNobelpreisträger Gerd Binning (1989) feststellt – überhaupt im Begriff ist, sich zu einer interdisziplinären Metasprache zu entwickeln, die es erlaubt, scheinbar heterogene wissenschaftliche Phänomene unter übergeordneten Gesichtspunkten neu und besser zu verstehen. Die weiter oben erläuterten Algorithmen schließlich zeigen, daß es über das fraktalaffektlogische Konzept prinzipiell möglich sein sollte, ganz ähnlich wie viele andere natürliche Erscheinungen auch die unendliche Komplexität des Psychischen, ohne sie im geringsten zu verleugnen, auf wenige relativ einfache Regeln des Zusammenspiels von Affekten mit Kognitionen zurückzuführen. Im Kapitel über »Theoretische und praktische Vernetzungen« (im dritten Teil des Buches) werden wir außerdem noch diskutieren, inwiefern die fraktale Affektlogik komplexitätsreduzierende Zusammenhänge zwischen zentralen Elementen mehrerer scheinbar recht heterogener Theorien zur Psyche – darunter insbesondere der Psychoanalyse, der genetischen Epistemiologie, der systemischen Auffassung der Psycho- und Soziodynamik und der evolutionären Erkenntnistheorie – herzustellen vermag. Daß sie gleichzeitig auch mit grundlegenden

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Fraktale Affektlogik

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neurobiologischen Erkenntnissen gut übereinstimmt, wurde bereits betont. Fragen wir uns angesichts dieser potentiellen Stärken abschließend deshalb noch, was für Zukunftsperspektiven die vorgeschlagene Theorie, vorausgesetzt daß sie sich trotz der obenerwähnten Einschränkungen als »viabel« erweisen wird, in bezug auf eine neue dynamische Psychologie und Psychiatrie möglicherweise zu eröffnen vermag. Sicher müßte eine künftige Psychologie und Psychopathologie auf affektlogisch-chaostheoretischer Grundlage von den postulierten affektiv-kognitiven Wechselbeziehungen und deren linearer und nichtlinearer Dynamik ausgehen. Von besonderem Interesse würde dabei die systematische Erforschung der beschriebenen affektiv-kognitiven Bahnen oder »Schienen« sein, denen entlang sich unterschiedliche Fühl-, Denk- und Verhaltensstile, wachsenden Pflanzen- oder Tierformen nicht unähnlich, nach affektlogischen Gesetzmäßigkeiten zu individuums- oder gruppenspezifischen »Eigenwelten« entwickeln. Evoluierende Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen unterschiedlichster Art wären unter affektenergetischen Gesichtspunkten als langsam veränderliche dynamische Fließgleichgewichte oder dissipative Strukturen aufzufassen, deren Stabilität und Konfiguration von möglichst genau zu identifizierenden Kontroll- und Ordnungsparametern abhängt. Neben der phänomenologischen Analyse von empirisch beobachteten fraktal-affektlogischen Mikro- wie Makroerscheinungen müßte anhand von entsprechend formalisierten dynamischen Modellen sicher auch die Computersimulation und deren progressive Ajustierung an die Empirie in dieser neuen Psychologie und Psychopathologie eine wichtige Rolle spielen. Auch die exakte Untersuchung der postulierten Selbstähnlichkeiten von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen in psychosozialen Phänomenen unterschiedlichster Größenordnung wäre im Rahmen der Überprüfung von Grundpostulaten der fraktalen Affektlogik von großem Interesse. Daß neben psychisch-subjektiven und sozialen Phänomenen dabei immer auch neurobiologische Aspekte im Auge zu behalten wären, versteht sich bei dem integrativen Ansatz, der der fraktalen Affektlogik zugrunde liegt, von selbst. Der systematischen Erforschung und gezielten Beeinflussung der angenommenen gegenseitigen strukturellen Koppelungen zwischen dem biologischen, psychologischen und sozialen Phänomenbereich käme in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Im Sonderbereich der Psychopathologie müßte es zunächst jedenfalls darum gehen, die bestehenden psychologisch-psychiatrischen Kenntnisse ähnlich, aber weit detaillierter wie weiter oben schon angedeutet, systematisch in eine chaostheoretisch fundierte affektlogische

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Theoretische Grundlagen

Sichtweise zu integrieren. Vorab müßte also eine fraktalaffektlogisch begründete Phänomenologie aufgestellt werden, in welcher die typischen affektiv-kognitiven Muster von normalpsychologischen und pathologischen Erscheinungen aller Art genauer zu beschreiben wären, von den reaktiven und neurotischen Störungen über sogenannte Borderlinezustände (Grenzphänomene zwischen Neurosen und Psychosen) bis zu schizophren und depressiv psychotischen sowie hirnorganischen Krankheitsbildern. Aber auch die Genese, Struktur und Stabilität/Instabilität von allen möglichen Alltagphänomenen im Sinn von eingeschliffenen Fühl-, Denk- und Verhaltensgewohnheiten mit Einschluß der beschriebenen Angst-, Wut-, Trauer- oder Freudelogik müßten – unter anderem im Interesse einer vertieften Psychopathologie – mindestens so weit exploriert werden, daß die darin wirksamen Kontrollund Ordnungsparameter mitsamt den entsprechenden Entgleisungsmöglichkeiten hinreichend verstanden werden könnten. Dies wiederum sollte eine prophylaktische oder therapeutische Beeinflussung solcher Zustände auf weit präziseren Grundlagen als bisher erlauben. Des weiteren könnte es die Aufgabe einer fraktalaffektlogisch fundierten Psychologie sowie Psycho- und auch Soziopathologie sein, eine Reihe von Spezialphänomenen wie etwa die Ausbildung von eigentümlichen individuums- oder gruppenspezifischen »affektiv-kognitiven Eigenwelten« näher zu ergründen, die bisher mangels adäquater Einsicht in die organisatorisch-integratorischen Wirkungen der Affekte auf das Denken nicht zureichend verstanden wurden. Dazu gehören neben abwegigen alltagslogischen Fühl- und Denkgewohnheiten einzelner Menschen mit fließenden Übergängen vom Normalen zum Krankhaften auch politische oder religiöse Überzeugungen von Sekten oder ganzen Volksgruppen, die sich über die erwähnten affektiv-kognitiven »Schienen« mit der Zeit immer weiter vom Durchschnittsdenken und fühlen entfernen. Neben linearen Dynamismen wäre dabei namentlich auch nichtlinearen plötzlichen Übersprüngen in qualitativ andersartige Attraktorbecken, wie sie in jüngerer Zeit etwa beim abrupten Übergang von Liebe predigenden Sekten in wüste Gewalttätigkeit gegen sich selbst oder andere beobachtet worden sind, besondere Beachtung zu schenken. Unter ähnlichen Gesichtspunkten könnten schließlich ebenfalls historische und soziokulturelle, ethno- und anthropologische sowie phylo- und ontogenetisch evolutive affektiv-kognitive Prozesse einer chaostheoretisch-affektlogischen Analyse unterzogen werden. Es versteht sich von selbst, daß für ein so weitläufiges Programm – eine generellere Annahme der grundlegenden theoretischen Postulate der fraktalen Affektlogik noch einmal vorausgesetzt – eine langdauernde Anstrengung von Fachleuten verschiedenster Richtung vonnöten

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Fraktale Affektlogik

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wäre. Der Sachverhalt, den wir hier zu fassen suchen, gleicht, so will mir zuweilen scheinen, einer in Bergen von Schlacken versteckten Goldader unbekannten Ausmaßes von wiederum fraktaler Konfiguration, an der ich selbst zwar schon seit vielen Jahren herumpickle, deren Freilegung indessen die Kräfte eines einzelnen bei weitem übersteigt. Über andere Schächte sind aber, wie wir sahen, längst auch andere Wissenschaftler im Begriff, zur selben Ader vorzudringen – wenn auch nicht selten ohne überhaupt voneinander zu wissen, oder doch ohne zu realisieren, daß sie alle sich an Teilen ein und desselben Attraktorgebildes zu schaffen machen. Im nachfolgenden zweiten und dritten Teil des Buches werde ich versuchen, anhand von konkreten Beispielen den mit dem Konzept einer »fraktalen Affektlogik« eröffneten Zugang weiter zu vertiefen. Allerdings kann es dabei nur darum gehen, einigen wenigen Ausläufern des genannten fraktalen Gebildes weiter nachzuspüren, die besonders gut zugänglich und zugleich besonders interessant erscheinen. Dazu gehört, neben Beiträgen zur anvisierten Phänomenologie des Denkens (oder der »Logik«) in verschiedenen Gefühlszuständen sowie der genaueren Exploration der postulierten Selbstähnlichkeiten zwischen dem individuellen Mikro- und dem sozialen Makrobereich ebenfalls die Analyse einer Reihe von psycho- und soziopathologischen Störbildern. Den Abschluß wird die Diskussion von praktischen, theoretischen und schließlich auch ethischen Konsequenzen der erarbeiteten Sichtweise bilden.

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Zweiter Teil Facetten der fraktalen Affektlogik. Beispiele

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Fünftes Kapitel Zur Entstehung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten«

Jede Stimmung hat ihre eigne Form der Realität. O. F. Bollnow (1956, S. 118) Wer hat die Axt gestohlen? »Es war einmal ein Mann, der hatte seine Axt verloren. Er hatte seines Nachbars Sohn im Verdacht und beobachtete ihn. Die Art, wie er ging, war ganz die eines Axtdiebes; sein Gesichtsausdruck war ganz der eines Axtdiebes; aus allen seinen Bewegungen und aus seinem ganzen Wesen sprach deutlich der Axtdieb. Zufällig grub der Mann einen Graben um und fand seine Axt. Am anderen Tag sah er seinen Nachbarssohn wieder. Alle seine Bewegungen und sein ganzes Wesen hatten nichts mehr von einem Axtdieb an sich.«

Diese einem chinesischen Weisen namens Liä Dsi zugeschriebene Geschichte enthält, wenn man will, im Kern schon die ganze Affektlogik. Jedenfalls stellt sie den möglichen Ursprung einer jener attraktorartigen »Schienen« und »Eigenwelten« dar, mit deren Entstehung und Konfiguration wir uns nun anhand von Beispielen aus Beruf und Alltag, teilweise auch aus literarischen Quellen, genauer beschäftigen wollen. Als erstes betrachten wir einige Fälle von

Angst und Angstlogik »Angst« kommt von »Enge«, »Beklemmung«, was sich wesentlich auf das dabei auftretende Engegefühl im Hals und überhaupt im ganzen Körper beziehen läßt. Eine hochgradig beklemmende Einengung von Fühlen und Denken stellt zugleich ein wesentliches Merkmal einer jeden typischen »Angstlogik« dar, selbst wenn auf dem Höhepunkt der Angst vorübergehend das Gegenteil, nämlich eine übermäßige Weitung

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Facetten der fraktalen Affektlogik

des Aufmerksamkeitsfokus im Sinn des berühmten Ergreifens eines jeden beliebigen rettenden Strohhalms zu beobachten sein mag. Es gibt unzählige Formen von Angst, von einem normalpsychologisch-reaktiven bis zu einem neurotischen und psychotischen Pol. Aus einer tief hinter dem Alltagsverhalten versteckten existentiellen Lebensangst erwachsen, wie Kierkegaard und Heidegger (ähnlich wie übrigens auch Freud) vermuten, sogar alle unsere geistigen Aktivitäten und intellektuellen Konstruktionen. – Eine auf den ersten Blick zwar recht alltägliche, von nahe besehen gleichzeitig aber durchaus auch existentielle Angstsituation, deretwegen wir um sozialpsychiatrische Hilfe angegangen wurden, ist die folgende: Eine begüterte, trotz zunehmender Gedächtnisstörungen mit allen Mitteln um ihre Selbstständigkeit kämpfende 85jährige Witwe lebt vereinsamt in ihrer luxuriösen Dreizimmerwohnung mit Garten im Erdgeschoß ihrer ehemaligen Familienvilla, in der sie ihr halbes Leben verbracht hat. Sie hat panische Angst vor Einbrechern, verriegelt deshalb des Nachts siebenmal jede Tür, schließt alle Läden und jede kleinste Ritze zwischen den Vorhängen, durch die man sehen könnte, daß sie allein ist. Auch schläft sie statt im Schlafzimmer nur noch auf dem Sofa im Salon, damit der Mieter im oberen Stockwerk sie notfalls hören könnte, wenn sie angegriffen würde. Tagsüber sitzt sie, etwas zu oft mit einem Glas Wein in der Hand, vor dem Fernseher. Ihr einziger Schutz und Gesellschafter ist ein arg verwöhnter und zugleich verwahrloster alter Dackelhund, der seine Bedürfnisse auf dem Teppich verrichtet, alle Besucher wütend anfällt und damit auch noch die wöchentliche Haushaltshilfe vertreibt, die eine entfernt lebende Tochter hat organisieren können. Daß die Situation täglich unhaltbarer wird, verleugnet die alte Dame mit immer neuen Ausreden. Mittels eines auf bestehende Gedächtnisstörungen aufgepfropften gezielten »Vergessens« von Tatsachen, die gerade dies offensichtlich machen würden, weiß sie jeder Diskussion über ihre Lage geschickt auszuweichen. Hinter allen einzelnen Ängsten aber, auf die sich ihr Sinnen und Trachten eingeengt hat, sitzt – wie aus gelegentlichen Anspielungen klar zu entnehmen ist – die nur zu berechtigte Grundangst, daß bald einmal vermutlich ihre ganze bisherige Lebenssituation, und schließlich ihr Leben überhaupt, ein Ende nehmen wird.

Hier handelt es sich um eine vorwiegend situativ-lebenskritische und zugleich wohl auch durch den (zeitweise bewußt werdenden) Gedächtnisverlust mitbedingte Angst. Sie wich einem Zustand von fast permanenter Gelöstheit und Heiterkeit, nachdem es mit List und sanfter Gewalt schließlich gelungen war, die alte Frau zu einem Umzug zur erwähnten Tochter zu bewegen. Neurotische Ängste dagegen wurzeln kaum je in der aktuellen Situation, sondern in der Vergangenheit, in der Regel schon in der frühen Kindheit. Als Beispiel hierfür finden wir in einer kürzlich erschienenen Sammlung von psychopathologisch interessanten Texten von Christian Müller unter anderem den folgenden Kommentar von Hermann Hesse über seine Jugendzeit:

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Zur Entstehung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten« 181 »Wenn ich alle die Gefühle und ihren qualvollen Widerstreit auf ein Grundgefühl zurückführen und sie mit einem einzigen Namen bezeichnen sollte, so wüßte ich kein anderes Wort als Angst. Angst war es, Angst und Unsicherheit, was ich in allen jenen Stunden des gestörten Kinderglücks empfand: Angst vor Strafe, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst vor Regungen meiner Seele, die ich als verboten und verbrecherisch empfand« (Müller 1992, S. 144).

Die Spuren dieser Angst finden sich in fast allen Werken Hesses, insbesondere im »Steppenwolf«. Ebenfalls eine langfristig quälende Kindheitsangst, nämlich die »Vergiftung der Atmosphäre« in seinem Geburtstädtchen Payerne nach einem Judenmord 1942 schildert der Westschweizer Schriftsteller Jacques Chessex mit den folgenden Worten: »Für mich aber hatte die Ermordung Blochs meine Ängste verdichtet und verstärkt. Es lastete ein Gewicht auf den Feldern, den gewohnten Häusern, der Stadt. Dieses Verbrechen, das war der Krieg in Payerne selber. Alles wurde bedrohlich. Was führten die Leute hinter ihren Mauern im Schild? Man wartete auf meinen Vater im dunklen Gang zu seinem Bureau, man betäubte ihn mit Knüppelschlägen. (Es ist merkwürdig, in meinen Hirngespinsten hatte ich Angst für meinen Vater, der mir immer bedroht, immer attackiert vorkam. Die Mutter dagegen verkörperte die Sicherheit, die Dauer, eine erdnahe und lange Beharrlichkeit. Mein Vater war eine geistige Kraft, gewaltig und gefährdet. Flammenfarbig. Die Mutter ein Feld. Von dunkelgrüner Farbe.) Welche Umwege ich machen mußte, um bestimmte Gestalten zu vermeiden! Sie drängten sich meiner Phantasie um so mehr auf, als sie aus meinem Weg verschwunden waren. Die Henker lauerten überall. Ihr Blick durchbohrte uns bis auf den Grund. Man müßte ein Fuchs sein, um ihnen zu entkommen. Ihnen entfliehen in die Labyrinthe und undurchdringlichen Wälder der Träume, des Schreckens, des geheimnisvollen Einklangs zwischen der Nacht und den Bäumen. Wer geht da im Grünen? Ich kenne diesen Schritt. Er ist beruhigend. Die Nacht weicht. Aber dort sind die Feinde und die Mörder. Ein Deckel lastet auf der Stadt, schließt sie zu, isoliert sie. Dem oberflächlichen Blick zeigen sich besonnte Straßen, ein Jahrmarktsplatz, wo man das Vieh mit Halftern anbindet, ein fröhlicher Marktplatz, wo sich die Salate, die Fruchtkistchen, das Fleisch und die Eierkörbe türmen. Aber für meine Augen, meine Ohren lastet der unsichtbare Deckel. In diesem bedrohten Raum hat alles einen tragischen Sinn bekommen: Nie mehr wird der Markt harmlos sein, wie er es ehedem war. Kein Laden, kein Kreis entgeht dem Fluch. Die Ermordung Blochs hat die Luft verpestet. Er hat das ganze Leben mit einer Schicht von Ruß bedeckt, die ich nur zu deutlich wahrnehme, selbst wenn die anderen sie zu ignorieren scheinen. Jetzt weiß ich, daß diese Stadt schuldig ist. Das ist kein moralischer Begriff! Das ist etwas anderes. Das ist eine Gefahr, die sie darstellt. Ich habe Angst. Es scheint die Sonne, oder es regnet, oder es ist der rote und gelbe Herbst, gleichviel. Ich spüre eine Art von Traurigkeit, die mich nie mehr losläßt, solange wir in der Broye wohnen« (Chessex 1995, S. 70; Übersetzung von mir).

Qualität und Dauer der Ängste sind in allen drei Beispielen sehr unterschiedlich. Ähnlich variabel sind auch die Wirkungen der Angst auf das Denken, die wir als Warnung vor Gefahr und Mahnung zur Vorsicht, auch als Bewegungsimpuls »weg von« oder »Distanzierung von«

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Facetten der fraktalen Affektlogik

beschrieben hatten. Solche Operatoreffekte auf alles Denken und Wahrnehmen sind im ersten Beispiel sehr unmittelbar ersichtlich, während sie im zweiten und dritten mehr im Untergrund bleiben und, statt sich an einzelne fixe Objekte zu heften (die möglichen Einbrecher, die Türen und Fenster, durch die sie eindringen könnten), sich wie ein unsichtbarer, Distanz und Ungeborgenheit schaffender Schleier zwischen den Erzähler und sein ganzes Umfeld legen. Überall könnte man des weiteren aufzeigen, daß die Angst immer nur ein Gefühl – ein Attraktor – unter mehreren ist, die das Fühlen und Denken der handelnden Personen bestimmen. Bei der vereinsamten alten Dame zum Beispiel sind Ängste und Befürchtungen wie weggewischt, wenn sie einmal Besuch bekommt und von vergangenen Zeiten plaudert; plötzlich wird sie wieder zur charmanten Gastgeberin von einst, und auch wenn sie tagsüber ihren Garten besorgt, kann sie ganz froh und zufrieden sein. Viele ganz andere als angstbestimmte Facetten sind natürlich ebenfalls in den biographischen Notizen von Hesse oder Chessex zu finden. Aber in bestimmten Momenten – bei der alten Dame vor allem abends und nachts – wird der Angstattraktor dominant; in der flachhügeligen affektiv-kognitiven Potentiallandschaft, die, symbolisch dargestellt, tagsüber ihr Verhalten charakterisiert, höhlt sich in der Nacht gleichsam immer wieder ein tiefer und unheimlicher Trichter oder Schlund, der nun alles Fühlen und Denken verschlingt und in seine einseitig angstbestimmten Bahnen hineinzwingt. Das gemeinsame Element oder Stilmittel, das in allen drei Beispielen zur Ausbildung einer typischen Affektlogik führt, ist – wie insbesondere bei Chessex sehr deutlich wird – in erster Linie die Wahrnehmung und Verknüpfung von lauter angstselektionierten Kognitionen. Was nicht in die Angststimmung paßt, wird ausgeblendet oder umgedeutet; an sich neutrale oder sogar (wie etwa der Marktplatz von Payerne) gewöhnlich eher Fröhlichkeit verbreitende Wahrnehmungen werden samt und sonders dunkel verfärbt (»mit einer Schicht von Ruß überdeckt«, wie Chessex treffend sagt). Zugleich bildet sich aus der Repetition von immer wieder ähnlichen Einzelelementen (einzelnen selbstähnlichen Trajektorien, würden wir chaostheoretisch formulieren) ein zunehmend dichtes Netz von affektspezifischen Fühl- und Denkbahnen oder -schienen, die sich insgesamt schließlich zu einer ausgesprochenen Eigenwelt – einer durch je eigentümliche Inhalte gekennzeichnete Art des Fühlens und Denkens – verdichten und dadurch gleichzeitig abgrenzen von anderen möglichen Weisen, dieselbe Wirklichkeit zu erfassen. Wie die autobiographischen Texte von Hesse und Chessex zeigen, kann ein solcher Angstattraktor, einmal gebahnt, jahrzehntelang wirksam bleiben.

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Zur Entstehung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten« 183

Wut und Wutlogik Auch eine spezifische Ärger-, Wut- und Aggressionslogik kann sich von repetitiven Einzeltrajektoren aus über zunehmend breite Bahnen oder Schienen bis zu einer nur noch von einem einzigen Gefühl, so zum Beispiel zu einer von Haß beherrschten affektiv-kognitiven Eigenwelt entwickeln. Aggressivitätsbestimmte Attraktorkerne sind, wie wir laufend erleben, ebenfalls im Alltag in unzähligen Varianten und Ausprägungsgraden wirksam. Unter außerordentlichen Bedingungen können aber wut- und haßgeschwängerte Attraktorkerne wirbelsturmartig anwachsen und dann ungeheure Zerstörungen anrichten. Individuelle Beispiele hierfür finden wir Tag für Tag in der Boulevardpresse, und erst recht auf kollektiver Ebene fehlt es zu keiner Zeit an Exempeln von wut- und haßdominierten Entwicklungen größten Ausmaßes: Das fürchterlichste in diesem Jahrhundert ist gewiß der deutsche Nationalsozialismus; allein aus den frühen Neunzigerjahren kennen wir indessen ebenfalls von einer typischen Wut- und Angstlogik geleitete Kollektiventwicklungen schlimmster Art in Irak, Rwanda, Exjugoslawien und so weiter. Derartige Prozesse sind auch literarisch oft gestaltet worden; denken wir nur an Shakespeares Tragödien. Eine der schrecklichsten literarischen Illustrationen einer ständig eskalierenden Haß- und Rachelogik, die ich kenne, ist seine »höchst jammervolle römische Tragödie von Titus Andronicus«: Das Stück beginnt in dem Moment, wo Titus Andronicus, der siegreiche Feldherr der Römer im langwierigen Kampf gegen die Goten, mit der schönen Gotenkönigin Tamora und deren drei Söhnen als Gefangenen, aber auch mit dem Sarg eines eigenen gefallenen Sohns unter Trommeln und Trompeten in Rom einzieht. Einundzwanzig seiner ursprünglich fünfundzwanzig Söhne hat er schon auf dem »Feld der Ehre« zurückgelassen. Ungerührt vom Flehen der Mutter läßt Titus dem römischen Brauch gemäß nun den ältesten Sohn Tamoras zur Sühne töten. Die Racheund Horrortragödie, die Shakespeare von dieser Situation aus in atemberaubendem Tempo vor unseren Augen abwickelt, stellt alle modernen Gewaltstücke in den Schatten. Die listige Tamora weiß mit Hilfe des Mohren Aaron, ihres heimlichen Geliebten und wahren Ausbunds an schurkischer Grausamkeit, im Handumdrehen Titus’ Tochter Lavinia aus der Gunst des Kaisers zu verdrängen, selbst Kaiserin zu werden, und im gleichen Zug indirekt Titus »der Ehre halber« im Affekt zur Tötung des jüngsten seiner verbliebenen vier Söhne zu veranlassen. Daraufhin läßt sie nach Aarons Plan auf der Jagd den Bruder des Kaisers ermorden und die Verantwortung dafür geschickt den zwei an den Tatort gelockten Söhnen des Titus in die Schuhe schieben. Ebendort wird die arme Lavinia durch Tamoras Söhne – und mit deren ausdrücklichem Segen – grausam vergewaltigt und verstümmelt. Umsonst opfert der getäuschte alte Titus zur Rettung seiner vermeintlich schuldigen Sprößlinge die rechte Hand: Tamora schickt ihm diese zusammen mit den Köpfen der geschlachteten Söhne umgehend zurück. – Aus grenzenlosem Schmerz und Haß erwächst ihm nun aber seinerseits die Kraft, sich schrecklich an ihr zu rächen: Der alte Feld-

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Facetten der fraktalen Affektlogik

herr nützt eine letzte perfide Falle, die Tamora ihm zu stellen versucht, um deren zwei Söhne in seine Gewalt zu bringen, zu töten und ihr Fleisch dann der Mutter und ihrem kaiserlichen Gatten als Festmahl vorzusetzen. In einer abschließenden Orgie der gegenseitigen Gewalttätigkeit sterben innerhalb weniger Minuten auch noch Tamora und Lavinia, Titus selbst und der Kaiser, während der teuflische Mohr, halb in die Erde eingegraben, lebendigen Leibes verschmachten muß. Erst Titus’ letzter Sohn Lucius stellt schließlich (für wie lange?) Ordnung und Gerechtigkeit in dem aus allen Fugen geratenen Staat wieder her.

Was uns an dieser grauslichen Mordgeschichte hier besonders interessiert, ist zunächst die unerbittliche Logik von Gewalt, Haß und Grausamkeit, die Shakespeare in diesem Stück in einer wahren phänomenologischen Anthologie von sadistischer Bosheit und Heuchelei, Verleumdung, arglistiger Täuschung und sex- wie machtgieriger Manipulation über fünf Akte hin Schritt für Schritt vor uns entrollt. Mit Verbindungsfäden, die aus lauter Haß und Rachsucht gewoben sind, wird darin ein todbringendes Netz nach dem anderen gesponnen; in die Maschen dieser affektspezifischen Netze verfangen sich schließlich sämtliche Beteiligten ohne Ausnahme. Was immer auch die handelnden Personen sinnen oder tun, es ist von Aggression bestimmt: »Ich werde einen Tag finden, um sie alle abzuschlachten und ihre Partei und Familie zu vernichten, den grausamen Vater und seine verräterischen Söhne, bei denen ich um das Leben meines geliebten Sohnes flehte. Sie sollen es von mir erfahren, was es bedeutet, eine Königin vergeblich in den Straßen knien und bitten zu lassen«, kündet Tamora schon im ersten Akt an, und »Niemals mehr soll mein Herz heiteren Frohsinn kennen, bis alle Androniker beseitigt sind« im zweiten. Und mit »Kommt, kommt, wir wollen unsere Kaiserin, mit ihrem heiligen Witz dem Verbrechen und der Vergeltung geweiht, mit allem bekannt machen, was wir vorhaben« schürt Aaron beständig das gleiche Feuer (Shakespeare, »Titus Andronicus« I, 1, Verse 450–455; II, 2, Verse 488–489; II, 1, Verse 120–125).

Von Interesse ist aber auch die enge Verquickung von individuellem Fühlen und Denken mit kollektiven Parallelprozessen – ein Thema, das uns bei der Analyse der selbstähnlichen Beziehungen zwischen Mikround Makroaffektlogik noch nachhaltig beschäftigen wird. Ganz ähnliche Parallelentwicklungen sind in einem weiteren berühmten Text aus der Weltliteratur zu finden, nämlich im mittelhochdeutschen Nibelungenlied. Es soll auf Geschehnisse aus dem 6. oder 7. Jahrhundert zurückgehen, wurde wahrscheinlich um das Jahr 1200 von einem unbekannten Autor aus der Gegend des heutigen Oberösterreich schriftlich fixiert und beschreibt bei genauer Lektüre meines Erachtens keineswegs in erster Linie die von den Nationalsozialisten (wie von den germanophilen Nationalisten des 19. Jahrhunderts) für ihre Zwecke in den Vordergrund geschobene Nibelungentreue, sondern vielmehr wiederum eine unter dem Zeichen der Rache entbrennende Wut- und Aggressionslogik von einer Sturheit sondergleichen. Sie steigert sich

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Zur Entstehung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten« 185

über 39 Gesänge von noch recht harmlos scheinenden Keimen – insbesondere einer verletzenden Enthüllung Krimhilds über ihres Siegfrieds Kraft gegenüber der eifersüchtigen Schwägerin Brünhild – über mehrere Jahrzehnte Schritt um Schritt bis zu einem nicht enden wollenden fürchterlichen Gemetzel von 12 000 burgundischen Rittern durch Krimhilds Landsknechte. Insgesamt handelt es sich um eine mit Angst und Mißtrauen vermischte Variante der Wutlogik, denn immer wieder sind es die argwöhnisch-aggressiven Gedankengänge des »finsteren Hagen von Tronje«, des verhängnisvollen Beraters des schwachen Burgunderkönigs Gunther zu Worms am Rhein und eigentlichen Motors großer Teile des Geschehens, die die Handlung in Richtung auf den schlimmstmöglichen Ausgang vorantreiben. So legt Hagen in einer Frühphase des Geschehens aus Angst vor der wachsenden Popularität Siegfrieds seinem Herrn und König Gunther nahe, diesen seinen treuen Freund und Helfer in Gefahr, dem er zum Lohn seine eigene Schwester Krimhild zur Gattin gegeben hatte, durch Verrat und Meuchelmord aus dem Weg zu schaffen. Nachdem die ruchlose Tat – das gerade Gegenteil der angeblichen Treue der Nibelungen – einmal mit List und Tücke vollbracht ist, werden Krimhild auf der einen und Gunther, Brünhild, Hagen und die übrigen Burgunder auf der anderen Seite zu unversöhnlichen Feinden. Dreizehn Jahre lang sinnt die verzweifelte Frau, vorerst mitsamt dem Nibelungenschatz unter Hagens argwöhnische Kontrolle gebracht, vergebens auf Rache, bis ihr Bruder sie trotz Hagens Widerstand freigibt zur zweiten Ehe mit dem ebenfalls verwitweten Etzel aus dem fernen Hunnenland. Sie heuchelt Dankbarkeit und Liebe, aber die Rache an den einstigen Freunden und Verwandten bleibt in Wirklichkeit ihr einziger Beweggrund und Lebenszweck. Nochmals dreizehn Jahre später führt sie ihr Vorhaben schließlich unter ähnlichen Vorwänden wie diejenigen, die seinerzeit Siegfried und sie selbst in die Falle gelockt hatten, auf der Etzelsburg zum oben erwähnten schaurigen Ende.

Eine signifkante Episode aus dem grausigen Epos mag illustrieren, wie Hagens Wutlogik im einzelnen operiert: Wie die 12 000 burgundischen Ritter auf ihrem Zug vom Rhein zum angeblichen Fest auf der Etzelsburg im heutigen Ungarn an die brückenlose Donau gelangen, bringt Hagen den unschuldigen, aber sich ihm pflichtgetreu in den Weg stellenden Fährmann brutal um. Dann versucht er die Weissagung dreier Meerfrauen, wonach Gunthers Kaplan als einziger von allen Burgundern lebend nach Worms zurückkehren werde, gewaltsam zu umgehen, indem er diesen Landsmann erfolglos – er kann sich schwimmend ans andere Ufer retten und findet schließlich wieder heim – bei der Überfahrt zu ertränken sucht. Auf das hin zertrümmert Hagen aus Wut und Angst eigenhändig das (symbolisch) einzige Boot, das die Nibelungen auf der zunehmend illusorisch werdenden Rückreise über den Fluß hätte zurückbringen können. Als nächstes erschlagen Hagen und die burgundische Soldateska in der Nacht den bayrischen Markgrafen Gerwart und seine hundert Begleiter, die die Urheber des Mordes am Fährmann suchen.

Wieso diese scheinbar sinnlos aneinandergereihten und doch unerbittlich eskalierenden Verwicklungen, wenn nicht aufgrund einer in sich

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Facetten der fraktalen Affektlogik

schrecklich folgerichtigen Wut-, Angst- und Mißtrauenslogik, wie wir sie – um von der höheren Realität der Literatur zu Näherliegendem zurückzukehren – freilich in dieser Rohheit im Alltag wohl kaum je wiederfinden. Eine zwar weniger offensichtliche, aber doch in ihrem Organisationsprinzip durchaus gleichartige Wut-, Haß- oder auch nur Ärgerlogik entdecken wir indessen auch hier auf Schritt und Tritt. Denken wir bloß an ebenso banale wie bittere und nicht allzu selten tragisch ausgehende Ehe-, Berufs- oder Politstreitigkeiten, denken wir daran, wie wir in solchen Alltagskonflikten rasch einmal alles und jedes, was unser Widersacher sagt oder tut, nur noch in negativem Licht zu sehen vermögen, wie wir ständig an ihm herumnörgeln und selektiv seine sämtlichen Fehler aus einer vielleicht jahrzehntelangen gemeinsamen Vergangenheit hervorklauben, so daß sich schließlich aus all diesen Elementen ein in sich (formal-)»logisch« schön geschlossenes Ganzes ergibt. Ähnlich ist die unterschwellige Aggressivität, die immer häufiger das Verhalten des modernen Großstadtmenschen auf Autobahnen, im Einkaufshaus oder auf der Straße kennzeichnet, in mancher Hinsicht durch eine charakteristische Ärger- oder Wutlogik geprägt. Anders wäre nicht zu erklären, daß es manchmal bloß noch des berühmten Funkens im Pulverfaß bedarf, um einen wütenden Blick- oder Wortwechsel, wenn nicht Schlimmeres, zum Ausbruch zu bringen. – Im großen ist, wie schon erwähnt, eine dominante Haß- und Aggressionslogik seit über fünf Jahrzehnten beispielsweise im israelisch-palästinensischen Konflikt oder nun schon seit Jahren ebenso verheerend im Jugoslawienkonflikt am Werk. Was die Lösung derartiger Probleme so schwierig und manchmal unmöglich macht, sind keineswegs nur, und oft nicht einmal in erster Linie, die anstehenden Sachfragen. Es sind zu einem nicht geringen Teil auch die typisch affektlogischen »Selbstverständlichkeiten« der Auswahl und Verknüpfung der vorliegenden Fakten zu einem scheinbar zwingenden logischen Ganzen, dessen innere Ordnung indessen eminent durch negative Affekte bestimmt ist. Bei aller offenbaren Unsinnigkeit einer solchen Wut- und Aggressionslogik sollte allerdings nicht übersehen werden, daß – wie in einem vorangehenden Kapitel beschrieben – selbst eine aggressive Steuerung des Denkens unter Umständen durchaus sinnvoll und nötig sein kann. Aus übergeordnet evolutionärer Sicht dienen Wut und Aggression in erster Linie dem Setzen und Verteidigen von Grenzen, dem Haltgebieten gegenüber dem – evolutionär gleichermaßen sinnvollen – unbegrenzten Expansionsdrang eines jeden Lebewesens. Aufs Ganze gesehen sind Wut und Aggressivität, so verstanden, also keineswegs nur hochwirksame Zerstörungs-, sondern zugleich auch konstruktive Ordnungskräfte, die lebenswichtige Grenzen und Strukturen schaffen.

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Eine solche (auch) identitätsbegründende Funktion von Wut und Aggression läßt sich entgegen allem Anschein sogar noch in den grausigen obigen Beispielen nachweisen. Denn um die Bewahrung der gröblich verletzten persönlichen Grenzen – der persönlichen Würde oder Ehre, könnte man auch sagen – kämpfen in Shakespeares Stück nicht nur Tamora, Lavinia und Titus, sondern letztlich wohl auch alle anderen Protagonisten mit Einschluß des wegen seiner Hautfarbe verachteten und (bis er sein eigen Kind in den Armen hält) einzig noch in der maximalen Schurkerei eine Art von »negativer Identität« findenden Mohren. Ähnliches gilt im Nibelungenlied zumindest von Krimhild und Brünhild, von nahe besehen aber wohl ebenfalls für alle anderen Akteure, die ausdrücklich ja immer wieder für ihre »Ehre« (ein Codewort für die persönliche Identität und Integrität beziehungsweise das »soziale Gesicht«) als oberstes Gut kämpfen und dieses denn auch erst in und mit diesem Kampf (wieder-)gewinnen. Ihr wütendes »Bis hierher und nicht weiter!« spielt deshalb, obzwar schrecklich überschießend, auch die Rolle eines auf gerechten Ausgleich hintendierenden sozialen Regulativs. Die Frage kann aus Sicht der Affektlogik deshalb gar nicht lauten, ob, sondern vielmehr nur wie (in welcher Form und in welchem Grad) wir aggressiv sein sollen. Die Aggressivität ganz aus der Welt schaffen oder auch nur verleugnen zu wollen, wäre dagegen aus dieser Sicht eine gefährliche und von dieser zentralen Frage ablenkende Illusion. Doch mit ethischen Problemen wollen wir uns, wie früher schon gesagt, erst gegen Ende dieses Buches gezielt befassen. Halten wir hier lediglich fest, daß zu einem ganz ähnlichen Schluß während des Jugoslawienkriegs offenbar sogar der Papst gekommen ist, als er im Sommer 1995 – unseres Wissens erst- und einmalig in unserer Zeit – die Anwendung von Gegengewalt gegen die den Moslems in Sarajewo angetane Gewalt öffentlich billigte.

Trauer und Trauerlogik Die wesentlichste allgemeine Wirkung und Funktion der Trauer ist es, wie erinnerlich, Verluste aller Art zu überwinden, das heißt dysfunktionell gewordene Bindungen an bestimmte kognitive Objekte zu lösen. Psychoanalytisch wie affektenergetisch ausgedrückt, geht es darum, positive affektive Besetzungen »Faden um Faden«, wie Freud sagte, von verlorenen Objekten abzuziehen und für neue frei zu machen. Prüfen wir dies zunächst wiederum an einem Beispiel aus der Weltliteratur:

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Ebenfalls im »Titus Andronicus« stellt Shakespeare einen typischen Trauerprozeß unter anderem durch eine frappante Verlangsamung des sonst so rasanten Tempos des Geschehens dar. Echte Trauer braucht vor allem Zeit; fast die ganze lange und vergleichsweise auffällig langsame erste Szene des dritten Akts, die den Höhe- oder vielmehr Tiefpunkt von Titus’ Erniedrigung bringt, ist denn auch der Trauerarbeit gewidmet. Der unglückliche Titus beweint dabei der Reihe nach seine verlorene Kraft und Jugend, seine vergeblichen Kämpfe für Rom, seine toten zweiundzwanzig Söhne und den bevorstehenden Verlust eines dreiundzwanzigsten durch Verbannung, ferner das fehlende Gehör bei den Mächtigen und, mehr als alles andere, die Verstümmelung und Entehrung seiner geliebten Lavinia: »Es war mein Liebstes, und wer sie verwundete, hat mir weher getan, als hätte er mich tot umgebracht. Denn jetzt stehe ich wie einer auf einem Felsen, umgeben von einem tosenden Meer, der die zunehmende Flut Welle um Welle wachsen sieht und ständig wartet, wann eine neidische Woge ihn in ihr salziges Inneres herabschlingt. Auf diesem Weg sind meine unglücklichen Söhne in den Tod gegangen. Hier steht mein anderer Sohn, ein Verbannter, und hier mein Bruder und weinen über mein Leid.« »Wenn es eine Vernunft gäbe bei diesem Elend, dann könnte ich meinen Kummer in Grenzen halten. Wenn der Himmel weint, fließt dann nicht die Erde über? Wenn die Winde toben, wird dann nicht das Meer wild und droht dem Himmelsgewölbe mit hochgeschwollenem Antlitz? Und du willst einen Vernunftgrund für dieses Getöse haben? Ich bin das Meer. Höre, wie seine Seufzer blasen! Es ist das weinende Himmelsgewölbe, ich bin die Erde. Dann muß mein Meer von seinen Seufzern gerührt werden. Dann muß meine Erde mit seinen fortwährenden Tränen überschwemmt werden, überflutet und ertränkt. Denn mein Inneres kann seinen Kummer nicht verbergen, wie ein Säufer muß ich sie ausspeien. Darum gestattet mir, denn Verlierern wird gestattet, ihrem Magen mit bitterer Sprache Erleichterung zu verschaffen« (Shakespeare, »Titus Andronicus« III, 1, Verse 91–99; 219–233).

Der ohnmächtig darniederliegende Trauernde erstellt also gewissermaßen ein Inventar seines Unglücks. Zugleich nimmt er die ganze Welt (Himmel und Erde, Luft und Meer), auf die er seinen Kummer projiziert, verdüstert wahr und verbindet dann alle so verfärbten Kognitionen zu einer durchgehenden »Logik der Trauer«. In die gleiche Szene fällt obendrein noch der schaurige Hohn mit der vergeblich abgehackten Hand und den zynisch präsentierten Köpfen seiner beiden Söhne. Doch gerade dieser Tiefpunkt bringt – bemerkenswerterweise unmittelbar nach der beschriebenen Drosselung des Tempos der Handlung, die durchaus an Hakens chaostheoretisch begründete »kritische Verlangsamung« vor jedem Phasensprung erinnert – auch die Wende: Titus sieht endlich realistisch, daß sein geliebtes Rom nur noch eine »einzige Wüste von Tigern« ist, fordert seinen Bruder auf, dem gemeinsamen Unglück mannhaft ins Antlitz zu schauen, und findet aus der tiefsten

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Trauer heraus schließlich die Kraft, den letzten Sohn Lucius zu seinen früheren Feinden, den Goten, zu schicken, um dort ein Entsatzheer aufzubauen, das den Staat endlich gewaltsam vom schwärenden Krebsübel befreit. In packender Weise illustriert Shakespeares Tragödie damit auch die früher beschriebene Läuterung oder »Erkenntnis durch Leid«. Neben oder unter, ja in der dominierenden Haß- und Wutlogik des »Titus Andronicus« finden wir also auch noch ganz andere Töne: nicht nur die positive Identitätsfindung und Ehrenrettung durch Kampf und Schmerz wie oben beschrieben, sondern gleichzeitig auch die Rettung des bedrohten Staates, die heilende Kraft der tiefen Trauer, und nicht zuletzt auch die erlösende Wirkung des Mit-teilens und »Ausspeiens« von Schmerz, das »dem Magen mit bitterer Sprache Erleichterung verschafft«. Unterschwellige Vorbedingung einer jeden echten Trauer ist zudem – ganz ähnlich wie eines jeden tiefen Hasses – eine vorbestehende enge Bindung, das heißt Liebe. Daß des weiteren auch noch Hunger nach Zärtlichkeit, Sex- und Machtgier, Angst und Verzweiflung beständig in die Handlung hineinspielen, wurde bereits angedeutet. Neben den ganz im Vordergrund stehenden Wirkungen von Haß und Rache führt uns der große Dichter und Menschenkenner Shakespeare im »Titus Andronicus« also – gleich wie praktisch in allen seinen Stücken – auch die postulierte »fraktale« Beimischung sämtlicher anderer Grundgefühle zum jeweils vorherrschenden Leitaffekt vor Augen. Auch von der Trauer gibt es unzählige Formen und Abstufungen, so neben der normalen und gelungenen Trauerarbeit mit fließenden Übergängen die krankhaft mißlingende, das heißt alle Varianten der reaktiven oder neurotischen Depression bis hin zur psychotischen Melancholie. Zwei Beispiele aus dieser Übergangszone, die in der schon erwähnten Sammlung von Christian Müller den Depressionen zugezählt werden, stammen von zeitgenössischen Schweizer Schriftstellern. – Hier zunächst eine kurze Passage aus Max Frischs Roman »Montauk«: »Ein langer leichter Nachmittag: die Welt entrückt in ihre Zukunft ohne mich, und so die Verengung auf das Ich, das sich von der Gemeinsamkeit der Zukunft ausgeschlossen weiß. Es bleibt das irre Bedürfnis nach einer Frau. Ich kenne das Vakuum: wenn eine Viertelstunde, die nächste, länger erscheint als das vergangene Jahr, und dabei habe ich grad noch gemeint, ich hoffe etwas. Der Kranke in mir, der tot sein will und dazu schweigt; sein gelassenes Bedürfnis, mein Hirn an die nächste Wand zu schmettern – « (Müller 1992, S. 101).

J. E. Meyer seinerseits beschreibt in dem Roman »Die Rückfahrt« ein anderes, weniger akutes, aber nicht minder allgegenwärtiges Trauergefühl:

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»Der Anblick der Anlage löste in Berger ein Gefühl der Trauer aus, das ihn aber, wie ihm einfiel, oft beim Anblick von Sport- oder Festplätzen, vor allem wenn sie mit Menschen überfüllt waren, befiel; ein Gefühl, das er sich nur dadurch erklären konnte, daß ihm die diesbezüglichen menschlichen Aktivitäten – manchmal mit einer erschreckenden Plötzlichkeit, die ihn aus der Festfreude, in der auch er sich gerade noch befunden hatte, vollständig und endgültig herausriß – als irgendwie hilflose und unerträglich peinliche Versuche erschienen, sich über die grundsätzliche Verloren- oder Verlassenheit des Menschseins hinwegzutäuschen« (Müller 1992, S. 99).

Selektive Einengung der Aufmerksamkeit auf fehlende und verlorengegangene Objekte, Verlangsamung, Verdüsterung und Hoffnungslosigkeit vermischt mit Autoaggression (die Melancholie wird von der Psychoanalyse als auf sich selbst zurückgewendete Wut über den erlittenen Verlust verstanden) charakterisieren ganz allgemein die affektivkognitiven Eigenwelten, die sich gerade auch in der Depression oder Trauer über zahllose geringfügig variierte, ständig um die gleichen selbstähnlichen Themen kreisende Einzeltrajektorien zu breit ausgewalzten Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen weiterentwickeln. In diesen düsteren, als potente Attraktoren funktionierenden traurigen »Eigenwelten« kann alles Fühlen, Denken und Verhalten tage-, ja wochenlang gefangen bleiben. Mehr noch als der depressiven Thematik widersprechende äußere Ereignisse, die auf dem Höhepunkt von Trauer und Depression überhaupt nicht mehr wahrgenommen werden, schaffen innere Umstimmungen schließlich einen Ausweg. Nach Machleidt (1992) erfolgen solche affektiven Umstimmungen, wie berichtet, normalerweise spontan und – wenn auch mit unendlichen situations- und persönlichkeitsbedingten Variationen – mehr oder weniger gesetzmäßig im Sinn einer immer wieder von Interesse über Angst, Aggression und Trauer zu lustvoller Entspannung führenden sogenannten »Spirale der Grundgefühle.« In pathologischen Depressionen und Melancholien dagegen bleibt dieser Prozeß unter Umständen wochenlang stecken. Selbstzerstörerische Depression in heilsame Trauer – also in Liebe und Schmerz – umzuwandeln gelingt selten. Abhilfe zu bringen vermögen in schweren Depressionen höchstens noch massive psychopharmakologische oder andersartige biologische Eingriffe wie Elektroschock, Schlafentzug oder Lichttherapie. Selbst wenn wir dem Machleidtschen Schema der Affektdynamik gegenüber Vorbehalte anmelden mußten, wollen wir doch seiner »Affektspirale« weiter folgen und anhand von Beispielen nunmehr auch die vielfältigen Wirkungen von »positiven« oder »gehobenen«, das heißt von lust- und freudvollen Gefühlen auf Denken und Kognition einer genaueren Analyse unterziehen.

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Freude, Lust- und Liebeslogik Zwar sind mit »Freude«, »Lust« oder »Liebe« nur die allgemeinsten Dimensionen von positiven Gefühlen bezeichnet; aus der Nähe besehen fächert sich dieser große Gegenpol von allen unlustbetonten oder »gedrückten« Befindlichkeiten in eine schier unübersehbare Fülle von Varianten auf, deren jede das Denken wieder ein wenig anders beeinflußt. Nicht weniger als 70 lustbetonte Affektnuancen, von Freude, Glück und Seligkeit über Heiterkeit, Fröhlichkeit und Ausgelassenheit bis hin zu Zärtlichkeit, Liebe und Barmherzigkeit, haben wir – trotz allerhand Überschneidungen – in unserem »Inventar der Gefühle« im Kapitel 2 (S. 79 f.) unterscheiden können, beinahe ebenso viele wie sämtliche dort aufgelisteten Abwandlungen von Angst, Wut und Trauer zusammengenommen. Vergegenwärtigen wir uns zunächst einige Varianten von positiven Gestimmtheiten anhand von Ausschnitten aus literarischen Texten und Alltagsbeobachtungen. »Hast du schon einen geglückten Tag erlebt?« »Wie stellst du dir einen solchen Tag vor? Entwirf mir ein erstes Bild. Erzähle den geglückten Tag!« forscht und fordert Peter Handke in seinem »Versuch über den geglückten Tag«. Er fragt, was das genau sei oder sein könnte – nicht einfach ein glücklicher Tag jedenfalls, und auch nicht bloß ein glücklicher Augenblick –, umkreist die Momente eines solchen Glückens mit beharrlicher Geduld und fängt sie endlich – fast beiläufig und ohne lautes bewußtes Glücksgefühl – in Passagen wie den folgenden ein: »Von dem bellenden Hund, der unsichtbar blieb, pufften die Atemwolken durch die Zaunritzen. Die paar übrigen Blätter an den Bäumen zitterten im Nebelwind. Hinter dem Vorort-Bahnhof begann gleich der Wald. Von den zwei Männern, welche die Telefonzelle wuschen, war der draußen ein Weißer und der drinnen ein Schwarzer …« »An dem geglückten Tag – Versuch einer Chronik desselben – lagen die Taukügelchen auf einer Rabenfeder. Wie üblich, stand die alte Frau, wenn auch eine andere als gestern, im Zeitungsgeschäft, den Einkauf längst schon getan, und sprach sich aus. Die Leiter im Garten, Inbild des Aus-sich-Heraussteigen-Sollens, hatte sieben Sprossen. Der Sand auf den Lastern der Vorstadt zeigte die Farbe der Fassade von St. Germain-des-Prés. Das Kinn einer jungen Leserin berührte sich mit dem Hals. Ein Blechkübel nahm seine Form an. Eine Briefkastensäule wurde gelb. Die Marktfrau schrieb ihre Rechnung in den Handteller hinein. An dem geglückten Tag geschieht es, daß ein Zigarettenstummel im Rinnstein rollt, ebenso wie eine Tasse auf einem Baumstumpf raucht und in der finsteren Kirche eine Stuhlreihe hell von der Sonne ist. Es geschieht, daß die paar Männer im Café, selbst der Schreihals, für einen langen Augenblick miteinander schweigen und daß der Ortsfremde mit ihnen mitschweigt. Es geschieht, daß das geschärfte Gehör für meine Arbeit mich zugleich öffnet für die Geräusche meiner Umgebung. Es geschieht, daß dein eines Auge kleiner ist

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als das andre, daß über den Waldstrauch die Amsel springt und daß ich beim Sichheben der untersten Äste das Wort »Aufwind« denke. Es geschieht zuletzt sogar, daß nichts geschieht. An dem geglückten Tag wird eine Gewohnheit ausbleiben, wird eine Meinung verschwinden, werde ich überrascht sein, von ihm, von dir, von mir selbst. Und neben dem ›Mit‹ wird noch ein zweites Hauptwort regieren, das ›Und‹. Im Haus werde ich einen bis dahin übersehenen Winkel entdecken, in dem ›man ja wohnen kann!« (Handke 1991; S. 36 u. 72–73).

Was ist es, das fast zwischen den Zeilen hier dieses »Glücken« ausmacht und im Alltäglichsten die Ahnung einer sozusagen atemberaubenden Einzigartigkeit aufscheinen läßt? – Es ist eine Art von hellem Glanz, der sich über die sonst glanzlose Gewöhnlichkeit legt und auf einmal alles Disparate, was ist, zu einer Dauer verbindet (»Dauer ist nicht im unvergänglichen / vorzeitigen Stein, / sondern im Zeitlichen, / Weichen«, sagt Handke (1986, S. 56) in seinem »Gedicht an die Dauer«, das dem gleichen Glück gilt. Es ist das Erleben einer inneren Öffnung und Weitung, einer Verbindung zum Ganzen, in welcher – und das ist bereits ein Erstes und Wesentliches eines jeden freude- oder lustgeleiteten Denkens – plötzlich, wie Handke sagt, ein »Und« möglich wird und man »einen Winkel entdeckt, in dem man ja wohnen kann«. Gerade nach einem solchen Behaustsein freilich hat sich ein anderer bedeutender Dichter, nämlich Robert Walser, obwohl ein Meister der Darstellung von heiteren Stimmungslagen, zeitlebens vergeblich gesehnt und ist darüber, wie man weiß, schließlich wahnsinnig geworden. Vielleicht rührt von daher das immer leicht Unheimliche und Brüchige, das uns – zum Beispiel in den »Kleinen Dichtungen« aus dem Jahr 1913 (Walser 1971, S. 41, 85 u. 94) – aus seinen leichtfüßigen Schilderungen entgegenweht. Wesentliche Züge einer typischen »Freude- und Lustlogik« werden aber auch da sichtbar. Die Stadt »Es war an einem sonnigen Wintertag, als der Reisende mit der Eisenbahn in der Stadt anlangte. Eine einzige zusammenhängende Freundlichkeit war die ganze Welt. Die Häuser waren so hell, und der Himmel war so blau. Zwar war das Essen im Bahnhofsrestaurant herzlich schlecht mit hartem Schafsbraten und lieblosem Gemüse. Aber das Herz des Reisenden war mit einer eigentümlichen Freude erfüllt. Er konnte es sich selber nicht erklären. Die Bahnhofshalle war so groß, so licht, der arme alte Dienstmann, der ihm den Koffer trug, war so dienstfertig mit seinen alten Gliedmaßen und so artig mit seinem alten zerriebenen Gesicht. Alles war schön, alles, alles. Selbst das Geldwechseln am Schalter des Wechselbureaus hatte einen eigenen undefinierbaren Zauber. Der Reisende mußte nur immer über alle die wehmütig-warmen Erscheinungen lächeln, und weil er alles, was er sah, schön fand, fühlte er sich auch wieder von allem angelächelt …« Das Liebespaar »Sie und er gingen zusammen spazieren. Allerlei reizende Gedanken kamen ihnen in den Kopf, doch jedes behielt hübsch für sich, was es dachte. Der Tag war schön, wie ein Kind, das in der Wiege oder im Arm seiner Mutter liegt und lächelt. Die

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Zur Entstehung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten« 193 Welt war zusammengesetzt aus lauter Hellgrün und Hellblau und Hellgelb. Grün waren die Wiesen, blau war der Himmel, und gelb war das Kornfeld. Blau war wieder der Fluß, der sich in der Ferne, zu des wohligen Hügels Füßen, durch die lichte, süße, warme Gegend schlängelte, welche, wir wir bereits angedeutet haben, einem Kinderlächeln an Schönheit und Lieblichkeit glichen …«

Auch in diesen kleinen Ausschnitten ist zu erkennen, wie eine einheitliche Grundstimmung alles und jedes, was begegnet, darunter ebenfalls zunächst ganz Heterogenes und Gegenläufiges (der miese Braten, der arme Dienstmann, die prosaische Wechselstube) zu einem schönen und sozusagen lächelnden Ganzen zusammenbindet. Ganz ähnlich also wie in Chessex’ angstgeleiteter Schilderung einer Marktszene in Payerne, nur unter gegenteiligen affektiven Vorzeichen, wird auch hier wieder alles, was nicht zu der übergeordneten Stimmung paßt, entweder ausgeblendet oder umgefärbt. Andererseits mobilisiert Walser, oder der Erzähler, nur Assoziationen und Bilder, die der Grundstimmung entsprechen (so etwa das Kind im Arm der Mutter und die Wiege im »Liebespaar«). Das übergeordnete Thema oder logische Schema, das alles einzelne bestimmt, ist dasjenige der Verbindung und Bindung, des »Hin-zu« und Zusammen- und nicht Alleinseins. Ja, selbst noch die Einsamkeit – das eigentliche tragische Grundmotiv hinter der Walserschen Heiterkeit – wird im nachfolgenden forcierten Versuch, eine positive Grundstimmung durchzuhalten, zur »Braut«, zum »Kamerad« und zur »liebsten Gesellschaft« umstilisiert: »Im Sommer schrieb ich nie ein Gedicht. Das Blühen und Prangen war mir zu sinnlich. Ich war traurig im Sommer. Mit dem Herbst kam eine Melodie über die Welt. Ich war in den Nebel, in die früh schon beginnende Dunkelheit, in die Kälte verliebt. Den Schnee fand ich göttlich, aber vielleicht noch schöner und göttlicher kamen mir die dunklen, wilden, warmen Stürme des Vorfrühlings vor. Im kalten Winter glänzten und schimmerten die Abende bezaubernd. Die Töne taten es mir an, die Farben redeten mit mir. Ich brauche kaum zu sagen, daß ich unendlich einsam lebte. Die Einsamkeit war die Braut, welcher ich huldigte, der Kamerad, den ich bevorzugte, das Gespräch, das ich liebte, die Schönheit, die ich genoß, die Gesellschaft, in welcher ich lebte …«

Doch verlassen wir nun die Literatur und betrachten für einmal ein eigenes »gehobenes« Erlebnis – beispielsweise ein sonntägliches Familienpicknick und Geburtstagsfest mit Freunden und Bekannten, das wir unlängst in den Hügeln oberhalb des Genfer Sees veranstaltet haben: Es war einer jener wundersam warmen, hoch über dem Dunst von Stadt und See fast überirdisch klaren Herbsttage mit bunten Wäldern vor schon weißen Schneegipfeln, mit Insektengesumm und Kuhgeläut über abgeweideten Voralpenwiesen, wie man sie spät im Oktober in unseren Bergen noch erleben kann. Wir spazieren in Zweier- oder Dreiergrüppchen über die Knüppelwege eines rostbraunen Hochmoors mit dicken Moosteppichen und seltenen Gräsern, plaudern, scherzen, philosophieren über Gott und die Welt. Kleine Geschenke, vom Jungvolk bizarr in

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umstehende Tannen gehängt, geben Anlaß zu einem witzigen Bilderrätselspiel mit Bezug zu den zwei Geburtstagskindern. Später sammeln wir Holz, entfachen ein Feuer, braten mitgebrachte Kartoffeln, Fische, Maiskolben. Alles, auch der Wein, schmeckt vorzüglich, sehr viel besser als je daheim oder im Restaurant. Zwei junge Verliebte balgen, necken, kitzeln sich mit Grashalmen, reden Unsinn und schmieden Pläne. Nach dem Essen stimmt einer plötzlich ein Lied an, das wir früher bei ähnlichen Gelegenheiten oft gesungen hatten; es ist ein bretonisches Fischermoritat mit vielen Strophen, die uns eine um die andere, obwohl sicher zwanzig Jahre nie mehr gehört, wieder einfallen. Weitere Lieder folgen, dasselbe Phänomen wiederholt sich; jung und alt redet von vergangenen Zeiten, lustige Familienanekdoten werden aufgetischt; wir mögen uns, wir lachen, photographieren. Für zwei drei Stunden sind wir wie in eine andere Welt entrückt, die Tagessorgen, auch der zuweilen vom Tal gedämpft heraufbrausende Autobahnlärm, das Waldsterben, das man doch rings an den Tannen mit den wirren Angsttrieben im Wipfel ablesen könnte, das düstere Weltgeschehen überhaupt sind vergessen – bis wir, wie gegen Abend vom Tal herauf die kalten Nebel steigen, in den Dunstkreis des Alltags zurücktauchen und von den gewohnten Problemen alsbald wieder eingeholt und verschluckt werden.

