Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos: und ihr systematischer Standort im Verbrechensaufbau [1 ed.] 9783428421305, 9783428021307

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Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos: und ihr systematischer Standort im Verbrechensaufbau [1 ed.]
 9783428421305, 9783428021307

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HERMANN ROEDER

Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos

Schriften zum Strafrecht Band 10

Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos und ihr systematischer Standort im Verbrechensaufbau

Von

DDr. Hermann Roeder o. Profe88or der Rechte an der Universität Graz

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gec!ruckt 1969 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

€I 1869 Duncker

Vorwort Die Zeit, wo die Fahrlässigkeit als "Stiefkind" der Strafrechtsdogmatik (Binding) ein Schattendasein führte, ist längst vorbei. In den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses ist sie freilich erst im Zeitalter der Technisierung und Motorisierung gerückt, in dem allein der heutige Straßenverkehr, wie die beunruhigenden Zahlen der Unfallstatistik ergeben, täglich und stündlich einen hohen Blutzoll fordert. Ein Staat aber, der den sozialen Fortschritt nicht hemmen will, muß für die Gemeinschaft nützliche, wenngleich riskante Tätigkeiten tolerieren. Einigkeit besteht daher in der Strafrechtswissenschaft darüber, daß der durch eine solche Tätigkeit einen tatbestandSmäßigen Erfolg Herbeiführende nicht bestraft werden darf, sofern er sich "verkehrsrichtig" verhält, also die "im Verkehr erforderliche Sorgfalt" beachtet. Dagegen gehen die Meinungen weit auseinander über den systematischen Standort des Strafausschlusses bei Einhaltung des "sozialadäquaten" Risikos. Diese Bezeichnung verdient wegen ihres neutralen Charakters vor der gebräuchlichen des "erlaubten" Risikos schon deshalb den Vorzug, weil sie nicht von vornherein auf den Unrechtsausschluß eines riskanten, aber straflosen Verhaltens abstellt. Handelt es sich somit im Rahmen des dreiteiligen Verbrechensaufbaues um einen Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit oder der Schuld? Zur Klärung dieser aktuellen Kontroverse, aber auch anderer mit ihr zusammenhängender Probleme beizutragen, ist das Anliegen vorliegender Schrift. Graz, im August 1969

H. Roeder

Inhalt 1. Kapitel: Der Begriff der Sozialadäquanz ............................

13

2. Kapitel: Der Begriff des sozialiadäquaten Risikos ....................

28

3. Kapitel: Das Wesen der Fahrlässigkeit im Lichte der modernen Straf-

rechtsdogmatik ......................................................

4. Kapitel: Der systematische Standort der Einhaltung des so:malad-

äquaten Risikos im Verbrechensaufbau ..............................

5. Kapitel: Berücksichtigung des soziIaladäquaten Risikos auch bei SChuld-

unfähigkeit? ........................................................

47 65 95

Abkürzungsverzeichnis AcP

Baumann, AT Beling, Verbrechen

BGB BGH BGHSt BGHZ Binding-Festschrift I, II Binding, Normen I, Il, IlI, IV Bockelmann, Ver-

Archiv für die civilistische Praxis

Baumann, Jürgen: Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Bielefeld 1968 Beling, Ernst: Die Lehre vom Verbrechen, Tübingen 1906

Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Festschrift für Karl Binding, 2 Bde., Leipzig 1911

Binding, Karl: Die Normen und ihre übertretung. Eine

Untersuchung über die rechtmäßige Handlung und die' Arten des Delikts. 4 Bde.: Bd. I, 4. Auft., Leipzig 1922; Bd. Il, 2. Aufl., Leipzig 1914/16; Bd. IIl, Leipzig 1918; Bd. IV, Leipzig 1919 Bockelmann, Paul: Verkehrs strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Hamburg 1967

kehrsstrafrechtliche Aufsätze DJT-Festschrift I, II Hundert Jahre Deutsches Rechtsleben. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860-1960, 2 Bde., Karlsruhe 1960 Dölle-Festschrift I, II Vom deutschen zum europäischen Recht. Festschrift für Hans Dölte, 2 Bde., Tübingen 1963 Graf zu Dohna Dohna, Alexander Graf zu: Der Aufbau der Verbrechenslehre, 4. Aufl., Bonn 1950 DRiZ Deutsche Richterzeitung DRZ Deutsche Rechtszeitschrift Deutsches Strafrecht (Zeitschrift) DStR Engisch, UntersuEngisch, Karl: Untersuchungen über Vorsatz und Fahrchungen lässigkeit im Strafrecht, Berlin 1930 Engisch, Konkreti- Engisch, Kar!: Die Idee der Konkretisierung in Recht sierung und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl., Heidelberg 1968 Exner, FahrlässigExner, Franz: Das Wesen der Fahrlässigkeit, Leipzig keit und Wien 1910 Frank-Festgabe I, II Festgabe für Reinhard v. Frank zum 70. Geburtstag, 2 Bde., ,Tübingen 1930 v. Frank, Komv. Frank, Reinhard: Das Strafgesetzbuch für das Deutmentar sche Reich, 18. Auft., Tübingen 1930 GA Goltdammers Archiv für Strafrecht Gerland, ReicbsGerland, Heinrich B.: Deutsches Reichsstrafrecht, 2. Aufl., strafrecht Berlin und Leipzig 1932 GS Der Gerichtssaal. Zeitschrift für Zivil- und Militärstrafrecht und Strafprozeßrecht sowie die ergänzenden Disziplinen

Abkürzungsverzeichnis

10

GZ

Ha.rdwig, Zurech-

nung Hedemann-Festschrift v. Hippel, Lb I, 11 Hir,chberg,

Schuldbegriff Horn, Rechtswidrigkeit JBI Je,check, Lb Je,check, Fahrlils-

sigkeit

Gerichts-Zeitung (Österreich)

HaTdwig, Werner: Die Zurechnung, ein Zentralproblem des Strafrechts, Hamburg 1957 Recht und Wirtschaft. Festscllrift für Justus Wilhelm Hedemann zu seinem 80. Geburtstag, Berlin 1958 v. Hippel, Robert: Deutsches Strafrecht, Bd. I, Berlin 1926; Bd. II, BerLin 11930 HirschbeTg, Rudolf: Schuldbegriff und adäquate Kausalität, Breslau 1928

Horn, Hans-Rudolf: Untersuchungen zur Struktur der Rechtswidrigkeit, BerUn 1962 Juristische Blätter (Österreich) Jescheck, Hans-Heinrich: Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, BerUn und München 1969 Jescheck, Hans-Heinrich: Aufbau und Behandlung der Fahrlässigkeit im modernen Strafrecht, Freiburg i. B. 1965

JR JuS JW JZ Kiena.pfel, Risiko Kahler, Fahrlässig-

keit Kohlrausch-Festschrift

Kohlra.usch-Lange,

Kommentar

Lampe, Unrecht Larenz, Schuldrecht (AT) v. Li,zt - Schmidt,

AT LK I, II

Ma.ura.ch, AT, BT Ma.ura.ch, Schuld

und Verantwortung H. Ma.yer, Lb H. Mayer-Festschrift M. E. Ma.yer, Lb MDR

Juristische Rundschau Juristische Schulung. Zeitschrift für Studium und Ausbildung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kienapfel, Diethelm: Das erlaubte Risiko im Strafrecht, Frankfurt a. M. 1966 KöhleT, August: Probleme der Fahrlässigkeit im Strafrecht, München 1912 Probleme der Strafrechtserneuerung. Eduard von Kohlrausch zum 70. Geburtstag darge'bracht, BerUn 1944 Kohlrausch - Lange, Strafgesetzbuch, 43. Auft., BerUn

1961 Lampe, Ernst-Joachim: Das personale Unrecht, BerUn 1967 Larenz, Karl: Lehrbuch des Schuldrechts, Allgemeiner Teil, 9. Auft., München und Berlin 1968 v. Liszt - Schmidt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil, 26. Auft., BerUn und LeipZig 1932 Strafgesetzbuch (Leipziger Kommentar), hrsg. von Mezger, Jagusch u. a., 8. Auft., Bd. I, BerUn 1957; Bd. II, BerUn 1958

Andere :Auflagen sind besonders gekennzeichnet

MaUTach, Reinhart: Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., Karlsruhe 1965; Besonderer Teil, 5. Aufl., Karlsruhe 1969 Maurach, Reinhart: Schuld und Verantwortung im Strafrecht, Wolfenbüttel und Hannover 1948 MayeT, He!tlmuth: Strafrecht, Stuttgart und Köln 1953 Festschrift für Hellmuth Mayer zum 70. Geburtstag, BerUn 1966 Mayer, Max Ernst: Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, Heidelberg 1915

Monatsschrift für deutsches Recht

Abkürzungsverzeichnis P. MerkeI, Grundriß Mezger, Lb

Mezge~!4oderne

Wege !4ezger-Festschrift Mezger - Blei, 'AT,

BT

!4schKrim !4schKrimBiol !4schKlimPsych Niese, Finalität Niese, Streik

NJW

Nowako'lDski,

Grundzüge OJZ

Oz

Rehberg, Risiko

RG RGSt RGZ

Rittler, AT, BT

Rlttler-Festschrift 1946 Rittler-Festschrift 1957 Roxin, Offene Tatbestände Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre Sauer-Festschrift Eb. Schmidt-Festschrift

Schönke-Schröder,

Kommentar SchwZStrR StGB StVG StvO

11

MerkeI, Paul: Grundriß des Strafrechts, Allgemeiner

Teil, Bonn 1927

Mezger, Edmund: Strafrecht. Ein Lehrbuch, 3. Aufl.,

Berlin und !4ünchen 1949

Mezger, Edmund: !4oderne Wege der Strafrechtsdogma-

tik, Berlin und !4ünchen 1950 Festschrift für Edmund Mezger zum 70. Geburtstag, !4ünchen und Berlin 1954 Strafrecht. Ein Studienbuch von Edmund Mezger, fortgeführt von Hermann Blei. Allgemeiner Teil, 13. Aufl., !4ünchen 1968; Besonderer Teil, 9. Aufl., !4ünchen und Berlin 1966 (Andere Auflagen sind besonders gekennzeichnet) Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform !4onatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform !4onatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform Niese, Werner: Finalität, Vorsatz und Fahrlässigkeit, Tübingen 1951 Niese, Werner: streik und Strafrecht, Tübingen 1954 Neue Juristische Wochenschrift Nowakowski, Friedrich: Das österreichische Strafrecht in seinen Grundzügen, Graz, Wien und Köln 1955 Osterreichische Juristenzeitung Osterreichische Zeitschrift für Strafrecht Rehberg, Jürg: Zur Lehre vom "Erlaubten Risiko", Zürich 1962 Reichsgericht Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Rittler, Theodor: Lehrbuch des österreichischen Strafrechts. Allgemeiner Teil, 2. Aufl., Wien 1954; Besonderer Teil, 2. Aufl., 'Wien 1962 Festschrift für Theodor Rittler in: Zeitschrift für österreichisches Recht und vergleichende Rechtswissenschaft, 1. Jg., Nr. 3/4, Innsbruck 1946 Festschrift für Theodor Rittler, Innsbruck 1957 Roxin, Claus: Offene Tatbestände und Rechtspflicht-

merkmale, Hamburg 1959

Sauer, Wilhelm: Allgemeine Strafrechtslehre. Eine lehr-

buchmäßige Darstellung, 3. Aufl., Berlin 1955 Festschrift für Wilhelm Sauer zu seinem 70. Geburtstag, Berlin 1949 Festschrift für Eberhard Schmidt zum 70. Geburtstag, Göttingen 1961 Schönke - Schröder, Strafgesetzbuch, 14. Aufl., !4üncben 1969 Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht Strafgesetzbuch Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsordnung

12

Abkürzungsverzeichnis

StVZO VDA III, VDB V v. Weber, Grundriß Welzet, Lb

Welzel, Fahrlässig-

keit

Wetzet, Neues Bild Wiethötter, Ver-

kehrsrichtiges Verhalten Erik Wolf-Festschrift Würtenberger,

Geistige Situation

zmv

Zimmert, Aufbau

ZÖR ZStW

Straßenverkehrszuliassungsordnung Vergleichende Darstellungen des Deutschen und Ausländischen Strafrechts. Allgemeiner Teil, III. Bd., Berlin 1908; Besonderer Teil, V. Bd., Berlin 1905 v. Weber, Hellmuth: Grundriß des deutschen Strafrechts, 2. Aufl., Bonn 1948 Wetzei, Hans: Das Deutsche Strafrecht. Eine systematische Darstellung, 10. Aufl., Berlin 1967 (Andere Auflagen sind besonders gekennzeichnet); zugleich 13. erw. Aufl. von "Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts in seinen Grundzügen". Welzel,' Hans: Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, Karlsruhe 1961 Welzel, Hans: Das neue Bild des Strafrechtssystems, 4. Aufl., Göttingen 1961 (Andere Auflagen sind besonders gekennzeichnet) Wiethölter, Rudolf: Der Rechtfertigungsgrund des verkehrsrichtigen Verhaltens, Karlsruhe 1960 Existenz und Ordnung. Festschrift für Erik Wolf zum 60. Geburtstag, Frankfurta. M. 1962 Würtenberger, Thomas: Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, 2. Aufl., Karlsruhe 1959 Zeitschrift für Rechtsvergleichung (Österreich) Zimmert. Leopold: Aufbau des Strafrechtssystems, Tübingen 1930 Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

Bei den in dieses Verzeichnis nicht aufgenommenen Schriften sind Erscheinungsort und Erscheinungsjahr nur bei ihrer erstmaligen Zitierung angeführt.

1. Kapitel

Der Begriff der Sozialadäquanz In einem der bedeutendsten Aufsätze der neueren Strafrechtsdogmatik, in seinen 1938 erschienenen "Studien zum System des Strafrechts", worin er seine epochemachende finale Handlungslehre entwickelte, hat Hans Welzel auch erstmals den Begriff der "Sozialadäquanz" geprägt1• Er beruht auf dem Gedanken, daß menschliche Handlungen, die sich innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen des Gemeinschaftslebens bewegen, außerhalb der strafrechtlichen Tatbestände liegen. Sozialadäquates Verhalten sei darnach sozialübliches, normales und daher rechtmäßiges Verhalten, wenngleich man es dem Wortlaut nach einem Tatbestand subsumieren könnte. "Man überlege nur ernsthaft, wieviel Beeinträchtigungen, Gefährdungen, Verletzungen von Rechtsgütern man im Laufe eines Tages ausübt und gleichzeitig erleidet!." Tatbestandsmäßig seien Tötungen, Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen usw. erst dann, wenn sie sozialinadäquat sind, weil auf Grund der sozialen und zugleich geschichtlichen Natur des Strafrechts die Tatbestände nur solche Verhaltensformen angeben, "die aus den geschichtlich gewordenen Ordnungen des Soziallebens schwerwiegend herausfallen"l. Die Sozialadäquanz ist in den drei Jahrzehnten seit ihrer Entwicklung nicht nur im Strafrecht, sondern auch darüber hinaus, als ein für die ganze Rechtsordnung Bedeutung beanspruchendes Prinzip zu einem geläufigen, aber auch vieldeutigen und schillernden Begriff geworden, der bis heute um einen festen Standort in der Verbrechenslehre ringt. "Die Unsicherheit in der Behandlung der Sozialadäquanz ... ", sagt Lange in seiner Besprechung der 8. Auflage des Leipziger Kommentars mit Recht, "ist ein Seismograph, der die verborgenen Unruheherde in unserer Dogmatik anzeigV." Zu dieser Unsicherheit, zu diesem buntscheckigen Bild hat freilich am meisten Welzel selbst beigetragen durch den wiederholten Wandel, den seine Lehre inzwischen durchgemacht hat. Was Welzel vom Rechtsgut behauptet, es sei "zu einem wahren Welzel, ZstW 58, S. 491 ff. Welzel, a.a.O. 515. I Welzel, Lb 52. , ZStW 73, S. 89 f. 1

I

14

1. Kapitel: Der Begriff der Sozialadäquanz

Proteus geworden, der sich unter den Händen, die ihn festzuhalten glauben, sofort in etwas anderes verwandelt"lI, trifft nicht weniger auf die Sozialadäquanz zu. Wohl auf Grund der gegen seine ursprüngliche, nicht nur in seinen "Grundzügen" (1. Auflage S.33ff., 2. Auflage S.40ff., 3. Auflage S.50ff.), sondern auch noch in der 1. (4.) und 2. (5.) Auflage seines Lehrbuches (S. 35 ff. bzw. 36 ff.) vertretene Lehre erhobenen Einwände, daß die von ihm aufgeworfene Problematik nicht auf dem Gebiete der Tatbestandsmäßigkeit, sondern der Rechtswidrigkeit liege', hatte Welzel - allerdings ohne Angabe von Gründen - seine Auffassung in der 3. (6.) Auflage (S. 61) dahin abgeändert, daß die Sozialadäquanz zwar nicht schon die Tatbestandsmäßigkeit ausschließe, aber die Eigenschaft habe, dem Tatbestand seine sonst die Rechtswidrigkeit indizierende Funktion zu nehmen. Dieser Meinungswandel ist zurückzuführen auf die von Welzel zuerst in der 2. Auflage seiner Schrift "Das neue Bild des Strafrechtssystems" (S. 18 ff.) entwickelte Lehre von den "geschlossenen" und "offenen" Tatbeständen, nach der die sachlichen Voraussetzungen der Rechtswidrigkeit (die sogenannte "Verbotsmaterie") nicht in allen Tatbeständen des Strafgesetzes so erschöpfend umschrieben sind, daß die Rechtswidrigkeit durch ein rein negatives Verfahren, durch die Feststellung, daß kein Erlaubnissatz (Rechtfertigungsgrund) wie Notwehr, Einwilligung, Selbsthilfe usw. vorliegt, ermittelt werden kann. Die Tatbestände, bei denen das der Fall ist, bezeichnet er als "geschlossene" und die übrigen als "offene" oder "ergänzungsbedürftige" . Welzel schränkt aber nicht nur bei den "offenen" Tatbeständen, wo also der Richter, bevor er nach Rechtfertigungsgründen sucht, die Rechtswidrigkeit durch den Nachweis sog. "Rechtspftichtmerkmale"positiv feststellen mußT, den • Wetzet, ZStW 58, S. 509. • So hatte vor allem schon Graf zu Dohna, ZStW 60, S. 287 ff., die Sozialadäquanz als Abgrenzung gegenüber der Tatbestandsmäßigkeit als viel zu unsicher, ja "für denkbar ungeeignet" (S. 293) erklärt, zumal da nach WeZzel bereits in der Tatbestandsmäßigkeit das in ihr keineswegs enthaltene Element der Mißbilligung liege. Daß das Problem der Sozialadäquanz erst im Bereich der Rechtswidrigkeit zu suchen sei, betonten u. a. auch GaUas, ZStW 67, S. 21 ff.; Maurach, AT 245; H. Mayer, Lb 107 f.; Mezger, NJW 1953, S. 6; Niese, Streik 31, und ders., JZ 1956, S. 460 (für Tatbestandsausschluß allerdings früher in "Finalität" 59 f.). Immer für Tatbestandsausschluß: Schaffstein, ZStW 72, S. 378 f. Nach Schönke - Schröder, Kommentar Hl, schlägt sich der Begriff der sozialen Adäquanz bald im Raume des Tatbestandes, bald auf der Ebene der Rechtswidrigkeit nieder. 7 Zu den als "richterlich zu ergänzenden" offenen Tatbeständen rechnet Welzet als wichtigste Beispiele die Nötigung (§ 240 StGB) und die Erpressung (§ 253 StGB), wo der Richter vor der "negativen" Prüfung noch "positiv" feststellen muß, ob "die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist". Vor allem wird von ihm aber auch bei den unechten Unterlassungsdelikten dem ,Tatbestand die unrechtsindizierende Funktion abgesprochen, weil hier noch stets positiv

1. Kapitel: Der Begriff der Sozialadäquanz

15

Satz, daß die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit indiziere, ein, sondern auch bei den "geschlossenen", sofern die soziale Adäquanz, die Normalität tatbestandsmäßigen Verhaltens, "die Frage der Rechtswidrigkeit gar nicht aufkommen" läßt. . In der 4. (7.) bis 8. (11.) Auflage seines Lehrbuches (S.62 bzw. 69, 74,76) ist aber nach Welzel unter noch weiterer Preisgabe seines methodischen Ausgangspunktes die soziale Adäquanz "der in der sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens wurzelnde (gewohnheitsrechtliche) Rechtfertigungsgrund tatbestandsmäßigen Verhaltens". Schon Niese hatte bemängelt, daß ein Irrtum über die Sozialadäquanzi. S. eines die Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung ausschließenden Momentes ein Tatbestandsirrtum wäre, daher "gerade Leute, die ihre eigenen robusten Gewohnheiten für das sozial Übliche halten, straffrei ausgehen" würden8 • Schließt freilich ein Tatbestandsirrtum nur den Vorsatz, nicht auch die Fahrlässigkeit aus, so vermutet doch auch Klug, daß der unausgesprochene Grund für den neuerlichen Meinungswandel Welzels i. S. der Betonung der erst nachträglichen Beseitigung einer, wenngleich an sich indizierten, Rechtswidrigkeit durch einen gewohnheitsrechtlichen Rechtfertigungsgrund die daraus sich ergebenden Irrtumsfolgen gewesen sein dürften."Schließt die Sozialadäquanz", meint Klug, "die Tatbestandsmäßigkeit aus, dann führt die irrige Annahme des Handelnden, Handlungen von der Art, wie er sie vornimmt, würden sich im Rahmen des sozial Adäquaten halten, zur Anwendung des § 59 StGB, so daß der Vorsatz entfällt. Eine strafrechtliche Haftung kommt dann nur noch bei solchen Delikten, die eine Strafbarkeit auch bei fahrlässiger Begehung kennen, in Betracht. Ist die Sozialadäquanz hingegen nur ein Rechtfertigungsgrund, dann wäre der genannte Irrtum ein Verbotsirrtum, der an der Vorsätzlichkeit des Verhaltens nichts ändern würdelI." Der tiefere Grund der systematischen Verlagerung des Standortes der Sozialadäquanz von der Tatbestandsmäßigkeit als der ersten Stufe rechtlicher Bewertung in die Rechtswidrigkeit dürfte indessen wohl die geänderte Auffassung Welzels vom Wesen des Tatbestandes und dessen festgestellt werden müsse, ob der Täter eine GarantensteIlung hatte. Ferner sind nach Welzel die Fahrlässigkeitsdelikte offene Tatbestände (Lb 126; Fahrlässigkeit 14 f.), worauf noch u. S. 68 f. zurückzukommen sein wird. Eingehend über die Frage Roxins Monographie "Offene Tatbestände". S. auch Wetzel, Vom Bleibenden und vom Vergänglidlen in der Strafrechtswissenschaft (Marburg 1964) ll t1 • a Niese, Streik 32. • Klug, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 255. Würde es sich dagegen um eine in ihren äußeren Voraussetzungen nicht richtig erkannte Tat handeln, sondern um einen Irrtum über Umstände, "die bei ihrem Vorliegen die Tat sozialadäquat machen würden" (Roxin, Offene Tatbestände 156), dann läge auf jeden Fall ein TatbestandsiTTtum vor.

16

1. Kapitel: Der Begriff der Sozialadäquanz

Verhältnis zur Rechtswidrigkeit gewesen sein, das heute umstrittener ist denn je, so daß man geradezu von einer babylonischen Verwirrung der Tatbestandslehre sprechen kann. Zur Zeit, als Wetzet seine Lehre von der Sozialadäquanz entwickelte, hatte er i. S. des vor allem von Mezger lO vertretenen zweiteiligen Verbrechensaufbaues im Tatbestand den Seinsgrund (ratio essendi) der Rechtswidrigkeit erblicktl1• In Abkehr von dieser Auffassung, wonach der Tatbestand nur noch die formale Aufgabe hat, Vertypung des strafwürdigen Unrechts zu sein, das Eingreifen eines Rechtfertigungsgrundes daher letztlich (infolge der Strukturverschlingung von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit) nicht nur die Rechtswidrigkeit, sondern auch die Tatbestandsmäßigkeit beseitigt, greüt Wetzet später zwar nicht auf den "wertfreien" (wertneutralen) Tatbestandsbegriff Betings zurück12, sieht aber, wie es dieser und vor allem auch M. E. Mayer getan hatten, i. S. des klassischen dreiteiligen Verbrechensaufbaues im Tatbestand lediglich wieder ein "reines Begrijjsbild"1a, einen Erkenntnisgrund (ratio cognoscendi), ein "Indiz 10 Mezger, Lb 182; ders., Vom Sinn der strafrechtlichen Tatbestände (Berlin 1926) 11. U Zu den Vertretern dieser Lehre freilich manchmal modifiziert - sind u. a. auch zu zählen Bruns, Kritik der Lehre vom Tatbestand (Bonn-Köln 1932) 38; Engisch, Mezger-Festschdft, S. 129; ders., DJT-Festschrift I, S.406; Gallas, ZStW 67, S. 17 ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1956, S. 354; Kohlrausch Lange, Kommentar 16; Lang - Hinrichsen, JR 1952, insb. S. 307, 356, und JZ 1953, S. 363; H. Mayer, Lb 107; Mezger - Blei, AT 103; Roxin, Offene Tatbestände 40 f., 105 ff., 175; Sauer, Mezger-Festschrift, S. 118 f.; Schalfstein, ZStW 72, S.386; Schröder, zstW 65, S. 185; Schweikert, Wandlungen der Tatbestandslehre seit Beling (Karlsruhe 1957) 145. 11 Welzel, Neues Bild 20: "Die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit einer Handlung ist nicht wertneutral; vielmehr selegiert sie aus der Fülle der menschlichen Handlungsvollzüge diejenigen, die strafrechtlich relevant sind, und zwar relevant in dem besonderen Sinn, daß sie notwendig entweder rechtswidrig oder rechtmäßig, niemals bloß ,wertneutral' sind." 13 Diese Auffassung vertritt Welzel bereits in der 2. (5.) :Auflage seines Lehrbuches (S. 43) und in der 4. Auflage seiner Schrift "Das neue Bild des Strafrechtssystems" (S. 17). Auch Beling, der Begründer der Tatbestandslehre, an den die gesamte nachfolgende Entwicklung anknüpft, sah ja später (in seiner Schrift "Die Lehre vom Tatbestand", Tübingen 1930, S. 17 ff.) im Tatbestand nicht wie in seiner 1906 erschienenen "Lehre vom Verbrechen" (insb. S. 20 ff., 110 ff.) den Inbegriff gesetzlicher Merkmale, die einem bestimmten deIiktischen Verhalten eigentümlich sind, sondern nur noch das mehreren Deliktstypen (z. B. Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung) "vorgelagerte Leitbild" (z. B. Tötung eines Menschen), auf das sich Rechtswidrigkeit und Schuld beziehen. Wesentlich ist darnach auch bei Beling nicht der deskriptive Inhalt des Tatbestandes, sondern die Funktion, die er ihm gab, indem er ihn zur Rechtswidrigkeit und Schuld in Beziehung setzte. Es ist daher das Wort "Trennungsdenken", wie schon Schwinge - Zimmerl, Wesensschau und konkretes Ordnungsdenken im Strafrecht (Bonn 1937) 85 f., hervorhoben, gegenüber der Tatbestandslehre Belings fehl am Platze, weil die Unterscheidung der einzelnen Elemente des Verbrechens (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld) nicht den Sinn haben, Zusammengehöriges zu trennen, sondern im Gegenteil dazu dienen, den Gesamtwert deliktischen Verhaltens richtig zu erfassen.

1. Kapitel: Der Begriff der Sozialadäquanz

17

der Rechtswidrigkeit"u. Ist der Tatbestand nach Welzel auch die" Verbotsmaterie strafrechtlicher Bestimmungen"lI, d. h. die gegenständliche Beschreibung des verbotenen Verhaltens, so enthält die Tatbestandsmäßigkeit deshalb doch nicht die Rechtswidrigkeit, die "der Widerspruch einer Tatbestandsverwirklichung zur Rechtsordnung als Ganzer (nicht bloß gegen eine einzelne Norm!)" ist1'. "Weil die Rechtsordnung nicht nur aus Normen (Geboten und Verboten) besteht, sondern auch Erlaubnissätze umfaßt, ist die Verwirklichung der Verbotsmaterie nicht notwendig rechtswidrig, da sie im Einzelfall durch einen Erlaubnissatz gestattet sein kann17." Beseitigen also die Erlaubnissätze (Rechtfertigungsgründe) im Gegensatz zu der von WelzeI früher vertretenen Lehre nur die Rechtswidrigkeit, lassen sie dagegen die Tatbestandsmäßigkeit (= Normwidrigkeit) unberührt, so meinte er wohl, daß die von ihm der Sozialadäquanz zuerkannte Funktion, nichttatbestandsmäßiges, weil strafrechtlich irrelevantes Verhalten zu erfassen, auch durch einen (gewohnheitsrechtlichen) Rechtfertigungsgrund tatbestandsmäßigen Verhaltens hinreichend gewährleistet sei. Indessen kann ein tatbestandsmäßiges, d. i. ein von Welzel ausdrücklich als sozialinadäquat bewertetes VerRichtig ist es daher auch, wenn Beling, Verbrechen 146, für das Verhältnis von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit das Bild zweier sich schneidender Kreise verwendet, eine Auffassung, die sich mit Welzels Lehre vereinbaren läßt, daß die Tatbestandsmäßigkeit nicht "wertneutral" ist, sondern Handlungsvollzüge entweder rechtswidrig oder rechtmäßig sind (s. die vorangehende Anm). Die Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit als rechtswidrig bezieht sich dann eben nur auf die von den beiden Kreisen gemeinsam bestrichene Fläche. Daß das Verhältnis von Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, wie Roxin, Offene Tatbestände 182 f., meint, besser erfaßt werde als Bild zweier konzentrischer Kreise, von denen der kleinere den Tatbestand, der größere die Rechtswidrigkeit darstellt, befindet sich nur im Einklang mit der Lehre, wonach die Tatbestandsmäßigkeit "ratio essendi" der Rechtswidrigkeit ist; nur für sie ist tatbestandsmäßiges Verhalten immer rechtswidrig, ohne daß aber rechtswidriges Verhalten tatbestandsmäßig sein muß. Der klassische dreiteilige Verbrechensbegriff Belings ist in seiner imponierenden Einfachheit und Klarheit nicht nur von unverlierbarer Bedeutung für die dogmatische Darstellung des Strafrechts, sondern nicht zuletzt auch von großem didaktisch-methodischen Wert, weil er dem Richter und dem Studenten den "Haken" liefert, an dem er einen praktischen Strafrechtsfall aufhängt, ihm die Reihenfolge der überlegungen zeigt, die er bei der Prüfung, ob eine strafbare Handlung vorliegt, zweckmäßigerweise einzuhalten hat (vgI. auch Engisch, Konkretisierung 143 f., der von "schrittweiser Einkreisung" einzelner Fälle mit Hilfe mehrerer an sich verständlicher Merkmale spricht). U Welzel, Neues Bild 22 ff. Zu dieser Auffassung bekennen sich grundsätzlich außer M. E. Mayer, Lb 1()!1, 51 f., 182, u. a. Gallas, ZStW 67, S. 22 (s. aber auch 23 53a); Heinitz, Das Problem der materiellen Rechtswidrigkeit (Breslau 1926) 24 f.; Maurach, AT 245; v. Liszt - Schmidt AT 185 f., und Rittler, AT 67 f. 15 Welzel, Lb 46. 11 Welzel, a.a.O. 47. 17 Welzel, a.a.O. 50. 2 Roeder

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1. Kapitel: Der Begriff der Sozialadäquanz

halten, auch bei Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes niemals zu einem sozialadäquaten, sondern nur zu, einem tatbestandsmäßig-Techtmäßigen Verhalten werden. Es war daher nur eine immanente Kritik seiner Lehre, wenn sich WeZzeZ von seinem Schüler HiTsch entgegenhalten lassen mußte, daß die Verschiebung der Sozialadäquanz von der Tatbestands- auf die Rechtfertigungsebene unausweichlich mit seinem (seil. WeZzeZs) Tatbestandsbegriff in Konflikt geraten müsse. "Wenn ... der Tatbestand nur solche Handlungen umfaßt, die aus den ,Ordnungen des sozialen Lebens schwerwiegend herausfallen' (WeZzel, Das neue Bild des Strafrechtssystems2, Göttingen 1954, 20)18, läßt sich nicht gleichzeitig sagen, daß sozialadäquates Verhalten tatbestandsmäßig und nur gerechtfertigt sei. Denn sozialadäquate Handlungen halten sich bereits im Rahmen der geschichtlich gewordenen Ordnung des Gemeinschaftslebens1'." Mit anderen Worten: Ist tatbestandsmäßiges Verhalten soziaZS. schon o. S. 13. Hirsch, ZStW 74, S. 80 (Hervorhebung vom Verfasser). Grundsätzliche Bedenken gegen die Sozialadäquanz als einen (gewohnheitsrechtlichen) Rechtfertigungsgrund tatbestandsmäßigen Verhaltens hatte schon Schaffstein, ZStW 72, S. 369 ff., insb. 372 ff., geltend gemacht. Kritisch ferner bereits Roxin, Offene Tatbestände 98. Dieser Meinungswandel Welzels hatte auch dem Streite über die LehTe von den "negativen Tatbestandsmerkmalen", wonach die Tatsache des Vorliegens eines Rechtfertigungsgrundes als weiteres (negatives, besser nach einem Vorschlage Engischs, Untersuchungen 11, einschränkendes) Merkmal des ,Tatbestandes betrachtet wird, neue Nahrung gegeben. Mit Recht bezeichnet es Lange, JZ 1953, S.13, als einen Widerspruch, wenn Welzel, Neues Bild1 55 (Note) einerseits den Begriff der negativen Tatbestandsmerkmale mit der Begründung ablehne, daß "mit der Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit ... bereits die erste materiale strafrechtliche Erheblichkeit einer Handlung festgestellt ist, nämlich, daß sie aus den Ordnungen des sozialen Lebens schwerwiegend herausfällt", andererseits aber nunmehr Tatbestandsmäßigkeit auch sozialadäquater, also innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnungen. des Gemeinschaftslebens sich bewegender Handlungen behaupte (zust. Engisch, ZStW 70, S. 59210). Nicht überzeugend war dagegen der Versuch, Welzel als den entschiedensten Gegner der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, wenn v. Weber, Mezger-Festschrift, S. 187 f., und ATthuT Kaufmann, JZ 1954, S. 657, die Richtigkeit dieser Lehre mit Hilfe des Begriffes der Sozialadäquanz in ihrer ursprünglichen und nunmehr wieder jetzigen Form (sozialadäquates Verhalten ist nicht einmal tatbestandsmäßig) nachweisen wollten, indem sie jede gerechtfertigte tatbestandsmäßige Handlung auch als sozialadäquat ansahen. Fehlt "bei sozialadäquaten Verhaltensweisen bereits die Tatbestandsmäßigkeit" dann ist "eine Rechtfertigung wegen sozialer Adäquanz undenkbar" (HiTsch, ZStW 74, S. 87). Der Streit um die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, die folgerichtig bei irriger Annahme rechtfertigender Tatsachen im Gegensatz zur strengen Schuldtheorie nicht Verbotsirrtum, sondern i. S. der "eingeschränkten" Schuldtheorie Tatbestandsirrtum annehmen muß ("Wenn Tatumstand und Rechtfertigungsgrund sich lediglich im Vorzeichen unterscheiden, besteht keine Möglichkeit, sie ,im Rahmen des § 59 StGB unterschiedlich zu behandeln": Baumann, AT 266), scheint uns (abgesehen von der nicht einwandfreien formalen Begründung; vgI. KohlTausch, Irrtum und Schuldbegriff, 1. Teil, 18

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inadäquates Verhalten, so hat sozialadäquates Verhalten schon den Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit und nicht erst der Rechtswidrigkeit zur Folge. Der überzeugungskraft dieses durchschlagenden Argumentes konnte sich Welzel nicht verschließen. Mit dem Eingeständnis, daß die "unzulängliche Trennung der sozialen Adäquanz von den Rechtfertigungsgründen" seine Lehre "von ihrer Entstehungszeit her belastet" hatte20, hält er seit der 9. (12.) und 10. (13.) Auflage seines Lehrbuches, S. 50 ff. bzw. 52 ff., wieder an seiner ursprünglichen Auffassung fest, daß sozialadäquates Verhalten nicht einmal tatbestandsmäßig sei. Als praktisches Beispiel eines nicht tatbestandsmäßigen, weil sozialadäquaten, Verhaltens führt Welzel vor allem Freiheitsbeschränkungen (§ 239 StGB) als normale Begleiterscheinungen des modernen Verkehrs (Straßen-, Schienen- und Flugverkehr) an. "So liegt in der Tatsache", erklärt er, "daß Eisenbahnzüge, Straßenbahnen, Omnibusse usf. nur an bestimmten Stationen halten, eine Freiheitsbeschränkung der Mitfahrer, bei der die Frage nach einem besonderen rechtlichen Erlaubnissatz darum nicht auftauche, weil diese Handlungen sich innerhalb des Rahmens der geschichtlich gewordenen sozialethischen Ordnung des Gemeinschaftslebens bewegen und von ihr gestattet werdenIl." Mit Recht hat Hirsch darauf hingewiesen, es beginne bei diesem Beispiel der Anwendungsbereich der Sozialadäquanz überhaupt erst dort, wo der Fahrgast nicht mehr damit einverstanden ist, daß er am Aussteigen gehindert wird, sobald er also z. B. in einen falschen Zug oder Autobus einBerlin 1903, S. 59 ff.; MezgeT, NJW 1953, S. 6) vor allem durch ein Mißverständnis belastet. Denn gegen den Vorwurf Welzels (Lb 78), daß nach ihr das Vorliegen von Notwehr dieselbe Bedeutung habe, wie der Mangel eines Tatbestandsmerkmals ("Die Tötung eines Menschen in Notwehr sei rechtlich nichts anderes als die Tötung einer Mücke!"), macht ATthuT Kaufmann, JZ 1956, S. 355, mit Recht geltend, es sei "wohl noch keinem ihrer (seil. der L. v. d. n. T.) Vertreter eingefallen, neben dem Tatbestandsbegriff i. S. von § 59 nicht auch den Begriff des Verbrechenstypus anzuerkennen". Es unterfalle aber "wohl die Tötung eines Menschen in Notwehr, nicht aber die Tötung einer Mücke einem Deliktstypus". Im übrigen ist ROxin, Offene Tatbestände 180, beizupflichten, wenn er betont, daß in beiden Fällen "die Handlung nicht einmal von einem Schatten rechtlicher Mißbilligung getroffen" wird: "Die unleugbare soziale Verschiedenheit beider Akte wirkt sich strafrechtlich überhaupt nicht aus - und darauf kommt es an." S. auch Baumann, JZ 1962, S.42. Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen muß aber noch vor einer weiteren Mißdeutung bewahrt werden; sie sieht nicht als den Vorsatz des Täters begründend die Kenntnis des Fehlens sämtlicher Tatumstände an, die seine Tat rechtfertigen könnten, vielmehr als den Vorsatz des Täters ausschließend die irrige Vorstellung vom Vorliegen der Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes (z. B. eines "gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffes" bei Notwehr). "Zum Tötungsvorsatz gehört nicht die Vorstellung, daß dem Täter kein ,gegenwärtiger rechtswidriger Angriff' gedroht habe, sondern nur die irrige Vorstellung ,eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs' schließt den Tötungsvorsatz aus" (Goldschmidt, Frank-Festgabe I, S. 445). 10 Welzel, Lb 54. 11 Welzel, Neues Bild 25.

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gestiegen ist. "Solange der Fahrgast damit einverstanden ist, daß er zwischen den Stationen nicht aussteigen kann - und das ist ja regelmäßig so -, ist bereits ein Berauben der Freiheit nicht gegebenl!2." Würde sich aber auch tatsächlich die Zahl der rechtswidrigen Freiheitsbeschränkungen gegenüber den rechtmäßigen ausnehmen "wie ein paar Tropfen in einem Meer"2a, so änderte dies doch nichts an dem auch sonst der Rechtfertigung normwidrigen Verhaltens zugrundeliegenden "Regel-Ausnahme" Verhältnisll'. Warum sollte es also den Anforderungen des Rechts als einer sozialethischen Ordnung nicht genügen, sogar "millionenfach"l!5 auftretende Freiheitsbeschränkungen der in Frage stehenden Art "nur" als gerechtfertigt anzusehen!'? Ob die Handlung gar nicht unter die Regel fällt oder ob eine Ausnahme (d. h. ein Rechtfertigungsgrund) vorliegt, ist sachlich genau dasselbe. Man darf eben das Verhältnis "Regel-Ausnahme" nicht dahin auffassen, "als sei die vorgenommene Handlung an sich rechtswidrig, die Rechtswidrigkeit dann aber wieder aufgehoben; sondern sie fehlt in diesem Falle von vornherein"17. Die durch die Benützung moderner Verkehrsmittel, wenngleich nur konkludent (durch das Eingehen eines Beförderungsvertrages) gegebene Einwilligung l8 kann, wenn der Fahrgast aussteigen will, freilich wider11

283.

HiTsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (Bonn 1960)

ta Graf zu Dohna, Aufbau 29, im Hinblick auf die Zahl der rechtswidrigen Einsperrungen gegenüber den rechtmäßigen. U "Das Strafrecht ist", wie Welzel, Lb 78, selbst sagt, "eine normative, keine statistische Materie! Auch das Verhältnis von Norm und Erlaubnissatz (Rechtfertigungsgrund) ist nur normativ, nicht statistisch zu verstehen!" Dazu, daß das Verhältnis von Regel und Ausnahme kein arithmetisches ist, vgl. auch Hold v. Ferneck, Die Rechtswidrigkeit I (Jena 1903) 296 ff., und v. WebeT, Mezger-Festschrift, S. 188. 11 Welzel, ZStw 58, S. 51515• !I FreHich wäre an sich noch keine Widerlegung der Lehre Welzels (Lb 54), daß sozialadäquate Handlungsweisen (Interessenverletzungen) überhaupt keine Freiheitsberaubungen usw., also von vornheTein nicht tatbestandsmäßig sind, die Auffassung, nach der die Freiheitsberaubung zu denjenigen Delikten zählt, bei denen die Einwilligung nicht erst die Rechtswidrigkeit, sondern schon die Tatbestandsmäßigkeit ausschließt (So z. B. Busse, Die tatbestandsausschließende Einwilligung des Verletzten, Mschr.-Diss. Göttingen 1948, S. 45 f., 63; v. Hippel, Lb II 2451 ; HiTsch, ZStW 74, S. 89 f.; Honig, Die Einwilligung des Verletzten, Mannheim 1919, S. 132, und MezgeT, Lb 217). 17 Graf zu Dohna, Aufbau 29. Vgl. auch v. WebeT, Zum Aufbau des Strafrechtssystems (Jena 1935) 17. 18 Die Auffassung, es genüge i. S. der WillensTichtungstheoTie im Gegensatz zur WHlenserklärungstheorie die inneTe (mentale) Zustimmung als Interessenspreisgabe, ohne daß sie auch nach außen kundgetan wird, setzt sich im Strafrecht immer mehr durch. "Eine andere Frage ist natürlich die, ob eine nichterklärte Einwilligung in genügendem Maße als zur Zeit der Tat vorhanden bewiesen werden kann; aber Rechtsfrage und Beweisfrage dürfen hier so

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rufen werden; es muß dies jedoch unter Umständen geschehen, wo das Interesse des Fahrgastes am Anhalten des Fahrzeuges das wohl in der Regel vorliegende öffentliche Interesse an der ununterbrochenen Weiterfahrt (Einhaltung des Fahrplanes, Sicherheitsgründe) überwiegt. Ist das Anhalten leicht möglich und läßt der Zugführer z. B. einen von heftigem Unwohlsein befallenen Fahrgast trotzdem nicht aussteigen, so ist eine rechtswidrige Freiheitsberaubung nicht auszuschließen. "Vielleicht ist die Bahnfahrt oder Taxifahrt, die uns sozialadäquat erscheinen möchte, doch rechtswidrige Freiheitsberaubung. Wir wollen gen au untersuchen, ob und wieweit durch die Einwilligung dessen, in dessen Bewegungsfreiheit eingegriffen wird, die die Freiheit beschränkende Handlung gerechtfertigt ist. Vielleicht reicht die Einwilligung nur zu einer Fahrt bis zum Orte x, nicht aber zu einer Fahrt bis y. Arbeiten wir mit der Sozialadäquanz, so versperren wir uns zu leicht eine genauere Untersuchung ... Wir behaupten gar nicht, daß der Scharfrichter ein Mörder sei oder der Zugführer eine Freiheitsberaubung begehe, sondern nur, daß jedenfalls die Tatbestände der Tötung und Freiheitsberaubung erfüllt seien!'." Das gleiche wie für die unerheblichen Freiheitsbeschränkungen aus § 239 StGB gilt mutatis mutandis für die von Welzel ebenfalls als sozialadäquat bezeichneten unerheblichen Körperverletzungen aus § 223 StGB. Wer sich seine Haare schneiden, sich rasieren oder maniküren läßt, wird wohl an seinem Körper "verletzt", doch werden auch diese Eingriffe in die körperliche Integrität durch die Einwilligung des "Verletzten" gedeckt. Es erübrigt sich daher, die Sozialadäquanz zu bemühen; um Strafbefreiung schon durch den Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit und nicht erst der Rechtswidrigkeit zu erreichenso, SI. wenig wie sonst miteinander vermengt werden" (Mezger, Lb 210). Aber selbst Vertreter der Willenserklärungstheorie (z. B. Traeger, v. Hippel und v. Frank) begnügen sich mit stillschweigender, durch konkludentes Verhalten deutlich gemachter Einwilligung. Im übrigen wird beim Eisenbahnverkehr eine Behinderung der Passagiere an der persönlichen Freiheit weitgehend dadurch ausgeschlossen, daß sie die Möglichkeit haben, die Notbremse zu betätigen, wobei sie allerdings im Falle eines Mißbrauches haftbar sind. H Baumann, AT 167. 80 Ebenso Wussow, NJW 1958, S. 892. 11 Früher hatte Welzel als Fälle der sozialen Adäquanz auch alle "kriegsadäquaten" Handlungen (kriegsmäßige Tötungen, Verletzungen, Zerstörungen usw.) angeführt; er hat sie bereits in der 3. Auflage seiner "Grundzüge", Berlin 1944, S.52, eliminiert. "Hier soziale Adäquanz anzunehmen, heißt nicht weniger, als daß man in der Tötung oder Verletzung von Feinden Handlungen sieht, die den normalen menschlichen Betätigungen, in denen sich das Sozialleben abwickelt (also dem Arbeiten, Lernen und Lehren, Einkaufen, Autofahren, Schießen von Wild durch den Jagdberechtigten, Tanzen u. dgl.), gleichstehen. Das Töten und Verletzen von Feinden wäre eine Tätigkeit im Rahmen der Ordnung des normalen menschlichen Zusammenlebens" (Hirsch, ZStW 14, S.107).

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Kapitel: Der Begriff der Sozialadäquanz

Anders gelegen, also nicht durch einen "klassischen" Rechtfertigungsgrund wie die Einwilligung des Verletzten gedeckt, sind folgende von Welzel u. a. gleichfalls zum Anwendungsgebiet der Sozialadäquanz gezählten Fälle: die Annahme verkehrsüblicher Geschenke durch Beamte; das Äußern vertraulicher, wenngleich ungünstiger Mitteilungen im engsten Familienkreis; geschlechtliche Zudringlichkeiten sowie nachteilige Geschäfte, die sich im Rahmen ordnungsmäßiger Geschäftsführung halten. Mit Recht bezeichnet es Hirsch als "grotesk, zu behaupten, daß das StGB im § 331 den Briefträgern die Annahme gewöhnlicher Neujahrsgeschenke verbiete und ihr Verhalten nur ausnahmsweise als gerechtfertigt ansehe". Nicl1t beipflichten können wir ihm freilich darin, daß das geschützte Rechtsgut (die Sauberkeit der Amtsausübung) "infolge einer entstandenenVerkehrssitte überhaupt nicht berührt wird" und es sich deshalb "von vornherein um ein strafrechtlich irrelevantes Verhalten handelt"sl. Hirsch selbst ist sich wohl der Vagheit des Begriffes eines infolge einer Verkehrssitte, die manchem vielleicht als Unsitte erscheinen mag, "sozialadäquaten Geschenkes" bewußt, wenn er später meint, es sei näherliegend, "ein solches Geschenk von vornherein nicht als Geschenk i. S. des § 331 StGB anzusehen"s3. Und in der Tat ergibt sich aus der Voraussetzung des § 331 StGB, daß die Geschenke und Vorteile "für" eine zwar "an sich nicht pflichtwidrige Handlung" angenommen werden, zunächst nicht nur, daß die Handlung des Beamten keine zukünftige zu sein braucht, sondern vor allem auch, daß ein gewisser Kausalzusammenhang zwischen dieser Handlung und der Annahme des Geschenkes oder Vorteiles bestehen muß; Geschenke oder Vorteile, die von dem Beamten angenommen werden, müssen also ein Äquivalent "für eine in sein Amt einschlagende Handlung" sein. Handelt es sich dagegen um ohne jede Beziehung auf eine konkrete Amtshandlung gegebene Zuwendungen z. B. an bestimmten Festtagen (Neujahrsgeschenke an Postzusteller), so kann man sicherlich nicht von einem Äquivalent, einer Gegenleistung für die Dienstleistung des Beamten im vergangenen (oder erst im kommenden ?) Jahr sprechen. Noch weniger bei dem "Trinkgeld" an den Geldbriefträger, das ja nicht selten nur der Ausdruck der Freude über einen unverhofft erhaltenen Geldbetrag ist und dessen Annahme gewiß nicht das Gefühl irgendeiner Verpflichtung auferlegt. Nur eine Anerkennung und kein Entgelt für eine bestimmte Dienstleistung sind auch die dem Verkehrspolizisten am Weihnachtstag erwiesenen Aufmerksamkeiten. Das bloße Bestreben, das Wohlwollen des Beamten zu erwerben, kann schon zur Erfüllung des Tatbestandes des § 331 StGB in keinem Fall genügen, weshalb das Problem der RechtI. Hirsch, Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen 284 f. aa Hirsch, a.a.O. 285.

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fertigung erst dann auftaucht, wenn die Geschenkannahme "für" eine bestimmte Amtshandlung erfolgt. Daß es auch auf den Wert des Zugewendeten nicht anzukommen hat, wo schon bei restriktiver Auslegung die Tatbestandsmäßigkeit i. S. des § 331 StGB entfällt, "weiles an dem Äquivalentsverhältnis zwischen Zuwendung und Amtshandlung fehlt", wird nachdrücklich auch von Eb. Schmidt betont". Um im Strafrecht, das die Aufgabe hat, in weiser Beschränkung nur "die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen"35, zu einer Ausscheidung nicht strafwürdigen Verhaltens (Vermeidung einer Vielbestraferei) zu gelangen, bedarf eS auch in den anderen Fällen der zweiten Gruppe bloß einer restriktiven, letztlich teleologischen Gesetzesauslegung, die im Rechtszweck das innere Band erblickt, das die einzelnen Tatbestände zu einem System verknüpft. Für die Straflosigkeit von Beleidigungen Dritter im engsten Familienkreis tritt schon Köstlin ein, "da eine solche in dubio nur für ein Selbstgespräch zu halten ist"311. Auch nach Mezger3 7 entfaltet sich das Wesen

der Beleidigung i. S. des § 185 StGB nicht nur nach der inneren Seite des Beleidigungswillens hin, sondern auch nach der Seite der äußeren Kundgebung. "Gewiß", führt er aus, "ist auch die Äußerung im engsten Familienkreis eine ,Kundgebung'; aber es ist eben unrichtig, daß jede solche Kundgebung damit allein schon eine Beleidigung wäre; Man wird auch nicht sagen können, daß die Kundgebung unbedingt an Personen gerichtet sein müsse, die dem Mitteilenden ,ferne' stehen ... Denn diese richtet sich gegen die ,Geltung im Urteil der Mitmenschen'. Nun gibt es aber für eine auf das Wesen der Sache gerichtete Betrachtung so enge Gemeinschaften des Mitteilenden (Ehegatte, Eltern, Kinder usw.), daß die Bedeutung dieser Gemeinschaft jener Gemeinschaft gegenüber, welche für die Ehrbewertung des Anderen in Betracht kommt, weit überwiegt38." Eine richtige, nicht lebensfremde Sinndeutung darf nach Mezger aber auch im Falle der "üblen Nachrede" nach § 186 StGB nicht verkennen, daß es sich auch hier um eine Kundgebung an einen weiteren Kreis handelt, soll anders eine strafbare Beleidigung überhaupt in Frage kommen. Grundsätzlich gleich gelagert seien zwar auch die Fälle der "Verleumdung" nach § 187 StGB, wenngleich nicht zu übersehen ist, daß die Fälle wissentlich falscher Behauptung usw. gegenüber den Fällen des § 186 StGB eine bemerkenswerte Unterscheidung aufweisen. Im Zweifel sei daher, wo - auch im engsten Kreis - wissentlich falsche U Eb. Schmidt, Die Bestechungstatbestände in der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1871 bis 1959 (München-Berlin 1960) 142.

35

3e 17

38

Wetzet, Lb 1.

Köstlin, Abhandlungen aus dem Strafrechte (Tübingen 1858) 37.

Mezger, JW 1937, S. 2329 ff. Mezger, a.a.O. 2332.

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Kapitel: Der Begriff der Sozialadäquanz

Behauptungen ehrenkränkender Art ohne zureichenden Grund geäußert werden, eine Strafbarkeit gerechtfertigt. Dieser Auslegung Mezgers, die auch - wenngleich nicht immer ohne Einschränkungen - von anderen namhaften Autoren vertreten wirdlll, folgt aber nunmehr weitgehend Welzel selbst, wenn er bei Erörterung der Beleidigungstatbestände schreibt: "Die Kundgabe muß an einen anderen gerichtet sein; dies fehlt bei Selbstgesprächen oder Tagebucheintragungen, die nicht für andere bestimmt sind. Auch Äußerungen über Dritte im engsten (vertrauensvollen) Familienkreis sind in der Regel keine Kundgabe an andere, denn sie richten sich nicht gegen die Geltung des Betroffenen in der Gemeinschaft". " Führt daher We1ze1 entsprechend dieser Auffassung die Beleidigung durch Äußerungen im engsten Familienkreis jetzt nicht mehr wie früher (so noch in der 2. [5.] Auflage seines Lehrbuches) als sozialadäquate Handlungsweisen an, so ist dies freilich nicht der Fall bei harmlosen ge3chlecht1ichen Zudringlichkeiten und bei Handlungen im Rahmen ordnungsmäßiger Geschäftsführung mit nachteiligen Folgen. Aber auch in diesen Fällen läßt sich die Ausscheidung nichtstrafwürdigen Verhaltens durch eine restriktive Gesetzesauslegung, also durch Verwendung eines Regulativs innerhalb des Tatbestandes erzielen, ohne daß es einer überpositiven Berichtigung gesetzlicher Vnrechtstypisierung bedarf. Zudringlichkeiten, die auf Sinnenlust beruhen, erfüllen deshalb allein noch nicht das Tatbestandsmerkmal "Unzucht" i. S. der §§ 174, 176 StGB. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung gehört zum Begriff der "unzüchtigen Handlung" neben der wollüstigen Absicht eine Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühles der Allgemeinheit in geschlechtlicher Beziehung. "Für ganz leichte Fälle solcher Zudringlichkeiten reichen die für die Beleidigungen gegebenen Strafbestimmungen aus. Personen, die sich nicht beleidigt fühlen oder die oder deren gesetzlich\!!r Vertreter aus anderen Gründen keinen Strafantrag stellen, bedürfen keines weiteren strafrechtlichen Schutzes41 ." Schließlich unterfallen auch nachteilige Handlungen im Rahmen ordnungsmäßiger Geschäftsführung bei restriktiver und damit der ratio legis Rechnung tragender Auslegung nicht dem Untreuetatbestand des § 266 StGB, weil im Rahmen einer ordnungsmäßigen Geschäftsführung vorgenommene, selbst riskante Handlungen, wenngleich sie ungünstig ausgehen, sich niemals als ein Mißbrauch der erteilten Vertretungsmacht qualifizieren. Denn ein volkswirtschaftlich wertvolles Untera. So z. B. von Engisch, GA 1957, S. 326 ff.; v. Frank, Kommentar 428; KohlKommentar 450; Leppin, JW 1937, S. 2886 ff.; Mezger - Blei, BT 110 f. 40 Welzel, Lb 295. 41 RGSt 67, 170 (173); vgl. auch Kohlrausch - Lange, Kommentar 420.

rausch - Lange,

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nehmertum ist "ohne Risikofreudigkeit gar nicht denkbar"4t. Nur wer wagt, gewinnt43 , 44._ Scheint auch die Ausscheidung nichtstrafwürdigen, d. h. strafrechtUch irrelevanten Verhaltens aus den strafrechtlichen Tatbeständen mittels der Sozialadäquanz als eines übergesetzlichen "allgemeinen Auslegungsprinzips"45 und eine restriktive Gesetzesauslegung im Einzelfall zu demselben Ergebnis zu führen, so besteht zwischen diesen beiden Verfahren doch ein wesentlicher methodischer Unterschied48. Während im ersten Fall sozialadäquate Handlungen aus strafrechtlichen Tatbeständen auch überall da ausscheiden, wo diese "noch unter sie subsumiert werden könnten"47, findet im zweiten Fall diese Ausscheidung ihre Schranken im positiven Gesetz. Treffend wird ja von Welzel die Sozialadäquanz als die "Folie" der strafrechtlichen Tatbestände, somit als die flexible, präter legern ausdehnbare Hülle gekennzeichnet48, wogegen sich die restriktive Gesetzesauslegung als ihr fixer, secundum legern unüberschreitbarer Rahmen darstellt. Daraus ergibt sich aber, daß nur in letzterem Fall der rechtsstaatliche Gedanke im Strafrecht i. S. des Satzes "nullum crimen, nulla poena sine lege" streng gewahrt bleibt. So wäre nach H. Mayer der Umfang der Tatbestände in keinem Fall mehr gesetzlich bestimmt, würde man die Sozialadäquanz (sc. ihr Fehlen) zu einem übergesetzlichen Merkmal aller Tatbestände machen. "Denn was 41 Klug, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 254. Im übrigen nimmt auch Klug hier Tatbestandsausschluß, aber unter dem Gesichtspunkt der "Sozialkongruenz" an, während er in der "Sozialadäquanz" nur ein allgemeines Rechtfertigungsptinzip erblickt. 41 Nach Schönke - Schröder, Kommentar 10, könnte einem Vermögensverwalter u. U. die Unterlassung, ein Risiko einzugehen, sogar als "Pflichtverletzung angelastet" werden. S. auch J escheck, Lb 265. U Im Anschluß an die These Welzels, daß die Sozialadäquanz im Erpressungstatbestand einen Niederschlag gefunden habe, weil Drohungen mit "verkehrsmäßigen" übeln von vornherein ausscheiden (ZStW 58, s. 517 f.), entstand auch die Frage, ob der arbeitsrechtIiche Streik sozialadäquat sei und damit als Nötigung bzw. Erpressung überhaupt nicht in Frage kommt. Diese Frage wurde von Niese, der sie zum Gegenstand einer besonderen Untersuchung (Streik und Strafrecht) gemacht hat, mit Recht verneint. Der Streik ist nach ihm wegen des von der Rechtsordnung anerkannten "Interessensübergewichtes" ein Rechtfertigungsgrund sui genetis, eine ultima ratio, wenn kein anderes Mittel im Kampf um die Durchsetzung besserer Arbeitsbedingungen mehr verfangen will, aber keineswegs sozialadäquat. "Die tatbestandsmäßige

Nötigung wird durch das von der Rechtsordnung zugelassene kollektive Selbsthilfe- oder Fehderecht des Streiks gerechtfertigt" (a.a.O., 39 f.). Zu einem ähnlichen Resultat gelangt auch Seiler, JBl1958, S. 85 ff., der den Streik durch

den Rechtfertigungsgrund der Selbsthilfe für gerechtfertigt ansieht, wenngleich er zur Stützung seiner Ansicht den Begriff der So:ziialadäquanz heranzieht. 4$ Welzel, Lb 54. 41 Vgl. hierzu auch Mezger, LK I 343. '7 Welzel, a.a.O. 54. 's Welzel, ibidem.

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sozialadäquat ist,könnte immer nur das Gewohnheitsrecht lehren 4D." Dieses auf § 2 StGB gestützte Bedenken läßt sich auch nicht dadurch ausräumen, daß sich das Analogieverbot nur gegen die Tatbestandserweiterung richtet, es sich dagegen bei der Sozialadäquanz um eine den Tatbestand einschränkende Funktion handelt. Gerade der oben erwähnte Fall, die Annahme von Geschenken durch Beamte, hat gezeigt, daß der prägnante Begriff des Äquivalentsverhältnisses zwischen Amtshandlung und Geschenk, wie er sich aus einer restriktiven Gesetzesauslegung ergibt, den Tatbestand des § 331 StGB in bonam partem des Täters mehr einschränkt als der vage Begriff des "sozialadäquaten Geschenkes". Auch Wiirtenberger äußert gegen die "Typenkorrektur" auf Grund übergesetzlicher Wertmaßstäbe, insbesondere gegen die Lehre vom Tatbestandsausschluß bei Vorliegen "sozialadäquater Handlungen" rechtsstaatliche Bedenken, vor allem bei Berücksichtigung allzu rascher Wandlungen dessen, was als sozial adäquat zu gelten hat. "Eine so starke Unsicherheit in den Grenzen der Tatbestandsmäßigkeit ist angesichts der Garantiefunktion des Tatbestandes untragbar 50• " Aber auch die Gefahr einer Verniedlichung strafwürdiger Fälle birgt der Gedanke der Sozialadäquanz in sich. Wir haben damit, um mit Bok... kelmann zu sprechen, die zahllosen Fälle im Auge, "in denen die Tat schon deshalb kein moralisches Verdammungsurteil verdient, weil das cosi fan tutti gilt und den Täter das Schicksal, entdeckt und abgeurteilt zu werden, wie ein böser Zufall trifft. Hierher gehören alle kleinen Unredlichkeiten und Vergehungen des täglichen Lebens, die von den meisten Menschen ohne viel Bedenken verübt werden: das Mitfahren auf Verkehrsmitteln, ohne zu bezahlen (§ 265 a StGB), das Verzählen beim Geldwechseln, geringere Fundunterschlagungen, Schmuggel und Steuerhinterziehung, Umgehung von Devisenbestimmungen, Beleidigungen ...11." Auch nach Welzel ist ja sozialadäquates Verhalten "keineswegs notwendig ein sozialvorbildliches Verhalten, sondern ein Verhalten im Rahmen der sozialen Handlungsfreiheit. Dieser Rahmen ist nicht immer leicht und nicht schlagwortartig zu bestimmen'!." Gerade des" H. Ma,yer, Lb 108. Wilrtenberger, Rittler-Festschrift 1957, S. 129. Rechtsstaatliche Bedenken gegen den Begriff der Sozialadäquanz machen geltend auch Kienapfel, Körperliche Züchtigung und Sozialadäquanz im Strafrecht (Karlsruhe 1961) 95 f., und Bydlinski, ÖJZ 1955, S. 160, wenn er schreibt: "Welzels Lehre bedeutet, daß der Gesetzgeber die Korrektur seiner einmal getroffenen und in einem Rechtssatz niedergelegten Werturteile nicht sich selbst vorbehält, sondern der ,Gesellschaft' oder gar einzelnen sozialen Gruppen ohne alle Einschränkung überläßt, ja daß ein Verhalten seinen rechtlichen Unwert nicht aus einem Verstoß gegen einen Rechtssatz, sondern aus einem Verstoß gegen die ,sittlichen Ordnungen' bezieht." 11 Bockelmann, Strafrechtliche Untersuchungen (Göttingen 1957) 10. U Welzel, Lb 53. 10

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halb ist - wieder aus rechtsstaatlichen Gründen - eine "materiellrechtliche Typenkorrektur" auf Grund übergesetzlicher Wertmaßstäbe gefährlich, weshalb Fälle "völliger Harmlosigkeit"53 nur nach dem Satze "res minima non curat praetor" ohne Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit unter den Voraussetzungen des § 153 StPO (geringe Schuld des Täters, unbedeutende Folgen der Tat, Mangel des öffentlichen Interesses an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung) nicht verfolgt werden. Diese Durchbrechung des Legalitätsprinzips ist aber eben nur im Prozeßrecht zulässig, nicht auch im materiellen Recht, wo der iudex selbst bei der Prüfung des geringfügigsten Bagatelldeliktes nicht die durch die lex positiva gezogenen Schranken überschreiten darf. Kommt also der Begriff der Sozialadäquanz für die bisher genannten Fälle im Rahmen des klassischen "dreiteiligen" Verbrechenssystems weder als Unrechtsausschließungsgrund (nach dem eigenen Einbekenntnis Welzels, s. o. S. 19), noch als übergesetzlicher Tatbestands-, geschweige als Schuldausschließungsgrund zum Tragen, so ist damit freilich noch keineswegs gesagt, daß er sich nicht etwa in bezug auf ein anderes Anwendungsgebiet als dogmatisch fruchtbar erweisen könnte. Denn unter dem verschwommenen Begriff "So~ialadäquanz" werden sehr verschiedenartige Gesichtspunkte verstanden, die von einander scharf getrennt werden müssen.

a Engisch, Konkretisierung 140.

2. Kapitel

Der Begriff des sozialadäquaten Risikos Nur ein "Sonderfall" bzw. "Unterfall" der Sozialadäquanz ist nach Welzezt das "erlaubte Risiko" gefährlicher Betriebe. Erstmals hat im deutschen Schrifttum wohl v. Bar im Jahre 1871, u. zw. unter dem Gesichtspunkt eines Kausalproblems, zur Frage der Haftung für riskantes, d. h. für ein mit der Gefahr (Möglichkeit) des Eintrittes eines tatbestandsmäßigen Erfolges verbundenes Verhalten, Stellung genommen!. Aus der strafrechtlichen Betrachtung sei als rechtlich irrelevanter Kausalzusammenhang zwischen Handlung und Erfolg alles auszuscheiden, was der Regel des Lebens entspricht. So seien z. B. die Eltern nicht "Ursache", sondern lediglich "Bedingungen" (Voraussetzungen) der Handlungen ihrer Kinder. Aber auch der Dachdecker, der ordnungsgemäß auf seinem Dache einen Ziegel befestige, sei nicht "Ursache" der Tötung, "wenn nachher durch einen Windstoß das Dach abgerissen und von dem herabfallenden Ziegel ein Mensch getroffen wird". Bereits ein Jahrzehnt später bringt den Gedanken des erlaubten Risikos Hälschner mit der Schuld in Verbindung, wenn er erklärt: "Eine unbeschränkte Pflicht, jede Handlung zu unterlassen, aus der sich als möglich erkannte üble Folgen ergeben können, würde den Menschen zu absoluter Untätigkeit verurteilen, denn sein Handeln ist überall von Gefahren umgebens." Daß "verkehrsmäßige Gefahr" niemals Fahrlässigkeit begründen könne, weil sie sich nur durch das gerade im öffentlichen Interesse unmögliche Verbot bestimmter Tätigkeiten ausschließen ließe, wird um die Jahrhundertwende besonders auch von Robert v. Hippel betont'. Die eigentlichen Grundlagen der Lehre vom "erlaubten Risiko" finden sich freilich erst in der klassischen Darstellung Bindings 5• "Bei Tausenden und Abertausenden menschlicher Handlungen", schreibt er, "fast könnte man sagen, bei allen nicht rein innerlichen, laufen Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, vielleicht Gewißheiten unbeabsichtigter RechtsgefährWelzel, ZStW 58, S. 518; ders., Lb8 115, und Fahrlässigkeit 25. v. Bar, Die Lehre vom Causalzusammenhange im Recht (Leipzig 1871) 11 ff. Vgl. auch ders., Gesetz und Schuld II (Berlin 1907) 452 ff. a Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht I (Bonn 1881) 317 f. , v. Hippel, VDA III 569 f.; ders., Lb II 361 f.; ebenso v. Frank, Kommentar 194 f. Vgl. auch RGSt 30, 25; 57, 172. S Binding, Normen II 247 f.; IV 432 ff. 1 I

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deshalb nebenher, weil die Handlung kaum ohne sie ausgeführt werden kann'." Wie ist aber die richtige Grenze zu ziehen in dem polaren Spannungsverhältnis von möglichen Rechtsgutsverletzungen bzw. -gefährdungen auf der einen und den für die Gemeinschaft nützlichen Risikohandlungen auf der anderen Seite? Alle Pionierleistungen, alle wissenschaftlichen und technischen Experimente, wurden seit eh und je durch eine Hochflut von Körper- und Sachbeschädigungen, die "nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit" liegen, erkauft, um so mehr heute im Atomzeitalter7• "Wo ... der Mensch seine eigenen Kräfte durch Naturkräfte potenziert, muß auch die geringste Nachlässigkeit in ganz anderem Umfange als bisher schwere und schwerste Auswirkungen haben." So ist vor allem die Zunahme der Verkehrsdelikte "der Tribut, den der Mensch für seine technische Entwicklung zahlt"s. Gewiß stellt der Verkehr i. e. S. (Kraftfahrzeug-, Schienen- und Flugverkehr) mit seinen erschreckend vielen, in fast ununterbrochener Kurve steigenden Opfern alles andere Unfallgeschehen in den Schatten, so daß insofern die Verkehrskriminalität heute vielleicht das wichtigste Gebiet des Strafrechts darstellt. "Denn in keinem anderen Bereiche des Strafrechtes richten sich die Normen unmittelbar an einen so großen Teil aller Rechtsunterworfenen als potentielle Täter, und zwar als für ihre deliktischen Handlungen grundsätzlich voll verantwortliche Täter'." Abgesehen vom Verkehr i. e. S.

dungen oder Rechtsverletzungen

• Binding, Normen IV 433 f.

7 Dafür, daß in diesen Bereichen des sozialen Lebens Unfälle nicht nur immer wieder vorkommen, sondern sich mit einer bestimmten Regelmäßigkeit ereignen, die an Hand der Unfallstatistik übersehbar ist, vgI. das von Schaffstein, ZStW 72, S. 373 11, angeführte Beispiel: Beim Bau der großen Alpentunnel ereignet sich trotz aller Sicherheitsvorkehrungen jährlich eine bestimmte durchschnittliche Zahl tödlicher Unfälle. Darin, daß die gewerbliche Ausübung solcher Unternehmungen freilich nur erlaubt ist, weil die Opfer nicht individualisiert sind, kein bestimmter Mensch geopfert wird, erblickt NolZ, ZStW 77, S. 31, mit Recht "keine konsequente ethisch-rechtliche Gedankenführung, sondern eher eine gewisse allgemein menschliche Sorglosigkeit". 8 Welzet, Fahrlässigkeit 6. Außer den bereits genannten Autoren, die zur Frage des "erlaubten Risikos" ex professo Stellung genommen haben, seien u. a. noch folgende genannt: Engisch, Untersuchungen 285 ff.; Exner, Fahrlässigkeit 191 ff.; v. Frank, Kommentar 194 f.; Jescheck, Lb 263 ff.; Kienqpfel, Risiko; H. Mayer, Lb 186 ff.; Mezger, Lb 358 f.; Miricka, Die Formen der Strafschuld und ihre gesetzliche Regelung (Leipzig 1903) 154 ff.; Mittasch, Deutsche Rechtswissensch'aft 8, S. 46 ff.; NoH, zstw 77, S. 30 f., und Rehberg, Risiko. Aber im~r noch sehen sich Kohlrausch - Lange, Kommentar 596, veranlaßt, vom "erlaubten Risiko" als einer "grundsätzlich noch wenig geklärten Frage" zu sprechen. Ebenso Engisch, DJT-Festschrüt I, S. 4171 • 8 Frey, Festschrift zum Zentenarium des Schweizerischen Juristenvereins 1861-1961 (Zürich 1961), S. 280. Sicherlich ist Frey auch beizupflichten, wenn er a.a.O. 277 betont, daß bei den meisten Verkehrsunfällen nicht die Technik, die objektiven Gegebenheiten der Fahrzeuge, des Straßenzustandes, der Witterung usw., sondern der Mensch der wahre Versager ist: "Die mehr oder weniger gewohnheitsmäßige Mißachtung elementarer Verkehrsvorschriften

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gehören aber zu den ganz legalen und offensichtlich erlaubten Tätigkeiten auch andere sog. "gefährliche Betriebe", also nicht nur der Betrieb einer Eisenbahn, eines Kraftfahrzeuges oder eines Flugzeuges, sondern auch der Betrieb z. B. eines Bergwerkes, eines Steinbruches, einer Fabrik, eines chemischen Laboratoriums und eines Atomreaktors; aber auch die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit und die mit ihr verbundenen Eingriffe in die körperliche Integrität (Narkotisierung, Operation), militärische Übungen sowie Sportveranstaltungen gehören hierher. Ein Staat, der nicht den sozialen Fortschritt hemmen will, indem er dem Grundsatz "absolute Ruhe und Untätigkeit ist die erste Bürgerpflicht"lO huldigt, darf eben die Betätigungsfreiheit, die Initiative des einzelnen nicht dadurch lähmen, daß er ohne weiteres riskante Tätigkeiten verbietet. Der Gedanke, daß die Verfolgung lebensnotwendiger oder wertvoller Zwecke, die feste Bestandteile der Zivilisation sind, gestattet sein müsse, findet schon in dem lapidaren Wort des Pompeius, das auch zum Wahlspruch der Hanse geworden ist, Ausdruck: "Navigare necesse est, vivere non necesse." Droht indessen nicht die angebliche Naturbeherrschung durch den Menschen diesen selbst zu überwältigen? Die Technik ist an sich gewiß weder gut noch böse, aber zum Guten und und das mangelnd ausgebildete Bewußtsein ihrer abstrakten Gefährlichkeit bei den meisten Verkehrsteilnehmern ist die entscheidende Unfallsursache und darum der Verkehrsfeind Nr. 1, auf den sich der kriminalpolitische Abwehrkampf gegen die Verkehrsunfälle konzentrieren muß." Frey fordert daher, im Interesse rascherer und intensiverer Handhabung des Verkehrsstrafrechtes bei fahrlässigen Verkehrsdelikten mehr Gewicht auf das objektive als das subjektive Tatmoment zu legen. Eine solche Vernachlässigung der Schuldfrage aus Gründen der Praktikabilität begegnet freilich grundsätzlichen Bedenken, weil sie das Strafrecht, dessen Fortschritt sich gerade an der Vertiefung des Schuldprinzips bemißt, letzthin zu einem reinen Schutzsystem degradieren würde. Ohne die Verkehrsdelikte zu "Kavaliersdelikten" verniedlichen zu wollen, darf doch nicht übersehen werden, daß sie, abgesehen von den meist vorsätzlich mit vollem Unrechtsbewußtsein verübten "unfallsträchtigen" Delikten (moving violations), täglich, ja stündlich und minütlich tausendfach oft genug von den ehrenwertesten Menschen begangen werden. Mit Recht hält daher Jescheck, Fahrlässigkeit 25 f., dem kriminalpolitischen Postulat einer "Reobjektivierung des Strafrechts" die Warnung entgegen: "Vom Schuldprinzip selbst kann sich ein im Grunde ethisch bestimmtes Strafrecht, das erzieherisch wirken soll, nicht lossagen, weil es sinnlos wäre,den Menschen für etwas bestrafen zu wollen, für das er nichts kann", zumal da gerade im Verkehrsstrafrecht "die Menschen hier allzu oft überfordert erscheinen". Vor allem bei der Beantwortung der Fahrlässigkeitsfrage darf der Richter die Wahrheit des alten Satzes nicht vergessen, daß man klüger vom Rathaus kommt, als man hingeht! An dieser Forderung eines grundsätzlichen Festhaltens am Schuldprinzip auch bei geringfügigen Verkehrsdelikten ändert aber selbstverständlich auch nichts deren Entkriminalisierung, die Umwandlung von Verkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten durch das Ordnungswidrigkeitengesetz, dessen § 5 als Grundlage der Ahndung ausdrücklich vorsätzliches und allenfalls fahrlässiges Handeln verlangt. 1. Binding, Normen IV 200.

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Bösen zu gebrauchen. Das Recht kann und soll die technische Entwicklung nicht aufhalten, es ist jedoch verpflichtet, das mit der Entfesselung physikalischer und chemischer Kräfte unvermeidbare Schädigungspotential in unserem Alltags- und Berufsleben durch behutsame Reglementierung auf ein Mindestmaß zu beschränken; das Recht hat der Technik Schranken zu setzen und nicht umgekehrt. Es ist daher eine der wichtigsten, aber auch der heikelsten Aufgaben, mit der sich unsere immer mehr von der Technik beherrschte Zeit konfrontiert sieht, die Gefährlichkeit eines Verhaltens und den aus ihm entspringenden sozialen Nutzen gegeneinander abzuwägen. Je sozial wertvoller der Nutzen einer riskanten Tätigkeit ist (z. B. das Führen eines Kraftfahrzeuges im Hinblick auf die Vorteile eines modernen Straßenverkehrs), um so mehr wird die Staatsgewalt Verletzungen oder Gefährdungen, die für die Erreichung dieses Nutzens notwendig sind, in Kauf nehmen müssen, da in diesem Falle die Allgemeinheit ein größeres Interesse an der Vornahme als an dem Unterbleiben einer solchen Tätigkeit hatl l • Und umgekehrt wird sie gemäß diesem Prinzip der Güterabwägung11 eine riskante Tätigkeit um so mehr verbieten müssen, je nutzloser sie für die Gemeinschaft ist1'. Auf diesen rechtspolitischen, vor aller Dogmatik stehenden Grundsatz, wonach für die Grenzziehung zwischen rechtlich mißbilligtem und rechtlich gebilligtem (maßvollem) Risiko das überwiegende öffentliche Interesse maßgebend sein soll, braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, zumal darüber weitgehende Übereinstimmung der Ansichten festzustellen ist. Die Richtigkeit dieses Beurteilungsmaßstabes darf vielmehr bei unserer folgenden Untersuchung vorausgesetzt werden, denn diese stellt sich die rein dogmatische Frage nach Art und Umfang der Haftungsbeschränkung für Schädigungen an Leben, Körper, Gesundheit und Eigentum, die im Rahmen einer gefährlichen, aber grundsätzlich 11 So auch Wetzet, Neues Bild! 28 f.; ders., Lb 8 115. Sehr beachtliche Ausführungen zu dieser Frage stammen auch in Anlehnung an Binding, Normen IV 440 ff., von Nagter, LK8 I (Berlin 1944) 367. Er verlangt für das Risiko einerseits "objektive Unentbehrlichkeit (rechtliches Gebotensein oder wenigstens rechtliche Zulässigkeit) der gefährdenden Handlung im sozialen Lebenszusammenhang", andererseits "Verhältnismäßigkeit zwischen dem angestrebten Zweck und der gelaufenen Gefahr". Im übrigen bedürfe es "der Gesamtwürdigung aller Umstände, insbesondere der Berücksichtigung des konkreten Rechtswerts der kollidierenden Interessen, des Umfangs der drohenden Schädigung sowie des Grads von Wahrscheinlichkeit für die Zweckerreichung wie für die dabei gelaufene Gefahr". Vgl. auch Engisch, Untersuchungen 288 ff., und H. Mayer, Lb 188. 1! Vgl. hierzu vor allem Graf zu Dohna, Recht und Irrtum (MannheimBerlin-Leipzig 1925) 11 ff. 11 Wie schwierig und problematisch die Entscheidung für ein Verbot sein kann, will man nicht die Entwicklung kultureller und zivilisatorischer Einrichtungen in Frage stellen, zeigt freilich die zeitweilige Untersagung einzelner Autorennen aus Anlaß der Katastrophe von Le Mans.

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erlaubten Tätigkeit oft durch ein verhältnismäßig geringfügiges menschliches Versagen herbeigeführt werden. Soweit es sich um die oben genannten "gefährlichen Betriebe" handelt, ist Voraussetzung für die Zubilligung eines Risikos die Betriebsbewilligung, die (außerstrafrechtliche) behördliche Gestattung, durch die solche Risikobetriebe zu "erlaubten" werden. Dabei sind der Betrieb und die ihm entsprechende Betriebsbewilligung im weitesten Sinn zu verstehen, so daß zu dieser nicht zuletzt auch der zum Lenken eines Kraftfahrzeuges berechtigende Führerschein zu zählen ist. "Die Ausstellung des Führerscheines gleicht am ehesten der Erteilung einer Konzession zur Führung eines mit hohem Gefährdungsrisiko verbundenen technischen Betriebes an eine Person, die in technischer, physischer, psychischer und vor allem auch charakterlicher Hinsicht dafür Gewähr bietet, daß sie den Betrieb - durch Einhaltung aller möglichen und gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsvorschrüten - mit einem Minimum von ,erlaubtem Risiko' zu führen imstande ist1'." Und das gleiche gilt entsprechend z. B. von der Approbation zur Ausübung der ärztlichen Praxis nach dem Heilpraktikergesetz. Die Sicherheitsvorschriften, an deren Einhaltung jede Bewilligung eines gefährlichen Betriebes zur Herabsetzung des mit ihm verbundenen Risikos gebunden ist, sind aber kaum übersehbar. Als das Ergebnis einer langen praktischen Erfahrung kann man sie nur entnehmen "aus den zahllosen Einzelvorschrilten über den Straßen-, Eisenbahn-, Schiffs- und Luftverkehr, aus den Bauordnungen, aus den Vorschriften über die Sicherheitsvorkehrungen in gewerblichen Betrieben, Theatern USW., aus den Bestimmungen für Starkstromanlagen und Dampfkessel, aus den Gepflogenheiten, die sich vielfach herausgebildet haben und mit denen der Gesetzgeber rechnet, aus den da und dort bestehenden autonomen Kunstregeln für einzelne Gewerbe USW."15. Von der Ausübung eines gefährlichen, aber unter Einhaltung der auferlegten Betriebs-(Sicherheits-)vorschrüten geführten Betriebes sind aber streng zu unterscheiden die in seinem Rahmen vorgenommenen einzelnen BetriebshandZungen. Waren diese mit einem tatbestandsmäßigen Erfolg verbunden, so läßt sich das vom Täter gelaufene Risiko selbst dann nicht ohne weiteres als erlaubt (rechtmäßig) bezeichnen, wenn sein Verhalten ordnungsgemäß (verkehrsrichtig) ist. Der Schluß von der "Erlaubtheit" (Rechtmäßigkeit) des Risikobetriebes auf Grund der behördlich erteilten Betriebsbewilligung auch auf die Erlaubtheit der riskanten BetriebshandZung wäre verfehlt. "Nichts ist verkehrter", betont schon Binding, "als das Laufen des maßvollen Risikos als ,erlaubte Gefährdung' zu bezeich" Frell, a.a.O. 317 f. 15 Kadei!ka, ZStW 59, S. 15; vgI. auch Engisch, Untersuchungen 291 ff.

