Die Durchsetzung von EU-Recht durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Stellvertretende Verfassungsgerichtsbarkeit zur Effektivierung des Individualrechtsschutzes [1 ed.] 9783428547999, 9783428147991

Individualrechte aus dem EU-Recht müssen gerade gegenüber den Mitgliedstaaten der EU wirksam durchsetzbar sein. Philipp

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Die Durchsetzung von EU-Recht durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: Stellvertretende Verfassungsgerichtsbarkeit zur Effektivierung des Individualrechtsschutzes [1 ed.]
 9783428547999, 9783428147991

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Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel

Band 201

Die Durchsetzung von EU-Recht durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Stellvertretende Verfassungsgerichtsbarkeit zur Effektivierung des Individualrechtsschutzes

Von

Philipp Tamme

Duncker & Humblot · Berlin

Philipp Tamme

Die Durchsetzung von EU-Recht durch den Europäischen Gerichshof für Menschenrechte

Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel In der Nachfolge von Jost Delbrück herausgegeben von Andreas von Arnauld, Nele Matz-Lück und K e r s t i n v o n d e r D e c k e n Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht

201

Völkerrechtlicher Beirat des Instituts: Christine Chinkin London School of Economics James Crawford International Court of Justice, The Hague Lori F. Damrosch Columbia University, New York Rainer Hofmann Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a.M. Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis Eibe H. Riedel Universität Mannheim

Allan Rosas Court of Justice of the European Union, Luxemburg Bruno Simma Iran-United States Claims Tribunal, The Hague Daniel Thürer Universität Zürich Christian Tomuschat Humboldt-Universität, Berlin Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Stiftung für Internationalen Frieden und Rechtsstaatlichkeit, Heidelberg

Die Durchsetzung von EU-Recht durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Stellvertretende Verfassungsgerichtsbarkeit zur Effektivierung des Individualrechtsschutzes

Von

Philipp Tamme

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 1435-0491 ISBN 978-3-428-14799-1 (Print) ISBN 978-3-428-54799-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-84799-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

« La justice sans la force est impuissante; la force sans la justice est tyrannique. La justice sans force est contredite, parce qu’il y a toujours des méchants. La force sans la justice est accusée. Il faut donc mettre ensemble la justice et la force, et pour cela faire que ce qui est juste soit fort ou que ce qui est fort soit juste. » Blaise Pascal (1623–1662), Pensées*

* Zitiert nach Pascal, Œuvres complètes, II (édition présentée, établie et annotée par Michel Le Guern), Gallimard, Paris 2000, S. 571, Nr. 94.

Vorwort Freude, schöner Götterfunken! Verbunden mit Dankbarkeit und einer gewissen Erleichterung markiert diese Freude die Vollendung einer längeren Reise durch die Europarechtswissenschaft, auf die mich die vorliegende Arbeit geführt hat. Ihr an den Schnittstellen von EU-Recht und EMRK gelegenes Thema bündelt wie ein Brennglas zentrale Fragen von Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit, anhand derer deutlich wird, welche enorme Bedeutung der Gründung Europas auf das Recht zukommt – ein Fundament, das bewahrt und gestärkt werden muss. Die Arbeit geht in ihren wesentlichen Grundzügen auf meine Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kieler Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht zurück. Sie wurde im Wintersemester 2013/2014 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen und 2016 mit dem Förderpreis des Kieler Doctores Iuris e. V. ausgezeichnet. Für die Drucklegung wurde die Schrift noch einmal umfassend aktualisiert. Sofern nicht anders angegeben, befinden sich Rechtsprechung und Literatur einschließlich der Internetquellen damit auf dem Stand vom April 2017. Allen, die zum Gelingen meines Promotionsvorhabens beigetragen haben, danke ich herzlich für ihre Unterstützung und ihren Zuspruch. Besonderer Dank gebührt zunächst meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. (Virginia), der nicht nur das Thema angeregt, sondern die Entstehung der Arbeit auch sehr interessiert und mit wertvollen Hinweisen auf neue Entwicklungen begleitet hat. Bei Frau Prof. Dr. Kerstin von der Decken (vormals Odendahl) bedanke ich mich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Ihr, Herrn Prof. Dr. Andreas von Arnauld und Frau Prof. Dr. Nele Matz-Lück danke ich außerdem für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe des Walther-SchückingInstituts. Gedankt sei ebenso meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen am Institut, die mir während meiner dortigen Tätigkeit verbunden waren, insbesondere Frau Dr. Berenike Schriewer und Herrn Dr. Tobias Thienel, LL.M. (Edinburgh), für fruchtbare Diskussionen. Ferner gilt mein Dank der Gesellschaft zur Förderung von Forschung und Lehre am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht e. V. und der „Immanuel Kant-Stiftung – Europas Erbe als Auftrag“. Sie haben für die Veröffentlichung der Arbeit freundlicherweise großzügige Druckkostenzuschüsse gewährt. In die Danksagung einschließen möchte ich gleichfalls die Studienstiftung des deutschen Volkes sowie Frau Prof. Dr. Dorothee Einsele und Herrn

8

Vorwort

Prof. Dr. Haimo Schack, LL.M. (Berkeley), vom Institut für Europäisches und Internationales Privat- und Verfahrensrecht der Universität Kiel, die mich während des Studiums und danach gefördert haben. Festen Rückhalt auch in der Promotionszeit, die mitunter Ausdauer, Geduld und Disziplin auf die Probe stellte, habe ich bei meiner Familie gefunden. Insbesondere meine Eltern, Dr. Karl und Sabine Tamme, haben mich in vielfältiger Weise unterstützt. Mein Vater hat sich zudem mit großem Interesse der Aufgabe des Korrekturlesens angenommen. Auch mein Bruder, Dr. Johannes Alexander Tamme, stand mir hilfreich zur Seite. Für all dies bin ich ihnen sehr dankbar. Meinen Eltern, die mir meinen Weg ermöglicht haben, widme ich diese Arbeit. Kiel, im Februar 2018

Philipp Tamme

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Grundlagen

33

A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kontext und Aufriss des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zielsetzung und Schwerpunkte der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33 33 37 38

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorgaben in Art. 19, 32 und 53 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auslegung der EMRK nach Art. 31 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlinien des Art. 31 WVK und gemeinsame Standards der Vertragsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Systemische Integration gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK . . . . . . . . . . a) Europarechtsnormen als Völkerrechtssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vertragsauslegung zwischen Homogenität und Differenzierung . . . aa) Problemstellung und Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vertragsspezifische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zur Auslegungspraxis des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verweis der EMRK auf konventionsfremdes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 39 42 43 44 45 46 46 49 51 54

C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde, Art. 34 f. EMRK I. Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Opfereigenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Beschwerdefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Unzulässigkeitsgründe des Art. 35 Abs. 2, 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 59 61 63 65

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch einen Beitritt der EU zur EMRK . . . . . . I. Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beitrittsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konkrete Ausgestaltung und Auswirkungen eines Beitritts . . . . . . . . . . . . . 1. Externe konventionsrechtliche Vollkontrolle durch den EGMR . . . . . . . 2. Wirkung in der Unionsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mitbeschwerdegegner-Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorabbefassung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Strukturelle Anpassung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

68 68 72 75 75 78 80 83 88

10

Inhaltsverzeichnis Teil 2 Verfahrensrechte

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV . . . I. Das Vorabentscheidungsverfahren als Schlüsselelement des EU-Rechtsschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Funktion und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorlagegegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gültigkeitsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sonderregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorlageberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Reichweite und Rechtscharakter der europarechtlichen Vorlagepflicht . . . . 1. Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte bei Auslegungsfragen . . . . . . a) Letztinstanzlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vorlagepflicht aller mitgliedstaatlichen Gerichte bei Gültigkeitsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der subjektiv-rechtliche Gehalt von Art. 267 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Sanktionierbarkeit von Verstößen gegen die Vorlagepflicht nach Europarecht und nationalem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Praktischer Sanktionierungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europarechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragsverletzungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staatshaftung für judikatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mitgliedstaatliches Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Recht auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG (1) Prüfungsmodalitäten des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Analyse im Vergleich mit der Rechtsprechung des EuGH . (3) Europarechtliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Grundgesetzliche Anforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Materielle Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Tschechische Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Slowakei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Slowenien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Sonstige Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 91 91 91 95 95 98 100 101 104 104 104 106 108 112 113 113 115 115 118 119 119 119 120 123 125 128 131 135 136 137 138 139 140 141

Inhaltsverzeichnis

IV.

4. Zwischenergebnis zu III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Beachtung der Vorlagepflicht als Erfordernis eines fairen Verfahrens, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen . . . . b) Verfahren über strafrechtliche Anklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zuordnungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Praxis der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Züchner ./. Deutschland (1987) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidung der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Brighina ./. Deutschland (1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidung der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Société Divagsa ./. Spanien (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidung der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) F. S. und N. S. ./. Frankreich (1993) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidung der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Spiele ./. Niederlande (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidung der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Skandinavisk Metallförmedling AB ./. Schweden (1998) . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidung der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Fälle vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Desmots ./. Frankreich (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schweighofer et al. ./. Österreich (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 142 143 143 143 145 146 147 147 147 148 148 149 149 150 151 153 153 153 154 155 155 156 157 158 158 158 159 161 161 161 162 163 163 163 164 165 166 166 167

12

Inhaltsverzeichnis cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Dotta ./. Italien (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Moosbrugger ./. Österreich (2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Canela Santiago ./. Spanien (2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Bakker ./. Österreich (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Pedersen und Pedersen ./. Dänemark (2003) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Junnila ./. Finnland (2004) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Matheis ./. Deutschland (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Kefalas et al. ./. Griechenland (2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ausgangsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) John ./. Deutschland (2007) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Herma ./. Deutschland (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

168 169 169 169 170 171 171 172 172 173 173 174 174 175 175 176 178 181 181 182 183 186 186 187 188 188 188 189 190 193 193 193 195 196 200 200 201 202 207 207

Inhaltsverzeichnis

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bb) Ausgangslage im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . m) Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien (2011) . . . . . . . . . . . . . . aa) Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Nationale Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Straf- und Zivilverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verwaltungs- und verfassungsgerichtliches Verfahren . . . . . cc) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Urteil des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . n) Dhahbi ./. Italien (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . o) Schipani et al. ./. Italien (2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Langjährige Ineffektivität des konventionsrechtlichen Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Leitlinien der konventionsrechtlichen Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entwicklungen bei der Ausgestaltung der Willkürprüfung . . . . d) Die begrenzte Wirkung der Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Einfluss weiterer Verfahrensgarantien: Art. 7 Abs. 1 und Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Möglichkeiten zur Verbesserung des Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mitgliedstaatliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konventionsrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verschärfung der Willkürkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonstige Anpassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unionsrechtliche Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

240 243 243 244 245 247 249 256

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997) . . . . . . . . . . . I. Sachverhalt und Ausgangsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahren vor der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257 257 259 259

V.

207 208 209 210 213 213 214 214 215 215 215 216 219 224 224 225 226 228 228 229 231 234 234 234 235 238

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Inhaltsverzeichnis 2. Bericht gemäß Art. 31 EMRK a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Urteile des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfahren und Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Entschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bewertung und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Europarechtliche Rechtslage und Implementierungsproblematik . . . . . . 2. Der EGMR als Katalysator für die Urteilsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . a) Konventionsrechtliche Anforderungen gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nationale und europäische Urteile als potentielle Vollzugsgegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Mögliche Schiedsrichterfunktion des EGMR zwischen EuGH und nationalen Höchstgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260 261 261 261 263 264 265 266 266 268 268 270 272 276

Teil 3 Rechte aus europäischen Richtlinien A. Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. S. A. Dangeville ./. Frankreich (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren und Rechtslage in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Primärrechtsweg vor dem Conseil d’État . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Hintergrund: Die Entwicklung der französischen Rechtsprechung hinsichtlich der innerstaatlichen Durchsetzung des Europarechts . . . aa) Die Cohn-Bendit-Rechtsprechung und ihre Folgen . . . . . . . . . . . bb) Das frühere Kontrolldefizit gegenüber Parlamentsgesetzen und nachrangigem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Wende zur Europarechtsfreundlichkeit seit dem NicoloUrteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konsequenzen für den Primärrechtsschutz in der Ausgangssituation d) Die Unzulässigkeit des Staatshaftungsbegehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ablauf des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Begründung des Regierungskommissars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtslage nach Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anwendung im Ausgangsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278 279 279 279 280 280 281 281 284 285 288 289 289 291 294 294 294 296

Inhaltsverzeichnis b) Ansprüche aus Staatshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundlagen und Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Anspruchsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Legislatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Administratives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Judikatives Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Urteil des Conseil d’État von 1986 . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Urteil des Conseil d’État von 1996 . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis zu b) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Verfahren vor den Konventionsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verstoß gegen Art. 1 ZP 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzliche Grundlage und Vorliegen von Allgemeininteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gerechter Interessenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verstoß gegen Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 1 ZP 1 . . . . . . . . . . . . . . . . d) Entschädigung und Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Analyse, Reaktionen, Bewertung und Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . a) Identifizierung der Eigentumsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausrichtung der Rechtfertigungsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Indirekte Sanktionierung der Verstöße gegen die Vorlagepflicht . . . d) Kompetenzabgrenzung zum EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vorreiterrolle des EGMR bei der Ahndung judikativen Unrechts? . f) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich (2003) . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt und Besonderheiten im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Europarechtliche Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Vereinbarkeit von Art. L. 190 LPF mit dem Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vorliegendes Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung des Urteils des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich (2007) . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 298 298 300 301 302 303 304 305 310 310 310 311 311 315 316 318 320 321 322 324 324 327 329 331 334 336 337 338 339 339 341 342 342 343 345 347 348 348

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Inhaltsverzeichnis 2. Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sondervotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Europarechtliche Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung des Urteils des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Iovit¸oni et al. ./. Rumänien (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt und innerstaatliche Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Europarechtliche Rechtslage und nationale Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349 349 350 351 352 353 356 359 359 360 362 363

B. Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Umweltinformationen: Guerra et al. ./. Italien (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt und umweltrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren vor der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeitsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bericht gemäß Art. 31 EMRK a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sondervoten zum Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Urteil des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuständigkeit und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Materielle Konventionsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Analyse und Bedeutung des Falles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Informationsgewährleistungen und weitere individualschützende Normen in europäischen Umweltrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Umweltrechtliche Vollzugsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Abhilfeoptionen auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene . . . d) Subsidiärer Umweltrechtsschutz nach Maßgabe der EMRK . . . . . . . aa) Potential und Grenzen konventionsrechtlicher (Vollzugs-)Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rolle von Umweltrechten bei Auslegung und Anwendung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit zu I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Umweltverträglichkeitsprüfung: Giacomelli ./. Italien (2006) . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt und innerstaatliches Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einschlägige europäische und italienische UVP-Vorschriften . . . . . . . . . a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

366 366 366 369 369 369 371 372 372 372 373 374 375

IV.

375 378 380 384 384 386 390 391 391 393 393 395

Inhaltsverzeichnis 3. Der Fall vor den Konventionsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfahren und Parteivorbringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Materielle Ausführungen des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 396 396 397 399 400

C. Ergebnis zu Teil 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Teil 4 Freizügigkeitsrechte A. Europarechtliche Freizügigkeitsrechte im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ökonomischer Ursprung und anschließende Generalisierung . . . . . . . . . . . II. Unionsbürgerschaftliches allgemeines Freizügigkeitsrecht (Art. 21 Abs. 1 AEUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zum freizügigkeitsrechtlichen Status von Drittstaatsangehörigen . . . . . . . . IV. Das Regime der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Assoziationsrechtliche Ausgangsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Yildiz ./. Österreich (2002) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Yagiz ./. Österreich (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Caglar ./. Deutschland (2000) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahren vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtslage und Bewertung nach europäischem Assoziationsrecht . . . . a) Existenz einer assoziationsrechtlichen Rechtsposition . . . . . . . . . . . . b) Anforderungen an die Entziehung des Aufenthaltsrechts . . . . . . . . . 3. Schutzwirkung von Art. 8 EMRK und Folgen für die Durchsetzbarkeit des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundlinien des Schutzbereichs des Rechts auf Achtung des Privatund Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtfertigung von Eingriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Einbeziehung des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Zugrundeliegende Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Maßgeblicher Anknüpfungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

405 405 405 408 411 414 416 416 417 417 417 418 419 419 420 421 421 422 423 423 424 427 428 430 430 433 433 434

18

Inhaltsverzeichnis (3) Konvergenz- und Divergenzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere konventionsrechtliche Garantien in ZP 4 und ZP 7 . . . . . . . . . . a) Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger, Art. 3 Abs. 1 ZP 4 b) Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern, Art. 4 ZP 4 . . . . . c) Verfahrensrechtliche Schutzvorschriften, Art. 1 ZP 7 . . . . . . . . . . . . . II. Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich (2006) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachverhalt und nationales Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einschlägige europarechtliche und französische Vorschriften . . . . . . . . . 3. Prüfung durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. 13 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sondervotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sonstige Freizügigkeitskomponenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Interne Freizügigkeit, Art. 2 Abs. 1 ZP 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausreisefreiheit, Art. 2 Abs. 2 ZP 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einreisefreiheit: Rückkehr- und Nachzugsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 3 Abs. 2 ZP 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gleichbehandlung: Art. 14 EMRK und Art. 1 ZP 12 . . . . . . . . . . . . . . . . .

436 438 439 439 440 441 442 442 443 445 445 446 446 448 449 449 450 453 453 454 455 455 456 458

C. Ergebnis zu Teil 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Teil 5 Politische Rechte A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1 . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die historische Genese des Europawahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Anfänge des gemeinschaftlichen Parlamentarismus . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einführung der Direktwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom Maastrichter Vertrag zum Wahlverfahren nach gemeinsamen Grundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die gegenwärtige Ausgestaltung des unionsrechtlichen Wahlgrundrechts . 1. Grundrechtscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einzelne Wahlrechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

462 462 463 463 465 468 470 470 473 473

Inhaltsverzeichnis b) Unmittelbare Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Freie und geheime Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Gleiche Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Geschriebenes Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Gleichheit der Wahl als allgemeiner Rechtsgrundsatz . . . . 3. Das Europawahlrecht im Wohnsitzmitgliedstaat, Art. 22 Abs. 2 AEUV III. Allgemeine Gewährleistungen durch Art. 3 ZP 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Matthews ./. Vereinigtes Königreich (1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund und Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verfahren vor der EKMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Urteil des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konventionsrechtliche Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendbarkeit von Art. 3 ZP 1 auf das Europäische Parlament . . . c) Art. 56 Abs. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Konventionsrechtliche Prüfung des Ausschlusses Gibraltars von der Europawahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sondervotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung und allgemeine Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Folgeentwicklungen: Der schwierige Umgang mit dem Matthews-Urteil . 1. Erste Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das neue britische Wahlrecht für Gibraltar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der spanisch-britische Streit im Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zuerkennung des Europawahlrechts an QCC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anschluss des Gebietes von Gibraltar an einen britischen Wahlbezirk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Analyse des Verhältnisses von europäischem Wahlgrundrecht und Anhang I DWA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konventionskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rein nationale Wahlrechtsgrundlage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Primärrechtliche Normenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Europäisches Wahlgrundrecht als vorrangige lex posterior . . . . . . . e) Die Anwendbarkeit von Anhang I DWA in Bezug auf Drittstaatsangehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Anknüpfung der Wahlberechtigung nach dem Lissabon-Vertrag . . . . . 1. Änderungen des Primärrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Mitgliedstaatliche Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wandel der EuGH-Rechtsprechung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mitgliedstaatlicher Spielraum bei Ein- und Ausbürgerung . . . . . . . . . . .

19 477 479 480 480 484 488 492 497 498 500 501 501 504 506 507 508 509 513 513 514 516 516 517 518 519 520 521 522 523 524 525 525 526 527 528

20

Inhaltsverzeichnis VII. Durchsetzung des Europawahlrechts zugunsten mobiler Unionsbürger . . . . 1. Konventionsrechtsschutz gegen Eingriffe im Wohnsitzmitgliedstaat . . . a) Der staatsangehörigkeitsbasierte Volksbegriff des Art. 3 ZP 1 . . . . . b) Die europarechtsgeprägte Modifikation des Volksbegriffs . . . . . . . . . 2. Konventionsrechtsschutz bei Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat . VIII. Ergebnis zu A. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

530 530 531 532 535 536

B. Politische Betätigungsrechte und Art. 10 EMRK: Piermont ./. Frankreich (1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sachverhalt und nationale Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verfahren vor den Konventionsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bericht der EKMR und Sondervoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Urteil des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freizügigkeit gemäß Art. 2 ZP 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK . . . . . c) Sondervotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Urteilsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Europarechtliche Rechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Konventionsrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Restriktive Handhabung der Ausnahmeklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

537 537 539 539 539 541 541 542 544 545 545 548 548 549 551

C. Parlamentarische Immunität und Art. 8 EMRK: Marchiani ./. Frankreich (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sachverhalt und Ausgangsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ablauf des Verfahrens vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Europarechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Positionen der Verfahrensbeteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unklarheit der Europarechtslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Prüfung durch den EGMR anhand von Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Konventionsrechtliche Bewertung und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzesqualität der Eingriffsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Insbesondere: Sanktionierbarkeit des Verstoßes gegen die Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Implikationen für den Konventionsrechtsschutz der Europaabgeordneten gegen freiheitsentziehende Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

553 553 555 556 556 557 558 559 561 561 563 565

D. Grenzüberschreitende Parteienfinanzierung und Art. 11 EMRK: Parti nationaliste basque – Organisation régionale d’Iparralde ./. Frankreich (2007) . 567 I. Sachverhalt, französisches Recht und innerstaatliches Verfahren . . . . . . . . . 568

Inhaltsverzeichnis II.

Grundlagen des Verfahrens vor dem EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zulässigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Parteivorbringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Positionen anderer Institutionen des Europarates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Europarechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Recht europäischer politischer Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kapitalverkehrsfreiheit, Art. 63 ff. AEUV (Art. 56 ff. EGV) . . . . . . . . a) Anwendbarkeit und Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Eingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ergebnis zu III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Materielle Beurteilung durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwendbare Konventionsrechte und Eingriffsqualität . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sondervotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Kritische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schwächen der konventionsrechtlichen Prüfung des EGMR . . . . . . . . . 2. Unterlassene Einbeziehung des Europarechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Selbstbeschränkung des EGMR als Rechtsschutzhindernis . . . . . . . . . .

21 569 569 570 571 573 573 574 575 576 576 579 580 580 581 583 584 584 585 587

E. Ergebnis zu Teil 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Teil 6 Zusammenfassung der Ergebnisse

591

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676

Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. ABl. Abs. AC AEUV a. F. AFDI AG AJDA AJIL AK Anm. AnwBl AöR APuZ ARB 1/80 ArbGG Art. ATS Aufl. AVR Az. BayVBl. BB Bd. BeamtVG

Begr. belg. Berkeley JIL Beschl. betr. bf.

anderer Ansicht am angegebenen Ort Amtsblatt der Europäischen Union/Gemeinschaften Absatz Law Reports des Incorporated Council of Law Reporting (England und Wales), Teilserie Appeals Cases Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung Annuaire Français de Droit International Aktiengesellschaft L’Actualité juridique – Droit administratif American Journal of International Law Athinaïki Khartopoiia Anmerkung Anwaltsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Aus Politik und Zeitgeschichte Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrates v. 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation Arbeitsgerichtsgesetz Artikel Österreichischer Schilling Auflage Archiv des Völkerrechts Aktenzeichen Bayerische Verwaltungsblätter Betriebs-Berater Band Gesetz über die Versorgung der Beamten und Richter in Bund und Ländern (Beamtenversorgungsgesetz) i. d. F. der Bekanntmachung v. 24.10. 1990 Begründer belgisch Berkeley Journal of International Law Beschluss betreffend beschwerdeführend

Abkürzungsverzeichnis Bf. BFHE BGB BGBl. BGH BGHZ BKR bspw. BT-Drs. BÜ-E

bulg. BVerfG BVerfGE BVerfGG BVerfG-GO BVerfGK BVerwG BVerwGE B-VG BWahlG bzw. ca. CCFP CCPR CD

CDE CGI CMLR CPP ders. DevG d. h. dies. Diss. DKK

23

Beschwerdeführer Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht beispielsweise Drucksache des Deutschen Bundestages Beitrittsübereinkunft (Entwurf) – Draft revised agreement on the accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms/Projet révisé d’accord portant adhésion de l’Union européenne à la Convention de sauvegarde des droits de l’homme et des libertés fondamentales bulgarisch Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Gesetz über das Bundesverfassungsgericht (Bundesverfassungsgerichtsgesetz) Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Bundes-Verfassungsgesetz (Österreich) Bundeswahlgesetz beziehungsweise circa Commission nationale des comptes de campagnes et des financements politiques International Covenant on Civil and Political Rights Collection of Decisions of the European Commission of Human Rights/ Recueil de décisions de la Commission européenne des droits de l’homme Cahiers de droit européen Code général des impôts Common Market Law Review Code de procédure pénale derselbe Bundesgesetz über die Devisenbewirtschaftung (Österreich) das heißt dieselbe/n Dissertation Dänische Krone

24 DM Doc. DÖD Dok. DÖV DPR

Abkürzungsverzeichnis

Deutsche Mark Document Der Öffentliche Dienst Dokument Die Öffentliche Verwaltung Decreto del Presidente della Repubblica (Dekret des italienischen Staatspräsidenten) DR European Commission of Human Rights, Decisions and Reports/Commission européenne des droits de l’homme, Décisions et rapports DRiZ Deutsche Richterzeitung DStR Deutsches Steuerrecht DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt DWA Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments/der Versammlung (Direktwahlakt) EAG Europäische Atomgemeinschaft EAGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft EAJ-PNV Eusko Alderdi Jeltzalea – Partido Nacionalista Vasco EB-E Erläuternder Bericht (Entwurf) – Draft explanatory report to the Agreement on the Accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms/Projet de rapport explicatif à l’Accord portant adhésion de l’Union européenne à la Convention de sauvegarde des droits de l’homme et des libertés fondamentales EEA Einheitliche Europäische Akte EEC Treaty establishing the European Economic Community EG Europäische Gemeinschaft/en EGKS Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGKSV Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR-VerfO Verfahrensordnung (Règlement de la Cour/Rules of Court) des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EHRLR European Human Rights Law Review EJIL European Journal of International Law EJLS European Journal of Legal Studies EKMR Europäische Kommission für Menschenrechte ELRev. European Law Review EMRK Europäische Menschenrechtskonvention (amtlich: Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten) endg. endgültig engl. englisch Entsch. Entscheidung EPL European Public Law

Abkürzungsverzeichnis EPRA estn. ETA et al. etc. EU EuConst EuG EuGH EuGH-VerfO EuGRZ EuR EurUP EUV EuWG EuZW EVG EVV EWCA Civ EWG EWGV EWiR EWR EWS EZB f. FF ff. FGO finn. Fn. frz. FS FYBIL GA GASP geb. GG ggf.

25

European Parliament Representation Act 2003 estnisch Euskadi Ta Askatasuna et alii et cetera Europäische Union European Constitutional Law Review Gericht (erster Instanz) Gerichtshof der Europäischen Union/Gemeinschaften Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union/Gemeinschaften Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europarecht Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht Vertrag über die Europäische Union Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz) Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Verteidigungsgemeinschaft Europäischer Verfassungsvertrag (Vertrag über eine Verfassung für Europa) Court of Appeal of England and Wales, Civil Division (Ordnungsnummer) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäischer Wirtschaftsraum Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht Europäische Zentralbank folgende Französischer Franc fortfolgende Finanzgerichtsordnung finnisch Fußnote französisch Festschrift Finnish Yearbook of International Law Generalanwalt Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geboren Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls

26 GK GLJ GPR gr. GRC GRD GRUR Int. GS GYIL Habil. Halbs. HGR HHRJ h. M. HRLJ Hrsg. HStR HuV-I HWiG

i. Br. ICJ Reports

ICLQ ICLR i. d. F. i. d. S. i. e. S. IGH ILC ILM ILO InfAuslR IntKomm IPbpR IPE ir. i. S. i. S. d. ital.

Abkürzungsverzeichnis Große Kammer German Law Journal Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht griechisch Charta der Grundrechte der Europäischen Union Griechische Drachme Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil Gedächtnisschrift German Yearbook of International Law Habilitationsschrift Halbsatz Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Harvard Human Rights Journal herrschende Meinung Human Rights Law Journal Herausgeber Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Humanitäres Völkerrecht – Informationsschriften Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften (Haustürwiderrufsgesetz) v. 16.01.1986 (in der bis zum 30.09. 2000 geltenden Fassung) im Breisgau Cour internationale de justice, Recueil des arrêts, avis consultatifs et ordonnances/International Court of Justice, Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders International and Comparative Law Quarterly International Community Law Review in der Fassung in diesem Sinne im engeren Sinne Internationaler Gerichtshof International Law Commission International Legal Materials International Labour Organization Informationsbrief Ausländerrecht Internationaler Kommentar zur Europäischen Menschenrechtskonvention Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Handbuch Ius Publicum Europaeum irisch im Sinne im Sinne der/des italienisch

Abkürzungsverzeichnis ITL i.V. m. IYIL JCP JEL JöR N. F. Jura JuS JWT JZ Kap. KE kroat. KrPflG

27

Italienische Lira in Verbindung mit The Italian Yearbook of International Law Juris-Classeur Périodique, La Semaine Juridique, Édition Générale Journal of Environmental Law Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Neue Folge Juristische Ausbildung Juristische Schulung Journal of World Trade JuristenZeitung Kapitel Königlicher Erlass Nr. 143 v. 30.12.1982 (Belgien) kroatisch Österr. Bundesgesetz betreffend die Regelung des Krankenpflegefachdienstes, der medizinisch-technischen Dienste und der Sanitätshilfsdienste (i. d. F. des Bundesgesetzes österr. BGBl. Nr. 872/1992) lett. lettisch LG Landgericht LIEI Legal Issues of European Integration lit. littera litau. litauisch LL.M. Legum Magister/Master of Laws LPF Livre des procédures fiscales LPICT The Law and Practice of International Courts and Tribunals Ls. Leitsatz lux. luxemburgisch malt. maltesisch Michigan JIL Michigan Journal of International Law Mio. Million MLR The Modern Law Review MPEPIL The Max Planck Encyclopedia of Public International Law Mrd. Milliarde MRM MenschenRechtsMagazin MTD-G Österr. Bundesgesetz über die Regelung der gehobenen medizinischtechnischen Dienste (österr. BGBl. Nr. 460/1992) m.w. N. mit weiteren Nachweisen n. numero n ë/N ë numéro/Numéro ndl. niederländisch n. F. neue Fassung NILR Netherlands International Law Review NJW Neue Juristische Wochenschrift NLG Niederländischer Gulden

28 No. NordÖR nr. Nr. NVwZ NVwZ-RR Nw. NWVBl. o. o. ä. OGH ÖJZ OLG österr. OSZE OVG OVGH PartG PartVO

pdf PJZS PKH Pl. PNB poln. port. Prot. QB QCC RabelsZ Rep. RFDA RGDIP RiLi RIW RMCUE Rn. Rs. Rspr.

Abkürzungsverzeichnis Number Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland numa˘r Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ-Rechtsprechungs-Report Verwaltungsrecht Nachweis Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter oben oder ähnliches Oberster Gerichtshof (Österreich) Österreichische Juristen-Zeitung Oberlandesgericht österreichisch Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Oberverwaltungsgericht Oberster Verwaltungsgerichtshof (Griechenland) Gesetz über die politischen Parteien (Parteiengesetz) Verordnung (EG) Nr. 2004/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 04.11.2003 über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finanzierung Portable Document Format Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Prozesskostenhilfe Plenarentscheidung (des tschechischen Verfassungsgerichts) Parti nationaliste basque – Organisation régionale d’Iparralde polnisch portugiesisch Protokoll Law Reports des Incorporated Council of Law Reporting (England und Wales), Teilserie Queen’s Bench Division qualifying Commonwealth citizens Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht European Court of Human Rights, Reports of Judgments and Decisions/ Cour européenne des droits de l’homme, Recueil des arrêts et décisions Revue française de droit administratif Revue Générale de Droit International Public Richtlinie Recht der Internationalen Wirtschaft, Betriebs-Berater International Revue du Marché commun et de l’Union européenne Randnummer Rechtssache Rechtsprechung

Abkürzungsverzeichnis RTDE RTDH RUDH rum. S. S. A. SächsVBl. schwed. SEK Ser. A

SGB SGG Slg. slowak. slowen. sog. span. Spstr. SSEL St. STC StGB StPO Teilentsch. tschech. u. u. a. UAbs. UKHL ÜLG UN ung. Univ. UR urspr. Urt. ÚS US(A)

29

Revue trimestrielle de droit européen Revue trimestrielle des droits de l’homme Revue universelle des droits de l’homme rumänisch Satz; Seite Société Anonyme Sächsische Verwaltungsblätter schwedisch Schwedische Krone Publications de la Cour européenne des droits de l’homme, Série A: Arrêts et décisions/Publications of the European Court of Human Rights, Series A: Judgments and Decisions Sozialgesetzbuch Sozialgerichtsgesetz Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshof(e)s der Europäischen Union/Gemeinschaften und des Gerichts (erster Instanz) slowakisch slowenisch sogenannt spanisch Spiegelstrich Swedish Studies in European Law Sankt Sentencia del Tribunal Constitucional (Urteil des spanischen Verfassungsgerichts) Strafgesetzbuch Strafprozessordnung Teilentscheidung tschechisch unten und andere; unter anderem Unterabsatz United Kingdom House of Lords (Decisions) Überseeische Länder und Hoheitsgebiete United Nations ungarisch Universität Umsatzsteuer-Rundschau ursprünglich Urteil Aktenzeichen des tschechischen oder slowakischen Verfassungsgerichts (Eine zugehörige römische Ziffer bezeichnet den entscheidenden Senat.) United States (of America)

30 UVP UVR v v. v. a. Var. VBP verb. VerbrKrG Verf. VerfG VerwArch VfGH VfSlg VG VGH vgl. Virginia JIL VO Vol. Vorbem. VVDStRL VVE VwGG VwGH VwGO WM WTO WuB WuW DE-R WVK YbECHR YEL ZaöRV ZAR z. B. ZEuS

Abkürzungsverzeichnis Umweltverträglichkeitsprüfung Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht versus vom vor allem Variante Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union/Gemeinschaften verbunden Verbraucherkreditgesetz v. 17.12.1990 (in der bis zum 30.09.2000 geltenden Fassung) Verfassung Verfassungsgericht Verwaltungsarchiv Verfassungsgerichtshof (Österreich) Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des Verfassungsgerichtshofes (Österreich) Verwaltungsgericht Verwaltungsgerichtshof vergleiche Virginia Journal of International Law Verordnung Volume Vorbemerkung(en) Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa Verwaltungsgerichtshofgesetz (Österreich) Verwaltungsgerichtshof (Österreich) Verwaltungsgerichtsordnung Wertpapier-Mitteilungen World Trade Organization Entscheidungssammlung zum Wirtschafts- und Bankrecht Wirtschaft und Wettbewerb, Entscheidungssammlung zum Kartellrecht, Deutschland, Rechtsprechung Wiener Vertragsrechtskonvention (amtlich: Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge) v. 23.05.1969 Yearbook of the European Convention on Human Rights/Annuaire de la Convention européenne des droits de l’homme Yearbook of European Law Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik zum Beispiel Zeitschrift für Europarechtliche Studien

Abkürzungsverzeichnis ZÖR ZP ZPO ZRP zugl. ZUM ZUR ZVglRWiss

Zeitschrift für öffentliches Recht Zusatzprotokoll (zur EMRK) Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik zugleich Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht Zeitschrift für Umweltrecht Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft

31

Teil 1

Grundlagen A. Einführung I. Kontext und Aufriss des Themas Die diversen Wechselbeziehungen zwischen dem Recht der Europäischen Union (EU), der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den nationalen Rechtsordnungen zeichnen sich nicht nur durch ihre hohe Komplexität und Vielschichtigkeit aus1, sondern befinden sich auch stetig in einem dynamischen Wandel, der v. a. durch die fortwährende Entwicklung von Gesetzgebung und Rechtsprechung weiter vorangetrieben wird. Im derart geprägten sog. Mehrebenensystem2 wirken der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und die nationalen Gerichte als verbundartig interdependente Rechtsschutzinstanzen zusammen3. Die zur Charakterisierung dieser tripolaren Judikativstruktur verwendeten Bezeichnungen wie „Bermuda-Dreieck“ 4, „Mehrebenen-Labyrinth“ 5 oder „devil’s triangle“ 6 legen beredtes Zeugnis davon ab, dass die Materie auch ausgewiesene Spezialisten7 im1 Sauer, Grundrechtskollisionsrecht, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte, S. 1 (2 ff.); Vondung, Architektur, S. 1 f.; Knauff, DVBl. 2010, 533 (536 f.); Guckelberger, ZEuS 2012, 1 (16 f.). 2 Hierzu Sauer, Jurisdiktionskonflikte, S. 77 ff., m.w. N.; Hentschel-Bednorz, S. 35 ff., 41 f.; Mayer, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 596 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 4, Rn. 23; Lindner, ZRP 2007, 54 (55). 3 Vgl. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (1 ff.); Knauff, DVBl. 2010, 533 (536 f.); Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (362 ff.); M. Albers, VVDStRL 71 (2012), 257 (287 ff.); Calliess, NJW 2013, 1905 (1905); ferner Pernice, EuR 2011, 151 (153 ff., 162 ff.). 4 C. Lenz, EuZW 1999, 311 (312); Limbach, EuGRZ 2000, 417 (417); Bergmann, EuGRZ 2004, 620 (620); Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (362); Sauer, Grundrechtskollisionsrecht, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte, S. 1 (6); Hirsch, EuR Beiheft 1 2006, 7 (7, 16 ff.); Hentschel-Bednorz, S. 36; kritisch Dederer, ZaöRV 66 (2006), 575 (621); auch bezeichnet als „Rechtsprechungsdreieck“ von O. Klein, NVwZ 2010, 221 (221), und Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (2), oder als „Jurisdiktionsdreieck“ von Schumann, FS Spellenberg, 729 (733), und Steiner, FS Bethge, 653 (653). 5 Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 (927, 946). 6 Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (33). 7 Die Verwendung universeller Personalbegriffe allein in ihrer einfacheren maskulinen Form dient der besseren Lesbarkeit; gemeint sind jeweils auch die gleichermaßen betroffenen weiblichen Personen.

34

Teil 1: Grundlagen

mer wieder vor große Herausforderungen stellt. Dennoch oder wohl sogar gerade deswegen8 sind die Überschneidungsbereiche der genannten drei Ebenen Gegenstand einer schier unüberschaubaren Zahl wissenschaftlicher Publikationen geworden9. Auch die vorliegende Untersuchung begibt sich in dieses allenthalben berüchtigte Fahrwasser. Mit der Durchsetzung von EU-Recht durch den EGMR behandelt sie jedoch einen Aspekt des Dreiecksverhältnisses, dem bislang noch vergleichsweise wenig akademische Aufmerksamkeit gewidmet wurde10. Im Rahmen dieser Abhandlung soll nun erstmals monographisch aufgearbeitet werden, inwieweit der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof, der über die Einhaltung der EMRK wacht und formell außerhalb des EU-internen Rechtsschutzsystems steht11, zum Schutz individueller Rechtspositionen aus dem Europarecht beitragen kann. Dieser Fragestellung kommt eine beträchtliche, mitunter sogar existentielle Bedeutung für die praktische Wirksamkeit der Rechte zu, die das Europarecht den Einzelnen verleiht. Der Begriff des Europarechts umfasst in dieser Darstellung das Europarecht i. e. S.12, also das gesamte Recht der EU einschließlich des früheren13 und gegenwärtigen14 Gemeinschaftsrechts. Die in europarechtlichen Normen getroffenen Regelungen sind der tragende Grundstein für den europäischen Einigungsprozess15, welcher sich für den Kontinent in vielerlei Hinsicht als beispiellose Erfolgsgeschichte erwiesen hat16. Denn ungeachtet aller Schwierigkeiten konnten 8 So erkennen etwa Corthaut/Vanneste, YEL 25 (2006), 475 (475), „a fascinating relationship“ zwischen EGMR und EuGH. 9 Siehe z. B. nur Vondung, Architektur; Michl, Überprüfung; Hentschel-Bednorz, S. 331 ff.; Sauer, Grundrechtskollisionsrecht, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte, S. 1 (2 ff.); Lock, Verhältnis, S. 243 ff.; Rohleder, S. 285 ff., 365 ff., 425 ff.; alle m.w. N. 10 Vgl. aber Breuer, JZ 2003, 433 (433 ff.); Daiber, EuR 2007, 406 (406 ff.); Gundel, FS Scheuing, 58 (63 ff.); Tamme, Aspects of enforcement, S. 1 ff. 11 Siehe Dörr, DVBl. 2006, 1088 (1098). 12 Siehe Streinz, Europarecht, Rn. 1 ff.; Herdegen, Europarecht, § 1, Rn. 2 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, S. XLV; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 1, Rn. 2. 13 Die in dieser Darstellung untersuchten Verfahren vor den Konventionsorganen betrafen ganz überwiegend Rechtspositionen aus dem damaligen Gemeinschaftsrecht, namentlich dem EG-Recht. 14 Hier ist das Recht der Europäischen Atomgemeinschaft zu nennen, das bislang allerdings keine wesentlichen praktischen Probleme des Individualrechtsschutzes aufgeworfen hat. Durch die Verweisung in Art. 106 a EAGV gelten zahlreiche unionsrechtliche Vorschriften auch im EAG-Recht; vgl. Grunwald, ZEuS 2010, 407 (409 ff.). 15 Zum historischen Ablauf ausführlich Giegerich, Europäische Verfassung, S. 15 ff., 149 ff. 16 Siehe Bundespräsident Gauck, Rede v. 23.04.2012 anlässlich des Staatsbanketts zu Ehren von Großherzog Henri von Luxemburg, Schloss Bellevue, Berlin, abrufbar unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2012/ 04/120423-Luxemburg-Staatsbankett.html: „Die [EU] ist die größte politische Erfolgs-

A. Einführung

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v. a. der Frieden zwischen den beteiligten Staaten bewahrt17, die wirtschaftliche Stabilität und Prosperität gefördert18 sowie eine intensive politisch-rechtliche Kooperation etabliert werden19. Unter den Bedingungen der heutigen und zukünftigen globalisierten Welt erscheinen Fortsetzung und Vertiefung dieser Integration dringender geboten denn je20. Es gilt hervorzuheben, dass viele wichtige Errungenschaften der europäischen Einigung wie z. B. die Freiheiten des Binnenmarktes gerade durch ihre rechtliche Fixierung erreicht und gesichert wurden21. Dementsprechend ist die EU als Rechtsgemeinschaft verfasst, die auf der Befolgung verbindlicher rechtlicher Gewährleistungen aufbaut22. Der Respekt vor dem

geschichte unseres Kontinents.“; ebenso Giegerich, Die „europäische Föderation“, in: ders., Herausforderungen, S. 7 (32); vgl. auch Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (2). 17 Siehe bereits die Erklärung des frz. Außenministers Schuman v. 09.05.1950 (sog. Schuman-Plan), Quai d’Orsay, Paris, abrufbar unter: https://europa.eu/european-union/ about-eu/symbols/europe-day/schuman-declaration_fr: „La contribution qu’une Europe organisée et vivante peut apporter à la civilisation est indispensable au maintien des relations pacifiques [. . .] cette proposition réalisera les premières assises concrètes d’une Fédération européenne indispensable à la préservation de la paix.“ Für ihren Beitrag zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa wurde die EU am 12.10.2012 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet; die Begründung des norwegischen Nobelkomitees ist abrufbar unter: http:// www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/2012/press.html. 18 Vgl. zur Konzeption des schrittweisen, zunächst ökonomischen Zusammenwachsens H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 84 f., 90 f., 251 ff.; Schorkopf, Der Europäische Weg, S. 67; Streinz, Europarecht, Rn. 20; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 2, Rn. 15. 19 Zur „finalité politique“ der europäischen Integration Giegerich, Europäische Verfassung, S. 158 f., 195, 199 f.; ders., in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 2; Schorkopf, Der Europäische Weg, S. 178 ff.; vgl. auch P. M. Huber, ZaöRV 68 (2008), 307 (318); sowie die kritische Analyse von Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 3, Rn. 23. 20 Vgl. Giegerich, Die „europäische Föderation“, in: ders., Herausforderungen, S. 7 (32 f.); Everling, EuR 2010, 91 (107); Guckelberger, ZEuS 2012, 1 (2 f.); Schmahl, BayVBl. 2012, 1 (8); siehe weiterhin Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1 ff. 21 Vgl. Hallstein, Europäische Gemeinschaft, S. 33, 53 ff.; ders., Europäische Reden, S. 341, 343; Calliess, ZEuS 2011, 213 (222 f.); Schorkopf, Der Europäische Weg, S. 116 ff.; Schwarze, FS Pescatore, 637 (637 ff.); Giegerich, VVDStRL 69 (2010), 57 (86). 22 EuGH, Urt. v. 23.04.1986, Les Verts ./. Europäisches Parlament, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 18.01.2007, PKK und KNK ./. Rat, Rs. C-229/05 P, Slg. 2007, I-439, Rn. 109. Grundlegend Hallstein, Europäische Gemeinschaft, S. 33, 53 ff.: „Die Europäische Gemeinschaft ist in vierfacher Hinsicht ein Phänomen des Rechts: Sie ist Schöpfung des Rechts, sie ist Rechtsquelle, sie ist Rechtsordnung, und sie ist Rechtspolitik.“; ähnlich ders., Europäische Reden, S. 341, 343 ff.; Sauer, Jurisdiktionskonflikte, S. 32 ff.; Ullerich, S. 19, 55 f., 175 f.; Ehlers, in: ders./Schoch, Rechtsschutz, § 6, Rn. 1; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 81; Calliess, ZEuS 2011, 213 (222 ff.); Schorkopf, Der Europäische Weg, S. 116 f., 120 f.; ders., AöR 136 (2011), 323 (323 ff.); Guckelberger, ZEuS 2012, 1 (5); siehe gerade in Abgrenzung zu den informellen Kooperationsformen des Nordischen Rates Tamme, Der Nordische Rat, in: Göthlich/Modarressi-Tehrani, Netzwerke, S. 151 (158 f.). Zur Effektivität des Euro-

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Teil 1: Grundlagen

Recht bildet gleichsam eine unverzichtbare Voraussetzung für ihr Funktionieren23. So können auch die einzelnen Bürger vielfach eigene subjektive Rechte unmittelbar aus dem Europarecht ableiten24. Treten sie dann selbst für die Wahrung dieser Rechte ein und beschreiten ggf. den vorgesehenen Rechtsweg, fungieren sie dabei gleichzeitig als „Hüter“ der europäischen Integrationsrechtsordnung25. Im Streitfall erweisen sich aber auch die europarechtlich verbürgten subjektiven Rechte nur so weit als effektiv, wie ihre gerichtliche Durchsetzung im Ergebnis sichergestellt ist26. Wenn nun die in erster Linie anzurufenden mitgliedstaatlichen Gerichte27 ihren Rechtsschutzauftrag nicht erfüllen, weil sie das Europarecht nicht oder falsch anwenden und insbesondere die Kooperation mit dem EuGH verweigern, verbleibt den Bürgern angesichts des nur rudimentär ausgestalteten Individualrechtsschutzes auf Unionsebene28 allein der Gang vor den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof. Wird dort Beschwerde gegen den europarechtswidrig handelnden Mitgliedstaat erhoben, ist es dem EGMR unter Umständen möglich, diesen Europarechtsverstoß als Konventionsverletzung zu beanstanden und auf diese Weise seine Behebung zu veranlassen. Der EGMR kann damit funktionell eine

parechts als Rechtsstaatspostulat Giegerich, Europäische Verfassung, S. 994 ff. Inzwischen wird auch der Begriff der „Rechtsunion“ verwendet; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 19 EUV, Rn. 5; Magiera, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 13, Rn. 1; GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 92. 23 Vgl. Oppermann, EuZW 2015, 201 (201); ders./Classen/Nettesheim, Europarecht, § 3, Rn. 26. 24 Grundlegend EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (24 ff.); Classen, VerwArch 88 (1997), 645 (648 ff.); Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 105 ff., Rn. 365 ff. 25 Oeter, Verhältnis, in: Fastenrath/Nowak, Reformvertrag, S. 129 (140); Masing, S. 19 f., 50 ff.; Calliess, EuR Beiheft 1 2007, 7 (10 f.); Streinz, VVDStRL 61 (2002), 300 (341 f.); Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148 (170); Neidhardt, S. 68 ff.; Simm, S. 47; Schwarze, FS Pescatore, 637 (643 f.); vgl. auch Classen, VerwArch 88 (1997), 645 (645 ff.). 26 Vgl. allgemein Tulkens, RUDH 2000, 50 (51): „[L]’utilité des droits fondamentaux dépend très largement des voies de recours qui permettent d’en réclamer le contrôle juridictionnel.“; sowie EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI (= EuGRZ 2007, 662), Rn. 160; Munding, S. 137 f.; ferner Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 30, Rn. 1 ff.; Grewe, EuR 2012, 285 (294 f.). 27 EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Rewe ./. Landwirtschaftskammer für das Saarland, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 19.06.1990, The Queen ./. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Rn. 19 f.; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 115, Rn. 397; Oeter, Verhältnis, in: Fastenrath/Nowak, Reformvertrag, S. 129 (140). 28 Siehe hierzu u., Teil 2, A. I. 2. b) und III. 2.

A. Einführung

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stellvertretende Verfassungsgerichtsbarkeit29 zugunsten des Europarechts ausüben, die den Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH30 insoweit substituiert, als dieser Defizite und Lücken aufweist. Das Konventionssystem als übergeordnete Rechtsordnung stellt den Bürgern also ersatzweise die verfahrensrechtlichen Instrumente zur Verfügung, die sie zur Wahrung ihrer europarechtlichen Rechte vornehmlich gegenüber den Mitgliedstaaten benötigen. In materiell-rechtlicher Hinsicht vermögen die menschenrechtlichen Garantien der EMRK dann ihrerseits eine integrationsfördernde Wirkung zu entfalten31. Mit Hilfe des EGMR kann es so auch im konkreten Einzelfall gelingen, europarechtliche Individualrechte über die EMRK rechtsstaatsgemäß durchzusetzen.

II. Zielsetzung und Schwerpunkte der Arbeit Unter welchen Voraussetzungen und Umständen der EGMR die beschriebene Ersatzfunktion ausgefüllt hat und sie überhaupt wahrnehmen kann, soll im Rahmen dieser Arbeit eingehend analysiert werden. Im Vordergrund steht dabei die Durchsetzung der europarechtlichen Rechte der Unionsbürger. Bei besonderer praktischer Relevanz wird darüber hinaus auch auf spezifische Rechte von Drittstaatsangehörigen eingegangen32. Die Darstellung folgt einem ganzheitlichen Ansatz, der nach Möglichkeit sämtliche auf der europarechtlichen, konventionsrechtlichen und mitgliedstaatlichen Ebene wesentlichen Aspekte einbezieht. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich jeweils auf die nähere Konkretisierung der europarechtlich gewährten Rechte, auf die Identifizierung der bei ihrer Durchsetzung bestehenden Schutzlücken sowie auf das Potential der konventionsrechtlichen Abhilfemöglichkeiten. Ausgehend von den einschlägigen Fallgestaltungen, die bislang Gegenstand der Rechtsprechung der Konventionsorgane waren, wird kasuistisch untersucht, ob und inwieweit europarechtliche Individualrechte in den 29 Zum Verfassungsgerichtscharakter des EGMR siehe Mahrenholz, JöR N. F. 49 (2001), 15 (20 f.); Giegerich, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Breuer et al., Im Dienste des Menschen, S. 95 (102, 105 f.); Wildhaber, EuGRZ 2002, 569 (569); ders., EuGRZ 2009, 541 (551 f.); Eiffler, JuS 1999, 1068 (1069); Öhlinger, Perspektiven, in: Karl, Internationale Gerichtshöfe, S. 123 (141); Voßkuhle, NVwZ 2010, 1 (2); Knauff, DVBl. 2010, 533 (533 f.); Breuer, Wirkungen, in: A. Zimmermann, 60 Jahre EMRK, S. 51 (51 ff.); vgl. auch Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (362 ff.); ders., Verhältnis, in: Fastenrath/Nowak, Reformvertrag, S. 129 (129 ff.); Peukert, GS Ryssdal, 1107 (1120, Fn. 49); Calliess, NJW 2013, 1905 (1905). 30 Zur verfassungsgerichtlichen Funktion des EuGH siehe nur Bauer, S. 49 ff., 67 ff., 163; Mayer, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 596 ff.; Giegerich, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Breuer et al., Im Dienste des Menschen, S. 95 (102 ff.); Alter, S. 225 f. 31 Zur Integration durch Menschenrechte vgl. Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (837, 868 f., 884 f.); Langenfeld/A. Zimmermann, ZaöRV 52 (1992), 259 (314); Giegerich, ZaöRV 55 (1995), 713 (751 mit Fn. 142). 32 Siehe etwa Teil 4, A. III. und B. I.

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Teil 1: Grundlagen

Mitgliedstaaten missachtet wurden sowie auf welche strukturellen Ursachen dies ggf. zurückzuführen ist. Für die sich jeweils stellenden Rechtsschutzprobleme werden ebenenübergreifend adäquate Lösungen gesucht, wobei das Hauptaugenmerk eindeutig auf dem Konventionssystem mit dem Straßburger Gerichtshof liegt. Von zentraler Bedeutung sind hier sowohl die formellen Determinanten der Rechtsprechungstätigkeit des EGMR als auch der Vergleich zwischen den inhaltlichen Gewährleistungen des Europa- und des Konventionsrechts. Die Untersuchung soll daher Bedingungen und Möglichkeiten für die konventionsrechtliche Durchsetzung europarechtlicher Rechtspositionen unter verfahrens- wie unter materiell-rechtlichen Aspekten aufzeigen. Dazu gehören zunächst die Dokumentation und Auswertung der zugehörigen Rechtsprechung der Konventionsorgane, v. a. des EGMR, die oftmals lediglich in englischer und/oder französischer Sprache zur Verfügung steht33 und nunmehr gerade auch der gesamten deutschsprachigen juristischen Öffentlichkeit erschlossen werden soll. Die daran anknüpfende Evaluierung der einzelnen Konstellationen weist über die jeweils zugrundeliegenden Fälle hinaus und zieht allgemeine Rückschlüsse, die auch die Beurteilung künftiger Verfahren ermöglichen sollen. Sofern es erforderlich erscheint, werden Vorschläge für eine Anpassung der Rechtsprechung oder für gesetzgeberische Änderungen unterbreitet. In diesem Sinne versteht sich die Arbeit ebenfalls als nachdrückliches Plädoyer für einen effektiven Individualrechtsschutz zugunsten des Europarechts, der eine kohärente Rechtsstaatlichkeit im gesamteuropäischen Verfassungsverbund herzustellen vermag.

III. Gang der Untersuchung Die gesamte Darstellung gliedert sich in sechs Teile. Im Rahmen des den Grundlagen gewidmeten ersten Teils werden nachfolgend noch die Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR (B.), die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde (C.) und die Rechtslage nach einem Beitritt der EU zur EMRK (D.) erörtert. Jeder der folgenden vier Teile hat sodann die konventionsrechtliche Durchsetzung einer bestimmten Gruppe europarechtlicher Rechte zum Gegenstand. Teil 2 beginnt mit dem für den Rechtsschutz insgesamt bedeutsamen Komplex der Verfahrensrechte, in dem insbesondere die Sicherung der Vorlagepflicht zum EuGH sowie eine effektive Urteilsdurchsetzung thematisiert werden. Anschließend werden in Teil 3 Rechtspositionen aus europäischen Richtlinien behandelt, wobei v. a. Umsetzungs- und Vollzugsdefizite in den Bereichen des Steuer- und Umweltrechts im Fokus stehen. Teil 4 befasst sich dann mit den

33 Die Amtssprachen des EGMR sind Englisch und Französisch; siehe Art. 34 Abs. 1 EGMR-VerfO; Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 35, 55 ff. Zum Problem der sprachlichen Zugänglichkeit Karper, S. 215 f.

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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Freizügigkeitsrechten, die ihrerseits einen Kernbestandteil der europäischen Integration bilden. Zu den in Teil 5 untersuchten politischen Rechten zählen das Wahlrecht zum Europäischen Parlament als demokratisches Bürgerrecht, die Statusrechte von Europaabgeordneten und die Rechte bei grenzüberschreitender Parteienfinanzierung. Der abschließende sechste Teil bietet letztlich eine Zusammenfassung der in der Arbeit gewonnenen Ergebnisse.

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR I. Vorgaben in Art. 19, 32 und 53 EMRK In formeller Hinsicht setzt die Durchsetzung des Europarechts mit Hilfe des EGMR zunächst eine entsprechende Zuständigkeit des Straßburger Gerichtshofs voraus. Nach Art. 19 S. 1 EMRK obliegt es dem EGMR sicherzustellen, dass die Konventionsstaaten ihre in der EMRK und den Protokollen dazu übernommenen Verpflichtungen einhalten. Wie in Art. 32 Abs. 1 EMRK weiter präzisiert ist, umfasst die Zuständigkeit des EGMR alle die Auslegung und Anwendung der EMRK und der zugehörigen Protokolle betreffenden Angelegenheiten, mit denen er in den vorgesehenen Verfahrensarten34 befasst wird. Den primären Bezugspunkt und unmittelbaren Prüfungsmaßstab für die vom EGMR vorzunehmende menschenrechtliche Kontrolle bildet also das Konventionsrecht selbst. Während alle Mitgliedstaaten der EU an die EMRK gebunden sind, bedarf es im Hinblick auf die Zusatzprotokolle allerdings jeweils gesonderter Prüfung, ob der betreffende Mitgliedstaat zu den Vertragsparteien gehört; für diese gelten die materiellen Garantien der Zusatzprotokolle als Zusatzartikel zur EMRK35. Aus der Anknüpfung der Kontrolle an das Konventionsrecht folgt, dass eine Menschenrechtsbeschwerde nicht direkt auf das Europarecht gestützt werden kann, sondern stets die Verletzung einer konventionsrechtlichen Garantie gerügt werden muss. Auch das Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK führt zu keinem anderen Ergebnis. Danach ist die EMRK nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen oder in einer anderen Übereinkunft eines Konventionsstaates anerkannt werden. Diese Unberührtheitsklausel zugunsten konventionsfremder Gewährleistun-

34 Für die vorliegende, auf den Individualrechtsschutz bezogene Untersuchung ist vornehmlich die Individualbeschwerde gemäß Art. 34 EMRK von Bedeutung; zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen siehe u., C. Als weitere Verfahrensarten vor dem EGMR sind die Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK), Urteilsauslegung und -vollzugskontrolle (Art. 46 EMRK) sowie das Gutachtenverfahren (Art. 47 EMRK) vorgesehen. 35 Siehe Art. 5 ZP 1, Art. 6 ZP 4, Art. 6 ZP 6, Art. 7 ZP 7, Art. 3 ZP 12, Art. 5 ZP 13. Im Rahmen dieser Darstellung wird daher insoweit nur bei besonderer Veranlassung begrifflich zwischen der EMRK selbst und den Zusatzprotokollen unterschieden.

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Teil 1: Grundlagen

gen verdeutlicht, dass die EMRK keine Obergrenze im Grundrechtsschutz festschreibt, sondern eher einen menschenrechtlichen Mindeststandard verbürgt36, der der Einräumung weitergehender Rechtspositionen jedenfalls nicht entgegensteht37. Damit ist gleichwohl keine Ausdehnung des unmittelbaren Prüfungsmaßstabs der Konventionsorgane auf solche günstigeren Regeln verbunden38, wie die EKMR in Bezug auf das Europarecht ausdrücklich klargestellt39 und der EGMR allgemein ausgeführt hat40. Eine von Art. 53 EMRK verbotene Beschränkung oder Beeinträchtigung dieser Regeln kann also nicht darin erblickt werden, dass sie nicht selbstständig menschenrechtsbeschwerdefähig sind und ihre konventionsrechtliche Durchsetzbarkeit somit zumindest nicht garantiert ist41. Auf der anderen Seite können Europarechtsverstöße von EU-Mitgliedstaaten durchweg unproblematisch vom EGMR beanstandet werden, wenn sie zugleich originär das Konventionsrecht verletzen. In dieser Konstellation ergibt sich der feststellbare Verstoß nämlich schon unmittelbar aus der EMRK, ohne dass es

36 Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 (18). Mitunter geht der von der EMRK vermittelte Schutz allerdings durchaus über die Ebene des Mindeststandards hinaus. So ist auch bei Grundrechtskollisionen in mehrpoligen Rechtsverhältnissen eine eigenständige konventionsrechtliche Abwägung vorzunehmen, die für eine bestimmte Rechtsposition ein höheres Schutzniveau ergeben kann, als es in einzelnen Konventionsstaaten gewährleistet ist. Die EMRK kann somit ebenfalls Impulse für eine Verstärkung des bestehenden Menschenrechtsschutzes geben. Siehe näher K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 62; Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (298 f.); T. Thienel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 53 EMRK, Rn. 5 ff.; Sauer, Grundrechtskollisionsrecht, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte, S. 1 (67 f.). 37 EGMR, Entsch. v. 19.01.2010, Nersesyan ./. Armenien, Nr. 15371/07, Rn. 25; EGMR, Entsch. v. 01.09.2009, Wnuk ./. Polen, Nr. 38308/05, Rn. 1; Frowein, in: ders./ Peukert, Art. 53 EMRK; Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 53, Rn. 1; T. Thienel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 53 EMRK, Rn. 1 ff.; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 15; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 2, Rn. 14; Schmahl, EuR Beiheft 1 2008, 7 (8 f.). 38 T. Thienel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 53 EMRK, Rn. 12; Decaux, in: Pettiti/Decaux/Imbert, S. 901; O. Klein, NVwZ 2010, 221 (223); Meyer-Ladewig/Fuentes, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 19, Rn. 1; Cremer, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 17; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/ GG, Kap. 9, Rn. 76; Forowicz, S. 391. 39 EKMR, Entsch. v. 09.09.1998, Skandinavisk Metallförmedling AB ./. Schweden, Nr. 34805/97, Rn. 5; siehe hierzu u., Teil 2, A. IV. 2. f). 40 EGMR, Urt. v. 21.07.2005, Mihailov ./. Bulgarien, Nr. 52367/99, Rn. 33; EGMR, Entsch. v. 14.05.2002, Zehnalová und Zehnal ./. Tschechische Republik, Rep. 2002-V; vgl. auch EGMR, Entsch. v. 21.03.2002, Calabrò ./. Italien und Deutschland, Rep. 2002-V, Rn. 1; siehe weiterhin ohne inhaltliche Spezifizierung EGMR, Urt. v. 09.11. 2006, Leempoel & S. A. ED. Ciné Revue ./. Belgien, Nr. 64772/01, Rn. 87; EGMR, Urt. v. 14.12.2006, Martynov ./. Ukraine, Nr. 36202/03, Rn. 17; EGMR, Entsch. v. 22.05.2007, Volosyuk ./. Ukraine, Nr. 1291/03. 41 Vgl. auch Sauer, Grundrechtskollisionsrecht, in: Matz-Lück/Hong, Grundrechte, S. 1 (48).

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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überhaupt notwendig ist, die Europarechtslage eigens zu berücksichtigen. Im Rahmen einer ausschließlich konventionsrechtlichen, vom Europarecht gänzlich unabhängigen Beurteilung lässt sich dann in Straßburg ein europarechtskonformer Verfahrensausgang erreichen42. Bei einer ohnehin materiell übereinstimmenden Wertung in beiden Rechtsordnungen ist das Europarecht theoretisch also stets konventionsrechtlich durchsetzbar, auch wenn es die Einschätzung nach der EMRK selbst nicht beeinflussen sollte. Ausgehend von den Zuständigkeitsnormen der EMRK ist es dem EGMR ansonsten aber auch nicht verwehrt, bei seiner menschenrechtlichen Prüfung konventionsfremdes Recht heranzuziehen43. Darauf deutet schon der weite Wortlaut von Art. 32 Abs. 1 EMRK hin, nach dem „alle [. . .] Angelegenheiten“ 44, die die Auslegung und Anwendung des Konventionsrechts betreffen, in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallen45. Im übrigen entscheidet nach Art. 32 Abs. 2 EMRK ausschließlich der EGMR selbst, wenn im Einzelfall Streit über seine Zuständigkeit besteht46. Nach seiner Rechtsprechung ist die EMRK gerade nicht isoliert („in a vacuum“/„dans le vide“), sondern als Menschenrechtsschutzvertrag vielmehr im Lichte einschlägiger Normen des internationalen Rechts auszulegen und anzuwenden47. Angesichts dieser Einbettung der EMRK in den größeren Kontext der internationalen Ordnung stellt sich im Anschluss die Frage, welche Möglichkeiten dem EGMR formell-methodisch offenstehen, um das Europarecht als solches in die Prüfung einfließen zu lassen und ihm gleichsam mediatisiert über die Garantien der EMRK zur Durchsetzung zu verhelfen.

42 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 17.07.2001, Association Ekin ./. Frankreich, Rep. 2001VIII, Rn. 50, 58 ff. 43 Ress, Das Europarecht vor dem EGMR, S. 1, 3. 44 Authentische Fassungen: engl. „all matters“; frz. „toutes les questions“. 45 Siehe auch EGMR, Urt. v. 18.06.1971, Wilde, Ooms und Versyp („Vagrancy“/ „Vagabondage“) ./. Belgien, Ser. A Vol. 12, Rn. 49; Meyer-Ladewig/Albrecht, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 32, Rn. 1; Delzangles, S. 46 f. 46 Hierzu EGMR, Urt. v. 12.04.2005, Shamayev et al. ./. Georgien und Russland, Rep. 2005-III, Rn. 293; Karpenstein/Johann, in: Karpenstein/Mayer, Art. 32 EMRK, Rn. 2; Delzangles, S. 45 f. 47 EGMR (GK), Urt. v. 18.12.1996, Loizidou ./. Türkei, Rep. 1996-VI (= EuGRZ 1997, 555), Rn. 43; EGMR (GK), Entsch. v. 02.05.2007, Behrami und Behrami ./. Frankreich, Saramati ./. Frankreich et al., Nr. 71412/01 und 78166/01 (= EuGRZ 2007, 522), Rn. 122; EGMR (GK), Urt. v. 12.11.2008, Demir und Baykara ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 34503/97, Rn. 85; EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Rantsev ./. Zypern und Russland, Rep. 2010, Nr. 25965/04, Rn. 273; EGMR (GK), Urt. v. 07.07.2011, Bayatyan ./. Armenien, Rep. 2011, Nr. 23459/03, Rn. 102; siehe auch bereits EKMR, Entsch. v. 10.07.1997, Di Lazzaro ./. Italien, Nr. 31924/96; Tzevelekos, Michigan JIL 31 (2010), 621 (623); Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Einleitung, Rn. 23; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 76; Giegerich, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Breuer et al., Im Dienste des Menschen, S. 95 (148).

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Teil 1: Grundlagen

II. Auslegung der EMRK nach Art. 31 WVK Ein Ansatzpunkt für eine derartige Einbeziehung des Europarechts kann sich zunächst bei der Auslegung der EMRK ergeben48. Die Konvention ist als völkerrechtlicher Vertrag grundsätzlich nach den im allgemeinen Völkerrecht geltenden Regeln auszulegen49. Der EGMR zieht dafür regelmäßig die Vorschriften der Art. 31 ff. WVK heran50. Diese sind auf die EMRK zwar nicht direkt anwendbar, da die WVK nach ihrem Art. 4 keine Rückwirkung auf vor ihrem Inkrafttreten geschlossene Verträge entfaltet und zudem nicht alle Konventionsstaaten zugleich Vertragsparteien der WVK sind51. Als anerkanntem Völkergewohnheitsrecht kommt den Art. 31 ff. WVK jedoch universelle Geltung zu52, so dass sie auch bei der Auslegung der EMRK zugrunde zu legen sind53. Im folgenden werden mit Art. 31 Abs. 1–3 WVK diejenigen Vorschriften, die für die Einwirkung des Europarechts auf die EMRK von funktionellem Interesse sind, diesbezüglich einer näheren Analyse unterzogen.

48 Siehe allgemein zur Bedeutung der Auslegung für die Harmonisierung von Normen Matz-Lück, FYBIL XVII (2006), 39 (47 f.); Zuleeg, GYIL 20 (1977), 246 (271 ff.). 49 E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 150, Rn. 35; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Einleitung, Rn. 23; Badenhop, S. 59. 50 Z. B. EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18 (= EuGRZ 1975, 91), Rn. 29 f.; EGMR, Urt. v. 21.02.1986, James et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 98 (= EuGRZ 1988, 341), Rn. 42; EGMR, Urt. v. 08.07.1986, Lithgow et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 102 (= EuGRZ 1988, 350), Rn. 114; EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Johnston et al. ./. Irland, Ser. A Vol. 112 (= EuGRZ 1987, 313), Rn. 51; EGMR (GK), Urt. v. 18.12.1996, Loizidou ./. Türkei, Rep. 1996-VI (= EuGRZ 1997, 555), Rn. 43; EGMR, Urt. v. 04.04.2000, Witold Litwa ./. Polen, Rep. 2000-III, Rn. 57 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 29.01.2008, Saadi ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2008, Nr. 13229/03, Rn. 61 f.; EGMR (GK), Urt. v. 12.11.2008, Demir und Baykara ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 34503/97, Rn. 65; Badenhop, S. 61; Villiger, FS Ress, 317 (317 ff., 330); Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 18. 51 Dies gilt für die EU-Mitglieder Frankreich, Malta und Rumänien sowie für Aserbaidschan, Island, Monaco, Norwegen, San Marino und die Türkei. Siehe weiterhin Badenhop, S. 61; Holzinger, S. 25 f. 52 Siehe IGH, Urt. v. 12.11.1991, Arbitral Award of 31 July 1989 (Guinea-Bissau ./. Senegal), ICJ Reports 1991, 53, Rn. 48; IGH, Urt. v. 13.12.1999, Kasikili/Sedudu Island (Botswana ./. Namibia), ICJ Reports 1999, 1045, Rn. 18; IGH, Urt. v. 17.12.2002, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesien ./. Malaysia), ICJ Reports 2002, 625, Rn. 37; IGH, Urt. v. 06.11.2003, Oil Platforms (Iran ./. USA), ICJ Reports 2003, 161, Rn. 41; IGH, Urt. v. 04.06.2008, Certain Questions of Mutual Assistance in Criminal Matters (Djibouti ./. Frankreich), ICJ Reports 2008, 177, Rn. 112; Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 6 f., m.w. N.; Villiger, FS Ress, 317 (330); Rill, FS Winkler, 13 (23). 53 EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18 (= EuGRZ 1975, 91), Rn. 29; Badenhop, S. 61 f., m.w. N.

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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1. Grundlinien des Art. 31 WVK und gemeinsame Standards der Vertragsstaaten Die Ausgangsnorm des Art. 31 WVK etabliert ein differenziertes Regime, das diverse Faktoren für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages enthält. Hierzu gehören neben dem Prinzip von Treu und Glauben die gewöhnliche, den Vertragsbestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommende Bedeutung sowie Ziel und Zweck des Vertrages (Abs. 1). Der Zusammenhang i. d. S. schließt nach Abs. 2 den Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen sowie die gemäß lit. a und b anlässlich des Vertragsabschlusses erstellten Dokumente ein. Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise die in Abs. 3 genannten Kriterien zu berücksichtigen, die nicht im Kontext des ursprünglichen Vertragsschlusses stehen54. Dies gilt namentlich für spätere Übereinkünfte (lit. a) und nachfolgende Praxis (lit. b), die indes jeweils spezifisch auf den auszulegenden Vertrag bezogen sein müssen55. Bestehen und Befolgung europarechtlicher Vorschriften können daher in dieser Hinsicht grundsätzlich für die Auslegung der EMRK relevant werden, sofern die Konventionsstaaten übereinstimmend davon ausgehen, dass sie zumindest auch gerade durch die EMRK entsprechend gebunden sind56. Für die Einstufung als relevante Praxis kann ebenfalls das Verhalten von durch Vertragsstaaten gegründeten internationalen Organisationen bedeutsam sein, einer Beteiligung sämtlicher Vertragsstaaten an der Praxis bedarf es hingegen nicht57. Diesen Grundsätzen entspricht im wesentlichen die Judikatur des EGMR, der insoweit die Herausbildung eines gemeineuropäischen Standards58 oder einer übergreifenden internationalen Entwicklungslinie auch dann genügen lässt, wenn nicht alle Konventionsstaaten selbst an der jeweiligen Praxis teilhaben59. In die zugehörige rechtsvergleichende Evaluation bezieht der Straßburger 54

Siehe Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 71. Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 72, 76, 80; vgl. auch Matz-Lück, FYBIL XVII (2006), 39 (48). 56 Vgl. instruktiv Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 80, 88; ferner Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein, Vol. I, Art. 31 WVK, Rn. 42. 57 Vgl. Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 83 f. 58 Zur Bedeutung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Konventionsstaaten Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 3. 59 Siehe EGMR (GK), Urt. v. 07.07.2011, Bayatyan ./. Armenien, Rep. 2011, Nr. 23459/03, Rn. 101 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 12.11.2008, Demir und Baykara ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 34503/97, Rn. 78 ff., 86; EGMR, Urt. v. 12.03.2003, Öcalan ./. Türkei, Nr. 46221/99, Rn. 194 ff.; EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 88, 102 f.; EGMR (GK), Urt. v. 11.07.2002, Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2002-VI, Rn. 85; EGMR (GK), Urt. v. 23.03. 1995, Loizidou ./. Türkei (Preliminary Objections), Ser. A Vol. 310, Rn. 79 f.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 26.02.2002, Fretté ./. Frankreich, Rep. 2002-I, Rn. 40 f.; Badenhop, S. 78 ff., 83 f.; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Einleitung, Rn. 23; Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 78; Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein, Vol. I, Art. 31 WVK, Rn. 45. 55

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Teil 1: Grundlagen

Gerichtshof mitunter explizit europarechtliche Rechtsquellen ein60. Auf dieser Grundlage kann das Europarecht also durchaus das Verständnis der EMRK beeinflussen, wenn es Teil einer allgemeinen Rechtsentwicklung ist bzw. im Europaratsgebiet zumindest weitgehend etablierte Normen widerspiegelt. 2. Systemische Integration gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK Demgegenüber ist Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK weiter gefasst und statuiert eine Referenz auf jeden einschlägigen Völkerrechtssatz, der in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbar ist. Damit wird eine dynamisch angelegte systemische Integration relevanter Normen des Völkerrechts in den auszulegenden Vertrag ermöglicht, die einer Fragmentierung der internationalen Ordnung entgegenwirken kann61. In diesem Sinne postuliert auch der IGH, die Auslegung eines internationalen Instruments in das gesamte zum Auslegungszeitpunkt gültige Rechtssystem einzubetten und mit diesem Übereinstimmung herzustellen62. Insbesondere wird Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK in der ständigen Rechtsprechung des EGMR ausdrücklich als Anknüpfungsnorm für die Einbeziehung gerade des allgemeinen Völkerrechts in die Konventionsrechtsordnung genutzt63. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob und ggf. inwiefern auch das Europarecht, das seinerseits keine global-universelle Geltung entfaltet, entsprechend zur Auslegung der EMRK herangezogen werden kann.

60 EGMR (GK), Urt. v. 07.07.2011, Bayatyan ./. Armenien, Rep. 2011, Nr. 23459/ 03, Rn. 106; EGMR (GK), Urt. v. 12.11.2008, Demir und Baykara ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 34503/97, Rn. 150; EGMR (GK), Urt. v. 11.01.2006, Sørensen und Rasmussen ./. Dänemark, Rep. 2006-I, Rn. 73 ff.; EGMR, Urt. v. 10.07.2003, Murphy ./. Irland, Rep. 2003-IX (in Auszügen), Rn. 81; EGMR, Urt. v. 17.12.2002, A. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2002-X, Rn. 36, 81, 83; EGMR (GK), Urt. v. 11.07.2002, Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2002-VI, Rn. 43 ff., 58, 100; Daiber, EuR 2007, 406 (406); Peters, Einführung in die EMRK, S. 28 f.; dies./Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 3; Wiethoff, S. 150; Gundel, FS Scheuing, 58 (67 f.). 61 Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 89, 91; Matz, S. 299; C. Thiele, AVR 46 (2008), 1 (24); Tzevelekos, Michigan JIL 31 (2010), 621 (631); Merkouris, ICLR 9 (2007), 1 (2, 31); Forowicz, S. 13, 15 f., 43; McLachlan, ICLQ 54 (2005), 279 (280 f., 318 f.). 62 IGH, Gutachten v. 21.06.1971, Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), ICJ Reports 1971, 16, Rn. 53; IGH, Urt. v. 26.11.1957, Right of Passage over Indian Territory (Portugal ./. Indien), Preliminary Objections, ICJ Reports 1957, 125 (142); Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 89 f. 63 Siehe nur EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18, Rn. 35; EGMR (GK), Urt. v. 21.11.2001, Al-Adsani ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2001-XI, Rn. 55 ff.; EGMR (GK), Entsch. v. 12.12.2001, Bankovic´ et al. ./. Belgien et al., Rep. 2001-XII, Rn. 57; EGMR (GK), Urt. v. 04.02.2005, Mamatkulov und Askarov ./. Türkei, Rep. 2005-I, Rn. 110 f.; Badenhop, S. 81 ff.; E. Klein, in: Merten/ Papier, HGR VI/1, § 150, Rn. 38 ff.; Giegerich, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Breuer et al., Im Dienste des Menschen, S. 95 (148); Delzangles, S. 58 f.

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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a) Europarechtsnormen als Völkerrechtssätze Dafür ist zunächst zu klären, ob europarechtliche Normen überhaupt als Völkerrechtssätze i. S. d. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK aufzufassen sind. Denn nach der Rechtsprechung des EuGH handelt es sich beim Europarecht um eine autonome Rechtsordnung64, die zudem einen supranationalen Charakter aufweist und sich damit klar von den Eigenschaften und Strukturen des herkömmlichen Völkerrechts gelöst hat65. Jedoch geht das Europarecht im wesentlichen auf völkerrechtliche Verträge zurück66 und fließt somit ursprünglich aus einer völkerrechtlichen Rechtsquelle67, was der EuGH gleichfalls anerkannt hat68. Die supranationalen Kennzeichen der Europarechtsordnung69 geben auch keine Veranlassung dazu, deren Normen bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge außer Acht zu lassen. Schließlich sprechen Wortlaut und Entstehungsgeschichte von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK ebenfalls für ein weites Verständnis des dortigen Völkerrechtsbegriffs. Denn es wird ausnahmslos „jeder [. . .] Völkerrechtssatz“ 70 erfasst, und bei der Ausarbeitung der WVK wollte man anstelle einer Beschränkung auf allgemeines Völkerrecht gerade die Bezugnahme auf spezifische und regionale Regeln zulassen71. Demgemäß ist zu den anerkannten internationalen Rechts-

64 EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 (1269 f.); Schroeder, Gemeinschaftsrechtssystem, S. 105 ff.; Strunz, S. 80. 65 Vgl. Dupuy, in: Cannizzaro, The Law of Treaties, S. 123 (133); Schorkopf, Der Europäische Weg, S. 41 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9, Rn. 5 ff. 66 Ausnahmen bilden etwa gewohnheitsrechtliche Regeln sowie als Rechtserkenntnisquelle bei der Bestimmung allgemeiner Rechtsgrundsätze auch die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten; vgl. Strunz, S. 80 f., 90 f.; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 18; Streinz/Streinz, Art. 6 EUV, Rn. 25. 67 Sauer, Jurisdiktionskonflikte, S. 29; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 9, Rn. 5. 68 EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25): „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“. Wiederholt unterschied er auch zwischen den Gründungsverträgen der Union und „gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen“ (Hervorhebung durch Verfasser); EuGH, Gutachten 1/09 v. 08.03.2011 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137, Rn. 65; EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 157. 69 Hierzu gehören insbesondere Vorrang und unmittelbare Wirkung des Europarechts im innerstaatlichen Bereich, das Bestehen unabhängiger Organe und eigener Finanzquellen der EU sowie die Beschlussfassung nach dem Mehrheitsprinzip; Strunz, S. 79 f.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 4, Rn. 7 ff., § 9, Rn. 12 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 129 ff.; Sauer, Jurisdiktionskonflikte, S. 29 f. 70 Siehe in den authentischen Vertragssprachen etwa die engl. („any [. . .] rules of international law“) und die frz. Fassung („toute règle [. . .] de droit international“). 71 Jiménez de Aréchaga, 870th meeting of the ILC, Yearbook of the ILC 1966, Vol. I, Part II, S. 190, Rn. 70; Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 92; Gardiner, S. 301; Linderfalk, Interpretation, S. 178; Matz, S. 300 f.