Die übergeordnete »Logik«, die in dieser lustvoll gelösten und zum Teil richtig ausgelassenen Stimmung das Denken bestimmt, ist zunächst wiederum dadurch gekennzeichnet, daß lauter emotional positiv gefärbte kognitive Inhalte (der großartige Tag, das köstliche Essen und Trinken, die freundlichen Menschen, die interessanten Gespräche) zu einem lustbetonten Ganzen verknüpft werden. Der Bewußtseinsfokus ist spielerisch weit und mobil, auch kreativ, das Erleben präsentisch und doch zugleich auf angenehme Erinnerungen und ebensolche Zukunftshoffnungen gerichtet. Zustandsabhängige Wahrnehmung und Mobilisierung von affektkonformen Gedächtnisinhalten (die plötzlich wieder auftauchenden Lieder, die Erinnerung an frühere ähnliche Feste, an lustige Familiengeschichten) zeigen uns Welt und Menschen in ihrer Kontinuität und möglichen Schönheit. Aber auch die soziale Kitt- und Bindewirkung von positiven Gefühlen – speziell die »gemeinschaftsbildende Kraft des Lachens«, wie Bollnow (1956, S. 103) sagt – wird frappant erkennbar: Plötzlich gehören Leute, die sich zum Teil jahrelang nicht mehr gesehen haben, wieder zusammen, entdecken gemeinsame Wurzeln, Werte und Interessen – und ein Abglanz dieses schönen Erlebnisses klingt noch tagelang in uns nach, bleibt untergründig vielleicht sogar auf Dauer bestehen, obwohl, wie gesagt, der Alltag ein solches Lust- und Freudedenken nur zu schnell wieder zuschüttet. Bedenkt man außerdem, daß das fröhliche Zusammensein einer derartigen Gruppe überhaupt nur möglich ist dank einer langfristig dominierenden Freude- und auch Liebeslogik, die die unausweichlichen Schwierigkeiten zwischen Menschen, die sich nahe sind, über Jahrzehnte immer wieder zu überwinden vermochte, so erweist sich auch ein so banales Geschehen wie das beschriebene als weitgehend be-

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stimmt durch eine charakteristische affektiv-kognitive »Schiene«, auf der die ganze Gruppe unbewußt ein Stück weit gemeinsam »gefahren« ist und weiterhin »fährt«. Auch sie führt zu einer besonderen Eigenwelt: nämlich zu jenem sowohl geistigen wie teilweise zugleich faktischen Gesamt von gemeinsamen Werten und Vorlieben und Erlebnissen, die eine Gruppe von Freunden über alle inividuellen Unterschiede hinweg verbindet. Und erst diese aus ähnlichen affektiv-kognitiven Bezugssystemen gebildete gemeinsame Eigenwelt macht es überhaupt möglich, daß diese Menschen zusammen etwas zu feiern, zu erinnern, zu bereden und sogar zu singen haben – was natürlich nicht im geringsten ausschließt, daß, von nahe oder gar mit einer psychoanalytischen Lupe betrachtet, gleichzeitig immerzu auch alle nur möglichen GegenTeile und Ambivalenzen zu den gerade dominanten positiven Gefühlen in den jahrzehntelangen komplexen Beziehungsgeflechten mitschwingen, aus denen in Wirklichkeit die genannten affektiv-kognitiven Stränge oder »Schienen« geflochten sind. Wieder andere Varianten von gehobenen Gefühlen mit je eigenen eigentümlichen Wirkungen auf Denken und Verhalten finden wir im Zustand der akuten Verliebtheit einerseits und der – davon klar zu unterscheidenden – Liebe im allgemeinsten Sinn andererseits. Beide haben sie die Dichter und Denker mehr als alle anderen Gefühle seit jeher fasziniert und inspiriert. »Eine wunderbare Heiterkeit hat meine Seele eingenommen, gleich den süßen Frühlingsmorgen, die ich mit ganzem Herzen genieße«, läßt Goethe seinen Werther nach einer ersten Begegnung mit Lotte sagen – doch etwas später heißt es in dessen fiktiven Briefen an einen Freund auch: »Unglücklicher! Bist du nicht ein Tor? betrügst du dich nicht selbst? Was soll diese tobende endlose Leidenschaft? Ich habe kein Gebet mehr, als an sie; meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr.« »Wie mich die Gestalt verfolgt! Wachend und träumend füllt sie meine ganze Seele! Hier, wenn ich die Augen schließe, hier in meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen Augen. Hier! ich kann dir’s nicht audrücken. Mach’ ich meine Augen zu, so sind sie da; wie ein Meer, wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, füllen die Sinnen meiner Stirn.«

Der oder die akut Verliebte ist, nach dem ebenfalls von Goethe stammenden geflügelten Wort, bald »himmelhoch jauchzend«, bald »zu Tode betrübt«. Ebenso abrupt wechseln die Inhalte seines/ihres Denkens vom Sublimsten zum Banalsten. Der Bewußtseinsfokus ist dabei einerseits hochgradig eingeengt auf das Objekt seines oder ihres Entzückens und alles, was damit zusammenhängt, andererseits aber zugleich maximal ausgeweitet auf die ganze Welt und jede beliebige, sonst nie beachtete Einzelheit darin – ein erster Regentropfen, der auf

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ein Blatt oder gar ins Haar der Geliebten fällt, ein Sonnenstrahl, der ihr Gesicht erhellt, ein winziges Flecklein in der Iris, der ihrem Blick einen einzigartigen Liebreiz verleiht. Auf dem Höhepunkt der Verliebtheit wird praktisch alles, was begegnet, irgendwie mit dem geliebten Objekt in Verbindung gebracht. Der Verliebte entdeckt an der Geliebten und sie an ihm ständig neue Seiten, die überraschen und bezaubern. Der Strukturalist Roland Barthes analysiert in seinen »Fragments d’un discours amoureux« anhand von literarischen Texten und eigenen Beobachtungen mit großem Scharfsinn und – liebendem Geschick, wie dem Verliebten ein x-beliebiger Gegenstand, ein Kleidungsstück, eine Örtlichkeit, eine Melodie immer wieder zum Anlaß wird, im Geist zum einzigen Objekt all seines Interesses zurückzukehren (Barthes 1977). Und auch Ortega y Gasset schreibt (1950, S. 151) in seinen bekannten Meditationen »Über die Liebe«: »Das Bewußtsein verengert sich und enthält nur noch einen Gegenstand. Die Aufmerksamkeit ist gelähmt; sie gleitet nicht mehr von einem Objekt zum anderen. Sie ist unbeweglich, starr, von einem einzigen Wesen eingefangen […]. Der Verliebte jedoch hat den Eindruck, daß das Leben seines Bewußtseins reicher geworden ist.«

Verhexung, Bezauberung oder Betörung, Hypnose, manchmal auch Besessenheit sind Ausdrücke, die in der Schilderung von verliebten Zuständen immer wiederkehren. Schon Plato nannte die Verliebtheit einen »göttlichen Wahnsinn«, eine δεα µανα. Tatsächlich zeigt die Fühl- und Denkstruktur der Verliebtheit manche Übereinstimmungen mit der Struktur einer krankhaften affektiv-kognitiven »Verrückung«, also einer echten Psychose, wie wir sie im nächsten Kapitel genauer ins Auge fassen werden: Nicht nur sind sowohl Fühlen wie Denken in der akuten Verliebtheit hochgradig labilisiert und zugleich exaltiert. Ebenso verliert der Verliebte in zuweilen fast psychotischer Weise den Kontakt zur Realität, schwebt in den Wolken. Ortega y Gasset verweist (1950, S. 161 ff.) auch auf eine psychosenahe Aufhebung der gewohnten Ich-Grenzen sowohl in der Liebesekstase wie in der religiösen Ekstase oder Unio mystica, die beide oft in auffällig ähnlichen Worten beschrieben würden. Einem psychotischen Bedeutungserleben durchaus nahe stehen ferner die erwähnten Symbolbeziehungen, die sich fetischartig an alles heften, was von nahe oder ferne mit dem geliebten Menschen zusammenhängt. Roland Barthes hebt außerdem die zentrale Rolle einer permanenten Erwartungshaltung in der Phänomenologie der Verliebtheit hervor. Der Verliebte fiebert, kaum hat er die Geliebte verlassen, schon wieder dem nächsten Stelldichein entgegen oder wartet zumindest auf irgendein Zeichen, das dieses näherbringt: »Ich erwarte eine Ankunft, eine Rückkehr, ein versprochenes Zeichen«, erklärt Barthes (1977, S. 47 u. 49; Übersetzung von

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mir) unter dem Titel »Erwartung. Der ängstliche Tumult, der durch das Warten auf das geliebte Wesen provoziert wird«. – »Bin ich verliebt? Ja, denn ich warte!« Auch in manchen psychotischen Zuständen wird nicht selten eine wahnhaft freudige, manchmal auch wahnhaft angstvolle Erwartung zum Leitsymptom des ganzen Krankheitsbildes. Noch krasser kann zuweilen der verrückende Charakter von amourösen Gefühlen auf der rein sexuellen Ebene oder »Schiene« hervortreten, wo die radikale Einengung allen Fühlens und Verhaltens auf erotische Reize und Vorstellungen ganz dem tierischen Brunstverhalten gleichen kann, in welchem das Syndrom der Verliebtheit evolutionär natürlich wurzelt. Und doch ist, wie gerade auch diese Herkunft und Verwandtschaft beweist, das Verliebtsein keine echte Psychose, sondern wiederum nur ein höchst zweckmäßiger psychophysischer Gesamtzustand mit spezifischen Attraktorwirkungen auf Denken und Verhalten genau im Sinn unserer Affektdefinition. Trotz aller Ähnlichkeiten unterscheidet er sich von der Psychose zunächst einmal quantitativ: Die Exaltation, die Verwirrung und Verrückung, kurz der Realitätsverlust erreichen in der Verliebtheit kaum je den Grad, die Dauer und die Allgegenwart der psychotischen Verrücktheit. Aber auch qualitativ bestehen deutliche Unterschiede: Die Grenzen des Ich lösen sich nicht generell, sondern nur in der Beziehung zu der oder dem Geliebten auf. Das Realitätsbewußtsein ist – von Momenten der größten Leidenschaft einmal abgesehen – stark genug, um neben der Liebe auch noch viel Alltäglicherem (zum Beispiel der Arbeit) Platz zu lassen. Vor allem aber ist Verliebtheit im Gegensatz zur Psychose ein sozial leicht verstehbares, mitteilbares und (im Prinzip) auch allgemein akzeptiertes Phänomen. Die Psychose dagegen bleibt unverständlich und führt von der Gemeinschaft weg in die Vereinzelung und Vereinsamung. Wie die Liebe überhaupt, ist auch schon das bloße Verliebtsein seinem Ziel und Wesen nach zutiefst gemeinschaftsbildend und aufbauend, während die krankhafte Psychose den Kontakt mit der Gemeinschaft bestenfalls nur stört und schlimmstenfalls zerstört. Hier treffen wir auf den zweifellos wesentlichsten qualitativen Unterschied zwischen den angst- oder wutdominierten psychotischen Verstimmungen einerseits und den liebenden Stimmungen und ihren Wirkungen auf Denken und Verhalten andererseits: Letztere erhöhen die konstruktiven und kreativen kognitiven Fähigkeiten des Menschen unter Umständen geradezu dramatisch, während erstere sie auf Dauer praktisch immer vermindern, selbst wenn es in der beginnenden Psychose bei einzelnen künstlerisch hochbegabten Menschen (Hölderlin, van Gogh, Strindberg, auch Nietzsche sind berühmte Bei-

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spiele) vorübergehend zu außerordentlichen kreativen Aufschwüngen kommen mag. Selbst noch der sonst von Musen ungeküßte Banause kann, von Liebe beflügelt, vorübergehend zum inspirierten Dichter, der notorische Spießer zum geistvollen Causeur werden. Den genuinen Künstler aber hat die Liebe noch und noch zu den höchsten Meisterwerken angespornt. Liebe mache blind, heißt es sprichwörtlich – gemeint ist damit aber nur die krasse Verengung des Gesichtsfeldes in der psychosenahen Verliebtheit. Echte Liebe dagegen schließt auf und macht sehend: Im einzigartigen menschlichen Phänomen der Liebe in ihrem tiefsten Sinn, deren Wirkungen auf Denken und Verhalten über diejenigen der Verliebtheit weit hinausgehen, erscheinen Dimensionen der Wirklichkeit, die in anderen Affektzuständen völlig verborgen bleiben. Denn mehr als alles andere ist Liebe die Fähigkeit zum Absehen vom eigenen Standpunkt als Zentrum aller Dinge – also zur Dezentration im Sinn von Piaget, oder zur reifen postnarzißtischen Objektliebe im psychoanalytischen Sinn. Liebe ist das einmalige Vermögen des Menschen, die Welt des anderen – die Welt eines anderen Menschen, aber auch die Welt eines Tiers, einer Pflanze, ja die »Welt« einer Sache, eines Anliegens oder Ideals – statt von der eigenen Person und Position von eben diesem anderen als Aktions- und Interessezentrum her zu verstehen. Liebe ist deshalb wesentlich Selbstaufgabe, Hingabe in der tiefsten Bedeutung des Wortes. Anders als die Verliebtheit hat Liebe in diesem Sinn also nichts mit einer Verengerung des Aufmerksamkeitsfokus zu tun; vielmehr ist sie maximale Erweiterung, Verbindung mit dem Ganzen, Religio mit einem strukturellen Bezug wiederum zur Unio mystica – wobei allerdings die Liebe im Gegensatz zur Ekstase von Dauer ist. Denn lieben ist zutiefst auch Fähigkeit zum Sehen von Schönheit im anderen und Andersartigen; Liebe sei »Zeugen in Schönheit«, sagte auch schon Plato (nach Ortega y Gasset 1950, S. 133), und Schönheit ist in ihrem Wesen zeitlos. – Wohl aus diesem Grund lieben wir jemanden, den wir je wirklich geliebt haben, auf bestimmte Weise für immer, und aufgrund desselben Sachverhalts verschmelzen im Unbewußten auch alle je geliebten Frauen oder Männer gewissermaßen zu einer einzigen Frau, einem einzigen Mann, genau wie sich nach Freud überhaupt alle je als wichtig erlebten Frauen oder Männer zu einer einzigen, all unser Verhalten bestimmenden inneren Gestalt oder Instanz mit vielen Gesichtern verdichten. Hierzu ein weiteres kleines Beispiel aus dem eigenen Erleben: Als junger Student wurde ich auf einer Tramp-Reise durch Griechenland einmal von einem Dorfschuhmacher zum Übernachten in seinem einfachen Häuschen eingeladen. Das schönste Frauenantlitz und -lächeln, das ich je gesehen habe, war das-

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Zur Entstehung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten« 199 jenige seiner uralten Mutter, die mir am nächsten Morgen im Frühlicht beim Ziehbrunnen Wasser aus einem Krug über die Hände schüttete. »Su rixo nerò« (»ich gieße dir Wasser«), sagte die kleine Alte nur und lächelte mich von unten herauf mit jedem der tausend Fältchen ihres verwerkten Gesichts strahlend an. – Das war vor über vierzig Jahren; aber noch heute taucht mir das sonnenüberströmte Runzelgesicht jener griechischen Alten fast unweigerlich hinter jedem Frauenlächeln auf, das mich wirklich anrührt.

Niemand hat die eigentümliche Wirkung und Wirklichkeit von glückhaften Gefühlen präziser herausgearbeitet als Otto Friedrich Bollnow, einer der ganz wenigen Philosophen meines Wissens, der sich – nach Heidegger – vor Jahrzehnten schon mit den Auswirkungen von Affekten und Stimmungen auf das Denken befaßt hat. Aus ganz anderer Perspektive gelangt er in seiner phänomenologischen Anthropologie zu Positionen, die mit den in diesem Buch entwickelten nahe übereinstimmen. So spricht er nicht nur von einer »stimmungsgebundenen Erkenntnis«, sondern beschreibt (1956!) sehr genau auch schon das Phänomen der zustandsabhängigen Erinnerung (»In der Art dieser Erinnerung waltet ein eigentümliches Gesetz. Sie holt aus der Vergangenheit nicht das herauf, was das ›gleichmäßige‹ oder ›intellektuelle Gedächtnis‹ […] nach den Beziehungen eines vernünftig begründeten sachlichen Zusammenhangs verbindet, sondern [sie nimmt] – unter Überspringung des realen Geschehenszusammenhangs – Dinge zusammen, die nur durch die Gemeinsamkeit einer sie umhüllenden Stimmung miteinander verbunden sind« [S. 206 u. 241]. – In der Auseinandersetzung mit Heidegger, von dessen These von der fundamentalen Bedeutung der Stimmung der existentiellen Angst für unser ganzes Welt- und Menschenverständnis – unser Dasein, in Heideggers Sprache – er ausgeht, zeigt Bollnow anhand von Beispielen aus der Literatur (Nietzsche, Proust, Huxley, Rümke, Binswanger u. a.) und eigenen Beobachtungen überzeugend, daß von einer Stimmung der Angst und Sorge, wie von allen anderen »gedrückten« Stimmungen aus, immer nur ein Teil der Wirklichkeit erkennbar werden kann. Kummer und Sorge eröffnen nicht den Zugang zur Schönheit dessen, was ist, sondern verschütten und »verkümmern« ihn buchstäblich. Denn »jede Stimmung hat ihre eigene Form der Realität«, gegründet auch auf eine je eigene Zeitstruktur. Das Glückserleben – Nietzsches »großer Mittag« – ist zeitlos, »ewig«; die glücklichen Stimmungen eröffnen den Zugang zu einer »dauernden Wesenheit der Dinge« (Proust) und machen empfänglich für den »schöpferischen Augenblick«, der für das Ganze des Lebens bestimmend werden kann. Mit Becker und Binswanger stellt Bollnow deshalb der Heideggerschen »Geworfenheit« die einzig in glücklicher Stimmung zugängliche Seinsweise der »Getragenheit« zur Seite, die über die Möglichkeit eines »liebenden

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Miteinanderseins« nicht minder zu einem »Eigentlichen« hinführe als die Angst. Ohne die tiefe existentielle Bedeutung der Heideggerschen Angst im geringsten zu verneinen (»Die gehobenen Stimmungen entwickeln, die gedrückten erproben, in den ersteren bildet sich die Fülle des Lebens, in den letzteren dagegen die Festigkeit der Form« [Bollnow 1956, S. 143] oder gar Binswangers These vom »phänomenologischen Primat der Liebe vor der Sorge« voll zu übernehmen, weist Bollnow doch nachdrücklich auf die gleichberechtigte erkenntnistheoretische Bedeutung eines liebe- und glücksbestimmten Denkens hin und plädiert damit in sehr postmodern anmutender Weise für ein pluralistisches Welt- und Menschenverständnis. Gleichzeitig gewinnt er – merkwürdigerweise beinahe nur am Rand – eine Erkenntnis von meines Erachtens kaum zu überschätzender allgemeiner Bedeutung, die sich ebenfalls in unserer Gegenüberstellung von Angst-, Wut- und Trauerlogik auf der einen und Freude- oder Glückslogik auf der anderen Seite längst aufdrängt: Die Sichtweisen der Wirklichkeit, die sich aus den gedrückten Stimmungen einerseits und den gehobenen Stimmungen andererseits ergeben, sind miteinander nicht vereinbar. Mit Recht spricht Bollnow (unter Hinweis auch auf ein Goethe-Wort) geradezu von einem »apriorischen Gesetz der Unvereinbarkeit entgegenstehender Gefühlsregungen« (S. 107). Diese Unmöglichkeit läßt sich, wie früher schon vermerkt, auch psychophysiologisch begründen, indem man nicht gleichzeitig, sondern nur nacheinander in zwei polar gegensätzlichen psycho-physischen Gestimmtheiten sein kann. Ebensowenig wäre es aus chaostheoretischaffektlogischer Perspektive möglich, sich zugleich in zwei affektivkognitiv gegensätzlichen Attraktoren zu befinden – so wenig es möglich wäre, simultan im Krieg wie im Frieden zu sein (oder, wie wir schon einmal sagten, »auf zwei Hochzeiten zugleich zu tanzen«). Zwar gibt es dazwischen eine unstabile Zone des unsicheren Hin- und Herschwankens, die selbst wiederum einer charakteristischen Gestimmtheit entspricht. Genau besehen treten aber auch hier die gegensätzlichen Fühl- und Denkweisen kaum wirklich miteinander als vielmehr in schnellem Wechsel nacheinander auf. Jedenfalls führt ebenfalls diese Unvereinbarkeit der Vereinigung von stimmungsmäßigen Gegensätzen zu einem pluralistisch-konstruktivistischen Welt- und Menschenbild.

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Über Interesse-, Alltags- und Wissenschaftslogik Wie aber verhält sich, so müssen wir nun weiter fragen, das von ausgeprägter Angst, Wut, Trauer oder Freude bestimmte Denken der bisher besprochenen Beipiele zur bedeutend gefühlsschwächeren Logik des Alltags oder gar der Wissenschaft? Und wie hängen Alltags- oder Wissenschaftslogik mit dem fast in jedem anderen Gefühl implizit gegenwärtigen, aber bisher nicht explizit beleuchteten Grundphänomen des »Interesses« (oder des »Hungers«, der Neugier, des Verlangens) zusammen, das wir ebenfalls den Basisaffekten zugezählt haben? – Versuchen wir, auch diese von der Theorieseite her schon mehrfach andiskutierten Probleme anhand von konkreten Beispielen weiter zu erhellen. Zusammenkunft unserer ehemaligen Gymnasialklasse in der Südschweiz, organisiert von Claudio, der sich – für die meisten ganz unvermutet – als großartiger Kenner seines Heimatkantons entpuppt. Zwei Tage lang führt er uns von einer unbekannten Sehenswürdigkeit zur nächsten, in versteckte Kirchlein mit herrlichen Fresken, in interessante Sammlungen, Museen, auf Burgen, Aussichtspunkte, historische Stätten – und zu allem weiß er, von Witz und Geist nur so sprühend, im Handumdrehen ein eindrucksvolles historisches Hintergrundsgemälde zu entwerfen, das er alsbald mit einer Fülle von signifikanten Einzelheiten anreichert. Er spricht aus dem Stegreif, schöpft aus dem Vollen, kennt unzählige nie gehörte Namen, überraschende Verwandtschaften, bedeutsame Zusammenhänge nicht nur weltgeschichtlicher, kulturhistorischer und philosophischer, sondern auch naturgeschichtlicher, klimatischer und geologischer Art. – Wir sind verblüfft und begeistert; obzwar bei allen beliebt, hatte Claudio seinerzeit auf dem Gymnasium, an Schulmaßstäben gemessen, doch keineswegs zu den Leuchten der Klasse gehört. Wie ist diese frappierende Verwandlung zu erklären?

»Interesse« heißt das Zauberwort auf den ersten Blick – und »Liebe« (Liebe zur Sache, Liebe zum Land, Liebe zu seinen Menschen) auf den zweiten. Wir vernehmen nämlich, daß Claudio in aller Stille schon während der Gymnasialzeit begonnen hatte, sich systematisch für seinen abgelegenen Heimatkanton zu interessieren. Auf – buchstäblichen wie metaphorischen – Saumwegen und Felspfaden zunächst, und dann zunehmend auf immer komplexer werdenden Straßennetzen oder »Schienen« hat sich Claudio nun über gut vierzig Jahre hin beinahe täglich mit allen nur erdenklichen Seiten des Gegenstands seines Interesses befaßt. Er ist darob – auch im Schoß wissenschaftlicher Gesellschaften – zu einem bedeutenden Fachmann auf mehreren einschlägigen Gebieten geworden. Jetzt schreibt er, wie er uns zuletzt fast verschämt gesteht, »für seine Kinder« ein Buch über diese Region »vom Big Bang bis heute«. – Neben der besagten Liebe steht hinter diesem vieljährigen Interesse, so dürfen wir vermuten, aber auch eine Suche des – im alemannischen Norden wohl stets

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ein wenig entwurzelten – Südschweizers nach seinen lateinischen Ursprüngen, nach seiner eigentlichen Identität – eine geheime existentielle Angst also, wenn man so will, und vielleicht auch eine geheime Wut oder Trauer, jedenfalls aber eine nuancenreiche Palette von Gefühlen mit ihren zugehörigen Denkwegen oder Denkschienen, die, genährt von »Interesse«, sowohl in den Alltag hineinreichen wie zugleich auch weit über ihn hinausführen in eine persönliche Eigenwelt von großer Vielfalt und Attraktivität. Der relativ unspezifische Affekt Interesse, neurophysiologisch mit einem typischen sogenannten »arousel« – einer energetischen An- und Aufregung – verbunden und dem Phänomen der Aufmerksamkeit und Bewußtseinsaktivierung nahe verwandt, wirkt hier offensichtlich wie eine Art von primärem Zünd- oder Treibstoff, der alle anderen Affekte aktiviert. Gleichzeitig scheint »Interesse« aber auch eine eher persönlichkeits- als situationsspezifische Konstante affektiver Art zu sein, die, wie das nachfolgende Kontrastbeispiel zeigt, praktisch das gesamte übrige Denken und Verhalten prägen kann. Wohl der schwierigste, weil uninteressierteste Klient einer unserer Wiedereingliederungswerkstätten für psychisch Kranke war jahrelang der Patient S., zirka 35 Jahre alt, Diagnose: chronisch schizophrener Residualzustand mit dominierender Negativsymptomatik und schweren Hospitalisierungsschäden. Seine totale Gleichgültigkeit für alles, was um ihn herum geschah, trieb Therapeuten und Werkstattchefs gleichermaßen zur Verzweiflung. Von morgens bis abends saß er nur träg und kontaktlos herum, in der Freizeit schlief oder döste er, und wenn er wach war, stierte er teilnahmslos vor sich hin ins Leere. Keiner der unzähligen Versuche, ihn mit irgendeiner Beschäftigung, einem Thema, auch mit Medikamenten oder soziound verhaltenstherapeutischen Methoden aus seiner Lethargie aufzurütteln, hatte den geringsten Erfolg – bis wir einmal bei einem Betriebsausflug in die nahen Voralpen, aus denen er herstammte, entdeckten, daß er sämtliche Bergblumen mit Namen und besonderen Eigenschaften kannte und auch über das Leben der einheimischen Wildtiere einen fast unerschöpflichen Wissensschatz besaß. Fortan leuchteten seine Augen auf, wenn man über diese Themen mit ihm Kontakt suchte; er begann spontaner zu sprechen, erzählte aus der Kindheit, und in der Folge gelang es – wenn auch über unendliche Mühen und Umwege –, über diesen Zugang ganz allmählich etwas von den verschütteten affektiven Energien wiederanzufachen, ja sie schließlich für eine kleine Teilzeitarbeit in einer Gärtnerei mit einer stetigen sozialen Aufwärtsentwicklung zu nutzen.

Wiederum stoßen wir hier also auf eine typische affektiv-kognitive »Schiene«, die in Kindheit und Jugend offensichtlich von viel Affektinteresse gespeist wurde, in der allgemeinen Gefühlsverflachung der chronischen Psychose dann aber scheinbar völlig verödete. Daß es gelingen kann, eine solche versteckte Fühl-, Denk- und Verhaltensschiene nach vieljähriger Latenz zu reaktivieren, zeigt im übrigen, daß erhebliche Affekt- beziehungsweise Energiereserven selbst noch bei

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solchen Kranken unter ihrem dicken Panzer von Gleichgültigkeit verborgen liegen können. Im normalen Alltag dagegen sind die unendlich vielfältigen affektivkognitiven Netze und Verbindungen, die jeder von uns im Lauf seines Lebens anlegt, meist ohne größere Hemmnisse zugänglich. Man kann sie als halbautomatisierte, kontextspezifisch angelegte Informationsverarbeitungssysteme auffassen, mittels welchen spannungserzeugende (homöostasestörende) Reize aller Art andauernd so ökonomisch wie nur möglich neutralisiert werden. Oder anders gesagt: Psychische Spannungen können dank zahllosen gut eingeschliffenen Fühl-, Denkund Verhaltensprogrammen im Alltag mit relativ geringem Energieaufwand immer wieder abgebaut und auf ein mittleres Basisniveau zurückgeführt werden. Wenn dies nicht mehr gelingt, weil die Affektschwankungen ein bestimmtes Maß überschreiten, so kann von Alltag nicht mehr die Rede sein. – Was aber ist der Alltag, konkret gesprochen? Er ist alles, womit wir eben jeden Tag zu tun haben, die gewohnte Berufsarbeit, die Freizeit, die sozialen Kontakte, die täglichen Horroroder gelegentlichen Freudenmeldungen in den Medien, vor allem aber natürlich alle unsere näheren und ferneren zwischenmenschlichen Beziehungen mit ihren je besonderen, an die betreffenden Kognitionen gebundenen Freude- oder Ärger-, Angst- oder Trauerkomponenten. – Alltag ist also das Selbstverständliche, das scheinbar gar nicht der Illustration bedarf, weil es jeder aus eigener Erfahrung kennt und in zahllosen Beispielen in den Straßen und Läden, in Lokalen und öffentlichen Verkehrsmitteln ohne Unterlaß erlebt. Indes ist das, was uns daran interessiert, gar nicht so leicht zu fassen: nämlich einmal das ständige assoziative Kreisen um immer wieder ähnliche und doch laufend abgewandelte Alltagsthemen, dazu die mobile Ablenkbarkeit durch alle möglichen Zufallsreize bei gleichzeitig beharrlicher Rückkehr in immer wieder dieselben Fühl- und Denkbahnen, ferner der kontinuierliche Wechsel zwischen Affekten von relativ geringer Intensität und unterschiedlicher Qualität mit gelegentlichen intensivern Aufwallungen und allmählicher Wiederberuhigung je nach Situation und vorherrschender Grundstimmung. Ein Beispiel wäre etwa eine Sequenz von Gedanken und Gefühlen, die mit beruflichen Alltagsüberlegungen in mittlerer Grundstimmung mit geringfügigen Schwankungen beginnen würde, dann zu einer kurzen heftigen Freude ob irgendeinem angenehmen Vorfall, später zu aufkommendem Ärger und einem endlichem Wutanfall wegen einer entdeckten Nachlässigkeit sich weiterentwickeln würde, und von dort schließlich entweder in rascher Beruhigung zu neu aufkommenden Problemen oder aber in eine stundenlange Verstimmtheit mit entsprechend stereotypen

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Gedankengängen rund um das unangenehme Ereignis ausmünden würde. In der modernen Literatur gibt es zahlreiche Versuche, gerade solche Alltagsprozesse präzise zu erfassen; der erste und zugleich berühmteste ist zweifellos James Joyces revolutionärer Roman »Ulysses« (1922), in welchem über 800 Seiten die verschlungenen Gedankenwege, Gefühle und Erlebnisse während eines einzigen Tags im Leben des Dubliner Werbeagenten Leopold Blum minutiös beschrieben werden. Etwas vom Gemeinten mögen andeutungsweise die folgenden Sequenzen vermitteln: »Bloom bewunderte des Friedhofwärters umfangreichen Bauch. Alle wollen gut mit ihm stehen. Anständiger Kerl, dieser John O’Connell, wirklich guter Kerl. Schlüssel wie Keyes Annonce: keine Angst, daß ihm jemand durchgeht, Kontermarken gibt es hier nicht. Habeat corpus. Nach der Beerdigung will ich doch mal wegen der Annonce vorsprechen. Hab ich Ballsbridge auf den Umschlag geschrieben, den ich schnell drüber legte, als sie mich beim Schreiben an Martha störte? Hoffentlich geriet er nicht in den Kasten für nicht mehr abgehende Post. Sollte sich auch mal rasieren lassen. Grauer, sprießender Bart. Damit fängt es an: die Haare werden grau und die Laune wird mürrisch. Silberfäden im Grau. Stelle sich mal vor, man wäre seine Frau. Komm mit raus und lebe auf dem Kirchhof. Mach ihr das nur schmackhaft. Hat sie zuerst sicher eiskalt durchrieselt ...« »Er ging weiter, vorbei an Boltons Westmoreland Haus. Tee. Tee. Tee. Wollte doch Tom Kernan anzapfen. SSs. Dth. Dth. Man stelle sich das vor: schon drei Tage stöhnend im Bett, mit einem essiggetränkten Taschentuch auf der Stirn, ihr Leib ist aufgetrieben! Pfui! Einfach furchtbar! Kopf des Kindes zu groß. Zange. Hockt in ihr, will unbedingt mit dem Kopf raus, tastet nach dem Ausgang. Ging dabei kaputt. Zum Glück ging’s bei Molly ganz glatt. Sollte was erfinden, daß das aufhört ...« »Während er weiterging, verschwand sein Lächeln, eine schwere Wolke schob sich langsam vor die Sonne, beschattet die finstere Front des Trinity. Trams fuhren aneinander vorbei, raus und rein, klirrten. Nutzlose Worte. Geht doch alles seinen Trott; Tag für Tag: Trupps von Polizisten marschieren raus und kommen rein: Trams, rein und raus. Die beiden Irrsinnigen, die so umherschleichen. Dignam rausgefahren. Mina Purefoy im Bett; mit geschwollenem Bauch, stöhnt, will endlich das Kind los sein. Jede Sekunde wird irgendwo eins geboren. Ein anderes stirbt jede Sekunde. Seit ich die Vögel fütterte, fünf Minuten. Dreihundert bissen ins Gras …« »Mit klopfendem Herzen stieß er die Tür von Burtons Restaurant auf. Gestank packte seinen flackernden Atem: scharfer Fleischsaft, Gemüsewasser. Fütterung der Raubtiere. Männer, Männer, Männer. Sitzen auf hohen Stühlen am Schanktisch, Hut in den Nacken geschoben, an den Tischen, schreien nach mehr Gratisbrot, trinken gierig, fressen Portionen dreckigen Fressens, Augen quellen vor, wischen feuchte Schnurrbärte. [...] Traurige Säuferaugen. Mehr im Hals als er kauen kann. Bin ich auch so? Uns sehen wie andere uns sehen. Hungriger Mensch ist ein böser Mensch. Zähne und Kiefer an der Arbeit « (Joyce 1956, S. 125, 183, 187 u. 192).

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Mit einem endlosen »inneren Monolog« dieser Art gelingt es dem Autor, eine überaus realistisch anmutende persönliche Eigenwelt von einmaliger Dichte und Subtilität zu entwerfen. Was als gewöhnlich und selbstverständlich erscheint, ist indes von Person zu Person, auch von Zeit zu Zeit, ungeheuer verschieden. – Werfen wir, um dies zu zeigen, auch noch kurz einen Blick auf den eher unalltäglichen Alltag eines jungen Naturwissenschaftlers von heute in der Hoffnung, damit vielleicht gleichzeitig etwas vom wissenschaftlichen Denken zu erfassen: Es handelt sich um Tim, einen brillanten, knapp dreißigjährigen Physiker, der an der hiesigen technischen Hochschule arbeitet und zugleich als Koordinator einer europaweiten internationalen Forschungsgemeinschaft tätig ist. Er wohnt als »Single« in einer kleinen Dreizimmerwohnung in der Nähe seines Arbeitsorts, kocht und haushaltet für sich, fährt in der Freizeit viel in die Berge, spielt auch Theater und redigiert außerdem ein Informationsbulletin für eine Ausländergruppe. Tim ist immer auf dem Sprung, fliegt von einem Forschungszentrum zum anderen, kommt dazwischen gelegentlich auf Besuch, bringt Freunde oder attraktive Freundinnen mit und erzählt dann auch von seinen Alltagsfreuden oder -sorgen: Das bevorstehende, für die weitere Finanzierung seiner Arbeit wichtige Meeting in den USA, ein gutgelungener Vortrag in Japan. Ärger mit einem Mitarbeiter, Liebeshändel. Eine Autogeschichte, eine Knieverletzung vom Skifahren und das Problem mit der Versicherung. Einmal lädt er mich in sein Labor ein, führt mich in einer abenteuerlichen Welt von Wind- und Wasserkanälen, riesigen Turbinenmodellen und Computerbatterien herum, erklärt mir seine gegenwärtigen Untersuchungen über Turbulenz in Flüssigkeiten und auch die wechselvolle Zusammenarbeit mit einem großen amerikanischen Privatunternehmen. Ich will wissen, wie er »Neues findet« – ob durch Nachdenken, Rechnen, Nichtstun –, Tim ist verblüfft, weiß auf Anhieb keine Antwort, sagt dann, er studiere jeweils tagelang sogar noch beim Kochen und Haushalten am anstehenden Fragenkomplex herum, schaue dazwischen immer wieder den Wirbeln in seinem Experimentierkanal zu, auch messe und rechne er natürlich systematisch, lese aber wenig Fachliteratur, gucke viel zum Fenster heraus – und plötzlich »wisse« er dann jeweils ganz genau, wo das Problem stecke und ob er es zu lösen vermöge oder nicht. Wie ich weiterbohre, ob die Antwort sich etwa gerade dann einstelle, wenn es gelinge, die Frage präziser als vorher zu stellen, pflichtet er mir lebhaft bei: »Exactly, exactly!«, und meint dann auch, das Zum-Fenster-raus-Schauen und Nicht-Lesen der Literatur (die er indes natürlich durchaus kennt) diene, genau gleich wie das Theaterspielen und Bergwanderen, wohl in erster Linie einer fruchtbaren Distanznahme.

Natürlich dürfen wir niemals erwarten, aufgrund von solchen Fragmenten dem ungeheuer facettenreichen Problem der Alltagslogik und noch viel weniger dem Problem des wissenschaftlichen Denkens auf die Schliche zu kommen. Aber einiges Belangvolle ist daraus wohl doch zu ersehen. So scheint zum Beispiel ganz klar, daß es keine scharfe Trennung zwischen Alltagsdenken auf der einen und wissenschaftlichem Denken auf der anderen Seite gibt, sondern daß beide recht willkürlich durcheinanderlaufen und ein Stück weit offenbar auch von derselben Essenz sind. Und in beiden Phänomenen spielen – so würden wir jeden-

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falls vermuten oder behaupten – gefühlsmäßig-intuitive und logische Komponenten eine durchaus gleichwertige Rolle. Oder anders gesagt: Mit Sicherheit ist es nicht kalte Logik allein, die zu – in Tims Fall dem Vernehmen nach recht außerordentlicher – wissenschaftlicher Kreativität führt. Frappierend ist außerdem, daß Tim selbst nicht klar zu sagen weiß, wie er »Neues findet«. Offensichtlich handelt es sich dabei zum guten Teil um einen unbewußten und typisch selbstorganisatorischen Prozeß – um eine Art von plötzlichem Quantensprung zur (relativen) Klarheit, um eine »Lösung« also auch im emotionalen Sinn des Wortes, kurz: um einen spannungslösenden Umschlag in eine neue dissipative Denkstruktur, die sich, falls viabel, dann alsbald stabilisiert und differenziert. Was weiter von Interesse ist, sind die vielen affektiv-kognitiven Einzelstränge, die sich in diesem (wie jedem anderen) Leben durcheinandermischen und schließlich zu einer persönlichkeitsspezifischen Alltagswelt verflechten. Jedes Interessengebiet, jede besondere Aktivität – das Kochen und Haushalten, das Theaterspielen und Bulletinschreiben, die einzelnen Freizeit- und Berufsbereiche, und vor allem auch jede zwischenmenschliche Beziehung stellt einen solchen Fühl-, Denkund Verhaltensstrang mit je eigener Dynamik und spezifischen Emotions-Kognitionsverbindungen dar. Sehr persönlichkeitsspezifisch sind ebenfalls die (gewöhlichen wie wissenschaftlichen) Selbstverständlichkeiten, die Tims Alltag prägen: Beispielsweise kommuniziert er täglich per e-mail und »World Wide Web« mit beruflichen und auch privaten Partnern rund um den Erdball, bewegt sich mit größter Seelenruhe in einer für den Profanen je nach Stimmung faszinierenden oder beängstigenden Welt von Maschinenungetümen herum und denkt die halbe Zeit in komplizierten mathematischen Formeln. Andererseits aber teilt er in Küche, Haushalt und Freizeit durchaus den Alltag eines gewöhnlichen Sterblichen. Formal und emotional, nicht aber inhaltlich unterscheidet sich seine wissenschaftliche Denkweise, seine Logik selbst dort, wo sie sich in für die meisten Menschen ganz ungewohnten Bahnen bewegt, prinzipiell offenbar nicht wesentlich von irgendeinem anderen einmal »gängig« gemachten affektiv-kognitiven Wegsystem, das heißt von einer beliebigen Alltagslogik. In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, daß formal ganz ähnliche Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen, wie wir sie bisher vorwiegend auf normalpsychologischer und individueller Ebene kennengelernt haben, sich ebenfalls im pathologischen und kollektiv-sozialen Bereich entwickeln können. Vorwiegend kollektiver Art sind gerade auch die wissenschaftlichen Denkprozesse, deren emotionale und kulturelle Determinanten uns speziell interessieren. Bevor wir uns diesen

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Zur Entstehung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten« 207

Fragen zuwenden, wollen wir aber versuchen, aus den in diesem Kapitel in Sicht gekommenen Facetten einer fraktalen Affektlogik noch einige allgemeinere Schlüsse zu ziehen. Die Analyse von konkreten Beispielen von Fühl- und Denkentwicklungen in unterschiedlichen Affektlagen hat insbesondere gezeigt, daß erst die Mitberücksichtigung der Zeitdimension es erlaubt, die Entstehung von individuum- oder gruppenspezifischen affektiv-kognitiven Eigenwelten befriedigend zu verstehen. Nur über unzählige repetitive Durchgänge durch immer wieder ähnliche Fühl-, Denk- und Verhaltenstrajektorien bilden sich unter den Operatorwirkungen der vorherrschenden Affekte mit der Zeit jene immer breiter ausgewalzten affektiv-kognitiven »Bahnen« oder »Schienen« aus, die sich schließlich zu funktional in sich geschlossenen Denkwelten (oder »Mentalitäten«, »Ideologien«) verflechten und verdichten. Auch etwas von der tatsächlichen Komplexität von derartigen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen wird, obwohl in unseren Schilderungen immer noch hochgradig komprimiert, erst anhand der Vergegenwärtigung von konkreten Einzelbeispielen deutlich. Insbesondere zeigt sich dabei immer wieder, daß hinter oder unter dem jeweils vorherrschenden Leitaffekt auch noch andere und zum Teil gegenläufige Gefühle (gewissermaßen Nebenattraktoren oder »Nebenrealitäten«) mitspielen. Diese offenbar allgegenwärtigen Affektmischungen (»Gefühl in Gefühl in Gefühl«), die erst dem zu schematischen Bild vom »reinen« Affektattraktor eine realitätsgerechte Tiefendimension verleihen, dürfen deshalb wohl zu Recht als ein zusätzlicher Aspekt der im Vorkapitel postulierten durchgehenden Fraktalstruktur von affektiv-kognitiven Phänomenen (»Struktur in Struktur in Struktur«) aufgefaßt werden. Andererseits aber haben wir auch gesehen und für wichtig befunden, daß man sich nicht in mehreren unterschiedlichen Affektzuständen (oder Stimmungen, Attraktorzuständen) zugleich befinden kann, ebensowenig wie die Aufmerksamkeit sich gleichzeitig, sondern nur nacheinander auf mehrere Brennpunkte zu konzentrieren vermag. Analoges gilt, genau besehen, selbst noch für den Zustand hochgradiger Ambivalenz, wo die verschiedenen Komponenten eines aus gegensätzlichen Gefühlen bestehenden Mischzustandes viel weniger wirklich miteinander als vielmehr in einem schnell alternierenden Nacheinander auftreten. Indes wird auch dadurch die Kraft eines Gefühls eigentümlich gebrochen. Die – speziell aus konstruktivistischer Perspektive – bedeutsame Folge dieser Einsicht ist, daß uns die Wirklichkeit unausweichlich in einer bestimmten emotionalen Färbung erscheint, wobei sich namentlich der Gegensatz zwischen »gehobenen« Gefühlen wie Freude, Lust, Liebe oder Zärtlichkeit mit entspannter Zuwendung

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Facetten der fraktalen Affektlogik

einerseits und »gedrückten« Gefühlen wie Angst, Wut oder Depression mit spannungvoller Abwendung oder Abgrenzung andererseits als nicht überbrückbar erweist. Beide polar verschiedenen Verhaltensweisen und Wirklichkeitskonstruktionen aber sind, wie Bollnow wohl als erster philosophisch und erkenntnistheoretisch erschlossen hat, grundsätzlich ganz gleichwertig. Eine weitere Einsicht von allgemeiner Bedeutung, die bei der Betrachtung von konkreten Einzelbeispielen je länger desto deutlicher wird, ist die Tatsache, daß es kaum je formallogisch unkorrekte Verknüpfungen von kognitiven Mikroelementen von Moment zu Moment sind, die zur Ausbildung der besagten affektiv-kognitiven Eigenwelten führen. Vielmehr geht es dabei jeweils um eine »Logik« (in unserem weiten Sinn der »Weise der Verknüpfung von kognitiven Elementen«) übergeordneter Art, deren Gesetzmäßigkeiten meines Wissens bislang nicht systematisch erforscht worden sind: nämlich um die affektbeeinflußte Auswahl, Gewichtung und Verknüpfung von kognitiven Makroelementen – gewissermaßen fertigen Bauelementen mittlerer Größenordnung – über längere Zeiträume, deren logische Grundstruktur an sich durchaus korrekt und folgerichtig sein mag. Selbst wenn einzelne formallogische Ungereimtheiten in Momenten der akuten Angst, Wut, Trauer oder auch Freude darin zweifellos vorkommen (ein frappantes Beipiel war etwa Hagens widersinnige Zerstörung des rettenden Fährbootes über die Donau im »Nibelungenlied«, die die eben vernommenen schlimmen Prophezeiungen der Meerfrauen nur befestigt statt widerlegt), so resultieren enorme schließliche Abweichungen vom Durchschnittsdenken bei solchen Langzeitprozessen doch keineswegs in erster Linie aus solchen logischen Fehlern, sondern aus der Kumulation von repetitiven affektbedingten Kleinstabweichungen von stets gleicher Tendenz – ein mit dem chaostheoretischen »Schmetterlingseffekt« zusammenhängendes Phänomen von ebenfalls beträchtlichem konstruktivistischen Interesse: Es bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß Intelligenz und logisches Denken allein keineswegs vor dem Abdriften in unter Umständen hochgradig abwegige Eigenwelten bewahren – eine Tatsache, für welche es auf individuellem wie kollektivem Niveau eine beliebige Zahl von Belegen gibt. Erkenntnistheoretisch wäre deshalb zu postulieren, daß neben der traditionellen formalen Logik, Aussagenlogik und ihren vielen Differenzierungen, die sich weitgehend auf dem Niveau einzelner Sätze oder Aussagen abspielen, eine »Logik« auf einem hierarchisch sehr viel höheren Niveau existiert, die vorwiegend affektlogischen Gesetzen gehorcht und der weiteren Untersuchung bedürfte.

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Sechstes Kapitel Psychopathologie – Über krankhafte affektiv-kognitive Verrückungen

Die Kenntnis der Affektivität ist die Grundlage der Psychopathologie. E. Bleuler (1926, S. 5)

Eine weitere wesentliche Facette einer fraktalen Affektlogik, der wir uns nun zuwenden wollen, ist das große Feld der Psychopathologie – der ursprüngliche Ausgangspunkt des affektlogischen Ansatzes überhaupt – und darin insbesondere das Phänomen von plötzlichen globalen »Verrückungen« im gesamten affektiv-kognitiven Gleichgewicht, wie sie speziell bei Psychosen oft spektakulär zu beobachten sind. Abgesehen vom Gewinn, den eine affektlogisch-chaostheoretische Sichtweise für das Verständnis und – wie wir später noch sehen werden – auch die Behandlung krankhafter psychischer Störungen selbst verspricht, dürfen wir wohl auch hoffen, daß die Untersuchung von groben Abweichungen von der Norm unseren Blick schärft für Mechanismen verwandter Art, die sich hinter der normalen Funktionsweise des »psychischen Apparats« verbergen. Die herangezogenen Fallbeispiele reichen von den Neurosen bis zu den Suchterkrankungen und Psychosen. Sie stammen vorwiegend aus der psychotherapeutischen Praxis und illustrieren damit zum Teil auch schon gewisse später gesondert zu besprechende therapeutische Aspekte, die indessen ebenfalls zum Krankheitsverständnis beitragen. Ziel ist nicht, das komplexe Feld der Psychopathologie umfassend zu erörtern, sondern nur, die im ersten Teil des Buches erarbeiteten affektlogisch-chaostheoretischen Verstehenslinien anhand von einigen Störbildern bis in den Bereich des Krankhaften hinein weiterzuverfolgen. Gleichzeitig sollen damit die in einem früheren Kapitel entworfenen Umrisse einer in neuer Weise »dynamischen Psychiatrie« schärfere Konturen gewinnen. Eingehendere Untersuchungen zu psychopatholo-

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Facetten der fraktalen Affektlogik

gischen Einzelfragen aus gleicher Perspektive gibt es im übrigen auch schon an anderer Stelle*. Zudem soll an dieser Stelle nochmals nachdrücklich auf die »Strukturdynamik« von Werner Janzarik hingewiesen werden, in welcher die ganze Psychopathologie von grundsätzlich recht ähnlichen, weil – unter anderen Namen – ebenfalls auf der Annahme eines untrennbaren Zusammenwirkens von Emotionalität und Kognition beruhenden Grundpositionen aus durchleuchtet worden ist. In der Tat entspricht Janzariks Begriff von »Dynamik« weitgehend meinem Begriff der Affekte; zugleich steht seine Beschreibung von (»dynamisch befrachteten«) »Repräsentationen« meiner Auffassung von Kognition sehr nahe. Ebenso stimmt das, was er als »Struktur« bezeichnet, praktisch mit meinem »Gefüge von affektiv-kognitiven Bezugssystemen« (oder von »integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen«) überein. Bei allen Unterschieden nach Herkunft, Begrifflichkeit und Zielsetzung, auf die wir in einem späteren Kapitel noch näher eingehen werden, stimmen im grundsätzlichen doch viele Konzepte Janzariks mit denen der Affektlogik in bemerkenswerter Weise überein. Auch nach meiner eigenen Auffassung, wie nach derjenigen von Janzarik (1988, S. 21) selber, stützen und ergänzen sich deshalb die beiden je eigenständig entwickelten Ansätze in mancher Hinsicht gegenseitig. Die nachfolgende Analyse von psychopathologischen Störungsbildern geht davon aus, daß es aus affektlogisch-chaostheoretischer Sicht zwischen »gesunden«, »normalen« oder alltäglichen affektiv-kognitiven Funktionssystemen auf der einen und »krankhaften« oder »abnormen« solchen Systemen auf der anderen Seite (zumindest) eine wesentliche strukturelle Gemeinsamkeit gibt: In beiden Fällen handelt es sich um selbstorganisatorische Fließgleichgewichte oder dissipative Strukturen, die gerade deshalb als (deterministisch chaotische) Attrakoren oder Energiesenken funktionieren, weil sie die verfügbaren (Affekt-) Energien so ökonomisch wie in der gegebenen Situation überhaupt möglich verarbeiten, das heißt auf die relevanten Kognitionen verteilen oder dissipieren. – Indes erfaßt der aus der Umgangssprache entlehnte Ausdruck »verrückt« oder »Verrückung« doch sehr treffend, was das Besondere der gemeinhin als pathologisch bezeichneten Funktionsweisen ausmacht: nämlich eine sinnverrückende Verschiebung aller gewohnten Relationen zwischen affektiven und kognitiven Elementen, entstanden in der Regel durch ein relatives Übergewicht bestimmter Affekte beziehungsweise affektiv-kognitiver Verbindungen. In milde* Ciompi 1982, 1986, 1991a, 1991b, 1994, 1996a, 1996b, 1997a, 1997b, 1997c; Ciompi et al. 1985, 1991, 1992a, 1992b, 1993a, 1993b.

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rer Form kommen solche Verrückungen keineswegs nur in Psychosen, sondern ebenfalls im Alltag vor: Vorübergehend »verrückt« in diesem Sinn ist, wie wir gesehen haben, beispielsweise auch der Verliebte oder Jähzornige, und zahlreiche mehr oder weniger umschriebene Verrücktheiten gibt es im gewöhnlich als »neurotisch« bezeichneten unscharfen Übergangsbereich zwischen gesund und krank. – Betrachten wir zunächst ein Fallbeispiel gerade aus dieser Übergangszone.

Vom Mann, der nie nein sagen konnte Neurotische Entwicklungen (abwegige unbewußte Dauerhaltungen und Verhaltensweisen ohne Verlust des alltäglichen Realitätsbezugs) wurzeln in der Regel in der frühen Kindheit und verlaufen dementsprechend vorwiegend schleichend. In Form beispielsweise von akuten Angstanfällen, Zwängen oder hysterischen Konversionssymptomen (etwa Lähmungen, Sprechstörungen, Erregungszuständen) können zwar in ihrem Rahmen auch nichtlineare sprunghafte Verrückungen des gesamten affektiv-kognitiven Gleichgewichts vorkommen, denen, wie gesagt, in diesem Kapitel unsere besondere Aufmerksamkeit gelten soll. Daß aber eine krisenhafte Wende, und obendrein noch zum Besseren, innerhalb einer jahrzehntelangen neurotischen Entwicklung innerhalb kürzester Zeit erfolgen kann, ist eine Rarität, die mir selbst in dieser krassen Form in meiner ganzen Berufskarriere nur ein einziges Mal begegnet ist. Ich bringe dieses Beispiel, da es die bei jedem solchen Umschlag zu beobachtende »Umverteilung aller affektiv-kognitiven Werte« in besonders eindrucksvoller Weise zeigt. Vor nunmehr fast fünfzehn Jahren verlangte eines Tages ein Patient, dessen Schwierigkeiten ich im vereinfachenden Bild vom »Mann, der nie nein sagen konnte« zusammenfassen will, dringlich meine psychotherapeutische Hilfe. Da ich gerade vor einer Auslandsreise stand, konnte ich ihm fürs erste nicht mehr als eine halbe Stunde zur Verfügung stellen. In dieser kurzen Zeit ereignete sich folgendes: In mein Büro trat ein etwa vierzigjähriger Mann mit einem sympathisch offenen und zugleich tief zerquälten Gesicht, der sofort stoßweise und mit großer kompakter Direktheit berichtete, daß er sich seit gut dreißig Jahren – das heißt seit seinem zwölften Lebensjahr – mit seinem Vater und der ganzen Herkunftsfamilie in einer »unmöglichen Situation« befinde, die er nun einfach nicht mehr länger aushalte. Damals hatte er durch Zufall eine geheime außereheliche Liebschaft des gesellschaftlich exponierten autoritären Vaters entdeckt, deren Offenlegung wohl eine soziale wie familiäre Katastrophe bedeutet hätte. Von diesem Moment an bis heute verbarg er diese Entdeckung – gleich wie spätere ähnliche väterliche Eskapaden – nicht nur vor der kränklichen Mutter und allen Geschwistern, sondern ließ sich obendrein, den Ahnungslosen spielend, vom Vater auch noch andauernd in

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heimliche Botendienste und andere Aufträge einspannen, deren Sinn ihm nur zu klar war. Sich zu verweigern oder gar zu erklären verbot ihm nicht nur seine Angst vor der übermächtigen Vaterfigur, sondern ebenfalls die Tatsache, daß der alte Patriarch vor Jahren einen Herzinfarkt erlittenen hatte und deshalb angeblich ständig der äußersten Schonung bedurfte. Obwohl seiner nie erlahmenden Hilfsbereitschaft wegen in einem Sozialberuf überaus erfolgreich, hatte sich »der Mann, der nie nein sagen konnte« mit den Jahren in eine derart massive Medikamenten- und zeitweise auch Alkoholabhängigkeit geflüchtet, daß nunmehr seine ganze Berufsund übrige Lebenssituation aufs höchste gefährdet war. Gleichzeitig wurde klar, daß äußerlich wie innerlich praktisch sein ganzes Leben um die vertrackte VaterSohn-Beziehung herum organisiert war. Unter dem Druck der aktuellen Not des Patienten, aber auch der Intensität des persönlichen Kontakts tat ich – immer noch innerhalb derselben dreißig Minuten – etwas im Vergleich zu meinem sonstigen therapeutischen Stil völlig Unorthodoxes: Ich bezog sofort aktiv Stellung und riet dem Patienten, auf der Stelle zu seinem Vater zu gehen und ihm sein dreißigjähriges Mitwissertum und die damit verbundenen Leiden offenzulegen. – Schockiert lehnte der Mann diesen Vorschlag mit allen Zeichen heftigster Angst zunächst rundweg ab. Nicht nur war er überzeugt, seinen Vater mit einer solchen Eröffnung augenblicklich umzubringen, sondern auch aus eigenen inneren Gründen sah er sich völlig außerstande, dem gefürchteten Alten in dieser Weise entgegenzutreten. Nachdem er sich meiner unerschütterlichen Sicherheit und Hilfe notfalls auch für den Vater versichert hatte, fand die denkwürdige Unterredung, deren Schilderung ich hier übergehe, nach einigen Tagen doch statt. Sie brachte – befestigt allerdings von einer dann rund drei Jahre lang unregelmäßig fortgeführten Psychotherapie – schlagartig nicht nur eine tiefgehende Veränderung des Vater-SohnVerhältnisses in Richtung auf eine partnerschaftlichere Beziehung, sondern überhaupt des ganzen Lebens- und Verhaltensgefüges des Patienten. Er hörte auf, Alkohol oder andere Drogen zu konsumieren, grenzte sich beruflich besser von den unersättlichen Bedürfnissen seiner Klienten ab und lernte sich auch in manchen anderen Lebensbezügen viel energischer als bisher zu behaupten. Vielleicht am bezeichnendsten war, daß es ihm nach einiger Zeit sogar gelang, seinen großen Hund in die Schranken zu weisen, der sich bislang mit bedrohlichem Knurren und Zähnefletschen allen Versuchen widersetzt hatte, ihn vom Ehebett und den bequemen Sesseln des Wohnzimmers, wo er sich nach Belieben breitzumachen pflegte, zu entfernen. Ebenso brachte er es endlich fertig, für einen in ähnlicher Weise keinerlei Grenzen mehr respektierenden Landstreicher, dem er vor Jahren auf seinem Grundstück eine Hütte zur Verfügung gestellt hatte, eine andere Unterkunft zu finden.

Ein derartig weitläufiger Effekt einer einzigen punktuellen (wenn auch anschließend systematisch konsolidierten) Intervention in einer jahrzehntelang chronifizierten neurotischen Entwicklung ist zwar in meiner Erfahrung, wie gesagt, praktisch einmalig. Unerwartet große positive oder auch negative Wirkungen kleinster Ursachen sind indessen in Krisensituationen nicht selten; manchmal vermag sogar ein einziges Wort solche Situationen zum Guten oder auch Schlechten zu wenden. So erinnere ich mich auch nach über zwanzig Jahren nie ohne Schuldgefühl an eine hochsensible junge Frau aus einer von mir geleiteten therapeutischen Gruppe von Schizophrenen, die sich mitten aus einer hoffnungsvollen Besserungsphase heraus

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Psychopathologie – Über krankhafte affektiv-kognitive Verückungen 213 am Tag nach einer schwierig verlaufenen Gruppensitzung überraschend umbrachte. Denn noch heute vermute ich, daß eine etwas kritische Bemerkung an die Adresse der ganzen Gruppe, mit der ich die Sitzung ungeschickterweise abschlossen hatte, als Zünglein an der Waage zu diesem für alle sehr traumatischen Ereignis beigetragen hatte. Ein Gegenbeispiel für den möglichen positiven Effekt einer winzigen Bemerkung in einer labilen Situation ist eine andere junge Frau, die vor Jahren wegen eines schweren Suizidversuchs nach gescheiterter Ehe und Berufskarriere völlig verzweifelt auf unserer Kriseninterventionsstation gelandet war. Anläßlich meiner wöchentlichen Visite dort hatte ich ihr offenbar gesagt, sie komme mir vor wie ein Blümchen, das am Verdursten sei und dringend des lebensspendenden Wassers bedürfe. Vier Jahre später traf ich sie als blühende Frau zufällig in der Stadt. Sie sprach mich spontan an und rief mir diese Bemerkung in Erinnerung. Daß ich sie in ihrem traurigen Zustand damals mit einer Blume verglichen hätte, habe sie derart gerührt, daß sie von diesem Moment an von den vielfältigen therapeutischen Angeboten auf der Station ganz anders als vorher zu profitieren vermocht habe. Auch heute noch gebe ihr dieses Bild in schwierigen Momenten Mut und Kraft.

Solche Beispiele erinnern an den berühmten Schmetterlingseffekt aus der Chaostheorie. Vor allem aber zeigen sie, daß – wie ebenfalls chaostheoretisch gut verständlich – ein umschriebenes affektiv-kognitives Einzelelement (ein Wort, ein Bild, eine einzelne Handlung oder Geste) in einer labilen Krisensituation ein ganzes psychosoziales Feld richtiggehend zu »versklaven« und damit von Grund auf neu zu organisieren vermag. Neben den versklavenden kognitiven Elementen spielen dabei immer auch die damit untrennbar verbundenen organisierenden Wirkungen der Affekte eine entscheidende Rolle. Eine bestimmte affektive Färbung, die nach und nach das ganze psychische Feld durchdringt – im ersten berichteten Fall sicher eine negative, im zweiten eine positive – funktioniert als übermächtiger Attraktor für alle möglichen dazu passenden Denk- und Verhaltensweisen. Gleichzeitig hält sie alle nicht zu der dominierenden Stimmung passenden Fakten und Gedanken fern. Die vielfach allein als wichtig erachteten kognitiven Inhalte sind gewissermaßen nur die Anker- oder Kristallisationspunkte (Ordnungsparameter) für solche Effekte, die Affekte jedoch – wie Bleuler dies im Anfangszitat zu diesem Kapitel so prägnant formuliert – die dabei dynamisch wirksamen Motoren und Operatoren. Eine Art von progressiver Versklavung und Verrückung des gesamten Fühlens, Denkens und Verhaltens, die allerdings meist nicht sprunghaft, sondern im Gegenteil monate-, jahre- oder gar jahrzehntelang kontinuierlich voranschreitet, stellen im übrigen die neurotischen Entwicklungen generell dar. Auch dies ist sehr klar nicht nur beim ersten, den Neurosen zuzuordnenden Beispiel vom »Mann, der nie nein sagen konnte«, sondern zumindest angedeutet ebenfalls bei der auch neurotisch mitbedingten reaktiven Entwicklung zu erkennen, als wel-

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che wir die »Blumenfrau« von unserer Kriseninterventionsstation verstanden haben. Insgesamt ergibt sich für den reaktiv-neurotischen Übergangsbereich zwischen gesund und krank das Bild von bald längere Zeit stabilen und bald wieder plötzlich in ganz andersartige Attraktoren hinüberschwappenden psychosozialen Fließgleichgewichten oder dissipativen Strukturen. Wie im vierten Kapitel erklärt, läßt sich auch deren Dynamik durch eine persönlichkeitstypisch zwar recht konstante »affektiv-kognitive Potentiallandschaft« darstellen, die ihre genauere topographische Konfiguration unter Umständen indessen ganz erheblich zu verändern vermag.

Sucht oder »psychischer Krebs« – eine weitere Form von affektiv-kognitiver Verrückung Eine besonders bösartige Variante von Verrückung aller affektiv-kognitiven Gleichgewichte stellen ferner die verschiedenen Suchterkrankungen dar, klassischerweise also die Alkohol-, Drogen- und Medikamentensucht, in einem weiteren Sinn aber ebenfalls manche alltäglicheren Verhaltensweisen wie die Freßsucht, die Habsucht, die Spielsucht, die Eifersucht und so weiter, welche von der Volkssprache nicht von ungefähr mit dem gleichen Ausdruck belegt werden. Manche dieser Suchtformen können, einer malignen Krebswucherung durchaus vergleichbar, das »psychische Gewebe« mehr und mehr infiltrieren und unter Umständen schließlich gänzlich zerstören. Hierzu das folgende Beispiel: In den siebziger Jahren wurde uns aus dem Ausland der neunzehnjährige einzige Sohn eines bekannten Chirurgen zur stationären Behandlung zugewiesen, weil er sich zum Schrecken seiner Eltern mit der damals in seiner Stadt gerade neu etablierten Drogenszene eingelassen und dabei selbst »versuchsweise« schon mehrfach Heroin und LSD konsumiert hatte. Der Vater, ein verständiger feinsinniger Herr, kam persönlich mehrmals her und gab sich auch sonst jede erdenkliche Mühe, um seinen Sohn dem drohenden Abgleiten in Sucht und Verwahrlosung zu entreißen. Der intelligente, gerade vor der Matura stehene junge Mann selbst wirkte gutwillig, aber weich und überbehütet. Die Drogen hätte er nur aus Neugier und modisch-spielerischer »Auflehnung gegen die Bourgeoisie« eingenommen. Ihre Gefahren seien ihm bewußt und er wolle und könne künftig nun ganz auf sie verzichten. Untergründig blieb freilich die Attraktion durch die einmal kennengelernten Lusterlebnisse weiterhin spürbar. Nach einigen problemlosen Wochen auf unserer Station mit anscheinend guter psychotherapeutischer Konsolidierung kehrte er für seine Examina nach Hause zurück. Drei Monate später stand er trotz bestandenen Prüfungen eines schweren Rückfalls wegen wieder da. Die therapeutische Arbeit begann von vorne und schien wiederum erfolgreich. Doch im Lauf mehre-

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Psychopathologie – Über krankhafte affektiv-kognitive Verückungen 215 rer Jahre wiederholte sich dasselbe Muster noch mehrfach. Auch medikamentöse Behandlungsversuche – unter anderem mit der Ersatzdroge Methadon – brachten keinen dauernden Erfolg. Immer wieder kam es nach hoffnungsvollem Neubeginn zu einem traumatischen, eine Zeitlang noch ängstlich verschleierten Absturz. Ein unaufhaltsamer sozialer Abstieg setzte ein. Sowohl das angefangene Studium wie auch alle seine früheren Sozialbeziehungen brachen zusammen, darunter eine lange noch tragende Bindung zu einer Mitstudentin. Mit der Familie kommunizierte der zunehmend verwahrloste Mann jetzt höchstens noch, wenn er dringlich Geld brauchte, und irgendwelchen Behandlungen entzog er sich mit der Zeit völlig. Auch wir verloren ihn schließlich ganz aus den Augen, bis uns vor Jahren dann die traurige Nachricht erreichte, er sei vor einiger Zeit an einer Überdosis Heroin gestorben.

Zwar geht nicht etwa jede schwere Suchterkrankung derart verhängnisvoll aus. Was aber vermag die affektlogisch-chaostheoretische Sichtweise über bekannte psychoanalytische, sozio- und familiendynamische oder auch behavioristische Erklärungen hinaus (die alle ihren Gültigkeitsbereich durchaus behalten) zum Verständnis von solchen und ähnlichen tragischen Entwicklungen beizutragen? – Am wichtigsten erscheint aus dieser Perspektive zunächst wiederum die progressive Bahnung einer aus spezifischen Affekten und Kognitionen zusammengesetzten »Fühl- Denk- und Verhaltensschiene«, die zufolge der darin verpackten Lustgefühle mit der Zeit derart massive Attraktorwirkungen entfaltet, daß ein Entkommen schließlich unmöglich wird. Jede einmal erfahrene Lust drängt, wie schon Freud unterstrichen hat, nach Wiederholung. Sogar das gewöhnliche Fühlen, Denken und Verhalten ist letztlich, so haben wir gezeigt, ein verkappter repetitiver »Lustweg«, das heißt eine auf hunderterlei Weisen allseitig vernetzte und zunehmend automatisierte Art, durch Lösen von Spannung Lust zu gewinnen beziehungsweise Unlust zu vermeiden. Werden nun aber so massive Lust- und Entspannungsgefühle, wie sie gewisse Drogen zumindest anfänglich flashartig zu vermitteln vermögen, systematisch mit bestimmten kognitiven Inhalten (für die Drogenszene charakteristischen Personen, Orten, Ideen oder »Mentalitäten«, dazu bestimmten »Stoffen«, einer spezifischen Atmosphäre mit eigenem Sprach- und Umgangsstil etc.) gekoppelt, so entwickelt sich ein neues, in sich operational geschlossenes affektiv-kognitives Wegoder Bezugssystem (eine neue »Eigenwelt«), das einer progressiven Verrückung aller Werte gleichkommt und mit seiner Attraktivität, teufelskreisartig potenziert durch abnehmende Möglichkeiten von Lustgewinn auf herkömmlichen sozialen oder beruflichen (Um-)Wegen, schließlich alle guten Vorsätze immer wieder hinwegfegt. Mit der Zeit wird die Schwelle zum »normalen« Lustgewinn sogar derart hoch beziehungsweise die Hemmschwelle zum Kurzschluß über die Droge bei der geringsten Frustration so tief, daß trotz aller mit der Drogenbe-

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schaffung verbundenen Unlust dieser Kurzschluß zur nächstliegenden Selbstverständlichkeit wird. Auch ein scheinbar paradoxes »Geborgensein in der Störung« (Janzarik 1988, S. 122) – und bei Drogenabhängigen oft stark auch im zugehörigen Milieu – wird über solche Mechanismen gut verständlich. Eine verhängnisvolle Rolle spielt dabei des weiteren die Tatsache, daß künstlich durch Drogen hochgepeitschte Lustintensitäten von einer Stärke und sozialen Brisanz, wie sie aus guten Gründen von der Natur – beziehungsweise den weisen Selektionsmechanismen der Evolution – in Form des Orgasmus höchstens der Fortpflanzung vorbehalten bleiben, keinen Bestand haben, sondern durch Habituation rasch abstumpfen. Die Folge ist das für alle malignen Suchtentwicklungen charakterstische Bedürfnis nach ständiger Dosiserhöhung, was über einen zusätzlichen Teufelskreis zur Aggravation von sozialen und unter Umständen kriminellen Folgeerscheinungen, zu neuen Frustrationen und damit zu einer progressiv erhöhten Virulenz des Drogen-Attraktors führt. Ein anderes charakteristisches Phänomen der Suchtdynamik, das sich aus der vorgeschlagenen Perspektive besonders gut verstehen läßt, sind die periodischen plötzlichen »Abstürze« allen guten Vorsätzen zum Trotz, wie sie auch das obige Fallbeipiel kennzeichnen. Affektlogisch-chaostheoretisch gesehen handelt es sich bei solchen typischen Bifurkationen natürlich um Rückfälle in die abgrundtiefen affektivkognitiven Attraktorbecken oder energetischen Senken, die durch die anfänglich so lustvollen Drogenwirkungen im »psychischen Potentialfeld« gebahnt und durch jede Wiederholung tiefer ausgehöhlt worden sind. Diese Senken oder Kerben liegen in der Folge jederzeit bereit und können unter geeigneten Bedingungen reaktiviert werden. Als Kontrollparameter, die die Schwelle zu ihnen kritisch verflachen, funktionieren in erster Linie psychosoziale und unter Umständen (zum Beispiel in Form von Entzugserscheinungen) auch körperliche Spannungen, während als Ordnungsparameter alle möglichen mit Lustgefühlen befrachteten kognitiven Komponenten (neben der Droge selbst zum Beispiel ein lustvoll erlebter Ort, ein Bild, eine Person, eine Idee oder eine sonstwie angenehme Erinnerung) aus den betreffenden affektiv-kognitiven »Programmen« selbst wirksam werden. Diese mit dem Drogenkonsum verbundenen buchstäblich »anziehenden« Bezugssysteme sind es, die von einem kritischen Punkt an das ganze Motivations- und Handlungsgefüge versklaven und schlagartig neu ordnen. Zugleich bringen die gleichen in sich durchaus kohärenten Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster sämtliche »vernünftigen« Alternativen »zum Absturz«, das heißt, sie verdrängen sie radikal. Die Tatsache, daß

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Psychopathologie – Über krankhafte affektiv-kognitive Verückungen 217

man nicht simultan in verschiedenen Stimmungen samt zugehörigen Denk- und Verhaltenssystemen sein kann, spielt auch hier eine entscheidende Rolle: Hat der Leitaffekt der Sucht, also die »Drogenattraktionsstimmung«, einmal die Oberhand gewonnen, so verlieren sämtliche noch so vernünftigen Gegenideen ihre Kraft. Grundsätzlich ganz ähnliche Mechanismen sind ebenfalls bei allen anderen suchtartigen Erscheinungen am Werk, insbesondere aber bei denjenigen, die – wie etwa die Sexualität oder die Lust an Gewalt – mit überstarken elementaren Emotionen einhergehen. Keine Koppelung von intensiven Lustgefühlen mit kognitiven Reizen bleibt folgenlos. Zu einem suchtartigen Bedürfnis nach Dosiserhöhung führt deshalb auch der gedankenlose Mißbrauch von prickelnden Gewalt- und Horrorbildern als lustige Unterhaltung. Solche angeblich harmlosen EmotionsKognitionskoppelungen bahnen, wie sich an konkreten Fallbeipielen immer wieder zeigt, untergründige Bereitschaften zur Gewaltanwendung, die unter geeigneten Umständen bösartig entarten können. Ganz ähnlich erzeugt die immer hemmungsloser in den Alltag eindringende Pornographie – ob verquickt oder nicht mit offener Gewalt – unweigerlich neuartige affektiv-kognitive Eigenwelten, welche differenziertere Gefühle wie Zärtlichkeit, Respekt und Liebe, die sich sonst mit dem elementaren Lustattraktor Sexualität verknüpfen könnten, krebsartig verdrängen und zerstören. Zu welchen kriminellen Perversionen etwa die in illegalen Videos süchtig konsumierte systematische Verbindung von sexuellen Lustgefühlen mit gewalttätigem Sadismus an wehrlosen Kindern, vergewaltigten Frauen oder mißhandelten Tieren schließlich führen kann, steht (noch) in Einzelfällen täglich in der Presse zu lesen.