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nen. Es handelt sich gar nicht nur um Gefährdung und noch weniger um erlaubte18." So setzt z. B. eine durch einen Kraftfahrzeugunfall herbeigeführte Verletzung ein Fahren mit einem Kraftfahrzeug voraus, ohne daß man jedoch von der Erlaubnis zu der "Fahrhandlung" (zur Benutzung des Kraftfahrzeuges) und zu dem damit verbundenen "Betriebsrisiko" auch schon die Erlaubnis, gewissermaßen den Freibrief zu einer Gefährdung oder gar zu einer Verletzung von Leib oder Leben eines anderen oder von fremden Sachen ableiten dürfte, und zwar selbst dann nicht, wenn der Fahrer allen Vorschriften der StVO und der StVZO genügte. Es ist vor allem das große Verdienst Maurachs, auf den grundsätzlichen Unterschied zwischen dem auf Grund behördlicher (gewerberechtlicher) Bewilligung unzweifelhaft rechtmäßigen Gesamtbetrieb 17 und der einzelnen Betriebshandlung als der unmittelbar und daher allein tatbestandserheblichen Ursache des mißbilligten Erfolges nachdrücklichst hingewiesen zu haben. "Der Absturz eines Flugzeuges mit zahlreichen Todesopfern", führt er aus, "ist nur die mittelbare und daher außertatbestandliche Folge einer unzweifelhaft rechtmäßigen Unternehmung, nämlich des Fluglinienbetriebes. Aber aus deren Rechtmäßigkeit wird nicht gefolgert werden können, daß alle aus dem erlaubten Risikobetrieb resultierenden Folgen, also der Tod der Flugzeuginsassen, infolge der sozialen Nützlichkeit des Betriebes rechtens oder auch nur rechtlich indifferent wären. Zwischen den erlaubten Betrieb als solchen und den tatbestandsmäßigen Erfolg schiebt sich die unmittelbare, allein tatbestandsrelevante Ursache der einzelnen Betriebshandlung, und zwar einer, wie der Erfolg lehrt, objektiv stets fehlerhaften Betriebshandlung: die tatbestandserhebliche Ursache der Flugzeugkatastrophe ist allein diese: das Versagen der Motoren, die fehlerhafte Navigation, die unzureichende Bodenbefeuerung und dg1. 18." 18 Binding, Normen IV 435 6 • Trotz ausdrücklicher Berufung auf Binding spricht auch Engisch, Untersuchungen 286 f., von "erlaubten Gefährdungen". 17 Daß die Führung eines von der Behörde erlaubten Betriebes "an sich" rechtlich erlaubt, also rechtmäßig ist, bedarf als eine rein tautologische Feststellung keiner besonderen Begründung. 18 Maurach, AT 467; ders., Schuld und Verantwortung 83 f. Grundsätzlich dieselbe Auffassung vertritt auch Beling, Verbrechen 176, wenn er die gewerberechtlich zulässige Ausbeutung eines Steinbruchs als nicht rechtswidrig, den dabei unterlaufenden Tod eines Menschen aber als rechtswidrig bezeichnet. Im gleichen Sinne z. B. auch Binding, Normen IV 446; Bindokat, JZ 1958, S. 555; Graßberger, zmv 1964, S. 22 f.; Köhler, Fahrlässigkeit 141 f.; Lampe, Unrecht 255; Oehler, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 243 f.; Stoll, JZ 1958, S. 142; ebenso auch RGZ 159, 68 (75). Mehr oder weniger ausdrücklich vertreten dagegen die gegenteilige Meinung, wonach also bei Einhaltung der gebotenen Sorgfalt alle aus einem erlaubten Risikobetllieb resultierenden Folgen ebenfalls erlaubt seien z. B. Engisch, Untersuchungen 286, 344; Exner, Fahrlässigkeit 193 ff.; Germann, Das Verbrechen im neuen Strafrecht (Zürich 1942/43) 212; H. Mayer, Lb 187; ders., Das Strafrecht des Deutschen Volkes (Stuttgart

1I Roeder

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Wie sich im Verlauf unserer Ausführungen noch zeigen wird, genießt der sich verkehrsrichtig Verhaltende zwar stets (selbst bei Herbeiführung eines tatbestandsmäßigen Erfolges) Stra!!reiheit 1D , doch bleibt es gerade im Hinblick auf die Thematik unserer Arbeit völlig offen, ob diese auf einem Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit oder der Schuld beruht. Dies gilt im besonderen auch von einer zwar riskanten, aber verkehrsrichtigen Betriebshandlung. Da sich der Täter hier im Rahmen der Gemeinschaftsordnung bewegt, also nsoziaZadäquat" handelt, können wir, ohne dem Ergebnis unserer Untersuchung vorzugreifen, ohne Rücksicht also auf seinen systematischen Standort im Verbrechensaufbau, den Grund des Strafausschlusses in ~er Einhaltung des nsoziaZadäquaten Risikos" erblicken20• Der von uns oben S. 25 ff., insbesondere aus rechtsstaatlichen Gründen, abgelehnte Begriff der Sozialadäquanz als eines übergesetzlichen Auslegungsprinzips erweist sich daher in diesemAnwendungsbereich als durchaus praktikabel und ist im Hinblick auf seinen neutralen Charakter dem Begriff der "Erlaubtheit", der von vornherein auf den Unrechtsausschluß des in Frage stehenden Verhaltens abstellt, entschieden vorzuziehen. Denn auf allen Stufen des Verbrechensaufbaues wird der Versuch unternommen, die Straffreiheit für riskantes, aber von der Allgemeinheit um höherer Interessen willen in Kauf genommenes Verhalten zu begründen.Es erhebt sich nun die grundsätzliche Frage, ob ein Strafausschluß bei Einhaltung des sozialadäquaten Risikos nur bei fahrlässiger oder auch vorsätzlicher Begehung geboten ist. Während die meisten Autoren bei Behandlung unseres Problems - allerdings ohne nähere Begründung von vornherein nur fahrlässige Begehung ins Auge fassen, scheinen die übrigen die Möglichkeit vorsätzlicher Begehung nur deshalb zu bejahen, weil sie nicht reinlich unterscheiden zwischen "Betriebsrisiko" und "Betriebshandlung"21. Bei wirklich bewußter Risikoüberschreitung hat frei1936) 246; MiTicka, Formen der Strafschuld 154 f.; Niese, Finalität 60; Nipperdey, NJW 1957, S.1778; Nowakowski, Grundzüge 62; ders., ZStW 63, S.330; RittZer, AT 127, 218; Schönke - Schröder, Kommentar 404, 497, und WeZzeZ,

ZStW 58, S. 525". 1. Diese Wahrheit hat schon Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Priinzipien der Wissenschaftslehre (Jena-Leipzig 1797) 106, ausgesprochen: "Wer die im Gesetz anbefohlene Sorgfalt beachtet, ist loszusprechen." 20 Beim sozialadäquaten Risiko handelt es sich um einen an gesetzlichen Tatbeständen unterfallende Handlungen von außen anzulegenden Maßstab, weshalb man auch von einem "maßvollen" Risiko sprechen kann. Und während es sich bei den im ersten Abschnitt unserer Untersuchung erörterten Fällen um bloße "Minima" oder, wie Engisch sagt, um bloße "Harmlosigkeiten" handelt, bezieht sich die überschreitung des sozialadäquaten Risikos oft auf mit beträchtlichen Gefahren verbundene menschliche Tätigkeiten. !1 Dies ergibt sich z. B. aus dem von H. Mayer, Das Strafrecht des Deutschen Volkes 170, gebrachten Beispiel, wonach ein Unternehmer den Tatbestand der Tötung i. S. des Verursachungsdogmas setze, "der, sei es aus Gewinnsucht, sei

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lich, wie Welzel beizupflichten ist, Bestrafung wegen vorsätzlichen Unrechts einzutreten. "Fälle dieser Art", meint er aber mit Recht, "können in der Wirklichkeit nur Taten raffiniertester Verbrecher sein, die unter dem Deckmantel scheinbar sozialadäquater Tätigkeit ihr Verbrechen verüben. Andere Beispiele bewußter überschreitung erlaubten Risikos, bei denen man den Vorsatz mit dem beliebten dolus eventualis konstruiert, sind regelmäßig rein theoretische Phantasieprodukte; in der Wirklichkeit liegt eben tatsächlich nur Fahrlässigkeit vor22 1" Für unsere Untersuchung ist es jedenfalls nicht von Interesse, ob bei bewußter Risikoüberschreitung nach Welzel möglicherweise nur "eine geschickte Tarnung verbrecherischer Absichten"23 vorliegt, sondern ales aus finanzieller Bedrängnis, das erlaubte Betriebsrisiko überschreitet und damit den Tod von Betriebsangehörigen oder betriebsfremden Personen verursacht". In einem solchen Falle beruht zwar die ÜbersChreitung des zulässigen Risikos auf einer vorsätzlichen Außerachtlassung der behördlich vorgeschriebenen Sicherheitsvorkehrungen, die damit verbundene Tötung von Menschen kann aber wohl, sofern der Unternehmer nicht mit ihr .. rechnet" s. u. S. 39, Anm. 33), nur als Fahrlässigkeit zugerechnet werden. Weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit läge dagegen dann vor, wenn der Unternehmer, etwa ein Steinbruchbesitzer, einen ihm mißliebigen Arbeiter, der seiner Gattin nachstellt, dadurch ums Leben bringt, daß er ihn eine besonders gefährliche "Betriebshandlung" (Sprengung) vornehmen läßt, sofern nur sein Unternehmen allen Sicherheitsvorschriften entspricht (vgl. die u. S. 71 26 angeführte Lehre Mezgers). Nicht scharf unterschieden wird in dieser Hinsicht auch u. a. von Exner, Fahrlässigkeit 194 f.; Hirsch, ZStW 74, S. 97 f.; Mittasch, Deutsche Rechtswissenschaft 8, S. 46; Niese, Streik 30 f.; Schaffstein, ZStW 72,373 11• 22 Welzet, ZStW 58, S. 52041 • Lebensnäher liegt freilich der Fall, wo auch WelzeZ, a.a.O., 519f. (anders freilich nunmehr Lb 52 auf Grund der Kritik H. Mayers, Das Strafrecht des Deutschen Volkes, Stuttgart 1936, S. 212 f., und Lb 150 f.), mit Recht denjenigen als Mörder bestrafen will, "der ein lungenkrankes Mädchen, dem eine Schwangerschaft den Tod bringen muß, mit dieser Absicht schwängert". Und ebensowenig wird man den Deckmantel der Einhaltung des "sozialadäquaten Risikos" über einen Zeugungsakt breiten dürfen, den in Variierung dieses Beispiels ein Ehemann, frivoler Weise zU seiner Legitimierung auf seinen Trauschein pochend, an seiner eigenen lungenkranken Frau vornimmt. Andernfalls würde, wie auch Baumann, AT 167, betont, "der besonders raffinierte, sich aber ,sozialadäquat' verhaltende Täter privilegiert". Keiner besonderen Hervorhebung bedarf es, daß diese Fälle sich grundlegend von dem bekannten Schulbeispiel unterscheiden und daher nicht über denselben Leisten geschlagen werden dürfen, wo der Neffe seinen Erbonkel während eines Gewitters auf die Straße schickt oder ihn veraniaßt, zu einer Reise ein Flugzeug zu benützen, alles mit dem Wunsch, aber ohne jeden Einfluß auf den Verlauf des Geschehens, sein Onkel werde dadurch den Tod finden. Hier kann man von keiner tatbestandsmäßigen Tötungshandlung sprechen, wenn sich auch der Wunsch infolge jeder menschlichen Berechnung entzogener Verkettung durch Blitzschlag oder Flugzeugabsturz verwirklichen sollte, weil das Leben des Onkels vom Standpunkt objektiver Prognose inkeiner nach der Regel des Lebens zu beachtenden Weise gefährdet war. Es handelt sich nicht um eine solche Handlung, "daß nach menschlichem Ermes.,. sen von einer Möglichkeit des Erfolgseintrittes gesprochen werden kann" (ZimmerZ, Aufbau 69). Vgl. auch Engisch, Untersuchungen 150 ff. 21 Wetzet, ZStW 58, S. 52041 •

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lein, ob bei - wenngleich nur bedingt - vorsätzlicher Risikoüberschreitung noch, unter welchem Gesichtspunkt immer, eine Strajbejreiung des Täters in Betracht kommt. Hat also, um ein im Schrüttum häufig genanntes Beispiel zu gebrauchen, ein Arzt, der sich bewußt ist, daß die von ihm vorgenommene Operation mit einer Lebensgefahr seines Patienten verbunden ist, im Falle eines letalen Ausgangs jeden Anspruch auf Straffreiheit verwirkt, selbst wenn der riskante, aber indizierte und lege artis unternommene Eingriff "auf Tod und Leben" die einzige Rettungschance gewesen ist? Und darf der Arzt im Falle der wohl dem gesunden Rechtsgefühl entsprechenden Verneinung dieser Frage nur fahrlässig oder auch (bedingt) vorsätzlich gehandelt haben? Die Abgrenzung von bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) und bewußter Fahrlässigkeit (luxuria) ist eine der schwierigsten und umstrit-

tensten Fragen der Strafrechtsdogmatik, die gerade in den letzten Jahren wieder lebhaft erörtert wurdet'. Von allen Abgrenzungsversuchen scheint uns aber doch noch immer am praktikabelsten die sogenannte EinwiUigungstheoTie zu sein, die nicht nur von namhaften Rechtslehrern (z. B. v. Frank, v. Hippel, v. Liszt-Schmidt, Mezger und Nagler), sondern auch in ständiger Rechtsprechung vertreten wird. Der grundlegende Unterschied zwischen der bewußten Fahrlässigkeit und dem psychologisch unmittelbar an sie angrenzenden bedingten Vorsatz wird nach dieser Theorie bekanntlich darin erblickt, daß der Täter, der in beiden Fällen die Verwirklichung des Deliktstatbestandes für möglich hält, bei jener darauf vertraut, der als möglich erkannte, innerlich aber abgelehnte Erfolg werde nicht eintreten (imprgbavit eventum), bei diesem hingegen mit seinem als möglich erkannten Eintritt "einverstanden" ist, ihn "in Kauf nimmt" (maluit eventum). Von der höchstrichterlichen Rechtsprechung25 wird freilich mit Recht zur Bejahung des bedingten Vorsatzes verlangt, daß der Täter den als möglich vorgestellten Erfolg nicht nur "in Kauf nimmt", sondern ihn auch "innerlich gebilligt, für den Fall seines Eintrittes. gewollt" haben müsse. Diese auch vom StGB-Entw. 1959 (§ 17) übernommene Unterscheidung!8 zwischen 14 VgI. vor allem Engisch, NJW 1955, S. 1688 f.; Jescheck, Erik Wolf-Festschrift, S. 473 ff.; Armin Kaufmann, ZStW 70, S. 64 ff.; Roxin, JuS 1964, S. 53 ff.; Schmidhäuser, GA 1957, S. 305 ff.; ders., GA 1958, S. 161 ff.; Schröder, Sauer-Festschrift, S. 227 ff.; Stratenwerth, ZStW 71, S. 51 ff. u RGSt 33, 4 (6); 72, 36 (43); 76, 115; BGHSt 7, 363 (369); 19, 101 (l05). 11 Weiteren Raum scheinen dagegen dem Vorsatz einzuräumen die StGBEntw. 1960 und 1962 (§ 16), wenn sie formulieren: "Vorsätzlich handelt, wem es darauf ankommt, den gesetzlichen Tatbestand zu verwirklichen, wer weiß oder als sicher voraussieht, daß er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, oder wer die Verwirklichung für möglich hält und sich mit ihr abflndet." Es ist aber Jescheck, Erik Wolf-Festschrift, S. 485, beizupflichten, daß sich die in dieser Fassung gegenüber der Einwilligungstheorie zum Ausdruck kommende Einstellung des Täters ohne Schwierigkeiten überbrücken läßt, "wenn man

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einer "Billigung" ("Einwilligung") und einem bloßen "Inkaufnehmen" kann aber "doch wohl nur darin liegen, daß bei jener der Täter dem Erfolg positiv oder zum allermindesten gleichgültig gegenübersteht, während ihm ein bloß in Kauf genommener Erfolg auch an sich unerwünscht sein kann, so daß ihm dessen Nichteintritt lieber ist"1l1. Eine solche rechtspolitisch gebotene Einengung des Vorsatzgebietes liegt ja auch der berühmten nFrankschen Formel" zugrunde. Nicht befriedigen kann freilich v. Franks Formel in ihrer ursprünglichen Fassung (5. bis 7. Auflage seines Kommentars, sich klar macht, daß das ,Sich-Abfinden' auf die Verwirklichung des Tatbestandes, die Billigung auf die Möglichkeit seiner Verwirklichung bezogen werden muß. Geht man so vor, dann wird man auf beiden Wegen im wesentlichen zum gleichen Ergebnis gelangen." Der Einwilligungstheoriie folgt darnach letztlich aber auch Welzel, Lb 65 ff., obwohl er es nicht wahrhaben will, wenn er zum dolus eventualis verlangt, daß der Täter mit dem Eintritt des . Erfolges "rechnet". Denn, wie er selbst einräumt, besagt seine Formel vom "Rechnen mit" dasselbe wie die Formel vom "Sichabfinden mit": "Wer auf das Ausbleiben des Erfolgs nicht vertraut, sondern mit seinem Eintritt rechnet, muß sich (notgedrungen) mit ihm ,abfinden'! Umgekehrt beginnt der dolus eventualis (das Sich abfinden) erst da, wo der Täter auf das Ausbleiben des Erfolgs nicht vertraut" (a.a.O. 68). Der EinwiUigungstheorie folgt auch § 17 Abs. 2 des Alternativ-Entw. eines Strafgesetzbuches, wenn er formuliert: "Vorsätzlich handelt auch, wer die Verwirklichung der Tatumstände ernstlich für möglich hält und in Kauf nimmt." Abzulehnen ist jedenfalls die Wahrscheinlichkeitstheorie (ExneT, Großmann, Löffler, Traeger), welche die Zuweisung eines Falles zum bedingten Vorsatz oder zur bewußten Fahrlässigkeit davon abhängig macht, ob der Täter den Erfolgseintritt für wahrscheinlich oder unwahrscheinlich hält. Nach richtiger Auffassung haftet aber der Täter doch nur für bewußte Fahrlässigkeit, sofern er trotz hoher Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintrittes in dem besonderen Falle doch - wenn auch vergebIich - fest darauf vertraut, die Sache zum guten Ende zu bringen (man denke an den Tellschuß!). Hält umgekehrt der Täter den Erfolgseintritt zwar für unwahrscheinlich, lehnt er ihn aber nicht ab, ist er ihm kein zu teurer Preis für die Befriedigung seiner Wünsche, so verantwortet er bedingten Vorsatz (abgelehnt wird die Wahrscheinlichkeitstheorie u. a. auch von Jescheck, a.a.O. 483, und Wetzet, a.a.O. 67). 11 Engisch, NJW 1955, S. 1688. Auch § 5 Abs. 1 des österreichischen StGB-Entw. 1964 verlangt zum bedingten Vorsatz ein "billigendes Inkaufnehmen" der Tatbestandsverwirklichung und hebt in der Begründung (S. 15 f.) hervor, daß der dolo eventuaIi handelnde Täter eben nicht bloß wie bei bewußter Fahrlässigkeit die mit dem Risiko belastete Handtung, sondern auch den Erfolg billige. Und die bewußte Fahrlässigkeit wird in § 6 Abs. 2 umgekehrt dahin bestimmt, daß der Täter die für möglich gehaltene Tatbestandsverwirklichung nicht herbeiführen will. Wenn freilich die Reg.ierungsvorlage von 1968 nunmehr beim bedingten Vorsatz darauf abstellt, ob der Täter dieVerwirklichung des einem gesetzlichen Tatbild entsprechenden Sachverhaltes für möglich hält und mit ;fhr einverstanden ist, so liegt in dieser dem StGBEntw. 1927 entnommenen Fassung keine sachliche Änderung. Denn die Begründung (S. 68), das Erfordernis eines "billigenden" Inkaufnehmens lege den Gedanken nahe, "daß die Billigung durch einen bewußten Wertungsakt vollzogen werden müsse, der Täter also über seine Wertung refiektiert und sich ein Urteil darüber gebildet haben müsse", ist nicht überzeugend. Ebenso wie das "Einverstandensein" verweist auch das "billigende Inkaufnehmen" nur "auf die Notwendigkeit einer positiven emotionalen Handlung".

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S.132), wonach dolus eventualis vorliegt, "wenn der Täter auch bei bestimmter Erkenntnis (seil. der Tatbestandsverwirklichung) gehandelt hätte"!8. Wie v. Frank später selbst erkannt hat, würde es sich nach dieser Auffassung nur um ein "hypothetisches" Werturteil des Richters über den Täter, um ein Mittel zur Erkenntnis des als dolus eventualis zu charakterisierenden seelischen Zustandes, nicht aber um die Feststellung einer psychischen Beziehung des Täters zu seiner Tat handeln. Bereits in der 11. Auflage seines Kommentars (S.142) formuliert daher t,. Frank: "In der Tat ist der schwere Vorwurf der Vorsätzlichkeit nur dann begründet; wenn es für die Willensbildung des Täters gleichgültig ist; ob er sich die Tatumstände als sicher oder als nur möglich vorstellt. Sagt sich der Täter: mag es so oder anders sein, so oder anders werden, auf jeden Fall handle ich, so ist sein Verschulden ein vorsätzlicheslt." Kommen wir sohin auf unser obiges Beispiel zurück, so ergibt sich, daß der Arzt nicht mit dolus eventualis handeln darf, da er sich von dem Gedanken leiten lassen muß, das Leben seines Patienten zu erhalten, da es also i. S. der Frankschen Formel für seine Willensbildung nicht gleichgültig sein darf, ob er sich den Erfolg, den letalen Ausgang der Operation, als sicher oder nur möglich vorstellte. Wenn er sich zu der Operation entschloß, so ging er dabei von der Erwartung aus, den Tod des Patienten abwenden zu können. Er hätte die Operation unterlassen, wenn er sich ihren negativen Ausgang als sichere Folge seines HandeIns vorgestellt hätte!o. Nur ein über den hippokratischen Eid (nil !8 Eine solche "hypothetische" Fassung seiner Formel findet sich auch noch in dem Aufsatz v. Franks, ZStW 10, S. 211. ft Vielleicht noch klarer hat diesen Gedanken, daß der Täter beim dolus eventualis sein Ziel auch um den Preis des tatbestandsmäßigen Erfolges erreichen will, v. Hippel, Lb II 324, formuliert: "Positiv ist festzustellen: Vorsatz liegt vor, wenn der Täter den Erfolg (Verwirklichung des Deliktstatbestandes) entweder als wünschenswert erstrebte oder ihn sich mit dem erstrebten als notwendig verbundenen vorstellte (dolus directus) oder wenn die Verwirklichung des als nur möglich vorgestellten, an sich gleichgültigen oder unerwünschten Erfolges dem Täter immerhin lieber war als der Verzicht auf seine Tat (dolus eventualis)." v. Liszt - Schmidt, AT 261, bestimmten den dolus eventualis dahin, "daß der Täter den Eintritt des Erfolges nicht abgelehnt hat, also zu dem (assertorischen) Urteil nicht gelangt ist: ,der Erfolg wird nicht eintreten'''. Engisch, Untersuchungen 219 f., schließlich faßt die Fälle, die als zum Vorsatz zurechenbar erscheinen, wie folgt zusammen: "Vorsatz liegt vor, wenn die Tatbestandsverwirklichung beabsichtigt ist, wenn sie als gewisse oder höchstwahrscheinliche Folge des eigenen Verhaltens oder des erstreb.ten Erfolges erkannt ist, und wenn sie zwar nur als mögliche oder einfach wahrscheinliche Folge des Verhaltens oder des beabsichtigten Erfolges erkannt ~st, der Täter aber gegen sie gleichgültig ist." .. Auch Zimmerl, Aufbau 185; schlägt vor, man sollte die Auslegung der bewußten Fahrlässigkeit dahin ergänzen, daß die Hoffnung des Täters, es werde schon nichts geschehen, immer dann anzunehmen sei, wenn er die Tat im Falle sicherer Annahme der Tatbestandsverwirklichung unterlassen hätte. "Denn nur wenn man die Definition in diesem Sinne ergänzt oder interpretiert, ist es ausgeschlossen, daß Fälle zwischen dolus ev. und bewußter Fahrlässigkeit durchfallen."

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nocere!) sich perfid hinwegsetzender Arzt könnte sagen: Mag der Patient sterben oder nicht, auf jeden Fall operiere ich··. Ein auch nur bedingter Vorsatz fehlt ebenso z. B. auch demjenigen, der auf ein Raubtier schießt, das seinen Freund angreift, unglücklicherweise jedoch diesen selbst tödlich trifft. Auch hier wäre es abwegig anzunehmen, der Schütze habe den Tod seines Freundes "billigend in Kauf genommen", diesen "Erfolg nicht abgelehnt". Das Leben bringt es mit sich, daß der Mensch in zahlreichen FällenAuswirkungen seinerTätigkeit "auf Gefahr hin" nicht sicher überschauen kann. Wäre jedes Eingehen eines Risikos zugleich ein Billigen des mit diesem verbundenen tatbestandsmäßigen Erfolges, gäbe es überhaupt keine bewußte Fahrlässigkeit mehr, weil sie eben dann die Erfordernisse des dolus eventualis erfüllte. Bewußte Fahrlässigkeit und nicht schon bedingter Vorsatz liegt dort vor, wo der Täter zwar die abstrakte, nicht jedoch die konkrete Gefahr erkannt hatu . Stehen hier heute freilich mit Abstand im Vordergrund die mit dem Kraftfahrzeug-, Schienen- und Flugverkehr verbundenen Gefahren, so gilt diese Ansicht doch auch für alle anderen Lebensbereiche. "Auch der Dienstherr, der seinen Arbeiter auf das Gerüst schickt, kennt die damit verbundene Leberu;gefahr; doch würde er ihn, außer im Fall eines besondern Hasses gegen ihn, gewiß nicht zu der Arbeit anhalten, wenn er wüßte, daß er dabei abstürzt und sich tödlich verletzt oder auch nur arbeitsunfähig wird, weil er - ganz abgesehen von den normalen menschlichen Gefühlen - ein Interesse daran hat, ihn weiterhin zur Arbeit zu verwenden·a." Ganz anders gelagert ist deshalb der Fall des Lacmannschen Schützen34, der, obwohl er sich seiner Treffunsicherheit bewußt ist, wettet, dem. Schießbudenfräulein eine Glaskugel aus der Hand zu schießen, aber die Hand trifft. Denn in diesem Fall ist dem Schützen der als möglich 31 Für Vorsatzausschluß in einem derartigen Falle z. B. Bockelmann, Strafrechtliche Untersuchungen 52 44 ; Mezger, Lb 345; Rehberg, Risiko 90 f. Dieser Fall hat frenich nur heuristischen Wert, sofern sich ergeben sollte, daß bei einer indizierten, lege artis und mit Einwilligung des Patienten vorgenommenen Operation die Frage nach·schuldhafter (auch fahrlässiger) Begehung von vornherein niJCht aufgeworfen wird. S. u. S. 42 fi. SI SO ausdrücklich Schmidhäuser, GA 1957, S. 314. S3 Germann, Das Verbrechen [m neuen Strafrecht 24. Eine vorsätzliche Verletzung oder ·Tötung durch den Unternehmer eines Bergwerkes, eines Steinbruches usw. käme, wie auch Rehberg, Risiko 92 f., annimmt, nur in Betracht, wenn er die Sicherheitsvorschriften außer acht läßt und damit das zulässige Betriebsrisiko überschreitet. Rechnet er dabei mit der Verletzung von Arbeitern, so steht einer Bestrafung wegen 'Vorsätzlicher Begehung der entsprechenden Delikte nichts entgegen. Bei Einhaltung aller Sicherheitsvorkehrungen haftet der Unternehmer dagegen auch nicht wegen Fahrlässigkeit, wenn ein Betriebsangehöriger nur durch höhere Gewalt oder eigene Unachtsamkeit Schaden nimmt. S. o. S. 35, Anm. 21. S4 Lacmann, zStW 31, S. 153 f.

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vorgestellte, ihm freilich höchst unerwünschte Erfolg noch lieber als der Verzicht auf seine Gewinnchance, d. h. sein Begehren nach dem von ihm erstrebten Erfolg (Gewinn der Wette) war so stark, daß ihn auch die Vorstellung vom sicheren Eintritt des alternativen Erfolges (Verletzung eines Menschen) nicht von seiner Tat abgehalten hätte. Oder wie v. Hippel formuliert: " ... der negative Gefühlswert, welchen der rechtswidrige Erfolg für den Täter hatte, war an sich geringer als der positive Gefühlswert der dem Täter erwünschten Folgen35 ." Die von uns erörterten Beispiele haben somit deutlich gezeigt, daß es jeder Gerechtigkeit und Billigkeit widerspräche, Strafbefreiung unter welchem Gesichtspunkt immer - auch demjenigen zu gewähren, der durch eine riskante Tätigkeit einen tatbestandsmäßigen Erfolg dolo eventuali, geschweige dolo directo herbeiführt. Wer bereit ist, das Risiko eines verpönten Erfolges selbst im Falle hypothetischer Gewißheit auf sich zu nehmen, bekundet damit eine Gleichgültigkeit, ja Rücksichtslosigkeit gegenüber dem geschützten Rechtsgut, die jede Privilegierung ausschließt. Wer den Eintritt eines rechtswidrigen Erfolges auch nur billigend in Kauf nimmt, ist ein sozialinadäquates Risiko eingegangen, das am allerwenigsten auf dem Gebiete des Strafrechts pardoniert zu werden verdient. Strafbefreiung wegen Einhaltung des sozialadäquaten Risikos kommt daher von vornherein nur in Betracht, wenn sich der Täter der Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges überhaupt nicht bewußt ist (unbewußte Fahrlässigkeit) oder doch auf sein Ausbleiben vertraut (bewußte Fahrlässigkeit). "Soweit ... einfache Wahrscheinlichkeit oder bloße Möglichkeit der Tatbestandsverwirklichung vom Täter ins Auge gefaßt wird, verliert das Handeln in der Hoffnung auf den Nichteintritt des rechtswidrigen Erfolges seinen verwerflichen Charakter und offenbart uns aller Vorwerfbarkeit ungeachtet eine Einstellung zu der Rechtsgüterwelt, die wir schonender zu beurteilen geneigt sind als den Standpunkt desjenigen, der jener Hoffnung ermangelt, weil es ihm auf einen rechtswidrigen Erfolg nicht ankommt-." Taucht also die Kardinalfrage nach dem systematischen Standort der Einhaltung des sozialadäquaten Risikos (Ausschluß der Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit oder Schuld) nur bei fahrlässiger Begehung auf37, so bedarf es zu ihrer Entscheidung einer näheren Untersuchung des Wesens der Fahrlässigkeit, die aber erst im nächsten Kapitel erfolgen soll. Gibt es aber, so müssen wir uns vorerst noch fragen, nicht Tätigkeiten, die sich im Rahmen des sozialadäquaten Risikos bewegen, bei S5

se S7

v. Hippel, VDA UI 509. Engisch, Untersuchungen 177.

ZU demselben Ergebnis kommt auch Rehberg, Risiko 90.

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denen diese Standortfrage indes schon unabhängig von einer solchen Untersuchung beantwortet werden kann? Ein Beispiel für eine an sich erlaubte und sozialadäquate, aber riskante Tätigkeit ist auch der Sport, insbesondere der sportliche Wettkampf, der seinem Wesen nach selbst bei fairster Ausübung mit zahlreichen Gefährdungen und Verletzungen verbunden ist. Dies ist nicht nur etwa beim Boxkampf, Judo und Freistilringen der Fall, wo die völlige Außerkampfsetzung des Gegners das erstrebte, aber auch von den Sportregeln sanktionierte Kampfziel bildet, sondern auch bei harmloseren Arten des Kampfsportes wie z. B. Fechten, fußball oder Hokkey. Außer Zweifel steht zunächst, daß der Staat die sportliche Betätigung und das mit ihr verbundene Risiko grundsätzlich nicht nur erlaubt, sondern sogar im Interesse der körperlichen Ertüchtigung und Volksgesundheit weitgehend fördert. Wie sonst ist aber auch hier von der generellen staatlichen Erlaubnis, der "Betriebsbewilligung"38, streng zu unterscheiden die einzelne "Betriebshandlung" , hier also die Sportverletzung. Die Grenze der Haftung für Sportverletzungen ergibt sich schon aus dem Gesetz, aus dem 1933 eingeführten § 226 a StGB, wonach die Einwilligung des Verletzten die Rechtswidrigkeit der Verletzung ausschließt, wenn die Tat nicht trotz der Einwilligung "gegen die guten Sitten" verstößt. Diese Bestimmung entspricht dem § 264 des StGBEntw. 1927, der in der Begründung (S. 132) ausdrücklich auf ihre Anwendung auf Sportverletzungen hinweist. Die beim Sport fast niemals ausdrücklich, sondern in der Regel nur konkludent, durch die freiwillige Teilnahme am Kampfsport erteilte Einwilligung entkleidet nicht nur fahrlässige, sondern sogar vorsätzliche Verletzungen ihrer Rechtswidrigkeit, doch sind ihrem Ausschluß durch den Maßstab der "guten Sitten", der nicht an die Einwilligung, sondern an die auf Grund derselben verübte Verletzung anzulegen ist, feste Grenzen gezogen. Das Gesetz duldet darnach bei richtiger Auslegung nur bei regelrechter Sportausübung entstehende Verletzungen, weil nur sie i. S. des herrschenden Volksbewußtseins30 nicht als sittenwidrig empfunden werden; durch Regel18 Die Ausübung sportlicher Betätigung ist grundsätzlich an keine behördliche Bewilligung gebunden. Einer solchen bedarf es nur bei öffentlichen SportveranstaItungen, z. B. bei auch zum Kampfsport zählenden Kraftfahrzeugrennen, wo Sicherheitsvorkehrungen zum Schutze von Zuschauern erforderlich sind. at Nach der ständigen Rechtsprechung decken sich die "guten Sitten" mit dem "Anständigkeitsgefühl aller billig und gerecht Denkenden"; vgl. RGZ 77, 419 (421); 80, 219 (221); 120, 144 (148). § 152 des StGB-Entw. 1962, der dem § 226 a StGB entspricht, ersetzt den Begriff "gegen die guten Sitten" durch den Begriff "verwerflich". Hierin soll aber nach der Begründung, S.286, "keine sachliche Änderung gegenüber dem geltenden Recht liegen".

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verstöße beigebrachte vorsätzliche oder fahrlässige Verletzungen werden dagegen von der Einwilligung nicht gedeckt. Wer an einem Wettkampf nach bestimmten vereinbarten Regeln teilnimmt, darf die strenge Einhaltung der Spiel- bzw. Kampfregeln verlangen. Die zur Verminderung des mit der Ausübung der einzelnen Sportarten an sich verbundenen Risikos bestehenden, meist international festgesetzten Regeln sind zwar keine Rechtsnormen, doch kommt in ihnen die geltende Verkehrssitte, die Sozialadäquanz zum Ausdruck. Als Richtlinien für die Abgrenzung rechtmäßiger von rechtswidriger Sportausübung besagen sie zugleich, daß der Sportler im Falle der Überschreitung des sozialadäquaten Risikos von ihm herbeigeführte Gefährdungen und Verletzungen strafrechtlich voll zu verantworten hat.Sind wir also bei den Sportverletzungen der Frage nach dem systematischen Standort der Einhaltung (Überschreitung) des sozialadäquaten Risikos schon durch das Gesetz enthoben, so gilt dies nicht ohne weiteres von einer anderen erlaubten und sozialadäquaten, aber riskanten Tätigkeit, nämlich von der Reilbehandlung, insbesondere der chirurgischen Operation. Nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechungf° wird jede, auch die unzweifelhaft indizierte und lege artis vorgenommene Heilbehandlung, gleichgültig, ob sie gelingt oder nicht, als tatbestandsmäßige Körperverletzung aufgefaßt, deren Rechtswidrigkeit nur durch die Einwilligung oder mutmaßliche Einwilligung des Patienten ausgeschlossen werden kann. Demgegenüber wird im Schrifttum überwiegend die Lehre vertreten, daß es - auch beim mißlungenen Heileingriff - schon am Tatbestand der Körperverletzung als einer "körperlichen Mißhandlung" oder einer "Gesundheitsschädigung" i. S. des § 223 StGB fehle. Diese Auffassung wurde bekanntlich erstmalig von Stooß vertreten. Körperverletzung, führt er aus, sei nach dem Wortlaut des Gesetzes entweder Gesundheitsbeschädigung oder körperliche Mißhandlung. Gesundheitsbeschädigung könne aber nicht vorliegen, weil ja der Eingriff des Arztes im Gegenteil die Gesundheit wiederherstelle oder doch wie die Impfung späteren Krankheiten vorbeuge; körperliche Mißhandlung hingegen könne nicht vorliegen, weil "Miß"handlung die "unangemessene, üble, falsche" Behandlung sei, zu der die dem körperlichen Zustand angemessene, wohltuende, richtige Behandlung des Arztes den geraden Gegensatz bildeU. Dies gelte auch bei Fehlen der Einwilligung des Patienten, nur sei dann das Vorliegen eines Deliktes gegen die Freiheit zu prüfen. Diese Auffassung (Ausschluß des Tatbestandes einer Körperverletzung oder Tötung) ist zweifellos richtig bei einer gelungenen Heilbe40 RGSt 25, 375; 38, 34; 74,91 (93); BGHSt 11, 111 (112). U Diese sog. "Behandlungstheorie" wurde von Stooß zuerst in der SchwZStrR 6, S. 53 ff., entwickelt, später in seiner Schrift "Chirurgische Operation und ärztliche Behandlung" (Berlin 1898), insb. S. 6, noch ausführlicher begründet.

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handlung. Sie wird auch nicht widerlegt im Falle einer etwaigen Verschlimmerung des Gesundheitszustandes des Patienten als einer vorübergehenden Folgeerscheinung, da eine solche Beeinträchtigung nicht losgelöst von dem eine Gesundheitsförderung darstellenden Gesamtergebnis betrachtet werden kann. Was aber den mißlungenen Heileingrüf betrifft, so hat man sich bemüht, auch bei diesem, selbst wenn er zum Siechtum oder Tod führt, den Tatbestandsausschluß zu begründen; so bekanntlich insbesondere Eb. Schmidt unter dem Gesichtspunkt des unechten Unterlassungsdeliktes: Der gewissenhafte Arzt erfüllt nicht den Tatbestand der Körperverletzung oder Tötung, wenn er seiner Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung nachkommt'!. So bestechend diese Konstruktion zunächst erscheinen mag, so können wir in ihr doch nicht "den Schlüssel für die juristisch richtige Behandlung der mit unglücklichen Folgen verbundenen Eingriffe"4S i. S. eines Ausschlusses der Tatbestandmäßigkeit, sondern nur i. S. eines Ausschlusses der Rechtswidrigkeit erblicken". Denn es kann nicht geleugnet werden, daß die "Heilbehandlung", die das Leiden des Patienten nicht heilt, ja verschlimmert oder sogar dessen Tod zur Folge hat, tatbestandsmäßig Gesundheitsschädigung oder Tötung ist'5. In diesem Falle lassen gewiß nicht "überwiegende Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht (Leipzig 1939) 77 ff. Eb. Schmidt, a.a.O. 1~. " Wie schon 'V. Frank, Kommentar 17, betont hat, kommt bei den unechten Unterlassungsdelikten eine besondere Bedeutung dem Erfordernis der Rechtswidrigkeit zu. Will man nicht zu einer uferlosen Ausweitung der Bestrafung kommissiven Unterlassens kommen, so bedarf es eines Korrektivs, nach welchem Kriterium innerhalb der Fälle unterlassener Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges die eine Haftung für den Erfolg 'begründenden Unterlassungen sich von den übrigen unterscheiden. Unter dem Gesichtspunkt eines bestimmten Tatbestandes ist daher eine Unterlassung dann rechtswidrig, wenn der Unterlassende zum Schutz des angegriffenen Rechtsguteskraft besonderer Pflicht berufen ist. Wie die Mutter ganz besonders verpflichtet ist, auf das Leben und die Gesundheit ihres Kindes zu achten, so gilt dieselbe "Garantenpflicht" mutatis mutandis für das Verhältnis des 'Arztes zu seinem Patienten. Ist also nicht, wie vor allem Nagler, GS 111, S. 51 ff., gelehrt hat, die "Parallelisierung der Aktivität mit der Passiviität" (S. 55) im Bezirke der Tatbestandsmäßigkeit, sondern in dem der Rechtswidrigkeit vorzunehmen, so erfüllt der gewissenhafte Arzt, wenn er im Falle eines mißlungenen Heileingriffes seiner Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung nachgekommen ist, zwar den Tatbestand der Körperverletzung oder Tötung, sein Verhalten ist aber nicht rechtswidrig. VgI. hierzu des näheren meine Abhandlung "Zum Standortproblem der unechten Unterlassungsdelikte", DStR 1941, S.105 ff., und S. 152 ff. es Ebenso z. B. Beling, ZStW 44, S. 220 ff.; 'V. Frank, Kommentar 478; Maurach, BT 79 f.; H. Mayer, Lb 171; Mezger, Lb 243 f.; Nagler, LK' II (BerUn 1951) 226; Sauer, Allgemeine Strafrechtslehre 139; früher auch Welzel, Lbl 227. A. M. außer Eb. Schmidt, a.a.O., z. B. Engisch, ZStW 58, S. 1 ff., insb. S. 5 f.; derB., MschrKrimBiol 1939, S. 4>14 ff.; Gallas,· ZStW 67, S. 21 f., insb. 21"; Arthur Kaufmann, zstw 73, S. 371 ff.; Mezger - Blei, BT 48 f., insb. 50; Niese, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 367 f.; Schönke - Schröder, Kommentar 1086 f.; Welzel, Lb 278. Vgl. auch die Ausführungen von Bockelmann und Gallas in U

U

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körperliche Interessen die Handlungsweise des Arztes als per Saldo heilsam erscheinen"48. Das Bestreben, jede lege artis vorgenommene, auch mißlungene Heilbehandlung um jeden Preis, also auch auf Kosten der dogmatischen Sauberkeit nicht mit dem Odium der Begehung einer objektiv tatbestandsmäßigen strafbaren Handlung zu belasten, beruht u. E. letztlich doch nur, um mit Graf zu Dohna zu sprechen, "auf einem scheinbar unausrottbaren Mißverständnis: als ob mit der Bejahung der Tatbestandsmäßigkeit schon irgendwelche Mißbilligung der also qualifizierten Handlung verbunden wäre"47. Eine solche Mißbilligung ergibt sich indessen erst nach VeTneinung der Rechtfertigungsfrage; und ob den Täter ein Vorwurf trifft, läßt sich erst bei Bejahung der Schuldfrage entscheiden. Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit sind nur strafrechtlichtechnische Hilfsmittel, Sprossen auf der Leiter der Strafrechtsdogmatik, bedingt durch die Eigenart des Gesetzesaufbaues und der juristischen Denkweise. Gewiß: Ärztliche Operation und Körperverletzung, wie können sich beide so "verteufelt ähnlich sehen. Bei beiden ein Messer, bei beiden Wunden, bei beiden Blut48." Nur in laienhafter Unkenntnis kann es aber ein Chirurg als eine moralische Kränkung empfinden, daß die Juristen sein gemeinnütziges Verhalten als tatbestandsmäßige Körperverletzung qualifizieren und es schon dadurch mit dem eines "brutalen Messerstechers" auf eine Stufe stellen. Stellt darnach also ein "mißlungener", wenngleich nach den Regeln der ärztlichen Kunst und Wissenschaft vorgenommener Heileingriff tatbestandsmäßig eine Körperverletzung dar, so ist jedenfalls bei vorliegender oder mutmaßlicher Einwilligung des Patienten bzw. seines zur Fürsorge berufenen Vertreters unter den Voraussetzungen des § 226a StGB die Rechtswidrigkeit ausgeschlossen". Denn es bedarf keiner weiteren Ausführung, daß ein indizierter und lege artis durchgeführter Eingriff auf keinen Fall "gegen die guten Sitten" verstößt, nicht (§ 252 StGB-Entw. 1962) "verwerflich" ist. Dies ergibt sich nicht zuletzt auch daraus, daß ja der Staat selbst die den Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 7. Bd., S. 191 f., 197. CI Engisch, ZStW 70, S. 592. 47 Graf zu Dohna, ZStW 60, S. 292. 48 Kahl, ZStW 29, S. 368. 41 Die Unrichtigkeit der Annahme freilich, "daß die Ursache der Straflosigkeiteiner mit Einwilligung betätigten Operation (einzig und allein) in der Tatsache der Einwilligung gelegen" sei, die Straflosigkeit also immer an diese gebunden sei, hat schon Graf zu Dohna, Die Rechtswidrigkeit als allgemein gültiges Merkmal im Tatbestande strafbarer Handlungen (Halle a. S. 1905) 98, betont; weil gerade "nicht jede ohne Einwil1igung vollzogene Operation einen rechtswidrigen, demgemäß strafbaren Eingriff in die körperliche Integrität bildet welcher die Anwendung der Strafbestimmungen über Körperverletzungen r~chtfertigt" (z. B. die Lebensrettung eines Selbstmörders).