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Teil 1: Grundlagen

quellen, die der völkerrechtsoffenen Vertragsauslegung nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK dienlich sein können, grundsätzlich auch das Europarecht zu zählen72. b) Vertragsauslegung zwischen Homogenität und Differenzierung aa) Problemstellung und Lösungsansätze Problematisch erscheint des weiteren, ob die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag, dem außer den EU-Mitgliedstaaten noch weitere Parteien angehören, gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK auch dann in Anlehnung an das Europarecht auszulegen ist, wenn die fraglichen europarechtlichen Vorschriften keinem europaratsweiten oder internationalen Standard entsprechen73. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK legt zwar fest, dass der zu berücksichtigende Rechtssatz zwischen den Parteien des auszulegenden Vertrages anwendbar sein muss, stellt aber im Gegensatz zu Abs. 2 lit. a gerade nicht klar, ob dies bei multilateralen Verträgen in Bezug auf alle Vertragsparteien erforderlich ist74. Zu dieser Frage haben sich in der Völkerrechtsordnung unterschiedliche Ansichten herausgebildet. Teils wird eine für sämtliche Parteien einheitliche Vertragsauslegung propagiert75 bzw. eine allseitige Bindung an die internationale Referenznorm vorausgesetzt76. Hiernach wäre eine Berücksichtigung des Europarechts bei der Konventionsauslegung gemäß Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK ausgeschlossen. Diese kategorische Lösung erschwert die Integration nichtuniversellen internationalen Rechts in den auszulegenden Vertrag tendenziell umso stärker, je mehr Staaten ihm als Parteien angehören77. Sie lässt sich daher kaum mit dem von der WVK verfolgten, auf rechtliche Koordinierung und Harmonisierung gerichteten Ansatz 72

Im Ergebnis ebenso Lock, Verhältnis, S. 166. Siehe dazu o., 1. 74 McLachlan, ICLQ 54 (2005), 279 (291); French, ICLQ 55 (2006), 281 (305, 307); McGrady, JWT 42 (2008), 589 (593 ff.); Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 100; Gardiner, S. 302 ff.; Pauwelyn, S. 261; Tzevelekos, Michigan JIL 31 (2010), 621 (653 f., Fn. 105). 75 Zur EMRK House of Lords, Ullah v Special Adjudicator [2004] UKHL 26, [2004] 2 AC 323, Rn. 20 (Lord Bingham of Cornhill), auch abrufbar unter: http://www. bailii.org/uk/cases/UKHL/2004/26.html. 76 WTO, European Communities – Measures Affecting the Approval and Marketing of Biotech Products, Reports of the Panel, 29.09.2006, WT/DS291/R, WT/DS292/R, WT/DS293/R, S. 333 f., Rn. 7.68, 7.70; Villiger, Commentary, Art. 31 WVK, Rn. 25; ders., FS Ress, 317 (327); ders., The Rules on Interpretation, in: Cannizzaro, The Law of Treaties, S. 105 (112); Daiber, EuR 2007, 406 (409); Linderfalk, Interpretation, S. 178; ders., NILR LV (2008), 343 (351 ff.); Pauwelyn, S. 257 ff.; im Ergebnis ebenso Kokott, Beweislastverteilung, S. 419; Breuer, Wirkungen, in: A. Zimmermann, 60 Jahre EMRK, S. 51 (72 f.); siehe auch Gardiner, S. 311 f. 77 Marceau, EJIL 13 (2002), 753 (781); McGrady, JWT 42 (2008), 589 (598); McLachlan, ICLQ 54 (2005), 279 (314); Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 100; siehe auch French, ICLQ 55 (2006), 281 (307). 73

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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in Einklang bringen78. Darüber hinaus ist die gleiche Geltung eines multilateralen Vertrages für die Gesamtheit seiner Parteien keineswegs zwingend, wie etwa die in Art. 41 WVK vorgesehene Möglichkeit zeigt, einen Vertrag ausschließlich mit Wirkung zwischen einzelnen Vertragsstaaten zu modifizieren79. So kommt entsprechend im Rahmen der Auslegung in Betracht, internationale Rechtsnormen allein gegenüber denjenigen Vertragsparteien heranzuziehen, die an sie gebunden sind. Das Europarecht wäre bei der Auslegung der EMRK nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK dann lediglich im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU, nicht aber zu sonstigen Konventionsstaaten zu berücksichtigen80. Denn bereits aus dem in lit. c statuierten Erfordernis der Anwendbarkeit der einschlägigen Bezugsnorm ergibt sich, dass Nichtmitglieder der EU in ihrer Rechtsstellung insoweit unberührt bleiben, zumal sie in dieser Konstellation auch als vom Europarecht nicht betroffene Drittstaaten i. S. d. Art. 34 WVK anzusehen sind (pacta tertiis nec nocent nec prosunt) 81. Eine derart differenzierende Auslegung der EMRK hätte im Hinblick auf das verfolgte Ziel normativer Homogenität ambivalente Folgen: Einerseits ließe sich eine stärkere Kohärenz der für die EU-Mitgliedstaaten nach Europarecht und EMRK bestehenden Schutzstandards erreichen82. Andererseits wäre aber auch eine gewisse Relativierung der inneren Einheitlichkeit der Konventionsrechtsordnung zu erwarten, da unterschiedliche Interpretationen der EMRK in Abhängigkeit von der EU-Zugehörigkeit des im jeweiligen Verfahren betroffenen Konventionsstaates möglich wären83. Es erscheint daher generell notwendig, einer systemfremden Zersplitterung des Vertragsregimes vorzubeugen und insbesondere zu verhindern, dass die Rechtsposition der nicht an die internationale Referenznorm gebundenen Vertragsstaaten beeinträchtigt wird. Aus diesem Grund wird die auf bestimmte Parteien beschränkte Einbeziehung internationalen Rechts in die Vertragsauslegung gemeinhin weiteren Vorausset-

78 Vgl. McGrady, JWT 42 (2008), 589 (598); Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/3, S. 643 f.; ferner Matz-Lück, FYBIL XVII (2006), 39 (47 f.). 79 McGrady, JWT 42 (2008), 589 (601); siehe auch Zuleeg, GYIL 20 (1977), 246 (270 f.); Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/3, S. 668. Jedenfalls insoweit dürfte Art. 41 WVK inzwischen auch zum anerkannten Völkergewohnheitsrecht gehören; Odendahl, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 41 WVK, Rn. 8. 80 Lorenzmeier, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 209 (226 ff.); siehe auch ders., Jura 2007, 370 (374 f.); Gundel, FS Scheuing, 58 (66). 81 Vgl. McGrady, JWT 42 (2008), 589 (606); E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 23; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 24. 82 Siehe Lorenzmeier, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 209 (226 ff.); ders., Jura 2007, 370 (374 f.). 83 So auch die Folgerung von Lorenzmeier, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 209 (226); vgl. weiterhin Gundel, FS Scheuing, 58 (66, 77); Dautricourt, S. 39; McLachlan, ICLQ 54 (2005), 279 (314).

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zungen unterworfen. Im einzelnen soll sie etwa zulässig sein, wenn die jeweiligen Streitparteien entsprechend gebunden sind84 und der auszulegende Vertrag zwischen ihnen ein synallagmatisches Verhältnis etabliert oder sonst eine bilaterale Implementierungsstruktur aufweist85. Gerade die letztgenannten Anforderungen beruhen erkennbar auf der Prämisse, dass der jeweilige völkerrechtliche Vertrag allein die kontrahierenden Staaten untereinander berechtigt und verpflichtet. Menschenrechtsschutzverträge wie die EMRK weisen jedoch eine andere Struktur auf. Denn die dort statuierten Rechte und Pflichten werden zwar multilateral von den Vertragsstaaten begründet, wirken aber primär vertikal zugunsten der Einzelnen, so dass die für den Vertrag wesentlichen und charakteristischen rechtlichen Bindungen gerade dem Staat-Bürger-Verhältnis zuzuordnen sind86. Die geforderte zwischenstaatliche Bilateralisierbarkeit der vertraglichen Rechtsbeziehungen erweist sich daher als nicht geeignet, um zu bestimmen, inwieweit die Auslegung von Menschenrechtsschutzregimen an sonstigen, nichtuniversellen Normen des internationalen Rechts ausgerichtet werden kann. Da diese Bezugsnormen nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK ohnehin lediglich als zu berücksichtigender Faktor in die Vertragsauslegung einfließen können, sie aber nicht zwingend determinieren87, bietet es sich vielmehr an, über ihre Einbeziehung nach Maßgabe der übrigen von Art. 31 WVK aufgestellten Auslegungskriterien zu entscheiden88. Auf dieser Grundlage ist es mittels einer umfassenden Gesamtabwägung generell möglich, auch den Besonderheiten spezieller Ver84 French, ICLQ 55 (2006), 281 (306 f.), hält dieses Kriterium für üblicherweise ausreichend; vgl. ferner Gardiner, S. 314 ff. 85 ILC, Fifty-eighth session, Fragmentation of International Law: difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, Report of the Study Group of the ILC, UN Doc. A/CN.4/L.682, 13.04.2006, Rn. 472; McLachlan, ICLQ 54 (2005), 279 (314 f.); Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 100. 86 Eingehend Behnsen, S. 95 ff., 107 ff., 171; Simma, S. 168 f., 171 f.; Kühner, S. 203 f.; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), 713 (727, 753 f.); Lijnzaad, S. 111; Parisi/S¸evcˇenko, Berkeley JIL 21 (2003), 1 (2, 20); Greig, Virginia JIL 34 (1994), 295 (333); Prebensen, GS Ryssdal, 1123 (1126). Aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane siehe EKMR, Entsch. v. 11.01.1961, Österreich ./. Italien, Nr. 788/60; EGMR, Urt. v. 18.01.1978, Irland ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 25, Rn. 239. 87 ILC, Fifty-eighth session, Fragmentation of International Law: difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, Report of the Study Group of the ILC, UN Doc. A/CN.4/L.682, 13.04.2006, Rn. 419; WTO, European Communities – Measures Affecting the Approval and Marketing of Biotech Products, Reports of the Panel, 29.09.2006, WT/DS291/R, WT/DS292/R, WT/DS293/R, S. 334, Rn. 7.69; McGrady, JWT 42 (2008), 589 (605 f., 611); French, ICLQ 55 (2006), 281 (307). 88 Vgl. Van Damme, FYBIL XVII (2006), 21 (38); McGrady, JWT 42 (2008), 589 (608); McLachlan, ICLQ 54 (2005), 279 (311); siehe auch das Sondervotum der Richterin Higgins zu IGH, Urt. v. 06.11.2003, Oil Platforms (Iran ./. USA), ICJ Reports 2003, 225, Rn. 46; EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18, Rn. 30; Villiger, FS Ress, 317 (327).

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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tragstypen angemessen Rechnung zu tragen89, damit jeweils eine systemische Integration erreicht werden kann, die mit der Rechtsstellung sämtlicher Vertragsparteien kompatibel ist. So ergibt sich gleichfalls ein Wertungseinklang mit den Voraussetzungen, die Art. 41 Abs. 1 lit. b WVK für die Modifikation eines multilateralen Vertrages im Verhältnis zwischen einzelnen Vertragsparteien vorsieht. bb) Vertragsspezifische Beurteilung Im Rahmen der danach vorzunehmenden vertragsspezifischen Beurteilung kommt neben dem Grundsatz von Treu und Glauben sowie dem Vertragszusammenhang gerade dem Ziel und Zweck des Vertrages i. S. d. Art. 31 Abs. 1 WVK eine zentrale Bedeutung zu90. Menschenrechtsschutzverträge verfolgen stets den Hauptzweck, einen wirksamen Schutz der verbürgten Menschenrechte zu gewährleisten91. Bei teleologischer Betrachtung kann internationales Recht, das nur einen Teil der Parteien solcher Verträge bindet, folglich dann mit Wirkung für diese Staaten in die Vertragsauslegung einfließen, wenn dies mit dem Ziel des Menschenrechtsschutzes vereinbar ist. Konkret ist die EMRK also gegenüber den Mitgliedstaaten der EU jedenfalls in menschenrechtsfördernder Weise nach Maßgabe des Europarechts auslegbar. Steht wie in der vorliegenden Untersuchung die individualschützende Durchsetzung des Europarechts gegen die EU-Mitgliedstaaten in Rede, bestehen gegen eine europarechtsorientierte Konventionsauslegung keine Bedenken, weil diese hier ausschließlich eine selektive Erhöhung des Schutzniveaus der EMRK herbeizuführen vermag. Umgekehrt widerspräche jedoch eine europarechtlich begründete partielle Absenkung92 des substantiellen 89 Vgl. zur Relevanz des individualschützenden Charakters von Menschenrechtsschutzverträgen für deren Auslegung Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 29; speziell zur EMRK siehe z. B. EGMR (GK), Urt. v. 18.12.1996, Loizidou ./. Türkei, Rep. 1996-VI (= EuGRZ 1997, 555), Rn. 43; EGMR (GK), Urt. v. 21.11.2001, Al-Adsani ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2001-XI, Rn. 55. 90 Vgl. Matz-Lück, FYBIL XVII (2006), 39 (48); Villiger, FS Ress, 317 (325); Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 29; Bernhardt, GYIL 42 (1999), 11 (16 f.); Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 19, 21; siehe auch das Sondervotum des Richters Mosler zu IGH, Gutachten v. 20.12.1980, Interpretation of the Agreement of 25 March 1951 between the WHO and Egypt, ICJ Reports 1980, 125 (126). 91 Vgl. Giegerich, ZaöRV 55 (1995), 713 (721, 727); Lijnzaad, S. 84, 111; zur EMRK siehe EKMR, Entsch. v. 11.01.1961, Österreich ./. Italien, Nr. 788/60; EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 87; EGMR (GK), Urt. v. 23.03.1995, Loizidou ./. Türkei (Preliminary Objections), Ser. A Vol. 310, Rn. 72; Klabbers, FYBIL VIII (1997), 138 (155); Bernhardt, GYIL 42 (1999), 11 (17, 23 f.); Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 5. 92 Sofern einer Menschenrechtsbeschwerde ein Rechtsstreit über ein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis zugrunde liegt, ist insoweit jeweils auf die einzelne konventionsrechtliche Garantie abzustellen; vgl. zur EMRK als Mindeststandard o., I.; ferner T. Thienel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 53 EMRK, Rn. 5; Breuer, NVwZ 2005, 412 (414); Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (492, 499).

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Teil 1: Grundlagen

konventionsrechtlichen Standards der Zielsetzung der EMRK und wäre somit unzulässig93. Diese Abgrenzung steht ferner in Einklang mit dem grundlegenden Prinzip von Treu und Glauben, das außer in Art. 31 Abs. 1 WVK auch in der Regel „pacta sunt servanda“ (Art. 26 WVK) zum Ausdruck kommt94. Denn die europarechtlichen Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten können so einerseits bei der Interpretation des Konventionsrechts berücksichtigt werden, ohne dass andererseits die Wirksamkeit der genuin von der EMRK garantierten Individualrechte in Mitleidenschaft gezogen wird. Inwiefern gerade das Europarecht für eine bestimmte Auslegung der EMRK ausschlaggebend war, sollte den Urteils- und Entscheidungsbegründungen des EGMR95 jeweils transparent zu entnehmen sein, so dass die Kohärenz der Konventionsrechtsordnung hinreichend gesichert ist. Damit ist insgesamt ein ausgewogener Interessenausgleich zwischen allen Vertragsstaaten der EMRK hergestellt, der ihren jeweiligen rechtlichen Bindungen angemessen Rechnung trägt. Als Teil des Vertragszusammenhangs i. S. d. Art. 31 Abs. 1, 2 WVK96 unterstreicht schließlich der dritte Erwägungsgrund der Präambel der EMRK die Integrationsfreundlichkeit der Konvention. Hier wird ausdrücklich das Ziel benannt, u. a. durch „die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte“ 97 eine „engere Verbindung“ 98 zwischen den Mitgliedern des Europarats zu schaffen99. Es zeigt sich also ein dynamisch-konstruktiver Ansatz, der über den Menschenrechtsschutz die Einigung Europas in den Blick nimmt100. 93 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 29, 32 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI (= EuGRZ 2007, 662), Rn. 154 ff.; ferner EGMR (GK), Urt. v. 12.07.2001, Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein ./. Deutschland, Rep. 2001-VIII (= EuGRZ 2001, 466), Rn. 47 f.; EGMR (GK), Urt. v. 08.04.2004, Assanidze ./. Georgien, Rep. 2004-II, Rn. 142. Siehe auch treffend E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 64; sowie zum Gesichtspunkt der normativen Fragmentierung Tzevelekos, Michigan JIL 31 (2010), 621 (664). 94 IGH, Urt. v. 20.12.1974, Nuclear Tests (Neuseeland ./. Frankreich), ICJ Reports 1974, 457, Rn. 49; Schmalenbach, in: Dörr/Schmalenbach, Art. 26 WVK, Rn. 15 f., m.w. N.; Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 60 f., 90; A. Aust, Modern Treaty Law, S. 234; vgl. auch Finke, S. 171 f. Zur Bedeutung von „pacta sunt servanda“ in der Konventionsrechtsordnung vgl. EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 150. 95 Siehe Art. 45 EMRK; K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 227 ff. 96 Vgl. insoweit EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18, Rn. 34. 97 Engl. „the maintenance and further realisation of human rights“; frz. „la sauvegarde et le développement des droits de l’homme“. 98 Engl. „greater unity“; frz. „union plus étroite“. 99 Entsprechend auch der dritte und vierte Erwägungsgrund der Präambel sowie Art. 1 lit. a, b der Satzung des Europarates v. 05.05.1949 (Sartorius II Nr. 110). 100 Vgl. Langenfeld/A. Zimmermann, ZaöRV 52 (1992), 259 (314); Frowein, in: ders./Peukert, Präambel, Rn. 2; Giegerich, ZaöRV 55 (1995), 713 (751 mit Fn. 142);

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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Für deren Verwirklichung ist die EU, auch wenn sie nicht alle Europaratsstaaten umfasst, eine schlechthin unverzichtbare Institution geworden, so dass man aus der integrationsfördernden Ausrichtung der EMRK durchaus eine grundsätzliche Offenheit des Konventionsrechts für europarechtliche Einflüsse ableiten kann. Im Ergebnis ist mithin die Berücksichtigung des Europarechts bei der Auslegung der EMRK im Verhältnis zu den EU-Mitgliedstaaten nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK geboten, sofern sie mit dem Ziel des Menschenrechtsschutzes in Übereinstimmung steht. Der EGMR hat das Europarecht dann zumindest bei seiner Entscheidungsfindung in Betracht zu ziehen, ohne dass sich dies allerdings notwendigerweise auch in der letztlich gewählten Auslegung niederschlagen muss101. Wie gezeigt, sprechen bei einer den Individualrechtsschutz begünstigenden Wirkung von Bezugsnormen aus dem Europarecht indes regelmäßig sämtliche relevanten Kriterien des Art. 31 WVK für eine europarechtsfreundliche Interpretation der EMRK. Angesichts dessen dürfte das Europarecht dann auch zumeist einen ausschlaggebenden Faktor für das letztlich zustandekommende Auslegungsergebnis des EGMR darstellen. c) Zur Auslegungspraxis des EGMR In der Rechtsprechungspraxis verbleibt dem EGMR als einzelfallbezogen judizierender Instanz freilich weitgehender Spielraum in Fragen der Auslegung, unterliegen doch die Heranziehung und v. a. die jeweilige Gewichtung der unterschiedlichen Auslegungskanones seiner konkreten Entscheidung102. Geht es um den Einfluss internationaler Rechtsnormen auf die EMRK, lässt sich der Straßburger Gerichtshof zwar des öfteren vom integrativen Ansatz des Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK leiten103, nimmt dabei jedoch nicht immer ausdrücklich auf diese

ders., ZVglRWiss 104 (2005), 163 (170); Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (837, 840 f., 868, 884 f.); Tzevelekos, Michigan JIL 31 (2010), 621 (644); Weidmann, S. 260; a. A. Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Präambel, Rn. 3. 101 Vgl. o., 1. 102 Instruktiv Tzevelekos, Michigan JIL 31 (2010), 621 (627, 645, 664, 676, 678, 685, 687 f.); Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 28; siehe auch French, ICLQ 55 (2006), 281 (307); Forowicz, S. 70; Matz-Lück, FYBIL XVII (2006), 39 (48). 103 Siehe bereits o., vor a); EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18, Rn. 35; EGMR (GK), Urt. v. 21.11.2001, Al-Adsani ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2001-XI, Rn. 55 ff.; EGMR (GK), Entsch. v. 12.12.2001, Bankovic´ et al. ./. Belgien et al., Rep. 2001-XII, Rn. 57; EGMR (GK), Urt. v. 04.02.2005, Mamatkulov und Askarov ./. Türkei, Rep. 2005-I, Rn. 111; EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 150; EGMR, Urt. v. 22.06.2006, Bianchi ./. Schweiz, Nr. 7548/04, Rn. 81; EGMR (GK), Urt. v. 29.01.2008, Saadi ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2008, Nr. 13229/03, Rn. 62; EGMR (GK), Urt. v. 12.11.2008, Demir und Baykara ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 34503/97, Rn. 67; EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Rantsev ./. Zypern und

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Teil 1: Grundlagen

Vorschrift Bezug104. Selbst wenn dies der Fall ist, wird stets auf eine Thematisierung und nähere Erörterung der sich bei der Auslegung und Anwendung der WVK stellenden Probleme verzichtet105. Deshalb gestaltet es sich insoweit häufig schwierig, Vorgehen und Resultat des EGMR in einem bestimmten Fall einer generellen dogmatischen Konzeption zuzuordnen106. Anhand zahlreicher Beispiele wird immerhin erkennbar, dass der EGMR die menschenrechtsschützende Zielsetzung der EMRK als eine wesentliche Richtschnur bei der Einbeziehung internationalen Rechts ansieht107. In diesem Umstand kommt auch die allgemein große Bedeutung der teleologischen Konventionsauslegung zum Ausdruck, die durch Effektivität108 sowie evolutive Dynamik und Gegenwartsbezogenheit109

Russland, Rep. 2010, Nr. 25965/04, Rn. 274; EGMR (GK), Urt. v. 27.05.2014, Marguš ./. Kroatien, Rep. 2014 (in Auszügen), Nr. 4455/10, Rn. 129; EGMR, Urt. v. 12.01. 2016, A.G.R. ./. Niederlande, Nr. 13442/08, Rn. 52; Forowicz, S. 43, 47 ff.; Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein, Vol. I, Art. 31 WVK, Rn. 47. 104 Zur impliziten Verwendung siehe z. B. EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 108; EGMR (GK), Urt. v. 22.03.2001, Streletz, Kessler und Krenz ./. Deutschland, Rep. 2001-I (= EuGRZ 2001, 210), Rn. 90 ff.; EGMR, Urt. v. 22.06.2004, Pini et al. ./. Rumänien, Rep. 2004-V (in Auszügen), Nr. 78028/01 und 78030/01, Rn. 138 f.; Forowicz, S. 13, 47, 58, 70; Tzevelekos, Michigan JIL 31 (2010), 621 (651 f.). 105 Forowicz, S. 13, 70 f. So ist bislang etwa eine direkte Auseinandersetzung des EGMR mit der Frage unterblieben, ob eine universelle Bindung der Vertragsparteien an die internationale Referenznorm erforderlich ist. 106 Vgl. auch Dautricourt, S. 29. 107 Eingehend Tzevelekos, Michigan JIL 31 (2010), 621 (649 ff., 657, 661, 664, 679, 686 f.); ferner Dautricourt, S. 30, 68; Villiger, FS Ress, 317 (330); Letsas, S. 59; Forowicz, S. 383; siehe z. B. EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18, Rn. 34 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 04.02.2005, Mamatkulov und Askarov ./. Türkei, Rep. 2005-I, Rn. 101, 111, 123; EGMR, Urt. v. 22.06.2006, Bianchi ./. Schweiz, Nr. 7548/04, Rn. 83 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 29.01.2008, Saadi ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2008, Nr. 13229/03, Rn. 62; EGMR (GK), Urt. v. 12.11.2008, Demir und Baykara ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 34503/97, Rn. 65 ff., 76; EGMR, Urt. v. 07.01.2010, Rantsev ./. Zypern und Russland, Rep. 2010, Nr. 25965/04, Rn. 274 f. 108 „The Convention is intended to guarantee [. . .] rights that are practical and effective“/„La Convention a pour but de protéger des droits [. . .] concrets et effectifs“; EGMR, Urt. v. 09.10.1979, Airey ./. Irland, Ser. A Vol. 32, Rn. 24; EGMR, Urt. v. 13.05. 1980, Artico ./. Italien, Ser. A Vol. 37, Rn. 33; EGMR, Urt. v. 28.11.1991, S ./. Schweiz, Ser. A Vol. 220, Rn. 48; EGMR, Urt. v. 30.01.1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei et al. ./. Türkei, Rep. 1998-I, Rn. 33; EGMR, Urt. v. 06.02.2003, Mamatkulov und Abdurasulovic ./. Türkei, Nr. 46827/99 und 46951/99, Rn. 93, 105. 109 „[T]he Convention is a living instrument which [. . .] must be interpreted in the light of present-day conditions.“/„[L]a Convention est un instrument vivant à interpréter [. . .] à la lumière des conditions de vie actuelles.“; EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 26, Rn. 31; EGMR, Urt. v. 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Ser. A Vol. 31, Rn. 41, 58; EGMR, Urt. v. 09.10.1979, Airey ./. Irland, Ser. A Vol. 32, Rn. 26; EGMR (GK), Urt. v. 23.03.1995, Loizidou ./. Türkei (Preliminary Objections), Ser. A Vol. 310, Rn. 71; EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2004, Vo ./. Frankreich, Rep. 2004-VIII, Rn. 82.

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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gekennzeichnet ist110. Zur Konkretisierung der internationalen Referenznormen orientiert sich der EGMR vielfach an deren Auslegung und Anwendung durch die dafür jeweils zuständigen Organe111. Des weiteren wird eine formelle Bindung aller Vertragsparteien der EMRK an die als Auslegungshilfe heranzuziehenden Rechtssätze vom EGMR zumindest nicht prinzipiell vorausgesetzt112. Auf das Europarecht einschließlich der Rechtsprechung des EuGH greift der Straßburger Gerichtshof schutzzweckkompatibel mitunter selbst dann zurück, wenn es nicht ohne weiteres die gemeinsamen Standards der Europaratsstaaten abbildet113. Die wesentlichen Elemente der soeben114 befürworteten vertragsspezifischen und zweckgeprägten Handhabung von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK finden sich demnach grundsätzlich in der Judikatur des EGMR wieder. Im Hinblick auf welche einzelnen Rechte und unter welchen Bedingungen der EGMR infolge ei110 Aus der Literatur Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 5 ff.; Badenhop, S. 67 ff.; K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 239 ff.; Bernhardt, GYIL 42 (1999), 11 (17 ff.); Rainey/Wicks/Ovey, S. 65, 73 ff., 81 f.; Cremer, in: Dörr/Grote/ Marauhn, EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 41 f.; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Einleitung, Rn. 24, 26; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5, Rn. 14 ff.; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 150, Rn. 37; Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 49 f.; Herdegen, Europarecht, § 3, Rn. 24; Rill, FS Winkler, 13 (13 f.); Prebensen, GS Ryssdal, 1123 (1123 ff.). 111 EGMR (GK), Urt. v. 04.02.2005, Mamatkulov und Askarov ./. Türkei, Rep. 2005I, Rn. 124; EGMR (GK), Urt. v. 12.11.2008, Demir und Baykara ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 34503/97, Rn. 85; EGMR (GK), Urt. v. 07.07.2011, Bayatyan ./. Armenien, Rep. 2011, Nr. 23459/03, Rn. 102, 105; Dörr, in: ders./Schmalenbach, Art. 31 WVK, Rn. 98. 112 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 22.06.2004, Pini et al. ./. Rumänien, Rep. 2004-V (in Auszügen), Nr. 78028/01 und 78030/01, Rn. 139, und EGMR, Urt. v. 13.12.2007, Emonet et al. ./. Schweiz, Nr. 39051/03, Rn. 65, beide im Hinblick auf das Europäische Übereinkommen über die Adoption von Kindern v. 24.04.1967; vgl. außerdem ausführlich EGMR (GK), Urt. v. 12.11.2008, Demir und Baykara ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 34503/97, Rn. 78 ff., 86, m.w. N.; siehe auch o., 1. 113 EGMR (GK), Urt. v. 08.12.1999, Pellegrin ./. Frankreich, Rep. 1999-VIII, Rn. 37 ff., 66; EGMR (GK), Urt. v. 26.07.2002, Meftah et al. ./. Frankreich, Rep. 2002VII, Rn. 32, 45; EGMR (GK), Urt. v. 12.04.2006, Stec et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2006-VI, Rn. 58; EGMR, Urt. v. 22.08.2006, Barrow ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 42735/02, Rn. 36; EGMR, Urt. v. 09.01.2007, Arnolin et al. ./. Frankreich, Nr. 20127/03 u. a., Rn. 81 f.; EGMR, Urt. v. 09.01.2007, Aubert et al. ./. Frankreich, Nr. 31501/03 u. a., Rn. 73 f.; EGMR (GK), Urt. v. 19.04.2007, Vilho Eskelinen et al. ./. Finnland, Rep. 2007-II, Rn. 60; ferner EGMR, Urt. v. 24.09.2002, Posti und Rahko ./. Finnland, Rep. 2002-VII, Rn. 54; indes jeweils ohne explizite Berufung auf Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK. Siehe auch E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 22 f., 54; K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 340 ff.; Dautricourt, S. 30, 32 ff.; Nunner, S. 255 ff.; Ress, FS Hirsch, 155 (157); Gundel, FS Scheuing, 58 (68 ff.); Daiber, EuR 2007, 406 (406 f.); Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (869); HeerReißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 225 ff., 238 ff.; Peters, Einführung in die EMRK, S. 28; dies./Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 3; Lock, LPICT 8 (2009), 375 (380); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5, Rn. 8; Bulach, S. 140; Douglas-Scott, CMLR 43 (2006), 629 (640 ff.); F. Wollenschläger, Gewährleistung, in: Iliopoulos-Strangas et al., Rechtsstaat, S. 45 (81). 114 Siehe o., b).

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Teil 1: Grundlagen

ner europarechtsorientierten Auslegung der EMRK jeweils zur Durchsetzung des Europarechts beigetragen hat, wird Gegenstand der folgenden Teile der Untersuchung sein.

III. Verweis der EMRK auf konventionsfremdes Recht Das System der EMRK ist nicht nur in der Auslegung offen für Einflüsse sonstigen internationalen Rechts, sondern verweist selbst auch verschiedentlich direkt auf konventionsfremdes Recht. Solche Verweise finden sich etwa im Begriff der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit, wie er jeweils in Art. 2 Abs. 2 EMRK, Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a–f EMRK, Art. 2 Abs. 1 ZP 4 und in Art. 1 Abs. 1 ZP 7 verwendet wird, sowie in den Gesetzesvorbehalten des Konventionsrechts, denen zufolge ein Eingriff gesetzlich vorgesehen sein muss115. Die als Verweisziel fungierenden Vorschriften können somit gleichfalls auf die konventionsrechtliche Beurteilung einwirken. Auch wenn die einheitliche Auslegung der EMRK selbst dadurch nicht berührt wird, ergibt sich als Folge der wesensmäßig dynamischen Verweistechnik doch eine gewisse Relativierung der grundsätzlichen Autonomie der Konventionsrechtsordnung116. Neben den genannten allgemeinen Verweisen kennt das Recht der EMRK des weiteren spezielle normative „Rezeptionsbegriffe“, die sich einer konventionsautonomen Definition entziehen und daher unter Zuhilfenahme konventionsfremden Rechts ausgelegt und konkretisiert werden müssen117. Hierzu gehören v. a. die Termini der „ausländische[n] Personen“ in Art. 16 EMRK sowie des „Volkes“ und der „gesetzgebenden Körperschaften“ in Art. 3 ZP 1118. All diese Referenzen des Konventionsrechts beziehen sich strukturtypisch auf die innerstaatliche Rechtsordnung des jeweils betroffenen Vertragsstaates, welche sich indes nicht allein auf das staatlich-nationale Recht i. e. S. beschränkt, sondern auch innerstaatlich anwendbare Normen sonstigen Ursprungs umfasst119. So hat die EKMR im Kontext des Art. 5 Abs. 1 EMRK festgestellt, dass unmittelbar anwendbares Europarecht bei der Bestimmung der Rechtmäßigkeit der beschwerdegegenständlichen Maßnahme heranzuziehen sei120. Dementsprechend schlie115 Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1, Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2, Art. 11 Abs. 2 EMRK, Art. 1 ZP 1, Art. 2 Abs. 3, 4 ZP 4, Art. 4 Abs. 2 ZP 7; siehe außerdem den Regelungsverweis in Art. 12 EMRK. Vgl. Matscher, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 72 f. 116 Vgl. K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 237 ff.; zur Konventionsautonomie ferner Forowicz, S. 10. 117 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (333 f.); ders., EMRK, 3. Aufl., § 4, Rn. 9; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 20 f. 118 Hierzu siehe jeweils näher u., Teil 5, A. IV. 3. b), VII. 1. b) und B. II. 3. b), IV. 2. 119 E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 20 f.; siehe auch Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (333); ders., EMRK, 3. Aufl., § 4, Rn. 9; Dautricourt, S. 24, 37.

B. Zuständigkeit und Prüfungsparameter des EGMR

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ßen auch die anderen konventionsrechtlichen Verweise das Europarecht als relevante Bezugsrechtsordnung ein. Insbesondere wird den Gesetzesvorbehalten der EMRK nicht genüge getan, wenn die nationale Rechtsgrundlage wegen Verstoßes gegen vorrangiges Europarecht keine Anwendung finden kann121: Die Europarechtswidrigkeit des nationalen Rechts führt dann mittelbar zur Konventionswidrigkeit des darauf gestützten Eingriffs122. Die in der EMRK enthaltenen Verweise auf konventionsfremdes Recht stellen damit für europarechtliche Vorgaben potentiell wichtige Öffnungen für den Zugang in das Konventionssystem dar. Für die praktische Durchsetzbarkeit des Europarechts über die EMRK ist jedoch zu berücksichtigen, dass der EGMR grundsätzlich seine Zuständigkeit zur selbstständigen Beurteilung von Fragestellungen verneint, die ausschließlich konventionsfremdes Recht betreffen123. Dessen Auslegung und Anwendung wird zuvörderst als Aufgabe der dafür zuständigen Stellen, vorwiegend der innerstaatlichen Gerichte, angesehen124. Gerade wenn die EMRK ihrerseits auf außerhalb ihrer selbst bestehendes Recht verweist, beansprucht der Gerichtshof aber auch diesbezüglich eine „gewisse Prüfungsbefugnis“ („certain power to review“/„certain contrôle“)125. Um nicht in die Funktion einer superrevisionsartigen „vierten Instanz“ zu geraten126, nimmt er dabei allerdings üblicherweise seine Kontroll-

120 EKMR, Entsch. v. 03.03.1978, Caprino ./. Vereinigtes Königreich (Zulässigkeit), DR 12, 14 (14, 18 f./26 ff.). 121 Zum Anwendungsvorrang des Europarechts gegenüber entgegenstehendem mitgliedstaatlichen Recht grundlegend EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/ 64, Slg. 1964, 1253 (1269 ff.); siehe auch Erklärung zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon Nr. 17 zum Vorrang, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 344; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 112 f., Rn. 389 f.; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (1 ff.); Dederer, ZaöRV 66 (2006), 575 (580 ff.). 122 E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 21; Daiber, EuR 2007, 406 (410 ff.); Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, Art. 8 EMRK, Rn. 91. 123 Siehe z. B. EGMR (GK), Urt. v. 21.01.1999, García Ruiz ./. Spanien, Rep. 1999-I, Rn. 28. 124 EGMR (GK), Urt. v. 16.06.2015, Delfi AS ./. Estland, Rep. 2015, Nr. 64569/09, Rn. 120, 127; EGMR (GK), Urt. v. 10.06.1996, Benham ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1996-III, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 29.02.1988, Bouamar ./. Belgien, Ser. A Vol. 129, Rn. 49; EGMR, Urt. v. 25.03.1985, Barthold ./. Deutschland, Ser. A Vol. 90, Rn. 48; Bröhmer, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 139, Rn. 58, m.w. N.; Grabenwarter/Marauhn, in: Grote/Marauhn, Kap. 7, Rn. 30. 125 EGMR (GK), Urt. v. 12.05.2005, Öcalan ./. Türkei, Rep. 2005-IV, Rn. 84; EGMR, Urt. v. 30.06.2005, Nakach ./. Niederlande, Nr. 5379/02, Rn. 37 ff.; EGMR, Urt. v. 01.03.2005, Beet et al. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 47676/99 u. a., Rn. 23, 26 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 10.06.1996, Benham ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1996III, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 24.10.1979, Winterwerp ./. Niederlande, Ser. A Vol. 33, Rn. 46; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 20. Vgl. auch Bernhardt, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 32; Bröhmer, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 139, Rn. 58. 126 Vgl. EGMR, Entsch. v. 23.10.2012, Ramaer und van Willigen ./. Niederlande, Nr. 34880/12, Rn. 104; EGMR, Entsch. v. 28.06.2011, Het Financieele Dagblad B.V. ./.

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Teil 1: Grundlagen

dichte zurück und überprüft die Einhaltung konventionsfremder Vorschriften durch die Vertragsstaaten nur mit Einschränkungen127. Auch wenn sich hierzu noch keine präzisen, eine stets randscharfe Abgrenzung ermöglichenden Konturen herausgebildet haben, lassen sich doch zumindest gewisse Orientierungspunkte identifizieren, wie die Prüfungsintensität im einzelnen abgestuft wird. So enthält das in Art. 5 EMRK detailliert ausgestaltete Recht auf Freiheit und Sicherheit bereits weitgehende Anforderungen an den Inhalt der in Bezug genommenen innerstaatlichen Rechtsordnung. Diese hohe Regelungsdichte auf Konventionsebene zieht dann eine entsprechend strengere Überprüfung in Straßburg nach sich128. Im übrigen, etwa im Rahmen einfacher Gesetzesvorbehalte, akzeptiert der EGMR eine innerstaatliche Vorschrift jedenfalls dann nicht mehr als Ermächtigungsgrundlage für einen Eingriff in ein Konventionsrecht, wenn eine dafür zuständige Instanz deren Rechtswidrigkeit festgestellt hat129. Von einer sanktionierbaren Verletzung der EMRK ist gleichermaßen auszugehen, falls das konventionsfremde Recht evident gegen höherrangige Normen verstößt oder sonst offensichtlich falsch ausgelegt oder angewandt wurde130. Die vom EGMR insoweit durchgeführte Kontrolle ist also im großen und ganzen auf Willkür beschränkt131, so dass sich ein zumindest vertretbarer Umgang der innerstaatlichen Stellen mit konventionsfremdem Recht einer menschenrechtlichen Beanstandung entzieht132.

Niederlande, Nr. 577/11, Rn. 51; Peters/Altwicker, EMRK, § 2, Rn. 7; siehe hierzu auch Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 127 ff., m.w. N. 127 Matscher, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 72 f.; Dörr, in: ders./Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 13, Rn. 142. 128 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 12; vgl. auch EGMR (GK), Urt. v. 08.04. 2004, Assanidze ./. Georgien, Rep. 2004-II, Rn. 171; EGMR, Urt. v. 27.11.1997, K.-F. ./. Deutschland, Rep. 1997-VII, Rn. 69 ff.; EGMR, Urt. v. 24.06.1982, van Droogenbroeck ./. Belgien, Ser. A Vol. 50, Rn. 54 ff.; EKMR, Entsch. v. 03.03.1978, Caprino ./. Vereinigtes Königreich (Zulässigkeit), DR 12, 14 (14, 18 f./26 ff.). 129 EGMR, Urt. v. 05.04.2007, Church of Scientology Moscow ./. Russland, Nr. 18147/02, Rn. 61 f., 95 f.; EGMR, Urt. v. 28.03.2000, Dimitrios Georgiadis ./. Griechenland, Nr. 41209/98, Rn. 13, 32; beide zur Verfassungswidrigkeit eines nationalen Gesetzes. 130 EGMR, Urt. v. 25.03.1985, Barthold ./. Deutschland, Ser. A Vol. 90, Rn. 48; Matscher, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 72 f.; Sansonetis, in: Pettiti/Decaux/Imbert, S. 536. Vgl. auch EGMR (GK), Urt. v. 09.07.2009, Mooren ./. Deutschland, Nr. 11364/ 03 (= EuGRZ 2009, 566), Rn. 74 f.; Elberling, in: Karpenstein/Mayer, Art. 5 EMRK, Rn. 20 ff. 131 Peters/Altwicker, § 2, Rn. 7; Bröhmer, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 139, Rn. 58; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 147, Rn. 22 f.; Grabenwarter/Marauhn, in: Grote/Marauhn, Kap. 7, Rn. 31; Dörr, in: ders./Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 13, Rn. 142; siehe auch EGMR, Urt. v. 24.10.1979, Winterwerp ./. Niederlande, Ser. A Vol. 33, Rn. 49. 132 Vgl. EGMR, Urt. v. 21.03.2002, Nikula ./. Finnland, Rep. 2002-II, Rn. 34; sowie zu Fällen mit umstrittener innerstaatlicher Rechtslage EGMR, Urt. v. 24.10.1979, Win-

C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde

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Darüber hinaus ist mit einer gesonderten Prüfung der Europarechtskonformität des nationalen Rechts durch den EGMR ohnehin nur zu rechnen, wenn diese für die Entscheidung über die zugrundeliegende Menschenrechtsbeschwerde erforderlich ist. Denn in Fällen, in denen die Beschwerdeführer (Bf.) die Europarechtswidrigkeit nationaler Vorschriften ohne direkten Bezug zu der gerügten Konventionsverletzung geltend machten133 oder aber die Rechtmäßigkeit der innerstaatlichen Eingriffsgrundlage zwischen beiden Verfahrensparteien unstreitig war134, hat der Straßburger Gerichtshof bislang auf eine entsprechende eigene Untersuchung verzichtet135. Die jeweilige Handhabung der Verweisnormen der EMRK durch die Konventionsorgane im Hinblick auf die Durchsetzung des Europarechts im Einzelfall wird in den anschließenden Teilen einer näheren, in den zugehörigen Kontext eingebetteten Analyse unterzogen.

C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde, Art. 34 f. EMRK Damit eine europarechtliche Rechtsposition vor dem EGMR überhaupt individualschützend durchgesetzt werden kann, muss die dem Verfahren zugrundeliegende Menschenrechtsbeschwerde zunächst konventionsprozessrechtlich zulässig sein. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde sind in Art. 34 f. EMRK geregelt und werden vom EGMR allesamt mit einer gewissen Flexibilität sowie ohne übertriebenen Formalismus angewandt136. Nachfolgend werden die einzelnen Erfordernisse allgemein und überblicksartig vorgestellt. Im weiteren Verlauf der Darstellung werden darüber hinaus Fragen der Zulässigkeit thematisiert werden, soweit bei der Behandlung der Straßburger Judikatur dazu Veranlassung besteht.

I. Partei-, Prozess- und Postulationsfähigkeit Gemäß Art. 34 S. 1 EMRK können natürliche Personen, nichtstaatliche Organisationen und Personengruppen Individualbeschwerde vor dem EGMR erheben.

terwerp ./. Niederlande, Ser. A Vol. 33, Rn. 48; EGMR, Urt. v. 29.02.1988, Bouamar ./. Belgien, Ser. A Vol. 129, Rn. 49. 133 EGMR (GK), Urt. v. 29.04.1999, Chassagnou et al. ./. Frankreich, Rep. 1999-III, Rn. 77. 134 EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Lustig-Prean und Beckett ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 31417/96 und 32377/96, Rn. 66; EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-VI, Rn. 73. 135 Siehe auch Daiber, EuR 2007, 406 (411). 136 EGMR (GK), Urt. v. 27.06.2000, I˙lhan ./. Türkei, Rep. 2000-VII, Rn. 51; EGMR, Urt. v. 12.04.2005, Shamayev et al. ./. Georgien und Russland, Rep. 2005-III, Rn. 302; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 2.

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Teil 1: Grundlagen

Die Parteifähigkeit nach der EMRK setzt voraus, dass der Bf. Träger der konventionsrechtlich garantierten Rechte sein kann137. Für natürliche Personen als primär Berechtigte ist dies ohne Ansehung sonstiger Kriterien stets der Fall138; im Hinblick auf Beginn und Ende des menschlichen Lebens können indes Abgrenzungsschwierigkeiten auftreten139. Mit dem Tod eines Bf. erlischt auch seine Parteifähigkeit140, so dass die Beschwerde nach Art. 37 Abs. 1 S. 1 lit. c EMRK aus dem Register gestrichen wird, sofern nicht nach S. 2 Erfordernisse des Menschenrechtsschutzes entgegenstehen. Dementsprechend ist in der Regel dann von einer Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens auszugehen, wenn Erben oder nahe Angehörige daran ein berechtigtes Interesse haben141 oder der Beschwerde allgemeine Bedeutung zukommt142. Nichtstaatliche Organisationen, zu denen sowohl juristische Personen als auch nichtrechtsfähige Vereinigungen zählen, sind parteifähig, wenn sie ein eigenes, auf sie wesensmäßig anwendbares Konventionsrecht geltend machen143. Auch juristische Personen des öffentlichen Rechts, die keine öffentlich-rechtlichen Befugnisse ausüben oder wie Religionsgesellschaften, Rundfunkanstalten und Universitäten grundrechtlich geschützte Bereiche prägen, werden als nichtstaatliche Akteure i. d. S. qualifiziert144. Bei Personengruppen als

137 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 32; Kadelbach, in: Ehlers/ Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 38. 138 Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 39; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 33; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 7. 139 Die Menschenrechtsfähigkeit des nasciturus ist zwar noch nicht abschließend geklärt (vgl. EGMR [GK], Urt. v. 08.07.2004, Vo ./. Frankreich, Rep. 2004-VIII, Rn. 85 ff.), dürfte aber jedenfalls in Bezug auf das Recht auf Leben gegeben sein; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 2, Rn. 33; ders., Jura 2000, 372 (376). 140 Vgl. EGMR, Entsch. v. 21.10.2008, Kaya und Polat ./. Türkei, Nr. 2794/05 und 40345/05; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 50; Meyer-Ladewig/Kulick, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 34, Rn. 7, 10. 141 Dies ist insbesondere bei einem finanziellen oder moralischen (etwa Rehabilitations-)Interesse anzunehmen; vgl. EGMR, Urt. v. 31.07.2000, Je˙cˇius ./. Litauen, Rep. 2000-IX, Rn. 40 f.; EGMR (GK), Urt. v. 30.03.2009, Léger ./. Frankreich, Nr. 19324/02, Rn. 43 f., m.w. N.; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 39; Meyer-Ladewig/Kulick, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 34, Rn. 8. 142 Bei diesem Kriterium werden relativ hohe Anforderungen gestellt; es ist etwa zu bejahen, wenn die gerügte Konventionsverletzung auch dritte Personen betrifft oder sonst auf eine allgemeine staatliche Praxis zurückgeht; EGMR (GK), Entsch. v. 13.12. 2000, Malhous ./. Tschechische Republik (Zulässigkeit), Rep. 2000-XII; EGMR, Urt. v. 24.07.2003, Karner ./. Österreich, Rep. 2003-IX, Rn. 26 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 9. 143 Vgl. EKMR, Entsch. v. 21.10.1996, L’Association du personnel de l’Entreprise Publique d’Electricité de la région d’Athènes et du Pirée (D.E.I. – P.A.P.) ./. Griechenland, Nr. 31508/96; EGMR, Entsch. v. 25.05.2000, Noack et al. ./. Deutschland, Rep. 2000-VI; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 34 EMRK, Rn. 18; Kadelbach, in: Ehlers/ Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 40; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 11 ff. 144 Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 40; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 13.

C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde

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nichtrechtlich verfassten Vereinigungen muss jedes Mitglied der Gruppe selbst parteifähig sein, da der Sache nach eine Bündelung einzelner Individualbeschwerden vorliegt145. Die Prozessfähigkeit ist in der EMRK nicht als eigenständiges Zulässigkeitskriterium ausgestaltet. Prozessfähig ist, wer Prozesshandlungen selbst oder durch einen Vertreter wirksam vornehmen kann146. In der Praxis wird die Prozessfähigkeit gemeinhin unterstellt, auch die fehlende oder beschränkte Geschäftsfähigkeit des Bf. steht dieser Annahme grundsätzlich nicht entgegen147. Die Notwendigkeit einer anwaltlichen Prozessvertretung ist demgegenüber eine Frage der Postulationsfähigkeit. Während sich der Bf. vor dem EGMR im Anfangsstadium des Verfahrens noch selbst vertreten kann, bedarf er nach Maßgabe von Art. 36 EGMR-VerfO der Vertretung durch einen zugelassenen Rechtsbeistand nach Zustellung der Beschwerde an die beklagte Vertragspartei sowie in jeder mündlichen Verhandlung, soweit der Kammerpräsident nichts anderes bestimmt.

II. Opfereigenschaft Weiterhin muss der Bf. laut Art. 34 S. 1 EMRK behaupten, durch einen Vertragsstaat in einem konventionsrechtlich anerkannten Recht verletzt zu sein148. Die danach geforderte Opfereigenschaft des Bf. liegt vor, wenn er substantiiert und schlüssig vorträgt, von der angegriffenen hoheitlichen Handlung oder Unterlassung betroffen und beschwert zu sein149. Das Individualbeschwerdeverfahren steht somit weder für eine Popularklage noch für eine abstrakte Normenkontrolle zur Verfügung150. Die Betroffenheit ist unproblematisch in Fällen zu bejahen, die 145

Vgl. EKMR, Entsch. v. 07.03.1977, Conscientious Objectors ./. Dänemark, DR 9, 117; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 34 EMRK, Rn. 17; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 15; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 40. 146 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 32; Kadelbach, in: Ehlers/ Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 41; Murswiek, JuS 1986, 8 (9). 147 Vgl. EGMR, Urt. v. 16.07.2009, Zehentner ./. Österreich, Nr. 20082/02, Rn. 39; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 32, 34, 36; Rogge, in: Pabel/ Schmahl, IntKomm, Art. 34 EMRK, Rn. 143 ff. 148 Engl. „claiming to be the victim of a violation“; frz. „se prétend victime d’une violation“. 149 Vgl. EKMR, Entsch. v. 05.03.1986, Akdogan ./. Deutschland, DR 46, 214; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 16. Ein Schadensnachweis ist jedoch nicht erforderlich; EGMR, Urt. v. 05.10.2006, Moscow Branch of the Salvation Army ./. Russland, Rep. 2006-XI, Rn. 65; Meyer-Ladewig/Kulick, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 34, Rn. 20, 26. 150 EGMR (GK), Urt. v. 27.06.2000, I˙lhan ./. Türkei, Rep. 2000-VII, Rn. 52; EGMR, Urt. v. 24.07.2003, Karner ./. Österreich, Rep. 2003-IX, Rn. 24; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 61; Rogge, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Art. 34 EMRK, Rn. 262; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 34 EMRK, Rn. 22; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 13, Rn. 16; Murswiek, JuS 1986, 8 (9).

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Teil 1: Grundlagen

eine an den Bf. gerichtete Einzelmaßnahme (Verwaltungsakt, Gerichtsurteil) zum Gegenstand haben. Wendet sich der Bf. direkt gegen gesetzliche Bestimmungen, müssen diese bereits das Risiko seiner unmittelbaren Beeinträchtigung hervorrufen151. Eine Beschwer ist spätestens mit der Rechtskraft der jeweiligen Maßnahme gegeben152, ohne dass es zwingend des Vollzuges oder einer andauernden Wirkung bedarf153. Der EGMR lässt ferner eine mittelbare oder indirekte Opfereigenschaft des Bf. genügen, falls dieser in einem besonderen Näheverhältnis zum direkten Opfer steht und eine schwerwiegende Menschenrechtsverletzung gerügt wird154. Während des gesamten Verfahrens prüft der Gerichtshof das Fortbestehen der Opfereigenschaft155. Diese entfällt, wenn die nationalen Stellen dadurch Abhilfe schaffen, dass sie die (behauptete) Konventionsverletzung zumindest der Sache nach anerkennen und eine angemessene Wiedergutmachung leisten156. Gleiches kann gelten, wenn der Bf. einen Vergleich akzeptiert oder sich der zugrundeliegende Rechtsstreit aus anderen Gründen erledigt hat157. Die zugehörige Menschenrechtsbeschwerde wird dann nach Art. 37 Abs. 1 lit. b EMRK aus dem Register des EGMR gestrichen158.

151 EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Johnston et al. ./. Irland, Ser. A Vol. 112, Rn. 42. Ein typisches Beispiel hierfür stellt etwa eine strafbewehrte Regelung dar; EGMR, Urt. v. 26.10.1988, Norris ./. Irland, Ser. A Vol. 142, Rn. 31 f.; Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 30, Rn. 33; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 70. 152 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 18; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 34 EMRK, Rn. 23; Rogge, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Art. 34 EMRK, Rn. 300. Die Beschwer kann auch schon vor Eintritt der Rechtskraft vorliegen, z. B. wenn bei sofortigem Vollzug in Ausweisungs- und Auslieferungssachen eine schwerwiegende und irreparable Verletzung vorhersehbar ist; EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 90 f. 153 Vgl. EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 42; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 43. 154 Näher zu Einzelfällen und Ausnahmen Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 73 ff., m.w. N. 155 EGMR, Urt. v. 12.10.2006, Staykov ./. Bulgarien, Nr. 49438/99, Rn. 89; EGMR, Urt. v. 18.05.2004, Prodan ./. Republik Moldau, Rep. 2004-III (in Auszügen), Nr. 49806/99, Rn. 46; Meyer-Ladewig/Kulick, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 34, Rn. 30. 156 EGMR (GK), Urt. v. 01.06.2010, Gäfgen ./. Deutschland, Rep. 2010, Nr. 22978/ 05 (= EuGRZ 2010, 417), Rn. 115; EGMR (GK), Urt. v. 29.03.2006, Scordino ./. Italien (Nr. 1), Rep. 2006-V, Rn. 180; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 18; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 79, 81 f. 157 EGMR, Urt. v. 04.06.2009, Standard Verlags GmbH ./. Österreich (Nr. 2), Nr. 21277/05 (= NJW 2010, 751), Rn. 36; EGMR, Urt. v. 11.07.2000, G. H. H. et al. ./. Türkei, Rep. 2000-VIII, Rn. 28; Meyer-Ladewig/Kulick, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 34, Rn. 32 f. 158 EGMR, Urt. v. 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00, Rn. 45; MeyerLadewig/Kulick, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 34, Rn. 30.

C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde

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III. Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs Der Bf. muss außerdem gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts erschöpft haben. Wie schon die Formulierung zeigt, spiegelt diese Zulässigkeitsvoraussetzung die völkerrechtliche „local remedies rule“ wider159 und verdeutlicht damit die Subsidiarität des konventionsrechtlichen Rechtsschutzes160. Dahinter steht der Gedanke, dass vor einer Befassung des EGMR als internationaler Instanz zunächst die mit der Situation vor Ort vertrauten staatlichen Stellen die Gelegenheit erhalten sollen, selbst die Verletzung von Konventionsrechten zu prüfen und ggf. abzustellen161. Hierfür ist freilich Voraussetzung, dass das innerstaatliche Recht insoweit eine wirksame Beschwerdemöglichkeit bereithält, wie sie in Art. 13 EMRK garantiert wird162. Das Kriterium der Rechtswegerschöpfung besteht aus einer vertikalen und einer horizontalen Komponente und muss normalerweise bei Beschwerdeerhebung, spätestens aber zum Zeitpunkt der Zulässigkeitsentscheidung vorliegen163. Für die vertikale Erschöpfung des Rechtswegs ist notwendig, dass der Bf. sämtliche verfügbaren Rechtsbehelfe eingelegt hat, die sich als zugänglich und effektiv darstellen164. Die Zugänglichkeit ist gegeben, wenn der Bf. von dem Rechtsbehelf Kenntnis haben und ihn ohne Hindernisse selbstständig ergreifen kann165. Die Effektivität erfordert, dass der Rechtsbehelf der gerügten Rechtsverletzung abzuhelfen geeignet ist und hinreichende Aussicht auf Erfolg bie159 Schulte, Individualrechtsschutz, S. 219; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 150, Rn. 63; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 35 EMRK, Rn. 1; Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 125 f.; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 8; D’Ascoli/Scherr, IYIL 16 (2006), 117 (127 ff., 134 ff.). 160 Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 30, Rn. 52; Meyer-Ladewig/Peters, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 35, Rn. 8; Bernhardt, FS Rauschning, 293 (296). 161 EGMR (GK), Urt. v. 29.04.2008, Burden ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2008, Nr. 13378/05, Rn. 42; EGMR, Urt. v. 23.05.2001, Denizci et al. ./. Zypern, Rep. 2001V, Rn. 357; EGMR, Urt. v. 19.09.2000, Gnahoré ./. Frankreich, Rep. 2000-IX, Rn. 46; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 24. 162 EGMR (GK), Urt. v. 28.04.2004, Azinas ./. Zypern, Rep. 2004-III, Rn. 38; EGMR, Urt. v. 18.12.1996, Aksoy ./. Türkei, Rep. 1996-VI, Rn. 51; Pastor Ridruejo, FS Ress, 1077 (1081 f.); Siess-Scherz, Bedeutung, in: Karl, Internationale Gerichtshöfe, S. 83 (90). 163 Siehe EGMR (GK), Entsch. v. 01.03.2010, Demopoulos et al. ./. Türkei, Rep. 2010, Nr. 46113/99 u. a., Rn. 87; EGMR, Urt. v. 20.05.2010, Baran und Hun ./. Türkei, Nr. 30685/05, Rn. 43; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 18; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 51; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 27. 164 EGMR (GK), Urt. v. 01.03.2006, Sejdovic ./. Italien, Rep. 2006-II, Rn. 45; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 21 f., m.w. N. 165 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 29; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 24; beide m.w. N.

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Teil 1: Grundlagen

tet166. Die Erhebung einer auf Schadensersatz gerichteten Staatshaftungsklage ist demnach nur zu verlangen, wenn das Rechtsschutzziel des Bf. auf dem Sekundärrechtsweg vollständig erreicht werden kann167. Neben dem herkömmlichen gerichtlichen Instanzenzug sind ebenfalls die geeigneten verwaltungsbehördlichen und verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten wahrzunehmen168. So muss in Deutschland regelmäßig Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erhoben werden169, die Anrufung eines Landesverfassungsgerichts allein genügt grundsätzlich nicht170. Des weiteren werden auch die auf EU-Ebene bestehenden Rechtsbehelfe von den Konventionsorganen als „innerstaatlich“ i. S. d. Art. 35 Abs. 1 EMRK qualifiziert171. Insbesondere kann es dem Bf. obliegen, die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV anzuregen, um europarechtliche Rechtsfragen durch den EuGH klären zu lassen172. Die tatsächliche Durchführung dieses Verfahrens hängt hin-

166 EGMR, Urt. v. 20.11.1995, Pressos Compania Naviera S. A. et al. ./. Belgien, Ser. A Vol. 332, Rn. 27; EGMR (GK), Urt. v. 17.09.2009, Scoppola ./. Italien (Nr. 2), Nr. 10249/03, Rn. 71; Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 147; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 22 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 28 ff.; Bernhardt, FS Rauschning, 293 (296 ff.); D’Ascoli/Scherr, IYIL 16 (2006), 117 (130 ff.); Murswiek, JuS 1986, 8 (10). 167 EGMR, Urt. v. 19.10.2000, Włoch ./. Polen, Rep. 2000-XI, Rn. 90; EGMR (GK), Urt. v. 25.03.1999, Iatridis ./. Griechenland, Rep. 1999-II, Rn. 47; EGMR, Urt. v. 19.02.1998, Kaya ./. Türkei, Rep. 1998-I, Rn. 105. Näher Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 33; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 30 ff.; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 49; siehe auch Breuer, JZ 2003, 433 (441 f.). 168 EGMR, Urt. v. 27.04.1988, Boyle und Rice ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 131, Rn. 65; EGMR, Entsch. v. 09.10.2007, Röhl ./. Deutschland, Nr. 12846/02; Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 138 ff.; Kadelbach, in: Ehlers/ Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 48. 169 EGMR, Entsch. v. 19.01.2010, Marchitan ./. Deutschland, Nr. 22448/07; EGMR, Urt. v. 04.12.2008, Adam ./. Deutschland, Nr. 44036/02, Rn. 85 f.; EGMR, Entsch. v. 19.01.1999, Allaoui et al. ./. Deutschland, Nr. 44911/98 (= EuGRZ 2002, 144); Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 25; Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 30, Rn. 59; Schulte, Individualrechtsschutz, S. 219; Bernhardt, FS Rauschning, 293 (296); Steiner, FS Bethge, 653 (656, 658); Wittinger, NJW 2001, 1238 (1239); Breuer, JZ 2003, 433 (440 f.). 170 Dies gilt jedenfalls, soweit die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts selbst als Akt öffentlicher Gewalt i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG mit der Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG angreifbar ist; siehe hierzu BVerfGE 96, 231 (242 f.). EKMR, Entsch. v. 12.12.1974, X. ./. Deutschland, DR 1, 93, Nr. 6729/74; vgl. auch EGMR, Entsch. v. 25.05.2000, Noack ./. Deutschland, Rep. 2000-VI; offen gelassen von EGMR, Entsch. v. 05.06.2003, Reuther ./. Deutschland, Rep. 2003-IX; siehe auch Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 26. 171 EKMR, Entsch. v. 19.01.1989, Dufay ./. EG, Nr. 13539/88, Rn. 2; siehe auch EGMR, Entsch. v. 23.05.2002, Segi et al. ./. 15 Staaten der EU, Rep. 2002-V; Schäfer, Verletzungen der EMRK, S. 67 f.; ders., in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 28, 88. 172 EKMR, Entsch. v. 20.05.1998, Mens und Mens-Hoek ./. Niederlande, Nr. 34325/ 96; Winkler, Beitritt, S. 64 ff.; vgl. auch bereits EKMR, Entsch. v. 12.03.1976, Sacchi ./.

C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde

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gegen letztlich von der Vorlageentscheidung des befassten nationalen Gerichts ab und stellt deshalb keine Bedingung für die Erschöpfung des Rechtswegs dar173. Die horizontale Rechtswegerschöpfung setzt voraus, dass der Bf. die behauptete Konventionsverletzung vor den nationalen Stellen wenigstens der Sache nach und unter Beachtung der innerstaatlichen Fristen, Form- und Verfahrensvorschriften geltend gemacht hat174. Üblicherweise hinreichend ist ein entsprechendes Vorbringen bei der obersten nationalen Instanz, die über die erforderliche Prüfungskompetenz verfügt175. Eine ausdrückliche Bezugnahme des Bf. auf die einschlägigen Konventionsgarantien ist dabei nur vonnöten, wenn das innerstaatliche Recht dies verlangt176. Neue Beweismittel und Sachvorträge, die nicht Gegenstand des Ausgangsverfahrens waren, kann der EGMR nicht mehr berücksichtigen177.

IV. Beschwerdefrist Die Beschwerde vor dem EGMR muss nach Art. 35 Abs. 1 EMRK innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung erhoben werden178. Das Fristerfordernis dient einerseits der Herstellung Italien, DR 5, 43, Nr. 6452/74; Ghandi, LIEI 1981, 1 (21). Vgl. ferner u., Teil 2, A. IV. 3. i) bb), cc), k) bb), cc), l) dd). 173 Vgl. Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 24; Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 17. Siehe zum Vorabentscheidungsverfahren noch ausführlich u., Teil 2, A. 174 EGMR, Urt. v. 06.11.1980, van Oosterwijck ./. Belgien, Ser. A Vol. 40 (= EuGRZ 1981, 275), Rn. 39; EGMR, Urt. v. 19.03.1991, Cardot ./. Frankreich, Ser. A Vol. 200, Rn. 34; EGMR (GK), Urt. v. 16.09.1996, Akdivar et al. ./. Türkei, Rep. 1996-IV, Rn. 66; EGMR, Urt. v. 19.02.1998, Bahaddar ./. Niederlande, Rep. 1998-I, Rn. 44; EGMR (GK), Urt. v. 28.07.1999, Selmouni ./. Frankreich, Rep. 1999-V, Rn. 74; EGMR, Urt. v. 10.07.2001, Avs¸ar ./. Türkei, Rep. 2001-VII, Rn. 375; EGMR (GK), Urt. v. 01.03.2006, Sejdovic ./. Italien, Rep. 2006-II, Rn. 44; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 39; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 35 EMRK, Rn. 20, 22; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 36 ff. 175 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 44; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 37. Eine eigene Prüfungspflicht der innerstaatlichen Stellen entbindet den Bf. nicht von seiner Rügeobliegenheit; EGMR, Urt. v. 06.09.2005, Bekir Yıldız ./. Türkei, Nr. 49156/99, Rn. 34; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 42. 176 Vgl. EGMR, Urt. v. 20.05.2010, Lelas ./. Kroatien, Nr. 55555/08, Rn. 49 ff.; EGMR, Urt. v. 06.11.1980, van Oosterwijck ./. Belgien, Ser. A Vol. 40 (= EuGRZ 1981, 275), Rn. 33; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 37; Schäfer, in: Karpenstein/ Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 41; Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 153. 177 EGMR, Entsch. v. 23.11.2010, Kriegisch ./. Deutschland, Nr. 21698/06; EGMR, Urt. v. 24.09.2009, Procedo Capital Corporation ./. Norwegen, Nr. 3338/05, Rn. 42; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 40; Wittinger, NJW 2001, 1238 (1239); siehe aber auch EGMR (GK), Urt. v. 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Rep. 2008, Nr. 1638/03, Rn. 87 ff. 178 Nach Maßgabe von Art. 4 und Art. 8 Abs. 3 des am 24.06.2013 zur Unterzeichnung aufgelegten ZP 15 ist eine Verkürzung der Frist auf vier Monate vorgesehen.

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Teil 1: Grundlagen

von Rechtssicherheit in einem überschaubaren Zeitraum, belässt potentiellen Bf. jedoch andererseits auch eine hinreichende Bedenk- und Vorbereitungszeit179. Bezugspunkt ist jeweils diejenige den Beschwerdegegenstand betreffende Entscheidung, die letztinstanzlich auf einen effektiven Rechtsbehelf180 folgt181. Ein Vorabentscheidungsurteil des EuGH gilt nicht als endgültige Entscheidung i. d. S., da es lediglich ein Zwischenverfahren abschließt182. Die Beschwerdefrist beginnt mit der Zustellung der Entscheidung an den Bf. oder seinen Prozessvertreter183, bei Verzicht hierauf mit ihrer Ausfertigung, sofern eine tatsächliche Möglichkeit zur inhaltlichen Kenntnisnahme bestand184. Wenn ein effektiver Rechtsbehelf fehlt185, ist direkt auf den Erlass der angegriffenen Maßnahme, im Falle einer kontinuierlichen Konventionsverletzung auf die Beendigung dieser Situation abzustellen186. Innerhalb der Sechsmonatsfrist187 muss der Bf. gemäß Art. 47 EGMR-VerfO das vollständig ausgefüllte Beschwerdeformular einschließlich aller erforderlichen Unterlagen an den Gerichtshof absenden188; maßgeblich ist grundsätzlich das Datum des Poststempels189. Unter besonderen Umständen er-

179 EGMR (GK), Urt. v. 18.09.2009, Varnava et al. ./. Türkei, Rep. 2009, Nr. 16064/ 90 u. a., Rn. 156; EGMR, Entsch. v. 25.08.2005, O’Loughlin et al. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23274/04; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 39; Zwaak, in: van Dijk/ van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 162. 180 Siehe o., III. 181 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 39; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 35 EMRK, Rn. 34. 182 Siehe EGMR, Entsch. v. 13.09.2001, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Nr. 45036/98; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 52; Breuer, JZ 2003, 433 (440). Vgl. auch u., Teil 2, A. I. 1. 183 EGMR, Urt. v. 29.08.1997, Worm ./. Österreich, Rep. 1997-V, Rn. 32 f.; EGMR, Urt. v. 29.03.2001, Haralambidis et al. ./. Griechenland, Nr. 36706/97, Rn. 38; Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 30, Rn. 66. 184 EGMR (GK), Urt. v. 25.03.1999, Papachelas ./. Griechenland, Rep. 1999-II (= EuGRZ 1999, 319), Rn. 30; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 779; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 13, Rn. 40; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 58. 185 Die Ergreifung ineffektiver Rechtsbehelfe wirkt sich nicht auf den Fristbeginn aus; EGMR, Entsch. v. 05.01.2006, Fernie ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14881/04; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 53; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 42. 186 EGMR (GK), Entsch. v. 23.01.2002, Slivenko et al. ./. Lettland, Rep. 2002-II, Rn. 111; EGMR, Urt. v. 31.07.2000, Je˙cˇius ./. Litauen, Rep. 2000-IX, Rn. 44; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 40 f.; Meyer-Ladewig/Peters, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 35, Rn. 27 ff. 187 Zu Einzelheiten der Fristberechnung siehe Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 59; Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 30, Rn. 67. 188 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 61 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 44. 189 Art. 47 Abs. 6 EGMR-VerfO; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 6 ff.

C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde

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kennt der EGMR eine Fristhemmung an, insbesondere wenn der Bf. – z. B. durch Haft – an der fristgemäßen Beschwerdeerhebung gehindert wurde190.

V. Unzulässigkeitsgründe des Art. 35 Abs. 2, 3 EMRK In Art. 35 Abs. 2 und 3 EMRK sind schließlich weitere Umstände normiert, die zur Unzulässigkeit der Individualbeschwerde führen. Hierzu zählt gemäß Art. 35 Abs. 2 lit. a EMRK zunächst die Anonymität der Beschwerde. Kann der EGMR die Identität des Bf. nicht feststellen, nimmt er die Beschwerde nicht zur Entscheidung an191. In begründeten Ausnahmefällen können aber die Vertraulichkeit des Verfahrens und die Anonymisierung der Beschwerde beantragt werden192. Gleichermaßen unzulässig ist nach Art. 35 Abs. 2 lit. b EMRK eine Beschwerde, die im wesentlichen mit einer vom EGMR bereits geprüften Beschwerde übereinstimmt oder einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz unterbreitet wurde und keine neuen Tatsachen enthält. Eine Übereinstimmung von Beschwerden liegt vor, soweit sie in Bezug auf Parteien und Beschwerdegegenstand identisch sind193. Während nur formell ergangene Entscheidungen der Straßburger Organe der Zulässigkeit einer weiteren Beschwerde entgegenstehen (res iudicata), genügt dafür bei den sonstigen Instanzen schon die Anhängigkeit der Rechtssache (lis pendens)194. Indem der Bf. seinen dortigen Antrag zurücknimmt, kann er aber eine Unzulässigkeitserklärung durch den EGMR vermeiden195. Als andere internationale Instanz i. S. d. lit. b sind nur solche Stellen anzusehen, die ein gerichtliches oder quasi-gerichtliches Verfahren

190 EGMR, Entsch. v. 01.02.2005, Ölmez und Ölmez ./. Türkei, Nr. 39464/98; EGMR, Urt. v. 07.10.2004, Poleshchuk ./. Russland, Nr. 60776/00, Rn. 35; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 35 EMRK, Rn. 46; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 60; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 150, Rn. 67. Vgl. auch Art. 34 S. 2 EMRK. 191 EGMR, Entsch. v. 15.09.2009, „Blondje“ ./. Niederlande, Rep. 2009, Nr. 7245/ 09; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 67 ff.; Matscher, EuGRZ 1982, 489 (499). 192 Art. 33, 47 Abs. 4 EGMR-VerfO; EGMR (GK), Urt. v. 12.07.2001, K. und T. ./. Finnland, Rep. 2001-VII (= NJW 2003, 809), Rn. 5; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 46; Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 30, Rn. 77. 193 Vgl. EKMR, Entsch. v. 20.01.1987, Council of Civil Service Unions et al. ./. Vereinigtes Königreich, DR 50, 228; EGMR, Entsch. v. 08.12.2009, Previti ./. Italien, Nr. 45291/06, Rn. 293 f.; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 71 ff., m.w. N.; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 57. 194 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 79 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 49. 195 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 49; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 60.

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Teil 1: Grundlagen

durchführen, das dem konventionsrechtlichen ähnelt196. Das Vertragsverletzungsverfahren vor EU-Kommission oder EuGH nach Art. 258 AEUV erfüllt diese Voraussetzung nicht, weil ihm die erforderliche individualschützende Ausrichtung fehlt197. Denn die EU-Kommission kann über die Verfahrenseinleitung nach eigenem Ermessen entscheiden198, der EuGH hingegen ist in diesem Rahmen nicht befugt, Einzelnen individuellen Schadensersatz zuzusprechen199. Im übrigen gehören Verfahren vor dem EuGH vielmehr regelmäßig zum zu erschöpfenden innerstaatlichen Rechtsweg200. Eine Beschwerde wird vom EGMR ferner für unzulässig erklärt, wenn er sie für unvereinbar mit dem Konventionsrecht, für offensichtlich unbegründet oder für einen Missbrauch des Beschwerderechts hält (Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK). Das Unvereinbarkeitskriterium zeichnet negativ den Anwendungsbereich der Konvention und damit das Zuständigkeitsgebiet des EGMR nach201. Im einzelnen kann eine Beschwerde in persönlicher (ratione personae), örtlicher (ratione loci), zeitlicher (ratione temporis) oder sachlicher (ratione materiae) Hinsicht mit der EMRK inkompatibel sein202. Bis die EU der EMRK beitritt und somit selbst als Vertragspartei gebunden ist203, unterfallen unmittelbar gegen sie gerichtete Beschwerden der Unvereinbarkeit ratione personae204. Der weitere Un196 EKMR, Entsch. v. 12.01.1995, Lukanov ./. Bulgarien, DR 80-B, 108; EGMR, Urt. v. 01.02.2011, Karoussiotis ./. Portugal, Nr. 23205/08, Rn. 62. Vom EGMR entsprechend qualifiziert wurden etwa der UN-Menschenrechtsausschuss als Kontrollorgan des IPbpR, der ILO-Ausschuss für Vereinigungsfreiheit und die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 84 ff., m.w. N. aus der Rspr. 197 Siehe EGMR, Urt. v. 01.02.2011, Karoussiotis ./. Portugal, Nr. 23205/08, Rn. 69 f., 73 ff. 198 Siehe u., Teil 2, A. III. 2. a). 199 Vgl. EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 94 ff.; Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 260 AEUV, Rn. 7; Schwarze/Schwarze, Art. 260 AEUV, Rn. 3 f.; Streinz/Ehricke, Art. 260 AEUV, Rn. 1 ff. 200 Siehe auch o., III.; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 28, 88; vgl. ferner Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 19; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 73; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 50. 201 Vgl. EGMR, Entsch. v. 23.11.1999, Section de commune d’Antilly ./. Frankreich, Rep. 1999-VIII; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 53; Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 122. 202 Näher Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 89 ff.; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 62 ff.; Matscher, EuGRZ 1982, 489 (500 ff.). 203 Siehe u., D. 204 EKMR, Entsch. v. 10.07.1978, Confédération Française Démocratique du Travail ./. EG, DR 13, 231; EKMR, Entsch. v. 19.01.1989, Dufay ./. EG, Nr. 13539/88, Rn. 1; EKMR, Entsch. v. 09.02.1990, Melchers & Co. ./. Deutschland, DR 64, 138 (= ZaöRV 50 [1990], 865, in Auszügen); EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 152; EGMR, Entsch. v. 20.01.2009, Cooperatieve Producentenorganisatie van de Nederlandse Kokkelvisserij

C. Zulässigkeitsvoraussetzungen der Individualbeschwerde

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zulässigkeitsgrund der offensichtlichen Unbegründetheit erfüllt eine in der Praxis wichtige Filterfunktion, da er eine vorgezogene Sachprüfung auf der Zulässigkeitsebene ermöglicht205. Auf diese Weise können etwa Beschwerden frühzeitig zurückgewiesen werden, die klar unsubstantiiert sind, auf nicht beweisbaren Tatsachen beruhen oder sonst keine Konventionsverletzung erkennen lassen206. Eher selten treten dagegen Fälle missbräuchlicher Beschwerdeerhebung auf, die z. B. bei bewussten Falschangaben oder schwerwiegendem beleidigenden Verhalten des Bf. angenommen werden207. Gemäß dem durch das ZP 14 in Art. 35 Abs. 3 lit. b EMRK eingeführten Geringfügigkeitskriterium ist schließlich eine Beschwerde unzulässig, wenn dem Bf. nach Ansicht des EGMR kein erheblicher Nachteil entstanden ist (de minimis non curat praetor)208. Die Rechtsfolge der Unzulässigkeit greift jedoch nur unter den zusätzlichen Voraussetzungen ein, dass auch die Achtung der konventionsrechtlich anerkannten Menschenrechte keine Prüfung der Begründetheit erfordert und die Rechtssache von einem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft wurde209.

U.A. ./. Niederlande, Rep. 2009, Nr. 13645/05 (= EuGRZ 2011, 11), Rn. 2; EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Lechouritou et al. ./. Deutschland und 26 weitere Mitgliedstaaten der EU, Nr. 37937/07 (= EuGRZ 2013, 26); Peters/Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 1; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 38; Kraus, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 3, Rn. 20; Winkler, Beitritt, S. 155; Hentschel-Bednorz, S. 358; Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (41); Michl, Überprüfung, S. 25 f.; Gragl, Accession, S. 64 ff.; Indlekofer/D. Engel, ZEuS 2015, 75 (81). 205 Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 115 f.; Granata, IYIL 20 (2010), 111 (112 ff.); Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 785. 206 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13, Rn. 60 ff.; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 67. 207 EGMR, Urt. v. 05.10.2000, Varbanov ./. Bulgarien, Rep. 2000-X, Rn. 36; EGMR, Entsch. v. 11.01.2007, di Salvo ./. Italien, Nr. 16098/05; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 35 EMRK, Rn. 62; Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 132 ff.; Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 61. 208 Ausschlaggebend sind die finanzielle Relevanz des Streitgegenstandes sowie die Bedeutung des Falles für den Bf.; EGMR, Entsch. v. 22.02.2011, Gaftoniuc ./. Rumänien, Nr. 30934/05, Rn. 31. Siehe näher Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 35 EMRK, Rn. 145 ff.; Meyer-Ladewig/Peters, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 35, Rn. 53 ff.; Granata, IYIL 20 (2010), 111 (117 ff.); Tulkens, IYIL 20 (2010), 169 (173 ff.); Leitsch/Klingberg, MRM 2010, 31 (33 f.); kritisch Egli, ZaöRV 64 (2004), 759 (779 ff.). 209 Das Erfordernis der gebührenden Prüfung durch ein innerstaatliches Gericht soll mit Inkrafttreten von Art. 5 ZP 15 (zur Unterzeichnung aufgelegt am 24.06.2013) entfallen.