Dissoziative Störungen, multiple Persönlichkeit Dem beschriebenen Wechselbad zwischen »felsenfesten« guten Vorsätzen und repetitiven »Abstürzen«, das die Geschichte einer Drogensucht oder sonstigen Sucht charakterisiert, stehen auch die sogenannten dissoziativen (persönlichkeitsspaltenden) Störungen nahe, zu denen unter anderem die Erscheinung der sogenannten »multiplen Persönlichkeit« gehört. Dabei werden bei ein und derselben Person abwechslungsweise kraß unterschiedliche Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen oder Persönlichkeitszustände dominant, die weder emotional noch intellektuell miteinander vereinbar sind. Ein berühmtes literarisches Beispiel findet sich in R. L. Stevensons »The strange case of Mister Jekyll und Dr. Hyde«. Kein anderes Konzept als dasjenige von

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eigenständig sich entwickelnden affektiv-kognitiven »Schienen« und Eigenwelten vermag, so meine ich, solche schwer kontinuitäts- und identitätsschädigende Spaltungsphänomene einigermaßen zu erklären. Dissoziative Störungen entstehen vermutlich vorwiegend auf der Basis einer konstitutionell oder auch lebensgeschichtlich bedingten Ich- und Identitätsschwäche, können aber – wie der nachstehend berichtete Fall aus meiner psychotherpeutischen Praxis zeigt – in besonderen Lebenslagen ebenfalls bei sonst durchaus gesunden und lebenstüchtigen Menschen auftreten. Liebe, Sexualität und weitere elementare affektive Bedürfnisse spielen dabei als Energetika eine zentrale Rolle. Ein beruflich erfolgreicher, aber seit langem in schwieriger Ehe lebender und innerlich vereinsamter Jurist Ende Vierzig verliebte sich nach einer Periode großer emotionaler Spannungen in einer entfernten Stadt, in der er oft zu arbeiten hatte, heftig, aber ambivalent in eine um zwanzig Jahre jüngere geschiedene Frau mitsamt ihren drei kleinen Kindern. Nach der ersten gemeinsamen Nacht träumte er, er werde, im Meer schwimmend, von einem großen Säbelfisch in zwei Teile zersägt; in einem zweiten Initialtraum entfachte er in unmittelbarer Nähe seines Hauses ein gefährliches Feuer, und in einem dritten wurde er stundenlang von einem nicht mehr abschüttelbaren schrecklichen Dämon geritten. Trotzdem tauchte er, kaum war er in der Nähe der Geliebten, mit Entzücken in deren für ihn ganz neuartige und faszinierende Welt ein, fand dort eine nie gekannte Wärme und auch sexuelle Erfüllung, dachte laut über eine Scheidung und neue Eheschließung nach. Alles, was die Geliebte und die gemeinsame Zukunft mit ihr betraf, sah er in diesem Zustand in den rosigsten, alles, was seine Frau und die Vergangenheit anging, dagegen in den düstersten Farben. So plötzlich wie gekommen, konnte sich aber, zumal wenn er wieder einige Tage daheim gewesen war, diese ganze Verzauberung in ihr Gegenteil verkehren. Die Geliebte wurde nun von der guten Fee zur raffinierten Verführerin und Hexe, die Ehefrau, die bald einmal von der anderen Beziehung wußte und, des ständigen Hin und Hers müde, schließlich ihrerseits auf Scheidung drängte, von der störenden Nebenbuhlerin zur alles verstehenden und verzeihenden Mutter. Wieder zählte für ihn dann nur noch die eigene Frau und Familie, die gemeinsame Vergangenheit, das seinerzeit zusammen hoffnungsvoll erbaute Haus. Der Mann konnte in dieser Verfassung seine Scheidungspläne überhaupt nicht mehr begreifen, suchte Versöhnung, jammerte, bremste, riß sich auch mehrfach gewaltsam von der Geliebten los – doch wenn er wieder in ihrer Nähe, oder, im Gegenteil, einmal auf einer fluchtartigen Reise nach Australien auch in größter Ferne von ihr weilte, so waren entgegen allen inzwischen gefaßten Beschlüssen Frau und Familie ihrerseits wie weggeblasen, der total zerrissene Mann stellte alles erneut auf den Kopf, geriet innerlich wie äußerlich immer mehr durcheinander, schlief kaum mehr und dachte zunehmend an Selbstmord als einzigen Ausweg. Nichts half, weder Psychotherapie noch Eheberatung noch Gespräche mit Freunden – bis nach vollen drei Jahren der seltsame Entschluß, bei jedem Wetter morgens vor dem Ankleiden eine Viertelstunde lang nackt im Freien oder an einem Fenster zu sitzen und dabei sich selbst und die Welt ringsum ruhig zu betrachten und zu spüren und zu hören, eine endliche Wende brachte: Über diese selbsterfundene Meditation fand der Mann auf einmal wieder »zu sich selbst«, das heißt zu einer stabilen inneren Einheit mit dem Resultat, daß er sich nun in Ruhe von der Geliebten und ihrer Umwelt definitiv zu lösen und die fast schon perfekte

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Psychopathologie – Über krankhafte affektiv-kognitive Verückungen 219 Scheidung zu stoppen vermochte, um dann zwei Jahre lang allein zu leben und schließlich, deutlich gereift, mit seiner Frau eine neue und wohl auch bessere, zumindest aber von gegenseitigen unrealistischen Erwartungen freiere Beziehung aufzubauen.

Was in dieser konstellationsmäßig zwar banalen, aber psychopathologisch doch recht spektakulären Dreieckssituation sowohl die außergewöhnliche Zuspitzung dissoziativer Störungen über Jahre wie auch die eigenartig unspektakuläre schließliche Wende bei einem psychisch bislang nicht auffälligen Menschen, tiefer gesehen, bewirkt haben mag, darüber kann man nur spekulieren. Gewiß wirkten lebenskritische, situative und bis in die Kindheit zurückreichende neurotische Komponenten dabei komplex zusammen. Bemerkenswert ist, formal und affektlogisch-chaostheoretisch gesehen, vor allem das abrupte Hinund Herspringen zwischen zwei affektiv wie kognitiv völlig unvereinbaren Attraktorpolen oder Fühl-, Denk- und Verhaltenswelten, sowie auch die Rolle, die dabei aller Wahrscheinlichkeit nach der globale psychische Spannungspegel als Kontrollparameter spielte: Krisenhaft erhöhte Hintergrundsspannungen lieferten die emotionale Energie zum ersten Sprung in ein umfassend neues Bezugssystem oder Attraktorbecken; solange der Spannungspegel hoch blieb, kam es zu keiner Stabilisierung weder in der einen noch anderen »dissipativen Struktur«, und alle Hilfen versagten; nach einer aus eigenen inneren Ressourcen endlich gefundenen Entspannung und Beruhigung unspezifischer Art dagegen gelang plötzlich relativ leicht eine definitive Genesung.

Sprunghafte »Verrückungen« des Fühlens und Denkens im Rahmen von Psychosen Noch weiter vom durchschnittlichen Alltagserleben entfernt sind die abwegigen Eigenwelten, die sich im Rahmen von sogenannten endogenen, das heißt ohne zureichenden äußeren Anlaß »von innen heraus« entstehenden manisch-depressiven oder schizophrenen Psychosen ausbilden. Erb- und Umweltfaktoren spielen dabei eine im Einzelfall ebenfalls schwer zu entwirrende Rolle. Sozusagen immer aber führen sie an einem kritischen Punkt sowohl zu einer globalen Umorganisation aller gewöhnlichen Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster wie gleichzeitig auch zu einer biochemischen Umstimmung, die – wohl gerade weil sie so umfassend ist – in der Regel sprunghaft erfolgt. Insbesondere bei der manisch-depressiven Psychose kann ein sol-

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cher Umschlag von einem Tag auf den anderen eintreten, um mit oder ohne Behandlung nach Wochen oder Monaten fast ebenso unvermittelt wieder zu verschwinden. Medikamente vermögen die krankhaften Phasen zwar zu mildern und zu kürzen, bisher aber kaum gänzlich zu unterdrücken. So beispielsweise bei der folgenden Patientin: Schon seit der Pubertät war die Stimmungslage der heute rund 50jährigen Frau von monatelangen Zeiten einer gewissen Bedrücktheit abwechselnd mit Phasen einer gehobenen Stimmung mit hektischen Aktivitäten gekennzeichnet gewesen. Dazwischen schoben sich ausgeglichenere Perioden von wechselnder Dauer. Erst mit der Zeit wurde klar, daß diese zunehmend intensiven, zunächst scheinbar eng mit äußeren Be- und Entlastungen zusammenhängenden Stimmungsschwankungen weitgehend eigengesetzlich abliefen und höchstens medikamentös, kaum aber psychotherapeutisch beeinflußbar waren. Retrospektiv ließen sich Zeichen der nun voll zutage getretenen (sub)manisch-depressiven Psychose andeutungsweise auch schon beim Vater und mehreren Verwandten nachweisen. In den gerade noch als submanisch (also knapp an der Grenze zu einer vollen euphorisch-psychotischen Realitätsentfremdung stehend) zu bezeichnenden gehobenen Phasen überschäumte die Patientin von Vitalität und Lebensfreude. Sie war voller Pläne, unternahm große Reisen, entwickelte eine ungeheuere und meist – was in der vollen Manie kaum mehr möglich ist – auch erfolgreiche Tatkraft, ergriff in ihrer Gemeinde verschiedenste kreative Initiativen, funktionierte als Theaterregisseurin und gleichzeitig Präsidentin einer wichtigen politischen Kommission, erteilte daneben in verschiedenen Fächern Nachhilfeunterricht und organisierte obendrein große gesellschaftliche Empfänge, bei denen sie ihre Gäste durch Charme und Lebhaftigkeit bezauberte. – Doch von einem Tag auf den anderen konnte diese gehobene Verfassung wie weggeblasen sein und einer tiefen Melancholie mit ständiger Müdigkeit und schwerer Einengung und Verlangsamung von Rede und Gedankengang Platz machen. Inhaltlich verdrängten nun nagende Selbstzweifel und grundlose Schuldgefühle alles andere. Vergangenheit wie Gegenwart und Zukunft erschienen ihr als wüst und leer, die gesamte Lebens- und Familiensituation hoffnungslos verdüstert, sie sehnte sich nur noch nach dem Tod und mußte auch immer wieder an Selbstmord denken. Der Schlaf war von grausigen Alpträumen – beispielsweise von einem riesigen stinkenden Sumpf, in dem sie versank – gestört, und tagsüber fraß sie sich (was anstelle einer totalen Appetitlosigkeit in solchen Zuständen gelegentlich zu beobachten ist) unter schwersten Gewissensbissen triebhaft bis zur Unförmigkeit mit Schokolade voll.

Was in diesem Fall zunächst besonders beeindruckt, ist die durchgehende Parallelität von affektiver Verfassung auf der einen und Inhalt wie Form des Denkens (schnell, flüssig, freudig, zukunftsgerichtet und assoziationsreich versus langsam, zäh, traurig, vergangenheitsbezogen und hochgradig eingeengt) auf der anderen Seite. Genauso gleichläufig verändert sich das gesamte Verhalten. Beide gegensätzlichen Zustände stellen einheitlich organisierte und in sich operational geschlossene (und deshalb auch mit rationalen Argumenten überhaupt nicht beeinflußbare) Funktionssysteme dar, die aus affektlogisch-chaostheoretischer Sicht wiederum als typische Energiedissipationsstrukturen

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oder übergeordnete affektintegrierte Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster imponieren. Völlig konträr sind dabei namentlich auch psychisches Tempo und Zeiterleben; da auffällige Veränderungen des Zeiterlebens praktisch mit allen psychischen Störungen einhergehen, vermuten manche Autoren darin wohl zu Recht einen der grundlegendsten Aspekte der globalen psychischen Befindlichkeit überhaupt (Gebsattel 1927; Strauss 1928; Binswanger 1960; Tellenbach 1983; Ciompi 1961, 1988c, Ciompi et al. 1990). Nirgends werden die operator- und attraktorartigen organisatorischintegratorischen Wirkungen spezifischer Affekte auf das gesamte Denken und Verhalten so deutlich erkennbar wie gerade in krankhaft manischen oder melancholischen Verstimmungen. Besonders eindrucksvoll ist dabei die monotone Einseitigkeit und Rigidität, mit welcher in Manie wie Melancholie entgegengesetzte affektkonforme Denk- und Verhaltensweisen über Wochen und Monate hin unbeeinflußbar von rationalen Argumenten immer gleich entweder mit freudig-gehobenen oder aber traurig-bedrückten Affekten (mitsamt all ihren körperlichvegetativen Begleiterscheinungen) verbunden bleiben. In den nach wie vor in mancher Hinsicht sehr rätselhaften schizophrenen Psychosen dagegen, mit denen wir uns ihrer Wichtigkeit halber zum Abschluß des Psychopathologiekapitels nun noch etwas näher befassen wollen, ist dies zumindest in den akuten Stadien grundlegend anders: Hier zeichnen sich die affektiv-kognitiven Verknüpfungen – und mit dem Fühlen genau unserer Hypothese von funktionell integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen gemäß wiederum auch das gesamte Denken und Verhalten – gerade nicht durch zu große Einseitigkeit und Starrheit, sondern im Gegenteil durch eine übergroße Wechselhaftigkeit und Labilität aus. Der folgende Fall einer akut schizophreniformen Psychose mag dies belegen. Eine 35jährige ledige Frau mit einer etwas »alternativen« Lebensweise und künstlerischem Talent – sie komponiert und malt, arbeitet kreativ fürs Fernsehen – nimmt mehrere Tage lang an einem afrikanischen Djembe-Trommelkurs teil. Die Gruppenatmosphäre ist intensiv, auch konflikthaft und erotisch aufgeladen. Das tagelange Trommeln führt bei der sensitiven Frau zu einer zunächst glücklichen, dann aber plötzlich ins Angstvoll-Ekstatische umschlagenden Stimmung. Auf einmal hört sie im Trommeln Stimmen, die sie verspotten; sie sieht auch Fratzen und wähnt sich von russischen Spionageagenten verfolgt. Ihr Zustand wechselt von einem Moment zum anderen: Bald starrt sie staunend versunken in eine Ecke, bald schreit sie auf, ist von panischen Ängsten geschüttelt, wird euphorisch, mißtrauisch, aggressiv. Dazwischen scheint sie momentweise wieder ganz normal zu sein. Indes gerät sie immer mehr durcheinander, will fliehen, redet wirres Zeug und wird von ihren Kollegen schließlich hocherregt in ein psychiatrisches Krankenhaus eingeliefert. Dort diagnostiziert man eine akute schizophreniforme Psychose und leitet eine medikamentöse Behandlung mit dämpfenden Neuroleptika ein.

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Nach der Aufnahme in unsere speziell auf die Behandlung von akuten Psychosen abgestimmte milieutherapeutische Wohngemeinschaft »Soteria Bern« (eine seit Mitte der Achtzigerjahre bestehende Piloteinrichtung, wo in enger Zusammenarbeit mit den Patienten selbst Medikamente weitgehend durch eine gezielt entspannende und bergende Atmosphäre ersetzt werden [Ciompi et al. 1991, 1992a, 1992b, 1993a, 1993b; Aebi et al. 1994]), hält der gleiche wechselvolle Zustand mit allmählich abnehmender Intensität noch über mehrere Wochen hin an. Ohne Medikation häufen und verlängern sich indessen ruhigere Zwischenzeiten, wo sie wieder ganz »sie selbst« ist und man vernünftig mit ihr sprechen kann. Gleichzeitig werden im engen persönlichen Kontakt in den zunächst sinnlos scheinenden Wahnideen für ihre Betreuer zunehmend verständliche und – wie sich in der Folge zeigt – weitgehend unbewältigte traumatische Elemente aus der eigenen Lebens- und Familiengeschichte erkennbar. Verschiedene traumartige Bedeutungsebenen tanzen dabei eine Zeitlang unstabil neben- und durcheinander: In einem abstrakt symbolischen Sinn geht es um die Patientin verschlingende Fluten von Schmutz und Unrat, die da irgendwo aus mythischem Untergrund aufsteigen. Gleichzeitig aber sieht und erlebt sie solche Räume und Bilder auch konkret. Auf einer anderen Ebene bedeutet dieser Unrat ihr Gefühl von Haß und Ekel gegenüber traumatischen Familienerlebnissen in ihrer Kindheit. Noch auf einer weiteren und ebenfalls stark regressiven Ebene drückt sich in der Psychose ein Gefühl von totalem Vernachlässigt- und Entwertetsein durch beide (objektiv vermutlich wenig präsente) Eltern aus, verbunden mit massiven Eifersuchtsgefühlen einer stark bevorzugten Schwester gegenüber. Gleichzeitig aber erscheint auf einem viel progressiveren und untergründig ebenfalls immer präsenten Niveau die ganze psychotische Krise als ein sinnvolles Ringen um ein volles Frau- und Erwachsenwerden mit endgültiger innerer Ablösung aus erdrückenden Familienbanden.

In insgesamt etwa zwanzig hochintensiven, je etwa einstündigen psychotherapeutischen Sitzungen können in der Folge alle diese Ebenen ein Stück weit gemeinsam verstanden und bearbeitet werden. Dabei entwickelt sich ein Gefühl von Vertrauen und Entspannung, auch von gegenseitiger Sympathie. Ebenso gelingt es, psychosenahe Anfälle von Angst mit ausgeprägten Derealisations- oder Depersonalitätsgefühlen (pathologische Veränderungs- und Entfremdungserlebnisse in bezug auf die eigene Person oder die Umwelt), die innerhalb und außerhalb der Therapie noch über ein Jahr lang immer wieder plötzlich einschießen, als Ausdruck von Blockaden im genannten Befreiungsprozeß zu verstehen und allmählich völlig zu überwinden. Dabei beeindruckt immer neu, wie die Frau im therapeutischen Dialog sozusagen von einem Moment zum anderen von einem angstvoll zerhackten in ein ganz gelöstes und normales »Fühl- und Denk-Register« hinüberspringen kann. Gewissermaßen läßt sie sich dank der erwähnten vertrauensvollen Beziehung immer wieder von einem psychosenah-regressiven in ein realitätsgerecht-progressives Funktionssystem »einrenken«. Als wirksamer Ordnungsparameter kann dabei noch und noch die aus einem Traum stammende Leitfigur einer starken reifen älteren Frau – eigentlich das Wunschbild ihrer selbst – eingesetzt werden. – Zu einem

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psychotischen Rückfall ist es seither nie mehr gekommen; die Frau ist weiter kreativ tätig, lebt in einer festen Beziehung und ist innerlich wie äußerlich wesentlich autonomer geworden. In meiner Beurteilung zu Behandlungsabschluß hatte die intensive Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Lebenssituation, die bei dieser feinfühligen aber identitätsungefestigten Mittdreißigerin durch die psychotische Krise und nachfolgende Psychotherapie in Gang gebracht worden war, insgesamt zu einer deutlichen persönlichen Reifung und Konsolidierung geführt. Einem spätern Bericht der Patientin zufolge durchlebte sie aber nach Jahren nochmals eine schwere depressive Krise mit mehrmonatiger Arbeitsunfähigkeit, in deren Verlauf die gleiche Grundproblematik von anderer Seite her erneut therapeutisch bearbeitet werden mußte. Die Mehrzahl der schizophrenieartigen Psychosen entwickelt sich wesentlich ungünstiger: Nicht selten verlieren sich die akut psychotischen Symptome (Wahn, Halluzinationen, Denkstörungen, Beeinflussungsgefühle und anderes mehr) überhaupt nie mehr völlig oder gewinnen doch immer wieder die Oberhand. Die Betroffenen kommen gar nie mehr, oder dann nur noch vorübergehend, »zu sich selbst«, obwohl (und zuweilen wahrscheinlich gleichzeitig auch weil ) sie andauernd neuroleptisch stark gedämpft und dadurch in ihrer Ich-Struktur auch zusätzlich verändert sind. Jedenfalls bleiben Fühlen wie Denken und Verhalten in vielfacher Weise verzerrt und verstört, so daß sie durch Aufgaben von einem gewissen Komplexitätsniveau, die die Kranken früher spielend bewältigt hatten (etwa sich normal im Straßenverkehr bewegen, einkaufen, mit Leuten reden, auf einem Amt vorsprechen, eine Arbeitsstelle oder Wohnung suchen), nun rasch überfordert werden. Unter größeren Belastungen kommt es trotz aller Medikation leicht zu Rückfällen in die gleiche angstvoll-labile Akutsymptomatik wie am Anfang, was einen stets länger werdenden Rattenschwanz von sozial, beruflich und psychologisch negativen Folgeerscheinungen nach sich zu ziehen pflegt, die teufelskreisartig das Auftreten von Störungen ihrerseits begünstigen. In solchen chronischen Entwicklungen ist deshalb oft kaum mehr auszumachen, was darin nun direkt krankheits- und was artefaktartig bloß umstände- und milieubedingt ist (vgl. Ciompi 1980a, 1982; Schweitzer et al. 1995). Je länger sie dauern, um so mehr wandelt sich dabei – wahrscheinlich als Schutzmechanismus – die ursprüngliche emotionale Labilität und Überempfindlichkeit zu manchmal extremer affektiver Verflachung und Gleichgültigkeit. Gleichzeitig ändern sich auch Denken und Verhalten im Sinn einer progressiven Einengung und Verödung. Zwischen diesen beiden Polen – rasches Wiedereinschnappen in nor-

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male Verhaltensweisen und Stabilisierung unter günstigen Bedingungen auf der einen, und repetitives labiles Zurückschnappen in ein psychotisch verstörtes Funktionssystem mit zunehmender Chronifizierung oder bleibenden Residuen auf der anderen Seite – gibt es alle nur denkbaren Kombinationen und Übergänge. Langfristig ist zwar der Verlauf, wie neuere fremde und eigene Nachuntersuchungen über mehrere Jahrzehnte gezeigt haben, mit je rund 50 Prozent vorwiegend günstigen und ungünstigen Endzuständen (darunter je rund 25 Prozent volle Heilungen oder schwere Chronifizierungen; vgl. Bleuler 1972; Ciompi et al. 1976; Huber et al. 1979; Harding 1987a, 1987b; McGlashan 1988), erheblich besser als früher angenommen. Über die eigentlichen Ursachen der Krankheit tappt man indessen nach wie vor im dunkeln. Anstelle einer klaren Ursache konnte bisher nur eine komplexes Puzzle von sowohl biologisch-körperlichen wie psychosozialen Faktoren identifiziert werden, die schizophren psychotische Entwicklungen begünstigen, darunter erbliche Belastung, Schwangerschafts- und Geburtsschäden, disharmonische Persönlichkeitsstruktur, traumatische Diskontinuitäten in früher Kindheit, fehlende soziale Anpassung und aktuelle lebensgeschichtliche Belastungen. Auch hormonale Faktoren scheinen, wie der durchschnittlich spätere Krankheitsausbruch und zweite Gipfel der Erkrankungshäufigkeit in den Wechseljahren bei Frauen nahelegt, eine Rolle zu spielen (Häfner 1993). Zu den am konstantesten nachgewiesenen und zugleich affektlogisch interessantesten Einflußfaktoren zählen ferner die sogenannten »high expressed emotions« – hohe emotionale Spannungen im familiären Umfeld, die die Rückfallhäufigkeit statistisch erhöhen (Leff et al. 1982; Kavanagh 1992). Keine andere psychische Krankheit (oder vielmehr Krankheitsgruppe) zeigt eine derart verwirrende Fülle von Erscheinungsformen und Verlaufsmöglichkeiten wie die Schizophrenie; keine andere hat denn auch – ein Zeichen der zahlreichen weiterhin offenen Fragen – zu so vielen Spekulationen über ihre Ursachen und zu einer entsprechenden Vielzahl von therapeutischen Experimenten geführt. Vor allem aber fehlt es nach wie vor an einer übergeordneten Theorie, die es erlauben würde, sowohl die innerpsychischen und psychopathologischen Störungen wie auch die neurobiologischen Aspekte der Krankheit und deren Interaktionen mit sozialen Faktoren hinreichend zu verstehen. – Im folgenden möchte ich zeigen, daß die in diesem Buch entwickelten Vorstellungen zur Klärung auch solcher Fragen zumindest einen Beitrag zu liefern vermögen. Vor allem lassen sich auf affektlogisch-chaostheoretischer Grundlage die beobachteten sprunghaften Umstellungen der gesamten

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Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster, die wir beim Ausbruch der Psychose und in ihrem weiteren Verlauf beobachten, als nichtlineare Phasensprünge in global andersartige psycho-sozio-biologischen Funktionssysteme (oder Fließgleichgewichte, selbstorganisatorische dissipative Strukuren) begreifen, die bei gewissen verletzlichen Menschen bei kritischer Veränderung relevanter Kontrollparameter auftreten und sich unter der Wirkung von bestimmten Ordnungsparametern neu organisieren. Für eine solche Deutung sprechen neben der klinischen Beobachtung auch eine ganze Reihe von neueren Forschungsbefunden, darunter Zeitreihenanalysen von täglichen Schwankungen der psychotischen Symptomatik durch eine eigene Forschungsgruppe, die in der Mehrzahl der untersuchten Verläufe eine deterministisch-chaotische Dynamik ergaben (Ambühl et al. 1992; Tschacher et al. 1994: Ciompi et al. 1992; Ciompi 1997a). Auf chaotische Attraktoren, deren Komplexität bei Schizophrenen interessanterweise signifikant höher war als bei Gesunden, deuten ebenfalls EEG-Zeitreihenuntersuchungen hin (Koukkou et al. 1993). Auch die Computersimulation schizophrener Verläufe, die mit eigenen empirischen Langzeitbeobachtungen verblüffend gut übereinstimmten, produzierte immer wieder plötzliche nichtlineare Phasensprünge (Schiepek et al. 1992a). Zwar dürfen solche und andere Befunde aus methodologischen Gründen noch nicht als sichere Beweise für die chaostheoretische Hypothese der Schizophrenie gelten. Indessen vermag diese Hypothese unseres Erachtens der vorliegenden komplexen Dynamik erheblich besser gerecht zu werden als jede andere zur Zeit verfügbare Theorie. Besonders bedeutsam ist dabei auch die Tatsache, daß die chaostheoretische Hypothese der Schizophrenie neben plötzlichen nichtlinearen Sprüngen durchaus auch lange stabile Phasen linearer Art sowie eine große Zahl von mehr oder weniger stabilen Übergangsformen zuläßt. Sie erlaubt es deshalb, die ganze Vielfalt von psychotischen Verläufen unter gemeinsamen systemtheoretischen Gesichtspunkten als »Satz« von Kombinationsmöglichkeiten einer Großzahl potentieller Dynamismen und Einflußfaktoren zu verstehen, deren Verwirklichung oder Nichtverwirklichung von der Veränderung einer beschränkten Zahl von relevanten Kontrollparametern abhängt. Am eindeutigsten als wesentlicher Kontrollparameter erkennbar sind in erster Linie emotionale Spannungen, die sowohl von äußeren Belastungen wie auch von inneren Konstellationen mit Einschluß von hormonal-biochemischen Umstellungen herrühren können. Sie setzen das Erkrankungs- oder Rückfallrisiko speziell in der Pubertät, unter Umständen aber auch unter der Schwangerschaft und Geburt sowie beim Übergang zur Menopause signifikant herauf. Ebenso wirken

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Cannabis, LSD und andere psychoaktive Drogen, die bei Disponierten schizophrenartige Psychosen auszulösen vermögen, vermutlich über den Umweg der Erhöhung des affektiven Spannungspegels. Auf bis zu einem Zerreißpunkt ansteigende Affektspannungen machen in der Tat praktisch alle Forscher, die sich mit den Entstehungsbedingungen schizophrener Psychosen vertieft beschäftigt haben, aufmerksam. So beschrieb Klaus Conrad schon in den vierziger und fünfziger Jahren bei beginnenden Schizophrenien mehrere Stufen der Entwicklung vom sogenannten Trema (einer gespannten Vorphase) über die Apophänie (dem Zustand der noch spannungsvolleren Wahnstimmung) bis zur Apokalypse (der Phase der relativ entspannenden wahnhaften Offenbarungen) und von dort weiter zur Residuumbildung oder Konsolidierung in einer Remission. Manfred Bleuler seinerseits sprach von einem Anstieg von Spannungen bis zu einem »point of no return«, und Werner Janzarik von einer »dynamischen Entgleisung« aufgrund einer schizophrenietypischen »dynamischen Unstetigkeit«. Packende Beschreibungen desselben Prozesses findet man auch in der angelsächsischen Literatur bei Autoren wie Searles, Bowers oder Wing (Conrad 1958; Searles 1959; Bowers 1974; Wing 1978; Bleuler 1984; Janzarik 1980, 1988). Affektspannungen liefern, chaostheoretisch gesehen , die nötige Energie, um das verletzliche psychische Verarbeitungssystem des Psychosegefährdeten weit weg vom Gleichgewicht bis zu einem kritischen Punkt (»an den Rand des Wahnsinns« oder »des Überschnappens«, wie die intuitive Volkssprache so treffend sagt) zu treiben. Ist der Punkt einmal erreicht, an dem emotionale Spannungen mit den gewohnten Fühl, Denk- und Verhaltensweisen nicht mehr bewältigt werden können, so ist das System zum Umschlag in eine neue dissipative Struktur geradezu gezwungen. Durch die Umverteilung der Affektenergien auf die verfügbaren kognitiven Elemente, die sich in den psychotischen Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern manifestiert, wird in der Folge die Spannung, wenn auch auf pathologische Weise, ein Stück weit gelöst, und aus dieser »Lösung« wiederum erklären sich dann die so schwer zu überwindenden Attraktorwirkungen von einmal stabilisierten psychotischen Systemen. – Eine Betroffene beschreibt genau diesen Sachverhalt wie folgt: »Für mich ist die Psychose ein ständiges Anwachsen von Spannungen, wie eine Spiralfeder, die immer weiter aufgezogen wird. Und Psychose ist, wenn die Spannung gelöst wird. Dadurch wird ungeheuer viel Energie frei und ungewohnt starke Gefühle« (Buck 1994).

Klinisch wie affektlogisch-chaostheoretisch von besonderem Interesse sind ferner die Ordnungsparameter, die bei einem solchen Prozeß das

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psychische Feld inhaltlich mit Beschlag belegen (oder »versklaven«, wie Haken sagt) und global neu ordnen. Als solche imponieren in erster Linie überwertige Ideen wahnhafter Art, denen von einem kritischen Punkt an praktisch alles Fühlen und Denken untergeordnet wird. Weitaus am augenfälligsten ist dies – wie ebenfalls von Conrad besonders anschaulich beschrieben – bei dem oft fast schlagartigen Übergang von einer diffusen allgemeinen Wahnstimmung über einen einzelnen plötzlichen Wahneinfall (beispielsweise, alles erlittene Ungemach sei nichts als ein Komplott des KGB oder der Freimaurer, der Juden usw.) zu einem zunehmend straff systematisierten Wahn. Etwas weniger deutlich, aber nicht minder durchgehend können bestimmte stereotype Verhaltensweisen – zum Beispiel sogenannte katatone (durch Bewegungsstarre oder -sturm gekennzeichnete) oder hebephrene (pueril-läppisch-clowneske) Dauerhaltungen – das gesamte psychische Feld »versklaven«. Ein weiteres Element der fraktal-affektlogischen Theorie, das geeignet scheint, eine sinnvolle Ordnung in das heterogene Durcheinander von empirisch beobachteten psychologischen, sozialen und biologischen Einflußfaktoren auf das schizophren-psychotische Langzeitgeschehen zu bringen, ist der gemeinsame Angriffspunkt für alle beschriebenen biologischen, psychologischen und sozialen Einflüsse, der sich aus dem Verständnis der Psyche als ein komplex hierarchisiertes Gefüge von aktionsgenerierten affektiv-kognitiven Bezugssystemen (oder funktionell integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen) ergibt: Als solcher erscheint in erster Linie das biologische Substrat der genannten Programme, also die über das Phänomen der neuronalen Plastizität durch Aktion gebahnten neuronalen Verbindungsbahnen und -netze, die die jeweils beteiligten senso-motorischen, affektiven, kognitiven und hormonalen Komponenten zu einem funktionellen Ganzen verbinden. Denn zu deren Struktur tragen zu verschiedenen Zeiten sowohl genetische oder sonstwie biologische wie auch psychologische, familiäre und soziale Einflüsse in unterschiedlicher Weise bei: Genetische und biologische Faktoren determinieren die grundlegende Konfiguration und Funktionsweise dieser Netze, Umwelteinflüsse dagegen differenzieren sie in Abhängigkeit von der Erfahrung, darunter wesentlich auch die zwischenmenschlicher Beziehungen. – Eine solche Sichtweise eröffnet somit zwanglos ein multikonditional integratives, psycho-, sozio- und biologisches Verständnis der schizophrenen Psychose mit entsprechend vielseitigen therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten. Das früher beschriebene Konzept der reziproken strukturellen Koppelung zwischen den drei genannten Phänomenbereichen vertieft und präzisiert dieses Konzept weiter.

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Betrachtet man zudem solche »Bausteine der Psyche« genauer, so wird aufgrund der vorgeschlagenen Konzepte ebenfalls die wahrscheinliche Natur der immer noch rätselhaften Verletzlichkeit klarer, die nach der heute dominierenden Vulnerabilitätshypothese von Zubin und Spring (1977) der Veranlagung zu schizophren-psychotischen Entgleisungen zugrunde liegt (Zubin et al. 1977; Ciompi 1982; Nuechterlein et al. 1984): Als gemeinsamer Faktor hinter umschriebenen, von der psychologischen Forschung aufgezeigten kognitiven Störungen (namentlich im Bereich der Aufmerksamkeit und der zeitlichen Sequenzierung komplexer Aufgaben), neurovegetativen Überreaktionen wie auch umfassenderen Beeinträchtigungen des zwischenmenschlichen Verhaltens im Sinn der sogenannten Ich- oder Identitätsschwäche, die diese Vulnerabilität ausmachen, zeigt sich nämlich immer wieder eine eigentümliche Störbarkeit, Inkonstanz und Labilität der Koppelung zwischen wichtigen kognitiven »Gestalten« einerseits und den damit verbundenen Gefühlen andererseits. Daraus ergibt sich die Vermutung, daß die schizophrenogene Vulnerabilität generell in einer besonderen Labilität der affektiv-kognitiven Bindungen bestehen könnte. Für diese Annahme spricht neben der klinischen Beobachtung ebenfalls die Tatsache, daß mit modernen Untersuchungsmethoden in letzter Zeit gerade im Bereich der für die AffektKognitionsbindungen relevanten limbofrontalen Assoziationsbahnen anatomische und funktionelle Abwegigkeiten bei Schizophrenen gehäuft gefunden worden sind (Eggers 1981; Bogerts 1985, 1995; Buchsbaum 1990; Shapiro 1993). Ein weiteres Argument in gleicher Richtung sind die statistisch nachgewiesenen ungünstigen Einflüsse von schweren frühkindlichen Diskontinuitäten sowie von konflikthaften Familienmilieus mit widerspruchsvoll-konfusen Kommunikationsmustern (Mednick et al. 1975, 1978; Singer et al. 1978; Tienari et al. 1985), deren Entstehung und pathogene Wirkung damit zugleich eine naheliegende Erklärung findet: Denn unzuverlässig-inkonstante, konfus-widersprüchliche und konflikthafte Umweltreize führen naturgemäß zur Bildung von inkonstanten Zuordnungen von bestimmten Affekten zu bestimmten Kognitionen, das heißt zu unklar strukurierten und mangelhaft voneinander abgegrenzten Repräsentanzen der relevanten Umwelt (Personen, Örtlichkeiten, Aktivitäten, Situationen und so weiter), und solche unklar strukturierten »Programme« müssen ihrerseits dann das Verhalten gerade im Sinn der beobachteten Identitäts- und Abgrenzungsschwierigkeiten stören und die zu verarbeitenden Affektspannungen erhöhen. Ebenfalls sehr instruktiv sind aus der fraktal-affektlogischen Perspektive schließlich die durchgehenden Parallelen zwischen affektiven

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Funktionen auf der einen und kognitiven Funktionen auf der anderen Seite, die in schizophrenen Störungen aller Art prinzipiell ganz gleichartig wie in der manisch-depressiven Psychose zu beobachten sind. So geht die ausgeprägte Affektlabilität und affektive Ambivalenz der akut psychotischen Stadien mit einer genau gleichen Labilität und Sprunghaftigkeit des ganzen Denkens und Verhaltens einher. Aber auch in den chronischen Stadien läuft die Einengung und Verarmung allen Denkens und Verhaltens der emotionalen Verflachung und Einengung streng parallel. Alle seit jeher als zentral betrachteten kognitiven Kernsymptome der Schizophrenie wie namentlich die charakteristische Zwiespältigkeit, Zerfahrenheit und weitere Denkstörungen, aber auch Wahn und Halluzinationen, autistische Eigenwelt, Stereotypien und die oben erwähnten katatoniformen oder hebephrenen Störungen sind also durchweg von gleichsinnigen Affektkomponenten begleitet – oder vielmehr, wie wir besser formulieren, getragen oder sogar bestimmt. Selbst bei den sogenannten Parathymien – also bei Affektreaktionen, die der vorliegenden kognitiven Situation scheinbar widersprechen (beispielsweise Lachen bei einer traurigen Nachricht) – passen die gezeigten Emotionen, wie auch schon Eugen Bleuler (1926, S. 6) hervorhebt, in Wirklichkeit durchaus zu den »verrückten« Nebengedanken und »Nebenrealitäten«, die bei Schizophrenen vielfach die Hauptrealität dominieren. Eigenartigerweise sind indessen alle diese Affektkomponenten, obwohl in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts namentlich von Eugen Bleuler, dem Schöpfer des heutigen Schizophreniebegriffs ebenso wie von seinem Mitarbeiter und Schüler Carl Gustav Jung noch stark beachtet, im Lauf der Zeit immer mehr in den Hintergrund geraten. Schließlich wurde die Schizophrenie fast nur noch als Erkrankung des Denkens verkannt und auf dieser Grundlage von den typisch »affektiven Psychosen« Manie und Depression scharf abgegrenzt. Gerade diese Unterscheidungsgrundlage aber müssen wir aufgrund der hier entwickelten Konzepte, unterstützt von zusätzlichen Befunden, heute ernsthaft in Frage stellen.

Ist auch die Schizophrenie eine »affektive Psychose?« Angesichts der zentralen Stellung, welche mobilisierenden und (des-) organisierenden Wirkungen der Affekte auf das Denken nach unserer Analyse auch in der Schizophrenie zukommt, muß man sich in der Tat fragen, ob nicht die alte Kraepelinsche Einteilung der großen endo-

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genen Psychosen in die spezifisch »affektiven« Psychosen Manie und Melancholie auf der einen Seite, und die »nicht affektive« Psychose »Dementia praecox« beziehungsweise (seit Eugen Bleuler) »Schizophrenie« auf der anderen Seite einer Revision bedarf. Die Frage ist, ob nicht auch letztere in Wirklichkeit eine affektive Psychose von allerdings besonderer Art darstellt. Die klassische Unterteilung Kraepelins beruht sowohl auf dem Erscheinungsbild wie dem Verlauf, welch letzterer trotz der relativen Verbesserung der Prognose aufgrund der weiter oben erwähnten Langzeituntersuchungen bei den schizophrenen im Vergleich zu den manisch-depressiven Psychosen deutlich ungünstiger bleibt (Tsuang et al. 1979; Marneros et al. 1988; Mc Glashan 1988). Auch erscheinungsbildlich sind erhebliche Unterschiede nicht zu bestreiten, indem alles Fühlen und Verhalten in der Manie oder Melancholie durchgehend entweder von euphorischen oder von traurigen Affekten beherrscht wird, während die affektiven Komponenten, die in der akuten schizophrenen Psychose neben vielfältigen Denkstörungen durchaus nicht fehlen, wesentlich wechselhafter und vor allem uneinheitlicher sind. In den chronischen Stadien der Schizophrenie vollends sind Gefühle – so wird meist argumentiert – angesichts der dort vorherrschenden »affektiven Verflachung« angeblich überhaupt praktisch inexistent. Indessen spielen bei näherem Zusehen Affektstörungen beispielsweise in Form von schwerer Angst, Spannung und Erregung, manchmal auch in Form von ekstatischer Euphorie, Trauer oder Wut in der akuten schizophrenen Psychose eine mindestens ebenso große (und manchmal sogar deutlich größere) Rolle wie kognitive Störungen. Des weiteren entspricht nach unserer Definition ja ebenfalls die sogenannte »Affektverflachung« einer spezifischen psycho-physischen Gestimmtheit: nämlich der Stimmung der hochgradigen Interesselosigkeit und Apathie mit all ihren psychomotorischen und vegetativen Begleiterscheinungen (Trägheit, Verlangsamung, pastöses Aussehen, schlaffer Muskeltonus, leise Stimme, kalte Haut, matter Blick usw.) und einer durchaus affektentsprechenden Einengung von Form und Inhalt des Denkens. Unerwartet heftige plötzliche Reaktionen auf spezifische Reize – besonders häufig auf einen Wechsel in der täglichen Routine – zeigen im übrigen, daß selbst beim schizophrenen Langzeitpatienten diese Gleichgültigkeit in Wirklichkeit oft nur ein krampfhaft aufrechterhaltener Schutzpanzer ist, hinter dem sich weiterhin ein verängstigter und hochempfindlicher, aber in einer Art von Totstellreflex erstarrter Mensch verbirgt. Daß insbesondere schwere psychotische Ängste, weniger häufig auch Wut und Aggression hinter den verworrenen Gedankengängen,

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wahnhaften Beziehungs- oder Verfolgungsideen, Manierismen, Stereotypien und weiteren absonderlichen Verhaltensweisen Schizophrener stehen, haben Kliniker wie Psychoanalytiker, die sich vertieft mit dem Gefühlsleben von Schizophreniekranken befaßt haben, im übrigen seit jeher hervorgehoben (vgl. z. B. Bleuler 1926; Conrad 1958; Bowers 1974; Benedetti 1983; Arieti 1985; Scharfetter 1976, 1986). Ganz im Einklang mit solchen Beobachtungen ergaben neuerdings ebenfalls die schon mehrfach erwähnten Hirnstromuntersuchungen zur Emotionalität von Machleidt und Mitarbeitern, daß die Angst bei Schizophreniekranken, selbst wenn sie klinisch nur verschlüsselt in Erscheinung tritt, fast immer eine zentrale Rolle spielt. Auch Machleidt postuliert deshalb auf dieser Grundlage seit Jahren, daß die Schizophrenie wahrscheinlich eine affektive Erkrankung ist (Machleidt et al. 1989; Machleidt 1992, 1994). Allerdings berücksichtigt er dabei unser Hauptargument, nämlich die in allen affektiv-kognitiven Interaktionen zentralen Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken höchstens am Rand. Ebensowenig zeigt er auf, wo der unseres Erachtens nicht nur erscheinungsbildlich und prognostisch, sondern auch pathogenetisch zweifellos bestehende Unterschied zwischen der Manie und Melancholie einerseits und der Schizoprenie andererseits liegt – nämlich in der genaueren Art der krankhaften Veränderung der affektiv-kognitiven Interaktionen: Während in Manie und Depression die Bindung zwischen Gefühlen und Gedanken durch Wochen und Monate eindeutig viel zu starr und einseitig ist, so daß kraft der genannten Operatorwirkungen der Affekte lauter entweder euphorisch oder im Gegenteil traurig verfärbte Denkinhalte das klinische Bild prägen, so sind zumindest in der akuten Schizophrenie (und meist auch in den schizophrenen Vorstadien) die gleichen Affekt-Kognitionsbindungen, wie schon anläßlich der Diskussion des Vulnerabilitätsbegriffs hervorgehoben, im Vergleich zum Gesunden viel zu locker und inkonstant. Entsprechend instabil werden deshalb auch Denken und Verhalten. – Bekanntermaßen haben seinerzeit ebenfalls schon Bleuler und Jung gerade in der »Lockerung der Assoziationen« ein zentrales Charakteristikum der schizophrenen Störung gesehen. In den chronischen Stadien verkehrt sich diese Instabilität allerdings – weitgehend wohl als überschießende Schutz- und Gegenreaktion, wie schon vermerkt – in ihr Gegenteil. Auch beim schizophrenen Langzeitpatienten beherrschen in Form der oben geschilderten affektiven Verflachung und kognitiven Einengung deshalb, von plötzlich wieder auflebenden akuten Labilitätsphasen einmal abgesehen, ausgesprochen einseitige und starre Affekt-Kognitionsverbindungen mit der Zeit das klinische Bild. Nach wie vor unterscheiden

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sich diese sehr rigiden Affekt-Kognitionsinteraktionen aber zumindest hinsichtlich der Gefühlsqualität sehr deutlich von denjenigen in der Manie und Melancholie. Einen ähnlichen Sachverhalt scheint auch Janzarik (1988, S. 103 ff.) im Auge zu haben, wenn er bei der akuten Schizophrenie von einer »dynamischen Unstetigkeit« und bei der chronisch schizophrenen Erkrankung von einer »dynamischen Insuffizienz« spricht (wobei nochmals darauf hinzuweisen ist, daß »dynamisch« bei ihm praktisch unserem Begriff von »affektiv« gleichkommt). Dagegen ist mit seinen Begriffen der »dynamischen Expansion« und »dynamischen Restriktion«, mit denen er manische und melancholische Zustände phänomenologisch treffend charakterisiert, der meines Erachtens entscheidende pathogenetische Unterschied zwischen den klassischen Affektpsychosen und der Schizophrenie, der in der besonderen Labilität der affektivkognitiven Koppelungen liegt, höchstens am Rand mit erfaßt. Ein weiteres starkes Argument zugunsten der Annahme, daß die schizophrenen Störungen primär affektiver und erst sekundär kognitiver Art sind, liefert schließlich die Tatsache, daß der Hauptangriffspunkt der Neuroleptika – der bisher einzigen bei schizophrenen Störungen symptomatisch wirksamen Psychopharmaka – aller Wahrscheinlichkeit nach gerade im (an relevanten D2-Rezeptoren besonders reichen) affektregulierenden limbischen System liegt. Auch klinisch gesehen besteht die auffälligste Wirkung der Neuroleptika zunächst immer in einer starken Dämpfung der Intensität von affektiven Reaktionen, während ihre Effekte auf Wahn, Halluzinationen, Denkstörungen und andere vorwiegend kognitive Auffälligkeiten oft wochenlang auf sich warten lassen oder überhaupt ausbleiben. In diesem Zusammenhang sei auch nochmals auf die weiter oben erwähnten neuroanatomischen und neurophysiologischen Anomalien im Bereich der limbo-präfrontalen Verbindungszone zwischen den vorwiegend affekt- und den vorwiegend kognitionsregulierenden zerebralen Strukturen bei Schizophrenen hingewiesen, die ebenfalls weit besser mit einer Beeinträchtigung der affektiv-kognitiven Interaktionen als mit einer rein kognitiven Störung vereinbar sind. Insgesamt kommen wir deshalb zu dem Schluß, daß aller Wahrscheinlichkeit nach sowohl den manisch-depressiven wie den schizophrenen Psychosen tiefgehende Störungen der Affekte – oder genauer des Zusammenspiels zwischen affektiven und kognitiven Funktionen – zugrunde liegen. Alle diese Krankheitsbilder können oder müssen deshalb als »affektive Psychosen« in einem weiteren Sinn betrachtet werden. Indessen unterscheidet sich die genauere Art der Störung der affektiv-kognitiven Koppelungen in den beiden Krankheitsgruppen

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doch von Grund auf, was vermutlich die erscheinungbildlichen und vielleicht auch prognostischen Unterschiede zwischen ihnen erklärt. In einem späteren, den praktischen Anwendungen der affektlogischen Theorie gewidmeten Kapitel werde ich zeigen, daß es sich bei diesen klassifikatorischen Überlegungen keineswegs bloß um eine akademische Diskussion handelt. Vielmehr eröffnet die Einsicht in die vermutlich primär affektive Natur der schizophrenen Psychose unter anderem neue Möglichkeiten der milieu- und psychotherapeutischen Beeinflussung der affektiven Grundstimmung, welche, wie wir sehen werden, denen der Psychopharmaka durchaus gleichkommen, wenn nicht sogar überlegen sind.

Zusammenfassung und Ausblick – Zur Schlüsselrolle der Affekte in der Psychopathologie Zum Abschluß dieses den krankhaften psychischen Erscheinungen gewidmeten Kapitels wollen wir noch einige allgemeinere Überlegungen zur Rolle der Affekte in der Psychopathologie anstellen. Allerdings ist merkwürdigerweise eine derartige Betrachtungsweise, von Janzariks »Strukturdynamik« einmal abgesehen, nach vielversprechenden Anfängen zu Beginn des Jahrhunderts die längste Zeit fast ganz aus der Mode gekommen. Hauptverantwortlich hierfür dürfte die Tatsache sein, daß affektive und kognitive Funktionen, wie schon mehrfach angemerkt, zunehmend als gesonderte Erscheinungen behandelt und deshalb immer weniger in ihren Wechselwirkungen beachtet wurden. Einer der meines Wissens letzten systematischen Versuche, die Bedeutung solcher Wechselwirkungen in der Psychopathologie zu explorieren, stammt von Eugen Bleuler: In seinem Buch »Affektivität, Subjektivität, Paranoia« aus dem Jahr 1926 schließt er daraus auf eine generelle »Schaltkraft der Affekte« auf das Denken. Konsequenterweise waren die Affekte für diesen großen Altmeister der Psychiatrie der wichtigste Schlüssel zur Psychopathologie überhaupt. Erst unter dem Einfluß der modernen Hirnforschung, die sich zunehmend wieder für emotionale Regulationen des Denkens interessiert, scheint – speziell im angelsächsischen Bereich – in jüngster Zeit diese lange in Vergessenheit geratene Erkenntnis neue Aktualität zu gewinnen (Buchsbaum 1990: Derryberry et al. 1992; Izard 1993; Berman et al. 1994; Ciompi 1997b, 1997c; Flack et al. 1997). An sie wollen wir hier in erster Linie anknüpfen. Wenn unsere Grundannahmen von allgegenwärtigen energetischen und organisatorisch-integratorischen Wirkungen der Affekte auf die

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Kognition stimmen – und nichts, was wir auch im Bereich der Psychopathologie gefunden haben, widerspricht diesem Postulat, ganz im Gegenteil –, so müssen in der Tat, strenggenommen, praktisch alle krankhaften psychischen Störungen affekt(mit-)bestimmt sein. Denn woher sonst sollten die Energien für die beschriebenen reaktiven oder neurotischen, süchtigen oder psychotischen »Verrückungen« des alltagslogischen Gefüges von affektiv-kognitiven Mustern denn kommen, wenn nicht von den Affekten? Genau das gleiche gilt für die Fälle von »multipler Persönlichkeit«, für die – hier nicht speziell erörterten – verwandten Borderline-Störungen (durch psychosenahe Zustandsschwankungen charakterisierte Persönlichkeitsabweichungen im Grenzbereich zwischen Neurose und Schizophrenie) und auch für weitere, durch das Leitsymptom der Dissoziation zwischen gegensätzlichen Verhaltensweisen charakterisierte Syndrome, darunter die in letzter Zeit von der »Wiener Schule« um Berner und Gabriel explorierten sogenannten dysphorischen, durch eine gereizt-mißlaunige Verstimmung charakterisierten Zustände (Berner et al. 1987; Gabriel 1987; Musalek et al. 1987). Gerade auch letztere zeigen deutlich, daß es in erster Linie spezifische affektive Gestimmtheiten sind, die als mächtige übergeordnete Attraktoren und Organisatoren von abrupt einschießenden globalen Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern funktionieren. Und ebenfalls in dysphorischen Zuständen erscheint der allgemeine Affektspannungspegel als wichtiger Kontrollparameter für das Auftreten von derartigen Bifurkationen, während bestimmte emotional intensiv befrachtete affektiv-kognitive Einzelelemente wiederum als Ordnungsparameter imponieren. Mit entsprechend tiefen affektspezifischen Senken versehen sind die Potentiallandschaften zu denken, die solchen Krankheitsbildern zugehören. Bevor wir eine entscheidende Wirkung der Affekte in der gesamten Psychopathologie behaupten dürfen, ist allerdings zu fragen, ob sich solche Effekte denn ebenfalls in sogenannten hirnorganischen Störungen wie der senilen oder arteriosklerotischen Demenz, die in erster Linie zu schweren kognitiven Einbußen führen, nachweisen lassen. In der Tat sind neben den typisch intellektuellen Störungen wie Gedächtnisausfällen, Konfabulationen (frei erfundene Erzählungen) oder Verlust der Fähigkeit, die Bedeutung gewisser Worte oder Objekte zu erkennen (verschiedenartige sogenannte Aphasien und Agnosien) auch hier praktisch immer ausgeprägte Veränderungen der Emotionalität zu beobachten, so zum Beispiel in Form von Affektlabilität, Reizbarkeit, Depressivität oder – meist erst in vorgerückten Stadien – einer inhaltsarmen flachen Euphorie. Ich selbst habe in Untersuchungen von freien Assoziationen bei organisch schwer geschädigten Alzheimerkranken

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seinerzeit nachweisen können, daß sowohl die auftauchenden kognitiven Inhalte wie die Gedächtnislücken stark affektbestimmt sind (Ciompi 1966). Gewisse organisierende und integrierende Wirkungen von Emotionen auf die Kognition waren also auch hier durchaus noch festzustellen. – Indessen laufen affektive und kognitive Funktionen doch bei manchen hirnorganischen Störungen völlig auseinander; über teilweise groteske Diskrepanzen berichtete der Neurologe Oliver Sacks in seinem bekannten Buch vom »Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte« (1970). Es muß angenommen werden, daß in solchen Fällen die Verbindungen zwischen affekt- und kognitionsregulierenden zerebralen Strukturen selbst schwer geschädigt oder zerstört sind. Selbstredend finden die organisatorisch-integratorischen Wirkungen der Affektivität auf die Kognition bei derartigen Ausfällen ihre Grenzen. Sonst aber scheinen tatsächlich die allermeisten krankhaften »Verrückungen« von Fühlen, Denken und Verhalten mit je spezifischen selbstorganisatorischen und energetisierenden Wirkungen von Affekten zusammenzuhängen. Ein zentrales Anliegen einer künftigen affektlogisch-chaostheoretisch fundierten »neuen Psychopathologie«, wie ich sie schon zu Ende des ersten Teils dieses Buches als möglich skizziert und in diesem Kapitel nun anhand von Beispielen noch genauer erläutert habe, müßte also die weitere Erhellung von Wechselwirkungen zwischen dominierenden Affekten (beziehungsweise ihrer neurophysiologischen Äquivalente) und kognitiven Funktionen in psychopathologischen Störbildern aller Art sein. Nicht nur die Querschnitts-, sondern vor allem auch die Längsschnittsstruktur der beschriebenen affektiv-kognitiven »Schienen« bedarf im einzelnen – unter anderem in Form der genannten Zeitreihenanalysen – einer weit systematischeren Untersuchung, als dies bisher der Fall war. Zweifellos wird sich die affektiv-kognitive Dynamik von normalen wie pathologischen Entwicklungen aller Art dabei als genauso zeit-, kultur-, sach- und ein Stück weit auch personenspezifisch erweisen wie etwa diejenige einer Symphonie oder einer sonstigen musikalischen Entwicklung, mit der die komplexen zeitlichen Fühl- und Denk-»Gestalten«, um deren Erfassung es hier geht, wohl am ehesten vergleichbar sind. Und ebenso zentral wie in andersartigen Prozessen wird für das Verständnis der Dynamik psychopathologischer Entwicklungen mit Sicherheit die Untersuchung der energetischen Verhältnisse sein, die diese Dynamik linear oder nichtlinear vorantreiben. Nachdem zu erwarten ist, daß – unter anderem über die neuen bildgebenden Verfahren – über kurz oder lang neurophysiologische Äquivalente von Affekten nicht nur qualitativ und lokalisatorisch, sondern ebenfalls quantitativ und damit ener-

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getisch erfaßbar werden, könnte auf einer solchen Basis tatsächlich in absehbarer Zeit eine neuartige, wissenschaftlich weit präziser als bisher fundierte Psychopathologie und »dynamische Psychiatrie« entstehen.

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Siebtes Kapitel Kollektive fraktale Affektlogik

Die Strukturen der menschlichen Psyche, die Strukturen der menschlichen Gesellschaft und die Strukturen der menschlichen Geschichte, sie sind unablösbare Komplementärerscheinungen und nur im Zusammenhang miteinander zu erforschen. Norbert Elias (nach Wenzel 1997)

In diesem Kapitel geht es um die genauere Untersuchung der – sicher nicht nur im Rahmen unserer Fraktalhypothese bedeutsamen – Frage, ob sich ähnliche Wirkungen von Affekten auf das Denken, wie sie uns auf individuellem Niveau nun schon so vielfach begegnet sind, tatsächlich auch auf kollektiven Ebenen beliebiger Größenordnung nachweisen lassen. Solche Gemeinsamkeiten müßten aller Wahrscheinlichkeit nach vor allem dynamischer Art sein, was anderweitige (zum Beispiel qualitative, quantitative oder strukturelle) Unterschiede natürlich nicht ausschließt. Wiederum sind jedenfalls vom Vergrößerungseffekt, der mit dem Fokuswechsel vom individuellen zum sozialen Bereich einhergeht, gewisse zusätzliche Einsichten zu erwarten. Allerdings werden wir vom beschränkten Horizont der Psychologie und Psychopathologie, von dem her wir ins riesige Gebiet der Soziologie hineinzublicken versuchen, sicher nur einige mehr oder weniger willkürliche Ausschnitte zu gewahren vermögen, deren allgemeine Bedeutung der weiteren Prüfung bedarf. Der Eindruck, der sich beim Studium der emotionssoziologischen Literatur aus solcher Perpektive ergibt, ist, daß zwar die Soziologie sich schon seit ihren Anfängen in verschiedenster Weise für Wechselwirkungen zwischen emotionalen Faktoren und Gesellschaft interessiert,

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generell aber die Wirkungen von affektiven Kräften auf das kollektive Denken bisher wenig systematisch beachtet und spezifische Operatoreffekte von Affekten in unserem Sinn überhaupt noch kaum studiert hat. Am nächsten den eigenen Konzepten kommen dabei wohl, wie wir sehen werden, die wissenschaftssoziologischen Thesen von Ludwik Fleck und Thomas Kuhn, die (wenn auch meist unter anderer Terminologie) kulturelle Einflüsse mit Einschluß affektiver Komponenten auf das jeweilige kollektive Denken schon vor Jahrzehnten postuliert haben. Auch mit den Auffassungen des zeitgenössischen amerikanischen Emotionssoziologen Randall Collins und einigen weiteren modernen Entwicklungen – so etwa der historischen Mentalitätenforschung – bestehen zum Teil nahe Übereinstimmungen. Gewissen Hinweisen auf operatorartige Affekteinflüsse auf das kollektive Denken begegnen wir in der Tat schon bei den klassischen soziologischen Autoren aus dem letzten Jahrhundert. So stellte bereits Emile Durkheim fest, daß Emotionen ein fundamentales Element jeder Konstruktion von sozialer Wirklichkeit seien, indem »… das über den einzelnen Hinausgehende und von anderen Abgrenzende affektiv besetzt, in Symbolen festgehalten und in Ritualen produziert und reproduziert wird« (nach Gerhards 1988, S. 33 ff.). Beim Studium der Religionen vor allem erkannte er zudem, daß unterschiedliche gefühlsmäßige Besetzungen den sozialen Raum in ein Nahes und Fernes, Inneres und Äußeres, Eigenes und Fremdes gliedern und damit als ursprünglichste aller sozialen Differenzen insbesondere den Unterschied zwischen profan und sakral konstituieren. Andererseits wies Durkheim anhand von Zusammenhängen zwischen sozialer Situation (katholischem oder protestantischem Milieu) und Selbstmordraten auch nach, daß affektbestimmtes Handeln stark von soziokulturellen Konstellationen abhängt. – Ebenfalls für Georg Simmel ordnen emotionale Konnotationen den sozialen Raum, so etwa wenn Gefühle der Nähe und Sympathie »... das Band bilden für Solidargemeinschaften, [die] die Gruppe nach innen stabilisieren und sie gleichzeitig nach außen abgrenzen, indem sie die Welt außerhalb gerade nicht gefühlsmäßig integrieren« (nach Gerhards 1988, S. 37 u. 43 ff.). Max Weber dagegen betonte mit seiner Unterscheidung zwischen »zweckrationalem« und »affektuellem« sozialem Handeln in erster Linie die sozial disruptive Wirkung von ungehemmten Emotionen. Auf einer ähnlichen Linie bewegt sich im Grunde auch noch Norbert Elias, der wohl bedeutendste moderne Emotionssoziologe und zugleich schärfste Kritiker der Tatsache, daß affektive Faktoren lange Zeit in der Soziologie ähnlich vernachlässigt blieben wie in der Psychologie. Die Kontrolle von sozial unerwünschten Affekten spielt in

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seinem psychoanalytisch fundierten Hauptwerk »Der Prozeß der Zivilisation« (1939) eine Schlüsselrolle. Elias beschreibt dort die Entwicklung der europäischen Gesellschaften vom mittelalterlichen Feudalregime über die höfisch-aristokratischen Gesellschaftsformen bis zum modernen Nationalstaat als Prozeß von zunehmender sozialer Komplexität, charakterisiert durch wachsende Länge von Beziehungsketten, Strukturdifferenzierung und Zentralisierung der Gewalt. Dieser Prozeß, bedingt durch den verschärften Kampf um Ressourcen infolge steigender Bevölkerungsdichte, werde erst dank wachsender Affektkontrolle durch zunehmend restriktive soziale Kodierung zulässiger Emotionen möglich. Ganz im Einklang mit Freuds zentraler Forderung »Wo Es war, soll Ich werden« und der Feststellung, daß »… der Preis für den Kulturfortschritt in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls bezahlt wird« (Freud 1952 [1930], S. 119 [nach Vester 1991, S. 207]), ist für Elias die Kontrolle der Emotionen und die Kunst, Bedürfnisse aufzuschieben, die Conditio sine qua non jeder sozialen Differenzierung. »Das Verhalten von immer mehr Menschen muß aufeinander abgestimmt sein, damit die einzelne Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt. Der einzelne wird gezwungen, sein Verhalten immer differenzierter, immer gleichmäßiger und stabiler zu regulieren« (Elias 1939 [nach Gerhards 1988, S. 231]). – In der sozialen Differenzierung und Domestizierung der Gefühle kann man einen Aspekt jener kognitiv-sozialen Modulation der Basisaffekte sehen, die nach unserer Auffassung wesentlich zu deren Auffächerung in eine unendliche Vielfalt von Nuancen beiträgt. Bemerkenswert ist im Hinblick auf unsere Fraktalhypothese ferner, daß Elias eine Unterscheidung zwischen der wissenschaftlichen Untersuchung des Menschen und der Menschen – das heißt zwischen Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen auf der individuellen und auf der sozialen Ebene – für künstlich und dem Verständnis von Zusammenhängen über die Grenzen einzelner Fachdisziplinen hinweg abträglich hielt. Außerdem verstand auch er gefühlsmäßige Interdependenzen explizit als »soziales Bindemittel« mit grundsätzlich analogen Wirkungen auf verschiedensten Ebenen. Allerdings ist Elias’ These der wachsenden Affektkontrolle unter Hinweis auf gegenläufige Entwicklungen in jüngerer Zeit in Zweifel gezogen worden. Jürgen Gerhards beispielsweise diagnostiziert in seiner »Soziologie der Emotionen« eine »(post-)moderne Emotionskultur«, in welcher gerade nicht die Kontrolle von Emotionen, sondern die Orientierung des Verhaltens an den emotionalen Befindlichkeiten selbst, mit dem hedonistischen Ziel des Vermeidens von Negativemotionen und dem Erreichen von angenehmen Gefühlen zur gesell-

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schaftlichen Norm werde. »Prinzipien der Affektkontrolle haben an Bedeutung verloren, das Ausleben und Ausstellen von emotionalen Befindlichkeiten ist akzeptabler geworden, die Scham- und Peinlichkeitsschwellen sind gesunken« (Gerhards 1988, S. 237 u. 241). Möglicherweise handelt es sich dabei aber nur um eine Randerscheinung innerhalb bestimmter westlicher Sozietäten, deren Generalisierung durch keinerlei empirische Daten gestützt ist. Einen systemtheoretisch fundierten Zugang zum Thema der Beziehungen zwischen Affekten und Gesellschaft finden wir des weiteren bei Niklas Luhmann. Gefühle sind für ihn, wie etwa in seiner Schrift »Liebe als Passion« und auch schon in einer früheren Studie zur komplexitätsreduzierenden Rolle von Vertrauen und Mißtrauen deutlich wird, in erster Linie kulturell kodierte Transaktionselemente in selbstorganisatorischen sozialen Kommunikationssystemen. (»In diesem Sinn ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird« [Luhmann 1973; 1982, S. 23]). Folgerichtig befaßt sich Luhmann nicht direkt mit den Wirkungen von Affekten auf das kollektive Denken, sondern nur indirekt über die – für ihn entscheidende – Rolle von sozialen Systemen als Kommunikationsund Sinnsystemen, beziehungsweise Problemlösungssystemen, oder Möglichkeiten der Komplexitätsreduktion durch sinngebende Selektion aus der komplexen Umwelt. Sinn (oder auch »Systemrationalität«, wie Luhmann sagt) wird dabei selbstreferentiell prozeßhaft konstituiert über die Ordnung von Erwartungsstrukturen mittels Identifikation von bestimmten Personen, Rollen, Programmen oder Strategien und Werten (Luhmann 1982, 1984; s. auch Käsler 1974, S. 60 ff.; MiklHorke 1992, S. 275 ff.). – Eine Brücke zu eigenen Auffassungen ergibt sich indes aus dem Umstand, daß aus meiner Sicht auch Erwartungsstrukturen affektiv-kognitive Bezugssysteme (oder dissipative Strukturen, Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme) darstellen, entstanden aus der handlungsgenerierten Koppelung von bestimmten Kognitionen mit bestimmten Affekten. Zugleich funktionieren alle diese Bezugssysteme als typische »Sinnsysteme« oder »Problemlösungssysteme« auf individueller wie sozialer und biologischer Ebene. Auch Luhmanns ganzer systemtheoretisch-konstruktivistischer Ansatz mit Einschluß seines Begriffs der Interpenetration zwischen dem psychischen, sozialen und organisch-biologischen Bereich stimmt weitgehend mit meinen eigenen Auffassungen überein. Um so verwunderlicher mag es deshalb erscheinen, daß Luhmann die Wirkung von Affekten in sozialen

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Systemen jeder Größenordnung nicht als die grundlegende Kraft und Energie erkennt, die die ganze Systemdynamik erst in Schwung bringt und zugleich organisiert. Dies tut dagegen ein Stück weit Randall Collins, wenn er – ausgehend von Durkheim, Darwin und Goffman – soziale Mikro- und Makrostrukturen als vorwiegend emotional determiniert versteht. Sympathie und Antipathie, Haß und Liebe, Interesse oder Indifferenz gliedern nach Collins den sozialen Raum vertikal wie horizontal in Oben und Unten, Freund und Feind, Außen und Innen. Zugleich stabilisieren sie ihn durch Gefühle von Solidarität, von Eigentum und Autorität. Außerdem stellen Emotionen für ihn »eine Form von sozialer Energie« dar, indem sie als Motor allen sozialen Handelns im Kampf um Ressourcen funktionieren. Ebenfalls nahe Beziehungen zu meinen eigenen Konzepten hat seine ethologisch-anthropologische Auffassung des Menschen als einerseits emotionales und andererseits in einzigartiger Weise sprachbegabtes Wesen, oder »emotionales Tier«, indem sich seine komplementäre Dichotomie von Emotion und Sprache recht weitgehend mit meiner Komplementarität von Affekt und Kognition oder Logik überlappt (Collins 1984; s. auch Gerhards S. 61 ff.). Allerdings bleiben auch bei ihm, wie bei praktisch allen anderen genannten Autoren, die zentralen Begriffe von Affekt (oder Emotion) und Kognition durchwegs unscharf. Ebenso fehlt bei Collins eine genauere Analyse der Affektwirkungen auf das Denken wie vor allem auch eine den vorgeschlagenen chaostheoretischen Konzepten vergleichbare Theorie der Affektdynamik. Ähnliches gilt für andere neuere Ansätze zu einer umfassenden soziologischen Theorie der Emotionen, so im deutschsprachigen Raum auch für die interessanten Versuche von Heinz-Günter Vester (1991, S. 124 ff.), das kollektive »emotionale Klima« genauer zu erfassen. Die wohl frappierendsten Konvergenzen mit eigenen Konzepten aber finden sich, wie schon erwähnt, in den wissenschaftssoziologischen Schriften von Ludwik Fleck und Thomas Kuhn, obwohl natürlich ebenfalls bei diesen älteren Autoren keine im modernen Sinn chaostheoretischen Überlegungen zu erwarten sind. Auch sprechen sowohl Fleck wie insbesondere Kuhn kaum je direkt von Affekten, sondern fast nur indirekt von »irrationalen«, »unlogischen« oder auch kontextuellen und situativen Einflüssen, deren Kern aus meiner Sicht indes ganz eindeutig die darin verpackten Emotionen sind. Kuhns Thesen zur Rolle solcher Faktoren in allen früheren wie heutigen wissenschaftlichen »Paradigmata« sind seit seinem Buch »Zur Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (1962) allgemein bekannt und berühmt; nach wie vor beeinflussen sie nun selbst als neues Paradigma

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die Diskussion um den erkenntnistheoretischen Status von wissenschaftlichen Wahrheiten nachhaltig. Flecks rund 30 Jahre zuvor publizierte Schriften zum selben Thema dagegen sind umständebedingt – Fleck war ein polnisch-jüdischer Mikrobiologe, der die nationalsozialistischen Konzentrationslager nur dank seiner speziellen Kompetenzen auf dem Gebiet der Typhusimpfung überlebte – lange Zeit praktisch unbeachtet geblieben, obwohl darin alle wichtigen Thesen Kuhns nicht nur »vorweggenommen« sind, wie dieser im Vorwort zum genannten Buch beiläufig erwähnt, sondern gerade die Rolle von emotionalen Faktoren bereits erheblich klarer erkannt wird als bei Kuhn selber.* Mit seinen zentralen Konzepten des »Denkstils« und »Denkkollektivs« hat Fleck zudem verallgemeinerungsfähige Begriffe geschaffen, deren Bedeutung über das Feld der Wissenschaftssoziologie weit hinausgeht. So schreibt er zum Beispiel (1983, S. 67, 75 u. 130): »Es gibt eine Gemeinschaft von Menschen mit gleichem Denkstil. [...] Er schafft eine gewisse bestimmte Bereitschaft, er verleiht sie den Mitgliedern der Gemeinschaft auf soziologischen Wegen und er diktiert, was und wie diese Mitglieder sehen.‹ »Der Denkstil besteht, wie jeder Stil, aus einer bestimmten Stimmung und der sie realisierenden Ausführung. Eine Stimmung hat zwei eng zusammenhängende Seiten: Sie ist Bereitschaft für selektives Empfinden und für entsprechend gerichtetes Handeln. [...] Wir können also Denkstil als gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen definieren.« »Der Begriff eines überhaupt gefühlsfreien Denkens hat keinen Sinn. Es gibt keine Gefühlsfreiheit an sich – wie wäre sie nur festzustellen? Es gibt nur Gefühlsübereinstimmung oder Gefühlsdifferenz, und die gleichmäßige Gefühlsübereinstimmung einer Gesellschaft heißt in ihren Bereichen Gefühlsfreiheit.«

Mit seinen Begriffen des Denkstils und Denkkollektivs hat Fleck auf sozialer Ebene also genau dieselben Phänomene im Auge, die vorgängig als spezifische »Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen« oder »affektiv-kognitive Eigenwelten« beschrieben wurden. Ebenso entsprechen die obigen Überlegungen zur »Gefühlsfreiheit« fast exakt den eigenen Auffassungen zum Wesen der Alltagslogik. Mit seinen Begriffen des »intrakollektiven« und »interkollektiven Denkverkehrs« beschreibt er außerdem (1983, S. 87) die affektiven Mechanismen treffend, die die Kommunikation innerhalb oder zwischen solchen »Denkkollektiven« charakterisieren: »Naturwissenschaftler, Philologen, Theologen oder Kabbalisten können sich innerhalb ihrer Gemeinschaften ausgezeichet verständigen, aber diese Verständigung * Fleck 1983, 1993; Schnelle 1982. – Ich verdanke den Hinweis auf Fleck in erster Linie einer Arbeit von Elke Endert (1997), in welcher Flecks Konzepte mit meinen eigenen verglichen werden.