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Ärzte ausbildet und Spitäler errichtet. Freilich ist ein tödlicher Ausgang des Eingriffes durch die Einwilligung nach § 226a StGB nur dann gedeckt, wenn man sie analog nicht nur auf die Körperverletzung, sondern auch auf die damit allenfalls verbundene Todesfolge bezieht. Eine solche Analogie ist aber zulässig, weil sie ja zugunsten des Täters angewandt wird50• Im übrigen spricht auch der StGB-Entw. 1962 (im wesentlichen übereinstimmend mit den Entw. 1959 und 1960) im § 161 nur davon, daß eine Heilbehandlung, die den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes entspricht, "nicht als Körperverletzung strafbar" ist51 • Somit wird, wie in der amtlichen Begründung S. 292 betont wird, die dogmatische Frage, "ob darin ein Ausschluß des Tatbestandes oder ein Rechtfertigungsgrund oder in gewissem Umfange vielleicht nur ein Entschuldigungsgrund" vorliegt, offengelassen; denn es sei dies "eine theoretische Rechtsfrage, die das Strafgesetz selbst nicht zu beantworten braucht". Der Entw. geht also davon aus, daß die Beantwortung der Frage Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen bleiben soll. Voll zugestimmt werden kann auch der Auffassung des Entwurfes, daß die den Regeln ärztlicher Kunst entsprechende Heilbehandlung ohne Rücksicht auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Einwilligung sowie ohne Rücksicht auf das Gelingen oder Mißlingen der Strafbarkeit qua Körperverletzung entzogen, die Mißachtung des Willens des Patienten aber nach § 162 Entw. unter dem Gesichtspunkt einer Freiheitsberaubung, der eigenmächtigen Heilbehandlung strafbar ist, es sei denn, daß die Einwilligung wegen Gefahr im Verzug (Abs.2) oder wegen des seelischen Zustandes des Patienten (Abs. 3) entbehrlich ist. Nur Eingriffe, die nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes die RGSt 56, 161 (168); BGHSt 9, 311. Diese Fassung weicht also bewußt ab von der des entsprechenden § 263 des StGB-Entw. 1927, wonach Eingriffe und Behandlungen, die der Ausübung eines gewissenhaften Arztes entsprechen, "keine Körperverletzung", also nicht tatbestandsmäßig sind. Im übrigen beschränkt sich die Vorschrift nicht auf approbierte Ärzte; auch Heilpraktiker, selbst Laien können sich auf sie berufen, wenn sie ihre Voraussetzungen erfüllen. Vgl. auch die Erläuternden Bemerkungen (S. 224) der österreichischen Regierungsvorlage 1968: "Bei kunstgerecht durchgeführten ärztlichen Eingriffen zu Heilzwecken kann es dahingestellt bleiben, ob sie, wie das der in Österreich und in der Bundesrepublik Deutschland gleichermaßen herrschenden Rechtsprechung (in Österreich auch der herrschenden Lehre) entspricht, bei Einwilligung des Verletzten zwar den Tatbestand einer Körperverletzung erfüllen, aber nicht rechtswidrig sind oder ob in ihnen mit der in der Bundesrepublik Deutschland herrschenden Lehre und dem deutschen Strafgesetzentwurf 1962 (§ 161) auch nicht das Ta,tbild einer Körperverletzung (bzw. keine strafbare Körperverletzung!) erbldckt werden kann; denn beide Ansichten führen zur Straflosigkeit des indizierten und sachgemäß durchgeführten ärztlichen Eingdffs." 50 51

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Einwilligung des Patienten voraussetzen, sollen ohne die erforderliche Einwilligung als Körperverletzung und nicht nur als eigenmächtige Heilbehandlung strafbar sein, selbst wenn sie wissenschaftlich und technisch einwandfrei durchgeführt werden. Als ein Parallelfall des ärztlichen Heileingriffes wird im Schrifttum unter dem Gesichtspunkt mangelnder Tatbestandsmäßigkeit oft auch die körperliche Züchtigung von Kindern durch Erziehungsberechtigte behandelt62, weil "der Erzieher nicht nur Anspruch auf Straflosigkeitserklärung einer einwandfreien pädagogischen Maßnahme erheben darf, sondern auch ein berechtigtes Interesse daran besitzt, den sozialen Wert seiner Handlung bereits durch Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit bescheinigt zu erhalten"6S. Eine Gleichstellung der "erzieherischen Körperbeschädigung" mit dem gelungenen ärztlichen Eingriff, der u. E. allein, wie oben S. 42 f. ausgeführt wurde, als Tatbestandsausschluß in Betracht kommt, erscheint uns indessen verfehlt, weil ja die Verletzung der Körperintegrität des Patienten nur eine vorübergehende, keine endgültige ist, "per Saldo" eine Hebung des körperlichen Wohlbefindens bewirkt und der Arzt einen schmerzlosen Eingriff in jedem Fall bevorzugen würde. Die körperliche Züchtigung als Erziehungsmaßnahme ist zwar auch "zur Heilung", aber nicht auf körperlichem, sondern seelischem Gebiete bestimmt, so daß sich die Handlung in einer körperlichen Mißhandlung i. S. der 1. Alternative des§ 223 StGB erschöpft, mag sie auch im Einzelfall heilsam sein. Die körperliche Züchtigung kann daher unter rechtsstaatlichem Gesichtspunkt nur als ein Rechtfertigungsgrund anerkannt werden (gegenüber eigenen bzw. anvertrauten Kindern aus dem Familienrecht nach den §§ 1626, 1631 Abs.l BGB, gegenüber Schülern für Lehrer an öffentlichen Schulen aus Gewohnheitsrecht, BGHSt 11, 241), freilich zur Verhütung von Mißbräuchen unter Anlegung eines strengen Maßstabes, da Prügelpädagogik (0 f..lTJ öClQd~ ä~Qrono~ natÖeue'tClt) stets nur ultima ratio sein darf, zumal da man sich auch in Kreisen der Erzieher noch nicht darüber einig ist, ob überhaupt die unmittelbare Einwirkung auf den Körper dazu geeignet ist, mittelbar auf den Charakter des zu· Erziehenden positiven Einfluß auszuüben.

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11 Kienapfel, Körperliche Züchtigung und soziale Adäquanz; Schaffstein, ZStW 72, S. 383; Eb. Schmidt, JZ 1959, S. 519; Würtenberger, DRZ 1948, S. 291 ff. 11 Kienapfel, a.a.O. 5 f.

3. Kapitel

Das Wesen der Fahrlässigkeit im Lichte der modernen Strafrechtsdogmatik Die im vorangegangenen Kapitel gewonnene wichtige Erkenntnis, daß sich die strafbefreiende Wirkung der Einhaltung des sozialadäquaten Risikos auf die Fahrlässigkeitsdelikte beschränkt, erfordert eine kurze Erörterung des Wesens der Fahrlässigkeit im Lichte der modernen Strafrechtsdogmatik. Die culpa, die ja allgemein als die leichtere, auch auf weniger Delikte beschränktel Grundform kriminellen Verhaltens angesehen wird, grenzt nach oben an den dolus, nach unten an den Zufall, an das Gebiet schuldlosen Verhaltens. Ist Vorsatz die gewollte, so Fahrlässigkeit die nicht gewollte Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes2• Nicht gewollt aber ist die Tat, wenn der Täter ein irgendeinem Tatbestandsmerkmal entsprechendes Lebenskonkretum nicht erkennt und beachtet, insbesondere den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht voraussieht (unbewußte Fahrlässigkeit, negligentia), oder wenn er sich zwar die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes als möglich vorstellt, aber darauf vertraut, daß es dazu nicht kommen werde (bewußte Fahrlässigkeit, luxuria). Die bewußte Fahrlässigkeit unterscheidet sich von der unbewußten also nur durch ein rein psychologisches Moment, indem bei jener bloß ein Willensmangel, bei dieser auch ein Vorstellungsmangel vorliegt. Keineswegs umfaßt aber die bewußte Fahrlässigkeit, wie immer wieder angenommen wird, stets die strafwürdigeren Fälle!. Immerhin bildet 1 Grundsätzlich reicht die Straffähigkeit des fahrlässigen Delikts gerade so weit wie die des vorsätzlichen, aber noch kein Recht der Welt hat den ganzen Kreis seiner strafbaren Handlungen auch bei fahrlässiger Begehung in Strafe gezogen. Antisoziales Verhalten wiegt schwerer als asoziale Einstellung. VgI. hierzu z. B. Binding, GS 87, S. 257 ff., und Köhler, Fahrlässigkeit 154 ff. I Die Theorie vom "unbewußt rechtswidrigen Willen", die Binding, Normen 11 304 ff.,. in Anlehnung an die Philosophie Eduard v. Hartmanns aufgestellt hat, derzufolge alle durch menschliche Handlungen (also auch fahrlässige) verursachten W,irkungen als vom Menschen "gewollt" bezeichnet werden - Fahrlässigkeit ist "der auf eine vermeidbare rechtswidrige Handlung gerichtete sich ihrer Rechtswidrigkeit nicht bewußte Wille" (Normen IV 454) - ist von der Rechtswissenschaft wie von der Psychologie mit Recht allgemein abgelehnt worden. 3 "Der vorsichtige und kenntnisreiche Mensch", sagt v. Hippel, ZStW 31, S.584, in übereinstimmung mit der überwiegenden Meinung treffend, "han-

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3. Kapitel: Wesen der Fahrlässigkeit

aber die bewußte Fahrlässigkeit die Obergrenze der Fahrlässigkeit, so daß nur durch ihre genaue Begriffsbestimmung zugleich die Untergrenze des Vorsatzes, des dolus eventualis, an den sie ja, wie bereits oben S.36 dargelegt worden ist, psychologisch unmittelbar angrenzt, von der negativen Seite her scharf gezogen werden kann. Ist auch die Fahrlässigkeit gerade dadurch gekennzeichnet, daß die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes als solche vom Täter nicht gewollt (nicht gebilligt) war, so ist sie der herrschenden Lehre nach dennoch nicht Verstandesschuld4, sondern ebenso wie der Vorsatz Willensschuld 5 in dem Sinne, daß Fehler in jenem inneren Geschehen, das wir als Willenstätigkeit bezeichnen, als entscheidend angesehen werden für den mißbilligten Vorgang, an den die Betrachtung anknüpft. Tritt der Wille beim Vorsatz in seiner positiven, so bei der Fahrlässigkeit in seiner negativen Form in Erscheinung. Es belastet den kulposen Täter nicht, daß er den Erfolge wollte, sondern vielmehr, daß er ihn infolge unzuT'eichendeT' Willensanspannung herbeiführte7 • Dieses Willensmanko delt häufig mit der Vorstellung möglicher Folgen in Fällen, wo diese dem Leichtfertigen und Ungebildeten fehlt. Das Maß seiner Unvorsichtigkeit braucht aber darum keineswegs ein größeres zu sein. Für den Gesetzgeber folgt daraus, daß er beide Fälle mit dem gleichen Strafrahmen zu bedrohen hat." Ebenso Jescheck, Lb 3'78. , Besonders scharf gegen die "dogmatische Verirrung" der Zurückführbarkeit der Fahrlässigkeit auf einen schuldhaften Fehler des Verstandes Binding, Normen IV 502: eine Denkschuld im Rechtssinne sei "einfach monstTös". I Die Bezeichnung "Willensschuld" entspringt der Hegelschen Philosophie: "Das Recht des Willens aber ist, in seiner Tat nur dies als seine Handlung anzuerkennen, und nur an dem schuld zu haben, was er von ihren Voraussetzungen in seinem Zwecke weiß, was davon in seinem VOTsatze lag. - Die Tat kann nur als Schuld des Willens zugeTechnet werden" (Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 117). Nicht mit Unrecht bezeichnet BeTolzheimeT, Die Entgeltung im Strafrechte (München 1903) 4211, den Ausdruck "Willensschuld" sogar als einen Pleonasmus, da der Willensfaktor im Begriffe der Schuld liege. t Unter "ETfolg" wird hier und im folgenden i. S. MezgeTs, Lb 95 (er hat dies sogar graphisch veranschaulicht), "die gesamte äußere Tatbestandsverwirklichung" verstanden; er umfaßt damit "sowohl das ,körperliche Verhalten des Handelnden' wie den durch dieses Verhalten verursachten ,Außenerfolg..•. Was die Unterlassung betrifft, so tritt entsprechend die "erwartete" Handlung an die Stelle der "wirklichen" Handlung. 7 Da auch bei der (Begehungs-)FahrIässigkeit der Täter etwas nicht getan bat, was er sollte, wurde oft auf die Verwandtschaft mit den Unterlassungsdelikten hingewiesen. "Wie die Unterlassung ist ... auch die Fahrlässigkeit ein ,etwas (d. h. Gebotenes) nicht tun' - nämlich das Nichterfüllen einer Sorgfaltspflicht, deren Erfüllung den Täter die Tat und ihre Folgen hätte vermeiden lassen" (MezgeT - Blei, ATll 198). Im gleichen Sinne z. B. Binding, Normen II 370; ExneT, Fahrlässigkeit 79; Gallas, ZStW 67, S. 42; Hall, Fahrlässigkeit im Vorsatz (MaTburg 1959) 26; Henkel, Mezger-Festschrift, S.283; Niese, Finalität 62. VgI.auch zu der ganzen Frage Engisch, Untersuchungen 266 ff., und ATmin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdell,kte (Göttingen 1959) 167 H.

3. Kapitel: Wesen der Fahrlässigkeit

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rechtfertigt es aber, auch bei der Fahrlässigkeit von einer Willensschuld zu sprechen8• Man kann das Moment der unzureichenden Willensanspannung beim kulposen Delikt auch darin erblicken, daß der Täter sich über die Möglichkeit des Erfolgseintrittes (unbewußte Fahrlässigkeit) bzw. über das Ausbleiben des als möglich erkannten Erfolgseintrittes (bewußte Fahrlässigkeit) irrte". • VgI. Kadei!ka GZ 76, S. X f.: "Alle Schuld ist Willensschuld. Das bedeutet nicht, daß immer, wenn von Schuld gesprochen werden soll, ein inhaltlich fehlerhafter Willensakt vorliegen müßte, ein auf etwas Unrechtes gerichteter Entschluß. Die Fahrlässigkeit ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß das Unheil, das herbeigeführt wird und vermieden werden sollte, nicht gewollt ist. Man kann dem Täter höchstens den negativen Vorwurf machen, daß es ihm an dem Willen gefehlt habe, das Übel, das er herbeigeführt hat, zu vermeiden, nicht aber den positiven, daß er etwas Unrechtes gewollt habe. Das Ausbleiben eines Willensaktes ist kein Willensakt ... Nur in dem Sinn ist alle Schuld Willensschuld, daß die schuldhafte Tat mindestens zum Teil in der allgemeinen WillensTichtung des Handelnden ihre Wurzel haben muß." Gegner der Lehre sowohl von der Willens-, als auch der Verstandesschuld 1st ErneT, Fahrlässigkeit insb. 58 !f., 95 !f., 164. Er erblickt das Wesen der Kulpa bekanntlich "in dem Mangel an Interesse, das der Handelnde für das rechtlich geschützte Gut zeigt" (S. 199). Gegen die ErneTsche Theorie haben schon BaumgaTten, SchwZStrR 34, S. 68; Hold v. FeTneck, Die Idee der Schuld (Leipzig 1911) 221 ; KöhleT, Fahrlässigkeit 28 ff.; M. E. MayeT, Lb 245", und Stooß, SchwZStrR 23, S. 392 f., ausgeführt, daß dann die fahrlässige Verletzung eines hochgeschätzten Rechtsgutes (z. B. Tötung eines Freundes auf der Jagd) unerklärbar bleibt, ein Einwand freilich, dem ErneT selbst (a.a.O. 1771) im voraus durch die Behauptung zu begegnen sucht, es sei eine petitio principii, daß in dergleichen Fällen "überall" Fahrlässigkeit vorliegen solle. Mit Recht hält ihm aber KöhleT, a.a.O. 30, entgegen, daß sich der Einwand so einfach nicht umgehen läßt: "Wäre ExneTs Ansicht richtig, so wäre es unmöglich, einen Gegenstand, den man außerordentlich hochschätzt, fahrlässig zu verletzen. Dies kann aber ErneT nicht behaupten." VgI. zu der ganzen Frage auch Engisch, Untersuchungen 460 ff. t SaueT, Allgemeine Strafrechtslehre 179 f.: "Fahrlässigkeit ist ein Fall des Irrtums, also des Ausschlusses des Vorsatzes, und zwar der unentschuldbare Irrtum ... : unbewußte FahTlässigkeit ist völlige Unkenntnis des UnTechts; bewußte FahTlässigkeit ist Unkenntnis deT WahTscheinlichkeit, u. z. Kenntnis der entfernten Möglichkeit." Auch nach Binding, Normen IV 316, ist das Fahrlässigkeitsdelikt ohne Irrtum "undenkbar". Mit Recht erblickt MaUTach, AT 452 f., in allen Fahrlässigkeitstaten Parallelerscheinungen zum TatbestandsiTTtum: Ebenso wie dieser (§ 59 Abs. 1) durch die Inkongruenz beider Tatbestandshälften m;it einem Manko auf der subjektiven Seite gekennzeichnet wird, ist materiell auch jede Fahrlässigkeit Produkt eines Irrtums, nämlich einer falschen oder fehlenden Vorstellung über ein Merkmal des objektiven Tatbestandes." Ähnlich auch AlZfeld, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts AT' 180; Beling, Grundzüge des Strafrechts" (Tübingen 1930) 52; GeTland, Reichsstrafrecht 139 ff.; A. MeTkel, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts (Stuttgart 1889) 86; MezgeT, LK I 529; Stooß, ÖZ 2, S. 5 ff. A.M. vor allem Engisch, Untersuchungen 256 ff., insb. 265: "Das Irrtumsmoment ist der Fahrlässigkeit nicht prinzipiell eigentümlich." Ebenso Nowakowski, JBI 1953, S. 506, wenn er schreibt: "Unbewußte Fahrlässigkeit kann auch dann vorliegen, wenn dil? Vorstellungen von der Wirklichkeit inhaltlich richtig, aber nicht gewissenhaft geprüft sind. Wer mit einer Schußwaffe hantiert, ohne die Möglichkeit zu bedenken, daß sie geladen sein könne, handelt auch dann fahrlässig, wenn sie in Wahrheit ungeladen war." In diesem Falle liegt aber überhaupt keine tat• Roeder

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3. Kapitel: Wesen der Fahrlässigkeit

Auch der Fahrlässigkeit, und zwar der bewußten wie der unbewußten, ist somit, wenn auch nicht in positiver Form, das emotionale (voluntative) Moment, die Beziehung zum Willen des Täters eigen, wogegen das intellektuelle Moment, die Voraussicht des 'Erfolges nur bei bewußter Fahrlässigkeit vorhanden ist. Voraussetzung der unbewußten Fahrlässigkeit ist nur Erkennbarkeit, nicht Erkenntnis, Voraussehbarkeit, nicht Voraussicht des Erfolges. Die herrschende Lehre verlangt jedoch zur Fahrlässigkeit noch ein drittes, dem Vorsatz fehlendes Moment: das normative. Die Schuld der Fahrlässigkeit wird darnach in einer pflichtwidrigen Trägheit des Willensvermögens, im Unterlassen der pflichtgemäß gebotenen Sorgfalt gesucht. "Während es bei vorsätzlichen Delikten besonderer Begründung bedarf, wenn ausnahmsweise trotzdem die Schuld verneint werden soll, so bedarf es bei Mangel an Vorsatz umgekehrt besonderer Begründung, wenn trotzdem die Schuld bejaht werden solpo. " So spricht die Begriffsbestimmung der Fahrlässigkeit in den Entwürfenl l und in der Rechtsprechung t! von dem "Außerachtlassen einer Sorgfalt, zu der der Täter nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen (Kenntnissen und Fähigkeiten) verpflichtet und fähig (imstande) isttl, und infolgedessen nicht voraussieht, daß sich der Tatbestand der fahrlässigen Handlung verwirklichen könne, oder, obwohl er dies für möglich hält, darauf vertraut, daß es nicht geschehen werde". Es ist das gleiche Moment, das in bezug auf die unbewußte Fahrlässigkeit auch in anderen Begriffsbestimmungen durch die ~assung "der Täter hätte den rechtsverletzenden Erfolg voraussehen und daher vermeiden können und sollen" bezeichnet wird und bestandsmäßige Handlung vor, so daß ein rechtlich relevanter Irrtum über das Nichtvorliegen von Tatumständen i. S. des § 59 StGB von vornherein nicht in Betracht kommt. 10 Graf zu Dohna, Aufbau 53. 11 Vgl. § 18 Entw. 1959; § 18 Entw. 1962. Auf die "Außerachtlassung der Sorgfalt" stellt auch der Fahrlässigkeitsbegriff des österreich ischen StGBEntw. in der Fassung der Regierungsvorlage von 1968 (§ 6 Abs. 1) ab. 11 RGSt 56, 343 (349); 58, 130 (134); 61, 318 (320); 67, 12 (18). 11 Ergibt sich nach dieser Definition der Entwürfe Pflicht und Fähigkeit zur Sorgfalt nach den Umständen und persönlichen Verhältnissen, so entsteht die Frage, ob die Pflicht nur nach den Umständen oder auch nach den persönlichen Verhältnissen des Täters, ob die Fähigkeit nur nach den Verhältnissen oder auch nach den Umständen zu beurteilen ist. Es ist Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafrecht 173, beizupflichten, wenn er ausführt: "Die Verpflichtung zur Vorsicht, d. h. zur Gewinnung eines den Erfolg umschließenden richtigen Vorstellungsbildes hinsichtlich des Geschehnisablaufs, ist unabhängig von den ,persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten'. Vielmehr ist diese Verpflichtung als solche in ihrer Existenz objektiv aus den ,Umständen' und den sich auf sie beziehenden rechtlichen Voraussichtsgeboten zu entnehmen. Erst bei der Frage, ob von diesem Täter die Befolgung des Voraussichtsgebotes und damit die Erlangung einer richtigen Erfolgsvorstellung erwartet und verlangt werden darf, spielen die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten eine maßgebende Rolle."

3. Kapitel: Wesen der Fahrlässigkeit

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eine Bewertung der Handlung, einen Vorwurf gegenüber dem Täter wegen ungenügender Willensanspannung zum Ausdruck bringen willi•. Diese Formel soll zugleich das Gebiet der Fahrlässigkeit von dem der Schuldlosigkeit (des Zufalls) abgrenzen. Aus diesen Begrüfsbestimmungen der Fahrlässigkeit ergibt sich auch, daß für die zu verlangende Sorgfalt ein doppelter Maßstab in Betracht kommt: ein objektiver (generalisierender) und ein subjektiver (individualisierender) Maßstab. Der fahrlässige Täter muß also nach der überwiegenden Lehre15 einerseits diejenige Sorgfalt, deren Beachtung in ähnlicher Lage allgemein erwartet wird, außer acht gelassen haben, andererseits darüber hinaus hinter dem Maß der Anforderungen zurückgeblieben sein, die unter Berücksichtigung seiner persönlichen Leistungsfähigkeit gerade an ihn gestellt werden können. 14

Für die culpa wurde der Begriff der "obligatio ad diligentiam" schon von

Feuerbach, Betrachtungen über dolus und culpa überhaupt und über den dolus

indirectus insbesondere, in der BibI. f. d. peinI. Rwsch., Tl. 11, St. 1, S. 217, aufgestellt. Nachdem es Jahrhunderte gewährt hatte, ehe die Fahrlässigkeit überhaupt als kriminelle Schuldform anerkannt wurde (vgl. Goldschmidt, ZStW 52, S. 525), hat man in neuerer Zeit wieder versucht, bei der Fahrlässigkeit, insbesondere der unbewußten, eine Schuld überhaupt zu leugnen. So erblickt vor allem Kohlrausch, in Aschrott-Liszt, Die Reform des Reichsstrafgesetzbuchs (Berlin 1910), 1/1, S. 208 ff., in der unbewuBten Fahrlässigkeit eine reine Erfolgshaftung: es gibt darnach höchstens ein crimen culpae, aber - im Gegensatz zum geltenden Recht - keine nach einzelnen Angriffsobjekten aufgegliederten crimina culposa. Auch Radbruch, VDB V 2011, hat die unbewußte Fahrlässigkeit einmal eine "verschämte Zufallshaftung" genannt; ebenso Kadecka, MScliTKrimPsych 1931, S. 65 ff. ("verkappte Zufallshaftung"); ders., ZStW 59, S. 21. VgI. auch H. Mal/er, ZStW 59, S. 324 f. Nach Hold v. Ferneck, Die Idee der Schuld 25, 55 ff., stellt die Haftung für Fahrlässigkeit eine "verfeinerte" Erfolgshaftung dar; Erfolgshaftung, weil die Fahrlässigkeit nur bestraft wird bei Eintritt des Erfolges, verfeinerte Haftung, da als Moment der rechtlichen Schuld hinzutreten muß die "generelle Voraussehbarkeit" des schädlichen Erfolges. Auch Baumgarten, Der Aufbau der Verbrechenslehre (Tübingen 1913) 116 f., glaubt, die Fahrlässigkeit "aus dem eigentlichen Strafrecht" ausscheiden zu müssen. Die Fahrlässigkeit ist also nach dieser Auffassung gegenüber dem Vorsatz nicht nur ein "minus", sondern ein "aliud", ein Fremdkörper, den die Dogmatik bis heute nicht verdauen konnte. Daß Strafe wegen unbewußter Fahrlässigkeit "gegebenenfalls einen Menschen treffen kann, der zwar rechtswidrig, aber schuldlos gehandelt hat", sucht Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze 194 ff., insb. 215 f., an einigen Beispielen aus dem Sachgebiet von Blendung und Ermüdung zu erläutern. 15 VgI. z. B. Graf zu Dohna, zstW 27, S.349; v. Frank, Kommentar 194 ff.; v. Hippel, Lb II 361 ff.; ders., VDA III 568; Jescheck, Lb 374 f.; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip (Heidelberg 1961) 227; Maurach, AT 486; H. Mayer, Lb 140 ff., 269 ff.; M. E. Mayer, Lb 253 ff.; Mezger, Lb 358 f.; Rittler, AT 2'17 ff.; v. Weber, Grundriß 83 ff.; Wegner, Strafrecht AT (Göttingen 1951) 181. S. ferner zur ganzen Frage vom Standpunkt der objektiven Theorie Mannheim, Der Maßstab der Fahrlässigkeit im Strafrecht (Breslau 1912), vom Standpunkt der subjektiven Theorie Engisch, Untersuchungen 349 ff., 365 ff., 4lO ff., insb. 425. Einen solchen doppelten Maßstab legt z. B. auch die Entscheidung RGSt 67, 12 (18 ff.), an die Fahrlässigkeit an.

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3. Kapitel: Wesen der Fahrlässigkeit

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Bei Zugrundelegung des objektiven Maßstabes wird somit nicht gefragt, ob der konkrete Täter, sondern ein "Man" den tatbestandsmäßigen Erfolg "nach den Umständen" hätte voraussehen und vermeiden können. Wer die Tätigkeit eines Arztes, Beamten, Baumeisters oder Kraftfahrzeuglenkers ausübt, hat in bezug auf die Kenntnisse und Fähigkeiten, in bezug auf die Einsicht und Aufmerksamkeit ein für allemal einem bestin,unten Normalnlaß von Anforderungen, die an eine solche Tätigkeit gestellt werden, zu genügen. Der objektive Maßstab richtet sich daher weder nach de~ "ex-ante-Homunkulus aus der Retorte der Rechtswissenschaft, ausgestattet mit dem nomologischen Höchstwissen unserer Zeit"I', noch nach dem normalen Durchschnittsmenschen (dem diligens pater familias) schlechthin, sondern nach dem repräsentativen Durchschnittsmenschen innerhalb eines bestimmten Berufs- und Gesellschaftskreises. Das Tun des Täters muß also mit dem zu vermutenden Verhalten eines gewissenhaften, einsichtigen und verständigen Angehörigen gerade der sozialen Kategorie, der er angehört, und mit der konkreten Situation, in der er sich befindet, in Parallele gebracht werden17• So verlangt man z. B. im Verkehr eine andere Sorgfalt von einem Baumeister als von einem Maurer, von einem Arzt eine andere als von einer Krankenschwester, und wieder eine andere Sorgfalt von dem Facharzt als von einem praktischen Arzt l8 • Es geht "um den Maßstab weder des abstrakten Jedermann, noch des individuellen Täters mit seinen persönlichen Eigenschaften und Fertigkeiten (als Individualper80n), sondern um den Täter als konkreter Jemand: in bestimmter sozial-typischer Rolle und Lage (als Sozialper80n)"II. Ist nun vom Täter die "im Verkehr erforderliche Sorgfalt" i. S. des unter welchem Gesichtspunkt sei hier noch dahingestellt - freizusprechen. Hat er aber dem objektiven Maßstab nicht entsprochen, so kommt es im Strafrecht (anders im Zivilrecht, wo nach der herrschenden Lehre und Rechtsprechung der objektive Maßstab allein genügt20) bei der weiteren, sukzes§ 276 Abs. 1 S. 2 BGB beobachtet worden, so ist er -

zmv 1964, S. 49. "Durchschnittlich" können ja bei weiterer Verbreitung auch bedenkliche Verkehrssitten, sogar offensichtliche Mißbräuche sein. VgI. RGSt 26, 192; 39, 2 (4 f.); 67, 12 (19). 18 Soll freilich in der Abstraktion nicht zu weit gegangen werden, so dürfen doch z. B. auch an die Sorgfaltspflicht eines Rennfahrers nicht die gleichen Maßstäbe angelegt werden wie an die eines gewöhnlichen Kraftfahrers, wenngleich er freilich mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Rennfahrers fahren muß. Schon Bartolus stellte die Sorgfalt ab auf die "homines, qui sunt eiusdem professionis et condicionis" (s. Engelmann, Die Schuldlehre der Postglassatoren und ihre Fortentwicklungt., Aalen 1965, S.192). U Maihofer, ZStW 70, S. 175". zo Diese das zivilrechtliche Denken beherrschende objektive Auffassung wird vor allem von Nipperdey, z. B. NJW 1957, S. 1777 ff., bekämpft, weil sie 11

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ATmin Kaufmann,

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siven Prüfung auf den subjektiven Maßstab an, darauf nämlich, ob der Täter nnach seinen persönlichen Fähigkeiten" den tatbestandsmäßigen Erfolg hätte voraussehen und vermeiden können. Dieser individualisierende, subjektbezogene Maßstab· soll also den geistigen und körperlichen Fähigkeiten des konkreten Täters, insbesondere auch im Augenblick der Tat (Ermüdung, Gemütsaufregung usw.) Rechnung tragen. "Das Mißbilligungsurteil der Rechtsordnung trifft den Täter nicht schon dann, wenn er hinter den Ansprüchen des Sollens, sondern erst, wenn er hinter dem Maß seines persönlichen Könnens zurückgeblieben isttl." Die Frage des "Vermeiden-Könnens" ist erst zu stellen, nachdem die Frage des "Vermeiden-Sollens" bejaht ist. Nur bei Bejahung beider Fragen kann gesagt werden, daß der Täter weder die erforderliche noch auch die ihm mögliche Sorgfalt beobachtet hat. Ohne diesen "doppelten Filter", ohne die Berücksichtigung des sehr verschiedenen individuellen Könnens des Täters als "Individualperson" würde man dazu gelangen, wegen Fahrlässigkeit einen Menschen zu bestrafen, dessen persönliche Fähigkeiten (Intelligenz, Bildung, Lebenserfahrung, Geschicklichkeit, Ausdauer usw.) sehr beschränkt waren, wobei aber selbstverständlich atypische Besonderheiten im moralischen Bereich (Rücksichtslosigkeit, Leichtfertigkeit oder Oberflächlichkeit) nicht zu berücksichtigen sind. Der bloß objektive Maßstab, ~er sich letztlich doch nur nach einem schematischen Durchschnitt bestimmt, wäre mit dem Schuldprinzip unvereinbar, würde vielmehr einen Rückfall in die Erfolgshaftung bedeuten. Nur als ethisches Postulat gilt der Kant'sche Satz "Du kannst, denn du sollst", im Recht nur der Satz "Du sollst, sofern du kannst"!!. Ultra posse nemo obligatur! Wenn zwei dasselbe tun, ist es eben auch unter strafrechtlichem Gesichtspunkt nicht dasseIbeti.. das Wesen der Schuld als eines Individualvorwurfes verkenne und die Fahrlässigkeitshaftung zur Haftung ohne Schuld stemple. Dagegen macht insb. Niese, JZ 1956, S. 465, rechtspolitische Bedenken geltend: "Im Zivilrecht ist das Bedürfnis sicher berechtigt, andere Rechtsgenossen von Schädigungen freizustellen, die ihnen unter Verletzung der verkehrsmäßigen Sorgfalt zugefügt werden." VgI. zu diesem Einwand auch u. S. 82, Anm. 68~ 11 Maurach, AT 486. Vgl. auch RGSt 39, 2 (5); 56, 343 (349); 58, 130 (134); 67, 12 (20). Allerdings kann Fahrlässigkeit auch dann vorliegen, wenn jemand ohne die erforderlichen Fähigkeiten tätig wird (z. B. der Kurpfuscher, der angetrunkene Kraftfahrer). Die Fahrlässigkeit besteht dann schon darin, daß sich jemand, obwohl er sich semer Unzulänglicllkeitbewußt sein müßte, an eine gefährliche Tätigkeit heranwagt; nicht erst im Versagen in der gefährlichen Situation selbst (sog. "Übernahmeverschülden"). VgI. z. B. Jescheck, Lb 384. ft VgI. hierzu auch Kohlrausch, Festgabe für Karl Güterbock (Berlin 1910) S. 1 ff.; Münzberg, Verhalten und Erfolg als Grundlagen der Rechtswidrigkeit und Haftung (Frankfurt a. M. 1966) 191 f., neigt zu der Auffassung, daß der Ausspruch "Du kannst, weil du sollst" nur "ein ;m die einprägsame Form des Schlagworts gekleideter Ausdruck für den erzieherisch wertvollen Gedanken ist, der Mensch erfahre erst im Zustand des Verpflichtetseins, zu welch bisher ungeahntem Können er in Wahrheit befähigt sei". n Entgegen der durchaus herrschenden Lehre, daß bei der Prüfung, ob der

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3. Kapitel: Wesen der Fahrlässigkeit

Es erhebt sich nun noch die Frage, ob nicht zur Vermeidung unbilliger Freisprüche der fahrlässige Täter auch über das Durchschnittsmaß noch hinausgehende persönliche Fähigkeiten zu prästieren hat. "Wenn z. B. ein gewandter Operateur ein weit überdurchschnittliches Wissen und Können besaß, dasSelbe aber im Einzelfall beiseite setzte, obwohl er eingestandenermaßen manches vermeiden konnte, was der Durchschnittsarzt übersehen dürfte, so wäre er nie fahrlässig, sofern er wenigstens diejenigen Maßregeln getroffen hat, die der Durchschnittsarzt beobachten mußtet'." Liegt es auch auf der Hand, daß die Abstellung auf den "repräsentativen Durchschnitt" den mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten Ausgestatteten privilegiert, während es allein der Gerechtigkeit entspräche, "vom reich Begabten viel, vom Unbegabten Geringes zu verlangen"", so darf doch der subjektive Maßstab der Fahrlässigkeit, wie schon v. Hippel!1 betont hat, nur zur "Einschränkung des objektiven Maßstabes, niemals zu dessen Erweiterung" führen. Mehr als vom repräsentativen Durchschnitt darf das Recht als das "Existenzminimum ethischer Normen"!7 von niemandem verlangen! Mit Recht hat daher die ganz überwiegende Meinung in Theorie und Praxis daran festgehalten, daß der subjektive Maßstab nur in bonam partem des fahrlässigen Täters anzuwenden ist. "Er ist also auch dann dem Schuldurteil entzogen, wenn feststeht, daß er persönlich infolge überragender konkrete Täter fahrlässig gehandelt hat, ein objektiver und subjektiver Maßstab anzulegen ;ist, vertritt Kadei!ka, SchwZStrR 50, S. 362 f., die Auffassung, daß jener allein genüge, eine individuelle Fallbehandlung zu unterbleiben habe: "... nicht danach wollen wir mehr fragen, ob dem Täter in der Bedrängnis ein anderes Verhalten zuzumuten war, sondern allein danach, ob in dieser Situation einem rechtschaffenen und gewissenhaften Menschen ein anderes Verhalten zuzumuten war". Ebenso stellt Nowakowski lediglich ab auf das ob;ektive Zurückbleiben des Täters hinter der Reaktionsweise einer "maßgerechten Persönlichkeit" (SchWZStrR 65, S. 307 ff.), ohne Rücksicht also darauf, ob der konkrete Täter dieses generelle Maß überhaupt erreichen konhte. Folgt man dieser von Nowakowski (auch in seinen Grundzügen 67 f., in ZStW 65, S. 388 ff., und in der Rittler-Festschtift 1957, S.70) vertretenen rigorosen Auffassung, hätte strafrechtliche Schuld überhaupt nichts mehr mit ethischer Schuld zu tun; sie deckt sich mit der Lehre Kelsens (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 136), derzufolge es nur darauf ankomme, daß der Täter den Erfolg hätte voraussehen und vermeiden sollen: "Daß dasjenige, was vorausgesehen und vermieden hätte werden sollen, auch hätte vorausgesehen und vermieden werden können, ist eigentlich nebensächlich, wenn nicht gar falsch; dieses ,können' darf man ruhig weglassen." Gerade aber der Richter, der die Frage vorliegender Fahrlässigkeit zu beurteilen hat, muß stets eingedenk sein des Ausspruches Radbruchs (Rechtsphilosophie', Stuttgart 1963, 208) über das "schlechte Gewissen des guten Juristen". 14 Köhler, Fahrlässigkeit 127. IS E:cner, Fahrlässigkeit 190. Vgl. auch Kriegsmann, ZStW 29, S. 524. I' v. Hippel, Lb II 3631• 17 Georg Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafel (BerUn 1908) 45.