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Teil 1: Grundlagen

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch einen Beitritt der EU zur EMRK I. Ausgangslage Ungeachtet dessen, dass die materiellen Garantien der EMRK nach Maßgabe von Art. 6 Abs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC210 in den Gewährleistungsgehalt der EU-Grundrechte einfließen211, unterliegt die EU derzeit noch keiner unmittelbaren völkerrechtlichen Bindung an die EMRK, weil sie bislang nicht Vertragspartei der Konvention ist212. Unter diesen Umständen ist eine Durchsetzung von Europarecht durch den EGMR von vornherein allein auf der Grundlage von Menschenrechtsbeschwerden möglich, die sich gegen Mitgliedstaaten der EU richten. Der konventionsrechtliche Schutz europarechtlicher, typischerweise grundrechtlicher Rechtspositionen gegen Akte der Unionsgewalt beschränkt sich hingegen auf eine Reserveüberwachung, deren Parameter der EGMR in seiner Bosphorus-Rechtsprechung herausgearbeitet hat. Danach ist staatliches Handeln, das durch europarechtliche Vorgaben determiniert wird, so lange konventionsrechtlich gerechtfertigt, wie die EU einen EMRK-äquivalenten, d. h. in sowohl materiell- als auch verfahrensrechtlicher Hinsicht vergleichbaren Rechtsschutz gewährleistet213. Diese Äquivalenz des Rechtsschutzes auf EU-Ebene wird vom 210 ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 389; ursprüngliche Fassung in ABl. Nr. C 364 v. 18.12.2000, S. 1. 211 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 6 f., 19 ff.; Uerpmann-Wittzack, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 223 f.; Streinz/Streinz/ Michl, Art. 6 EUV, Rn. 21; Puissochet, GS Ryssdal, 1139 (1143 ff.); Naumann, EuR 2008, 424 (425 ff.); Grewe, EuR 2012, 285 (290 f.); Raue, GRUR Int. 2012, 402 (406 f.). 212 Siehe schon o., C. V.; Lindner, EuR 2007, 160 (171); Lock, LPICT 8 (2009), 375 (376); Blanke, in: ders./Mangiameli, S. 182; Bulach, S. 16. 213 EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 155 ff.; bestätigt in EGMR, Entsch. v. 10.10. 2006, Coopérative des agriculteurs de la Mayenne und Coopérative laitière Maine-Anjou ./. Frankreich, Rep. 2006-XV, Rn. 5; EGMR, Entsch. v. 09.09.2008, Boivin ./. 34 Mitgliedstaaten des Europarates, Rep. 2008, Nr. 73250/01, Rn. 2; EGMR, Entsch. v. 09.12.2008, Etablissements Biret et Cie S.A. und Biret International ./. 15 Mitgliedstaaten der EU, Nr. 13762/04, Rn. 2; EGMR, Entsch. v. 09.12.2008, Connolly ./. 15 Mitgliedstaaten der EU, Nr. 73274/01; EGMR, Entsch. v. 20.01.2009, Cooperatieve Producentenorganisatie van de Nederlandse Kokkelvisserij U.A. ./. Niederlande, Rep. 2009, Nr. 13645/05 (= EuGRZ 2011, 11), Rn. 3; EGMR, Entsch. v. 12.05.2009, Gasparini ./. Italien und Belgien, Nr. 10750/03; EGMR (GK), Urt. v. 21.01.2011, M.S.S. ./. Belgien und Griechenland, Rep. 2011, Nr. 30696/09, Rn. 338; EGMR, Urt. v. 06.12.2012, Michaud ./. Frankreich, Rep. 2012, Nr. 12323/11, Rn. 103 ff.; EGMR, Entsch. v. 18.06. 2013, Povse ./. Österreich, Nr. 3890/11, Rn. 76; EGMR (GK), Urt. v. 23.05.2016, Avotin¸š ./. Lettland, Rep. 2016, Nr. 17502/07, Rn. 101. Aus dem Schrifttum siehe nur K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 373 ff.; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 41 ff.; Lock, Verhältnis, S. 257 ff.; ders., LPICT 8 (2009), 375 (377 ff.); Kraus, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 3, Rn. 20 ff.; Szczekalla, GPR 2005, 176 (177); Lavranos, EuR 2006, 79 (81 ff.); Lorenzmeier, Jura

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

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EGMR generell vermutetet, lässt sich allerdings im jeweiligen Einzelfall durch den Nachweis offenkundiger Defizite widerlegen214. Der EGMR hält die Vermutung insbesondere für widerlegt, wenn die im EU-Verbund verfügbaren Rechtsschutzmechanismen nicht umfassend wirksam geworden sind, z. B. weil das betreffende nationale Gericht den EuGH trotz offener europarechtlicher Grundrechtsfragen nicht um Vorabentscheidung ersucht hat215. Auch dann kann es de lege lata jedoch lediglich zur konventionsrechtlichen Überprüfung der Verantwortung der betreffenden Mitgliedstaaten, nicht aber der EU selbst kommen216. Nach dem Bosphorus-Urteil blieb zunächst unklar, ob der EGMR seine dort definierte Kontrolle auch auf Fälle erstrecken würde, in denen Sekundärrecht oder sonstiges Organhandeln der EU ohne mitgliedstaatlichen Umsetzungs- oder Vollzugsakt in EMRK-Rechte eingreift217. Der anschließenden Straßburger Rechtsprechung lässt sich inzwischen entnehmen, dass aufgrund der eigenen Rechtspersönlichkeit der EU solche genuin europarechtlichen Eingriffe den Mitgliedstaaten nur zugerechnet werden, sofern diese zumindest indirekt durch Handeln oder Unterlassen daran mitgewirkt haben218. Im Hinblick auf das Verfahren 2007, 370 (371 ff.); kritisch Winkler, EuGRZ 2007, 641 (648 ff.); Heer-Reißmann, NJW 2006, 192 (193 f.); Conforti, in: Breitenmoser et al., FS Wildhaber, 173 (178 ff.); Dautricourt, S. 10 f. 214 EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 156, 165 f.; EGMR, Urt. v. 06.12.2012, Michaud ./. Frankreich, Rep. 2012, Nr. 12323/11, Rn. 103; Lock, Verhältnis, S. 259 f.; ders., LPICT 8 (2009), 375 (378); Ottaviano, S. 252 f.; Dederer, ZaöRV 66 (2006), 575 (598 ff.); Szczekalla, GPR 2005, 176 (177 f.); Raue, GRUR Int. 2012, 402 (409). 215 EGMR, Urt. v. 06.12.2012, Michaud ./. Frankreich, Rep. 2012, Nr. 12323/11, Rn. 114 ff.; EGMR, Entsch. v. 18.06.2013, Povse ./. Österreich, Nr. 3890/11, Rn. 83; EGMR (GK), Urt. v. 23.05.2016, Avotin¸š ./. Lettland, Rep. 2016, Nr. 17502/07, Rn. 105, 109 ff.; Indlekofer/D. Engel, ZEuS 2015, 75 (83 f., 93). 216 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 152, m.w. N.; EGMR, Entsch. v. 09.12. 2008, Etablissements Biret et Cie S.A. und Biret International ./. 15 Mitgliedstaaten der EU, Nr. 13762/04, Rn. 1 f.; EGMR, Entsch. v. 09.12.2008, Connolly ./. 15 Mitgliedstaaten der EU, Nr. 73274/01; EGMR, Entsch. v. 20.01.2009, Cooperatieve Producentenorganisatie van de Nederlandse Kokkelvisserij U.A. ./. Niederlande, Rep. 2009, Nr. 13645/05 (= EuGRZ 2011, 11), Rn. 2; EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 32; Lock, Verhältnis, S. 268 ff.; ders., ELRev. 35 (2010), 777 (798); Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 36. 217 Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 147; Jacqué, RTDE 41 (2005), 756 (766); befürwortend Lock, LPICT 8 (2009), 375 (379); ders., Verhältnis, S. 263, 266, 301; Marsch/Sanders, EuR 2008, 345 (361 ff.); Winkler, EuGRZ 2007, 641 (643 f., 652 ff.); zurückhaltender Eckes, EPL 13 (2007), 47 (54); Schaller, EuR 2006, 656 (671 f.). Vgl. auch EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 154, m.w. N.; EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 32. 218 EGMR, Entsch. v. 09.12.2008, Connolly ./. 15 Mitgliedstaaten der EU, Nr. 73274/ 01; EGMR, Entsch. v. 20.01.2009, Cooperatieve Producentenorganisatie van de Nederlandse Kokkelvisserij U.A. ./. Niederlande, Rep. 2009, Nr. 13645/05 (= EuGRZ 2011,

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Teil 1: Grundlagen

vor dem EuGH soll insoweit bereits die Vorlage durch ein mitgliedstaatliches Gericht als Anknüpfungspunkt ausreichen219. Andererseits ist der EGMR in diesem Kontext erkennbar bemüht, auf die Besonderheiten der Europarechtsordnung Rücksicht zu nehmen220. Davon zeugt nicht nur die Anwendung des BosphorusVorbehalts, sondern auch der Umstand, dass der Gerichtshof bei der Überprüfung der Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK die auf das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH entfallende Zeitspanne bislang ausdrücklich nicht einbezogen hat, um das EU-Rechtsschutzsystem nicht zu beeinträchtigen221. Durch diese Zurückhaltung des EGMR ist zumindest die Gefahr gebannt, dass mitgliedstaatliche Gerichte aus Furcht vor einer konventionswidrigen Verfahrensverlängerung von einer Vorlage zum EuGH abgeschreckt werden könnten222. Im übrigen sichert auf Unionsebene der EuGH wenigstens eine wirksame Kontrolle der Verfahrensdauer vor dem EuG223. Für den Konventionsrechtsschutz ist gegenwärtig davon auszugehen, dass jedenfalls der unionsunmittelbare Sekundärrechts-

11), Rn. 3; siehe auch EGMR, Entsch. v. 09.09.2008, Boivin ./. 34 Mitgliedstaaten des Europarates, Rep. 2008, Nr. 73250/01, Rn. 2; sowie zu strukturellen Fragen EGMR, Entsch. v. 12.05.2009, Gasparini ./. Italien und Belgien, Nr. 10750/03. Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 141 ff., 148; Baumann, EuGRZ 2011, 1 (3 f.); Lock, Verhältnis, S. 263 ff., 268; Vondung, AnwBl 2011, 331 (334); Janik, ZaöRV 70 (2010), 127 (151 ff.). 219 EGMR, Entsch. v. 20.01.2009, Cooperatieve Producentenorganisatie van de Nederlandse Kokkelvisserij U.A. ./. Niederlande, Rep. 2009, Nr. 13645/05 (= EuGRZ 2011, 11), Rn. 3; Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 144, 148; Baumann, EuGRZ 2011, 1 (6); Lock, Verhältnis, S. 264; Vondung, AnwBl 2011, 331 (334); Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 512; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 50. Kritisch Bories, RMCUE 2009, 408 (411 ff.). 220 Bories, RMCUE 2009, 408 (408, 412 ff.); E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 56 f. 221 EGMR, Urt. v. 26.02.1998, Pafitis et al. ./. Griechenland, Rep. 1998-I (= RUDH 1998, 140), Rn. 95; EGMR, Urt. v. 30.09.2003, Koua Poirrez ./. Frankreich, Rep. 2003X, Rn. 61; EGMR, Urt. v. 24.04.2008, Mathy ./. Belgien, Nr. 12066/06, Rn. 28; Schermers, CMLR 36 (1999), 673 (674 f.); Gundel, VerwArch 92 (2001), 81 (102); Tridimas, CMLR 40 (2003), 9 (16 f.); Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (868 f.); Douglas-Scott, CMLR 43 (2006), 629 (642); Potteau, RTDE 45 (2009), 697 (715); Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 519 f.; ders., EuGRZ 2005, 229 (233, Fn. 44); Groh, Auslegungsbefugnis, S. 68; Ottaviano, S. 222, 253; Rennert, EuGRZ 2008, 385 (385 f.); Gundel, FS Scheuing, 58 (60); differenzierend E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 57. Kritisch Winkler, Beitritt, S. 160; Grabenwarter, EuR Beiheft 1 2003, 55 (56); Peukert, GS Ryssdal, 1107 (1118 f.). 222 Vgl. Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (869); sowie entsprechend C. O. Lenz, EuGRZ 2001, 433 (434). 223 EuGH, Urt. v. 17.12.1998, Baustahlgewebe ./. Kommission, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 19 ff., 26 ff.; EuGH, Urt. v. 15.10.2002, Limburgse Vinyl Maatschappij et al. ./. Kommission, verb. Rs. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 179, 206 ff.; EuGH, Urt. v. 16.07.2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland ./. Kommission, Rs. C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155, Rn. 191 ff.; näher Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 515 ff.; Ottaviano, S. 23 ff., 239 ff.

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

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vollzug sowie EuGH-Verfahren, denen kein Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegt224, mangels hinreichender mitgliedstaatlicher Verantwortlichkeit regelmäßig nicht der Jurisdiktion des EGMR unterfallen. Neben dieser Schutzlücke bestehen zudem noch immer restliche Unsicherheiten und Abgrenzungsprobleme bei der jeweiligen konkreten Einzelfallbeurteilung, die dem EGMR zwar gewisse Handlungsspielräume verschaffen225, der Rechtssicherheit jedoch abträglich sind. Vor diesem Hintergrund wird mit dem Vorhaben eines Beitritts der EU zur EMRK die Zielsetzung verfolgt, den Grundrechtsschutz in Europa zu erweitern, seine Kohärenz zu erhöhen und insbesondere etwaige Diskrepanzen zwischen der Rechtsprechung von EuGH und EGMR zu vermeiden226. Gleichzeitig lassen sich so auch Glaubwürdigkeit und Vorbildfunktion der EU stärken, die selbst einen effektiven Menschenrechtsschutz als Mitgliedschaftsvoraussetzung einfordert227. Obgleich die Eingliederung der E(W)G bzw. EU in das Konventionssystem seit den 1970er Jahren immer wieder Gegenstand teils kontroverser Diskussionen war228, bildete sich erst während der Ausarbeitung des VVE ein übergreifender politischer Konsens zugunsten eines Beitritts heraus229. Im Zuge seiner Realisie-

224 Siehe Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 513 f.; zweifelnd E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 51, 56. 225 Vgl. Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 127, 148; Vondung, AnwBl 2011, 331 (334). 226 Europäisches Parlament, Entschließung v. 19.05.2010, EuGRZ 2010, 362, Rn. 1, 21; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 36; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (94 ff.); Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 163; Pache/Rösch, EuR 2009, 769 (786); Lock, Verhältnis, S. 289; Busch, S. 165; Köngeter, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 230 (233 ff.); Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (32 f.); Hentschel-Bednorz, S. 350, 364, 383 ff.; Vondung, AnwBl 2011, 331 (334); Schweizer, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 138, Rn. 61, 94; Benoît-Rohmer, RTDE 41 (2005), 261 (280). 227 Vgl. Art. 2, 49 Abs. 1 S. 1 EUV; Europäisches Parlament, a. a. O., Rn. 21; Lock, ELRev. 35 (2010), 777 (778); Vondung, AnwBl 2011, 331 (335); Polakiewicz, Strasbourg’s Perspective, in: Giegerich et al., Flexibility, S. 381 (390); Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (95); Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 292 f.; Hentschel-Bednorz, S. 386 f.; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 74; Pavlidis, S. 33. 228 Siehe Golsong, EuGRZ 1978, 346 (350 ff.); EG-Kommission, Memorandum betreffend den Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Konvention über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 10.04.1979, SJ/229/79 endg., EuGRZ 1979, 330; Europäisches Parlament, Entschließung zum Beitritt der EG zur Europäischen Menschenrechtskonvention v. 27.04.1979, Dok. 80/79, EuGRZ 1979, 257; Streinz/ Streinz/Michl, Art. 6 EUV, Rn. 7 ff.; Karper, S. 247 f.; Busch, S. 156; Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (31); Puissochet, GS Ryssdal, 1139 (1150). 229 Vgl. Art. I-9 Abs. 2 S. 1 VVE; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 36; Köngeter, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 230 (231 f.). Zu den politischen Widerständen in einigen EU-Mitgliedstaaten vgl. Winkler, Beitritt, S. 115 ff.

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Teil 1: Grundlagen

rung zeichnen sich für die bisherigen Determinanten des Konventionsrechtsschutzes gegen EU-Akte tiefgreifende Veränderungen ab230.

II. Beitrittsvoraussetzungen Zum Beitritt der EU zur EMRK sind inzwischen mit dem Vertrag von Lissabon und dem ZP 14 grundlegende Regelungen ergangen. Zuvor fehlte es nach Maßgabe sowohl der Europa- als auch der Konventionsrechtsordnung an den rechtlichen Voraussetzungen für einen solchen Beitritt. So verfügten EG wie EU nicht über die dafür erforderliche Zuständigkeit231, und obendrein durften nach Art. 59 Abs. 1 EMRK nur Mitglieder des Europarates, gemäß Art. 4 f. seiner Satzung ausschließlich Staaten, der Konvention beitreten232. Nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages bestimmt nunmehr Art. 6 Abs. 2 EUV, dass die EU der EMRK beitritt, ohne dass dadurch ihre vertraglich festgelegten Zuständigkeiten geändert werden. Diese Vorschrift verpflichtet die Union primärrechtlich zum Beitritt233, sofern die hierfür festgelegten Modalitäten erfüllt sind234. Verfahrenstechnisch ist der Abschluss einer völkerrechtlichen Übereinkunft i. S. d. Art. 216 ff. AEUV vorgesehen, über den der Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig beschließt; dieser Beschluss tritt in Kraft, nachdem die Mitgliedstaaten gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zugestimmt haben (Art. 218 Abs. 6 UAbs. 2 lit. a ii, Abs. 8 UAbs. 2 S. 2 AEUV). Weitere Bedingungen sind im Protokoll (Nr. 8)235 enthalten, dem230 Vondung, AnwBl 2011, 331 (331), spricht von der „größte[n] Umwälzung der europäischen Grundrechtsarchitektur seit knapp 60 Jahren“. Siehe näher u., III. 231 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28.03.1996 (Beitritt der EG zur EMRK), Slg. 1996, I1759, Rn. 23 ff., 35 f.; Lock, Verhältnis, S. 289 f.; Busch, S. 157 f.; Sauer, Jurisdiktionskonflikte, S. 333 f.; Michl, Überprüfung, S. 58 ff., 62. 232 Siehe auch Karper, S. 250 f.; A. Huber, Beitritt, S. 35 ff.; S. Stock, Beitritt, S. 181 f.; Peters/Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 17; Pache, EuR 2004, 393 (414). 233 Streinz/Mögele, Art. 216 AEUV, Rn. 22; Lock, ELRev. 35 (2010), 777 (777); ders., Verhältnis, S. 290; Oeter, Verhältnis, in: Fastenrath/Nowak, Reformvertrag, S. 129 (133); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 25; Herrmann, in: Streinz/Ohler/ Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 155; Pache/Rösch, EuR 2009, 769 (779 f.); vgl. entsprechend Köngeter, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 230 (238 ff.); Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, § 2 III, Rn. 11; Schriewer, Theorie, S. 152. Auch die EU-Mitgliedstaaten sind über den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) verpflichtet, die für den Beitritt der EU zur EMRK erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen; Schima, in: Hummer/Obwexer, S. 331 f.; Winkler, Beitritt, S. 150, 152; siehe ferner EuGH, Urt. v. 20.04.2010, Kommission ./. Schweden, Rs. C-246/07, Slg. 2010, I-3317, Rn. 69, 71; Streinz/Mögele, Art. 218 AEUV, Rn. 32. 234 Calliess, Die neue EU, S. 328 ff.; Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343 (360 f.); Pache/Rösch, EuR 2009, 769 (781 ff., 788); dies., EuZW 2008, 519 (521); Blanke, in: ders./Mangiameli, S. 179. 235 Protokoll (Nr. 8) zu Artikel 6 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union über den Beitritt der Union zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 273.

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

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zufolge in der Übereinkunft über den Beitritt u. a. sicherzustellen ist, dass die besonderen Merkmale der Union und des Unionsrechts erhalten bleiben236 und die spezifische Situation der Mitgliedstaaten in Bezug auf die EMRK (Art. 2 Prot.) sowie die Ausschließlichkeitsklausel des Art. 344 AEUV (Art. 3 Prot.) nicht berührt werden. Auch im Konventionsrecht wurde der Weg für einen Beitritt der EU bereitet. Der zum 01.06.2010 durch Art. 17 ZP 14 neu eingefügte Art. 59 Abs. 2 EMRK stellt ausdrücklich fest, dass die Union der Konvention beitreten kann. Die hierzu erforderlichen konkreten Rechtstexte wurden dann zunächst auf Expertenebene ausgearbeitet und waren anschließend Gegenstand von Verhandlungen im Kreise von EU und Konventionsstaaten237. Nachdem im April 2013 eine Einigung erreicht war, legten die Verhandlungsführer dem Lenkungsausschuss für Menschenrechte als zuständigem Gremium des Europarates ihren Abschlussbericht238 vor239. In den Anhängen dieses Berichts finden sich die vorgeschlagenen einzelnen Beitrittsinstrumente und -materialien, die gemeinsam ein „Gesamtpaket“ bilden und für den Beitritt alle gleichermaßen wichtig sein sollen240, darunter insbesondere die Entwürfe einer Beitrittsübereinkunft (BÜ-E)241 sowie eines Erläuternden Berichts (EB-E)242. Die Beitrittsübereinkunft enthält detaillierte Bestimmungen über die Modalitäten des Beitritts und sieht u. a. zusätzliche Änderungen der bislang auf staatliche Vertragsparteien ausgerichteten EMRK vor, die durch den Beitritt der EU als supranationaler Organisation erforderlich werden243. Schon deswegen bedarf die Übereinkunft außer der Zustimmung der EU 236 Art. 1 Prot.; siehe auch die Erklärung zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon Nr. 2 zu Art. 6 Abs. 2 EUV, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 337. 237 Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (473 f.); GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 5 f. 238 Abschlussbericht an den Lenkungsausschuss für Menschenrechte (Final report to the CDDH/Rapport final au CDDH), Dok. Nr. 47+1(2013)008rev2, vorgelegt in Straßburg am 10.06.2013, abrufbar unter: http://www.echr.coe.int/Documents/UE_Re port_CDDH_ENG.pdf bzw. unter: http://www.echr.coe.int/Documents/UE_Report_ CDDH_FRA.pdf. 239 GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 4, 7; Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (473 f.). 240 Rn. 9 des Abschlussberichts. 241 Anhang I – Draft revised agreement on the accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms/Projet révisé d’accord portant adhésion de l’Union européenne à la Convention de sauvegarde des droits de l’homme et des libertés fondamentales. 242 Anhang V – Draft explanatory report to the Agreement on the Accession of the European Union to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms/Projet de rapport explicatif à l’Accord portant adhésion de l’Union européenne à la Convention de sauvegarde des droits de l’homme et des libertés fondamentales. 243 Vgl. bereits Pache/Rösch, EuR 2009, 769 (781).

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Teil 1: Grundlagen

auch der Annahme durch sämtliche Konventionsstaaten, einschließlich der Nichtmitglieder der EU244. Das Inkrafttreten ist für den ersten Tag des Monats vorgesehen, der auf den Ablauf einer dreimonatigen Frist nach Erfüllung dieser Bedingungen folgt. Mit dem ablehnenden Gutachten, das der EuGH Ende 2014 auf Ersuchen der Europäischen Kommission gemäß Art. 218 Abs. 11 S. 1 AEUV zur Vereinbarkeit des Entwurfs der Beitrittsübereinkunft mit den europäischen Verträgen erstattet hat245, haben die Bemühungen um einen zügigen Beitritt der EU zur EMRK nun freilich einen empfindlichen Rückschlag erlitten. Zwar hatte Generalanwältin Kokott in ihrer Stellungnahme den Entwurf insgesamt als primärrechtskonform eingestuft, sofern die von ihr als notwendig erachteten Modifizierungen und Ergänzungen einzelner Regelungen246 der Übereinkunft vorgenommen würden247. Der Gerichtshof teilte zum einen die zentralen Kritikpunkte der Generalanwältin, äußerte zum anderen jedoch darüber hinaus weitere grundlegende Einwände und stellte im Ergebnis fest, dass der Entwurf nicht mit Art. 6 Abs. 2 EUV und dem Protokoll (Nr. 8) vereinbar sei248. Vor allem befürchtete er eine Beeinträchtigung der besonderen Merkmale und der Autonomie des Unionsrechts249 und hielt auch seine eigene (ausschließliche) Zuständigkeit für nicht hinreichend gewahrt250. Diese Einschätzung des EuGH hat in ihrer Rigidität überwiegend ein negatives Echo hervorgerufen251: So wurde dem Gerichtshof etwa entgegnet, er erscheine „auf die Sicherung der eigenen Machtstellung bedacht“ 252, habe „teils mit Chi244 Siehe Art. 10 Abs. 3 BÜ-E; Karper, S. 250 ff.; Arndt/Engels, in: Karpenstein/ Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 5; Rainey/Wicks/Ovey, S. 604. 245 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56). 246 Dabei handelte es sich im wesentlichen um die Ausgestaltung des Mitbeschwerdegegner-Mechanismus und der Vorabbefassung des EuGH; siehe näher u., III. 3., 4. 247 GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 135, 179, 184, 235, 265, 278 ff. 248 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 178 ff., 258. 249 Anknüpfungspunkte für den EuGH waren hier insbesondere das Verhältnis zwischen Art. 53 EMRK und Art. 53 GRC, der unionsrechtliche Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sowie die gerichtliche Kontrolle im Bereich der GASP; EuGH, a. a. O., Rn. 186 ff., 191 ff., 249 ff. 250 Insoweit bezog sich der EuGH sowohl auf Art. 344 AEUV, der unionsrechtliche Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen ihnen und der Union exklusiv den Unionsgerichten überantwortet, als auch auf einzelne im Entwurf der Beitrittsübereinkunft vorgesehene Verfahrensmodalitäten; EuGH, a. a. O., Rn. 201 ff., 234, 238 f., 246 f. 251 Breuer, EuR 2015, 330 (330, 348 f.); Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (197 f.); jeweils m.w. N.; Wendel, NJW 2015, 921 (923 ff.); Tomuschat, EuGRZ 2015, 133 (136 ff.); Franzius, EuGRZ 2015, 139 (144 f.); Mayer, EuZW 2015, 121 (122); Grabenwarter, EuZW 2015, 180; ders./Pabel, EMRK, § 4, Rn. 16; differenzierend Thym, EuZW 2015, 180.

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mären“ argumentiert und sich jeweils für die dem Beitritt ungünstigste Auslegungsmöglichkeit entschieden, so dass die primärrechtliche Beitrittsverpflichtung aus Art. 6 Abs. 2 EUV konterkariert werde253. Auch der damalige Präsident des EGMR, Dean Spielmann, äußerte sich enttäuscht und sah den Straßburger Gerichtshof in der Pflicht, rechtsschutzsuchende Bürger möglichst vor den negativen Auswirkungen der entstandenen Situation zu schützen254. Demnach bleibt abzuwarten, ob der EGMR seine Kontrolldichte im betreffenden unionsrechtlichen Kontext künftig erhöhen wird255. Jedenfalls aber folgt aus dem Gutachten des EuGH, ungeachtet der Reichweite seiner Überzeugungskraft im einzelnen, dass zunächst der Übereinkunftsentwurf und/oder das europäische Primärrecht gemäß Art. 218 Abs. 11 S. 2 AEUV im notwendigen Umfang angepasst werden muss256, bevor der Beitritt der EU zur EMRK Wirklichkeit werden kann. Eine realistische Perspektive hierfür wird sich wahrscheinlich erst mittelfristig ergeben257.

III. Konkrete Ausgestaltung und Auswirkungen eines Beitritts Gegenwärtig lassen sich damit die wichtigsten Parameter für die Umsetzung eines Beitritts der EU zur EMRK den Entwürfen der Beitrittsinstrumente von 2013 sowie dem Gutachten des EuGH von 2014 entnehmen. 1. Externe konventionsrechtliche Vollkontrolle durch den EGMR Gemäß Art. 1 Abs. 1, Art. 10 Abs. 4 BÜ-E soll der Beitritt der Union zur EMRK, zum ZP 1 und zum ZP 6 mit dem Inkrafttreten der dann einen integralen Bestandteil der EMRK bildenden Beitrittsübereinkunft wirksam werden; den übrigen Zusatzprotokollen kann die EU nach den dortigen Vorschriften später

252

Mayer, EuZW 2015, 121 (122). Breuer, EuR 2015, 330 (330, 348); siehe auch Polakiewicz, Strasbourg’s Perspective, in: Giegerich et al., Flexibility, S. 381 (393). 254 EGMR, Jahresbericht 2014, Vorwort, S. 6, abrufbar unter: http://www.echr. coe.int/Documents/Annual_Report_2014_ENG.pdf. 255 Vgl. Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (197 f.), m.w. N.; Grabenwarter, EuZW 2015, 180; Tomuschat, EuGRZ 2015, 133 (133); Jacqué, CDE 2015, 19 (42); Fromont/Van Waeyenberge, CDE 2015, 113 (149); Cherubini, GLJ 16 (2015), 1375 (1386); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 33. 256 Siehe Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (196 f.); Breuer, EuR 2015, 330 (349 f.); Grabenwarter, EuZW 2015, 180; Wendel, NJW 2015, 921 (926); Fromont/Van Waeyenberge, CDE 2015, 113 (149); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 33; Schriewer, Theorie, S. 153 f. 257 Vgl. auch Gundel, EuR 2015, 609 (609 f.); Wendel, NJW 2015, 921 (923, 926); Polakiewicz, Strasbourg’s Perspective, in: Giegerich et al., Flexibility, S. 381 (391 f.). 253

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beitreten258. Als hervorstechendste Folge des Beitritts ergibt sich eine eigene und direkte völkerrechtliche Bindung der Union an die menschenrechtlichen Gewährleistungen der Konvention und der betreffenden Zusatzprotokolle, so dass die Union insoweit zur passivlegitimierten potentiellen Beschwerdegegnerin vor dem EGMR wird259. Handlungen und Unterlassungen der Unionsgewalt werden dann unmittelbar konventionsrechtlich überprüfbar und unterliegen somit der externen Kontrolle durch den EGMR260. Dies betrifft etwa sekundärrechtliche Regelungen, unionsunmittelbare Vollzugsakte und auch die Tätigkeit des EuGH261. Gleichermaßen kann (auch262) die Union künftig für Maßnahmen konventionsrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, die die Mitgliedstaaten kraft europarechtlicher Verpflichtung ohne eigenen Entscheidungsspielraum vornehmen, z. B. beim gebundenen Vollzug des Europarechts263. In den genannten Bereichen werden durch den Beitritt die Möglichkeiten, europarechtliche (Grund-)Rechtspositionen gegenüber der Unionsgewalt zuzurechnenden Eingriffen unter Rückgriff auf konventionsrechtliche Garantien vor dem Straßburger Gerichtshof durchzusetzen, signifikant gestärkt. 258 Vgl. den Entwurf des zukünftigen Art. 59 Abs. 2 EMRK nach Maßgabe von Art. 1 Abs. 2 BÜ-E; Rn. 17 ff. EB-E; ferner Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 6. Die Differenzierung unter den Protokollen beruht auf dem Umstand, dass nicht alle Protokolle von sämtlichen EU-Mitgliedstaaten ratifiziert wurden; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2, Rn. 4, § 4, Rn. 15; GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 251 ff. 259 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 7, 27, 35; Oeter, Verhältnis, in: Fastenrath/Nowak, Reformvertrag, S. 129 (133 f.); Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 290, 292; Hentschel-Bednorz, S. 397; Polakiewicz, EuGRZ 2013, 472 (475); Schwarze, EuR Beiheft 1 2009, 9 (18). 260 Vierter Erwägungsgrund der Präambel der BÜ-E; Rn. 5 EB-E; EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 181; Calliess, Die neue EU, S. 330 f.; Lock, Verhältnis, S. 291; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 27; Busch, S. 165 f.; Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 163; Blanke, in: ders./Mangiameli, S. 180; Peters/Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 20, 23; Gilch, S. 175; Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343 (362); Weiß, ZEuS 2005, 323 (348); Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (37, 53); Scheuing, Europäische Union, in: Scholler, Sicherung, S. 27 (46); T. Thienel, Exclusive Jurisdiction, in: Krzan, Jurisdictional Competition, S. 189 (238 f.); Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (569); siehe auch bereits Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1035. 261 Vgl. Lock, Verhältnis, S. 301, 305; ders., LPICT 8 (2009), 375 (395, 398); Oeter, Verhältnis, in: Fastenrath/Nowak, Reformvertrag, S. 129 (134); Knauff, DVBl. 2010, 533 (542); Schaller, EuR 2006, 656 (673); Rengeling/Szczekalla, § 43, Rn. 1154; Steiner, FS Bethge, 653 (655); Ch. P. Schmidt, Grund- und Menschenrechte, S. 105. Dementsprechend ist dann eine volle Überprüfung der Verfahrensdauer vor dem EuGH am Maßstab von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu erwarten; vgl. o., I. 262 Zur Abgrenzung der Kompetenz- und Verantwortungsbereiche von Union und Mitgliedstaaten siehe u., 3. 263 Vgl. Köngeter, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 230 (249 ff.); Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (37); Conforti, IYIL 20 (2010), 83 (84 f.); Schaller, EuR 2006, 656 (673).

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Wird die EU Vertragspartei der EMRK, so entfällt auch die Grundlage für die vom EGMR bisher mit der Bosphorus-Rechtsprechung264 geübte Zurückhaltung im Falle europarechtlich determinierter Hoheitsakte, die gerade auf die bislang fehlende Bindung der Union an die Konvention zurückgeht265. Eine fortwährend reduzierte Kontrollintensität gegenüber den EU-Mitgliedstaaten und nach ihrem Beitritt insbesondere gegenüber der Union selbst würde die EU im Verhältnis zu anderen Konventionsparteien ungerechtfertigt privilegieren266 und die mit dem Beitritt der EU verbundene Rechtsschutzerweiterung zu einem Großteil wieder zunichtemachen267. Auch eine Ausdehnung des Bosphorus-Vorbehalts auf sämtliche Konventionsparteien, also die generelle Rücknahme der konventionsrechtlichen Kontrolle auf Fälle nichtäquivalenter Rechtsschutzgewährung268, kann nicht befürwortet werden, wenn die Rolle des Straßburger Gerichtshofs als wirksamer Wächter eines europaratsweiten menschenrechtlichen Mindeststandards nicht aufs Spiel gesetzt werden soll269. Im Interesse eines kohärenten und effektiven Konventionsrechtsschutzes sollte der EGMR daher nach einem EMRK-Beitritt der EU seine Bosphorus-Rechtsprechung ersatzlos aufgeben und stets eine volle und umfassende menschenrechtliche Prüfung vornehmen270. 264

Siehe o., I. Vgl. Lock, ELRev. 35 (2010), 777 (798); ders., Verhältnis, S. 301 f.; ders., LPICT 8 (2009), 375 (395 f., 398); E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 73; Besselink, FS Flinterman, 295 (303); Grewe, EuR 2012, 285 (296); Dautricourt, S. 21. 266 Lock, Verhältnis, S. 301; ders., LPICT 8 (2009), 375 (395 f.); ders., ELRev. 35 (2010), 777 (798); Vondung, AnwBl 2011, 331 (335); Baumann, EuGRZ 2011, 1 (10); Streinz/Streinz/Michl, Art. 6 EUV, Rn. 22; O. Klein, NVwZ 2010, 221 (224); Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 (945 f.); Gundel, FS Scheuing, 58 (61); Pavlidis, S. 130. Vgl. bereits zum Status quo kritisch das gemeinsame zustimmende Sondervotum der Richter Rozakis, Tulkens, Traja, Botoucharova, Zagrebelsky und Garlicki zu EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, 163/233, Rn. 4; Eckes, EPL 13 (2007), 47 (65, 67); Winkler, EuGRZ 2007, 641 (649); ferner Lock, Verhältnis, S. 261. 267 Lock, LPICT 8 (2009), 375 (395); Jacobs, European Convention, in: Pernice/Kokott/Saunders, Future, S. 291 (295); E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 73; Indlekofer/D. Engel, ZEuS 2015, 75 (90 f.). 268 Vgl. Conforti, in: Breitenmoser et al., FS Wildhaber, 173 (180 ff.); ders., IYIL 20 (2010), 83 (83 f.); sowie die verschiedenen Szenarien im Doc. 11533 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates v. 18.03.2008, „The accession of the European Union/European Community to the European Convention on Human Rights“, Appendix 4, III. ii. b. (Beitrag De Schutter), abrufbar unter: http://assembly.coe.int/nw/xml/ XRef/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=11835&lang=en; hierzu auch S. Stock, Beitritt, S. 296 f. 269 S. Stock, Beitritt, S. 297; Baumann, EuGRZ 2011, 1 (10); Winkler, EuGRZ 2007, 641 (649); Wildhaber, EuGRZ 2005, 743 (743); Szczekalla, GPR 2005, 176 (178); vgl. auch Bernhardt, EGMR, in: Karl, Internationale Gerichtshöfe, S. 21 (38). 270 Im Ergebnis ebenso Lock, Verhältnis, S. 301 f.; ders., LPICT 8 (2009), 375 (396, 398); ders., ELRev. 35 (2010), 777 (798); A. Huber, Beitritt, S. 238; S. Stock, Beitritt, S. 297; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 73; Schweizer, in: Merten/ Papier, HGR VI/1, § 138, Rn. 61; Peters/Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 22; Indlekofer/ D. Engel, ZEuS 2015, 75 (93); Vondung, AnwBl 2011, 331 (335 f.); Haratsch, ZaöRV 265

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Teil 1: Grundlagen

Keine beitrittsbedingten Änderungen für die Durchsetzung des Europarechts über die EMRK ergeben sich hingegen in Bezug auf Akte mitgliedstaatlicher Stellen, die diese europarechtlich ungebunden oder in eigener Verantwortung entgegen europarechtlichen Vorgaben annehmen, vollziehen, aufrechterhalten, bestätigen oder unterlassen. Insoweit verbleibt es bei der bisherigen vollen konventionsrechtlichen Verantwortlichkeit der einzelnen Mitgliedstaaten271. Der primäre Forschungsgegenstand der vorliegenden Untersuchung, die konventionsrechtliche Abhilfe durch den EGMR bei genuin mitgliedstaatlichen Europarechtsverletzungen272, wird daher von einem EMRK-Beitritt der EU nicht wesentlich berührt. 2. Wirkung in der Unionsrechtsordnung Mit dem Beitritt wird die EMRK nach Maßgabe von Art. 216 Abs. 2 AEUV als völkerrechtlicher Vertrag der Union selbst Teil des Unionsrechts273 und nimmt dann formal einen Rang zwischen europäischem Primär- und Sekundärrecht ein274, wenngleich die normativen Wirkungen, die die EMRK schon jetzt unionsrechtsintern entfaltet275, ihr in der tatsächlichen Rechtspraxis ohnehin einen primärrechtsähnlichen Status verschaffen276. Soweit das Konventionsrecht 66 (2006), 927 (946); Streinz/Streinz/Michl, Art. 6 EUV, Rn. 22; Marsch/Sanders, EuR 2008, 345 (364); ähnlich Baumann, EuGRZ 2011, 1 (10 f.). 271 Rn. 7 EB-E; Köngeter, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 230 (246, 250 f.); Hentschel-Bednorz, S. 398; Schaller, EuR 2006, 656 (673); Michl, Überprüfung, S. 96; vgl. auch EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 157; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 43; Giegerich, Foreign Relations Law, in: Wolfrum, MPEPIL Vol. IV, S. 178 (186), Rn. 36. 272 Siehe o., A., I. II. 273 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 180, 204. 274 Die vorgeschriebene zusätzliche Ratifizierung des Ratsbeschlusses durch die EUMitgliedstaaten erfasst unmittelbar weder die EMRK noch die Beitrittsübereinkunft; Streinz/Streinz/Michl, Art. 6 EUV, Rn. 21; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 27; Gragl, ZEuS 2011, 409 (414 ff., 430); Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 35; Vedder, in: Hummer/Obwexer, S. 278; Blanke, in: ders./ Mangiameli, S. 180 f.; S. Stock, Beitritt, S. 201 f.; A. Huber, Beitritt, S. 117 ff., 138 f.; Calliess, Die neue EU, S. 330 f.; Pache/Rösch, EuR 2009, 769 (785); Schulte-Herbrüggen, ZEuS 2009, 343 (362 f.); Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761 (1767); Naumann, EuR 2008, 424 (434 f.); Schaller, EuR 2006, 656 (665); siehe allgemein Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 216 AEUV, Rn. 50; Peters/Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 17; Grewe, EuR 2012, 285 (291). Zugunsten eines formalen Primärrechtsrangs der EMRK nach Beitritt der EU a. A. Uerpmann-Wittzack, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 223 f.; Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 8. 275 Siehe o., I. 276 Vedder, in: Hummer/Obwexer, S. 278; Streinz/Streinz/Michl, Art. 6 EUV, Rn. 21; vgl. auch GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 201 ff.; Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 160; Grewe, EuR 2012, 285 (296); Michl, Überprüfung, S. 148 f.

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

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nach einem Beitritt der EU die Unionsgewalt und die europarechtlich determinierte Gewalt der Mitgliedstaaten bindet277, hat es in seiner Eigenschaft als Unionsrecht folgerichtig teil an dessen Anwendungsvorrang gegenüber mitgliedstaatlichem Recht; ansonsten behält es in den Mitgliedstaaten seinen vom jeweiligen nationalen (Verfassungs-)Recht bestimmten Rang278. Des weiteren fallen künftig Auslegung und ggf. Anwendung der Konvention innerhalb ihres unionsrechtlichen Geltungsbereichs in die Zuständigkeit des EuGH279, dessen Verhältnis zum EGMR dann dem eines innerstaatlichen Höchstgerichts einer anderen Konventionspartei ähnelt280. Da er somit seinerseits der nachträglichen externen Überprüfung durch den EGMR unterworfen wird, erlangt der EuGH in Bezug auf die EMRK jedoch kein Monopol letztverbindlicher Auslegung281. Nach Maßgabe der vom EuGH in seinem ersten EWR-Gutachten aufgestellten Grundsätze sind vielmehr die Entscheidungen eines Gerichtshofs, der durch ein internationales Abkommen der Union eingerichtet wurde und für sich daraus ergebende Streitigkeiten zuständig ist, für die Unionsorgane einschließlich des EuGH bindend282. Demzufolge wird der EuGH nach Vollzug des EMRK-Beitritts der EU die Judikatur des EGMR zu achten haben, soweit die entsprechende völkerrechtliche Verpflichtung der Union aus der EMRK reicht283. Kraft Art. 46 Abs. 1 EMRK ergibt sich für die Union eine Rechtspflicht zur Befolgung allein von endgültigen Urteilen des EGMR in Rechtssachen, in denen die 277

Siehe Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (43, 53). Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 161; S. Stock, Beitritt, S. 207 f.; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 68, 78; Giegerich, in: Dörr/Grote/ Marauhn, EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 38, 40, 42; Peters/Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 23; Gragl, ZEuS 2011, 409 (424); Köngeter, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 230 (252 ff.); Schaller, EuR 2006, 656 (665 f.). 279 Vgl. Lock, Verhältnis, S. 293; ders., LPICT 8 (2009), 375 (391); T. Thienel, Exclusive Jurisdiction, in: Krzan, Jurisdictional Competition, S. 189 (233). 280 Vondung, AnwBl 2011, 331 (336); T. Thienel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 55 EMRK, Rn. 5; Lock, Verhältnis, S. 305; Calliess, Die neue EU, S. 331; A. Huber, Beitritt, S. 237; Ch. P. Schmidt, Grund- und Menschenrechte, S. 105; Dautricourt, S. 55, 69; Munding, S. 379; Pavlidis, S. 48; Pache, EuR 2004, 393 (414). 281 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 185; Lock, Verhältnis, S. 291; Schmalenbach, FS Hafner, 1045 (1066 f.); Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 283; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (100); T. Thienel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 55 EMRK, Rn. 5; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 77. Allgemein zum entsprechenden europarechtlichen Monopol des EuGH u., Teil 2, A. I. 1., 2. a). 282 EuGH, Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991, I-6079, Rn. 39 f.; vgl. auch EuGH, Gutachten 1/09 v. 08.03.2011 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137, Rn. 74; EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 182; Lock, Verhältnis, S. 222 f., 239 ff.; ders., LPICT 8 (2009), 375 (396 f.); S. Stock, Beitritt, S. 271; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (101). 283 Lock, Verhältnis, S. 223, 299 f., 306; ders., LPICT 8 (2009), 375 (397); Lindner, EuR 2007, 160 (172); Schmalenbach, FS Hafner, 1045 (1067). 278

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Teil 1: Grundlagen

Union Partei war284. Nach einer Verurteilung der EU durch den EGMR muss also der EuGH z. B. bei der Entscheidung über eine anschließende Schadensersatzklage gemäß Art. 340 Abs. 2, 3, Art. 268 AEUV der Straßburger Auslegung der EMRK folgen285. Darüber hinaus erscheint es wünschenswert, im Unionsrecht eine Durchbrechung der Rechtskraft von als konventionswidrig beanstandeten Entscheidungen des EuGH zu ermöglichen286. Außerhalb dieser strengen Bindungswirkung kommt der Rechtsprechung des EGMR immerhin eine allgemeine normative Leitfunktion für die Auslegung des Konventionsrechts zu287. 3. Mitbeschwerdegegner-Mechanismus Ist zukünftig auch die EU Partei der EMRK, kann sich die Abgrenzung der konventionsrechtlichen Verantwortung von EU und Mitgliedstaaten im Einzelfall unter Umständen als problematisch erweisen288. Vor diesem Hintergrund soll gemäß Art. 3 BÜ-E für bestimmte im europarechtlichen Kontext erhobene Menschenrechtsbeschwerden ein sog. Mitbeschwerdegegner-Mechanismus289 eingerichtet werden. Dieses System erlaubt unter näheren Voraussetzungen die zusätzliche Einbeziehung der Union oder von EU-Mitgliedstaaten in das Verfahren vor dem EGMR bzw. die entsprechende Anpassung von deren verfahrensrechtlicher Stellung. Im einzelnen sind drei Fallgestaltungen im Entwurf der Beitrittsübereinkunft geregelt: Bei einer gegen einen oder mehrere Mitgliedstaaten gerichteten Be284 Rn. 26 EB-E; Lock, Verhältnis, S. 299 f.; ders., LPICT 8 (2009), 375 (397 f.); Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (50, Fn. 106); Schwartmann, AVR 43 (2005), 129 (149 f.); siehe auch allgemein Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK, Rn. 31 ff. 285 Lock, Verhältnis, S. 300; ders., LPICT 8 (2009), 375 (397). 286 E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 72; Lock, Verhältnis, S. 300; Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 291 f.; Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (205); Schwartmann, AVR 43 (2005), 129 (151); Vondung, AnwBl 2011, 331 (336, Fn. 40); siehe auch GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 81. Derzeit kann die Wiederaufnahme des Verfahrens beim EuGH nur beantragt werden, wenn eine Tatsache von entscheidender Bedeutung bekannt wird, die vor Verkündung des Urteils dem Gerichtshof und der die Wiederaufnahme beantragenden Partei unbekannt war; Art. 44 Abs. 1 EuGH-Satzung (= Protokoll [Nr. 3] über die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 210). 287 Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK, Rn. 43 ff.; T. Thienel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 55 EMRK, Rn. 6; Rohleder, S. 235 ff., 273 ff.; Giegerich, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Breuer et al., Im Dienste des Menschen, S. 95 (113 f.); Knauff, DVBl. 2010, 533 (538); Wiethoff, S. 52; vgl. auch Streinz/Streinz/Michl, Art. 6 EUV, Rn. 22; A. Huber, Beitritt, S. 237; Pache, EuR 2004, 393 (405 ff.); Eiffler, JuS 1999, 1068 (1072); Öhlinger, Perspektiven, in: Karl, Internationale Gerichtshöfe, S. 123 (138). 288 Vgl. A. Huber, Beitritt, S. 175 ff.; Lock, ELRev. 35 (2010), 777 (779 ff., 783 ff.); Winkler, Beitritt, S. 50 ff.; Conforti, IYIL 20 (2010), 83 (84 f.); Vondung, AnwBl 2011, 331 (334 f.); E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 72. 289 Engl. „co-respondent mechanism“; frz. „mécanisme de codéfendeur“.

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

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schwerde kann die EU Mitbeschwerdegegnerin im Verfahren werden, wenn die Konventionskonformität einer europarechtlichen Vorschrift in Frage gestellt wird, insbesondere wenn die behauptete Verletzung der EMRK nur durch Missachtung einer europarechtlichen Verpflichtung hätte vermieden werden können (Art. 3 Abs. 2 BÜ-E). Im Falle einer Beschwerde gegen die EU können umgekehrt die Mitgliedstaaten als Mitbeschwerdegegner auftreten, wenn die Vereinbarkeit einer Norm des europäischen Primärrechts mit der EMRK bezweifelt wird, namentlich wenn die behauptete Konventionsverletzung durch die Befolgung des Primärrechts bedingt ist (Art. 3 Abs. 3 BÜ-E). Wird die Beschwerde sowohl gegen die EU als auch gegen einen oder mehrere ihrer Mitgliedstaaten erhoben, können die betreffenden Beschwerdegegner unter den genannten Bedingungen von Abs. 2 oder 3 in den Status des Mitbeschwerdegegners wechseln (Art. 3 Abs. 4 BÜ-E). In jeder dieser Konstellationen erhält eine Konventionspartei die Verfahrensposition als Mitbeschwerdegegnerin entweder durch Annahme einer diesbezüglichen Einladung des EGMR oder auf ihren eigenen Antrag durch Entscheidung des EGMR (Art. 3 Abs. 5 BÜ-E). Die im Rahmen der Entscheidung über einen solchen Zulassungsantrag vorgesehene Plausibilitätsprüfung durch den EGMR, ob die Voraussetzungen für eine Verfahrensbeteiligung als Mitbeschwerdegegner im Lichte des Parteivorbringens gegeben sind290, hat der EuGH allerdings verworfen, da sie in die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten eingreifen könne291. Dogmatisch erscheint dieser Schluss nicht zwingend, da der EGMR hier lediglich über den Eintritt einer Partei in den Mitbeschwerdegegner-Mechanismus konkret, endgültig und verbindlich entschiede292. Gleichwohl könnten die Zulassungsvorschriften unproblematisch dahingehend modifiziert werden, dass entsprechende Anträge von EU und Mitgliedstaaten automatisch zu einer Verfahrensbeteiligung führen, damit auch stets eine wirksame Verteidigung des Unionsrechts vor dem EGMR möglich ist293. Nach dem in Art. 3 Abs. 1 lit. b BÜ-E vorgesehenen zukünftigen Art. 36 Abs. 4 EMRK wird der Mitbeschwerdegegner selbst Partei des Verfahrens, so dass er ebenfalls der Pflicht zur Urteilsbefolgung aus Art. 46 Abs. 1 EMRK unterliegt294. Generell versucht der Entwurf der Beitrittsübereinkunft sicherzustellen, dass die Garantien der EMRK gegenüber der EU und ihren Mitgliedstaaten durchgesetzt werden können, ohne dass der EGMR deren jeweilige Verantwor290

Art. 3 Abs. 5 S. 3 BÜ-E; vgl. auch Rn. 55 EB-E. EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 223 ff. 292 Breuer, EuR 2015, 330 (341); vgl. auch Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (191). 293 Vgl. GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 229 ff., 234. 294 Siehe Rn. 39 EB-E; A. Huber, Beitritt, S. 180 f.; Vondung, AnwBl 2011, 331 (335); Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 21; Peters/Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 21. 291

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Teil 1: Grundlagen

tungsbereiche selbst genau bestimmen muss. Damit soll das Risiko gebannt werden, dass ein vom EGMR hierzu gefundenes Ergebnis möglicherweise nicht die innerunionale Kompetenzverteilung in ihrer – allein maßgeblichen295 – Auslegung durch den EuGH widerspiegeln könnte296. Gemäß Art. 3 Abs. 7 BÜ-E soll der Straßburger Gerichtshof daher bei Vorliegen einer Konventionsverletzung den (eigentlichen) Beschwerdegegner und den oder die Mitbeschwerdegegner grundsätzlich gemeinsam verurteilen, so dass die Bestimmung der Zuständigkeit für die Behebung des Verstoßes weitestgehend der unionsinternen Auseinandersetzung überlassen bliebe297. Der EuGH hielt diese Regelung dennoch in zweierlei Hinsicht für unzureichend: Zum einen beanstandete er die vorgesehene Ausnahme, dass der EGMR auf der Grundlage des Vorbringens von Beschwerdegegner und Mitbeschwerdegegner sowie nach Anhörung des Beschwerdeführers auch entscheiden kann, dass nur eine Partei haftet298. Zum anderen sei nicht ausgeschlossen, dass ein Mitgliedstaat gemeinsam mit der Union für die Verletzung eines Konventionsrechts verantwortlich gemacht werden könne, in Bezug auf das er einen Vorbehalt gemäß Art. 57 EMRK angebracht habe299. Diese Bedenken lassen sich allerdings durch entsprechende Korrekturen und Präzisierungen im Übereinkunftsentwurf ohne weiteres ausräumen.

295 Vgl. EuGH, Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991, I-6079, Rn. 34 ff.; EuGH, Gutachten 1/92 v. 10.04.1992 (EWR II), Slg. 1992, I-2821, Rn. 36; EuGH, Gutachten 1/00 v. 18.04.2002 (Gemeinsamer europäischer Luftverkehrsraum), Slg. 2002, I-3493, Rn. 13 ff.; EuGH (GK), Urt. v. 30.05.2006, Kommission ./. Irland, Rs. C-459/03, Slg. 2006, I-4635, Rn. 123. Seine ausschließliche Zuständigkeit hat der EuGH aus den jeweiligen Vorgängernormen von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV und Art. 344 AEUV abgeleitet. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 EUV überantwortet dem EuGH die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der europäischen Verträge. Nach Art. 344 AEUV sind zudem die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, diesbezügliche Streitigkeiten nicht anders als in den Verträgen vorgesehen zu regeln. Näher Lock, Verhältnis, S. 157 ff.; ders., ELRev. 35 (2010), 777 (781 f.); ders., LPICT 8 (2009), 375 (389 f.); S. Stock, Beitritt, S. 308 ff.; Calliess, Die neue EU, S. 329. 296 Vgl. Rn. 62 EB-E; Lock, ELRev. 35 (2010), 777 (782 f.); Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 20; Munding, S. 367; siehe auch Folz, S. 320. 297 Vgl. Streinz/Streinz/Michl, Art. 6 EUV, Rn. 18; Lock, ELRev. 35 (2010), 777 (787); A. Huber, Beitritt, S. 180 f.; S. Stock, Beitritt, S. 310, 320; Winkler, Beitritt, S. 56; Gragl, Accession, S. 269 f.; Pavlidis, S. 92; Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (37). 298 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 229 ff.; GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 177 ff. Kritisch Breuer, EuR 2015, 330 (342 ff.); differenzierend Jacqué, CDE 2015, 19 (30). 299 EuGH, a. a. O., Rn. 226 ff.; GA Kokott, a. a. O., Rn. 260 ff. Indes dürften gegen Mitgliedstaaten gerichtete Beschwerden, mit denen die Verletzung von Konventionsgarantien gerügt wird, die einem mitgliedstaatlichen Vorbehalt unterliegen, ohnehin bereits unzulässig sein, da die Zulässigkeit nach dem in Art. 3 Abs. 1 lit. b BÜ-E vorgesehenen zukünftigen Art. 36 Abs. 4 S. 3 EMRK ohne Rücksicht auf die Verfahrensbeteiligung eines Mitbeschwerdegegners zu beurteilen ist; Breuer, EuR 2015, 330 (341 f.); Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (191).

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

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Da der Mitbeschwerdegegner-Mechanismus nur mit Zustimmung der dann zur Mitbeschwerdegegnerin werdenden Vertragspartei ausgelöst wird300, soll die EU bei der Unterzeichnung der Beitrittsübereinkunft eine einseitige Erklärung abgeben, derzufolge sie die erforderlichen Schritte unternehmen wird, um bei Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 3 Abs. 2 BÜ-E Mitbeschwerdegegnerin zu werden301. Außerdem ist künftigen Bf. bei Unklarheiten in der Zuständigkeitsaufteilung anzuraten, die Menschenrechtsbeschwerde sicherheitshalber sowohl gegen die EU als auch gegen die betreffenden Mitgliedstaaten zu richten302. Dadurch wird von vornherein gewährleistet, dass sich keine der ggf. verantwortlichen Konventionsparteien einer Verurteilung durch den EGMR und deren konventionsrechtlichen Konsequenzen (siehe Art. 41, 46 EMRK) entziehen kann, indem sie den Eintritt in die Stellung als Mitbeschwerdegegnerin ablehnt. Unionsrechtlich sind EU und Mitgliedstaaten ohnehin kraft Art. 4 Abs. 3 EUV gehalten, loyal bei der Erfüllung der aus einem EMRK-Beitritt der Union resultierenden Verpflichtungen zusammenzuwirken. 4. Vorabbefassung des EuGH In Verfahren, in denen die Union als Mitbeschwerdegegnerin fungiert, soll dem EuGH ausreichend Zeit eingeräumt werden, die Vereinbarkeit einer europarechtlichen Bestimmung mit der EMRK zu beurteilen, sofern er hierzu vorher noch keine Gelegenheit hatte (Art. 3 Abs. 6 BÜ-E). Generell hat der EuGH selbst gefordert, eine abschließende interne Prüfung europarechtlicher Akte vornehmen zu können, bevor eine externe Entscheidung des EGMR ergeht303. Dies ist durch das konventionsrechtliche Erfordernis der Rechtswegerschöpfung304 allein nicht garantiert, da ein direkter Rechtsweg zum EuGH häufig nicht zur Verfügung steht305: Der Indi300 Nach Rn. 53 EB-E ist diese Regelung dadurch intendiert, dass keine Konventionspartei gegen ihren Willen zur Verfahrenspartei werden solle, wenn die Beschwerde ursprünglich nicht gegen sie gerichtet wurde. 301 Anhang II lit. a des Abschlussberichts – Draft declaration by the European Union to be made at the time of signature of the Accession Agreement/Projet de déclaration de l’Union européenne à faire au moment de la signature de l’Accord d’adhésion. Siehe auch GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 217 ff., 272 ff. 302 Vgl. auch Sauer, Jurisdiktionskonflikte, S. 338, Fn. 244. 303 EuGH, Reflexionspapier v. 05.05.2010 zu bestimmten Aspekten des Beitritts der EU zur EMRK, EuGRZ 2010, 366 (367), Rn. 9 ff.; siehe auch die Gemeinsame Erklärung der Präsidenten von EGMR und EuGH, Costa und Skouris, v. 24.01.2011, EuGRZ 2011, 95 (96), Rn. 2; Streinz/Streinz/Michl, Art. 6 EUV, Rn. 18; Lock, CMLR 48 (2011), 1025 (1046 f.); ders., ELRev. 35 (2010), 777 (792); Skouris, FS Scheuing, 208 (216); T. Thienel, Exclusive Jurisdiction, in: Krzan, Jurisdictional Competition, S. 189 (239). 304 Art. 35 Abs. 1 EMRK; siehe o., C. III. 305 Vgl. auch Vondung, AnwBl 2011, 331 (335); Quirico, IYIL 20 (2010), 31 (49); Lock, CMLR 48 (2011), 1025 (1045 f.).

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Teil 1: Grundlagen

vidualzugang zur Nichtigkeitsklage (Art. 263 Abs. 4, 5 AEUV) ist beschränkt306, und ein Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) kann nur von einem mitgliedstaatlichen Gericht eingeleitet werden307. Ähnlich wie Generalanwältin Kokott hielt auch der EuGH das Verfahren seiner Vorabbefassung an sich für ein notwendiges, von Art. 2 Protokoll (Nr. 8) zur Wahrung der Zuständigkeiten der Union und der Befugnisse ihrer Organe gebotenes Element der Beitrittsinstrumente308. Entsprechend forderte er hierfür keine vorherige Ergänzung des europäischen Primärrechts, die etwa von der polnischen Regierung angeregt worden war309. Das in Art. 3 Abs. 6 BÜ-E konkret vorgesehene Modell der Vorabbefassung hat allerdings nicht die Billigung des Luxemburger Gerichtshofs gefunden. Nach seinem Postulat muss das Verfahren „so ausgestaltet werden, dass in jeder beim EGMR anhängigen Rechtssache die Union vollständig und systematisch unterrichtet wird, damit ihr zuständiges Organ in die Lage versetzt wird, zu beurteilen, ob der EuGH über die jeweilige Rechtsfrage bereits entschieden hat, um ggf. die Vorabbefassung einzuleiten“ 310. Eine autonome Einschätzung der Notwendigkeit der Vorabbefassung durch den EGMR schloss der EuGH hingegen zuständigkeitshalber aus311. Während die Kommission offenbar davon ausgeht, sie selbst solle neben dem beschwerdegegnerischen Mitgliedstaat das „zuständige Organ“ sein, das über die Erforderlichkeit einer Vorabbefassung des EuGH entscheidet312, muss man letztlich wohl zu dem Schluss kommen, dass eine verlässliche Auskunft hierzu nur vom EuGH selbst gegeben werden kann313. Die genauen Initiierungsmodalitäten des Verfahrens der Vorabbefassung dürften indes bis zu einer unionsinternen Zuständigkeitsfestlegung im Dunkeln bleiben. Ein weiterer Kritikpunkt des EuGH betraf die Beschränkung der Vorabbefassung auf die Vereinbarkeit von europäischem Unionsrecht mit der EMRK, die 306

Siehe u., Teil 2, A. I. 2. b). Siehe u., Teil 2, A. I. 3. 308 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 236 f.; GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 64 ff., 72 f. 309 Zum Vorbringen Polens und weiterer Mitgliedstaaten siehe EuGH, a. a. O., Rn. 136 ff.; GA Kokott, a. a. O., Rn. 63. GA Kokott, a. a. O., Rn. 74 ff., plädierte ihrerseits für eine Anpassung der (nach Art. 281 Abs. 1 AEUV, 51 EUV im Primärrechtsrang stehenden) EuGH-Satzung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 281 Abs. 2 AEUV, um die Vorabbefassung des EuGH unionsintern zu implementieren. 310 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 241. 311 EuGH, a. a. O., Rn. 238 ff. GA Kokott war für den Fall einer offensichtlich durch die Unionsgerichte geklärten Rechtslage zu einem anderen Ergebnis gelangt; Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 184; ebenso Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (194). 312 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 92; siehe auch Pavlidis, S. 95. 313 Zutreffend GA Kokott, a. a. O., Rn. 183. 307

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

85

nach Rn. 66 EB-E Fragen der Gültigkeit von Sekundärrecht und der Auslegung von Primärrecht umfassen sollte. Zu Recht monierte der Gerichtshof hier, dass die verbindliche Auslegung von Sekundärrecht im Rahmen der Vorabbefassung nicht vorgesehen sei314. Da sich jedoch ein Bedarf dafür ergeben könne, drohe der Grundsatz der insoweit ausschließlichen Zuständigkeit des EuGH verletzt zu werden315. Dieser Gefahr könnte man allerdings mit einer ausdrücklichen Klarstellung oder Erweiterung der zugehörigen Formulierungen in den Beitrittsinstrumenten leicht begegnen316. Überdies bemängelte der EuGH das Fehlen einer Regelung des Verhältnisses zwischen dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV und dem im ZP 16 normierten Gutachtenmechanismus317. Das im Oktober 2013 zur Unterzeichnung aufgelegte ZP 16 ermächtigt bestimmte oberste Gerichte der beigetretenen Konventionsstaaten, den EGMR um ein nicht bindendes Gutachten über Grundsatzfragen zur Auslegung oder Anwendung des Konventionsrechts zu ersuchen318. Für sein Inkrafttreten sind zehn Ratifikationen erforderlich (Art. 8 Abs. 1 ZP 16); ein Beitritt der EU ist bislang nicht geplant319. Der EuGH befürchtete insbesondere, dass ein Gutachtenersuchen eines mitgliedstaatlichen Gerichts nach dem ZP 16 das Verfahren der Vorabbefassung des EuGH auslösen und damit das unionsrechtliche Vorabentscheidungsverfahren umgangen werden könnte320. Bei näherer Betrachtung erweist sich eine solche Entwicklung hingegen aus strukturellen Gründen als wenig realistisch. Denn die Vorabbefassung setzt nach Art. 3 Abs. 6 BÜ-E einen Mitbeschwerdegegnerstatus der EU voraus, der wiederum erfordert, dass mindestens ein Mitgliedstaat unmittelbarer Beschwerdegegner ist (Art. 3 Abs. 2 BÜ-E). Das Gutachtenverfahren des ZP 16 ist jedoch gegnerlos ausgestaltet und bietet damit keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für eine Vorabbefassung321. Diesen Zusammenhang hat der EuGH anscheinend nicht gesehen. Im übrigen ergibt sich die Pflicht der mitgliedstaatlichen

314

EuGH, a. a. O., Rn. 242 ff.; entsprechend GA Kokott, a. a. O., Rn. 130 ff. EuGH, a. a. O., Rn. 245 ff. 316 Vgl. auch GA Kokott, a. a. O., Rn. 135; Breuer, EuR 2015, 330 (346); Jacqué, CDE 2015, 19 (38, 41); Pernice, CDE 2015, 47 (68). 317 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 196 ff., 199. 318 Siehe Art. 1, 5 ZP 16; Gundel, EuR 2015, 609 (609 ff.); R. Zimmermann, EuGRZ 2015, 153 (154 ff.). 319 Siehe GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 138; Tomuschat, EuGRZ 2015, 133 (138); Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (188); Jacqué, CDE 2015, 19 (25). 320 EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 198. 321 Breuer, EuR 2015, 330 (337). Die Konventionsstaaten dürfen nach Maßgabe von Art. 3 ZP 16 lediglich schriftliche Stellungnahmen abgeben und an einer etwaigen mündlichen Verhandlung teilnehmen. 315

86

Teil 1: Grundlagen

Höchstgerichte, bei unionsrechtlichen Grundrechtsfragen vorrangig ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV einzuleiten, bereits direkt aus dessen Abs. 3322. Überraschenderweise hat sich der EuGH in seinem Gutachten nicht dazu geäußert, dass sein im Rahmen der Vorabbefassung gefundenes Resultat laut Rn. 68 EB-E für den EGMR nicht bindend sein soll. Zu anderen Anlässen hatte der Luxemburger Gerichtshof wiederholt sein Selbstverständnis als Instanz zum Ausdruck gebracht, deren Entscheidungen verbindliche Wirkung zukommt323, so dass auch im vorliegenden Kontext eine solche Forderung zu erwarten gewesen wäre324. Dem EGMR hätte es dann gleichwohl freigestanden, auf der Grundlage der Einschätzung des EuGH ggf. einen Konventionsverstoß festzustellen. Insgesamt bestehen also durchaus gewichtige Unterschiede zwischen dem Verfahren der Vorabbefassung gemäß Art. 3 Abs. 6 BÜ-E und dem unionsrechtlichen Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV: So kommt die Vorabbefassung des EuGH nur in Betracht, wenn die Konventionskonformität von EU-Recht in Frage steht. Außerdem soll der EGMR die Entscheidung über die Notwendigkeit einer Vorabbefassung nicht selbst treffen dürfen, und die Beurteilung der aufgeworfenen Rechtsfrage durch den EuGH soll unverbindlich bleiben. Damit liegt die Frage nahe, ob eine echte Einbindung des EGMR in das Vorabentscheidungsverfahren sinnvoll sein könnte. Wäre der Straßburger Gerichtshof nach entsprechender Änderung des Art. 267 AEUV zur Vorlage an den EuGH berechtigt325 und aufgrund seiner Letztinstanzlichkeit grundsätzlich auch verpflichtet326, beständen zwar gute Chancen, dass der Dialog zwischen beiden europäischen Gerichtshöfen in Umfang und Intensität von einer solchen Institutionalisierung profitieren würde. Der EGMR könnte dann europarechtliche Fragen vorab umfassend durch den EuGH klären lassen, so dass sich seine Möglichkeiten, das Europarecht einschließlich spezifischer materiell-rechtlicher Aspekte 322 GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 141; Wendel, NJW 2015, 921 (924); Breuer, EuR 2015, 330 (336); Gundel, EuR 2015, 609 (622); Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (188 f.). 323 EuGH, Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991, I-6079, Rn. 61 ff.; EuGH, Gutachten 1/92 v. 10.04.1992 (EWR II), Slg. 1992, I-2821, Rn. 33; vgl. auch EuGH, Gutachten 1/00 v. 18.04.2002 (Gemeinsamer europäischer Luftverkehrsraum), Slg. 2002, I-3493, Rn. 25. 324 Zwar kann die Wirkung einer im Verfahren der Vorabbefassung ergangenen Entscheidung des EuGH auch in der EuGH-Satzung geregelt werden; vgl. GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 76. Eine solche Regelung sollte allerdings nicht im Widerspruch zu den völkerrechtlichen Verpflichtungen der EU aus den Beitrittsinstrumenten stehen. 325 Vgl. zum Status quo u., Teil 2, A. I. 3. 326 Vgl. Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie Teil 2, A. II. 1.

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

87

in die eigene konventionsrechtliche Prüfung einzubeziehen, beträchtlich erweitern würden327. Jedoch wäre zu befürchten, dass eine derartige Veränderung des Rechtsschutzsystems auch erhebliche unerwünschte Auswirkungen hätte. Die mitgliedstaatlichen Höchstgerichte könnten etwa versucht sein, ihrer europarechtlichen Vorlagepflicht bewusst weniger streng nachzukommen, da der EuGH später noch durch den EGMR eingeschaltet werden könnte. Letzterer wäre dann mit einer zunehmenden Menge an Beschwerden konfrontiert, die im Kern Probleme des materiellen Europarechts beträfen und damit ein Vorabentscheidungsersuchen erforderten. Dies würde die begrenzten Straßburger Kapazitäten empfindlich strapazieren. Hinzu kommt, dass für die Beschwerdeführer kein Rechtsbehelf mehr zur Verfügung stände, um gegen eine denkbare Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht durch den EGMR selbst vorzugehen. Den im EU-Recht vorgesehenen Kontrollmechanismen unterliegt der EGMR als externer Gerichtshof nicht328, und auch ein Rechtsweg zum EuGH ist nicht eröffnet. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass es vorzugswürdig wäre, möglichst eine Klärung europarechtlicher Fragen durch den EuGH sicherzustellen, bevor der EGMR mit ihnen befasst werden kann. Ein eigenes Vorlagerecht des EGMR würde sich dann praktisch erübrigen. Dazu müsste man aber das eigentliche Problem an der Wurzel packen, das eine Vorabbefassung des EuGH durch den EGMR in jedweder Form überhaupt erst erforderlich werden lässt: die unzureichende Sanktionierung von Verstößen letztinstanzlicher mitgliedstaatlicher Gerichte gegen ihre europarechtliche Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV329. Als Alternative zu der stark von institutionellen Erwägungen geprägten Konzeption der Vorabbefassung nach Art. 3 Abs. 6 BÜ-E330 empfiehlt sich strukturell eher eine maßgeblich rechtsschutzorientierte Lösung. Daher sollte auf Unionsebene der Individualrechtsschutz gegen Vorlagepflichtverletzungen ausgebaut werden. Die bereits vielfach geforderte Realisierung einer durch Vertragsänderung nach Art. 48 EUV einzuführenden Nichtvorlagebeschwerde zum EuGH331 hätte zur Folge, dass die rechtzeitige Befassung des EuGH mit den ausschlaggebenden europarechtlichen Fragen weitestgehend gewährleistet wäre. Als echter Rechtsbehelf wäre eine solche Nichtvorlagebeschwerde Teil des nach Art. 35 Abs. 1 EMRK zu erschöpfenden Rechtsweges und müsste also vor der Anrufung des EGMR erhoben werden. Infolge dessen 327 Zu den gegenwärtigen Grenzen siehe u., Teil 2, A. V. 2. a); Teil 3, A. I. 5. c), d); Teil 5, C. V. 328 Siehe Teil 2, A. I. 3., III. 2. 329 Vgl. Rn. 65 EB-E; Wendel, NJW 2015, 921 (922, 924); Jacqué, CMLR 48 (2011), 995 (1019 f.); Lambrecht, EHRLR 2015, 185 (193 f.). 330 Vgl. auch Vondung, AnwBl 2011, 331 (335). 331 Siehe hierzu ausführlich und m.w. N. Teil 2, A. V. 3., sowie insbesondere Vondung, AnwBl 2011, 331 (336).

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Teil 1: Grundlagen

würde wohl in der ganz überwiegenden Zahl der einschlägigen Fälle die konventionsrechtliche Beschwer bereits durch den EuGH beseitigt332, so dass der Gang vor den EGMR zumeist entbehrlich und damit gleichzeitig eine gewisse Entlastung des Straßburger Rechtsschutzsystems erreicht wäre333. 5. Strukturelle Anpassung des EGMR Nach einem Beitritt der EU zur EMRK ist damit zu rechnen, dass der EGMR verstärkt mit Fällen befasst werden wird, die einen europarechtlichen Bezug aufweisen334. Zwar dürfte dadurch keine übermäßige Mehrbelastung für den Gerichtshof entstehen, da die EU lediglich eine zusätzliche Konventionspartei darstellen wird, die in etwa einem größeren Staat vergleichbar wäre und daher neben 47 weiteren Parteien nicht entscheidend ins Gewicht fiele335. Vielmehr sind gewisse Verlagerungseffekte zu erwarten, weil entsprechende Beschwerden, die derzeit noch gegen die Mitgliedstaaten zu erheben wären, künftig direkt gegen die EU gerichtet werden können. Dennoch muss dafür Sorge getragen werden, dass der EGMR den Herausforderungen standhält, die mit einem EMRK-Beitritt der EU und der zunehmenden Bedeutung des Europarechts für die Konventionsrechtsordnung verbunden sein werden. In finanzieller Hinsicht ist eine Beteiligung der EU an den Kosten des Konventionssystems vorgesehen336. Beträchtlichen Einfluss auf die Funktionsfähigkeit des EGMR hat des weiteren seine konkrete Personalausstattung. Da nach Art. 20 EMRK die Zahl der Richter des EGMR derjenigen der Vertragsparteien entspricht, wird der Gerichtshof mit dem Beitritt der Union eine zusätzliche Richterstelle erhalten, bei deren Besetzung der EU gemäß Art. 22 EMRK das Vorschlagsrecht zukommt337. Allgemein soll die EU mit einer Delegation des Europäischen Parlaments in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates mitwirken, wenn diese ihre Funktion als Wahlorgan der Straßburger Richter ausübt338. Gerade der für die EU zu wählende Richter, der im Amt die gleichen Rechte und Pflichten wie seine Kollegen innehaben wird339, sollte jenseits der 332

Vgl. Winkler, Beitritt, S. 56; Vondung, AnwBl 2011, 331 (336). Siehe auch u., Teil 2, A. V. 3. 334 Vgl. Leitsch/Klingberg, MRM 2010, 31 (35, 40); Egli, ZaöRV 64 (2004), 759 (770); Gilch, S. 176. 335 Vgl. Ress, Der EGMR, seine Reform und die Rolle der nationalen Gerichte, in: Karl, Internationale Gerichtshöfe, S. 39 (74). 336 Vgl. Art. 8 BÜ-E; Rn. 93 ff. EB-E. 337 Siehe auch Europäisches Parlament, Entschließung v. 19.05.2010, EuGRZ 2010, 362 (363), Rn. 7; A. Huber, Beitritt, S. 54 f.; S. Stock, Beitritt, S. 288 ff.; Ch. P. Schmidt, Grund- und Menschenrechte, S. 81 ff.; Karper, S. 253 f. 338 Art. 6 BÜ-E; siehe auch Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 14. 339 Rn. 77 EB-E; siehe auch Karper, S. 254; Pavlidis, S. 99 f.; S. Stock, Beitritt, S. 291; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (102). 333

D. Ausbau des Rechtsschutzes durch Beitritt der EU zur EMRK

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Voraussetzungen von Art. 21 Abs. 1 EMRK über ausgewiesene Kenntnisse und Fähigkeiten im Europarecht verfügen, die er in die Rechtsprechungstätigkeit des EGMR einbringen kann340. Aber auch bei allen anderen Wahlen von EGMRRichtern ist der Parlamentarischen Versammlung und den vorschlagenden Konventionsstaaten nachdrücklich zu empfehlen, die (europa)rechtliche Qualifikation der Kandidaten als entscheidendes Auswahlkriterium zu berücksichtigen341. Bei Bedarf könnten zudem spezielle Fortbildungsangebote für die bereits amtierenden Richter geschaffen werden. Denn die breitestmögliche Verfügbarkeit insbesondere spezifisch europarechtlichen Sachverstands im Richtergremium vermag nachhaltig zur Verbesserung der qualitativen und quantitativen Bewältigungskapazität des EGMR nach einem Konventionsbeitritt der EU beizutragen. Von einer solchen Entwicklung würde die konventionsrechtliche Durchsetzung des Europarechts auch in denjenigen Konstellationen profitieren, die schon gegenwärtig der Straßburger Jurisdiktion unterliegen. Um den Gerichtshof noch besser auf seine künftigen Aufgaben vorzubereiten, kommen zusätzlich organisatorische und verfahrensrechtliche Anpassungsmaßnahmen in Betracht. So könnten spezialisierte Ausschüsse und Kammern eingerichtet werden, die vorrangig für Verfahren mit europarechtlichem Bezug zuständig wären342. Auf diese Weise ließen sich Reibungsverluste reduzieren, die durch wechselnde Zuständigkeiten entstehen. Die in den neuen Gremien gewonnenen praktischen Erfahrungen könnten die europarechtliche Sensibilität und Expertise des EGMR weiter erhöhen. Sollten sich ferner die mit dem ZP 14 umgesetzten Schritte zur Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren343 nicht als hinreichend erweisen, um den EGMR merklich zu entlasten, könnte überdies eine Erweiterung der Entscheidungsbefugnisse der Einzelrichter und der Ausschüsse344 zu erwägen sein. Als ultima ratio wäre sogar vorstellbar, dem Gerichtshof die freie Entscheidung über die Annahme einer Beschwerde zu überlassen345, sofern 340 Vgl. Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 59 EMRK, Rn. 12 f.; A. Huber, Beitritt, S. 44, 55, 57 f.; S. Stock, Beitritt, S. 289; Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 292; Hentschel-Bednorz, S. 374 f.; Lenski, in: Karpenstein/Mayer, Art. 20 EMRK, Rn. 1; ferner Grabenwarter, FS Steinberger, 1129 (1149 f., Fn. 72). 341 Zu bisherigen Defiziten in der Auswahlpraxis siehe N. P. Engel, EuGRZ 2012, 486 (486 ff.); ders., EuGRZ 2010, 368 (368 f.). 342 Vgl. Doc. 11533 der Parlamentarischen Versammlung des Europarates v. 18.03. 2008, „The accession of the European Union/European Community to the European Convention on Human Rights“, Appendix 1, V., Rn. 7 (Beitrag van Dijk), abrufbar unter: http://assembly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-EN.asp?fileid=11835& lang=en; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (102); kritisch A. Huber, Beitritt, S. 56; siehe auch Benoît-Rohmer, RUDH 2000, 57 (61). 343 Siehe hierzu Gilch, S. 141 ff., 147 ff., 181 ff.; Leitsch/Klingberg, MRM 2010, 31 (33 ff.); Eaton/Schokkenbroek, HRLJ 26 (2005), 1 (5 ff.); Karper, S. 192 f., 197, 203 f.; Reiss, HHRJ 22 (2009), 293 (299 ff.). 344 Vgl. zu den gegenwärtigen Zuständigkeiten Art. 26 ff. EMRK; Gilch, S. 149 ff. 345 Vgl. Wildhaber, EuGRZ 2009, 541 (551).

90

Teil 1: Grundlagen

damit keine spürbare praktische Rechtsschutzeinbuße einherginge346. Derartige Modifikationen des Verfahrensrechts würden allerdings eine erneute Änderung der Konvention erforderlich machen347.

346 347

Siehe auch Bulach, S. 203. Vgl. Costa, IYIL 20 (2010), 193 (198).

Teil 2

Verfahrensrechte Den Verfahrensrechten kommt grundlegende Bedeutung auch für die Wirksamkeit der materiellen Rechte zu, weil deren Durchsetzung maßgeblich von den verfahrensrechtlichen Implementierungsbedingungen abhängt1. Als für den Rechtsschutz zugunsten des Europarechts besonders wichtige Elemente stehen nachfolgend die Beachtung der Vorlagepflicht zum EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV (A.) sowie die effektive Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen (B.) im Zentrum der Darstellung.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV In diesem Abschnitt werden zunächst die europarechtlichen Grundlagen des Vorabentscheidungsverfahrens (I.) und insbesondere die Ausgestaltung der Vorlagepflicht zum EuGH (II.) behandelt. Ausgehend von den Mechanismen zur Durchsetzung der Vorlagepflicht auf Unions- und mitgliedstaatlicher Ebene (III.) werden dann der Einfluss der EMRK und die Rolle der Konventionsorgane bei der Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen untersucht (IV.). Abschließend folgt eine Evaluation der Möglichkeiten zur Verbesserung des Individualrechtsschutzes gegen Vorlagepflichtverstöße (V.).