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eines Physikers mit einem Philologen ist schwierig, mit einem Theologen sehr schwierig und mit einem Kabbalisten oder Mystiker unmöglich.[...] Sie werden aneinander vorbei und nicht zueinander sprechen: sie gehören anderen Denkgemeinschaften bzw. Denkkollektiven an, sie haben einen anderen Denkstil«.

Fleck zeigt anhand von vielen Beispielen aus seinem Fachgebiet und den übrigen Naturwissenschaften überzeugend auf, daß zwischen jedem Erkennenden und dessen Gegenstand immer ein Drittes, nämlich das besagte Denkkollektiv eingeschaltet ist, das erst den angehenden Experten in einer Art von Initiationsritual lehrt, wie er seinen Gegenstand überhaupt anzuschauen, welche kognitiven Gestalten er darin (etwa in mikroskopischen Präparaten, Röntgenbildern und dergleichen) zu beachten oder zu ignorieren (in unserer Sicht: mit Affekten wie »Interesse«, »Freude«, »Ärger«, »Indifferenz« usw. zu belegen) und in welcher Sprache er darüber zu reden hat. Fleck spricht dabei sogar von einem »Sprachzauber«, »Denkzauber« und »Denkzwang«, aus welchem auszusteigen höchstens dann gelinge, wenn durch eine Kollision zwischen unterschiedlichen Denkstilen im interkollektiven Denkverkehr eine tiefgehende »Denkstilveränderung« erzwungen werde. Implizit stoßen wir hier also bereits auch auf Kuhns zentralen Begriff des Paradigmenwechsels. Deutlicher als bei Fleck kommt bei letzterem indes zum Ausdruck, daß die Unstimmigkeiten und Widersprüche, die in solchen Krisen – typisch nichtlinearen Phasensprüngen, chaostheoretisch ausgedrückt – jeweils zu tiefgehenden Veränderungen des ganzen Denkens (und Fühlens) führen, nur in den seltensten Fällen formallogischer Art sind. Sie resultieren vielmehr aus neuen empirischen Beobachtungen einerseits, und aus langsamen denkkulturbedingten Veränderungen der Perzeption und Sensibilität der Beobachter andererseits. »Jene Männer waren Wissenschaftler« (Kuhn 1979, S. 28), das heißt sie dachten logisch völlig korrekt, versichert Kuhn beispielsweise in bezug auf die Vertreter von frappant unterschiedlichen Erklärungsmodellen in der Wissenschaft der Optik des letzten Jahrhunderts. Wiederum zeigt sich also, daß hier jeweils eine Logik übergeordneter Art in unserem Sinn der »Weise der Verknüpfung von kognitiven Elementen« am Werk ist, die von ganz anderen als rein logischen Gesetzmäßigkeiten organisiert wird. Teilweise ähnliche Gedankengänge sind im übrigen auch bei anderen Wissenschaftssoziologen anzutreffen, so etwa bei Karl Mannheim, der ebenfalls schon in den zwanziger Jahren von einem tief in den gesamten sozialen Lebensbedingungen verwurzelten zeit-, kulturund auch gruppentypischen »Denkstil« sprach. Spezifisch affektiven Komponenten, wie sie insbesondere bei seinen Überlegungen zum konservativen oder progressiven Denken erkennbar werden, schenkt

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aber auch er höchstens am Rand Beachtung (Mannheim 1964, S. 246 ff., 308 ff., 408 ff.). Ähnlich werden solche in der wissenssoziologischen Analyse der »Konstruktion der Wirklichkeit« von Berger und Luckmann (1980) aus den späten sechziger Jahren explizit nur ganz sporadisch angesprochen (etwa im Zusammenhang mit der Sexualität, der Urangst vor dem Tod oder den Beziehungen zwischen kollektiver und individueller Identität), obwohl sie implizite eigentlich auf Schritt und Tritt präsent sind. Immerhin reden diese Autoren einmal vom »Affektdruck des Sozialisationsprozesses« im Alltagsdenken ganz entsprechend dem Begriff der eingeschliffenen »Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen« treffend auch von einer »Konversationsmaschine« (S. 155 u. 163–165) und bewegen sich überhaupt mit ihrer konstruktivistischen Sicht der Alltagswirklichkeit auf einer Linie, die mit der hier vertretenen in vielen Punkten nahe übereinstimmt. Insgesamt finden wir somit bei diesem selektiven Einblick in die emotions- und wissenssoziologische Literatur nicht wenige Elemente, die die Hypothese von analogen Affektwirkungen auf das Denken im individuellen wie kollektiven Feld stützen. Auf eindeutig widersprüchliche Befunde sind wir dagegen nicht gestoßen. Mit Flecks Begriff des kollektiven Denkstils – Fleck spricht manchmal ebenfalls von »Kollektivgedanken« – ist uns zudem ein wertvolles Instrument in die Hand gegeben, um den vermuteten Sachverhalt genauer zu untersuchen. Dies soll im folgenden wiederum anhand von konkreten Beispielen geschehen.

Affekte als Energielieferanten und Organisatoren des sozialen Raums Als wohl am leichtesten erkennbare und auch am wenigsten umstrittene allgegenwärtige Operatorwirkung von Affekten auf Denken und Handeln wollen wir uns als erstes mit ihrer Rolle als sozialer Energiequelle beschäftigen. Als Beispiel für ein kollektives Ereignis von mittlerer Größenordnung, das sich indessen in vielen Facetten auch in den sozialen Kleinst- und Größtraum hinein weiterspiegelt, wählen wir einen größeren Sportanlaß, konkret ein Fußballänderspiel zwischen der Schweiz und Schweden, das ich im Herbst 1994 im Wankdorfstadion in Bern als Zuschauer und emotionsdynamisch interessierter Beobachter miterlebte.

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Das Spiel, tagelang in allen Medien ausführlich vorkommentiert, fand bei ausverkauftem Stadion vor rund dreißigtausend Zuschauern statt und hatte über Aufstieg oder Fall einer der beiden Mannschaften in der Europameisterschaft zu entscheiden. Entsprechend hoch war der emotionale Spannungspegel sowohl bei den in den Nationalfarben Rot-Weiß und Gelb-Blau kostümierten und geschminkten Fans beider Parteien, die schon im Anmarsch zum Stadion riesige Fahnen schwenkten und immer wieder in erwartungsvolle Sprechchöre ausbrachen, wie auch bei den biederen Familienvätern und -müttern, die mit ihren Sprößlingen dem Schauplatz des Geschehens zuströmten. Daß jedermann beim Eintritt ins Stadion von Polizisten auf verborgene Schlagstöcke und andere Waffen abgesucht wurde, tat der allgemeinen Hochstimmung keinen Abbruch. Kaum hatte das Treffen begonnen, stieg die emotionale Temperatur auf Siedehitze und kühlte sich praktisch bis zum Schluß nicht mehr ab. Denn der Spielverlauf war dramatisch: Zuerst führten die Schweden, darauf die Schweizer, dann wogte der Kampf die längste Zeit mit zwei zu zwei Toren unentschieden hin und her, und erst in den letzten paar Minuten glückte den Schweizern schließlich mit 3 : 2 und dann sogar noch 4 : 2 Toren ein kaum mehr erhoffter Sieg. Entsprechend kochte, tobte, trauerte und feuerte fortwährend der ganze Hexenkessel. Lieder und Sprechchöre, begleitet von bengalischen Feuern flammten auf und verebbten, Papierschlangen flogen, und von Zeit zu Zeit kreiste ein- oder gar zweimal die sogenannte »ola« (zu deutsch: »Welle«) um das ganze Spielfeld – eine gemäß Insidern erstmals 1986 an den Fußballweltmeisterschaften in Mexiko inszenierte, von einem orkanartig anschwellenden charakteristischen Sington getragene Wellenbewegung von hochschießenden Armen und Menschenleibern, die jeweils von einer kleinen Gruppe von fahnenumhüllten Aktivisten ganz in meiner Nähe ausgelöst wurde. Zuletzt kannte der allgemeine Jubel – nur bei den rotweißen Schweizern, versteht sich, während die geschlagenen gelbblauen Schwedenfans still abzogen – keine Grenzen; am nächsten Tag sprach das ganze Land, oder zumindest das ganze Institut, an dem ich damals arbeitete, nur noch von diesem »Großereignis«, und in den Boulevardzeitungen und Stammtischgesprächen blieb die nationale Euphorie noch tagelang spürbar.

Eine Fernsehübertragung vermag vom emotionalen Geschehen ohnegleichen, das sich während eines solchen Treffens auf kollektiver Ebene abspielt, höchstens einen blassen Abklatsch zu vermitteln. Wenn wir versuchen, einige Aspekte davon unter affektlogisch-chaostheoretischen Gesichtspunkten zu analysieren, so muß sicher als erstes die enorm mobilisierende und motivierende Kraft der Emotionen hervorgehoben werden, die hier an allen Ecken und Enden sichtbar wird. Denn letztlich sind es nichts als Affektenergien – natürlich untrennbar verbunden mit den zugehörigen Kognitionen, die jedoch für sich allein ebensowenig wirken wie etwa der amerikanische Football auf den Durchschnittseuropäer –, die sowohl die ganzen, zum Teil über Tausende von Kilometern angereisten Zuschauermaßen wie auch die Spieler selbst, und dazu all die in einen solchen Großanlaß verwickelten Medienleute und Klubfunktionäre, die Stammtischstrategen und Würstchenverkäufer, Verkehrsfachleute und so weiter in Bewegung versetzt haben. Sportlicher Erfolg, Geld und Prestige, oder bei den

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Hütern der Ordnung eine glatt ablaufende Organisation und Sicherheit, sind dabei die affektiv-kognitiven »Gestalten«, um die es individuell wie kollektiv geht. Gleichzeitig wirft eine Zeitlang dieses von den Medien angeheizte Ereignis selbst wieder nach allen Seiten hin hohe emotionale Wellen. Ihre Energie reicht aus, um tagelang die Aufmerksamkeit erheblicher Teile der Bevölkerung geradezu hypnotisch zu fixieren und zugleich nicht nur alle möglichen Alltagssorgen, sondern sogar gravierende Geschehnisse politischer oder anderer Art zumindest vorübergehend aus dem Bewußtsein zu verdrängen. Wir treffen im gleichen Geschehen also noch auf weitere, mit den beschriebenen energetischen Aspekten aufs engste verquickte organisatorisch-integratorische Wirkungen von Affekten auf das kollektive Denken und Verhalten, die ebenfalls mit entsprechenden individuellen Dynamismen nahe übereinstimmen. Hervorzuheben ist insbesondere die primär affektdominierte Organisation des gesamten sozialen Raums in Freund und Feind und daneben noch in eine dritte, mit andersartigen Gefühlen geringerer Intensität belegte Kategorie von Schiedsrichtern, Funktionären, Polizisten, Verkäufern und so weiter. Diese Affektorganisation setzt sich – für Kenner – fraktal bis in die Feinstruktur der beiden Mannschaften und die einzelnen Spielphasen fort, wobei dramatisch übersteigerte Gefühlsausbrüche wie jubelnde Umarmungen, kniend hervorgebrachte Gebete oder das Verhüllen des Gesichts eine potenzierende Rolle spielen. Des weiteren sind es in erster Linie gemeinsame Gefühle, die die beiden Mannschaften zusammenhalten und gleichzeitig auch mit »ihrem« Teil des Publikums verbinden. Ohne diesen emotionalen, auf ein gemeinsames Ziel (das kognitive Element) hin polarisierenden »Leim« wäre überhaupt kein kohärentes Handeln beziehungsweise Spielen möglich. Auf einer hierarchisch höheren Stufe bindet gleichzeitig aber auch das gemeinsame Interesse für den Fußball – also ebenfalls ein Affekt in unserem Sinn – die beiden Parteien zu einem einzigen Gesamtpublikum zusammen. Es schafft ein Gefühl der Gruppenzusammengehörigkeit, mit dem wir uns noch speziell beschäftigen werden. Dies zeigt sich besonders klar in dem Freund und Feind vereinigenden Phänomen der besagten »ola«, einem eindrucksvollen Sinnbild sowohl für die organisatorische Kraft wie auch die ungeheuer ansteckende Wirkung von gemeinsamen Emotionen. Spektakulär ist beim gleichen Ereignis ferner das Phänomen der »Versklavung« eines ganzen Feldes von rund dreißigtausend Menschen durch einen einzigen lokalen »Ordnungsparameter« in Form einer kleinen Aktivistengruppe, die durch das beschriebene charakteristische Singen und Armehochwerfen im rechten Moment jeweils diese »ola« auszulösten wußte. Interessanterweise funktionierte dieser Auslöser

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aber nur unter geeigneten Kontrollbedingungen: nämlich bei einem genügenden Grad von emotionaler Spannung. War dieser nicht erreicht, so führte ein versuchter Anstoß zu einer solchen »ola« höchstens zu einer halbherzigen und rasch wieder abflauenden kleinen Lokalbewegung. Bekanntlich können derartige Massenereignisse unter gewissen Umständen – nämlich wenn der Kontrollparameter »emotionale Spannung« über einen weiteren kritischen Wert hinaus anwächst – nichtlinear entarten, das heißt in kleinkriegsartige Schlägereien umkippen. Dies verweist auf die Tatsache, daß sportliche Mannschaftswettkämpfe eigentlich symbolisch den Krieg inszenieren und zugleich auch sublimieren. Hinter den momentanen oberflächlichen Motivationen stecken also noch sehr viel massivere und vor allem auch permanentere selbstähnliche Affektdynamismen historischer und nationalchauvinistischer Art, die bei Gelegenheit dann – anläßlich der Europameisterschaften 1995 etwa in Form eines erschreckend gehässigen, wenn auch nur in der Presse ausgetragenen regelrechten »Fußballkriegs« zwischen England und Deutschland – fast unverhüllt zutage treten können. Ähnlich regressive Hintergründe werden, wie Freud gezeigt hat, auch in anderen Kollektivphäonomenen wie etwa der Massenhysterie, der Massenpanik oder Massenwut immer wieder wirksam. Ebenfalls zu bedenken sind umgekehrt aber auch mögliche »progressive« oder doch konstruktive, nämlich unter Umständen nationenweit kohärenz- und identitätschaffende sozialorganisatorische Effekte von solchen Sportereignissen beziehungsweise der an symbolbefrachtete Kognitionen geknüpften gemeinsamen Emotionen. Ein gutes Beispiel hierfür ist der enorme Beitrag, den zahlreichen Berichten gemäß die ersten großen internationalen Siege der erstmals gemischtrassigen südafrikanischen Fußball- und Rugbymannschaften nach Abschaffung der Apartheid 1996 zur Ausbildung eines neuen Gemeinschaftsgefühls zwischen Weiß und Schwarz in diesem von Haß zerrissenen Land leisteten. Sowohl die destruktiven wie konstruktiven Potentiale von solchen Kollektiverscheinungen zeigen, daß im makrosozialen Feld Vergrößerungs- und Verstärkungsmechanismen ins Spiel kommen, die auf der individuellen Ebene fehlen. Auch werden statt private dort nun vorwiegend auf die Kollektivität bezogene (zum Beispiel ganze Völker und ihre Geschichte betreffende) kognitive Inhalte mobilisiert. Diese gradmäßigen und inhaltlichen Unterschiede von im übrigen fraktal durchaus analogen Affektwirkungen auf das Denken im kollektiven wie im individuellen Bereich hängen, abgesehen von den potenzierenden Effekten einer großräumigen emotionalen Ansteckung, aller Wahrscheinlichkeit nach stark mit den schon erwähnten Gruppenzugehörig-

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keitsgefühlen zusammen, die naturgemäß erst im Kollektivbereich wirksam werden. Zweifelsohne gehören solche Gefühle zu den mächtigsten sozial- und zugleich denkorganisatorischen Kräften überhaupt – denken wir nur an die Macht von sozialen Konventionen im Sinn der weiter oben beschriebenen Alltagslogik, an das emotionale Leiden, das andererseits soziale Vereinsamung oder gar Ausstoßung verursacht, sowie an die elementaren Glücksgefühle, die offensichtlich mit dem Erlebnis von Zugehörigkeit und Einigkeit mit einem größeren sozialen Ganzen verbunden sind. Auf ihnen beruht mit Sicherheit nicht nur ein großer Teil der sonst eher rätselhaften Attraktivität von Massenanlässen wie dem oben beschriebenen, sondern auch der erstaunlichen Verstärkerwirkungen, die soziale Zustimmung noch zu den abstrusesten Ideen sogar in einer Kleingruppe zur Folge hat. Dies wiederum dürfte auf der Tatsache beruhen, daß der Mensch ein eminent soziales Wesen – ein »Herdentier« – ist, das, auf sich allein gestellt, verloren wäre. Das autonome, »freie« Individuum ist ein Stück weit eine Fiktion, eine rezente »Erfindung der Neuzeit«, hat doch praktisch jedermann ein Minimum an sozialer Zustimmung nötig, um psychisch (und sogar physisch) überhaupt zu überleben. Starke, zweifellos evolutionär verankerte Impulse treiben den Menschen nach wie vor hin zur Gemeinschaft, und damit auch zu gemeinschaftskonformem Denken und Verhalten. Alles spricht sogar dafür, daß – von Ausnahmefällen und -situationen abgesehen – die dynamischen Wirkungen dieser Gruppenund Gemeinschaftsgefühle (der sogenannten »Wir-Gefühle«) viel stärker sind als jede formale Logik oder »Vernunft«: Nur sie vermögen nämlich zu erklären, was für total verschiedene affektiv-kognitive »Eigenwelten« gleichermaßen intelligente und »vernünftige« Menschen selbst unter »ganz normalen« Umständen auszubilden vermögen. Paradigmatisch ließe sich anhand von sportlichen oder ähnlichen Großanlässen, die Behörden, Parteien und Staatsoberhäupter gleich wie Familien und einzelne Individuen bis hinab zum kleinsten Knirps in ihren Bann ziehen, wohl fast die gesamte fraktale Affektlogik abhandeln. Indessen wollen wir den kollektiven Affektwirkungen auf das Denken auch noch anhand von anderen Beispielen nachgehen.

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Affektive Kommunikation, emotionale Ansteckung und Versklavung Kommunikation ist definitionsgemäß ein soziales Phänomen, und stark affektgesteuerte Komponenten – darunter namentlich Gesichtsausdruck und Körperhaltung, Stimme, Gestik – spielen in der verbalen wie nonverbalen Kommunikation eine mindestens gleich große Rolle wie die rein kognitiven Inhalte. Dafür folgendes Beispiel: Vor einigen Jahren bestieg ich während einer Gruppenreise nach China nebenbei und ganz allein den Hua Shan, einen der fünf heiligen Berge der chinesischen Buddhisten in der Nähe der ehemaligen Hauptstadt Xi’an. Unter den zahlreichen Pilgern, die ich während des nächtlichen Aufstiegs zur labyrinthischen Tempelregion des Gipfelplateaus um Weg und Rat zu fragen versuchte, traf ich auf keinen einzigen, der auch nur ein Wort eines mir geläufigen Idioms sprach. Trotzdem gelang die Verständigung mit Gesten und Mienenspiel leidlich. Dabei redeten meine meist jugendlichen Partner jeweils mit fröhlichen, wenn auch für mich völlig unverständlichen chinesischen Wortschwällen auf mich ein. Nachdem weder meine englischen noch anderssprachigen Brocken die Kommunikation merkbar erleichtert hatten, verfiel ich meinerseits intuitiv in meine Muttersprache, das Schweizerdeutsch: Und siehe da, mit Hilfe dieser wesentlich affektbetonteren sprachlichen Begleitmusik verstanden wir uns – sie mit ihrem chinesischen Kauderwelsch, ich im breitesten Berndeutsch – alsbald so gut, daß wir unter viel Lachen zunehmend komplexe »Gespräche« nicht nur über den Weg und die wichtigsten Sehenswürdigkeiten, sondern auch über unsere jeweilige Herkunft sowie das Ziel meiner Reise zu führen vermochten. Bei der Heimfahrt im Bus gelang es mir sogar, mit einer autoritären berndeutschen Intervention einen gefährlich eskalierenden Streit zwischen zwei unmittelbar vor und hinter mir sitzenden angetrunkenen Pilgern, von denen der eine bereits eine von einem Knüppelschlag herrührende Quetschrißwunde an der Stirn davongetragen hatte, zumindest momentan zu beruhigen.

Emotionale Kommunikation ist nicht nur interkulturell, sondern – wie schon Darwin beschrieben hat und auch jeder Tierfreund genau weiß – sehr fein sogar zwischen verschiedenen Spezies möglich. Das Phänomen der emotionalen Ansteckung spielt dabei eine zentrale Rolle; Gereiztheit oder Angst, Heiterkeit oder Trauer teilen sich sofort mit und können, sofern sie nur von einem dominanten Individuum, beispielsweise einem Gruppenleiter oder sonst einer Führerfigur, ausgehen, mitsamt den zugehörigen kognitiven Inhalten und Verhaltensbereitschaften unter Umständen ein ganzes Feld blitzschnell »versklaven«. Die Folge ist das Überhandnehmen einer kollektiven Wutlogik, Angstlogik, Freudelogik oder Trauerlogik mitsamt ihren je spezifischen Operatorwirkungen, also etwa der aggressiven Ausgrenzung oder ängstlichen Distanzierung, der lustvollen sozialen Annäherung und Verbindung oder trauernden Loslösung. Leicht zu beobachten ist genau dasselbe Phänomen auch in Paar- wie Kleingruppenbeziehungen. Über die

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modernen Medien aber vermag sich heute eine solche emotionale Ansteckung – wie Hatfield und Mitarbeiter in ihrem Buch über dieses Thema unter anderem anhand von Präsident Reagans Gesichtsausdruck bei Fernsehansprachen überzeugend gezeigt haben – sehr schnell über weite Teile der Öffentlichkeit auszubreiten. – Allerdings reagierten nach Hatfield überzeugte Republikaner oder Demokraten interessanterweise nicht selten ganz unterschiedlich: Während erstere die Fühl- und Denkweisen ihres Anführers sozusagen unbesehen übernahmen, zeigten letztere je nach Thema öfter genau gegenteilige Affektreaktionen (Hatfield et al. 1994, S. 24). Gleich wie im individuellen Feld hängt die jeweilige Antwort also auch kollektiv nicht nur von den Informationen selbst, sondern ebensosehr von den vorbestehenden affektivkognitiven Eigenstrukturen der Empfänger ab. Ebenfalls im sozialen Feld lassen sich zudem vorauslaufende affektive Gestimmtheiten gut als typische Attraktoren verstehen, die jeweils darüber entscheiden, welche Kognitionen überhaupt beachtet und in die eigenen affektiv-kognitiven Bezugssysteme eingebaut (oder in-formiert) werden. Alles spricht also dafür, daß auch emotionale Kommunikation wie Ansteckung und Versklavung auf psychosozialen Ebenen unterschiedlichster Größenordnung durchaus selbstähnlich ablaufen. Emotionale Komponenten tragen und begleiten nicht nur jede sprachliche Kommunikation, sondern sind darüber hinaus Bedingung für jede zwischenmenschliche Kollaboration überhaupt. Besonders starke verbindende Effekte von Gefühlen gehen dabei namentlich von emotional intensiv befrachteten kognitiven Erkennungs- und Identitätsmerkmalen wie Mutter- oder Fremdsprache, Dialekt, Akzent oder Kleidung aus, von Fahnen und anderen gemeinschaftschaffenden Symbolträgern ganz zu schweigen. Wiederum können Gewicht und Bedeutung von kognitiven Inhalten auf der individuellen und sozialen Ebene also recht unterschiedlich sein. Formal und dynamisch aber entfalten die daran gebundenen Affekte im kollektiven Bereich fraktal ganz analoge Effekte wie im individuellen und privaten.

Affekte als kontinuitätsschaffende Öffner und Schließer von kollektiven Gedächtnispforten Bei der Beprechung von allgemeinen (allen Affekten gemeinsamen) Operatorwirkungen von Affekten auf das Denken im Kapitel 3 haben wir gesehen, daß affektive Gestimmtheiten auch wie Pforten oder Schleusen funktionieren, die den Zugang zu bestimmten kognitiven

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Gedächtnisinhalten zustandsabhängig öffnen oder schließen. Affektkonforme Inhalte werden leichter erinnert, nicht konforme dagegen verdrängt. Sind solche Effekte fraktal ebenfalls auf der kollektiven Ebene zu beobachten? Ich meine, ja, wenn wir etwa an die Art und Weise denken, wie immer wieder die eigene oder fremde Geschichte in einer von der aktuellen »Mentalität« (der Art der Verknüpfung von bestimmten kognitiven Inhalten mit bestimmten Affekten) abhängigen Weise umgeschrieben wird. Dies geschieht genau besehen überall, und nicht nur in Diktaturen, wenn auch dort das Phänomen besonders augenfällig ist. Ein früher bereits in Sicht gekommenes Beispiel hierfür war die selektive Remobilisierung des Nibelungenlieds – und überhaupt der altgermanischen Mythen und Traditionen – durch die Nationalsozialisten. Noch viel nachhaltiger erfolgte eine Neubesinnung auf die je besonderen nationalen Vergangenheiten in der spezifischen Affektlage der Romantik des 19. Jahrhunderts – oder vielmehr: Aufgrund dieser eminent affektgeleiteten Besinnung auf die gemeinsamen ethnischen und kulturellen Wurzeln ist bekanntlich das Phänomen der »Nation« damals gewissermaßen überhaupt erst konstruiert worden. Eine affektgesteuerte kollektive Remobilisierung bestimmter gemeinsamer Gedächtnisinhalte hat also zur Entstehung von modernen europäischen Nationalstaaten Entscheidendes beigetragen. In der typisch affektlogischen Art der Verknüpfung von affektkonform selektionierten kognitiven Gedächtnisinhalten zu einem neuen dominierenden Fühl-, Denk- und Verhaltenssystem manifestiert sich außerdem erneut die kontinuitäts- und identitätsschaffende Wirkung der Affekte auf das kollektive Denken und Verhalten. Ein ähnlich emotional energetisiertes Phänomen war in Form einer Rückbesinnung auf ihre afrikanischen Wurzeln (»back to the roots«) ebenfalls auf einem Höhepunkt der Emanzipationsbewegung der nordamerikanischen Schwarzen in den siebziger Jahren zu beobachten, und ein noch aktuellerer Beleg für denselben Mechanismus ist die (Wieder-)Entdeckung von immer neuen historisch bedeutsamen Frauenfiguren in allen nur möglichen Bereichen unter der emotionalen Dynamik der zur Zeit laufenden feministischen Revolution. Wie ungeheuer denk- und verhaltenswirksam solche affektbefrachteten Rückbesinnungen auf selektive Aspekte der eigenen Geschichte bis in aktuellste Tagesfragen hinein sein können, zeigt sich besonders kraß auch in der Berufung der israelischen Siedler im Westjordanland auf ein »Großisrael« vor 2000 Jahren; überhaupt ist die ganze Geschichte des jüdischen Volkes ohne die emotional zementierte kollektive Bewahrung der alten Erinnerungen und Mythen durch alle Fähr-

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nisse einer vielhundertjährigen Diaspora hindurch gar nicht zu verstehen. Aber auch der gerade abgelaufene grausige Krieg im früheren Jugoslawien bleibt ohne die Berücksichtigung einer emotionsgetragenen Reaktivierung von Reminiszenzen aus der jüngeren wie älteren Vergangenheit ganz unverständlich; eine Rolle spielen dort, wie Kenner der Geschichte versichern, keineswegs bloß die Greueltaten etwa der kroatischen Ustaschis im Zweiten Weltkrieg, sondern auch noch eine ganze Reihe von ethnischen Konflikten, die mehrere Jahrhunderte zurückliegen und in einer anderen Affektlage zwischendurch emotional fast gänzlich vergessen und verdrängt (oder »desaktualisiert«, in der Terminologie von Janzarik) geblieben waren. Ganz gleichartige dynamische Affektwirkungen auf das Gedächtnis sind des weiteren im sozialen Mikrobereich in Form von Gruppen- und Familiengeschichten oder -mythen zu beobachten, wie sie anläßlich von Treffen und Feiern in einer charakteristischen Stimmung von wehmütig-euphorischer Verbrüderung immer wieder erinnert und erzählt zu werden pflegen. Ein entsprechendes Beispiel ist uns im Kapitel 5 zum Thema der »Freudelogik« begegnet. Auch die Funktion solcher Mythen ist im sozialen Klein- und Großraum, formal gesehen, ganz identisch: Hier wie dort schaffen und erhalten die in solchen Geschichten (re-)aktiviertierten gemeinsamen affektiv-kognitiven Bezugssysteme soziale Kontinuität, Kohärenz und Identität oft über Generationen hinweg und beeinflussen damit auch das Fühlen und Denken und Handeln aller Beteiligten nachhaltig.

Über kollektive affektiv-kognitive Verrückungen und Verblendungen Besonders eindrucksvolle Beispiele von Operatorwirkungen der Affekte im sozialen Feld sind in Erscheinungen zu beobachten, die durchaus einer kollektiven Psychopathologie zu entsprechen scheinen, wenn auch eine solche angesichts der Relativität einer jeden »Norm« wissenschaftlich sehr schwer zu definieren ist. Denn »verrückt« ist für jedermann zunächst der oder das Andere und Unbegreifliche. Auf dem mikrosozialen Niveau ist hier namentlich an die sogenannten symbiontischen Psychosen im Sinn der »Folie à deux«, »à trois«, »à quatre« (Fälle von induziertem Wahn bei zwei, drei oder vier eng zusammenlebenden Personen) zu denken, auf mittlerer Stufe an das Phänomen gewisser »verrückter« Sekten und auf makrosozialer Ebene an extreme politisch-ideologische Bewegungen etwa vom Typus des Nationalso-

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zialismus. Auf jedem Niveau handelt es sich dabei, affektlogisch-chaostheoretisch gesehen, um spezifische Attraktor-Eigenwelten oder dissipative Strukturen, in denen unterschiedliche Affekte und kognitive Inhalte zu umfassenden operationalen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen zusammengebunden sind. Das folgende Beispiel einer Folie à quatre stammt aus eigenen Untersuchungen von langfristigen Psychoseverläufen im Rahmen der sogenannten »Enquête de Lausanne« (Ciompi et al. 1976; Ciompi 1988a; Müller 1981): Ein seit jeher mißtrauisch-autoritärer und aus unklaren Gründen arbeitslos gewordener früherer Bankangestellter, der 49jährig erstmals mit der (später allerdings zugunsten einer bloß reaktiv wahnhaften Entwicklung in Zweifel gestellten) Diagnose einer sogenannten paranoiden (durch dominierende Wahnvorstellungen charakterisierten) Schizophrenie psychiatrisch hospitalisiert worden war, hatte seiner Frau und den zwei unmündigen Töchtern seit Jahren praktisch jeden Umgang mit der Außenwelt verboten. Er wähnte sich ständig von Nachbarn schikaniert und verfolgt, flüchtete unter Mitführung der Familie unstet bis ins Ausland von einem Wohnort zum anderen und hörte doch überall immer wieder die Stimmen von anonymen Peinigern, die angeblich zudem des nachts in seine Wohnung eindrangen und sich an seinem Körper zu schaffen machten. Diese wahnhaften Überzeugungen und schließlich offenbar sogar seine Gehörshalluzinationen und Alpträume wurden in einer Stimmung der wachsenden allgemeinen Angst und Verunsicherung mehr und mehr von allen drei Familienangehörigen geteilt. – Nachdem der Mann zwei Jahre später gebessert nach Hause entlassen wurde, verlor sich seine Spur in den Akten bis zur (umständebedingt nur summarisch durchführbaren und nicht auf die Angehörigen ausgedehnten) Nachuntersuchung 21 Jahre später. Wir fanden den seinerzeitigen Patienten als eleganten, etwas skurrilen alten Herrn nach wie vor mit seiner Frau und einer der beiden unverheirateten Töchter in einer hübschen Villa am Genfer See wohnend. Er hatte nach der langen Hospitalisation überraschend wieder eine Anstellung bei einer Bank gefunden, war dann aber 58jährig vorzeitig pensioniert worden und beschäftigte sich seither mit dem Zeichnen von Tausenden von Hausplänen zur – bloß fiktiven – Verschönerung seiner Nachbarschaft, mit der er angeblich in bestem Einvernehmen lebte. In der Tat schienen die alten Ängste und Halluzinationen nicht mehr zu bestehen; indessen blieben untergründiges Mißtrauen und angedeutete wahnhafte Größen- statt wie früher Verfolgungsideen doch weiterhin erkennbar.

Inwiefern hier eine kollektive Angst- und Verfolgungspsychose weiter bestand oder verschwunden war, hätte nur die genauere Untersuchung der ganzen Familie erweisen können. Sicher ist indessen, daß eine solche Kollektivpsychose einige Jahre lang eindeutig vorlag. Nach dem Psychopathologen Christian Scharfetter, einem besonders guten Kenner derartiger Fälle (Scharfetter 1970), geht die Induktion von abwegigen Ideen auf Familienglieder in der Regel von einem psychiatrisch klar kranken und zugleich in der Familie dominanten Familienmitglied aus, das seine Umwelt terrorisiert, »versklavt« und mit einer

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dichten Mauer von Geboten und Verboten psychisch wie physisch von der Außenwelt abschottet. Nicht selten scheint ebenfalls bei den Angehörigen eine gewisse erbliche Veranlagung zur Entwicklung von derartigen Störungen beizutragen. Daß geistig zunächst ganz gesunde, wenn auch möglicherweise etwas fragile Angehörige in einer derartigen Atmosphäre richtig krank werden können, ist nicht nur psychosentheoretisch von hohem Interesse, sondern illustriert einmal mehr auch die organisatorisch-integratorische Kraft von intensiven Affekten auf der sozialen Mikroebene. Von solchen Erscheinungen bis zur krankhaften »Verrückung« von ganzen Klein- bis Großgruppen gibt es eine praktisch lückenlose erscheinungsbildliche Kontinuität. Besonders kraß können sich massiv affektgeleitete kollektive Fühl-, Denk- und Verhaltensabwegigkeiten innerhalb gewisser religiöser Sekten entwickeln, so etwa in der 1978 in einem über 900fachen Massenselbst- beziehungsweise Massenmord in Guyana umgekommenen kalifornischen »Volkstempel«-Sekte um Jim Jones, in der rund 80köpfigen Davidistengruppe um David Koresh, die 1993 nach gescheiterten Verhandlungen vom amerikanischen FBI im Sturmangriff auf ihre »Festung« in Texas getötet wurde oder in der 1995 in Japan mit Giftgasangriffen auf die Bevölkerung terroristisch aktiven Aum-Sekte um Asahara Shoko. Eine weitere solche Tragödie spielte sich kürzlich in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ab: Am 5. Oktober 1994 ging die Nachricht durch die Weltpresse, daß an verschiedenen Orten in der Westschweiz und in Kanada insgesamt 53 Mitglieder des rund 15 Jahre zuvor in Genf gegründeten Sonnentempler-Ordens, darunter mehrere Kinder, tot aufgefunden worden waren, nachdem sie sich rituell umgebracht hätten oder von Ordensangehörigen umgebracht worden seien. Trotz allen polizeilichen Nachforschungen und der enormen Publizität, die dieses Ereignis auslöste, folgte über ein Jahr später, nämlich am 22. Dezember 1995 in einem Wald in der Nähe von Grenoble in Frankreich die Entdeckung von nochmals 16 Angehörigen desselben Ordens, die in ähnlicher Weise zu Tode gekommen waren.

Aus der Flut von Veröffentlichungen über diese schockierenden Ereignisse – namentlich einer 130seitigen Analyse des westschweizerischen Soziologen und Sektenspezialisten Roland Campiche (1995) und einem 250seitigen aufschlußreichen Bekenntnisbuch des gerade noch rechtzeitig abgesprungenen langjährigen Ordensmitglieds Thierry Huguenin (1995) – geht hervor, daß sich der vorwiegend aus Frauen und Mittelstandsangehörigen bestehende »Orden« im Lauf der Jahre um den charismatischen südfranzösischen Heiler Jo di Mambro und einige andere Leitfiguren herum gebildet hatte. Deren Ideologie bestand aus einem – wie Campiche sagt – »explosiven Cocktail« von (Post-)New-Age-Ideen, Astrologie, Esoterik, Ägyptologie, Rosenkreuzlertum und christlicher Apokalyptik. In allen wichtigeren Kader-

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leuten »erkannte« der Guru di Mambro oft schon bei der ersten Begegnung »reinkarnierte« hervorragende Persönlichkeiten, manchmal auch große Sünder aus früheren Zeiten, mit deren Lebensgeschichte er alle aktuellen Probleme seiner Adepten erklärte. Mit Hilfe von Seminarien, magischen Ritualen mit geschickt inszenierten angeblichen Erscheinungen aus dem Jenseits, engem Zusammenleben in großer mitmenschlicher Wärme bei gleichzeitiger affektiver Isolierung von der Außenwelt unter einer diktatorisch bis in intime Ehebeziehungen, Scheidung, Heirat und Sexualität hineingreifenden Disziplin wurde diese meilenweit von aller Alltagslogik entfernte Fühl-, Denk- und Verhaltenswelt laufend raffiniert aufrechterhalten und weiter ausgebaut. Der entscheidende affektive Motor und Organisator war einerseits die ständig geschürte Angst vor einer unmittelbar bevorstehenden Weltkatastrophe und andererseits die Überzeugung vom eigenen Erwählt- und Gerettetsein, falls nur die Flucht zunächst auf eigens gekaufte riesige ökologische »Überlebensfarmen« und dann auf einen anderen Stern durch Reinkarnation gelänge. Der schließliche Freitod oder »Transit zum Sirius« ist nach Campiche einerseits aus dem erwähnten »explosiven Cocktail« und andererseits aus einer »Logik des Mißerfolgs« zu erklären, denn die Apokalypse ließ auf sich warten, der alternde und kranke Guru verlor an Einfluß, einige Mitglieder, die seine betrügerischen Tricks entdeckt hatten, begannen zu rebellieren, und möglicherweise drohte zudem ein finanzielles Fiasko. Der Entschluß, zu sterben, wurde in einem offenbar schon Monate vor den ersten Todesfällen verfaßten »Testament« wie folgt begründet: »Angesichts der allgemeinen Unfähigkeit der Verantwortlichen aller Nationen, der Unehrlichkeit und Habgier gerade jener, die sich als Verteidiger von Freiheit und Menschenrechten aufspielen; angesichts der systematischen Aufwertung von Lüge und Manipulation, der immer schnelleren und willkürlichen Verschleuderung der Ressourcen dieser Erde und ihres Biotops und der Weigerung des Menschen, seine königliche Rolle als Krone der Schöpfung wahrzunehmen; angesichts der systematischen Verfolgung der Träger des Lichts (J. F. Kennedy, Gandhi, Martin Luther King etc.), der allgemeinen Dekadenz der zur Beherrschung ihrer zerstörerischen Triebe unfähigen menschlichen Rasse sowie der wachsenden ökologischen, klimatischen, chemischen, nuklearen, militärischen ... Gefahren; und vor allem angesichts der polizeilichen Einschüchterungen aller Art, deren Opfer wir überall andauernd sind, wo wir das Mysterium der großen Tradition zu enthüllen trachten, haben wir bei klarem Bewußtsein und im Vollbesitz unserer Geisteskräfte beschlossen, uns von dieser Welt zurückzuziehen« (nach Campiche 1995, S. 97, Übersetzung von mir).

Wie ist es zu erklären, daß keineswegs nur unreife Teenager oder ungebildete Kleinbürger, sondern durchaus auch kultivierte Akademiker, suchende Künstler und erfolgreiche Industrielle mittleren oder höheren Alters auf eine solche zwar im Ansatz für einen Außenstehen-

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den wohl noch nachvollziehbare, in ihren Konsequenzen dann aber immer abwegigere Fühl-, Denk- und Verhaltensschiene geraten konnten? – In Wechselwirkung mit hier nicht weiter zu thematisierenden soziokulturellen Rand- oder Kontrollbedingungen wie die aktuelle Religions-, Werte- und auch Wissenschaftskrise, die neue esoterische Welle, die Nähe der Jahrtausendwende sind dafür aus meiner Sicht wiederum in allererster Linie die sozial- und denkorganisatorischen Wirkungen von massiven Gefühlen verantwortlich. Denn einzig systematisch mobilisierte enorme Affektenergien vermögen die – im Buch von Thierry Huguenin packend geschilderte – emotional durchaus kohärente »Logik« verständlich zu machen, die die Ordensmitglieder Schritt für Schritt in eine vom Alltagsdenken immer krasser abweichende affektiv-kognitive Eigenwelt mit all ihren Folgen hineintreiben konnte. Gewiß lassen sich (wie gerade auch in der genannten Autobiographie deutlich wird) hierfür vermutlich in jedem Einzelfall psychoanalytisch und familiendynamisch verstehbare lebensgeschichtliche Hintergründe auffinden. Doch imponieren diese von einem kritischen Punkt der Entwicklung an höchstens noch als notwendige Rand- und Vorbedingungen, aufgrund derer dann – ganz ähnlich vielleicht wie dies im Fußballstadion passiert – übermächtige kollektive Affekt-Attraktorwirkungen das Verhalten der Gruppe entscheidend bestimmen. Um freilich ein derartiges Geschehen in alle Tiefe zu verstehen, wäre eine präzise formale und inhaltliche Analyse der vorherrschenden Affekt-Kognitionsverknüpfungen und deren qualitativer wie quantitativer Dynamik vonnöten, wofür zureichende Informationen fehlen. Immerhin lassen sich einige der affektiv-kognitiven Hauptstränge, die zum komplexen Netzgewebe des schließlich wirksamen Gesamtattraktors hinführen, durchaus erkennen: Die Angst vor dem Tod und zugleich vor dem modernen Leben spielt darin eine zentrale Rolle; mit diesem depressiv-aggressiven Grundaffekt verquickt sich als rettender Ausweg die Idee der Reinkarnation, der Flucht auf einen anderen Stern, und von da aus paradox wieder in den Tod im Sinn eines (ähnlich oft auch in anderen solchen Gruppen, so etwa in den Terroraktionen der japanischen Aum-Sekte) zu beobachtenden kontraphobischen Versuchs der bewußten »Akzeleration der Apokalypse«. Ebenfalls die Idee des Auserwähltseins bezieht ihre Energie wesentlich aus dieser Angst; gleichzeitig ist – wie noch viel klarer in der dominierenden Haßlogik der Aum-Sekte zu erkennen – darin aber auch ein gehöriges Quantum an aggressiver Abgrenzung gegen die Umwelt wirksam, die pauschal als böse empfunden und deshalb auch ohne Bedauern dem Verderben überantwortet wird. Alle positiven Gefühle und Erfahrungen wie Liebe

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und Freude, mitmenschliche Nähe und Anerkennung, Selbstwert, Identität und persönliche Wichtigkeit dagegen sind einzig und allein an den Orden selbst – an seine Mitglieder, seine Riten sowie Regeln und Glaubenssätze als kognitive Träger – gebunden, wodurch eine scharf polarisierte Schwarzweißwelt entsteht: Alles Gute ist »bei uns«, »bei mir«, oder »drinnen«, alles Schlechte »draußen«, »bei den anderen« – eine unrealistische, der Psychoanalyse wohlbekannte Konstellation, die trügerische Sicherheit vermittelt, aber gerade ihrer Absolutheit wegen nicht von Dauer sein kann. Das gleiche Sicherheitsbedürfnis wird durch den blinden Glauben an die diktatorischen Anordnungen und Adhoc-Behauptungen eines unfehlbaren Gurus – einer von Huguenin explizit als Vaterersatz erkannten Überelternfigur – befriedigt, womit ein weiterer dynamisch wichtiger Affekt-Kognitionsstrang mit sowohl individual- wie kollektivpsychologischen Konnotationen identifiziert wäre. Die Unfähigkeit, den Tod anzunehmen und die Ungewißheit auszuhalten, stellt – ganz ähnlich wie wohl bei praktisch allen Religionen – eine der affektenergetisch sicher tiefsten Wurzeln des ganzen komplexen Denkgebäudes dar. Mit maximaler Prägnanz treten formal durchaus gleichartige, wenn auch an ganz andere kognitive Inhalte gebundene affektspezifische Operatorwirkungen auf das kollektive Denken (oder genauer wohl den »kollektiven Denkstil«) schließlich in der Entstehung von makrosozial zerstörerischen Ideologien vom Typus des deutschen Nationalsozialismus zutage. Die Fakten hierzu sind so bekannt, daß es sich erübrigt, sie hier genauer darzustellen. Neben der affektiv-kognitiven Versklavung eines ganzen Volkes durch einen charismatischen »Führer« und der extrem polarisierenden Schwarzweißmalerei, mit der dieser den sozialen Groß- wie Kleinraum in »Nur-Gute« und »Nur-Böse« aufteilte, zeigt namentlich auch die ganzen Völkern und ethnischen Gruppen gegenüber praktizierte systematische Vernichtungspolitik mit schrecklicher Klarheit, wohin die Vorherrschaft einer Haß- und Aggressionslogik eine Kollektivität führen kann. Aber selbst Nazischergen waren bekanntlich keineswegs immer nur blutrünstige Ungeheuer, sondern zum Teil auch ganz gewöhnliche Bürger und Familienväter, ruhig planende Funktionäre, kultivierte Akademiker, logisch denkende Wissenschaftler und Philosophen. So war, wie man unter anderem von seiner Heidelberger Rektoratsrede (1933) her weiß, auch Martin Heidegger, trotz all seiner sonstigen Gedankentiefe, eine Zeitlang erheblich mehr als ein bloßer Mitläufer. Vielleicht noch erschreckender ist ferner, daß die heute fast für jedermann als »verrückt« anmutende Fühl-, Denk- und Verhaltenswelt des Nationalsozialismus sich nur zum Teil unter der Wirkung von übermächtigen Gefühlen von Haß und Wut, zu

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einem anderen Teil aber auch aus viel respektableren und vor allem weitverbreiteten Ursprüngen entwickelt hat: Nicht zum geringsten Teil waren daran nämlich längst auf leisen Sohlen zur Selbstverständlichkeit gewordene Denkverbindungen beteiligt, deren zerstörerische Affektkomponenten lange Zeit nicht erkannt wurden. So wurzelt beispielsweise die schließlich bis zu ihren furchtbarsten Konsequenzen vorangetriebene Ideologie der »Legitimität der Vernichtung von lebensunwertem Leben« – nebst Millionen von Juden, Zigeunern und anderen sogenannten »rassisch minderwertigen Menschen« wurden auch über 100 000 Psychiatriepatienten umgebracht – tief im wissenschaftlichen Zeitgeist der Jahrhundertwende und der damals weithin führenden sogenannten Degenerationslehre (alle möglichen psychischen wie rassischen Besonderheiten mit Ausnahme der eigenen wurden einer »Degeneration« zugeschrieben). Hierzu schreibt Hartmann Hinterhuber in seinem kürzlich erschienen Buch »Ermordet und Vergessen« (1995, S. 124): »Weltweit wurden um die Jahrhundertwende Ideen der ›Rassenhygiene‹ entwickelt: Die ›Förderung des Volkswohls‹ sollte durch Sterilisierung und durch Euthanasie erreicht werden. Diese Gedanken fielen bei den Nationalsozialisten auf besonders fruchtbaren Boden: Bereits am 13. 7. 1933 erließen sie das ›Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‹, das die Zwangssterilisierung von psychisch Kranken und Behinderten erlaubte. Parteifunktionäre, Ärzte, Lehrer und Literaten trugen dazu bei, daß die Sterilisation gedanklich zur Normalität wurde: Zwischen 1934 und 1945 mußten sich 400 000 Menschen einer Zwangssterilisierung unterwerfen, über 1 000 von ihnen, vor allem Frauen, sind an der Operation gestorben.«

Ein entsprechender »wissenschaftlicher« Denkstil, und nicht selten auch eine ähnliche Praxis, war – wie unzählige Texte in Fachzeitschriften bezeugen – jahrzehntelang in ganz Europa weit verbreitet und verschwand auch nach 1945 keineswegs mit einem Schlag von der Bühne. In der Schweiz jedenfalls sind Zwangssterilisierungen von Geistesschwachen und Schizophrenen mancherorts noch bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein ohne viele Umstände vorgenommen worden. Und auch von unseren Grenzen sind im Krieg bekanntlich Zehntausende von einlaßbegehrenden Juden von beflissenen Beamten, die den Nazis sogar die Idee eines Judenstempels im Paß eingegeben hatten, in den sicheren Tod zurückgeschickt worden. Ebenso »selbstverständlich« machte sich jahrzehntelang – bis es vor kurzem von außen plötzlich heftige Angriffe hagelte – die schweizerische Öffentlichkeit wenig Sorgen um das Schicksal von »herrenlosen« Judengeldern aus dem Zweiten Weltkrieg in den Schweizer Banken. Unter der Wirkung von ansteckenden Gruppenmechanismen besteht die Gefahr des Abdriftens in emotional desaktualisierte Ungeheurlichkeiten vermutlich in jeder Kollektivität. Wir wissen im übrigen wenig, was von unseren aktuellen

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Fühl-, Denk- und Verhaltensgewohnheiten – vielleicht unser zur Zeit als »normal« geltende Umgang mit den Tieren oder mit der Natur überhaupt – dereinst als solche Ungeheuerlichkeit erscheinen wird. Besonders tragisch, aber als Reaktion auf die erlittenen Verfolgungen affektlogisch wohl recht gut verstehbar mutet ebenfalls die Tatsache an, daß seit langem gerade auch Israel gegen die verrückende Wirkung von Angst und Haß keineswegs gefeit scheint. Unter anderem mußte es sich im Herbst 1995 von »Amnesty International« wegen seiner Folterpraktiken gegenüber palästinensischen Häftlingen scharf kritisieren lassen (»Neue Zürcher Zeitung« vom 25. 10 1995, S. 7). Nichtsdestotrotz ging ein Jahr darauf die Meldung durch die Weltpresse, daß der oberste israelische Gerichtshof die Anwendung von physischer Gewalt bei der Befragung von terrorismusverdächtigen Palestinensern offiziell gestattet habe. Auch in vielen weiteren Aspekten ist der israelischarabische Konflikt sicher ein Schulbeispiel für die verheerenden Wirkungen von gegenseitig immer wieder hochgetriebenen Gefühlen von Angst und Wut und Haß – tiefsitzende kollektiven Gefühle, die seit Jahrzehnten das kollektive Denken und Handeln mehr zu bestimmen scheinen als jede »rationale Logik« und jede noch so tiefe allseitige Sehnsucht nach Frieden.

Nichtlineare Phasensprünge und »Schmetterlingseffekte« im sozialen Klein- und Großraum Daß soziale Prozesse wesentlich nichtlinear – das heißt oft sprunghaft und unvorhersehbar – verlaufen, wird sicherlich von niemandem bestritten und ergibt sich theoretisch auch schon aufgrund der zahlreichen dabei mitspielenden Rückkoppelungsmechanismen. Chaostheoretische Erklärungsmodelle drängen sich deshalb auf. Bereits die Eskalation eines Wortstreits zwischen zwei Kampfhähnen bis zum Ausbruch von offener Gewalttätigkeit kann, wie schon einmal vermerkt, als nichtlinearer Sprung in eine global andersartige Verhaltensebene (und gleichzeitig Fühl-Denkebene) aufgefaßt werden. Makrosozial entspricht ihr die »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«, das heißt der Kriegsausbruch. Alles deutet darauf hin, daß die wachsende aggressive Spannung auf beiden genannten Ebenen durchaus selbstähnlich wirkt. Aber auch auf dem dazwischenliegenden Niveau der Familienoder Gruppendynamik sind nichtlineare Phasensprünge von einem Funktionsmuster zum anderen beobachtbar; Untersuchungen mit chaostheoretischen Modellen zeigten dabei die kritische Wirkung von

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eskalierenden Feedbackprozessen (Elkaim et al. 1987; Brunner et al. 1991; Vallach et al. 1994). Auf der sozialen Makroebene gibt es entsprechende Versuche, plötzliche politische oder soziale Umschläge, so beispielsweise Staatsstreiche, aus dieser Sicht zu erfassen. Die Münchner Soziologin Nicole Saam berichtete 1993 erstmals über ein komplexes mathematisches Computersimulationsmodell, in welchem die nichtlineare Dynamik der insgesamt 21 militärischen Putsche oder Putschversuche chaostheoretisch nachgebildet wurde, die zwischen 1932 und 1992 in Thailand über die Bühne gingen. Politische Makroebene und personenbezogene Mikroebene wurden dabei als strukturell gekoppelt aufgefaßt; in letztere gingen als Variablen auch Einstellungen von wichtigen »Einzelspielern« – etwa Sympathie oder Antipathie führender Militärs für demokratische Regierungsformen – mit ein, in welchen Wertsysteme (und damit affektive Einstellungen) von Wichtigkeit sind. Erste Ergebnisse zeigten, daß neben wirtschaftlichen und soziostrukturellen Gegebenheiten auch solche Werthaltungen beim Zustandekommen eines Staatsstreichs eine bedeutsame Rolle spielen. Als mögliche Prävention identifizierte die Soziologin unter anderem vertrauensbildende, also wiederum vor allem emotional wirksame Maßnahmen (3. Herbstakademie über Selbstorganisation in Psychologie und Psychiatrie in Bern 1993; vgl. ferner Saam 1996).

Die Hoffnung erscheint nicht unbegründet, mit derartigen Methoden die Dynamik von mikro- wie makrosozialen Phasensprüngen allmählich besser zu verstehen. Von praktischem Interesse ist bei solchen Prozessen unter anderem das chaostheoretische Phänomen der sogenannten Hysteresis (Verzögerung), das heißt der Verschiebung des kritischen Umschlagspunkts je nach Richtung und Vorgeschichte des fraglichen Vorgangs. So ist es bekanntlich bedeutend leichter, einen Streit oder Krieg anzufangen, als ihn wieder zu beenden: Wegen des genannten Hysteresiseffekts wird ein Konflikt, der bei einem bestimmten Grad der Spannung einmal ausgebrochen ist, nicht mehr am selben Punkt automatisch in den Normalzustand »zurückschnappen«, wenn die Spannung wieder absinkt, sondern erst erheblich darunter. Emotionsdynamisch läßt sich dasselbe Phänomen als ein Nachhinken der trägeren affektiven Grundstimmung gegenüber dem beweglicheren Oberflächendenken verstehen. So können bekanntlich emotionale Ressentiments zwischen oberflächlich versöhnten feindlichen Gruppen noch jahre- bis jahrzehntelang untergründig weiterschwelen und plötzlich wieder zu explosiven Ausbrüchen führen. Bei allen individuellen wie kollektiven Krisen ist des weiteren mit den in Kapitel 4 erklärten sogenannten Schmetterlingseffekten zu rechnen: Winzige Einflüsse vermögen in der Phase der kritischen Labilisierung in der Nähe des Umschlagspunkts enorme Wirkung zu zeitigen. In spektakulärster Weise war dies auf der weltpolitischen Bühne im Herbst 1989 anläßlich der Öffnung der Berliner Mauer zu beobachten: Innerhalb kürzester Zeit hat diese Bresche von einigen Metern Breite,

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ihrerseits erzwungen durch die kurz zuvor erfolgte Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze für ostdeutsche Flüchtlinge, sozusagen das ganze, seit über 70 Jahren bestehende kommunistische Weltreich zu Fall gebracht. Natürlich aber wurde ein solcher Knalleffekt nur möglich aufgrund der schon Jahre zuvor von Gorbatschow in Gang gebrachten Labilisierung der gesamten politischen Lage in Osteuropa, verbunden notabene mit der in den Monaten vor dem Zusammenbruch stetig anwachsenden emotionalen Energetisierung dieser Situation namentlich durch die berühmten Leipziger »Montagsdemonstrationen«. – Auch die anschließend rasant realisierte und ebenfalls emotional hochbefrachtete deutsch-deutsche Wiedervereinigung ist im übrigen ein frappanter Beleg für die ungeheuren mobilisierenden und organisierenden Wirkungen von Affekten auf der kollektiven Ebene: Ohne die kollektive »Liebe« zwischen den beiden deutschen Staaten im entscheidenden Moment, das heißt auf rein »rationaler« oder »kognitiver« Ebene hätte, wie die nachfolgende Ernüchterung aufgrund zunächst verdrängter Sachprobleme zeigte, diese Wiedervereinigung aller Wahrscheinlichkeit nach noch Jahre oder Jahrzehnte auf sich warten lassen. Ein anderes eindrucksvolles Beispiel, das vermutlich nur mit derartigen Schmetterlingseffekten zu erklären ist, ist der weltweite, gefährliche Börsenkrach im Oktober 1993. Nicht eine besonders bedrohliche weltwirtschaftliche Lage, sondern vielmehr gewisse von Unwägbarkeiten angestoßene und dann lawinenartig anwachsende Wechselwirkungen zwischen Computersimulationsmodellen, in welchen derartige Kumulationseffekte nicht genügend berücksichtigt waren, scheinen – will man den Experten glauben – den von niemand vorausgesehenen plötzlichen massiven Kurssturz bewirkt zu haben. Zu beachten ist, daß in die Computermodelle verpackte emotionale Komponenten (Ängste, Hoffnungen, Ziele) auch hier wieder, wie ja generell im Börsengeschehen, eine entscheidende Bedeutung haben können. Vielfach spielen ebenfalls einzelne Informationen oder, im Zeitalter des Fernsehens, Bilder die Rolle des ominösen »Schmetterlings«. So führte etwa 1994 das von allen USA-Sendern immer wieder gezeigte Fernsehbild eines in Mogadischu von afrikanischen Rebellen triumphierend zu Tode geschleiften amerikanischen Soldaten zum abrupten Abbruch der erfolglosen zweijährigen Militärintervention der Amerikaner in Somalia. Ganz ähnlich löste in erster Linie das mitleiderregende Bild eines hungernden Mädchens aus der Sahelzone einige Jahre zuvor eine weltweite Hilfsaktion für die dort seit langem unbeachtet darbende Bevölkerung aus. Zu erwähnen wäre im selben Zusammenhang auch der allen Politikern bekannte Stellenwert von symbolischen

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Gesten im richtigen Moment: Der spontane Kniefall des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos 1970 in Warschau, die öffentliche Entschuldigung des japanischen Premierministers im Sommer 1995, fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, für Japans seinerzeitige Aggression im Pazifik oder – ebenfalls 1995 – der erste Händedruck zwischen dem israelischen Regierungschef Yitzhak Rabin und dem Palästinenserführer Yasser Arafat vor laufenden Fernsehkameras sind Beispiele hierfür. »Niemand hatte es erwartet. Keiner hat es vergessen. Es hat die Dinge verändert. Es hat den Völkern einen neuen Weg geöffnet«, sagte der deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum erwähnten Kniefall 1992 in seiner Gedenkrede auf Willy Brandt. Wenn solche Gesten im »rechten Moment« (dem καιρ σ der alten Griechen) erfolgen, können sie enorme Wirkungen zeitigen. Sonst aber verpuffen sie einfach ins Leere.