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Fähigkeiten wohl in der Lage gewesen wäre, mehr zu leisten, als dem Durchschnitt zugemutet werden kannI8. " Erst freilich die durch die Technisierung, insbesondere die Motorisierung des Verkehrs, bedingte Zunahme der Fahrlässigkeitsdelikte ließ diese, nachdem sie lange als "Stiefkind" unserer Wissenschaftl' ein Schattendasein gegenüber den Vorsatzdelikten geführt hatten, im 20. Jh. in das Blickfeld der strafrechtlichen Dogmatik treten. Die fahrlässigen Rechtsgutsverletzungen bilden daher heute nicht nur im Straf- und Zivilverfahren das Hauptkontingent der richterlichen Tätigkeit, sondern auch den Brennpunkt wissenschaftlicher Kontroversen. Vor allem hat sich der gegenwärtige Streit um die Struktur der Fahrlässigkeit im Schrifttum und in der sonst so konservativen höchstrichterlichen Judikatur an der Auseinandersetzung mit der von Welzel entwickelten finalen Handlungslehre entzündet. Das Hauptanliegen der finalen Handlungslehre bildet allerdings bekanntlich zunächst das Umdenken des Vorsatzbegriffes. Sie hat ihre Impulse empfangen vor allem im Kampf gegen die von der zweckindifferenten Kausalität beherrschte naturalistische Handlungslehre. Unter dem Einflusse der mechanistischen Theorien in den Naturwissenschaften des ausgehenden 19. Jahrhunderts erblickten die Vertreter der herkömmlichen Strafrechtslehre (z. B. Beling, v. Liszt, M. E. Mayer, Radbruch) in der Handlung, d. i. der Voraussetzung jeder vorsätzlichen oder fahrlässigen Tatbestandsverwirklichung, einen bloßen Kausalvorgang, der einer selbständigen Bewertung ebenso unzugänglich sei wie etwa ein Blitzschlag. Die Handlung erschöpft sich daher nach der kausalen Handlungslehre in der bloßen Verursachung einer sinnlich wahrnehmbaren Veränderung der sozialen Außenwelt durch "willkürliches" körperliches Verhalten",3t, ohne Rücksicht dar18 Maurach, AT 486. Die gegenteilige Auffassung, also die Anwendung des subjektiven Maßstabes auch in malam partem wird dagegen z. B. vertreten von Sauer, Allgemeine Stl'afrechtslehre 187; Schönke - Schröder, Kommentar 500 f.; mit besonderem Nachdruck a100r von Oehler, Das objektive Zweckmoment in der rechtswidrigen Handlung (Berlin 1959) 71 ff.; ders., Eb. SchmidtFestschrift, S. 246 ff. Nicht mit Unrecht hält ihm aber Salm, Das vollendete Verbrechen I/l (Berlin 1963) 74 f., entgegen: "Jedenfalls ist Oehlers Drohung mit dem Strafrichter denkbar ungeeignet, die allgemeine Leistungsfähigkeit zur Höherentwicklung über das Mittelmaß hinaus anzuspornen. Denn jeder, der dieses Mittelmaß überragte, müßte sich sagen, daß gerade dieses BesserKönnen ihm nun - nach Oehlers Theorie - zum Fallstrick zu werden droht; im Ergebnis läuft dies darauf hinaus, daß die Klugheit jedem gebieten müßte, solchen Fallstricken auszuweichen und lieber beim Mittelmaß zu bleiben." 11 Binding, Nonnen IV 310. 10 Vgl. z. B. v. Liszt - Schmidt, AT 154. 31 Mit Recht weist E. A. Wolff, Der Handlungsbegriff in der Lehre vom Verbrechen (Heidelberg 1964) 10, darauf bin, daß der kausale Handlungsbegriff nicht der Oberbegriff aller strafrechtlichen Verhaltensweisen ist, da er nicht "den weiten Bereich der Unterlassung" umfaßt (ein Einwand freilich, der sich auch gegen die finale Handlungslehre erheben läßt; vgl. u. S. 63, Anm. 66). Ein naturalistischer Handlungsbegriff kann aber im strafrechtlichen Bereich auch

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auf, was der Handelnde gewollt hatte. Ein solch rein mechanischer, jedes Inhaltes barer Wille ist aber ein hölzernes Eisen. Es ist daher das nicht hoch genug zu veranschlagende Verdienst Welzels, schon in seiner 1935 erschienenen Abhandlung "Naturalismus und Wertphilosophie" dem "positivistischen Begriff der Handlung als eines von einer Muskelinnervation ausgelösten blind-mechanischen Geschehens" (S.65) und damit dem Eindringen naturwissenschaftlichen Denkens auch in die Geisteswissenschaften als dem 3tQci>'tov cpeiiöo; mit Entschiedenheit entgegengetreten zu seinu . Der Leitgedanke auch aller seiner späteren Schriften ist, daß die menschliche Handlung immer Zwecktätigkeit, niemals ein rein mechanisch-kausales Geschehen sei. "Die ,Finalität' oder Zweckhaftigkeit der Handlung", so faßt Welzel heute den Inhalt seiner Lehre zusammen, "beruht darauf, daß der Mensch auf Grund seines Kausalwissens die möglichen Folgen seines Tätigwerdens in bestimmtem Umfange voraussehen, sich darum verschiedenartige Ziele setzen und sein Tätigwerden auf diese Zielerreichung hin planvoll lenken kann. Auf Grund seines kausalen Vorauswissens vermag er die einzelnen Akte seiner Tätigkeit so zu steuern, daß er das äußere Kausalgeschehen auf ein Ziel hinlenkt und es so final überdeterminiert. Finale Tätigkeit ist ein bewußt vom Ziel her gelenktes Wirken, während das reine Kausalgeschehen nicht vom Ziel her gesteuert, sondern die zufällige Resultante der jeweils vorliegenden Ursachenkomponenten ist. Finalität ist darum - bildlich gesprochen - ,sehend', Kausalität ,blind'''.'' Im Anschluß an Nicolai HaTtmann bleibt also nach Welzel die Determinierung durch den Kausalnexus zwar bestehen, diese wird aber durch eine höhere Determinierung, eben die "finale", überformt und ihr dienstbar gemacht". deshalb nicht genügen, weil dadurch der sprachliche Sinn und die soziale Bedeutung ganz unerfaßt blieben, indem z. B. die Beleidigung "als eine Reihe von Kehlkopfbewegungen, Schallwellen erregungen, Gehörreizungen und Gehimvorgängen" verstanden werden müßte, wie Radbruch, Frank-Festgabe I, S. 161, verdeutlicht hat. 11 BekannUich ist aber auch im Bereiche der Naturwissenschaften durch neuere wissenschaftliche Erkenntnisse der Kausalbegriff der klassischen Physik ins Wanken geraten, wie der Verfasser dieser Schrift schon 1932 (LeipzigWien) in seinem Buche "Willensfreiheit und Strafrecht" und neuerdings in seinem Aufsatze "Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart", JBI 1964, S. 229 ff., eingehend dargelegt hat. A Welzel, Lb 30; ebenso Neues Bild 1. " Eine vermittelnde Stellung in dem Schulenstreit zwischen "kausaler" und "finaler" nimmt die sog. "soziale" Handlungslehre ein. Damach ist Handlung das "willkürliche Bewirken berechenbarer sozialerheblicher Folgen" (Engisch); "jedes objektiv beherrschbare Verhalten mit Richtung auf einen objektiv voraussehbaren sozialen Erfolg" (Maihofer) oder schlechthin "sozialerhebliches menschliches Verhalten" (Jescheck). "Sozialerheblich ist", wie letzterer ausführt, "ein Verhalten dann, wenn es den Menschen in seiner mitmenschlichen

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Die "Finalität" als der zielbewußte, das kausale Geschehen lenkende Wille ist darnach das "Rückgrat" der finalen Handlung85, das ihr erst den Sinngehalt gibt. Sie ist "ein ebenso ontologischer Begriff wie die Kausalität""; jene umfaßt den seelischen, diese den körperlichen Bereich. Der Grundgedanke der finalen Handlungslehre, daß der Wille der aktiv gestaltende Faktor des äußeren Geschehens ist, daß es keinen "Zweck ohne Wollen" gibt87, ist freilich, wie Welzel selbst einräumt, "nichts Neues, sondern eine alte Wahrheit"'8. Wenn wir bei Aristoteles in seiner nikomachischen Ethik lesen: "iv cbtaan ÖE xQa;EL xat xQoaLQEaEl "Co "CEÄO\;' "Co,;"Cou ya.Q lVExa "Ca. ÄOLlta. xQanouaL XßV"CE\;"lIt, so erkennen wir, daß der Satz "Kein Wollen (Handeln) ohne Zweck", der, als ihn Ihering neuerdings aussprach'o, von den Juristen wie eine unbekannte Wahrheit angestaunt wurde, so alt ist wie die wissenschaftliche Seelen- und Sittenlehre überhaupt. Ein Wille, der nur das abstrakt Allgemeine will, will nichts, und ist deswegen kein Wille". Wer will, der will etwas, der will aus einem bestimmten (logischen) Grunde, und diesen nennen wir Zweck oder "Motiv". Die Wahrheit, daß der Satz "Ohne Zweck kein Wollen" kein der Kausalität entsprechendes Verhältnis ausdrückt, vielmehr "ein rein analytischer, aus dem Korrelationsverhältnisse der Begriffe Zweck und Wollen hervorgehender" Satz ist, wurde schon von Sigwart in einer tiefgründigen Untersuchung vertreten: "Der Satz: ,Ohne Zweck kein Wollen' entspricht dem Satze: ,Ohne Raum keine Bewegung'; der Raum ist die condicio sine qua non der Bewegung, die Bewegung ist gar nicht denkbar ohne den Raum, aber der Raum ist nicht die Kraft, welche den Körper bewegt; oder er entspricht noch genauer dem Satz: Keine Bewegung ohne Richtung; mit dem Begriff der Bewegung ist eine bestimmte Richtung derselben gegeben u ." Rolle in Erscheinung treten läßt. Die Sozialerheblichkeit des Verhaltens bestimmt sich einerseits nach der Willensrichtung (Finalität), andererseits aber auch nach dem Erfolg (Kausalität), endlich (beim Unterlassen) nach der rechtlichen Handlungserwartung" (Eb. Schmidt-Festschrift, S. 151). 11 Welzel, Lb 31. .. WetzeI, Um die finale Handlungslehre (Tübingen 1949) 7. 17 Er wird insb. auch von MezgeT, Modeme Wege 13, nicht bestritten: "Der ,Finalität· aber untersteht alles menschliche Wollen. Es gibt kein Wollen ohne ,Zweck (Ziel)·... .. Welzel, JuS 1966, S. 422 . .. Aristoteles, Eth. Nicom. 1,4,1. Dementsprechend definieren die Scholastiker: Finis est id, propter quod aIiquid fit. e. Er bildet bekanntlich den Grundgedanken seines Werkes "Der Zweck im Recht... Cl So Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts; Einleitung, Randbemerkungen zu § 6. 41 SigwaTt, Der Begriff des Wollens und sein Verhältnis zum Begriff der Ursache (Tübingen 1879) 18.

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Revolutionierend ist freilich die finale Handlungslehre durch die Folgerungen, die Welzel aus ihren Prämissen auf rechtlichem, insbesondere strafrechtlichem Gebiet ziehen zu müssen vermeint. Zwar befaßt sie sich "primär überhaupt nicht mit strafrechtlich erheblichen Handlungen, sondern entwickelt das allgemeine Strukturprinzip der menschlichen Handlungen, nämlich ihre Finalität"43. Diese finale Struktur ist nichtsdestoweniger aber auch "für die strafrechtlichen Normen schlechthin konstitutiv"; denn rechtliche Verbote oder Gebote "können nur ein zwecktätiges Verhalten gebieten oder verbieten"". Der finale Handlungsbegriff tritt also mit dem Anspruch auf, daß er durch die Struktur des Seins auch innerhalb des Strafrechts vorgegeben (nicht erfunden), an kein positives Gesetz gebunden ist. Ist aber der entscheidende Ausgangspunkt der finalen Handlungslehre, daß die Kausalprozesse bei menschlichem Handeln planmäßig auf ein bestimmtes Ziel, auf einen bestimmten Erfolg hingelenkt werden, so bedeutet Finalität im rechtlichen, insbesondere strafrechtlichen Bereich nichts anderes als Tatbestandsvorsatz46 ; der vorsätzliche Täter hat seinen Handlungswillen (Verwirklichungswillen) nicht entsprechend den strafrechtlichen Normen gesteuert, obwohl er es konnte. Aus diesem Befund zieht aber Welzel trotz Festhaltens an dem klassischen dreiteiligen Verbrechensaufbau von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld, den das bisherige Strafrechtssystem geradezu umwälzenden Schluß, daß der Vorsatz entgegen einer langen Tradition als der objektiv gestaltende Faktor der (unrechtmäßigen) Handlung nicht zur Schuld, sondern zur Handlung gehöre und dadurch als (subjektives) Handlungselement auch ein bereits den Tatbestand und das Unrecht konstituierendes Element sei". Die Zugehörigkeit des Vorsatzes zur Handlung (zum Unrechtstatbestand) und nicht erst zur Schuld47 wird von Welzel mit folgenden Sätzen verteidigt: "Nicht darum geht die Streitfrage zwischen der kausalen und der finalen Handlungses Welzel, 44

NJW 1968, S. 425 f.

Welzel, Lb 34.

45 Nur vom "Tatbestandsvorsatz" ist daher selbstverständlich im folgenden die Rede. Es ist daher ohne weiteres Welzel beizupflichten, wenn er erklärt: "Jeder Tatbestandsvorsatz ist ein finaler Handlungswille, aber nicht jeder finale Handlungswille ist ein Tatbestandsvorsatz" (NJW 1968, S.426). Zur Doppeldeutigkeit des Wortes "Vorsatz" (nämlich Vorsatz = finaler Handlungswille und Vorsatz = Tatbestandsvorsatz) Schmidhäuser, Vorsatzbegriff und Begriffsjurisprudenz im Strafrecht (Tübingen 1968). Er will unterscheiden zwischen dem "vulgär-psychologischen Vorsatz" und dem Rechtsbegriff der "Vorsätzlichkeit".

.. Welzel, Lb 57 f.

47 Diese These, wohl die "ketzerischste" (Niese, Finalität 26) der finalen Handlungslehre wird im Schrifttum überwiegend abgelehnt, so u. a. von Bau-

mann, Bockelmann, Engisch, Gallas, Hardwig, Jescheck, Arthur Kaufmann, Lampe, Lang - Hinrichsen, Maihofer, H. Mayer, Mezger, Nowakowski, Oehler, Pfenninger, Rittler, Roxin, Eb. Schmidt, Schmidhäuser und Schröder. Dagegen

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lehre, ob der Vorsatz auch zur Schuld (als deren möglicher Träger), sondern darum, ob er nur und erst zur Schuld gehört. Zur Schuld im strafrechtlich relevanten Sinn ,gehören' alle ihr vorgelagerten Deliktsmerkmale: Handlung (Verhalten), Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit: nur eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige Handlung (bzw. Verhalten) kann schuldhaft sein; nur sie ist im Strafrecht möglicher Träger des Schuldvorwurfs. Aber obwohl alle diese Elemente auch für das Schuldurteil (die Vorwerfbarkeit) konstitutiv sind, sind sie nicht erst Schuldelemente. Darum ist der Handlungswille - obwohl er auch Träger des Schuldvorwurfs ist - bereits vorher ein Element der Handlung ...48." Diese Argumentation, nach der also der Handlungswille und als dessen Unterfall der Tatbestandsvorsatz im Verbrechensaufbau nicht erst unter der Rubrik der Schuld aufscheinen dürfe4D , ist indessen - entgegen Welzels verdienstvoller GrundeinsteIlung - selbst noch in einer kausalmechanischen, atomistischen Vorstellung befangen. Denn sie verkennt, wie aus der Verwendung der Zeitkategorien "vorher" und "erst" hervorgeht, daß es sich bei der systematischen Einordnung der einzelnen Deliktsmerkmale (im Gegensatz zum Ablauf des deliktischen Verhaltens) überhaupt nicht um ein zeitliches (genetisches) Prius oder Posterius handelt, um ein sukzessives Vor- und Nacheinander, sondern um ein simultanes Miteinander, freilich unter Wahrung der logischen (begrifflichen) Priorität. Ist also zur Verwirklichung eines Delikts ein Merkmal desselben ohne das gleichzeitige Vorhandensein der anderen nicht denkbar, so gehört doch der Vorsatz als Willensinhalt, welches Moment gerade Welzel mit Recht nachdrücklich betont50, sachgemäß nicht einmal "auch" zur Handlung (zum Unrechtstatbestand), sondern allein "nur" zur Schuld als dem gegenüber allen übrigen Deliktsmerkmalen logischen (richtiger. axiologischen) Prius51 • Spricht doch Welzel selbst von der Schuld als einer gegenüber dem Tatbestand und dem Unrecht "höheren Stufe" des Verbrechensbegriffes52 ! folgen der Lehre Welzels, wenngleich mit gelegentlichen Abweichungen, z. B. Boldt, Busch, Hirsch, Armin Kaufmann, Lange, Maurach, Niese, Schaffstein, Stratenwerth und v. Weber. 48 Welzel, Neues Bild 4l. 41 Dagegen schon vor a1lem Mezger, LK I 13: "Finalität der Handlung und Zurechnung des Vorsatzes zum Unrecht haben in Wahrheit miteinander gar nichts zu tun." Die Zugehörigkeit des Vorsatzes zum Unrecht kann auch nicht etwa, wie Welzel darzulegen versucht, als notwendige Folge der Lehre von

den subjektiven Unrechtselementen erklärt werden; vgl. u. S. 70, Anm. 19. 50 Welzel, Aktue1le Strafrechtsprobleme im Rahmen der finalen Handlungslehre (Karlsruhe 1953) 5. 51 Vgl. auch Gallas, ZStW 67, S. 32: "Die Ste1lung des Vorsatzes im System hängt somit nicht, wie die fHL annimmt, allein von ontologischen Erwägungen ab, sie ist vielmehr zugleich ein Wertungsproblem." 51 Welzel, Lb 160. Vgl. auch Oehler, Das objektive Zweckmoment in der rechtswidrigen Handlung 114 f., der betont, "daß die drei Verbrechensmerk-

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Der gegen die finale Handlungslehre zu erhebende Vorwurf des Trennungsdenkens im Gegensatz zum ganzheitlichen Denken, dem das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, das aus dem Ganzen die Teile, statt aus den Teilen das Ganze, zu begreifen sucht53, gilt aber nicht nur für das Verhältnis der einzelnen Verbrechens-, sondern auch der einzelnen Schuldelemente zueinander. Denn ebenso wie das Verbrechen ist auch die Schuld ein komplexer Begriff, der sich, wie unten S. 104 ff. näher ausgeführt werden wird, zusammensetzt aus einem biologischen (Zurechnungsfähigkeit), einem psychologischen (Vorsatz bzw. Fahrlässigkeit) und einem normativen (Unrechtsbewußtsein bzw. Zumutbarkeit normgemäßen Verhaltens und Risikoüberschreitung) Element. "Keines von ihnen ist ,schuldindifferent' in dem Sinn, daß es für die Schuld nichts zu sagen hätte, aber jedes ist es insofern, als es für sich alleine eben nicht alle Voraussetzungen des Schuldurteils herstelltI4 ". Ist also Vorsatz (Fahrlässigkeit) nur ein Schuldelement, nicht die Schuld schlechthin, so bildet deren Wesen nicht nur die "Vorwerfbarkeit" der WiHensbiZdung51, d. h. des intellektuellen und emotionalen Anteils des Täters an seiner Tat, sondern nicht weniger auch die Vorwerfbarkeit mangelnden Unrechtsbewußtseins; als Schuldelemente sind beide kategorial untrennbar miteinander verbunden, für sich allein nur membra disiecta". male nicht getrennt als chronologisch nacheinander eintretende Gegebenheiten dastehen. Vielmehr wird das Verbrechen nur aus logischen Gründen in seine Merkmale zerlegt, um verschiedene Funktionen des Verbrechensbegriffes zu erklären. Die Einheit des Verbrechensbegriffes wird durch solche Verdeutlichung der einzelnen Funktionen nicht zerstört." Daß das Verbrechen eine "unzerlegbare Einheit" ist, betont auch Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 183. Beachtenswert ist ferner, daß z. B. Doerr, Deutsches Strafrecht 1(Stuttgart 1930), und Gerland, Reichsstrafrecht, die Schuld vor der Rechtswidrigkeit erörtern. Daß die Rechtswidrigkeit gegenüber der ~chuld im Verbrechensaufbau das "logische Prius" sei, erscheint uns daher als eine ebenso banausische Behauptung wie etwa die, daß bei einem Haus der Keller den "logischen" Vorrang vor dem Dach habe. Schließlich hat KadeC!ka, ZStW 59, S. 17 ff., und Rittler-Festschrift 1946, S. 32 ff., nachzuweisen versucht, daß es sogar strafbare Handlungen gebe, die überhaupt nicht rechtswidrig sind. S. auch Nowakowski, Grundzüge 43, und ZStW 63, S. 315 f. 51 So schon Aristoteles, Polit. 1,1 § 11: ,,'to '(aQ lS).ov 1tQO'tEQov a.va'(xatov EtvaL 'toii f.1EQO"~". Es handelt sich dabei aber um ein ,,1tQO'tEQov 'tfi !puaEL", d. h. "dem Wesen nach", der "Natur der Sache nach" (natura, nicht tempore). Die Lehre vom logischen Vorrang des Ganzen vor den Teilen findet sich als Gemeingut der urältesten Philosophie auch bereits in den dndischen Upanischaden, bei Laotse und Kungfutse. 54 Nowakowski, ZStW 63, S. 304. VgI. auch u. S. 106, Anm. 49. 55 Welzel, Lb 134. M Wenn Maurach, AT 143, schreibt: "Folgerichtig ist Finalist, wer den Vorsatz als natürliches, ausschließlich tatbestandsbezogenes Phänomen betrachtet - Nichtfinalist, wer dem Vorsatz seine überlieferte Bedeutung als dolus malus zu erhalten bestrebt ist, wer also die .Zurechnungsfähigkeit als Voraussetzung rechtserhebllcher Vorsatzbildung und das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als untrennbaren Bestandteil des Vorsatzes behandelt", so muß dieser Abgrenzung der Fronten entschieden widersprochen werden. Denn

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Bei einer Einverleibung des Vorsatzes in die Handlung würde aber nicht nur der Schuldbegriff auf Kosten seiner inneren Einheit entleert61, durch eine solche Verlegung des Vorsatzes aus dem Schuld- in den Unrechtsbereich würde, um es nochmals zu wiederholen, das logische (axiologische) Vorrangsverhältnis der einzelnen Verbrechenselemente geradezu auf den Kopf gestellt werden. Der Vorsatz ist nach ganzheitlich-organischer Auffassung gestaltender Faktor, konstituierendes Element nicht der Handlung (des Unrechtstatbestandes), sondern des Ve,.b,.echens in toto als einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und vor allem schuldhajten Handlung. Demselben Gedanken gibt wohl auch Maihofe,. Ausdruck, wenn er Welzel die Vorbelastung seines Handlungsbegriffes mit Kriterien vorwirft, die "funktional" erst "hinter" dem Unrecht liegen: Bei der finalen Handlungslehre wird, führt er aus, "die funktionale Kette der systematischen Feststellungen und Wertungen, die ein Verhalten bei seiner Beurteilung als: Handlung-Unrecht-Schuld durchlaufen muß, in der Mitte auseinandergetrennt und insoweit der Schluß, nämlich der Schuldtatbestand, an den Anfang gesetzt"u. Bereitet schon der Vorsatzbegriff der finalen Handlungslehre unüberwindliche Schwierigkeiten, so bildet deren eigentliche crux freilich erst der Fah,.lässigkeitsbegriff, der von Welzel selbst einmal als deren "neuralgischer Punkt"" bezeichnet wird. Fahrlässigkeit ist - dies steht außer Streit - im Gegensatz zum Vorsatz nichtgewollte Verwirklichung des Delikttatbestandes; die Willensbetätigung ist auf einen ande,.en als den tatsächlich eingetretenen tatbestandsmäßigen Erfolg gerichtet, auf einen Erfolg, der strafrechtlich in der Regel irrelevant ist. Wurde also der tatbestandsmäßige Erfolg weder als Ziel noch als Mittel oder Nebenfolge der Handlung in den Verwirklichungswillen des fahrlässigen Täters aufgenommen, so erscheint er als ungewollte Nebenwirkung der von ihm zur Verwirklichung anderer Zwecke eingesetzten KausaHaktoren - und von einer "finalen" Erfolgsherbeiführung kann keine Rede sein. Gewiß ist auch die Handlung des Fahrlässigen unter einem rein ontologischen Gesichtspunkt final, insofern sie auf "etwas" gerichtet ist (sonst läge ja überhaupt keine Handlung vor), doch erstreckt sich diese kann auch sein, wer nicht "dem Vorsatz seine überlieferte Bedeutung als dolus malus zu erhalten bestrebt ist", diesen v;ielmehr als we,.tf,.eies Schuldelement auffaßt, ebenso wer nicht "das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit als untrennbaren Bestandteil des Vorsatzes", vielmehr der Schuld, behandelt. S. hierzu u. S. 101 f. 17 Gallas, ZStW 67, S. 42, äußert mit Recht das Bedenken, "ob die Einbeziehung der Finalität in den Unrechtsbereich nicht die Trennung von Unrecht und Schuld unmöglich machen würde". 68 Maihofe,., Der Handlungsbegriff im Verbrechens system (Tübingen 1953) 59. Bei anderer Betrachtungsweise wäre ja auch die "sehende" Finalität gegenüber der "blinden" Kausalität nicht dasaxiologische Prius. 11 Welzel, Neues Bildl (Göttingen 1952) 8. Nichtfinalist

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Finalität, die Willens- und Tatherrschaft, eben nicht auf das strafrechtlich allein Relevante, auf den dem Täter angelasteten, aber von ihm gerade nicht erstrebten tatbestandsmäßigen, sondern einen außertatbestandsmäßigen Erfolg. "Kurz gesagt: Bei den Fahrlässigkeitsdelikten fehlt dem ,Akt' der ,Unwert', dem ,Unwert' aber der ,Akt'. Ein ,Aktunwert' ist daher - entgegen Welzels Behauptung - nicht ersichtlichlo." Unterscheidet sich also die fahrlässige Handlung von der vorsätzlichen zwar nicht durch mangelnde Finalität, aber durch das Fehlen einer rechtlich mißbilligten Finalität, so ist bei ihr doch die psychische Verbindung zwischen Handlungswillen und tatbestandsmäßigem Erfolg abgebrochen, so daß Rittler wohl den Nagel auf den Kopf trifft, wenn er der finalen Handlungslehre vorwirft, sie arbeite bei den fahrlässigen Delikten, entgegen ihrem Dogma, mit einem "willensinhaltgelösten" Handlungsbegriff: "Kommt es ... ,auf den Bezugspunkt' der Finalität nicht an, so heißt das auf gut deutsch: der Willensinhalt wird von der Handlung abgetrennt, für ihren Begriff als unerheblich erklärte1 ." Um dem Einwand zu entgehen, daß auch die finale Handlungslehre die Fahrlässigkeit, insbesondere die unbewußte, nur als eine "Erfolgsverursachung durch willkürliches Verhalten" begreifen könne, verfiel daher Welzel auf den Ausweg, die fahrlässige Handlung, die er ursprünglich als bloße "Kümmerform" deliktischen Verhaltens bezeichnet hatte, als eigenständige Handlungsform zu deklarieren, sie aber doch mit der vorsätzlichen Handlung dadurch unter einen Hut zu bringen, daß er ihr zwar nicht "aktuelle Finalität", d. h. Ausrichtung auf ein unrechtes Ziel, aber doch "potentielle Finalität" vindizierte: es eigne der Fahrlässigkeit die "Möglichkeit", durch eine bessere finale Steuerung des kausalen Geschehens das Unrecht "zwecktätig zu vermeiden". "Fahrlässigkeit", führt Welzel aus, "ist der Mangel der wirklichen Willenssteuerung bei der Mittelauswahl und der Mittelanwendung im Verhältnis zu dem im Verkehr (zwecks Vermeidung unerwünschter Nebenfolgen) gebotenen Mindestmaße an Finalsteuerung41!." Eine solche "potentielle Finalität" wurde indessen von Mezger mit Recht als widersinnig bezeichnet: "denn entweder trägt eine Schicht ihre Finalität in sich selbst, dann ist sie ,Finalität' (und nicht bloß ,mögliche' Finalität), oder sie empfängt tIO

11

Lampe, Unrecht 79.

Rittler, JBl 1955, S. 614. Zust. Eb. Schmidt, JZ 1956, S. 190. Ebenso Arthut

Kaufmann, JuS 1967, S. 150: "Bri:ngt man den Einsatz der ausgewählten Hand-

lungsmittel zu dem wirklich eingetretenen, aber nicht final angesteuerten Erfolg in Beziehung - und das geschieht, wenn man ihn als sorgfaltswidrig bewertet -, dann ist er unter dieser Rücksicht nicht Teil eines Finalgefüges, sondern - vom Standpunkt der finalen Handlungslehre aus - nichts anderes als ein blindkausaler Vorgang." et Welzel, Neues Bild' (Göttingen 1957) 11.

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ihre Finalität aus einer anderen Schicht, dann ist sie bloße ,Potentialität' (und nicht selbst schon ,Finalität') "es. Der Begriff der "potentiellen Finalität", der "zwecktätig vermeidbaren Verursachung", ist selbst von Anhängern Welzels abgelehnt worden'·, wurde doch durch ihn vor allem auch "vorzeitig ein Wertungsmoment eingeführt, das in diesem Stadium des Verbrechensaufbaues eine unzulässige Vorbelastung des Tatbestandes und einen systemwidrigen Vorgriff auf die weiteren Verbrechensbestandteile darstellte. Ob eine Handlung ,vermeidbar' ist, kann letztlich erst bei der fahrlässigen Schuld beantwortet werden"." Mußten also alle Versuche, die Fahrlässigkeit mit der Grundkonzeption der finalen Handlungslehre in Einklang zu bringen, scheitern", so vertrittWelzeZ heute die Ansicht, daß das wesentliche Moment der Fahrlässigkeit nicht im Erfolg (weder im angestrebten noch wirklich eingetretenen), sondern in der Art und Weise (nämlich der Sorgfaltswidrigkeit) des Handlungsvollzuges liege. Darnach werde bei den Tatbeständen der Fahrlässigkeitsdelikte "der konkrete Vollzug (oder die konkrete Steuerung) der finalen Handlung in Beziehung gesetzt mit einern maßstäblichen, leitbildhaften Sozialverhalten, das an der Vermeidung sozial unerwünschter Handlungsfolgen orientiert ist. Wo der Handlungsvollzug mit diesem Leitbildverhalten übereinstimmt, ist er sachgemäß, sorgfaltsgemäß und damit rechtmäßig, auch dann, wenn er einen sozial unerwünschten Erfolg verursachtt7 ." Ein konkreter, gesteuerter Handlungsvollzug, der mit einern Leitbildverhalten, das "an der Vermeidung sozial unerwünschter Handlungsfolgen orientiert ist", übereinstimmt, 83 Mezger, Moderne Wege 9; vgI. auch Maihofer, Der Handlungsbegriff im Verbrechenssystem 44 ff. U So hat vor allem Niese, Finalität 43, darauf hingewiesen, daß die potentielle Finalität nicht einen der aktuellen Finalität konträr gleichgeordneten Sachverhalt, sondern deren kontradiktorisches Gegenteil darstelle: Mögliche Finalität ist "keine Finalität, und in der Aussage, jemand hätte einen Erfolg durch Zwecktätigkeit vermeiden können, liegt die Feststellung, daß er tatsächlich weder auf die·Herbeiführung noch auf die Vermeidung dieses Erfolges hin zwecktätig final gehandelt hat". 85 Maurach, AT 154; ebenso Mezger, Moderne Wege 18, und Niese, Finalität

4l.

88 So hat Welzel heute selbst die bis zur 2. Auflage seines Lehrbuches vertretene Auffassung, daß nicht nur der Vorsatz, sondern auch die Fahrlässigkeit ein Bestandteil der Handlung, nicht der Schuld sei, ausdrücklich aufgegeben. Auch kann von der finalen Handlungslehre, nach der die Handlung ein "Leistungsbegriff" ist, die Unterlassung nicht als "Handlung" begriffen werden. Diesem schon von Engisch, Kohlrausch-Festschrift, 144 ff., erhobenen Einwand hat Welzel, Lb 193, nunmehr Rechnung getragen, wenn er schreibt: "Ontologisch gesehen ist die Unterlassung, da sie ja die Unterlassung einer Handlung ist, selbst keine Handlung. Handlung und Unterlassung verhalten sich insoweit wie A und non-A. ... In Wahrheit sind Handlung und Unterlassung einer Handlung zwei eigenständige Unterarten des menschlichen, vom zwecktätigen Willen beherrschbaren ,Verhaltens'." 87 Welzel, Lb 125.

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3. Kapitel: Wesen der Fahrlässigkeit

kann jedoch keinen sozial unerwünschten Erfolg verursachen, weil das ein Widerspruch in sich wäre. Er wird bei Welzel dadurch zu überbrükken versucht, daß er auf Grund seiner personalen Unrechtslehre und der daraus folgenden Vernachlässigung des Erfolgsunwertes zugunsten des Handlungsunwertes die Rechtmäßigkeit sich in der Einhaltung der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" erschöpfen läßt, ohne also auch der Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges (des sozial unerwünschten Erfolges) den gebührenden Einfluß auf die Rechtswidrigkeit einzuräumen. Auf diese Lehre soll jedoch erst im folgenden Kapitel näher eingegangen werden.

4. Kapitel

Der systematische Standort der Einhaltung des sozialadäquaten Risikos im Verbrechensaufbau Trotz aller Verschiedenheit der Strukturierung des Fahrlässigkeitsbegriffes treffen sich doch alle modernen Theorien einschließlich der finalen Handlungslehre durch Betonung der Feuerbach'schen "obligatio ad diligentiam" auf einer gemeinsamen Plattform, indem sie i. S. des § 276 Abs. 1 S. 2 BGB in der Außerachtlassung der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt", d. h. der nach den jeweiligen Umständen gebotenen SorgfaW, das wesentlichste Kriterium der Fahrlässigkeit erblicken. Es ist dies die Sorgfalt, die, wie oben S. 51 ff. dargelegt wurde, bei Anlegung eines objektiven (generalisierenden) Maßstabes vom repräsentativen Durchschnitt der Rechtsgenossen (plerique eiusdem condicionis; D XLV, 1, 137, 2), von der einsichtigen und besonnenen "Sozialperson" in der Lage des Täters erwartet werden darf, damit die Rechtsgüter anderer nicht geschädigt werden. Man kann sie daher auch als "objektiv" gebotene Sorgfalt und ihre Außerachtlassung als die objektive Komponente der Fahrlässigkeit oder kurz als "objektive Fahrlässigkeit" bezeichnen 2 , die der dem subjektiven (individualisierenden) Maßstab unterfallenden "subjektiven Fahrlässigkeit" entspricht. Besteht auch über diese komplexe Natur der Fahrlässigkeit weitgehende übereinstimmung, so weichen dagegen die Meinungen hinsichtlich des systematischen Standortes der objektiven Fahrlässigkeitskomponente im Verbrechensaufbau erheblich voneinander ab. Nach der früher überwiegend vertretenen Auffassung ist bei Fahrlässigkeitsdelikten der Täter im Falle der Herbeiführung des tatbestandsmäßigen Erfolges (Verletzung oder Gefährdung des geschützten Rechtsgutes)3 trotz Einhaltung der objektiv gebotenen Sorgfalt bei Zugrundelegung des dreiteiligen Verbrechensaufbaues "erst" mangels Schuld frei1 Hervorzuheben ist, "daß nicht das im Verkehr übliche maßgebend sein soll (da sonst auch Unsitten sanktioniert werden könnten), sondern eben das, was man vom Verkehr verlangen darf" (Engisch, Untersuchungen 305). Vgi. o. S. 52, Anm. 1'7. a Objektiviert (typisiert) wird freilich nicht die Fahrlässigkeit, sondern der Täter. a Zur begrifflichen Möglichkeit eines "erfolglosen" Fahrlässigkeitsdeliktes vgi. u. S. 71, Anm. 25.

5 Roeder

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zusprechen'; er verhalte sich in diesem Falle wegen Eintrittes des tatbestandsmäßigen Erfolges zwar rechtswidrig, doch komme ihm mangels Vorwerfbarkeit desselben ein obligatorischer Schuldausschließungsgrund zugute, ohne daß also in eine individuelle Prüfung der Schuldfrage überhaupt eingegangen werden darf, wie dies im Falle der Sorgfaltsverletzung (bloß fakultativer Schuldausschluß bei Unvoraussehbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolges mit Rücksicht auf das individuelle Können) geschehen muß. Nach einer heute immer mehr im Vordringen befindlichen Lehre ist dagegen der Täter im Falle der Einhaltung der objektiv gebotenen Sorgfalt trotz Eintrittes des tatbestandsmäßigen Erfolges "schon" mangels Rechtswidrigkeit freizusprechen; da nämlich die Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfalt nach dieser Lehrmeinung ein konstitutives Element der Rechtswidrigkeit bildet, die "objektive Fahrlässigkeit" nicht in den Bereich der Schuld, sondern des Unrechts gehört, verhalte sich der Täter bei Einhaltung dieser Sorgfalt rechtmäßig'.

Die Lehre, daß eine fahrlässige Beeinträchtigung eines geschützten Rechtsgutes schon dann rechtmäßig zu nennen ist, wenn die objektiv ~ Als Vertreter dieser Auffassung seien vor allem genannt: Binding, Normen IV 445 f., freilich in seltsamem Widerspruch zu Normen II 247 f.; v. Frank, Kommentar 194 f.; v. Hippel, Lb II 361 f.; v. Liszt - Schmidt, AT 279 14 ; Mezger, Lb 358. Vgl. auch RGSt 57, 172. I Finden sich auch bereits in der klassischen Monographie Exners, Fahrlässigkeit 193, Ansätze für die Auffassung, daß es sich bei der Beachtung oder AußerachtIassung der objektiv gebotenen Sorgfalt um Fragen der Rechtmäßigkeit bzw. RechtswidTigkeit handelt (er spricht von einer "untrennbaren Verknüpfung von Rechtswidrigkeit und Schuld in diesem Punkte"), so sprechen sich später für die Einbeziehung der "objektiven Fahrlässigkeit" in den Unrechtsbereich (ja sogAr wie z. B. Welzel und später auch Engisch in den Tatbestandsbereich) ausdrücklich aus: Baumann, MDR 1957, S. 647; Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze 202 f; Boldt, zstW 68, S. 335 ff.; Engisch, Untersuchungen 286, 344; ders., Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände (Tübingen 1931) 53; ZStW 66, S. 370, und DJT-Festschrift I, S. 418, 428; Gallas, ZStW 67, S. 26; Hall, Fahrlässigkeit .im Vorsatz 22; Henkel, Mezger-Festschrift, S. 282 ff.; Horn, Rechtswidrigkeit 86; Jescheck, Lb 347; ders., Fahrlässigkeit 7 ff.; Armin Kaufmann, zmv 1964, S. 45; KohlTausch Lange, Kommentar 225; Lampe, Unrecht 207; Maihofer, ZStW 70, S. 187;ders., Rittler-Festschrift 1957, S. 153; Malaniuk, Lehrbuch des österreichischenStrafrechts I (Wien 1947) 173; H. Mayer, Lb 140; Mezger - Blei, AT 210,212; Niese, Finalität 58 ff.; Nowakowski, JB11953, S. 507; RittleT, AT 217 ff.; Schmidhäuser, Vorsatz und Begriffsjurisprudenz im Strafrecht 29 f.; Stratenwerth, SchwZStrR 81, S. 205; v. Weber, Grundriß 83; ders., Zum Aufbau des Strafrechtssystems 15 f.; Welzel, Lb 129 f.; ders., Neues Bild 35 f. Von Zivilrechtlern zust. u. a.: v. Caemmerer, DJT-Festschrift II, S. 126 ff.; Esser, Schuldrecht! (Karlsruhe 1960) 200; Nipperdey, NJW 1957, S. 1779; Wieacker, JZ 1957, S. 536; Wiethölter, Verkehrsrichtiges Verhalten 24 ff.; K. Wolff, Verbotenes Verhalten (Wien-Leipzig 1923) 231. A. M. auch heute vor allem Schönke - Schröder, Kommentar 501 f.; Oehler, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 246. Daß vor allem diejenigen Schriftsteller, die in der Einhaltung des sozialadäquaten Risikos einen UnrechtsausschliJeßungsgrund erbldcken (5. o. S. 33, Anm. 18), SIich auch zu der Lehre bekennen, daß die "objektive F'ahrlässi,gkeit" zum Unrech,tsbereich gehört, ergibt sich aus der "Natur der Sache", d. h. aus inneren Prinzipien.

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gebotene Sorgfalt eingehalten wurde, stützt sich vor allem darauf, daß die Rechtsordnung sinnvoller Weise gar nicht mehr verlangen könne. Wer diese Sorgfalt beobachtet und dennoch einen tatbestandsmäßigen Erfolg herbeigeführt habe, dem sei nicht nur kein Vorwurf zu machen, vielmehr fehle seinem Handeln von vornherein der Charakter des Normwidrigen. Henkel beleuchtet die gegenüber der älteren Lehre eintretende Wertverschiebung an folgendem Beispiel: "Hat ein vorschriftsmäßig fahrender Motorradfahrer einen Passanten, der ihm in völlig unvorhersehbarer Weise ins Rad gelaufen ist, verletzt, so ist diese Erfolgsverursachung nach herrschender Meinung eine widerrechtliche Handlung, die lediglich als nichtschuldhaft beurteilt wird, weil der Fahrer alle gebührende Sorgfalt aufgebracht hat. Nach hier vertretener Auffassung dagegen ist das Verhalten des Fahrers nicht widerrechtlich, weil ein als fahrlässig in Betracht kommendes Verhalten nicht schon durch die kausale Erfolgsherbeiführung, sondern erst infolge einer Verletzung der ,objektiven' Sorgfaltspfticht zu einem rechtswidrigen wird'." Die Kontroverse über das Standortproblem der objektiven Fahrlässigkeitskomponente läuft daher letztlich auf die verschiedene Bewertung von subjektivem Handlungsunwert (Aktunwert) und objektivem Erfolgsunwert (Sachverhaltsunwert) hinaus. Auf diesem Gegensatz, wie er sich als wahrer Kreuzungspunkt von Problemen der Rechtswidrigkeit und Schuld am schärfsten in der bezüglichen Lehrmeinung Welzels ausprägt, ist daher im folgenden näher einzugehen. Jede menschliche Handlung im Guten wie im Schlechten unterliegt nach Welzel zwei verschiedenen Wertaspekten: "Sie kann einmal nach dem Erfolg bewertet werden, den sie herbeiführt (Erfolgs- oder Sachverhaltswert), zweitens aber auch unabhängig vom Erreichen des Erfolges schon nach dem Sinn der Tätigkeit als solcher (Aktwert) ... Das gleiche gilt im Negativen: Der Unwert der Handlung kann darin gesehen werden, daß der Erfolg, den sie hervorbringt, mißbilligenswert ist (Erfolgsunwert der Handlung). Aber auch schon unabhängig vom Erreichen des Erfolges ist eine Handlung, die auf einen zu mißbilligenden Erfolg abzielt, mißbilligenswert (Aktunwert der Handlung, z. B. der Griff des Taschendiebes in die leere

• Henket, Mezger-Festschrift, S.283. Selbstverständlich liefern Beispiele für die Herbeiführung eines rechtswidrigen Erfolges trotz eines i. S. des § 276 Abs.l, Satz 2 BGB "verkehrsrichtigen Verhaltens" nicht nur Verkehrsdelikte, wie etwa folgendes Beispiel zeigt: Der Jäger A ist bei einer Hasenjagd im Begriff, einen Schuß auf einen Hasen abzugeben. Er hat das Gewehr zum Anschlag erhoben, gezielt und gerade in dem Augenblick abgedrückt, als völlig unvoraussehbar hinter einer Ackerfurche in der Zielrichtung der Treiber B auftaucht und von dem Schuß tödlich getroffen wird. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sich A trotz Tötung des B "verkehrsrichtig", d. h. so verhalten hat, wie dies von einem Jäger in seiner Lage erwartet werden darf. FragLich ist auch in diesem Fall nur, ob der gemäß § 222 StGB tatbestandsmäßigrechtswidrige Erfolg die ·Tötungshandlung als solche zu einer rechtswidrigen stempelt oder nicht.

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Tasche)?" Diesen Sätzen ist ohne weiteres beizupflichten, soweit gegenüber der im Rechtsgüterschutz bestehenden Aufgabe des Strafrechts und der damit verbundenen "Überbetonung der Erfolgsseite" (Verletzung oder Gefährdung des geschützten Rechtsgutes) auch seine "sozialethische Funktion" hervorgehoben werden soll; denn es darf gewiß nicht übersehen werden, "daß es dem Strafrecht weniger auf das aktuelle positive Ergebnis der Handlung als auf die bleibende positive Handlungstendenz der Rechtsgenossen ankommen muß"8. Entschieden widersprochen werden muß dagegen den dogmatischen Folgerungen, die W elzel aus dieser rechtsphilosophischen Erkenntnis ziehen zu müssen vermeint. Dies gilt vor allem von seinem aus der finalen Handlungslehre folgerichtig sich ergebenden "personalen Unrechtsbegriff", wonach eine Handlung rechtswidrig, mißbilligt sein soll "nur als Werk eines bestimmten Täters", der auf Grund seiner Zielsetzung und seiner subjektiven Einstellung der Tat seinen Stempel aufdrücke. "Unrecht ist täterbezogenes, ,personales' Handlungsunrecht'." Liegt nach dieser Auffassung der entscheidende Unrechtsgehalt beim vorsätzlichen Delikt in der Finalität, so beim fahrlässigen Delikt "in dem Mißverhältnis der wirklich vorgenommenen Handlung gegenüber demjenigen Verhalten, das auf Grund der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte eingehalten werden müssen"lO. Entgegen der früher unbestrittenen Meinung l l soll sich also das Unrecht nicht nur auf den Erfolgsunwert, sondern als "persönlichkeitsgeprägt" auch, ja sogar primär auf den Handlungsunwert beziehen, dessen Dominanz bei den Fahrlässigkeitsdelikten so weit gehe, daß er bereits die Tatbestandsmäßigkeit begründet. Denn seit der 4. Auflage seiner Schrift "Das neue Bild des Strafrechtssystems" (S. 31 ff.) und der 7. (10.) Auflage seines Lehrbuches (S. 117) nimmt Welzel an, daß jede unwertige, d. i. hinter der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt zurückbleibende Handlung i. S. der Fahrlässigkeitsdelikte tatbestandsmäßig ist und umgekehrt die Einhaltung dieser Sorgfalt trotz Eintrittes des tatbestandsmäßigen Erfolges - nicht "erst" die Rechtswidrigkeit, sondern "schon" die Tatbestandsmäßigkeit ausschließtll . Diese Verlagerung des systematischen Standortes der "objek7 Welzel, Lb 1 f. a Welzel, Lb 3. • Welzel, Lb 58 f. Der aus einer überschätzung des Handlungsunwertes

gegenüber dem Erfolgsunwert sich ergebende "personale Unrechtsbegriff" wird vertreten u. a. auch von Hardwig, MSchrKrim 1961, S. 194 ff.; Niese, Finalität 25, 64; Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie (Göttingen 1954) 71 ff.; Stratenwerth, SchwZStrR 79, S. 233 ff.; mit Einschränkungen ferner von GaUas, ZStW 67, S.35, 38 f.; Krauß, zstW 76, S. 19 ff.; Lampe, Unrecht (passim); Maurach, AT 191, und Würtenberger, Geistige Situation 51 ff. 10 Welzel, Neues Bild 31. 11 Vgl. z. B. Mezger, Studienbuch (AT7) 61 f. 11 So auch jetzt Wetzel, Lb 129 f.