I. Das Vorabentscheidungsverfahren als Schlüsselelement des EU-Rechtsschutzsystems 1. Funktion und Bedeutung Die europäischen Verträge haben ein komplexes System zur Gewährleistung gerichtlichen Rechtsschutzes geschaffen, dessen sich die Einzelnen zur Durchsetzung ihrer europarechtlich begründeten Rechte bedienen können. Es weist eine duale Struktur auf, in der die Unionsgerichtsbarkeit als zentrales Element und die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit als dezentrales Element zusammenwirken2. Da 1

Vgl. Munding, S. 137 f. C. Nowak, EuR 2000, 724 (724 ff.); ders., in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47 (50 ff.); Haratsch, EuR Beiheft 3 2008, 81 (82 f.); Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 43; Oeter, Verhältnis, in: Fastenrath/Nowak, Reformvertrag, S. 129 (140). 2

92

Teil 2: Verfahrensrechte

Umsetzung und Vollzug des Europarechts weitgehend dezentral organisiert sind3, obliegt die entsprechende gerichtliche Kontrolle in erster Linie den nationalen Gerichten. Sie haben als „ordentliche Unionsgerichte“ 4 den Auftrag, die volle Effektivität des Europarechts zu sichern und die subjektiven Rechte zu schützen, die es den Einzelnen verleiht5. Der Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ergibt sich sowohl aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als auch aus Art. 6 und 13 EMRK sowie aus Art. 47 GRC 6. Dementsprechend verpflichtet Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV die Mitgliedstaaten dazu, die für einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen. Grundsätzlich verfügen die nationalen Gerichte über eine umfassende Zuständigkeit7, von der nur die dem EuGH vorbehaltenen Bereiche ausgenommen sind8. Dem EuGH als zentraler Gerichtsinstanz der Union ist durch Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV die Funktion zugewiesen, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern; er muss sich dabei jedoch im Rahmen seiner in den Verträgen abschließend festgelegten Zuständigkeit bewegen (vgl. Art. 19 Abs. 3 EUV). Um der Gefahr divergierender Entscheidungen zu begegnen, die dieser Aufgabenteilung zwischen dem EuGH und den 3 Haratsch, EuR Beiheft 3 2008, 81 (82 f.); Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 43; Groh, Auslegungsbefugnis, S. 61; Frenz, DÖV 1995, 414 (414). Ausnahmen bestehen etwa im Wettbewerbsrecht (Art. 103, 105 AEUV) und bei der Beihilfenaufsicht (Art. 108 AEUV) sowie im unionsinternen Organisations- und Bedienstetenrecht. 4 EuGH, Gutachten 1/09 v. 08.03.2011 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137, Rn. 80. Häufig wurde der nationale Richter auch als „juge communautaire de droit commun“ bezeichnet; vgl. Kraus, EuR Beiheft 3 2008, 109 (112 f.); Ehlers, Jura 2007, 505 (506); Skouris, FS Starck, 991 (1003); Hirsch, ZRP 2000, 57 (59). 5 EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Simmenthal, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 14 ff.; EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Francovich et al., verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 32; Groh, Auslegungsbefugnis, S. 61 ff.; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 6; Dauses, FS Everling Bd. I, 223 (223); Pache/Knauff, NVwZ 2004, 16 (17); Prechal, YEL 25 (2006), 429 (429 f.); Burgi, DVBl. 1995, 772 (778). 6 EuGH, Urt. v. 15.05.1986, Johnston ./. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 f.; EuGH, Urt. v. 15.10.1987, Unectef ./. Heylens, Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097, Rn. 14; EuGH, Urt. v. 27.11.2001, Kommission ./. Österreich, Rs. C-424/99, Slg. 2001, I-9285, Rn. 45; EuGH, Urt. v. 25.07.2002, Unión de Pequeños Agricultores ./. Rat, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 39; EuGH, Urt. v. 19.06.2003, Eribrand, Rs. C-467/01, Slg. 2003, I-6471, Rn. 61; EuGH, Urt. v. 13.03. 2007, Unibet, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 120 ff., Rn. 412 ff.; Heinze, EuR 2008, 654 (656 ff.); Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 185; Tonne, S. 200 ff.; C. Nowak, in: ders./Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47 (48 f.); Streinz, VVDStRL 61 (2002), 300 (340 f.); C. Weber, Grundsatz der Effektivität, S. 59 ff.; Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 50 ff.; Classen, Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 31 ff. 7 Skouris, FS Starck, 991 (1003); Kraus, EuR Beiheft 3 2008, 109 (113). 8 Prechal, YEL 25 (2006), 429 (430); C. Nowak, EuR 2000, 724 (738); ders., in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47 (50 ff.).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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nationalen Gerichten9 innewohnt, existiert mit dem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV (früher Art. 234 EGV) ein Koordinierungsmechanismus10, der die Rechtseinheit innerhalb der Union sicherstellen soll11. Wird in einem Verfahren vor einem nationalen Gericht eine europarechtliche Frage aufgeworfen, kann oder ggf. muss12 das Gericht den Prozess aussetzen und sie dem EuGH13 zur Vorabentscheidung vorlegen, der allein die abstrakte Rechtsfrage in einem objektiven Zwischenverfahren beantwortet14. Unter Beachtung des vom EuGH gefundenen Ergebnisses entscheidet das nationale Gericht dann im konkreten Fall abschließend über den Ausgangsrechtsstreit15. Die verbindliche Auslegung des Europarechts wird auf diese Weise beim EuGH monopolisiert16 und entfaltet für die Rechtsanwendung eine wichtige Orientierungswirkung17. Art. 267 AEUV sieht also einen auf wechselseitigem Erkenntnisaustausch beruhenden gerichtlichen Dialog vor, der das Verständnis beider Seiten für die je-

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EuGH, Urt. v. 16.12.1981, Foglia ./. Novello, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 14. Vgl. Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (383); Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 4, Rn. 5; Magiera, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 13, Rn. 50; Hirsch, ZRP 2000, 57 (59). 11 EuGH, Urt. v. 16.01.1974, Rheinmühlen Düsseldorf ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Rs. 166/73, Slg. 1974, 33, Rn. 2; EuGH, Urt. v. 24.05. 1977, Hoffmann-La Roche ./. Centrafarm, Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 7; EuGH, Urt. v. 04.11.1997, Parfums Christian Dior ./. Evora, Rs. C-337/95, Slg. 1997, I-6013, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 15.09.2005, Intermodal Transports, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 29; EuGH, Gutachten 1/09 v. 08.03.2011 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137, Rn. 83; EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 176; Borchardt, in: Lenz/ Borchardt, Art. 267 AEUV, Rn. 1; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 1; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 45 f.; Hummert, S. 20; Hentschel-Bednorz, S. 227 f.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 6; Herrmann, EuZW 2006, 231 (231); Bernitz, SSEL 1 (2006), 37 (41); Prechal, YEL 25 (2006), 429 (431); Sˇarcˇevic´, DÖV 2007, 593 (594); C. O. Lenz, Judikative, in: Delbrück/Einsele, Wandel, S. 43 (43); Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (777); Schwarze, FS Starck, 645 (647 f.). 12 Siehe u., II. 13 Bislang ist von der in Art. 256 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Möglichkeit, in der EuGH-Satzung dem EuG die Zuständigkeit für Vorabentscheidungen in besonderen Sachgebieten zu übertragen, kein Gebrauch gemacht worden; Schwarze/Schwarze, Art. 256 AEUV, Rn. 7; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 256 AEUV, Rn. 27 ff. 14 Ehlers, Jura 2007, 505 (508); Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 4, Rn. 69. 15 EuGH, Urt. v. 16.12.1981, Foglia ./. Novello, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 15; EuGH, Urt. v. 10.05.2001, Agorà und Excelsior, verb. Rs. C-223/99 und C-260/99, Slg. 2001, I-3605, Rn. 23; Thomy, S. 52; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 4. 16 Thomy, S. 47; Hentschel-Bednorz, S. 226; Kraus, EuR Beiheft 3 2008, 109 (112 f.); Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 6; Schwarze, FS Starck, 645 (647); siehe auch Heiderhoff, S. 60. 17 Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 4, Rn. 5. 10

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Teil 2: Verfahrensrechte

weils andere Rechtsordnung fördern soll18. Das Vorlagesystem etabliert keine strenge Hierarchisierung zugunsten des EuGH19, sondern schafft einen Rahmen judizieller Zusammenarbeit20, innerhalb dessen die Gerichte ihre Kompetenzen jeweils autonom ausüben können. Über die Anknüpfung an den nationalen Ausgangsrechtsstreit kommt dem Vorabentscheidungsverfahren eine fundamentale Bedeutung für den Individualrechtsschutz zu21, da es die Durchsetzung europarechtlicher Rechtspositionen sowohl gegen widerstreitendes nationales Recht als auch gegen primärrechtswidrige Sekundärrechtsakte ermöglicht22. Dem EuGH ist es auf diesem Wege sogar wiederholt gelungen, die Europarechtsordnung zugunsten der Bürger weiterzuentwickeln und um neue Rechtsstrukturen zu bereichern23. Auch in quantitativer Hinsicht wird die überragende praktische Relevanz des Vorabentscheidungsverfahrens deutlich. So geht regelmäßig etwa die Hälfte der vom EuGH entschiedenen Rechtssachen auf Vorlagen nationaler Gerichte zu18 Vgl. EuGH, Urt. v. 12.02.2008, Kempter, Rs. C-2/06, Slg. 2008, I-411, Rn. 42; Hummert, S. 21; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 4; Steinhauer, S. 140 f.; Dauses, FS Everling Bd. I, 223 (223 f.); Haltern, Europarecht, Rn. 333 f.; Skouris, EuGRZ 2008, 343 (344). 19 Vgl. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 5; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 4; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 47. Dennoch bestehen mittelbare Hierarchisierungseffekte zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Gerichtsbarkeit, die sich insbesondere aus dem (Anwendungs-) Vorrang des Europarechts gegenüber dem nationalen Recht (grundlegend EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 [1269 ff.]) ergeben; vgl. Seidel, NVwZ 1993, 105 (105 f.); Lutz, S. 92; Dörr, DVBl. 2006, 1088 (1098); Büdenbender, S. 39 ff. 20 EuGH, Urt. v. 11.12.2007, ETI et al., Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10893, Rn. 19; EuGH, Gutachten 1/09 v. 08.03.2011 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I1137, Rn. 84. Dieser Kooperationsgedanke lässt sich auch auf das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV) zurückführen; Hummert, S. 20, 79 f.; Kahl, AöR 118 (1993), 414 (429). 21 Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 8; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 70, Rn. 245 f.; Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1047; Hummert, S. 22; Thomy, S. 48 f.; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 267 AEUV, Rn. 2; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 12 f.; Wernsmann, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 11, Rn. 2; Burgi, DVBl. 1995, 772 (777); Herrmann, EuZW 2006, 231 (231); Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (777). 22 Näher u., 2. a), b). 23 So sind in diesem Verfahren grundlegende Prinzipien wie beispielsweise der Vorrang (EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 [1269 ff.]) und die unmittelbare Wirkung (EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 [24 ff.]) des Europarechts sowie die europarechtliche Staatshaftung (EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Francovich et al., verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 31 ff.) entwickelt worden; Streinz/ Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 9; Hummert, S. 21; Thomy, S. 49 f.; Lieber, S. 12 ff.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 7; Hentschel-Bednorz, S. 229 f.; Schwarze, DVBl. 2002, 1297 (1303); Kutscher, EuR 1981, 392 (397); K. Brandt, JuS 1994, 300 (305); Dauses, FS Everling Bd. I, 223 (241 f.); Tridimas, CMLR 40 (2003), 9 (10 f., 46); Waelbroeck, EuR Beiheft 1 2003, 71 (79); Skouris, EuGRZ 2008, 343 (344); ders., FS Starck, 991 (992 ff.).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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rück24, wobei die absolute Zahl der Vorlagen seit längerem eine steigende Tendenz erkennen lässt25. Mithin erweist es sich in jeder Beziehung als zutreffend, das Vorabentscheidungsverfahren als „Eckpfeiler“ für den Rechtsschutz im europäischen Integrationsverbund zu bezeichnen26. Es bildet gleichsam ein Scharnier zwischen europäischer und mitgliedstaatlicher Gerichtsbarkeit, dessen reibungsloses Funktionieren allerdings von der Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der beteiligten Gerichte – insbesondere auf nationaler Ebene – abhängt27. Hier entscheidet sich daher oftmals, ob die Einzelnen wirklich einen effektiven gerichtlichen Schutz ihrer europarechtlich verbürgten Rechte erreichen können. 2. Vorlagegegenstände Welche Fragen Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH sein können, ergibt sich abschließend aus Art. 267 Abs. 1 AEUV28. Danach entscheidet der Gerichtshof über die Auslegung der Verträge (lit. a) sowie über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union (lit. b). a) Auslegungsfragen Für die verbindliche Auslegung des Europarechts besteht grundsätzlich eine umfassende und ausschließliche Zuständigkeit des EuGH 29. Bei der Beantwortung einer Auslegungsfrage erläutert und verdeutlicht der Gerichtshof erforderli24 Hummert, S. 23; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 71, Rn. 247; Ehlers, in: ders./Schoch, Rechtsschutz, § 6, Rn. 15; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 14; Skouris, EuGRZ 2008, 343 (343); Grabenwarter, EuR Beiheft 1 2003, 55 (56); Epiney, in: Bieber/Epiney/Haag, Die EU, § 9, Rn. 84; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 51; Allkemper, EWS 1994, 253 (253); Hakenberg, DRiZ 2000, 345 (345). 25 Diese Entwicklung hat auch zu einer Verlängerung der Verfahrensdauer geführt; Hummert, S. 23; Sˇarcˇevic´, DÖV 2007, 593 (593, Fn. 1); Groh, Auslegungsbefugnis, S. 68 f.; ders., EuZW 2002, 460 (462); C. O. Lenz, EuGRZ 2001, 433 (433 f.); Vesterdorf, ELRev. 28 (2003), 303 (309 f.); Wegener, EuR Beiheft 3 2008, 45 (53, Fn. 37). 26 Rodríguez Iglesias, NJW 2000, 1889 (1895); Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 10; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 6; Hummert, S. 23; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 50; Voßkuhle, JZ 2001, 924 (924 f.); Pache/Knauff, NVwZ 2004, 16 (16); Herrmann, EuZW 2006, 231 (231); Wernsmann, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 11, Rn. 9; ähnlich Lieber, S. 11. Siehe auch Haltern, Europarecht, Rn. 333: „Kronjuwel unter den gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzverfahren“. 27 Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 161; Epiney, in: Bieber/Epiney/Haag, Die EU, § 9, Rn. 84; Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (538); Wegener, in: Calliess/ Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 34; ders., EuR 2002, 785 (786); Rösler, ZRP 2000, 52 (55). Siehe z. B. noch u., Teil 3, A. I. 5. c). 28 Vgl. Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 13. 29 Siehe schon o., 1., sowie EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 246; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 11; Lock, Verhältnis, S. 160 ff.

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Teil 2: Verfahrensrechte

chenfalls, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite die jeweilige europarechtliche Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre30. Die Anwendung des – ggf. vom EuGH ausgelegten – Europarechts auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens selbst fällt dagegen in die Kompetenz der nationalen Gerichte31. Dem EuGH vorgelegte Auslegungsfragen können sich zunächst auf die „Verträge“ (lit. a) beziehen. Dieser Begriff wird allgemein weit verstanden und umfasst das geschriebene32 und ungeschriebene33 europäische Primärrecht34. Weiterhin kann der EuGH nach lit. b auch mit der Auslegung sämtlicher Handlungen befasst werden, die einem Organ oder einer sonstigen Stelle der EU zuzurechnen und geeignet sind, Rechtswirkungen zu entfalten35. Einer unmittelbaren Wirkung gegenüber den Bürgern bedarf es hingegen nicht36. Damit wird das gesamte EU-Sekundärrecht37 potentieller Gegenstand ei30

EuGH, Urt. v. 27.03.1980, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit italiana, Rs. 61/79, Slg. 1980, 1205, Rn. 16; EuGH, Urt. v. 13.01.2004, Kühne & Heitz, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837, Rn. 21; EuGH, Urt. v. 12.02.2008, Kempter, Rs. C-2/ 06, Slg. 2008, I-411, Rn. 35; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 267 AEUV, Rn. 5; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 18; Thomy, S. 58. 31 EuGH, Urt. v. 19.12.1968, Salgoil ./. Ministero del commercio con l’estero, Rs. 13/ 68, Slg. 1968, 680, Ls. 1; EuGH, Urt. v. 23.02.2006, CLT-UFA, Rs. C-253/03, Slg. 2006, I-1831 (= EuZW 2006, 312), Rn. 35 f.; EuGH, Urt. v. 30.03.2006, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, Rs. C-451/03, Slg. 2006, I-2941, Rn. 69; EuGH, Urt. v. 14.12.2006, Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servizio, Rs. C-217/05, Slg. 2006, I-11987 (= EuZW 2007, 150), Rn. 49; EuGH, Urt. v. 11.09.2008, CEPSA, Rs. #C-279/06, Slg. 2008, I-6681 (= EuZW 2008, 668), Rn. 28, 30 f.; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 267 AEUV, Rn. 10; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 30; Adrian, S. 255 f.; Sˇarcˇevic´, DÖV 2007, 593 (597). 32 Hierzu zählen zuvörderst EUV und AEUV nebst Anlagen, Anhängen und Protokollen (vgl. Art. 51 EUV) sowie die Beitrittsverträge. Auch die GRC ist tauglicher Vorlagegegenstand, da sie den beiden anderen Verträgen rechtlich gleichrangig ist (Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV); ihre wesentlichen Inhalte waren bereits vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages als ungeschriebenes Primärrecht von der Zuständigkeit des EuGH erfasst. Die Normen des EAGV sind über Art. 106 a EAGV vorlagefähig. 33 Zum ungeschriebenen Primärrecht gehören die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts einschließlich des nicht fixierten Verwaltungs- und Verfahrensrechts sowie das Gewohnheitsprimärrecht. 34 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 267 AEUV, Rn. 5 f.; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 18; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 380 f., Rn. 770. 35 Vgl. EuGH, Urt. v. 03.07.1979, Van Dam, verb. Rs. 185/78 bis 204/78, Slg. 1979, 2345, Rn. 10; EuGH, Urt. v. 03.02.1976, Manghera et al., Rs. 59/75, Slg. 1976, 91, Rn. 9 ff.; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 267 AEUV, Rn. 7; Kotzur, in: Geiger/ Khan/Kotzur, Art. 267 AEUV, Rn. 8. 36 EuGH, Urt. v. 10.12.2002, British American Tobacco (Investments) und Imperial Tobacco, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rn. 32; EuGH, Urt. v. 10.07.1997, Palmisani ./. INPS, Rs. C-261/95, Slg. 1997, I-4025, Rn. 21; Thomy, S. 59. 37 Dies sind v. a. die in Art. 288 AEUV aufgeführten Rechtsakte (Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen). Auch zu atypischen Akten wie Entschließungen können prima facie Vorlagefragen gestellt werden, nicht aber zu bloßen Vorbereitungs- oder Mitwirkungshandlungen. Vgl. auch Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 381 f., Rn. 771 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 10.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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nes Vorabentscheidungsverfahrens, ebenso wie die völkerrechtlichen Verträge (mit Drittstaaten oder internationalen Organisationen), die die EU abgeschlossen hat oder für sie verbindlich sind38. Obwohl der EuGH keine Befugnis zur Auslegung des nationalen Rechts besitzt39, besteht im Vorabentscheidungsverfahren zumindest mittelbar die Möglichkeit, eine Überprüfung der Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Vorschriften und Maßnahmen mit dem Europarecht herbeizuführen40. Denn entsprechende Vorlagefragen kann der EuGH in solche nach der Auslegung des Europarechts umdeuten und mit seiner Antwort dem vorlegenden Gericht alle Kriterien für eine sachgerechte Beurteilung der Konformität an die Hand geben41. Auf diese Weise eröffnet Art. 267 AEUV den Einzelnen eine

38 Die Bestimmungen solcher Verträge bilden einen „integrierenden Bestandteil“ der Europarechtsordnung; EuGH, Urt. v. 30.04.1974, Haegeman ./. Belgischer Staat, Rs. 181/73, Slg. 1974, 449, Rn. 2 ff.; vgl. EuGH, Gutachten 1/91 v. 14.12.1991 (EWR I), Slg. 1991, I-6079, Rn. 37 f.; EuGH, Urt. v. 26.10.1982, Hauptzollamt Mainz ./. Kupferberg & Cie., Rs. 104/81, Slg. 1982, 3641, Rn. 14. Gleiches gilt für Beschlüsse der aufgrund der Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten geschaffenen Assoziationsräte; EuGH, Urt. v. 20.09.1990, Sevince ./. Staatssecretaris van Justitie, Rs. C-192/89, Slg. 1990, I-3461, Rn. 8 ff.; EuGH, Urt. v. 16.12.1992, Kus ./. Landeshauptstadt Wiesbaden, Rs. C-237/91, Slg. 1992, I-6781, Rn. 9. Für die Auslegung der von Union und Mitgliedstaaten gemeinsam abgeschlossenen sog. „gemischten Abkommen“ bejaht der EuGH jedenfalls dann seine Zuständigkeit, wenn die jeweilige Norm zumindest auch den Kompetenzbereich der Union betrifft; EuGH, Urt. v. 30.09.1987, Demirel ./. Stadt Schwäbisch Gmünd, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 16.06.1988, Hermès International ./. FHT Marketing Choice, Rs. C-53/96, Slg. 1998, I-3603, Rn. 24 ff.; EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Dior et al., verb. Rs. C-300/98 und C-392/98, Slg. 2000, I-11307, Rn. 33 ff. Siehe auch Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 22 ff.; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 12 f.; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 21; Thomy, S. 60. 39 EuGH, Urt. v. 19.03.1964, Unger ./. Bedrijfsvereniging voor Detailhandel en Ambachten, Rs. 75/63, Slg. 1964, 381 (398); EuGH, Urt. v. 18.12.1997, Annibaldi ./. Sindaco del Comune di Guidonia und Presidente Regione Lazio, Rs. C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Rn. 13; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 15; Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 4, Rn. 70. 40 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 12; Dörr/ Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 74, Rn. 260; Dauses, FS Everling Bd. I, 223 (226, 229 f.). Steht vor einem deutschen Fachgericht sowohl die Europarechtskonformität als auch die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes in Frage, kann das Gericht nach eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden, ob es zunächst ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV oder eine konkrete Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG einleitet; BVerfGE 116, 202 (214 f.); Papier, DVBl. 2009, 473 (481). 41 EuGH, Urt. v. 11.12.2007, ETI et al., Rs. C-280/06, Slg. 2007, I-10893, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 15.01.1998, Schöning-Kougebetopoulou ./. Freie und Hansestadt Hamburg, Rs. C-15/96, Slg. 1998, I-47, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 15.12.1993, Hünermund et al. ./. Landesapothekerkammer Baden-Württemberg, Rs. C-292/92, Slg. 1993, I-6787, Rn. 8; EuGH, Urt. v. 30.04.1998, Sodiprem et al., verb. Rs. C-37/96 und C-38/96, Slg. 1998, I-2039, Rn. 22; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 15 f.; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 27; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 27; Hakenberg, DRiZ 2000, 345 (347).

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Teil 2: Verfahrensrechte

wichtige Rechtsschutzoption gegen im mitgliedstaatlichen Recht vorgesehene Beschränkungen ihrer Europarechtspositionen. b) Gültigkeitsfragen Bei der Gültigkeitskontrolle nach Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV untersucht der EuGH, ob die vorgelegte europarechtliche Vorschrift rechtswidrig und daher nichtig ist42. Vorlagefähig sind ausschließlich Fragen nach der Gültigkeit von Sekundärrecht oder völkerrechtlichen Verträgen43 der EU im soeben skizzierten Umfang44; eine Überprüfung des Primärrechts ist hingegen ausgeschlossen. Die vorgelegte Norm kann dabei prinzipiell am gesamten höherrangigen Europarecht gemessen werden45. Als Instrument für die Durchsetzung europäischer Individualrechte, die sich stets zumindest auch aus primärrechtlichen Gewährleistungen ableiten, wird die Gültigkeitskontrolle im Vorabentscheidungsverfahren folglich v. a. in Bezug auf Eingriffe der Unionsgewalt relevant. So bietet der nationale Rechtsweg mit Vorlagemöglichkeit einen gewissen Ausgleich für den restriktiven Zugang der Einzelnen zur Nichtigkeitsklage gegen Sekundärrecht nach Art. 263 AEUV (früher Art. 230 EGV)46, für die natürliche und juristische Personen als Nichtadressaten nur bei unmittelbarer47 und grundsätzlich auch individueller48 42 Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 21; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 13; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 29 f. 43 Ebenso wie die Auslegung wäre allerdings auch eine etwaige Ungültigkeitserklärung einer völkervertraglichen Bestimmung durch den EuGH grundsätzlich nur für die Unionsseite verbindlich, könnte jedoch dem Vertragspartner nach allgemeinem Völkerrecht (vgl. Art. 27, 46 WVK) regelmäßig nicht entgegengehalten werden; Schwarze/ Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 20; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 33; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 59 f.; Thomy, S. 61; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 27; Sˇarcˇevic´, DÖV 2007, 593 (598 f.). 44 Siehe o., a). 45 In Betracht kommen Primärrecht, völkerrechtliche Verträge sowie übergeordnetes Sekundärrecht; Thomy, S. 61; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 25. 46 Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 372 f., Rn. 751; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 25; Hentschel-Bednorz, S. 228 f.; Dauses, FS Everling Bd. I, 223 (224 f.); Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 30; Dörr, EuGRZ 2008, 349 (350). 47 Die unmittelbare Betroffenheit setzt generell voraus, dass es zur Umsetzung des Rechtsaktes keiner im Ermessen des Mitgliedstaates liegenden Handlung mehr bedarf; vgl. EuGH, Urt. v. 05.05.1998, Dreyfus ./. Kommission, Rs. C-386/96 P, Slg. 1998, I2309, Rn. 43 f., m.w. N.; näher Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 226 ff., Rn. 453 ff. 48 Die individuelle Betroffenheit ist nach der Rechtsprechung des EuGH nur dann gegeben, wenn der Rechtsakt den Kläger „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten“ (sog. „Plaumann-Formel“); EuGH, Urt. v. 15.07.1963, Plaumann ./. Kommission, Rs. 25/62, Slg. 1963, 211 (238 f.); Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 263 AEUV, Rn. 39 ff. Demgegenüber hat sich der weniger strenge Ansatz, bereits genügen zu lassen, dass der Rechtsakt die Rechtsposition des Klägers unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem seine Rechte eingeschränkt oder ihm Pflichten auferlegt werden (EuGH, Urt. v.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Betroffenheit klagebefugt sind (Abs. 4)49. Diese Kompensationswirkung bleibt jedoch aus, wenn die Partei im Ausgangsverfahren die Rechtswidrigkeit des Sekundärrechtsakts geltend macht, diesen aber nicht nach Art. 263 Abs. 6 AEUV fristgerecht angefochten hat, obwohl eine Nichtigkeitsklage offensichtlich zulässig gewesen wäre50. Hier ist das nationale Gericht an die gegenüber dieser Partei eingetretene Bestandskraft des Rechtsakts gebunden51, so dass insoweit eine Gültigkeitsvorlage zum EuGH ausscheidet. Falls bereits eine Nichtigkeitsklage anhängig ist, sollte das nationale Gericht dagegen das Ausgangsverfahren aussetzen und auf eine parallele Vorlage verzichten, sofern sie nicht aus besonderen Gründen erforderlich erscheint52.

03.05.2002, Jégo-Quéré ./. Kommission, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365, Rn. 49 ff.), nicht durchsetzen können; siehe EuGH, Urt. v. 25.07.2002, Unión de Pequeños Agricultores ./. Rat, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36 f.; EuGH, Urt. v. 01.04.2004, Kommission ./. Jégo-Quéré, Rs. C-263/02 P, Slg. 2004, I-3425, Rn. 33 ff.; Schulte, Individualrechtsschutz, S. 153 ff. Mit dem Vertrag von Lissabon ist das Erfordernis individueller Betroffenheit bei Klagen gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, entfallen (Art. 263 Abs. 4 Var. 3 AEUV). Nach h. M. kommt Verordnungscharakter nur solchen Rechtsakten mit allgemeiner Geltung zu, die keine Gesetzgebungsakte i. S. d. Art. 289 Abs. 3 AEUV darstellen; EuGH (GK), Urt. v. 03.10.2013, Inuit Tapiriit Kanatami et al. ./. Parlament und Rat, Rs. C-583/11 P, Slg. 2013, Rn. 57 ff.; EuG, Beschl. v. 06.09.2011, Inuit Tapiriit Kanatami et al. ./. Parlament und Rat, Rs. T-18/10, Slg. 2011, II-5599, Rn. 38 ff., 56; Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 263 AEUV, Rn. 55 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 13, Rn. 63 ff.; Hentschel-Bednorz, S. 223 ff.; Thalmann, S. 114 ff.; A. Thiele, EuR 2010, 30 (43 f.); Wegener, EuR Beiheft 3 2008, 45 (52 f.). Nach weitergehender a. A. sind hingegen alle nicht adressatenbezogenen Rechtsakte mit normativem Charakter umfasst; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 216 ff., Rn. 427 ff.; Schwarze/Schwarze, Art. 263 AEUV, Rn. 52; Everling, EuZW 2010, 572 (572, 574 ff.); Obwexer, in: Hummer/Obwexer, S. 237 (256 f.). 49 Ausführlich zur Klagebefugnis natürlicher und juristischer Personen Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 223 ff., Rn. 446 ff.; Streinz/Ehricke, Art. 263 AEUV, Rn. 57 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 658 ff. Für Klagen gegen Handlungen von Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union siehe auch Art. 263 Abs. 5 AEUV. 50 EuGH, Urt. v. 09.03.1994, TWD ./. Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-188/92, Slg. 1994, I-833, Rn. 17 f., 26; EuGH, Urt. v. 15.02.2001, Nachi Europe, Rs. C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 384 ff., Rn. 779 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 16; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 25; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 26; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 45; Wernsmann, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 11, Rn. 35 f. 51 Vgl. EuGH, Urt. v. 30.01.1997, Wiljo ./. Belgischer Staat, Rs. C-178/95, Slg. 1997, I-585, Rn. 21; Pache, EuZW 1994, 615 (617 ff.); Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 38. 52 EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Masterfoods und HB, Rs. C-344/98, Slg. 2000, I11369, Rn. 49, 57; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 392 f., Rn. 793 ff.; Malferrari, EuR 2001, 605 (612); Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 17.

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Teil 2: Verfahrensrechte

c) Sonderregeln Der Anwendungsbereich des Vorabentscheidungsverfahrens wird in bestimmten Bereichen durch gesonderte primärrechtliche Vorschriften zur Zuständigkeit des EuGH beschränkt. Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon sind zwar die vorherigen Ausnahmeregeln für Visa, Asyl, Einwanderung und ähnliche Politikbereiche in Art. 68 EGV53 vollständig sowie für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) in Art. 35 EUV a. F.54 weitgehend aufgehoben worden. Nunmehr gelten insoweit auch hier die allgemeinen Grundsätze, was v. a. aufgrund der deutlich verbesserten Rechtsschutzmöglichkeiten als sachgerechte Fortentwicklung zu begrüßen ist55. In diesem Kontext steht gleichermaßen der neue Art. 267 Abs. 4 AEUV, der den EuGH zur Vorabentscheidung innerhalb kürzester Zeit verpflichtet, wenn das nationale Ausgangsverfahren eine inhaftierte Person betrifft56. Nach wie vor besteht aber gemäß Art. 276 AEUV (früher Art. 35 Abs. 5 EUV) keine Zuständigkeit des EuGH für die Überprüfung der Gültigkeit oder 53 Art. 68 Abs. 1 EGV beschränkte die Initiative eines Vorabentscheidungsverfahrens ausschließlich auf letztinstanzliche Gerichte. Nach Abs. 2 durfte der EuGH außerdem nicht über Maßnahmen oder Beschlüsse gemäß Art. 62 Nr. 1 EGV entscheiden, die die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit betrafen. Rat, Kommission und Mitgliedstaaten wurde dagegen in Abs. 3 ein zusätzliches Recht zur Vorlage von Auslegungsfragen eingeräumt. Vgl. näher Schwarze/Graßhof, 2. Aufl., Art. 68 EGV, Rn. 1 ff.; Rossi, in: Calliess/Ruffert, 3. Aufl., Art. 68 EGV, Rn. 3 ff.; Ludwig, S. 169 ff.; Schwarze, FS Starck, 645 (655 f.); Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1305 f.; ter Steeg, ZAR 2006, 268 (268 ff.); Thomy, S. 82 f. 54 Nach Art. 46 lit. b i.V. m. Art. 35 EUV a. F. war hinsichtlich der dort genannten in der früheren sog. „dritten Säule“ ergangenen Akte ein fakultatives Vorabentscheidungsverfahren vorgesehen. Begründung und Reichweite der Zuständigkeit des EuGH hingen hier von der Anerkennung durch die einzelnen Mitgliedstaaten im Wege einer gesonderten Unterwerfungserklärung ab. Näher Knebelsberger, S. 45 ff., 149 ff., 243; Schwarze/ Böse, 2. Aufl., Art. 35 EUV a. F., Rn. 2 ff.; jeweils m.w. N.; Grabenwarter, EuR Beiheft 3 2009, 53 (62). 55 Kritikwürdig erscheint dagegen, dass für vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages ergangene und fortan unverändert gebliebene Rechtsakte im Bereich der PJZS noch während einer Übergangsperiode von fünf Jahren die überkommene beschränkte Zuständigkeit des EuGH erhalten blieb; anschließend ist eine Opting-out-Regelung für das Vereinigte Königreich vorgesehen (Art. 10 Protokoll [Nr. 36] über die Übergangsbestimmungen, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 321). Vgl. auch Monar, integration 2008, 379 (394 f.); Everling, EuR Beiheft 1 2009, 71 (80); Grabenwarter, EuR Beiheft 3 2009, 53 (72 f.); Peers, YEL 27 (2008), 47 (52 ff.); von Danwitz, DVBl. 2008, 537 (545); Carruthers, EHRLR 2009, 784 (802). 56 Bereits zum 01.03.2008 ist ein besonderes Eilverfahren für Vorabentscheidungsersuchen zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts eingeführt worden; vgl. Art. 23 a EuGH-Satzung, Art. 107 ff. EuGH-VerfO (ABl. Nr. L 265 v. 29.09.2012, S. 1); näher Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 439 ff., Rn. 883 ff.; Kühn, EuZW 2008, 263 (263 ff.); Dörr, EuGRZ 2008, 349 (353 f.); Lumma, EuGRZ 2008, 381 (383 f.); Kokott/ Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 10 (10 ff.).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Polizei oder anderer mitgliedstaatlicher Strafverfolgungsbehörden oder der Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit57. Rechtsschutz gegen derartige Maßnahmen muss demnach vor den mitgliedstaatlichen Gerichten gesucht werden. Ebenfalls bleibt der Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, Art. 23–46 EUV) weiterhin von der Jurisdiktion des EuGH ausgenommen (Art. 275 AEUV, 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV). Diese gegenständliche Bereichsausnahme wird lediglich in zwei Sonderfällen durchbrochen, von denen im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens allenfalls die Kontrolle der Einhaltung von Art. 40 EUV58 relevant werden kann59. Die Rechtsschutzminimierung in der GASP ist auch vor dem Hintergrund des oft hochpolitischen Charakters außenpolitischen Handelns zu sehen, der einer gerichtlichen Überprüfung entgegenstehen kann60. Da der Erlass von Gesetzgebungsakten in der GASP von vornherein ausgeschlossen ist61, dürften Unionsbürger außerdem nur selten direkt von GASP-Maßnahmen betroffen sein; ansonsten steht wiederum der nationale Rechtsweg offen62. 3. Vorlageberechtigung Nach Art. 267 Abs. 2 AEUV ist jedes mitgliedstaatliche Gericht vorlageberechtigt, das eine Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält63. Der Gerichtsbegriff wird vom EuGH autonom europarechtlich anhand verschiedener Kriterien definiert64. Danach sind Gerichte i. d. S. unabhängige, durch 57 Dieser Ausschluss bezieht sich allerdings allein auf die Rechtmäßigkeitskontrolle, nicht dagegen auf die Qualifikation der in Frage stehenden mitgliedstaatlichen Maßnahmen; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 276 AEUV, Rn. 1. 58 Art. 40 EUV stellt klar, dass die für die einzelnen Politikbereiche der Union vorgesehenen verschiedenen Organbefugnisse und Verfahren von der Durchführung der GASP und der sonstigen Politiken jeweils unberührt bleiben. Vgl. Obwexer, in: Hummer/Obwexer, S. 237 (249 ff.). 59 Der andere Sonderfall betrifft Nichtigkeitsklagen gegen Beschlüsse des Rates über restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen. 60 Vgl. Giegerich, Foreign Relations Law, in: Wolfrum, MPEPIL Vol. IV, S. 178 (186), Rn. 34 f.; ders., ZaöRV 57 (1997), 409 (414 ff.). 61 Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3, Art. 31 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV. 62 GA Kokott, Stellungnahme v. 13.06.2014 in der Rs. 2/13, Beitritt der EU zur EMRK, Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 30), Rn. 96 ff., 188, 195; Herrmann, in: Streinz/ Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 145 f. 63 Auch die Vorlage durch letztinstanzliche Gerichte i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV steht unter dem Erforderlichkeitsvorbehalt; EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 10; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 55; Thomy, S. 67; Lieber, S. 66 f. 64 EuGH, Urt. v. 30.06.1966, Vaassen-Göbbels ./. Beambtenfonds voor het Mijnbedrijf, Rs. 61/65, Slg. 1966, 584 (602); EuGH, Urt. v. 30.03.1993, Corbiau ./. Administration des contributions, Rs. C-24/92, Slg. 1993, I-1277, Rn. 15; Wernsmann, in: Eh-

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Teil 2: Verfahrensrechte

oder aufgrund eines Gesetzes ständig eingerichtete Instanzen, die im Rahmen einer obligatorischen Zuständigkeit Rechtsstreitigkeiten unter Anwendung von Rechtsnormen bindend entscheiden65. Sie müssen eine hinreichend enge Beziehung zur öffentlichen Gewalt eines Mitgliedstaates aufweisen und ihre Aufgabe mit deren Zustimmung wahrnehmen66. Für das konkrete Verfahren wird weiterhin vorausgesetzt, dass es auf einen anhängigen Rechtsstreit zurückgeht und auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt67. In der Praxis ist der EuGH bislang eher von einem weiten Gerichtsverständnis ausgegangen68. Vorlageberechtigt sind auch von mehreren EU-Staaten gemeinsam geschaffene Gerichte wie z. B. der Benelux-Gerichtshof 69. Der EGMR fällt hingegen nicht in diese Kategorie, weil er zusätzlich von Drittstaaten getragen wird und sich seine Jurisdiktion mithin nicht ausschließlich auf mitgliedstaatliche Hoheitsgewalt gründet. Als außerhalb des unionsinternen Gerichtssystems stehender und damit auch dessen inhärenten Kontrollmechanismen entzogener70 internationaler Gerichtshof verfügt er somit über kein Vorlagerecht nach Art. 267 AEUV71; im übrigen fehlt es auch im Konventionsrecht an den verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine etwaige Vorlage zum EuGH72.

lers/Schoch, Rechtsschutz, § 11, Rn. 14; Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, Art. 267 AEUV, Rn. 11. 65 EuGH, Urt. v. 17.09.1997, Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft mbH ./. Bundesbaugesellschaft Berlin mbH, Rs. C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 30.11.2000, Österreichischer Gewerkschaftsbund, Rs. C-195/98, Slg. 2000, I-10497, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 31.05.2005, Syfait et al., Rs. C-53/03, Slg. 2005, I-4609, Rn. 29; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 22; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 394 ff., Rn. 798 ff.; Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (533 f.). 66 EuGH, Urt. v. 23.03.1982, Nordsee ./. Reederei Mond, Rs. 102/81, Slg. 1982, 1095, Rn. 12 f.; EuGH, Urt. v. 27.01.2005, Denuit und Cordenier, Rs. C-125/04, Slg. 2005, I-923, Rn. 13; Thomy, S. 63 f. 67 EuGH, Urt. v. 30.11.2000, Österreichischer Gewerkschaftsbund, Rs. C-195/98, Slg. 2000, I-10497, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 31.05.2005, Syfait et al., Rs. C-53/03, Slg. 2005, I-4609, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 27.04.2006, Standesamt Stadt Niebüll, Rs. C-96/ 04, Slg. 2006, I-3561, Rn. 13. 68 Siehe auch zu Einzelfallentscheidungen Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 27 ff.; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 30 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 20 f.; Thomy, S. 64 ff.; Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (534 f.). 69 EuGH, Urt. v. 04.11.1997, Parfums Christian Dior ./. Evora, Rs. C-337/95, Slg. 1997, I-6013, Rn. 20 ff.; EuGH, Gutachten 1/09 v. 08.03.2011 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137, Rn. 82; Ullrich, EuR 2010, 573 (573 ff.); Epiney, in: Bieber/Epiney/Haag, Die EU, § 9, Rn. 86. 70 Vgl. mutatis mutandis EuGH, Gutachten 1/09 v. 08.03.2011 (Einheitliches Patentgerichtssystem), a. a. O. 71 E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 24, 55; Daiber, EuR 2007, 406 (409); Tamme, Aspects of enforcement, S. 12 (Fn. 56). 72 Zum Verhältnis des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV zum in Art. 3 Abs. 6 BÜ-E vorgesehenen Verfahren der Vorabbefassung siehe o., Teil 1, D. III. 4.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Die Beurteilung der Erforderlichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens, die insbesondere die Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Frage für den Ausgangsrechtsstreit umfasst, obliegt im Grundsatz dem nationalen Gericht, das in dieser Hinsicht über einen weiten Einschätzungsspielraum verfügt73. Sofern keine Vorlagepflicht eingreift74, entscheidet es frei und insbesondere unabhängig vom Willen der Verfahrensbeteiligten darüber, ob und mit welchem Inhalt eine Vorlage nach Luxemburg erfolgt75. Jedoch weist der EuGH solche Vorlagefragen als unzulässig zurück76, die „offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits“ stehen77, ein Problem hypothetischer Natur betreffen78 oder nicht die für eine zweckdienliche Beantwortung notwendigen Informationen enthalten79. Diese Restkontrolle der Vorlageberechtigung erlaubt es dem Gerichtshof, seine eigene Zuständigkeit einzuhalten und die Prozessökonomie durch den Ausschluss missbräuchlicher Vorlagen zu wahren80.

73 EuGH, Urt. v. 12.12.1996, Kontrogeorgas ./. Kartonpak, Rs. C-104/95, Slg. 1996, I-6643, Rn. 11; EuGH, Urt. v. 10.12.2002, der Weduwe, Rs. C-153/00, Slg. 2002, I11319, Rn. 31; Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 4, Rn. 72; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 76, Rn. 266; Middeke, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann, § 10, Rn. 53; Lutz, S. 84. 74 Siehe dazu u., II. 75 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.01.2006, IATA und ELFAA, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I403, Rn. 28; EuGH, Urt. v. 17.07.1997, Affish ./. Rijksdienst voor de keuring van Vee en Vlees, Rs. C-183/95, Slg. 1997, I-4315, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 12.11.1992, Kerafina et al. ./. Griechenland et al., verb. Rs. C-134/91 und C-135/91, Slg. 1992, I-5699, Rn. 16; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 78, Rn. 272; Schwarze/ Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 34 f., 37. 76 Näher Thomy, S. 68 ff.; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 76 f., Rn. 267 ff.; Malferrari, Zurückweisung, S. 33 ff., 163 ff., 202 ff.; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 56 ff. 77 EuGH, Urt. v. 14.10.2004, Omega, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 20 f.; EuGH, Urt. v. 12.06.2003, Schmidberger, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 33; EuGH, Urt. v. 12.12.1996, Kontrogeorgas ./. Kartonpak, Rs. C-104/95, Slg. 1996, I6643, Rn. 11. 78 Grundlegend EuGH, Urt. v. 16.12.1981, Foglia ./. Novello, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 18; EuGH, Urt. v. 16.07.1992, Meilicke ./. ADV-ORGA, Rs. C-83/91, Slg. 1992, I-4871, Rn. 30 ff.; EuGH, Urt. v. 12.06.2003, Schmidberger, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 33. 79 EuGH, Urt. v. 21.01.2003, Bacardi-Martini und Cellier des Dauphins, Rs. C-318/ 00, Slg. 2003, I-905, Rn. 43 ff.; EuGH, Urt. v. 10.12.2002, der Weduwe, Rs. C-153/00, Slg. 2002, I-11319, Rn. 34 ff.; EuGH, Beschl. v. 28.06.2000, Laguillaumie, Rs. C-116/ 00, Slg. 2000, I-4979, Rn. 15 ff. 80 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 56 ff.; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 76, Rn. 266 f.

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Teil 2: Verfahrensrechte

II. Reichweite und Rechtscharakter der europarechtlichen Vorlagepflicht Zur Absicherung der Rechtsschutzfunktionen des Vorabentscheidungsverfahrens unterliegen die mitgliedstaatlichen Gerichte unter bestimmten Voraussetzungen einer Verpflichtung zur Einleitung eines solchen Verfahrens, die sich entweder aus Art. 267 Abs. 3 AEUV oder aus der Judikatur des EuGH ergeben kann. Diese Vorlagepflicht soll insbesondere die Herausbildung einer europarechtswidrigen Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten unterbinden81, indem die nationalen Gerichtsentscheidungen durch die Mitwirkung des EuGH mit den Vorgaben der Europarechtsordnung synchronisiert werden82. 1. Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte bei Auslegungsfragen a) Letztinstanzlichkeit Stellt sich eine europarechtliche Auslegungsfrage nach Art. 267 Abs. 1 lit. a oder b AEUV, ist jedes mitgliedstaatliche Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Vorlage an den EuGH verpflichtet (Art. 267 Abs. 3 AEUV). Als i. d. S. letztinstanzlich sind nicht nur solche Gerichte anzusehen, die im jeweiligen Mitgliedstaat abstrakt als höchste Instanz eines Rechtswegs fungieren83, sondern auch diejenigen Spruchkörper, gegen deren Entscheidungen im konkreten Einzelfall kein weiteres Rechtsmittel mehr statthaft ist84. Allein diese funktionell-teleologische Auslegung ermöglicht die Wahrung der Rechtseinheit und die Sicherstellung effektiven Individualrechtsschutzes unabhängig von der speziellen Ausgestaltung des nationalen Rechtswegs85. Unter den Rechtsmittelbegriff von 81 EuGH, Urt. v. 24.05.1977, Hoffmann-La Roche ./. Centrafarm, Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 04.11.1997, Parfums Christian Dior ./. Evora, Rs. C337/95, Slg. 1997, I-6013, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 04.06.2002, Lyckeskog, Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn. 14 f.; Herrmann, EuZW 2006, 231 (232); Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (633). 82 Vgl. Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 172 f. 83 So aber Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 111, der auf die Entlastungswirkung für den EuGH verweist; vgl. auch Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 43 ff.; Lagrange, RTDE 10 (1974), 268 (283 ff.). 84 Vgl. EuGH, Urt. v. 04.06.2002, Lyckeskog, Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn. 15; EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 (1268); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 1997, 2512 (2512); Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 43; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 41; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 79, Rn. 274; Gaitanides, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 62; Roth, NVwZ 2009, 345 (346). 85 Lieber, S. 88 ff.; Hummert, S. 26 ff.; Allkemper, Rechtsschutz, S. 154; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 410 f., Rn. 826 f.; Wernsmann, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 11, Rn. 47; Pietrek, S. 110 f.; Wernsmann/Behrmann, Jura 2006, 181 (186); K. Brandt, JuS 1994, 300 (304); Erichsen/Weiß, Jura 1990, 586 (590).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Art. 267 Abs. 3 AEUV fallen nur ordentliche Rechtsmittel wie etwa Berufung und Revision86, nicht jedoch außerordentliche Rechtsbehelfe mit lediglich begrenzten und spezifischen Auswirkungen wie Verfassungsbeschwerde oder Wiederaufnahmeersuchen87, so dass eine Aushöhlung der Vorlagepflicht vermieden wird88. Damit bleibt das zuständige oberste Instanzgericht selbst dann vorlagepflichtig, wenn gegen sein Urteil Verfassungsbeschwerde erhoben werden kann. Ebenfalls unterliegt das BVerfG wie alle hiernach letztinstanzlich entscheidenden mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte der Vorlagepflicht zum EuGH89. Karlsruhe erkennt diese Pflicht auch dem Grunde nach an90, hat sich aber erst 2014, nach langjähriger Zurückhaltung in seiner Spruchpraxis91, erstmalig zu einer Vorlage durchgerungen92. Die Verfassungsgerichte in Belgien93, Österreich94, Li86 Die Zulassungsbedürftigkeit eines Rechtsmittels bleibt dabei außer Betracht, so dass keine letztinstanzliche Entscheidung vorliegt, solange noch Nichtzulassungsbeschwerde erhoben oder ein Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt werden kann; EuGH, Urt. v. 04.06.2002, Lyckeskog, Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn. 16; BVerwG, NVwZ 1993, 770 (770). Näher Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 79, Rn. 275; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 411 f., Rn. 828 ff. 87 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 63; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 44; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 111 f.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 62. 88 Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 79, Rn. 274. 89 Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 45; Pache, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 267 AEUV, Rn. 29; P. M. Huber, AöR 116 (1991), 210 (247); Mayer, EuR 2002, 239 (252); Fastenrath, NJW 2009, 272 (274); Büdenbender, S. 248 ff.; Feige, AöR 100 (1975), 530 (531 ff.). Wegen der Unanfechtbarkeit und Bindungswirkung sämtlicher Entscheidungen des BVerfG (§ 31 BVerfGG) gilt dies prinzipiell ungeachtet des zugrundeliegenden verfassungsgerichtlichen Verfahrens; Frenz, DÖV 1995, 414 (415). Falsch daher Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (634): „BVerfG nicht (vorlagepflichtige) letzte Instanz des gesamten Rechtszugs“; im Ergebnis auch falsch die Zitate bei Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 175, Fn. 388, und Proelß, Grenzen, in: Kämmerer, An den Grenzen des Staates, S. 145 (147 f., Fn. 11). Bei Zwischenverfahren wie der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG haben die Fachgerichte allerdings noch eine anschließende Vorlagemöglichkeit im Ausgangsrechtsstreit. 90 BVerfGE 37, 271 (281 f.); 52, 187 (201). 91 Vgl. Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (26); Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 174; Thomy, S. 78; T. Friedrich, Umfang, S. 57; Mayer, Europarechtsfreundlichkeit, in: Giegerich, Verfassungsstaat, S. 236 (247); ders., EuR 2002, 239 (250); Knauff, DVBl. 2010, 533 (541). 92 BVerfGE 134, 366 (369 ff.), zur Rs. C-62/14 (EuGH [GK], Urt. v. 16.06.2015, Gauweiler et al., Slg. 2015 [= EuGRZ 2015, 379]); hierzu Mayer, EuR 2014, 473 (474 ff.); Schriewer, GYIL 57 (2014), 701 (701 ff., 709 ff.). Siehe auch das Endurteil des BVerfG (Zweiter Senat), EuGRZ 2016, 440 (440 ff.). 93 Cour d’arbitrage, Urt. v. 19.02.1997 zur Rs. C-93/97 (EuGH, Urt. v. 16.07.1998, Fédération belge des chambres syndicales de médecins, Slg. 1998, I-4837); Urt. v. 29.10.2003 zur Rs. C-480/03 (EuGH, Beschl. v. 01.10.2004, Clerens, abrufbar unter: http://curia.europa.eu/jcms/jcms/j_6/); Entsch. v. 13.07.2005 zur Rs. C-305/05 (EuGH [GK], Urt. v. 26.06.2007, Ordre des barreaux francophones et germanophone et al., Slg. 2007, I-5305 [= EuGRZ 2007, 562]); Entsch. v. 19.04.2006 zur Rs. C-212/06 (EuGH,

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Teil 2: Verfahrensrechte

tauen95, Italien96, Spanien97, Malta98, Frankreich99, Slowenien100 und Polen101 haben den EuGH ihrerseits bereits um Vorabentscheidung ersucht102. b) Ausnahmen von der Vorlagepflicht Sofern in einem Rechtsstreit allein die Auslegung des Europarechts in Rede steht103, greift die europarechtliche Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte indes nicht unbegrenzt ein. Vielmehr erkennt der EuGH unter gewissen Umständen Ausnahmen an. Die wichtigste Ausnahmekategorie bei Auslegungsfragen umfasst Fälle fehlenden Klärungsbedarfs. Gemäß dem Wortlaut von Art. 267 Abs. 3 AEUV bedarf es nämlich stets einer „Frage“ hinsichtlich des Europarechts, mit der notwendigerweise ein Mindestmaß an Unsicherheit und Zweifeln einhergeht104. Demzufolge Urt. v. 01.04.2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, Rs. C-212/06, Slg. 2008, I-1683). Cour constitutionnelle, Entsch. v. 14.02.2008 zur Rs. C-73/08 (EuGH, Urt. v. 13.04.2010, Bressol et al., Slg. 2010, I-2735); Entsch. v. 01.09.2008 zur Rs. C-389/08 (EuGH, Urt. v. 06.10.2010, Base et al., Slg. 2010, I9073). 94 VfGH, Beschl. v. 10.03.1999 (= EuGRZ 1999, 365) zur Rs. C-143/99 (EuGH, Urt. v. 08.11.2001, Adria-Wien Pipeline et al., Slg. 2001, I-8365); Beschl. v. 12.12.2000 zur Rs. C-465/00 (EuGH, Urt. v. 20.05.2003, Österreichischer Rundfunk et al., Slg. 2003, I-4989); Beschl. v. 02.03.2001 zur Rs. C-171/01 (EuGH, Urt. v. 08.05.2003, Wählergruppe Gemeinsam, Slg. 2003, I-4301). 95 Litau. VerfG, Entsch. v. 08.05.2007, Nr. 47/04, abrufbar unter: http://www.lrkt.lt/ en/court-acts/search/170/ta1400/content, zur Rs. C-239/07 (EuGH, Urt. v. 09.10.2008, Sabatauskas et al., Slg. 2008, I-7523). 96 Corte costituzionale, Entsch. v. 13.02.2008, Nr. 103/2008, zur Rs. C-169/08 (EuGH, Urt. v. 17.11.2009, Presidente del Consiglio dei Ministri, Slg. 2009, I-10821 [= EuGRZ 2009, 582]); Entsch. v. 03.07.2013, Nr. 207/2013, zur Rs. C-418/13 (EuGH, Urt. v. 26.11.2014, Napolitano et al., Slg. 2014). Siehe auch Tizzano, EuGRZ 2010, 1 (1 ff.); Laffaille, RTDE 45 (2009), 459 (459 ff.); Mayer, Europarechtsfreundlichkeit, in: Giegerich, Verfassungsstaat, S. 236 (248). 97 Tribunal Constitucional, Beschl. v. 09.06.2011, Nr. 86/2011, zur Rs. C-399/11 (EuGH [GK], Urt. v. 26.02.2013, Melloni, Slg. 2013); hierzu Lenaerts, EuR 2015, 3 (21 ff.). 98 Malt. VerfG, Entsch. v. 17.01.2012 zur Rs. C-71/12 (EuGH, Urt. v. 27.06.2013, Vodafone Malta ltd. und Mobisle Communications ltd., Slg. 2013). 99 Conseil constitutionnel, 04.04.2013, M. Jeremy F., Nr. 2013-314P QPC, zur Rs. C168/13 PPU (EuGH, Urt. v. 30.05.2013, F. ./. Premier ministre, Slg. 2013). 100 Slowen. VerfG, Entsch. v. 06.11.2014, Nr. U-I-295/13, abrufbar unter: http://od locitve.us-rs.si/documents/49/50/u-i-295-13-eng12.pdf, zur Rs. C-526/14 (EuGH [GK], Urt. v. 19.07.2016, Kotnik et al., abrufbar unter: http://curia.europa.eu/jcms/jcms/j_6/). 101 Poln. VerfG, Entsch. v. 07.07.2015, Nr. K 61/13, zur Rs. C-390/15 (EuGH [GK], Urt. v. 07.03.2017, Rzecznik Praw Obywatelskich, Slg. 2017). Siehe auch Kustra, GLJ 16 (2015), 1543 (1565 ff.). 102 Vgl. auch Claes, GLJ 16 (2015), 1331 (1337 ff.). 103 Zu Gültigkeitsfragen siehe u., 2. 104 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 64.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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kann auch ein letztinstanzliches Gericht von einer Vorlage absehen, wenn die aufgeworfene Frage bereits in einem gleichgelagerten Vorabentscheidungsverfahren vom EuGH beantwortet105 oder sonst durch eine gesicherte europarechtliche Rechtsprechung geklärt worden ist106 (sog. acte éclairé). Die Vorlagepflicht entfällt gleichermaßen, falls die richtige Auslegung des Europarechts derart offenkundig ist, dass kein Raum für vernünftige Zweifel an der Rechtslage bleibt107 (sog. acte clair108). Hiervon darf das befasste Gericht jedoch nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH die gleiche Gewissheit bestünde109. Zudem muss es bei seiner Einschätzung die Besonderheiten des Europarechts einschließlich der unterschiedlichen Sprachfassungen berücksichtigen110. Damit stellt der EuGH hohe Anforderungen an die Offenkundigkeit111, die von den nationalen Gerichten jedoch oftmals nicht konsequent beachtet werden112. Unter Hinweis auf die beträchtliche Arbeitsbelastung des EuGH und die zunehmende Regelungsdichte im Europarecht wird teils vorgeschlagen, die Vorlagepflicht weiter zu lockern und so den nationalen Gerichten einen größeren Freiraum zu gewähren113. Da es aber selbst unter der gel105 EuGH, Urt. v. 27.03.1963, Da Costa en Schaake NV et al., verb. Rs. 28/62 bis 30/62, Slg. 1963, 60 (80 f.); EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 13; EuGH, Urt. v. 04.11.1997, Parfums Christian Dior ./. Evora, Rs. C-337/95, Slg. 1997, I-6013, Rn. 29 ff. 106 Dies gilt auch dann, wenn sich diese Rechtsprechung in anderen Verfahren herausgebildet hat und wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind; EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 14. 107 EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 16; EuGH, Urt. v. 15.09.2005, Intermodal Transports, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 33. 108 Die Acte-clair-Doktrin hat ihren Ursprung in der französischen Rechtsordnung, wo sie u. a. zur Kompetenzabgrenzung von Exekutive und Judikative bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge entwickelt wurde. In der Folge wandten die französischen Gerichte sie dann auch auf das europarechtliche Vorabentscheidungsverfahren an. Näher Hummert, S. 31 ff., m.w. N.; Adrian, S. 329 ff. 109 EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 16; Wernsmann, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 11, Rn. 48; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 49. 110 EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 17 ff. 111 Hummert, S. 35 ff.; Bäcker, NJW 2011, 270 (270); Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 48; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 48; C. O. Lenz, Judikative, in: Delbrück/Einsele, Wandel, S. 43 (44); Calliess, NJW 2013, 1905 (1907); Lenaerts, EuR 2015, 3 (7 f.). 112 Siehe u., III. 1.; Thomy, S. 84, m.w. N. 113 GA Jacobs, Schlussanträge v. 10.07.1997 in der Rs. C-338/95, Wiener ./. Hauptzollamt Emmerich, Slg. 1997, I-6495, Rn. 54, 58 ff. (Begrenzung der Vorlagepflicht auf Fragen von allgemeiner Bedeutung); Hess, RabelsZ 66 (2002), 470 (493 ff.); Hirsch, FS Rodríguez Iglesias, 601 (603, 608 ff.); Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 33; Karper, S. 108 ff.; Groh, EuZW 2002, 460 (464).

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Teil 2: Verfahrensrechte

tenden strengen Vorlageregelung nicht selten zu eigenmächtigen, auch materiell europarechtswidrigen Entscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte kommt114, ist es vielmehr insgesamt zu begrüßen, dass der EuGH eine solche Aufweichung bislang nicht in Betracht zieht115. Eine weitere Ausnahme von der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte besteht ferner in summarischen und eilbedürftigen Verfahren wie dem vorläufigen Rechtsschutz, wenn anschließend in einem ordentlichen Hauptsacheverfahren eine erneute Prüfung aller vorläufig entschiedenen europarechtlichen Auslegungsfragen möglich ist116. 2. Vorlagepflicht aller mitgliedstaatlichen Gerichte bei Gültigkeitsfragen Bei Gültigkeitsfragen i. S. d. Art. 267 Abs. 1 lit. b AEUV herrscht eine noch strengere Vorlagepflicht. So sind nicht nur gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV die letztinstanzlich entscheidenden, sondern nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH alle mitgliedstaatlichen Gerichte stets zur Vorlage verpflichtet, wenn sie Sekundärrechtsakte für ungültig halten und deshalb unangewendet lassen wollen117. Das Gleiche gilt, falls eine vom EuGH bereits für ungültig erklärte Organhandlung als gültig behandelt werden soll118. Die bei Auslegungsfragen zugelassenen Ausnahmen von der Vorlagepflicht, insbesondere die Acte-clair-Doktrin119, 114 Siehe u., III. 1.; vgl. auch Bernitz, SSEL 1 (2006), 37 (54). Auf die gegenläufigen Beurteilungstendenzen in den unterschiedlichen nationalen Rechtsordnungen weist Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 4, Rn. 76, hin; vgl. auch Kenntner, EuZW 2005, 235 (236). 115 Vgl. z. B. EuGH, Urt. v. 06.12.2005, Gaston Schul Douane-expediteur, Rs. C-461/ 03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 16; EuGH, Urt. v. 15.09.2005, Intermodal Transports, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 33, 39; siehe auch Hopt, RabelsZ 66 (2002), 589 (602); Bernitz, SSEL 1 (2006), 37 (49 f.); Roth, NVwZ 2009, 345 (351); Sack, Reform, S. 27 f. 116 EuGH, Urt. v. 24.05.1977, Hoffmann-La Roche ./. Centrafarm, Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 27.10.1982, Morson und Jhanjan ./. Niederländischer Staat, verb. Rs. 35/82 und 36/82, Slg. 1982, 3723, Rn. 8 ff.; Middeke, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 68 f.; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 44; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 416, Rn. 836; Classen, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 4, Rn. 76; Hummert, S. 30; Pietrek, S. 112 f.; Pietzcker, FS Carl Heymanns Verlag, 623 (624). Zur vorläufigen Vollzugsaussetzung siehe u., 2. 117 EuGH, Urt. v. 22.10.1987, Foto-Frost ./. Hauptzollamt Lübeck-Ost, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 15, 20; EuGH, Urt. v. 06.12.2005, Gaston Schul Douane-expediteur, Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 17 ff.; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 80 f., Rn. 279; Thomy, S. 80; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 117 f. 118 EuGH, Urt. v. 13.05.1981, International Chemical Corporation ./. Amministrazione delle finanze dello Stato, Rs. 66/80, Slg. 1981, 1191, Rn. 11 ff.; Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, Art. 267 AEUV, Rn. 20. 119 Siehe o., 1. b).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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sind hier nicht anwendbar120. Denn dem EuGH kommt auch im Bereich des dezentralen Rechtsschutzes das Verwerfungsmonopol für europäische Rechtsakte zu121. Diese exklusive Zuständigkeit ist v. a. um der einheitlichen Anwendung des Europarechts willen notwendig, damit die Gültigkeit von Sekundärrecht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht unterschiedlich beurteilt wird122. Sie lässt sich aber auch aus der Gesamtkonzeption des vom AEUV vorgesehenen kohärenten Rechtsschutzsystems ableiten123, innerhalb dessen der EuGH aufgrund seiner Möglichkeiten, auch die anderen Unionsorgane am Verfahren zu beteiligen, als am besten für Gültigkeitsentscheidungen geeignet erscheint124. Vor diesem Hintergrund bleibt für eine selbstständige Überprüfung der Grundrechts-125 oder Kompetenzkonformität126 europäischer Rechtsakte durch mitgliedstaatliche (Verfassungs-)Gerichte praktisch kein Raum mehr127. Ansonsten wären der EuGH als nach Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV maßgebliche Entscheidungsinstanz in Frage gestellt und die europäische Rechtseinheit128 der Zer-

120 EuGH, Urt. v. 06.12.2005, Gaston Schul Douane-expediteur, Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 19; Herrmann, EuZW 2006, 231 (234); Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 412 f., Rn. 831; Thomy, S. 84. 121 EuGH, Urt. v. 22.10.1987, Foto-Frost ./. Hauptzollamt Lübeck-Ost, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 10.01.2006, IATA und ELFAA, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 27; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 80 f., Rn. 279; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 58; Haratsch, EuR Beiheft 3 2008, 81 (92); Wernsmann/Behrmann, Jura 2006, 181 (186 f.); Pache/Knauff, NVwZ 2004, 16 (18); Schwarze, FS Starck, 645 (647). 122 EuGH, Urt. v. 22.10.1987, Foto-Frost ./. Hauptzollamt Lübeck-Ost, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 15; EuGH, Urt. v. 10.01.2006, IATA und ELFAA, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 27; Thomy, S. 80 f. 123 Vgl. insoweit Art. 263 f., 277 AEUV. 124 EuGH, Urt. v. 22.10.1987, Foto-Frost ./. Hauptzollamt Lübeck-Ost, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 16 ff.; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 67. 125 Vgl. BVerfGE 89, 155 (174 f.); 102, 147 (162 ff.). 126 Siehe BVerfGE 89, 155 (188, 210); 123, 267 (353 ff.); 126, 286 (302 f.); Thym, in: Beneyto/Pernice, S. 31 (36 f.). Siehe ferner tschech. VerfG, Urt. v. 26.11.2008, Pl. ÚS 19/08, Rn. 120, und Urt. v. 03.11.2009, Pl. ÚS 29/09 (= EuGRZ 2010, 209), Rn. 150; hierzu M. Hofmann, EuGRZ 2010, 153 (154 f.); Zemánek, in: Beneyto/Pernice, S. 45 (50 f.); außerdem A. Weber, JZ 2010, 157 (162 f.). 127 Vgl. Streinz/Streinz, Art. 4 EUV, Rn. 23; Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (27); ders., FS Schmidt-Jortzig, 603 (624, 629 f.); Thym, in: Beneyto/Pernice, S. 31 (38); H. H. Klein, Europäische Integration, S. 10; Pache, EuGRZ 2009, 285 (297 f.). Zur potentiellen Schiedsrichterfunktion des EGMR zwischen dem EuGH und den nationalen Höchstgerichten siehe u., B. IV. 2. c). 128 Zur Bedeutung der Rechtseinheit vgl. EuGH, Urt. v. 07.02.1973, Kommission ./. Italien, Rs. 39/72, Slg. 1973, 101, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 13.02.1979, Granaria ./. Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Rs. 101/78, Slg. 1979, 623, Rn. 4 f.; Hallstein, Europäische Gemeinschaft, S. 53; von Borries, FS Rengeling, 485 (500); Hatje, EuR Beiheft 1 1998, 7 (9 f.).

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Teil 2: Verfahrensrechte

splitterung preisgegeben129. Auch das BVerfG hat inzwischen verdeutlicht, dass stets der EuGH zu befassen sei, bevor es selbst im Rahmen einer sog. „Ultravires-Kontrolle“ überprüfe, ob ein offensichtlich kompetenzwidriges Handeln der Unionsgewalt das Kompetenzgefüge zulasten der Mitgliedstaaten strukturell bedeutsam verschoben habe130. Ein derartiger Verstoß kann europarechts- und verfassungskonform131 nur angenommen werden, wenn die zugrundeliegende Entscheidung des EuGH den Boden des Rechts gänzlich verlassen haben und ausschließlich als politischer Willkürakt zu qualifizieren sein sollte132. Da sie in diesem extremen Ausnahmefall ohnehin als nichtig einzustufen wäre und unionsweit keine Befolgung fände, stände auch einer entsprechenden Feststellung durch das BVerfG nichts entgegen133. Unbenommen bleibt es den nationalen Gerichten, ohne ein Vorlageverfahren die Gültigkeit eines europäischen Rechtsakts festzustellen, weil dessen Existenz hierdurch nicht in Zweifel gezogen wird134. In Fällen, in denen ein unterinstanzliches Gericht bei der Auslegung einer europäischen Norm, deren Gültigkeit selbst es nicht in Frage stellt, von der Rechtsprechung des EuGH abweichen will, erscheinen vereinzelt Abgrenzungsprobleme denkbar135. Hier ist eine Vorlage zur Wahrung der Einheitlichkeit zwar stets geboten136, eine entsprechende europarechtliche Verpflichtung existiert de lege lata aber grundsätzlich nicht137.

129 Ausführlich Giegerich, Europäische Verfassung, S. 694 ff., 726; ders., GYIL 52 (2009), 9 (25 ff.); ders., GYIL 53 (2010), 867 (867 ff., 876); ders., Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (25); ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Breuer et al., Im Dienste des Menschen, S. 95 (112 f.); Mayer, EuR 2014, 473 (499); Pache, EuGRZ 2009, 285 (297); Müller-Graff, integration 2009, 331 (355); Bergmann/Karpenstein, ZEuS 2009, 529 (537 f.); Hector, ZEuS 2009, 599 (609 ff.); C. O. Lenz, ZRP 2010, 22 (22 f.); Simm, S. 26 ff., m.w. N.; Büdenbender, S. 178 ff., 196, 203 f.; Haratsch, EuR Beiheft 3 2008, 81 (99 ff.); Oppermann, DVBl. 1994, 901 (906); siehe auch Rohe, EuZW 1997, 491 (492, 498). 130 BVerfGE 126, 286 (286, 303 ff.); 134, 366 (383, 392); Thym, in: Beneyto/Pernice, S. 31 (37 f.); Guckelberger, ZEuS 2012, 1 (26 f.); Giegerich, GYIL 53 (2010), 867 (872 ff.), m.w. N. 131 Siehe Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG; hierzu u., III. 3. a) aa). Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (27 f.); Müller-Graff, integration 2009, 331 (356 f.). 132 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 712 ff., 726 f.; ders., Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (25); ders., GYIL 52 (2009), 9 (27); vgl. auch ähnlich Rohe, EuZW 1997, 491 (492 f.); Kempen, AVR 35 (1997), 273 (280 ff.); Hector, ZEuS 2009, 599 (610). 133 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 713 f.; ders., GYIL 53 (2010), 867 (879); Oppermann, DVBl. 1994, 901 (906). 134 EuGH, Urt. v. 22.10.1987, Foto-Frost ./. Hauptzollamt Lübeck-Ost, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 14; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 58. 135 Z. B. bei einer extrem restriktiven Auslegung, die die praktische Wirksamkeit des Europarechts in gleichem Maße wie eine Ungültigkeitsbehauptung zu beeinträchtigen geeignet ist. 136 Vgl. Groh, Auslegungsbefugnis, S. 92, Fn. 329.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes müssen sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte dem EuGH vorlegen, wenn sie die Anwendung eines europäischen Rechtsakts unterlassen138 oder die Vollziehung eines hierauf beruhenden mitgliedstaatlichen Verwaltungsakts aussetzen139 wollen. Bis zu einer Entscheidung des EuGH dürfen entsprechende einstweilige Maßnahmen eigenmächtig nur unter engen Voraussetzungen getroffen werden140. Hierfür ist erforderlich, dass erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Gemeinschaftshandlung bestehen, die Entscheidung dringlich ist, da dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht, das Gemeinschaftsinteresse angemessen berücksichtigt und die einschlägige europäische Rechtsprechung gebührend beachtet wird141.

137 Vgl. EuGH, Urt. v. 15.09.2005, Intermodal Transports, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 31; Thomy, S. 80; Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (634); Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 51; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 71; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 92. Progressiver GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussanträge v. 10.11.2005 in der Rs. C-206/04 P, Mülhens ./. OHIM, Slg. 2006, I-2717, Rn. 72 ff.; Groh, Auslegungsbefugnis, S. 92, Fn. 330; vgl. im Ansatz auch EuGH, Urt. v. 27.03.1980, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Salumi, verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79, Slg. 1980, 1237, Rn. 9. Im Vereinigten Königreich müssen europarechtliche Fragen nach Section 3 (1) European Communities Act 1972 in jedem Rechtsstreit entweder dem EuGH vorgelegt oder in Übereinstimmung mit seiner Rechtsprechung entschieden werden; R (Countryside Alliance) v HM Attorney General [2006] EWCA Civ 817, [2007] QB 305, Rn. 171 (auch abrufbar unter: http://www.bailii.org/ew/cases/EWCA/Civ/2006/817.html); Hartley, S. 313; Lock, Verhältnis, S. 285. 138 EuGH, Urt. v. 09.11.1995, Atlanta Fruchthandelsgesellschaft et al. (I) ./. Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 33 ff.; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 46. 139 EuGH, Urt. v. 21.02.1991, Zuckerfabrik Süderdithmarschen et al. ./. Hauptzollamt Itzehoe et al., verb. Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 23 ff.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 58; Pietzcker, FS Carl Heymanns Verlag, 623 (624 f.). 140 Man kann insoweit von der „vorläufigen Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes“ durch die nationalen Gerichte sprechen; Thomy, S. 81; Ehlers, Europäisierung, S. 132; siehe auch Wölker, EuR 2007, 32 (51 f.). 141 Diese Kriterien entsprechen den Voraussetzungen, unter denen auch der EuGH selbst gemäß Art. 278 f. AEUV (früher Art. 242 f. EGV) vorläufigen Rechtsschutz gewährt; EuGH, Urt. v. 21.02.1991, Zuckerfabrik Süderdithmarschen et al. ./. Hauptzollamt Itzehoe et al., verb. Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 27 ff.; EuGH, Urt. v. 09.11.1995, Atlanta Fruchthandelsgesellschaft et al. (I) ./. Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 39 ff.; EuGH, Urt. v. 17.07.1997, Krüger ./. Hauptzollamt Hamburg-Jonas, Rs. C-334/95, Slg. 1997, I-4517, Rn. 44; Ehlers, Jura 2007, 505 (509); Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 46; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 32; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 50.

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Teil 2: Verfahrensrechte

3. Der subjektiv-rechtliche Gehalt von Art. 267 AEUV Die Frage, ob mit der gerichtlichen Vorlagepflicht ein korrespondierendes Recht der betroffenen Streitparteien auf Initiierung eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV einhergeht, wird kontrovers beurteilt142. Dass die Vorlagepflicht ebenso wie das Vorabentscheidungsverfahren insgesamt zumindest auch eine individualschützende Funktion erfüllt, liegt auf der Hand143. Indessen hängt die Individualberechtigung der Bürger aufgrund der unmittelbaren Wirkung einer primärrechtlichen Norm nach der Rechtsprechung des EuGH davon ab, dass diese Norm eindeutige und hinreichend bestimmte Rechte oder Pflichten enthält, den Mitgliedstaaten kein Ermessensspielraum zusteht und weitere Umsetzungsakte nicht erforderlich sind144. Angesichts der ausdifferenzierten Rechtsprechung des EuGH zum Umfang der Vorlagepflicht145 kann von der hinreichenden Bestimmtheit des Art. 267 AEUV in dieser Hinsicht ausgegangen werden. Auch einer nationalen Umsetzung oder sonstigen Ausgestaltung bedarf es nicht. Nicht so eindeutig fällt der Befund bezüglich des fehlenden mitgliedstaatlichen Ermessens aus, da die nationalen Gerichte ihre eigene Vorlagepflicht im konkreten Fall jeweils selbst festzustellen haben, wobei sie sowohl die Entscheidungserheblichkeit der betreffenden Frage146 als auch die Offenkundigkeit der Rechtslage i. S. d. Acte-clair-Doktrin147 grundsätzlich autonom beurteilen. Dennoch geht der EuGH zutreffend davon aus, dass objektiv überprüfbar ist, ob die Vorlagepflicht eingreift148. Besteht demnach in einem Rechtsstreit gemäß den Kriterien des EuGH die Verpflichtung 142 Bejahend Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 60; Allkemper, EWS 1994, 253 (258); van Kleffens, FS Riese, 45 (55 ff.). Ablehnend Beul, EuZW 1996, 748 (749); Wegener, EuR 2002, 785 (788); ders., EuR 2004, 84 (90); Gundel, EWS 2004, 8 (9, Fn. 12). 143 Siehe o., I. 1.; daher insoweit missverständlich z. B. Haratsch, EuR Beiheft 3 2008, 81 (97). Demgegenüber zutreffend für eine klare Abgrenzung der Begrifflichkeiten Nettesheim, AöR 132 (2007), 333 (344 ff.). 144 EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25 f.); Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 48 f.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 1 AEUV, Rn. 25 ff.; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 105 ff., Rn. 366 ff.; Classen, VerwArch 88 (1997), 645 (648 ff.); Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 (263 ff.). Vgl. auch Giegerich/Lauer, ZEuS 2014, 461 (471 f.). 145 Siehe o., 1., 2. 146 Siehe o., I. 3. 147 EuGH, Urt. v. 15.09.2005, Intermodal Transports, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I8151, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 17.05.2001, TNT Traco, Slg. 2001, I-4109, Rn. 35. 148 So zählt er die Verletzung der Vorlagepflicht zu den Kriterien für die Bestimmung einer mitgliedstaatlichen Haftung wegen judikativen Unrechts; EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 55, 117 f.; EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 43; näher u., Teil 3, A. I. 3. b) bb) (3). Siehe weiterhin EuGH, Urt. v. 15.09.2005, Intermodal Transports, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 37, 39.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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zur Vorlage, verbleibt diesbezüglich zwingend keinerlei Ermessen für das verpflichtete Gericht. Folglich sind die geltenden rechtlichen Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung der Vorlagepflicht zugunsten der Einzelnen dem Grunde nach erfüllt149. Das Eingreifen der Vorlagepflicht führt damit zu einem Anspruch der Streitparteien auf Vorlage an den EuGH150. Aus praktischer Sicht kommt dieser Feststellung freilich nur begrenzte Bedeutung zu. Denn im gerichtlichen Rechtsschutz für europarechtliche Individualrechte existiert die Vorlagepflicht bzw. ein entsprechendes Recht auf Vorlage nicht als Selbstzweck, sondern erfüllt eine verfahrensrechtliche Hilfsfunktion. Wenn die Durchsetzung einer spezifischen europarechtlichen Rechtsposition wegen eines Verstoßes gegen die Vorlagepflicht scheitert, ist damit gleichzeitig die Verletzung der betroffenen materiell-rechtlichen Garantie verbunden151. Dessen ungeachtet gewährt Art. 267 AEUV den Verfahrensparteien keine verfahrensrechtliche Möglichkeit, eine Vorabentscheidung zu erzwingen bzw. den EuGH selbstständig einzuschalten152. Als für den Individualrechtsschutz eigentlich entscheidender Faktor wird daher zu klären sein, inwieweit die Einzelnen auf eine angemessene Sanktionierung der Missachtung der Vorlagepflicht hinwirken können153.

III. Die Sanktionierbarkeit von Verstößen gegen die Vorlagepflicht nach Europarecht und nationalem Verfassungsrecht 1. Praktischer Sanktionierungsbedarf In der Rechtsprechungspraxis lassen sich immer wieder Verstöße mitgliedstaatlicher Gerichte gegen die europarechtliche Vorlagepflicht feststellen154. In 149 Vgl. bereits Stettner, AöR 111 (1986), 359 (394, Fn. 136): „Es ist kaum vorstellbar, daß die sehr weitgehende Monopolisierung der Auslegung und Gültigkeitsprüfung von Gemeinschaftsrecht nicht auf die subjektive Rechtsstellung des einzelnen sollte durchschlagen können.“ 150 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 60; Allkemper, EWS 1994, 253 (258); van Kleffens, FS Riese, 45 (55 ff.). 151 Vgl. EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 119; Hummert, S. 51 f.; Beul, EuZW 1996, 748 (749); Obwexer, EuZW 2003, 726 (727); Wegener, EuR 2002, 785 (789); ders., EuR 2004, 84 (89 f.). 152 Vgl. EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 9; Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1044; Lutz, S. 85; Thomy, S. 138 f.; Schulte, Individualrechtsschutz, S. 29; Wiethoff, S. 142 f.; Steinhauer, S. 133; Hentschel-Bednorz, S. 242; Riese, EuR 1966, 24 (48); Allkemper, EWS 1994, 253 (254); K. Brandt, JuS 1994, 300 (304); Eiffler, JuS 1999, 1068 (1070); Magiera, DÖV 2000, 1017 (1024); Schwarze, DVBl. 2002, 1297 (1303); Wegener, EuR 2002, 785 (788); ders., EuR 2004, 84 (90); Roth, NVwZ 2009, 345 (345); Schumann, FS Spellenberg, 729 (737); Gromitsaris, SächsVBl. 2001, 157 (160); Raue, GRUR Int. 2012, 402 (408); Michael, JZ 2012, 870 (870, 875, 877). 153 Siehe sogleich, III., IV.

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Teil 2: Verfahrensrechte

der wohl noch überwiegenden Zahl dieser Urteile entscheiden die Gerichte selbstständig über die relevanten europarechtlichen Fragen, ohne eine Vorlage überhaupt in Erwägung zu ziehen155. Die andere Fallgruppe betrifft Urteile, in denen die Vorlagepflicht zwar thematisiert, aber zu Unrecht verneint wird. Hier liegt entweder eine inkonsequente Anwendung der vom EuGH definierten Maßstäbe für die Reichweite der Vorlagepflicht zugrunde156, oder die angebliche Offenkundigkeit der Rechtslage wird paradoxerweise mit einem derart beträchtlichen Aufwand begründet, dass kaum noch vom Bestehen eines acte clair ausgegangen werden kann157. Solche Übergriffe der nationalen Gerichte in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich des EuGH können auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sein. Während die schlichte Verkennung der Vorlagepflicht auch auf eine teilweise noch ausbaubedürftige europarechtliche Sachkunde der mitgliedstaatlichen Justiz hindeutet158, sprechen die Verfahrensumstände ansonsten häufig dafür, dass die nationalen Gerichte sich ihrer Vorlagepflicht bewusst zu entziehen versuchen159. Neben einer gewissen „Hemmschwelle“, eine komplexe Vorlagefrage zu formulieren160 oder überhaupt den EuGH als Gericht einer „anderen Rechtsordnung“ einzuschalten161, dürfte hierfür das Bestreben ausschlaggebend sein, Souveränität und Autorität der eigenen Rechtsprechung zu unterstreichen und den eigenen

154 Hierzu steht bislang zwar kein umfassendes statistisches Material zur Verfügung. Einen gewissen Aufschluss erlauben aber die Jahresberichte der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Unionsrechts, sofern die Tätigkeit der nationalen Gerichte untersucht wurde (abrufbar unter: http://ec.europa.eu/atwork/applying-eu-law/in fringements-proceedings/annual-reports/index_en.htm). Siehe auch Hummert, S. 40 ff.; Lieber, S. 126 ff.; Lutz, S. 91; Brakalova, S. 301; Spiekermann, S. 121; Hopt, RabelsZ 66 (2002), 589 (602); Rösler, ZRP 2000, 52 (55); Meilicke, BB 2000, 17 (17 ff.). 155 Hummert, S. 42, m.w. N. 156 Teils kommt es etwa zu einer rein formelhaften Bejahung akzeptierter Ausnahmekriterien ohne eingehende Prüfung im konkreten Fall; Hummert, S. 42 f., m.w. N. 157 Exemplarisch etwa BGHZ 110, 47 (69 ff.); Hummert, S. 43; siehe auch Lutz, S. 91. 158 Hummert, S. 44; Lutz, S. 92; Brakalova, S. 301 ff.; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S. 214; ders., ZRP 2000, 52 (55); Turner/Muñoz, YEL 19 (1999/2000), 1 (51); Prechal, YEL 25 (2006), 429 (432 ff.); Watson, CMLR 23 (1986), 207 (209); Basedow, FS Brandner, 651 (671 f.); Voß, in: Schermers et al., Article 177 EEC, S. 66; Vedder, NJW 1987, 526 (526); Hakenberg, RabelsZ 66 (2002), 367 (371). 159 Hummert, S. 43 ff.; Voßkuhle, JZ 2001, 924 (925); Vedder, NJW 1987, 526 (526 f.); Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 78; vgl. auch Olmi, FS Pescatore, 499 (530); Timmermans, CMLR 41 (2004), 393 (399); Voß, EuR 1986, 95 (103). 160 Hummert, S. 44 f.; Voß, in: Schermers et al., Article 177 EEC, S. 66; ders., EuR 1986, 95 (104). 161 Vgl. Hummert, S. 44; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S. 193 f., 196, 199; Tridimas, CMLR 40 (2003), 9 (38); Hakenberg, DRiZ 2000, 345 (347); Everling, DRiZ 1993, 5 (11). Basedow, FS Brandner, 651 (671), spricht von einer „innere[n] Abwehrhaltung“.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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inhaltlichen Entscheidungsspielraum zu Lasten des EuGH zu erweitern162. Daneben spielt auch die bei einer Vorlage zu erwartende Verzögerung des nationalen Verfahrens eine Rolle, die von den Gerichten als eher rechtsschutzhindernd aufgefasst werden mag163. Somit wirken diverse, ganz überwiegend sachfremde164 Faktoren der ordnungsgemäßen Beachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht entgegen. Die Unterlassung einer Vorlage per se muss in einem Rechtsstreit zwar noch nicht zwingend der Durchsetzung einer materiellen Europarechtsposition entgegenstehen, da diese theoretisch auch vom nationalen Gericht autonom sichergestellt werden kann. Jedoch wächst das Risiko einer unrichtigen wie uneinheitlichen Auslegung und Anwendung des Europarechts signifikant165, ohne dass das Vorabentscheidungsverfahren seine individualschützende Wirkung entfalten könnte. Um den daraus unweigerlich entstehenden Defiziten im Rechtsschutz der Einzelnen vorzubeugen, bedarf es eines effektiven verfahrensrechtlichen Mechanismus, über den die Einhaltung der Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte sichergestellt werden kann. Damit eine realistische Einschätzung der aktuellen und potentiellen Bedeutung möglich wird, die dem EGMR als subsidiärer Rechtsschutzinstanz insoweit zukommt, sollen im folgenden zunächst die im Europarecht und mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten analysiert werden. 2. Europarechtliche Ebene Als direkt dem Europarecht zu entnehmende Sanktionsmittel kommen das Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH und eine Staatshaftung aufgrund judikativen Unrechts in Betracht. a) Vertragsverletzungsverfahren Die Missachtung der Vorlagepflicht durch ein nationales Gericht verletzt nicht nur Art. 267 AEUV und ggf. materielle europarechtliche Rechte, sondern auch 162 Vgl. Arnold, FS Neumayer, 17 (17); Olmi, FS Pescatore, 499 (535); Hummert, S. 44; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S. 196 f., 199 f., 212; Brakalova, S. 278, 301, 303; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 267 AEUV, Rn. 54. 163 Hummert, S. 45; Lutz, S. 93; Brakalova, S. 301; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S. 196; Epiney, in: Bieber/Epiney/Haag, Die EU, § 9, Rn. 84; Rennert, EuGRZ 2008, 385 (385); Tridimas, CMLR 40 (2003), 9 (17, 38); Rösler, ZRP 2000, 52 (55); Turner/Muñoz, YEL 19 (1999/2000), 1 (26, 50 f.); Koopmans, YEL 11 (1991), 15 (18); Voß, in: Schermers et al., Article 177 EEC, S. 67; ders., EuR 1986, 95 (104); Watson, CMLR 23 (1986), 207 (209 f.); Vedder, NJW 1987, 526 (526); Karpenstein, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Art. 267 AEUV, Rn. 54; T. Friedrich, Umfang, S. 60 f.; Everling, DRiZ 1993, 5 (12); Basedow, FS Brandner, 651 (673). 164 Vgl. auch Basedow, FS Brandner, 651 (673). 165 Vgl. Radermacher, NVwZ 2004, 1415 (1417); Bernitz, SSEL 1 (2006), 37 (54).