Fazit: Bestätigung des Konzepts einer fraktalen Affektlogik und neue Einsichten zum Problem der Emergenz Versuchen wir, abschließend die in diesem zweiten Buchteil, und speziell im vorliegenden Kapitel, neu gewonnenen Einsichten zur Natur von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen noch einmal zu überblicken. Insgesamt hat sich gezeigt, daß tatsächlich auf allen untersuchten mikro- und makrosozialen Ebenen prinzipiell ähnliche mobilisatorische, organisatorische und integratorische Schaltwirkungen von Affekten auf Denken und Verhalten am Werk sind, wie wir sie zuvor schon im individualpsychologischen Bereich gefunden hatten. Ebenso fanden wir formal und strukturell (nicht inhaltlich oder gradmäßig) durchaus analoge Affektwirkungen auf das Denken bei gesunden (oder »normalen«) wie krankhaften Erscheinungen. Damit scheint sich die Grundhypothese der fraktalen Affektlogik einer skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit von psychischen Phänomenen auf unterschiedlichsten Ebenen klar zu bestätigen. Wie vermutet treten aufgrund von sozialen Verstärkern zudem Operatoreffekte von Affekten auf Denken und Verhalten auf dem Projektionsschirm des kollektiven Makrogeschehens sogar mit besonderer Deutlichkeit zutage. Dies gilt nicht nur vom Phänomen der emotionalen Ansteckung, das, obwohl noch in jeder kleinsten zwischenmenschlichen Begegnung nachweisbar, nirgends so spektakulär ist wie in typischen Massenerscheinungen. Auch die stän-

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dige untrennbare Verquickung von kognitiven mit emotionalen Prozessen ist im sozialen Feld oft noch viel offensichtlicher als im individuellen. Besonders evident sind auf dem kollektiven Niveau ferner die aufmerksamkeitsfokussierenden und -hierarchisierenden, gedächtnismobilisierenden und denk- wie verhaltensorganisierenden Operatorwirkungen von Affekten. So wäre ohne deren verbindende Wirkungen überhaupt kein sozialer Zusammenhalt – kein gemeinsames Wollen und Handeln, kein »Zeitgeist« oder gemeinsamer »Denkstil«, keine »kollektive Mentalität« und auch keine Mode – möglich. Als analog wie auf der individuell-psychopathologischen Ebene haben sich, ungeachtet der ungelösten definitorischen Problematik einer kollektiven Pathologie, mutatis mutandis des weiteren die affektdynamischen Dynamismen erwiesen, die zur Verirrung und »Verrückung« von ganzen Gruppen und Sozietäten führen: Hier wie dort entwickeln sich solche Verrückungen über unzählige selbstähnliche Mikroprozesse oder iterative »Schienen«, in denen affektspezifische Kognitionen immer wieder stimmungsabhängig selektioniert, zu Mikro-Bezugssystemen mit einheitlicher Affektqualität verbunden und schließlich mit Hilfe dieses »Leims« zu zeitüberdauernden »affektivkognitiven Eigenwelten« zusammengebaut werden. Auf allen Ebenen kann es zudem zu typischen Schmetterlingseffekten kommen, indem kleinste Ursachen in Situationen der kritischen Labilisierung unter Umständen gewaltige Langzeitwirkungen zu zeitigen vermögen. Noch deutlicher als im individuellen Feld sind im kollektiven Bereich ebenfalls die Attraktorfunktionen von derartigen Eigenwelten (oder »Denkstilen«, »Denkkollektiven«) erkennbar, da diese hier durch affektive Ansteckung und imitatorisch-identifikatorische Rückkoppelungsprozesse noch mächtig potenziert werden. Selbstähnliche individuelle und kollektive Affekt-Kognitionsdynamismen erscheinen damit auf allen Niveaus auch als komplementäre Phänomene, die sich wechselseitig bedingen und verstärken. Ein ebenfalls vorwiegend über affektive Mechanismen laufender Konformitätsdruck (oder »Affektdruck«, um mit Berger und Luckmann zu reden) spielt dabei eine wichtige Rolle. Über solche sozialen Verstärkermechanismen werden alltäglich benutzte Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme mit der Zeit zu breiten Heerstraßen von unreflektierten Selbstverständlichkeiten im Sinn unserer Alltagslogik ausgewalzt, deren ursprüngliche Affektbesetzungen schließlich kaum noch bewußt sind, über stereotype Vorlieben und Abneigungen, Werthaltungen oder Vorurteile indes weiterhin wirksam bleiben. Zweifellos beruhen die Attraktoreigenschaften von solchen affektiv-kognitiven Alltagswelten auch im kollektiven Bereich wesentlich auf der lustbringenden (beziehungsweise unlustvermeiden-

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den) Energieersparnis, die mit jeder Automatisierung einhergeht. Denn auch hier gilt, daß alle derartigen »Eigenwelten«, selbst wenn dies längst vergessen ist, gemäß ihrer selbstorganisatorischen Genese im Grund aus einem Netzwerk von lauter »Lustwegen«, oder doch »Unlustvermeidungswegen«, bestehen. Alles in allem bringt die Ausweitung des Blickwinkels vom individualpsychologischen und -psychopathologischen auf den sozialen Bereich mithin nicht nur eine Bestätigung, sondern auch eine Vertiefung unserer Hypothesen. Insbesondere hat sich gezeigt, daß das Konzept einer fraktalen Affektlogik ein überraschend breites deskriptives und zugleich explikatives Potential besitzt. Es erlaubt, psychosoziale Phänomene auf unterschiedlichsten Ebenen mit einer einheitlichen wissenschaftlichen Sprache zu beschreiben. Neben der Selbstähnlichkeit von grundlegenden affektiv-kognitiven Wechselbeziehungen tritt dabei überall auch der energetische Aspekt als wichtiges verbindendes Element in Erscheinung: Dank der Auffassung der Affekte als entscheidende Energieträger oder »Motoren« auch im kollektiven Geschehen wird es aufgrund dieses Sachverhalts möglich, moderne system- und chaostheoretische Erkenntnisse zu den Mechanismen, die komplexe Systeme jeder Art zu plötzlichen Phasensprüngen in andere globale Funktionsmodi veranlassen, auch auf soziodynamische Prozesse anzuwenden. Als wesentlicher Erkenntnisgewinn ist dabei ebenfalls die in solchen Dynamismen begründete Einsicht zu verbuchen, daß die Unvorhersehbarkeit von psychosozialen Prozessen prinzipieller (und nicht etwa bloß durch ungenügende Erfassung relevanter Variablen bedingter) Art ist. Auch diese Einsicht kommt einem tiefgehenden Paradigmenwechsel gleich, denn sie bedeutet den Abschied vom Irrglauben an eine je mögliche sichere Prognostizierbarkeit der Dynamik komplexer Systeme, falls nur alle wesentlichen Faktoren genau bekannt und erfaßt wären. An ihre Stelle tritt die Erkenntnis einer grundsätzlichen Unberechenbarkeit und Einzigartigkeit – die Chaostheorie spricht auch von gerichteter Zeitlichkeit oder Geschichtlichkeit – des mikro- wie makrosozialen Geschehens. Sie konfrontiert uns einerseits mit permanent möglichen Risiken und verlangt insofern das Aushalten einer noch weit fundamentaleren Unsicherheit allen Wissens und Erkennens, als bisher ohnehin schon der Fall. Auf der anderen Seite aber bedeutet die gleiche Indeterminiertheit des Geschehens auf allen Ebenen auch eine ungeheure Chance: Denn wo immer noch alternative Möglichkeiten offenstehen, da bleibt stets auch ein gewisser Raum für schöpferische Innovation und konstruktive Intervention. Bei aller Betonung von formalen und strukturdynamischen Gemeinsamkeiten von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen über alle Dimen-

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sionen und »Disziplinen« hinweg, die aufzuzeigen ein Hauptanliegen der fraktalen Affektlogik ist, dürfen freilich auch wesentliche Unterschiede von Ebene zu Ebene nicht außer acht gelassen werden. Sicher lassen sich soziale affektiv-kognitive Wechselwirkungen nicht einfach auf individuelle reduzieren, oder umgekehrt. Nicht nur können Affektmechanismen dank den beschriebenen Verstärkereffekten auf kollektiven Niveaus eine Wucht und Durchschlagskraft gewinnen, wie dies im rein individuellen Bereich nie möglich wäre – neben momentanen Massenphänomenen ist hier namentlich auch an den oben schon erwähnten Konformitätsdruck zu denken, der ganzen Zeitepochen bestimmte Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster aufnötigt und andere völlig ausschließt –, sondern solche Phänomene unterscheiden sich auch in ihrem Komplexitätsgrad von Ebene zu Ebene ganz erheblich. Sowohl inhaltlich wie qualitativ und gradmäßig emergieren in kollektiven und langfristigen Entwicklungen Organisationsformen und Muster, die im individuellen Bereich völlig unmöglich sind; umgekehrt zeichnen sich individuelle Ausprägungsformen unter anderem durch eine Variabilität und flexible Anpassungsfähigkeit aus, die dem trägeren Makrobereich fehlen. Ein gutes Beispiel für beides wäre etwa ein durch Jahrhunderte gewachsenes und in übergreifenden kirchlichen Organisationsformen institutionalisiertes kollektives Glaubensgebäude religiöser Art, oder auch ein analog institutionalisiertes politisches oder wissenschaftliches Fühl-, Denk- und Verhaltensgebäude. Ebenso offensichtlich zeigen sich in solchen Beispielen die gewaltigen Unterschiede im zeitlichen wie räumlichen (für bestimmte geographische Regionen typischen) Differenzierungsgrad von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen auf der kollektiven im Vergleich zur individuellen Ebene. Ganz ähnlich wie wir (im Kapitel 4) schon anhand des einfachen Beispiels der sogenannten Bénard-Instabilität aus der Physik – also des plötzlichen Übergangs von der ungeregelten individuellen Bewegung einzelner Moleküle (Brownsche Molekularbewegung) zur synergistischen Bewegung und übergreifenden Musterbildung riesiger kollektiver Ströme von Molekülen an einem bestimmten Punkt der Erwärmung einer Flüssigkeitsschicht – gesehen haben, emergieren unter bestimmten Umständen auf der makrosozialen Ebene übergreifende Prozesse und Organisationsformen radikal neuer Art. Um so bemerkenswerter ist es, daß affektive Gestimmtheiten auf jeder Ebene grundsätzlich ganz gleichartige »Operatorwirkungen« auf Denken und Verhalten ausüben. Damit erheben sich zum Abschluß dieser Reflexion über Selbstähnlichkeiten und Unterschiede von affektiv-kognitiven Prozessen auf verschiedenen psychosozialen Ebenen noch (mindestens) zwei gewichtige Fragen: Was ist eigentlich »kollektives« Denken und Fühlen, und unter

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Facetten der fraktalen Affektlogik

welchen Umständen kommt es zur besagten »Emergenz« von quantitativ oder qualitativ Neuem? Die erste Frage läßt sich – zumindest in erster Annäherung – relativ leicht beantworten: Als »kollektiv« dürfen Fühl- und Denkprozesse sicher dann betrachtet werden, wenn sie einer erheblichen Zahl von Menschen oder gar einer Mehrzahl von Individuen innerhalb einer gegebenen Gruppe oder Gesellschaft gemeinsam sind. Ganz entsprechend entwickelt sich auch kollektives Verhalten. Anschauliche Beispiele hierfür liefern wiederum die gemeinsamen Gefühle und Gedanken etwa bei einem sportlichen Großanlaß oder irgendeinem anderen emotional befrachteten Massengeschehen, weniger spektakulär, aber dafür auch viel nachhaltiger sind die von vielen Angehörigen etwa eines Volkes oder einer ethnischen Gruppe geteilten zeitüberdauernden Werthaltungen, Ideologien und Überzeugungen religiöser oder politischer Art. Eine solche Definition wird weder durch die Tatsache beeinträchtigt, daß die Träger auch von kollektiven Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen letztlich immer nur einzelne Menschen sind, noch dadurch, daß zwischen kollektiven und individuellen Prozessen komplexe Wechsel- und Komplementärbeziehungen bestehen. Was dagegen die Frage der Emergenz von Neuem auf unterschiedlichen Ebenen der Komplexität anbetrifft, so handelt es sich dabei um ein Problem von derart weitläufiger allgemeiner Bedeutung, daß hier nur ein bestimmter, aus affektenergetischer Sicht besonders interessanter Sonderaspekt herausgegriffen werden kann. Ganz ähnlich wie im psychosozialen Phänomenbereich stellt sich das Problem der Emergenz auch in vielen anderen dynamischen Systemen, so namentlich in der biologischen Evolution, wo sich etwa innerhalb der Klasse der Wirbeltiere einerseits zahlreiche Gemeinsamkeiten und fraktale Selbstähnlichkeiten (die Form und Funktion der Wirbelsäule selbst, der Gliedmaßen, des Gehirns und der inneren Organe usw.) über alle Stufen der Entwicklung hinweg finden, andererseits aber auf jeder Stufe auch grundsätzlich Neues auftaucht. Wir sind dieser Problematik bereits bei der Diskussion von Reichweite und Grenzen von fraktalen Selbstähnlichkeiten begegnet und haben dort unter anderem auf eine gewisse Abhängigkeit der relevanten Systemgrenzen von der Perspektive des Beobachters selbst hingewiesen. – Die affektenergetische Betrachtung des psychosozialen Geschehens auf unterschiedlichsten fraktalen Ebenen führt nun zu der Einsicht, daß grundsätzlich neue Organisationsformen von Affekt und Kognition jedenfalls immer dann auftreten, wenn das Niveau von affektiven Spannungen einen bestimmten kritischen Wert erreicht hat. Auch dies gilt wiederum selbstähnlich auf der individuellen wie kollektiven Ebene; zugleich läßt es sich aber auch

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Kollektive fraktale Affektlogik

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anhand der Beziehungen zwischen den beiden Ebenen gut verdeutlichen: So mag beispielsweise eine individuelle Wut über einen Eindringling im privaten Bereich wirkungslos (»ohnmächtig«) verpuffen, auf kollektiver Ebene dagegen nach hinreichender sozialer Verstärkung zu einer kriegerischen Abwehr mit Bildung von neuen und komplexen sozialen Organisationsformen (Armeeorganisation, Kriegswirtschaft, Ausnahmerecht usw.) mit entsprechenden Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen Anlaß geben. Ganz ähnlich führen auch zahllose andere individuelle Dynamismen erst dann zur Emergenz von Neuem auf übergeordneter Ebene, nachdem die von den implizierten Affekten vermittelten Energien sozial genügend verstärkt und synergistisch gebündelt worden sind. Neues emergiert also immer dann, so dürfen wir verallgemeinernd schließen, wenn in einem psychosozialen System beliebiger Dimension die interagierenden Affektspannungen oder -energien bis zu einem bestimmten kritischen Wert anwachsen. Eine solche Interpretation der Emergenz von neuen Formen der kognitiven oder andersartigen Differenzierung bleibt weit über den psychosozialen Bereich hinaus gültig. Sie findet sich ganz analog auch in der Physik, Chemie und Biologie (in beiden ersteren treten Emergenzphänomene beispielsweise bei einer kritischen Erwärmung oder »kritischen Masse«, in letzterer bei Anwachsen einer Populationsgröße, oder der Distanz zwischen Individuen, über einen kritischen Wert hinaus auf). Zugleich ist sie völlig konsistent mit den in der Abbildung 2 (S. 136) dargestellten, für Systeme aller Art gültigen chaostheoretischen Erkenntnissen zur Entstehung von neuen Energieverteilungsmustern an bestimmten kritischen Bifurkationspunkten bei steigender Energiezufuhr. Besonders bemerkenswert sind übrigens auch in diesem Zusammenhang wieder die innerhalb des chaotischen Bereichs fraktal überraschend auftauchenden sogenannten »Intermittenzen« (oder »geordneten Fenster«), die ebenfalls ganz klar auf direkte Beziehungen zwischen der Emergenz von neuen Ordnungsmustern einerseits und steigendem Energieniveau andererseits hindeuten. Im Bereich der Psycho- und Soziodynamik kann diese allgemeine Erkenntnis deshalb auch noch zu den folgenden weiterführenden Überlegungen über ein unterschiedliches Energieniveau von verschiedenartigen Affektzuständen und den daran gebundenen Denk- und Verhaltensformen Anlaß geben: Wut und Angst (und Wut gepaart mit Mut jedenfalls noch mehr als Angst) mobilisieren offensichtlich pro Zeiteinheit besonders große Affektenergien; auf dieser Tatsache dürfte, neben dem Höchstmaß an Schmerz und Leiden, das etwa mit der Kumulation von Aggressions- und Angsterlebnissen im Krieg verbunden ist, auch dessen früher schon einmal konstatiertes hohes kreatives

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Facetten der fraktalen Affektlogik

Potential (der Krieg als »Vater aller Dinge«) ganz wesentlich beruhen. Aber auch Interesse, Freude und andere intensiv »positive« Gefühle zeichnen sich durch einen deutlich über dem Durchschnitt stehenden Betrag von Affektenergie und gleichzeitig auch durch ein erhöhtes schöpferisches Potential aus. Trauer und Depression dagegen sind umgekehrt gerade durch ein klar unterdurchschnittliches Energieniveau charakterisiert. Zugleich gehen sie, ganz im Sinn der obigen Interpretation, mit einer deutlichen Verarmung an schöpferischem Potential einher, während das Alltagsfühlen und -denken schließlich sich in jeder Hinsicht in einem ökonomischen Mittelbereich bewegt. Quantitative Unterschiede der ins Spiel gebrachten Affektenergien in erster Linie dürften somit für die beschriebenen qualitativen und formalen Unterschiede zwischen einer »Angstlogik«, »Wutlogik«, »Freudelogik«, »Trauerlogik« oder »Alltagslogik« verantwortlich sein. Da auch diese Zusammenhänge wiederum auf allen möglichen individuellen wie kollektiven Ebenen selbstähnlich zu beobachten sind, rundet sich mit diesen abschließenden Überlegungen zur affektenergetischen Natur von Emergenzphänomenen unser Verständnis für affektiv-kognitive Wechselwirkungen im ganzen Bereich der Psycho- und Soziodynamik zu einem allseits konsistenten Gesamtbild, das den Namen »fraktale Affektlogik« sicher verdient.

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Dritter Teil Theoretische und praktische Konsequenzen

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Achtes Kapitel Theoretische Vernetzungen und Abgrenzungen

Emotions without cognitions are blind and cognitions without emotions are empty. Manfred Wimmer (1995b)

Schon in der Einleitung habe ich darauf hingewiesen, daß manche Aspekte der Synthese von Befunden aus mehreren Wissensgebieten, die im Konzept der fraktalen Affektlogik zu einer neuartigen Gesamtsicht psychosozialer Phänomene verbunden sind, sich seit langem auch aufgrund von ganz anderen Zugängen abzeichnen. Mit oder (noch viel häufiger) ohne direkten Bezug zu Autoren wie E. Bleuler, Bollnow, Fleck, Kuhn, Elias, Arnold, Janzarik und anderen, die bereits vor Jahrzehnten auf systematische Einflüsse von emotionalen Komponenten auf das Denken aufmerksam gemacht hatten, sind in den letzten 10 bis 20 Jahren verwandte Ideen in den verschiedensten Bereichen des wissenschaftlichen Denkens immer häufiger aufgetaucht. In jüngster Zeit scheint sich diese Entwicklung markant zu beschleunigen. Es überrascht deshalb wenig, daß auch noch während der Niederschrift des vorliegenden Manuskripts, wie ebenfalls bereits eingangs vermerkt, mehrere neue Publikationen erschienen sind, die wesentliche Elemente der hier vorgeschlagenen Sichtweise bestätigen und zum Teil auch wertvoll ergänzen. Neben Übereinstimmungen gibt es freilich auch manche nicht unwesentliche Unterschiede. Bevor wir (in den beiden Abschlußkapiteln) versuchen werden, die praktischen, erkenntnistheoretischen und ethischen Konsequenzen der fraktalen Affektlogik genauer zu bedenken, scheint es deshalb angezeigt, die wichtigsten dieser Konvergenzen und Divergenzen kurz zu sichten. Zugleich ergibt sich daraus die Möglichkeit, den eigenen Beitrag im interdisziplinären Umfeld zu situieren und auch

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Theoretische und praktische Konsequenzen

noch gewisse Ergänzungen oder Präzisierungen einzufügen. Auf bereits Gesagtes werde ich dabei allerdings nur noch ganz kursorisch zu sprechen kommen, und auch eine nochmalige Zusammenfassung des in den beiden ersten Teilen dieses Buches entwickelten »Entwurfs einer fraktalen Affektlogik« dürfte sich an dieser Stelle erübrigen. Halten wir als Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen lediglich fest, daß es sich dabei um eine integrativ psycho-sozio-biologische Theorie psychischer Phänomene handelt, welche von einem neuen Verständnis der Gesetzmäßigkeiten von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen ausgeht und auf dieser Basis sowohl mentale wie körperliche, individuelle wie kollektive und »normale« wie »pathologische« Komponenten von psychosozialen Erscheinungen unter einheitlichen systemtheoretischen Gesichtspunkten zu begreifen versucht. Die Theorie ist phylo- und ontogenetisch verankert, fußt auf aktuellen emotionsbiologischen und -psychologischen Befunden und verwertet zugleich moderne naturwissenschaftliche Erkenntnisse zur nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme für eine neuartige Auffassung von »Psychodynamik« im weitesten Sinn.

Psychoanalyse, genetische Epistemologie und allgemeine Systemtheorie Psychoanalyse (Freud), genetische Epistemologie (Piaget) und allgemeine Systemtheorie (von Bertalanffy) waren, neben der fachpsychiatrischen Forschung und Erfahrung, von allem Anfang an die drei Grundpfeiler, auf die sich das Konzept der Affektlogik abstützte. Wie schon im Buch »Affektlogik« (1982) ausführlich dargestellt, erwiesen sich diese drei auf den ersten Blick recht heterogen anmutenden Theorieansätze im Hinblick auf die anstehenden Fragen, genauer besehen, keineswegs als unvereinbar, sondern vielmehr über weite Strecken entweder als fruchtbar komplementär oder aber als breit überlappend. Psychoanalytische Konzepte, untermauert und ergänzt auch durch die moderne emotionsdynamische Forschung, vermitteln dabei vor allem den Zugang zur unbewußten Affektdynamik, Befunde aus der genetischen Epistemologie dagegen zur Entstehung und Funktion von kognitiven Strukturen. Im zentralen affektlogischen Konzept des affektiv-kognitiven Bezugssystems – oder des integrierten Fühl-, Denkund Verhaltensprogramms, wie ich in der Folge häufiger formulierte – sind diese beiden Polaritäten der Psyche unter systemtheoretischen Gesichtspunkten zu einer funktionellen Einheit verbunden. Zumindest auf der theoretischen Ebene darf die fraktale Affektlogik insofern auch

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Theoretische Vernetzungen und Abgrenzungen

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als ein Versuch verstanden werden, grundlegende psychoanalytische Einsichten zur Struktur, Genese und Wirkung von unbewußten Affekten unter Vernachlässigung eines gewissen spekulativen Ballasts enger mit aktuellen neuro- und psychowissenschaftlichen Erkenntnissen zu vernetzen, um zum beidseitigen Nutzen den breiten Graben, der nach wie die beiden ungleichen Zugänge zur gleichen Psyche voneinander trennt, ein Stück weit zu verschmälern. Durch den im Lauf der achtziger Jahren vollzogenen Einbezug der Theorie der Dynamik komplexer Systeme (Chaostheorie) hat sich die systemtheoretische Basis der – schließlich deshalb »fraktal« genannten – Affektlogik noch erheblich verbreitert. Neu und anders als etwa im ebenfalls chaostheoretisch orientierten Verständnis von psychischen und psychopathologischen Phänomenen von Gordon Globus, auf das ich weiter unten noch näher eingehen werde, ist indessen die zentrale Bedeutung, die den Affekte nach meiner Auffassung als Energieträger im psychosozialen Geschehen zukommt. Die fraktale Affektlogik knüpft damit ebenfalls an energieökonomische Überlegungen an, die vor allem in den Anfängen der Psychoanalyse eine wichtige Rolle gespielt haben (Freud 1979 [1895]). Auch französische Analytiker haben übrigens schon auf interessante Parallelen aufmerksam gemacht, die zwischen aktuellen chaostheoretischen Konzepten und frühen Gedankengängen Freuds bestehen (Faure-Pragier et al. 1990: vgl. ferner Lai 1976; Sabelli 1990; Schore 1994). Sie weisen unter anderem auf durchgehende Selbstähnlichkeiten hin, die innerhalb des psychoanalytischen Diskurses jeder Größenordnung, vom Erstgespräch bis zur Gesamtgestalt einer mehrjährigen Analyse, zu beobachten seien – ein weiterer Befund, der sehr gut mit der hier postulierten Fraktalstruktur der Psyche übereinstimmt. Klare, obzwar zunächst scheinbar nur definitorisch fundierte Unterschiede zu aktuellen psychoanalytischen Konzepten ergeben sich dagegen aufgrund einer wichtigen Diskussion und Revision der psychoanalytischen Affekttheorie, die vor einigen Jahren (1990) von Otto Kernberg, einem führenden zeitgenössischen Theoretiker der Psychoanalyse, veröffentlicht worden ist. Nach Kernberg ist der Affektbegriff, ungeachtet seiner zentralen Wichtigkeit in der Praxis, bis heute in der psychoanalytischen Theorie vieldeutig und unklar geblieben. Freud hatte Affekte ursprünglich als lust- oder unlustvolle triebhafte Entladungen mit psychomotorischen und neurovegetativen Begleiterscheinungen und später dann als angeborene Bestandteile des Ich verstanden. Kernberg seinerseits definiert sie, gestützt auch auf die neuere emotionspsychologische und neurophysiologische Forschung, als »psychophysiologische Verhaltensmuster, die eine spezifisch kog-

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nitive Evaluation (appraisel), einen spezifischen Gesichtsausdruck, ein subjektives Erleben von lustvoller, belohnender oder schmerzvoller Qualität sowie muskuläre und neurovegetative Entladungsmuster einschließen« (Übersetzung von mir). Affektive und kognitive Elemente würden dabei stets untrennbar zusammenwirken. Affekte seien motivierende Bausteine von Trieben und bildeten insofern eine entscheidende Brücke zwischen dem biologischen und dem psychischen Phänomenbereich. Triebe werden in Übereinstimmung mit der Freudschen Trieblehre als permanent wirkende hierarchisch übergeordnete psychische Motivationssysteme aufgefaßt, während Instinkte kurzfristige, biologisch determinierte angeborene Verhaltensmuster sind, die von bestimmten internen oder externen Stimuli ausgelöst werden (»Libido ist ein Trieb, Hunger ist ein Instinkt«). Der subjektive Aspekt von Affekten ist nach Kernberg entscheidend für die Erfahrung von Selbst und Identität. Kernberg schlägt zudem vor, zwischen elementaren »Affekten« (beim Kleinkind) und kognitionsdifferenzierten »Gefühlen« oder »Emotionen« (etwa vom dritten Lebensjahr an) zu unterscheiden. Bis auf einen zentral wichtigen Punkt stimmt Kernbergs Angleichung des psychoanalytischen Affektbegriffs an aktuelle emotionspsychologische und -biologische Erkenntnisse, die im Rahmen der analytischen Theorie zweifellos einen wesentlichen Fortschritt darstellt, weitgehend mit den von mir selbst vertretenen Konzepten überein. Indem Kernberg – gleich vielen anderen Emotionsforschern – den Affekten in verwirrender Weise aber auch noch kognitive Funktionen (»appraisel«) zuschreibt, faßt er den meines Erachtens entscheidenden Unterschied zwischen Affekt und Kognition (Affekte sind nach meiner Definition nichts als bewußte oder unbewußte körperlich-seelische Gestimmtheiten, während Kognition die Wahrnehmung und neuronale Verarbeitung von sensorischen Unterschieden ist) nicht scharf genug. Damit wird auch das obligate komplementäre Zusammenspiel von zwei wesensmäßig eindeutig unterschiedlichen Funktionssystemen (im Sinn etwa von unseren allgemeinen und spezifischen Operatorwirkungen von Affekten auf das Denken) nicht mehr präzise faßbar. Trotz seines Postulats von allgegenwärtigen affektiv-kognitiven Wechselwirkungen verpaßt Kernberg deshalb meines Erachtens gerade das, was die Psychoanalyse intuitiv doch eigentlich längst anvisiert und auch zentral ausmacht: nämlich ein klareres Verständnis der unbewußten Affektwirkungen auf Kognition und Denken und damit auch auf die Genese und Struktur jener affektiv-kognitiven Eigenwelten, die ich als Angstlogik, Wutlogik, Trauerlogik, Freudelogik oder Alltagslogik beschrieben habe.

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Zusätzliche Unterschiede ergeben sich aus denselben Gründen in bezug auf mögliche Vereinfachungen hinsichtlich des Trieb-, Instinktund Motivationsbegriffs. Denn auch angeborene Triebe und Instinkte genau im von Kernberg definierten Sinn sind aus affektlogischer Perspektive, wie im Kapitel 2 erklärt, nichts als vererbte (und bei höheren Säugern dann zunehmend flexibel in der Aktion weiterdifferenzierbare) affektiv-kognitive Bezugssysteme von unterschiedlicher hierarchischer Wertigkeit. Hierarchisch besonders hochstehende, vorwiegend erworbene Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme stellen ferner die Selbst- und Objekrepräsentanzen dar, die nach Kernberg für alle zwischenmenschlichen Beziehungen – und insbesondere für alle Übertragungsphänomene im psychoanalytischen Sinn – entscheidend sind (Kernberg 1976, 1980). »Motivation« schließlich ist, wie an gleicher Stelle präzisiert, für mich kein von den übrigen Affektfunktionen getrenntes Phänomen, sondern ein integrierender Aspekt der allgegenwärtigen Operatorwirkungen der Affekte. So sind »negativen Gefühlen« wie Angst, Haß, Wut und Trauer von vornherein unterschiedliche Impulse im Sinn eines »Weg-von« eigen, während »positive Gefühle« ipso facto mit einer Motivation des »Hin-zu« einhergehen. Damit verstehen sich die von Kernberg besonders hervorgehobenen motivationalen Komponenten von Affekten in jedem funktionellen affektiv-kognitiven Bezugssystem für mich ganz von selbst. Derselbe Operatorbegriff führt uns auch zu einer gewissen Relativierung des psychoanalytisch so bedeutsamen Begriffs der Verdrängung und weiterer sogenannter Abwehrmechanismen. Denn wichtiger als deren von Freud zunächst aufgedeckte pathologische Seiten werden aus affektlogischer Sicht ihre funktionellen Aspekte: Die affektund kontextabhängige Selektion von Gedächtnisinhalten bei gleichzeitiger Verdrängung von affektinkonformen Erinnerungen (zustandsabhängiges Lernen und Erinnern) entspricht für uns primär einem höchst sinnvollen, weil komplexitätsreduzierenden, energiesparenden und damit auch durchaus gesunden Mechanismus, der erst unter speziellen Umständen pathogen werden kann. Ähnliche Überlegungen hatten seinerzeit schon Heinz Hartmann und weitere Vertreter der psychoanalytischen sogenannten Ich-Psychologie angestellt, die sich mit dem (von anderen Analytikern allerdings umstrittenen) Phänomen der Automatisierung und affektiven Neutralisierung befaßt hatten. Auch auf Beziehungen zum Freudschen Konzept der Sublimation (der Umwandlung von libidinöser Energie in andersartige Prozesse), ferner zum neurophysiologischen Phänomen der Habituation sowie zu Janzariks Begriff der Desaktualisierung wäre hinzuweisen (vgl. insbe-

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Theoretische und praktische Konsequenzen

sondere Freud 1895, 1900, 1911; Gressot 1955; Rapaport 1950, 1968; Hartmann 1939; Jacobson 1973; Janzarik 1988; Schore 1994). Neutralisierung und Verdrängung (oder zumindest Dämpfung) von gewissen Affekten sind aus energieökonomischen Gründen vital wichtige allgegenwärtige Phänomene, deren psychoanalytische Aufhebung in der Übertragung nur in bestimmten Ausnahmefällen – nämlich bei Vorliegen von kontraproduktiven automatisierten Affekt-Kognitionsverbindungen aufgrund traumatischer Erfahrungen – überhaupt sinnvoll sein mag. Neben Freuds zentralem Leitsatz »Wo Es ist, soll Ich werden« wäre für uns deshalb ebenfalls ein gegenteiliges »Wo Ich ist, soll Es werden« durchaus sinnvoll. Unter dem Eindruck der erwähnten Polarität und gleichzeitigen Komplementarität von Psychoanalyse und genetischer Epistemologie ist auch von anderer Seite schon mehrfach versucht worden, affektivkognitive Wechselwirkungen über eine Verbindung zwischen diesen beiden wohl umfassendsten Theorien des Psychischen besser zu verstehen. Besonders nahe stehen dem eigenen Ansatz die Überlegungen von Hans Furth in seinem Buch »Wissen als Leidenschaft« (1990), dessen zentrales Anliegen es ebenfalls ist, den Anteil von emotionalen Faktoren an allem Erkennen besser zu verstehen. Auch nach diesem Autor steht die Konstruktion einer geistigen Welt unter der Herrschaft des Lustprinzips: Logik und Erkenntnis erwachsen nach Furth aus sublimierter Begierde, sublimiertem Trieb, wobei die sprachliche, gestuelle oder bildhafte Symbolisierung von ursprünglich rein sensomotorischen Abläufen eine Schlüsselrolle spielt. – Indem Furth eine enge Verbindung zwischen Piagets Begriff der Symbolisierung und dem Aufbau von symbolischen Selbst- und Objektrepräsentanzen im psychoanalytischen Sinn herstellt und auf dieser Basis dann Wechselwirkungen von sprachlich-sublimierten mit emotionalen Komponenten sorgfältig analysiert, ergänzt, vertieft und bestätigt er die Konzepte der Affektlogik in einem wesentlichen Punkt. In bezug auf den Stellenwert von Sprache und Bewußtsein kommt er dabei zu ganz ähnlichen Schlüssen, wie ich selbst sie im Rahmen unserer Reflexion über die Grundlagen einer Affektlogik seinerzeit schon in unserer ersten Publikation zu diesem Thema formuliert hatte (Ciompi 1982, S. 142 ff.). Dabei greift Furth aber in erster Linie auf den Trieb- und Libidobegriff statt auf den (psychoanalytisch wie gesagt lange unklaren) Begriff der Affekte zurück. Dementsprechend befaßt er sich praktisch nur mit dem Lust- beziehungsweise Unlustaspekt, nicht aber mit andersartigen Qualitäten und Operatorwirkungen von Affekten. Auch durch den fehlenden Einbezug von system- und chaostheoretischen Gesichtspunkten unterscheidet sich Furths Ansatz von demjenigen der fraktalen

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Affektlogik ganz beträchtlich. Widersprüchlich und unklar erscheint mir zudem seine psychoanalytische Interpretation der Piagetschen Begriffe der Assimilation und Akkommodation, indem er eine konstruktive (öffnende, liebende) von einer restriktiven (abschließenden, abgrenzenden, aggressiven) Assimilation unterscheiden und erstere Freuds Lebenstrieb, letztere dagegen dem Todestrieb zuordnen will. Indessen könnte man das Assimilieren (das Angleichen des Begegnenden an die eigenen Schemata) zweifellos mit mindestens ebensoviel Recht als aggressiv und vergewaltigend, das Akkommodieren (das Anpassen der eigenen Schemata an das Begegnende) dagegen als liebend auffassen, besonders wenn man an die weitverbreitete destruktive Tendenz denkt, beliebigen Fremdwelten egozentrisch die eigenen Vorstellungen (die affektiv-kognitiven Eigenwelten) überzustülpen. Auch die Behauptung, Piaget hätte die Akkommodation zugunsten der Assimilation vernachlässigt, überzeugt angesichts der vom Genfer Psychologen so klar aufgezeigten Entwicklungslinie von einem anfänglichen Übergewicht der Assimiliation in den ersten Lebensjahren bis zu einem schließlichen Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation im Stadium der »dezentrierten« (allo- statt egozentrischen) reversiblen formalen Operationen wenig. Beide komplementären Prozesse spielen – um als Ergänzung zu Früherem noch etwas genauer auf wichtige Aspekte der Beziehungen der fraktalen Affektlogik zu Piagets genetischer Epistemologie einzugehen – für uns bei der Genese und Funktion von affektiv-kognitiven Bezugssystemen aus der Aktion genau die gleiche zentrale Rolle wie bei der Entstehung von Piagets kognitiven Schemata. Die bedeutsamste Differenz zu Piagets Konzepten bezieht sich, wie bereits zur Genüge dargetan, auf Stellenwert und Funktion der Affekte: Während diese in Piagets genetischer Epistemologie über weite Strecken höchstens als Begleiterscheinungen von kognitiven Äquilibrationsmechanismen in Erscheinung treten und deren Wirkungen auf das Denken explizit einzig als energetisierende »Motoren« von kognitiven Funktionen anerkannt werden (Piaget 1972, 1981, 1995), kommen ihnen für uns bis ins abstrakteste Denken hinein grundlegende organisatorisch-integratorische Effekte zu. Auch bei der – ja durch störende Widersprüche in Gang gebrachten – stufenweisen Höherentwicklung der genannten Schemata im Sinn der majorisierenden Äquilibration oder abstrahierenden Reflexion spielen für uns, wie im Kapitel 3 erklärt, Lust- und Unlustgefühle eine zentrale denkorganisatorische und -integratorische Rolle. Je genauer man freilich Piagets Äußerungen zur Rolle der Affekte studiert, desto mehr verwischen sich solche zunächst kraß scheinende

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Divergenzen. Schon der oft gehörte Vorwurf, Piaget hätte emotionale Faktoren in seiner großartigen Vision der Entstehung des menschlichen Geistes gar nicht beachtet, läßt sich heute keineswegs mehr halten. Vielmehr hat Piaget neben kognitiven ebenfalls affektive Phänomene bei seinen minutiösen Beobachtungen zur geistigen Entwicklung des Kindes seit jeher sorgfältig notiert. Vielfach dienten ihm emotionale Reaktionen wie Lachen, Freude oder Angst sogar als wichtige Indikatoren von kognitiven Entwicklungssprüngen. Auch das untrennbare Zusammenwirken von Denken und Fühlen ist von ihm namentlich in seiner postum veröffentlichten Sorbonner Vorlesung aus den Jahren 1953/54 immer wieder betont worden. Sogar von einer »affektiven Logik« oder »Logik des Gefühls« ist dort gelegentlich die Rede (Piaget 1962, S. 138; 1981, S. 60). Bisweilen spricht Piaget ebenfalls von »affektiven Schemata« und »affektiven Operationen«, bei deren »isomorpher« Entwicklung parallel zu den kognitiven Schemata indes kognitive Faktoren eine wichtige Rolle spielen würden (Piaget 1962, 1972, 1975, 1981, 1995; Cichetti et al. 1983). So könne beispielsweise die Fremdenangst beim Säugling naturgemäß erst dann auftreten, wenn das Stadium der kognitiven Objektkonstanz erreicht und damit ein Fremder als solcher überhaupt erkennbar geworden sei.* Auch die spätern »moralischen Gefühle« etwa, mit denen sich Piaget besonders intensiv auseinandergesetzt hat, setzen die Existenz von differenzierten kognitiven Entitäten oder »Gestalten« voraus (Piaget 1954). In der Tatsache, daß Piaget Affekte breit als »Handlungsregulationen« versteht, sehe ich darüber hinaus einen Hinweis auf von ihm intuitiv eigentlich doch angenommene weitergehende Einflüsse von emotionalen Komponenten auf kognitive Funktionen, die weit über bloß motorisch antreibende Funktionen hinaus durchaus in Richtung unserer »Operatoreffekte« gehen. Dies wird insbesondere bei der genaueren Untersuchung seiner Interpretation des Phänomens des Willens deutlich, den Piaget, wie im Kapitel 2 dargelegt, als eine »übergeordnete affektive Regulation von affektiven Regulationen« auffaßt. Durch Absehen von einem momentanen Gefühl oder Trieb zugunsten eines anderen und übergeordneten komme es dabei zu einem dem Phänomen der kognitiven Dezentration durchaus analogen Vorgang auf affektiver Ebene, und erst durch diesen obligat zu überwindenden Konflikt unterscheide sich der Wille von einem bloßen Wunsch oder Trieb (Piaget 1962, 1981, S. 61 ff.). – In unserer Sprache ausgedrückt wäre der Wille * Entprechendes gilt m. E. für Gefühle von Scham, Schuld, Trauer, Eifersucht, Enttäuschung. – In Ciompi 1982, S. 81 ff. habe ich aufgrund ähnlicher Überlegungen zudem eine charakteristische Alternanz zwischen affektiver und kognitiver Entwicklung als wahrscheinlich angenommen.

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also gar nichts anderes als ein übergeordneter Affekt oder genauer: ein hierarchisch übergeordnetes affektiv-kognitives Bezugssystem, in welchem sich ein besonders starker und deshalb dominierender Affekt an bestimmte Kognitionen heftet und dort seine »regulierenden«, das heißt spezifisch ordnenden, hierarchisierenden, selektionierenden und polarisierenden Operatorwirkungen entfaltet. Diese Interpretation fügt sich auch zwanglos in unsere weiter oben beschriebene Auffassung der motivierenden Funktionen der Affekte innerhalb von affektiv-kognitiven Bezugssystemen, und damit überhaupt ins ganze Begriffssystem der Affektlogik ein. Dagegen erscheint mir die (vor allem in Piagets Text aus dem Jahr 1962 betonte) Forderung nach einem obligat durch den Willen zu überwindenden Konflikt als problematisch: Denn wenn ich beispielsweise über längere Zeit mit aller Kraft ein bestimmtes Ziel erreichen will – etwa einen Berg ersteigen, ein Werk vollenden etc. –, so kann doch der Konflikt nach einem Moment der Überwindung bald einmal ganz sekundär werden, während der »Wille« unter Umständen wochen- und monatelang weiter andauert. Andererseits mag ich unter gewissen Umständen gerade dasjenige völlig konfliktlos und mit aller Kraft tun und wollen, was mir auch vitaler Wunsch und Selbsterhaltungstrieb diktieren: etwa nach einem Schiffbruch ein rettendes Ufer oder in Bergnot eine Hütte erreichen oder verdurstend in der Wüste Wasser suchen. Meines Erachtens genügt es deshalb, den Willen als einen – immer an bestimmte Kognitionen gebundenen – relativ stärkeren und deshalb hierarchisch übergeordneten Affektimpuls zu verstehen. Für eine umfassendere Diskussion des Willensphänomens müßte es allerdings auch noch mit den hochkomplexen Phänomenen des Bewußtseins und der Freiheit in Verbindung gebracht werden, mit denen wir uns erst später (im letzten Kapitel) beschäftigen können. Obwohl im einzelnen ebenfalls an Piagets Affektbegriff und dessen Beziehung zur Kognition noch vieles unklar bleibt (so etwa, ob er nun eigentlich mehr ein affektiv-kognitives Parallelismus- oder Interaktionismuskonzept vertritt oder ob Affekte für ihn im wesentlichen doch nur Epiphänomene von Kognitionen darstellen [Cichetti et al. 1983]), so sind doch selbst in diesem kognitionszentrierten Ansatz die Divergenzen zu den eigenen Konzepten im Grund wesentlich geringer, als es zuerst den Anschein haben mag. Vom unterschiedlichen Stellenwert der Affekte einmal abgesehen, bleibt jedenfalls Piagets Werk auch für die Affektlogik grundlegend. Besonders bedeutsam ist dabei ebenfalls die Tatsache, daß Piaget sämtliche kognitiven Begriffe konsequent als komplexe, erst in einem langwierigen Äquilibrationsprozeß im Lauf der kindlichen Entwicklung stabilisierte typische Systeme auffaßt, die zudem (in Form der majorisierenden Äquilibration) von Zeit zu Zeit

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sprungartige globale Umstellungen erfahren können. Denn mit dieser Einsicht ist nicht nur – bereits seit den zwanziger Jahren! – ein typisch systemtheoretischer, sondern im Ansatz eigentlich auch bereits ein chaostheoretischer Zugang zu psychischen Erscheinungen gefunden, die längstens mit naturwissenschaftlichen Konzepten ganz unvereinbar schienen. Noch einmal sei in diesem Zusammenhang zudem auf die Verankerung des Piagetschen Verständnisses geistiger Phänomene im biologischen Bereich und die dadurch eröffneten Möglichkeiten hingewiesen, einen weiteren tiefen Hiatus, der die Entwicklung einer wissenschaftlich befriedigenden Theorie der Psyche bisher schwer behindert hat, ein Stück weit zu überwinden.

Neurobiologie, Emotionsforschung, evolutionäre Erkenntnistheorie und biologisch fundierter Konstruktivismus Die neurobiologischen und emotionstheoretischen Grundlagen der fraktalen Affektlogik sind im ersten Teil des Buches bereits so ausführlich behandelt worden, daß hier nur noch wenige zusätzliche Bemerkungen nötig sind. Besonders in Erinnerung gerufen sei nur, daß zumindest im groben praktisch alle affektlogischen Postulate durch aktuelle neuroanatomische und -physiologische Erkenntnisse gestützt werden. Dies gilt namentlich für die Befunde zu den engen zirkulären Verbindungen zwischen kognitiven und affektiven Funktionsbereichen, zur Existenz von ausgedehnten affektorganisierten neuronalen Funktionssystemen mit integrierten kognitiven, neurovegetativen, hormonalen und sensomotorischen Anteilen, und damit auch für das zentrale Konzept von affektspezifischen affektiv-kognitiven Bezugssystemen oder integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen. Auch unsere Definition der Affekte als umfassende körperlich-seelische Gestimmtheiten stützt sich stark auf neurobiologische Befunde. Das Phänomen der neuronalen Plastizität schließlich liefert (im Verein auch mit psychoimmunologischen und streßbedingten Mechanismen) eine wichtige neurophysiologische Grundlage für das Postulat von ständigen Wechselwirkungen zwischen Gehirn und Umwelt im Sinn unseres integrativ psycho-sozio-biologischen Ansatzes. Die Hypothese eines sowohl bei der Fixation wie Remobilisation von kognitiven Gedächtnisinhalten wirksamen »affektiven Inprints« in Verbindung mit der Bahnung von kognitiven Assoziationswegen, die ich als Synthese einer Vielzahl von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen vorgeschlagen

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habe, bedarf dagegen der weiteren empirischen Überprüfung. Eigentliche Widersprüche zum Konzept der fraktalen Affektlogik sind indessen im Bereich der neurobiologischen Grundlagenforschung unseres Wissens bisher nirgends aufgetaucht. An dieser Stelle sei ergänzend auch auf zwei (mir erst kürzlich bekannt gewordene) systemtheoretisch orientierte Publikationen von Gray (1979) und LaViolette (1979) zum kreativen Denken hingewiesen, in welchen aufgrund des (u. a. auf Izards emotionspsychologische Konzepte gestützen) Postulats eines allgegenwärtigen Zusammenwirkens von affektiven und kognitiven Komponenten innerhalb von kombiniert emotional-kognitiven Strukturen schon Ende der siebziger Jahre Ideen entwickelt wurden, die mit den hier vertretenen zum Teil sehr nahe übereinstimmen. So schreibt Gray allen Emotionen kodierende und integrierende Funktionen für kognitive Inhalte zu, die auch bei ihrer Speicherung und Mobilisierung im Gedächtnis eine wichtige Rolle spielen würden. Jede Kognition sei durch eine bestimmte Affektnuance spezifisch markiert. LaViolette seinerseits bringt solche Überlegungen nicht nur mit neurobiologischen, sondern auch bereits mit chaostheoretischen Befunden in Verbindung, indem er (unter Bezugnahme auf Nicolis und Prigogine) nichtlineare Phasensprünge hin zu neuen affektiv-kognitiven Fließgleichgewichten beschreibt, die durchaus an unser Konzept von affektiv-kognitiven Bifurkationen in andersartige Attraktoren oder »Schienen« erinnern. – Im Unterschied hierzu haben affektiv-kognitive Prozesse bei beiden Autoren allerdings weder Bezüge zur Selbstorganisation der Sensomotorik und Aktion noch zu anderen Mechanismen, die erst eine energetische Sichtweise zu begründen vermögen. Ob die Autoren diese 1979 erstmals veröffentlichten Ideen in der Folge noch weiterentwickelt haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Als Bestätigung wesentlicher Teile des vorliegenden Ansatzes können des weiteren auch mehrere amerikanische Publikationen aufgefaßt werden, die noch während der Arbeit an diesem Buch erschienen sind. Dazu gehören die Bücher von Antonio Damasio (1994), Gordon Globus (1994) und Daniel Goleman (1995), die sich mit je unterschiedlichen neurobiologischen, chaostheoretischen und neuropsychologischen Aspekten der Psyche befassen. Sowohl Damasio wie Goleman – ersterer als neurologisch-neurophysiologischer Forscher, letzterer als neurobiologisch interessierter Psychologe und Wissenschaftsjournalist – gehen aufgrund der Forschung ganz gleich wie wir selbst von der Annahme aus, daß emotionale Einflüsse mit allem Denken untrennbar verknüpft sind. Damasio berichtet von eindrucksvollen entsprechenden Beobachtungen an Hirnverletzten und weist auf dieser

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Basis nach, daß sinnvolles rationales Denken und Handeln ohne intakte emotionale Funktionen nicht möglich sei. Er beschreibt unter dem Namen »somatische Marker-Hypothese« (Wirkung von gefühlsnahen Körpersignalen auf die Denktätigkeit) ebenfalls gewisse operatorartige Affektwirkungen und gelangt mit Überlegungen, die dem Janzarikschen Schlüsselbegriff der Desaktualisierung nahekommen, zu einer unserem Konzept der Alltagslogik sehr ähnlichen Auffassung von emotionalen Einflüssen selbst in scheinbar ganz affektfreien Denkoperationen. Auch er mißt des weiteren (unter Verwendung eines mit dem unseren praktisch identischen Affekt- bzw. Emotionsbegriffs) der Wirkung von körperlichen Gestimmtheiten selbst noch in subtilsten denkerischen Abläufen eine große Bedeutung zu (»rationality is probably shaped and modulated by body signals, even as it performs the most sublime distinctions« [Damasio 1994, S. 200]). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang sein Hinweis, daß solche Wirkungen oft bloß noch über »symbolische« (statt konkret körperliche) Aktivierungen laufen können. – Goleman seinerseits entwickelt auf ganz ähnlichen Grundlagen das Konzept einer »emotionalen Intelligenz«, die der mit gebräuchlichen Intelligenzquotienten erfaßten rein kognitiven Intelligenz in Beruf und Alltag weit überlegen sei. Er zeigt vielfältige lebenspraktische Bezüge einer solchen »emotionalen Intelligenz« auf und fordert folgerichtig deren – vereinzelt in den USA offenbar schon praktizierte – systematische Förderung in den Schulen. – Im chaostheoretisch orientierten Buch des Psychiaters Gordon Globus schließlich wird dessen auch bereits im Kapitel 4 erwähntes Konzept einer psychischen Potentiallandschaft aus dem Jahr 1994 ganz ähnlich generalisiert und für ein neues dynamisches Verständnis von psychopathologischen Prozessen aller Art genutzt, wie ich ebenfalls vorschlage. Auch Globus interessiert sich zudem, gestützt vor allem auf Heidegger und Derrida, für philosophische und erkenntnistheoretische Implikationen einer solchen neuen Verstehensweise der Psyche. Dagegen bleibt der für mich zentral wichtige Aspekt der Fraktalität von psychosozialen Phänomenen verschiedenster Dimension bei Globus ganz unberücksichtigt. Weder er noch Goleman oder Damasio gehen im übrigen, vom vielfach betonten Einfluß von allgegenwärtigen psychophysischen Gestimmtheiten (»tuning«) abgesehen, auf organisatorischintegratorische oder energetische Affektwirkungen auf das Denken genauer ein. Sie entwickeln deshalb auch keine dem eigenen Ansatz vergleichbare allgemeine Affekttheorie psychopathologischer Erscheinungen noch etwa eine ähnlich affektzentrierte Schizophreniehypothese wie ich. Ebensowenig konzeptualisieren sie die für mich so wichtigen ständigen psycho-sozio-biologischen Wechselwirkungen ge-

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nauer. Überraschenderweise fehlen speziell bei Damasio zudem praktisch alle Bezüge zu Freud und vor allem zu Piaget, obwohl des letzteren Befunde zur Entstehung mentaler Begriffe aus der Sensomotorik ganz vorzüglich zu Damasios These eines somatischen Ursprungs allen Denkens passen würden. Im Zusammenhang mit der Verankerung der fraktalen Affektlogik in der aktuellen Neurobiologie und Emotionspsychologie ist des weiteren an ihre engen Beziehungen zur Evolutionstheorie und evolutionären Erkenntnistherorie zu erinnern. An den tiefen evolutionären Ursprüngen von Affekten oder Emotionen – die anderswo festgestellten terminologischen Unklarheiten fehlen auch hier nicht – besteht schon seit Darwins Buch »Über den Ausdruck von Emotionen bei Tier und Mensch« (1872) kein Zweifel. Obwohl die genaue Art und Zahl von phylogenetisch tradierten Primär- oder Basisemotionen ebenfalls in der vergleichenden Verhaltensforschung umstritten bleibt, steht doch fest, daß affektartige solche Grundbefindlichkeiten, darunter namentlich ein auf Selbstbehauptung durch Kampf oder Flucht ausgerichteter Spannungszustand (Sympathicotonus) und ein im Gegenteil auf Ernährung, Sexualität, Brutpflege oder Schlaf ausgerichteter Entspannungszustand (Parasympathicotonus) selbst noch bei niederen Tieren von fundamentaler vitaler Bedeutung sind. Sie spielen in der Evolutionsforschung vor allem im Verein mit Trieben und Instinkten eine Rolle und werden dort ganz entsprechend unserer Affektdefinition als angeborene organismische Gestimmtheiten mit charakteristischen neurovegetativen, senso-motorischen, ausdrucksmäßigen und motivationalen Funktionsmustern und tiefen Einflüssen auf alle kognitiven Funktionen aufgefaßt (Darwin 1965 [1872]; McDougall 1908; Plutchik 1980; Keller 1981). Obwohl Konrad Lorenz, der Begründer der evolutionären Erkenntnistheorie, in seinem Buch über »Das sogenannte Böse« (1963) erstmals auch die konstruktive Bedeutung von Emotionen wie der Aggressivität hervorgehoben hat, wurde doch den Affekten im Rahmen der Theorien zur Phylogenese von Denken und Erkennen lange Zeit keine besondere Bedeutung beigemessen. Vielmehr konzentrierte sich die Forschung auch dort, ganz ähnlich wie in der Psychologie und Soziologie, zunächst fast ausschließlich auf rein kognitive Aspekte, während affektive Komponenten entweder vernachlässigt oder dann als gesonderte Evolutionsstränge behandelt wurden (vgl. Lorenz 1963, 1973; Campbell 1974; Riedl et al. 1980, 1994; Oeser 1987; Delpos 1994). Erst in jüngerer Zeit hat sich ebenfalls die Evolutionsforschung vermehrt für affektiv-kognitive Wechselwirkungen interessiert, so etwa im Rahmen von Manfred Wimmers »evolutionärer Emotionstheorie«,

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in der solche Wechselwirkungen – mit ausdrücklichem Bezug zur Affektlogik – bereits bei primitivsten Lebewesen postuliert werden. Wimmer vermutet eine gemeinsame Wurzel von Affekt und Kognition in fundamentalen biologisch-endokrinen Regulationen. Den Ursprung von Affekten sieht er dabei in assimilatorischen Prozessen mit naher Beziehung zu Piagets Begriff der Zentrierung, während die kognitive Evolution aus dem dezentrierend-akkommodatorischen Gegenpol hervorgehen würde (Wimmer 1993, 1995a und 1995b). – Zwar vermute ich selbst die Wurzel der Affekte eher in einer vitalen Tendenz zur Ausbreitung (»Affizierung«) der begegnenden Information auf den Gesamtorganismus und den Ursprung von kognitiven Funktionen in einer gegenläufigen Tendenz zur Kondensation und Konzentration (»Abstraktion« im Sinn von abstrahere = ab- oder ausziehen) der Information in zunehmend spezialisierten und zentralisierten informationsverarbeitenden Strukturen. Sowohl Assimilation wie Akkommodation dagegen scheinen mir praktisch gleichartig an affektiven wie kognitiven – beziehungsweise integriert affektiv-kognitiven – Prozessen beteiligt zu sein. Trotz dieses Vorbehalts hat eine kürzlich veröffentliche gemeinsame Analyse klar ergeben, daß Wimmers evolutionär begründete Sichtweise von affektiv-kognitiven Wechselwirkungen und die Theorie der fraktalen Affektlogik insgesamt und in vielen Einzelheiten nahe übereinstimmen (Wimmer et al. 1996) Daß im übrigen eine biologisch-evolutionär begründete Sichtweise der geistigen Entwicklung nicht anders als konstruktivistisch sein kann, wurde schon im ersten Kapitel hervorgehoben und wird sich auch im letzten Kapitel, in welchem wir die Diskussion gewisser erkenntnistheoretischer Fragen nochmals aufnehmen, wieder als bedeutsam erweisen. Hierzu muß aufgrund unserer ganzen Untersuchung nun aber noch ergänzt werden, daß zu den Abhängigkeiten unseres Erkennens von den unüberschreitbaren Limitationen unserer Sinnesorgane aus der Warte der Affektlogik ebenso unausweichlich noch die zusätzlichen Beschränkungen treten, die sich aus den beschriebenen Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken ergeben: Wir können die Welt nicht anders als aus einer bestimmten emotionalen Perspektive, einer kontextgebundenen momentanen Gestimmtheit heraus betrachten. Zugleich sind wir Gefangene unserer im voraus angelegten affektivkognitiven Bezugssysteme und ihrer affektiven Tönung beziehungsweise der Logik, die sich aus der erfahrungsgenerierten Struktur unserer je persönlichen Eigenwelt ergibt. Welche Art von affektivkognitiven Koppelungen – oder »Wahrheiten« – sich jeweils einspielen und automatisieren, ist eminent stimmungs-, erfahrungs- und damit auch kulturbedingt. Dies gilt, wie ich klargemacht zu haben hoffe,

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selbst noch bis in alles wissenschaftliche und formallogische Denken hinein. Unser Denken läuft entlang von von langer Hand angelegten affektiv-kognitiven Leitplanken (oder »Lustschienen«), von denen wir nur deshalb nichts mehr wissen noch fühlen, weil sie sinnvollerweise mit minimalem Energieaufwand funktionieren, das heißt, weitgehend automatisiert sind. – Die inzwischen entwickelte Fraktalhypothese der Psyche liefert außerdem, wie ebenfalls schon im ersten Kapitel angedeutet, ein zusätzliches Argument zum Postulat eines nur relativen statt radikalen Konstruktivismus: Wenn wir nämlich davon ausgehen, daß der psychische Apparat als Ganzes von fraktaler Struktur ist und zugleich nichts als ein fraktaler Teil von noch viel größeren Ganzen – zunächst von allgemeinen biologischen und sozialen Regulationen, und letztlich wohl von generellen Naturgesetzlichkeiten überhaupt – darstellt, so enthält jeder Aspekt der Psyche seinerseits diese übergeordneten Ganzheiten in fraktaler Spiegelung. Auch alle unsere Theorien und Weltbilder müßten demnach in wenn auch noch so verzerrter Abwandlung ein »Körnchen Wahrheit« allein schon deshalb enthalten, weil sie selbst ein fraktales Produkt dieses Ganzen sind.

Psychopathologie, Strukturdynamik, Phänomenologie und Zeiterleben Die fraktale Affektlogik gründet da, wo sie sich mit psychischen Störungen beschäftigt, primär auf der klassischen Psychopathologie und Phänomenologie (insbesondere auf Karl Jaspers, Emil Kraepelin, Eugen und Manfred Bleuler, Kurt Schneider, Ludwig Biswanger) und trägt andersartige – beispielsweise psychoanalytische, genetisch epistemologische, system- und chaostheoretische – Gesichtspunkte erst sekundär an diese heran. Gerade diese Synthese aber führt – so meine ich wenigstens – schließlich zu etwas von den ursprünglichen Grundlagen wesentlich Verschiedenem: nämlich zumindest im Ansatz zu jener neuartigen »dynamischen Psychiatrie«, deren Grundzüge ich schon im Kapitel 6 zu umreißen versucht habe. – Besonders enge Beziehungen bestehen indessen zwischen der Affektlogik und dem Janzarikschen Konzept der Strukturdynamik, da dieses ebenfalls, wenn auch aus anderen Ursprüngen und mit einer ganz anderen Terminologie, systematisch von einem komplementären Zusammenwirken von emotionalen und kognitiven Komponenten in allen psychischen Erscheinungen ausgeht. Hierüber ist, gleich wie zu psychopathologischen und phänomenologischen Fragen überhaupt, im Kapitel 6 bereits

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so viel gesagt worden, daß hier nur noch folgende Präzisierungen angebracht sind: Janzariks Umschreibung von »Dynamik« (»Lebenskraft, Lebensfülle, Verlangen, Trieb, Neigung, Wollen, Mut ebenso wie Empfindung, Gefühl, ›Herz‹«) überlappt sich weitgehend mit meinem Begriff der Affekte, während seine »Repräsentationen« (»repräsentative Gehalte, an die die Dynamik gebunden und auf die sie gerichtet ist«) breit mit dem hier verwendeten Begriff von Kognition übereinstimmen. Ebenso entsprechen seine »Strukturen« (»verfestigte Antworten angelegter Dispositionen auf prägende Kräfte«, »Gefüge der repräsentativ bezeichneten Gerichtetheiten«) (Janzarik 1988, S. 18, 30, 38, 83 u. 220) fast genau meinem Begriff des »Gefüges von affektiv-kognitiven Bezugssystemen« (oder von »integrierten Fühl-, Denkund Verhaltensprogrammen«). Auch Janzariks Beschreibung des (motivational gerichteten) psychischen Feldes sowie der Bahnung und Tilgung oder Desaktualisierung von dynamisch befrachteten Strukturelementen deckt sich zu einem guten Teil mit meinen Auffassungen von der Automatisierung affektiv-kognitiver Abläufe im Alltag. Mit den zusätzlichen Begriffen der strukturell-dynamischen Kohärenz (der »imaginativen Aktualisierung komplexer situativer Zusammenhänge mit der an sie gebundenen Dynamik«), der dynamischen Auslenkung und Entgleisung (bei neuroseartigen beziehungsweise psychoseartigen Störungen), der dynamischen Restriktion, Expansion und Unstetigkeit (bei depressionsartigen, maniformen oder schizophreniformen Bildern) und deren möglichen Ausgängen in dynamische Insuffizienz oder Strukturverformung schließlich hat Janzarik sich ein den großen psychiatrischen Krankheitsbildern fein angepaßtes begriffliches Instrumentarium geschaffen, das nicht nur zu den hier vertretenen Konzepten in keinerlei Widerspruch steht, sondern auch zu einer im Grundsätzlichen sehr ähnlichen Gesamtsicht von Struktur und Dynamik psychopathologischer Störungen aller Art führt. Die wesentlichen Unterschiede liegen, abgesehen von einer anderen Sprache und Begrifflichkeit, nicht so sehr im Prinzipiellen als vielmehr in einer bei Janzarik viel ausschließlicheren – und zugleich wesentlich detaillierteren – Konzentration auf die Feinanalyse von psychopathologischen Störungen aller Art. Sehr unterschiedlich ist damit zugleich der Grad der Vernetzung mit aktuellen biologisch-evolutionären, emotionspsychologischen, psychoanalytischen und insbesondere auch systemheoretischen Theorien. Während eine solche Vernetzung bei Janzarik vielfach bewußt vermieden wird, ist sie für mich ein wichtiges Fundament und Anliegen. So stellt Janzarik beispielsweise weder explizite Beziehungen zwischen seinen psychopathologischen »Entgleisungen« und nichtlinearen Phasensprüngen im Sinn der Cha-

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ostheorie her, noch bezieht er das für mich zentrale Phänomen der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit affektiv-kognitiver Dynamismen in seine Sichtweise mit ein. Ebensowenig spielen bei ihm chaostheoretisch orientierte Konzepte zu den energetischen oder sonstigen Operatorwirkungen von Affekten auf das Denken (etwa im Sinn unserer dissipativen Strukturen oder unseres Begriffs einer Angstlogik, Wutlogik, Freudelogik oder Alltagslogik usw.) eine Rolle. Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung unterscheiden sich damit sowohl Fokus wie Inhalte des Janzarikschen Ansatzes von denjenigen der fraktalen Affektlogik erheblich. Was schließlich den bisher mehr implizit als explizit berührten phänomenologischen Zugang zu psychopathologischen Erscheinungen (im Sinne des – auf Husserl gegründeten – Ansatzes von Ludwig Binswanger, Medard Boss, Roland Kuhn, Hubert Tellenbach, Wolfgang Blankenburg und anderen Autoren) anbetrifft, so bleibt vor allem ein wesentlicher Zusammenhang zur fraktalen Affektlogik nachzutragen: nämlich derjenige, der im Phänomen von Zeit und Zeitlichkeit begründet liegt. Ludwig Binswanger in erster Linie, neben und nach ihm aber auch eine ganze Reihe von anderen Autoren haben sich mit dem zeitlichen Aspekt psychischer Störungen eingehend auseinandergesetzt und dabei nachgewiesen, daß praktisch jede tiefere Veränderung der psychischen Befindlichkeit mit ausgeprägten Modifikationen des Zeiterlebens einhergeht. Besonders auffällig sind solche in der Manie und Melancholie, der Schizophrenie, bei Zwangskranken, aber auch unter der Einwirkung von psychotropen Drogen wie Skopolamin und Amphetamin, Psilocybin, LSD, Cannabis u. a. m. (vgl. hierzu besonders Straus 1928; Minkowski 1933; Gebsattel 1954; Binswanger 1960; Heimann 1963). Im Rahmen eines chaostheoretischen Zugangs spielen nun Zeit und Zeitlichkeit – wie schon an anderer Stelle genauer analysiert (Ciompi 1988c; ferner Ciompi 1961, Ciompi et al. 1990) – ebenfalls in meinen eigenen Überlegungen auf Schritt und Tritt eine zentrale Rolle. Ilya Prigogine, einer der Begründer der Chaostheorie, der sich mit dem Zeitproblem besonders intensiv auseinandergesetzt hat (Prigogine et al. 1981; Prigogine 1985), wird von manchen geradezu als »Vater der Zeit« betrachtet. Dies, weil nach diesem Autor erst mit der Theorie der nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme der lineare und reversible Zeitbegriff der alten Physik theoretisch überwunden und damit die fundamentale Irreversibilität und kreative Unvorhersehbarkeit vieler Naturereignisse zureichend erkannt werden konnte. Zeit und Geschichtlichkeit im Sinn eines irreversibel gerichteten »Zeitpfeils« oder »Stroms« existieren gewissermaßen für die theoretische Physik erst mit

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dieser Erkenntnis. – Für die – im vornherein eminent nichtlinearen – biologischen und psychosozialen Wissenschaften freilich gibt es sie in diesem Sinn schon längst. Aber auch für sie gewinnen Zeit und zeitliche Dynamik aus chaostheoretischer Perspektive eine neue und tiefere Bedeutung: Alles biologische und psychosoziale Geschehen ist, wie sich als ein Hauptergebnis meiner oben erwähnten früheren Untersuchungen herausgestellt hat, »zeitlich gemustert«, das heißt in bestimmte zeitliche Strukturen und biologische Rhythmen eingespannt, die ihrerseits ihren Ursprung in erster Linie in natürlichen Rhythmen (vor allem Tages- und Jahreszeiten, Mondphasen) haben. Ein Stück weit rhythmisch gemustert sind nun aber ebenfalls die Affektstimmungen und damit zugleich Form und Inhalt unserer kognitiven Funktionen – denken wir nur an die biologisch regulierten körperlich-seelischen Stimmungsschwankungen im Zusammenhang mit der Menstruation sowie der Jahreszeit oder an die regelmäßige »Wohltat des Schlafs« (auch Schlaf- oder Wachzustand entsprechen – wie bei dieser Gelegenheit nochmals präzisiert werden soll – grundlegenden körperlich-seelischen Gestimmtheiten im Sinn unserer Affektdefinition). – Nichtlineare Phasensprünge in den übergeordneten Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern, wie sie namentlich in Psychosen, aber in flüchtigerer Form ebenfalls bei alltäglichen Affektschwankungen (in der Wut, der Angst, der Freude oder Bedrücktheit) vorkommen, tangieren obligat zugleich diese zeitlichen Muster. Denn jeder affektiven Stimmung ist ein spezifisches »psychisches Tempo« eigen, oder anders gesagt: Mit der Stimmung wechselt immer auch die Art und Weise, wie wir die Zeit erleben – als wie im Flug vergehend oder endlos gedehnt, als kurz- oder langweilig, stillestehend oder rasend voranstürzend, zerhackt, zersplittert oder komplex verschachtelt. Umgekehrt aber beeinflußt, wie etwa beim Leben mit den großen Rhythmen der Natur, in der Meditation oder andererseits im hektischen Betrieb einer Großstadt deutlich wird, jede »von außen« induzierte Veränderung des psychischen Tempos auch den Affektzustand und damit gleichzeitig das Denken. Diese Erkenntnis erhellt nicht nur einen besonders interessanten Aspekt unseres subjektiven Erlebens, sondern erschließt zugleich vernachlässigte Möglichkeiten der psycho- und milieutherapeutischen Beeinflussung der seelischen Befindlichkeit über die bloße Drosselung oder Beschleunigung von Tempo und Rhythmus.