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tiven" Fahrlässigkeit entspricht dem Meinungswandel, den, wie oben S. 13 ff. dargelegt wurde, auch Welzels Lehre von der Sozialadäquanz im Laufe der Zeit erfahren hat und der insbesondere mit seiner Lehre von den "offenen " oder "ergänzungsbedürftigen Tatbeständen" zusammenhängtl3 • Da bei den fahrlässigen Delikten die Tatbestandshandlung nicht "gesetzlich bestimmt" sei, müsse der Richter sie für den konkreten Fall nach dem allgemeinen Leitbild ergänzen, das am treffendsten im § 276 BGB umschrieben sei. "Der Richter hat also zu ermitteln, was in der konkreten Lage des Täters für ihn die im Verkehr erforderliche Sorgfalt ist, und dann durch einen Vergleich dieses Verhaltens mit der wirklichen Handlung des Täters festzustellen, ob diese sorgfaltsgemäß war oder nicht1 4 ." Wie es indessen bei Erfolgsdelikten keinen tatbestandsmäßigen Erfolg (i. e. S. eines Außenerfolges) ohne tatbestandsmäßige Handlung gibt, so umgekehrt auch keine (ausgereift) tatbestandsmäßige Handlung ohne tatbestandsmäßigen Erfolg15 • Das Vorliegen einer Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung ist es daher, was nicht nur die Tatbestände der vorsätzlichen, sondern auch der fahrlässigen Erfolgsdelikte zu " geschlossenen", die Rechtswidrigkeit indizierenden Tatbeständen macht. Die Würfel der strafrechtlichen Dogmatik fallen auch hier nicht schon bei der Tatbestandsmäßigkeit, sondern wie auch sonst erst bei der Rechtswidrigkeit und Schuld. Will man nicht zu einer Konfundierung dieser beiden Verbrechenselementeil und damit zu einer Aushöhlung des Schuldbegriffes gelangen, dann ist die Rechtswidrigkeit als Mißbilligung der Tat - und nicht des Täters, nicht handlungs(täter-)bezogenes, sondern erfolgs(tat-)bezogenes Unrecht. Den "für die Unrechtsbetrachtung entscheidenden dogmatischen Rang des in der Rechtsgutsverletzung bzw. -gefährdung liegenden ,Erfolgsunwerts'" vermögen subjektive Tendenzen des Täters nicht zu verdrängen l7 • Der von Nagler 18 vor fast sechzig Jahren geprägte Satz, daß die Rechtswidrigkeit, als bloßer Widerspruch gegen das objektive Recht begriffen, "logischerweise nicht anders, als rein objektiv aufgefaßt werden" kann, hat auch heute 13

S. o. S. 14 f.

Welzel, Lb 126. Es läge sonst Versuch vor, der aber bei Fahrlässigkeitsdelikten de lege lata begrifflich ausgeschlossen ist. Vgl. u. S. 71, Anm. 25. 18 So beruht auch die "wichtige Regel" des § 50 Abs. 2 StGB, auf die vor allem Welzel, Lb 59, silch zur Stützung seiner auf Kosten des Erfolgsunwertes den Akzent auf den Handlungsunwert legenden Lehre beruft, nicht auf dem Gedanken des personalen Unrechts, sondern der Schuld, worauf ja auch die Marginalrubrik "Einstehen für eigene Schuld" ausdrücklich hinweist. S. hierzu RoedeT, Exklusiver Täterbegriff und Mitwirkung am Sonderdelikt ZStW 69, S.259, insb. Anm. 132. ' 17 Würtenberger, Geistige Situation 55. 18 Nagler, Binding-Festschrift II, S. 332. 14

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nicht an Gültigkeit verloren. "So wird es keiner ,modernen' Lehre gelingen, die Bedeutung der Rechtsgutsverletzung und damit des Erfolgsunwertes für das Unrecht abzuschwächen1'." Wie der Handlungsunwert als solcher "weder durch das Hinzutreten des Erfolgsunwertes gesteigert, noch durch dessen Ausbleiben gemindert werden" kannte, so kann auch umgekehrt der Erfolgsunwert als solcher weder durch das Hinzutreten des Handlungsunwertes gesteigert, noch durch dessen Ausbleiben gemindert werden. Gerade weil sich aber die sorgfaltswidrigel1 Handlung erst in einem tatbestandsmäßigen Erfolg 11 Krauß, zstw 76, S. 67. Vgl. auch M. E. Mayer, Lb 11: "Daß man ihn (seil. den Begriff der objektiven Rechtswidrigkeit) bekämpfen kann, ist Nebensache, Hauptsache, daß man ;ihn nicht bekämpfen darf." Wurde aber der objektive Charakter der Rechtswidrigkeit nicht durch die an die Arbeiten von H. A. Fischer, Hegter, M. E. Mayer und Mezger geknüpfte Lehre von den sub;ektiven Unrechtsetementen, daß das Unrecht neben einer Außenseite auch eine Innenseite habe, in Frage gestellt? Daß insbesondere die Absichts-, Tendenzund Äußerungsdelikte subjektive und seelische Momente aufweisen, die in der äußeren Tat gar nicht zum Ausdruck zu kommen brauchen, läßt sich nicht bestreiten. Nur ist, wie schon Beling, Die Lehre vom Tatbestand 12, betont, ihr "methodischer Standpunkt" ein anderer: "sie sind Merkmale des Deliktstypus selbst, nicht seines aus ihm auszugliedernden Leitbildes. Die Absicht rechtswidriger Zueignung z. B. ist für den Diebstahl typisch; aber sie liegt hinter der vorsätzlichen Verwirklichung des Diebstahlstatbestandes; der ,Wegnahme einer fremden beweglichen Sache'." Es besteht somit keine innere Notwendigkeit, subjektive Elemente wie Absichten, Zwecke, Beweggründe des Täters und seine Gesinnung zur Rechtswidrigkeit zu ziehen, jedenfalls spricht die methodische Klarheit dagegen. Was sich in der Seele abspielt, hat nur für die Schuld, nicht für die Rechtswidrigkeit Bedeutung, mag es auch dem Gesetzgeber oft schwer fallen, Objektives und Subjektives sprachlich rein zu trennen (z. B. bei der der Erregung des Geschlechtstriebes dienenden "unzüchtigen Handlung", die auch in einer gynäkologischen Untersuchungshandlung bestehen kann). Die gleichen überlegungen gelten aber auch für den Versuchsvorsatz, in dem die herrschende Lehre bei jedem Delikt ein subjektives Unremtselement erblickt, weil ohne Berücksichtigung des auf die Vollendung abzielenden Vorsatzes nicht festgestellt werden könne, welcher Tatbestand vorliegen soll. Abzulehnen ist vor allem die radikale Verallgemeinerung dieser Lehre durch die orthodoxen F,inalisten, wonach der Vorsatz schlechthin, wie o. S. 58 ff. dargele~t wurde, nicht erst ein die Schuld, sondern bereits den Tatbestand und das Unrecht konstituierendes Element sei. "Wer das tut ... , darf sich nicht wundern, wenn immer wieder die bange Frage erhoben wird, ob nicht eine Weiterentwicklung dieser 'Ansichten (die sicher nicht als Gesinnungsstrafrecht bezeichnet werden dürfen) doch noch in die Nähe des Gesinnungsstrafrechtes führt" (Baumann, AT 277 f.). Gegen die Lehre von den subjektiven Unrechtselementen vor allem auch Gotdschmidt, Frank-Festgabe I, S. 457 ff., insb. 460; Kade~ka, ZStW 59, S. 10 ff.; Nowakowski, Grundzüge 54; ders., ZStW 63, S. 308 ff., insb. 320; Rittter, AT 121 ff., und Wegner, Strafrecht AT 15 f., 56, 111 f. It Welzel, Lb 130. Wohl aber wird der Tat (als einem Lebenssachverhalt, der Handlung und Erfolg umschließt) durch den Eintritt des Erfolges ein zum Handlungsunwert hinzutretender zusätzlicher Unwert verliehen. Vgl. auch Gallas, ZStW 67, S. 35. t! Ebenso freilicl1, wie sicll u. S. 88 f. zeigen wird, die sorgfaltsmäßige, aber schon ex ante rechtswidrige Handlung.

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"realisiert"!2, trifft nicht nur der Erfolgsunwert, wie Welzel meintli, sondern auch der Handlungsunwert, richtiger die Verbindung von Erfolgs- und Handlungsunwert, eine "Auslese" aus dem "Unrecht im Hinblick auf seine Strafwürdigkeit" . Das koordinierte Zusammenwirken von Erfolgsunwert und Handlungsunwert kennzeichnet freilich beide Komponenten als nicht bloß "limitierende", sondern konstituierende Unrechtselemente, mag man diese wechselseitige "Realisierung" auch nach dem englischen Sprichwort: "Give the dog a bad name and hang him" als "Restbestand der kausalen Handlungslehre"24 verdächtig machen und in Acht und Bann tun. Die Spannung zwischen Handlungsunwert und Erfolgsunwert offenbart sich wohl am augenfälligsten im Verhältnis von Versuch und Vollendung. Gerade an der Bestrafung, die der Versuch in den Strafgesetzen findet, erkennen wir, daß das positive Recht auch hier dem Erjolgsunwert größte Bedeutung beimißt. Ist ein Erfolg nicht eingetreten (oder kann er - beim untauglichen Versuch - überhaupt nicht eintreten), so wird trotz gleichbleibenden Handlungsunwertes das Verhalten des Täters (fakultativ) milder bestraft. Wäre es anders, würde der Handlungsunwert im Vordergrund stehen, so dürfte der Versuch nicht milder, sondern er müßte immer genauso streng bestraft werden wie die Vollendung. Denn der Entschluß, ein Verbrechen oder Vergehen zu verüben (§ 43 StGB), ist bereits beim Versuch erkennbar. In die Augen springt auch die Parallele zwischen dem im Versuchsstadium steckengebliebenen Vorsatz- und dem noch nicht bis zum Erfolg gediehenen Fahrlässigkeitsdelikt!5,H. Ebenso wie beim vorsätzlichen Delikt der H

Welzel, Lb 131.

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Welzet, Neues Bild XII.

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Welzel, NJW 1968, S. 428. Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand (Breslau 1928) 50 ff., bezeichnet so-

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gar die tatbestandsmäßige, rechtswidi\ige, nichtdolose im Versuchsstadium steckengebliebeneTat als "Quasi-Versuch". Daß auch bei Fahrlässigkeitsdelikten ein dem Versuch ähnliches Vorstadium gegeben ist, haben z. B. bereits Binding, Normen IIr 448 f.; ders., GS 85, S. 221 ff.; v. Frank, Kommentar 85; v. Liszt - Schmidt, AT 3021 ; Löffler, VDB V, 371 f., und Oehler, Objektives Zweckmoment 69', hervorgehoben. GewIß ist auch der Versuch eines fahrlässigen Deliktes denkmöglich (a. M. z. B. v. Hippel, Lb II 408, und Welzel, Um die finale Handlungslehre 1615), wenn auch kein Zweifel besteht, daß de lege lata ein solcher Versuch in keiner Form strafbar ist; "denn es fehlt hier an dem im Gesetz geforderten ,Entschluß'. Ein, selbst vorsätzliches, Verhalten, das das Leben eines Anderen leichtsinnig gefährdet, ist kein Entschluß zu töten" (Mezger, Lb 380). De lege ferenda wurde freilich schon öfters für fahrlässige Handlungen dieselbe Ausdehnung der Strafbarkeit gefordert, wie sie "bei den vorsätzlichen Delikten durch die Strafdrohung gegen den Versuch längst herbeigeführt worden ist"; so z. B. Kade~ka, ZStW 59, S. 21, und MSchrKrimPsych 1931, S. 69 ff. n Begründet nach geltendem Recht der Eintritt des Erfolges die Strafbarkeit, so darf freilich nicht übersehen werden, daß dieser Erfolg nicht nur die Rechtsgutsverletzung, sondern auch als deren Vorstufe und nahe Möglich-

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übergang vom Versuch zur Vollendung nur den Erfolgsunwert berührt, ohne am Handlungsunwert etwas zu ändern, so gilt das gleiche auch für den übergang vom erfolglosen Fahrlässigkeitsdelikt zu dem mit einem Erfolg verbundenen27 • Ist auch im Falle des Versuches bereits die "tiefe Kluft, die den Gedanken von der Tat trennt"!8, überwunden, so hat doch die mildere Bestrafung bzw. Straflosigkeit des versuchten Delikts ihren Grund darin, daß der Gesetzgeber das Strafbedürfnis als geringer ansieht, wenn der Rechtsfriede infolge Ausbleibens des Erfolges weniger gestört wurde. keit die Gefahr umfaßt. Bei der Aufstellung von Gefährdungstatbeständen wartet das Gesetz also nicht erst die Verletzung von Rechtsgütern ab, sondern droht Strafe schon für den Fall an, daß der Täter eine Lage schafft, in der Verletzungen wahrscheinlich sind. Über diese Fälle einer konkreten Gefährdung hinaus, in denen im Augenblick der Handlung oder Unterlassung ein objektiver Beobachter die naheliegende Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung vorauszusehen vermag (vgl. BGHSt 18, 271), spricht man von abstrakten Gefährdungsdelikten, wenn eine bestimmte Handlung oder Unterlassung in Anbetracht der begleitenden Umstände einen Verletzungserfolg überhaupt nicht herbeiführen kann, wie z. B. das Einfahren in eine völlig unfrequentierte Kreuzung bei rotleuchtender Verkehrsampel. Zu diesen Fällen, wo schon der Gedanke einer Gefährdung das gesetzgeberische Motiv der Strafdrohung bildet, die Gefährdung wegen ihrer typischen Eignung, einen rechtswidIiigen Erfolg herbeizuführen, unwiderleglich vermutet wird, gehören vor allem die zahlreichen Übertretungen des Straßenverkehrsrechts (Straßenverkehrs-Ordnung und Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung), die der Strafbestimmung des § 21 StVG unterfallen. Nur die sog. Grundregel des § 1 stVO., die in allgemeiner Fassung alle in Sondernormen nicht geregelten Zuwiderhandlungen zu umschreiben sucht, ist ein konkreter Gefährdungstatbestand (s. z. B. Floegel- Hartung, StraßenverkehrsreclJ.t1', München-Berlin 1963, S. 101); dies deshalb, weil hier keiner Sonderpfticht zuwidergehandelt wird - z. B. dem Gebot des Rechtsfahrens -, sondern ganz allgemein der Regel, sich im Straßenverkehr so zu verhalten, daß niemand gefährdet, geschädigt, behindert oder belästigt wird. Seit 1953 enthält freilich bekanntlich auch das StGB nicht nur die Verletzungsdelikte der fahrlässigen Tötung (§ 222) und der fahrlässigen Körperverletzung (§ 230), sondern auch fahrlässig begehbare Tatbestände einer konkreten Transport- und straßenverkehrsgefährdung (§ 315 Abs. 4, 315a Abs. 3, 315b Abs. 4, 315c Abs. 3). Gegen die rechtspoLitische Mögl~chkeit, zur Beseitigung einer "verkappten Zufallshaftung" fahrlässiges Verhalten auch unabhängig vom Erfolgseintritt in weiterem Umfang zu bestrafen, werden bekanntlich vom Standpunkt einer strengen Tatbestandstypisierung rechts staatliche Bedenken geltend gemacht (so z. B. von Binding, Normen IV 374 ff.; Jescheck, Fahrlässigkeit, 24 f.; Henckel, Der Gefahrbegriff im Strafrecht, Breslau 1930, 77 ff., insb. 80 f., und Armin Kaufmann, ZfRV 1964, S. 54). !7 Auch Welzel, Fahrlässigkeit 20, weist darauf hin, daß dieselbe sorgfaltswidrige Handlung "je nach ihrem Ausgang" eine bloße Verkehrsübertretung, eine fahrlässige Körperverletzung oder - bei einem völligen Ausbleiben des Erfolges - ganz straflos sein könne. In jedem einzelnen Falle ist also eine "dem Ausgang", d. h. aber dem Erfolg entsprechende Strafe zu verhängen. Während der Erfolgsunwert über Strafbarkeit, Deliktsart und Strafrahmen entscheidet, ist der unterschiedIiche Handlungsunwert bei der Strafzumessung zu berücksichtigen. !8 Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (MannheimBerlin-Leizpig 1935) 83.

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Insofern ist daher die versuchte Tat nicht so sehr ein durch das Ausbleiben des erwarteten Erfolges privilegiertes Delikt als vielmehr die vollendete Tat ein durch den Eintritt des Erfolges qualifiziertes Delikt2'. Was Stratenwerth in bezug auf das schweizerische StGB sagt, gilt entsprechend auch für das deutsche: "Wir empfinden es nun einmal als schwereres Unrecht, wenn ein Mensch tatsächlich ermordet oder durch einen Schuß zu lebenslangem Siechtum verurteilt wird, als wenn der Anschlag auf sein Leben oder seine Gesundheit mißlingt, und ebenso, wenn durch fahrlässiges Verhalten Menschenleben vernichtet werden, als wenn das glücklicherweise nicht geschieht. Daß das Gesetz ebenso entscheidet, bedarf keines detaillierten Nachweises: die fakultative Strafmilderung beim Versuch des Verbrechens oder Vergehens und, besonders weitgehend, beim ungefährlichen Versuch (Art. 21-23), die grundsätzliche Straflosigkeit des Versuchs der Übertretung (Art. 104), die mannigfache Abstufung der Strafrahmen z. B. bei der Körperverletzung je nach der Schwere ihres (voraussehbaren) Erfolges (Art. 123 Ziff. 2, 3; Art. 122 Ziff. 2), die weitgehende Straflosigkeit der folgenlosen Fahrlässigkeit - das alles spricht eine deutliche Sprache30 ." Was insbesondere die bloß fakultative Strafmilderung des Versuches betrifft, so gründet sich diese zweifellos auf die subjektive Versuchstheorie, weil von ihrem Standpunkt die Vorwerfbarkeit der rechtswidrigen Willensbildung dieselbe ist, ob der Erfolg eintritt oder ausbleibt. Indessen kann man der Milderungsbefugnis mit der Abstellung auf den verbrecherischen Willen, auf den Handlungsunwert allein nicht beikommen, weil dies folgerichtig die Möglichkeit einer Strafmilderung überhaupt ausschließen müßte. Die - wenngleich nur fakultative Milderbestrafung des Versuchs läßt sich daher nur damit erklären, daß neben dem beim vollendeten Delikt und beim Versuch (zumindest dem beendeten) gleichen Handlungsunwert doch immer auch der gerin!t Daraus folgt zwingend, daß auch dem Verbrechensversuch niemals der Erfolgsunwert abgehen kann, solange der Grundsatz gilt: "cogitationis poenam nemo patitur" (Engisch, Rittler-Festschrift 1957, S.176). Ein das Maß der rechtlichen Schuld wesentlich bedingendes Moment erblickt im Erfolg auch Richara Schmidt, Die Strafrechtsreform in ihrer staatsrechtlichen und politischen Bedeutung (Leipzig 1912) 168: "Mag man noch so sehr das, was wesentlich zu bekämpfen ist, in der Entschluß gewordenen Gesinnung des Täters sehen, sie, die Schuld allein ist als Einzelregung der antisozialen Psyche nicht meßbar: sie wird es erst durch die Beziehung auf den äußeren Erfolg, in dem sie sich verwirklicht, oder der - z. B. im Falle des Versuchs - als von ihr verwirklicht erwartet, gedacht wurde" (Hervorhebung vom Verfasser). Daß "der Schuldsachverhalt als eine Tatsache des unserer unmittelbaren Einsicht entzogenen Seelenlebens" nur aus äußeren Vorgängen zu erschließen ist, betont auch Graßberger, ZÖR 1956, S. 285. Zur Abhängigkeit des Schuldbegriffes vom Erfolgsbegriff vgl. auch Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß (Frankfurt a. M. 1954) 154 ff. ao Stratenwerth, SchwZStrR 79, S. 250 f.

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gere Erfolgsunwert berücksichtigt wird. Nur eine solche Auslegungwird beiden Seiten des Grundsatzes der fakultativen Strafmilderung gerecht: "nicht nur der Befugnis, die Vollendungsstrafe zu verhängen, sondern auch der Befugnis, das - beim unbeendeten wie beim beendeten Versuch - nicht zu tunS1 ". Handlungsunwert und Erfolgsunwert zusammen machen daher erst den vollen Unrechts- und Schuldgehalt des Versuchs aus! Nur wer beide berücksichtigt, vermag der Skylla des Gesinnungsstrafrechts und der Charybdis des Erfolgsstrafrechts zu entgehen. Dürfen wir somit als feststehend annehmen, daß bei der Beurteilung eines mit Strafe bedrohten Verhaltens als rechtmäßig oder rechtswidrig sowohl sein Handlungswert (Handlungsunwert) als auch sein Erfolgswert (Erfolgsunwert) erheblich ist, dann ergibt sich jetzt freilich die Gretchenfrage, welche dieser Wertigkeiten bei ihrem Zusammentreffen den Ausschlag gibt. Kann die Rechtsordnung gewiß einerseits niemandem mehr gebieten als die im Verkehr erforderliche SorgfaltS!, so muß sie doch andererseits in weitem Umfange Rechtsgutsverletzungen (-gefährdungen) verbieten, sofern diese nicht ausnahmsweise wegen eines von der Rechtsordnung anerkannten "Interessenübergewichtes" durch eine sie gestattende Gegennorm gerechtfertigt sind. Entfällt also zwar mit der Einhaltung der objektiv gebotenen Sorgfalt der Handlungsunwert, so ist damit doch nicht gesagt, daß bei Eintritt des verbotenen Erfolges die Rechtsgutsverletzung bloß "Unglück, aber nicht Unrecht" bedeutet-, daß die fahrlässige Tötung, Verletzung oder Gefährdung eines Menschen, sofern sie nur "sorgfältig" erfolgt, eine quantite negligeable darstellt. So kann die den Verkehrsvorschriften entsprechende Handlung des Motorradfahrers in dem oben S.67 angeführten Beispiel Henkels "als solche" nur positiv gewertet werden, gleichviel, ob sie einen Passanten verletzt (gefährdet) oder nicht; umgekehrt kann der Erfolg, die Verletzung (Gefährdung) eines Passanten "als solcher" nur negativ gewertet werden, weil er unter keinem Gesichtspunkt, mag der Motorradfahrer vorschriftsmäßig oder vorschrütswidrig gefahren sein, mit der Rechtsordnung in Einklang steht. Die Frage, welche Wertigkeit prävaliert, ist aber für das Problem des systematischen Standortes der Einhaltung des sozialadäquaten Risikos von entscheidender Bedeutung. Absorbiert der Handlungswert den Erfolgsunwert, so erscheint das Verhalten unseres Motorradfahrers als rechtmäßig, weshalb er mangels Rechtswidrigkeit freizusprechen ist; im umgekehrten Falle erscheint sein 31 Stratenwerth, in seiner tiefschürfenden Studie "Die fakultative Strafmilderung beim Versuch", Festgabe zum Schweizerischen Juristentag (Basel 1963), S. 257. 11 Welzel, Lb 129. aa Welzel, a.a.O. 129 f.

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Verhalten dagegen als TechtswidTig, weil die Rechtmäßigkeit niemals davon abhängen kann, welches Risiko der Handelnde in einer bestimmten Situation eingehen darf, sondern nur immer davon, wie die Sachlage objektiv gestaltet istS', weshalb sein Freispruch wegen VOTliegens eines obligatoTischen SchuldausschließungsgTundes zu erfolgen hatll5 • Zu prüfen ist zunächst nunmehr, ob die zweite Alternative etwa eine SchlechteTstellung des TäteTs bedeutet. Es wurde schon oben S. 44 in einem anderen Zusammenhang auf den Ausspruch Graf zu Dohnas hingewiesen, daß die Meinung, es sei mit der Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens schon eine Mißbilligung desselben verbunden, auf einem "scheinbar unausrottbaren Mißverständnis" beruht". Denn ein tatbestandsmäßiges, durch einen Rechtsfertigungsgrund gedecktes Verhalten ist genauso rechtmäßig wie ein nichttatbestandsmäßigesll7 • Kommt eine Mißbilligung der Tat also erst nach Verneinung der Rechtfertigungsfrage in Betracht, so ist aber auch mit dem Rechtswidrigkeitsurteil nicht notwendig eine Mißbilligung, eine Diffamierung des TäteTs verbunden". Ob den Täter ein sozial ethischer Vorwurf - wegen "Mangels an Wertverbundenheit"30 - trifft, läßt sich erst bei Bejahung deT SchuldfTage entscheiden. Von einem sittlichen Tadel des Täters kann deshalb trotz Bejahung der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens auf keinen Fall gesprochen werden, wenn die SchuldfTage a limine zu veTneinen ist'o. Dies ist aber bei Einhaltung der "im Verkehr erforderlichen Sorgfalt" nach dem objektiven Fahrlässigkeitsmaßstab stets der Fall, so daß wegen Vorliegens eines obligatoTischen SchuldausschließungsgTundes in eine individuelle Schuldprüfung des Täters nach dem subjektiven Fahrlässigkeitsmaßstab übeThaupt nicht mehT eingegangen werden darf. N Wenn Nietzsehe den Erfolg den größten Lügner genannt hat, so gilt dies nur quoad Schuld, nicht quoad Rechtswidrigkeit, denn in bezug auf letztere ist er völlig unbestechlich. 11 S. O. S. 65 f. at Graf zu Dohna, ZStW 60, S. 292. 17 So z. B. Baumann, AT 280 f.; Beling, Verbrechen 147; GeTland, Reichsstrafrecht 145; KohlTauseh, Irrtum und Schuldbegtiiff im Strafrecht (1. Teil) 63 f.; v. WebeT, Mezger-Festschrift, S. 188. • Richtig RehbeTg, Risiko 157. ft Nowakowski, Grundzüge 65. 40 Was Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt (Köln-BerlinBonn-München 1963) 241, für das Privatrecht ausführt, gilt auch für das Strafrecht: "Ideelle und materielle Werte bilden die Grundlage des Werturteils. Daher erscheint die Beurteilung des Verhaltens nicht allein nach dem Personunwert, sondern ebenso nach dem Sachunwert berechtigt. Daraus folgt, daß ein negatives Werturteil über ein Verhalten nicht notwendig persönlich abwertend ist, es vielmehr auf die Art des Unwerts ankommt, auf dem das Urteil basiert, und daß die Aussage wertmäßig keinen Widerspruch enthält, jemand habe trotz des Einhaltens einer besonderen Ordnung wertwidrig gehandelt." Richtig auch LaTenz, Schuldrecht (AT) 230.

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Wie eine Tat nicht rechtmäßiger als rechtmäßig sein kann, so auch ein Täter nicht schuldloser als schuldlos! Ein der Steigerung fähiger Begriff ist nur die Schuld, nicht aber ihr kontradiktorisches Gegenteil, die Schuldlosigkeit. Freilich müssen wir uns vor einer gefährlichen Nebenbedeutung im Begriff des "Entschuldigungs"grundes hüten, da "entschuldigen" allzu leicht den Sinn des "Verzeihens" annimmt41 , ein Sinn, der aber bei Annahme eines obligatorischen Entschuldigungsgrundes von vornherein ausscheidet. Man muß sich also endlich von der Irrlehre freimachen, daß in dem "Erfolgsunwerturteil" schon ein "Handlungsunwerturteil" enthalten sei. Das Schreckgespenst eines rechtswidrigen Erfolges aus einem rechtmäßigen Handeln ist auch aus prozessualen Bedenken nicht zu fürchten, da es in den betreffenden Fällen wegen Vorliegens eines obligatorischen Schuldausschlusses kaum jemals zu einer Hauptverhandlung, sondern wohl zu einer Einstellung des Verfahrens (§ 170 Abs.2 StPO) kommen wird, wodurch aber dem Täter jede Inkrimination und damit jeder strepitus fori erspart bleibt. Kommen wir also zu dem Ergebnis, daß einerseits eine Freisprechung wegen Vorliegens eines obligatorischen Schuldausschließungsgrundes keine materielle oder prozessuale Schlechterstellung des Täters bedeutet, so müssen wir uns noch fragen, ob nicht andererseits eine Freisprechung schon wegen mangelnder Rechtswidrigkeit zu einer Benachteilung des Verletzten führt. "Die Gerechtigkeit hat gegenüber den anderen Tugenden das Eigentümliche", heißt es in der Summa theologica Thomas von Aquins, "daß sie den Menschen in den Dingen ordnet, die den anderen angehen (ut ordinet hominem in his quae sunt ad alterum) . . . . Die anderen Tugenden hingegen vervollkommnen den Menschen nur in dem, was ihm in bezug auf sich selbst gebührt (in his quae ei conveniunt secundum seipsum)ü." Die in diesen Worten des Aquinaten zum Ausdruck kommende scholastische Formel der "justitia ad alterum", die Erkenntnis, daß Gerechtigkeit die Beziehung des Menschen zum Mitmenschen bedeutet, daß daher auch die Handlung des Täters als Erscheinung des zwischenmenschlichen Bereiches vom Standpunkt des "anderen", insbesondere des durch die Handlung Verletzten zu beurteilen ist", darf in einem sozial ethisch orientierten, nicht vom Individuum, 41 41

Welzel, ZStW 58, S. 534, in bezug auf die Behandlung des Notstandes. Thomas von Aquin, Summa theologica, 2,2,57,1; ebenso 2, 2, 58, 2: "... ex

sua ratione iustitia habet quod sit ad alterum ..." 43 VgI. auch Arthur Kaufmann, Recht und Sittlichkeit (Tübingen 1964) 14 ff., und ders., H. Mayer-Festschrift, S. 114; ferner Lampe, Unrecht 29; Maihofer, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 170; ders., Rittler-Festschrift 1957, S. 142, 149. Daß der Kriminalist seiner ganzen Arbeitsweise nach nur zu leicht geneigt ist, "von der Person des Verletzers aus zu argumentieren, da nur von hier aus an Schuld und Strafe herangegangen werden kann", betont vor allem Nagler,

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sondern von der Gemeinschaft ausgehenden Strafrecht nicht zu kurz kommen; es würde sonst über seiner Funktion als Bestimmungsnorm, die primär den Täter, diejenige als Bewertungsnorm, die primär die Tat (Rechtsgutsverletzung) im Auge hat, vernachlässigen. "Das Unwerturteil über die Tat ist von dem Unwerturteil über den Täter scharf zu trennen. Es gibt auch schuldloses Unrecht"." Bewertet man aber das Verhalten des Täters, der trotz Einhaltung der objektiv gebotenen Sorgfalt einen rechtswidrigen Erfolg herbeiführt, als rechtmäßig (nicht bloß als schuldlos), so wird ihm dadurch geradezu ein Recht auf Herbeiführung dieses Erfolges, der Verletzung oder Gefährdung eines anderen, bescheinigt. Der vorschriftsmäßig fahrende Motorradfahrer in unserem Ausgangsbeispiel hätte darnach ein Recht auf Tötung, Verletzung oder Gefährdung des Passanten, ohne daß dieser ein Recht zur Notwehr hätte, weil diese eben nur gegen einen rechtswidrigen Angriff zulässig ist (§ 53 Abs.2 StGB; § 227 Abs.2 BGB). "Die Beobachtung der Regeln des Straßenverkehrs rechtfertigt ebenso wenig", meint Bindokat pointiert, "die Verletzung eines anderen Verkehrsteilnehmers wie die Einhaltung der Strafprozeßordnung die Verurteilung eines Unschuldigen45 ." Ein allgemeiner Rechtfertigungsgrund verkehrsrichtigen Verhaltens würde aber selbstverständlich nicht nur Tötungen, Verletzungen und Gefährdungen im Straßen-, Schienen- und Flugverkehr, also im Verkehr i. e. S. decken, sondern auch die Ausübung aller übrigen o. S. 30 beispielsweise genannten riskanten Tätigkeiten. Auch bei ihnen gibt verkehrs richtiges Verhalten kein Verletzungsrecht, sofern sich nicht - was immer einschränkend hinzugefügt werden muß - ein allgemein anerkannter Rechtfertigungsgrund, eine echte Gestattungsnorm wie bei Sportverletzungen und ärztlichen Eingriffen48 schon unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Denn eine Einschränkung der gesetzlichen Rechtfertigungsgründe contra legem ist unzulässig47 • Binding-Festschrift II, S. 338: "Hypnotisch bleibt der Blick auf den Täter gerichtet." In bezug auf den Betrug sagt schon Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand 39: "soll wirklich das eigentliche übel in der Bereicherung des ,Täters liegen, und nicht vielmehr in der Schädigung des Opfers? Ich glaube, diese Frage stellen heißt auch schon sie beantworten. Welches Interesse soll die Rechtsordnung daran haben zu verhindern, daß ein Staatsbürger reicher werde? Dem gemeinen Wohl könnte dies doch nur förderlich sein; es wäre denn, daß die Bereicherung des einen sich vollziehe auf Kosten eines anderen!" 44 Rittler, AT 119. 45 Bindokat, JZ 1958, S. 555. Grundsätzlich im gleichen Sinne Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt 227; Larenz, Schuldrecht (AT) 228; Lehmann, Hedemann-Festschrift, S. 189 f.; Maurach, AT 467 f.; Rehberg, Risiko 179; Salm, Das vollendete Verbrechen (1. Halb-Bd.) 83 f.; R. Schmidt, NJW 1958, S. 488 f.; Stall, AcP 162, S. 230 f., und Wussow, NJW 1958, S. 892. ft S. O. S. 41 ff. f7 Würtenberger, Rittler-Festschrift 1957, S. 133.

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Will und soll die Rechtsordnung einerseits auch riskante Tätigkeiten mit Rücksicht auf ihren Nutzen für die Gemeinschaft nicht verbieten, so darf sie doch andererseits den Rechtsgenossen im "Kampf ums Recht" als einer i. S. Rudolf von Iherings sittlichen Selbstbehauptungspflicht nicht zumuten, die aus ihnen auch bei verkehrsrichtigem Verhalten entstehenden Verletzungen oder Gefährdungen zu dulden und in Kauf zu nehmen. Ist auch der alte Satz, daß das schuldlose Opfer immer noch schuldloser sei als der schuldlose Täter'8 logisch anfechtbar, da, wie o. S. 76 bemerkt wurde, die Schuldlosigkeit kein der Steigerung fähiger Begriff ist, so enthält er doch einen richtigen Grundgedanken. Denn es liegt auf der Hand, daß die Zulässigkeit der Notwehr (Nothilfe) nicht davon abhängen darf, ob zu der Zeit des Angrüfes oder zu einem früheren Zeitpunkt vom Angreifer die objektiv gebotene Sorgfalt eingehalten wurde. Die Ausübung des Notwehrrechts muß in unserem Ausgangsfall dem Passanten gegenüber dem sich verkehrsrichtig verhaltenden Motorradfahrer - z. B. dadurch, daß er diesen im letzten Augenblick durch einen Stoß zum Sturz bringt - sogar dann unbenommen sein, wenn er - dies ist herrschende Lehre - die Notwehrlage selbst verschuldet hat". Mag man sogar der Ansicht sein, daß die Möglichkeit der Notwehr gegen ein verkehrsrichtiges Verhalten keine allzu große Rolle spiele, vielmehr in den Bereich der Theorie zu verweisen sei5o, so liegt doch in der Annahme eines Rechtfertigungsgrundes verkehrsrichtigen Verhaltens die nicht zu unterschätzende Gefahr eines Absinkens des Vorsichtsniveaus, der Verkehrsmoral. Denn er führt den Verkehrsteilnehmer, indem er die Achtung vor den Rechtsgütern anderer schwinden läßt, wie Wimmer mit Recht betont5 1, dazu, "auf Verkehrsrichtigkeit"5Z und "auf Vertrauensgrundsatz"53 zu fahren; und - das gilt nicht nur für den 48 So auch Binding, Normen I 471 f . •• Nicht gefolgt werden kann daher Wilburg, Die Elemente des Schadensrechtes (Marburg a. L. 1941) 254, wenn er im Falle einer "Verkehrswidrigkeit allein auf Seite des Bedrohten" das Recht der Notwehr (Nothilfe) verneint, weil sonst im Widerspruch zu § 1 stVO, wonach sich jeder Verkehrsteilnehmer so zu verhalten hat, daß kein anderer gefährdet wird, ein unerfahrener (gebrechlicher) Verkehrsteilnehmer dem "verkehrsrichtig" Handelnden wehrlos ausgeliefert wäre. S. auch u. Anm. 52 und 53. 10 So Wiethölter, Verkehrsrichtiges Verhalten 53 f. 11 Wimmer, ZStW 75, S. 421. 11 Das bedingungslose Pochen auf "verkehrsrichtiges Fahren" würde das "Faustrecht im Straßenverkehr" proklamieren. "Insbesondere könnte der Täter z. B. sein ,Vorfahrtsrecht' erzwingen, auf der Autobahn den die Oberholbahn Blockierenden gewaltsam abdrängen, kurz ein Verhalten beobachten, über dessen Unzulässigkeit die Akten längst geschlossen sind" (Maurach, AT 467). Vgl. ferner Horn, Rechtswidrigkeit 54. n Der Vertrauensgrundsatz als die Grenze zwischen sozialadäquatem und sozialinadäquatem Risiko im Straßenverkehr enthebt nicht von der Rechtspflicht, durch entsprechendes "defensives Fahren" die von anderen Verkehrs-

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Straßenverkehr - den eingetretenen Erfolg nicht mehr als Unrecht, sondern als "Unglück" zu empfinden. Auch LaTenz bekennt sich, wenngleich mit Einschränkungen, zu der hier vertretenen Auffassung, daß ein mit einem tatbestandsmäßigen Erfolg verbundenes verkehrsrichtiges Verhalten TechtswidTig ist. Er geht aus von dem von Welzel gebrachten Beispiel einer Krankenschwester, die ahnungslos einem Kranken eine ihr von einem Arzt übergebene zu starke, daher tödliche Morphiumdosis injiziert. Nach Welzel habe die Krankenschwester zwar eine "finale Injektion", aber keine "finale Tötungshandlung" vorgenommen", weil ihr nach der finalen Handlungslehre die Rechtsordnung sinnvollerweise nur gebieten könne, jede einer Krankenschwester zur Vermeidung eines tödlichen Erfolges mögliche Sorgfalt anzuwenden. "Hat daher die Krankenschwester die von ihr zu fordernde Sorgfalt beobachtet und hat sie durch die Injektion trotzdem den Tod des Patienten verursacht, so war ihre Handlung, eben die Injektion, rechtmäßig und wird durch den dadurch verursachten Erfolg nicht rechtswidrig55• " Entgegen dieser Meinung Welzels neigt LaTenz zu der Auffassung, daß das Verhalten seine "endgültige Qualifikation" erst durch den Erfolg erhalte, u. zw. auch dann, wenn er im Sinne der finalen Handlungslehre "nur verursacht" ist. Der Rückschluß von der Folge auf die Handlung selbst (als einer rechtswidrigen Tötung, Körperverletzung, Eigen"tumsbeschädigung) sei nicht nur nicht widersinnig, sondern sogar geboten, weshalb kein Zweifel darüber bestehe, "daß die eine tödlich wirkende Spritze injizierende Krankenschwester auch dann eine tatbestandsmäßige Tötungshandlung begeht, wenn ihr kein Sorgfaltsverstoß zur Last fällt"". . .. "Kommt in dem Augenblick, in dem die Krankenschwester gerade die tödlich wirkende Injektion geben will, ein Kundiger hinzu, so handelt er in erlaubter Nothilfe gemäß § 227 Abs.2 BGB, wenn er die Spritze der Schwester, da jede Aufklärung zu spät teilnehmern heraufbeschworene Gefahr abzuwenden. Er will vielmehr nur besagen, daß jeder Verkehrsteilnehmer ein verkehrsrichtiges Verhalten anderer so lange annehmen darf, als ihm nicht durch besondere Verkehrssituationen das Gegenteil erkennbar wird. U Wetzet, Lb 33, 97 f. 55 LaTenz, Dölle-Festschrift I, S. 179. &I LaTenz, a.a.O. 180 f. Im gleichen Sinne ATthuT Kaufmann, H. Mayer-Festschrift, S. 95. Ebenso zu beurteilen wie das Krankenschwesterbeispiel ist auch der Schulfall WetzeIs, Lb 33, wo jemand, "um sich zu üben, auf einen Baum schießt, hinter dem - ihm verborgen - ein Mensch steht, und diesen Menschen tötet". Auch dieser "finale übungsschuß" ~st eine rechtswidrige, nur allenfalls schuldlose Tötungshandlung (ebenso Stoll, AcP 162, S. 227 f.). Sollte auch hier einem neben dem Schützen stehenden Dritten Notwehrhilfe verwehrt sein?! Notstandshilfe wäre ja nur einem "Angehörigen" (§ 54 StGB) gestattet.