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Teil 2: Verfahrensrechte

die mitgliedstaatliche Treuepflicht aus Art. 4 Abs. 3 EUV166. Diese Europarechtsverstöße kann der EuGH im Einzelfall im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß Art. 258 AEUV feststellen, das die Überprüfung des Verhaltens aller mitgliedstaatlichen Hoheitsträger einschließlich der Gerichte ermöglicht167. Jedoch ist außer den Mitgliedstaaten168 allein die Kommission initiativberechtigt, so dass der Einzelne die Einleitung des Verfahrens lediglich anregen, nicht aber rechtsverbindlich beanspruchen kann169. Um die gerichtliche Zusammenarbeit nicht zu gefährden und politische Schwierigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten zu vermeiden, geht die Kommission diesbezüglich sehr zurückhaltend vor, so dass es bislang noch nicht zu einer Verurteilung eines Mitgliedstaates wegen Vertragsverletzung durch Missachtung der Vorlagepflicht gekommen ist170. 166 Hummert, S. 46; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 75; Lenski/Mayer, EuZW 2005, 225 (225); Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (640); T. Friedrich, Umfang, S. 123. 167 EuGH, Urt. v. 05.05.1970, Kommission ./. Belgien, Rs. 77/69, Slg. 1970, 237, Rn. 15 f.; EuGH, Urt. v. 09.12.2003, Kommission ./. Italien, Rs. C-129/00, Slg. 2003, I14637, Rn. 29; EuGH, Gutachten 1/09 v. 08.03.2011 (Einheitliches Patentgerichtssystem), Slg. 2011, I-1137, Rn. 87; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 258 AEUV, Rn. 7 f.; Thomy, S. 156; T. Friedrich, Umfang, S. 119 f.; Kokott/Henze/ Sobotta, JZ 2006, 633 (640); Ehlers, Jura 2007, 684 (685); Schumann, FS Spellenberg, 729 (737 mit Fn. 45). 168 Art. 259 AEUV; siehe auch u., Teil 5, A. V. 3. 169 EuGH, Urt. v. 14.02.1989, Star Fruit ./. Kommission, Rs. 247/87, Slg. 1989, 291, Rn. 11 ff.; EuGH, Beschl. v. 17.07.1998, Sateba ./. Kommission, Rs. C-422/97 P, Slg. 1998, I-4913, Rn. 42; Hummert, S. 47; Lieber, S. 178; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 75; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 416 f., Rn. 837; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 258 AEUV, Rn. 2, 17; C. Nowak, NVwZ 2002, 688 (688); Krieger, JuS 2004, 855 (856); Ehlers, Jura 2007, 684 (684, 686); Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (782); Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 119 f.; Allkemper, EWS 1994, 253 (258); Dauses, FS Everling Bd. I, 223 (235). Die Kommission hat sich aber selbst verpflichtet, jede Beschwerde zu prüfen und eine ablehnende Entscheidung zu begründen. Möglich bleibt außerdem eine Beschwerde beim Europäischen Bürgerbeauftragten. Hierzu Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (640); Spiekermann, S. 122. 170 Ein Vertragsverletzungsverfahren wegen unterbliebener Vorlage des BGH bei Nichtzulassung der Revision (BGH, Beschl. v. 11.05.1989, Az.: I ZR 163/88) kam nicht über das Vorverfahrensstadium hinaus; vgl. Meier, EuZW 1991, 11 (11 ff.); Sack, EuZW 1991, 246 (246 f.); Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 120; Hummert, S. 47, m.w. N. Ein weiteres Verfahren betraf das Versäumnis des italienischen Gesetzgebers, ein zuvor von den Gerichten in europarechtswidriger Weise ausgelegtes und angewandtes Gesetz anzupassen; EuGH, Urt. v. 09.12.2003, Kommission ./. Italien, Rs. C129/00, Slg. 2003, I-14637, Rn. 1, 30 ff., 41; Breuer, EuZW 2004, 199 (199 ff.); Kenntner, EuZW 2005, 235 (237); Thomy, S. 157 f.; Wunderlich, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Art. 258 AEUV, Rn. 8. Ein wegen geringer Vorlagepraxis gegen Schweden eingeleitetes Verfahren wurde 2006 wieder eingestellt, nachdem dort ein neues Gesetz in Kraft getreten war, das u. a. eine Begründungspflicht bei Ablehnung einer Vorlage statuiert; Bernitz, SSEL 1 (2006), 37 (43 ff.); Thomy, S. 158; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S. 59 f.; jeweils m.w. N. Siehe auch Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1044; Dauses, Gutachten D, S. D 125.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Ein entsprechendes Feststellungsurteil des EuGH böte für sich auch keine Handhabe für eine unmittelbare Korrektur von unter Verstoß gegen die Vorlagepflicht ergangenen rechtskräftigen Urteilen, solange die jeweilige mitgliedstaatliche Rechtsordnung nicht die Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens zulässt171, wie dies etwa in der Slowakei möglich ist172. Es ist freilich vorstellbar, dass eine Beanstandung durch den EuGH zu einer stärkeren Sensibilisierung der nationalen Gerichte führt, die sich zumindest in der künftigen Praxis vorlagefördernd auswirken könnte173. Den anderen mitgliedstaatlichen Organen dürfte es ansonsten aufgrund der innerstaatlichen Gewaltenteilung generell schwerfallen, die Justiz zur Beachtung der Vorlagepflicht zu zwingen174. Die strafrechtliche Verfolgung der verantwortlichen obersten Richter wegen Rechtsbeugung (vgl. § 339 StGB), die jedenfalls als ultima ratio bei schwerwiegenden, also wiederholten und systematischen Verstößen in Betracht käme, verträgt sich schlecht mit dem Kooperationsgedanken und verspricht schon aus strukturellen Gründen wenig Erfolg175. Das Vertragsverletzungsverfahren erweist sich hier damit insgesamt als schwerfälliges und allenfalls begrenzt wirksames Reaktionsinstrument, das sich derzeit nicht für eine umfassende und rechtsschutzeffektive Sanktionierung von Vorlagepflichtverstößen eignet.

171 Vgl. EuGH, Urt. v. 16.03.2006, Kapferer, Rs. C-234/04, Slg. 2006, I-2585, Rn. 21, 24; Thomy, S. 153 ff.; Hummert, S. 48; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 267 AEUV, Rn. 48, 53; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 52; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 69; Ehlers, Jura 2007, 684 (689); P. Wollenschläger, Gemeinschaftsaufsicht, S. 95 f.; T. Friedrich, Umfang, S. 125 f.; Hentschel-Bednorz, S. 239; Nicolaysen, EuR 1985, 368 (371 f.); Ress, Die Verwaltung 1987, 177 (217). Sonst würde wohl auch die Verhängung finanzieller Sanktionen gegen den Mitgliedstaat nach Art. 260 Abs. 2 AEUV nicht helfen. Eine Durchbrechung der Rechtskraft nationaler Urteile bleibt aber bei grundlegenden Verfahrensdefiziten denkbar; vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 22. 172 Nach Art. 228 Abs. 1 lit. e slowak. ZPO kann eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung überprüft werden, wenn sie mit einer Entscheidung des EuGH oder eines anderen EU-Organs unvereinbar ist; siehe GA Cruz Villalón, Schlussanträge v. 09.09.2010 in der Rs. C-507/08, Kommission ./. Slowakische Republik, Slg. 2010, I-13489, Rn. 54. 173 Thomy, S. 157. 174 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1045; Hummert, S. 47; Ehlermann, FS Kutscher, 135 (153); Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 267 AEUV, Rn. 48; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 417, Rn. 837; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 75; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 52; Kenntner, EuZW 2005, 235 (236); P. Wollenschläger, Gemeinschaftsaufsicht, S. 95; Hentschel-Bednorz, S. 239; E. Zimmermann, FS Doehring, 1033 (1039); Allkemper, EWS 1994, 253 (257 f.); K. Brandt, JuS 1994, 300 (304); Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (540); Schumann, FS Spellenberg, 729 (738). 175 Meilicke, BB 2000, 17 (22 f.); Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, S. 282 f. Immerhin lässt das deutsche Recht bei strafbaren richterlichen Amtspflichtverletzungen die Wiederaufnahme des Verfahrens zu; vgl. § 359 Nr. 3 StPO, § 580 Nr. 5 ZPO (in Bezug genommen von §§ 153 VwGO, 79 ArbGG, 134 FGO und 179 Abs. 1 SGG).

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Teil 2: Verfahrensrechte

b) Staatshaftung für judikatives Unrecht Die Missachtung der Vorlagepflicht durch ein nationales Gericht kann auch zu einem europarechtlich begründeten Staatshaftungsanspruch der betroffenen Bürger gegen den jeweiligen Mitgliedstaat führen. Allgemein greift die europarechtliche Staatshaftung ein, wenn ein Mitgliedstaat eine Norm des Europarechts verletzt, die dem Einzelnen Rechte verleihen soll, dieser Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang existiert176. Diese Grundsätze gelten auch für judikatives Unrecht, sofern ein letztinstanzliches Gericht offenkundig gegen das geltende Recht verstoßen hat177. Hierfür bildet die Verletzung der Vorlagepflicht einen Anhaltspunkt, des weiteren sind aber ebenfalls die allgemeinen Kriterien für die Feststellung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes zu berücksichtigen178. Auch wenn man aus Art. 267 AEUV individuelle Rechte ableitet179, genügt die Missachtung der Vorlagepflicht allein also grundsätzlich noch nicht für die Auslösung der Staatshaftung180. Kommt es indessen zusätzlich zu einer unrichtigen Auslegung oder Anwendung einer materiellen Europarechtsnorm, ist jedenfalls von einer hinreichenden Qualifikation auszugehen, wenn eine ausdrückliche europarechtliche Regelung oder einschlägige Rechtsprechung des EuGH zu der sich stellenden Frage existiert181. In diesen Fällen dürfte es auch regelmäßig möglich sein, die Kausalität zwischen dem gerichtlichen Europarechtsverstoß und dem Schaden nachzuweisen182. 176 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Francovich et al., verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 40; EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 51 ff.; EuGH, Urt. v. 04.07. 2000, Haim, Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123, Rn. 36; EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 51. Siehe auch u., Teil 3, A. I. 3. b) aa), bb). 177 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 52 f.; EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 30 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 40. 178 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 54 ff.; EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 32, 43; T. Friedrich, Umfang, S. 82 ff. Siehe auch näher u., Teil 3, A. I. 3. bb) (3). 179 Siehe o., II. 3. 180 Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 417, Rn. 838; Thomy, S. 161 f.; Hummert, S. 52; Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (638); Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (541); Obwexer, EuZW 2003, 726 (727); Beul, EuZW 1996, 748 (749); Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 71; kritisch Radermacher, NVwZ 2004, 1415 (1417). 181 Vgl. EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 121 f.; EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 35; Thomy, S. 161. 182 Vgl. Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (637). Dies wäre bei einer ausschließlichen Anknüpfung an die Vorlagepflichtverletzung kaum gewährleistet; Pechstein, EUProzessrecht, S. 418, Rn. 838; Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (541); Obwexer, EuZW 2003, 726 (727); Hummert, S. 52; Haratsch, JZ 2006, 1176 (1178).

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Dennoch bestehen gewisse Hürden für die Sanktionierung der Nichteinhaltung der Vorlagepflicht über die Staatshaftung, da sich auch bei einer Verletzung materiellen Europarechts durch letztinstanzliche Gerichte nicht immer die vom EuGH geforderte hinreichende Offenkundigkeit wird feststellen lassen183. Im übrigen kann über eine Staatshaftungsklage lediglich ein finanzieller Ausgleich erreicht werden184, mit dem unter Umständen bestimmte (Folge-)Wirkungen des europarechtswidrigen nationalen Urteils nicht kompensiert werden können185. Da die Durchführung des Staatshaftungsprozesses wiederum in der Hand der mitgliedstaatlichen Gerichte liegt, kann sein Erfolg schließlich durch deren Beharrungskräfte gefährdet werden186. Obwohl die europarechtliche Staatshaftung durchaus eine wichtige Sanktionsfunktion zugunsten der Einzelnen erfüllt, bietet somit auch sie letztlich keine Gewähr für eine vollständige Schließung der bei Vorlagepflichtverletzungen entstehenden Rechtsschutzlücken187. 3. Mitgliedstaatliches Verfassungsrecht Weiterhin können auch die Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten Ansatzpunkte für eine prozedurale Überprüfung der Beachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht enthalten. a) Deutschland In Deutschland besteht mit der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 13 Nr. 8a BVerfGG die Möglichkeit, die Aufhebung auch letztinstanzlicher Fachgerichtsentscheidungen durch das BVerfG wegen der Verletzung eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts zu erreichen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). aa) Das Recht auf den gesetzlichen Richter, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Zu den derart beschwerdebewehrten Rechten gehört die in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verbürgte grundrechtsgleiche Garantie der Prozessbeteiligten auf den gesetz183 Vgl. EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 121 ff. Hier lag allerdings eine atypische Fallkonstellation zugrunde, da das letztinstanzliche Gericht sein Vorabentscheidungsersuchen aufgrund einer irrigen Auslegung der EuGH-Rechtsprechung wieder zurückgenommen hatte; Classen, CMLR 41 (2004), 813 (819); Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (638). Siehe auch Thomy, S. 163. 184 Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (541); Kenntner, EuZW 2005, 235 (237). 185 Dieses Problem stellt sich bei finanziell irreparablen Verstößen etwa gegen Freizügigkeits- oder Wahlrechte; siehe Krieger, JuS 2004, 855 (857). 186 Vgl. Haratsch, EuR Beiheft 3 2008, 81 (97); Kenntner, EuZW 2005, 235 (236), sowie beispielhaft den eklatanten Rechtsschutzausfall im französischen Verfahren S. A. Dangeville ./. Frankreich (siehe u., Teil 3, A. I.). 187 Vgl. auch Hummert, S. 53; Haratsch, EuR Beiheft 3 2008, 81 (97); ders., JZ 2006, 1176 (1178); Wegener, EuR 2004, 84 (91).

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lichen Richter, derzufolge der im Einzelfall zur Entscheidung berufene Richter zuvor abstrakt-generell bestimmt sein muss188. Eine solche Zuständigkeitsregelung statuiert auch Art. 267 AEUV (früher Art. 234 EGV), der über die Rechtsanwendungsbefehle aus den maßgeblichen deutschen Zustimmungsgesetzen zu den europäischen Verträgen gemäß Art. 23 Abs. 1, Art. 59 Abs. 2 S. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG innerstaatliche Verbindlichkeit erlangt und von den mitgliedstaatlichen Gerichten in gleicher Weise zu befolgen ist wie das nationale Prozessrecht189. Daher wird der EuGH in der ständigen Judikatur des BVerfG zu Recht als funktional in die nationale Gerichtsbarkeit eingegliederter gesetzlicher Richter i. S. d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG qualifiziert190. (1) Prüfungsmodalitäten des BVerfG Da es für das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters entscheidend auf die zumeist einfachgesetzlich festgelegte richterliche Zuständigkeit ankommt, legt das BVerfG hier aber allgemein eine geringe Kontrolldichte an, um die vorgesehene Funktionenteilung mit den Fachgerichten zu wahren191. Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wird in der Regel lediglich dann festgestellt, wenn die fachgerichtliche Handhabung der Zuständigkeitsnormen auf Willkür beruht192. Für Fälle, die die Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht betreffen, hat das BVerfG eine Stellung als „oberstes Vorlagenkontrollgericht“ abgelehnt193

188 BVerfGE 95, 322 (327 ff.); 82, 159 (194); Classen, in: von Mangoldt/Klein/ Starck, Art. 101 GG, Rn. 3, 5, 9, 14 ff.; Sachs/Degenhart, Art. 101 GG, Rn. 1 ff.; Dreier/Schulze-Fielitz, Art. 101 GG, Rn. 14 ff.; Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber, Art. 101 GG, Rn. 7 ff.; Thomy, S. 143. 189 BVerfGE 73, 339 (367 f.); 82, 159 (192 f.); Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 227; Thomy, S. 143; Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 155; Müller-Terpitz, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Henneke, Art. 101 GG, Rn. 13. 190 Grundlegend BVerfGE 73, 339 (366 ff.); 75, 223 (233 f.); 82, 159 (192); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2001, 1267 (1268); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2004, 520 (525); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2006, 477 (478); BVerfG, EuR 2006, 814 (817); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2007, 197 (198); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2007, 1521 (1521); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), EuZW 2008, 679 (680); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2008, 633 (634); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2011, 186 (186), Rn. 9; BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), EuGRZ 2011, 713 (714), Rn. 11. Siehe auch E. Zimmermann, FS Doehring, 1033 (1034 f., 1040 f.); sowie bereits Schiller, NJW 1983, 2736 (2736 ff.). 191 BVerfGE 82, 159 (194); Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 101 GG, Rn. 30; Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 161 f.; E. Zimmermann, FS Doehring, 1033 (1045 f.). 192 BVerfGE 29, 198 (207); 82, 159 (194 f.); 126, 286 (315 f.); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2007, 197 (198). 193 BVerfGE 126, 286 (316); 135, 155 (232); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2489 (2490), Rn. 18; BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats),

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und seine Prüfung an drei Hauptkategorien ausgerichtet194. Danach liegt eine grundgesetzwidrige Entziehung des gesetzlichen Richters insbesondere vor, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht die Vorlage trotz erkannter Entscheidungserheblichkeit einer zweifelhaften europarechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), ohne Vorlage bewusst von der Rechtsprechung des EuGH zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft) oder wenn es bei Fehlen einer eindeutigen EuGH-Rechtsprechung seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Letzteres könne insbesondere anzunehmen sein, wenn mögliche Gegenauffassungen der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind. Hat das Gericht dagegen die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet, sieht das BVerfG dementsprechend keine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG195. Diese Kriterien haben in der weiteren Rechtsprechung des BVerfG teils eine nähere Konkretisierung erfahren. So muss das letztinstanzliche Hauptsachegericht seine Gründe für das Unterlassen einer Vorlage darlegen, um dem BVerfG die Nachprüfung zu ermöglichen196. Weiterhin sei regelmäßig von einer Verkennung der Vorlagepflicht auszugehen, wenn das Gericht allein nach nationalen Maßstäben entscheidet, ohne sich über das Europarecht ausreichend kundig zu machen oder sich hiermit auseinanderzusetzen197. Als unvereinbar mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG stuft das BVerfG die Nichtvorlage auch dann ein, wenn das Gericht außer Acht lässt, dass ein Sekundärrechtsakt gegen europäische Grund-

NVwZ-RR 2008, 658 (659); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2001, 1148 (1149); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1988, 1456 (1457). 194 BVerfGE 82, 159 (195 f.); 129, 78 (106 f.); 135, 155 (232 f.); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2001, 1267 (1268); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2004, 520 (525); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2005, 572 (574 f.); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2006, 477 (478); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2007, 197 (198); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2007, 1521 (1521); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ-RR 2008, 658 (659); BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), EuZW 2008, 679 (680); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2008, 633 (634). Siehe auch Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (780 f.); Proelß, GYIL 53 (2010), 927 (929). 195 BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ-RR 2008, 658 (659); BVerfG (1. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2007, 197 (198); BVerfGK 4, 116 (118 f.). 196 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2001, 1267 (1268); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 1993, 883 (884); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2006, 477 (478); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288 (289), Rn. 49. 197 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2001, 1267 (1268); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2006, 477 (478); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2008, 633 (635); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288 (289), Rn. 49 f.; BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2016, 3153 (3157).

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Teil 2: Verfahrensrechte

rechte verstoßen könnte198. Dies wird überwiegend als partielle Verschärfung des Willkürmaßstabs gewertet199, die darauf abzielt, Lücken im Grundrechtsschutz gegen europäisches Sekundärrecht zu vermeiden200. Die Rechtsprechung des Ersten Senats hat 2010 die genannten willkürbegründenden Fallgruppen generell um eine weitere ergänzt, wobei eine stärkere Orientierung des verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs an den Kriterien der europarechtlichen Vorlagepflicht erkennbar wird. Will das nationale Gericht demnach in verfassungsmäßiger Weise von einer Vorlage absehen, muss es nach Auswertung der entscheidungserheblichen Bestimmungen des Europarechts eine „vertretbare Begründung“ dafür geben, dass „die maßgebliche Rechtsfrage bereits entschieden“ oder „die richtige Antwort [. . .] offenkundig“ ist201. Entwickelt es hingegen eine eigene Lösung, die weder auf die bestehende Rechtsprechung des EuGH zurückgeführt werden kann noch einer eindeutigen Rechtslage entspricht, führt dies zu einer willkürlichen Entziehung des gesetzlichen Richters202. Der Zweite Senat hingegen griff diese Impulse zur Verbesserung des Rechtsschutzstandards zunächst nicht auf und hielt an den hergebrachten Prüfungskriterien fest203, ohne dass allerdings das Plenum des BVerfG mit den entstandenen Differenzen befasst wurde204. 2014 näherte er sich dann der Judikatur des Ersten

198 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2001, 1267 (1268); Thomy, S. 144 f.; Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 228 f. 199 Hummert, S. 57; Dreier/Pernice, Art. 23 GG, Rn. 31; Schulte, Individualrechtsschutz, S. 31; Voßkuhle, JZ 2001, 924 (925 f.); Kube, JuS 2001, 858 (861); C. Nowak, NVwZ 2002, 688 (690); ders., in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47 (66 f.); Füßer, DVBl. 2001, 1574 (1574 ff.); Jaeger, EuGRZ 2005, 193 (197); P. M. Huber, in: Merten/Papier, HGR VI/2, § 172, Rn. 50; Hirte, RabelsZ 66 (2002), 553 (573 f.); Papier, DVBl. 2009, 473 (480 f.); Raue, GRUR Int. 2012, 402 (408); nicht berücksichtigt hingegen von Michael, JZ 2012, 870 (878 ff.). 200 Das BVerfG selbst ist für eine derartige Überprüfung nicht zuständig und behält sich lediglich eine Reservekompetenz für den Fall vor, dass der Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene generell unter den unabdingbaren Standard absinkt; BVerfGE 73, 339 (387); 89, 155 (174 f.); 102, 147 (163 f.); 118, 79 (95 ff.). Vgl. auch Schmahl, EuR Beiheft 1 2008, 7 (13 ff.); Sensburg, NJW 2001, 1259 (1260); Hummert, S. 58; Raue, GRUR Int. 2012, 402 (403, 408). 201 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269), Rn. 20 f.; ähnlich BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288 (288 f.), Rn. 48; BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), ZUM 2011, 236 (238), Rn. 23; BVerfGE 128, 157 (188 f.); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), EuGRZ 2011, 713 (714 f.), Rn. 12; Calliess, NJW 2013, 1905 (1908); Finck/Wagner, NVwZ 2014, 1286 (1287 f.). 202 BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269), Rn. 21. 203 BVerfGE 126, 286 (315 ff.); Calliess, NJW 2013, 1905 (1908 f.). 204 Siehe §§ 16 Abs. 1 BVerfGG, 48 BVerfG-GO; zur Funktion des Plenums Eschelbach, in: Umbach/Clemens/Dollinger, § 16 BVerfGG, Rn. 11, 18; O. Klein, in: Benda/ Klein, § 6, Rn. 164, 166, 170 f.; Lechner/Zuck, § 16 BVerfGG, Rn. 3. Vgl. auch Proelß, GYIL 53 (2010), 927 (933); Bäcker, NJW 2011, 270 (271 f.); Calliess, NJW 2013, 1905 (1909).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Senats an, indem er den europarechtlichen Maßstab ebenfalls stärker fokussierte. So müsse sich das Fachgericht vor einem Vorlageverzicht die „vertretbare Überzeugung“ bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig oder in einer Weise geklärt sei, die keinen vernünftigen Zweifel offenlasse205. Entsprechend sei eine unvertretbare Handhabung der Vorlagepflicht und damit eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG jedenfalls dann anzunehmen, wenn „das Vorliegen eines ,acte clair‘ oder eines ,acte éclairé‘ willkürlich“ bejaht werde206. Es irritiert indes, warum als Beispiel hierfür immer noch das gerade zum alten Prüfungsmaßstab gehörende Kriterium angeführt wird, dass mögliche Gegenauffassungen zur (materiell-rechtlichen) Europarechtsfrage gegenüber der vom Fachgericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind207. Auch wenn der Zweite Senat ausdrücklich die Übereinstimmung beider Senate in der Sache versichert hat208, lassen die wiederholten „abweichende[n] Formulierungen“ und die „unterschiedliche Terminologie“ 209 die Rechtsprechung des BVerfG in dieser Hinsicht unklar und uneinheitlich erscheinen, so dass eine stringente Präzisierung wünschenswert wäre210. (2) Analyse im Vergleich mit der Rechtsprechung des EuGH Es ist v. a. dem überkommenen, vom BVerfG langjährig zugrundegelegten Prüfungsmaßstab geschuldet, dass zunächst in nur relativ wenigen Verfassungsbeschwerdeverfahren ein auf Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht beruhender Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG festgestellt wurde211, so dass insgesamt signifikante Rechtsschutzdefizite zu Tage getreten sind212. Obwohl 205 BVerfGE 135, 155 (233); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2489 (2490), Rn. 22; Finck/Wagner, NVwZ 2014, 1286 (1288 f.). 206 BVerfGE 135, 155 (233); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2489 (2490), Rn. 21. 207 BVerfGE 135, 155 (233); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2489 (2491), Rn. 23, 30. 208 BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2489 (2491), Rn. 24; kritisch Finck/Wagner, NVwZ 2014, 1286 (1289). 209 BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2489 (2491), Rn. 24. 210 Vgl. auch Giegerich/Lauer, ZEuS 2014, 461 (476). 211 BVerfGE 75, 223 (233 ff.); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1988, 2173 (2173), Rn. 1 ff.; BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2001, 1267 (1267 f.); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), EuGRZ 2008, 633 (634 ff.); vgl. auch Hummert, S. 57. Siehe demgegenüber nunmehr BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1268 ff.), Rn. 14 ff.; BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), NJW 2011, 288 (288 ff.), Rn. 45 ff.; BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), EuGRZ 2011, 713 (714 ff.), Rn. 10 ff. 212 Voßkuhle, JZ 2001, 924 (925); Böcker, S. 105; T. Friedrich, Umfang, S. 71 ff.; Beul, EuZW 1996, 748 (749 f.); Glaesner, EuR 1990, 143 (150); Clausnitzer, NJW 1989, 641 (643); vgl. auch Dauses, FS Everling Bd. I, 223 (235 f.); Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (538 f.); Siegerist, S. 58, 60.

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Teil 2: Verfahrensrechte

das BVerfG eine Orientierung der Prüfung an den Besonderheiten des Europarechts prinzipiell für möglich hält213, ging es tatsächlich in keiner der aufgestellten drei Hauptfallgruppen über eine Kontrolle willkürlicher Vorlagepflichtverletzungen hinaus214. Insbesondere das Erfordernis der unvertretbaren Überschreitung des gerichtlichen Beurteilungsspielraums bei unklarer Rechtslage führte lange dazu, dass jede selbstständige Europarechtsauslegung eines deutschen Höchstgerichts vom BVerfG akzeptiert wurde, solange sie nur materiell-rechtlich vertretbar erschien. Der damit regelmäßig einhergehende Verstoß gegen die Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV, die nur bei Offenkundigkeit der Rechtslage entfällt215, blieb dann unbeanstandet216. Anstatt seine Prüfung an den europarechtlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der Vorlagepflicht auszurichten, die allein für die Bestimmung des zuständigen gesetzlichen Richters maßgebend sind, stellte das BVerfG auf die fachgerichtliche Handhabung des streitgegenständlichen materiellen Europarechts ab217, über deren Vertretbarkeit ausschließlich der EuGH verbindlich zu entscheiden befugt ist218. Daher verletzt das BVerfG mit jeder entsprechenden Entscheidung selbst Art. 267 Abs. 3 AEUV, wenn es die betreffende Frage bei unklarer Rechtslage nicht dem EuGH vorlegt219. Die Kontrolle der Einhaltung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wurde folglich nicht nur in ihrer Intensität auf Willkür reduziert, sondern knüpfte zugleich an die falsche Bezugsnorm an220. Dem letzteren Missstand wird inzwischen insbesondere in der Rechtsprechung des Ersten Senats dadurch abgeholfen, dass eine vertretbare fachgerichtliche Begründung für das Nichtbestehen der Vorlagepflicht verlangt wird221. Diese Ent213 BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1988, 1456 (1457); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ-RR 2008, 658 (660). 214 Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 231 f.; P. M. Huber, in: Merten/Papier, HGR VI/2, § 172, Rn. 49; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 418 f., Rn. 839; Michael, JZ 2012, 870 (871 f.); a. A. Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 163. 215 Siehe o., II. 1. b). 216 Instruktiv Wölker, EuGRZ 1988, 97 (99 f.); Clausnitzer, NJW 1989, 641 (643). 217 Siehe ausdrücklich BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ-RR 2008, 658 (659); Meilicke, BB 2000, 17 (21 f.); Proelß, GYIL 53 (2010), 927 (929 f.). 218 Fastenrath, NJW 2009, 272 (274); Clausnitzer, NJW 1989, 641 (643); Wölker, EuGRZ 1988, 97 (99). 219 Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (26); ders./Lauer, ZEuS 2014, 461 (476); Fastenrath, NJW 2009, 272 (274). 220 Zutreffend Fastenrath, NJW 2009, 272 (274); Roth, NVwZ 2009, 345 (350); Bäcker, NJW 2011, 270 (271); Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (636); Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 232; Finck/Wagner, NVwZ 2014, 1286 (1289); vgl. auch Michael, JZ 2012, 870 (877). 221 Siehe o., (1); vgl. BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NJW 2010, 1268 (1269), Rn. 20 f.; BVerfGE 128, 157 (188 f.); 129, 78 (107); BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), EuGRZ 2011, 713 (715), Rn. 12. Siehe auch Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (781); Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Art. 101 GG, Rn. 22.

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wicklung bedeutet zwar eine weitgehende Annäherung des BVerfG an die Rechtsprechung des EuGH222, führt jedoch noch nicht zu einer vollständigen Kongruenz i. S. einer umfassenden Sanktionsfähigkeit sämtlicher Vorlagepflichtverletzungen223. Hierfür bedürfte es einer lückenlosen Kontrolldichte ohne jede Beschränkung auf Willkür bzw. einer entsprechenden Abwandlung der zugrundegelegten Willkürdefinition. So müsste das BVerfG ausgehend von der fachgerichtlichen Begründung und dem Vortrag des Bf. vollumfänglich überprüfen, ob die Nichtvorlage einer entscheidungserheblichen Frage europarechtlich vertretbar war. Im Anschluss an die CILFIT-Rechtsprechung des EuGH ist die Vertretbarkeit nur dann zu bejahen, wenn hinsichtlich der materiellen Europarechtslage kein vernünftiger Zweifel mehr verbleibt224. Eine derartige Spezifizierung, die die verfassungsgerichtliche Prüfung ganz am Europarecht ausrichten würde, hat das BVerfG indes bislang noch nicht vorgenommen225. Fraglich ist daher, ob es aus europa- oder verfassungsrechtlichen Gründen zu einer solchen Anpassung seiner Rechtsprechung verpflichtet ist. (3) Europarechtliche Anforderungen Im Europarecht konkretisiert Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV das Prinzip des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes (Art. 47 GRC) und die mitgliedstaatliche Kooperationspflicht (Art. 4 Abs. 3 EUV) dahingehend, dass den Mitgliedstaaten aufgegeben wird, die für einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen226. Mit dieser durch den Vertrag von Lissabon eingeführten Regelung wurde die bereits zuvor bestehende Europarechtslage kodifiziert227. Die Mitgliedstaaten verfügen zwar über weitgehende verfahrensrechtliche Autonomie; sie müssen aber sicherstellen, dass die Durchsetzung der europarechtlich verbürgten Rechte zum einen nicht ungünstigeren Bedingungen unterliegt als entsprechende rein innerstaatliche Verfahren (Äquivalenz- oder Gleichbehandlungsgebot) und zum anderen nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (Effektivitätsgebot). Da das BVerfG auch Verstöße gegen allein im deutschen Recht wurzelnde gerichtliche Zuständigkeiten nur bei Willkür, die im einzelnen freilich bereichsspezifisch 222

Vgl. Calliess, NJW 2013, 1905 (1910); Proelß, GYIL 53 (2010), 927 (932). Vgl. auch Michael, JZ 2012, 870 (872); Calliess, NJW 2013, 1905 (1909). 224 Siehe o., II. 1. b). 225 Vgl. Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (781). 226 Hierzu und zum Folgenden vgl. beispielhaft EuGH, Urt. v. 13.03.2007, Unibet, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37 ff., 43. Siehe bereits o., I. 1., sowie u., Teil 3, A. I. 3. b) bb) (3) (b), m.w. N. 227 Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 19 EUV, Rn. 43; Schwarze/Schwarze, Art. 19 EUV, Rn. 48; Pache, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 19 EUV, Rn. 2, 12; C. Nowak, Europarecht nach Lissabon, S. 157, Rn. 42; vgl. auch Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (126). 223

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Teil 2: Verfahrensrechte

präzisiert wird, als Entziehung des gesetzlichen Richters wertet228, steht eine Missachtung des Äquivalenzgebots hier nicht im Raum229. Bei der Beurteilung nach dem Effektivitätsgebot sind stets auch die Besonderheiten des gesamten Verfahrens einschließlich der Grundsätze des nationalen Rechtsschutzsystems zu berücksichtigen230. Die den nationalen Höchstgerichten verbleibenden Einschätzungsmöglichkeiten hinsichtlich ihrer eigenen Vorlageberechtigung und -verpflichtung sprechen für sich genommen noch nicht gegen das Erfordernis einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle der getroffenen Entscheidungen231. Jedoch ist zu beachten, dass die problematischen Vorlagepflichtverletzungen typischerweise in der letzten Instanz auftreten, gegen die nach Einschätzung des EuGH definitionsgemäß kein weiterer nationaler Rechtsschutz vorgesehen ist232. Eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur tiefgreifenden Umgestaltung ihrer gewachsenen Rechtsschutzordnungen, etwa durch Einrichtung eines gesonderten gerichtlichen Kontrollorgans oder Einführung eines außerordentlichen Rechtsbehelfs wie der Verfassungsbeschwerde zu einem bestimmten Gericht, wird demnach auch um der Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen willen nicht aus dem Effektivitätsgebot abgeleitet233. Diese Wertung wird dadurch bestätigt, dass Art. 267 AEUV als maßgebende Norm für das Vorabentscheidungsverfahren kein zusätzliches Rechtsmittel zur Überprüfung der Einhaltung der Vorlagepflicht verlangt234. Nimmt also die Europarechtsordnung in ihrer gegenwärtigen Interpretation durch den EuGH die deswegen verbleibenden Lü228 Classen, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 101 GG, Rn. 52 ff.; Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Art. 101 GG, Rn. 21 f. 229 Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 164; zustimmend Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 236; siehe aber zum Prüfungsmaßstab Bäcker, NJW 2011, 270 (272). 230 EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Peterbroeck, Van Campenhout & Cie ./. Belgischer Staat, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Rn. 14; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, van Schijndel und van Veen, verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 13.03.2007, Unibet, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 54; EuGH, Urt. v. 07.06.2007, van der Weerd et al., verb. Rs. C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I-4233, Rn. 33. Siehe hierzu auch u., Teil 3, A. I. 3. b) bb) (3) (b). 231 Vgl. bereits o., II. 3.; tendenziell a. A. Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 164. 232 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 34; ebenso BVerfGE 126, 286 (316); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ-RR 2008, 658 (660). 233 Vgl. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV; EuGH, Urt. v. 01.12.1998, Levez ./. Jennings Ltd, Rs. C-326/96, Slg. 1998, I-7835, Rn. 38; Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 153; weiterhin Fredriksen, ZEuS 2005, 99 (126 ff.); Wiethoff, S. 144 f. Zur Rechtslage in den anderen Mitgliedstaaten siehe u., b)–g). 234 Vgl. EuGH, Urt. v. 06.10.1982, CILFIT ./. Ministero della Sanità, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 10.01.2006, IATA und ELFAA, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 28; BVerfGE 126, 286 (316); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2489 (2491), Rn. 26; BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ-RR 2008, 658 (660); Roth, NJW 2009, 345 (351); Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (636 f.); Sauer, Jurisdiktionskonflikte, S. 178; Spiekermann, S. 121; Gundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 27, Rn. 22 mit Fn. 75; Frenz, Handbuch Europa-

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cken im Individualrechtsschutz gegen letztinstanzliche Fachgerichtsentscheidungen insoweit hin, können ihr auch keine präzisen Vorgaben für Prüfungsmaßstab und -dichte solcher Rechtsbehelfe entnommen werden, die die Mitgliedstaaten freiwillig zur Verfügung stellen235. Vor diesem Hintergrund stellt die Prüfungspraxis des BVerfG zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG keine übermäßige Rechtsschutzerschwerung i. S. d. Effektivitätsgebots dar, so dass sich aus dem Europarecht derzeit keine Pflicht zu einer Verschärfung ergibt236. Freilich erscheint es nicht ausgeschlossen, dass der EuGH zukünftig strengere Anforderungen stellen könnte. Denn sowohl der Wortlaut von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV und Art. 47 GRC als auch der verfolgte Zweck, Rechtsschutzlücken für den Einzelnen zu schließen237, lassen gerade angesichts der individualschützenden Wirkung der Vorlagepflicht238 durchaus den Schluss zu, dass den Mitgliedstaaten die Gewährleistung zumindest einer einmaligen effektiven Überprüfung von Vorlagepflichtverstößen obliegt239. Der EGMR könnte mit einer entsprechenden Auslegung von Art. 13 EMRK ebenfalls noch Impulse in diese Richtung geben240. Die dann einzurichtende Kontrolle könnte bei Fehlen einer mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit ggf. auch von einem sonstigen Gericht oder aber einer separaten, mit anderen Richtern besetzten Kammer des betroffenen letztinstanzlichen Gerichts ausgeübt werden241, das bzw. die anhand der einschlägigen Kriterien des EuGH in voller Unabhängigkeit zu entscheiden hätte. recht, Bd. 5, S. 973 f., Rn. 3338 f., der Art. 267 AEUV als abschließende Sonderregelung begreift. 235 Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (637); Spiekermann, S. 121; Glaesner, EuR 1990, 143 (150); Wölker, EuGRZ 1988, 97 (100 f., 103); vgl. auch Schumann, FS Spellenberg, 729 (740); C. O. Lenz, NJW 1994, 2063 (2065). 236 Im Ergebnis ebenso Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1303; Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 167; Fastenrath, FS Ress, 461 (483); Wölker, EuGRZ 1988, 97 (100 f.); Michael, JZ 2012, 870 (870, 872, 877). Unter Verweis auf Art. 10 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) a. A. Proelß, Grenzen, in: Kämmerer, An den Grenzen des Staates, S. 145 (171); außerdem a. A. Rabe, FS Redeker, 201 (212), der durch die Willkürprüfung des BVerfG die EuGH-Rechtsprechung zur Vorlagepflicht relativiert sieht, dabei aber undifferenziert die Rechtsordnungen von Europa- und Verfassungsrecht vermengt; methodisch fehlerhaft auch Meier, EuZW 1991, 11 (13 f.). Zweifelnd Ehlers, Europäisierung, S. 123 f.; ders., in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 6, Rn. 18; Jaeger, EuGRZ 2005, 193 (196); offen gelassen von Last, S. 82. 237 Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 19 EUV, Rn. 43; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 19 EUV, Rn. 4. 238 Siehe o., II. 3. 239 Vgl. auch bereits Allkemper, Rechtsschutz, S. 164; ders., EWS 1994, 253 (256 f.); Schulte, Individualrechtsschutz, S. 30; ferner Giegerich/Lauer, ZEuS 2014, 461 (472, 477); Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 237, Fn. 195. 240 Siehe u., IV. 4. e). 241 Vgl. Schilling, EuGRZ 2012, 133 (138); sowie entsprechend zur Gehörsrüge nach Art. 103 Abs. 1 GG BVerfGE 107, 395 (411 ff.); Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, S. 975 f., Rn. 3345 ff.

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Teil 2: Verfahrensrechte

(4) Grundgesetzliche Anforderungen Im deutschen Verfassungsrecht stellt Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zusammen mit S. 1 der Präambel des Grundgesetzes das für die gesamte deutsche öffentliche Gewalt verbindliche Staatsziel auf, zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der EU mitzuwirken242. Das Grundgesetz definiert also einen integrationsoffenen Verfassungsstaat243, dessen Organe verfassungsrechtlich zwingend verpflichtet sind, das allgemeine Gebot der Europarechtsfreundlichkeit244 zu beachten und alle Handlungen zu unterlassen, die zu einer Rückentwicklung oder Gefährdung der Integration führen245. Dementsprechend zählt auch das BVerfG Art. 23 Abs. 1 GG zu den Normen des deutschen Verfassungsrechts, die die Entstehung internationalen Rechts erleichtern und ihm dadurch Effektivität sichern, dass die Staatsorgane mittelbar in den Dienst seiner Durchsetzung gestellt werden, um das Risiko der Nichtbefolgung zu vermindern246. Gemäß seinen verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten obliegt es dem BVerfG selbst, die Achtung des Mitwirkungsgebots durch die übrigen Verfassungsorgane zu überwachen247. Schon deswegen muss es sämtliche ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um insbesondere alle unter Verstoß gegen die europarechtliche Vorlagepflicht ergangenen Entscheidungen deutscher Fachgerichte zu beanstanden248. Nur so lassen sich die Deutschland sonst auf europäischer Ebene drohenden Sanktionen wie eine Staatshaftung wegen judikativer Europarechtsverletzung oder ein Vertragsverletzungsverfahren249 bereits im nationalen Rechts242 Dreier/Pernice, Art. 23 GG, Rn. 18, 46; Heintschel von Heinegg, in: Epping/Hillgruber, Art. 23 GG, Rn. 4; Heitsch, EuGRZ 1997, 461 (463); Schorkopf, S. 246 f. 243 Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (14 f., 28 ff.); Hobe, Verfassungsstaat, S. 149 ff., 163 f.; Sommermann, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, IPE II, § 14, Rn. 1 ff., 14 ff., 33 ff.; Röben, S. 195, 320 ff., 500 ff. 244 Nunmehr ausdrücklich BVerfGE 123, 267 (346 f.); hierzu Terhechte, EuZW 2009, 724 (728); Mayer, Europarechtsfreundlichkeit, in: Giegerich, Verfassungsstaat, S. 236 (236 ff.); Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 GG, Rn. 85; Calliess, NJW 2013, 1905 (1907). 245 Dreier/Pernice, Art. 23 GG, Rn. 46; vgl. auch Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (28 f.). 246 BVerfGE 112, 1 (25), in Anknüpfung an BVerfGE 111, 307 (328); 109, 13 (24); 109, 38 (50); Proelß, GYIL 53 (2010), 927 (932). Siehe auch BVerfG (Zweiter Senat), EuGRZ 2016, 440 (458 f.), Rn. 117: „Mit der Verpflichtung Deutschlands auf die Gründung und Fortentwicklung der Europäischen Union enthält Art. 23 Abs. 1 GG zugleich ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das Unionsrecht [. . .].“ 247 Vgl. entsprechend BVerfGE 59, 63 (89); sowie Dreier/Pernice, Art. 23 GG, Rn. 47; Nicolaysen, EuR 1985, 368 (374); Vedder, NJW 1987, 526 (530). Auch die sonstigen Gerichte sind im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten hierzu berufen. 248 Fastenrath, NJW 2009, 272 (275 f.); Heitsch, EuGRZ 1997, 461 (463, 469); ähnlich Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (122); Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 237, 239; ders., GYIL 53 (2010), 927 (932); Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (780 f.); Classen, JZ 2009, 881 (882). Vgl. auch bereits Hilf, EuR 1988, 1 (12 f.); ders., EuGRZ 1987, 1 (5 f.). 249 Siehe hierzu o., 2.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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kreis wirksam abwenden250. Die Wahrnehmung dieser Verantwortung durch das BVerfG ist schließlich auch angesichts des zum EuGH bestehenden Kooperationsverhältnisses251 in besonderer Weise angezeigt252. Darüber hinaus entnimmt das BVerfG dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) einen allgemeinen Justizgewährungsanspruch, der eine zumindest einmalige gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der als grundrechtsgleiche Rechte verbürgten Justizgrundrechte garantiert253. Ist Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG durch eine gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV verstoßende und damit zuständigkeitsverletzende Nichtvorlage eines letztinstanzlichen Fachgerichts betroffen, muss das BVerfG mangels anderweitiger Rechtsschutzoptionen selbst eine umfassende Überprüfung vornehmen, damit keine verfassungswidrige Rechtsschutzlücke entsteht254. Während Art. 20 Abs. 3 i.V. m. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die objektiv-rechtliche Unterlassung und Behebung deutscher Europarechtsverletzungen gebietet255, verlangt Art. 20 Abs. 3 i.V. m. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG in Gestalt des Justizgewährungsanspruchs somit darüber hinausgehend einen lückenlos wirksamen subjektivrechtlichen Individualrechtsschutz vor dem BVerfG gegen höchstrichterliche Vorlagepflichtverstöße, ungeachtet dessen, dass dieser vom Europarecht bislang nicht vorausgesetzt wird256. Zwar ist zu bedenken, dass weder das Gebot zur Integrationsmitwirkung noch der Justizgewährungsanspruch absolut gewährleistet ist, sondern beide ggf. mit 250 Roth, NVwZ 2009, 345 (351 f.); Fastenrath, NJW 2009, 272 (275); Jaeger, EuGRZ 2005, 193 (197). 251 Vgl. BVerfGE 89, 155 (175); Schwarze, FS 50 Jahre BVerfG, Bd. 1, 223 (223 ff.); Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 GG, Rn. 84a. 252 Jaeger, EuGRZ 2005, 193 (196 f.); Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (25 ff.); ders., Verfassungsbeschwerde, S. 101 (120); vgl. auch C. Nowak, NVwZ 2002, 688 (690); Classen, JZ 2008, 794 (796); Terhechte, EuZW 2009, 724 (728). 253 BVerfGE 107, 395 (406 ff.); 108, 341 (347 ff.); Sachs/Sachs, Art. 19 GG, Rn. 121, Art. 20 GG, Rn. 162; Papier, in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 176, Rn. 5, 17, § 177, Rn. 16; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, Art. 19 Abs. 4 GG, Rn. 16 ff., 98; Sommermann, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 GG, Rn. 321 f. Zählt man auch die spruchrichterliche Tätigkeit der Gerichte zur öffentlichen Gewalt i. S. d. Art. 19 Abs. 4 GG, ergibt sich aus diesem Rechtsschutzgebot die gleiche Rechtsfolge; Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 12 ff., 34 ff.; Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, S. 255 ff., 298 ff., 308 ff.; ders., NJW 2003, 2193 (2196); kritisch P. M. Huber, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 19 GG, Rn. 352 ff., 359 f. 254 Fastenrath, NJW 2009, 272 (275); Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 236 ff.; ders., GYIL 53 (2010), 927 (932 f.); Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (780 f.); vgl. auch BVerfGE 107, 395 (417 f.); Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (122). 255 Vgl. Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1278 ff.; ders., in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 2, Rn. 63. 256 Zum Europarecht siehe o., (3). A. A. Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, S. 974 f., Rn. 3341, der Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG zu eng auslegt und den Justizgewährungsanspruch übersieht.

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anderen Verfassungswerten in Ausgleich gebracht werden müssen257. Hier kommt die vom BVerfG zur Begründung seiner verminderten Kontrolldichte bei Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG herangezogene Funktionenteilung mit den Fachgerichten ins Spiel, die deren Zuständigkeitsbereiche sichern soll258. Anders als bei der Auslegung einfachen nationalen Rechts fehlt es jedoch gerade an einer solchen fachgerichtlichen Exklusivkompetenz im Hinblick auf die Vorlagepflicht zum EuGH, welche durch das Europarecht selbst determiniert wird259. Ohnehin ist es kaum möglich, die Zuständigkeiten von BVerfG und Fachgerichten allgemein randscharf voneinander abzugrenzen260. Dies zeigt auch die vom BVerfG vorgenommene bereichsspezifisch strengere Kontrolle der Garantie des gesetzlichen Richters im Kontext des völkerrechtlichen Normverifikationsverfahrens gemäß Art. 100 Abs. 2 GG. Hier nimmt das BVerfG in der Regel schon einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG an, wenn ihm trotz objektiv ernstzunehmender Zweifel hinsichtlich der Völkerrechtslage nicht vorgelegt wird, und begründet dies mit der Zielsetzung von Art. 100 Abs. 2 GG, die Einheitlichkeit der allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu fördern und der Gefahr ihrer Verletzung durch deutsche Gerichte vorzubeugen261. Nichts anderes kann entsprechend bezüglich des Europarechts gelten, wenn die Vorlagepflicht aus Art. 267 AEUV betroffen ist262. Daher besteht für das BVerfG kein verfassungsrechtlich tragfähiger Grund, hier seine Selbstbeschränkung auf Willkür aufrechtzuerhalten. Eine vollständige Angleichung von Maßstab und Dichte der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bei Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG an die Rechtsprechung des EuGH zu Art. 267 AEUV ist somit durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und den Justizgewährungsanspruch zwingend geboten. Bei Verfassungsbeschwerden wegen Nichtvorlage an den EuGH muss das BVerfG also ohne jede Einschränkung prüfen, ob objektive Zweifel an der Offenkundigkeit der Europarechtslage bestehen263. Von Verfas257 Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 167; Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 238; sowie BVerfGE 107, 395 (407), unter Hinweis auf Art. 10 Abs. 2 S. 2 GG. 258 Siehe o., (1). 259 Vgl. Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (122); Jaeger, EuGRZ 2005, 193 (196); ferner Proelß, GYIL 53 (2010), 927 (933); im Ergebnis unzutreffend dagegen Michael, JZ 2012, 870 (878), der für die „Erhaltung fachgerichtlicher Spielräume“ plädiert. 260 Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 239. 261 BVerfGE 64, 1 (12 ff.); 96, 68 (77 f.); 109, 13 (23 f.); 109, 38 (49 f.); vgl. auch BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NVwZ 2008, 878 (879). 262 Roth, NVwZ 2009, 345 (351); Bäcker, NJW 2011, 270 (272); Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 239; Wernsmann, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 11, Rn. 61; Calliess, NJW 2013, 1905 (1907); E. Zimmermann, FS Doehring, 1033 (1049 f.); Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Art. 101 GG, Rn. 23; Glaesner, EuR 1990, 143 (150); Wölker, EuGRZ 1988, 97 (101 f.); Arnold, FS Neumayer, 17 (27); kritisch auch Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (26). 263 Siehe o., (2); vgl. Roth, NVwZ 2009, 345 (350 ff.); Jaeger, EuGRZ 2005, 193 (197); Meilicke, BB 2000, 17 (22).

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sungs wegen führt ein Verstoß gegen die europarechtliche Vorlagepflicht stets zu einer durch das BVerfG vollumfänglich zu sanktionierenden Entziehung des gesetzlichen Richters. Die funktionalen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bleiben trotzdem gewahrt, weil das BVerfG sachlich nach wie vor spezifisches Verfassungsrecht anwendet264. Aus der vom Grundgesetz geforderten Kontrollverschärfung resultiert auch keine wesensmäßig kompliziertere, aufwendigere Prüfungsmethodik. Im Gegenteil würde bereits eine vollständige Abkehr des BVerfG von seinem verfehlten bisherigen Ansatz, umfangreich die inhaltliche Vertretbarkeit der eigenmächtigen Europarechtsinterpretation durch das vorlagepflichtige Fachgericht zu prüfen265, für einen Entlastungseffekt sorgen266. Außerdem dürfte sich schnell eine gewisse Präventionswirkung bei den Fachgerichten einstellen, so dass letztlich nicht mit einer übermäßigen Arbeitsbelastung für das BVerfG zu rechnen ist267. Schwerer greifbar sind hingegen etwaige psychologische Hemmungen, die das BVerfG unausgesprochen davon abhalten könnten, durch eine Intensivierung der Kontrolle bei Vorlagepflichtverletzungen dem EuGH zuzuarbeiten. Möglicherweise zeigt sich auch hier, ähnlich wie bei der Vorlagevermeidung268, die unterschwellige Abneigung mancher nationaler (Höchst-)Gerichte gegen einen wachsenden innerstaatlichen Einfluss des EuGH, der durch eine konsequente Anwendung des Vorabentscheidungsverfahrens begünstigt würde. Derartige Überlegungen wären allerdings vorwiegend rechtspolitischer Natur und würden nichts an der bestehenden Verpflichtung des BVerfG ändern, seinem verfassungsrechtlichen Rechtsschutzauftrag gerecht zu werden. bb) Materielle Grundrechte Eine lückenlose Beanstandung von Vorlagepflichtverstößen anhand von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist auch deswegen von fundamentaler Bedeutung, weil das BVerfG im Verfassungsbeschwerdeverfahren seine Zuständigkeit für Rügen, die sich auf die Verletzung materieller Europarechtspositionen beziehen, regelmäßig

264 Heitsch, EuGRZ 1997, 461 (469); Wölker, EuGRZ 1988, 97 (101, 103); im Ergebnis ebenso Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 239. Die schematisch-reflexhafte Weigerung des BVerfG, als „oberstes Vorlagenkontrollgericht“ zu fungieren [siehe o., aa) (1)], entbehrt daher – und auch schon in Ansehung des Status quo – der Grundlage. Durch die Anpassung von Prüfungsmaßstab und -dichte wird die funktionelle Stellung des BVerfG jedenfalls nicht signifikant verändert. Siehe Roth, NVwZ 2009, 345 (351). 265 Siehe o., (1), (2). 266 Siehe auch Bäcker, NJW 2011, 270 (272). 267 Wölker, EuGRZ 1988, 97 (102 f.); Roth, NVwZ 2009, 345 (351); Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (122 f.). 268 Siehe o., 1., sowie ferner II. 1. a).

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verneint269. Bei einer Befassung des BVerfG mit den materiell-rechtlichen Fragen des zugrundeliegenden Rechtsstreits ließe sich eine Vorlagepflichtverletzung des letztinstanzlichen Fachgerichts allerdings auch noch durch ein Vorabentscheidungsverfahren heilen, das vom BVerfG zur Klärung entscheidungserheblicher europarechtlicher Aspekte eingeleitet werden müsste270. Gestützt auf Art. 20 Abs. 3 i.V. m. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG könnte das BVerfG dann jedenfalls das sachlich betroffene Grundrecht des Grundgesetzes nach Maßgabe der Antwort des EuGH im Lichte der europarechtlichen Gewährleistung auslegen und dieser so zur Durchsetzung gegen widerstreitende nationale Hoheitsakte verhelfen271. Mit einer derartigen Rezeption ließe sich eine weitere „Europäisierung“ der Verfassungsrechtsprechung erreichen, die die Konkordanz von europäischer und deutscher Verfassungsordnung signifikant verstärken würde272. Grundgesetzliche Garantien, deren Schutzbereich sich mit zentralen europarechtlichen Verbürgungen überschneidet, sind insbesondere die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG273 und ggf. die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG im Hinblick auf die Grundfreiheiten des Binnenmarktes274 sowie Art. 11 GG275 auch bezüglich des allgemeinen Freizügigkeitsrechts276. Im Anwendungsbereich des Europarechts dürfen sich Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten auch auf Deutschengrundrechte in vollem Umfang berufen, denn die Beschränkung des persönlichen Schutzbereichs ist ihnen gegenüber als von den Grundfreiheiten und Art. 18 Abs. 1 AEUV verbotene Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit unanwendbar277. Gleiches gilt für die von Art. 19 Abs. 3 GG gefor269 BVerfGE 31, 145 (174 f.); 82, 159 (191); 110, 141 (154 f.); 115, 276 (299 f.); im Ergebnis jeweils ohne zwingende Begründung zustimmend Schlaich/Korioth, Rn. 366; Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 214 f. 270 Siehe o., II. 1.; Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (25); ders., Verfassungsbeschwerde, S. 101 (120); Dederer, ZaöRV 66 (2006), 575 (608); Frowein, FS 25 Jahre BVerfG, Bd. 2, 187 (200 f.). 271 Vgl. Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (119 f.); ders., Europäische Verfassung, S. 1281; ders., Jura 1995, 374 (378 f.); Dederer, ZaöRV 66 (2006), 575 (608 f.); Raue, GRUR Int. 2012, 402 (410); ferner allgemein Priebe, GS Nagelmann, 147 (147). 272 Zur Herausbildung „gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ unter Mitwirkung der Verfassungsgerichtsbarkeit Häberle, EuGRZ 1991, 261 (265 ff.); Hesse, JöR N. F. 46 (1998), 1 (21 ff.); Schwarze, FS Everling Bd. II, 1355 (1356 ff.); Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 GG, Rn. 80b. 273 Vgl. Sachs/Mann, Art. 12 GG, Rn. 10 ff., 102; R. Breuer, in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 170, Rn. 17 ff., 21 ff.; H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, Art. 12 GG, Rn. 6. 274 Art. 28 ff., 45 ff., 49 ff., 56 ff., 63 ff. AEUV. 275 Vgl. Dreier/Pernice, Art. 11 GG, Rn. 5 ff., 19 f.; im Ergebnis a. A. Kunig, in: von Münch/Kunig, Art. 11 GG, Rn. 3, 8. Siehe außerdem Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 23 ff., 27 f. 276 Art. 20 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 lit. a, Art. 21 Abs. 1 AEUV. 277 Ruffert, in: Epping/Hillgruber, Art. 12 GG, Rn. 35 ff.; H. Hofmann, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Henneke, Art. 12 GG, Rn. 6; Giegerich, Verfassungsbeschwerde,

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derte Inländereigenschaft bei juristischen Personen278. Subsidiär kann ferner Art. 2 Abs. 1 i.V. m. Art. 20 Abs. 3, Art. 23 Abs. 1 GG gegenüber Europarechtsverstößen der deutschen öffentlichen Gewalt eingreifen279. Sind europäische Gleichheitsrechte betroffen, kommt die entsprechende Aktivierung von Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht. Bislang ist die Bereitschaft des BVerfG, einen Wertungseinklang zwischen Individualrechten des Europarechts und den entsprechenden Grundrechten des Grundgesetzes herzustellen, jedoch lediglich sporadisch erkennbar. So integrierte das Gericht im Urteil zum Sportwettenmonopol Vorgaben aus der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EGV; jetzt Art. 56 ff. AEUV) in die Prüfung der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)280, verzichtete hierauf aber wiederum im nach Art. 100 Abs. 1 GG ergangenen Beschluss zur Tariftreuepflicht in Berlin281, ohne eine Vorlage an den EuGH zu richten. Weiterhin hat das BVerfG u. a. auch Art. 13 EGV (jetzt Art. 19 AEUV) und Art. 21 Abs. 1 GRC zur Bestimmung seines Kontrollumfangs bei Art. 3 Abs. 1 GG herangezogen282. Noch nicht abschließend geklärt ist die damit aufgeworfene Frage, inwieweit das Europarecht dazu verpflichtet, den verfassungsgerichtlichen Schutz von europarechtlichen Rechten und nationalen Grundrechten allgemein zu parallelisieren. Während dem Effektivitätsgebot bereits der vor den Fachgerichten zur Verfügung stehende Rechtsschutz genügt, verlangt das Gleichbehandlungsgebot, die innerstaatliche Durchsetzung für europarechtliche Rechte nicht ungünstiger auszugestalten als für vergleichbare nationale Rechtspositionen283. Stellt das mitgliedS. 101 (124 ff.); ders., JuS 1997, 426 (429 f.); R. Breuer, in: Isensee/Kirchhof, HStR VIII, § 170, Rn. 43; Jarass, in: ders./Pieroth, Art. 12 GG, Rn. 12; Dreier/Pernice, Art. 11 GG, Rn. 19 f.; Ehlers, JZ 1996, 776 (781); Wernsmann, Jura 2000, 657 (659 ff.); OVG Münster, NWVBl. 1995, 18. 278 BVerfGE 129, 78 (78, 91, 94 ff.), m.w. N.; H. Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Henneke, Art. 19 GG, Rn. 27; Jarass, in: ders./Pieroth, Art. 19 GG, Rn. 23; Ehlers, JZ 1996, 776 (781); Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (123 f.); ders., JuS 1997, 426 (429 f.). 279 Vgl. entsprechend BVerfGE 6, 32 (37 ff.); 80, 137 (152 ff.); ferner BVerfGE 31, 145 (177); 66, 39 (64); ausführlich Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 142 ff., 151; weiterhin Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (119); ders., Europäische Verfassung, S. 1281; ders., JuS 1997, 426 (430); ders., Jura 1995, 374 (379); P. Lerche, FS Schmitt Glaeser, 41 (41 ff.); ähnlich Röben, S. 334. Siehe auch bereits Frowein, FS 25 Jahre BVerfG, Bd. 2, 187 (200 f.); Rengeling, GS Sasse Bd. I, 197 (204); Rengeling, DVBl. 1986, 306 (311); A. Weber, Rechtsfragen, S. 99 f.; sowie Dederer, ZaöRV 66 (2006), 575 (609). 280 BVerfGE 115, 276 (301, 305, 314, insbesondere 316 f.). 281 BVerfGE 116, 202 (220 ff.); siehe anschließend EuGH, Urt. v. 03.04.2008, Rüffert, Rs. C-346/06, Slg. 2008, I-1989. Hierzu Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (24). 282 BVerfGE 124, 199 (220 ff.); Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (24 f.); kritisch Hillgruber, JZ 2010, 41 (43 f.). 283 EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Rewe ./. Landwirtschaftskammer für das Saarland, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 01.12.1998, Levez ./. Jennings Ltd, Rs. C326/96, Slg. 1998, I-7835, Rn. 41 ff.; EuGH, Urt. v. 15.09.1998, Edilizia Industriale Siderurgica ./. Ministero delle Finanze, Rs. C-231/96, Slg. 1998, I-4951, Rn. 36; Giege-

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Teil 2: Verfahrensrechte

staatliche Recht mit der Verfassungsbeschwerde eine zusätzliche Rechtsschutzmöglichkeit für die nationalen Grundrechte zur Verfügung284, muss diese auch für Europarecht von entsprechendem Rang wirksam werden können, also jedenfalls zugunsten der Grundfreiheiten und der sonstigen grundlegenden europarechtlichen Individualrechte285. Die kategorische Durchsetzbarkeit jedweden Europarechts über die Verfassungsbeschwerde wird vom Gleichbehandlungsgebot somit nicht gefordert. Zudem kann es im einzelnen schwierig festzustellen sein, ob eine hinreichende Vergleichbarkeit einer bestimmten europarechtlichen Verbürgung mit den Grundrechten des Grundgesetzes vorliegt und demzufolge Verfassungsrechtsschutz zu gewähren ist. Hiervon dürfte aber zumindest immer dann auszugehen sein, wenn die materiellen Schutzgehalte zugunsten der Einzelnen in beiden Rechtsordnungen übereinstimmen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht sprechen zwar Art. 20 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 1 GG grundsätzlich für eine umfassende Einbeziehung europarechtlicher Individualrechte in die Grundrechtsprüfung. Das Gebot zur Mitwirkung bei der Integration wird aber hier nicht durch den Justizgewährungsanspruch des Bürgers verstärkt, der bereits durch die Fachgerichtsbarkeit erfüllt wurde286. Demgegenüber gewinnt die gerichtliche Funktionenteilung zwischen BVerfG und Fachgerichten an Bedeutung, da das BVerfG in der vorliegenden Konstellation typischerweise gerade auch mit Fragen des einfachen nationalen Rechts konfrontiert wird. Legt man wie das BVerfG den herkömmlichen, auf (spezifisches) Verfassungsrecht287 begrenzten Prüfungsumfang zugrunde, sind jedenfalls solche Europarechtsverletzungen per Verfassungsbeschwerde sanktionierbar, die nicht nur wie stets gegen Art. 20 Abs. 3 und Art. 23 Abs. 1 GG verstoßen288, sondern zugleich auch mit der Verkennung oder grundsätzlich falschen Gewichtung eines Grundrechts einhergehen289. Hier sollte das BVerfG genau darauf achten, alle sich ergebenden Auslegungsspielräume in europarechtsfreundlicher Weise zu rich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (119); Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 152 ff. Siehe auch o., aa) (3), sowie u., Teil 3, A. I. 3. b) bb) (3) (b). 284 Diesen entscheidenden Aspekt übersehen Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 152 f., und Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 226, die die fachgerichtliche Kompetenz betonen, europarechtswidriges nationales Recht unangewendet zu lassen. 285 Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (119); ders., JuS 1997, 426 (430); ders., Jura 1995, 374 (378); Leonard, S. 220 f.; P. Lerche, FS Schmitt Glaeser, 41 (51). Vgl. auch entsprechend im Kontext des österreichischen Rechts Potacs, Europäische Union, S. 62 f., 95 ff.; hierzu noch u., b). 286 Ein Instanzenzug wird durch den Justizgewährungsanspruch nicht garantiert; BVerfGE 107, 395 (402). 287 BVerfGE 1, 418 (420); 18, 85 (92); 80, 109 (122); 87, 48 (63); kritisch zur Terminologie Schlaich/Korioth, Rn. 281 f. 288 Vgl. eingehend Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 146 ff., m.w. N.; sowie BVerfGE 110, 141 (154 f.); 115, 276 (299 f.). 289 Vgl. z. B. BVerfGE 30, 173 (188); 59, 231 (270 f.); 62, 230 (242 f.); ausführlich Schlaich/Korioth, Rn. 280 ff., 292 ff., m.w. N. aus der Rspr.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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nutzen290. Die Einzelnen verdienen es, dass ihre Europarechtspositionen wenigstens eine entsprechende verfassungsgerichtliche Berücksichtigung finden wie die Garantien der EMRK, bezüglich derer das BVerfG seine Durchsetzungsverantwortung weitaus deutlicher artikuliert und wahrnimmt291. Zur Behebung von Verstößen gegen die europarechtliche Vorlagepflicht bieten die materiellen Grundrechte des Grundgesetzes im Vergleich zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG aber keinen weitergehenden Schutz. Sollte das BVerfG bei der Sicherung des Rechts auf den gesetzlichen Richter seinen Überwachungspflichten nachkommen, bestünde jedenfalls diesbezüglich292 keine rechtlich zwingende Notwendigkeit mehr für eine indirekte Sanktionierung über die materiellen Grundrechte, die zumeist mit einer spürbar aufwendigeren Prüfung verbunden wäre. cc) Zwischenergebnis Die Rechtslage in Deutschland illustriert exemplarisch, dass eine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Gewährung von Individualrechtsschutz gegen letztinstanzliche Fachgerichtsentscheidungen Verstöße gegen die europarechtliche Vorlagepflicht grundsätzlich wirksam zu sanktionieren vermag. Den zentralen Anknüpfungspunkt im Grundgesetz bildet Art. 101 Abs. 1 S. 2, der eine verfassungsgerichtliche Kontrolle des formellen Vorlagepflichtverstoßes ermöglicht. Das BVerfG ist bisher zwar nicht europarechtlich, aber doch verfassungsrechtlich verpflichtet, seine Prüfungsmodalitäten so an die Europarechtslage anzupassen, dass jede Verletzung des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfasst wird. Die über die europarechtsorientierte Auslegung der materiellen Grundrechte des Grundgesetzes vermittelte Durchsetzung europäischer Individualrechte mit der Verfassungsbeschwerde ist durch den europarechtlichen Gleichbehandlungsgrund290 Heitsch, EuGRZ 1997, 461 (463, 469); Giegerich, Jura 1995, 374 (379). In diesem Kontext ist daran zu erinnern, dass das BVerfG bei der integrationsskeptischen Kontrolle des Europarechts und seiner Weiterentwicklung eine bemerkenswerte Kreativität erkennen lässt, wenn es auf Art. 38 GG gestützte Popularverfassungsbeschwerden gegen Integrationsvertiefungen zulässt (BVerfGE 89, 155 [171 f.]; 123, 267 [329 ff.]), konkrete Integrationsgrenzen in Art. 79 Abs. 3 GG zu erkennen meint (BVerfGE 123, 267 [353 ff., 357 ff.]) und sich eine „Ultra-vires-Kontrolle“ von EU-Akten vorbehält (BVerfGE 89, 155 [188, 210]; 123, 267 [353 ff.]). Zu Recht kritisch Giegerich, Zähmung, in: ders., Verfassungsstaat, S. 13 (24 f.); ders., GYIL 52 (2009), 9 (11 f., 17 ff., 25 ff.); Classen, JZ 2009, 881 (881, 886 ff.); Proelß, Bundesverfassungsgericht, S. 251 ff. Siehe auch bereits o., II. 2. 291 BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (115); 111, 307 (315 ff., 328 ff.); 112, 1 (41 ff.); Kirchhof, EuGRZ 1994, 16 (31 ff.). 292 Zur die fachgerichtliche Vorlagepflicht nicht betreffenden Konstellation der unmittelbar gegen ein europarechtswidriges Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde Frenz, DÖV 1995, 414 (416 ff.), der die Eröffnung des Rechtswegs zum BVerfG aus Art. 19 Abs. 4 GG ableitet, und Jaeger, EuGRZ 2005, 193 (195 f.), die unter Hinweis auf die Klärungsfunktion der Fachgerichte einen zurückhaltenden Ansatz vertritt; siehe auch BVerfGE 110, 141 (147, 154 f.).

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Teil 2: Verfahrensrechte

satz geboten, wenn die jeweiligen Garantien hinreichend vergleichbar sind. Eine eigenständige Bedeutung für die Implementierung der Vorlagepflicht kann dieser Mechanismus aber nur entfalten, solange das BVerfG sich weigert, Verstöße umfassend über Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu ahnden. b) Österreich In Österreich ist das Recht auf den gesetzlichen Richter in Art. 83 Abs. 2 BVG ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleistet und kann mit der Verfassungsbeschwerde nach Maßgabe von Art. 144 B-VG vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) durchgesetzt werden. Dieser stuft den EuGH seit 1995 als gesetzlichen Richter ein293 und prüft mit einer hohen Kontrollintensität, ob die europarechtliche Vorlagepflicht eingehalten wurde294. Jeder Vorlagepflichtverstoß führt danach zu einer Verletzung der Bundesverfassung295, ohne dass Willkür oder andere qualifizierende Merkmale vorliegen müssen296. Darüber hinaus sanktioniert der VfGH Verstöße gegen das Europarecht auch über die materiellen Grundrechte des B-VG, wobei sich diese Kontrolle allerdings auf grobe Fehler beschränkt297. Beispielsweise werden Eingriffe in Freiheitsgrundrechte oder den Gleichheitssatz, die auf offensichtlich europarechtswidrigen und damit unanwendbaren österreichischen Gesetzen beruhen, als verfassungswidrig qualifiziert. Während die verfassungsrechtliche Prüfung insgesamt also deutlich strenger gehandhabt wird als in Deutschland, ist ihr Anwendungsbereich demgegenüber eingeschränkt. Denn das österreichische Recht eröffnet die Verfassungsbeschwerde nur gegen Entscheidungen der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte. Vor 2014 konnte sie entsprechend gegen Akte der früheren unabhängigen Verwaltungssenate und bescheidförmig entscheidenden Sonderrechtsschutzbehörden298 ge293 VfSlg 14.390/1995 (= EuGRZ 1996, 529). Die Entscheidungen des VfGH sind außerdem abrufbar unter: http://www.ris.bka.gv.at/VfGH/. 294 VfSlg 14.390/1995; 14.607/1996; 14.889/1997; 15.507/1999; 15.657/1999; 15.766/2000; 16.988/2003; 17.411/2004; 17.500/2005; 18.350/2008; 18.541/2008; VfGH, B 95/07 v. 23.06.2009; B 1370/08 v. 02.07.2009; B 538/09 v. 24.06.2010. 295 Festgestellt in den Entscheidungen VfSlg 14.607/1996; 14.889/1997; 15.507/ 1999; 16.988/2003; B 1370/08 v. 02.07.2009. Siehe auch Schilling, EuGRZ 2014, 596 (597). 296 Schweitzer/Hummer/Obwexer, Europarecht, S. 232, Rn. 848; Holoubek, in: Merten, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 85 (88); Grabenwarter, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, IPE II, § 20, Rn. 52. 297 VfSlg 14.886/1997; 15.448/1999; 15.450/2001; 16.771/2002; 17.614/2005; 18.414/2008; 18.618/2008. Merli, Europarechtsfreundlichkeit, in: Giegerich, Verfassungsstaat, S. 273 (277); Merli, VVDStRL 66 (2007), 392 (400); Potacs, Europäische Union, S. 62 f., 95 ff. 298 Z. B. Bundesvergabeamt, Vergabekontrollsenat, Oberster Patent- und Markensenat, Oberste Berufungs- und Disziplinarkommission (für Rechtsanwälte), Unabhängige Heilmittelkommission (alle inzwischen aufgelöst). Siehe auch Jahnel, in: Merten/Papier, HGR VII/1, § 201, Rn. 28 ff.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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richtet werden, die allesamt Gerichte i. S. d. Art. 267 AEUV darstellten299. Nicht verfassungsbeschwerdefähig sind jedoch Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofs und der ordentlichen Gerichtsbarkeit einschließlich der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit300. In der Praxis verbleiben daher Rechtsschutzlücken301, wenn Rechte aus dem Europarecht originär durch derartige Judikate unter Verletzung der Vorlagepflicht beeinträchtigt werden302. c) Spanien In Spanien kann mit der Verfassungsbeschwerde (recurso de amparo) die Verletzung der in Art. 14–29 und 30 Abs. 2 span. Verf. verbürgten Rechte und Freiheiten303 gerügt werden, nachdem der Rechtsweg erschöpft wurde304. Allerdings hat das spanische Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional) in seiner Rechtsprechung die Lösung von Konflikten zwischen dem Europarecht einerseits und spanischen Rechtsnormen oder Hoheitsakten andererseits ursprünglich ausschließlich im Aufgabenbereich der Fachgerichte und des EuGH verortet305.

299 Vgl. Merli, Europarechtsfreundlichkeit, in: Giegerich, Verfassungsstaat, S. 273 (277); Merli, VVDStRL 66 (2007), 392 (400); Korinek, in: Merten, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 205 (215). 300 Merli, Europarechtsfreundlichkeit, in: Giegerich, Verfassungsstaat, S. 273 (277); Merli, VVDStRL 66 (2007), 392 (399 f.); Korinek, in: Merten, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 205 (214); Jahnel, in: Merten/Papier, HGR VII/1, § 201, Rn. 45; Breuer, ELRev. 29 (2004), 243 (251); Schäffer, in: Schwarze, Entstehung, S. 339 (347); Lacchi, GLJ 16 (2015), 1663 (1671). 301 Vgl. VfSlg 15.427/1999, zur Eröffnung einer Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. 302 Lediglich der Rechtsschutz gegen europarechtswidrige Normen ist in Österreich recht umfassend sichergestellt, sofern der VfGH seinerseits Art. 267 Abs. 3 AEUV beachtet. Bei einem sog. Individualantrag auf Normenkontrolle (Art. 140 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 lit. c B-VG), der funktionell einer unmittelbar gegen ein Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde entspricht, untersucht der VfGH detailliert bereits im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung, ob die angegriffene nationale Norm europarechtskonform ist. Liegt ein Verstoß vor, bleibt wegen des Anwendungsvorrangs des Europarechts kein Raum für eine Rechtsverletzung des Antragstellers. Auch wenn der Normenkontrollantrag deshalb zurückgewiesen wird, sind nachfolgend entscheidende Fachgerichte aber gehalten, die effektive Durchsetzung des Europarechts entsprechend zu gewährleisten. VfSlg 15.771/ 2000; 18.298/2007; Merli, Europarechtsfreundlichkeit, in: Giegerich, Verfassungsstaat, S. 273 (278); Merli, VVDStRL 66 (2007), 392 (400 f.); Potacs, Europäische Union, S. 62. 303 Hierzu zählen neben dem Gleichheitssatz v. a. die elementaren Menschenrechte und politisch relevanten Grundrechte, nicht aber das Recht auf Eigentum (Art. 33 span. Verf.) und die Berufsfreiheit (Art. 35 span. Verf.). 304 Art. 161 Abs. 1 lit. b, Art. 162 Abs. 1 lit. b i.V. m. Art. 53 Abs. 2 span. Verf.; Medina Guerrero, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, IPE I, § 11, Rn. 59 f.; Ripol Carulla, S. 5. 305 STC 28/1991 v. 14.02.1991; STC 64/1991 v. 22.03.1991; STC 372/1993 v. 13.12. 1993; López Castillo/Polakiewicz, EuGRZ 1993, 277 (283); Ripol Carulla, S. 7, 11.

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Teil 2: Verfahrensrechte

Auch der Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht wurde zunächst keinerlei verfassungsrechtliche Relevanz beigemessen306. Seit 2004 lässt sich nun eine Tendenz zur verstärkten Einbeziehung europarechtlicher Aspekte in die verfassungsgerichtliche Wertung erkennen. So hat das Verfassungsgericht zwei Verfassungsbeschwerden von Regionalregierungen gegen Urteile letztinstanzlicher Fachgerichte stattgegeben, die ohne Vorlage an den EuGH spanisches Steuerrecht unangewendet gelassen hatten, obwohl die Rechtslage unklar war307. Zwar wurde hier nicht etwa die Garantie des gesetzlichen Richters (Art. 24 Abs. 2 span. Verf.), sondern vielmehr allein das Recht auf ein wirksames und faires Gerichtsverfahren (Art. 24 Abs. 1 span. Verf.) als verletzt angesehen308. Auch diese Qualifikation lässt jedoch erwarten, dass die Einzelnen mit der Verfassungsbeschwerde zukünftig erfolgreich gegen Vorlagepflichtverstöße spanischer Gerichte werden vorgehen können, soweit eine hinreichende Kontrolldichte gewährleistet ist309. Allgemein dürfte das Verfassungsgericht europarechtswidrigen Zuständen jedenfalls dann abhelfen, wenn zugleich eine Verletzung verfassungsbeschwerdefähiger Grundrechte vorliegt. Ohnehin fließen die Normen des Europarechts ebenso wie die von Spanien ratifizierten völkerrechtlichen Verträge nach Art. 10 Abs. 2 span. Verf. als Auslegungsfaktoren in die Inhaltsbestimmung der entsprechenden Grundrechte und -freiheiten der Verfassung ein310. Insbesondere das Diskriminierungsverbot des Art. 14 span. Verf. ist bereits weitgehend anhand des europäischen Verordnungsrechts konkretisiert worden311. d) Tschechische Republik Die tschechische Verfassung sieht ebenfalls eine Verfassungsbeschwerde gegen rechtskräftige Entscheidungen und andere Eingriffe der Organe der öffentlichen Gewalt in die verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte und Freiheiten vor (Art. 87 Abs. 1 lit. d tschech. Verf.). Das tschechische Verfassungsgericht (Ústavní soud) hat zunächst 2008 in zwei Entscheidungen seine generelle Bereit306

STC 111/1993 v. 25.03.1993; Ripol Carulla, S. 11 f. STC 58/2004 v. 19.04.2004 (hierzu Ripol Carulla, S. 13 ff.; López Castillo, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, IPE II, § 24, Rn. 59); STC 194/2006 v. 19.06.2006 (hierzu 24. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Unionsrechts [2006], KOM(2007)398, Anhang VI, S. 1-42 ff.). Siehe auch STC 78/ 2010 v. 20.10.2010; Lacchi, GLJ 16 (2015), 1663 (1676, 1684 f.). 308 Näher Lacchi, GLJ 16 (2015), 1663 (1668 f., 1674 f.). 309 Vgl. STC 27/2013 v. 11.02.2013; Lacchi, GLJ 16 (2015), 1663 (1685 f.); Ripol Carulla, S. 15. 310 STC 64/1991 v. 22.03.1991; López Castillo, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, IPE II, § 24, Rn. 58; López Castillo/Polakiewicz, EuGRZ 1993, 277 (284); LópezPina, AVR 32 (1994), 178 (183 f.); García de Enterría/Alonso García, in: Schwarze, Entstehung, S. 287 (327 f., 331 f.). 311 López Castillo, in: von Bogdandy/Cruz Villalón/Huber, IPE II, § 24, Rn. 60. 307

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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schaft erklärt, die Einhaltung der Vorlagepflicht letztinstanzlicher tschechischer Fachgerichte zu überwachen312. 2009 hob es dann ein ohne Vorlage an den EuGH ergangenes Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts wegen Verstoßes gegen das in Art. 38 Abs. 1 der tschechischen Charta der Grundrechte und Freiheiten313 garantierte Recht auf den gesetzlichen Richter auf 314. Ungeachtet der grundsätzlichen Zuständigkeit der Fachgerichte für die Überprüfung der Beachtung des Europarechts315 sei diese verfassungsrechtliche Gewährleistung verletzt, wenn ein letztinstanzliches tschechisches Gericht in willkürlicher Weise und damit im Widerspruch zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Verfassung316 ein Vorabentscheidungsersuchen unterlasse317. Von Willkür i. d. S. geht das tschechische Verfassungsgericht konkret dann aus, wenn sich das Fachgericht mit der Vorlagepflicht überhaupt nicht auseinandersetzt oder keine tragfähige Begründung für die Nichtvorlage bzw. die Vereinbarkeit seiner Lösung mit dem Europarecht, insbesondere Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV), gibt318. Dieser an den europarechtlichen Anforderungen ausgerichtete Ansatz entspricht weitgehend der neueren Judikatur des BVerfG319. e) Slowakei Vor dem slowakischen Verfassungsgericht (Ústavny´ súd) sind die Grundrechte und -freiheiten der slowakischen Verfassung sowie die Menschenrechte aus von der Slowakei ratifizierten internationalen Verträgen mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbar, sofern keine andere gerichtliche Zuständigkeit gegeben ist (Art. 127 slowak. Verf.). Das Verfassungsgericht hat auch allgemein anerkannt, dass die Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht durch ein letztinstanzliches Gericht zu einer Verletzung der Rechte auf den gesetzlichen Richter 312 Tschech. VerfG, Entsch. v. 30.06.2008, IV. ÚS 154/08; Entsch. v. 24.07.2008, III. ÚS 2738/07 (Die Entscheidungen des tschech. VerfG sind abrufbar unter: http:// nalus.usoud.cz, teilweise auch in engl. Übersetzung unter: http://www.usoud.cz/en/deci sions/.); Navrátilová, S. 5 f.; Bobek/Kosarˇ, in: Martinico/Pollicino, S. 127. 313 Die Charta gehört nach Art. 112 Abs. 1 tschech. Verf. zur verfassungsmäßigen Ordnung der Tschechischen Republik. 314 Tschech. VerfG, Urt. v. 08.01.2009, II. ÚS 1009/08; Bobek/Kosar ˇ, in: Martinico/ Pollicino, S. 127 f.; Lacchi, GLJ 16 (2015), 1663 (1672 f.). 315 Siehe auch tschech. VerfG, Entsch. v. 21.02.2006, Pl. ÚS 19/04. Lediglich im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle hat das tschech. VerfG die Unvereinbarkeit einer tschechischen Rechtsnorm mit dem Europarecht als Indiz für ihre Verfassungswidrigkeit gewertet; Urt. v. 16.01.2007, Pl. ÚS 36/05, Rn. 35. Näher Bobek/Kosarˇ, in: Martinico/Pollicino, S. 129 ff. 316 Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 3 tschech. Verf., Art. 4 Abs. 4 tschech. Charta der Grundrechte und Freiheiten. 317 Tschech. VerfG, Urt. v. 08.01.2009, II. ÚS 1009/08, Rn. 20 ff. 318 Tschech. VerfG, a. a. O., Rn. 21 ff.; vgl. auch Lacchi, GLJ 16 (2015), 1663 (1683). 319 Siehe o., a) aa) (1), (2).