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Zusammenfassung: Was bringt die fraktale Affektlogik Neues? Insgesamt läßt dieser Überblick über Konvergenzen wie Divergenzen der fraktalen Affektlogik mit wichtigen Nachbargebieten erkennen, daß das Besondere am hier vertretenen Ansatz zunächst nicht so sehr in revolutionären inhaltlichen Innovationen liegt. Vielmehr sind viele Einzelteile des Puzzles, die ich darin zu einem Ganzen zusammenzufügen versucht habe, von Autoren verschiedenster Provenienz – ich weise nochmals auf die schon einleitend erwähnten Pioniere hin – zum Teil längst schon weit extensiver oder intensiver bearbeitet worden, als mir das je möglich gewesen wäre. Das Besondere liegt vielmehr, so meine ich, vor allem in der Art und Weise, wie bekannte zentrale Elemente aus so unterschiedlichen Wissensbereichen wie der Psychoanalyse und der genetischen Epistemologie, der Neurobiologie und evolutionären Erkenntnistheorie in der fraktalen Affektlogik zu einem neuartigen Gesamtbild vereinigt werden. Den alles überspannenden Rahmen hierfür liefert die allgemeine Systemtheorie, wobei indes der systematische Einbezug der Theorie der nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme, oder Chaostheorie, in die Psycho- und Soziodynamik gegenüber fast allen anderen bisherigen Ansätzen ein ausgesprochenes Novum darstellt. Der Gewinn ist nicht nur ein vertieftes Verständnis der linearen und nichtlinearen Dynamik des psychosozialen Geschehens im allgemeinen. Als noch wichtiger könnte sich die damit erstmals erschlossene Sicht auf die Möglichkeit erweisen, daß über alle individuellen und kollektiven Dimensionen eines solchen Geschehens hinweg gleichartige energetisierende und organisierende Affektwirkungen auf das Denken am Werk sind, die zu fraktal strukturierten Selbstähnlichkeiten von psychosozialen Erscheinungen auf allen implizierten Ebenen führen. Ebenfalls neu ist ferner die Ökonomie der vorgeschlagenen Synthese oder Metatheorie insofern, als sie einer Komplexitätsreduktion ohne allzu schmerzlichen Informationsverlust gleichkommt, wie sie sonst durch kein anderes mir bekanntes Modell der Psyche erreicht wird. Aus affektlogischer Sicht könnte man dabei von einem Streben nach intellektuellem Lustgewinn ohne übermäßigen Unlustzuwachs reden. Ein Teil dieser »Lust« – und zugleich eine teilweise Rechtfertigung des umfassenden Anspruchs der vorgelegten Synopsis – mag dabei auch von dem Umstand herrühren, daß die fraktale Affektlogik künstlich errichtete Grenzen zwischen Sachgebieten zu überwinden sucht, die in Wirklichkeit zusammengehören, da sie nichts als unter anderen Perspektiven erscheinende Facetten ein und dieselben Gesamtsachverhaltes sind.

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Mehr im einzelnen enthält die besagte Synthese freilich auch eine ganze Reihe von innovativen Komponenten, beziehungsweise hat sie solche zur Voraussetzung. So bringt sie (in teilweiser Ergänzung des obigen Überblicks) – eine mit evolutionären Befunden kohärente definitorische Klärung der sonst über weite Strecken konfus gebrauchten Begriffe von Affekt und Kognition; – eine ebenfalls biologisch gut abgestützte Hypothese zum Zusammenspiel von affektiven, kognitiven und sensomotorischen Komponenten in aktionsgenerierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen (bzw. affektiv-kognitiven Schemata oder Bezugssystemen) verschiedenster Größenordnung; – eine Zusammenfassung vieler scheinbar heterogener biologischer und psychodynamischer Einzelbefunde zur ökonomischen Hypothese eines gleichartig wirksamen »affektiven Inprints« bei der Speicherung und Reaktivierung von kognitivem Gedächtnismaterial; – einen um die Dimension einer besonderen Wut-, Angst-, Trauer-, Freude und Alltagslogik (und ihren unzähligen Abwandlungen) erweiterten konstruktivistischen Begriff von Logik und Wahrheit, der ebenfalls mit aktuellen evolutionsbiologischen und erkenntnistheoretischen Konzepten im Einklang steht; – eine Auffassung der Affekte als Energieträger, die es zusammen mit einem affektenergetischen Verständnis des Begriffs von Information ermöglicht, allgemeine chaostheoretische Erkennisse zur energetischen Dynamik von Systemen verschiedenster Art auch für psychische und soziale Prozesse nutzbar zu machen; – eine damit zugleich geschaffene theoretische Basis für eine neuartige dynamische Psychiatrie und allgemeine Psychopathologie, die den energetischen und organisatorisch-integratorischen Operatorwirkungen von Affekten auf das Denken eine zentrale Bedeutung einräumt und (unter anderem) zu einer affektiv fundierten Schizophreniehypothese führt; – ein auf den gewählten Affektbegriff und den Begriff der reziproken strukturellen Koppelung zwischen innerpsychischen, biologischen und sozialen Phänomen gegründetes psycho-sozio-biologisches Modell der Psyche, das systematisch auch den Körper und seine Befindlichkeit ins Verständnis psychischer Prozesse mit einbezieht; – die auf die oben erwähnte Fraktalperspektive gegründete Möglichkeit, Erkenntnisse zur Psychodynamik affektiv-kognitiver Wechselbeziehungen aus dem individualpsychischen Mikrobereich auch für den sozialen Makrobereich nutzbar zu machen, und umgekehrt;

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– eine aktuellen chaostheoretischen Erkenntnissen entsprechende Berücksichtigung von irreversibler Zeitlichkeit, unvorhersehbaren Entwicklungssprüngen und potentieller Kreativität in psychosozialen Prozessen jeder Größenordnung. Insgesamt führt die fraktale Affektlogik also trotz der Tatsache, daß viele ihre Einzelteile längst bekannt sind, zu einem über weite Strecken neuartigen Bild von psychosozialen Erscheinungen aller Art. Bevor wir in den nachfolgenden Schlußkapiteln über entsprechend vielfältige alltagspraktische, therapeutische und ethisch-wissenschaftsphilosophische Implikationnen dieser veränderten Sichtweise nachzudenken versuchen, ist freilich – einmal mehr – eine ebenso umfassende, dem konstruktivistischen Konzept der fraktalen Affektlogik selbst immanente Relativierung am Platz: Die fraktale Affektlogik ist und bleibt selbst nichts als ein Konstrukt, eine bestimmte Interpretation und Sichtweise der »Wirklichkeit« (dessen, was wirkt), perzipiert aus einer gewissen Perspektive und einer ihr zugehörigen affektiven Gestimmtheit. Man könnte sie wohl am ehesten als eine Art von intellektueller Lust an einer umfassenden ökonomischen Stimmigkeit bezeichnen, in der alle anderen Affekte weiterhin mitschwingen. Wie stimmig diese neue Theorie des Fühlens und Denkens ist, wird sich einzig und allein in ihrer operationalen Nützlichkeit und Viabilität, also ihrer Ökonomie gepaart mit hinreichender Komplexität und Tiefe erweisen. Fest steht im vornhinein einzig, daß auch diese einem heutigen Wissensstand entsprechende operationale Synthese, wenn überhaupt, der Kritik durch neue Fakten und Gesichtspunkte nur für eine begrenzte Zeit wird standhalten können.

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Neuntes Kapitel Praktische Konsequenzen. Möglichkeiten und Gefahren

Alle Menschen groß und klein Spinnen sich ein Gewebe fein, Wo sie mit ihrer Scheren Spitzen Gar zierlich in der Mitte sitzen. Wenn nun darein ein Besen fährt, Sagen sie, es sei unerhört, Man habe den größten Palast zerstört. Johann Wolfgang von Goethe (West-östlicher Divan)

Ebenso vielfältig wie die erscheinungsbildlichen und theoretischen Facetten der fraktalen Affektlogik sind, wie schon mehrfach angedeutet, im Prinzip deren praktische Anwendungsmöglichkeiten. Sie umfassen potentiell wohl jeden Bereich, wo affektiv-kognitive Dynamismen der besprochenen Art eine Rolle spielen, vom individuellen und kollektiven Alltag über Schule, Politik und Wirtschaft bis hin zu speziellen Lern-, Kommunikations- und Informations- (oder auch Desinformations-) Techniken, darunter nicht zuletzt psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungsmethoden aller Art. Allerdings finden wir uns diesem breiten Potential gegenüber in mehrfacher Hinsicht in einer zwiespältigen Lage. Zum einen wird natürlich in all den genannten Bereichen, und vielen weiteren dazu, die Macht der Gefühle zur Beeinflussung des Denkens in der Praxis auch ohne theoretische Konzepte der hier vorgeschlagenen Art längst vielfach genutzt. In der Reklametechnik oder Propaganda zum Beispiel, teilweise auch in der Psychotherapie, hat sich der Umgang mit ihnen sogar bereits zu einer raffinierten Wissenschaft entwickelt. Auf der anderen Seite aber zeigt sich gerade von der Praxis her überall auch die Problematik eines jeden solchen Wissens. Gefühle sind elementare

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Naturkräfte, vergleichbar dem Wasser oder Wind, die in kleinem Maßstab zwar auf vielfältigste Weise gezähmt und verwendet werden können, im großen aber nach wie vor einzig ihren eigenen Gesetzen gehorchen. Einmal entfesselt, sind sie imstande, gewaltige Zerstörungen anzurichten. Genau dasselbe ist im guten oder schlechten wohl auch von der Vertiefung unserer Einsicht in die Mechanismen des Fühlens und Denkens zu erwarten. Wenn sie zu neuen Möglichkeiten führt, unser Denken und Verhalten zu beeinflussen, so beeinhaltet sie auch potentielle Gefahren. Jedenfalls ist die Zeit, wo jeder wissenschaftliche Erkenntniszuwachs fraglos nur als positiv erschien, längst vorbei; an den Mißbrauch und Unfug, den gewisse Anwendungen von fraktalaffektlogischen Erkenntnissen mit sich bringen könnten, denke ich nicht ohne Bangen. Vorab zu präzisieren ist des weiteren, daß der vorliegende »Entwurf einer fraktalen Affektlogik« in erster Linie auf die Erarbeitung eines besseren Verständnisses der emotionalen Grundlagen von Denken und Verhalten hinzielt, nur am Rand dagegen auch schon auf dessen Nutzanwendung. Wenn wir uns im folgenden dennoch mit gewissen praktischen und ebenfalls ethischen Konsequenzen der fraktal-affektlogischen Theorie beschäftigen wollen, so vor allem deswegen, weil solche angesichts der Ergebnisse unserer Untersuchung gar nicht umgangen werden können noch dürfen. Es kann dabei aber nur um die Exploration einiger weniger ausgewählter Probleme gehen, die entweder besonders interessant erscheinen oder naheliegen.

Psychiatrisch-psychotherapeutische Anwendungen Naheliegend und interessant – und auf den ersten Blick wohl auch relativ unbedenklich – sind vielleicht nicht nur für Fachexperten zunächst die (im weitesten Sinn) psychotherapeutischen Implikationen, die sich aus der Sicht einer fraktalen Affektlogik aufdrängen. Denn unsere Untersuchung hat ergeben, daß »Operatorwirkungen« von Affekten auf Denken und Verhalten bei psychischen Störungen aller Art noch weit offensichtlicher sind als im Alltag. Entsprechend gut müßten solche Störungen von der Affektseite her einer therapeutischen Beeinflussung zugänglich sein. Diese Einschätzung ist gewiß nicht falsch und wird in der Tat in der psychotherapeutischen Methodik schon lange vielfach genutzt, von der Psychoanalyse über das tagtraumartige katathyme Bilderleben (»katathym« bedeutet wörtlich »nach dem Gefühl«) bis hin zu noch

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viel direkter emotions- und zum Teil auch körperzentrierten Verfahren wie etwa der eine Zeitlang in Mode gekommenen sogenannten Urschreitherapie. Gemeinsam ist all diesen Techniken, daß sie kontraproduktive automatisierte Fühl-Denk-Verknüpfungen in einem regressiven Prozeß bis zu ihren Ursprüngen zurückzuverfolgen und gleichzeitig emotional wieder aufzuheizen, zu labilisieren und schließlich zu modifizieren versuchen. Zumal in der Psychoanalyse spielt bekanntlich die systematische Reaktivierung von frühkindlichen Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern in der sogenannten Übertragung und Gegenübertragung (der Repetition socher Muster in der Arzt-Patienten-Beziehung) eine zentrale Rolle. Aber auch praktisch alle Psychopharmaka (vor allem die Antidepressiva und Tranquilizer, in mehr als gewöhnlich angenommenem Grad vermutlich ebenfalls die Neuroleptika) beeinflussen über das limbische System primär vor allem die Affekte. Indessen gibt es bei all diesen Verfahren Probleme. Die psychotherapeutischen Techniken im engeren Sinn sind oft sehr langwierig und trotzdem in ihrem Endeffekt unsicher. Die zwar (im allgemeinen) wesentlich einfacheren und rapideren medikamentösen Verfahren dagegen wirken inhaltlich undifferenziert und sind nicht selten mit erheblichen körperlichen oder psychischen Nebenwirkungen belastet, die ihrem therapeutischen Nutzen entgegenwirken. Die Natur der affektiv-kognitiven Bezugssysteme oder Fühl-, Denk- und Verhaltensschienen, um die es aus unserer Sicht geht, erweist sich als komplex und gegen Veränderungsversuche erstaunlich resistent. Von einem für gezielte Therapieeffekte zureichenden Verständnis der affektiv-kognitiven Feinstruktur von psychischen Störungen und ihrer psycho-soziobiologischen Dynamik sind wir nach wie vor weit entfernt. Ohne mich der Illusion hinzugeben, die Theorie der fraktalen Affektlogik vermöchte hier einfach Abhilfe zu schaffen, meine ich doch, daß sie einen Weg aufzeigt, um sich einer sachgerechteren Praxis zumindest anzunähern. Um exemplarisch zu verdeutlichen, in welche Richtung ein solcher Weg etwa führen könnte, berichte ich in gedrängter Form über ein bereits im Kapitel 6 im Rahmen eines Fallbeispiels kurz erwähntes, seit über 13 Jahren erfolgreich laufendes Pilotprojekt auf dem Gebiet der Schizophrenie – also einer der klinisch komplexesten und therapeutisch schwierigsten Knacknüsse der gesamten Psychiatrie –, in welchem wir systematisch versucht haben, den theoretischen Ansatz der fraktalen Affektlogik in eine sinnvolle therapeutische Praxis umzusetzen. Wesentlich eingehender, als es hier möglich ist, habe ich die Überlegungen, die seinerzeit zu diesem Projekt führten, erstmals bereits 1982 im Schlußkapitel der »Affekt-

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logik« vorgestellt und die damit gemachten Erfahrungen in der Folge in verschiedenen Fachzeitschriften und weiteren Veröffentlichungen beschrieben (Ciompi 1982; Ciompi et al. 1991, 1993a; Aebi et al. 1994). Schizophreniekranke Patienten leiden nach unserem Verständnis, wie im Kapitel über Psychopathologie erklärt, in erster Linie an offener oder versteckter Angst, die in ihrer primär vermutlich schon genetisch bedingten, aber sekundär durch mannigfache psychosozial-biologische Teufelszirkel verstärkten Verletzlichkeit und »Dünnhäutigkeit« begründet ist. Auf größere emotionale Spannungen beispielsweise infolge offener oder vielleicht mehr noch verdeckter Konflikte – nach meiner Auffassung der wesentliche Kontrollparameter beim Umschlag zur Psychose – reagieren sie mit großer Empfindlichkeit; in labilen Phasen manchmal sofort mit Erregungszuständen, psychotischen Entfremdungserlebnissen, Verfolgungsängsten, Halluzinationen. Auch Unklarheiten und Widersprüche aller Art verkraften sie wesentlich schlechter als Gesunde; in vielen lebenspraktischen und vor allem zwischenmenschlichen Belangen sind sie ständig zutiefst verunsichert. – In der Regel gelangen solche verletzliche Menschen, wenn sie aus für sie traumatischen, für die Umwelt aber oft nichtigen Anlässen psychotisch entgleisen, über allerhand zusätzlich belastende Umwege und zweifelhafte Praktiken (Gewaltszenen, Festnahmen, Polizeistationen, für Psychiatriepatienten völlig ungeeignete somatische Notfalldienste, Spitaleinweisungen oder medikamentöse Behandlungen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen u. a. m.) schließlich total durcheinander in die Aufnahmeabteilung eines psychiatrischen Großkrankenhauses, wo sie mittels neuroleptischen (wörtlich: »die Nerven stärkenden«) Medikamenten mit oder ohne ihr Einverständnis sofort massiv »gedämpft« und »beruhigt« werden. Für längere Gespräche und Erklärungen, geschweige denn für den Aufbau einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung bleibt, wenn überhaupt, kaum je Zeit; Ärzte und Pflegepersonal solcher Abteilungen mit zwanzig, dreißig und mehr Akutkranken sind oft schwer überlastet und manchmal auch abgebrüht, in engstirnigen Vorurteilen befangen oder – wenn es sich um Neulinge handelt – selbst verunsichert und verängstigt. Als Folge kommt es in dieser sehr eigenartigen und auch für einen Gesunden schwer erträglichen Atmosphäre nicht selten zu Gewaltausbrüchen; zudem wechseln Mitpatienten und Personal ohne Unterlaß; mehrfache Versetzungen, Zwangsmaßnahmen, Isolation von der Außenwelt, auch entwürdigende Praktiken wie die Wegnahme von persönlichen Kleidern und Effekten, Fixationen oder Einschließungen schaffen zusätzliche Spannungen, die jeweils mit verstärkten psychotischen Symptomen, und

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diese wiederum mit höheren Dosen von Neuroleptika beantwortet werden. Diese Schilderung soll nicht in erster Linie anklagen, sondern aufrütteln: Ein solches Milieu, eine solche Behandlung ist – wie übrigens auch viele Fachkollegen längst eingesehen und nach Möglichkeit zu beheben versucht haben – nach unserem Verständnis für einen ohnehin schon psychotisch verwirrten und verängstigten Menschen kraß antitherapeutisch, ja geradezu eine »Faust aufs Auge«. Teilweise inspiriert von einem in den siebziger Jahren unter zwar ganz anderen theoretischen Prämissen von Loren Mosher und Alma Menn in Kalifornien geschaffenen »Soteria House«* haben wir als Pilotprojekt deshalb unter dem Namen »Soteria Bern« seit 1984 eine therapeutische Wohngemeinschaft für ersterkrankte jüngere Schizophreniepatienten aufgebaut, die wir dem affektlogischen Psychoseverständnis entsprechend so therapeutisch wie nur möglich zu gestalten versuchten: Statt in einer weit abseits gelegenen, von vornherein für viele Menschen unheimlichen und fast immer auch sozial stigmatisierenden geschlossenen Psychiatrieklinik ist die kleine Wohngemeinschaft in einem ganz normalen, offenen und freundlichen Wohnhaus mit Garten mitten in der Stadt untergebracht. In überlappender 48-Stunden-Präsenz von stets mindestens zwei speziell ausgewählten und – unter anderem durch regelmäßige Supervisionen – auf emotionale Kommunikation geschulten Betreuern werden dort nicht mehr als sechs bis acht Kranke, darunter höchstens ein oder zwei in hochakut psychotischem Zustand, rund um die Uhr von einem ständig anwesenden Betreuer durch ihre Ängste und lebensgeschichtlich bedeutsamen traumartigen Verwirrungen hindurch begleitet. Eine Pflegeperson verbringt also Tag und Nacht viele Stunden zusammen mit dem jeweils akutesten Kranken im sogenannten »weichen Zimmer«, einem ganz auf Reizschutz und emotionale Entspannung angelegten, ruhigen und freundlichen, großen und hellen Raum zu ebener Erde, der aus Sicherheitsgründen fast nur mit zwei Matratzen und großen Kissen in dezenten Farbtönen ausgestattet ist. Die vordringlichste Aufgabe dieses ständigen Begleiters ist es, den Kranken zu beruhigen, zu entspannen und zugleich vor selbst- oder fremdzerstörerischen Impulsen zu schützen – nicht in erster Linie mit Medikamenten, sondern mit Gesprächen, mit schweigendem und verständigem »Dabeisein«, wenn sinnvoll mit einer sanften Berührung, einer Fußmassage, mit Malen, Kneten, Spielen, aber auch mit Schwatzen, Essen und ganz gewöhnlichem »Zusammensein«, wenn dies sich * Mosher et al. 1978, 1995 – »Soteria« (griech.) bedeutet so viel wie »Rettung, Befreiung, Erlösung«.

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als nützlich erweist. Wenn der Kranke in seine Ängste verfällt und gespannt oder gar aggressiv wird (was freilich in dieser Atmosphäre vergleichsweise sehr selten passiert), so sucht der Betreuer den besten Weg zur Entspannung namentlich über eine sorgfältige Regulierung von Nähe und Distanz. Notfalls kommen ihm dabei die anderen Betreuer oder auch gebesserte und erfahrene Mitpatienten zu Hilfe; seine Grundhaltung soll in dieser Phase, wie wir immer sagen, derjenigen einer verständigen Mutter gleichen, die ihrem von wüsten Alpträumen gequälten fieberkranken Kind beisteht*. Jede und jeder der insgesamt neun Betreuerinnen oder Betreuer – Therapeuten wie Patienten sind ungefähr im Verhältnis von 1 : 1 geschlechtlich gemischt, und jeder Klient hat unter den Betreuern zwei möglichst nach gegenseitiger Affinität ausgewählte, ihm speziell zugeordnete verschiedengeschlechtliche Bezugspersonen – sucht und findet dabei einen persönlichen Stil. Zwei teilzeitig verfügbare Ärzte tragen die medizinische Verantwortung. Spezielle, auf eine fixe Zeit eingeengte therapeutische Veranstaltungen gibt es in dieser Wohngemeinschaft nicht; die »Therapie« findet rund um die Uhr statt und besteht in der ganzen Art und Weise des Umgangs, in wie beiläufig geführten, aber oft tief bedeutsamen Gesprächen beim gemeinsamen Arbeiten, Essen, Spazieren, sowie in kontinuierlichen Kontakten mit Familienangehörigen und anderen wichtigen Bezugspersonen, die von Anfang an freien Zugang haben oder, wenn sinnvoll, auch aktiv hinzugezogen werden. Alle vier Wochen gibt es für sie außerdem eine eigene mehrstündige Veranstaltung, die der Vermittlung von Information und der Diskussion von besonderen Themen dient. Die Behandlung findet in vier Phasen – 1. Beruhigung im »weichen Zimmer«; 2. Wiederherstellung eines normalen Realitätsbezugs und Problembearbeitung innerhalb der Wohngemeinschaft; 3. allmähliche Orientierung nach außen sowie stufenweise soziale und berufliche Wiedereingliederung; 4. mindestens zweijährige externe Nachbetreuung und Rückfallprophylaxe nach der Entlassung – statt und dauert im Mittel drei bis vier Monate. Meist schließen sich an den Aufenthalt in der Wohngemeinschaft rehabilitative Maßnahmen und/oder konsolidierende individuelle, gruppen- oder familienzentrierte Psychotherapien durch auswärtige Therapeuten an. Freundschaftliche informelle Kontakte mit den ursprünglichen Betreuern aus der Wohngemeinschaft gehen in der Regel aber noch jahrelang weiter. In dieser Atmosphäre klingen – wie die statistisch-evaluative For* Diese Haltung orientiert sich u. a. am Winnicottschen Konzept des sogenannten »Holding«, auch am Konzept des »Containment« von Ogden.

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schung zeigt und im oben erwähnten Fallbeispiel auch kasuistisch illustriert ist – akut psychotische Symptome selbst ohne oder mit nur minimaler medikamentöser Unterstützung zumeist innerhalb von wenigen Wochen bis Monaten (gelegentlich auch schon innerhalb weniger Tage) spontan ab. Emotional, subjektiv und sozial gelingt die Bewältigung und Verarbeitung der Psychose nach einer solchen Behandlung in vielen (aber nicht allen) Fällen langfristig deutlich besser als mit den sonst üblichen Methoden; bei manchen jungen Menschen führt eine psychotische Entwicklungskrise – denn als eine solche verstehen wir die psychotische Erschütterung der psychischen Existenz gerade auch aufgrund unserer Soteria-Erfahrung – letztlich sogar zu einer persönlichen (Nach-)Reifung und emotionalen Stärkung. Nach harten objektivierenden Forschungskriterien, in denen der psychopathologische Zustand, die soziale und berufliche Situation, die Rückfallraten und die Behandlungskosten von Soteria-Patienten über zwei Jahre sorgfältig mit der Situation von konventionell behandelten Patienten mit möglichst identischer Ausgangslage verglichen wurden, unterscheiden sich erstere statistisch allerdings nur durch einen drei- bis fünffach geringeren Bedarf an neuroleptischen Medikamenten (und entsprechend geringere kurz- wie langfristige Nebenwirkungen), während alle übrigen gewählten Kriterien mit je rund 2/3 günstigen Zweijahresverläufen keine signifikanten Differenzen ergaben. Dies gilt (u. a. dank dem Verzicht auf Hauspersonal und weitere in den Spitälern nötige Infrastrukturen) trotz der personalintensiven Vierundzwanzigstundenbetreuung bemerkenswerterweise ebenfalls für die Kosten, nachdem die anfänglich wesentlich längere Aufenthaltsdauer auf den erwähnten Durchschnitt von rund drei Monaten reduziert wurde. Vorderhand ist nicht hinreichend geklärt, ob diese je nach Beurteilungsperspektive ermutigenden oder unbefriedigenden Forschungsresultate – insgesamt statistisch gleiche Resultate mit emotional- und milieutherapeutischen wie mit vorwiegend medikamentösen Verfahren – mit der Natur der Erkrankung und Therapie selbst, mit unkontrollierbaren Außeneinflüssen nach der Entlassung oder mit anderen schwer lösbaren methodologischen Problemen zusammenhängen. Auch sind möglichereweise die für einen gültigen Vergleich bisher verfügbaren Fallzahlen (je 22 Patienten) noch zu klein, die gewählte Standardbeobachtungszeit von zwei Jahren zu kurz oder die verwendeten objektiven Kriterien zu wenig fein differenziert, um die eindrucksmäßig vor allem auf der »tiefen« Ebene des subjektiven Erlebens von Patienten und Angehörigen angesiedelten langfristigen Vorteile einer solchen Behandlung genügend faßbar zu machen. Noch nicht befriedigend geklärt ist überdies die Frage, für welche Patienten sie besonders geeignet und für

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welche sie eher unzweckmäßig ist. Zweifellos aber zeigen die bisher erzielten Resultate, genau gleich wie die klinische Erfahrung, neben den Möglichkeiten ebenfalls die Grenzen des versuchten Ansatzes. In jedem Fall sind sie indes praktisch wie theoretisch von erheblichem Interesse. Von besonderer Bedeutung ist namentlich der Befund, daß gezielte emotionale Entspannung – allerdings nicht in der oberflächlichen Form von bloß punktuellen »Entspannungsübungen«, sondern einer über Wochen und Monate konsequent geschaffenen und durchgehaltenen zwischenmenschlichen Gesamtatmosphäre – psychotische Störungen ganz ähnlich (und, wenn überhaupt, mit positiven statt negativen Nebenwirkungen) zu beheben vermag wie die neuroleptischen Medikamente. Dies spricht nicht nur für die im Psychopathologiekapitel formulierte Hypothese von primär affektiven und erst sekundär kognitiven Wirkungen der Neuroleptika, sondern auch für die affektive Hypothese der Schizophrenie überhaupt. Für die Praxis ergeben sich daraus im Verein mit dem psycho-sozio-biologischen Interaktionsmodell der fraktalen Affektlogik differenzierte neue Möglichkeiten, zur Behandlung von psychotischen Störungen je nach Situation und Person pharmakotherapeutische und/oder psycho- und milieutherapeutische Mittel mehr komplementär oder mehr alternativ einzusetzen. Mancherorts sind Elemente dieses Pilotprojekts inzwischen auch in die Routinepraxis großer Krankenhäuser eingebaut worden. Außerdem sind derzeit (1997) allein in Deutschland rund 20 soteriaartige Einrichtungen in Planung oder Aufbau begriffen; ähnliches wird anderswo angestrebt. Bevor abschließende Schlußfolgerungen aus diesem Pilotexperiment möglich sind, müssen zusätzliche Erfahrungen abgewartet und die erwähnten Methodenprobleme gelöst werden. Auch fehlen vorderhand vergleichbare Untersuchungen zur psychiatrischen Anwendung affektlogisch fundierter Verfahren in anderen diagnostischen Zielgruppen. Indessen ist es schon jetzt möglich, die folgenden allgemeinen Behandlungsgrundsätze einer affektlogisch orientierten Psychotherapie im weiteren Sinn zu formulieren: – Jede Psychotherapie im weitesten Sinn, ganz gleich, ob sie sich nun spezifisch emotionszentrierter, kognitiver oder medikamentöser Methoden bedient, ist in erster Linie eine emotionale Begegnung zwischen zwei (oder mehr) Menschen. Die »Fundamentalbotschaften«, die dabei ausgetauscht werden – darunter verstehe ich die grundlegenden gegenseitigen emotionalen Einstellungen und die darauf gegründeten Verhaltensweisen (Ciompi 1982, S. 217 ff., 379 ff.) – sind für den Therapieverlauf von entscheidender Bedeu-

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tung. Sie verdienen in jedem Fall die sorgfältigste Beachtung und können auch gezielt bearbeitet und therapeutisch genutzt werden. – Jede Psychotherapie (wiederum im weitesten Sinn) muß primär bei den Affekten – und darunter, wie wir gesehen haben, besonders häufig bei der Angst – ansetzen. Änderungen des Denkens und Verhaltens ohne gleichzeitige Affektveränderungen sind nicht zu erwarten. Wenn die emotionale Grundatmosphäre nicht »stimmt«, so nützen noch so sophistizierte medikamentöse, soziotherapeutische oder kognitionszentrierte Therapien wenig. – Menschen mit psychischen Störungen aller Art brauchen in erster Linie ein emotionales Milieu, einen therapeutischen Umgang und je nach Situation manchmal auch Medikamente, die entspannen, die Angst, Wut oder Depression lösen, kurz: die harmonisieren, ohne aber gleichzeitig gesunde selbstorganisatorische Reaktions- und Verarbeitungsmöglichkeiten zu lähmen. Dies alles hört sich vermutlich für einen Außenstehenden recht plausibel und einfach an, ist es jedoch in der Praxis aus verschiedenen Gründen keineswegs. Jedenfalls sind nicht etwa nur in armen Entwicklungsländern, sondern durchaus auch in Westeuropa und den USA nicht wenige Institutionen und Maßnahmen zur Behandlung psychischer Störungen nach wie vor keineswegs gezielt auf eine natürliche Angstoder Aggressionslösung, sondern mindestens ebenso sehr auf Sicherung und Isolation, auf die bloße Bekämpfung von Symptomen statt tieferen Ursachen und nicht selten zudem auf spannungs-, angst- und wuterhöhende Zwangsmaßnahmen sowie weitere Prozeduren ausgerichtet, die die persönlichen Regenerationskräfte mehr beeinträchtigen als fördern. Kulturell verankerte Denk- und Verhaltensgewohnheiten spielen dabei eine wichtige Rolle; so vermögen beispielsweise keine wissenschaftlichen Argumente zureichend zu erklären, weshalb in den USA zur Behandlung schizophren-psychotischer Störungen ohne bessere Erfolge durchschnittlich doppelte, dreifache oder noch höhere Neuroleptikadosen verwendet werden als in Europa. Auch die – neuerdings aufgekommenen und durch die chemische Industrie kräftig gesponserten – sogenannten Konsensuskonferenzen, in denen fast ausschließlich medikamentös orientierte generelle Behandlungsregeln von den besten Pharma-Experten festgelegt werden, spielen in dieser Beziehung eine teilweise problematische Rolle. Denn ihren Schlußfolgerungen liegen statistische Befunde zugrunde, die größtenteils unter ausgesprochen ungünstigen emotionalen Bedingungen der oben beschriebenen Art gewonnen wurden; generell werden milieu- und sozialtherapeutische Faktoren darin, wenn überhaupt, so höchstens am Rand berücksichtigt.

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Die Resultate der gängigen statistischen Reihenuntersuchungen sind aus unserer Sicht deshalb zum größten Teil verzerrt bzw. problematisch, da eine essentielle Variable – die emotionale Atmosphäre, in der die Behandlung stattfand – überhaupt nicht kontrolliert wurde. Je allgemeinverbindlicher aber der Druck von darauf gegründeten Übereinkünften wird, um so mehr droht sich ein verhängnisvoller Teufelszirkel zu entwickeln, der die Suche nach kreativen Alternativen, etwa von der vorgeschlagenen Art, praktisch blockiert. Jede psychotherapeutische Einflußnahme kann im übrigen als Versuch verstanden werden, bestehende Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramme durch Information in irgendeiner Form zu verändern, sei es (wie beispielsweise in der Psychoanalyse oder in der Rogersschen Gesprächstherapie) vorwiegend durch Stimulation einer konstruktiven Selbstorganisation, sei es (wie im sogenannten Counseling, in den auf Suggestion oder Persuasion gegründeten Verfahren und vielleicht am klarsten in der kognitiven Verhaltenstherapie) durch gezielte Beeinflussung bestimmter Symptome. Affektive Faktoren spielen dabei eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie die kognitiven Inhalte selbst, denn parallel zur Veränderung des Denkens geht es wesentlich immer auch um eine emotionale Umstimmung. Dafür bedarf es – wie die deutsche Sprache mit ihren vielen mit den Worten »Stimmung« oder »Stimmigkeit« verwandten Begriffen so gut zum Ausdruck bringt – zunächst der Einstimmung und Abstimmung, der Beseitigung von Unstimmigkeit und Verstimmung, der Herstellung von Übereinstimmung und Zustimmung zur therapiespezifischen Be-stimmung. Dies alles gilt indes keineswegs nur für die Psychiatrie und Psychotherapie, sondern für die Praxis der Kommunikation überhaupt. Psychiatrisch-psychotherapeutische Erfahrungen lassen sich deshalb wie folgt verallgemeinern: – Kognitive Informationen haben immer eine affektive Färbung. Bestimmte Informationen können nur in bestimmten Stimmungen aufgenommen werden. Stimmungskonforme Informationen werden am leichtesten, stimmungsdifferente am schwersten aufgenommen. Ob Kognitionen zur In-formation im wörtlichen Sinn werden (in die Fühl-, Denk- und Verhaltenssysteme des Empfängers eingebaut werden) oder nicht, hängt nicht in erster Linie von ihrem kognitiven Inhalt, sondern von ihren affektiven Konnotationen sowie den affektiv-kognitiven Strukturen des Empfängers selbst ab: Informationen, die diesen Strukturen mit ihren spezifischen Affektfärbungen zu sehr widersprechen, werden nicht aufgenommen, sondern mißachtet und verdrängt. – Der Austausch von kognitiver Information zwischen zwei (oder

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mehr) Partnern gelingt am besten in übereinstimmender oder ähnlicher affektiver Grundstimmung. Um ein Bild aus der Nachrichtentechnik zu gebrauchen: Nur wenn Sender und Empfänger auf die gleiche Wellenlänge eingestellt sind, können Informationen ausgetauscht werden. Die Rolle der »Wellenlänge« spielen im psychosozialen Bereich in erster Linie die Affekte: Ein ängstlicher (oder wütender, trauriger, freudiger, gelassener) »Empfänger« wird die kognitive Information eines gleichgestimmten »Senders« viel leichter aufnehmen als die eines ganz anders gestimmten. – Kognitionen mit gleicher oder ähnlicher Affektfärbung haben die Tendenz, sich zu umfassenderen affektspezifischen Eigenwelten (im Sinn der Wut-, Angst-, Trauer-, Freude- oder Alltagslogik etc.) zu verknüpfen, während affektdifferente Kognitionen dazu tendieren, sich voneinander zu trennen. – Negative Gefühle wie Wut, Angst und Trauer, auch Ekel und Scham haben spezifisch trennende, distanzierende und ablösende Wirkungen auf damit belegte Kognitionen. Kognitionen, die mit positiven Gefühlen wie Freude, Liebe, Vergnügen oder lustvoller Entspannung einhergehen, werden mit in gleicher Stimmung erlebten kognitiven Elementen zu größeren Entitäten verknüpft und in die »Eigenwelt« der »Alltagslogik« eingebaut. Diese ist durch eine Mischung von positiven und negativen Affekten von zunehmend geringer Intensität charakterisiert, in welcher einmal etablierte Affekt-Kognitionsverbindungen zunehmend automatisiert und banalisiert sind. – Zur Veränderung von automatisierten Affekt-Kognitionsverbindungen bedarf es umgekehrt einer gewissen emotionalen »Aufheizung«. Auch aus diesem Grund bleibt die Wirkung von rein kognitiven Zugängen (die es allerdings aus unserer Sicht in Wirklichkeit gar nicht gibt), unbefriedigend, solange nicht auch die offen oder versteckt immer vorhandenden subjektiven und emotionalen Faktoren gebührend beachtet werden. – Dies ist mehr und mehr übrigens gerade auch in der kognitiven Verhaltenstherapie offenbar geworden, welche sich aus wissenschaftlichen Gründen ursprünglich besonders vehement gegen den Einbezug von »subjektiven« Elementen gewehrt hatte. Längst hat sie sich indessen vom ursprünglichen Purismus abgekehrt und emotionale Komponenten nicht nur in der Praxis zunehmend berücksichtigt, sondern auch forschungsmäßig vermehrt untersucht. In einer neueren, kontrollierten Berner Studie bei chronisch Schizophrenen zum Beispiel hat sich dabei interessanterweise gezeigt, daß die emotionale Atmosphäre zur Verhaltensänderung signifikant mehr beitrug als die angewandten spezifisch kognitiven Techniken (Hodel et al. 1997).

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– Umfassende Veränderungen des Denkens und Verhaltens erfolgen in erster Linie aufgrund von globalen affektiven Umstimmungen mit kritischer Veränderung bedeutsamer Kontrollparameter. Einer der wichtigsten dieser Kontrollparameter scheint die allgemeine affektive Spannung zu sein. Chaostheoretisch gesehen geht es in der Praxis immer wieder darum, diesen namentlich für das »Überschnappen« in gewalttätige, psychotische und teilweise vermutlich auch zwanghafte oder depressive Zustände relevanten Kontrollparameter so zu optimieren, daß ein »Zurückschnappen« in gesündere FühlDenk- und Verhaltensweisen möglich wird. Jede Therapie kann theoretisch im übrigen als Versuch verstanden werden, entweder aus unzweckmäßigen Affekt-Attraktorbecken über eine globale Umstimmung, verbunden mit geschicktem Ausschleichen entlang einem kleinen Lustgefälle, richtiggehend auszusteigen oder aber allzu chaotische Turbulenzen oder Auslenkungen (um mit Janzarik zu reden) innerhalb ein und desselben übergeordneten affektiv-kognitiven Attraktorbereichs wieder in ruhigere Bahnen »einzulenken« – ein Procedere, das heute in verschiedensten Bereichen der Wissenschaft unter anderem unter dem Stichwort »Kontrolle des Chaos« exploriert wird (Ott et al. 1990). In Umrissen zeichnet sich aus solchen Regeln die Möglichkeit einer Art von affektiv-kognitiven Engineerings auf wissenschaftlicher Grundlage ab, das, wie gesagt, nicht nur für die psychiatrische und psychotherapeutische Praxis, sondern auch für viele andere Bereiche – mit Einschluß, aus fraktalen Gründen, von kollektiven Ebenen – von Belang zu sein verspricht. Bevor wir uns solchen alltagspraktischen Anwendungen gezielter zuwenden, wollen wir aber kurz noch ein weiteres Sondergebiet mit sowohl psychiatrisch-psychotherapeutischen wie auch allgemeinen Implikationen ins Auge fassen.

Fraktale Affektlogik und Körpererleben, Körpertherapien und verwandte Praktiken Allgemein wird die Bedeutung der körperlichen Verfassung und Aktivität für das Denken und Fühlen stark unterschätzt; körperbezogene Therapieformen und verwandte Praktiken spielen deshalb sowohl in der allgemeinen Psychotherapie wie auch in der »schweren« (vor allem institutionszentrierten) Psychiatrie nach wie vor nur eine randständige

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Rolle. Die affektlogische Theorie legt eine andere Praxis nahe, da für sie Körper und Psyche über die folgenden drei Grundannahmen aufs engste miteinander verbunden sind: Erstens versteht sie die Affekte (auch) als körperliche Phänomene, nämlich als umfassende körperlichseelische Gestimmtheiten. Zweitens postuliert sie ständige obligate Wechselwirkungen zwischen affektiven und kognitiven Komponenten und drittens geht sie, gestützt vor allem auf Piaget, davon aus, daß alles Denken ursprünglich auf konkreter körperlicher Aktion, also auf Handeln, beruht. Das Konzept der fraktalen Affektlogik ist somit schon in seinem Kern eminent psychosomatisch. Da zudem Affekte, obwohl nicht notwendigerweise bewußt, trotzdem körperlich manifest sein können, erscheint der Körper geradezu als der primäre Sitz, das primäre »Organ« und Ausdrucksfeld der Gefühle. Von erheblichem praktischem Interesse ist dabei ferner, daß – wie beispielsweise Untersuchungen an Schauspielern gezeigt haben – Affekte nicht nur mit umfassenden körperlichen Veränderungen einhergehen, sondern körperliche Haltungen und Aktivitäten (darunter speziell der mimische und sonstwie körperliche Ausdruck von Affekten) umgekehrt auch entsprechende Gefühle zu induzieren vermögen. Des weiteren weiß man heute, daß intensive körperliche Betätigung im Verein mit hyperventilationsbedingten (mit starker Atmung einhergehenden) Veränderungen im Säure-Basen-Gleichgewicht und der zerebralen Ausschüttung von sogenannten Endorphinen (körpereigenen Morphinen) zu lusterzeugenden körperlich-seelischen Umstimmungen führt, die ihrerseits das Denken erheblich beeinflussen. Besonders harmonisierend wirken dabei nicht nur längerdauernde Anstrengungen wie Bergsteigen, Langlaufen, Joggen, bei denen sich nach 20 bis 30 Minuten ein sogenannter »steady state« (ein neues Sauerstoffgleichgewicht infolge einer globalen funktionellen Umstellung) einstellt, sondern ebenfalls »sanfte«, aber konzentrierte Aktivierungen etwa von der Art der Rhythmik oder des chinesischen Tai Ch’i. Schon einfache körperliche Arbeiten oder sportliche Aktivitäten provozieren dehalb nicht selten erstaunliche psychische Veränderungen. Selbst schwer aggressiv oder depressiv verspannte Patienten vermögen sich den lösenden Wirkungen einer hinreichend intensiven körperlichen Tätigkeit zumindest kurzdauernd kaum zu entziehen, wenn es nur gelingt, sie richtiggehend zum Schwitzen zu bringen. Über die unbewußten Komponenten von derartigen Umstimmungen sind auch situationsüberdauernde Effekte möglich. Zusammen mit der Lehre von den Operatorwirkungen der Affekte auf Denken und Verhalten ergibt sich aus dem psycho-sozio-biologischen Interaktionsmodell der Affektlogik insgesamt eine differenzierte theoretische Grundlage für psychisch wirksame körperzentrierte Inter-

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ventionen aller Art. Als solche wollen wir zunächst alles auffassen, was es in diesem weiten Feld überhaupt gibt: also körperzentrierte Psychotherapien und »Bewegungstherapien« verschiedenster Art so gut wie nicht spezifisch als Therapie verstandene, aber doch auf die Psyche wirkende körperliche Aktivitäten wie etwa Tanz, tänzerische Gymnastik oder heilpädagogische Gymnastik. Hierzu gehören auch alle Formen des »Sports zur Freude« wie Wandern, Schwimmen, Langlaufen, Skifahren, Ballspielen und so weiter, ja sogar die ganz gewöhnliche körperliche Arbeit. Ebenfalls fernöstliche körperbezogene Praktiken mit besonderem geistigem Hintergrund wie etwa das schon genannte Tai Ch’i oder gewisse Meditationstechniken seien zumindest erwähnt, und auch Singen, Musizieren und Handwerken werden wir in unsere Überlegungen mit einbeziehen, wogegen der professionalisierte Leistungssport, obwohl in Teilaspekten durchaus mit impliziert, seines ganz anderen Anspruchs und Umfeldes wegen hier ausgeklammert bleiben soll. Indes geht es bei den nachfolgenden Überlegungen wiederum nicht um spezifische Methoden, wie sie etwa Sport- und Bewegungstherapeuten, Heilpädagogen oder körperorientierte Psychotherapeuten und andere Berufsleute auf unterschiedlichen theoretischen Grundlagen in großer Zahl entwickelt haben und entwickeln*, sondern um gewisse Gemeinsamkeiten und allgemeine Zusammenhänge, die aus der Sicht der Affektlogik von besonderem Interesse sind. Praktiker wie Theoretiker unterschiedlicher Orientierung sind sich darin einig, daß das sogenannte Körperschema – ein fundamentaler und zu einem guten Teil unbewußter Aspekt der Selbstrepräsentation – der zentrale Angriffspunkt aller körperzentrierten Therapieformen ist. Im Begriffssystem der Affektlogik handelt es sich auch hier um nichts anderes als um ein besonders komplexes affektiv-kognitives Bezugssystem oder Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramm übergeordneter Art: nämlich um das Gefüge derjenigen kognitiven Schemata, die auf den eigenen Körper oder Leib bezogen und dabei mit einer bestimmten Palette von positiven und negativen Affekten befrachtet sind. Dieses Körperschema nun hat, genau wie das gesamte Selbstbild, neben grundlegenden permanenten Elementen (etwa oben–unten, vorne–hinten, rechts–links und die Lage der einzelnen Körperteile betreffend) mehrere unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Anteile, die je nach Situation und Stimmung aktiviert werden können. Unter der Wirkung eines positiven Erlebnisses, zum Beispiel eines im Sport oder * Einen guten Überblick vermitteln z. B. Petzold 1985; Maurer 1987; für spezifische Bezüge zur Affektlogik vgl. auch Hornberger 1990.

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anderswo errungenen Sieges, einer bestandenen Prüfung oder Gefahr, aber auch einer endogen maniform gehobenen Stimmungslage kann sich dieses Körperbild – wie frappant an der Körperhaltung ablesbar – richtiggehend aufplustern und aufblasen, während es in depressiv gedrückter Stimmung im Gegenteil in sich zusammensinkt und sozusagen »klein und häßlich« wird. Spezifischen Veränderungen unterliegt es ebenfalls in der Angst, in der Wut, im Zustand der gespannten Aufmerksamkeit oder der teilnahmslosen Gleichgültigkeit. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß praktisch alle psychischen Störungen mit ausgeprägten Störungen auch des Körperschemas einhergehen. So hatte ein über 1,90 Meter großer und übertrieben fitneßtrainierter Patient mit einer schweren Neurose, der bei mir jahrelang in Psychotherapie war, in depressiver Verfassung immer wieder plötzlich das bestimmte Gefühl, er sei nicht nur viel schwächer, sondern auch viel kleiner als ich.

Besonders grotesk sind solche Verzerrungen des Körperbildes bei der Magersucht (anorexia mentalis), wo aufgrund einer hochemotionalen unbewußten Abwehr von weiblich fülligen Rundungen selbst eine akut lebensgefährdende Abmagerung zum Skelett noch als »scheußlich dick« perzipiert und mit weiterer Nahrungsverweigerung beantwortet werden kann. Andererseits kommt es aber auch vor, daß gewaltig beleibte Menschen sich ihrer Fülle und des Eindrucks, den sie damit auf ihre Umgebung machen, überhaupt nicht bewußt sind. Die Wirkung mancher körperzentrierter Verfahren beruht auf dem weiter oben genannten umgekehrten Effekt von körperlichen Verfassungen und Haltungen auf das Denken und Fühlen: Wenn es zum Beispiel gelingt, einen in sich zusammengesunkenen Melancholiker auch nur einen Moment lang aus seiner schlaffen Haltung heraus- und dazu zu bringen, daß er sich groß aufrichtet, die Muskeln spannt, den Kopf und Blick hebt, die Brust vorwölbt und etwa gar noch mit lauter Stimme einen Protest oder Befehl herausschreit, so tonifiziert sich ein Stück weit alsobald auch seine psychische Verfassung. Zugleich wird er – günstigenfalls mit längerfristigen Nachwirkungen – ein mit positiven Affekten besetztes, aber verschüttetes Selbstbild oder »Programm« wiederbeleben, dessen Fühl-, Denk- und Verhaltensbahnen ganz analog wie diejenigen einer früher einmal erlernten, aber lange brachliegenden sensomotorischen Fertigkeit nach wie vor irgendwo im sogenannten »Körpergedächtnis« gespeichert sind. Über den gleichen Effekt kann die physiotherapeutische Bearbeitung von unbewußten Dauerhaltungen und Muskelverspannungen, in denen sich Wut oder Ärger, Angst oder Verbitterung in versteckten Myogelosen (lokale muskuläre Dauerverhärtungen) und schmerzhaftem Hartspann festgesetzt haben, auch psychisch lösend und entspannend wirken. Eine große

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Zahl von prinzipiell ganz ähnlich wirkenden, für verschiedenartige Störungen mannigfach abwandel- und raffinierbaren Techniken stehen dem erfahrenen Körper- oder Bewegungstherapeuten zur Verfügung, um solche Effekte systematisch zu nutzen. Mittels sogenannter »Zwischenobjekte« (im Sinn von Winnicott) wie Bällen, Reifen, Bändern und anderem mehr sind dabei auch Nähe und Distanz, Angst und Vertrauen, Selbstbehauptung, Konkurrenz und Aggressivität oder freundliche Zuwendung auf hunderterlei Weisen averbal aktivierbar. Grundforderung ist aus der Sicht der Affektlogik dabei immer eine lustvoll-entlastende, mehr spielerische als leistungszentrierte Grundstimmung. Jedoch kann in einer Atmosphäre des Vertrauens als (primär körperlich erlebbarer) Kontrast in den Händen eines feinfühligen Therapeuten ebenfalls die vorsichtige Aktivierung von angst-, wut- oder trauerbetonten Haltungen und Stimmungen heilsam wirken. Beschränken sich derartige »Übungen« allerdings auf punktuelle Aktivitäten ohne Verbindung zu einem therapeutischen Gesamtplan, so droht ihr Effekt von gegenläufigen Erlebnissen rasch wieder verschüttet zu werden. Ihr volles therapeutisches Potential vermögen körperbezogene Aktivitäts- und Therapieformen deshalb erst dann zu entfalten, wenn sie dort, wo sie Bestandteil eines umfassenderen therapeutischen Programms sind, in dieses Programm auch voll und ganz integriert werden, statt – wie es so oft namentlich in größeren psychiatrischen Institutionen der Fall ist – entsprechend der besagten Unterschätzung ihres Wirkungspotentials ein bloß randständiges Anhängsel ohne irgendwelche Verbindung zum Alltag und zu anderen Therapien zu bleiben. Dies wiederum bedeutet unter anderem, daß der »Körpertherapeut« ein in die individuelle Therapieplanung und Fallbesprechung kontinuierlich einbezogenes Mitglied des therapeutischen Teams sein sollte. Denn nur so können einerseits Probleme, die sich in anderen Bereichen stellen, auch von der Körperseite her koordiniert bearbeitet und andererseits Beobachtungen aus der Körpertherapie – beispielsweise über oft erst dort voll zutage tretende körperlich-psychische Nebeneffekte von Medikamenten – fruchtbar weiterverwertet werden. Wesentliche körperwirksame Komponenten enthalten, wie schon angedeutet, auch das gemeinsame Singen, Musizieren, Handwerken, ja sogar das bewußte laut oder leise Reden, Rufen, Schreien. Denn alle derartigen Aktivitäten beeinflussen günstigenfalls – unter anderem über die Atmung – die globale psycho-physische Stimmung, schaffen eine besondere Atmosphäre, polen den Geist um. Mit dem Körpergefühl verändert sich auf einer tieferen Ebene immer auch das Verhältnis zum Raum und damit zur Welt überhaupt (zum In-der-Welt-Sein, um mit Heidegger zu reden). Neben den besonderen Effekten einzelner

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Techniken werden dabei überall auch zahlreiche emotionale Zusatzelemente wirksam, deren Ursprünge teilweise wohl bis in die frühe Kindheit zurückreichen. Dazu gehören die intensiven bewußten oder unbewußten Affektreaktionen bei körperlichen Berührungen, die schon im Kapitel zu den kollektiven Affektwirkungen (Kapitel 7) hervorgehobenen sozialisierenden, Kommunikation und Zusammengehörigkeitsgefühl fördernden Wirkungen von gemeinsamen Körperaktivitäten, die Stärkung des Selbstwertgefühls durch Übernahme einer bestimmten Rolle und Funktion in einer Spielgruppe oder -partei. Auch die Effekte der emotionalen Ansteckung können bei lustbetonten körperlichen Gruppenaktivitäten spektakulär sein. In eine ähnliche Richtung weisen die früher schon berichteten Überlegungen von Maturana und Versten-Zöller (1994) zur identitätsschaffenden Bedeutung des Spiels zwischen Mutter und Kind. Tiefe unbewußte Wirkungen etwa von sanften Haut- oder Körperkontakten auf das Identitäts- und Weltgefühl könnten letztlich darauf beruhen, daß lustbetonte frühe derartige Körperreize, wie psychoanalytische Befunde nahelegen, das Kind als eigenes wertvolles Wesen grundlegend konstituieren und zugleich von der Um- und Außenwelt abgrenzen. Einige Autoren schreiben derartige Wirkungen sogar schon den intensiven Haut- und Körpersensationen bei der natürlichen Geburt zu. Die Tatsache schließlich, daß das Denken vom Handeln kommt, hat eine oft übersehene, eminent praktische und zugleich in einem tiefen Sinn erkenntnistheoretische Bedeutung: Wir müssen immer wieder im konkreten Wortsinn handeln, Hand anlegen, handarbeiten, um unser Denken, unsere Theorien zu überprüfen. Dies gilt generell, aber es gilt auch, und zwar sehr primär, vom direkten körperlichen Handeln, von dem hier die Rede ist. Es gibt Anhaltspunkte für die Annahme, daß die Evolution des menschlichen Geistes engstens mit der Evolution seiner Hand zusammenhängt. Auffällig ist jedenfalls, daß diese im menschlichen Gehirn – genauer: in den präzentralen motorischen Rindenregionen – bei weitem überrepräsentiert ist: Sie nimmt dort fast ebensoviel Raum ein wie der ganze übrige Körper; zugleich sind alle der Hand zugeordneten Areale mit praktisch der gesamten Hirnrinde vernetzt. Konkretes motorisches Handeln und Handanlegen, so nebensächlich es im Zeitalter von Automobil, Flugzeug, Cyberspace oder »künstlicher Intelligenz« und der weltumspannenden Mediennetze und -aktionen auch scheinen mag, führt uns immer wieder auf einfachste Weise zu unseren Ursprüngen, zum »Eigentlichen« zurück: Es »erdet« uns und holt uns herab aus dem ungeheuerlichen künstlichen Überbau, in den wir uns mit unseren allgegenwärtigen Zeit- und Raumraffmaschinen, unseren Computern, Kunstlandschaften, Bild- und Musikkonserven

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immer verheerender verstiegen haben. Denn unsere primäre (oder erste und gewiß auch letzte) Wirklichkeit ist, all diesen Kunstwelten zum Trotz, immer wieder der Körper. Der heilsame Effekt des körperlichen Handelns beruht auf der Tatsache, daß wir erst im Handanlegen wieder zu erleben vermögen, wie die Welt konkret beschaffen ist und wo und wie wir uns eigentlich befinden: Beim Jäten, Wandern, Holzspalten, beim Singen und Spielen und Laufen finden wir ganz von selbst einen Zugang zu den uns gemäßesten, weil über Jahrmillionen von der Evolution als unsere »Natur« herausselektionierten Zeiten und Räumen, Rhythmen und Geschwindigkeiten – und merken vielleicht erst dann auch wieder, wo unsere elementare Lust sitzt, und beginnen somit auch lustvoll zu denken: zum Beispiel ans Lieben und Streicheln und an all das, was sonst noch möglich wäre mit etwas mehr langsamer Liebeslogik, anstelle einer geschwindigkeitsbesessenen Angst- oder Wutlogik. Zum Abschluß dieser köperzentrierten Überlegungen noch eine Bemerkung zum körperlichen und auch psychischen Kranksein. Was ich hier vertreten habe, zielt auf eine Harmonisierung von Fühlen und Denken und zugleich von Körper und Geist ab. Es liegt also durchaus auf der Linie des antiken Mottos der »mens sana in corpore sano« und scheint damit für Krankheit oder Invalidität wenig Raum zu lassen. Indessen gibt es – wie gerade die Invaliden uns oft in großartiger Weise vordemonstrieren – kerngesunde Anteile im kränksten Körper und auch im kränksten Geist – und um diese und deren Nutzung und Mobilisierung geht es letztlich bei jeder Art von Therapie. Dies gilt selbst noch für das Kranksein zum Tod: Leid, Schmerz, Beschränkung und Sterben gehören zum Leben wie das Dunkel zum Licht, die Nacht zum Tag. In Kapitel 3 habe ich auch schon auf die tiefe erkenntnisfördernde Bedeutung von Leid und Schmerz hingewiesen. Auch auf ein Annehmen und Einbeziehen all dieser Nachtseiten sollte also eine sämtliche Affekte gleichermaßen integrierende Affektlogik hinzielen.