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kommen würde, gewaltsam aus der Hand schlägt und sie dabei verletzt57." Ebenso beurteilt Larenz den Fall, wo "ein Kraftfahrer trotz sorgfältigen Fahrens ein Kind oder einen Betrunkenen überfährt, der ihm im letzten Augenblick, für ihn unvorhersehbar, in seine Fahrbahn läuft"". Anders dagegen, meint er, müsse man entscheiden, wenn ein Selbstmörder sich in so kurzer Entfernung vor die Lokomotive eines fahrenden Zuges wirft, daß diese nicht mehr zum Stehen gebracht werden kann. Wenn sich auch dieser Fall äußerlich nicht von dem des Betrunkenen unterscheide, so sei doch zu bedenken, daß das Tun des Lokomotivführers "gleichsam wieder überdeterminiert worden ist durch das finale Tun des Selbstmörders. Dieser hat die von dem Lokomotivführer in Gang gesetzte und auf so kurze Entfernung nicht mehr zum Stillstand zu bringende mechanische Kraft der Lokomotive als Mittel zur Erreichung seines Zwecks eingesetzt. Dadurch ist das Tun des Lokomotivführers insoweit zu einem bloßen Mittel im Rahmen der Handlung des Selbstmörders herabgesetzt. Das rechtfertigt es, den ,Erfolg' nicht mehr seiner Handlung, sondern nur der des Getöteten zuzurechnen und in dem Tun des Lokomotivführers in diesem Fall nur eine Erfolgsverursachung zu sehen5'." Wenn Larenz daher, ohne dies ausdrücklich zu sagen, in diesem Fall nicht nur ein schuldhaftes, sondern auch ein rechtswidriges Verhalten des Lokomotivführers verneint, so scheint uns diese Auffassung noch immer in dem von uns o. S. 75 dargelegten "unausrottbaren Mißverständnis" befangen zu sein, daß mit der Rechtswidrigkeit (Mißbilligung) der Tat auch schon eine Mißbilligung des Täters verbunden ist. Für die Mißbilligung der Tat genügt aber die Mißbilligung des rechtswidrigen Erfolges. Sowohl in dem Tun des Kraftfahrers als auch in dem des Lokomotivführers ist nicht "nur eine Erfolgsverursachung", sondern ein im Widerspruch zur Rechtsordnung stehendes, also ein von ihr mißbilligtes, rechtswidriges Verhalten zu erblicken. Denn man kann doch ein Geschehen nicht bloß wegen seiner Unvoraussehbarkeit als rechtmäßig bezeichnen60• Hält Larenz nunmehr in seinem Lehrbuch v. Caemmerer, der auch im Falle des Betrunkenen ein rechtswidriges Verhalten des Fahrers bestreitetlll , entgegen, er zeige "sich hier ... von dem ,finalen Handlungsbegriff' beeinflußt, der nur solche Folgen zur Handlung rechnet, die von dem Zweck des Handelnden umfaßt sind"'2, und bezeichnet LaTenz, a.a.O. 195. LaTenz, a.a.O. 186. n LaTenz, a.a.O. 187. 10 So auch HaTdwig, Zurechnung 129. 41 LaTenz, Schuldrecht (AT) 227!. n LaTenz, ibidem. 57

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er diesen Handlungsbegriff mit Recht als "zu eng", so muß er im Falle des Selbstmörders diesen Einwand folgerichtig gegen sich selbst gelten lassen. Auch hier ist, wie Larenz weiter gegen v. Caemmerer ausführt, "das Überfahren und die davon untrennbare Körperverletzung keine der Handlung zufällige und entfernte Folge, sondern gehört mit zum äußeren Handlungsablauf, der die soziale Wertung der Handlung (,als' eine Körperverletzung) bestimmt. Der Fahrer hat nicht nur gefährdet, sondern tatsächlich, wenn auch nicht fahrlässig und somit schuldlos, den Körper des Überfahrenen ,verletzt.... " Rechtswidrig sind eben nicht nur vom Willen beherrschte Rechtsgutsverletzungen, so daß es sich, juristisch betrachtet, auch in diesen Fällen nicht um "Unglück", sondern um schuldlos herbeigeführtes Unrecht handelt, das insbesondere Nothilfe nicht ausschließt. Nur ein von jedem Sentiment unbeeinflußter Mut zur Folgerichtigkeit, zur sauberen Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuldt4 vermag uns vor der "Figur der erlaubten Tötung durch verkehrsrichtiges Verhalten"l5 zu bewahren. Hier scheiden sich wahrlich die Geister!! Um aber dem freilich nur bei Laien verständlichen gefühlsmäßigen Bedenken, daß auch in den bei der Gegenmeinung so beliebten Selbstmörderfällen" eine Freisprechung (Einstellung des Verfahrens) "bloß" ea Larenz, ibidem. 84 Die hier vertretene Meinung "vakuiert" daher nicht, wie z. B. Weimar, JuS 1962, S. 135, behauptet den Rechtswidrigkeitsbegriff, sondern umgekehrt entleert die Gegenmeinung die Schuld, so daß, was bleibt, eine "blutleere" Schuld ist. es Lehmann, Hedemann-Festschrift, S. 189. Wenn Welzel, ZStW 76, S. 632, sagt: "Ich muß gestehen, daß ich den Satz, der ·Täter handle bei der Vernichtung fremder Lebensgüter dm Notstand in ,rechtstreuer' Gesinnung, ein wenig makaber finde", so scheint uns die "Figur der erlaubten Tötung durch verkehrsrichtiges Verhalten" nicht weniger "makaber". lIe Das gleiche gilt auch für das von v. Caemmerer, DJT-Festschrift 11, S. 135, gebrachte Beispiel, daß ein spielendes Kind auf das Geländer einer Eisenbahnbrücke geklettert dst und unmittelbar vor die unter der Brücke hervorkommende Lokomotive auf die Gleise stürzt. In dem von Larenz, Dölle-Festschrift I, S. 187 f., angeführten Fall aber, wo jemand in Folge der Einnahme einer überdosis eines Schlafmittels, das er ordnungsmäßig auf Rezept erworben hat, stirbt, hat weder der Fabrikant des Schlafmittels, noch der das Rezept ausstellende Arzt, noch der das Mittel verkaufende Apotheker unmittelbar oder mittelbar (§§ 48, 50 StGB) eine tatbestandsmäßige Tötungshandlung verursacht. Denn der methodische Standort des Kausalproblems kann "nur im Zusammenhang mit dem objektiven Tatbestand der Straftat bestimmt werden" (Maurach, AT 164). Ist auch nach der im Strafrecht herrschenden Äquivalenztheorie kausal für den Erfolg jede Handlung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele (condicio sine qua non-Formel), so setzt doch der Streit der Kausaltheorien überhaupt erst ein, "nachdem feststeht, daß die Willensbetätigung des Täters sich innerhalb des vom jeweiligen Tatbestand gezogenen Rahmens gehalten hat. Ist schon dies zu verneinen, so bleibt die Handlung selbst bei Verursachung des Erfolges strafrechtsunerheblich" (Maurach, AT 165, und das dort angeführte 6 Roeder

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wegen mangelnder Schuld und nicht "schon" wegen mangelnder Rechtswidrigkeit erfolgt, Rechnung zu tragen, hätte schon der Tenor des Spru.ches das Vorliegen eines .obligatorischen Schuldausschlusses ausdrücklich etwa durch folgende Wendung zu betonen: Der Angeklagte wird von der Anklage der fahrlässigen Tötung (Körperverletzung) mangels Schuld freigesprochen (das Verfahren wird eingestellt), weil die Herbeiführung des inkrimiIUerten Erfolges auch von einsichtigen und besonnenen Personen in der Lage des . Täters nicht vorausgesehen werden konnte. "Die Herbeiführung des Mißbilligenswerten wird", um eine treffende Formulierung Bockelmanns zu gebrauchen, "nicht mißbilligte7 •ce _ Die Egalisierung von verkehrsrichtigem Verhalten (objektiv gebotener Sorgfalt) und rechtmäßigem Verhalten, die sich als eine terrible Simplifikation erwiesen hat, würde den Verletzten nicht zuletzt aus dem Gesichtspunkt der zivilrechtlichen Haftung, die auch den "sorgfältigen" Schädiger für die Verletzung absoluter Rechte treffen muß, schwer benachteiligent8 . Was wunder, wenn die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit unserer Streitfrage durch den viel diskutierten Beschluß des Großen Senates für Zivilsachen des Bundesgerichtshofes vom 4.3.1957 (BGHZ 24, 21 = NJW 1957, S. 785) starke Impulse empfangen hat. Der Plenarentscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Betrunkener war beim Aufsteigen auf die vordere Plattform eines Motorwagens der Straßenbahn gestürzt und überfahren worden. Während der Verletzte behauptete, der Straßenbahnzug sei schon angefahren, als er noch im Begriffe war einzusteigen, soll nach der Gegendarstellung der Schaffner das Abfahrtssignal erst gegeben haben, als von den an der Haltestelle wartenden Personen keine mehr Anstalten zum Einsteigen machte; der Kläger sei vielmehr auf den schon fahrenden Zug aufgesprungen. Schrifttum). Dasselbe gilt auch für die von v. Caemmerer, a.a.O., S. 127 f., angeführten Beispiele. n Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche 'Aufsätze 16015• e8 Unr~chtig ist es freilich, wenn Niese, JZ 1956, S. 463 f., meint, daß nur das Zivilrecht, weil es auf den Ausgleich des wirtschaftlichen Schadens bedacht ist, "den der Täter im Rechtskreis eines anderen angerichtet hat", ... "das Verhalten in seiner Relation zu anderen Rechtsgenossen (,kommunikativ')", das Strafrecht dagegen die Handlung "in ihrer Relation zum Täter (,individuell')" betrachtet. Hat gewiß im Gegensatz zum Strafrecht "das bürgerliche Recht nicht Schuld zu sühnen, sondern für einen gerechten Schuldausgleich zu sorgen" (Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze 210), so ist andererseits für beide Rechtsgebiete die Rechtswidrigkeit die gleiche. Das Strafrecht betrachtet das rechtswidrige Verhalten des Täters als Voraussetzung seiner Bestrafung und eines Notwehrrechtes bzw. eines bürgerlichrechtlichen Schadenersatzanspruches des Verletzten (Geschädigten), also nicht nur in seiner Relation zum Täter (individuell), sondern auch in seiner Relation zu anderen Rechtsgenossen (kommunikativ).

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. Der BGH hatte daher die vom VI. Zivilsenat vorgelegte Frage zu prüfen, ob i. S. des § 831 BGB ein Verrichtungsgehilfe, der im Straßenbahnoder Eisenbahnverkehr einen anderen an Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum verletzt, auch dann rechtswidrig handelt, wenn er sich verkehrsrichtig (ordnungsgemäß) verhalten hat. Der BGH führt hierzu insbesondere aus (S. 26): " ... Indem die Rechtsordnung den gefahrvollen Verkehr zuläßt und den Teilnehmern a.n diesem Verkehr im einzelnen vorschreibt, wie sie ihr Verhalten einzurichten haben, spricht sie auch aus, daß sich ein Verhalten unter Beachtung dieser Vorschriften im Rahmen des Rechts hält. Es geht nicht an, ein Verkehrsverhalten, das den Ge- und Verboten der Verkehrsordnung voll Reclulung trägt, trotzdem mit dem negativen Werturteil der Rechtswidrigkeit zu versehen..HierfÜr gibt der eingetretene Erfolg keinen ausreichenden Grund her, da das Urteil der Rechtswidrigkeit i. S. der Bestimmungen des BGB über unerlaubte Handlungen die zum Erfolg führende Handlung nicht unberücksichtigt lassen kann ... " Der Geschädigte hat dabei nach der Ansicht des BGH die Verletzungshandlung und ihre Folgen, der Geschäftsherr das verkehrsrichtige Verhalten seines Verrichtungsgehilfen zu beweisen. Die Entscheidung des BGH gipfelt somit in der Anerkennung des "Rechtfertigungsgrundes des verkehrsrichtigen Verhaltens", dessen rechtsdogmatische Unhaltbarkeit wohl bereits aus unseren vorausgegangenen Ausführungen zur Genüge hervorgehttD• Die Begründung des BGH für seine Entscheidung, daß der eingetretene Erfolg keinen ausreichenden Grund für das Werturteil der Rechtswidrigkeit hergebe, da dieses die zum Erfolg führende Handlung nicht unberücksichtigt lassen kann, läuft vor allem auf eine petitio principii hinaus. Denn auf den eigentlichen Kernpunkt unseres Problems, das Verhältnis von Handlungsunwert und Erfolgsunwert, geht der BGH überhaupt nicht ein, vielmehr setzt er die Dominanz des Handlungsunwertes auf Kosten des Erfolgsunwertes als das erst zu Beweisende als bewiesen voraus. Die Entscheidung, die sich freilich ausdrücklich auf den Straßen- und Schienenverkehr beschränkt, hat denn auch vor allem im zivilrechtlichen Lager im Hinblick auf die sich aus ihr ergebende prekäre Stellung desVerietzten70 im Widerstreit der Meinungen mindestens

.e Maurach hatte sich also getäuscht, wenn er in seiner 1948 erschienenen Schrift "Schuld und Verantwortung im Strafrecht", S. 89, das Zivilrecht dem Strafrecht als Vorbild anpries und schrieb: "Hier denkt wohl niemand daran, die Risikohandlung, die in concreto einen nachteiligen Erfolg verursacht hat, als nicht rechtswidrig oder sogar als rechtmäßig hinzustellen. Vielmehr wird die Rechtswidrigkeit bejaht, die Haftung verneint, weil die (rechtswidrige) Verursachung auf dem Boden des (rechtmäßigen) maßvollen Risikos entstanden ~st." 70 Zu beachten ist, daß bei der zivilrechtlichen Haftung das Vorliegen bzw. das Fehlen der Rechtswidrigkeit von verschiedener Bedeutung ist. Denn die Haftung ex delicto ("schuldhafte Verletzung ausschließlicher Rechte" nach

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ebenso viel Ablehnung als Zustimmung erfahren71 • "Der Satz, daß derjenige, der die Regeln des Verkehrs beachte und trotzdem einen Menschen töte oder verletze oder eine fremde Sache beschädige, nicht gegen die Rechtsordnung verstoße, darf", wie May treffend bemerkt, " ... nicht nur als innerjuristische Angelegenheit und als Ergebnis einer rein dogmatischen Auseinandersetzung gewertet werden. Er ist auch - bewußt oder unbewußt - Ausdruck einer für unsere Zeit bezeichnenden geistigen Haltung. Der durch die technische Entwicklung hervorgerufene Gegensatz zwischen dem Wert des gefahrvollen Verkehrs und dem Wert des Lebens und der Gesundheit des einzelnen fordert ständig, insbesondere vom Gesetzgeber und Richter, eine Entscheidung zugunsten eines dieser Werte71. " § 823 BGB) für einen rechtswidrig und schuldhaft herbeigeführten Erfolg unterscheidet sich dogmatisch wesentlich nicht nur von der Haftung für einen rechtswidrigen, aber - abgesehen von einer culpa in eZigendo - nicht schuldhaft herbeigeführten Erfolg (..Haftung für den Verrichtungsgehilfen" nach § 831 und .. Haftung des Aufsichtspflichtigen" nach § 832 BGB), sondern auch von der "Gefährdungshaftung", die überhaupt nicht Wiedergutmachung eines Unrechtsschadens, sondern in bestimmten Fällen i. S. der .. distributiven" Gerechtigkeit die Verteilung eines ZufaZZs-(Kausal-)schadens bezweckt. Auch die Gefährdt;mgshaftung Ist nach der hier vertretenen Auffassung entgegen den Ausführungen von Dunz, NJW 1960, S. 510; Hirschberg, Schuldbegriff 103 f.; Larenz, Dölle-Festschrift I, S. 174 f., und Nipperdey, NJW 1957, S.1778, nicht eine "Haftung ohne Rechtswidrigkeit", sondern eine "Haftung ohne Ver-

schulden". 71 Ablehnend: Bettermann, NJW 1957, S. 986 f.; Bindokat, JZ 1958, S. 553 ff.; Böhmer, MDR 1958, S. 745 f.; Boenecke, NJW 1960, S. 1188 f.; Deutsch, Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt 267 ff.; Dunz, NJW 1960, S. 507 ff.; Hafferburg, NJW 1959, S. 1398 ff.; Horn, Rechtswidrigkeit 53 f.; Hubmann, JZ 1958, S. 489 ff.; Kienapfel, Risiko 18 ff.; Larenz, Dölle-Festschrift I, S. 169 ff.; ders., Schuldrecht (AT) 225 ff.; Lehmann, Hedemann-Festschrift, S. 179 ff.; Maurach, AT 465; May, NJW 1958, S. 1262 ff.; Richter, NJW 1958, S. 1171 f.; R. Schmidt, NJW 1958, S. 488 ff.; ders., NJW 1960, S. 1706 f.; StoU, JZ 1958, S. 137 ff.; ders., AcP 162, S. 203 ff.; Weitnauer, NJW 1962, S. 1190 f.; Wussow,

NJW 1958, S. 891 H.

Zustimmend: Baumann, AT 269; den., MDR 1957, S. 646 ff., und AcP 160, S. 260 ff.; Haase, NJW 1957, S. 1315; Lorenz, JZ 1961, S. 433 ff.; Mergenthaler, JZ 1962, S. 53 H.; Niese, Eb. Schmidt-Festschrift, S.368; ders., JZ 1957, S. 658 ff. (insb. 661); Nipperdey, NJW 1957, S. 1777 ff.; NoZZ, ZStW 77, S. 1 ff. (insb. 30 f.); Oehler, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 232 ff. (insb. 244 H.); Quade, DRiZ 1957, S. 139; Reinhardt, JZ 1961, S. 713ff.; Schönke - Schröder, Kommentar 497; Weimar, JuS 1962, S. 133 ff.; Wieacker, JZ 1957, S. 535 ff.; Zeuner, JZ 1961, S. 41 ff.; ZippeZius, NJW 1957, S. 1707 f.; ders., AcP 157, S. 390 ff. Zu derselben Auffassung neigen auch Bockelmann, Verkehrsstrafrechtliche Aufsätze 202 f.; v. Caemmerer, DJT-Festschrift II, S. 134363 ; Engisch, DJT-Festschrift I, S. 418 f.; Jescheck, Lb 392; ders., Fahrlässigkeit 9; Welzet, Neues Bild 35; ders., Lb 129, und Wiethölter, Verkehrsrichtiges Verhalten insb. 41 und 56, mit der Abweichung, daß diese Autoren im verkehrsrichtigen Verhalten keinen Unrechts-, sondern einen Tatbestandsausschluß erblicken, was im Ergebnis aber keinen Unterschied macht (Welzel, Fahrlässigkeit 12 ff., 24: sorgfältiges Verhalten iso, nicht tatbestandsgemäß, darum auch nicht rechtswidrig). 71 May, NJW 1958, S. 1265.

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Daß trotz aller Gegenargumente noch immer ein großer Teil der Theorie beharrlich daran festhält, daß ein ordnungsgemäßes (verkehrsrichtiges), also ein "an sich" rechtmäßiges Verhalten auch trotz Eintrittes eines rechtswidrigen Erfolges ein rechtmäßiges Verhalten ist, hat letztlich seinen Grund wohl darin, daß man in der Entstehung eines rechtswidrigen Erfolges aus einem ("an sich") rechtmäßigen Verhalten eine unüberwindbare logische Schwierigkeit erblickt. Und es wäre gewiß voreilig, wollte man etwa die Rechtswidrigkeit einer objektiv sorgfaltsgemäßen Handlung, eines verkehrsrichtigen Verhaltens, wie es im bisherigen Schrifttum meist geschieht, schon daraus ableiten, daß gegen dieses, wenn es sich als "gegenwärtiger" Angriff auf ein Rechtsgut darstellt, dem Träger desselben eine Verteidigung aus dem Gesichtspunkt der Notwehr gestattet sein müsse, Notwehr aber eben nur gegen einen gegenwärtigen, rechtswidrigen Angriff zulässig sei. Es wäre ja immerhin möglich, daß die Rechtsordnung dem durch ein verkehrsrichtiges Verhalten Angegriffenen eine Duldungspflicht auferlegt, ein Notwehrrecht also ausschließt. Man könnte auch versuchen, um dem Bedrohten trotz Rechtmäßigkeit des Angriffs das Notwehrrecht zu erhalten, mit v. Frank " rechtswidrig " i. S. des § 53 StGB dahin auszulegen, daß es sich um einen solchen Angriff handelt, "zu dessen Duldung der Angegriffene nicht verpflichtet" ist73• Immerhin ist aber bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Verhaltens die Frage, ob gegen dasselbe Notwehr zulässig ist, von großem heuristischen Wert, mag man auch in ihrer Bejahung nicht die Probe auf das Exempel des Vorliegens eines rechtswidrigen Verhaltens erblicken. Auch nach H. A. Fischer wird Notwehr als der Rechtswidrigkeitsausschluß "a't'E;ox~V meist dafür "als Prüfstein verwertet, ob irgendein Angriff gegen einen andern, bzw. ein Eingriff in die Rechtssphäre eines anderen widerrechtlich ist, indem man die Frage aufwirft, ob eine Notwehr gegen den Angriff bzw. Eingriff erhoben werden darf oder nicht"74. Trotzdem enthebt dies nicht von der 18 So v. Frank, Kommentar 161; ebenso z. B. Binding, Handbuch des Strafrechts (Leipzig 1885) 740, und Schönke - Schröder, Kommentar 435. Dieser Lösungsversuch würde freilich die Systemwidrigkeit ergeben, daß die Rechtsordnung das Verhalten von zwei einander angreifenden Rechtsgenossen für rechtmäßig erklärt und damit das Faustrecht proklamiert. Vgl. hierzu auch Baumann, JZ 1962, S. 47 f.; Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung (Heidelberg 1935) 53~; Maurach, AT 468; Oehler, Das objektive Zweckmoment dn der rechtswidrigen Handlung 66 5 (unter Berufung auf Bockelmann, Strafrechtliche Untersuchungen 565~), sowie Welzel, Lb &2 f. 1~ H. A. Fischer, Rechtswidrigkeit 201. So schreibt auch Maurach, AT 467: "Jeder Versuch, die Einhaltung des maßvollen Risikos (speziell im Straßenverkehrsrecht: die Beobachtung verkehrsrichtigen Verhaltens) als Rechtfenigungsgrund zu behandeln, muß an dem unbestechlichen Richter scheitern, den das Notwehrrecht darstellt." Keinesfalls könnte die Zulässigkeit einer Notwehr in den in Frage stehenden Fällen wegen Ungewißheit des Erfolgseintrittes

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weiteren Untersuchung, ob die Rechtswidrigkeit eines mit einem rechtswidrigen Erfolg verbundenen verkehrsrichtigen Verhaltens sich nicht schon unabhängig von der positivrechtlichen Einräumung oder Nichteinräumung einer Gestattungsnorm aus erkenntnistheoretischen Erwägungen ergibt. Wie kann also, ohne die Einheitlichkeit des Unwertes von Handlung und Erfolg in Frage zu stellen75 , ein rechtswidriger Erfolg (Zustand) durch eine rechtmäßige Handlung bewirkt werden711? Um einen Ausweg aus dieser Aporie, aus dem "dogmatisch unlösbaren Konflikt ,eines rechtswidrigen Erfolgs aus rechtmäßigem Tun'''77 hat sich schon Binding bemüht, indem er das Problem der Entstehung eines rechtswidrigen Erfolges aus einer rechtmäßigen Handlung dadurch zu lösen versuchte, daß er dieser eine "suspensiv bedingte Rechtswidrigkeit" prädiziert78 • Nicht mehr als eine Abwandhing der Lehre Bindings stellt auch der Versuch Wimmers dar, ein verkehrsrichtiges Verhalten, das eine Verletzung bewirkt, als "sozialambivalent" (doppelwertig) zu deuten: Es sei klar, führt er aus, "daß man von einer Tat nicht sagen kann, sie sei zugleich rechtmäßig und nicht rechtmäßig (gar rechtswidrig), oder sie sei zugleich verneint werden, weil dieser ja bei jeder Notwehrsituation nur mehr oder weniger wahrscheinlich ist: "Solange Notwehr zulässig ist, befindet sich das Verbrechen noch in dem Stadium der Nichtvollendung" (H. A. Fischer, a.a.O. 202).Vgl. auch Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand 14. Das Notwehrrecht beginnt daher auch nicht, wie Wussow, NJW 1958, S. 892 (zust. Horn, Rechtswidrigkeit 102), annimmt, bei einem Verkehrsunfall erst in dem Augenblick, "in dem der Kotflügel eines Kraftwagens den Körper eines anderen Menschen berührt und verletzt". S. auch u. S. 92, Anm. 98. 71 Insofern richtig Nowakowski, ZStW 63, S. 321, der auch auf die Ausführungen Schoetensacks. Bind.fng-Festschrift I, S. 377 ff. (s. insb. 383 f.) verweist, "daß der Unwert des Verhaltens nur vom Erfolg her erfaßt werden kann" . . 71 Völlig verkannt wird das Wesen der in Frage stehenden Fälle von K. Wolff, Verbotenes Verhalten 187, wenn er als Beispiel dafür, daß man "auch durch rechtmäßiges Verhalten einen rechtswidrigen Erfolg herbeiführen" kann, folgenden Fall· anführt: "Auch der Wachmann hat beim Vorliegen gewisser äußerer Gründe mit der Verhaftung vorzugehen und doch kann sich herausstellen, daß sie ungerechtfertigt war; sein Verhalten war pfiichtmäßig, der Erfolg rechtswidrig." Der Wachmann hat sich indessen nicht nur 1. S. des § 341 StGB (Freiheitsberaubung im Amte) tatbestandsmäßig, sondern auch reChtswidrig verhalten. Hat ihm freilich das Bewußtsein, daß er zur Vornahme der Freiheitsentziehung nicht berechtigt war, gefehlt, weil er aus tatsächlichen (äußeren) Gründen Umstände angenommen hat, die ihm nach dem Gesetz ein Recht zur Verhaftung geben würden, so ist nach § 59 StGB der Vorsatz und damit die Strafbarkeit ausgeschlossen; das gleiche gilt aber auch, wenn er irrtümlich Tatumstände annimmt, die ihm nach der Rechtsordnung kein Recht zum Eingreifen gewahren, weil auch ein solcher Rechtswidrigkeitstatirrtum nach der eingeschränkten Schuldtheorie den Vorsatz ausschließt (nach der strengen Schuldtheorfe läge dagegen Verbotsirrtum vor). Vgl. BGRSt 3, 357 (359). Eine andere Frage freilich ist, ob nicht eine Duldungspflicht des von einer formal richtigen Amtshandlung Betroffenen anzunehmen ist. 77 Mergenthaler, JZ 1962, S. 54. 71 Binding, GS 68, S. 14; ebenso sein Schüler Sommer, Das bedingte Verbrechen (Leizpig 1908).

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rechtswidrig und nicht rechtswidrig (gar rechtmäßig).· Hat eine Tat gleichzeitig etwas von positiver und negativer Qualität an sich, so läßt sich das genauer nur durch Verneinungen, nämliCh dahin bestimmen, daß sie zugleich nichtrechtmäßig und nichtrechtswidrig seF8." Eine zugleich nichtrechtmäßige und nichtrechtswidrige Tat, die sich also in einem vom Eintritt oder Ausbleiben des rechtswidrigen Erfolges abhän':' gigen Schwebezustand, in suspenso, befindet, kann man aber, will man diesem Zwitterbegriff der Ambivalenz überhaupt einen Sinn abgewinnen, füglich nur einerseits - für den Fall des Ausbleibens des Erfolges - als bedingt rechtmäßig, andererseits - für den strafrechtlich allein relevanten Fall des Eintrittes des Erfolges - als bedingt rechtswidrig deklarieren. Auch dieser Versuch zur Lösung unseres Problems erweist sich aber nicht als ein Ausweg, sondern als eine Sackgasse. Die Figur einer "suspensiv bedingten Rechtswidrigkeit", wonach eine Handlung "je nach dem weiteren Gang der Ereignisse rechtswidrig oder nicht rechtswidrig sein können" soll, bestreitet schon Beling. "Wer im Begriff steht", argumentiert er, "zwischen Vornahme oder Nichtvornahme einer Handlung zu wählen, kann verlangen, daß ihm die Rechtsordnung in diesem Augenblicke unzweideutig sagt, ob das Handeln erlaubt ist oder nicht. Wohl möglich ist, daß er auch bei klarer Antwort, die ihm die Rechtssätze geben, die Rechtswidrigkeit oder Nichtrechtswidrigkeit nicht erkennt, vielleicht sogar nicht zu erkennen vermag, weil ihm die Kenntnis der das Verbot auslösenden Tatsachen fehlt (dann steht die Schuldhaftigkeit der rechtswidrigen Handlung in Frage); daß aber die Rechtsordnung selber die Antwort schuldig bliebe und den Frager mit einem Achselzucken davonschickte, ist unannehmbar, weil darin ein Verzicht auf die allereigentlichste Aufgabe des Rechts, dem Handeln Richtschnuren zu geben, läge, und den Individuen einHandeln auf eigene Gefahr zugeschoben würde80." Damit verlangt BeZing jedoch bei den fahrlässigen Erfolgsdelikten von der Rechtsordnung etwas Unmögliches, da ja deren Rechtswidrigkeit begrifflich erst vom Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges abhängt. Das juristische Urteil über die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens setzt das grundsätzlich verschiedene, aber immer erst ex post vollziehbare ontologische Urteil über die Kausalität des Verhaltens, d. h. über den mit ihm etwa verbundenen Erfolg logisch voraus. Es hieße daher der Rechtsordnung eine ~lE'taß(l(JLC; dC; (1AAO yevoc;, ein Hinüberspringen vom Gebiet des Rechts in ein vorrechtliches zumuten und sie dadurch überfordern. wollte man von ihr die von Beling verlangte "unzweideutige Antwort" - erlaubt oder nicht - schon zur Zeit der Vornahme der fahrlässigen

Wimmer, zStW 75, S. 439 f. Beling, Grenzlin;ien zwischen Recht und Unrecht in der Ausübung der Strafrechtspflege (Tübingen 1913) 36. 7t

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Handlung erwarten. Der Einwand einer Überforderung der Rechtsordnung muß daher auch Engisch entgegengehalten werden, wenn er von ihr eine Ausrichtung der Norm als Forderung sorgfältigen Verhaltens "am Zeitpunkt des Handlungsvollzugs" mit den Worten verlangt: "Nur ein Verhalten, das ,ex ante' gesehen richtig ist, kann geboten, nur ein Verhalten, das ex ante gesehen unrichtig ist, kann verboten seins1 ." Jedes Verhalten (Vornahme oder Nichtvornahme einer Handlung) ist schon zur Zeit des Tätigwerdens oder Unterlassens, also ex ante rechtmäßig oder rechtswidrig, doch kann dies beim fahrlässigen Erfolgsdelikt stets erst ex post, also nach dem Ausbleiben oder Eintreten des tatbestandsmäßigen Erfolges, demnach erst durch "Metagnose" festgestellt werden. Sind somit Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit Eigenschaften, die einer Tat ohne Rücksicht auf das Entwicklungsstadium (Versuch- Vollendung, Gefährdung- Verletzung) von Anbeginn anhaften, dann bildet - insofern hat Beling recht - das Ausbleiben oder der Eintritt des Erfolges auch keine "Suspensivbedingung" des rechtmäßigen oder rechtswidrigen Verhaltens; nicht diese Eigenschaft, wohl aber ihre Feststellbarkeit (Erkennbarkeit) ist infolge der Unvollkommenheit der menschlichen Erkenntnis durch den Erfolg, der bei ganzheitlicher Betrachtungsweise mit dem Verhalten als Handlungskern zu einer untrennbaren Einheit, der Handlung i. w. S. verbunden istS!, suspeonsiv bedingt. Mag also auch der Eintritt des Erfolges - in einer bestimmten Situation, hic et nunc - nicht nur für den Täter, sondern auch für den durchschnittlichen Normadressaten, ja sogar für den völlig rechtstreuen Mustermenschen nicht erkennbar seins3, so ist er doch für die Verwirklichung eines bestimmten gesetzlichen Tatbestandes kausal und auf Grund dieses ontologisch immer schon ex ante feststehenden Kriteriums ebenso wie das ihn bewirkende Verhalten - sofern kein Rechtfertigungsgrund vorliegt - auch rechtswidrig. Nur menschlicher Unzulänglichkeit also ist die apodiktische Feststellung des Kausalverlaufes immer erst ex post möglich; nicht so dem Laplace'schen Geist, dem nichts ungewiß wäre, dem die Vergangenheit 81 Engisch, DJT-Festschrift I, S. 419. Der gleiche Einwand, daß auch ein Verhalten, "das ,ex ante' gesehen richtig ist", "ex post" verboten (rechtswidrig), wenngleich nicht schuldhaft, sein kann, gilt für den von Zippelius, NJW 1957, S. 1707, aufgestellten Satz, es müssen die Normen (Gebote oder Verbote), "wenn sie menschliches Zusammenleben sinnvoll regeln sollen, so beschaffen sein, daß sie einem Menschen im Augenblick seiner Handlung eine Richtschnur sein können". Auch dies bedeutet eine Oberforderung der Rechtsordnung. 8t S. o. S. 48, Anm. 6. 81 Wie schon o. S. 49 bemerkt wurde, bildet ja ein solches psychisches Manko, ein auf einem Vorstellungsmangel beruhender Irrtum über den Eintritt oder das Ausbleiben des Erfolges, ein Kriiterium jedes fahrlässigen Verhaltens.

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wie die Zukunft o.ffen vo.r Augen läge. Ihm wäre der Eintritt des tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Erfo.lges und damit die Rechtswidrigkeit des ihn bewirkenden Verhaltens in den Einzelheiten seines histo.rischen Ablaufes scho.n ex ante o.ffenbar. "Setzte er in der Weltfo.rmel t = - 00, so. enthüllte sich ihm der rätselhafte Urzustand der Dinge84 ." Pro.gno.se und Metagno.se fielen bei ihm unfehlbar zusammen85 • Gibt es also. keine suspendierte Rechtswidrigkeit eines Verhaltens,die erst mit dem Eintritt des tatbestandsmäßig-rechtswidrigen Erfo.lges als eines no.ch ungewissen Ereignisses existent wird, so. ist ihre Feststellung stets nur vo.n deklarativer, nicht ko.nstitutiver Bedeutung811 • Es verbietet sich daher auch die etwaige Annahme einer Rückwirkung der Rechtswidrigkeit des Erfo.lges auf die Rechtswidrigkeit des Verhaltens87• Abgesehen davo.n, daß eine so.lche retrograde Betrachtungsweise gerade bei dem in Frage stehenden "verkehrsrichtigen", also. in abstracto. ("per se" i. S. des aristo.telischen Substanzbegriffes) rechtmäßig erscheinenden Verhalten unserem Rechtsempfinden widerstreben würde, weil dann seine Rechtswidrigkeit erst vo.n dem Eintritt eines ihm nachfolgenden Ereignisses abhinge, wäre sie auch lo.gisch unmöglich, weil die Wirkung nicht ihre Ursache erzeugen kann.Einer beso.nderen Erörterung bedürfen in diesem Zusammenhang no.ch die Fälle, wo. mehrere :gesetzliche Tatbestände idealiter ko.nkurrieren, aber nur in bezug auf einen derselben Rechtswidrigkeit vo.rliegt. Es handelt sich um die vo.n der Strafrechtsdo.gmatik viel zu wenig beachtete Erscheinung der so.g. "spezifischen Rechtswidrigkeit", die aber geeignet ist, gerade auf unser Pro.blem ein helles Licht zu werfen. Daß ein tatbestandsmäßiges Verhalten-Schuld des Täters und Vo.rliegen etwaiger objektiver Bedingungen der Strafbarkeit vo.rausgesetzt - nur dann strafbar ist, wenn es rechtswidrig im Sinne des Tatbestandes, wenn es im tatbestandsmäßig typisierten Sinne hinter rechtlichen Anfo.rderunDu Bois - Reymond, Reden, 1. Bd., 2. Auft. (Leizpig 1912), S. 443. Ontologisch betrachtet besteht daher auch zwischen dem Urteil, ob eine "Handlung gefährlich", und dem Urteil, ob ein "Rechtsgut in Gefahr geraten" ist, kein Unterschied. Was Welzel, Fahrlässigkeit 22 f., für das "Gefahrurteil" annimmt, daß es stets ein ex ante-Urteil ist, weil die Gefahr für Rechtsgüter von einem "einsichtigen Beobachter" vorausgesehen werden kann, gilt auch für das "Verletzungsurteil", wenn wir uns an die Stelle des einsichtigen Beobachters den allwissenden, alle Bedingungen überschauenden Geist i. S. der Laplace'schen Fiktion gesetzt denken. Vgl. auch u. S. 92, Anm. 97. 'I Daß die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens schon ex ante feststeht, zeigt sich bei den Vorsatzdelikten deutlich beim Übergang vom Versuchsstadium in das der Vollendung; die Rechtswidrigkeit dieses Verhaltens ist schon im Augenblick der Handlung virtuell gegeben. 87 Diese retrograde Betrachtungsweise macht sich z. B. Zippelius, NJW 1957, S. 1707, zu eigen; ausdrücklich abgelehnt wird eine solche "Rückwirkung" dagegen von Welzer, Fahrlässigkeit 26. . 84

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gen zurückbleibt, mögen folgende Beispiele aus dem Schrifttum verdeutlichen: Ein Bauer, der vom Freien aus bemerkt, daß seine Tochter in der Kirche unzüchtig betastet wird, kommt ihr zu Hilfe, stört aber zugleich den Gottesdienst88• Die Abwehrhandlung des Bauern, die etwa zu einer Körperverletzung (§ 223 StGB) des seine Tochter Belästigenden führt, ist als Nothilfe gegen einen "gegenwärtigen, rechtswidrigen" Angriff gerechtfertigt, die Störung des Gottesdienstes (§ 167 StGB) rechtswidrig. Oder ein Baumeister beginnt an einem Sonntag mit der ihm vom Eigentümer aufgetragenen Demolierung eines Hauses, übertritt aber zugleich die Bestimmungen über die Sonntagsruhe89 • Die Zerstörung einer fremden Sache (§ 303 StGB) ist infolge der Einwilligung des Verletzten gerechtfertigt, die Störung der Sonntagsruhe (§ 366 Z. 1 StGB) rechtswidrig. Oder A erschießt den ihn angreifenden B mit einer Waffe, deren Führung eine Polizeivorschrift verbietet8o• Der Totschlag (§ 212 StGB) ist wegen vorliegender Notwehr gerechtfertigt, das Führen der Waffe (§ 26 WaffenG) rechtswidrig'1. In allen angeführten Beispielen, die sich unschwer vermehren ließen, dürfen die Rechtmäßigkeit der Verwirklichung des einen Tatbestandes (Körperverletzung, Sachbeschädigung, Totschlag) und die Rechtswidrigkeit der Verwirklichung des idealiter konkurrierenden anderen Tatbestandes (Störung des Gottesdienstes, Störung der Sonntagsruhe, verbotenes Führen einer Waffe) nicht konfundiert werden, Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit müssen vielmehr stets auf einander bezogen sein. Fehlt es an dieser tatbestandsbezogenen spezifischen Rechtswidrigkeit, so entfällt die Strafbarkeit des Täters wegen des betreffenden Delikts, in unseren Beispielen also die Strafbarkeit wegen Körperverletzung, Sachbeschädigung und Totschlages. Verfehlt wäre es aber, aus der Beschränkung der Strafbarkeit (der Unrechtsfolgen) eines Verhaltens auf eines der konkurrierenden Delikte die Beschränkung auch seiner Rechtswidrigkeit auf dieses eine Delikt abzuleiten. Vielmehr ist das Verhalten insgesamt rechtswidrig. Denn gemäß dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung ist immer davon auszugehen, daß die Feststellung eines Verhaltens als rechtswidrig nichts anderes zum Ausdruck bringt als den formalen Widerspruch dieses Verhaltens zur Rechtsordnung als Ganzer (nicht bloß gegen eine einzelne Norm!)'!. Verfolgen auch die einzelnen Rechtsnormen besondere und

• v. Frank, Kommentar 162.

I' Kade~ka, ZStW 59, S. 16.

Rittler, 'AT 120. Vgl. auch einen Fall aus der Praxis, JW 1932, S. 1588: Rechtswidrigkeit und demzufolge Bestrafung trotz Jagdrechtes wegen der Nähe einer Promenade aus sicherheitspolizeilichen Gründen (§ 367 Ziff. 8 StGB). tI So ausdrücklich auch Wetzet, Lb 47. Vgl. auch Bettermann, NJW 1957, S. 986 f., und May, NJW 1958, S. 1262 ff., insb. 1264. 10 tl

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untereinander verschiedene Einzelzwecke, so dienen sie doch alle einem gleichen und einheitlichen Endzweck, so daß jede Normverletzung eine Beeinträchtigung des ganzen Rechts bedeutet. Wie auch ein bestimmtes Verhalten nicht etwa auf dem Gebiete des Zivilrechts rechtswidrig, dagegen auf dem Gebiete des Strafrechts rechtmäßig, vielmehr immer nur einheitlich entweder rechtmäßig oder rechtswidrig sein kann, ebenso verlangt die Einheit der Rechtsordnung, daß auch bei eintätigem Zusammentreffen mehrerer Delikte das Täterverhalten allgemein rechtswidrig ist, wenn es bloß in irgendeiner Hinsicht, nach irgendeiner Richtung, in irgendeiner Beziehung gegen die Rechtsordnung verstößt. Die Rechtswidrigkeit als das kontradiktorische Gegenteil des Rechts'· ist notwendig wie dieses einheitlich, weshalb ohne Einschränkung zu gelten hat der lapidare Satz Zitelmanns: "Ist eine Handlung durch irgend einen Rechtssatz in irgend einem Rechtsteil verboten, so ist sie eben verboten". " Wird also durch die Bezeichnung eines Verhaltens als rechtswidrig ein Widerspruch zu irgendeiner Norm des Rechts zum Ausdruck gebracht, kann die Bewertung eines Verhaltens nur auf Grund der Gesamtrechtsordnung endgültig erfolgen, so gilt dies im besonderen auch für den Fall einer Idealkonkurrenz zwischen den Normen des StGB und der StVO. Soll auch gar nicht bestritten werden, daß ein Kraftfahrer, der trotz strikter Einhaltung der Straßenverkehrsvorschriften einen Passanten tötet oder verletzt, sich rechtmäßig verhält in bezug auf die Vorschriften der StVO als einer Sammlung von staatlich erlassenen Unfallverhütungsvorschriften, rechtswidrig nur in bezug auf die die Tötung oder Verletzung verbietenden §§ 222, 230 StGB, so ist sein Verhalten mit Rücksicht auf die Einheit der Rechtsordnung doch in toto rechtswidrig, wenngleich das rechtmäßige Verhaltenselement keine Rechtsfolgen nach sich zieht85• Die Erkenntnis, daß jedes mit einem rechtswidrigen Erfolg verbundene Verhalten ex ante rechtswidrig ist, kann also auch nicht durch den etwaigen Einwand erschüttert werden, daß es bei einem eintätigen Zusammentreffen mehrerer Tatbestände einem von ihnen überhaupt an der Rechtswidrigkeit fehlen kann. "Die Antwort auf die Frage, ob jemand verkehrsrichtig (seil. i. S. der StVO) gefahren sei, kann also niemals gleichzeitig die entscheidende Antwort auf die Frage •• So auch Sauer, Grundlagen des Strafrechts (Berlin-Leipzig 1921) 236: Die Rechtswidrigkeit "ist nur die Umkehrung der Rechtmäßigkeit, nur deren Negation. Eine dritte Möglichkeit ist logisch nicht vorhanden." " Zitelmann, AcP 99, S. 11; vgl. auch Beling, Verbrechen 128 f., wo er die Einheitlichkeit des Rechtswidrigkeitsbegriffs "sich als zwingend notwendig auch aus dem organischen Zusammenhang der einzelnen Rechtsteile" ergebend bezeichnet. 11 Da Unrechtsfolgen nur das rechtswidrige und nicht das rechtmäßige Verhalten nach sich zieht, prävaliert das rechtswidrige schon deshalb, weil x-Folgen + o-Folgen nur stets x-Folgen und nicht o-Folgen ergeben.