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Teil 2: Verfahrensrechte

(Art. 48 Abs. 1 slowak. Verf.) und auf ein faires Verfahren (Art. 46 Abs. 1 slowak. Verf., Art. 6 Abs. 1 EMRK) führen kann320. In der Sache hatten die den beiden Verfassungsgerichtsentscheidungen zugrundeliegenden Beschwerden jedoch keinen Erfolg, da sich der Sachverhalt auf den Zeitraum vor dem EU-Beitritt der Slowakei bezog321 bzw. die Bf. nicht alle verfügbaren Rechtsmittel ausgeschöpft, insbesondere keine außerordentliche Revision zum Obersten Gericht angestrengt hatten322. Daraufhin wurde in Art. 239 Abs. 1 lit. b slowak. ZPO ein neuer spezieller Revisionsgrund für Fälle eingeführt, in denen das Berufungsgericht über die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH befunden hat323. Im Anwendungsbereich dieser Bestimmung kann also nunmehr das Oberste Gericht das Vorlageverhalten funktionell letztinstanzlicher slowakischer Gerichte überprüfen, während sich das Verfassungsgericht insoweit auf die Kontrolle des Obersten Gerichts beschränken wird. f) Slowenien Auch die slowenische Verfassung eröffnet die Verfassungsbeschwerde gegen Individualakte zum Schutz der Grundrechte324. Aufgrund einer solchen Beschwerde hat das slowenische Verfassungsgericht (Ustavno sodišcˇe) 2013 ein Urteil des Obersten Gerichtshofs in einer steuerrechtlichen Streitigkeit aufgehoben, das ohne die vom Kläger beantragte Vorlage an den EuGH ergangen war325. Hierin erkannte es einstimmig einen Verstoß gegen das in Art. 23 Abs. 1 slowen. Verf. gewährleistete Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz, das eine Entscheidung durch ein unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht garantiert326. Dieses Recht der Partei eines gerichtlichen Ausgangsverfahrens gleich

320 Slowak. VerfG, Entsch. v. 29.05.2007, III. ÚS 151/07; Entsch. v. 03.07.2008, IV. ÚS 206/08 (zum Teil auch in engl. Sprache abrufbar unter: https://www.ustavnysud.sk/ collection-of-findings-and-rulings); Bobek/Kosarˇ, in: Martinico/Pollicino, S. 128; Faix, EuGRZ 2013, 483 (486, 488). 321 Slowak. VerfG, Entsch. v. 29.05.2007, III. ÚS 151/07; hierzu 25. Jahresbericht der Kommission über die Kontrolle der Anwendung des Unionsrechts (2007), KOM(2008)777, Anhang VI, S. 29 f., abrufbar unter: http://ec.europa.eu/atwork/ap plying-eu-law/docs/annual_report_25/25_annex_6_fr.pdf; siehe auch EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Ynos, Rs. C-302/04, Slg. 2006, I-371, Rn. 36 ff. 322 Slowak. VerfG, Entsch. v. 03.07.2008, IV. ÚS 206/08. 323 Bobek/Kosar ˇ, in: Martinico/Pollicino, S. 128. 324 Art. 160 slowen. Verf.; siehe auch A. Weber, Verfassungsvergleichung, S. 333, Rn. 57. 325 Slowen. VerfG, Entsch. v. 21.11.2013, Nr. Up-1056/11, abrufbar unter: http://od locitve.us-rs.si/en/odlocitev/AN03685. 326 Auf das in Art. 23 Abs. 2 slowen. Verf. gesondert verbürgte Recht auf den gesetzlichen Richter stellte das slowen. VerfG hingegen nicht ab. Damit ähnelt die grundrechtliche Anknüpfung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle dem Ansatz des span. VerfG; siehe o., c). Vgl. auch Lacchi, GLJ 16 (2015), 1663 (1668 f., 1674, 1677).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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welcher Art beziehe sich auch auf die europarechtliche Vorlagepflicht gemäß Art. 267 AEUV und die zugehörige Rechtsprechung des EuGH 327. Im Verfassungsbeschwerdeverfahren überprüft das slowenische Verfassungsgericht insoweit, ob für den Einzelnen gerichtlicher Rechtsschutz unter Berücksichtigung der Funktionentrennung zwischen den slowenischen Gerichten und dem EuGH sichergestellt war328. Zur Ermöglichung dieser Prüfung obliege es den Fachgerichten, etwaige Nichtvorlageentscheidungen anhand der vom EuGH aufgestellten Kriterien zu begründen, was im Grundsatz bereits aus der Garantie gleichen Rechtsschutzes in Art. 22 slowen. Verf. und aus der Rechtsprechung des EGMR abzuleiten sei329. An einer solchen konsistenten Begründung habe es im Ausgangsfall jedoch gefehlt. g) Sonstige Mitgliedstaaten In den übrigen Mitgliedstaaten der EU ist bislang keine vergleichbare Praxis verfassungsgerichtlicher Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen dokumentiert. Die hierfür notwendigen Voraussetzungen bestehen aber jedenfalls in Kroatien, Malta und Ungarn. Die kroatische Verfassung gewährleistet die Verfassungsbeschwerde gegen Einzelakte einschließlich Gerichtsentscheidungen und ermöglicht damit eine verfassungsgerichtliche Kontrolle auch am Maßstab des in Art. 29 Abs. 1 kroat. Verf. verbürgten Verfahrensgrundrechts330. Das maltesische Verfassungsgericht (Qorti Kostituzzjonali/Constitutional Court) kann gemäß Art. 95 malt. Verf. Gerichtsentscheidungen u. a. auf die Einhaltung der Justizgrundrechte (Art. 39 malt. Verf.) überprüfen. Das ungarische Recht bietet seit 2012 ein vergleichbares Potential. So entscheidet das ungarische Verfassungsgericht (Alkotmánybíróság) aufgrund einer Verfassungsbeschwerde über die Vereinbarkeit einer richterlichen Entscheidung mit der Verfassung331, die ihrerseits

327

Slowen. VerfG, Entsch. v. 21.11.2013, Nr. Up-1056/11, abrufbar a. a. O., Rn. 6,

9, 12. 328

Slowen. VerfG, a. a. O., Rn. 11, 13. Slowen. VerfG, a. a. O., Rn. 13 ff.; u. a. unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 19.02. 1998, Higgins et al. ./. Frankreich, Rep. 1998-I; EGMR, Entsch. v. 08.06.1999, Predil Anstalt S.A. ./. Italien, Nr. 31993/96; EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07 [siehe hierzu noch u., IV. 3. m)]. Vgl. auch Lacchi, GLJ 16 (2015), 1663 (1683 f., 1689 f.). 330 Art. 129 Spstr. 4, Art. 132 kroat. Verf. i.V. m. Art. 62 ff. kroat. Verfassungsgesetz über das VerfG (Narodne novine Nr. 49/02 v. 03.05.2002). Siehe auch Omejec, in: Merten/Papier/Arnold, HGR IX, § 271, Rn. 14; Stern, FS Brunner, 150 (157); Kerek, S. 121 f., Fn. 1061. 331 Art. 24 Abs. 2 lit. d, Abs. 3 lit. b ung. Verf. i.V. m. § 27 ung. Schwerpunktgesetz Nr. CLI von 2011 über das VerfG. 329

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Teil 2: Verfahrensrechte

zwar keine explizite Garantie des gesetzlichen Richters, aber doch das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren enthält332. In Polen und Portugal steht verfassungsgerichtlicher Individualrechtsschutz dagegen im wesentlichen nur gegen solche Hoheitsakte zur Verfügung, deren normative Grundlage als verfassungswidrig angegriffen wird333, so dass zumindest eine Verletzung von Justizgrundrechten nicht gerügt werden kann. In allen anderen Mitgliedstaaten scheitert eine entsprechende Durchsetzung der europarechtlichen Vorlagepflicht von vornherein daran, dass eine eigenständige Verfassungsgerichtsbarkeit nicht existiert334 oder keine Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen vorgesehen sind335. 4. Zwischenergebnis zu III. Das Europarecht stellt mit dem Vertragsverletzungsverfahren und dem Staatshaftungsanspruch lediglich Mittel von beschränkter Effektivität zur Verfügung, um Vorlagepflichtverletzungen letztinstanzlicher Gerichte zu sanktionieren. Auch verfassungsgerichtliche Rechtsschutzmechanismen, wie sie sich bislang in sechs Mitgliedstaaten herausgebildet haben, führen häufig aufgrund von Besonderheiten des nationalen Rechts (Willkürerfordernis in Deutschland und der Tschechischen Republik, fehlende Verfassungsbeschwerdefähigkeit von Entscheidungen bestimmter Gerichte in Österreich) zu keiner umfassenden Abhilfe. In den meisten Mitgliedstaaten ist eine vergleichbare Durchsetzung der Vorlagepflicht wegen der innerstaatlichen Ausgestaltung des Gerichtssystems ohnehin ausgeschlossen. Während das geltende Europarecht insoweit keine spezifischen Änderungen zur Verbesserung des Rechtsschutzes fordert, ist in Deutschland das BVerfG grundgesetzlich verpflichtet, bei allen Verstößen gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV Individualrechtsschutz zu gewähren. Insgesamt erweisen sich die gegenwärtigen Möglichkeiten der Einzelnen, nach Europarecht oder mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht auf die Einhaltung der Vorlagepflicht durch letztinstanzliche Gerichte hinzuwirken, aber als begrenzt und lückenhaft336. 332

Art. XXVIII Abs. 1 ung. Verf. Art. 79 Abs. 1, Art. 188 Nr. 5 poln. Verf.; Art. 280 port. Verf. 334 Dies gilt für Dänemark, Finnland, Irland, die Niederlande, Schweden und das Vereingte Königreich. Der Staatsgerichtshof (Riigikohus) in Estland und der Oberste Gerichtshof (Anþtato DikastÞrio) Zyperns erfüllen jeweils eine Doppelfunktion als oberstes Instanz- und Verfassungsgericht; in Griechenland nimmt der Oberste Sondergerichtshof (Anþtato Eidikü DikastÞrio) bestimmte verfassungsgerichtliche Aufgaben wahr. Schmitz/Krasniqi, EuR 2010, 189 (192; 195, Fn. 28 ff.), m.w. N. 335 Dies ist der Fall in Belgien, Bulgarien, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Rumänien und Zypern. Vgl. zu Italien Trocker, RabelsZ 66 (2002), 417 (439 f.). 336 Ebenso der Befund von von Sachsen Gessaphe, RabelsZ 66 (2002), 268 (290): „Es besteht eine Rechtsschutzlücke für die Erzwingung der Vorlage an den EuGH.“ 333

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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IV. Die Beachtung der Vorlagepflicht als Erfordernis eines fairen Verfahrens, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK Vor diesem Hintergrund gewinnt der subsidiäre Rechtsschutz durch den EGMR besonderes Gewicht für die Durchsetzung der europarechtlichen Vorlagepflicht337. Diesbezüglich dient das in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verbürgte Recht auf ein faires Gerichtsverfahren als wesentlicher konventionsrechtlicher Anknüpfungspunkt, wie im einzelnen zu zeigen sein wird. Einem Überblick über den Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK folgt dabei die Abhandlung der vorlagepflichtrelevanten Rechtsprechung von EKMR und EGMR. Insbesondere wird untersucht, ob in diesen Fällen jeweils ein Vorlagepflichtverstoß gegeben war und welche Wertungskriterien die Konventionsorgane ihrer Prüfung zugrundegelegt haben. Neben den spezifisch die Vorlagepflicht betreffenden Aspekten werden im Interesse einer kohärenten Darstellung auch sonstige verfahrens- und materiell-rechtliche Fragen mitbehandelt, die in den vorgestellten Fällen aufgeworfen werden und für die Durchsetzung des Europarechts von Bedeutung sein können. 1. Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK In den Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK kommt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit als Grundlage der Konvention deutlich zum Ausdruck338. Nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. a) Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen Der Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK ist also zunächst dann eröffnet, wenn ein Rechtsstreit über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen339 zugrunde liegt. Während es für das Bestehen eines Anspruchs genügt, dass dieser nach innerstaatlichem Recht inhaltlich vertretbar behauptet wird340, hat sich für die konventionsautonom vorzunehmende Bestimmung des zivilrechtlichen Cha337

Vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 39. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 2; dies., in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 1, 8; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 694 ff.; Rottmann/Laier, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 193 (194). 339 Engl. „civil rights and obligations“; frz. „droits et obligations de caractère civil“. 340 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 5 ff.; dies., in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 16; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/ Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6, Rn. 8; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 7; F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 21. 338

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Teil 2: Verfahrensrechte

rakters eine umfangreiche und dynamische Judikatur des EGMR herausgebildet, die eine allgemeine Definition vermeidet341. Vielmehr praktiziert der Gerichtshof eine rechtsinhaltsbezogene und einzelfallorientierte Wertung auf rechtsvergleichender Grundlage342. Danach lassen sich die zivilrechtlichen Ansprüche i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK im wesentlichen drei Fallgruppen zuordnen, die jeweils über den engen Bereich des klassischen Privatrechts hinausgehen343. Zur ersten Gruppe gehören Fälle, deren Entscheidung sich auf anerkannte zivilrechtliche Positionen auswirkt, wie z. B. auf das Eigentum, vertragliche Beziehungen im Schutzbereich der Berufs- und Erwerbsfreiheit oder auf die Freiheit des Liegenschaftsverkehrs (sog. „Auswirkungsjudikatur“)344. In der zweiten Fallgruppe entscheidet der EGMR anhand einer Abwägung, ob die privatrechtlichen oder die öffentlich-rechtlichen Aspekte des jeweiligen Anspruchs überwiegen (sog. „Abwägungsjudikatur“)345. Dies ist v. a. für Streitigkeiten über Leistungen aus der Sozialversicherung relevant, die generell in Anlehnung an das vertragliche Arbeitsentgelt wie der zugrundeliegende Arbeitsvertrag als zivilrechtlich qualifiziert werden346. Bei beamtenrechtlichen Rechtsverhältnissen wird die besondere Verbindung des Beamten zum Staat in die Abwägung einbezogen347, so dass Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht eingreift, wenn bereits der innerstaatliche Rechtsschutz in gerechtfertigter Weise ausgeschlossen ist348. Die auch als „Auffangtat341 Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 185, Rn. 630; Brett, S. 219; Miehsler/Vogler, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Art. 6 EMRK, Vorbem., S. 7; Miehsler, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Art. 6 EMRK, Rn. 1 ff., 56 ff.; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 146, Rn. 16 ff.; Corthaut/Vanneste, YEL 25 (2006), 475 (483). 342 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 9; J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung, S. 208 f. 343 Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 13 f. 344 EGMR, Urt. v. 27.07.2006, Coorplan-Jenni GmbH und Hascic ./. Österreich, Nr. 10523/02, Rn. 54 f.; EGMR, Urt. v. 27.07.2006, Jurisic und Collegium Mehrerau ./. Österreich, Nr. 62539/00, Rn. 56 f.; EGMR, Urt. v. 29.06.2006, Brunnthaler ./. Österreich, Nr. 45289/99, Rn. 32; EGMR, Urt. v. 24.02.2005, Nowicky ./. Österreich, Nr. 34983/02, Rn. 35 ff.; EGMR, Urt. v. 23.06.1981, Le Compte, Van Leuven und De Meyere ./. Belgien, Ser. A Vol. 43 (= EuGRZ 1981, 551), Rn. 44; EGMR, Urt. v. 28.06.1978, König ./. Deutschland, Ser. A Vol. 27 (= EuGRZ 1978, 406), Rn. 90; zum Schutz des guten Rufs EGMR, Urt. v. 06.11.2008, Leela Förderkreis e.V. et al. ./. Deutschland, Nr. 58911/00 (= NVwZ 2010, 177), Rn. 46 f. 345 F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 18; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 14; Mann/Kurth, GYIL 35 (1992), 81 (89). 346 EGMR, Urt. v. 29.05.1986, Feldbrugge ./. Niederlande, Ser. A Vol. 99, Rn. 39 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 11; F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 18; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 18. 347 EGMR (GK), Urt. v. 12.04.2006, Martinie ./. Frankreich, Rep. 2006-VI, Rn. 30; EGMR (GK), Urt. v. 27.06.2000, Frydlender ./. Frankreich, Rep. 2000-VII, Rn. 27 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 08.12.1999, Pellegrin ./. Frankreich, Rep. 1999-VIII, Rn. 64 ff.; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 14. 348 EGMR (GK), Urt. v. 19.04.2007, Vilho Eskelinen et al. ./. Finnland, Rep. 2007-II, Rn. 62; EGMR, Urt. v. 30.09.2008, Melek Sima Yılmaz ./. Türkei, Nr. 37829/05,

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bestand“ fungierende dritte Gruppe bilden schließlich Verfahren, die einen vermögenswerten Gegenstand oder ein vermögenswertes Recht betreffen349. Wegen des Vermögensbezugs stuft der EGMR auch die Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen als zivilrechtliche Streitigkeit ein350. b) Verfahren über strafrechtliche Anklagen Art. 6 EMRK unterliegen ebenfalls alle Verfahren über strafrechtliche Anklagen351. Auch hier interpretiert der EGMR die jeweiligen Begriffe autonom, so dass die Reichweite der Konventionsgarantie von den Entscheidungen des nationalen Gesetzgebers unabhängig bleibt352. Konkret bejaht der Gerichtshof den strafrechtlichen Charakter einer staatlichen Maßnahme, wenn eines der sog. „Engel-Kriterien“ erfüllt ist. Hiernach ist alternativ erstens auf die Einordnung der einschlägigen Vorschriften im nationalen Recht, zweitens auf die Natur des Vergehens oder drittens auf Art und Schwere der abstrakt angedrohten Sanktion abzustellen353. Wird das Geschehen innerstaatlich dem Kriminalstrafrecht zugeordnet, oder ist die Sanktion als überwiegend abschreckend und repressiv zu qualifizieren, ist regelmäßig von einem strafrechtlichen Sachverhalt auszugehen, sofern die Sanktionsvorschrift nicht nur – wie beim Disziplinarrecht für Soldaten oder Beamte – für eine spezielle Personengruppe mit besonderem Status gilt354. Eine Anklage i. S. d. Konvention ist schon dann gegeben, wenn eine amtliche Benachrichtigung über den Vorwurf einer Straftat erfolgt oder offizielle ErmittRn. 19; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 12; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/ 1, § 146, Rn. 33. 349 EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Paskhalidis et al. ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 30; EGMR, Urt. v. 26.03.1992, Editions Périscope ./. Frankreich, Ser. A Vol. 234-B, Rn. 40; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 13. 350 EGMR, Urt. v. 11.01.2007, Herbst ./. Deutschland, Nr. 20027/02 (= NVwZ 2008, 289), Rn. 55; EGMR, Urt. v. 02.07.2002, Hałka et al. ./. Polen, Nr. 71891/01, Rn. 18; EGMR, Urt. v. 29.05.1997, Georgiadis ./. Griechenland, Rep. 1997-III, Rn. 35; EGMR, Urt. v. 24.11.1997, Werner ./. Österreich, Rep. 1997-VII, Rn. 38 ff.; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 146, Rn. 22; J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung, S. 209. 351 Engl. „determination of a criminal charge“; frz. „bien-fondé de toute accusation pénale“. 352 EGMR, Urt. v. 28.06.1978, König ./. Deutschland, Ser. A Vol. 27 (= EuGRZ 1978, 406), Rn. 88; EGMR, Urt. v. 26.03.1982, Adolf ./. Österreich, Ser. A Vol. 49 (= EuGRZ 1982, 297), Rn. 30; EGMR, Urt. v. 23.09.1998, Malige ./. Frankreich, Rep. 1998-VII, Rn. 34; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 18; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 146, Rn. 46. 353 EGMR, Urt. v. 08.06.1976, Engel et al. ./. Niederlande, Ser. A Vol. 22 (= EuGRZ 1976, 221), Rn. 82 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 23.11.2006, Jussila ./. Finnland, Rep. 2006XIV, Rn. 30 ff.; F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 23 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 19 ff.; Brett, S. 237 ff.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 26 ff. 354 Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6, Rn. 24 ff.; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 146, Rn. 49 ff.; F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 25 ff.; alle m.w. N.

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Teil 2: Verfahrensrechte

lungsmaßnahmen von vergleichbarer Tragweite ergriffen werden355. Im Einzelfall ist stets die tatsächliche Betroffenheit des Beschuldigten maßgeblich, ohne dass es entscheidend auf eine formelle Anklageerhebung ankommt356. Entsprechend dem Wortlaut von Art. 6 Abs. 1 EMRK („determination“/„bien-fondé“) gelten die dort garantierten Rechte jedoch nur für diejenigen strafrechtlichen Verfahren, die gerade die Entscheidung über die Anklage selbst, also die Frage von Schuld oder Unschuld des Angeklagten, zum Gegenstand haben, so dass beispielsweise die gerichtliche Überprüfung der Untersuchungshaft nicht umfasst wird357. c) Zuordnungsgrundsätze Art. 6 Abs. 1 EMRK findet allgemein nur dann Anwendung, wenn der streitige Verfahrensgegenstand den oben genannten Materien zugeordnet werden kann. Auf die Art des Entscheidungsorgans oder das anwendbare Verfahrensrecht kommt es dabei grundsätzlich nicht an, so dass ggf. vorliegende verwaltungsbehördliche oder -gerichtliche Zuständigkeiten unschädlich sind358. So können die von Art. 6 EMRK erfassten Rechte selbst Gegenstand von Verfahren sein, in denen über generell-abstrakte Verwaltungsvorschriften wie Verordnungen oder Satzungen gestritten wird359. Gleichermaßen fallen verfassungsgerichtliche Verfahren in den Schutzbereich, wenn ihr Ausgang für zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen unmittelbar entscheidend ist oder wenn sie eine strafrechtliche Anklage betreffen360. Ein derartiger Bezug fehlt dagegen bei Rechtsstreitigkei355 EGMR, Urt. v. 27.02.1980, Deweer ./. Belgien, Ser. A Vol. 35 (= EuGRZ 1980, 667), Rn. 46; EGMR, Urt. v. 15.07.1982, Eckle ./. Deutschland, Ser. A Vol. 51 (= EuGRZ 1983, 371), Rn. 73 f.; EGMR, Urt. v. 21.02.1984, Öztürk ./. Deutschland, Ser. A Vol. 73, Rn. 55; EGMR, Urt. v. 30.03.2004, Merit ./. Ukraine, Nr. 66561/01, Rn. 70; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 27; F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 35 ff.; Brett, S. 242 f. 356 EGMR, Urt. v. 26.03.1982, Adolf ./. Österreich, Ser. A Vol. 49 (= EuGRZ 1982, 297), Rn. 30; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 27; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 41 f. 357 EGMR, Urt. v. 27.06.1968, Neumeister ./. Österreich, Ser. A Vol. 8, Rn. 23; EGMR, Urt. v. 06.11.1980, Guzzardi ./. Italien, Ser. A Vol. 39, Rn. 108; EGMR, Urt. v. 30.10.2003, Ganci ./. Italien, Rep. 2003-XI, Rn. 20 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 28; dies., in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 29; Vogler, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Art. 6 EMRK, Rn. 202; van Dijk, in: ders./van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 539; Brett, S. 243 f. 358 EGMR, Urt. v. 28.09.1995, Procola ./. Luxemburg, Ser. A Vol. 326, Rn. 38; EGMR, Urt. v. 26.03.1992, Editions Périscope ./. Frankreich, Ser. A Vol. 234-B, Rn. 40; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 18; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 146, Rn. 19; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 16. 359 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 17, m.w. N. 360 EGMR, Urt. v. 27.04.2004, Gorraiz Lizarraga et al. ./. Spanien, Rep. 2004-III, Rn. 45 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 16.09.1996, Süßmann ./. Deutschland, Rep. 1996-IV (= EuGRZ 1996, 514), Rn. 39 ff.; EGMR, Urt. v. 23.06.1993, Ruiz-Mateos ./. Spanien,

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ten, die typischerweise zum Kernbereich des öffentlichen Rechts zu zählen sind. Verfahren im Steuerrecht361, Staatsangehörigkeitsrecht362, Ausländer- und Asylrecht363, Wehr- und Ersatzdienstrecht364 und über Rechte politischer Natur (z. B. Wahlrecht, Parteienrecht, Versammlungsrecht)365 bleiben somit sehr weitgehend außerhalb der Garantiewirkung von Art. 6 Abs. 1 EMRK366. 2. Die Praxis der EKMR Beginnend in den 1980er Jahren war zunächst die EKMR mit verschiedenen Beschwerden befasst, in denen die Verweigerung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum EuGH gerügt wurde. a) Züchner ./. Deutschland (1987)367 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf., der deutsche Staatsangehörige Gerhard Züchner, unterlag am 18.08.1986 vor dem Amtsgericht Rosenheim mit einer gegen eine Versicherungsgesellschaft gerichteten Klage auf Erstattung von Anwaltsgebühren von rund 4.000,– DM (ca. 2.045,– A). Das Gericht befand, dass die betreffenden Gebühren Ser. A Vol. 262 (= EuGRZ 1993, 453), Rn. 59; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 146, Rn. 19; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 20 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 17; Giegerich, Verfassungsbeschwerde, S. 101 (127); Matscher, FS Steinberger, 1259 (1261 ff.); Malinverni, RUDH 1994, 389 (389 ff.). 361 EGMR (GK), Urt. v. 12.07.2001, Ferrazzini ./. Italien, Rep. 2001-VII, Rn. 24 ff., 29 ff.; EGMR, Entsch. v. 08.02.2000, Charalambos ./. Frankreich, Nr. 49210/99 (= RUDH 2000, 438); EGMR, Entsch. v. 20.04.1999, Vidacar S.A. & Opergrup S.L. ./. Spanien, Rep. 1999-V; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 59. Für das Zollrecht dürfte nichts anderes gelten; J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung, S. 211. 362 EKMR, Entsch. v. 09.07.1988, S. ./. Schweiz, DR 59, 256, Rn. 1. 363 EGMR (GK), Urt. v. 05.10.2000, Maaouia ./. Frankreich, Rep. 2000-X, Rn. 35 ff.; EGMR, Entsch. v. 16.09.2004, Ghiban ./. Deutschland, Nr. 11103/03 (= NVwZ 2005, 1046); EGMR, Urt. v. 08.06.2006, Lupsa ./. Rumänien, Rep. 2006-VII, Rn. 63; Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (782). 364 EKMR, Entsch. v. 08.05.1987, Nicolussi ./. Österreich, DR 52, 266, Rn. 1. 365 EGMR, Urt. v. 21.10.1997, Pierre-Bloch ./. Frankreich, Rep. 1997-VI, Rn. 49 ff.; EGMR, Entsch. v. 06.03.2003, Zˇdanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00; EGMR, Entsch. v. 03.10.2000, Refah Partisi et al. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a.; EGMR, Urt. v. 09.04. 2002, Yazar et al. ./. Türkei, Rep. 2002-II, Rn. 66 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 14, 17. 366 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 14; dies., in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 15; van Dijk, in: ders./van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 528 ff.; F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 17; Rottmann/Laier, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 193 (197). Nicht erfasst werden auch Verfahren über die Leistungsbewertung in Schul- und Hochschulprüfungen sowie im Staatsexamen; EGMR, Urt. v. 11.01.2007, Herbst ./. Deutschland, Nr. 20027/02 (= NVwZ 2008, 289), Rn. 54. 367 EKMR, Entsch. v. 02.03.1987, Züchner ./. Deutschland, Nr. 11402/85.

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Teil 2: Verfahrensrechte

vom bestehenden Vertrag nicht erfasst seien und der Fall keine europarechtliche Fragestellung aufwerfe, so dass ein Vorabentscheidungsverfahren nicht erforderlich sei. Die anschließende Verfassungsbeschwerde des Bf. wurde am 06.11.1986 zurückgewiesen. Das BVerfG verneinte eine Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters, da das Amtsgericht nicht zur Vorlage an den EuGH verpflichtet gewesen sei. Im übrigen erkannte es auch keine Anhaltspunkte für einen Verstoß des deutschen Versicherungsaufsichtsgesetzes gegen die europarechtlichen Grundfreiheiten oder Wettbewerbsregeln. bb) Entscheidung der EKMR Im Verfahren vor der EKMR rügte der Bf. u. a. eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK infolge der unterlassenen Vorlage durch das Amtsgericht. Die EKMR ließ in ihrer Entscheidung offen, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK dahingehend auszulegen sei, dass er die Befolgung innerstaatlicher Regeln über die Zuständigkeit besonderer Gerichte für bestimmte Angelegenheiten verlange368. Vorliegend könne ein Verstoß gegen ein solches Recht jedenfalls nicht festgestellt werden, da das Amtsgericht und das BVerfG nach sorgfältiger Prüfung der europarechtlichen Vorschriften keinen Anlass für eine Vorlage zum EuGH gesehen hätten369. Mangels Anzeichen für eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erklärte die EKMR die Beschwerde daher insoweit wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig370. cc) Bewertung Im Züchner-Fall wurde der Verzicht auf ein Vorabentscheidungsverfahren erstmals konventionsrechtlich gerügt. Das Amtsgericht stellte hier jedoch kein zur Vorlage verpflichtetes letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 177 Abs. 3 EWGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) dar, weil beim gegebenen Streitwert noch das Rechtsmittel der Berufung offenstand371. Im Hinblick auf eine etwaige Vorlagepflicht des BVerfG legt der dokumentierte Sachverhalt zumindest keine relevante ungeklärte Frage des Europarechts nahe. Anhand der verfügbaren Informationen ist eine Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht somit nicht nachweisbar. Die EKMR verzichtete auf eine eindeutige kontextbezogene Konkretisierung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und orientierte sich insbesondere auch nicht unmittel368

EKMR, a. a. O., Rn. 3. Ebenda. 370 Siehe Art. 27 Abs. 2 EMRK a. F.; jetzt Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. 371 Nach den seinerzeit anwendbaren §§ 511, 511 a ZPO a. F. war die Berufung gegen erstinstanzliche Endurteile in Rechtsstreitigkeiten über vermögensrechtliche Ansprüche zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 700,– DM überstieg. Zur gegenwärtigen Rechtslage siehe § 511 ZPO. 369

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bar an den europarechtlichen Vorlagepflichtkriterien, sondern stellte vielmehr auf die entsprechenden Ausführungen der nationalen Gerichte ab. Im Ergebnis dürfte die Zurückweisung der Menschenrechtsbeschwerde zwar der Europarechtslage entsprechen. Die wenig konturierte Prüfung durch die EKMR erlaubt allerdings noch keinen tragfähigen Rückschluss auf die generelle konventionsrechtliche Sanktionierbarkeit von Vorlagepflichtverstößen. b) Brighina ./. Deutschland (1990)372 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf. Filippo Brighina, ein 1958 geborener und seit 1963 in Deutschland lebender italienischer Staatsangehöriger, wurde 1986 in Konstanz wegen unerlaubter Einfuhr und unerlaubten Handeltreibens mit Rauschmitteln zu einer Freiheitsstrafe von über zwei Jahren verurteilt. Wenige Tage vor seiner vorzeitigen Haftentlassung auf Bewährung im August 1987 ordnete die Ausländerbehörde in Ludwigsburg die Ausweisung des Bf. an, der daraufhin Widerspruch einlegte, im vorläufigen Rechtsschutz aber vor dem VG Stuttgart, dem VGH Baden-Württemberg und dem BVerfG erfolglos blieb. In der Hauptsache wies der VGH Baden-Württemberg als Berufungsinstanz die Anfechtungsklage des Bf. am 12.02.1990 ab373, wobei er auf ein Vorabentscheidungsverfahren verzichtete, da die europarechtliche Rechtslage bereits durch den EuGH geklärt sei. Das EG-Recht gestatte eine verhältnismäßige Ausweisung, wenn die Gefahr einer neuerlichen Störung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit durch den Ausländer bestehe. Hier seien die hochrangigen Schutzgüter der Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit Dritter gefährdet. Denn der Bf. habe die illegale Drogeneinfuhr aus Indien federführend geplant und finanziert sowie mit erheblichen Mengen Haschisch (ausreichend für über 5.000 Dosen) zu dealen versucht. Angesichts der erheblichen kriminellen Energie und des vorherigen dreijährigen Drogenkonsums des Bf. sei trotz einer günstigen Sozialprognose hinreichende Wiederholungsgefahr gegeben. Eine unbillige Härte erkannte der VGH nicht, da der erwachsene Bf. nicht auf seine in Deutschland lebenden Familienangehörigen angewiesen sei und bereits 1982 und 1983 in Italien gelebt habe. Die Übernahme eines Friseursalons durch den Bf. sei erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids erfolgt und begründe daher kein schutzwürdiges Vertrauen auf eine dauerhafte gewerbliche Betätigung. Ob dem Bf. ein Anspruch auf Befristung der Ausweisung zustand, ließ der VGH offen. Die anschließende Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision blieb ohne Erfolg, da das BVerwG auch im

372

EKMR, Entsch. v. 02.07.1990, Brighina ./. Deutschland, Nr. 15271/89. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12.02.1990, Az.: 1 S 788/89, abrufbar unter: http://www.juris.de. 373

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Teil 2: Verfahrensrechte

Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH keine Rechtsfehler feststellte374; die Verfassungsbeschwerde nahm das BVerfG nicht zur Entscheidung an375. bb) Entscheidung der EKMR Vor der EKMR rügte der Bf. die Verletzung seines Rechts auf Privat- und Familienleben gemäß Art. 8 EMRK durch die Ausweisung, da seine Verwandten allesamt in Deutschland lebten und nach der Übernahme des Friseursalons keine weiteren Straftaten zu befürchten seien. Außerdem verstoße die Nichtvorlage zum EuGH gegen Art. 6 EMRK. Die EKMR führte zunächst aus, dass ein Recht, als Ausländer von Ausweisung verschont zu bleiben, als solches nicht aus der EMRK abgeleitet werden könne376. Sofern durch die Ausweisung des Bf. ein Eingriff in dessen Familienleben in Deutschland gegeben sei, diene dieser nach Art. 8 Abs. 2 EMRK der Aufrechterhaltung der Ordnung, der Verhütung von Straftaten sowie dem Schutz der Gesundheit und anderer Personen, da der Bf. wegen eines schweren Drogendelikts verurteilt worden sei. Das deutsche Gericht habe das Bestehen von Wiederholungsgefahr und die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung des Bf. im Hinblick auf seine persönliche und berufliche Situation sorgfältig geprüft und bejaht. Der Bf. sei unverheiratet und kinderlos und könne mit seinen in Deutschland lebenden Familienmitgliedern entweder postalischen oder telefonischen Kontakt halten oder sich von ihnen in Italien besuchen lassen. Im übrigen stehe es dem Bf. frei, die deutschen Behörden um eine zeitliche Begrenzung des Aufenthaltsverbots zu ersuchen. Die EKMR hielt die Ausweisung daher für verhältnismäßig und stufte einen damit verbundenen etwaigen Eingriff als nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ein. Bezüglich des ebenfalls gerügten Verstoßes gegen Art. 6 EMRK ließ die EKMR die Anwendbarkeit dieser Konventionsgarantie offen und stellte fest, dass sich aus den Vorschriften der Konvention kein Recht auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH ergebe377. Überdies habe der Bf. nicht nachgewiesen, dass er nach Europarecht über ein Recht auf Vorlage verfüge und ihm dieses in einer willkürlichen, Art. 6 EMRK verletzenden Weise verweigert worden sei. Schließlich wies die EKMR darauf hin, dass die nationalen Gerichte die Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt hätten.

374 BVerwG, Beschl. v. 15.05.1990, InfAuslR 1990, 293; außerdem abrufbar unter: http://www.juris.de. 375 BVerfG, Beschl. v. 13.12.1990, Az.: 2 BvR 1007/90, nicht veröffentlicht. 376 EKMR, Entsch. v. 02.07.1990, Brighina ./. Deutschland, Nr. 15271/89, Rn. 1; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 85; siehe auch Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, Art. 8 EMRK, Rn. 73. 377 EKMR, Entsch. v. 02.07.1990, Brighina ./. Deutschland, Nr. 15271/89, Rn. 2.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Im Ergebnis erklärte die EKMR die Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit i. S. d. Art. 27 Abs. 2 EMRK a. F. (vgl. jetzt Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK) für unzulässig. cc) Bewertung Als letztinstanzliches Fachgericht i. S. d. Europarechts fungierte hier das BVerwG, weil auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zu den ordentlichen Rechtsmitteln zu zählen ist378. Als italienischer Staatsangehöriger konnte sich der Bf. auf das Recht auf Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 52 EWGV (jetzt Art. 49 AEUV) berufen, weil er mit der Übernahme des Friseursalons eine dauerhafte selbstständige Tätigkeit in Deutschland jedenfalls anstrebte379. Mitgliedstaatliche Eingriffe in die Niederlassungsfreiheit wie die Ausweisung des Bf. müssen aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein (Art. 56 EWGV, jetzt Art. 52 AEUV). Im zugehörigen Richtlinienrecht ist festgelegt, dass für derartige Maßnahmen ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf, wobei strafrechtliche Verurteilungen allein noch nicht ohne weiteres ausreichen380, die zugehörigen Umstände aber ein gefährdendes Verhalten erkennen lassen können381. Der EuGH verlangt generell eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und an die ausgehend von den Umständen des Einzelfalls hohe Anforderungen zu stellen sind382. Die maßgeblichen europarechtlichen Voraussetzungen für eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung waren somit bereits durch den EuGH defi-

378

Siehe o., II. 1. a). Vgl. allgemein zum weiten sachlichen Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit Streinz/Müller-Graff, Art. 49 AEUV, Rn. 10 ff., insbesondere 12; Korte, in: Calliess/ Ruffert, Art. 49 AEUV, Rn. 12 ff.; Schwarze/Schlag, Art. 49 AEUV, Rn. 10 ff., 15 ff. 380 Art. 3 Abs. 1, 2 Richtlinie 64/221/EWG v. 25.02.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl. Nr. 56 v. 04.04.1964, S. 850; jetzt Art. 27 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, etc. (Freizügigkeitsrichtlinie), ABl. Nr. L 158 v. 30.04.2004, S. 77, berichtigt durch ABl. Nr. L 229 v. 29.06.2004, S. 35, ABl. Nr. L 204 v. 04.08.2007, S. 28. Siehe außerdem u., Teil 4, A. IV. 381 EuGH, Urt. v. 27.10.1977, Bouchereau, Rs. 30/77, Slg. 1977, 1999, Rn. 27 f.; EuGH, Urt. v. 19.01.1999, Calfa, Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11, Rn. 24. 382 EuGH, Urt. v. 27.10.1977, Bouchereau, Rs. 30/77, Slg. 1977, 1999, Rn. 27 ff., 33 ff.; EuGH, Urt. v. 26.02.1975, Bonsignore ./. Oberstadtdirektor der Stadt Köln, Rs. 67/74, Slg. 1975, 297, Rn. 6; EuGH, Urt. v. 19.01.1999, Calfa, Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11, Rn. 23 ff.; EuGH, Urt. v. 10.02.2000, Nazli et al., Rs. C-340/97, Slg. 2000, I-957, Rn. 57 f.; Korte, in: Calliess/Ruffert, Art. 52 AEUV, Rn. 8 ff. 379

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Teil 2: Verfahrensrechte

niert worden (acte éclairé) und wurden auch im Ausgangsverfahren von VGH und BVerwG ausdrücklich zugrundegelegt. Weitere vorlagebedürftige Auslegungsfragen stellten sich hier also nicht. Die Anwendung dieser Kriterien auf den jeweiligen Einzelfall kommt ohnehin nicht als Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens in Betracht, sondern obliegt den nationalen Stellen, die dabei die Bedeutung des Freizügigkeitsgrundsatzes zu beachten haben383. Wie die EKMR zu Art. 8 EMRK zutreffend festgestellt hat, haben die deutschen Gerichte eine sorgfältige Prüfung vorgenommen, in der alle relevanten Umstände Berücksichtigung fanden. Die insbesondere auf den Umgang des Bf. mit Rauschmitteln gestützte und damit verhaltensbasierte Gefahreneinschätzung wurde jedenfalls den seinerzeit geltenden europarechtlichen Anforderungen384 gerecht. Im Ergebnis war das BVerwG folglich ungeachtet seiner Letztinstanzlichkeit nicht zu einer Vorlage an den EuGH verpflichtet. Angesichts dessen war die vollständige Zurückweisung der Beschwerde durch die EKMR sowohl aus konventions- als auch aus europarechtlicher Sicht angezeigt. Bereits die von der EKMR nicht abschließend beantwortete Frage nach der Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK wäre wohl gerade im Lichte der späteren Judikatur des EGMR zu verneinen gewesen. Denn die Ausweisung von Ausländern zeitigt zwar zahlreiche Auswirkungen auf deren zivilrechtliche Rechtsverhältnisse, gehört aber doch zur Kategorie der Entscheidungen über Aufenthalt und Abschiebung, die den unmittelbaren Kernbereich hoheitlicher Betätigung des Staates betreffen385. Hinsichtlich des Bestehens der europarechtlichen Vorlagepflicht nahm die EKMR zwar wiederum keine eigene Prüfung am Maßstab des Europarechts vor, bezog sich aber doch auf die Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung durch die nationalen Gerichte. Festzuhalten bleibt schließlich, dass die EKMR im Brighina-Fall für die Annahme einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erstmals eine willkürliche Vorlageverweigerung voraussetzte, wenn auch ohne nähere Spezifizierung. Damit wurde eine erhöhte Schwelle für den Erfolg einer entsprechenden Beschwerde angedeutet. Gleichzeitig erscheint es praktisch ausgeschlossen, dass trotz europarechtskonformer Urteile der nationalen Gerichte ein auf die Nichtvorlage zum EuGH gegründeter Verfahrensrechtsverstoß nach der EMRK festgestellt werden könnte.

383 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.10.1977, Bouchereau, Rs. 30/77, Slg. 1977, 1999, Rn. 29 f. Siehe auch o., I. 1., 2. a). 384 Nach Maßgabe von Art. 28 der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG ist der Schutz der Unionsbürger vor Ausweisung inzwischen weiter erhöht worden. 385 Siehe schon o., 1. c); EGMR (GK), Urt. v. 05.10.2000, Maaouia ./. Frankreich, Rep. 2000-X, Rn. 35 ff.; EGMR, Entsch. v. 16.09.2004, Ghiban ./. Deutschland, Nr. 11103/03 (= NVwZ 2005, 1046); EGMR, Urt. v. 08.06.2006, Lupsa ./. Rumänien, Rep. 2006-VII, Rn. 63; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6, Rn. 22.

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c) Société Divagsa ./. Spanien (1993)386 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Die Bf., eine in Spanien ansässige Gesellschaft, war neben anderen Anbietern über 20 Jahre lang für die Trinkwasserversorgung der Stadt Abrera (Provinz Barcelona) verantwortlich. Am 30.01.1986 übertrug die Regionalregierung von Katalonien der Stadtverwaltung von Abrera per Dekret ein Monopol für die städtische Wasserversorgung, woraufhin die Stadtverwaltung am 21.03.1986 ein Zwangsenteignungsverfahren gegen die Bf. einleitete. Gegen beide Entscheidungen ging die Bf. verwaltungsgerichtlich vor und beantragte die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH über die Frage, ob die Einrichtung eines neuen Monopols in einem Mitgliedstaat mit der Regelung der staatlichen Handelsmonopole in Art. 37 EWGV (jetzt Art. 37 AEUV) vereinbar sei. Nachdem die Bf. vor der erstinstanzlichen Audiencia Territorial Barcelona gescheitert war, wurden ihre Anträge auch vom Tribunal Supremo in mehreren, zwischen September 1989 und März 1991 ergangenen Entscheidungen zurückgewiesen. Das387 Tribunal Supremo lehnte eine Vorlage zum EuGH mit der Begründung ab, dass die europarechtliche Rechtslage durch diesen insoweit geklärt sei, dass Dienstleistungsmonopole nicht von Art. 37 EWGV erfasst würden. Sein Anwendungsbereich beschränke sich auf solche Monopole, die den freien Warenverkehr zum Nachteil importierter Produkte behinderten, was hier nicht der Fall sei. Die Bf. rügte dann in einer Verfassungsbeschwerde vor dem Tribunal Constitucional erfolglos die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 24, 14 span. Verf.)388. bb) Entscheidung der EKMR Die Bf. machte vor der EKMR die Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend, da ihre Argumente zum europarechtlichen Verbot von Monopolen aufgrund des unterbliebenen Vorabentscheidungsersuchens nicht in gebotener Weise gewürdigt worden seien.

386

EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274. Das Wort „tribunal“ besitzt in den meisten romanischen Sprachen, auf die in dieser Untersuchung Bezug genommen wird, maskulines Genus. Im Rahmen des deutschen Textes wird es zur Förderung der Lesbarkeit als Neutrum verwendet, wie es auch der Praxis des EuGH entspricht (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 19.09.2000, Ampafrance und Sanofi, verb. Rs. C-177/99 und C-181/99, Slg. 2000, I-7013, Rn. 1, 26 f.; EuGH, Urt. v. 22.12.2010, Tankreederei I SA ./. Directeur de l’administration des contributions directes, Rs. C-287/10, Slg. 2010, I-14233, Rn. 8 f.). 388 Siehe allgemein bereits o., III. 3. c). In seiner Entscheidung vom 16.12.1991 führte das Tribunal Constitucional aus, dass weder das Vorabentscheidungsersuchen den Parteien als Rechtsmittel zur Verfügung stehe noch der Erfolg anderer Beschwerden in Parallelverfahren eine Diskriminierung der Bf. bedeute. 387

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Teil 2: Verfahrensrechte

In ihrer Entscheidung ging die EKMR von der europarechtlichen Vorlagepflicht nach Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) aus und wies auf die Ausnahme bei klarer Rechtslage (acte clair) hin, auf die sich das Tribunal Supremo bezogen habe389. Erneut verneinte die EKMR die Existenz eines absoluten Konventionsrechts auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens, hielt es aber unter gewissen Umständen für möglich, dass die Verweigerung der Vorlage durch ein letztinstanzliches nationales Gericht den in Art. 6 Abs. 1 EMRK statuierten Grundsatz der Fairness des Verfahrens verletzen könne, insbesondere wenn sie willkürlich erscheine. Hiervon sei vorliegend indes nicht auszugehen, weil das Tribunal Supremo die Nichtvorlage ausführlich begründet und sich dabei auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH gestützt habe. Dementsprechend hielt die EKMR die Beschwerde für offensichtlich unbegründet390 und wies sie als unzulässig zurück. cc) Bewertung Das Tribunal Supremo und das Tribunal Constitucional waren letztinstanzliche Gerichte i. S. d. Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV). Die hier zugrundeliegende Frage des materiellen Europarechts betraf einen möglichen Verstoß gegen Art. 37 EWGV (jetzt Art. 37 AEUV) durch die Etablierung des Wasserversorgungsmonopols. Nach dieser Vorschrift formen die Mitgliedstaaten ihre staatlichen Handelsmonopole derart um, dass jede Diskriminierung in den Versorgungs- und Absatzbedingungen zwischen den Angehörigen der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist, und unterlassen alle entgegenstehenden neuen Maßnahmen391. Damit knüpft Art. 37 EWGV/AEUV entsprechend seiner systematischen Stellung an den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit an, so dass sich auch das Handelsmonopol stets auf die Ein- oder Ausfuhr von Waren beziehen muss392. Reine Dienstleistungsmonopole, die ihrerseits keine handelsmonopolisierenden Auswirkungen haben, fallen deshalb nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH nicht unter Art. 37 EWGV/AEUV393. Da bei der üblicherweise im regionalen Umkreis organisierten Wasserversorgung kein derartiger Bezug 389 EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274 (277/ 279), Rn. 1. 390 Siehe Art. 27 Abs. 2 EMRK a. F.; jetzt Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK. 391 Dies gilt für sämtliche Einrichtungen, durch die ein Mitgliedstaat die Einfuhr oder Ausfuhr zwischen den Mitgliedstaaten kontrolliert, lenkt oder merklich beeinflusst, sowie für die vom Staat auf andere Rechtsträger übertragenen Monopole (Abs. 1 UAbs. 2). 392 EuGH, Urt. v. 15.07.1964, Costa ./. E.N.E.L., Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 (1275 f.); EuGH, Urt. v. 27.04.1994, Almelo et al., Rs. C-393/92, Slg. 1994, I-1477, Rn. 27; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 37 AEUV, Rn. 4 ff. 393 EuGH, Urt. v. 30.04.1974, Sacchi, Rs. 155/73, Slg. 1974, 409, Rn. 9 f.; EuGH, Urt. v. 28.06.1983, Amélioration de l’élevage ./. Mialocq, Rs. 271/81, Slg. 1983, 2057, Rn. 7 ff.; EuGH, Urt. v. 04.05.1988, Bodson ./. Pompes funèbres des régions libérées, Rs. 30/87, Slg. 1988, 2479, Rn. 10 ff.; EuGH, Urt. v. 07.12.1995, Strafverfahren gegen

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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zum grenzüberschreitenden Warenhandel ersichtlich ist, ging das Tribunal Supremo also zutreffend von einer hinreichend klaren Rechtslage im Europarecht aus, so dass keine Vorlagepflicht bestand. In der Société-Divagsa-Entscheidung hat die EKMR die Einhaltung der europarechtlichen Vorlagepflicht erstmals dem konkreten Schutzbereich des in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Rechts auf ein faires Verfahren zugeordnet. Eine Verletzung dieser Garantie soll zwar nur unter besonderen Umständen anzunehmen sein, doch scheint eine willkürliche Vorlageverweigerung nach der gewählten Formulierung („en particulier“/„particularly“) nicht als einzig möglicher Anwendungsfall angesehen zu werden. Vorliegend griff die EKMR nun auch ausdrücklich auf die Acte-clair-Judikatur des EuGH zurück. Angesichts der Klarheit der Europarechtslage wurde Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die unterlassene Vorlage aber jedenfalls nicht verletzt. d) F. S. und N. S. ./. Frankreich (1993)394 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Nach regelmäßigen Besuchen auf dem Straßburger Flohmarkt wurden die Bf., das deutsche Ehepaar S., am 26.03.1983 auf einer elsässischen Autobahn kontrolliert. In ihrem Wagen wurden Edelsteine und Schmuck sowie größere Mengen Bargeld, bei einer anschließenden Durchsuchung ihrer Wohnung in Deutschland dann mindestens 50 weitere Schmuckstücke gefunden. Da das französische Recht für den Handel mit Schmuck und weiteren gesondert bezeichneten Gütern spezielle Restriktionen vorsah, wurden den Bf. im folgenden Verfahren vor den französischen Gerichten u. a. der Besitz und die undeklarierte Ausfuhr von Schmuck ohne Ursprungs- und Einfuhrbelege395 sowie die Abwicklung grenzüberschreitender Zahlungen ohne Einschaltung eines zugelassenen Vermittlers396 vorgeworfen. In zweiter Instanz verurteilte die Cour d’appel Colmar die Bf. am 28.09. 1987 zu vier Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und verschiedenen Geldstrafen, die teils der Abwendung der Beschlagnahme dienten. Die auch auf Art. 6 Abs. 2 EMRK und die europäische Kapitalverkehrsfreiheit gestützte Revision wurde von der Cour de cassation am 13.03.1989 zurückgewiesen. Insbesondere seien die Beschränkungen des Zahlungsverkehrs mit dem Europarecht vereinbar, da die Kommission Frankreich in der Entscheidung 68/406/EWG bestimmte Schutzmaßnahmen gestattet habe.

Gervais et al., Rs. C-17/94, Slg. 1995, I-4353, Rn. 36; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 37 AEUV, Rn. 6; Streinz/Schroeder, Art. 37 AEUV, Rn. 7. 394 EKMR, Entsch. v. 28.06.1993, F. S. und N. S. ./. Frankreich, DR 75, 39. 395 Vgl. den damaligen Art. 215 Code des douanes. 396 Art. 1 Dekret v. 24.11.1968.

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Teil 2: Verfahrensrechte

bb) Entscheidung der EKMR Im Verfahren vor der EKMR machten die Bf. eine Verletzung der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 EMRK geltend, da nach französischem Recht bei fehlenden Nachweisen zur Warenherkunft die unerlaubte Einfuhr durch den Besitzer vermutet werde. Außerdem ständen die einschlägigen französischen Strafvorschriften nicht mit den Anforderungen des Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege) in Einklang. In diesem Kontext rügten die Bf. auch, dass die Cour de cassation den EuGH nicht mit der Frage befasst habe, ob die Strafbarkeit der undeklarierten Warenausfuhr gegen den EWGV verstoße. Zu Art. 6 Abs. 2 EMRK wies die EKMR zunächst darauf hin, dass eine Strafandrohung prinzipiell auch an objektive Tatsachen ohne Vorliegen von Vorsatz oder Fahrlässigkeit anknüpfen könne397. Die Staaten seien aber durch Art. 6 Abs. 2 EMRK gehalten, Vermutungen tatsächlicher oder rechtlicher Natur in vernünftiger Weise zu begrenzen und die Verteidigungsrechte zu wahren398. Hier stelle bereits der Besitz der Juwelen eine Straftat dar, wenn nicht ihr rechtmäßiger Ursprung bewiesen werde. Da die Bf. keine entlastenden Fakten vorgebracht hätten, scheide eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK aus. Im Hinblick auf Art. 7 EMRK stellte die EKMR fest, dass die Erlaubnis zur Zahlung in fremder Währung nach französischem Recht nur für gutgläubige Reisende gelte und hier daher nicht zum Tragen komme399. Die Rüge der unzureichenden Bestimmtheit der Finanzstrafvorschrift sei ferner vor den nationalen Gerichten nicht vorgebracht worden und somit mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig400. Den die unterbliebene Vorlage betreffenden Teil der Beschwerde behandelte die EKMR wie in ihrer vorherigen Rechtsprechung am Maßstab des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK)401. Die für die Feststellung einer Verletzung dieser Garantie notwendigen besonderen Umstände wie etwa Willkür seien hier jedoch nicht gegeben, da die Cour de cassation die Europarechtskonformität der streitigen Beschränkungen des Zahlungsverkehrs überprüft habe. Damit wurden alle von der Bf. erhobenen Rügen im Ergebnis für unzulässig erklärt.

397 EKMR, Entsch. v. 28.06.1993, F. S. und N. S. ./. Frankreich, DR 75, 39 (46); unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 07.10.1988, Salabiaku ./. Frankreich, Ser. A Vol. 141-A, Rn. 27. 398 EKMR, Entsch. v. 28.06.1993, F. S. und N. S. ./. Frankreich, a. a. O.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 07.10.1988, Salabiaku ./. Frankreich, Ser. A Vol. 141-A, Rn. 28; EGMR, Urt. v. 25.09.1992, Pham Hoang ./. Frankreich, Ser. A Vol. 243, Rn. 33. 399 EKMR, Entsch. v. 28.06.1993, F. S. und N. S. ./. Frankreich, DR 75, 39 (47). 400 Art. 26 EMRK a. F.; jetzt Art. 35 Abs. 1 EMRK. 401 EKMR, Entsch. v. 28.06.1993, F. S. und N. S. ./. Frankreich, DR 75, 39 (47 f.).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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cc) Bewertung Vorliegend war die Cour de cassation letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 177 Abs. 3 EWGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV). Aus europarechtlicher Sicht kommt es daher darauf an, ob im Ausgangsverfahren relevante Fragen des Europarechts zu klären waren. Die Vereinbarkeit der beiden streitgegenständlichen französischen Regelungen mit dem Europarecht hängt von Auslegung und Gültigkeit der Entscheidung der Kommission von 1968 ab, mit der Frankreich auf der Grundlage von Art. 108 Abs. 3 EWGV (entsprechend jetzt Art. 143 Abs. 3 AEUV) zu Schutzmaßnahmen ermächtigt wurde, um seine Zahlungsbilanzschwierigkeiten zu bekämpfen402. Hiernach darf Frankreich sowohl Beschränkungen des Zahlungsverkehrs als auch die Domizilierung von Wareneinfuhr- und Ausfuhrgeschäften vorschreiben; strafrechtliche Maßnahmen sind nicht gesondert erwähnt. Obwohl diese Ermächtigung nach Art. 1 der Entscheidung nur vorübergehend erfolgen sollte403, ist sie mangels Aufhebung durch die Kommission noch immer in Kraft. Zu den durch diese Regelung aufgeworfenen Auslegungs- und Gültigkeitsfragen ist, soweit ersichtlich, keine einschlägige Rechtsprechung des EuGH oder nationaler Gerichte verfügbar. Aufgrund der speziellen Sachlage dürften auch die Voraussetzungen eines acte clair kaum zu bejahen sein, so dass die Cour de cassation der Vorlagepflicht unterlag. Die Nichtvorlage führte damit zu einem Verstoß gegen Art. 177 Abs. 3 EWGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV). Die vor der EKMR erhobene Nichtvorlagerüge der Bf. bezog sich nunmehr auf das Verbot der undeklarierten Warenausfuhr, offenbar aber nicht auf die Vereinbarkeit der Zahlungsverkehrsbeschränkungen mit der Kapitalverkehrsfreiheit, die noch vor der Cour de cassation thematisiert worden war. Die Entscheidung der EKMR orientierte sich insgesamt stark an den Feststellungen der französischen Gerichte, was angesichts der Komplexität der Materie nicht überraschend ist, aber die Feststellung einer Konventionsverletzung letztlich erschwert haben dürfte. Die Prüfung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht war erkennbar auf das Willkürkriterium ausgerichtet, so dass sich für die EKMR eine eigenständige vertiefte Auseinandersetzung mit den Vorfragen des Europarechts erübrigte. Da die Willkürgrenze nach Einschätzung der EKMR nicht erreicht war, kam es nach Konventionsrecht zu keiner Beanstandung.

402 Entsch. 68/406/EWG der Kommission v. 04.12.1968, ABl. Nr. L 295 v. 07.12. 1968, S. 10. 403 Siehe jetzt auch explizit Art. 143 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV: „Ausnahmeregelung“. Wegen des Gefährdungspotentials für den Gemeinsamen Markt muss die Ermächtigung zu einseitigen Schutzmaßnahmen generell ultima ratio bleiben; Streinz/Kempen, Art. 143 AEUV, Rn. 8.

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Teil 2: Verfahrensrechte

e) Spiele ./. Niederlande (1997)404 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf. Willem Arend Spiele, ein niederländischer Staatsangehöriger aus De Lutte (Niederlande), betrieb gemeinsam mit seinem Bruder eine Rinderfarm. Seit der Einleitung eines Vorermittlungsverfahrens am 28.08.1991 standen beide im Verdacht, auf der Farm Stoffe mit sympathomimetischer Wirkung405 zu verwenden. In der Folge verboten die Behörden den Farmbetreibern, die Rinder von der Farm zu entfernen, durchsuchten die Farm und beschlagnahmten 46 Bullen sowie Tierarzneimittel. Entnommene Proben wurden positiv auf Clenbuterol getestet. Hierzu gab der Bf. an, den Rindern auf tierärztlichen Rat hin ein clenbuterolhaltiges Medikament gegeben zu haben, obwohl sie älter als 14 Wochen waren. Jenseits dieser Altersgrenze war es nach niederländischem Recht verboten, Rindern Clenbuterol zu verabreichen oder solche Rinder zu halten, zu kaufen oder zu verkaufen406. Am 05.11.1992 verhängte die Arrondissementsrechtbank Almelo gegen den Bf. daher vier Geldstrafen in Höhe von insgesamt 3.500,– NLG (rund 1.588,– A). Im Berufungsverfahren vor dem Gerechtshof Arnhem trug der Bf. vor, dass das zugrundeliegende Verbot gegen die Richtlinien 81/602/EWG407, 88/146/EWG408 und 86/469/EWG409 in der jeweiligen Auslegung durch den EuGH verstoße. Der Gerechtshof hob das erstinstanzliche Urteil am 02.05.1994 auf und verurteilte den Bf. erneut, ließ die Einziehung der beschlagnahmten Tiere und Substanzen aber als Sanktion genügen. Die genannten Richtlinien seien in Bezug auf das Verbot von Clenbuterol nicht einschlägig, so dass sich eine Vorlage an den EuGH erübrige. Am 24.10.1995 bestätigte schließlich der Hoge Raad als Revisionsinstanz diese Argumentation weitgehend und korrigierte lediglich die strafrechtliche Einordnung eines der Delikte. bb) Entscheidung der EKMR Vor der EKMR rügte der Bf., dass seine Verurteilung gegen Art. 6 und 10 EMRK verstoße, weil sie europarechtswidrig und ohne Befassung des EuGH er404

EKMR, Entsch. v. 22.10.1997, Spiele ./. Niederlande, Nr. 31467/96. Diese ist durch eine Stimulation des Sympathikus, eines Teils des vegetativen Nervensystems, gekennzeichnet. 406 Verordening stoffen met sympathico mimetische werking v. 09.01.1991. 407 Richtlinie 81/602/EWG des Rates v. 31.07.1981 über ein Verbot von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung und von Stoffen mit thyreostatischer Wirkung, ABl. Nr. L 222 v. 07.08.1981, S. 32. 408 Richtlinie 88/146/EWG des Rates v. 07.03.1988 zum Verbot des Gebrauchs von bestimmten Stoffen mit hormonaler Wirkung im Tierbereich, ABl. Nr. L 70 v. 16.03. 1998, S. 16. 409 Richtlinie 86/469/EWG des Rates v. 16.09.1986 über die Untersuchung von Tieren und von frischem Fleisch auf Rückstände, ABl. Nr. L 275 v. 26.09.1986, S. 36. 405

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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gangen sei. Da das ihm vorgeworfene Verhalten vom Europarecht gedeckt sei, fehle es zudem an einer strafbaren Handlung i. S. d. Art. 7 EMRK. Zur Nichtvorlagerüge bekräftigte die EKMR zunächst ihre Rechtsprechung, dass sie für die Behandlung tatsächlicher oder rechtlicher Fehler der nationalen Gerichte nur zuständig sei, wenn diese zu einer Verletzung von Garantien der EMRK geführt haben könnten410. Weiterhin betonte sie abermals, dass die EMRK kein Recht auf Vorlage zum EuGH gewähre, eine unterlassene Vorlage aber bei Willkür das Recht auf ein faires Verfahren verletzen könne411. Hier hätten die nationalen Gerichte den Vortrag des Bf. zur Vereinbarkeit des Verbots mit EG-Recht geprüft und begründet zurückgewiesen; auch die Begründung des Vorlageverzichts sei nicht willkürlich gewesen. Unter diesen Umständen gebe es keine Anhaltspunkte für eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK); die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) sei ohnehin nicht betroffen. Zum in Art. 7 EMRK verbürgten Grundsatz nulla poena sine lege bekräftigte die EKMR die Gebote hinreichender Zugänglichkeit und Bestimmtheit individualrechtsbeschränkender Vorschriften sowie das Rückwirkungsverbot im Strafrecht412. Hier sei die Strafbarkeit des Verhaltens des Bf. nach niederländischem Recht unstreitig, wohingegen der Bf. die Vereinbarkeit der Strafbestimmung mit dem Europarecht erfolglos angegriffen habe. Unter erneutem Hinweis auf ihre begrenzte Zuständigkeit lehnte die EKMR daher eine Verletzung von Art. 7 EMRK ab. Sämtliche Rügen des Bf. wurden somit wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt. cc) Bewertung Letztinstanzliches Gericht nach Art. 177 Abs. 3 EGV a. F. (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) war im nationalen Ausgangsverfahren der Hoge Raad. Europarechtlich stellte sich die Frage der Vereinbarkeit des niederländischen Clenbuterolverbots für Kälber mit den Vorgaben der Richtlinien 81/602/EWG, 88/146/ EWG und 86/469/EWG. Gemäß der Richtlinie 81/602/EWG hatten die Mitgliedstaaten die Verabfolgung von Stilbenen und Thyreostatika sowie von Stoffen mit östrogener, androgener oder gestagener Wirkung an Nutztiere zu verbieten (Art. 2 f.). Im Hinblick auf die drei letztgenannten, hormonal wirkenden Stoffgruppen durften Ausnah410 EKMR, Entsch. v. 22.10.1997, Spiele ./. Niederlande, Nr. 31467/96, Rn. 1; unter Verweis auf EKMR, Entsch. v. 18.10.1995, Honsik ./. Österreich, DR 83, 77. 411 EKMR, Entsch. v. 22.10.1997, Spiele ./. Niederlande, Nr. 31467/96, Rn. 1; unter Berufung auf EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274; EKMR, Entsch. v. 28.06.1993, F. S. und N. S. ./. Frankreich, DR 75, 39. 412 EKMR, Entsch. v. 22.10.1997, Spiele ./. Niederlande, Nr. 31467/96, Rn. 2; unter Verweis auf EKMR, Entsch. v. 03.12.1993, Putz ./. Österreich, DR 76, 51.

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Teil 2: Verfahrensrechte

men u. a. zur therapeutischen Behandlung zugelassen werden (Art. 4). Die beiden anderen Richtlinien enthielten weitere Modalitäten zu Durchführung und Überwachung der genannten Verbote. Nach der Rechtsprechung des EuGH waren auch darüber hinausgehende nationale Verbotsregelungen in Bezug auf die von den Richtlinien erfassten Stoffe zulässig, sofern sie nicht die Anwendung der richtlinienrechtlich vorgesehenen Ausnahmen verhinderten413. Für die Beurteilung der Zulässigkeit des niederländischen Verbots nach den Richtlinien war folglich zunächst zu klären, ob Clenbuterol einer der drei Stoffgruppen mit hormonaler Wirkung zuzuordnen war. Da die Richtlinien direkt auf die pharmakologischen Eigenschaften abstellten, ergab sich hier keine vom EuGH zu beantwortende Auslegungsfrage, sondern es war vielmehr zu prüfen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendung der Richtlinien im konkreten Fall vorlagen. Dies ist Aufgabe der nationalen Gerichte, die den zugrundeliegenden Sachverhalt ggf. mittels Beweiserhebung unter Beteiligung von Sachverständigen festzustellen und unter das Europarecht zu subsumieren haben414. Der sachliche Befund der niederländischen Gerichte, dass Clenbuterol nicht von den genannten Stoffgruppen erfasst werde, war daher kompetenzgemäß und wird ferner nachträglich durch den Umstand bestätigt, dass auf europäischer Ebene erst durch die Richtlinie 96/22/EG415 ein weitgehendes Verbot von b-Agonisten, zu denen auch Clenbuterol zählt416, eingeführt wurde. Nach alledem waren die vorherigen Richtlinien auf den Einsatz von Clenbuterol nicht anwendbar, so dass es den Mitgliedstaaten im Rahmen des allgemeinen Europarechts freistand, diesbezüglich eigene Verbotsvorschriften zu erlassen. Da vorliegend keine Anhaltspunkte für eine etwaige Unvereinbarkeit der niederländischen Verbotsregelung mit sonstigen europarechtlichen Vorgaben, insbesondere der einen grenzüberschreitenden Bezug voraussetzenden Warenverkehrsfreiheit417, ersichtlich sind, bestand kein Bedarf für eine Vorlage des Hoge Raad an den EuGH. Ein vorlagepflichtwidriges Verhalten der niederländischen Gerichte lässt sich mithin nicht feststellen.

413 EuGH, Urt. v. 08.10.1992, Strafverfahren gegen Van der Tas, Rs. C-143/91, Slg. 1992, I-5045, Rn. 23 ff. 414 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.02.2006, CLT-UFA, Rs. C-253/03, Slg. 2006, I-1831 (= EuZW 2006, 312), Rn. 35 f.; siehe auch o., I. 2. a), m.w. N. 415 Richtlinie 96/22/EG des Rates v. 29.04.1996 über das Verbot der Verwendung bestimmter Stoffe mit hormonaler bzw. thyreostatischer Wirkung und von b-Agonisten in der tierischen Erzeugung und zur Aufhebung der Richtlinien 81/602/EWG, 88/146/ EWG und 88/299/EWG, ABl. Nr. L 125 v. 23.05.1996, S. 3; geändert durch die Richtlinie 2008/97/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.11.2008, ABl. Nr. L 318 v. 28.11.2008, S. 9. 416 Vgl. insbesondere zu den chemisch-pharmakologischen Eigenschaften Schmädicke, S. 19 ff. 417 Art. 30 ff. EGV Maastrichter Fassung; jetzt Art. 34 ff. AEUV; siehe auch Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 AEUV, Rn. 30 ff.; Schwarze/Becker, Art. 34 AEUV, Rn. 19.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Dementsprechend führte auch die konventionsrechtliche Prüfung nicht zu einer Beanstandung seitens der EKMR. In dogmatischer Hinsicht ist hervorzuheben, dass die EKMR im Kontext von Art. 6 und 7 EMRK nun auch ihre auf die Feststellung originärer Konventionsverletzungen begrenzte Zuständigkeit anführte, um bei europarechtlichen Bezügen eine eingeschränkte Kontrollintensität zu begründen. Zu Art. 7 EMRK, der hier angesichts des strafrechtlichen Hintergrundes relevant wurde, entwickelte die EKMR indes keinen dem Willkürerfordernis bei Art. 6 EMRK vergleichbaren generellen Maßstab418. f) Skandinavisk Metallförmedling AB ./. Schweden (1998)419 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Nach einer Steuerprüfung bei der im Goldhandel tätigen Bf., einer schwedischen Gesellschaft mit beschränkter Haftung, beanstandeten die schwedischen Behörden 1989 und 1990 die Absetzung verschiedener Beträge von der Umsatzsteuer und froren daraufhin Vermögenswerte der Bf. in Höhe von 890.000,– SEK420 ein; weiterhin wurden Zusatzsteuern und Säumniszuschläge festgesetzt. Aufgrund einer berechneten Gesamtsteuerschuld von ca. 4,2 Mio. SEK wurde die Bf. 1992 gerichtlich für insolvent erklärt. Die Bf. ging ihrerseits mit zahlreichen Rechtsmitteln und prozessrechtlichen Anträgen vor den Verwaltungsgerichten und den ordentlichen Gerichten gegen die Veranschlagung der Steuer vor. Am 21.06.1995 entschied das für die Berufung zuständige Verwaltungsgericht (Kammarrätten) in Göteborg erstmals teilweise zugunsten der Bf. Nachdem der Oberste Verwaltungsgerichtshof (Regeringsrätten) die Vollstreckung dieses Urteils ausgesetzt hatte, lehnte die Bf. dessen Richter als befangen ab und verlangte hierzu u. a. erfolglos die Einholung eines Vorabentscheidungsurteils des EuGH. Am 03.07.1996 bestätigte der Oberste Verwaltungsgerichtshof letztinstanzlich die Korrektheit der Steuerpraxis der Bf. und annullierte die behördlichen Entscheidungen, verweigerte aber den Ersatz der Prozesskosten der Bf., der im Gesetz nur ausnahmsweise vorgesehen sei. 1997 wurde auch die Insolvenzanordnung aufgehoben. bb) Entscheidung der EKMR Mit ihrer Menschenrechtsbeschwerde machte die Bf. verschiedene Verstöße gegen Art. 6 EMRK geltend, insbesondere in Bezug auf die Fairness und Dauer des Verfahrens, die Unschuldsvermutung, den Grundsatz der Waffengleichheit und den Zugang zu Gericht. Art. 6 EMRK sei anwendbar, da das Verfahren auf418

Vgl. weiterführend zur Rechtsprechung des EGMR u., 3. g) cc). EKMR, Entsch. v. 09.09.1998, Skandinavisk Metallförmedling AB ./. Schweden, Nr. 34805/97. 420 1 SEK entspricht etwa 0,1037 A (Wechselkurs v. 21.04.2017). 419

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Teil 2: Verfahrensrechte

grund der Zusatzsteuern auch strafrechtliche Elemente enthalte. Außerdem rügte sie die Verletzung von Art. 1 ZP 1 wegen der verweigerten Kostenerstattung, von Art. 3, 4 Abs. 2, Art. 7, 13, 14 und 17 EMRK sowie unter Verweis auf Art. 60 EMRK a. F. (jetzt Art. 53 EMRK) die Verletzung von Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) und von Art. F des Maastrichter EUV421. Die EKMR äußerte sich nicht zur Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK, sondern erklärte alle Rügen aus anderen Gründen für unzulässig422. Soweit die Bf. im Prozess obsiegt hatte, lehnte die EMRK deren Opfereigenschaft im Hinblick auf die behaupteten Verfahrensdefizite ab. Die Nichterstattung der Prozesskosten entspreche der nationalen Gesetzeslage und könne nicht als willkürlich oder unvernünftig angesehen werden; die Dauer des Verfahrens gehe v. a. auf das Verhalten der Bf. zurück. Der beantragte Ausschluss der Richter wegen Befangenheit liege außerhalb des Schutzbereichs von Art. 6 EMRK. Schließlich verneinte die EKMR ihre Zuständigkeit für die Behandlung der direkt auf den EWGV und den EUV a. F. gestützten Rügen, da sich ihr Auftrag nach Maßgabe von Art. 19 EMRK a. F. darauf beschränke sicherzustellen, dass die Konventionsstaaten ihre Verpflichtungen aus der EMRK einhielten423. Auch eine Verletzung der sonst gerügten Garantien der EMRK sei nicht erkennbar. Die Beschwerde blieb mithin insgesamt ohne Erfolg. cc) Bewertung Auch wenn die zugrundeliegenden schwedischen Gerichtsverfahren im Kern die Abzugsfähigkeit bestimmter Beträge von der Umsatzsteuer und damit typische Fragen des klassischen Steuerrechts betrafen, erscheint es nach den EngelKriterien424 vertretbar, aufgrund der punitiv-repressiven Wirkung der verhängten Zusatzsteuern eine strafrechtliche Komponente zu bejahen, die den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK eröffnet. Die EKMR legte sich diesbezüglich nicht fest, sah aber jedenfalls für den Aspekt der Richterablehnung wegen Befangenheit, in Bezug auf den die Bf. ein Vorabentscheidungsverfahren angeregt hatte, keine hinreichende Relevanz für Art. 6 EMRK. Ohnehin erweist sich die Beschwerde hinsichtlich des europarechtlichen Kontexts eindeutig als ungenügend substantiiert. Weder hat die Bf. eine entscheidungserhebliche Fragestellung formuliert, noch ergibt sich aus dem Sachverhalt ein Anhaltspunkt für die Anwendbarkeit europarechtlicher Bestimmungen etwa steuer- oder grundrechtlicher Art, die eine Vorlagepflicht begründen könnten.