Alltagspraktische Implikationen Die meisten von der Affektlogik ableitbaren Regeln, die sich für die psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis als wichtig erwiesen haben, spielen in abgewandelter Form ebenfalls im Alltag eine Rolle. – Doch was ist (wie wir uns schon einmal fragten) eigentlich der Alltag? Alles und doch nichts prägnant Faßbares: der Beruf und die Familie, die Freizeit, die Schule, die Stadt, in der wir gerade herumspazieren, das Ein-

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kaufen und Autofahren und Herumreisen, die täglichen Horrormeldungen in Radio und Fernsehen, das Zeitungslesen, Flanieren und Zigarettenrauchen, der Tagesärger, das Essen und Trinken, das Schlafen, das Lieben, das Streiten ... Wo also sollen wir mit unserer Analyse ansetzen, um die Allgegenwart von Affektregulationen oder -manipulationen – und damit die alltagspraktischen Implikationen und Anwendungsmöglicheiten der fraktalen Affektlogik – zu fassen? Das Alltägliche ist das Selbstverständliche, das früher einmal außerordentlich war – und gerade deshalb spielen, wie wir schon vielfach gesehen haben, Operatorwirkungen von Affekten darin auch dort, wo wir sie am wenigsten vermuten, untergründig weiterhin eine bedeutsame Rolle. Eine der wichtigsten Anwendungen der fraktalen Affektlogik im psychosozialen Alltagsgeschehen ist es deshalb, ursprünglich Hochemotionales zu banalisieren und automatisieren und damit ins Unbewußte zu versenken. Nichts anderes ist in der Tat das Ziel jeder geschickten Werbung und Propaganda, nichts anderes versuchen Verkäufer und Politiker mit ihren Kunden, und nichts anderes unternimmt auch der Lehrer in der Schule, der Professor an der Universität, wenn er seinen Zöglingen etwas beizubringen versucht, das ihnen zunächst als enorm kompliziert und schwierig, vielleicht auch erregend neu erscheint, aber nach einiger Zeit, wenn es »begriffen« ist, unweigerlich zum »alten Hut«, das heißt zur Selbstverständlichkeit wird, die als solche nun ohne Mühe in neue und komplexere Konstruktionen eingebaut werden kann. Wenn wir derartige Prozesse, die es in unendlicher Fülle überall im Alltag gibt, aus der affektlogischen Perspektive noch etwas näher unter die Lupe nehmen, so stoßen wir zunächst wiederum auf das schon im psychopathologisch-psychotherapeutischen Bereich als wichtig erkannte Phänomen des Einflusses von Stimmung und Gestimmtheit, von Stimmigkeit und Unstimmigkeit, und des Stellenwerts des Einstimmens, Umstimmens, Bestimmens und Abstimmens. Emotionale Stimmigkeit oder Unstimmigkeit entscheidet wesentlich über den Erfolg von Kollaboration und Kommunikation in Alltagssituationen aller Art. Aufgaben, die die Zusammenarbeit mehrerer Personen erfordern, sind ohne eine gemeinsame affektive »Wellenlänge« nicht zu lösen. Untergründige Mißstimmungen, die von einem Streit oder ungelösten Dauerkonflikt her die Kommunikation und auch Perzeption des Partners und seiner Aktionen vergiften, beeinträchtigen nicht nur das allseitige Lebens- und Selbstwertgefühl, sondern auch die kreativen Fähigkeiten aller Beteiligten zum Finden von konstruktiven Sachlösungen. Dies gilt in Ehe und Familie so gut wie im Beruf oder bei irgendwelchen Freizeitaktivitäten. Die alltagspraktische Nutzanwen-

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dung aus dieser Einsicht lautet dahin, daß es dringlich ist, vor allen weiteren Lösungsversuchen eine solche emotionale Übereinstimmung dort, wo sie fehlt, im offenen Gespräch zu suchen, das heißt, vorliegende Unstimmigkeiten nicht einfach zu verdecken. Wie dies, über die jedermann geläufigen intuitiven Alltagtechniken hinaus, konkret geschehen kann, wird heute von unzähligen Kursen und »Supervisionen« für Kommunikationsschulung in den verschiedensten Lebensbereichen vermittelt. Hervorzuheben ist hierzu aus unserer Perspektive nur, daß alle Ansätze, die meinen, die Gefühlsseite etwa in Planungs- und Organisationsaufgaben, Berufskonflikten, Paar- oder Familienberatungen einfach vernachlässigen zu dürfen, mit großer Wahrscheinlichkeit früher oder später Schiffbruch erleiden müssen. Im übrigen gelten hier praktisch dieselben allgemeinen Regeln und Leitlinien, wie wir sie weiter oben schon für die Psychotherapie herausgearbeitet haben. Der Grund hierfür ist, daß gleich wie dort natürlich ebenfalls in jeder Form von Alltagskommunikation, gehe es nun um ein gewöhnliches Kundengespräch, um einen Vortrag, eine Rede oder um ein Streitgespräch oder eine schwierige Verhandlung, die wesentlichen Vehikel oder Vektoren der kognitiven Inhalte, die da mit-geteilt werden sollen, immer wieder die tragenden Affekte sind. Ohne eine gemeinsame Basis, die durch absichtliches oder intuitives emotionales Einstimmen hergestellt wird, bleibt deshalb auch im Alltag eine kognitive Mitteilung praktisch wirkungslos: Sie wird nicht zur In-formation im affektlogischen Sinn dieses Begriffs. Geschickte Kommunikatoren, ganz gleich, ob sie Staubsauger oder ein politisches Programm zu verkaufen haben, verfügen über unzählige Tricks, um ihre Klienten unvermerkt auf eine möglichst günstige »emotionale Wellenlänge« einzustimmen, von der schon im Altertum berühmten »captatio benevolentiae« (wörtlich dem »Einfangen des guten Willens«), mit dem die römischen Rhetoren sich zu Beginn ihrer Rede mit bescheidenen Worten dem Publikum sympathisch zu machen suchten, bis zu den mehr oder weniger geglückten Anbiederungsversuchen des wildfremden Vertreters oder Versicherungsagenten von heute, der seine verlockenden Angebote mit Hinweisen auf irgendwelche Gemeinsamkeiten der Kleidung, Sprache oder Herkunft zu durchsetzen pflegt. Auch Witze oder Anzüglichkeiten auf Kosten von beidseits unbeliebten Dritten sind bei solchen Gelegenheiten beliebt; die erstaunlich verbindenden Wirkungen eines gemeinsamen Gegners – eines Sündenbocks, der Divergenzen verdeckt und Konvergenzen des Fühlens und Denkens schafft, wo vorher keine waren – sind ebenfalls von alters her bekannt. Wichtig ist entsprechend den früher aufgestellten Regeln allerdings immer wieder, daß beim Partner jeweils affektiv-kognitive Strukturen angesprochen und zum

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Schwingen gebracht werden, die ein Stück weit im vornhinein schon vorhanden und auch affektiv ähnlich besetzt sind. Ist dies nicht der Fall, so wecken solche Manipulationsversuche nichts als Mißstimmung, und anstatt der erhofften positiven Effekte von guten Gefühlen treten nun die trennenden und demotivierenden Schaltwirkungen von negativen Affekten in Aktion. Moderne aggressive Verkaufstechniken haben derartige »Stimmungsmache« bekanntlich bis zu ganzen Teegesellschaften und Reiseveranstaltungen für Jahrgänger, Rentner und alle möglichen weiteren Zielgruppen ausgebaut. Überall geht es dabei darum, die Teilnehmer unter Ausnützung des Phänomens der emotionalen Ansteckung kollektiv in eine euphorische Grundstimmung zu versetzen und diese dann geschickt mit dem zu verkaufenden Produkt zu verbinden. Nicht umsonst spielen Süßigkeiten, Alkohol und andere »positive Reize« dabei eine zentrale Rolle. In der allgemeinen Verkaufs- und Reklametechnik wird als emotionaler Lockvogel ihrer überlegenen unbewußten Wirkungen wegen ganz vorwiegend die Sexualität benutzt; offene oder versteckte erotische Reize werden zu Werbezwecken deshalb bekanntlich systematisch mit den heterogensten kognitiven Objekten verknüpft. Andere übermächtige Affektmotoren, die vor allem im Journalismus und beim Fernsehen immer wieder zur Erhöhung von Auflagen und Einschaltquoten eingesetzt werden, sind Aggressivität und Gewaltszenen; daß solche auf so großes Interesse stoßen, könnte mit dem früher einmal erwähnten hohen Aggressionspotential zu tun haben, das den Homo sapiens sapiens möglicherweise aus evolutionären Gründen auszeichnet. Ein weiteres überall angewandtes Mittel, um das Denken über emotionale »Schienen« in die gewünschten Bahnen zu lenken, ist die Musik. In jedem Gastlokal, im Supermarkt, Kleiderladen, Hotel, ja neuerdings sogar in Bahnhöfen und Untergrundstationen soll heutzutage eine passende »Hintergrundmusik« (oder vielmehr ein »Hintergrundmusikterror«, wie es zutreffender eigentlich heißen müßte) für die richtige Stimmung und damit unvermerkt auch das »richtige Denken« sorgen. Indes gibt es wohl weder eine historische noch eine zur Zeit bestehende Gesellschaft, in der die ungeheure Macht von Musik und Rhythmus nicht auf hunderterlei Weisen als Mittel zur emotionalen Einstimmung und Beeinflussung des Denkens ausgenützt worden wäre beziehungsweise wird; ihre Wirkungen reichen von der tiefen religiösen Andacht bis – denken wir nur an die Militärkapellen – zum frohgemuten Töten und Sterben. Ebenso entfaltet der Raum, das Milieu, in welchem solche Ein- und Umstimmungen stattfinden, mächtige, meist aber noch weit unbewuß-

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tere emotionale Effekte. Ein heller und freundlicher Raum zum Beispiel löst die Stimmung, ein düsterer und kalter spannt sie an. Bankkontore, Hotelhallen, Sitzungsräume und Bierkeller vermitteln je eigene affektive Botschaften, die das Denken und Verhalten im betreffenden Raum viel mehr, als gemeinhin angenommen wird, beeinflussen. Gute Innenarchitekten und geschickte Verhandlungsstrategen wissen derartige Wirkungen raffiniert einzusetzten. Ebenso bedeutungsvoll ist emotional – in tiefem Zusammenhang mit dem weiter oben beschriebenen Körperschema und dessen affektiven Konnotationen – die Raumaufteilung und die Position, die verschiedene Protagonisten darin einnehmen: Der Verwaltungsratspräsident beispielsweise sitzt immer ganz »oben«, der unwichtigste Mitarbeiter ganz »unten«, und ausgesprochene Experten und Spezialisten nehmen – nicht selten in einer zweiten Reihe – eine Mittelstellung ein. »Hinten« dagegen ist im Körperschema seit undenklichen Zeiten mit Angst belegt, und deshalb sind hinter den wichtigsten Exponenten einzig Vertrauensleute, niemals aber Feinde positioniert. Aber auch »rechts« und »links« und »gegenüber« haben seit jeher weitgehend kulturunabhängige, weil wohl schon evolutionär verankerte affektive Bedeutungen: Zur (stärkeren) Rechten ist der wichtigste, zur (schwächeren) Linken nur der zweitwichtigste Ehrenplatz. »Rechts« und »recht« ist in vielen Sprachen affektiv positiv, »links« und »linkisch« dagegen negativ befrachtet. Und wer gegenüber sitzt, ist entweder ebenbürtiger Partner oder Gegner. Neben den räumlichen sind ebenfalls die zeitlichen Verhältnisse in spezifischer, aber teilweise ambivalenter Weise affektiv konnotiert: So wird »langsam« (mit Bezug zu langweilig, mühsam, bedrückt-depressiv-traurig) in unserer Kultur vorwiegend mit negativen Gefühlen assoziiert, kann aber in bestimmtem Kontext auch eine positive Bedeutung (im Sinn von »ruhig, überlegt, folgerichtig«) annehmen. Schnelligkeit, größere Geschwindigkeit dagegen, die in erster Linie mit Bedeutungen wie »leicht, fröhlich, speditiv, mühelos« verknüpft sind, erscheinen zunächst fast durchweg als positiv, vermögen aber (etwa im Sinn von hastig, hektisch, zerhackt, fahrig oder gefährlich-unüberlegt) gelegentlich ebenfalls in ihr Gegenteil umzukippen. Ganz ähnlich ist es mit »neu« und »alt« (ebenfalls zeitliche Dimensionen), wobei heutzutage fast alles, was neu ist, zunächst ganz automatisch zugleich als besser als das Alte beurteilt wird. Auch aus diesen automatisierten Affektkonnotationen ergeben sich im Alltag zahlreiche Konsequenzen. So beruht ein enormer Anteil des Erfolgs von Neuerfindungen auf der wie selbstverständlichen Annahme, daß »schneller« zugleich immer auch »besser« bedeute: Keine Frage offenbar, daß es gut (und nur gut) ist, immer noch rascher von

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Kontinent zu Kontinent zu fliegen, obwohl die dadurch angeblich »gesparte Zeit« längst schon keine zusätzliche Ruhe und Muße, sondern bloß noch mehr Hektik mit sich bringt, von zahllosen weiteren individuellen wie kollektiven negativen »Nebenwirkungen« ganz zu schweigen. Ebenso paradox ist es, sich selbst noch die letzte Handarbeit oder sonstige körperliche Anstrengung von Maschinen abnehmen zu lassen oder Botschaften bis ins hinterste persönliche Refugium hinein immer noch schneller drahtlos um die Welt zu jagen, nur um dann die resultierende Streßneurose durch langwierige Psychotherapie, die Fettleibigkeit und Muskelschwäche durch teure Abmagerungskuren oder Fitneßprozeduren und die als Automatisierungs- und Rationalisierungsfolge steigende »strukturelle« Arbeitslosigkeit durch noch viel teuerere Wirtschaftstherapien zu bekämpfen – erneut von zahllosen ungünstigen »Nebenwirkungen« ganz abgesehen. Genau wie aufgrund der affektlogischen Theorie zu erwarten, erweist sich ebenfalls die wissenschaftlich-technisch-ökonomische »Logik« (die Art der Selektion, Verknüpfung und Hierarchisierung von kognitiven Elementen technisch-wissenschaftlicher Art), die die »Kehrseiten« und »Nebenwirkungen« der genannten »Fortschritte« größtenteils verdrängt, im Alltag auf Schritt und Tritt als affektunterlegt. Die Theorie der Affektlogik deckt indes nicht nur die darin wirksamen emotionalen Mechanismen auf, sondern liefert außerdem Anhaltpunkte dafür, wie die zum Teil verhängnisvollen affektiv-kognitiven Wechselwirkungen, die dabei ablaufen, allenfalls in der Praxis umpolbar sein könnten: prinzipiell genauso, wie sie entstanden sind, also entweder über spontane Veränderungen der automatisierten Koppelung zwischen bestimmten Kognitionen einerseits und Lust/Unlusterfahrungen andererseits als Folge von emotional einschneidenden Erlebnissen (wie etwa von Industriekatastrophen vom Tschernobyloder Bophaltypus, die bei vielen Menschen die wie »selbstverständliche« Koppelung zwischen technischem Fortschritt und Euphorie entscheidend erschütterten) oder aber über eine bewußt gewollte und gewählte andere Verknüpfung von anders selektionierten und gewichteten Kognitionen aufgrund einer veränderten Einstellung und Grundstimmung. Daß auch auf dem kollektiven Niveau relativ kurzfristige Umstellungen von lange Zeit ganz selbstverständlichen Fühl- und Denkverknüpfungen durchaus vorkommen, zeigt eindrucksvoll ein aktuelles Beispiel mitten aus dem Alltag: nämlich die noch vor wenigen Jahren von niemandem geahnte tiefe emotional-kognitive Wandlung, die sich in bezug auf das Zigarettenrauchen zur Zeit von den USA aus über fast die ganze westliche Welt ausbreitet. Daß ähnlich eines Tages auch

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gegen den aktuellen Geschwindigkeitsfimmel einmal eine sinnvolle Gegenbewegung einsetzen könnte, die etwa auf Verlangsamung statt Beschleunigung vielfältigster Lebensbezüge abzielen würde, scheint allerdings zur Zeit noch völlig utopisch. Das Umpolen und Umstimmen ist im Vergleich zum bloßen Einstimmen eine höhere Kunst, die indessen – um wieder auf ein besser überschaubares Mikroniveau zurückzukehren – mit Vorteil ebenfalls mit einer Einstimmung beginnt. Beim Umstimmen geht es bekanntlich darum, dem Partner eine Brücke zu bauen – wir könnten auch sagen, den Beginn einer Fühl-, Denk- und Verhaltensschiene zu konstruieren –, über welche er von seiner affektiv-kognitiven Eigenwelt in eine andere hinübergelotst werden kann. Auch geschickte Umstimmer, wie es etwa politische oder religiöse Agenten sein können, schaffen deshalb zunächst mit irgendwelchen Mitteln eine positive gemeinsame Grundstimmung – eine »persönliche Vertrauensbasis«, wie man sagt – und suchen gleichzeitig die Fühl- und Denkweisen des Partners zu verstehen, bevor sie an einer emotional labilen Stelle mit ihrer Argumentation ansetzen. Im Unterkapitel über die Sekten (im Kapitel 7) haben wir einige der Techniken und Mechanismen näher kennengelernt, die dabei zur Anwendung gelangen. Ebenfalls sehr deutlich wurde bei diesen Beispielen, wie sich von derartigen »Brückenköpfen« aus, immer in die gleiche, einmal als Basis etablierte positive Grundstimmung eingebettet, mit der Zeit neuartige affektiv-kognitive »Eigenwelten« zu entfalten vermögen, die mit der Ausgangssituation unter Umständen nur noch sehr wenig zu tun haben. Prinzipiell nichts anderes läuft bei den unzähligen kleineren Umstimmungen ab, die wir im Alltag beobachten, so etwa wenn ein langjähriger »Fan« eines Sportklubs (oder einer Automarke, einer Partei oder Person) seine Vorlieben wechselt und von einem bestimmten Moment an dann ganz anders fühlt und denkt und handelt als bisher: Die vorher intensiv positiven Affektfärbungen der alten »Schienen« sind dabei verblaßt oder haben sich sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Neben solchen auf einen umschriebenen Bereich begrenzten affektiv-kognitiven Umstimmungen, die sehr häufig sind, gibt es mehr am Rand des Alltäglichen zuweilen ebenfalls plötzliche Umstellungen des Fühlens, Denkens und Verhaltens von umfassender Art – eigentliche Bekehrungserlebnisse –, die strukturell und dynamisch den früher beschriebenen nichtlinearen Entwicklungssprüngen zur Psychose durchaus entsprechen. Solches passiert hie und da nicht nur im politischen oder religiösen Bereich, wo Ideologien im vornhinein eine zentrale Rolle spielen. Auch unter dem Einfluß beispielsweise einer intensiven Liebesbeziehung, einer schweren Krankheit oder eines anderen tief

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eingreifenden Erlebnisses vermögen sich ganze Wertsysteme, Geschmacksrichtungen und Lebensgewohnheiten sprunghaft zu verändern. Die Mechanismen, die dabei spontan ablaufen, aber ebenfalls durch spezielle Destabilisierungstechniken von außen provoziert werden können, entsprechen dem weiter oben beschriebenen »Aufheizen« von automatisierten affektiv-kognitiven Bezugssystemen bis zu einem kritischen Punkt, an welchem das ganze bisherige Fühl-, Denk- und Verhaltensgefüge nicht mehr viabel wird und durch ein von Grund auf andersartiges ersetzt werden muß. Derartige Prozesse sind – allerdings außerhalb des Alltagsbereichs – vor Jahrzehnten schon von William Sargant (1957), einem bekannten englischen Psychiater, eindrucksvoll beschrieben worden. Sargant stützte sich dabei auf die Untersuchung der seinerzeit viel diskutierten kommunistischen »Gehirnwäsche«-Prozeduren, die er mit Voodoo-Praktiken und religiösen Bekehrungstechniken verglich. Gemäß der modernen Krisenforschung und -theorie sind prinzipiell ganz analoge Mechanismen ebenfalls in gewöhnlichen Lebens-, Beziehungs oder auch Betriebskrisen aller Art wirksam (Ciompi 1993b). Praktisch ausnutzbar werden darin manchmal auch die früher beschriebenen »Schmetterlingseffekte«, indem gewisse sonst ganz randständige Ideen, Bilder oder Verhaltensmuster, die auf dem Höhepunkt einer spontanen (oder auch künstlich induzierten) Krise unvermerkt ins labilisierte »System« eingeschleust werden, von einem bestimmten Moment an als Ordnungsparameter zu wirken, in der Folge das ganze Feld zu »versklaven« und auf diese Weise ganz ungeahnte Langzeiteffekte zu entfalten vermögen. Nicht zu vergessen ist schließlich, daß aufgrund der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeiten von Affektwirkungen vom individuellen über den mikrosozialen bis zum makrosozialen Feld im Prinzip praktisch alle bisher vorwiegend im kleinen beschriebenen Alltagsanwendungen der fraktalen Affektlogik mutatis mutandis auf den politischen und sozialen Makro-Alltag übertragbar werden. Tatsächlich geht es auch dort auf allen Ebenen eminent um emotionale Kommunikation, und emotionale »Schalter« und »Träger« für kognitive Inhalte spielen hier ebenfalls überall eine entscheidende Rolle. Denn auch im sozialen und politischen Bereich handelt es sich, wie bereits angedeutet, vielfach darum, bestimmte Personen und Programme zu »verkaufen«, und auch hier gelingt solches – wie namentlich bei großen Wahlkampagnen etwa vom Typus der amerikanischen Präsidentschaftswahlen und Parteikonvente sehr augenfällig wird – nur über gezielt auf positiven Affektwellen reitende kollektive affektiv-kognitive Ein-, Ab- und Umstimmungstechniken. Ebenso gezielt werden gerade im politischen

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Alltag trennende und distanzierende Operatorwirkungen von negativen Affekten wie Angst, Wut, Haß und Verachtung, auch Abscheu oder Ekel massiv eingesetzt, um die gegnerischen Ideen, Parteien und Personen zu verunglimpfen. Mit analogen Affektmitteln können, wie aktuelle Beispiele zeigen, unter Umständen ganze Länder systematisch aus der internationalen Gemeinschaft herausmanipuliert werden. Wie sekundär im Vergleich zu solchen, alles Denken im vorhinein kanalisierenden affektiven Grundstimmungen und »Besetzungen« die kognitiven Inhalte und Ideologien (um die es freilich auch geht) in vielen Fällen sind, zeigt sich nirgends so deutlich wie beim Versuch, gegensätzliche Alltagsweltbilder oder -logiken aus dem makrosozialen Feld (etwa Schwarz versus Weiß, Nord versus Süd, Asien versus Europa, Israel versus die arabischen Länder, USA versus Kuba etc.) aus affektlogischer Perspektive möglichst »unvoreingenommen« (wenn dies überhaupt möglich wäre) miteinander zu vergleichen: Alle diese affektiv-kognitiven »Eigenwelten« entwickeln und propagieren, immer unter Verdrängung von affektiv unpassenden Gegenwahrheiten, eine in sich kognitiv durchaus konsistente Logik und Weltsicht. Dennoch sind ihre Ergebnisse affektiv und kognitiv oft völlig unvereinbar. Trotz diametral entgegengesetzten kognitiven Inhalten scheint indessen die jeweilige »Affekt-Kognitionsbalance« – die Verteilung aller verfügbaren Grundaffekte auf die verfügbaren Kognitionen – von solchen »Eigenwelten« strukturell und formal ganz gleichartig zu sein, was einmal mehr für die Wirkung von identischen affektenergetischen Grundmechanismen in Fühl- und Denksystemen beliebiger Art spricht. Freilich treten gerade bei der Übertragung der affektlogischen Theorie und deren Anwendungen ins Makrosoziale zugleich die Grenzen einer zu einseitig bloß auf die Schaltwirkungen der Affekte gegründeten Sicht der Dinge zutage. Speziell auch im makrosozialen Raum fordert von einem bestimmten Punkt an ebenfalls »die Kognition« – das Erkennen und Verarbeiten von konkreten Unterschieden, wie wir definiert haben – mit Macht ihr Recht. Denn einfach beliebige kognitive Systeme oder Weltbilder lassen sich auf Dauer wohl selbst mit den raffiniertesten emotionalen Techniken ebensowenig induzieren, wie es gelingt, die Menschen für längere Zeit zu beliebigen Verhaltensweisen zu veranlassen. Die Grenze, um die es geht, ist wiederum die Viabilität: Kognitive Konstrukte und entsprechende Verhaltensweisen, die aus vitalen Gründen nicht viabel sind – nicht realistisch genug, würden wir in der Alltagssprache einfacher sagen – müssen früher oder später an der harten »Natur der Dinge« zerschellen. Wir stoßen also hier einmal mehr auf den erkenntnistheoretischen Grundsachverhalt, der uns ver-

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anlaßt hat, für einen nur relativen statt radikalen Konstruktivismus zu plädieren. Als Beleg hierfür können wir uns an das im ersten Kapitel herangezogene Beispiel eines fiktiven Welt- oder Menschenbildes erinnern, das auf der affektlogisch mit allen Mitteln befestigten größenwahnsinnigen Überzeugung gründen würde, der Mensch sei (ohne Hilfsmittel) imstande zu fliegen. Wie leicht einzusehen (und gelegentlich bei Wahnkranken auch konkret zu beobachten), wäre eine derartige Vorstellung in keiner Weise viabel. Es darf vermutet werden, daß analoge Fragen der Viabilität längerfristig ebenfalls für das Gelingen oder Scheitern von kollektiven Ideologien und Gesellschaftsformen mit verantwortlich sind. Der Bogen der alltäglichen Implikationen einer fraktalen Affektlogik ließe sich, wie mit diesen Überlegungen wohl deutlich geworden ist, noch sehr viel weiter spannen, was hier indessen nicht beabsichtigt ist. Nur noch auf einige der eingangs angedeuteten potentiellen Gefahren dieser Theorie und andererseits auch auf gewisse alltagspraktische »Anwendungen« von positiven Gefühlen wie Freude, Liebe, Hoffnung wollen wir zum Abschluß noch kurz eingehen.

Ängste, Gefahren, Hoffnungen Bereits im vorhergehenden ist da und dort ansatzweise deutlich geworden, daß es Anwendungsmöglichkeiten der fraktalen Affektlogik gibt, die angst machen können und meines Erachtens auch sollen. Angst ist, wir haben es gesehen, ein an sich durchaus sinnvolles Gefühl, denn es warnt und beschützt vor möglichen Gefahren. Gleichzeitig wohnt der Angst aber, da sie sich (gleich wie die Hoffnung) immer auf noch Ungeschehenes oder Nichtgewußtes bezieht, eine fundamentale Ungewißheit – man könnte auch sagen, ein wahnhaftes Element – inne. Ob das Angstgefühl berechtigt war oder nicht, weiß man immer erst im nachhinein. So mag es auch bei den vielleicht Science-fiction-artig anmutenden Ängsten sein, die man vor einer allzu präzisen wissenschaftlichen Erhellung und Anwendung der Lehre von den Wirkungen der Affekte auf das Denken haben kann. Keinerlei Zweifel ist jedenfalls an der Tatsache möglich, daß sich in naher Zukunft unsere in letzter Zeit stetig gewachsenen Erkenntnisse zu den biologisch-zerebralen Grundlagen von Fühlen und Denken noch beträchtlich vertiefen und präzisieren werden. Je genauer uns aber diese Grundlagen bekannt sein werden, um so eher werden wir in der Lage sein, Gefühle qualitativ und quantitiv präzise zu erfassen und

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damit auch immer gezielter (zum Beispiel mittels Psychopharmaka, Psychochirurgie und in absehbarer Zeit vermutlich ebenfalls mittels Gentechnologie) zu beeinflussen. Über kurz oder lang wird es aller Wahrscheinlichkeit nach möglich werden, die Einstellung der »Gefühlsgeneratoren« beinahe nach Belieben zu manipulieren. Gleichzeitig nähert sich unser Wissen um die Wirkungen der Affekte auf das Denken einem Stand an, der es erlaubt, Theorien von der Art der fraktalen Affektlogik mathematisch zu formalisieren und in dynamischen Computermodellen zu simulieren. Damit aber drohen – immer vorausgesetzt, daß diese Theorien zumindest im groben stimmen – aus heutiger Sicht unter anderem die folgenden Gefahren: Es könnte ja sein, daß unsere Überlegungen nicht nur von relativ harmlosen Psychotherapeuten und Verkaufs- oder Werbefachleuten aufgegriffen würden, sondern ebenfalls von skrupellosen Machern oder Extremisten aus irgendwelchen religiösen, politisch-ideologischen oder auch fundamentalkapitalistischen Lagern, schlimmstenfalls von genialen Demagogen und Propagandisten für die schlechte Sache vom Schlage der Goebbels und Hitler. Solche Leute aber könnten auf die Idee kommen, für ihre Zwecke künftig mit den Mitteln einer affektzentrierten wissenschaftlichen Technologie, statt wie bisher bloß mit intuitiven und sozusagen handwerklichen Mitteln, noch weit effizientere haß- und wutbestimmte affektiv-kognitive »Schienen« und »Eigenwelten« zu konstruieren, wie irgendwelche »Führer« sie auch ohne derartige Hilfsmittel historisch bekanntlich immer wieder konstruiert und mit Erfolg ganzen Bevölkerungen induziert haben. Weitere mögliche Gefahren drohen vermutlich im Bereich der »künstlichen Wirklichkeit« und »künstlichen Intelligenz«. Beide stehen erst ganz am Anfang, entwickeln sich aber ebenfalls rasant und werden mit größter Sicherheit in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in heute noch kaum vorstellbarer Weise an Raffinement und Effizienz zunehmen. Schon sind die Spezialisten daran, sich vom bisher einseitig kognitivistischen Ansatz zu lösen und das überall aufkeimende Wissen von den affektiv-kognitiven Wechselwirkungen und ihren Gesetzmäßigkeiten systematisch in ihre Theorie und Technologie einzubeziehen. Keine Frage, daß beide genannten Entwicklungsbereiche (und ihre Kombination) dadurch ganz erheblich an Realitätsnähe gewinnen werden. Und mit zunehmendem computerisiertem Knowhow, das sich hier so gut wie im Schachspiel ergeben wird, wo zur Zeit (1996) gerade noch der Weltmeister Gary Kasparow knapp mit den besten »intelligenten Maschinen« schrittzuhalten vermochte (ein Pyrrhussieg, der als solcher nicht erkannt und deshalb vorlaut als Sieg des

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Menschen über die Maschine gefeiert wurde)*, wird diese Effizienz beängstigend werden. – Zum Guten? Zum Schlechten? – Beides ist möglich und wahrscheinlich: also ebenfalls das letztere. Eine dritte Variante: Die Nase ist auch beim Menschen ein ungemein feiner und verhaltenswirksamer Chemorezeptor. Seit Jahrzehnten ist man im Begriff, die enormen emotionalen Effekte von Geruchsreizen aller Art wissenschaftlich zu erforschen. Was alles man mit einer genügend weit getriebenen olfaktorischen Technologie potentiell etwa anstellen könnte, hat Patrick Süskind (1985) in seinem Bestseller »Das Parfum« dichterisch gestaltet. Gut bekannt und auch schon in verschiedenster Weise genutzt sind bereits die weitgehend unbewußten Wirkungen von sexuellen Duftstoffen – der sogenannten Pheromone – auf das menschliche Paarungsverhalten. Indessen spricht manches dafür, daß ganz ähnlich noch ganz andere Verhaltensweisen – zum Beispiel besonders aggressive oder besonders unterwürfige – über unterschwellige Geruchsreize konditionierbar sind. Ist es abwegig zu befürchten, daß die großflächige Beeinflussung des psychischen Zustands ganzer Bevölkerungen über Geruchsreize – statt dem Giftgas könnten ja auch olfaktorische Psychopharmaka versprüht werden – in nicht allzu ferner Zeit in den Bereich des Machbaren rücken wird? Direkt von der Theorie einer selbstähnlichen Gültigkeit der beschriebenen affektiv-kognitiven Gesetzmäßigkeiten auf beliebiger hierarchischer Ebene ableitbar ist des weiteren die Befürchtung, daß »fraktal« gleichermaßen ihr Mißbrauch vom individuellen und punktuellen Mikrobereich bis zum kollektiven und langfristigen Makrobereich ins Unermeßliche wachsen könnte. Denn was möglich und machbar ist, das wird – dies zumindest lehrt, wenn irgend etwas, die Geschichte: man denke nur an die chemische und biologische Kriegsführung, die Atombombe, auch an die allen Warnungen zum Trotz immer unaufhaltsamer auf massive finanzträchtige Nutzungen hinrollende Gentechnologie – von irgendwelchen Technikern und Wissenschaftlern früher oder später zumindest mal ausprobiert. Was anderes, wenn nicht allzu leicht als »irrationale Gefühle« abgetane Ängste gegen ungebremste wissenschaftliche »Fortschritte« solcher Art vermöchte uns denn zu veranlassen, die drohenden Gefahren überhaupt noch zu beachten und gleichzeitig das individuelle wie kollektive Denken sowohl auf mögliche Schutz- und Gegenmaßnahmen wie auch auf alternative Ziele und Werte hinzulenken?

* Inzwischen (1997) ist bekanntlich auch dieser Sieg bereits Vergangenheit…

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Zusammenfassend besteht, affektlogisch formuliert, die Angst vor einem möglichen Mißbrauch des Wissens um die Wirkung von Affekten auf das Denken darin, daß es ähnlich wie so manche andere wissenschaftliche Erkenntnis irgendeinmal unter den Einfluß von überwiegend nur geldgier- oder, noch schlimmer, wut- und aggressionsbestimmten Affektattraktoren gelangen und damit statt der oben skizzierten positiven Effekte auch sein zerstörerisches Potential entfalten könnte. Horrorvisionen? – Vielleicht. Hoffentlich! – Und damit wären wir beim Stichwort »Hoffnung« und anderen »guten Gefühlen« wie Freude und Liebe angelangt, deren alltagspraktische Implikationen, wie schon in einem früheren Kapitel dargelegt, alles in allem mindestens so vielfältig und gewichtig sind wie diejenigen von Angst oder Wut. Halten wir lediglich noch einmal fest, daß jeder kleinste oder größte soziale Zusammenhalt, auch jede Kontinuität ohne sie undenkbar wären, von unzähligen feineren Auswirkungen ganz zu schweigen. Einige davon werden auch im Schlußkapitel noch einmal zur Sprache kommen. Auf einen Sonderaspekt mit vielen direkten Bezügen zur Praxis, nämlich auf mögliche »Anwendungen« der fördernden Wirkung von positiven Gefühlen auf die sowohl alltagspraktische wie künstlerische oder wissenschaftliche Kreativität, will ich indes an dieser Stelle noch kurz eingehen. Das Finden von kreativen Lösungen beruht nach unserer Theorie, emotional gesehen, auf einer lustvollen Entspannung, die viel mehr als eine bloße emotionale Begleit- oder Folgeerscheinung einer jeden geglückten Entdeckung ist und zentral mit dem affektenergetisch so bedeutsamen Aspekt der Ökonomie durch Komplexitätsreduktion zusammenhängt. Diese Einsicht läßt sich zunächst in eine ganz banale und (wie etwa das Beispiel des kreativen jungen Wissenschaftlers im Kapitel 5 illustriert) vielen Betroffenen längst bekannte praktische Nutzanwendung umsetzen: nämlich daß kreatives Denken im kritischen Moment des höchsten Problembewußtseins am ehesten aus Entspannung und Ablenkung kommt; daß also ein Wissenschaftler, Künstler oder Erfinder gut daran tut, von seinem Thema nach Perioden der vollen Konzentration von Zeit zu Zeit gänzlich abzulassen und etwas völlig anderes zu tun und zu denken – beispielsweise mit Kindern zu spielen, mit der Hand und dem ganzen Körper statt nur mit dem Kopf zu arbeiten, oder auch ganz einfach zu faulenzen. Eine mit letzterem verwandte, aber schon weniger banale Möglichkeit, schöpferisches Denken zu fördern, besteht in der bewußten Verlangsamung des psychischen Tempos auf irgendeine der tausend möglichen Weisen, die hierfür zur Verfügung stehen: beispielsweise durch Verzicht aufs Flug-

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zeug zugunsten der Eisenbahn; auf Eisenbahn oder Auto zugunsten des Fahrrads; auf alle mechanischen Beschleuniger zugunsten des Fußmarsches. Oder durch zeitweiligen Verzicht auf Maschinen und technische Hilfsmittel überhaupt mit Einschluß des elektrischen Lichts, das uns die Nacht zum Tag macht und den Blick auf die Sterne – und damit auf einen grundlegenden »Zusammenhang« erster Ordnung – verdeckt. Andere Wege zu solchen Zusammenhängen öffnen sich durch Meditation, durch Schlafen, durch Stillesein: Fast unweigerlich wird dabei in irgendeiner Weise eine bisher übersehene kleine oder große Schönheit aufleuchten – und wenn einmal Schönheit im Spiel ist, dann ist Kreativität nicht mehr fern. Denn statt von der Ökonomie des kreativen Denkens könnte man auch von seiner Schönheit oder Eleganz reden: Jede Erkenntnis hat eine ästhetische Dimension; Erkennen hat mit dem Sehen von Schönheit zu tun – von intellektueller Schönheit, geistiger Schönheit oder menschlicher Schönheit so gut wie von konkret bild- oder gestalthafter, sensorieller, erlebnis- und gefühlshafter Schönheit. – Genau hier ist wohl der entscheidende Beitrag zu lokalisieren, den Freude, Liebe zu Menschen und Dingen, lustvolles Sein überhaupt lebenspraktisch zu leisten vermögen: Sie öffnen, wie wir früher schon einmal sahen, Geist und Augen; sie verbinden mit einem »Ewigen« oder »Essentiellen«, und sie stellen ebenfalls in uns selbst eine Kontinuität mit einer »gehobenen« Seinsweise her, deren existentieller Stellenwert philosophisch namentlich von Otto Friedrich Bollnow erschlossen worden ist. Diese Interpretation des Wesens der Kreativität, und ebenfalls ihre vorgeschlagene »Nutzanwendung«, wird von vielen schöpferischen Menschen geteilt und bestätigt. Wenn sie stimmt, dann besteht nicht nur aus philosophischen oder religiösen, sondern ebenfalls wohl aus evolutionären und affektwissenschaftlichen Gründen ein gewisser Anlaß zur Hoffnung: Denn dann sollten oder müßten doch die (Lust-)Wege jeder Erkenntnis mit Einschluß derjenigen, die zu einem besseren Verständnis unserer eigenen Psyche hinführen, allen Um- und Abwegen zum Trotz letztlich Wege zu einer Art von größerer Entspannung und Harmonie sein, die wir nicht besser als mit dem Begriff der Schönheit zu bezeichnen vermögen – ein Gedanke, dem wir im nächsten und letzten Kapitel noch weiter nachgehen wollen.

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Zehntes Kapitel Zum Menschenbild der fraktalen Affektlogik und seinen ethischen Konsequenzen – oder: »Denken mit Gefühl«

Die Freiheit ist an sich ein metaphysischer Begriff, wir vermögen sie nicht zu beweisen, unsere Wünsche sind genetisch bestimmt, wir wünschen, was wir wünschen müssen, die Freiheit ist ein Postulat der praktischen Vernunft, ist ein Gefühl, das uns bestimmt, wir fühlen uns unfrei, wenn uns der Wunsch nicht erfüllt wird, den wir wünschen müssen. Friedrich Dürrenmatt (1991)

Die obige Aussage zum Thema der Freiheit machte Friedrich Dürrenmatt, sicher der bedeutendste und zugleich erstaunlichste Schweizer Dichter und Denker der Gegenwart, kurz vor seinem Tod 1991 in seiner umstrittenen Begrüßungsansprache an den tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel »Die Schweiz – ein Gefängnis«. Sie hat Bezug zu den schwierigen Fragen, die uns, weil zwingend aufgeworfen durch unsere Untersuchung, abschließend beschäftigen müssen: Was ist das Bewußtsein und was ist der »Geist«? Gibt es einen freien Willen? Wie steht es mit unserer Verantwortung für das, was wir wünschen und wollen, und was sind die ethischen Konsequenzen des neuen Menschenbildes, das sich aus einer fraktalen Affektlogik ergibt? – Daß wir solche »letzten Fragen« hier nur ganz fragmentarisch und aus unserer besonderen Perspektive zu diskutieren vermögen, versteht sich von selbst.

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Das Problem des Bewußtseins aus der Sicht der Affektlogik Fragestellungen, die mit dem Problem von bewußten oder unbewußten psychischen Vorgängen zusammenhängen, sind uns schon des öfteren begegnet. Mehrfach haben wir auch behauptet, unterschiedliche Affektzustände kämen unterschiedlichen Bewußtseinszuständen gleich. Der Frage jedoch, was wir unter Bewußtsein genauer verstehen wollen, sind wir mit gutem Grund bisher aus dem Weg gegangen. Denn was das Bewußtsein überhaupt sei, inwieweit auch den Tieren ein Bewußtsein und – zumindest den höchsten Primaten – vielleicht sogar eine Art von Selbstbewußtsein eigen sei, ist nach wie vor das wohl größte Rätsel, das sich dem Erforscher der menschlichen Psyche stellt. Die unterschiedlichen Überlegungen und Antworten auf diese Frage würden, wollte man sie im einzelnen zusammentragen, Bände füllen. Besonders spannend haben sie vor Jahren der Hirnforscher Otto Creutzfeldt, der Physiker und Philosoph Carl Friedrich von Weizsäcker und weitere Wissenschaftler und Philosophen diskutiert (Creutzfeldt 1981; vgl. ferner Oeser et al. 1988; Seitelberger 1993; Roth 1994). Ich selbst habe ihnen seinerzeit in der »Affektlogik« (1982) ein eigenes Kapitel gewidmet und dort, gestützt auf Piaget und seinen Begriff der semiotischen oder symbolischen Funktion, vor allem die Beziehungen zwischen Bewußtsein und Sprache zu klären versucht (Ciompi 1982, S. 123 ff.). Die Sprache erwies sich dabei, wie früher schon erwähnt, als für alles menschliche Denken und Handeln insofern zwar hochbedeutsame, aber doch in bezug auf das Bewußtsein insofern bloß sekundäre Erscheinung, als sprachlicher oder sonstwie symbolischer (bildhafter, gestueller …) Ausdruck nicht etwa Ursache, sondern vielmehr offenbar Folge von vorgängig schon außersprachlich erfolgten Bewußtseins- oder Informationsverdichtungsprozessen ist. Bei der Befestigung und Kanalisierung des aus dem handelnden Erleben erwachsenden Bewußtseins in sozial vorgegebene Bahnen spielen Sprache, und soziale Tradition überhaupt, dann freilich die Hauptrolle. Beide prägen und sozialisieren gleichzeitig, wie wir gesehen haben, die Gefühle in kulturspezifischer Weise. Sprache und Bewußtsein sind für uns deshalb ein integrierender Bestandteil der meisten (aber nicht aller) affektiv-kognitiven Bezugssysteme; gleichzeitig besitzt jeder Bewußtseinsinhalt obligat eine affektive Komponente. Auch in bezug auf zwei weitere zentrale Punkte führt die affekttheoretische Sichtweise zu einer Auffassung des Bewußtseins, die sich von einseitig kognitionszentrierten Ansätzen stark unterscheidet: näm-

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lich hinsichtlich der Schlüsselphänomene einerseits der Aufmerksamkeit, und andererseits der Abstraktion. Nach Jaspers (1953, S. 9 ff.) oder auch Scharfetter (1976, S. 25), denen wir hier (wie schon 1982) als Einstieg folgen, ist Bewußtsein zunächst immer »Bewußtsein von etwas«, gerichtete Aufmerksamkeit. Bewußt und auch gewußt ist aktuell nur das, worauf wir gerade aufmerksam sind und sein können, woraufhin unsere Sinne und Vorstellungen aktiviert und konzentriert sind. Bewußtsein kann deshalb in erster Annäherung als »Aufmerksamsein auf etwas« verstanden werden. – Über einen solchen Bewußtseinsbegriff gewinnen wir zwangslos den Anschluß auch zu den Bewußtseinsformen der Tiere: Denn eine ähnlich polarisierte Aufmerksamkeit, ein ähnliches »Wissen von etwas« durch aktiviertes Gerichtetsein auf phylo- oder ontogenetisch erworbene Vor-Stellungen finden wir fraglos bereits bei den Tieren. Erste evolutionäre Ursprünge eines organismischen Bewußtseins dieser Art reichen sogar bis zur Ausrichtung auf einen momentanen Umgebungsreiz, also zur sogenannten Orientierungsreaktion zurück, wie sie in elementarster Form auch noch bei sehr niederen Tieren und, wenn man will, selbst noch bei Pflanzen zu beobachten ist: so etwa bei der Sonnenblume, die sich nach dem Lauf der Sonne dreht und damit – ganz im Sinn der Lorenzschen evolutionären Erkenntnistheorie – tatsächlich schon etwas von der Sonne »erfaßt« und »weiß«. Dieses Aufmerksam- und Gerichtetsein kommt einer selektiven Zuwendung von Energie auf bestimmte äußere oder innere Reize gleich, die nur unter besonderen Bedingungen stattfindet: Wie in Kapitel 3 erklärt, stellt die konzentrierte Zuwendung von Aufmerksamkeit bei Tier wie Mensch eine Art von »energetischem Luxus« dar, der in erster Linie Neuem, potentiell Gefährlichem, Schwierigem und erst zu Erlernendem zugute kommt, während alles Bekannte zunehmend eingeschliffen, automatisiert und damit dem Bewußtseinsfokus sukzessive entrückt wird. Mit wachsender Differenzierung des neuronalen Apparates bis zum Menschen gewinnen diese gerichteten Aktivierungsphänomene fortwährend an Komplexität, unter anderem indem verschiedene Sinnesorgane immer besser untereinander (»multimodal«) verbunden und koordiniert, zunehmend ausgedehnte Gedächtnisspeicher flexibel selektioniert und auf der höchsten Stufe schließlich auch vergangene oder zukunftsgerichtete Vorstellungen (darunter Ängste und Hoffnungen) mit selektiver Aufmerksamkeit belegt werden können. Gleichzeitig werden die aktivierten Inhalte in zunehmend subtiler Art miteinander verrechnet und kombiniert. Bewußtsein im Sinn von »Aufmerksamsein auf etwas« erscheint aus dieser Sicht als ein Prozeß

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der progressiven Bündelung und gleichzeitigen Energetisierung von neuronal über viele Stufen verdichteter Information. Die Energien aber, um die es dabei geht, liefern nach unseren Konzepten wiederum die Affekte (also der körperliche Enegiegenerator). Über die Operatorwirkungen von Grundgefühlen wie Interesse, Angst, Wut, Trauer, Freude spielen affektive Gestimmtheiten zudem bei der Organisation und Selektion von Bewußtseinsinhalten eine entscheidende Rolle. Ähnliches gilt für Bewußtseinsformen wie Benommenheit, Schläfrigkeit und Schlaf, Traum, Ekstase und so weiter, die sich vom mittleren Wachbewußtsein zwar klar unterscheiden, zugleich aber mit unserem breiten Affektbegriff durchaus noch vereinbar sind, da auch sie globalen psycho-physischen Gestimmtheiten oder Gesamtbefindlichkeiten mit je spezifischen Organisations- und Integrationsformen von Fühlen, Denken und Verhalten entsprechen. – Form und Inhalt des Bewußtseins sind also, so dürfen wir sagen, affekt- oder stimmungsorganisiert. Mit dieser Betonung der organisierend-integrierenden Rolle der Affekte treffen wir auf einen weiteren Punkt, in welchem sich der Bewußtseinsbegriff der Affektlogik von einem rein kognitivistischen Ansatz scharf unterscheidet; er führt geradewegs weiter zum Postulat von affektspezifischen Bewußtseinszuständen mit je unterschiedlichen Formen von Denken und Logik. Allerdings wird die Besonderheit des menschlichen Bewußtseins gemeinhin weniger in der bloßen Fähigkeit zum Bewußtsein oder Wissen von etwas, sondern im Bewußtsein seiner selbst, im Selbstbewußtsein gesehen – eine Fähigkeit oder Eigenschaft, die, obwohl erstaunliche Ansätze zu einer Art von Vorstellung von sich selbst in den letzten Jahren auch schon bei den höchsten Primaten festgestellt werden konnten, zweifellos beim Menschen sehr viel weiter geht als bei jedem anderen Tier. Indes ist ebenfalls der Mensch keineswegs ständig seiner selbst bewußt, ganz im Gegenteil: Sehr oft ist er ans Begegnende wenig anders »verloren« als das Tier, so etwa wenn er mit gespannter Aufmerksamkeit – also in gewissem Sinn gerade »sehr bewußt« – irgendeinem faszinierenden Vorgang folgt, wenn er »hingegeben« oder »hingerissen« sich einem Menschen oder einer Sache widmet oder wenn er – wie so oft das Kind – »selbstvergessen« spielt. Das Selbstbewußtsein (und auch die ein wenig anders, nämlich negativ konnotierte selbstkritische »self-consciousness« der Angelsachsen) ist also etwas Besonderes und vergleichsweise Seltenes, wiederum Selektives: Ein deutliches Bewußtsein seiner selbst erscheint nur in bestimmten affektiven Stimmungen in Verbindung mit besonderen kognitiven Reizen – etwa vor einem Spiegel (auch einem metaphorischen »Spiegel« in Form von Lob oder Tadel) oder in einem Gespräch oder einer sonstigen

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Zum Menschenbild der fraktalen Affektlogik

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Reflexion über sich selbst oder den Menschen schlechthin. Sie setzt entscheidend voraus, daß eine Vorstellung eines »Selbst« oder »Ich« vorgängig überhaupt gebildet und vom Nicht-Ich abgegrenzt worden ist, was eine hohe und beim Menschen dank außerordentlicher Abstraktionsfähigkeit maximal weit getriebene Informationsverarbeitungsund zugleich Dezentrationsleistung darstellt. Damit sind wir auch schon beim zweiten Schlüsselphänomen des menschlichen Bewußtseins angelangt, nämlich bei der Abstraktion. Das Wesen der Abstraktion besteht, wie im Kapitel 3 erläutert, im Vorgang des »Ausziehens einer Invarianz«, das heißt im lustvoll-spannungslösenden Finden einer versteckten Gemeinsamkeit in einem zunächst unangenehm heterogenen Durcheinander. Auch bei dieser Komplexitätsreduktion spielen organisierende und integrierende Affektwirkungen fortwährend eine bedeutsame Rolle. Dies zeigt sich besonders deutlich in den frühesten derartigen »Abstraktionen« im ersten Lebensjahr, bei denen – wie namentlich Otto Kernberg (1976, 1980) minutiös nachgewiesen hat – aus der Welt des Begegnenden vorerst nur zwei große gegensätzliche Klassen von Kognitionen »ausgezogen« werden, nämlich eine lustbetonte »Alles-gut-Welt« auf der einen, und eine unlustbetonte »Alles-schlecht-Welt« auf der anderen Seite. In der Folge differenzieren sich diese beiden großen Sammelbecken (oder Attraktoren) durch das zunehmend präzise Erkennen von darin enthaltenen Unterschieden (kognitiven Differenzen) in einem komplexen affektiv-kognitiven Interaktionsprozeß laufend weiter. Zugleich verfeinern sich die genannten elementaren Affektqualitäten und entstehen erste abstraktere Oberbegriffe. So wird ungefähr ab dem achten Monat, nicht ohne spezifische Affektmanifestationen in Form des charakteristischen ängstlichen »Fremdelns«, die Klasse aller fremden Menschen von einer nun bereits recht differenzierten Klasse der »Bekannten« unterschieden. Gleichzeitig beginnt sich – erkennbar unter anderem an der aufkeimenden Fähigkeit zu ersten trotzigen Verweigerungen – ein Oberbegriff eines »Ich« (Selbstrepräsentanz) von den nächsten Bezugspersonen (Objektrepräsentanzen) und auch von unbelebten Gegenständen immer mehr abzugrenzen. Bald einmal finden solche Abgrenzungen beispielsweise in Form eines »Nein!«, »Ich«, »Mama«, »Papa«, »Wauwau« ebenfalls sprachlichen Ausdruck. Beide komplementären Prozesse, Abstraktion und Differenzierung, komplexitätsreduzierende Verdichtung von Information auf einer höheren und zunehmende Auffächerung von Information auf einer tieferen Abstraktionsebene laufen Hand in Hand; gleichzeitig werden Informationen aus verschiedenen Sinnesgebieten immer präziser mit einander kombiniert und koordoniert. In fortwährender Interaktion mit der Umwelt entsteht über einen

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Prozeß der Internalisierung und »Mentalisierung« aus der Aktion dabei selbstorganisatorisch das früher beschriebene Gefüge von affektivkognitiven Bezugssystemen oder »Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen«, das nach unserer Auffassung die Grundlage der Psyche bildet. Und erst dieser ganze, über viele Stufen vorangetriebene Prozeß der Abstraktion durch multimodale Informationsverdichtung und -differenzierung schafft im Verein mit der beschriebenen Bündelung der Aufmerksamkeit schließlich die Voraussetzungen zur Emergenz der Erscheinung, die wir »menschliches Bewußtsein« nennen – das heißt eines zunehmend dichten, scharfen und zugleich weitgespannten »Wissens von etwas«, bis hin zu einem immer differenzierteren »Wissen von sich selbst«. Vieles spricht dabei dafür, daß sich solche Prozesse bei der kollektiven Bewußtseinsentwicklung des Menschen weitgehend ähnlich abgespielt haben wie bei der Bewußtseinsentwicklung des einzelnen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Ebenso scheint die Bewußtseinsverdichtung im Sinn der beschriebenen Bildung von affektiv-kognitiven »Schienen« und »Eigenwelten« auf nur punktueller und auf umfassender Ebene durchaus selbstähnlich zu verlaufen. Mit anderen Worten, auch Genese und Struktur des Bewußtseins stellen aller Wahrscheinlichkeit nach ein typisch fraktales Phänomen dar. Bewußtsein resultiert also, kurz gesagt, aus Aufmerksamkeitszuwendung zu differenziert verdichteter Information. Ein zunehmend klares Bewußtsein von der Welt und von sich selbst emergiert an einem bestimmten Punkt der Kompaktheit und Differenzierung der koordinierten multimodalen Informationsverarbeitung und -speicherung. Zugleich liefern erst weit vorangetriebene derartige Informationszusammenzüge die nötige Grundlage für die Entwicklung von »höheren« oder »moralischen« Gefühlen und Werten, indem nun positive oder negative Gefühle sich an zunehmend komplexe kognitive Oberbegriffe wie beispielsweise »ich« oder »wir«, »die anderen«, »unser Dorf«, »unser Land«, »unsere Kultur« oder gar an noch weit abstraktere Entitäten wie etwa »das Recht« oder »die Weltreligionen« heften können. Aus der Perspektive der fraktalen Affektlogik sind zusammenfassend die folgenden Punkte am wesentlichsten: – Affektiv-kognitive Koppelungen und Wechselwirkungen sind – genau konform mit der ganzen affektlogischen Konzeptualisierung – von allem Anfang an mit Entstehung und Struktur eines Bewußtseins untrennbar verbunden. Auch das Bewußtseins ist somit ein typisch affektiv-kognitives (und nicht etwa bloß kognitives) Phänomen.

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Zum Menschenbild der fraktalen Affektlogik

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– Form und Inhalt des Bewußtseins sind abhängig von der affektiven Grundstimmung; unterschiedliche Affektzustände entsprechen unterschiedlichen Bewußtseinszuständen; Affekte sind die entscheidenden Organisatoren, Integratoren und Aktivatoren (oder »Motoren«, Energielieferanten) des Bewußtseins. – Auch unterschiedliche Grade der Bewußtseinshelligkeit vom Wachzustand über den Schlaf bis zu pathologischen Bewußtseinsveränderungen (zum Beispiel Dämmerzustände) entsprechen unterschiedlichen affektiven Zuständen mit je spezifischen Formen des Denkens und Verhaltens. – Bewußtseinsbildende Prozesse verlaufen selbstähnlich auf individuellen wie kollektiven Ebenen beliebiger Größenordnung. Das Bewußtsein ist ein typisch fraktales Phänomen. Vielleicht dürfen wir es wagen, uns auf dieser Grundlage schließlich auch noch dem sublimsten aller Erscheinungsformen des Bewußtseins anzunähern, nämlich dem Phänomen des Geistes oder Geistigen an sich. Eine Metapher aus dem Übergangsbereich zwischen Natur und Kultur, die wir auch weiter unten noch einmal aufgreifen werden, mag uns helfen, etwas vom Wesen des Geistigen im Rahmen der Affektlogik noch präziser zu erfassen: Man könnte eine hochaktive geistige Verdichtung – etwa eine zündende oder im wahrsten Sinn des Wortes erlösende Idee, einen in seiner Größe und Kraft alles überstrahlenden Gedanken, auch eine ungeheuer informationsreiche mathematische Formel von der Art der berühmten Einsteinschen Gleichung e = mc2 – mit der enormen Verdichtung von Energie vergleichen, die wir listigen Menschen in Form der Elektrizität aus der elementaren Wasserkraft abzuziehen wissen: All die ursprünglich in unzähligen materiellen Einzelprozessen (Wolken, fallende Regentropfen, Bächlein, Flüsse, Seen …) dissipierten Energien des Wassers sind in der Elektrizität Stufe um Stufe (über Wasserfassungen, Stauseen, Druckleitungen, Turbinen, Transformatoren …) aufs höchste gebündelt. Sie sind darin sozusagen abstrahiert und sublimiert bis zu einer fast immateriellen Essenz, die nun einen ungeheuer schnellen, differenzierten und flexiblen Einsatz der ursprünglich grob materiegebundenen Wasserkräfte auf zahllosen Ebenen des zivilisatorischen Geschehens bis hinein in die sophistiziertesten Computer erlaubt. – Ganz ähnlich führt, so meine ich, die stufenweise Konzentration von affektenergiebefrachteter Information aus elementaren senso-motorischen Aktionen zunächst zur Emergenz eines klaren Bewußtseins, und von da weiter bis zur Entstehung von hochdifferenzierten relationellen Netzen mit unendlichen sowohl geistigen wie materiellen Wirkungen. – Dem Geist oder Geisti-

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gen insgesamt würde im großen dieses relationelle Netz entsprechen; im kleinen aber wäre der Keim eines Geistigen damit auch schon in jeder elementaren senso-motorischen Aktion enthalten. Des weiteren wäre Geistiges, so gesehen, einerseits immer an ein materielles Substrat (das Gehirn, die neuronale Organisation, der Körper, das soziale Netzwerk) gebunden und andererseits, da »nichts als Relation«, doch (wie früher schon einmal erklärt) etwas in seinem Wesen völlig Immaterielles, eigentlich Mathematisches – eben der bloße »Geist« der materiellen Vorgänge und ihrer gegenseitigen Verflechtungen. Und schließlich – aus unserer Sicht besonders wichtig – wäre ebenfalls der Geist, wie sämtliche anderen psychischen Erscheinungen, denen wir begegnet sind, von allem Anfang an untrennbar sowohl ein affektives (energetisch-dynamisches) wie kognitives (formales, strukturierendes, differenzierendes und in Beziehung setzendes) Phänomen.

Willensfreiheit und Gedankenfreiheit, Verantwortung Was bedeutet nun all das für das Problem von Willen und Willensfreiheit, Denken und Gedankenfreiheit, und inwiefern sind wir für unser Denken und Wollen verantwortlich? – Halten wir zunächst nochmals fest, daß das Phänomen des Willens oder Wollens an sich, so wie wir es in Anlehnung an die Piagetschen Überlegungen weiter oben analysiert haben, sich praktisch fugenlos in das ganze Konzept der Affektlogik einfügt: Der »Wille« – einerseits dem bloßen Wunsch entwachsen und andererseits ihm möglicherweise auch entgegenlaufend – ist demnach charakterisiert durch einen übergeordneten Affekt (eine »affektive Regulation von Regulationen«, sagt Piaget), der sich an bestimmte kognitive Vorstellungen (Ziele, Personen, Örtlichkeiten, Gegenstände etc.) heftet und, wenn stark genug, eine Zeitlang das ganze übrige Fühlen und Denken dominiert und organisiert. Wenn auch die genaue Qualität des verdichteten und gewissermaßen kompakten Affekts, um den es hier geht, nicht leicht zu fassen ist – am plausibelsten scheint eine Mischung von intensivem Interesse mit aggressiven, freudigen und vielleicht auch ängstlichen Impulsen –, so handelt es sich doch auch hier durchaus noch um eine globale psycho-physische Gestimmtheit im Sinn unserer Affektdefinition. Insgesamt entspricht das Phänomen des Willens einem mehr oder weniger ad hoc gebildeten operationalen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramm, das mit intensiven motivierenden Affekten befrachtet, mit Aufmerksamkeit belegt und in der Regel nur über kürzere Zeit verhaltenswirksam ist. Indes mögen sich ähnliche einzelne Willensimpulse

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– etwa im Rahmen einer komplexen zeitraubenden Aufgabe – vielfach erneuern und dann das Verhalten über Wochen, Monate oder gar Jahre oder (besonders oft im kollektiven Rahmen) gar Jahrzehnte hin bestimmen. Da der Wille durch eine besondere Art von Affekt (oder vielmehr Affektmischung) charakterisiert ist, könnte oder müßte man ihn entsprechend unseren obigen Überlegungen wohl auch als energiereicher Bewußtseinszustand von eigener (sozusagen polarisierter) Struktur einstufen: Er bündelt und organisiert eine große Zahl von einzelnen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen auf ein gemeinsames affektiv-kognitives Ziel hin nicht anders, als wie ein Laser das Licht bündelt. Aber gibt es, nach allem, was wir über die allgegenwärtigen Wirkungen von affektiven Gestimmtheiten auf das Denken gesagt haben, aus der Perspektive der fraktalen Affektlogik auch so etwas wie einen »freien Willen«? Ist es nicht vielmehr genau so, wie Dürrenmatt sagt: nämlich, daß wir nur zu wünschen vermögen, was wir wünschen müssen? Dürrenmatt spricht zwar explizit bloß von Wünschen und nicht auch von Wollen, was nicht genau dasselbe ist; bisweilen mag, wie gesagt, ein übergeordneter Wille einem untergeordneten Wunsch sogar diametral entgegenstehen. Da ich aber doch nur zu wollen vermag, was ich auf der übergeordneten Ebene gleichzeitig ebenfalls wünsche (beispielsweise, ein Buch fertigzuschreiben statt zu baden und zu faulenzen), so erübrigt sich im diskutierten Zusammenhang wohl eine genaue Unterscheidung. – Insofern als nach unseren Konzepten grundsätzlich bloß selektioniert, aktiviert und allenfalls modifiziert zu werden vermag, was in unseren Fühl-, Denk- und Verhaltensstrukturen aufgrund der Erfahrung schon ein Stück weit vorgebildet ist, hat Dürrenmatt, objektiv gesehen, zweifellos recht: Wir haben eine affektiv-kognitive Maschinerie analysiert, die kaum einen anderen Schluß zuläßt. Unser Fühlen, Denken und Verhalten – und dazu gehören auch Wünschen und Wollen – läuft weitgehend auf vorgebahnten »Programmen« oder »Schienen«, welche reiz- und affektabhängig entweder wirksam werden oder latent bleiben. Tiefe unbewußte Wurzeln haben insbesondere die langfristigen Wünsche und Strebungen, aus denen dann unsere einzelnen Willensakte hervorgehen. Daß indessen auch kurzfristige Willensimpulse im Unbewußten wurzeln, zeigt sich unter anderem daran, daß gemäß neueren EEG-Untersuchungen willensbildende bewußtseinsunabhängige elektrophysiologische Prozesse einer bewußten Willensäußerung regelmäßig um 300 bis 400 Millisekunden vorauslaufen (Libet 1985). Aus einer anderen und meines Erachtens genauso gültigen Perspektive aber, nämlich der subjektiven, hat Dürrenmatt trotzdem nicht

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recht, denn die Feinheiten und Freiheitsgrade in der besagten Maschinerie sind beim Menschen derart groß, daß Freiheit und Willkür in unserem Erleben faktisch emergieren. Objektiv vermögen wir zwar manches Allgemeine über die struktur- und zustandsabhängige Determiniertheit all unseres Wünschens und Wollens auszusagen. Aber von einer ins einzelne gehenden Erfassung der subtilen Affekt-Kognitionsmischungen, die die mikroskopisch feinen Vorentscheidungen charakterisieren, aus denen sich schließlich die makroskopisch sichtbaren subjektiven Willensakte herauskristallisieren, sind wir nach wie vor meilenweit entfernt. Außerdem sind nach chaostheoretischen Erkenntnissen in der Dynamik von komplexen Systemen von der Art unserer Psyche prinzipielle Unvorhersehbarkeiten in Form von »deterministischem Chaos« und »Schmetterlingseffekten« zu erwarten, die es ohnehin unwahrscheinlich machen, daß eine solche Erfassung je restlos gelingen könnte. Und schließlich ist auch an die »Fulguration« von unvorhersehbar Neuem zu denken, die unter energetischem Input aus bestimmten globalen Systemkonstellationen heraus selbstorganisatorisch entstehen kann. Trotz einer unleugbaren Determiniertheit des psychischen Geschehen im großen und allgemeinen sind deshalb doch subjektive Willensfreiheit und damit auch Verantwortung innerhalb einer gegebenen Fühl-, Denk- und Verhaltenskultur im einzelnen und speziellen meines Erachtens klar zu bejahen – ein Schluß, den übrigens ebenfalls ein Strafrechtler gezogen hat, der sich eingehend mit den rechtlichen Konsequenzen der Affektlogik auseinandergesetzt hat. Eigenartigerweise verneint dieser Autor aufgrund affektlogisch fundierter Überlegungen (Kargl 1991, S. 527 f.) dann aber andererseits zugleich den Schuldbegriff – eine Position, die mir nicht folgerichtig erscheint und der ich mich um so weniger anschließen kann, als ich subjektives Schuldgefühl und Schuldbewußtsein, Schuldbekenntnis, Wiedergutmachung und Schuldvergebung für unverzichtbar wichtige Konfliktbewältigungsprozesse nicht nur auf der individuellen, sondern ebenfalls der kollektiven Ebene halte (ersteres zeigt sich bei jeder kleinen oder großen Entschuldigung im Alltag, letzteres etwa an den Beziehungen Deutschlands oder Japans zu den früheren Kriegsgegnern. Mit bewundernswerter Weisheit wird dieselbe Einsicht heute ebenfalls von Nelson Mandela gegenüber gewissen kriminellen Apartheidsfanatikern in Südafrika praktiziert, denen er zwar ein Schuld- und Reuebekenntnis, nicht aber eine Strafe abverlangt). Was aus der Warte der Affektlogik zum Wünschen und Wollen und der subjektiven Verantwortung zu sagen ist, gilt in noch verstärktem Maß für das Denken und die Gedankenfreiheit schlechthin: Einerseits

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erscheint aus dieser Perspektive alles Denken als stimmungs- und zugleich strukturbestimmt. Insofern hängt es zu einem guten Teil von den affektiv geschalteten aktuellen Aktivierungen und Hemmungen der vorbestehenden erfahrungsgenerierten Fühl-, Denk- und Verhaltenswege ab. Eine weitgehende Determiniertheit unseres Denkens, unserer »Mentalität« überhaupt durch persönliche, familiäre und kulturelle »Eigenwelten« ist damit im vorhinein gegeben. Solchen Konditionierungen vermögen wir uns ebensowenig zu entziehen wie den genannten affektiven Schaltungen; beide sind uns größtenteils gar nicht bewußt. Andererseits aber erleben wir uns als subjektiv frei Denkende; wir treffen auf der Basis der genannten Infrastrukturen »freie« Entscheide für oder wider dies und jenes und kreieren auch – ein weiterer wesentlicher Aspekt unseres subjektiven Erlebens von Freiheit – auf derselben Basis Neues. Aufgrund der hohen Komplexität unseres Denkapparats sind wir obendrein imstande, über Sachverhalte wie den gerade geschilderten »frei« nachzudenken, das heißt gewissermaßen zusätzliche Freiheitsgrade bewußt einzuführen. Der Grad der allfälligen Determiniertheit sowohl von strukturgebundenen Innovationen wie auch von solchen zusätzlichen »Schlaufen«, die wir noch (wie es gerade geschieht), durch »Schlaufen über Schlaufen über Schlaufen« zu ergänzen vermögen, ist überhaupt nicht mehr auszumachen. Von einem bestimmten Punkt der Komplexität einer Systemdynamik an erscheint somit als Freiheit, was »objektiv« durch eine nicht mehr faßbare Zahl von einzelnen Determinismen konditioniert sein mag. Gerade diesen Sachverhalt erleben wir als subjektive Gedankenfreiheit – und mit dieser subjektiven Wahl- und Gedankenfreiheit müssen wir nicht nur, sondern können wir auch leben. Denn letztlich ist, wie sich schon anhand unserer erkenntnistheoretischen Reflexion im ersten Kapitel dieses Buches abgezeichnet und in der Folge Stufe um Stufe verdeutlicht hat, die Subjektivität das einzige, was wir »wirklich« besitzen. Die Objektivität ist eine Chimäre, eine Fiktion, denn Objektivität im strengen Sinn ist nichts als ein mit bestimmter Methodologie erzielter Konsens von Subjektivitäten – also selbst ein subjektives Konstrukt, gestellt in ein kollektiv ebenso subjektiv konstruiertes zeit- und kulturabhängiges Weltbild; um »objektive Befunde« in einen Kontext zu stellen, bedarf es wiederum eines Subjekts; nur dieses ist ferner imstande, mit seinem sowohl entdeckten wie konstruierten »objektiven Wissen« etwas anzufangen – zum Beispiel es zu bewerten, zu verwenden oder zu verwerfen. Und wiederum nur ein Subjekt schließlich vermag über all dies wägend nachzudenken, sich verantwortlich zu fühlen (oder, wie Sartre mit seinem »l’homme est ce qu’il se choisit« sagte, sich eigenverantwortlich zu wählen ), um dar-

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aus dann allenfalls weitere ihm sinnvoll erscheinende Schlüsse beispielsweise für ein sich selbst und dem Ganzen gegenüber verantwortliches Handeln zu ziehen.