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nach der Rechtswidrigkeit schlechthin sein. Der verkehrsrichtig Handelnde bewegt sich nur iIliSofern im Rahmen des Rechts, als er nicht gegen Gebote der Verkehrsordnung verstößt"."Entgegen der oben S.82ff. erörterten Entscheidung des BGH geht es also sehr wohl an, "ein verkehrsrichtiges Verhalten, das den Ge- und Verboten der Verkehrsordnung voll Rechnung trägt, trotzdem mit dem negativen Werturteil der Rechtswidrigkeit zu versehen". Widerspricht es daher rein ontologischen Erwägungen97 , ein "per se" verkehrsrichtiges Verhalten trotz Eintrittes eines rechtswidrigen Erfolges D8 als rechtmäßig zu klassifizieren, so kann der vermittelnde Ausgleich nur im Bereiche der Schuld als der Nahtstelle von individueller Voraussehbarkeit und Nichtvoraussehbarkeit des Erfolges geschehen, ohne daß wir aber "die Allwissenheit Gottes zum Maßstab der Fahrlässigkeit machen"9D müßten oder auch nur könnten. Denn göttliches und May, NJW 1958, S. 1264. Die aus der Erkenntnis, daß jedes Verhalten ex ante rechtmäßig oder rechtswidrig ist sich ergebende - si licet componere parva cum magnis "Kopernikanische Wendung" ;in der Problemlösung steht auch mit den ontologischen Voraussetzungen der finalen Handlungslehre nicht in Widerspruch. Wenngleich nach dieser Lehre das äußere Kausalgeschehen auf ein Ziel hin gelenkt und so "final überdeterminiert" wird, der Vorsatz also der den Kausalverlauf beeinflußende "Steuerungsfaktor" ist, so wird dadurch doch an der ontologischen Struktur der zur Zielerreichung ausgewählten Handlungsmittel qua "Kausalfaktoren" nichts geändert. Sind diese - wenn auch von einem zwecktätigen Willen manipuliert - einmal in Gang gesetzt, so ist die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verhaltens bereits unverrückbar besiegelt, mag dieses "per se" der objektiv gebotenen Sorgfalt entsprechen oder nicht. Ist auch die Finalität zum Unterschied zur "blinden Kausalität" eine "sehende Determinationsweise", so muß doch auch Welzel einräumen, daß jede Handlung infolge der "Begrenztheit des menschlichen Vorherwissens" in einen nur unvollständig und unsicher bekannten Weltzusammenhang hineinwirkt: "Der Handelnde kann darum nie gewiß sein, ob seine Handlung nicht zum Auslöser zahlreicher weiterer Folgen wird, wobei sich seine Ungewißheit nicht nur auf solche Folgen erstreckt, die später wirklich eintreten, weil ihre Vorbedingungen schon vorlagen, als vielmehr auch auf solche, die ausbleiben, weil ihre Vorbedingungen gar nicht bestanden!" (Welzel, Vom Bleibenden und Vergänglichen in der Rechtswissenschaft 917 ; ebenso auch Lb 33). 18 Nochmals sei betont, daß der "rechtswidrige Erfolg" nicht nur in einer Verletzung, sondern auch in einer Gefährdung bestehen kann, was insbesondere als Voraussetzung der Notwehr V'On Bedeutung i'st (s. o. S. 85, Anm.74). Es ist daher unrichtig, wenn Münzberg, Verhalten und Erfolg als Grundlage der Rechtswidrigkeit und Haftung n6so a. E., meint, daß sich "die Notwehr nidlt gegen den (noch gar nicht eingetretenen, also auch noch IlIicht rechtswidrigen) Erfolg, sondern gerede gegen das Verhalten!" I1ich.tet. Auch der "noch g,ar nicht eingetretene" Erfolg ist eben schon ex ante rechtswidrig. 08 Mezger - Blei, AT 210. Im übrigen fordern auch wir ebenso wohl Mau7'ach, gegen den sich die Kritik richtet - zur Fahrlässigkeit eine ob;ektive Fehle7'haftigkeit des Verhaltens (der einzelnen Betriebshandlung), weshalb es eben bei deren Fehlen, d. i. bei Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (des sozialadäquaten Risikos), wie Blei entgegengehalten werden muß, zur Exkulpierung nicht "einer zweistufigen Prüfung innerhalb der Schuld", sondern nur einer generellen, keine7' individuellen Prüfung bedarf. 18

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menschliches Wissen sind inkommensurabel; dem Vorauswissen jedes Menschen sind, wie o. S. 88 dargelegt wurde, infolge seiner kreatürlichen Unvollkommenheit Grenzen gezogen. Jede Fahrlässigkeit beruht, wie schon erwähnt wurde 10o, auf einem Tatirrtum, u. zw. auf einem Tatbestandstatirrtum, der den Täter aus tatsächlichen Gründen die Tatbestandsmäßigkeit seines Verhaltens nicht erkennen läßt. Wer trotz Einhaltung der verkehrsmäßigen Sorgfalt einen rechtswidrigen Erfolg herbeiführt, befindet sich aber darüber hinaus auch in einem Rechtswidrigkeitstatirrtum, der ihm aus tatsächlichen Gründen die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens verhüllt; er handelt nur putativ (vermeintlich, irrtümlich) rechtmäßig. Ebenso wie der in Putativnotwehr den tatbestandsmäßigen Erfolg Herbeiführende sich über die tatsächlichen Voraussetzungen und Folgen seiner Notwehrhandlung irrt, so täuscht sich auch der Kraftfahrer, der trotz Einhaltung höchstmöglicher Sorgfalt einen Verkehrsunfall herbeiführt, über die tatsächlichen Voraussetzungen und Folgen seines Verhaltens. Handelt es sich bei der Putativnotwehr um die irrige Annahme einer gefährlichen (objektiv ungefährlichen), so bei dem verkehrsrichtigen, mit einem tatbestandsmäßigen Erfolg verbundenen Verhalten um die irrige Annahme einer ungefährlichen (objektiv gefährlichen) Situation. Und während bei der Putativnotwehr der Rechtswidrigkeitstatirrturn im Falle seiner Nichtvoraussehbarkeit obligatorisch den Vorsatz, aber nur fakultativ, d. h. nach individueller Schuldprüfung, auch die Fahrlässigkeit ausschließt101 , läßt dieser Irrtum dagegen bei vorausgesetztem verkehrsrichtigen Verhalten obligatorisch den Vorwurf der Fahrlässigkeit entfallen, ohne daß es noch einer individuellen Prüfung der Schuld bedürfte. Der Täter hat hier schon "nach den Umständen", nicht erst "nach seinen persönlichen Verhältnissen" den tatbestandsmäßigen Erfolg nicht voraussehen können (Fehlen unbewußter Fahrlässigkeit), bzw. diesen Erfolg überhaupt nicht für möglich gehalten, daher auch nicht auf sein mögliches Ausbleiben vertraut (Fehlen bewußter Fahrlässigkeit). Wie sich aus den vorausgegangenen Ausführungen wohl schon von selbst ergibt, fällt die Einhaltung (Überschreitung) des strafbefreienden sozialadäquaten Risikos funktionell und dogmatisch mit der Einhaltung 100

S. o. S. 49.

Im übrigen kann es sich im Falle der Putativnotwehr auch um einen RechtswidTigkeitsrechtsirrtum (Verbotsirrtum) handeln, wenn sie auf einer Verkennung der Rechtsbegriffe eines "gegenwärtigen" oder "rechtswidrigen" Angriffes beruht. Im Gegensatz zur Vorsatztheorie und eingeschränkten Schuldtheorie liegt freilich nach der strengen Schuldtheorie auch bei irriger Beurteilung der Tatsituation Verbotsirrtum (irrige Annahme der Rechtfertigung läuft auf eine Verkennung der bestehenden Unterlassungspflicht hinaus) vor. 101

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4. Kapitel: Der systematische Standort des sozialadäquaten Risikos

(Verletzung) der objektiv gebotenen Sorgfalt als eines Hauptkriteriums des hergebrachten Fahrlässigkeitsbegrüfes zusammen, wie ja auch jedes fahrlässige Verhalten mehr oder weniger ein riskantes ist. Die Sozialadäquanz, unter der wir vor allem den gerechten, "sozialangemessenen" Ausgleich zwischen Handlungsunwert und Erfolgsunwert i. S. auch einer "justitia ad alterum" verstanden haben, diente uns aber als regulatives, heuristisches Prinzip, um einen der Strafrechtsdogmatik schon lange bekannten, von ihr jedoch freilich unzureichend erkannten Begriff zu klären. Wir können somit das Ergebnis über den Hauptgegenstand unserer Untersuchung folgendermaßen zusammenfassen: Im VeTbTechensaujbau ist deT systematische StandoTt des nUT bei jahTlässigen Delikten in BetTacht kommenden StTajausschlusses deT Einhaltung des sozialadäquaten Risikos nicht, wie die heute heTTschende LehTe behauptet, die RechtswidTigkeit (geschweige die Tatbestandsmäßigkeit), sondeTn die Schuld. Die Einhaltung des sozialadäquaten Risikos, das sich mit der Einhaltung deT objektiv gebotenen SOTgjalt deckt, begTündet demnach bei EintTitt eines TechtswidTigen ETjolges keinen RechtjeTtigungsgTund, sondeTn einen obligatoTischen SchuldausschließungsgTund. Stimmt dieses ETgebnis auch mit deT älteTen LehTe übeTein, so findet es doch seine sicheTe GTundlage eTst in deT von uns gewonnenen ontologischen ETkenntnis, daß jedes Tiskante VeThalten, das einen TechtswidTigen ETjolg heTbeijühTt, schon ex ante TechtswidTig

ist.

Es scheint sich auch hier wieder einmal das alte Goethe-Wort zu bewahrheiten, daß das menschliche Denken immer wieder in die alten Bahnen einlenkt, dieser Weg aber nicht im Kreise verläuft, sondern in einer Spirale, d. h. in einer der früheren parallelen Richtung, aber auf höherer Stufe. Man soll die Äpfel nicht vom Baume schütteln, ehe sie reü sind!

5. Kapitel

Berücksichtigung des sozialadäquaten Risikos auch hei Schuldunfähigkeit? Unsere Untersuchung wäre unvollständig ohne eine Auseinandersetzung mit einem Einwand, der gegen den von uns verfochtenen systematischen Standort des Strafausschlusses der Einhaltung des sozialadäquaten Risikos im Hinblick auf die von einem Verschulden unabhängigen strafrechtlichen Maßnahmen erhoben werden könnte. Da die Verbrechensbekämpfung nach geltendem Recht hinsichtlich der Rechtsfolgen "zweispurig" ist, auf einem "Dualismus" von schuldbedingter Strafe und von ein individuelles Verschulden nicht voraussetzenden, ethisch farblosen Maßnahmen aufbaut, sind letztere bei hinzutretender "Gefährlichkeit" des Täters zulässig auch bei einem "schuldlosen Delikt" (nach §§ 42 b, m StGB; ebenso nach § 330 a StGB im Falle der Rauschtat). Erblickt man nun wie wir bei Vorliegen eines rechtswidrigen Erfolges in der Einhaltung der objektiv gebotenen Sorgfalt (des sozialadäquaten Risikos) einen obligatorischen Schuldausschließungsgrund, so erhebt sich die Frage, ob dann gegen i. S. des § 51 Abs. 1 (§ 330 a StGB) Zurechnungsunfähige und damit Schuldunfähige Sicherungsmaßnahmen nicht schon auf Grund der Herbeiführung des rechtswidrigen Erfolges allein, also ohne Verletzung der objektiv gebotenen Sorgfalt (trotz Einhaltung des sozialadäquaten Risikos), angeordnet werden können. Denn das Strafrecht kennt zwar keine Schuld ohne Unrecht, aber Unrecht ohne Schuld. "Die Ausfällung von Maßnahmen gegenüber Tätern", moniert jedoch Rehberg, "die trotz Beachtung aller erforderlichen Vorsicht Rechtsgüter verletzt haben, kann aber dem Willen des Gesetzgebers nicht entsprechen", denn der Zurechnungsunfähige dürfe "hinsichtlich der strafrechtlichen Haftungsvoraussetzungen offensichtlich nicht schlechter gestellt sein als die übrigen Täterkategorien. Die Verletzung der generellen Sorgfaltspflicht muß deshalb als gemeinsame und unerläßliche Voraussetzung aller strafrechtlichen Sanktionen gegenüber dem Fahrlässigkeitstäter gefordert werden. Ihre Einhaltung, bzw. das Handeln im ER (erlaubten Risiko) kann mithin nicht erst entschuldigend wirken, sondern hat die Haftbarkeit des Täters bereits auf einer vorgelagerten Stufe des Verbrechensaufbaues auszuschließen1." 1

Rehberg, Risiko 169.

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5. Kapitel: Sozialadäquates Risiko und Schuldunfähigkeit

Rehberg sucht daher, um eine ungleiche Behandlung von Zurechnungsfähigen und Zurechnungsunfähigen auszuschließen, nach einer "zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld eingefügten Bewertungsstuje"! und findet sie in Maurachs Lehre von der "Tatverantwortung". Auch die Prägung dieses Begriffes war ja vor allem von der mit der Novelle 1933 über die Einführung von Maßnahmen der Besserung und Sicherung entschwundenen Einheit des Verbrechensbegriffes und der damit verbundenen "Brüchigkeit" des überkommenen Schuldbegriffes inspiriert. Maurach, der seine Lehre zuerst in seiner 1948 erschienenen Schrift "Schuld und Verantwortung im Strafrecht" entwickelt und später in seinem Lehrbuch weiter ausgebaut hat, ersetzt im Verbrechensaufbau, um ein Kriterium persönlicher Tat-Zurechnung zu finden, welches die Haftung des Täters nicht nur für die Schuld voraussetzende Strafe, sondern auch für die von der Schuld unabhängigen Maßnahmen gestattet, den seiner Meinung nach zu engen Schuldbegriff der bisherigen Lehre durch die umfassendere Haftungsgrundlage der "Zurechenbarkeit". Er versteht unter dieser Deliktsstufe "dasjenige rechtlich mißbilligte Verhältnis des Täters zu seiner tatbestandsmäßig-rechswidrigen Tat, welches die Grundlage der verschiedenen strafrichterlichen Reaktionsmöglichkeiten abgibt"s. Die Feststellung der Zurechenbarkeit besagt somit nur, "daß die konkrete Tat deren Urheber als die seine zuzurechnen ist"'. Innerhalb der Zurechenbarkeit unterscheidet Maurach aber zwei, von der Generalisierung zur Individualisierung fortschreitende Stufen: 1. die Tatverantwortung, die durch solche Verhaltensanforderungen, deren Innehaltung ganz generell und typisierend vom Durchschnitt verlangt werden kann, begründet wird 5, und 2. die Schuld als das Zurückbleiben hinter den dem konkreten Täter zumutbaren Ansprüchen. "Das Verhältnis zwischen Tatverantwortung und Schuld ist das gleiche wie das Verhältnis zwischen Mißbilligung und Vorwurfs." Während das Vorliegen der Tatverantwortung bei Begehung tatbestandsmäßigen Unrechts Ausgangspunkt und Regel ist, beruhen nach Maurach die Fälle, in denen sie ausgeschlossen ist, der Täter also trotz Verwirklichung eines tatbestandsmäßigen Unrechtes nicht mißbilligt wird, auf positiv-rechtlich anerkannten Ausnahmesituationen, die nach der herrschenden Lehre eine besondere Kategorie der Schuldausschließungsgründe bilden, in Wirklichkeit aber bereits "Gründe des VerantI

Rehberg, a.a.O. 170.

a Maurach, AT 314. , Maurach, ibidem.

5 Eine Verwandtschaft mit der "Tatverantwortung" Maurachs weist auch "Der Unrechtsvorwurf" Maihofers, Rittler-Festschrift 1957, S. 141 ff., auf, bei dem es um den Maßstab des "Jedermann" bzw. des konkreten "Jemand" in der "Stellung" und "Lage" des Täters geht. • Maurach, a.a.O. 316.

5. Kapitel: Sozialadäquates Risiko und Schuldunfähigkeit

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wortungsausschlusses" sind7 • Hierher gehöre unter dem Gesichtspunkt d~r Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens vor allem der "Lebensund Leibesnotstand für den Täter selbst oder einen nahen Angehörigen (§ 54), das Handeln unter Zwang oder der sog. Nötigungsnotstand (§ 52) und die Vberschreitung der Notwehr unter bestimmten psychologischen Zwangssituationen (§ 53 Abs. 3)"8. Zu den auf dem Gedanken der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens beruhenden "Tatverantwortungsausschließungsgründen" der §§ 52-54 StGB rechnet Maurach bei Fahrlässigkeitsdelikten aber ausdrücklich auch die "Innehaltung des verkehrsmäßigen Risikos durch den unvorsätzZich einen rechtswidrigen Erfolg verursachenden Täter: seine Handlung ist rechtswidrig, weil mit dem durch sie unmittelbar verursachten rechtswidrigen Erfolg belastet, dem Urheber dieses Erfolges aber nicht zurechenbar: ist der Täter bei Vornahme seiner gefährdenden Handlung innerhalb der allgemein vorausgesetzten und daher auch ihm zumutbaren Sorgfaltsgrenzen geblieben, so ist nicht erst die individualisierende Schuldfrage zu verneinen, sondern schon die jede Schuld vorformende Haftung; es fehlt die Tatverantwortung des Verursachers für den auch bei Innehaltung der gebotenen Sorgfalt unabwendbaren Erfolg"'. Begründet dagegen Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt zwar stets Tatverantwortung, so steht doch das Urteil fahrlässiger Schuld als "Mißbrauch der Zurechnungsfähigkeit"10 erst fest, wenn das Verhalten des Täters "die ihm persönlich mögliche Leistung nicht erbracht hat"l1. Da die erwähnten gesetzlich anerkannten Notlagen der §§ 52, 53 Abs. 3,54 StGB nach Maurachs Lehre unabhängig von der Zurechnungsfähigkeit bzw. Schuldfähigkeit wirken, selbst ihr Fehlen nur "Mißbilligung", aber noch keinen "Vorwurf" zur Folge hat, ist es nur schlüssig, wenn er ihr Vorliegen auch zurechnungsunfähigen Tätern zugutekommen läßt12 • Zählt Maurach aber, wie dargelegt wurde, zu diesen Gründen des "Verantwortungsausschlusses" insbesondere auch die "Innehaltung des Risikos durch den unvorsätzlich einen rechtswidrigen Erfolg verursachenden Täter", so erstreckt sich notwendig auch auf diese die von Rehberg geforderte Gleichbehandlung von zurechnungsfähigen und zurechnungsunfähigen Tätern hinsichtlich der Verhängung sichernder 7 Maurach, a.a.O. 317. Schuldausschließungsgründe sind dagegen nach Maurach nur die Zurechnungsunfähigkeit, das dem Täter unvermeidbare Fehlen

des Unrechtsbewußtseins und bei Fahrlässigkeitsdelikten die persönliche Unvermeidbarkeit der SorgfaItsverletzung (a.a.O. 131). 8 Maurach, a.a.O. 321. • Maurach, a.a.O. 472 f. 10 Maurach, a.a.O. 316. U Maurach, a.a.O. 473. t! Maurach, a.a.O. 486. 7 Roeder

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5. Kapitel: Sozial adäquates Risiko und Schuldunfähigkeit

Maßnahmen, was im übrigen Maurach auch ausdrücklich zu betonen nicht unterläßt13• Die Tatverantwortungslehre wurde im Schrifttum teils beifällig aufgenommen14, teils entweder grundsätzlich15 oder wegen einer anderen Bestimmung des systematischen Standortes des Tatverantwortungsausschlusses18 abgelehnt. Trotz weitgehender Übereinstimmung mit den Forschungsergebnissen Maurachs, insbesondere mit seiner nachdrücklichen Ablehnung der Einhaltung des sozialadäquaten Risikos als Rechtfertigungsgrund, haben auch wir keine Veranlassung, den von uns in der vorangegangenen Untersuchung bezogenen Standpunkt zu verlassen, zumal auch die schon von anderer Seite bemängelte, aus der Aufspaltung der Schuld sich ergebende "Kompliziertheit"17 die Praktikabilität der Tatverantwortungslehre fragwürdig erscheinen läßt. Im übrigen läßt sich aber auch das Hauptanliegen Maurachs und Rehbergs, das Vorliegen gesetzlich anerkannter Ausnahmezustände und die diesen von ihnen gleichgestellte Einhaltung des sozialadäquaten Risikos auch Zurechnungsunfähigen gutzubringen, auf viel einfacherem Wege erfüllen. Ohne mit der überkommenen Schuldlehre in so radikaler Weise zu brechen, wie es die Tatverantwortungslehre tut, braucht man nur davon auszugehen, daß sich auch der zurechnungsunfähige - insbesondere der geisteskranke oder volltrunkene - Täter vorsätzlich und fahrlässig zu verhalten vermag. Da aber eine sinnvolle Wertung nur dem Zurechnungsfähigen, also dem Schuldfähigen möglich ist18, können bei einem Schuldunfähigen Vorsatz und Fahrlässigkeit als die beiden Grundformen, in denen sich strafrechtlich relevantes Verhalten ausprägen kann, nur wertfrei, rein deskriptiv-psychologisch verstanden werden. Gerade bei der in unserer Untersuchung im Vordergrund des Interesses stehenden Fahrlässigkeit ist jedoch ihr normativer Charakter ein rocher de bronze, an dem die herrschende Lehre - mit ihr auch Maurach 10 - unverrückbar festhalten zu müssen glaubt. Ist diese Lehre aber wirklich tabu? Die frühere Strafrechtslehre fand ihren Schuldbegriff auf sehr einfache Weise, indem sie Vorsatz und Fahrlässigkeit als die beiden Maurach, a.a.O. 464. z. B. von Jagusch, LK I 415; Heinitz, JR 1957, S.79; Lange, ZStw 63, S. 492 ff.; ders., ZStW 68, S. 605. lS z. B. von Sauer, Allgemeine Strafrechts lehre 150 11 ; Schönke - Schröder, 13 14

Kommentar 12 f. 18 z. B. von Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte 159 ff.; Maihofer, Rittler-Festschrift 1957, S. 161 f. 11 Eb. Schmidt, JZ 1956, S. 190. 18 Maurach, Schuld und Verantwortung 32. 18 Maurach, AT 485; ders., Schuld und Verantwortung 115, und JuS 1961, S.380.

5. Kapitel: Sozialadäquates Risiko und Schuldunfähigkeit

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"Schuldarten" bestimmte. Da aber nach einem bekannten Satze der Logik der Unterbegriff alle Merkmale des Oberbegriffes an sich trägt und nur noch eines oder einige mehr, kann Gattung nur sein, was die allen Arten gemeinsamen Merkmale enthält. Die Schuld als Gattungsbegriff könnte nach dieser Lehre unmöglich normativen Charakter haben, da dieser unbestritten dem Vorsatz fehlt. Man half sich daher damit, Vorsatz und Fahrlässigkeit in ihre Faktoren zu zerlegen, den gemeinsamen psychologischen Faktor auszuscheiden und als "Schuld" vor die Klammer zu setzen. Das Bestreben, einen einheitlichen, rein psychologischen Schuldbegriff zu gewinnen, ließ daher schon Radbruch in einem viel beachteten Aufsatze den Versuch unternehmen, auch aus der Fahrlässigkeit, um sie dem Vorsatz homogen zu machen, jedes normative Element auszuscheiden und dieses zur Rechtswidrigkeit zu schlagen!O. Er hat mit dieser Lehre freilich einen unrichtigen Weg eingeschlagen, indem er die Schuld in Vorsatz und Fahrlässigkeit sich erschöpfen ließ, während diese in Wahrheit nur (psychologische) Elemente des Schuldbegriffes ausmachen. Denn es bedeutet, wie Graf zu Dohna21 den Ausführungen Radbruchs auch sofort entgegenhielt, eine Vergewaltigung des Sprachgebrauches und des Sprachgefühles, der Schuld ihren normativen Charakter zu nehmen. Schuld enthalte begrifflich ein Element der Mißbilligung (des sittlichen Tadels), wie sich dies besonders aus dem Gegensatz zum Verdienst ergibt. Eine Abkehr von der rein deskriptiv-psychologischen Schuldauffassung und eine Hinwendung zur "normativen Schuldauffassung", nach der wir von "Schuld" erst dann sprechen können, "wenn wir den seelischen Zustand oder Vorgang an einer an die innere Welt des Menschen gerichteten Norm messen"!2, ist bekanntlich an die Namen Reinhard v. Frank 23 , James Goldschmidt24 und Berthold Freudenthal25 geknüpft. Haben die Genannten auch im einzelnen verschiedene Schuldtheorien aufgestellt, so sind sie sich doch in dem Grundgedanken einig, daß sich das Wesen der Schuld nicht in gewissen Formen der Willensverwirklichung, nämlich Vorsatz und Fahrlässigkeit, erschöpfe, die bisher geltende Gleichung: Vorsatz + Fahrlässigkeit = Schuld nicht stimme, daß ZStW'24, S. 333 ff., insb. 344 ff. Graf zu Dohna, GS 65, S. 310. U Beling, Unschuld, Schuld und Schuldstufen im Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch (Leipzig 1910) 7. !3 v. Frank, "Über den Aufbau des Schuldbegriffs" in der von ihm herausgegebenen Festschrift für die Juristische Fakultät in Gießen zum UniversitätsJubiläum 1907, S. 521 ff. 14 Goldschmidt, Oz 4, S. 129 ff. 15 Freudenthai, Schuld und Vorwurf im geltenden Strafrecht (Tübingen 10

Radbruch,

11

.-

1922).

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der Schuldbegriff vielmehr ein zusätzliches normatives Element enthalte, das eine weitgehende Berücksichtigung der Motivationslage des Täters ermögliche. Es komme beim Schuldurteil darauf an, ob nicht die "freie Tatherrschaft" durch eine besondere Lage so beeinträchtigt wurde, daß infolge der fragilitas humana vom Durchschnittsmenschen ein normgemäßes Verhalten nicht mehr erwartet werden konnte. Steht also bei den bisher erwähnten Vertretern der normativen Schuldauffassung der Gedanke der "Zumutbarkeit" (seil. anderen, normgemäßen Verhaltens), der Grundsatz "impossibilium nulla est obligatio" im Mittelpunkt ihrer Lehre, so stellt eine zweite Gruppe von Schriftstellern auf das "Unrechtsbewußtsein" (Bewußtsein der Rechtswidrigkeit, der Pflichtwidrigkeit, Sozialschädlichkeit usw.) des Täters ab. Sie gehen von der Erwägung aus, daß es ungerecht wäre, jemand zu bestrafen, nur weil er einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht hat, mag er sich auch eines Verstoßes gegen eine Norm in keiner Weise bewußt gewesen sein. "Wer sich keiner Verpflichtung bewußt ist, kann sie auch nicht schuldvoll verletzen", wird zu einem in der Schuldliteratur häufig zitierten, von dem Moralphilosophen Georg Simmel26 geprägten Satz. Allein auch die meisten ein Unrechtsbewußtsein zur Schuldzurechnung verlangenden Theoretiker befreiten sich noch nicht von der überkommenen Anschauung, daß in Vorsatz und Fahrlässigkeit die beiden "Schuldarten" zu erblicken seien, weil sie das Unrechtsbewußtsein nicht als ein neben den Vorsatz Tretendes, sondern als dessen Bestandteil betrachten. Sie machen es also umgekehrt wie Radbruch, indem sie nicht aus dem Fahrlässigkeitsbegriff das normative Element ausmerzen, sondern vielmehr einen normativen Bestandteil auch in den Vorsatzbegriff einführen. Sofern die ein Unrechtsbewußtsein als Vorsatzrequisit fordernde Theorie von dem Täter neben dem Wissen und Wollen seiner Tat noch eine bewertende Leistung verlangt, bedeutet sie zweifellos eine normative Schuldauffassung, sofern aber dieses bewertende (normative) Moment nicht als etwas zum Vorsatz Hinzutretendes angesehen wird, sondern als ein Bestandteil des Vorsatzes als einer rein psychischen Aktform, bedeutet sie doch wieder einen Rückfall in die psychologische Schuldauffassung. Insoweit sagt Goldschmidt mit Recht, daß man als Wertmaßstab eines Willensinhaltes nicht diesen Willensinhalt selbst annehmen kann: "Wer den Vorsatz werten will, muß das ihn wertende normative Element neben ihn stellen, nicht es in ihn hineinverlegen, muß die Schuld nicht als Wollen der Pjlichtwidrigkeit, sondern als pjlichtwidriges Wollen, nicht als ,Wollen des Nicht-Sein-Sollenden', sondern als ,nicht-sein-sollendes Wollen' auffassen!7." Z8 G. Simmel, Einleitung in die Moralwissenschaft IS (Stuttgart und Berlin 1911) 260. H Goldschmidt, ÖZ 4, S. 141.

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Den Rückfall in die psychologische Schuldauffassung trotz Festhaltens am Unrechtsbewußtsein als normativem Element vermeidet erst die Schuldlehre Paul MerkeIs. Er erblickt das Wesen des normativ-ethischen Schuldbegriffes in dem "Unwerturteil über eine Person, deren Verhalten mit Einschluß seiner etwaigen Folgen als unrecht, unsozial oder unsittlich angesehen wird und von dem man überzeugt ist, daß sie es ebenso bewertet hat oder hätte bewerten können"28. Sehen wir von der u. E. unrichtigen Begriffsbestimmung ab, daß Schuld ein in den Köpfen anderer steckendes "Unwerturteil" ist - in Wahrheit ist sie etwas "Unwerthaftes", die dem Verhalten des Täters innewohnende, ihm allerdings durch Urteil der Allgemeinheit beigelegte Eigenschaft des Unwertes, der Normwidrigkeit2U - so liegt der Schwerpunkt des Schuldbegriffes P. MerkeIs in der entscheidenden Erkenntnis, daß die Ausrichtung auf ein Unwertbewußtsein, die Beziehung des Täters zur Tat als einem normwidrigen Geschehen, kein Begriffsmerkmal des Vorsatzes, sondern das Wesensmerkmal der Schuld bildet30• Vorsatz und Fahrlässigkeit erschöpfen nach ihm nicht den Begriff der Schuld, beide bilden lediglich die Begleiterscheinungen eines Verhaltens, dem der Schuldvorwurf beigelegt wirds1 . Entschieden muß daher der Auffassung Maurachs widersprochen werden, es sei das große Verdienst der finalen Handlungslehre, "die erste wirklich ,normative' Schuldkonstruktion verwirklicht zu haben"32. Diese "Pionierarbeit", auf der auch die berühmte Entscheidung BGHSt 2, 194 ff., beruht83, ist vielmehr vor allem das Verdienst P. Merkels. Zu seiner Schuldauffassung konnte aber P. Merkel erst dadurch gelangen, daß er nicht nur, wie schon andere (vor allem v. Frank) das in 18 P. MerkeI, Grundriß 94. Vgl. auch P. MerkeIs frühere etwas abweichende Formulierung in ZStW 43, S. 340, und in JW 1924, S. 1679. tu Unwerturteil ist also erst die Feststellung dieses psychischen Sachverhaltes: der Schuldvorwurf. Die letztlich auf die bekannte Formel Graf zu Dohnas, Aufbau 11 ff., 27 ff., der Unterscheidung von "Objekt der Wertung" und "Wertung des Objektes" zurückgehende Auffassung der Schuld als "Werturteil" wird außer von P. Merkel u. a. von Beling, v. Frank, Maurach, Mezger, Niese, Sauer, Eb. Schmidt, Welzel und Erik Wolf vertreten. Sie wird aber als eine Denaturierung des Schuldbegriffes abgelehnt z. B. von Baumann, AT 347; Exner, Fahrlässigkeit 2; Goldschmidt, Frank-Festgabe I, S.431 f.; Hardwig, Zurechnung 187 f.; v. Hippel, Lb II 276; Hirschberg, Schuldbegriff 65 ff.; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip 179; A. Merkel, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts 70; Mittermaier, Kritische Beiträge zur Lehre von der Strafrechts schuld (Gießen 1909) 31; Nowakowski, JBI 1954, S. 138; Rittler, AT 153; Rosenfeld, ZStW 32, S. 4'69; Stooß, SchwZStrR 41, S. 212, sowie Welzel, Neues Bild 40, und Lb 133. Vgl. auch Engisch, Untersuchungen 15 ff. ao P. MerkeI, ZStw 43, S. 336. 11 P. MerkeI, a.a.O. 338. ft Maurach, AT 307. 33 S. u. S. 106, Anm. 48.

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verschiedenen Abstufungen in der bisherigen Schuldtheorie herrschende Dogma: "Vorsatz und Fahrlässigkeit sind die beiden Schuldarten" verwirft, sondern darüber hinaus in Vorsatz und Fahrlässigkeit nur die Formen erblickt, "in denen allein schuldhafte Taten begangen werden können"34. Vorsatz und Fahrlässigkeit sind also nach P. Merkel völlig wertfreie, ethisch-normativ farblose Kategorien, keine rechtlichen oder gar strafrechtlichen Begriffe. Und unzweifelhaft gibt es sowohl vorsätzliche wie fahrlässige Handlungen, die zivil- oder strafrechtlich bedeutungslos sind. Nicht nur der Wilddieb, sondern auch der Jagdberechtigte kann ein Stück Wild vorsätzlich oder fahrlässig töten; nicht nur eine fremde, sondern auch eine eigene Sache kann ich vorsätzlich oder fahrlässig beschädigen. "Wenn ich z. B. mir eine Zigarre anzünde, so handle ich, psychologisch betrachtet, offenbar ebenso vorsätzlich wie wenn ich ein Haus anzünde, und wenn ich in eine wichtige Arbeit vertieft die Zigarre ausgehen lasse, so ist dies wiederum psychologisch angesehen ebenso eine Fahrlässigkeit wie wenn der Türmer ein von ihm zu bedienendes Signalfeuer ausgehen läßt35." Der völlig wertfreie Charakter von Vorsatz und Fahrlässigkeit bringt es mit sich, daß sie auf dem Gebiete der Schuld ebenso eine Rolle spielen wie auf dem Gebiete des Verdienstes. Man kann vorsätzlich schuldhaft und vorsätzlich verdienstlich handeln, man kann fahrlässig Unheil und fahrlässig Segen stiften88,87. P. Merkel, a.a.O. 34'1. Vocke, ZStW 48, S. 270. VgI. auch v. Frank, ZStW 10, S.207: "Die Begriffe Vorsatz und Fahrlässigkeit werden nicht erst durch das Recht geschaffen, sondern von ihm vorgefunden und benutzt. Kann ich nicht mem.e lI'aschenuhr vorsätzlich oder fahrlässig ins Wasser fallen lassen? Und doch gibt es keine Norm, die mir das eine oder andere verbietet!" Ähnlich v. Lobe, DRiZ 5, S. 151. Für einen "rein psychologischen" Vorsatz bzw. Fahrlässigkeitsbegriff tritt auch schon Graf zu Dohna mit der Wendung ein: "Es ist ... zweifellos, daß ... ein Unzurechnungsfähiger zwar vorsätzlich oder fahrlässig, nicht aber pflichtwidrig und deshalb nicht schuldhaft handeln kann" (ZStW 32, s. 336). S. auch die Ausführungen Kade~kas in ZStW 48, S. 626 ff. und JBI 1935, S.7. Was den Vorsatz betrifft, so kann auch der der Handlung einverleibte Vorsatzbegriff der finalen Handlungslehre als "schuldindifferent" und als "wertfrei" bezeichnet werden; er ist daher auch bei Zurechnungsunfähigen vorhanden (Welzel, ZStW 58, S.522 44 , 531). Ja Welzel räumt sogar ausdrücklich die Möglichkeit einer "natürlichen", d. i. wertfreien bewußten Fahrlässigkeit ein (ZStW 58, s. 56089); daß aber diese Möglichkeit, u. zw. auch für die unbewußte Fahrlässigkeit keineswegs "praktisch unverwertbar" und "überflüssig" (a.a.O. 563) ist, ergibt sich wohl aus unserer Untersuchung von selbst, wenn man vor allem die Frage des sozialadäquaten Risikos nicht wie Welzel innerhalb des Unrechts-, sondern des Schuldsektors entscheidet. So auch Finger, GS 72, S. 264. Wenn Finger sich allerdings selbst den Einwand macht, daß die Bezeichnung der psychischen Beziehung eines Menschen nicht zu einem verpönten, sondern auch zu einem erwünschten Erfolg als fahrlässig "wohl nicht der Logik, aber dem Sprachgefühle zuwider" sei, so erscheint uns dieses Bedenken unbegründet. Etymologisch bedeutet fahrlässig, das sich nach Mittermaier, Kritische Beiträge zur Lehre von der Strafrechtsschuld 333, aus "fahrlos", ohne vare (absque dolo) herleitet, nichts anderes als "ohne Vorsatz"; ebenso HaU, Fahrlässigkeit im Vorsatz 26. Und n.ach U

11

a.

5. Kapitel: Sozialadäquates Risiko und Schuldunfähigkeit

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Wie der wertfreie Vorsatzbegrüf nichts weiter bedeutet als Kenntnis der für die Tat wesentlichen Lebenskonkreta (intellektuelles Moment), verbunden mit dem Wollen ihrer Begehung (emotionales Moment), so ist Fahrlässigkeit bei rein deskriptiv-psychologischer Betrachtungsweise lediglich die Nichtvoraussicht (Nichterkenntnis) des nach den Umständen und nach den persönlichen Verhältnissen des Täters voraussehbaren (erkennbaren)38 Erfolgseintrittes (unbewußte Fahrlässigkeit) bzw. das Vertrauen auf den Nichteintritt des Erfolges trotz Erwägung seines möglichen Eintrittes (bewußte Fahrlässigkeit)II, 60. Kadei!ka, zStW 53, S. 135 f., ist "fahrlässig" eine entstellte Form des mittel-

hochdeutschen Adjektivums "warlös" und bedeutet achtlos, unaufmerksam, unachtsam. VergI. zur Etymologie des Wortes Fahrlässigkeit auch Köhler, Fahrlässigkeit 2 f. - Hirschberg, Schuldbegriff 55 f., stellt, da die Konstatierung fahrlässigen Verhaltens immer einen "Beigeschmack negativer Kritik" enthält, der Fahrlässigkeit den wertungsfreien Begriff "Versehen" gegenüber. Wer daher an einem wertfreien Fahrlässigkeitsbegriff Anstoß nimmt, möge ihn durch den Ausdruck "Versehen" oder "Unvorsätzlichkeit" ersetzen, an der Sache selbst ändert sich dadurch nichts; es kommt uns ja auf die Sache an und nicht auf das Wort. ~7 Als Beispiel einer segenstiftenden Fahrlässigkeit möge folgendes Beispiel dienen: Ein Arzt verschreibt einem Patienten infolge einer Fehldiagnose eine Arznei gegen die Krankheit A, obwohl er an der Krankheit B leidet. Der Apotheker gibt dem Patienten versehentlich die für die Heilung der Krankheit B indizierte Arznei. P. Merkel, zstw 43, S. 341, führt als Beispiel einer unerwartet zum Guten ausschlagenden Fahrlässigkeit einen Fabrikationsfehler an, der zu einer segensreichen Erfindung führt. VgI. auch das von Hirschberg, Schuldbegriff 53, angeführte Beispiel. aa Eine f1E'ta~aaL~ Et~ li1.J.o YEVO~, ein Hinüberwechseln vom Psychologischen ins Normative ist es bereits, wenn man, wie dies in Fahrlässigkeitsdefinitionen häufig geschieht, anstatt von einer "Voraussehbarkeit" (Erkennbarkeit) des Erfolges von dessen "Vermeidbarkeit" spricht. Denn auch "vermeidbar" hat den "Beigeschmack" eines nicht nur die Tat, sondern auch den Täter treffenden negativen Werturteils. a. Vom Vorsatz unterscheidet sich darnach die Fahrlässigkeit dadurch, daß bei ihr immer (in positiver Form; s. o. S. 50) das emotionale, bei der unbewußten Fahrlässigkeit auch das intellektuelle Moment fehlt. Auch die wertfreie, rein psychologische Bestimmung der Fahrlässigkeit (Fahrlässig handelt - in Anlehnung an dde Fassung des StGB-Entw. 1962 -, wer nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen hätte voraussehen können, daß er den gesetzlichen Tatbestand verwiJrkliJchen werde, oder, obwohl er das für möglich hält, darauf vertraut, daß die Verw,irkldchung nicht eintreten werde) knüpft in Übereinstimmung mit der in Theor·ie und Pooxis herrschenden Meinung (s. o. S. 51 ff.) das Vorliegen der F1ahrlässigkeit a·n eine objektive ("nach den Umständen") und eine subjektive ("nach den' persönlichen Verhältndssen des Täters") Voraussetzung. Das Voraussehen-Können des Erfolges betrifft aber lediglich die psycholog,ische Frage der objektiven (realen) Möglichkeit des Täters, zur Kenntnis der Tatbestandsverwirklichung zu gelangen; erst die Bejahung dieses psychischen Sachverhaltes bildet die Voraussetzung der normativen Frage des Voraussehen-Sollens nach Maßgabe des anhand des Normalmaßstabes zu bewertenden Unrechtsbewußtseins des Täters. Zum Begriff der "objektiven (realen) Möglichkeit" vgI. Engisch, Untersuchungen 412 f., und das dort angeführte Schrifttum. co Der Meinung, es sei mit dem Begriff der Fahrlässigkeit derjenige der

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So klar und überzeugend auch die Grundgedanken von P. Merkels Schuldlehre sind - er scheint uns doch bei der Scheidung des Psychologischen vom Normativen zu weit zu gehen, wenn er den Schuldinhalt im normativen Moment allein sich erschöpfen läßt. Denn die beiden Formen (Stufen oder Grade) der Schuld sind nach ihm 1. das Schuldbewußtsein und 2. der vermeidbare Mangel des Schuldbewußtseins (die Möglichkeit des Schuldbewußtseins): Schuldhaft sind Vorsatz und Fahrlässigkeit nur dann, "wenn der Täter wußte oder wissen konnte, daß sein Verhalten und dessen Folgen als unrecht, unsozial oder unsittlich bewertet werden