421 Gemeint war wahrscheinlich die Bestimmung des Art. F Abs. 2 EUV a. F. zur Achtung der Grundrechte (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV). 422 EKMR, Entsch. v. 09.09.1998, Skandinavisk Metallförmedling AB ./. Schweden, Nr. 34805/97, Rn. 1 ff. 423 EKMR, a. a. O., Rn. 5. 424 Siehe o., 1. b).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Bemerkenswert ist ferner, dass die Bf. vor der EKMR direkt die Verletzung von Normen des EWGV und EUV gerügt hat. Als Bindeglied zur EMRK zog sie Art. 60 EMRK a. F. (jetzt Art. 53 EMRK) heran, demzufolge die EMRK nicht so auszulegen ist, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen oder in einer anderen Übereinkunft eines Konventionsstaates anerkannt werden. Die EKMR hat nun hier am Beispiel der europarechtlichen Vorlagepflicht klargestellt, dass diese Unberührtheitsklausel eben nicht bewirkt, dass konventionsfremde günstigere Regelungen zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab der Konventionsorgane werden425. Vor dem Hintergrund des Art. 19 EMRK muss sich die Rüge einer Konventionsverletzung vielmehr stets auf eine Garantie der EMRK beziehen, auch aus Art. 32 EMRK ergibt sich nichts anderes426. In Straßburg kann die Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht also nicht direkt als Verletzung des Europarechts, sondern lediglich unter Berufung auf die Konvention, vornehmlich Art. 6 EMRK, geltend gemacht werden427. Sofern ein solcher Bezugspunkt besteht, kann der EGMR indes grundsätzlich die inhaltlich einschlägigen Rechte der EMRK im Lichte konventionsfremder Verbürgungen auch aus dem Europarecht rechtsschutzfördernd auslegen und so zumindest mittelbar den letzteren über die EMRK zur Durchsetzung verhelfen428. 3. Die Fälle vor dem EGMR Seit 1999 hat dann der EGMR Menschenrechtsbeschwerden behandelt, die auf die Durchsetzung der europarechtlichen Vorlagepflicht gerichtet waren. a) Desmots ./. Frankreich (1999)429 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf., ein Notar französischer Staatsangehörigkeit, beantragte am 26.04. 1988 die Verlegung seines Notariats innerhalb des Departements Ille-et-Vilaine (Bretagne) sowie die Einrichtung eines Zweitsitzes. Nach negativen Stellungnahmen der Notarkammer und der Kommission für die Niederlassung der Notare (commission de localisation des offices de notaire) lehnte der seinerzeit nach

425

Siehe bereits o., Teil 1, B. I., m.w. N. Siehe o., Teil 1, B. I. 427 Vgl. auch Munding, S. 469. 428 Siehe im einzelnen o., Teil 1, B. II. Zu internationalen Verträgen als „Inspirationsquelle“ des Straßburger Gerichtshofs siehe EGMR, Urt. v. 21.07.2005, Mihailov ./. Bulgarien, Nr. 52367/99, Rn. 33; EGMR, Entsch. v. 14.05.2002, Zehnalová und Zehnal ./. Tschechische Republik, Rep. 2002-V. 429 EGMR, Teilentsch. v. 23.03.1999, Desmots ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 41358/98. 426

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Teil 2: Verfahrensrechte

französischem Recht zuständige Justizminister (garde des sceaux)430 den Antrag am 18.10.1988 ab. Dabei machte er sich die Begründung der genannten Kommission zu eigen, dass zum einen die Amtsausübung des Bf. nicht gefährdet sei und das zwischen den (Notar-)Kanzleien der Region bestehende Gleichgewicht bewahrt werden müsse sowie zum anderen eine etwaige Änderung der örtlichen Notarverteilung in ihrer Gesamtheit zu betrachten sei. Eine Klage des Bf. gegen diese Entscheidung wurde vom Tribunal administratif Rennes am 10.03.1993 abgewiesen. In der Berufung hob der Conseil d’État dieses Urteil zwar am 17.12. 1997 wegen Verstoßes gegen seine eigene exklusive Zuständigkeit auf, folgte dem Begehren des Bf. aber gleichwohl nicht. Die Entscheidung des Justizministers beruhe auf einer im ganzen fehlerfreien inhaltlichen Beurteilung und sei daher rechtmäßig. Der Anwendung der innerstaatlichen Vorschriften zum Notariat stehe auch die Niederlassungsfreiheit des Art. 52 E(W)GV a. F. (jetzt Art. 49 AEUV) nicht entgegen. Da er insoweit keine erheblichen Auslegungsfragen erkannte, hielt der Conseil d’État die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH nicht für notwendig. bb) Verfahren vor dem EGMR In Straßburg rügte der Bf. zunächst als Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), dass der Conseil d’État seine Entscheidung v. a. bezüglich der europarechtlichen Niederlassungsfreiheit unzureichend begründet und darüber hinaus seine Pflicht zur Vorlage an den EuGH missachtet habe. Im übrigen machte der Bf. eine überlange Verfahrensdauer sowie Verstöße gegen Art. 14 EMRK und Art. 1 ZP 1 geltend. Der EGMR hielt die vom Conseil d’État gegebene Begründung für ausreichend und bezog sich hinsichtlich der unterbliebenen Vorlage direkt auf die Rechtsprechung des EuGH zum Wegfall der Vorlagepflicht bei klarer Rechtslage431. Weiterhin übernahm der Gerichtshof die Rechtsprechung der EKMR, dass die Nichtvorlage eines letztinstanzlichen Gerichts unter bestimmten Umständen, insbesondere bei Willkür, das Recht auf ein faires Verfahren verletzen könne432. Angesichts der Ausführungen des Conseil d’État stufte der EGMR den Verzicht auf die Vorlage hier jedoch nicht als willkürlich ein. Die übrigen Rügen wertete der Gerichtshof ebenfalls als offensichtlich unbegründet; lediglich der die 430 Art. 2-6 Décret n ë 71-942 relatif aux créations, transferts et suppressions d’offices de notaires v. 26.11.1971, geändert durch Décret n ë 86-728 v. 29.04.1986. Seit dem 01.01.1998 ist nach Art. 8 Décret n ë 97-1188 v. 24.12.1997 der Generalstaatsanwalt (procureur général) bei der Cour d’appel zuständig, in deren Gerichtsbezirk das Notariat liegt. 431 EGMR, Teilentsch. v. 23.03.1999, Desmots ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 41358/98, Rn. 2. 432 EGMR, a. a. O.; unter Berufung auf EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274 (277).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Verfahrensdauer betreffende Teil der Beschwerde wurde vertagt und 2001 für zulässig erklärt433. Aufgrund der vermögensrechtlichen Auswirkungen der beantragten Sitzverlegung ging der EGMR dabei vom Vorliegen einer Streitigkeit über ein Recht zivilrechtlichen Charakters aus. Im Urteil zur Begründetheit stellte der EGMR dann 2002 die Verletzung des Rechts auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist (Art. 6 Abs. 1 EMRK) fest und sprach dem Bf. eine Entschädigung in Höhe von 6.000,– A zu434. cc) Bewertung Im Desmots-Fall stand europarechtlich v. a. die Niederlassungsfreiheit im Raum, in Bezug auf die eine Vorlagepflicht des letztinstanzlich befassten Conseil d’État streitig war. Nach Maßgabe der Art. 52 ff. E(W)GV a. F. (jetzt Art. 49 ff. AEUV) sind die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verboten. Hier übte der Bf. als Notar zwar eine selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung auf unbestimmte Zeit tatsächlich aus435. Weil es sich um einen rein französischen Sachverhalt ohne Berührung mit dem EU-Ausland handelte, fehlte jedoch der grenzüberschreitende Bezug zwischen den Mitgliedstaaten, der nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH für die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit stets erforderlich ist436. Der Sache nach ist der Conseil d’État dieser Rechtsansicht des EuGH beigetreten und hat eine Vorlage ungeachtet dessen unterlassen, dass in der Literatur mitunter ein Verzicht auf das Erfordernis der Grenzüberschreitung bei der Niederlassungsfreiheit befürwortet wird437. Dieses Vorgehen des Conseil d’État stand mit Art. 177 Abs. 3 EGV a. F. 433 EGMR, endg. Entsch. v. 23.10.2001, Desmots ./. Frankreich (Zulässigkeit), Rep. 2001-XI. 434 EGMR, Urt. v. 02.07.2002, Desmots ./. Frankreich, Nr. 41358/98. Das Urteil erging insoweit mit 6:1 Stimmen; Richterin Mularoni verneinte in einem abweichenden Sondervotum die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK. 435 Zur Definition des Begriffs der Niederlassung vgl. EuGH, Urt. v. 25.07.1991, The Queen ./. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame, Rs. C-221/89, Slg. 1991, I-3905, Rn. 20; Streinz/Müller-Graff, Art. 49 AEUV, Rn. 11 ff.; Korte, in: Calliess/Ruffert, Art. 49 AEUV, Rn. 25 ff. 436 EuGH, Urt. v. 08.12.1987, Ministère public ./. Gauchard, Rs. 20/87, Slg. 1987, 4879, Rn. 10 ff.; EuGH, Urt. v. 20.04.1988, Strafverfahren gegen Bekaert, Rs. 204/87, Slg. 1988, 2029, Rn. 10 ff.; EuGH, Urt. v. 28.01.1992, López Brea und Hidalgo Palacios, Rs. C-330/90 und C-331/90, Slg. 1992, I-323, Rn. 7 ff.; EuGH, Urt. v. 16.11.1995, Openbaar Ministerie ./. van Buynder, Rs. C-152/94, Slg. 1995, I-3981, Rn. 10 ff.; EuGH, Urt. v. 16.01.1997, USSL ./. INAIL, Rs. C-134/95, Slg. 1997, I-195, Rn. 19 ff.; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 7, Rn. 23, 29; Khan/Eisenhut, in: Vedder/ Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 49 AEUV, Rn. 4; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 18 AEUV, Rn. 30 ff.; Streinz/Müller-Graff, Art. 49 AEUV, Rn. 20, 27, 55; Schwarze/Schlag, Art. 49 AEUV, Rn. 42; vgl. auch u., m) dd). 437 Eberhartinger, EWS 1997, 43 (50 f.); Kewenig, JZ 1990, 20 (23); Lackhoff, S. 443; Reich, EuZW 1991, 203 (204 f.). Jedoch entspricht der grenzüberschreitende

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(jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) in Einklang, da die europarechtliche Rechtslage bereits durch den EuGH geklärt war (acte éclairé). Folglich schied die Niederlassungsfreiheit als für den Rechtsstreit entscheidungserhebliche Norm aus, so dass alle weiteren potentiellen Rechtsfragen diesbezüglich ebenfalls nicht mehr zu einer Vorlagepflicht führen konnten. Bei seiner konventionsrechtlichen Beurteilung übernahm der EGMR hier vollständig die schon von der EKMR verwendeten Wertungskriterien. Unter den gegebenen Umständen ließ sich aus der Nichtvorlage indes keine Beeinträchtigung des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) ableiten. b) Schweighofer et al. ./. Österreich (1999)438 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Nach strafrechtlichen Ermittlungen von sechs bis neun Jahren Dauer wurden die Bf., die österreichischen Staatsangehörigen Schweighofer, Rauch, Heinemann und Mach, am 22.12.1994 vom Landesgericht für Strafsachen Wien als Täter oder Gehilfen wegen Abgabenhinterziehung und Schmuggels439 sowie wegen Verstoßes gegen das Devisenrecht nach § 24 österr. DevG a. F.440 zu kombinierten Freiheits- und Geldstrafen verurteilt, zwei von ihnen darüber hinaus auch wegen Urkundenfälschung441. Nach den Feststellungen des Gerichts hatten die Bf. zusammen mit weiteren Mitangeklagten zwischen 1980 und 1986 ein verzweigtes Netzwerk zum großangelegten Export von Goldmünzen in die Schweiz betrieben. Dabei hatten sie die Ausfuhren deklariert und die Rückzahlung der bei Exportgütern nicht zu entrichtenden Umsatzsteuer beantragt, aber die Münzen anschließend ohne Deklaration wieder nach Österreich eingeführt, um die nun fällige Einfuhrumsatzsteuer zu umgehen. Außerdem hatten sie illegal österreichische Währung in die Schweiz exportiert und Bankkonten durch Verfälschung von Geldzuflüssen aus der Schweiz manipuliert. Insgesamt waren dem österreichischen Staat durch diese Praktiken Einnahmen in Höhe von etwa 8,57 Mrd. ATS (ca. 622,7 Mio. A) entgangen. Nach ihrer Verurteilung legten die Bf. jeweils Bezug dem Wortlaut und Zweck der Bestimmungen zur Niederlassungsfreiheit sowie dem Binnenmarktkonzept gemäß Art. 26 Abs. 2 AEUV; siehe Müller-Graff, EuR Beiheft 1 2002, 7 (36 f.). Die daraus resultierende ungünstigere Behandlung reiner Inlandsfälle (sog. Inländerdiskriminierung) unterliegt allein der Beurteilung nach mitgliedstaatlichem Recht; Streinz/Streinz, Art. 18 AEUV, Rn. 62 ff.; Korte, in: Calliess/Ruffert, Art. 49 AEUV, Rn. 22 f.; Schwarze/Schlag, Art. 49 AEUV, Rn. 42; Hammerl, S. 161 ff.; a. A. Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 205 ff., 339 ff., 525 ff. 438 EGMR, Teilentsch. v. 24.08.1999, Schweighofer et al. ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/97, 37579/97. 439 § 33 Abs. 2 lit. a, § 35 Abs. 1 österr. Finanzstrafgesetz. 440 Österr. Bundesgesetz über die Devisenbewirtschaftung v. 25.07.1946, österr. BGBl. 1946, S. 162. 441 § 223 Abs. 2 österr. StGB.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung beim Obersten Gerichtshof (OGH) ein, rügten dort Verstöße gegen das österreichische Recht und beantragten die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH. Hierzu bezogen sie sich auf § 61 österr. StGB, dessen S. 2 eine Rückwirkung von Strafgesetzen vorsieht, die für den Täter günstiger sind als das bei Tatbegehung geltende Recht. Nach dieser Regelung sei § 24 österr. DevG a. F. zur Zeit der Verurteilung nicht mehr anwendbar gewesen, da die Österreichische Nationalbank den Devisenmarkt 1991 liberalisiert habe und Österreich 1994 dem EWR sowie 1995 der EU beigetreten sei. Der OGH wies die Rechtsmittel der Bf. am 14.11.1996 zurück, bestätigte die Rechtmäßigkeit der Verurteilung und lehnte eine Vorlage zum EuGH ab. Da § 24 österr. DevG a. F. über die Sanktionierung von Verstößen gegen devisenrechtliche Vorschriften auch die wechselnden Ziele der Geldpolitik fördere, gebe es hier nach ständiger Rechtsprechung keinen Raum für die Anwendung der Günstigkeitsregel des § 61 österr. StGB. Das Europarecht sei für Österreich ohnehin erst nach Erlass des letztinstanzlichen Urteils in Kraft getreten und habe daher vorliegend keine direkte Relevanz. Im übrigen seien auch Mitgliedstaaten des EWR und der EU grundsätzlich berechtigt, Maßnahmen zur Devisenkontrolle zu ergreifen. bb) Verfahren vor dem EGMR Mit ihren Beschwerden wandten sich die Bf. unter Berufung auf Art. 6 Abs. 1 EMRK gegen die Dauer des Strafverfahrens und die unterbliebene Befassung des EuGH mit der Frage, ob das damalige österr. DevG durch den EU-Beitritt Österreichs unanwendbar geworden sei. In diesem Zusammenhang rügten zwei Bf. auch, dass der OGH nicht als auf Gesetz beruhendes Gericht angesehen werden könne, während sich die übrigen Bf. auf Art. 7 EMRK beriefen. Darüber hinaus monierten jeweils einige der Bf. eine falsche Rechtsgrundlage im nationalen Recht (Art. 6 Abs. 1, Art. 7 EMRK), eine übermäßige Höhe der Geldstrafe (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und eine unvollständige Beweisaufnahme (Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK). In seiner einstimmig ergangenen Teilentscheidung von 1999 verband der EGMR die vier Beschwerden zu einem Verfahren und vertagte die Behandlung der Rüge wegen überlanger Verfahrensdauer. Hinsichtlich der Nichtvorlage zum EuGH hielt der Straßburger Gerichtshof einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK bei Vorliegen von Willkür grundsätzlich für möglich, verneinte diese aber hier aufgrund der detaillierten Urteilsbegründung des OGH442. Auch eine Verletzung von Art. 7 EMRK (nulla poena sine lege) scheide aus, da die Devisengeschäfte der Bf. zur Zeit ihrer Begehung 442 EGMR, Teilentsch. v. 24.08.1999, Schweighofer et al. ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/97, 37579/97, pdf-Dok. S. 9, lit. a; unter Berufung auf EKMR, Entsch. v. 28.06.1993, F. S. und N. S. ./. Frankreich, DR 75, 39; EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274.

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Teil 2: Verfahrensrechte

nach § 24 österr. DevG a. F. unstreitig strafbar gewesen seien und § 61 österr. StGB laut innerstaatlicher Rechtsprechung nicht eingreife443. Die verbliebenen Rügen hielt der EGMR ebenfalls wegen offensichtlicher Unbegründetheit i. S. d. Art. 35 Abs. 3 EMRK für unzulässig444. Nachdem der Gerichtshof die Rüge überlanger Verfahrensdauer 2000 zugelassen hatte445, stellte er im Urteil zur Begründetheit von 2001 in Bezug auf die Dauer der Ermittlungsverfahren einstimmig einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest und sprach den Bf. finanzielle Entschädigung für entstandenen immateriellen Schaden sowie für Kosten und Auslagen zu446. cc) Bewertung Vorliegend war der OGH letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 177 Abs. 3 EGV a. F. (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV). Die von den Bf. aufgeworfene europarechtliche Fragestellung, ob § 24 österr. DevG a. F. durch den EU-Beitritt Österreichs unanwendbar geworden sei, betrifft u. a. die Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 73 b Abs. 1 EGV (Maastrichter Fassung; jetzt Art. 63 Abs. 1 AEUV) und lässt sich weder anhand von Rechtsprechung des EuGH noch sonst ohne genauere Prüfung eindeutig beantworten, so dass insoweit keine klare Rechtslage gegeben ist. Für den Ausgangsrechtsstreit war diese Frage indes nur relevant, wenn sich das für Österreich am 01.01.1995 in Kraft getretene Europarecht überhaupt noch auf die Verurteilung der Bf. für in den 1980er Jahren begangene Straftaten auswirken konnte. Ein solcher Zusammenhang ließe sich vor dem Hintergrund fehlender Rückwirkung des Europarechts447 allein mittels des nationalen Rechts, hier über die Günstigkeitsregel des § 61 S. 2 österr. StGB, herstellen448. Da der zuständige OGH diese aber für unanwendbar erklärt hat, kam dem Europarecht für die Strafverfahren der Bf. mithin keine Entscheidungserheblichkeit mehr zu. Folglich war auch eine europarechtliche Vorlagepflicht des OGH nicht gegeben. Auch im Schweighofer-Fall überprüfte der EGMR die Nichtvorlage zum EuGH ausschließlich anhand des Rechts auf ein faires Verfahren, ohne auf das von den Bf. angeführte Erfordernis des auf Gesetz beruhenden Gerichts einzuge443 EGMR, Teilentsch. v. 24.08.1999, Schweighofer et al. ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/97, 37579/97, pdf-Dok. S. 9, lit. b. 444 Näher EGMR, a. a. O., pdf-Dok. S. 9 ff., Rn. 4 ff. 445 EGMR, endg. Entsch. v. 29.08.2000, Schweighofer et al. ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/97, 37579/97. 446 EGMR, Urt. v. 09.10.2001, Schweighofer et al. ./. Österreich, Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/97, 37579/97. 447 Vgl. insoweit EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Ynos, Rs. C-302/04, Slg. 2006, I-371, Rn. 36 ff.; EuGH, Urt. v. 15.06.1999, Andersson und Wåkerås-Andersson, Rs. C-321/ 97, Slg. 1999, I-3551, Rn. 31 ff. 448 Vgl. EuGH, Urt. v. 18.10.1990, Dzodzi ./. Belgischer Staat, verb. Rs. 297/88 und C-197/89, Slg. 1990, I-3763, Rn. 36 ff., 41 f.; EuGH, Urt. v. 17.07.1997, Giloy ./. Hauptzollamt Frankfurt am Main-Ost, Rs. C-130/95, Slg. 1997, I-4291, Rn. 23.

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hen, das ebenfalls in Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgt ist. Im Vergleich zur zitierten Rechtsprechung der EKMR zeigt sich jedoch eine leichte Modifikation des Prüfungsansatzes durch den EGMR. Denn die willkürliche Vorlageverweigerung, die die Konventionsorgane zuvor gleichsam als Regelbeispiel für besondere Umstände genannt hatten, die eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK begründen könnten449, wurde vom EGMR nunmehr als notwendige, aber noch nicht zwingend hinreichende Bedingung für die Annahme eines Verstoßes eingeordnet450. Das in Rede stehende Urteil des OGH untersuchte der Straßburger Gerichtshof ausschließlich auf Willkür, die allerdings nicht feststellbar war. c) Dotta ./. Italien (1999)451 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren452 Die Bf. Irene Dotta als Inhaberin der Gesellschaft Gambol Mode beantragte am 07.05.1997 beim Instanzgericht (Pretore) in Bologna einen Mahnbescheid (decreto ingiuntivo) über rund 5,85 Mio. ITL (ca. 3.021,– A) gegen die spanische Gesellschaft Canedo S.L. mit Sitz in Spanien, die den Anspruch per Brief anerkannt hatte. Da ein Mahnbescheid nach Art. 633 ital. ZPO (Codice di procedura civile) nur ergehen darf, wenn die Zustellung innerhalb Italiens erfolgen soll, beantragte die Bf. hilfsweise die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zu der Frage, ob diese Beschränkung mit den europarechtlichen Bestimmungen über den Gemeinsamen Markt, den freien Warenverkehr und das Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit vereinbar sei. Das Gericht lehnte mit unanfechtbarer Entscheidung vom 25.09.1997 beide Anträge ab. Das Gemeinschaftsrecht betreffe nicht den Bereich des Verfahrensrechts und enthalte auch kein Verbot der Diskriminierung aufgrund des (Wohn-)Sitzes; außerdem führe die Unzulässigkeit des Mahnverfahrens nicht zu einer Rechtsschutzlücke, da das ordentliche Verfahren offenstehe. bb) Verfahren vor dem EGMR Mit ihrer Menschenrechtsbeschwerde rügte die Bf. die Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) durch Verstoß des Instanzgerichts gegen die Pflicht zur Vorlage an den EuGH. Der EGMR führte mit Art. 177 Abs. 3 EGV a. F. (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) und der Acte-clair-Doktrin zunächst die Grundlagen der europarechtlichen Vorla449

Vgl. o., a) bb), cc); 2. c) bb), cc). EGMR, Teilentsch. v. 24.08.1999, Schweighofer et al. ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/97, 37579/97, pdf-Dok. S. 9, lit. a: „refusal [. . .] may infringe the fairness of proceedings if it appears to be arbitrary“. 451 EGMR, Entsch. v. 07.09.1999, Dotta ./. Italien, Nr. 38399/97. 452 Frz. Zusammenfassung bei Spielmann, FS Cohen-Jonathan Vol. II, 1447 (1462). 450

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Teil 2: Verfahrensrechte

gepflicht an und bekräftigte sodann die Rechtsprechung der EKMR, dass eine unterlassene Vorlage unter besonderen Umständen, insbesondere bei Willkür, Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzen könne453. Hier ergebe sich aus der Begründung des Instanzgerichts, dass die von der Bf. geltend gemachten Regeln des Gemeinschaftsrechts entweder nicht einschlägig seien (wie die Vorschriften zum Gemeinsamen Markt und zum freien Warenverkehr) oder kein Auslegungsproblem aufwürfen (wie Art. 6 EGV a. F.; jetzt Art. 18 AEUV), zumal die ital. ZPO nicht an die Staatsangehörigkeit, sondern an den (Wohn-)Sitz des Schuldners anknüpfe454. Der Gerichtshof bejahte daher die Fairness des Verfahrens und wies die Beschwerde nach Art. 35 Abs. 3, 4 EMRK wegen offensichtlicher Unbegründetheit als unzulässig zurück. cc) Bewertung Aus Sicht des Europarechts war das Instanzgericht nach Maßgabe des Art. 177 Abs. 3 EGV a. F. (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) aufgrund der Unanfechtbarkeit seiner Entscheidung als letztinstanzliches Gericht zu qualifizieren und damit grundsätzlich zur Vorlage an den EuGH verpflichtet. Gegenwärtig wäre die Konstellation des Ausgangsrechtsstreits nach den speziellen Vorschriften über die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen zu beurteilen, die auch die grenzüberschreitende Zustellung von Schriftstücken und die Beseitigung von Hindernissen für die reibungslose Abwicklung von Zivilverfahren zum Gegenstand haben (Art. 81 Abs. 2 lit. b, f AEUV). Hier ist jedoch das 1997 geltende Europarecht zugrunde zu legen, das diese Materie noch als Teil der intergouvernementalen Zusammenarbeit im Rahmen der die Bereiche Justiz und Inneres umfassenden sog. „Dritten Säule“ (Art. K.1 Nr. 6 EUV Maastrichter Fassung) behandelte455. Die Vorschriften des damaligen EGV blieben davon allerdings unberührt (Art. M EUV a. F.) und konnten demnach weiterhin zur Anwendung gelangen. Während eine auf die Staatsangehörigkeit zurückgehende Schlechterbehandlung in der Tat nicht schlüssig zu begründen sein dürfte456, könnten die nach der ital. ZPO im Vergleich zu reinen Inlandsfällen ungünstigeren Bedingungen für die Durchsetzung von Ansprüchen gegen im EU-Ausland ansässige Schuldner bei Geschäften im grenzüberschreitenden Handel grundfreiheitliche Relevanz besitzen. Mit Blick auf die Warenverkehrsfreiheit stellt sich etwa die Frage, ob die italienische Regelung des Mahnbescheidwesens als Maßnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Ausfuhrbeschränkung nach 453 EGMR, Entsch. v. 07.09.1999, Dotta ./. Italien, Nr. 38399/97, pdf-Dok. S. 3; unter Berufung auf EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274 (277). 454 EGMR, Entsch. v. 07.09.1999, Dotta ./. Italien, Nr. 38399/97, pdf-Dok. S. 3 f. 455 Eine Zuständigkeit des EuGH bestand insoweit nicht, Art. L EUV a. F. 456 Art. 633 ital. ZPO knüpft nicht an die Staatsangehörigkeit des Gläubigers an und begünstigt sogar den im Ausland ansässigen Schuldner.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Art. 34 ff. EGV a. F. (jetzt Art. 35 f. AEUV) rechtfertigungsbedürftig und ggf. -fähig war. Der EuGH setzt hierfür regelmäßig eine spezifische Beschränkung der Ausfuhrströme voraus, die zu einer unterschiedlichen Behandlung von Binnen- und Außenhandel führt457, hat aber nicht direkt zur Einstufung justizieller Hindernisse geurteilt. Angesichts der speziellen und umfangreichen Einzelfalljudikatur des EuGH458 bleibt diesbezüglich durchaus Raum für vernünftige Auslegungszweifel. Obgleich auch gute Gründe für die Europarechtskonformität der ital. ZPO sprechen459, genügt jedenfalls die pauschale Feststellung der Unanwendbarkeit des EGV durch das italienische Instanzgericht nicht den Anforderungen an die Annahme eines acte clair. Da keine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der relevanten Normen des EGV stattfand, sind die Besonderheiten des Europarechts nicht hinreichend berücksichtigt worden. Auch eine abweichende Beurteilung durch andere Gerichte lässt sich auf dieser Grundlage nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit ausschließen. Unabhängig von seiner materiell-rechtlichen Vertretbarkeit ist das Urteil des Instanzgerichts somit unter Verstoß gegen die Vorlagepflicht und damit kompetenzwidrig ergangen. Der EGMR formulierte in seiner Entscheidung zwar wieder den ursprünglichen, Willkür nicht zwingend voraussetzenden Prüfungsmaßstab der EKMR und stellte damit nicht auf seine tendenziell engere Rechtsprechung im SchweighoferFall460 ab. Bei der Einzelfallbewertung ging der Gerichtshof von der Argumentation des Instanzgerichts aus und bestätigte diese inhaltlich, ohne allerdings eine nähere Analyse vorzunehmen. Nach Einschätzung des EGMR wurde die geforderte willkürgleiche Schwelle nicht überschritten, so dass eine Sanktionierung der Vorlagepflichtverletzung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK unterblieb. d) Moosbrugger ./. Österreich (2000)461 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf. Peter Moosbrugger ist Eigentümer landwirtschaftlich genutzter Flächen in Hörbranz (Vorarlberg), die teilweise zur Wasserschutzzone erklärt wur457 EuGH, Urt. v. 08.11.1979, Groenveld, Rs. 15/79, Slg. 1979, 3409, Rn. 7; EuGH, Urt. v. 14.07.1981, Oebel, Rs. 155/80, Slg. 1981, 1993, Rn. 15; EuGH, Urt. v. 25.06. 1998, Dusseldorp et al., Rs. C-203/96, Slg. 1998, I-4075, Rn. 40; EuGH, Urt. v. 16.05. 2000, Belgien ./. Spanien, Rs. C-388/95, Slg. 2000, I-3123, Rn. 41 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 34–36 AEUV, Rn. 128. 458 Für einen Überblick siehe Streinz/Schroeder, Art. 35 AEUV, Rn. 6 ff.; Schwarze/ Becker, Art. 35 AEUV, Rn. 9 ff.; beide m.w. N. 459 So könnte man bei der Prüfung von Art. 34 EGV a. F. (jetzt Art. 35 AEUV) die Ausfuhrspezifität und – vor dem Hintergrund der Keck-Rechtsprechung des EuGH – die unmittelbare Marktrelevanz der justiziellen Regelung bezweifeln, so dass schon kein Eingriff vorläge. 460 Siehe o., b) cc). 461 EGMR, Entsch. v. 25.01.2000, Moosbrugger ./. Österreich, Nr. 44861/98.

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Teil 2: Verfahrensrechte

den. Als Entschädigung für die damit verbundenen Nutzungsbeschränkungen setzte die Landesregierung Vorarlberg am 23.11.1993 einen Betrag von 290.825,– ATS (ca. 21.135,– A) fest. Am 25.01.1994 stellte der Bf. beim Bezirksgericht Bregenz einen gegen die Gemeinde Hörbranz gerichteten Antrag auf Überprüfung der Entschädigungshöhe, da der tatsächliche Wertverlust höher und die Flächen als Bauland zu bewerten seien. Nachdem das Bezirksgericht dem Antrag am 24.04.1995 teilweise stattgegeben hatte, hob das Landesgericht Feldkirch diese Entscheidung am 26.07.1995 auf und verwies das Verfahren zurück, woraufhin das Bezirksgericht erneut die Parteien anhörte und weiteren Sachverständigenrat einholte. Unter Hinweis auf die baurechtliche Einstufung der Flächen als Agrarland sprach das Bezirksgericht dem Bf. am 27.03.1997 eine Entschädigung von 1.153.000,– ATS (ca. 83.792,– A) zu, die vom Landesgericht anschließend ohne eine zusätzliche Anhörung wieder reduziert wurde. Der OGH wies die Rechtsmittel beider Parteien am 15.12.1997 zurück und lehnte die vom Bf. angeregte Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH ab, da der Bf. keine relevanten europarechtlichen Fragen aufgeworfen habe. Als Landwirt könne sich der Bf. außerdem nicht auf die Dienstleistungsfreiheit nach Art. 59 EGV a. F. (jetzt Art. 56 AEUV) berufen. bb) Verfahren vor dem EGMR Die Verweigerung der Vorlage durch den OGH betrachtete der Bf. als willkürlich und berief sich vor dem Straßburger Gerichtshof auf Art. 6 EMRK und Art. 1 ZP 1 i.V. m. Art. 14 EMRK. Außerdem rügte er unterbliebene Einlassungsmöglichkeiten und Anhörungen sowie eine überlange Verfahrensdauer vor den österreichischen Gerichten nach Art. 6 EMRK und eine unangemessene Entschädigung nach Art. 1 ZP 1. Unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung der EKMR und die Ausführungen des OGH stellte der EGMR fest, dass sich aus der unterlassenen Vorlage keine Verletzung der gerügten Konventionsrechte ergebe462. Auch die übrigen Rügen wurden wegen offensichtlicher Unbegründetheit i. S. d. Art. 35 Abs. 3, 4 EMRK einstimmig für unzulässig erklärt463. cc) Bewertung Vorliegend fungierte der OGH zwar als letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 177 Abs. 3 EGV a. F. (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV). Es ist jedoch nicht ersichtlich, welche europarechtliche Fragestellung dem EuGH hätte vorgelegt wer462 EGMR, Entsch. v. 25.01.2000, Moosbrugger ./. Österreich, Nr. 44861/98, Rn. 2; unter Berufung auf EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274 (279). 463 EGMR, Entsch. v. 25.01.2000, Moosbrugger ./. Österreich, Nr. 44861/98, Rn. 1, 3.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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den sollen. Hierzu hat der Bf. keine substantiierten Hinweise gegeben. Entgegen der Annahme des OGH kann die Dienstleistungsfreiheit (Art. 59 ff. EGV a. F.; jetzt Art. 56 ff. AEUV) zwar grundsätzlich auch Landwirte begünstigen, wenn diese am grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr teilnehmen464. Hier bestehen indes weder Anhaltspunkte für einen grenzüberschreitenden Bezug noch für die Erbringung von Dienstleistungen. Vielmehr waren im Ausgangsverfahren lediglich Bemessungsgrundlage und Höhe von Kompensationszahlungen streitig, wohingegen die Beschränkungen für die Nutzung der Grundflächen nicht angegriffen wurden. Daher war auch die Dienstleistungsfreiheit für den Rechtsstreit offenkundig irrelevant, so dass eine Vorlagepflicht des OGH nicht anzunehmen war. Dieser Rechtslage hat der EGMR mit der Zurückweisung der entsprechenden Rügen Rechnung getragen. e) Canela Santiago ./. Spanien (2001)465 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf., der spanische Staatsangehörige Nicolas Canela Santiago, ist ein in Barcelona ansässiger Zollspediteur. Gemäß der von Spanien nach seinem EGBeitritt 1986 ratifizierten Einheitlichen Europäischen Akte, die die Vollendung des europäischen Binnenmarktes zum 31.12.1992 vorsah466, wurden die Zollkontrollen im Grenzverkehr zwischen Spanien und anderen EU-Mitgliedstaaten am 01.01.1993 eingestellt. Durch die hiermit verbundene empfindliche Einschränkung seiner Erwerbstätigkeit sah sich der Bf. mit einem erheblichen Vermögensschaden belastet und stellte zusammen mit anderen Zollspediteuren einen verwaltungsrechtlichen Haftungsantrag, der von der spanischen Regierung (Consejo de Ministros) am 03.03.1995 abgelehnt wurde. Gegen diese Entscheidung legte der Bf. Beschwerde beim Tribunal Supremo ein und beantragte, das Verfahren auszusetzen und ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH zur Auslegung der Verordnung (EWG) Nr. 3904/92467 einzuleiten. Gegenstand sollten die Fragen sein, ob mit dieser Verordnung ein besonderer, nicht selbst zu tragender Schaden der Zollagenten durch den Wegfall der Zollformalitäten indirekt anerkannt werde und ob die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, ein System für ergänzende Unterstützung zugunsten dieser Berufsgruppen einzurichten. Mit Urteil vom 15.07. 1999 lehnte das Tribunal Supremo eine Vorlage zum EuGH ab und wies die Be464 Vgl. McDonald, Begriff der Dienstleistung, S. 24 ff.; Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV, Rn. 16; allgemein zu den Voraussetzungen der Dienstleistungsfreiheit Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 7 ff., m.w. N. 465 EGMR, Entsch. v. 04.10.2001, Canela Santiago ./. Spanien, Nr. 60350/00. 466 Art. 8A EWGV i. d. F. v. 01.07.1987, ABl. Nr. L 169 v. 29.06.1987, S. 7. 467 VO (EWG) Nr. 3904/92 des Rates v. 17.12.1992 über Maßnahmen zur strukturellen Anpassung des Gewerbes der Zollagenten und -spediteure an den Binnenmarkt, ABl. Nr. L 394 v. 31.12.1992, S. 1 ff.

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Teil 2: Verfahrensrechte

schwerde in der Sache zurück. Unter Berufung auf die Acte-clair-Doktrin führte das Gericht aus, dass die vom Bf. aufgeworfenen Fragen nicht direkt die Auslegung der Verordnung beträfen, sondern in seinen eigenen Zuständigkeitsbereich fielen. Nach der einschlägigen nationalen Rechtsprechung seien die Bedingungen für das Vorliegen eines Sonderopfers, das zu einer vermögensrechtlichen Staatshaftung führen könne, nicht erfüllt. Die Errichtung des Binnenmarktes sei innerhalb eines langen Übergangsprozesses erfolgt, der dem Bf. Anpassungsmöglichkeiten eröffnet habe. Außerdem hätten die Zollagenten von diversen Hilfsmaßnahmen bei der Zahlung von Abfindungen für die Beschäftigten der Zollagenturen profitiert. Eine daraufhin erhobene, auf Art. 24 Abs. 1 span. Verf. gestützte Verfassungsbeschwerde (recurso de amparo) des Bf. wurde vom Tribunal Constitucional mit Entscheidung vom 02.02.2000 als unbegründet zurückgewiesen. bb) Verfahren vor dem EGMR Mit seiner Menschenrechtsbeschwerde vom 11.08.2000 rügte der Bf. die von den spanischen Gerichten unterlassene Vorlage zum EuGH als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der EGMR wies ebenfalls auf die Acte-clair-Doktrin hin und bekräftigte erneut die Rechtsprechung der Konventionsorgane, dass eine Nichtvorlage unter gewissen Umständen, insbesondere Willkür, konventionswidrig sein könne468. Vorliegend bescheinigte der Gerichtshof dem Tribunal Supremo, sich eingehend mit der Judikatur des EuGH zur Vorlagepflicht auseinandergesetzt zu haben, so dass kein Anschein von Willkür bestehe. Damit wurde die Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit einstimmig für unzulässig erklärt. cc) Bewertung Im spanischen Verfahren waren mit dem Tribunal Supremo und dem Tribunal Constitucional zwei letztinstanzliche Gerichte i. S. d. Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) involviert. Es bleibt jedoch zu prüfen, ob für die vom Bf. begehrte Feststellung einer Zahlungsverpflichtung des spanischen Staates die Beantwortung der vorgeschlagenen Vorlagefragen, die ohne nähere Präzisierung auf die Auslegung der VO (EWG) Nr. 3904/92 in ihrer Gesamtheit abzielten, überhaupt erforderlich war. In der Verordnung waren bestimmte flankierende Maßnahmen der Gemeinschaft469 vorgesehen, mit denen die Mitgliedstaaten bei ihren Bemühungen zur strukturellen Anpassung des Gewerbes der Zollagenten 468 EGMR, Entsch. v. 04.10.2001, Canela Santiago ./. Spanien, Nr. 60350/00, pdfDok. S. 3 f.; unter Berufung auf EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274 (277); EGMR, Teilentsch. v. 23.03.1999, Desmots ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 41358/98 (fälschlicherweise als Entscheidung der EKMR bezeichnet). 469 Etwa Beratungshilfe und (Ko-)Finanzierung von Entwicklungsmaßnahmen; vgl. Art. 2, 4 VO (EWG) Nr. 3904/92.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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und -spediteure an den Binnenmarkt unterstützt werden sollten. Den genannten Gewerbetreibenden wurden jedoch eindeutig weder direkte Ausgleichsansprüche noch sonstige eigene subjektive Rechte eingeräumt. Nach Europarecht bleibt daher auch für eine mitgliedstaatliche Staatshaftung kein Raum, die stets die Betroffenheit subjektiver Rechte des Einzelnen voraussetzt470. Für das spanische Recht haben die insoweit zuständigen nationalen Gerichte bereits festgestellt, dass ein Ausgleichsanspruch nicht begründbar sei. Während die zugunsten des Bf. in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen demnach ohnehin nicht eingriffen, waren etwaige weitere Handlungspflichten der Mitgliedstaaten aufgrund der begrenzten zeitlichen Geltung der Verordnung von vornherein ausgeschlossen471. Den aufgeworfenen Vorlagefragen kam mithin keine Entscheidungsrelevanz mehr zu, so dass eine europarechtliche Pflicht zur Vorlage nicht bestand. Daher erscheint es folgerichtig, dass der EGMR einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK abgelehnt hat. f) Bakker ./. Österreich (2002)472 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf. Lambert Bakker, ein in Bregenz (Vorarlberg) lebender Physiotherapeut niederländischer Staatsangehörigkeit, hatte seine Berufsausbildung 1986 in Belgien abgeschlossen und übte von 1987 bis 1993 seinen Beruf als abhängig Beschäftigter in Österreich aus. Sein Diplom wurde vom Landeshauptmann von Vorarlberg am 19.02.1992 unter der aufschiebenden Bedingung als gleichwertig anerkannt, dass der Bf. eine theoretische Zusatzausbildung in den Fächern „Hygiene“ und „Grundzüge des Sanitäts-, Arbeits- und Sozialversicherungsrechts“ absolviert. Nachdem der Bf. die zugehörigen zwei Ergänzungsprüfungen erfolgreich abgelegt hatte, erfolgte am 11.01.1995 die endgültige Anerkennung des Diploms. Die vom Bf. am 04.04.1995 beantragte Bewilligung einer freiberuflichen Tätigkeit als Physiotherapeut versagte der Landeshauptmann jedoch am 26.07. 1995. Diese Entscheidung wurde vom österr. Bundesministerium für Gesundheit und Konsumentenschutz am 31.01.1996 unter Wechsel der Rechtsgrundlage473 470 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Francovich et al., verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 40; EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 51 ff.; EuGH, Urt. v. 08.10. 1996, Dillenkofer et al. ./. Bundesrepublik Deutschland, verb. Rs. C-178/94 u. a., Slg. 1996, I-4845, Rn. 21. Siehe auch u., Teil 3, A. I. 3. b) bb). 471 Nach ihrem Art. 13 trat die VO (EWG) Nr. 3904/92 mit Ablauf des 31.12.1993 außer Kraft. 472 EGMR, Entsch. v. 13.06.2002, Bakker ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 43454/98. 473 Statt § 7 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Regelung der gehobenen medizinisch-technischen Dienste (MTD-G; österr. BGBl. Nr. 460/1992) wurde nun § 68 Abs. 6 des Bundesgesetzes betreffend die Regelung des Krankenpflegefachdienstes, der medizinisch-technischen Dienste und der Sanitätshilfsdienste i. d. F. des Bundesgesetzes österr. BGBl. Nr. 872/1992 (KrPflG) zugrundegelegt.

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Teil 2: Verfahrensrechte

inhaltlich bestätigt, da der Bf. nicht, wie gesetzlich gefordert, mindestens zwei Jahre „befugtermaßen“ berufstätig gewesen sei. Auf erneuten Antrag des Bf. erläuterte der Landeshauptmann am 28.11.1996, dass die vor der endgültigen Anerkennung des Diploms ausgeübte Berufstätigkeit des Bf. nicht angerechnet werden dürfe474. Nachdem Beschwerden zum Ministerium und zum VfGH erfolglos geblieben waren, wies der VwGH am 20.01.1998 zwei weitere Beschwerden ab475, die der Bf. am 11.04.1996 bzw. am 22.06.1997 gegen die ministeriellen Bescheide erhoben hatte. Auch die zugehörigen Anträge des Bf., die einschlägigen österreichischen Bestimmungen wegen Gemeinschaftsrechtsverstoßes einer Normenkontrolle beim VfGH zu unterziehen sowie dem EuGH die Frage vorzulegen, ob die Verweigerung der begehrten Bewilligung gemeinschaftsrechtskonform sei, wurden abgelehnt. Zur Begründung der Nichtvorlage führte der VwGH u. a. aus, dass die vorgeschlagene Vorlagefrage „nicht die Auslegung einer konkreten Bestimmung des Gemeinschaftsrechts zum Gegenstand [habe], sondern auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer behördlichen Maßnahme“ abziele. Im übrigen sah der VwGH vorliegend keinen Raum für eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts. Die vom Bf. angeführte Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassungsfreiheit sei unmaßgeblich, da die nachgewiesene berufliche Tätigkeit des Bf. vor dem Beitritt Österreichs zu EU und EWR stattgefunden habe und damit außerhalb des zeitlichen Geltungsbereichs des Gemeinschaftsrechts liege. Entgegen dem Antrag des Bf. verzichtete der VwGH gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 6 österr. VwGG476 auch auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Nach dem Urteil des VwGH scheiterte der Bf. am 04.06.1998 schließlich ebenfalls mit einer am 04.12.1997 erhobenen Klage vor dem Landesgericht Feldkirch, wo er einen gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch geltend gemacht hatte. bb) Verfahren vor dem EGMR Mit Beschwerde vom 21.08.1998 wandte sich der Bf. an den EGMR und rügte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, weil ihm sowohl die öffentliche Verhandlung vor VfGH und VwGH als auch das Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH verweigert worden seien.

474 Die Berechtigung zur Ausübung der beruflichen Tätigkeit entstand jeweils erst mit der Eintragung der erfolgreichen Absolvierung der Ergänzungsausbildung im Anerkennungsbescheid (§ 52 d Abs. 3 KrPflG, § 6 Abs. 6 MTD-G). 475 VwGH, Erkenntnis v. 20.01.1998, Geschäftszahl 96/11/0104, abrufbar unter: http://www.ris.bka.gv.at/Vwgh/. 476 Danach kann eine Verhandlung unterbleiben, wenn diese nach dem Stand des schriftlichen Verfahrens eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und Art. 6 Abs. 1 EMRK dem nicht entgegensteht.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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In seiner einstimmig ergangenen Zulässigkeitsentscheidung stellte der EGMR unter Bezugnahme auf die bekannte Rechtsprechung der EKMR477 fest, dass Anzeichen für eine willkürliche Ablehnung der Vorlage zum EuGH nicht beständen478. Insbesondere habe der VwGH recht ausführlich dargelegt, warum sich aus seiner Sicht keine europarechtliche Vorlagefrage stelle. Dieser Teil der Beschwerde wurde daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit (Art. 35 Abs. 3, 4 EMRK) als unzulässig zurückgewiesen. Die die fehlende mündliche Verhandlung betreffende Rüge wurde hingegen vom EGMR zugelassen479 und war Gegenstand seines Urteils zur Begründetheit vom 10.04.2003. Hier bejahte der Gerichtshof eingangs die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK, da ein Rechtsstreit über die Zulassung zur Berufsausübung auch zivilrechtliche Ansprüche berühre480. Während der Bf. die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung unter Hinweis auf die in Streit stehenden schwierigen Fragen tatsächlicher und rechtlicher Art, insbesondere hinsichtlich des Europarechts, begründete, hielt die österreichische Regierung das Vorgehen der Gerichte für gerechtfertigt, da ausschließlich Rechtsfragen in Rede gestanden und somit außergewöhnliche Umstände vorgelegen hätten481. Der EGMR erkannte den grundsätzlichen Anspruch des Bf. auf eine mündliche Verhandlung an und sah zudem keine Anhaltspunkte für eine bessere Eignung des schriftlichen Verfahrens482. Daher stellte er einstimmig einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest. In Anwendung von Art. 41 EMRK wurden dem Bf. nach billigem Ermessen jedoch lediglich 4.500,– A als anteiliger Ersatz der Verfahrenskosten vor dem EGMR zugesprochen. Ansonsten blieb sein Antrag auf Entschädigung in Höhe von insgesamt 370.000,– A zuzüglich Prozesskosten ohne Erfolg. Denn der Gerichtshof lehnte die Anerkennung eines Verdienstausfalls wegen des unsicheren hypothetischen Ausgangs eines konventionskonformen Verfahrens ab und wertete die Feststellung der Konventionsverletzung als ausreichende Kompensation mög477 EKMR, Entsch. v. 28.06.1993, F. S. und N. S. ./. Frankreich, DR 75, 39; EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274. 478 EGMR, Entsch. v. 13.06.2002, Bakker ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 43454/98, pdf-Dok. S. 5 f., Rn. 2. 479 EGMR, a. a. O., pdf-Dok. S. 5, Rn. 1. 480 EGMR, Urt. v. 10.04.2003, Bakker ./. Österreich, Nr. 43454/98 (= ÖJZ 2003, 659), Rn. 26; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 23.06.1994, De Moor ./. Belgien, Ser. A Vol. 292-A, Rn. 42 ff. Siehe auch o., 1. a). 481 Vgl. zur Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung EGMR, Urt. v. 23.02. 1994, Fredin ./. Schweden (Nr. 2), Ser. A Vol. 283-A, Rn. 21 f.; F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 60 ff. 482 EGMR, Urt. v. 10.04.2003, Bakker ./. Österreich, Nr. 43454/98 (= ÖJZ 2003, 659), Rn. 30; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 21.02.1990, Håkansson und Sturesson ./. Schweden, Ser. A Vol. 171-A, Rn. 64; EGMR, Urt. v. 24.06.1993, Schuler-Zgraggen ./. Schweiz, Ser. A Vol. 263, Rn. 58; mutatis mutandis EGMR (GK), Urt. v. 11.07.2002, Göç ./. Türkei, Rep. 2002-V, Rn. 51 f.

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Teil 2: Verfahrensrechte

licher Nichtvermögensschäden483. Darüber hinaus sei nicht erwiesen, dass durch das Verlangen nach einer mündlichen Verhandlung vor den nationalen Gerichten zusätzliche Kosten entstanden seien. cc) Bewertung Im österreichischen Ausgangsverfahren ist der VwGH als letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 177 Abs. 3 EGV a. F. (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) einzustufen. Der nationale Rechtsstreit knüpfte an den Umstand an, dass der Bf. als niederländischer Staatsangehöriger 1995 eine dauerhafte selbstständige Tätigkeit als Physiotherapeut in Österreich aufnehmen wollte. Damit war der Zeitraum nach dem Beitritt Österreichs zur EU (01.01.1995) betroffen, so dass das damalige europäische Gemeinschaftsrecht Anwendung finden konnte484, insbesondere die hier entscheidungserhebliche Niederlassungsfreiheit485. Einzelne auf die Zeit vor dem Beitritt zurückgehende Elemente des Sachverhalts wie die vorherige Berufspraxis des Bf. vermögen hieran nichts zu ändern, da die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sonst von vornherein in Frage gestellt wäre. Der VwGH hätte daher schon seine insoweit abweichende Auffassung zum Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens machen müssen. Darüber hinaus stand die Frage im Raum, ob die europarechtlichen Vorschriften über die Niederlassungsfreiheit so auszulegen sind, dass sie einer mitgliedstaatlichen Regelung entgegenstehen, derzufolge vor der endgültigen Anerkennung eines EU-ausländischen Berufsabschlusses im Inland abgeleistete Arbeitszeiten nicht bei der behördlichen Entscheidung über die Bewilligung einer selbstständigen Tätigkeit berücksichtigt werden dürfen. Dass der Bf. in seinem Antrag eine in Einzelheiten abweichende Formulierung gewählt hat, ist schon 483 EGMR, Urt. v. 10.04.2003, Bakker ./. Österreich, Nr. 43454/98 (= ÖJZ 2003, 659), Rn. 35 f.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 24.11.1997, Werner ./. Österreich, Rep. 1997-VII, Rn. 72; EGMR, Urt. v. 20.12.2001, Baischer ./. Österreich, Nr. 32381/ 96, Rn. 33. Siehe auch Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 41, Rn. 13 ff.; Wenzel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 41 EMRK, Rn. 17. 484 Vgl. Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Norwegen, der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge, ABl. Nr. C 241 v. 29.08.1994, S. 9 ff.; zur entsprechenden Zuständigkeit des EuGH ratione temporis siehe EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Ynos, Rs. C-302/04, Slg. 2006, I-371, Rn. 36; EuGH, Urt. v. 15.06.1999, Andersson und Wåkerås-Andersson, Rs. C-321/97, Slg. 1999, I-3551, Rn. 31. 485 Zu den tatbestandlichen Voraussetzungen vgl. im einzelnen EuGH, Urt. v. 30.11. 1995, Gebhard, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 23 ff.; EuGH, Urt. v. 25.07.1991, The Queen ./. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame, Rs. C-221/89, Slg. 1991, I-3905, Rn. 20; Streinz/Müller-Graff, Art. 49 AEUV, Rn. 9 ff.; Schwarze/Schlag, Art. 49 AEUV, Rn. 10 ff.; Korte, in: Calliess/Ruffert, Art. 49 AEUV, Rn. 11 ff.; Lackhoff, S. 31 ff.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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wegen des Grundsatzes iura novit curia486 nicht von Bedeutung. Auch diesbezüglich traf den VwGH damit grundsätzlich die Pflicht zur Vorlage an den EuGH. Der Umstand, dass sich die Beantwortung dieser Auslegungsfrage auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines nationalen Verwaltungsakts ausgewirkt hätte, steht einem Vorabentscheidungsverfahren nicht etwa entgegen, sondern begründet hier gerade seinen Sinn487. Vielmehr kommt es weiter darauf an, ob die europarechtliche Rechtslage so hinreichend klar war, dass von einer Vorlage ausnahmsweise abgesehen werden durfte488. Eine eindeutige Antwort auf die aufgeworfene Frage ergibt sich indes weder aus dem anwendbaren Sekundärrecht489 noch aus der Rechtsprechung des EuGH. Jedenfalls waren nach Maßgabe der Art. 52 ff. EGV a. F. (jetzt Art. 49 ff. AEUV) sämtliche Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten verboten490. Die Nichtanrechnung früherer Arbeitszeiten machte die Ausübung der Grundfreiheit hier weniger attraktiv und ist daher als Eingriff zu werten491. Eine derartige Maßnahme kann nach der ständigen Luxemburger Judikatur gerechtfertigt werden, wenn sie in nichtdiskriminierender Weise angewandt wird, zwingenden Gründen des Allgemeinwohls dient und die Verhältnismäßigkeit wahrt492. Während der Schutz des Gesundheitswesens ohne weiteres als legitimer Zweck anzuerkennen ist493, erscheint die Verhältnismäßigkeit der österreichischen Regelung zweifelhaft. Denn das formelle Erfordernis einer zweijährigen Berufspraxis 486 Vgl. hierzu näher u., i) cc); zum österr. Recht vgl. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 311. 487 Zur entsprechenden Praxis des EuGH vgl. Urt. v. 15.01.1998, Schöning-Kougebetopoulou ./. Freie und Hansestadt Hamburg, Rs. C-15/96, Slg. 1998, I-47, Rn. 9; siehe auch o., I. 2. a). 488 Siehe o., II. 1. b). 489 Vgl. etwa die Richtlinie 92/51/EWG des Rates v. 18.06.1992 über eine zweite allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG, ABl. Nr. L 209 v. 24.07.1992, S. 25 ff. 490 EuGH, Urt. v. 31.03.1993, Kraus ./. Land Baden-Württemberg, Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663, Rn. 32; EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Gebhard, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I4165, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 05.10.2004, CaixaBank France, Rs. C-442/02, Slg. 2004, I-8961, Rn. 11; Schwarze/Schlag, Art. 49 AEUV, Rn. 45 ff. 491 Auch geringfügige oder unbedeutende Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit besitzen bereits Eingriffsqualität; EuGH, Urt. v. 11.03.2004, de Lasteyrie du Saillant, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2409, Rn. 43; Schwarze/Schlag, Art. 49 AEUV, Rn. 49. 492 EuGH, Urt. v. 01.02.2001, Mac Quen et al., Rs. C-108/96, Slg. 2001, I-837, Rn. 26; EuGH, Urt. v. 04.07.2000, Haim, Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123, Rn. 57; EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Gebhard, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37; Streinz/ Müller-Graff, Art. 49 AEUV, Rn. 84 ff. 493 Vgl. EuGH, Urt. v. 30.04.1986, Kommission ./. Frankreich, Rs. 96/85, Slg. 1986, 1475, Rn. 10 f.; EuGH, Urt. v. 01.02.2001, Mac Quen et al., Rs. C-108/96, Slg. 2001, I837, Rn. 28 ff.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 34–36 AEUV, Rn. 80; Streinz/Müller-Graff, Art. 49 AEUV, Rn. 86.

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Teil 2: Verfahrensrechte

unter pauschalem Ausschluss von Berufszeiten, die vor der endgültigen Anerkennung des Diploms lagen, lässt die persönlichen Fähigkeiten und Erfahrungen der Antragsteller unberücksichtigt und kann in bestimmten Konstellationen zu unbilligen Härten führen. So ist vorliegend kaum zu erwarten, dass ein Antragsteller mit über sechsjähriger Berufserfahrung durch eine weitere abhängige Beschäftigung von zwei Jahren zusätzliche Kenntnisse erlangen wird, die für ein funktionierendes Gesundheitswesen erforderlich sind. Vor diesem Hintergrund spricht v. a. das Fehlen einer Ausnahme- oder Härtefallklausel gegen die Vereinbarkeit der österreichischen Regelung mit der Niederlassungsfreiheit. Nach alledem durfte der VwGH hier nicht von einer klaren Rechtslage ausgehen; stattdessen wäre die grundfreiheitliche Beurteilung vorliegend Sache des EuGH gewesen. Der VwGH hat mithin seine europarechtliche Vorlagepflicht missachtet. Dessen ungeachtet ist ein europarechtlicher Staatshaftungsanspruch des Bf. kaum begründbar, da letztlich unsicher bleibt, wie der EuGH geurteilt hätte494. Daher dürfte der erforderliche Nachweis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes gegen die Niederlassungsfreiheit und eines kausalen Schadens misslingen. Die Erfolglosigkeit der gegen die Nichtvorlage gerichteten Rüge des Bf. vor dem EGMR lässt die Grenzen deutlich werden, die der EGMR der Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen über das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) gesetzt hat. Während in der früheren Rechtsprechung der Konventionsorgane noch die Acte-clair-Doktrin als Ausnahmetatbestand von der Vorlagepflicht erwähnt worden war495, stellte der EGMR hier ausschließlich auf seinen eigenen Willkürmaßstab ab, ohne auf europarechtliche Kriterien Bezug zu nehmen. Auch eine inhaltliche Prüfung der Ausführungen des VwGH zum Europarecht fand nicht statt. Vielmehr genügte dem EGMR zur Verneinung einer willkürlichen Nichtvorlage bereits, dass sich der VwGH mit der Vorlagebedürftigkeit auseinandergesetzt hatte. Bei diesem Prüfungsumfang dürfte für die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK nur noch Raum bleiben, wenn ein letztinstanzliches Gericht seine Vorlagepflicht ohne erforderliche Begründung ignoriert oder die europarechtliche Rechtslage offenkundig verkennt. Vielen Verstößen gegen die Vorlagepflicht, die diese vom EGMR geforderte Willkürschwelle nicht erreichen, kann danach konventionsrechtlich aber nicht abgeholfen werden. Eine Besonderheit des Bakker-Falles liegt darin, dass mit dem Verzicht auf eine mündliche Verhandlung ein weiterer Verfahrensfehler aufgetreten ist, durch 494

Hierzu näher o., III. 2. b). EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274, Rn. 1; EGMR, Entsch. v. 07.09.1999, Dotta ./. Italien, Nr. 38399/97, pdf-Dok. S. 3; EGMR, Entsch. v. 04.10.2001, Canela Santiago ./. Spanien, Nr. 60350/00, pdf-Dok. S. 3 f. Auch in diesen Entscheidungen wurde die Acte-clair-Doktrin jedoch nicht zur Grundlage der konventionsrechtlichen Prüfung; siehe o., c) bb), e) bb) und 2. c) bb). 495

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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welchen dem Bf. auch eine Möglichkeit genommen wurde, nochmals eindringlich auf die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens hinzuwirken. Dass der EGMR diesbezüglich eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt hat, bedeutet im Ergebnis jedoch keine indirekte Sanktionierung der Missachtung der Vorlagepflicht. Denn aufgrund der nicht klärbaren Kausalitätsfragen wurde dem Bf. keine gesonderte finanzielle Entschädigung zugesprochen. Da die Staaten aus der EMRK nicht zur Wiederaufnahme des nationalen Gerichtsverfahrens verpflichtet sind, um Verstöße gegen die Konvention zu beheben496, bildet die Gewährung einer gerechten Entschädigung nach Maßgabe von Art. 41 EMRK im Grunde das einzige Instrument für eine wirksame Kompensation von Verstößen gegen konventionsrechtlich geschützte Verfahrensrechte. Daher erscheint es konsequent, dass der EGMR in anderen Urteilen eine Entschädigung gewährt, wenn ohne den konventionswidrigen Verfahrensfehler eine Chance für den Bf. bestanden hätte, stärker auf das Verfahren Einfluss zu nehmen497. Insofern wäre hier durchaus eine nach Billigkeitsgesichtspunkten bemessene finanzielle Entschädigung des Bf. angezeigt gewesen, um die durch den Wegfall der mündlichen Verhandlung entstandene Einbuße an Prozesschancen auszugleichen, die die Verletzung der Vorlagepflicht zumindest begünstigt hat. Auch damit wäre allerdings noch keine wirksame Durchsetzung etwaiger grundfreiheitlicher Rechte des Bf. zu erreichen gewesen. g) Pedersen und Pedersen ./. Dänemark (2003)498 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Die Bf. Karl Gustav und Jens Otto Pedersen sind dänische Staatsangehörige und als Eigentümer bzw. Manager von Süßwasserfischfarmen in Nordjütland tätig. 1992 bzw. 1993 wurde ihnen vorgeworfen, die im dänischen Recht gesetzlich festgeschriebenen Fütterungsquoten vorsätzlich überschritten und so die Umwelt 496 EGMR, Entsch. v. 30.03.2004, Krc ˇ márˇ ./. Tschechische Republik, Nr. 69190/01; EGMR, Entsch. v. 08.07.2003, Lyons et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-IX (= EuGRZ 2004, 777); Meyer-Ladewig/Brunozzi, EMRK, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, Art. 46, Rn. 5, 28. Siehe auch u., 4. d), m.w. N. 497 EGMR, Urt. v. 09.04.1984, Goddi ./. Italien, Ser. A Vol. 76, Rn. 35; EGMR, Urt. v. 12.02.1985, Colozza ./. Italien, Ser. A Vol. 89, Rn. 38; EGMR, Urt. v. 19.12.1990, Delta ./. Frankreich, Ser. A Vol. 191-A, Rn. 43; EGMR (GK), Urt. v. 25.03.1999, Pélissier und Sassi ./. Frankreich, Rep. 1999-II, Rn. 80; EGMR, Urt. v. 13.07.2000, Elsholz ./. Deutschland, Rep. 2000-VIII (= NJW 2001, 2315), Rn. 70 f.; EGMR, Urt. v. 02.10.2001, G. B. ./. Frankreich, Rep. 2001-X, Rn. 74; vgl. auch EGMR, Urt. v. 12.04. 2005, Whitfield et al. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 46387/99 et al., Rn. 57; MeyerLadewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 41, Rn. 25; Wenzel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 41 EMRK, Rn. 17; Dannemann, RabelsZ 63 (1999), 452 (465 ff.), m.w. N. 498 EGMR, Entsch. v. 12.06.2003, Pedersen und Pedersen ./. Dänemark (Zulässigkeit), Nr. 68693/01.

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Teil 2: Verfahrensrechte

gefährdet sowie sich selbst bereichert zu haben. Nachdem 1993 bzw. 1994 Anklagen gegen die Bf. bei den jeweils örtlich zuständigen Gerichten erhoben worden waren, kam es in beiden Strafverfahren zu wiederholten Verzögerungen, da u. a. Entscheidungen in ähnlichen Fällen abgewartet wurden. 1997 wurden die Bf. dann zu Geldstrafen von 68.000,– bzw. 275.000,– DKK499 verurteilt, die im anschließenden Berufungsverfahren vom Westlichen Landgericht (Vestre Landsret) auf 95.000,– bzw. 345.000,– DKK erhöht wurden; ferner sollten Beträge in Höhe von 384.000,– bzw. 1.398.000,– DKK eingezogen werden. Die folgenden Revisionsverfahren verband der Oberste Gerichtshof (Højesteret) 1999 zur gemeinsamen Entscheidung. Beide Bf. hielten das dänische Gesetz über Süßwasserfischfarmen für unanwendbar, da es der Europäischen Kommission nicht gemäß der Richtlinie 83/189/EWG500 notifiziert worden sei, und beantragten ein Vorabentscheidungsverfahren zu den rechtlichen Konsequenzen. Nach ausführlicher anwaltlicher Erörterung und negativen Stellungnahmen von Generalstaatsanwalt und Justizministerium lehnte der Oberste Gerichtshof am 22.08.2000 eine Vorlage zum EuGH ab, da die einschlägige Gesetzesnorm nicht notifizierungspflichtig gewesen und mit dem Europarecht unzweifelhaft vereinbar sei. Schließlich wurden die Urteile des Berufungsgerichts am 16.02.2001 letztinstanzlich bestätigt, wobei der vom ersten Bf. einzuziehende Betrag auf 240.000,– DKK reduziert wurde. bb) Verfahren vor dem EGMR Mit ihrer Menschenrechtsbeschwerde rügten die Bf. verschiedene Verstöße gegen ihre Rechte aus Art. 6 Abs. 1 EMRK u. a. durch eine überlange Verfahrensdauer, die unterlassene Vorlage, eine unzureichende Urteilsbegründung und widerrechtliche Einmischung der Regierung. Weiterhin griffen sie die Nichtvorlage und die Verurteilung nach dem nicht notifizierten Gesetz als Verletzungen von Art. 7 Abs. 1 EMRK (nulla poena sine lege) an. In seiner Entscheidung von 2003 erklärte der EGMR allein die Rüge überlanger Verfahrensdauer für zulässig501, wohingegen alle übrigen Vorbringen entweder wegen offensichtlicher Unbegründetheit oder wegen fehlender Rechtsweg1 DKK entspricht etwa 0,1345 A (Wechselkurs v. 21.04.2017). Richtlinie 83/189/EWG des Rates v. 28.03.1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften, ABl. Nr. L 109 v. 26.04. 1983, S. 8; geändert durch die Richtlinie 88/182/EWG des Rates v. 22.03.1988, ABl. Nr. L 81 v. 26.03.1988, S. 75; mit Wirkung vom 10.08.1998 ersetzt durch Richtlinie 98/ 34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.06.1998, ABl. Nr. L 204 v. 21.07.1998, S. 37. 501 EGMR, Entsch. v. 12.06.2003, Pedersen und Pedersen ./. Dänemark (Zulässigkeit), Nr. 68693/01, pdf-Dok. S. 6 ff. Ein insoweit von der dänischen Regierung erhobener Einwand fehlender Rechtswegerschöpfung wurde vom EGMR zurückgewiesen, da im dänischen Recht keine wirksamen Rechtsmittel gegen überlange Verfahrensdauer verfügbar gewesen seien. 499 500

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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erschöpfung ohne Erfolg blieben. Zur Nichtvorlagerüge führte der EGMR aus, dass sich seine Funktion nach Art. 6 EMRK auf Fälle beschränke, in denen eine Missachtung der dort niedergelegten spezifischen Verfahrensgarantien in Rede stehe oder das Verfahren als Ganzes für den Bf. nicht fair gewesen sei502. Im folgenden bezog sich der Gerichtshof auf die gefestigte konventionsrechtliche Rechtsprechung, in der insbesondere eine willkürliche Nichtvorlage als verfahrensrechtswidrig eingestuft wird503. In der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs erkannte der EGMR jedoch weder Willkür noch andere Elemente, die die Annahme eines Verstoßes gegen Art. 6 EMRK begründen könnten. Gleichermaßen wurden die auf Art. 7 Abs. 1 EMRK gestützten Rügen als offensichtlich unbegründet und damit unzulässig eingestuft, weil die Strafbarkeit des Verhaltens der Bf. nach nationalem Recht nicht in Frage gestanden habe. Im Urteil zur Begründetheit von 2004 wurde schließlich auch der zulässige Teil der Beschwerde zurückgewiesen, da der EGMR unter Berücksichtigung der Schwierigkeit des Falles sowie des Prozessverhaltens der Bf. und der staatlichen Organe eine übermäßig lange, gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßende Verfahrensdauer nicht feststellen konnte504. cc) Bewertung Der Oberste Gerichtshof (Højesteret) fungierte hier als letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV). Aus dem Vortrag der Bf. ergaben sich zwei gemeinsam entscheidungserhebliche Fragen zum Europarecht, die die Anwendbarkeit der Richtlinie 83/189/EWG auf die dänischen Vorschriften über Süßwasserfischfarmen und die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen die in der Richtlinie statuierte Notifizierungspflicht betrafen. Die Vorlagepflicht des Obersten Gerichtshofes hing somit davon ab, ob diese Fragen zweifelsfrei zu beantworten waren. Die im Kontext der Binnenmarktharmonisierung erlassene Richtlinie 83/189/ EWG verpflichtete die Mitgliedstaaten grundsätzlich, der Kommission unverzüglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift zu übermitteln (Art. 8 ff.). Zu diesen Vorschriften zählten auch technische Spezifikationen über Produktionsmethoden und -verfahren für Erzeugnisse der Landwirtschaft einschließlich der

502 EGMR, Entsch. v. 12.06.2003, Pedersen und Pedersen ./. Dänemark (Zulässigkeit), Nr. 68693/01, pdf-Dok. S. 10. 503 EGMR, a. a. O.; unter Verweis auf EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274; EGMR, Entsch. v. 25.01.2000, Moosbrugger ./. Österreich, Nr. 44861/98; EGMR, Entsch. v. 04.10.2001, Canela Santiago ./. Spanien, Nr. 60350/ 00. 504 EGMR, Urt. v. 14.10.2004, Pedersen und Pedersen ./. Dänemark, Nr. 68693/01, Rn. 37 ff., m.w. N. aus der Rechtsprechung zur Verfahrensdauer.

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Teil 2: Verfahrensrechte

Fischerei505. Damit ließ sich zumindest nicht eindeutig ausschließen, dass die strafbewehrte Festlegung von Fütterungsquoten für in Farmen gehaltene Süßwasserfische als eine derartige technische Spezifikation aufzufassen und der Kommission mitzuteilen war. Die Rechtsfolgen einer unterbliebenen Notifizierung waren in der Richtlinie nicht ausdrücklich festgelegt. Allerdings wurde in den Erwägungsgründen auf eine allgemeine Pflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 5 EWGV (vgl. jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) hingewiesen, „das Inkraftsetzen der geplanten Maßnahme während eines genügend langen Zeitraums auszusetzen“, um die Prüfung von Änderungsvorschlägen oder die Ausarbeitung einer neuen Richtlinie zu ermöglichen. Dementsprechend hat der EuGH unter Hinweis auf das Ziel der Richtlinie 83/189/ EWG, durch eine vorbeugende Kontrolle nationaler Regelungsvorhaben den freien Warenverkehr zu schützen, entschieden, dass die Verletzung der Mitteilungspflicht zur Unanwendbarkeit der betreffenden technischen Vorschriften führe506, und zwar ungeachtet von deren Vereinbarkeit mit sonstigem Gemeinschaftsrecht507. Da die Richtliniennormen inhaltlich unbedingt und hinreichend genau seien, könnten sie auch von Einzelnen vor den nationalen Gerichten geltend gemacht werden508. Hiernach wären die Bf. also bei Heranziehung der Richtlinie freizusprechen gewesen. Es bleibt demnach festzuhalten, dass der Oberste Gerichtshof die Anwendbarkeit der Richtlinie trotz insoweit unklarer Rechtslage eigenmächtig verneint und somit gegen seine Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) verstoßen hat. Gerade angesichts der bereits bestehenden Rechtsprechung des EuGH zur Richtlinie 83/189/EWG erschien ein Vorabentscheidungsverfahren hier dringend geboten. Da offenbleibt, wie der EuGH entschieden hätte, lässt sich jedoch nicht abschließend feststellen, ob die strafrechtliche Verurteilung der Bf. tatsächlich richtlinienwidrig war. Erneut zeigt sich die Lückenhaftigkeit der Judikatur des EGMR beim Umgang mit Verstößen gegen die Vorlagepflicht. Zwar fiel das Strafverfahren der Bf. in den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK, doch wurde die vom EGMR gezo505 Vgl. Art. 1 Richtlinie 83/189/EWG i. d. F. der Richtlinie 88/182/EWG sowie Art. 38 Abs. 1 EWGV (jetzt Art. 32 Abs. 1 AEUV). 506 EuGH, Urt. v. 30.04.1996, CIA Security International ./. Signalson und Securitel, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 45 ff., 54; EuGH, Urt. v. 16.06.1998, Strafverfahren gegen Lemmens, Rs. C-226/97, Slg. 1998, I-3711, Rn. 32 ff.; ähnlich zur Richtlinie 98/34/EG EuGH, Urt. v. 08.09.2005, Lidl Italia, Rs. C-303/04, Slg. 2005, I-7865, Rn. 22 ff. 507 Vgl. EuGH, Urt. v. 30.04.1996, CIA Security International ./. Signalson und Securitel, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 57. 508 EuGH, Urt. v. 30.04.1996, CIA Security International ./. Signalson und Securitel, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 40 ff., 44. Zu den Kriterien vgl. näher u., Teil 3, A. 3. a).

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gene Willkürgrenze wiederum nicht überschritten. Praktisch unterbleibt damit eine Sanktionierung bereits, wenn das vom letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gericht gefundene Ergebnis nur möglich erscheint, sich also nicht offenkundig als inhaltlich falsch herausstellt509. Auch bei der Prüfung der auf Art. 7 Abs. 1 EMRK bezogenen Rüge blieb die europarechtliche Dimension des Falles unberücksichtigt. Dies stellt sich von vornherein keinesfalls als zwingend dar, da das nationale Verfahren in diesem Rahmen nicht (wie bei Art. 6 Abs. 1 EMRK) auf seine Fairness überprüft wird, sondern u. a. eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für eine strafrechtliche Verurteilung gegeben sein muss510. Wenn wegen der unklaren europarechtlichen Rechtslage die Unanwendbarkeit der nationalen Strafnorm nicht auszuschließen ist, dürfte bei universeller Betrachtung nicht nur die geforderte Bestimmtheit zumindest zweifelhaft sein, sondern auch die Anordnung der Strafbarkeit überhaupt in Frage stehen. Wird dann ohne klärendes Vorabentscheidungsverfahren verurteilt, kommt eine Verletzung des Grundsatzes nulla poena sine lege in Betracht. Insoweit bestände in dieser Konstellation zumindest die theoretische Möglichkeit, die Missachtung der Vorlagepflicht indirekt über Art. 7 Abs. 1 EMRK zu sanktionieren. Allerdings tut sich hier auch ein potentielles Spannungsverhältnis zum Telos des Art. 7 Abs. 1 EMRK auf, den Bürger in die Lage zu versetzen, im voraus die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens einzuschätzen und sein Handeln danach auszurichten511. Denn selbst ein erfolgreich durchgeführtes Vorabentscheidungsverfahren vermag diese Funktion im Hinblick auf die im jeweiligen Strafprozess in Rede stehende Handlung nicht mehr zu erfüllen. Ohnehin steht nach den bisherigen Aussagen der Konventionsorgane nicht zu erwarten, dass die Straßburger Rechtsprechung Art. 7 Abs. 1 EMRK künftig europarechtlich „aufladen“ wird. Sowohl die EKMR als auch der EGMR betonten in ähnlichen Fällen stets die Begrenzung ihrer Zuständigkeit auf die Feststellung von Konventionsverletzungen, die eine weitergehende Kontrolle von Fehlern nationaler Gerichte ausschließe512. Im Verfahren Weil ./. Frankreich ging der EGMR 2001 etwas ausführlicher auf die Rolle des Europarechts im Kontext des 509

Siehe schon o., f) cc). Näher EGMR (GK), Urt. v. 22.03.2001, Streletz, Kessler und Krenz ./. Deutschland, Rep. 2001-II (= EuGRZ 2001, 210), Rn. 50; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 7, Rn. 13, 15 f.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 7 EMRK, Rn. 4; alle m.w. N. 511 EGMR, Urt. v. 25.05.1993, Kokkinakis ./. Griechenland, Ser. A Vol. 260-A, Rn. 52; EGMR (GK), Urt. v. 15.11.1996, Cantoni ./. Frankreich, Rep. 1996-V (= EuGRZ 1999, 193), Rn. 29; Rainey/Wicks/Ovey, S. 301 f.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 7 EMRK, Rn. 1. 512 EKMR, Entsch. v. 22.10.1997, Spiele ./. Niederlande, Nr. 31467/96, Rn. 2; EGMR, Teilentsch. v. 18.09.2001, Weil ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 49843/99, Rn. 5. Vgl. auch Kadelbach, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 15, Rn. 27. 510

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Teil 2: Verfahrensrechte

Art. 7 Abs. 1 EMRK ein. Hier hatte der Bf. nicht die Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK gerügt, sondern u. a. vorgetragen, dass er unter Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK verurteilt worden sei, da die Cour de cassation europarechtliche Vorschriften fehlerhaft ausgelegt habe. Der EGMR betonte demgegenüber die Prärogative der nationalen Stellen bei Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts und wies darauf hin, dass auch das Strafrecht notwendigerweise ein Element gerichtlicher Auslegung enthalte513. Art. 7 EMRK verbiete daher nicht die schrittweise Klarstellung von Strafnormen durch richterliche Auslegung im Einzelfall, sofern das Ergebnis mit dem Wesensgehalt des jeweiligen Straftatbestandes übereinstimme und ausreichend vorhersehbar sei514. Aus diesen Ausführungen leitete der Gerichtshof für den Weil-Fall ab, dass die nationale Strafandrohung nicht durch eine unterlassene Vorlage zum EuGH in Frage gestellt werde515. Letztere könne sich zwar auf die Fairness des Verfahrens i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK auswirken, jedoch keinen Verstoß gegen Art. 7 EMRK begründen. Mithin wird deutlich, dass der EGMR Vorlagepflichtverletzungen auch weiterhin allein anhand von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu prüfen beabsichtigt und darauf verzichtet, die Europarechtskonformität nationaler Strafnormen dem von Art. 7 Abs. 1 EMRK verbürgten Grundsatz nulla poena sine lege zuzuordnen. h) Junnila ./. Finnland (2004)516 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf. Vilho Junnila, ein 1948 geborener finnischer Staatsangehöriger, war seit 1989 als Lastkraftwagenfahrer tätig. 1998 wurde bei einer Untersuchung auf der Grundlage des finnischen Straßenverkehrsgesetzes festgestellt, dass das Sehvermögen des Bf. aufgrund einer angeborenen Einschränkung nicht den Voraussetzungen genügte, die in der zur Umsetzung der Richtlinie 91/439/EWG517 ergangenen finnischen Fahrerlaubnisverordnung festgelegt waren. Daraufhin lehnte 513 EGMR, Teilentsch. v. 18.09.2001, Weil ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 49843/ 99, Rn. 5; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 22.03.2001, Streletz, Kessler und Krenz ./. Deutschland, Rep. 2001-II (= EuGRZ 2001, 210), Rn. 50; siehe auch EGMR, Urt. v. 22.11.1995, C. R. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 335-C, Rn. 34. 514 EGMR, Teilentsch. v. 18.09.2001, Weil ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 49843/ 99, Rn. 5; vgl. auch EGMR, Urt. v. 10.10.2006, Pessino ./. Frankreich, Nr. 40403/02, Rn. 28 ff.; EGMR, Urt. v. 24.05.2007, Dragotoniu und Militaru-Pidhorni ./. Rumänien, Nr. 77193/01 und 77196/91, Rn. 33 ff.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 7 EMRK, Rn. 4. 515 EGMR, Teilentsch. v. 18.09.2001, Weil ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 49843/ 99, Rn. 5. 516 EGMR, Entsch. v. 13.01.2004, Junnila ./. Finnland, Nr. 62963/00. 517 Richtlinie 91/439/EWG des Rates v. 29.07.1991 über den Führerschein, ABl. Nr. L 237 v. 24.08.1991, S. 1; inzwischen ersetzt durch Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.12.2006 über den Führerschein (Neufassung), ABl. Nr. L 403 v. 30.12.2006, S. 18.

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es die zuständige Verwaltungsbehörde im April 1999 ab, dem Bf. dennoch die Fahrerlaubnis zu belassen, da die Richtlinie 91/439/EWG einen absoluten medizinischen Standard setze und im Unterschied zum finnischen Recht keine Ausnahmebewilligung zulasse. Der Bf. erhob Klage und verlangte eine mündliche Verhandlung für eine Anhörung und Zeugenvernehmung sowie die Einholung einer Vorabentscheidung zur Auslegung der Richtlinie. Darüber hinaus trug er vor, dass seine Familie wirtschaftlich von der Fahrerlaubnis abhängig sei, er einen Eignungsfahrtest der Sozialversicherungsanstalt bestanden habe und eine Fahrerlaubnis erhalten hätte, wenn seine Sehbehinderung bereits vor dem Inkrafttreten der Richtlinie bekannt gewesen wäre. Das VG Helsinki wies die Klage und sämtliche Anträge am 23.11. 1999 ab. Die Richtlinie lasse keinen Auslegungsspielraum, und die Behörde habe aus Gründen der Verkehrssicherheit rechtmäßig entschieden. Dieses Urteil wurde vom Obersten Verwaltungsgerichtshof 518 am 25.09.2000 insgesamt bestätigt. bb) Verfahren vor dem EGMR Der Bf. rügte in Straßburg als Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK), dass weder eine mündliche Verhandlung vor den nationalen Gerichten stattgefunden hatte noch ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet worden war. Der EGMR hielt in Übereinstimmung mit den Parteien Art. 6 Abs. 1 EMRK für anwendbar, da die Fahrerlaubnis eine Voraussetzung für die Berufsausübung des Bf. darstelle und somit zivilrechtliche Ansprüche betroffen seien, erklärte aber schließlich einstimmig beide Rügen wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung sei wegen besonderer Umstände verzichtbar gewesen519. Wenn die Erfüllung medizinischer Anforderungen in Rede stehe, sei ein schriftliches Verfahren gegenüber mündlicher Beweiserhebung üblicherweise besser geeignet. Außerdem habe diese zu keinem anderen Ergebnis führen können, da die in der Richtlinie aufgestellten Bedingungen unstreitig nicht erfüllt gewesen seien. Auch in der unterlassenen Vorlage sah der Gerichtshof keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK520. Hierzu wies er auf das Willkürerfordernis hin, bescheinigte den finnischen Gerichten aber, ihre Ablehnung sorgfältig begründet zu haben.

518

Finn. „Korkein hallinto-oikeus“, schwed. „Högsta förvaltningsdomstolen“. EGMR, Entsch. v. 13.01.2004, Junnila ./. Finnland, Nr. 62963/00, pdf-Dok. S. 6 f. 520 EGMR, Entsch. v. 13.01.2004, Junnila ./. Finnland, Nr. 62963/00, pdf-Dok. S. 7, Rn. 2; unter Berufung auf EKMR, Entsch. v. 12.05.1993, Société Divagsa ./. Spanien, DR 74, 274 (279). 519

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Teil 2: Verfahrensrechte

cc) Bewertung Im finnischen Ausgangsverfahren war der Oberste Verwaltungsgerichtshof als letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) zu qualifizieren. Hier bestand die untypische Konstellation, dass der Bf. durch die in Anhang III der Richtlinie 91/439/EWG aufgeführten Mindestanforderungen an das Sehvermögen belastet wurde und ein Vorabentscheidungsverfahren zur Auslegung der Richtlinie anregte, um die europarechtliche Zulässigkeit einer Abweichung von diesen Standards zu klären; eine genaue Fragestellung wurde aber offenbar nicht formuliert. Gemäß Art. 7 Abs. 3 RiLi 91/439/ EWG können die Mitgliedstaaten nach Zustimmung der Kommission von den Bestimmungen des Anhangs III abweichen, wenn dies mit dem medizinischen Fortschritt und den Grundsätzen des Anhangs III vereinbar ist. Vorliegend scheiterte diese Option jedoch bereits an der fehlenden Zustimmung der Kommission. Ansonsten sind die relevanten Vorgaben der Richtlinie zwingend und genau spezifiziert, so dass offenkundig kein Raum für eine einschränkende Auslegung zugunsten des Bf. mehr blieb. Da ernsthafte Zweifel an dieser Einschätzung weder vorgebracht wurden noch sonst ersichtlich sind, war insoweit eine hinreichend klare europarechtliche Rechtslage gegeben, die einer Vorlagepflicht entgegenstand. Weitere Fragen zum Europarecht, etwa zur Gültigkeit der Richtlinie, wurden im Prozess nicht aufgeworfen. Demnach waren die finnischen Gerichtsentscheidungen sowohl mit dem Europarecht als auch mit der EMRK vereinbar. i) Matheis ./. Deutschland (2005)521 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Die Bf. Erna Matheis, eine 1923 geborene und in St. Ingbert (Saarland) wohnhafte deutsche Staatsangehörige, bezog als ehemalige Bankangestellte seit dem 31.07.1983 eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, eine Rente aus einer Zusatzversicherung sowie ein monatliches Ruhegeld ihres früheren Arbeitgebers. Am 21.12.1983 heiratete die Bf. einen 1910 geborenen Ruhestandsbeamten, der am 23.01.1994 verstarb. Wenn die Eheschließung mit einem Ruhestandsbeamten nach Vollendung von dessen 65. Lebensjahr erfolgt ist, erhält seine Witwe nach den anwendbaren beamtenrechtlichen Vorschriften522 kein Witwengeld, sondern einen Unterhaltsbeitrag in gleicher Höhe, auf den ihr Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen in angemessenem Umfang anzurechnen sind. Dementsprechend brachte die zuständige Behörde die genannten Einkünfte der Bf. von ihrem Unterhaltsbeitrag in Abzug, wobei 30% der Min521 EGMR, Entsch. v. 01.02.2005, Matheis ./. Deutschland, Nr. 73711/01 (= DÖD 2006, 22). 522 § 19 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 22 Abs. 1 BeamtVG in der am 01.01.1992 in Kraft getretenen Fassung der Bekanntmachung v. 24.10.1990, BGBl. I, S. 2298.

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destwitwenversorgung anrechnungsfrei blieben. Daraus ergab sich ein monatlicher Unterhaltsbeitrag in Höhe von 246,36 DM (rund 126,– A). Die Bf. klagte vor den Verwaltungsgerichten auf Gewährung des Unterhaltsbeitrags ohne Anrechnung der Zusatzrente und des Ruhegeldes, da diese als Leistungen auf privatrechtlicher Grundlage kein anrechenbares Erwerbsersatzeinkommen darstellten und auch im System der gesetzlichen Rentenversicherung nicht berücksichtigt würden523. Nach gegensätzlichen Entscheidungen der Instanzgerichte524 führte die Revision vor dem BVerwG am 21.10.1999 schließlich zur Klageabweisung525. Denn das BVerwG interpretierte das BeamtVG autonom und sah die Anrechnung als Ausdruck der nachrangigen Versorgungsfunktion des Unterhaltsbeitrags, aufgrund der Versagung des Witwengelds entstehende Härten auszugleichen. Die Bf. erhob am 20.12.1999 Verfassungsbeschwerde zum BVerfG, rügte die Verletzung ihrer Eigentums- und Gleichheitsrechte aus dem Grundgesetz und erbat am 11.04.2000 ein Vorabentscheidungsverfahren zur Kompatibilität der nationalen Rechtspraxis mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere zur Gleichbehandlung. Das BVerfG nahm die Beschwerde am 18.08.2000 nicht zur Entscheidung an, da das angegriffene Urteil die Grundrechte der Bf. nicht verletze. bb) Verfahren vor dem EGMR Mit ihrer im Februar 2001 erhobenen Menschenrechtsbeschwerde rügte die Bf. Verstöße gegen das Eigentumsrecht aus Art. 1 ZP 1, auch i.V. m. dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK, sowie eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, da das BVerfG ohne Begründung auf eine Vorlage zum EuGH verzichtet habe. Zur Art. 1 ZP 1 betreffenden Rüge führte der EGMR aus, dass die Eigentumsgarantie selbst im Falle ihrer Anwendbarkeit auf den Unterhaltsbeitrag einer Witwe kein individuelles Recht auf eine bestimmte Pensionshöhe gewähre. Bei der Regelung ihrer Sozialpolitik genössen die Konventionsstaaten vielmehr einen weiten Einschätzungsspielraum, so dass die Berücksichtigung anderer Einkommensquellen bei der Festsetzung des Unterhaltsbeitrags im Lichte politischer und finanzieller Erwägungen nicht als Verletzung von Art. 1 ZP 1 einzustufen sei526. 523 Vgl. § 18 a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 SGB IV in den jeweils zwischen 1994 und 2000 anwendbaren Fassungen. 524 Abweisung durch das VG Saarlouis, Urt. v. 08.10.1997, Az.: 3 K 449/95, nicht veröffentlicht; Stattgabe durch das OVG des Saarlandes, Urt. v. 05.11.1998, Az.: 1 R 52/98, abrufbar unter: http://www.juris.de. 525 BVerwG, Urt. v. 21.10.1999, NVwZ-RR 2000, 308. 526 EGMR, Entsch. v. 01.02.2005, Matheis ./. Deutschland, Nr. 73711/01 (= DÖD 2006, 22), Rn. 1; unter Verweis auf EGMR, Entsch. v. 01.06.1999, Skórkiewicz ./. Polen, Nr. 39860/98; EGMR, endg. Entsch. v. 12.12.2000, Truhli ./. Kroatien, Nr. 45424/ 99; mutatis mutandis EGMR, Teilentsch. v. 17.05.2001, Hesse-Anger ./. Deutschland, Rep. 2001-VI.