Zum Welt- und Menschenbild der fraktalen Affektlogik Bevor wir abschließend versuchen, zu solchen Schlüssen zu gelangen, noch einige Gedanken zum Bild des Menschen und der Welt, auch zum Bild von sich selbst, das sich aus den Konzepten der fraktalen Affektlogik ableiten läßt. Wenn diese Konzepte stimmen (oder auch nur ein Stück weit stimmen, vorwiegend stimmen oder, was aus der Sicht einer evoluierenden Wissenschaft wohl am wahrscheinlichsten ist, auf die Dauer vielleicht in abgewandelter Weise stimmen), so muß sich unser Welt- und Menschenbild recht tiefgehend verändern. – Die Hauptkonsequenz: Der Mensch verliert nochmals ein Stück von seiner Einmaligkeit und Besonderheit: Nachdem er, wie Freud feststellte, schon die dreifache Kränkung hat hinnehmen müssen, daß er nicht der Mittelpunkt des Universums ist, daß er von den Tieren und gar den Affen abstammt und daß ein guter Teil seiner Motivationen unbewußt sind, wird durch eine Sichtweise wie die hier entwickelte auch noch seine vornehmste Errungenschaft, nämlich sein gesamtes Denken, in neuer Weise in Frage gestellt: Dieses Denken soll auf allen Ebenen, von den umschriebensten Einzelgedanken bis zu den abstraktesten Gedankengebäuden, durch untergründige Gefühle und Stimmungen mitbedingt sein. Auch seine vielgerühmte Gedankenfreiheit, und damit das Kernstück der menschlichen Freiheit überhaupt, erweist sich als stimmungsabhängig, affektgeleitet. Noch umfassender als aus psychoanalytischer Sicht ohnehin der Fall, wird damit ebenfalls der Begriff der Wirklichkeit affekt- und perspektivenabhängig, multipel. Die Distanz zu den Tieren – und zumal zu den höheren Primaten, deren Denkfähigkeit und psychosoziale Beweglichkeit sich auf der anderen Seite immer überraschender offenbart – schrumpft weiter; in neuer und zu noch mehr Bescheidenheit zwingender Weise erweist sich der Mensch als tief in der Evolution allen Lebens verwurzeltes Tier besonderer Art – als ein Fühl-Denk-Tier, wie man wohl sagen könnte. Welt und Mensch, Selbst und andere erscheinen aus dieser Warte also unter Doppel- bis Mehrfachaspekten von erschreckender bis beglückender Affekttönung, zwischen denen keine objektive Entschei-

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dung möglich ist und auch eine subjektive Wahlfreiheit nur bedingt besteht. Was wir sehen von dieser Welt und allem darin, mit Einschluß von uns selbst, hängt – dies ist wohl der wichtigste Schluß, der sich aus allem Vorangegangen aufdrängt – in erster Linie davon ab, wie wir sie anschauen. Je nachdem, ob wir liebend oder hassend, angstvoll oder zuversichtlich, wütend oder friedlich gestimmt sind, wird uns genau dieselbe Welt, werden uns dieselben Menschen ein vorwiegend schönes und friedliches oder ein zur angst- oder wutverzerrten Fratze entstelltes Antlitz zeigen. Denn wir werden in ein und derselben Wirklichkeit die »Fakten« völlig anders wählen und bewerten und zu einer anderen »Logik« verknüpfen, wenn wir sie in unterschiedlicher Verfassung betrachten. Auch wenn eine »Wirklichkeit an sich« gemäß unseren Überlegungen zu einem relativen Konstruktivismus an den so entstandenen Konstrukten immerzu beteiligt ist, so vermögen wir diese ontologische Wirklichkeit doch »objektiv« nie zu fassen. Es gibt deshalb nicht ein Welt- oder Menschenverständnis aus der Perspektive der fraktalen Affektlogik, sondern deren mehrere und grundsätzlich miteinander kaum vereinbare – es sei denn, wir konstruieren uns ein operationales System, das gerade von einer solchen Multiplizität ausgeht und dann auf dieser »Schiene« weiterzukommen sucht. Genau dies ist es, was wir als Konsequenz der hier entwickelten Sichtweise anstreben: Einerseits »stimmt« aus einer entsprechend gefärbten Perspektive, daß es nicht an Elementen fehlt, um uns Welt und Menschen in düsterstem Licht erscheinen zu lassen. Krieg und Gewalt, Tod und Zerstörung überall, wo wir nur hinblicken, und von Gerechtigkeit keine Spur. Auch der Unverdächtigste erweist sich als potentielles Ungeheuer. Einzeln wie kollektiv ist der Mensch, kommen bloß die richtigen Umstände zusammen, zu allem fähig, zu jeder Gemeinheit, zu jeder Greueltat. Die Welt geht zuschanden infolge Klimaerwärmung, Ozonschutzverarmung, Luft- und Land- und Meeresverschmutzung. Riesige Gebiete auf Zehntausende von Jahren hinaus radioaktiv verseucht. Weltweit nehmen Hunger und Armut unter dem Druck einer täglich gravierender werdenden Überbevölkerung und einer immer schranken- und bedenkenloser werdenden Kapitalherrschaft zu. Immer mehr Menschen leben zusammengepfercht im Lärm und Gestank verbetonierter riesiger Städte, statt sich in einer menschenwürdigen und -gemäßen Umgebung friedlich zu entfalten. Wo gestern noch ungestörte Natur und überwältigende Schönheit war, herrscht heute nichts als brüllende Wüste. Die Nacht wird zum Tag, die Muße zur Hetze. Da noch von Fortschritt zu reden ist ein Hohn, und von den neu am Horizont heraufziehenden »Fortschritten« in die selbe Richtung ist nur noch größeres Unheil zu erwarten. Mit dem Respekt

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vor den übergeordneten Mächten und Kräften, denen er seine Existenz verdankt, hat der Mensch von heute, von lebensgefährlichem Machtund Geschwindigkeitswahn besessen und von technischem Schnickschnack verführt, jede heilsame Angst vor der ungeheuren Kraft der langen und langsamen »Natur der Dinge« eingebüßt. Kein Gespür mehr für die Entwicklung eines großen Ganzen, von dem er nur ein winziger Teil ist, kein Sinn für die Überlegenheit des Einfachen und Elementaren, keine Ehrfurcht für Natur und Kreatur überhaupt. Ungeheure Überheblichkeit und Frechheit dieses schrecklichsten aller Raubtiere, das sich anmaßt, von sich selbst als der »Krone der Schöpfung« zu reden. Verlust von Gefühl für Maß und Proportion, als Folge einer krebsartigen Wucherung des menschlichen Großhirns und entsprechend maßlosem Wuchern von selbstzerstörerischen Hirngespinsten … Aus anderer Perspektive aber »stimmt« gleichermaßen: Die unverändert großartige Schönheit von Dingen und auch Menschen. Die Lust und Liebe, die Freundschaft, die Zärtlichkeit, die nach wie vor alles, was ist, zusammenhält. Die ungeheure Resistenz und Regenerationskraft des selbstorganisatorischen Welt- und Menschengeschehens, die hinter aller Angst und Verwirrung unbeirrbar weiter am Werk bleibt und mitten in tiefster Not immer wieder Tröstliches aufleuchten läßt – wenn man nur die Augen auftut, wenn man sieht. Und dazu die unzähligen immer noch stillen und schönen Flecke auf dieser Erde, die zahllosen Liebes- oder Heldentaten, von denen niemand spricht. Der stete Neubeginn des Frühlings, des Lebens überhaupt. Das Staunen und Hoffen, das immer wieder neue Leuchten in den Augen der Kinder, der Liebenden. Das verschüttete Licht im Herzen noch des schlimmsten Verbrechers, des absonderlichsten Verrückten. Die versteckten Lustwege, die das Ganze trotz aller Um- und Abwege aller Wahrscheinlichkeit nach geht und gehen muß, weil es anders gar nicht kann. Die Verbindung zu diesem Eigentlichen und Ewigen, die uns unausweichlich zuteil wird, kaum daß es uns einmal wieder wirklich »gutgeht«. Auch die hunderttausend Bestätigungen, die wir für eine solche Sichtweise bei jedem großen Künstler und Dichter, bei jedem großen Wissenschaftler und Menschen überhaupt finden, der genau dies gefühlt und gesehen und auf seine Weise auszudrücken und weiterzugeben versucht hat … Im gleichen Maß aber »stimmen« je nach affektiver Gestimmtheit ebenfalls alle fraktal nur möglichen Varianten und Mischungen zwischen diesen beiden Extrempolen: Stimmig ist in entsprechener Verfassung eine Weltsicht des bissigen Spotts oder gütigen Humors, des verzweifelten Nihilismus oder unverwüstlichen Optimismus, der hochnäsig-ärgerlichen Ironie oder spöttisch-weisen Selbstironie. Stimmig

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ist ein Weltbild der Trauer, die eine Form der Liebe ist – der Trauer und Bestürzung nämlich um alles, was rettungslos verloren- oder schiefgegangen ist. Es mag umgekehrt auch die Zärtlichkeit zu dem stimmen, was noch da ist und existiert, die fruchtbar aus dieser Trauer zu erwachsen vermag, und es kann eine Sichtweise der Hoffnung – eine weitere Form der Liebe – auf das stimmen, was nach wie vor möglich bleibt, was jetzt und hier gerade keimt und morgen aufblüht. Das Welt- und Menschenbild der fraktalen Affektlogik versucht, all diese Widersprüche zu einem Ganzen zu vereinen – nicht aus sinnlosem Streben nach einer unmöglichen Harmonisierung, sondern weil anders das, was gleichermaßen in uns wirkt und angelegt ist, einfach nicht zu fassen ist. Der Mensch sieht die Welt und sich selbst durch vielfarbige affektive Brillen – die Affektlogik versucht, diese Brillen selbst klarer zu sehen. Daß sie uns so und nicht anders angemessen sind, hat seinen tiefen Sinn. Denn all die beschriebenen Gestimmtheiten mitsamt den zugehörigen Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern sind von einer notgedrungen zutiefst weisen Evolution über Jahrmillionen als beste Möglichkeiten herausselektioniert worden, um »über die Runden zu kommen«, das heißt: zu überleben. Nichts berechtigt zu der vorschnellen Annahme, daß sie plötzlich nicht mehr sinnvoll wären, nur weil seit einigen Jahrzehnten, Jahrhunderten oder, je nach Sichtweise, auch Jahrtausenden gerade mit Hilfe dieses Fühlens und Denkens eine Reihe von unvorhersehbaren Entwicklungssprüngen aufgetreten sind, die nunmehr unsere Umwelt in großem Stil verändern. Ganz im Gegenteil, so will mir als Ergebnis dieser gesamten Untersuchung scheinen: Alle großen und langsamen Gesetzmäßigkeiten, die uns in Äonen hervorgebracht und konditioniert haben, bestehen völlig unabhängig von solchen aus evolutionärer Perspektive winzigen Entwicklungen weiter. Die tiefe »Natur der Dinge« beruht auf unausweichlichen selbstorganisatorischen Notwendigkeiten, die sich durch den Menschen überhaupt nicht verändern, wohl aber vielleicht ein Stück weit verstehen und damit auch respektieren lassen. Wenn uns deshalb irgend etwas zu retten vermag vor den erwähnte und zum größten Teil durch uns selbst heraufbeschworenen Gefahren, dann am ehesten, so meine ich, die Rückbesinnung auf die nicht nur kognitiven, sondern ebenfalls affektiven Mittel, die uns diese weise »Natur der Dinge« von allem Anfang an zum Überleben zugeteilt hat – mit anderen Worten: auf ein Denken mit Gefühl.

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Was tun und wohin zielen? – Das Gleichnis vom Wasser In dieser verwirrenden Situation einen Kompaß zu finden, der unser Denken und Fühlen zu leiten vermag, scheint auf den ersten Blick beinahe unmöglich. Wo jegliche Gewißheit fehlt – oder, wie Nietzsche sagte, wo (angeblich) Gott tot ist –, bleiben höchstens noch einige Orientierungspunkte im Nebel, denen entlang wir uns vorantasten mögen. – Derartige Anhaltspunkte zu bieten, vermögen vielleicht auch gewisse ethische Konsequenzen, die sich aus unserer Untersuchung ableiten lassen. Sie beziehen sich vorab auf den Umgang mit der Vielfalt von möglichen Weltbildern und Verhaltensweisen, und damit auf einen Problemkreis, der auch im aktuellen konstruktivistisch-postmodernen Diskurs eine zentrale Rolle spielt. Denker wie Lyotard mit seiner Lehre vom notwendigen »Widerstreit«, Vattimo mit seinem Ruf nach einem »weichen Denken« oder auch Welsch mit seinem Konzept der »transversalen Vernunft« – einer Vernunft, die er als »Vermögen der Verbindung zwischen Realitätsformen« definiert (Lyotard 1987; Vattimo 1983, 1990; Welsch 1988, S. 295) – versuchen einen Durchgang zu finden zwischen der Scylla einer absoluten Beliebigkeit und der Charybdis eines jederzeit drohenden neuen Fundamentalismus. Gemeinsamer Kernpunkt ihrer Antworten ist die Forderung nach verantwortlichem Denken und Handeln aus dem jeweils faktisch eben zugänglichen subjektiven und sozialen Kontext heraus, gepaart mit einem neuen Bewußtsein von der unausweichlichen Relativität einer jeden solchen Position und dem nötigen Respekt vor der Position des jeweils anderen. Zu keinen anderen Schlüssen führt zunächst der konstruktivistischevolutionistische Ansatz der fraktalen Affektlogik. Auch aus ihrer Perspektive bedeutet Diversität, Multiziplität und sogar Gegensätzlichkeit der Weltbilder potentielle Bereicherung, während jede absolute Gewißheit, jede röhrenförmige Einschränkung des Gesichtsfeldes auf eine einzige, nämlich meine Variante von Wahrheit als das eigentliche Übel, die in erster Linie zu verpönende »Sünde« erscheint. Randgruppen und Randwahrheiten sind für sie, abgesehen von ihrer essentiellen, nämlich die »extreme Mitte« befestigenden sozialen Funktion, gewissermaßen »stille Reserven« im Sinn von möglichen kreativen Alternativen (oder Ordnungsparametern) für den Notfall. Mit Piaget könnte man zudem von einem zusätzlichen Schritt der Dezentration – also des stufenweisen Absehens von einer kindlich-egozentrischen Weltsicht – sprechen, die einerseits eine Bewußtseinserweiterung und größere Flexibilität, andererseits aber auch eine zusätzliche narzißtische Kränkung

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durch einen unvermeidlichen Verzicht auf eine initial phantasierte Allmachtsposition inmitten einer selbstgenügsamen Eigenwelt und Eigenwahrheit mit sich bringt. Zugleich freilich lassen sich aufgrund der entwickelten Sichtweise auch die potentiellen Gefahren nicht leugnen, die der eigenen Identität – den eigenen Lebens- und Überlebensmöglichkeiten – von jedem »Anderen« von einem bestimmten Punkt an drohen mögen und ein entschiedenes »Bis hierher und nicht weiter« rechtfertigen. Manches spricht im übrigen dafür, daß in zahllosen fraktalen Abwandlungen allem Neuen und Andersartigen gegenüber als erstes immer wieder ähnliche, genetisch tief verankerte affektiv-kognitive Grundreaktionen ablaufen, wie wir sie weiter oben als das sogenannte »Fremdeln« des Kleinkinds beschriebenen haben – also einer in kritischen Momenten der Ich- und Bewußtseinsentwicklung mit großer Regelmäßigkeit auftretenden ambivalenten Angst bei der Begegnung mit jemand oder etwas Unbekanntem. Jedenfalls läßt sich, mutatis mutandis, eine analoge elementare Angst unschwer auch auf allen möglichen mikro- bis makrosozialen Ebenen, von der Familie bis zur Großgruppe und ganzen Nation bei jeder Begegnung mit Fremdem um so intensiver ausmachen, je weniger die eigene Identität befestigt ist. Genau wie beim Kleinkind schwingen dabei indessen meist auch alle anderen Grundemotionen mit ihren zugehörigen Denkinhalten untergründig mit, darunter einerseits Wut und Haß gegenüber dem ins eigene Territorium eingedrungenen Ruhestörer, Trauer um die verlorene »heile« (einfache, einheitliche) Welt, aber andererseits auch Faszination durch das attraktiv Neue sowie versteckte (Vor-)Freude über die davon zu erwartende Bereicherung. Vermutlich macht es wenig Sinn, derartige Primärreaktionen einfach frontal bekämpfen zu wollen, denn auch für sie gilt: Je mehr wir sie an einer Stelle gewaltsam unterdrücken, desto explosiver werden sie anderswo zum Ausbruch kommen. Ein adäquaterer Umgang mit »dem Anderen« könnte deshalb darin bestehen, diesbezügliche Gefühle und Gedanken in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit zunächst einfach anzunehmen und offenzulegen, um dann zu versuchen, sie unter fühlenddenkendem Abwägen von Gefahren wie Chancen im verhandelnden Dialog (oder »Widerstreit«, wie Lyotard sagen würde) unter gleichberechtigten Partnern auf einen für beide Seiten annehmbaren Kompromiß hin zu lenken. Akzeptierte und integrierte Emotionalität gepaart mit vertiefter Einsicht in Wesen und Wirkung dieser Emotionalität selbst, so könnte also die sicher nicht leicht zu erfüllende Forderung lauten, die sich als ethische Konsequenz aus der Theorie der fraktalen Affektlogik ergibt. Sie

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müßte zu einer Haltung der gegenseitigen Toleranz und Achtung vor dem ganz anderen verbunden mit klarer Abgrenzung und Selbstbehauptung führen, wie sie mikrosozial wohl am ehesten im Ideal eines partnerschaftlich-gleichberechtigen Umgangs mit dem anderen Geschlecht und makrosozial im Ideal einer sowohl demokratischen wie auch sozialen, Minderheiten und Schwächere systematisch vor dem Faustrecht des Stärkeren schützenden Staats- und Völkerordnung gegeben scheint. Von einem solchen Ideal aber sind wir gewiß auf allen individuellen wie kollektiven Ebenen, am krassesten jedenfalls auf der Ebene des Umgangs der Völker untereinander (durchaus mit Einschluß der demokratisch regierten westlichen Industrienationen, die zur Zeit mit offener oder versteckter Gewalt ihre eigene Weltsicht als die einzig richtige Wahrheit weltweit durchzusetzen versuchen), offensichtlich immer noch meilenweit entfernt. Ebensowenig kann es – wiederum auf allen nur möglichen Ebenen – aus der Sicht der Affektlogik weiterführen, negativ kodierte Affekte wie Angst, Wut, Trauer und die daraus resultierenden »Logiken« oder Weltbilder einfach aus der Welt schaffen zu wollen. Denn solche »negativen« Affekte sind, wie wir gesehen haben, genauso überlebenswichtig wie »positive«. Der ethisch relevante Schluß aus dieser Sachlage könnte sein, daß nicht mehr ein Welt- und Menschenverständnis ohne Angst oder Aggressivität, Wut oder Trauer, sondern ein möglichst »viables« (lebensförderndes, konstruktives) Gleichgewicht zwischen all diesen (und vielen weiteren) Affekten beziehungsweise EmotionsKognitionswelten für den einzelnen wie für das Ganze ein sinnvolles Ziel sein könnte. Gleichzeitig aber wäre zu fordern, daß alles in allem die aufbauenden, vereinigenden und kreativen »positiven« Gefühle wie Freude und Liebe, Lust und Vergnügen in einer solchen »Affektbalance« letztlich die Oberhand – sagen wir eine Majorität von mindestens 51 Prozent – behalten müßten, denn ohne ein solches Übergewicht wäre die Zerstörung des sozialen Mikro- wie Makrogewebes (der Triumph der Todestriebe, wie Freud zweifellos formulieren würde) unausweichlich. – Gewiß käme eine solche Akzentverschiebung einer Relativierung des herkömmlichen (zum Beispiel christlichen) Ideals einer heilen Welt ohne »negative Gefühle« und entsprechende Denkund Verhaltensweisen gleich. Zugleich aber könnte sie eine Befreiung aus einem unmöglich erfüllbaren absolutistischen Zwang zur reinen Güte und Liebe zugunsten einer äquilibrierten Vielheit der Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen und damit vielleicht sogar die Lösung eines ständigen affektiv-kognitiven Dilemmas bedeuten, die nicht nur zutiefst sinnvoll, sondern nach wie vor auch überwiegend lustvoll bleiben würde.

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Zum Menschenbild der fraktalen Affektlogik

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Damit aber sind wir ein letztes Mal dem allem übergeordneten (und auch bewußt allem überzuordnenden) Affektattraktor und -operator begegnet, der im Verlauf unserer ganzen Untersuchung eine zentrale Rolle gespielt hat: nämlich dem nach unseren Thesen allem Denken innewohnenden Streben nach Lust beziehungsweise nach Unlustvermeidung im allgemeinsten Sinn. Wir wollen ihn dazu benutzen, um unter Wiederaufnahme eines am Ende des letzten Kapitels liegengelassenen Fadens noch etwas darüber nachzudenken, wohin uns der angenommene obligate »Lustweg« evolutionär schließlich hinführen könnte: nämlich allem gegenteiligen Anschein zum Trotz vielleicht doch zu einem Zustand von größerer Harmonie und damit auch Schönheit. – Sollten wir mit dieser provozierenden Zuversicht auf der richtigen Spur sein, so ließe sich über tausend Umwege am Ende möglicherweise sogar das intelligente Fühl-Denk-Raubtier »Mensch« wieder zu jenen auf ein harmonisches Gleichgewicht hin angelegten Wesen zählen, von denen der am umfassendsten fraktal denkende Geist, den ich kenne, nämlich Goethe, in seiner »Metamorphose der Tiere« sagen konnte: »Zweck sein selbst ist jegliches Tier, vollkommen entspringt es aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder.« Der weiter oben angestellte Vergleich der Gefühle mit elementaren Naturkräften wie Wasser und Wind mag uns – im Gedanken auch an den »Geist«, der sich aus solchen Kräften abstrahieren läßt – zu einem gleichnishaften Schlußbild hinführen, das verdeutlichen soll, in welcher Weise ein solcher Lustattraktor all unser Denken andauernd beeinflussen könnte: Die offensichtlichste Eigenschaft des Wassers ist, daß es immerzu abwärts fließt, ganz gleich, wohin es sich »geworfen« sieht. Dabei leistet es, so bescheiden sich ein einzelnes Wassertröpfchen oder Bächlein auch ausnehmen mag, über die Zeit hin ungeheure Arbeit. Es trägt ganze Berge ab, gräbt lange und tiefe Täler, schwemmt Ebenen auf und schüttet Seen zu. Zuweilen schäumt es als reißendes Wildwasser über wild-prächtige Wasserfälle. Dann wieder liegt es still über tiefem Grund. Es gurgelt in unterirdischen Adern, gluckert in Sümpfen, sprudelt über Wasserräder, treibt im Strahl schnelle Turbinen oder fließt in riesigen Strömen majestätisch dem Meer zu. Das Wasser kann sich aber auch unendlich verwandeln. In unseren Bergen etwa schneit es in Myriaden von Flocken vom Himmel, jede nach dem genau gleichen hexagonalen Bauprinzip angelegt, das indes

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Theoretische und praktische Konsequenzen

in jeder einzelnen Flocke – wie uns die Chaostheorie mit einem ihrer Lieblingsbeispiele für den Begriff des »deterministisch chaotischen Attraktors« lehrt – immer wieder anders abgewandelt ist. In den Höhen mag das Wasser zu Firn oder Eis erstarren und jahrzehntelang in scheinbar unbeweglichen Gletscherpanzern stagnieren – in Wirklichkeit strebt es auch als Gletscherfluß noch immerzu abwärts, über tausend Schründe und Klüfte dem Meer zu. Umgekehrt aber steigt es auch auf als Dampf und Gas – nicht nur aus den weiten Weltmeeren, sondern überall auf seinem Weg steigt Wasser aus Wiesen und Teichen und Pfützen, ja sogar schon aus Schnee und Eis wiederum dem Himmel entgegen. Dort zieht es dann als Wolke dahin, strebt in dunklen Schwaden erneut den Bergen zu, braust in wilden Stürmen, prasselt in gewaltigen Gewitterregen, nieselt aus feuchten Nebelschleiern, wirbelt in Taifunen. Das Wasser und seine Bewegung ist lebenswichtig; es treibt und belebt letztlich alles, was da kreucht und fleucht. Die »Wasserlust«, könnten wir mit unserem Gleichnis sagen. Denn die Theorie der fraktalen Affektlogik spricht dafür, daß eine in ähnlicher Weise alles belebende und befruchtende, unbeirrbar ruhig aufbauende wie auch wild und chaotisch zerstörerische Lebenslust und -kraft voller Gegensätze und überraschender Metamorphosen uns alle miteinander antreibt, fraktal innerhalb von kürzesten wie längsten Zeiträumen, als kleines einzelnes Menschlein und als Gruppe, Volk oder riesige Kollektivität in immer neuen Leidenschaften einem großen und gelassenen Meer entgegentreibt – zu milder endlicher Entspannung in einem allumfassenden Attraktorschoß vielleicht, in dessen dunklem Grund sich indes neue Stürme vorbereiten und wilde Kräfte brodeln, die wieder zum Himmel steigen und den Kreislauf von vorne beginnen wollen … Zu sparsamster Schönheit verdichtet heißt dies bei Goethe: Des Menschen Seele Gleichet dem Wasser: Vom Himmel kommt es, Zum Himmel steigt es. Und wieder nieder Zur Erde muß es, Ewig wechselnd.

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Personenregister

Alzheimer-Krankheit 234 Anesidemos 76 Arafat 262 Aristoteles 22, 76 Arnold 72, 55 Baatz 9 Barnsley 149, 151 Barthes 196 Bateson 74 Becker 199 Bénard 147 Berger 244, 263 Berner 234 Bertalanffy, von 272 Binning 153 Binswanger 199 f., 287 Blankenburg 287 Bleuler, E. 12, 97, 213, 229 ff., 233, 271 Bleuler, M. 226 Bollnow 12, 69, 93, 199 f., 208, 271, 322 Bowers 226 Bowlby 58, 102 Brandt 262 Broca 53 Brown 72 Campbell 32 Campiche 254 Chessex 181 f., 193 Collins 238, 241 Conrad 227 Creutzfeldt 324 Damasio 281

Darwin 12, 63, 81, 109, 241, 249, 283 Dauwalder 9 Delgado 53 Delpos 9 Derrida 22, 282 Descartes 34 di Mambro 254 Diettrich 30, 34 Durkheim 241 Dürrenmatt 21, 41, 323, 331 Einstein 24, 109, 329 Ekman 12, 63 Elias 12, 83, 238 f., 271 Euler 64 Feigenbaum 25, 137 Feyerabend 23 Fleck 12, 25, 238, 241, 244, 271 Foerster von 29 Freud 12, 26, 40, 73, 102, 109, 111, 127, 167, 180, 187, 198, 215, 239, 247, 272 f., 275 f., 283, 340 Fromm 101 Furth 276 Gabriel 234 Gadamer 24 Galilei 109 Gergen 28 Gerhards 238 f. Geschwind 58 Glasersfeld von 22, 29 f. Globus 144, 161, 273, 281 f. Goebbels 319 Goedel 24

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Personenregister Goethe 114, 150, 195, 200, 292, 341 f. Goffman 241 Gogh, van 197 Goleman 281 Gorbatschow 261 Gordon 162 Gray 12, 281 Grof 98 Haken 25, 61, 132, 146, 153, 156, 188, 227 Handke 192 Hartmann 275 Hatfield 250 Havel 323 Heidegger 12, 21 ff., 69, 93, 180, 199 f., 257, 287, 307 Heinroth 39 Heisenberg 24 Heraklit 27 Hess 53 Hesse 180, 182 Hinterhuber 258 Hitler 119, 319 Hölderlin 197 Hofmannsthal von 113 Huguenin 254, 256 f. Husserl 150 Huxley 199 Izard 66, 71, 74, 82, 94, 281 Janzarik 12, 210, 226, 232 f., 252, 271, 275, 282, 303 Jaspers 325 Jones 254 Joyce 204 Jung 229, 231 Kasparow 319 Kepler 109 Kernberg 50, 273 ff., 327 Kierkegaard 180 Kihlstrom 40, 73 Kleinginna 64 f. Klüver-Buci 53 Koch 148 Koresh 254 Koukkou 60 Kraepelin 229 Kuhn 12, 25, 109, 238, 241, 271, 287

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LaViolette, P. 12, 281 Lazarus 12, 65, 70 f. LeDoux 55 Lehmann 60 Leibniz 150 Leider 39 Lempp 162 Leventhal 71 Levin 28 Lorenz, E. 132 Lorenz, K. 12, 14, 27, 30, 32 f., 39 f., 70, 100 ff., 152, 283, 325 Luckmann 244, 263 Luhmann 83, 239 Lyotard 22, 24, 338 f. Machleidt 59 f., 80, 122, 190, 231 Mahler, M. 58, 102 Mandela 332 Mandelbrot 25, 148 Mandl 64 Maturana 22, 28 ff., 32, 58, 90 f., 308 McLean 12, 53 Menn 296 Mesulam 58 Meyer, J. E. 189 Mitterrand 76 Mosher 296 Müller, Chr. 9, 180, 189 Nicolis 281 Nietzsche 22 f., 111, 197, 199, 338 Ortega y Gasset 196 Panksepp 57 f., 94 Papez 53 Parmenides 27, 76 Peitgen 131, 150 Piaget 12, 20 ff., 25 f., 30, 40, 46 ff., 51, 61, 73, 76, 87, 93, 95, 99, 110, 113, 115 f., 198, 272, 276–279, 283 f., 304, 324, 330, 338 Plato 22, 196, 198 Ploog 57 Plutchik 64, 80 Poincaré 132 Popper 25, 114 Prigogine 9, 25, 132, 135, 137, 170, 281, 287 Proust 199

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Personenregister

Rabin 262 Reagan 250 Richter, P. H. 131, 150 Riedl 9, 12, 14, 22, 24, 27 f., 32, 34 Rogers 301 Rorty 22 Rümke 199 Saam 260 Sacks 235 Sargant 316 Sartre 333 Scharfetter 253, 325 Scherer 65, 71 Schore 58, 128 Searles 226 Seiler 26, 32 Shakespeare 183, 187 ff. Shoko 254 Signer 9 Simmel 238 Spielberg 150 Spitz 102 Spring 228 Stevenson 217 Strindberg 197 Süskind 320

Thom 25, 132 Thomas, R. 9 Tinbergens 71 Tschacher 9 Varela 28 ff., 73, 90 f. Vattimo 21–24, 338 Verden-Züller 58 Verhulst 136 Versten-Zöller 308 Vester 241 Walser, R. 192 f. Watzlawick 29 Weber 238 Weizsäcker von, C. F. 324 Weizsäcker von, R. 262 Welsch 21–25, 338 Wimmer 9, 283 Wing 226 Winnicott 307 Wittgenstein 24, 30 Zajonc 12, 65, 71 Zenon 27 Zubin 228

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Sachregister

abstrakt 36, 47, 73, 75, 78, 91, 111, 118 f., 141, 145 f., 148, 154, 156, 160, 223, 274, 324, 332 Abstraktion 48, 87, 115, 117 f., 284, 325, 327 Abwehrmechanismen 124, 275 Adaptation 29, 70 adaptativ 63 f. Ärger 203, 205 Affektdruck 243, 263 affektenergetisch 109, 122, 170, 172, 187, 257, 267, 290, 317, 321 Affektenergie 95, 156, 158, 226, 245, 255, 267 affektiv-kognitive »Schienen« 172, 218, 235, 328 affektiv-kognitive Wechselwirkungen, Interaktionen 13, 40, 51, 64, 58 ff., 70, 82, 87, 129, 152 f., 173, 231 f., 265, 272, 276, 283 f., 290, 314, 319 affektiv-kognitive Bezugssysteme 47, 51 f., 82, 84, 87, 195, 210, 250, 272, 279, 281, 284, 286, 294, 305, 316, 324, 328 affektive Besetzung 120, 162, 177, 233 Affektkontrolle 239 f. Affektspirale 59, 122, 190 Aggression, Aggressivität 39, 59, 79, 82, 85, 101 f., 167, 184, 186 f., 190, 230, 257, 262, 312 aggressiv 48, 58, 88, 97, 101 f., 124, 157, 164, 183 f., 186 f., 221, 249, 256, 259, 276, 283, 297, 304 f., 312, 320, 330, 340 Akkommodation 26, 277, 284 akkommodieren 277

Alltag 45, 56, 79, 96 f., 106, 123, 129, 133, 150, 157, 159, 167, 174, 179, 182, 186, 191, 194, 201, 203, 205 f., 210, 217, 219, 246, 286, 292, 307, 309 ff., 314, 316, 318, 321, 332 Alltagslogik 77, 104 ff., 108, 111 f., 122 f., 153, 157, 161, 167 f., 205 f., 242, 247, 255, 263, 268, 274, 281, 287, 290, 302, Alltagsstimmung 69, 97, 104 Alltagswirklichkeit 244 Alzheimer-Krankheit 234 ambivalent 98, 218, 313 Ambivalenz 42, 69, 80 f., 195, 207, 229 Amygdalae 53 angeborene Lehrmeister 27, 40, 124 Angst 12, 47 f., 56–59, 64, 69, 79 f., 82, 84, 93, 95, 97 f., 100, 104, 111, 119, 159, 164, 166 f., 179 ff., 184 f., 189, 199 f., 202, 212, 222, 230, 253 f., 256, 258, 267, 278, 290, 299, 302, 306, 313, 335 f., 338 Angstlogik 60, 76, 103, 121, 153, 160, 168, 179, 182, 249, 267, 274, 287 Ansteckung, emotionale 247, 263, 307, 312, 249 f., 262 Anthropologie, philosophische 69 anthropologisch 12, 93, 174, 240 appraisel 45, 71, 273 f. Assimilation 25, 276 f., 284 Attraktor 42, 101, 109, 132, 139 f., 142– 147, 153 f., 157, 159, 161 f., 167 f., 179, 181 f., 190, 197, 199, 207, 213, 215, 217, 219 f., 225, 234, 249, 252, 256, 263, 281, 303, 321, 340 f.

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Sachregister

Attraktorbecken 145 f., 155, 174, 216, 303 Attraktorlandschaft 143 Aufklärung 22 Aufmerksamkeit 47, 49, 59 f., 80, 82, 95 ff., 100, 102, 118, 124, 126, 155, 157, 161 f., 164, 172, 190, 196, 198, 201, 207, 211, 228, 245, 305, 324–327, 330 Autoaggression 190 Autopoiese 28, 112 Basisgefühle (s. auch Grundgefühle, Primärgefühle) 59, 80 behavioristisch 38, 47, 52, 215 Bekehrung 315 Bekehrungserlebnisse 315 Belohnungssystem 57 Belusow-Zhabotinski-Reaktion 135 Bénard-Instabilität 135, 265 Beobachter 28 f., 43, 90, 152, 243 f., 267 Bewegungstherapeut, Bewegungstherapie 305, 307 bewußt 22, 26, 37, 39 f., 42, 49, 56, 63, 66, 68, 73, 99, 103, 106 f., 111, 119, 123 ff., 160 ff., 165, 180, 191, 256, 263, 274, 304 f., 307, 314, 321, 326, 332, 340 Bewußtsein 22, 46, 60, 63, 66–69, 73, 95, 100, 103, 105, 107, 123 f., 155, 157 f., 161 f., 164, 168, 195 ff., 202, 246, 255, 272, 279, 321, 323–329, 331, 338 Bifurkation 127, 135–138, 145, 166, 216, 234, 267, 281 Bindung 58, 87 f., 102, 106, 187, 189, 193, 214, 228, 231 biochemisch 168 biogene Amine 59 Biologie 26, 34, 84, 132, 142 biologisch 11, 13, 89, 113, 168, 266, 273 biologische Rhythmen 288 Biorhythmen 143 Borderline 174, 234 Chaos 129, 132, 135, 137, 139, 141 f., 331 chaostheoretisch 9, 38, 60 f., 92, 95 f., 109, 119, 126, 129 f., 133, 169, 188,

200, 208 ff., 213, 215 f., 219 f., 224 ff., 235, 241, 243, 245, 252, 259 f., 264, 273, 276, 279, 281 f., 285 ff., 290, 303, 331 Chaostheorie 25, 129–132, 134, 137, 144, 147, 153, 162, 166, 169, 213, 264, 272, 286, 341 Chemie 38, 58, 132 Computer 23, 39, 112, 128, 139, 149 ff., 205, 308, 329 computerisiert 111, 319 Computermodell 72, 156, 261, 319 Computersimulation 61, 171, 173, 225 Constraint 27, 33, 43, 140 Deduktion 27 f., 34 deduktiv 27 f., 34 Definition 64–70, 72–75, 78, 104, 120, 123, 127, 230 266, 280 definitorisch 11, 28, 45, 51 f., 62, 65, 70, 78, 81, 262, 273, 290 Denkkollektiv 241 f., 263 Denkstil 12, 237, 242 ff., 258, 262 f. Depression 64, 79, 95, 102, 105, 123, 159, 189 f., 208, 229, 231, 268, 286, 300 depressiv 50, 59, 61, 99, 105, 159, 174, 190, 219 f., 223, 229, 232, 256, 294, 303, 305, 313 Desaktualisierung 126, 275, 281, 286 Dezentration 32, 198, 278, 326, 338 Dimensionalität 148 f. dissipative Struktur 95, 131, 135, 153, 171, 210, 213, 219, 226, 240, 252 Dopamin 58 f., 127 Drogen 60, 66, 98, 162, 212, 214 ff., 225, 287 EEG, elektorencephalographisch 59 ff., 81, 158, 225, 331 Eifersucht 64, 79, 214, 222 Eigenwelt 106, 154, 168, 173 f., 179, 182, 190, 194, 202, 204, 207 f., 215, 217, 219, 229, 242, 252, 256, 263, 274, 277, 284, 302, 315, 317, 319, 328, 332, 338 Ekel 65, 80, 83, 121, 222, 302, 316 Ekstase 80, 196, 198, 325 ekstatisch 230 Emergenz 113, 152, 265–268, 327, 329 emotionsbiologisch 272

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Sachregister Empathie 80 Endorphin 58 f., 128, 304 energetisch 62, 74, 93, 99, 124, 127, 129, 143, 153, 155 f., 158, 169, 202, 216, 234 f., 246, 264, 281, 287, 325, 330 Energie 25 f., 37, 43, 67, 94 f., 100, 107 ff., 111 f., 119, 123, 129, 131, 135 f., 142 f., 146 ff., 155, 157 ff., 161, 168 f., 203, 219, 226, 234, 241, 263, 267, 273, 275, 285, 290, 325, 328 f. Energiekuppe 159 Energiesenke 143 f., 159, 210 Entropie 111, 137, 143 Entspannung 47, 60, 108, 111, 115, 157, 159, 190, 219, 297, 299, 302, 321 f., 342 epidemiologisch 38 Ereignishorizont 20 Erinnerung (s. auch Gedächtnis) 69, 97 f., 160, 164, 166, 194, 199, 213, 216, 251, 275 Erkennen 13, 19, 22, 25, 32, 41 ff., 70, 72, 117, 235, 242, 264, 276, 283, 317, 322, 327 Erkenntnis 12, 21 f., 24, 26, 30, 32, 38, 40, 65, 70 f., 199, 276, 321 f. erkenntnistheoretisch 13, 20, 29, 31, 35, 41, 43, 200, 208, 242, 271, 282, 284, 290, 308, 317, 333 Erkenntnistheorie 25, 37, 283 erotisch 197, 221, 312 ethisch 13, 87, 175, 187, 271, 291, 293, 323, 337, 339 f. Euphorie 80, 230, 235, 315 euphorisch 50, 105, 230, 252, 312 Evolution 14, 27, 32, 85, 124, 151, 153, 216, 266, 283 f., 308, 334, 337 evolutionär 14, 27 f., 32, 42, 49, 53, 59, 67, 70, 73 f., 83, 101, 105, 119 f., 186, 197, 283 f., 286, 290, 312 f., 322, 324, 337, 340 evolutionäre Erkenntnistheorie 14, 27, 30, 172, 283, 325 evolutionäre Lehrmeister 73 expressed emotions 224 Feigenbaumsche Konstante 135 Fließgleichgewicht 112, 131, 144, 172, 210, 213, 224, 281

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Flucht 67, 80, 84, 100, 218, 254, 256, 283 Fluktuation 134, 137, 145 Fortschritt 22, 113, 122, 239, 274, 314, 335 fraktal 13, 42, 53, 92, 118 f., 124, 132, 141, 143, 148–154, 157, 166, 169, 245, 250, 289, 341 Fraktalität 88, 129, 132, 137, 149, 151, 163, 171, 282 Fraktalstruktur 137, 151 ff., 163, 169, 170, 207, 273 Freiheit 132, 157, 242, 255, 279, 323, 331 f., 334 Freiheitsgrad 40, 47, 85, 88, 101, 133, 145, 148, 331 f. Freude 59 f., 64, 79 f., 82 f., 95, 97, 101, 104 ff., 120, 122, 159, 164, 167, 191, 193 f., 201, 203, 207 f., 256, 278, 290, 302, 304, 318, 321 f., 325, 339 f. Freudelogik 76, 103, 121, 123, 153, 160, 168, 173, 249, 252, 268, 274, 287 Fühl-, Denk- und Verhaltensprogramm 47, 263, 280, 290 Fühl-, Denk- und Verhaltensschiene 106, 314 Fulguration 152 Fundamentalbotschaft 299 Funktionslust 108, 110 fuzzy logic 68 GABA 59 Gedächtnis (s. auch Erinnerung) 30, 37, 46 f., 55 f., 60, 71, 75, 97 f., 104, 118, 124, 127, 180, 194, 199, 234, 250 ff., 275, 280 f., 290, 325 Gedankenfreiheit 330, 332 ff. Gegenübertragung 166, 294 Geist 23, 33, 72, 89, 158, 196, 201, 277, 307 ff., 322 f, 329, 341 Geisteswissenschaft 90, 131 f. geisteswissenschaftlich 92, 172 geistig 21, 26, 46, 53, 61, 90, 100, 102, 109 f., 113, 115, 117, 122, 180, 194, 276 f, 284, 305, 322, 329 genetische Epistemologie 13, 272, 277, 289 Geometrie 78, 110, 150 geschichtlich 90, 114, 201

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Sachregister

Geschichtlichkeit 264, 287 Gestalt 27, 47, 73, 85, 148 f., 154, 165 f., 181, 195, 198, 228, 235, 243, 246, 273, 278, 322 Gestaltpsychologie 73 gestaltpsychologisch 28 Gestaltwahrnehmung 74 Gewalt 33, 101, 157, 167, 174, 180, 183, 185, 187, 189, 217, 239, 259, 295 f., 303, 312, 339 Glauben 82, 87, 256 f. Grenzzyklus 141 Grundgefühle (s. auch Basisgefühle, Primärgefühle) 49, 59 f., 63, 78, 81, 84, 120 f., 159, 164, 169, 189 f., 325 Gruppe 20, 39, 62, 79, 82, 87, 94, 96, 106, 156, 164, 168, 173 f., 194, 213, 221, 238, 243, 246–249, 252, 254, 256, 260 ff., 266, 298, 307, 338, 342 Habituation 275 Halluzination 223, 229, 232, 253, 295 Haß 77, 79, 106, 183 f., 186, 189, 222, 241, 248, 256 f., 275, 316, 319, 334, 339 Hippocampus 53, 55 hirnorganisch 174, 234 Hirnstamm 53 f., 57 f. historisch 23, 28, 38, 78, 167, 175, 201, 238, 247, 319 Hoffnung 22, 56, 77, 80, 119, 218, 260 f., 318, 321 f., 336 Homoeostase 83, 112, 203 homoeostatisch 112, 159 Horizont 37, 40–44 hormonal 56 f., 64, 67, 71, 86, 91, 224, 227 Hunger 50, 59, 68, 80, 85, 100, 189, 201, 274, 335 Hypnose 196 hypnotisch 60, 98, 246 Hypothalamus 54, 57 Hysteresis 260 Ich-Psychologie 275 Identität 76, 101, 109, 127, 167, 186 f., 202, 217, 222, 228, 243, 247, 250 ff., 256, 274, 307, 338 f. Ideologie 48, 87 f., 102, 106, 121, 154, 164, 172, 202, 255, 257 f., 266, 315 f., 318

Induktion 27 f., 254 Information 39, 42 f., 60, 74 f., 97, 99, 106, 109, 119, 140, 157 f., 165, 172, 203, 249, 256, 261, 284, 292, 297, 301, 325, 327 ff. Informationsverarbeitung 23, 39, 60, 62, 70–73, 104, 143, 326, 328 Informationsverdichtung 46, 158, 324, 327 Informationsverlust 289 Inprint-Hypothese, affektiver Inprint 127 f., 280, 290 Instinkt 53, 85 f., 90, 99 Intelligenz 208 emotionale 282 Interesse 80 f., 83 ff., 100, 120 Interesselogik 104 Intermittenz 136, 267 Introspektion 45 Intuition 41, 63 intuitiv 26, 40, 65, 74, 150, 153, 157, 162, 206, 226, 249, 274, 278, 311, 319 Invarianz 30, 72 ff., 116 f., 150, 326 irrational 45, 241, 320 Iteration 135, 139, 148 iterativ 135, 146 ff., 157, 168 Jähzorn 165 Kampf 67, 81, 85, 101, 183, 187, 189, 239, 241 Katastrophentheorie 131 katathymes Bilderleben 293 Kind 26, 49, 58 f., 76, 113, 187, 193, 204, 297, 308, 326 Kindheit 116, 127, 166, 203, 211, 219, 307, 328 Kognition 12, 13, 30, 51, 55, 65 f., 70–75, 78, 84, 87 f., 93 f., 99, 103, 120, 127, 191, 210, 234, 241, 274, 279, 283 kognitive Strukturen 12, 26, 46, 87, 116, 118, 46, 272 kognitive Verhaltenstherapie 301 f. kognitives Unbewußte 40, 73, 124 f. kognitivistisch 319, 325 Kombinatorik 120 f. Kommunikation 27, 39, 48, 63, 165, 228, 240, 242, 249 ff., 290, 296, 307, 310 f., 316

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Sachregister Komplexitätsreduktion 39, 42, 99, 106, 113, 118 f., 123, 146, 172, 240, 289, 321, 326 Komplexitätstheorie 130 Konformitätsdruck 263, 265 Konstrukt 30–33, 36, 67, 160, 172, 291, 317, 333 f. Konstruktion 26, 31, 47, 123, 238, 243, 276 Konstruktivismus 26 ff., 30ff., 34 f., 70, 77 konstruktivistisch 14, 29, 35, 37, 72, 90, 104, 171, 201, 207 f., 241, 244, 284, 290 f., 337 f. Konversationsmaschine 244 Kontrollparameter 146, 216, 225, 234, 247, 295, 303 Körper 30, 66 f., 100, 106, 179, 253, 290, 293, 304–307, 309, 322 Körpererleben 63, 71 Körpergedächtnis 306 körperlich 47, 67 f., 304, 306 f. Körperschema 305 f., 313 Körpertherapie 307 Krankheit 112, 224, 309, 315 kreativ 12, 107, 137, 153, 157, 162, 194, 197, 206, 220, 268, 321, 338 Kreativität 113, 290, 321 f. Kreisattraktor 139 ff. Krieg 77, 101, 114, 119, 167, 181, 187, 200, 247, 251, 258, 260 f., 332, 335 Krise 109, 115, 129, 138 f., 153, 155 f., 167, 211 ff., 219, 222 f., 243, 255, 260, 298, 315 f. Krisenintervention 212 f., 216 Kritik 9, 43, 113, 150, 172, 238 Kultur 28, 63, 77, 81 ff, 97, 107, 112, 124, 172, 201, 235, 239, 243, 284, 313, 324, 328, 332 kulturell 38, 64, 82, 85, 88, 123, 167, 175, 206, 238, 240, 249, 255, 300, 313, 332 künstliche Intelligenz 319 künstliche Wirklichkeit 308, 319 kybernetisch 72, 111, 117, 154, 158 Langeweile 79 f., 114 langweilig 288, 313 Lärm 106, 132 ff., 138, 154, 193, 335 Lebenstrieb 276 Leib-Seele-Problem 89, 92

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Leid 79, 113 f., 157, 188 f., 309 lerntheoretisch 167 Lerntheorie 47, 50 libidinös 275 Libido 274, 276 Liebe 51, 59, 65, 79 f., 83, 97, 102, 123, 164, 167, 174, 189, 191, 193, 196 f., 200 ff., 205, 207, 217, 240 f., 256, 276, 302, 309, 315, 318, 321 f., 334, 336, 340 Liebeslogik 61, 104, 194, 309 limbisches System 53 f., 57, 128, 232, 294 Logik 11, 23, 25, 27, 30, 45, 51, 61, 76 ff., 84, 96, 103, 106 f., 109–112, 118, 120, 175, 183, 188, 194, 201, 206, 208, 241, 243, 255 f., 276, 278, 284, 290, 314, 317, 326, 334, 340 Lorenzattraktor 141 Lust 14, 42, 47, 50, 57, 59, 83, 85, 93, 102, 108–112, 117 f., 143, 155, 157, 161, 191 f., 194, 207, 214, 216, 263, 277, 285, 289, 291, 305, 309, 314, 322, 336, 340 Lustprinzip 276 Magersucht 305 majorisierende Äquilibration 115 makrosozial 163, 165, 171, 257, 260, 262, 264, 316 f. Manie 66, 220 f., 229 ff., 287 maniform 65, 159, 286, 305 manisch 61, 99, 219 ff., 229, 232 Masse 260 Masochismus 161 Mathematik 25, 38, 90, 93, 129 mathematisch 25, 27, 72, 76, 96, 103 f., 117, 129, 131, 139, 141 f., 146, 150, 156, 171, 206, 260, 319, 329 Mediator 58, 92, 172 Meditation 219, 322 Melancholie 66, 79, 102, 189, 190, 220 f., 230 f., 287 Menschenbild 201, 317, 323 Mentalität 88, 105, 207, 215, 238, 250, 262, 332 mikrosozial 163, 165, 252, 264, 316, 339 Mimik 81 mimisch 63, 66, 68, 81, 304 Mißtrauen 79, 184 f., 240, 253

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Sachregister

Mode 88, 233, 262 Moderne 22 f. Molekularbiologie 38 Motivation 63 ff., 71, 84, 86, 88, 94, 100, 105, 119, 216, 247, 274 f., 283, 286, 334 motivierend 51, 103, 245, 273, 279, 312, 330 Musik 149, 235, 249, 308, 312 Musizieren 304, 307 Mustererkennen 73 Mut 79, 267, 285 Mutter-Kind-Beziehung 58, 91, 127 Nationalsozialismus 183, 252, 257 Nationalsozialisten 184, 258, 250 nationalsozialistisch 241 Natur 25, 27, 30, 36, 63, 82, 88, 129, 132 f., 149, 216, 259, 287, 292, 308, 329, 335, 341 Naturwissenschaft 24, 31, 34, 38 f., 89, 134, 204, 242 naturwissenschaftlich 34, 39, 76, 130, 280 Nebenrealität 162, 207, 229 neuroanatomisch 38, 127, 232, 280 Neurobiologie 283, 289 neurobiologisch 11, 14, 42, 52 f., 56, 58, 61 f., 68, 74, 84, 94, 130, 172, 224, 280 f. Neuroleptika 221, 232, 294, 296, 298, 300 neuroleptisch 223, 295, 297 f. neuronale Plastizität 56, 91, 121, 227, 280 Neuropeptide 59 Neurophysiologie 73, 123, 171 neurophysiologisch 38, 59, 72, 91, 125, 155, 158, 161, 171, 200, 202, 232, 235, 273, 275, 280 f. Neurose 174, 209, 213, 234, 286, 305, 314 neurotisch 124, 174, 179, 189, 210, 212 f., 219, 234 neurotransmittorisch 91, 127 Neutralisierung 275 Objektbeziehungspsychologie 59, 102 objektiv 34, 64, 331 Objektivität 32, 34 Objektkonstanz 278

Objektrepräsentanz 48 f., 160, 327 ontisch 30, 43, 67 Ontogenese 43 ontogenetisch 83, 94, 175, 272, 324 Ontologie 23 ontologisch 21 f., 30 Operatorwirkungen von Affekten 49, 86 f., 99, 244, 250, 274, 276, 287, 290, 305, 310 Ordnungsparameter 146 f., 155 ff., 169, 173 f., 213, 216, 225 f., 234, 247, 316, 338 Orgasmus 111, 216 Orientierungsreaktion 100, 325 Paradigma 25, 242 Parasympathicotonus 283 parasympathicoton 67, 81 Persönlichkeit 55, 58, 97, 165, 172, 190, 202, 206, 213, 224, 234, 255 multiple Persönlichkeit 217, 234 Phänomenbereich 29, 46, 65, 91, 167 ff., 227, 274 Phänomenologie 174 f., 196, 285 phänomenologisch 38, 52, 157, 173, 183, 199 f., 232, 285, 287 Phasenraum 140 f., 145, 157, 159 Pheromone 320 Philosophie 19–24, 39, 69, 93 philosophisch 21, 27, 76, 87, 114, 201, 208, 282, 291, 322 Phylogenese 43, 283 phylogenetisch 49, 75, 101, 283 Physik 30, 34, 38, 93, 132, 265, 287 Physiologie 68 physiologisch 21, 36, 64, 91, 280, 331 physiotherapeutisch 306 Politik 257, 260 f., 292, 310 politisch 24, 77, 87, 106, 114, 145, 164, 166, 174, 246, 252, 260 f., 266, 311, 315 f., 319 Pornographie 217 postmodern 19, 21 Postmoderne 22, 25 Potentiallandschaft 96, 145 ff., 155, 160, 182, 213, 234, 283 präfrontal 54 f., 232 Primärgefühl 81 Primaten 49, 53, 63, 83, 86, 323, 326, 334

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Sachregister Psychiatrie 13, 37 f., 173, 209, 233, 235, 258, 290, 294, 296, 304 psychiatrisch 12, 45, 174, 221, 253, 272, 286, 292, 295, 301, 303, 307 psychisches Tempo 105, 221, 288, 322 Psychoanalyse 13, 40, 50, 124, 161, 166, 190, 257, 272 ff., 276, 289, 293, 301 psychoanalytisch 38, 48, 50, 52, 58, 102, 124, 126, 167, 187, 195, 198, 215, 238, 256, 273–276, 286, 308, 334 psychobiologisch 63, 91 Psychodynamik 120, 129 f., 290 psychodynamisch 45, 52, 63, 153, 156, 290 Psychoimmunologie 68 psychoimmunologisch 91, 280 Psychologie 11–14, 34, 85, 93, 102, 169 ff., 173 f., 237 psychologisch 9, 11, 38, 50 ff., 63, 87, 91, 101 f., 124, 153, 168, 171, 174, 179, 206, 223, 227, 263, 273, 280 Psychomotorik 55 Psychopathologie 13, 97, 169 f., 173 f., 209, 221, 233–237, 285, 290, 295, 298 psychopathologisch 38, 45, 52, 127, 130, 141 f., 153, 156, 181, 209 f., 219, 224, 235 f., 262 f., 282, 285 ff., 298, 310 Psychopharmaka 232 f., 294, 320 psychophysiologisch 63 f., 273 Psychose 162, 174, 196 ff., 203, 209 f., 220–224, 226, 229 f., 232 f., 252, 254, 286, 288, 295, 315 psychotisch 60 f., 68, 107, 124, 129, 141, 153, 156, 162, 174, 179, 189, 196 f., 220, 222 f., 223, 225–229, 231, 234, 295–298, 300 Psychosomatik 68 psychosomatisch 52, 67, 304 psychotherapeutisch 45, 209, 211, 214, 220, 222, 233, 292 ff., 301, 303, 309 Psychotherapie 68, 212, 218, 223, 292, 299, 304 f., 311, 314 Punktattraktor 140, 143, 159 Quantentheorie 24 Rache 79, 82, 182–185, 189 ratiomorpher Apparat 30

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rational 11, 34, 76 f., 94, 107, 109 ff., 221, 238, 240, 259, 260, 281 f. Rationalismus 27, 34, 76 Raum 313 räumlich 265, 313 Realismus 31 Realität 22, 25 ff., 29–36, 43, 67, 70, 141, 156, 162, 179, 185, 196 f., 200, 319, 338 Realitätsbezug 211, 297 Reflexe, bedingte 47 Relativitätstheorie 24 Religio 198 Religion 102, 164, 238, 255, 257 religiös 32, 63, 88, 106 f., 174, 196, 254, 265 f., 313, 315 f., 319, 321 Repräsentanz 30, 61, 71, 75, 228 Repräsentation 127, 286 Repulsor 100, 109, 143 f., 155, 157, 159, 161 Rösslerattraktor 141 Rhythmen, Rhythmus Rhythmik 304, 309, 312 rhythmisch 149, 288 Säuger 53 f., 58, 67, 81, 85 f., 152, 274 Schachspiel 319 Scham 65, 79–82, 98, 121, 240, 302 schizophren 99, 106, 159, 174, 202, 212, 219, 221, 224–229, 231 f., 302 Schizophrenie 12, 37 f., 130, 156, 222, 224 ff., 229–232, 234, 253, 282, 294, 298 schizophreniform 221 Schlaf 57, 67 f., 81, 221, 283, 288, 325, 328 Schmerz 102, 114, 161, 183, 189 f., 309 Schmetterlingseffekt 139, 213, 260 f., 263, 316 Schönheit 107, 192 ff., 198 f., 321, 335, 341 f., schöpferisch 107, 199, 264, 321 Schreck 56, 60, 80, 83, 95, 181, 214 Schuld 64, 79, 80 ff., 87, 181, 183, 212, 220, 239, 261, 332 Schwermut 79 Sekten 174, 252, 254, 256, 315 selbstähnlich 13, 137, 142, 148, 150, 154, 157, 165 f., 168 f., 175, 182, 190, 247, 259, 262, 268, 320, 328

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Sachregister

Selbstähnlichkeit 88, 129, 132, 138, 147 f., 151, 163, 168, 173, 262, 264, 273, 286, 316 Selbstbewußtsein 323, 326 Selbstorganisation 156, 281, 301 selbstorganisatorisch 27, 52, 131, 138, 145, 150, 156, 206, 210, 224, 240, 263, 300, 327, 336 f. Selbstrepräsentanz, Selbstrepräsentation 48 f., 275 f., 305, 327 Selbstverständlichkeit 106, 111, 154, 186, 206, 215, 258, 263, 310 Selektion 27 f., 33, 44, 49, 73, 96, 99 104, 106, 118, 182, 216 semiotische Funktion 46, 112 Sensor 37, 43 Sexualität 57, 67, 81, 85, 217 f., 243, 255, 283, 312 sexuell 83, 85, 101, 111, 197, 217 f., 320 sokratisch 19 Solipsismus 33 Soteria 221, 296 sozial 12 f., 24, 27, 36, 48, 51, 75, 80 f., 83, 87, 89, 91, 99, 101, 106, 113 f., 124, 129 f., 132, 137, 156, 163, 167 f., 174 f., 187, 194, 197, 202, 211, 215 f., 223 f., 227, 237–241, 244, 246 f., 249, 252, 255, 257, 260, 263, 290, 296 f., 307, 316, 321, 324, 329, 338–341 Sozialisation 243 sozialpsychiatrisch 9, 14, 180 soziodynamisch 38, 45, 52, 167, 171, 264 Soziologie 14, 237 ff. soziologisch 238 f., 241, 244 Spannungslösung 43, 77, 94, 107 f., 110 ff., 114 f. Spiel 24, 56, 58 f., 87, 102, 164, 214, 244 ff., 296, 307 f., 326 Sport 87, 190, 244, 247, 249, 304 f., 315 Sprache 13, 24, 27, 29, 82, 241 f., 264, 276, 301, 311, 324 sprachlich 26 f., 34, 40, 46, 62, 66, 83 f., 117, 124, 249, 276, 324, 327 statistisch 298 Streß 92, 280, 314 Strukturdynamik 12, 209, 235, 285 strukturelle Koppelung 29, 91 f., 172, 227, 290

subjektiv 20, 35 f., 63 ff., 156, 158, 173, 273, 288, 297 f., 302, 331–334, 338 Subjektivität 34, 334 Sublimation 275 sublimiert 86, 276, 329 Sucht 209, 214, 216 f. Symbol 66, 75, 143, 196, 238, 246, 250, 276 symbolisch 26, 46, 101, 117, 155, 185, 222, 247, 261, 276, 282, 324 sympathicoton 67, 81, 283 Synergetik 131, 146 System 9, 13, 24 f., 29, 32, 42, 54–57, 64, 74, 76, 93, 108, 112, 117 f., 127, 131–135, 138, 140, 142–150, 152 f., 155, 161, 166, 168–171, 210, 226, 240 f., 264, 272, 279, 287, 290, 316 f., 331, 335 Systemdynamik 61, 137 f., 141, 146 f., 333 Systemdynamismen 142, 145, 160 Systemgrenze 130 systemisch 167 systemtheoretisch 13, 240, 272, 280 Systemtheorie 27, 131 f., 272 therapeutisch 45, 68, 163, 171, 174, 202, 212, 221 ff., 227, 288, 294–297, 299, 307 Thermodynamik 131 Tier 27, 47, 49, 57 f., 63, 67, 85, 100 ff., 134, 138, 145, 148 f., 152, 173, 198, 217, 241, 247, 249, 259, 266, 283, 323–326, 334, 341 Tod 29, 33, 111, 143, 183, 188, 220, 243, 255–258, 292, 309, 323, 335 Todestrieb 276, 340 Torus 140, 143, 154 Torusattraktor 141 f., 159 Tragödie 114, 182 f., 189, 254 Trajektorie 140 f., 147, 161, 166 ff.,182 transkulturell 12 Trauer 57, 59, 65, 81, 83 f., 87, 95, 97 f., 120, 122, 159, 16 ff., 174, 187, 189, 190 f., 201, 208, 230, 249, 266, 275, 290, 302, 336, 339 f. Trauerarbeit 102, 187, 189 Trauerlogik 61, 77, 104, 121, 153, 168, 200, 249, 268, 274 Traum 60, 108, 162, 167, 218, 222, 325

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014370 — ISBN E-Book: 9783647014371

Sachregister Trieb 85 f., 89, 99, 255, 273 f., 276, 278, 283, 285 Triebaufschub 111, 161 Übertragung 48, 121, 165 f., 275, 294, 317 unbewußt 39 f., 42, 48, 63, 66 f., 69, 73, 97, 105 f., 109 ff., 118, 123 f., 157, 161 f., 194, 198, 206, 211, 272, 274, 305–308, 310, 312, 320, 323, 331, 334 Universalien 27, 40, 63, 124 emotionale 63, 81 Universum 334 Unlust 50, 64, 79, 83, 107 f., 110–113, 117, 155, 161, 191, 215, 263, 273, 289, 314, 327, 340 Unschärferelation 24 Urangst 243 Varianz 72 ff., 116, 150 vegetativ 55 ff., 61, 63, 81, 91, 103, 221, 228, 230, 273, 280 Verachtung 39, 79, 316 verantwortlich 333 Verantwortung 36, 183, 323, 332 verdichtet 48, 116, 181, 325, 328, 330, 342 Verdichtung 75, 327 verdrängen 166 Verdrängung 73, 102, 124 f., 275, 317 Verlangsamung 315, 322 verrückt 210, 229, 252, 257 Verrückung 213, 215, 262 versklaven 146, 156 f., 162, 213, 216, 227, 249, 316 Versklavung 146 f., 213, 250, 257 viabel 33, 172, 315, 317 Viabilität 30 f., 44, 291, 317 f. Vorurteil 88, 105, 107, 109, 157, 263, 295 Wachzustand 288 Wahn 61, 100, 157, 197, 221, 223, 226 f., 229, 231 f., 252, 335 Wahnsinn 192, 196, 226, 317 Wahrheit 21–25, 30, 32 f., 39, 44, 62, 104, 242, 284 f., 290, 338, 340

371

wahrnehmen 28, 31, 42, 69, 72 f., 100 f., 105, 108, 123, 153, 182, 242 Wahrnehmung 11, 22, 29, 37, 48, 57, 65, 70, 73, 95, 97, 106, 117, 127, 153, 164 f., 194, 274 Werthaltung 84, 87 f., 260, 266 Wertsystem 77, 84, 87 ff., 106, 260, 315 Wertvorstellung 82, 105, 107 Wetter 96, 131 f., 139 f., 142, 146, 218 Wille 23, 84, 87–90, 99, 278 f., 311, 323, 330 f. Willensfreiheit 330, 332 Wirklichkeit 11, 22, 28, 30, 32 f., 35 f., 42 f., 84, 120, 182, 199, 208, 238, 243, 291, 308, 334 wissenschaftsphilosophisch 89 wissenssoziologisch 244 Wissenschaftstheorie 23 Wut 57, 59, 61, 65, 79, 81, 83 ff., 95, 97 f., 101 f., 105, 119 f., 122, 159, 164, 166 f., 185 f., 190 f., 202 f., 208, 230 f., 247, 257, 259, 267, 275, 290, 300, 302, 305 f., 316, 321, 325, 339 f. Wutlogik 61, 77, 104, 121, 153, 160, 164, 168, 184, 186, 189, 249, 268, 274, 287, 309 Zeit 11 f., 21, 24, 27, 33, 40 f., 48, 50, 88 f., 103, 106, 108, 110, 114, 123, 131, 135, 139, 149, 157, 166, 174, 182, 187, 193, 200, 204, 207 f., 211, 213, 215, 220, 229, 231, 233, 236, 251, 254, 259, 263, 271, 279, 287, 291, 293, 308, 313 ff., 318, 341 f. Zeitalter 308 Zeiterleben 105, 221, 287 ff. Zeitgeist 258, 262 zeitlich 166, 265, 287, 290 Zeitlichkeit 264, 287, 290 Zeitmessung 143 Zeitpfeil 287 Zeitreihen 225, 235 Zeitstruktur 152 zustandsabhängiges Lernen und Erinnern 275 Zustandsraum 140, 154, 161, 169

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014370 — ISBN E-Book: 9783647014371

Die Kraft der kollektiven Emotionen

Luc Ciompi / Elke Endert Gefühle machen Geschichte Die Wirkung kollektiver Emotionen – von Hitler bis Obama 2011. 272 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40436-2

Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der großen Gefühle – im Positiven wie im Negativen. Luc Ciompi und Elke Endert verschmelzen Erkenntnisse aus Psychologie, Soziologie, Politik und Geschichte zu einem eigenen Erklärungsansatz. Naturkatastrophen, Krieg und Terror, politische, sportliche und kulturelle Großveranstaltungen: Fernsehen, Radio und Internet übermitteln uns jeden Tag neue Bilder kollektiver Wut, Angst oder Freude. Wie Emotionen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Gedächtnis und somit Denken und Handeln massiv beeinflussen, erläutern Luc Ciompi und Elke Endert in diesem fachübergreifenden Essay. Unter die Lupe genommen wird unter anderem die Macht der Wir-Gefühle im Nationalsozialismus, im Israel-Palästina-Konflikt und bei der Wahl Barack Obamas zum amerikanischen Präsidenten. Gedanken darüber, welche Konsequenzen sich daraus für unser Menschenbild, für die Krisenintervention, Mediation und die Bewältigung von kollektiven Traumata ergeben, beschließen die scharfsichtige Analyse. »Das Buch ›Gefühle machen Geschichte‹ ist faszinierend, oft berührend und jedenfalls sehr zum Lesen zu empfehlen.« Systeme (Otmar Mittermayr)

Verlagsgruppe Vandenhoeck & Ruprecht

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525014370 — ISBN E-Book: 9783647014371

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