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Teil 2: Verfahrensrechte

Entsprechend stellte der Gerichtshof auch keine konventionswidrige Diskriminierung fest. Die Schlechterstellung der Bf. im Vergleich zu Hinterbliebenen, die nach der gesetzlichen Rentenversicherung versorgungsberechtigt seien oder vor dem Eintritt des Beamten in den Ruhestand geheiratet hätten, lasse sich rechtfertigen, da die jeweiligen Versorgungssysteme unterschiedliche Zwecke verfolgten bzw. die Voraussetzungen für persönliche Altersvorsorge bei den Betroffenen verschieden seien527. Hinsichtlich des Beschlusses des BVerfG bekräftigte der EGMR seine ständige Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK, sah aber keine Anhaltspunkte für eine willkürlich unterbliebene Vorlage528. Zwar sei das BVerfG nicht explizit auf das Vorlagebegehren der Bf. eingegangen, jedoch habe die Bf. versäumt darzulegen, dass ihre Verfassungsbeschwerde eine relevante europarechtliche Frage aufwerfe. Hierzu wies der EGMR ausdrücklich darauf hin, dass sich die Zuständigkeit des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren auf die Auslegung und Gültigkeit europarechtlicher Vorschriften beschränke. Damit wurde die gesamte Menschenrechtsbeschwerde einstimmig wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt. cc) Bewertung Aus Sicht des Europarechts stellten sowohl das BVerwG als auch das BVerfG letztinstanzliche Gerichte i. S. d. Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) dar. In der deutschen Regelung zur Berechnung der Hinterbliebenenversorgung ergaben sich nachteilige Folgen bei einer Eheschließung nach Überschreitung der Altersgrenze von 65 Jahren durch den Ruhestandsbeamten. Daher hätte der Ausgangsrechtsstreit zu komplexen Fragen nach Bestand, unmittelbarer Wirkung und Reichweite eines gemeinschaftsrechtlichen Verbots der Diskriminierung aufgrund des Alters529 insbesondere im Bereich des Sozialversicherungsrechts Anlass geben können, die seinerzeit nicht eindeutig zu beantworten und teils erst nachfolgend Gegenstand der Rechtsprechung des EuGH waren530. Im Verfahren 527 EGMR, Entsch. v. 01.02.2005, Matheis ./. Deutschland, Nr. 73711/01 (= DÖD 2006, 22), Rn. 2. 528 EGMR, a. a. O., Rn. 3; unter Verweis auf EGMR, Entsch. v. 13.06.2002, Bakker ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 43454/98; EGMR, Teilentsch. v. 24.08.1999, Schweighofer et al. ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/97, 37579/97. 529 Vgl. Art. 13 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 19 Abs. 1 AEUV). Die Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. Nr. L 303 v. 02.12. 2000, S. 16 ff.) war vorliegend jedenfalls nicht anwendbar (vgl. zu Umsetzung und Inkrafttreten Art. 18, 20 RiLi). 530 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Mangold, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 75 ff.; EuGH, Urt. v. 23.09.2008, Bartsch, Rs. C-427/06, Slg. 2008, I-7245, Rn. 18, 25; Schwarze/Holoubek, Art. 19 AEUV, Rn. 3 ff.

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vor den Verwaltungsgerichten wurde das Europarecht jedoch überhaupt nicht thematisiert, obwohl im deutschen Prozessrecht allgemein der Grundsatz iura novit curia gilt und damit auch europarechtliche Normen unabhängig vom rechtlichen Vortrag der Parteien anzuwenden sind531. Europarechtlich sind die mitgliedstaatlichen Gerichte ebenfalls dazu verpflichtet, unmittelbar anwendbares Europarecht von Amts wegen zu prüfen, sofern sie hierzu nach nationalem Recht befugt sind532; entsprechende Einschränkungen müssen jedenfalls den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität genügen533. Demzufolge hätte das BVerwG hier die sich objektiv stellenden europarechtlichen Fragen dem EuGH unterbreiten müssen. Die Nichtvorlage verstieß daher gegen Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV). Hingegen führte der Umstand, dass die Bf. erstmals vor dem BVerfG auf das Europarecht Bezug nahm534, folgerichtig zum Scheitern ihrer Verfassungsbeschwerde. Denn im Verfassungsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der Subsidiarität, der sowohl die fachgerichtliche Aufbereitung des Sachverhalts als auch die zuständigkeitsgerechte Vorrangigkeit des fachgerichtlichen Grundrechtsschutzes gewährleisten soll535. Danach ist erforderlich, dass der Bf. über die formelle Rechtswegerschöpfung hinaus die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ergriffen hat, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erreichen oder diese zu verhindern536. Auch auf die Anwendung des materiellen Rechts bezogene verfassungsrechtliche Einwände müssen bereits vor den Fachgerichten vorgetragen werden537. Vorliegend wäre es der Bf. ohne weiteres mög531 Allgemein B. Sachs, Ex-officio-Prüfung, S. 1 f.; zum Zivilprozessrecht Herb, S. 70 f.; Jauernig/Hess, § 25, Rn. 4; zum Verwaltungsprozessrecht Ladenburger, S. 376, m.w. N.; Gerhardt, in: Schoch/Schneider/Bier, § 113 VwGO, Rn. 21. 532 EuGH, Urt. v. 14.12.1995, van Schijndel und van Veen, verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 13 ff.; vgl. auch EuGH, Urt. v. 19.06.1990, The Queen ./. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I2433, Rn. 19; B. Sachs, Ex-officio-Prüfung, S. 228; Streinz/Leible, EWS 2001, 1 (10). 533 EuGH, Urt. v. 14.12.1995, van Schijndel und van Veen, verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 16 ff.; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Peterbroeck, Van Campenhout & Cie ./. Belgischer Staat, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12 ff.; B. Sachs, Ex-officio-Prüfung, S. 228 f. 534 Siehe o., aa). 535 BVerfGE 77, 381 (401); 86, 382 (386 ff.); 107, 395 (414); Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 GG, Rn. 169. 536 BVerfGE 78, 58 (68); 79, 275 (278 f.); 93, 165 (171); Voßkuhle, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 GG, Rn. 169; O. Klein, in: Benda/Klein, § 19, Rn. 572; Lechner/Zuck, § 90 BVerfGG, Rn. 159. 537 BVerfGE 64, 135 (143); 66, 337 (364); Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, § 90 BVerfGG, Rn. 145; Lechner/Zuck, § 90 BVerfGG, Rn. 162; explizit zum Europarecht BVerfG (3. Kammer des Ersten Senats), NVwZ 2008, 780 (781), Rn. 38; BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), EuR 2008, 558 (563 f.), Rn. 25 ff.; Michael, JZ 2012, 870 (876); Roth, NVwZ 2009, 345 (348); kritisch Terhechte, EuR 2008, 567 (570 ff.). An einer derartigen Möglichkeit fehlt es freilich, wenn sich die Einwände erst infolge der den Rechtsweg abschließenden Entscheidung ergeben.

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Teil 2: Verfahrensrechte

lich gewesen, vor dem BVerwG auf die europarechtliche Dimension hinzuweisen und ein Vorabentscheidungsverfahren zu beantragen. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde auf das Europarecht bezog, war sie schon aufgrund des Subsidiaritätsgrundsatzes unzulässig, so dass den europarechtlichen Fragen keine Entscheidungserheblichkeit mehr zukam. Somit unterlag weder das BVerfG selbst der Vorlagepflicht, noch konnte es den Vorlagepflichtverstoß des BVerwG beanstanden. Vor dem EGMR war allein die europarechtskonforme Entscheidung des BVerfG Gegenstand der Nichtvorlagerüge, wohingegen das tatsächlich vorlagepflichtwidrige Urteil des BVerwG nicht angegriffen wurde. Das Ergebnis des EGMR, eine konventionswidrige Nichtvorlage durch das BVerfG zu verneinen, entspricht damit dem europarechtlichen Befund. Die vom Straßburger Gerichtshof gegebene knappe Begründung lässt allerdings verschiedene Schlussfolgerungen zu. Die Feststellung, dass die Bf. keine „relevant question of Community law“ vorgebracht habe, erweist sich zunächst insofern als zutreffend, als das Europarecht wegen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde in der Tat nicht mehr entscheidungserheblich war. Daher könnte man hier sogar an der von Art. 35 Abs. 1 EMRK geforderten horizontalen Rechtswegerschöpfung zweifeln, die voraussetzt, dass die jeweilige Konventionsverletzung der Sache nach und in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften vor den nationalen Instanzen vorgebracht wurde538. Auch wenn der EGMR hierauf nicht einging, hätte die Missachtung des verfassungsrechtlichen Subsidiaritätserfordernisses durch die Bf. somit schon nach diesen Maßstäben zur Unzulässigkeit der Menschenrechtsbeschwerde führen können. Allerdings erlaubt die Formulierung des EGMR auch die Deutung, dass er die europarechtlichen Ausführungen der Bf. vor dem BVerfG für nicht ausreichend spezifiziert hielt. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK würden sich dann für die Einzelnen im Vergleich zum deutschen und europäischen Recht höhere Anforderungen ergeben, überhaupt eine potentiell die Vorlagepflicht auslösende europarechtliche Frage aufzuwerfen. Denn nach den letztgenannten Rechtsordnungen reichte hier gemäß dem Grundsatz iura novit curia allein der Tatsachenvortrag dafür aus, dass sich im Verfahren Rechtsfragen i. S. d. Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) stellten. Den Ansatz einer Spezifizierungsobliegenheit hat der EGMR anschließend in der John-Entscheidung aufgegriffen und seinen Willkürmaßstab entsprechend ausdifferenziert539. Der Matheis-Fall zeigt dagegen v. a., dass bereits vor dem letztinstanzlichen Fachgericht zum Europarecht vorgetragen werden sollte, damit eine unterlassene Vorlage später mit außerordentlichen Rechtsbehelfen des nationalen Rechts wie der Verfassungsbeschwerde oder mit der Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg angegriffen werden kann. Ansons538 539

Siehe o., Teil 1, C. III. (am Ende), mit zahlreichen Nw. Siehe u., k) bb), cc).

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ten drohen diese Rechtsschutzoptionen bereits wegen Unzulässigkeit aufgrund nationaler Präklusionsvorschriften bzw. mangels horizontaler Rechtswegerschöpfung wegzufallen. j) Kefalas et al. ./. Griechenland (2005)540 aa) Sachverhalt Die Bf. Alexandros Kefalas, Vassilios Kefalas und Antonios Giannoulatos, allesamt griechische Staatsangehörige, sind Aktionäre der Aktiengesellschaft Athinaïki Khartopoiia (AK AG), die mit zwei Papierfabriken und Pflanzungen von 11 Mio. Bäumen zu den größten griechischen Papiererzeugern gehörte. Im Jahr 1984 war das Gesellschaftskapital in Höhe von 468 Mio. GRD541 in Aktien zum Nennwert von je 1.000 GRD aufgeteilt, von denen die Bf. jeweils 40,22%, 19,55% und 0,64% hielten. Auf Betreiben der Griechischen Nationalbank als Gläubigerin wurde die AK AG am 30.03.1984 durch Erlass Nr. 2544/84 des Ministers für Binnenwirtschaft dem Gesetz Nr. 1363/1983 über „in Schwierigkeiten“ befindliche Unternehmen unterstellt. Damit oblag die Leitung der Gesellschaft nicht mehr deren Organen, sondern einem ministeriell bestimmten Verwaltungsrat. Im Zeitraum von Juni 1986 bis Juni 1987 änderte die Anstalt für Unternehmenssanierung542, eine Aktiengesellschaft unter staatlicher Kontrolle, mit Genehmigung des Industrieministers mehrfach die Kapitalstruktur der AK AG. Deren Gesellschaftskapital wurde zunächst um 940 Mio. GRD erhöht, dann auf den zulässigen Mindestbetrag von 5 Mio. GRD gesenkt und schließlich auf insgesamt 30,9 Mrd. GRD erhöht. Die Bf. machten von dem ihnen allein bei der ersten Kapitalerhöhung eingeräumten Vorkaufsrecht keinen Gebrauch, woraufhin die Anstalt die während der zwei Kapitalerhöhungen neu ausgegebenen Aktien selbst erwarb. Nachdem die Griechische Nationalbank 1998 ihren Aktienanteil an der AK AG von 33,9% an die Anstalt abgetreten hatte, wurde 1999 ein multinationales Finanzunternehmen Rechtsnachfolger der Anstalt, das nun 99,7% des Gesellschaftsvermögens der AK AG auf sich vereinte. Der Aktienanteil der Bf. belief sich noch auf 0,000054%. bb) Ausgangsverfahren Zunächst gingen die Bf. vor den griechischen Verwaltungsgerichten sowie mit einer anschließenden Menschenrechtsbeschwerde vor den Konventionsorganen jeweils erfolglos gegen die ministeriellen Erlasse zur Anwendung des Gesetzes 540 EGMR, Entsch. v. 17.03.2005, Kefalas et al. ./. Griechenland (Zulässigkeit), Nr. 40051/02. 541 100 GRD entsprechen 0,29347 A. 542 Organismüò AnasugkrotÞsewò EpixeirÞsewn/Organismos Anasygkrotiseos Epicheiriseon; nachfolgend: Anstalt.

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Nr. 1363/1983 und zur Genehmigung der ersten Kapitalerhöhung vor543. Am 10.11.1987 beantragten sie dann zivilgerichtlich, die erste Kapitalerhöhung für nichtig zu erklären. Nachdem die Bf. in diesem Prozess erstinstanzlich unterlegen waren, richtete das Athener Berufungsgericht544 am 09.05.1990 ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH und setzte das Verfahren aus, um das Urteil des EuGH in einem ähnlichen Fall abzuwarten. Hier entschied der EuGH am 12.03.1996, dass die Erhöhung des Kapitals einer Aktiengesellschaft durch die Verwaltung mit Art. 25 der Zweiten Gesellschaftsrichtlinie 77/91/EWG545 unvereinbar sei546. Im Rahmen eines vom Berufungsgericht am 06.06.1996 eingeleiteten weiteren Vorabentscheidungsverfahrens stärkte der EuGH am 12.05.1998 außerdem die nationale Rechtsschutzposition der Bf.547. Am 18.02.1999 verabschiedete das griechische Parlament das Gesetz Nr. 2685/1999, mit dem die bei den administrativen Kapitalerhöhungen ausgegebenen Aktien für gültig erklärt wurden und den Altaktionären ein Recht auf vollständigen Ersatz von infolge dieser Erhöhungen entstandenen Schäden eingeräumt wurde. Das Berufungsgericht wies die Klagen der Bf. aus diesem Grund am 09.05.2000 ab. Im von den Bf. angestrengten Revisionsverfahren entschied der Oberste Gerichtshof (\A reioò PÜgoò/Areios Pagos) anschließend, dass weder griechisches Verfassungsrecht noch die EMRK verletzt worden sei548. Außerdem ersuchte er den EuGH um Vorabentscheidung über die Vereinbarkeit der im Gesetz Nr. 2685/1999 getroffenen Regelung mit den europarechtlichen Anforderungen549. Der EuGH übermittelte am 07.12.2001 sein Urteil im Fall Diamantis550 und bat um Prüfung, ob sich daraus eine Antwort auf die Vorlagefragen ergebe. Obwohl sich die Bf. für die Aufrechterhaltung ausgesprochen hatten, nahm der

543 Näher EGMR, Urt. v. 08.06.1995, Kefalas et al. ./. Griechenland, Ser. A Vol. 318A, Rn. 8 f., 17 f., 35 ff. 544 E—eteßo Aqhnþn/Efeteio Athinon. 545 Zweite Richtlinie 77/91/EWG des Rates v. 13.12.1976 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter für die Gründung der Aktiengesellschaft sowie für die Erhaltung und Änderung ihres Kapitals vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten, ABl. Nr. L 26 v. 31.01.1977, S. 1; im folgenden: Zweite Richtlinie. 546 EuGH, Urt. v. 12.03.1996, Pafitis et al., Rs. C-441/93, Slg. 1996, I-1347, Rn. 40, 60; siehe u., dd). 547 EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Kefalas et al., Rs. C-367/96, Slg. 1998, I-2843, Rn. 19 ff., 29; siehe u., dd). 548 Areios Pagos, Urt. v. 10.07.2001, Nr. 13/2001. 549 Vorabentscheidungsersuchen v. 10.07.2001 in der Rs. C-303/01, Kefalas et al., ABl. Nr. C 56 v. 02.03.2002, S. 2. 550 EuGH, Urt. v. 23.03.2000, Diamantis, Rs. C-373/97, Slg. 2000, I-1705; siehe hierzu u., dd).

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Areios Pagos daraufhin von seinem Ersuchen Abstand551 und wies die Revision der Bf. mit der Begründung zurück, dass das Gesetz Nr. 2685/1999 mit den Prinzipien des Gemeinschaftsrechts übereinstimme552. Insbesondere seien Rechtssicherheit, Vertrauensschutz und Verhältnismäßigkeit gewahrt, da mit der getroffenen Entschädigungsregelung ein effektiver und angemessener Rechtsschutz zur Verfügung stehe. Zur Zeit der Zulässigkeitsentscheidung des EGMR im Jahr 2005553 waren vor den griechischen Verwaltungs- und Zivilgerichten weitere Klagen anhängig, mit denen sich die Bf. einerseits gegen die Anwendung des Gesetzes Nr. 1363/1983, die zwischenzeitliche Kapitalreduzierung und die zweite Kapitalerhöhung wandten sowie andererseits Ersatz für die ihnen entstandenen Schäden begehrten554. cc) Verfahren vor dem EGMR Am 09.11.2002 erhoben die Bf. eine zweite Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg und rügten die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 1 ZP 1. Als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren machten sie u. a. geltend, dass der Areios Pagos sein Vorabentscheidungsersuchen willkürlich und zu ihrem Nachteil zurückgezogen sowie im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH entschieden habe, was die griechische Regierung bestritt. In seiner einstimmig ergangenen Zulässigkeitsentscheidung von 2005 führte der EGMR hierzu seine ständige Rechtsprechung an, derzufolge die EMRK kein Recht auf Einholung einer Vorabentscheidung als solches garantiere, eine willkürliche Vorlageverweigerung aber die Fairness des Verfahrens beeinträchtigen könne555. Vorliegend habe gerade der EuGH selbst den Areios Pagos unter Hinweis auf ein bereits ergangenes Urteil zum Verzicht auf eine Vorabentscheidung veranlasst. Dieses Vorgehen deute aller Wahrscheinlichkeit nach darauf hin, dass eine Behandlung der Vorlagefrage unnötig gewesen wäre. Die Rücknahme des Ersuchens könne daher nicht als willkürlich qualifiziert werden. Schließlich

551 Die Rs. C-303/01 wurde anschließend durch Beschluss des Präsidenten des EuGH v. 31.07.2002 gestrichen, ABl. Nr. C 274 v. 09.11.2002, S. 24. 552 Areios Pagos, Urt. v. 26.06.2002, Nr. 31/2002. 553 Siehe sogleich, cc). 554 Siehe EGMR, Entsch. v. 17.03.2005, Kefalas et al. ./. Griechenland (Zulässigkeit), Nr. 40051/02, pdf-Dok. S. 2, 6 f. 555 EGMR, Entsch. v. 17.03.2005, Kefalas et al. ./. Griechenland (Zulässigkeit), Nr. 40051/02, pdf-Dok. S. 9 f.; unter Verweis auf EGMR, Entsch. v. 08.06.1999, Predil Anstalt S.A. ./. Italien, Nr. 31993/96; EGMR, Entsch. v. 07.09.1999, Dotta ./. Italien, Nr. 38399/97; EGMR, Urt. v. 22.06.2000, Coëme et al. ./. Belgien, Rep. 2000-VII, Rn. 114; EGMR, Urt. v. 05.11.2002, Wynen und Centre hospitalier interrégional EdithCavell ./. Belgien, Rep. 2002-VIII, Rn. 41 ff.; EGMR, Urt. v. 15.07.2003, Ernst et al. ./. Belgien, Nr. 33400/96, Rn. 74.

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Teil 2: Verfahrensrechte

lehnte es der EGMR ab, auf die von den Bf. behauptete Missachtung der EuGHRechtsprechung durch den Areios Pagos einzugehen, da diese Frage vollständig außerhalb seiner Zuständigkeit liege. Die sich auf die Verletzung der Vorlagepflicht beziehende Rüge wurde somit wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt. Lediglich die von den Bf. ebenfalls erhobene Rüge überlanger Dauer des abgeschlossenen Zivilverfahrens überwies der EGMR in die Begründetheitsprüfung; sämtliche übrigen Beschwerdegegenstände wurden wegen Fristversäumnis, offensichtlicher Unbegründetheit oder fehlender Rechtswegerschöpfung als unzulässig eingestuft556. Zur Begründetheit der Beschwerde stellte der EGMR 2006 einstimmig einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK fest, da das Zivilverfahren in Griechenland mit einer Dauer von über 14 Jahren und sieben Monaten unter den gegebenen Umständen nicht innerhalb einer angemessenen Frist zum Abschluss gebracht worden sei557. Gemäß Art. 41 EMRK sprach der Gerichtshof den Bf. nach billigem Ermessen jeweils 16.000,– A für durch die Verfahrensverzögerung entstandene immaterielle Schäden sowie insgesamt 4.500,– A als anteilige Verfahrenskostenerstattung zu558. Eine darüber hinausgehende Entschädigung für Vermögensschäden, die die Bf. infolge der Kapitalerhöhung und wegen Beeinträchtigung ihrer beruflichen Tätigkeiten in Höhe von insgesamt über 88 Mio. A erlitten zu haben behaupteten, gewährte der EGMR hingegen nicht, da zwischen der überlangen Verfahrensdauer und den geltend gemachten Schadensposten kein kausaler Zusammenhang erkennbar sei559. Griechenland hat seine Verpflichtungen aus dem Urteil des EGMR vollständig erfüllt560. dd) Bewertung Im vor dem EGMR streitgegenständlichen Zivilprozess über die erste Kapitalerhöhung stellte der Areios Pagos als höchstes griechisches Zivilgericht ein nach Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) grundsätzlich zur Vorlage an den EuGH verpflichtetes letztinstanzliches Gericht dar.

556 EGMR, Entsch. v. 17.03.2005, Kefalas et al. ./. Griechenland (Zulässigkeit), Nr. 40051/02, pdf-Dok. S. 8 ff. 557 EGMR, Urt. v. 27.04.2006, Kefalas et al. ./. Griechenland, Nr. 40051/02, Rn. 31 ff. 558 EGMR, a. a. O., Rn. 39 ff. 559 EGMR, a. a. O., Rn. 36 ff.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 25.02.2003, Appietto ./. Frankreich, Nr. 56927/00, Rn. 21. 560 Resolution CM/ResDH(2007)164 betr. die Urteile des EGMR im Fall Drakidou ./. Griechenland und fünf weiteren Verfahren, angenommen vom Ministerkomitee am 19.12.2007.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Das Europarecht spielte hier v. a. im Hinblick auf die Auslegung und effektive Durchsetzung von Art. 25 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie eine Rolle561. Diese vom EuGH als unmittelbar wirksam eingestufte562 Vorschrift verlangt, dass jede Kapitalerhöhung bei einer Aktiengesellschaft von der Hauptversammlung zu beschließen ist, und dient damit der Zielsetzung der Richtlinie, die gesellschaftsrechtlichen Schutzbestimmungen gleichwertig zu gestalten und die Interessen von Gesellschaftern und Dritten zu wahren563. Der EuGH hat stets die Anwendbarkeit der Richtlinie auch auf solche Gesellschaften bejaht, die einer sanierungsbedingten gesetzlichen Umstrukturierung unterliegen, und eine administrativ angeordnete Kapitalerhöhung ohne Beschluss der Hauptversammlung für richtlinienwidrig gehalten564. Die Berufung von Aktionären auf Art. 25 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie darf nach nationalem Recht nicht als missbräuchlich angesehen werden, wenn durch diese Wertung die Tragweite der Richtlinienvorschrift verändert und somit die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts gefährdet würde565. Im Urteil Diamantis präzisierte der EuGH den mitgliedstaatlichen Spielraum bei der Ausgestaltung des Rechtsschutzes gegen Richtlinienverletzungen weiter. Da die Zweite Richtlinie keine besondere Sanktion vorsehe, könnten die gewöhnlichen nationalen Vorschriften eingreifen566. Wirksamkeit und einheitliche An561 Die in Art. 29 der Zweiten Richtlinie statuierte Pflicht, den Aktionären anteilsmäßig die vorzugsweise Zeichnung neu ausgegebener Aktien anzubieten, wurde bei der ersten Kapitalerhöhung noch erfüllt; siehe o., aa). 562 EuGH, Urt. v. 30.05.1991, Karella et al., verb. Rs. C-19/90 und C-20/90, Slg. 1991, I-2691, Rn. 17 ff., 23; EuGH, Urt. v. 24.03.1992, Syndesmos Melon tis Eleftheras Evangelikis Ekklisias ./. Griechischer Staat et al., Rs. C-381/89, Slg. 1992, I-2111, Rn. 38; EuGH, Urt. v. 11.12.1992, Kerafina-Keramische ./. Griechenland, verb. Rs. C134/91 und C-135/91, Slg. 1992, I-5699, Rn. 18. Die Zweite Richtlinie war in Griechenland bis zum 01.01.1981 in nationales Recht umzusetzen; siehe Art. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Griechenland und die Anpassungen der Verträge, ABl. Nr. L 291 v. 19.11.1979, S. 17; ferner GA Saggio, Schlussanträge v. 28.10. 1999 in der Rs. C-373/97, Diamantis, Slg. 2000, I-1705, Rn. 5. 563 EuGH, Urt. v. 30.05.1991, Karella et al., verb. Rs. C-19/90 und C-20/90, Slg. 1991, I-2691, Rn. 25 f., 30; EuGH, Urt. v. 24.03.1992, Syndesmos Melon tis Eleftheras Evangelikis Ekklisias ./. Griechischer Staat et al., Rs. C-381/89, Slg. 1992, I-2111, Rn. 27 f., 32 f.; EuGH, Urt. v. 12.03.1996, Pafitis et al., Rs. C-441/93, Slg. 1996, I1347, Rn. 57. 564 EuGH, Urt. v. 30.05.1991, Karella et al., verb. Rs. C-19/90 und C-20/90, Slg. 1991, I-2691, Rn. 25 ff., 31; EuGH, Urt. v. 24.03.1992, Syndesmos Melon tis Eleftheras Evangelikis Ekklisias ./. Griechischer Staat et al., Rs. C-381/89, Slg. 1992, I-2111, Rn. 25 ff., 37; EuGH, Urt. v. 11.12.1992, Kerafina-Keramische ./. Griechenland, verb. Rs. C-134/91 und C-135/91, Slg. 1992, I-5699, Rn. 18; EuGH, Urt. v. 12.03.1996, Pafitis et al., Rs. C-441/93, Slg. 1996, I-1347, Rn. 40, 57 ff., 60; EuGH, Urt. v. 23.03.2000, Diamantis, Rs. C-373/97, Slg. 2000, I-1705, Rn. 32. 565 EuGH, Urt. v. 12.03.1996, Pafitis et al., Rs. C-441/93, Slg. 1996, I-1347, Rn. 67 ff.; EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Kefalas et al., Rs. C-367/96, Slg. 1998, I-2843, Rn. 19 ff.; EuGH, Urt. v. 23.03.2000, Diamantis, Rs. C-373/97, Slg. 2000, I-1705, Rn. 34 ff. 566 EuGH, Urt. v. 23.03.2000, Diamantis, Rs. C-373/97, Slg. 2000, I-1705, Rn. 41.

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Teil 2: Verfahrensrechte

wendung des Gemeinschaftsrechts würden nicht schon durch Rechtsschutzbeschränkungen beeinträchtigt, die in verhältnismäßiger Weise die berechtigten Interessen Dritter schützten; solche Drittinteressen sah der EuGH etwa bei einer Nichtigerklärung der Kapitaländerungen berührt567. Die konkrete Entscheidung über die Vereinbarkeit der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift mit diesen europarechtlichen Vorgaben wies der EuGH den nationalen Gerichten zu568. Auf dieser Grundlage standen dem Areios Pagos die wesentlichen Informationen zur Verfügung, die er für die Prüfung der Europarechtskonformität des Gesetzes Nr. 2685/1999 benötigte. Denn die dort vorgesehene Rechtsschutzbeschränkung auf Schadensersatz ermöglichte es, Dritte durch die Aufrechterhaltung der Kapitalerhöhungen zu schützen. Nach dem Hinweis des EuGH auf das Urteil Diamantis durfte der Areios Pagos davon ausgehen, dass der EuGH selbst keine weitere europarechtliche Klarstellung für erforderlich hielt. In seinem anschließenden Urteil bezog der Areios Pagos die vom EuGH genannten Prinzipien auch ausdrücklich in seine Einzelfallbeurteilung ein569. Der Areios Pagos war mithin von seiner europarechtlichen Vorlagepflicht befreit, da er eine hinreichend gesicherte Rechtsprechung des EuGH (acte éclairé)570 befolgte. Aus europarechtlicher Sicht bedurfte es insoweit also keiner konventionsrechtlichen Korrektur durch den EGMR. Folglich ist es im Ergebnis zu begrüßen, dass der Straßburger Gerichtshof in seiner Zulässigkeitsentscheidung keinen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen unterbliebener Befassung des EuGH festgestellt hat. Methodisch legte der EGMR wiederum seinen üblichen Willkürmaßstab an, den er auf die besonderen Gegebenheiten des Verfahrens ausrichtete. Dabei knüpfte er nicht an die inhaltliche Klärung der aufgeworfenen europarechtlichen Rechtsfrage i. S. eines acte éclairé an, sondern wählte mit dem Hinweis des EuGH auf dessen früheres Urteil einen verfahrensrechtlichen Bezugspunkt. Demnach erfolgt die Rücknahme eines Vorabentscheidungsersuchens jedenfalls dann nicht im konventionsrechtlichen Sinne willkürlich, wenn der EuGH dem nationalen Gericht anheimgestellt hat, ob es seine Vorlagefrage aufrechterhält571. Wie hier dürften in derartigen Fällen zumeist die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Vorlagepflicht gegeben sein, zumal der EuGH ansonsten wohl die Vorlagefrage, ggf. in bedarfsgerecht ausgelegter oder umgedeuteter Fassung572, regelmäßig selbst beantworten würde.

567 568 569 570 571 572

EuGH, a. a. O., Rn. 40, 43. EuGH, a. a. O., Rn. 34 f. Siehe o., bb). Siehe o., II. 1. b). Siehe o., cc), sowie Munding, S. 469. Vgl. o., I. 2. a).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Zu beachten bleibt indes, dass eine Verletzung der Vorlagepflicht auch im Anschluss an die Rücknahme eines Vorabentscheidungsersuchens entstehen kann. Hierzu kommt es etwa, wenn das nationale Gericht in seinem Sachurteil von der vorherigen Rechtsprechung des EuGH abweicht, z. B. weil es den vom EuGH gegebenen Hinweis missverstanden hat573. In der Kefalas-Entscheidung verneinte der EGMR ohne eine nähere Begründung seine Zuständigkeit für die Prüfung, ob das nationale Gericht die Judikatur des EuGH berücksichtigt hatte574. Die auffällige Zurückhaltung des Straßburger Gerichtshofs in dieser Hinsicht könnte damit zu erklären sein, dass eine Missachtung der Rechtsprechung des EuGH durch den Areios Pagos ohnehin nicht ersichtlich war. Bei einem detaillierten Vergleich der Vorgaben des EuGH mit dem nationalen Urteil hätte der EGMR daher möglicherweise riskiert, seinerseits das Monopol des EuGH für die verbindliche Auslegung von Europarecht zu verletzen575. Darüber hinaus gehört die konkrete Anwendung des Europarechts auf den jeweiligen Ausgangsfall auch nach der Rechtsprechung des EuGH zur Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte576. Falls aber ein grundsätzlich vorlagepflichtiges Gericht signifikant von einer als acte éclairé einzustufenden Rechtsprechung des EuGH abweichen sollte, erscheint es durchaus vorstellbar, dass der EGMR einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren annehmen könnte577. Denn in einer derartigen Konstellation wäre der Widerspruch zur EuGH-Judikatur bereits nachweisbar, ohne dass es einer vertieften Auseinandersetzung mit der Auslegung oder Anwendung des Europarechts bedürfte, die über die Zuständigkeit des EGMR hinausginge578. Mit der Feststellung der überlangen Verfahrensdauer im Begründetheitsurteil des EGMR war schließlich ebenfalls keine Stärkung des Rechtsschutzes gegen die richtlinienwidrigen Kapitalerhöhungen verbunden, da das zugrundeliegende Zivilverfahren ohnehin nicht auf Schadensersatz als einzig zulässige Kompensationsform gerichtet war579. Die Durchsetzung der europarechtlichen Rechtsposition der Bf. aus der Zweiten Richtlinie blieb damit den griechischen Gerichten in den noch anhängigen nationalen Schadensersatzprozessen überlassen. Allgemein lässt sich indes festhalten, dass die konventionsrechtliche Kontrolle der Verfahrensdauer580 durch ihre Präventivwirkung und die finanzielle Kompen573 Vgl. EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 7 ff., 105 ff., 116 ff. 574 Siehe o., cc); dem EGMR zustimmend Munding, S. 469. 575 Vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, Art. 267 Abs. 1 AEUV; siehe auch o., I. 1., 2. a), sowie u., Teil 3, A. I. 5. d). 576 Siehe o., I. 2. a), mit Nw. 577 Siehe auch u., B. IV. 2. c). 578 Vgl. entsprechend u., V. 2. a). 579 Siehe o., bb). 580 Siehe EGMR (GK), Urt. v. 27.06.2000, Frydlender ./. Frankreich, Rep. 2000-VII, Rn. 43 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 26.10.2000, Kudła ./. Polen, Rep. 2000-XI (= EuGRZ

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sation übermäßiger Verzögerungen dazu beitragen kann, die Durchsetzung des Europarechts in Verfahren vor den mitgliedstaatlichen Gerichten581 zu effektivieren. Aufgrund der vom EGMR geforderten kausalen Beziehung zwischen dem konkreten Verfahrensrechtsverstoß und der Schadensposition582 kann bei Feststellung einer überlangen Verfahrensdauer aber allein der Ersatz des gerade hierdurch entstandenen Schadens verlangt werden. Auf diesem Wege ist deshalb weder eine indirekte Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen erreichbar noch eine Wiedergutmachung von Schäden, die durch sonstige Verstöße mitgliedstaatlicher Stellen gegen Europarecht entstanden sind. k) John ./. Deutschland (2007)583 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der Bf., der deutsche Staatsangehörige Lutz John, betrieb auf eigenem Grundstück eine Tankstelle in Calbe (Sachsen-Anhalt). In den Jahren 1994/1995 schloss er mit einer Mineralölgesellschaft einen Tankstellenvertrag, der ihn über eine Bezugsbindungsklausel dazu verpflichtete, während der 20-jährigen Laufzeit von dieser Gesellschaft Kraftstoff zu beziehen. Nachdem der Anwalt des Bf. den Vertrag 1998 gekündigt hatte, verklagte die Mineralölgesellschaft den Bf. vor dem LG Hamburg und beantragte, die Wirksamkeit des Vertrages festzustellen und den Bf. zu verurteilen, Bezug, Lagerung und Vertrieb von Kraftstoffen anderer Gesellschaften zu unterlassen. Das LG wies die Klage am 13.11.1998 mit der Begründung ab, dass der langfristige Alleinbezugsvertrag nach Art. 85 Abs. 1, 2 EGV a. F. (später Art. 81 EGV; jetzt Art. 101 AEUV) verboten und nichtig sei, da er den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt einschränke und den Marktzugang möglicher Mitbewerber behindern solle. Dies gelte ungeachtet dessen, dass der Bf. im Vertrag als Handelsvertreter bezeichnet werde, weil sich diese Einordnung aus seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht ergebe. Im Berufungsverfahren vor dem Hanseatischen OLG Hamburg beantragte der Bf. die Zurückweisung der Berufung und hilfsweise die Einholung einer Vorabentscheidung zur Vereinbarkeit des vorliegenden Vertragsinhalts mit Art. 81 EGV. Das OLG gab der Berufung am 13.04.

2004, 484), Rn. 124, 130, 151 ff.; EGMR, Urt. v. 03.04.2003, Kitov ./. Bulgarien, Nr. 37104/97, Rn. 68, 73; sowie ausführlich F. Meyer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 6 EMRK, Rn. 72 ff.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 235 ff., 248 ff. 581 Die Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH bleibt dagegen bislang ausgeklammert; siehe EGMR, Urt. v. 26.02.1998, Pafitis et al. ./. Griechenland, Rep. 1998-I (= RUDH 1998, 140), Rn. 95; sowie o., Teil 1, D. I., III. 1. 582 Siehe o., cc); vgl. auch bereits o., f) bb), cc). 583 EGMR, Entsch. v. 13.02.2007, John ./. Deutschland, Nr. 15073/03 (= EuGRZ 2008, 274).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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2000 ohne Vorlage zum EuGH statt und verurteilte den Bf. antragsgemäß, da dieser nach Europarecht als Handelsvertreter anzusehen und Art. 81 EGV somit nicht anwendbar sei584. Der Bf. legte am 25.09.2000 Revision zum BGH ein und beantragte, das Urteil des OLG aufzuheben und „nach den Schlußanträgen [des Bf.] in der Berufungsinstanz zu erkennen“, gab aber keine ausdrückliche Begründung für die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung. Am 26.06.2002 lehnte der BGH die Annahme der Revision mangels grundsätzlicher Bedeutung oder hinreichender Aussicht auf Erfolg ab. Eine daraufhin vom Bf. erhobene Verfassungsbeschwerde nahm das BVerfG am 07.11.2002 ohne Begründung nicht zur Entscheidung an. Weder der BGH noch das BVerfG leiteten ein Vorabentscheidungsverfahren ein. bb) Verfahren vor dem EGMR Der Bf. berief sich vor dem EGMR auf seine Verfahrensrechte aus Art. 6 Abs. 1 EMRK und rügte die unterbliebene Einschaltung des EuGH. Der BGH und das BVerfG seien zur Vorlage verpflichtet gewesen, da seinerzeit noch keine europäische Rechtsprechung zur möglichen Funktion eines Tankstellenverwalters als Handelsvertreter nach europäischem Wettbewerbsrecht sowie zu den sog. unechten Handelsvertreterverträgen in diesem Sektor bestanden habe. Auch das OLG habe der Vorlagepflicht unterlegen, weil die Annahme der Revision durch den BGH ungewiss gewesen sei. Weiterhin monierte der Bf., dass die Beschlüsse des BGH und des BVerfG nicht begründet worden seien. Der EGMR erinnerte an das Fehlen eines Konventionsrechts auf Vorlage einer Rechtssache zum EuGH und bekräftigte, dass das Gebot des fairen Verfahrens verletzt sein könne, wenn die Ablehnung einer Vorlage willkürlich erscheine585. Darüber hinaus sei ein Vorabentscheidungsverfahren nur möglich, wenn das nationale Gericht eine Entscheidung des EuGH für erforderlich halte. Diesbezüglich stellte der EGMR fest, dass es in erster Linie den nationalen Behörden, insbesondere den Gerichten, obliege, das innerstaatliche Recht auszulegen und anzuwenden, selbst wenn es auf internationales Recht Bezug nehme586. Seine eigene Rolle beschränkte der Gerichtshof jedenfalls darauf festzustellen, ob die Auswir584 OLG Hamburg, Urt. v. 13.04.2000, WuW DE-R 506, außerdem abrufbar unter: http://www.juris.de; hierzu Pohlmann, EWiR 2001, Art. 81 EG 1/01, S. 229. 585 EGMR, Entsch. v. 13.02.2007, John ./. Deutschland, Nr. 15073/03 (= EuGRZ 2008, 274), pdf-Dok. S. 5; unter Verweis auf EGMR, Entsch. v. 01.02.2005, Matheis ./. Deutschland, Nr. 73711/01; EGMR, Entsch. v. 13.06.2002, Bakker ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 43454/98; EGMR, Teilentsch. v. 24.08.1999, Schweighofer et al. ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/97, 37579/97. 586 EGMR, Entsch. v. 13.02.2007, John ./. Deutschland, a. a. O.; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 143.

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kungen einer solchen Entscheidung mit der Konvention vereinbar sind587. Im Rahmen dieser Beurteilung verneinte er eine Vorlagepflicht des OLG, da es wegen der Revisionsmöglichkeit zum BGH kein letztinstanzliches Gericht gewesen sei. Vor dem BGH habe der Bf. dagegen weder einen ausdrücklichen Antrag auf Vorlage zum EuGH gestellt noch deren Notwendigkeit explizit und präzise begründet. Damit habe der Bf. unzureichend dargetan, dass er eine Vorabentscheidung des EuGH für erforderlich halte. Das BVerfG wiederum könne eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 (S. 2) GG nur feststellen, wenn das Vorlagebegehren vor dem Instanzgericht hinreichend substantiiert gewesen sei. Vor diesem Hintergrund seien die ohne Vorlage ergangenen Nichtannahmebeschlüsse von BGH und BVerfG nicht als willkürlich anzusehen. Zur Rüge unzureichender Begründung führte der EGMR aus, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK nationalen Obergerichten nicht verbiete, eine Beschwerde unter Hinweis auf die einschlägigen Zulässigkeitsvorschriften abzuweisen, wenn die Sache keine Rechtsfrage von grundlegender Bedeutung aufwirft588. Angesichts der vorgenannten Umstände seien BGH und BVerfG konventionsrechtlich nicht verpflichtet gewesen, ihre Entscheidungen einschließlich der Ablehnung der Vorlage an den EuGH zu begründen. Die Beschwerde wurde vom EGMR schließlich einstimmig wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt. cc) Bewertung Zutreffend hat der EGMR allein den BGH und das BVerfG, nicht aber das OLG als letztinstanzliche Gerichte i. S. d. Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) qualifiziert. Im Ausgangsverfahren war die Beurteilung des zwischen den Parteien abgeschlossenen Tankstellenvertrags nach europäischem Wettbewerbsrecht streitig. Gemäß Art. 81 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 101 Abs. 1 AEUV) sind u. a. alle Vereinbarungen zwischen Unternehmen verboten, die den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind und eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezwecken oder bewirken. Strukturell handelte es sich bei dem Tankstellenvertrag um eine sog. „vertikale Vereinbarung“ zwischen auf unterschiedlichen Produktions- oder Vertriebsstufen tätigen Akteuren589, die eine Preisbindung und 587 EGMR, Entsch. v. 13.02.2007, John ./. Deutschland, Nr. 15073/03 (= EuGRZ 2008, 274), pdf-Dok. S. 5 f.; mutatis mutandis unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Waite und Kennedy ./. Deutschland, Rep. 1999-I (= EuGRZ 1999, 207), Rn. 51 (richtig: Rn. 54); EGMR (GK), Urt. v. 22.03.2001, Streletz, Kessler und Krenz ./. Deutschland, Rep. 2001-II (= EuGRZ 2001, 210), Rn. 49. 588 EGMR, Entsch. v. 13.02.2007, John ./. Deutschland, Nr. 15073/03 (= EuGRZ 2008, 274), pdf-Dok. S. 7; unter Verweis auf EGMR, Entsch. v. 04.10.2001, Teuschler ./. Deutschland, Nr. 47636/99. 589 Vgl. Streinz/Eilmansberger, Art. 101 AEUV, Rn. 165 ff.

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eine Alleinbezugsverpflichtung enthielt. Aufgrund der 20-jährigen Vertragslaufzeit kam eine Gruppenfreistellung vom Kartellverbot nach den einschlägigen Verordnungen von vornherein nicht in Betracht590. Vielmehr wurde vor den deutschen Gerichten die Frage aufgeworfen, ob der Bf. als in die Unternehmensstruktur der Mineralölgesellschaft eingegliederter echter Handelsvertreter anzusehen sei. Ein solches Abhängigkeitsverhältnis kann dazu führen, dass der untergeordnete Partner seinen Status als Unternehmen i. S. d. Art. 81 EGV (jetzt Art. 101 AEUV) verliert und das Kartellverbot insoweit unanwendbar wird. Die entsprechende europarechtliche Rechtslage war seinerzeit in verschiedener Hinsicht ungeklärt, z. B. in Bezug auf die Übertragbarkeit der älteren Rechtsprechung des EuGH 591 auf den Tankstellenbereich oder etwaige Auswirkungen der zugehörigen Leitlinien der Kommission592. Nach Vorlage durch das spanische Tribunal Supremo hat der EuGH erstmals in einem 2006 ergangenen Urteil die für Tankstellenverträge maßgeblichen Kriterien zur Abgrenzung einer Handelsvertreterstellung definiert593. Zugleich hat er klargestellt, dass das europäische Wettbewerbsrecht stets auf Bestimmungen eines Handelsvertretervertrages Anwendung findet, die nicht den Weiterverkauf der Waren an Dritte betreffen, sondern die Beziehung zwischen dem Handelsvertreter und dem Geschäftsherrn (z. B. Ausschließlichkeits- und Wettbewerbsverbotsklauseln)594. In diesem Verhältnis ist also auch ein als Handelsvertreter fungierender Tankstellenbetreiber grundsätzlich als unabhängiges Wirtschaftsunternehmen einzustufen. Da der vorliegende Tankstellenvertrag mit der Alleinbezugsvereinbarung zumindest ein derartiges Wettbewerbsverbot enthielt, unterlag er also je-

590 Vgl. Art. 12 lit. c VO (EWG) Nr. 1984/83 der Kommission v. 22.06.1983 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Alleinbezugsvereinbarungen, ABl. Nr. L 173 v. 30.06.1983, S. 5; Art. 5 lit. a VO (EG) Nr. 2790/1999 der Kommission v. 22.12.1999 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, ABl. Nr. L 336 v. 29.12.1999, S. 21. 591 EuGH, Urt. v. 16.12.1975, Suiker Unie et al. ./. Kommission, verb. Rs. 40/73 u. a., Slg. 1975, 1663, Ls. 6 d; EuGH, Urt. v. 24.10.1995, Bundeskartellamt ./. Volkswagen und VAG Leasing, Rs. C-266/93, Slg. 1995, I-3477, Rn. 19; siehe auch Mestmäcker/Schweitzer, § 8, Rn. 39 ff. 592 Mitteilung der Kommission – Leitlinien für vertikale Beschränkungen, ABl. Nr. C 291 v. 13.10.2000, S. 1, Rn. 12 ff. Die Leitlinien lassen freilich die Auslegung des Europarechts durch den EuGH unberührt (Rn. 4). 593 EuGH, Urt. v. 14.12.2006, Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servizio, Rs. C-217/05, Slg. 2006, I-11987 (= EuZW 2007, 150), Rn. 44 ff., 51 ff.; bestätigt durch EuGH, Urt. v. 11.09.2008, CEPSA, Rs. C-279/06, Slg. 2008, I-6681 (= EuZW 2008, 668), Rn. 35 ff. 594 EuGH, Urt. v. 14.12.2006, Confederación Española de Empresarios de Estaciones de Servizio, Rs. C-217/05, Slg. 2006, I-11987 (= EuZW 2007, 150), Rn. 62; EuGH, Urt. v. 11.09.2008, CEPSA, Rs. C-279/06, Slg. 2008, I-6681 (= EuZW 2008, 668), Rn. 41, 44; vgl. auch Wegner/Pfeffer, EuZW 2007, 154 (156); dies., EuZW 2008, 673 (674); Streinz/Eilmansberger, Art. 101 AEUV, Rn. 217.

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Teil 2: Verfahrensrechte

denfalls diesbezüglich ungeachtet einer etwaigen Stellung des Bf. als Handelsvertreter Art. 81 EGV (jetzt Art. 101 AEUV). Das OLG Hamburg hat mit seinem gegenteiligen Urteil die europarechtliche Rechtslage demnach verkannt. Für sich genommen bedeutet der Verzicht des BGH auf die Vorlage der geschilderten Fragen zum EuGH aber nur dann eine Verletzung von Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV), wenn diese auch für die Nichtannahme der Revision des Bf. entscheidungserheblich waren. Theoretisch verbleibt nämlich die Möglichkeit, dass der Bf. den Rechtsstreit deshalb verloren hat, weil keine Wettbewerbsbehinderung gegeben war595. Es ist Aufgabe der nationalen Gerichte festzustellen, ob eine Unternehmensvereinbarung tatsächlich den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt beeinträchtigt596. Da der BGH seinen Beschluss nicht begründet hat, bleibt jedoch unklar, welche Erwägungen ihn trugen. Das BVerfG geht in einer solchen Konstellation davon aus, dass das letztinstanzliche Gericht auf die europarechtlichen Erwägungen der Vorinstanz zwar nicht ausdrücklich, aber doch erkennbar Bezug nehme und sie sich stillschweigend zu eigen mache597. Die Heranziehung des insgesamt bestätigten Berufungsurteils erlaubt in diesen Fällen die Überprüfung, ob das letztinstanzliche Revisionsgericht überhaupt vorlagepflichtig war, was insbesondere in einem Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH oder einem Staatshaftungsprozess von Bedeutung sein kann. Auf diese Weise lässt sich verhindern, dass selbst diese europarechtlich vorgesehenen Sanktionsmechanismen für Vorlagepflichtverletzungen schon aufgrund einer knappen oder fehlenden Begründung des Revisionsgerichts leerlaufen598. Wenn grundsätzlich vorlagepflichtauslösende europarechtliche Fragen für das vorinstanzliche Urteil ausschlaggebend waren, verstößt deren unbegründete Nichtvorlage durch das letztinstanzliche Gericht gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV (früher Art. 234 Abs. 3 EGV). Da sich das Urteil des OLG Hamburg vorliegend auf die selbstständige Beantwortung offener Fragen des europäischen Wettbewerbsrechts stützte, ist der ohne Vorlage ergangene bestätigende Nichtannahme-

595 Zu diesem Erfordernis vgl. EuGH, Urt. v. 11.09.2008, CEPSA, Rs. C-279/06, Slg. 2008, I-6681 (= EuZW 2008, 668), Rn. 43; EuGH, Urt. v. 07.12.2000, Neste, Rs. C-214/99, Slg. 2000, I-11121 (= EuZW 2001, 631), Rn. 25 ff.; EuGH, Urt. v. 28.02. 1991, Delimitis ./. Henninger Bräu, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935 (= EuZW 1991, 376), Rn. 13 ff.; Weiß, in: Calliess/Ruffert, Art. 101 AEUV, Rn. 83 ff.; Schwarze/Brinker, Art. 101 AEUV, Rn. 38 ff. 596 EuGH, Urt. v. 11.09.2008, CEPSA, Rs. C-279/06, Slg. 2008, I-6681 (= EuZW 2008, 668), Rn. 44. 597 BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1994, 2017 (2018); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1988, 1456 (1457 f.). 598 Eine solche Konsequenz wäre mit dem europarechtlichen Effektivitätsgebot [siehe hierzu o., III. 3. a) aa) (3), und u., Teil 3, A. I. 3. b) bb) (3) (b)] nicht zu vereinbaren; die Mitgliedstaaten müssen ihr daher auch kraft ihrer Kooperationspflichten aus Art. 4 Abs. 3 EUV (früher Art. 10 EGV) entsprechend entgegenwirken; siehe auch Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 4 EUV, Rn. 85; Streinz/Streinz, Art. 4 EUV, Rn. 61.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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schluss des BGH somit als europarechtswidrig zu werten. Die verfassungsgerichtliche Sanktionierung dieses Verstoßes über Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dürfte wiederum an den nicht am Europarecht ausgerichteten Prüfungsmodalitäten des BVerfG gescheitert sein599. Der EGMR ließ die Entscheidungen der deutschen Gerichte dennoch unbeanstandet. Dabei bekräftigte er zwar seine etablierte Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK, zeigte aber auch neue Wertungsgrundlagen auf. Hierzu gehört etwa die erstmals verwendete Feststellung, dass ein nationales Gericht generell nur dann zur Vorlage an den EuGH berechtigt sei, wenn es dessen Entscheidung für erforderlich halte600. Dies trifft indes nur für Instanzgerichte zu (Art. 267 Abs. 2 AEUV), wohingegen sich die europarechtliche Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte aus Art. 267 Abs. 3 AEUV nach objektiven Kriterien bestimmt. Ein freies gerichtliches Ermessen besteht insoweit gerade nicht, sofern die sich stellende Frage entscheidungserheblich ist601. Der Hinweis des Gerichtshofs auf die Prärogative der innerstaatlichen Instanzen bei Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts deutet ebenfalls auf eine zurückhaltende menschenrechtliche Kontrolle hin, die bereits im Willkürmaßstab zum Ausdruck kommt. In diesem Rahmen maß der EGMR dem Europarecht keine entscheidende Bedeutung bei, sondern zog es vielmehr selektiv heran, wie der unterschiedliche Umgang mit dem Urteil des OLG Hamburg einerseits sowie den Beschlüssen des BGH und des BVerfG andererseits zeigt. So prüfte der EGMR die Vorlageverpflichtung des OLG direkt anhand von Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) und verneinte sie richtigerweise. Die Entscheidungen von BGH und BVerfG wurden hingegen weder autonom noch unter Einbeziehung des Berufungsurteils an den europarechtlichen Anforderungen gemessen, sondern mit der Begründung für konventionskonform erklärt, dass der Verweis des Bf. auf seine entsprechenden Anträge im Berufungsverfahren nicht ausreiche, um die Notwendigkeit einer Vorlage durch den BGH darzulegen. In Verbindung mit der gleichzeitigen Bestätigung der geringen Vorgaben der EMRK für die Begründung nationaler Gerichtsentscheidungen ergibt sich daraus eine überaus strenge Spezifizierungsobliegenheit zu Lasten der Einzelnen. Diese stand zwar bereits in der Matheis-Entscheidung des EGMR im Raum602, erhält nun aber erstmals klarere Konturen. Für die Annahme einer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK willkürlichen Unterlassung der Vorlage ist danach notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung, dass der Bf. vor dem letztinstanzlichen Fachgericht ausdrücklich und präzise begründet („express and precise reasons“) zur Erforderlichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens vorgetragen hat. 599 600 601 602

Siehe o., III. 3. a) aa) (1), (2). Siehe o., bb). Siehe o., I. 3., II.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10, Rn. 60. Siehe o., i) cc).

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Teil 2: Verfahrensrechte

Eine solche Obliegenheit geht über die üblichen konventionsrechtlichen Anforderungen an die horizontale Rechtswegerschöpfung hinaus, für die ausreichend ist, wenn die jeweilige Rüge der Sache nach vorgebracht wurde603. Für die Auslösung der europarechtlichen Vorlagepflicht existiert gleichfalls keine solche Voraussetzung. Denn im Europarecht gilt das Prinzip iura novit curia, wenn die nationale Rechtsordnung dies – wie in Deutschland der Fall – zulässt604. Diese Vergleiche zeigen bereits, dass der vom EGMR geforderte Darlegungsumfang den Bf. im nationalen Verfahren überstrapaziert, zumal der Verweis auf frühere Anträge durchaus der Prozessökonomie zugutekommen kann605. Für eine sachgerechte Beurteilung durch den EGMR selbst wäre es regelmäßig ausreichend, wenn erst im Menschenrechtsbeschwerdeverfahren detailliert zum Europarecht als konventionsfremder Rechtsordnung vorgetragen würde. Infolge der John-Entscheidung ist indes zu befürchten, dass auch gravierende Verletzungen der Vorlagepflicht schon deshalb nicht sanktioniert werden, weil der Vortrag des Bf. vor den nationalen Gerichten nicht den vom EGMR gewünschten Präzisionsgrad erreicht hat. Hinzu kommt, dass nur wenige Orientierungspunkte bestehen, wie genau die Notwendigkeit einer Vorlage im einzelnen zu spezifizieren sein soll. Inzwischen hat der EGMR implizit vorausgesetzt, dass durch den Bf. konkretisiert wurde, welche europarechtlichen Bestimmungen für den jeweiligen Fall von Bedeutung seien606. Der so verwendete konventionsrechtliche Willkürmaßstab führt demnach zu weiteren Diskrepanzen zwischen Europarecht und EMRK, die Raum für beträchtliche neue Lücken bei der Überprüfung von Vorlagepflichtverletzungen lassen. Den nationalen Gerichten wächst damit faktisch ein Beurteilungsspielraum zu, den ihnen das europarechtliche Vorlagepflichtregime gerade nicht einräumt. Es wäre deshalb vorzugswürdig gewesen, wenn sich der EGMR hier stärker vom Europarecht hätte leiten lassen, anstatt die inhaltliche Auseinandersetzung mit ihm zu meiden. Angesichts der divergierenden Entscheidungen der deutschen Gerichte zum europäischen Wettbewerbsrecht und der einschlägigen EuGHRechtsprechung von 2006 wäre es nämlich auch dem Straßburger Gerichtshof durchaus möglich gewesen, anhand der Acte-clair-Doktrin den Vorlagepflichtverstoß des BGH zu erkennen und daraus ein positives Ergebnis für die Willkürprüfung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK abzuleiten607.

603

Siehe o., i) cc), und Teil 1, C. III. Siehe o., i) cc). 605 Ähnlich English, Lutz John v Germany, Comment. 606 EGMR, Urt. v. 20.06.2013, Wallishauser ./. Österreich (Nr. 2), Nr. 14497/06, Rn. 85. 607 Im Ergebnis ebenso English, Lutz John v Germany, Comment. 604

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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l) Herma ./. Deutschland (2009) 608 aa) Sachverhalt Die Bf., die in Flörsheim (Hessen) lebenden deutschen Eheleute Claus und Heike Herma (geb. 1963 bzw. 1964), erwarben am 08. bzw. 18.11.1999 von einer Gesellschaft zwei Wohnungen in Wohnanlagen. Zur Finanzierung schlossen sie am 28.11.1999 in ihrer Wohnung einen Darlehensvertrag mit einer Sparkasse, der keine Belehrung über das in der Richtlinie 85/577/EWG609 und dem deutschen HWiG610 vorgesehene verbraucherschützende Widerrufsrecht bei sog. Haustürgeschäften611 enthielt. Das vereinbarte, grundpfandrechtlich gesicherte Darlehen von 672.000,– DM (rund 344.000,– A) wurde gemäß den Weisungen der Bf. direkt an die Verkäuferin ausgezahlt. Kauf und Finanzierung wurden jeweils über einen Verkaufsvertreter abgewickelt, der den Bf. diese Art der Kapitalanlage vermittelt hatte. 2004 stellten die Bf. fest, dass die Wohnungen zum Erwerbszeitpunkt nur 60% des Kaufpreises wert gewesen waren, widerriefen den Darlehensvertrag nach § 1 HWiG und stellten der Sparkasse die beiden Wohnungseigentumsrechte zur Verfügung. Am 15.03.2005 beantragten sie dann unter Hinweis auf die beim EuGH anhängigen relevanten Vorabentscheidungsverfahren Prozesskostenhilfe (PKH) für eine Klage auf Feststellung, dass sie nicht zur Rückzahlung des Darlehens verpflichtet seien. bb) Ausgangslage im deutschen Recht Das seinerzeit anwendbare deutsche Recht verpflichtete die Vertragsparteien im Falle des Widerrufs eines Haustürgeschäfts, einander die empfangenen Leistungen zurückzugewähren (§ 3 Abs. 1 HWiG). Der Widerruf eines der Finanzierung dienenden Kreditvertrages, der als verbundenes Geschäft eine wirtschaftliche Einheit mit einem Kaufvertrag bildete, führte auch zur Unwirksamkeit dieses Kaufvertrages mit der Folge, dass der Kreditgeber hinsichtlich der Rückabwicklung in die Rechte und Pflichten des Verkäufers aus dem Kaufvertrag eintrat (§ 9 VerbrKrG612). Diese Regelung, die dem widerrufenden Verbraucher die Rückgabe des Kaufgegenstandes anstelle der Darlehensvaluta gegenüber dem Kredit608 EGMR, Entsch. v. 08.12.2009, Herma ./. Deutschland, Nr. 54193/07 (= NJW 2010, 3207). 609 Richtlinie 85/577/EWG des Rates v. 20.12.1985 betreffend den Verbraucherschutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Verträgen, ABl. Nr. L 372 v. 31.12.1985, S. 31. 610 Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften und ähnlichen Geschäften v. 16.01.1986 in der bis zum 30.09.2000 geltenden Fassung, BGBl. 1986 I, S. 122. Zur gegenwärtigen Rechtslage vgl. §§ 312, 355 ff., 346 ff. BGB. 611 Vgl. Art. 1 Richtlinie 85/577/EWG, § 1 Abs. 1 HWiG. 612 Verbraucherkreditgesetz v. 17.12.1990 in der bis zum 30.09.2000 geltenden Fassung, BGBl. 1990 I, S. 2840.

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Teil 2: Verfahrensrechte

geber ermöglichte, fand nach der Judikatur des BGH jedoch keine Anwendung auf Realkreditverträge613. Daher brachte der Widerruf eines solchen Vertrages für Verbraucher in der Situation der Bf. sogar regelmäßig wirtschaftliche Nachteile mit sich614. Nach den Urteilen des EuGH vom 25.10.2005615 hielt der BGH an diesen Grundsätzen fest616. Einen Schadensersatzanspruch des Verbrauchers gegen das Kreditinstitut wegen Belehrungsfehlern schloss er jedenfalls aus, wenn der Immobilienkaufvertrag vor dem Darlehensvertrag zustandegekommen war617. Dem Verbraucher wäre es dann auch bei ordnungsgemäßer Belehrung über sein Recht zum Widerruf des Darlehensvertrags nicht mehr möglich gewesen, die Anlagerisiken zu vermeiden, so dass es an der Kausalität zwischen der unterlassenen Belehrung und dem Schaden fehle. Allerdings komme eine Haftung des Kreditinstituts in Betracht, wenn es bei Vertragsschluss seine Aufklärungspflicht über Manipulationen des Verkäufers verletzt habe618. cc) Nationales Verfahren Das LG Darmstadt lehnte den Antrag der Bf. auf Bewilligung von PKH am 05.05.2005 ab, da eine Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe619. Nach der Rechtsprechung des BGH seien die Bf. vielmehr verpflichtet, die restliche Darlehensvaluta samt marktüblicher Verzinsung zu zahlen; der Ausgang der Verfahren vor dem EuGH sei unerheblich. Diese Entscheidung wurde vom OLG Frankfurt am Main am 18.08.2005 bestätigt. Ein von den Bf. am 30.11.2005 unter Berufung auf die EuGH-Urteile vom 25.10.2005 gestellter weiterer PKH-Antrag blieb 2006 vor dem LG Darmstadt und dem OLG Frankfurt am Main wie613 § 3 Abs. 2 Nr. 2 VerbrKrG; BGHZ 152, 331 (337 f.) (= NJW 2003, 422); BGHZ 161, 15 (25) (= NJW 2005, 664). 614 Der Verbraucher war danach verpflichtet, die Darlehensvaluta ungeachtet des vertraglich vorgesehenen Ratenplans sofort zurückzuzahlen und marktüblich zu verzinsen; BGHZ 152, 331 (338 f.); EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Schulte, Rs. C-350/03, Slg. 2005, I-9215, Rn. 55 f. 615 EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Schulte, Rs. C-350/03, Slg. 2005, I-9215; EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Crailsheimer Volksbank, Rs. C-229/04, Slg. 2005, I-9273. Siehe hierzu u., ee). 616 BGHZ 168, 1 (9 ff.), Rn. 21, 26 ff. (= NJW 2006, 2099); BGHZ 169, 109 (119 f.), Rn. 38 f. (= NJW 2007, 357). 617 BGHZ 168, 1 (16 ff.), Rn. 36 ff. 618 Eine derartige Aufklärungspflicht des Kreditinstituts besteht bei entsprechender Kenntnis und wird darüber hinaus widerleglich vermutet, wenn das Kreditinstitut mit dem Verkäufer institutionalisiert zusammenwirkt, der Verkäufer auch die Finanzierung angeboten hat und die Unrichtigkeit der Angaben des Verkäufers nach den Umständen des Falles evident ist; BGHZ 168, 1 (21 ff.), Rn. 47, 50 ff.; BGHZ 169, 109 (114 ff.), Rn. 22 ff. 619 Vgl. § 114 ZPO.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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derum erfolglos. Das OLG führte aus, dass die Bf. den Kaufvertrag über die Wohnungen zehn Tage vor dem Darlehensvertrag geschlossen hätten, so dass die Anlagerisiken ohne Einfluss des Umstandes entstanden seien, dass die Sparkasse die Belehrung über das Widerrufsrecht versäumt habe. Die hinsichtlich beider Antragsverfahren erhobenen Verfassungsbeschwerden nahm das BVerfG am 15.05.2007 nicht zur Entscheidung an, da die Bf. angesichts der Fortentwicklung der BGH-Rechtsprechung noch nicht alle prozessualen Möglichkeiten ausgeschöpft hätten620. Wie vom BVerfG angeregt, stellten die Bf. daher am 28.08. 2007 einen neuen Antrag auf PKH, ohne jedoch die Bewilligung zu erreichen. Im Gegensatz zu den Ausführungen der Bf. bestätigte das OLG Frankfurt am Main am 11.04.2008 die Vereinbarkeit der BGH-Rechtsprechung mit den genannten Urteilen des EuGH und verneinte erneut eine Schadenskausalität des Belehrungsdefizits sowie zusätzlich eine Aufklärungspflicht der Sparkasse. Die Bf. erhoben hiergegen am 21.05.2008 Verfassungsbeschwerde und wiederholten am 12.06.2008 unter Hinweis auf einen Vorlagebeschluss des BGH621 ihren PKHAntrag, der erstinstanzlich abgelehnt wurde. Zum Zeitpunkt der EGMR-Entscheidung war das nationale Verfahren anscheinend noch nicht abgeschlossen. dd) Verfahren vor dem EGMR Die Bf. erhoben bereits am 28.11.2007 Menschenrechtsbeschwerde zum EGMR und rügten, dass die nationalen Gerichte ihnen PKH verweigert und weder den Ausgang der beim EuGH anhängigen Verfahren abgewartet noch selbst um Vorabentscheidung gebeten hätten. Dies verletze ihre Rechte auf einen wirksamen Gerichtszugang und auf ein faires Verfahren aus Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der EGMR führte in seiner Zulässigkeitsentscheidung zunächst aus, dass das Recht auf Zugang zu einem Gericht nicht absolut gewährleistet sei und zur Verfolgung eines legitimen Ziels in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt werden könne. Insbesondere könne es angemessen sein, die Bewilligung von PKH von den Erfolgsaussichten im Verfahren abhängig zu machen, sofern das PKH-System dem Einzelnen ausreichenden Schutz vor Willkür biete622. Zwar habe die von den Bf. beabsichtigte Zivilklage streitige Rechtsfragen aufgeworfen, von denen einige während des ersten Verfahrens noch beim EuGH anhängig gewesen 620 BVerfG (2. Kammer des Ersten Senats), Beschl. v. 15.05.2007, WM 2007, 1170; hierzu Siol, WuB VII A. § 114 ZPO 1.07, S. 737. BVerfG, Beschl. v. 15.05.2007, Az.: 1 BvR 2166/06, nicht veröffentlicht. 621 BGH, Beschl. v. 05.05.2008, EuZW 2008, 377. 622 EGMR, Entsch. v. 08.12.2009, Herma ./. Deutschland, Nr. 54193/07 (= NJW 2010, 3207), pdf-Dok. S. 9 ff., Rn. 1; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 26.02.2002, Del Sol ./. Frankreich, Rep. 2002-II, Rn. 23 ff.; EGMR, Urt. v. 15.02.2005, Steel und Morris ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2005-II, Rn. 62; EGMR, Urt. v. 19.09.2000, Gnahoré ./. Frankreich, Rep. 2000-IX, Rn. 41.

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Teil 2: Verfahrensrechte

seien. Der EGMR attestierte den deutschen Gerichten jedoch eine sorgfältige Begründung ihrer Standpunkte; insbesondere habe das OLG dargelegt, warum seine Entscheidungen in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH ständen. Für Willkür gebe es vorliegend keine Anhaltspunkte, zumal PKH-Entscheidungen nicht in Rechtskraft erwüchsen und somit auf neue Argumente gestützte weitere Anträge möglich blieben. Angesichts dessen erkannte der Straßburger Gerichtshof in der Ablehnung der PKH keine unverhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf Gerichtszugang. Zur ebenfalls gerügten unterbliebenen EuGH-Vorlage der deutschen Gerichte hatte die Bundesregierung vorgetragen, dass die Bf. diese Frage in ihrer ersten Verfassungsbeschwerde nicht aufgeworfen hätten und es daher an der Rechtswegerschöpfung fehle; im übrigen eigneten sich PKH-Verfahren nicht zur Vorlage an den EuGH. Der EGMR stellte dazu fest, dass die Bf. in ihrer zweiten Verfassungsbeschwerde die Vorlagepflicht des OLG behauptet, aber keine Vorlage durch das BVerfG beantragt hätten. In Anbetracht dessen hielt er die Rüge diesbezüglich für zulässig und prüfte sie anhand seiner Rechtsprechung623. Dabei wurden die Ausführungen zum generellen Willkürmaßstab sowie zur Beschränkung auf die Überprüfung der Konventionskonformität wiederholt, nicht jedoch die in der John-Entscheidung aufgestellten spezifischen Anforderungen an die Begründung der Notwendigkeit der Vorlage624. In concreto ließ der Gerichtshof die Frage der Vorlageeignung des deutschen PKH-Verfahrens offen und verneinte das Vorliegen von Willkür aufgrund der eingehenden Prüfung und ausführlichen Begründung des OLG auch hinsichtlich des Europarechts. Da somit keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt wurde, erklärte der EGMR beide Rügen wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig. ee) Bewertung Der Herma-Fall steht im Kontext einer Reihe von Verfahren, die in Deutschland von Käufern sog. „Schrottimmobilien“ 625 angestrengt wurden, und illustriert den Einfluss des europäischen Verbraucherschutzrechts bei Haustürgeschäften. Europarechtlich gewährt die dem HWiG zugrundeliegende Richtlinie 85/577/ EWG Verbrauchern ein Widerrufsrecht für Haustürgeschäfte (Art. 5), überlässt 623 EGMR, Entsch. v. 08.12.2009, Herma ./. Deutschland, Nr. 54193/07 (= NJW 2010, 3207), pdf-Dok. S. 11 f., Rn. 2; unter Verweis auf EGMR, Teilentsch. v. 24.08. 1999, Schweighofer et al. ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 35673/97, 35674/97, 36082/ 97, 37579/97; EGMR, Entsch. v. 04.10.2001, Canela Santiago ./. Spanien, Nr. 60350/ 00; EGMR, Entsch. v. 13.06.2002, Bakker ./. Österreich (Zulässigkeit), Nr. 43454/98; EGMR, Entsch. v. 13.02.2007, John ./. Deutschland, Nr. 15073/03. 624 Vgl. o., k) bb), cc). 625 Vgl. Jungmann, NJW 2007, 1562 (1562 ff.).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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aber die Regelung der Rechtsfolgen des Widerrufs dem einzelstaatlichen Recht (Art. 7). Hierzu entschied der EuGH bereits 2001, dass auch Realkreditverträge dem Widerrufsrecht unterlägen und dass sich die Folgen des Widerrufs für den Kaufvertrag über die mit dem Kredit finanzierte Immobilie nach nationalem Recht richteten626. Der Immobilienkaufvertrag werde selbst dann nicht von der Richtlinie 85/577/EWG erfasst, wenn er lediglich Bestandteil eines in einer Haustürsituation verhandelten kreditfinanzierten Kapitalanlagemodells sei627; vielmehr könnten die Rechtsfolgen des Widerrufs des Darlehensvertrags auf die Rückabwicklung desselben beschränkt werden628. In seinen Urteilen vom 25.10. 2005 in den von den Bf. in Bezug genommenen Verfahren stellte der EuGH es den Mitgliedstaaten weiterhin ausdrücklich frei, den Verbraucher im Widerrufsfall zur sofortigen Rückzahlung der zuvor an den Verkäufer ausbezahlten Darlehensvaluta zuzüglich der marktüblichen Zinsen zu verpflichten629. Jedoch müssten die Mitgliedstaaten kraft Art. 4 RiLi 85/577/EWG sicherstellen, dass das Kreditinstitut bei Verletzung seiner Belehrungspflicht die Folgen der Verwirklichung typischer Kapitalanlagerisiken630 zu tragen habe, wenn der Verbraucher diese Risiken bei ordnungsgemäßer Belehrung über sein Widerrufsrecht hätte vermeiden können631. Im Herma-Fall bestand die Besonderheit, dass das Europarecht bereits im PKH-Verfahren relevant wurde, damit die Erfolgsaussichten der angestrebten Klage beurteilt werden konnten. Dieser Umstand entbindet die Gerichte jedoch nicht von einer etwaigen Vorlagepflicht, zumal die Ablehnung des PKH-Antrags regelmäßig zum Verzicht auf die Klageerhebung führen dürfte, so dass keine weitere Möglichkeit zur Vorlage mehr besteht632. Mangels entgegenstehender Angaben wird hier davon ausgegangen, dass das OLG die Rechtsbeschwerde 626

EuGH, Urt. v. 13.12.2001, Heininger, Rs. C-481/99, Slg. 2001, I-9945, Rn. 29 ff. Vgl. auch Art. 3 Abs. 2 lit. a Richtlinie 85/577/EWG. 628 EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Schulte, Rs. C-350/03, Slg. 2005, I-9215, Rn. 72 ff. 629 EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Schulte, Rs. C-350/03, Slg. 2005, I-9215, Rn. 82 ff.; EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Crailsheimer Volksbank, Rs. C-229/04, Slg. 2005, I-9273, Rn. 46 ff. 630 Hierzu zählte der EuGH die Risiken einer zu hohen Bewertung der Immobilien zum Zeitpunkt ihres Kaufs, das Ausbleiben der veranschlagten Mieteinnahmen sowie falsche Erwartungen an die Entwicklung des Immobilienpreises; EuGH, Urt. v. 25.10. 2005, Schulte, Rs. C-350/03, Slg. 2005, I-9215, Rn. 52. 631 EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Schulte, Rs. C-350/03, Slg. 2005, I-9215, Rn. 94 ff.; EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Crailsheimer Volksbank, Rs. C-229/04, Slg. 2005, I-9273, Rn. 49. 632 Zum PKH-Verfahren im europarechtlichen Kontext vgl. Art. 47 Abs. 3 GRC sowie EuGH, Urt. v. 22.12.2010, DEB Deutsche Energiehandels- und Beratungsgesellschaft, Rs. C-279/09, Slg. 2010, I-13849, Rn. 2, 29 ff.; EuGH, Urt. v. 07.11.1996, Züchner ./. Handelskrankenkasse (Ersatzkasse) Bremen, Rs. C-77/95, Slg. 1996, I5689, Rn. 2; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 38; Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 35; Streinz/Streinz, Art. 47 GRC, Rn. 12; Schwarze/Voet van Vormizeele, Art. 47 GRC, Rn. 14. 627

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Teil 2: Verfahrensrechte

zum BGH nicht zugelassen633 und damit stets als letztinstanzliches Fachgericht entschieden hat. Die vorliegend entscheidungserheblichen Fragen zur Auslegung der Richtlinie 85/577/EWG hinsichtlich der Folgen des Widerrufs und der fehlenden Belehrung waren Gegenstand der EuGH-Entscheidungen von 2001 und 2005. Das letztgenannte Urteil des EuGH stand bei Abschluss des ersten PKHVerfahrens vor dem OLG noch aus. Daher hat das OLG hier dem Grunde nach seine Pflicht missachtet, das Verfahren auszusetzen und das Votum des EuGH im Parallelrechtsstreit abzuwarten oder aber selbst vorzulegen634. Dieses Versäumnis wirkte sich allerdings nur marginal auf die Rechtsstellung der Bf. aus, weil diese das EuGH-Urteil zum Anlass für einen neuen PKH-Antrag nehmen konnten. Als die weiteren ablehnenden Beschlüsse des OLG ergingen, war die europarechtliche Rechtslage bereits i. S. der grundsätzlichen Zulässigkeit einer umfassenden Rückzahlungspflicht der Verbraucher durch den EuGH geklärt (acte éclairé). Insbesondere forderte das Europarecht hier keine Überwälzung der typischen Anlagerisiken auf die Sparkasse wegen fehlender Belehrung über das Widerrufsrecht, da die Bf. den Kaufvertrag bereits vor dem belehrungslosen Darlehensvertrag geschlossen hatten. Denn der EuGH stellte für die Frage, ob die Risiken bei ordnungsgemäßer Belehrung vermeidbar gewesen wären, ausdrücklich auf die zeitliche Abfolge der Vertragsschlüsse ab635. Dieses Kriterium, das nach den Regeln der Kausalität auch sachgerecht erscheint636, wurde anschließend vom BGH übernommen637 und im Ausgangsfall vom OLG angewendet638. Etwaige weitere europarechtliche Fragen waren für den Fall irrelevant639, so dass das OLG ohne eine eigene Vorlage abschließend entscheiden konnte und durfte. Von der unterbliebenen Aussetzung des ersten PKH-Verfahrens abgesehen, haben die deutschen Gerichte somit nicht gegen ihre Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) verstoßen.

633 Mit der Rechtsbeschwerde kann nach Maßgabe der §§ 574 ff. ZPO ein Beschluss über eine gegen die Verweigerung der PKH gerichtete sofortige Beschwerde (§ 127 Abs. 2 S. 2, §§ 567 ff. ZPO) angegriffen werden. 634 Vgl. allgemein EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Masterfoods und HB, Rs. C-344/98, Slg. 2000, I-11369, Rn. 49, 57; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 392 f., Rn. 793 ff.; Hess, RabelsZ 66 (2002), 470 (499). 635 EuGH, Urt. v. 25.10.2005, Schulte, Rs. C-350/03, Slg. 2005, I-9215, Rn. 97. 636 Jungmann, NJW 2007, 1562 (1564 f.); Habersack, JZ 2006, 91 (93); Thume/ Edelmann, BKR 2005, 477 (483 f.); a. A. Knops, WM 2006, 70 (73 f.); Staudinger, NJW 2005, 3521 (3523); Derleder, BKR 2005, 442 (449 f.). 637 Siehe o., bb). 638 Siehe o., cc). 639 Dies gilt sowohl für den Gegenstand des von den Bf. zuletzt angeführten Vorlagebeschlusses des BGH v. 05.05.2008 (EuZW 2008, 377) als auch für Fragen, die die Beweislastverteilung hinsichtlich der Kausalität und den Verschuldensmaßstab im deutschen Recht betreffen (vgl. hierzu BGHZ 169, 109 [120 ff.], Rn. 42 f.; Jungmann, NJW 2007, 1562 [1565 f.]).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Der EGMR nahm bei der konventionsrechtlichen Überprüfung eine ganzheitliche Betrachtung des gesamten nationalen Verfahrens vor und bezog auch dessen Fortgang nach Beschwerdeerhebung in seine Ausführungen ein. Dass der Gerichtshof dabei zur Vereinbarkeit der deutschen Entscheidungen mit der EMRK gelangte, ist vor dem Hintergrund seiner ständigen Rechtsprechung, die sowohl hinsichtlich der Gewährung von PKH als auch in Bezug auf die Beachtung der Vorlagepflicht einen Willkürmaßstab anlegt, folgerichtig. Da in den letzten PKHVerfahren eine Vorlagepflicht zum EuGH nicht bestand, war eine Sanktionierung auch aus europarechtlicher Sicht nicht erforderlich. Die Herma-Entscheidung enthält demnach zwar keine neuen Impulse für die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, verdeutlicht aber zwei wesentliche Charakteristika für den Umgang des EGMR mit Rügen wegen unterbliebener Vorlage. Erstens genügt dem Gerichtshof zur Verneinung von Willkür bereits eine sorgfältige Begründung der Nichtvorlage durch die nationalen Gerichte, ohne dass er das Bestehen der Vorlagepflicht nach Europarecht untersucht. Dadurch können, wie bereits verschiedentlich dargelegt640, Menschenrechtsbeschwerden trotz einer gegebenen Vorlagepflichtverletzung erfolglos bleiben. Zweitens wird die Konkretisierung des Willkürmaßstabs in starker Orientierung am jeweiligen Einzelfall flexibel gehandhabt, wie der Verzicht des EGMR auf die Bekräftigung der in der John-Entscheidung statuierten Darlegungserfordernisse zur Vorlagenotwendigkeit641 zeigt. Dies verringert die Stringenz der Konventionsrechtsprechung und erschwert es potentiellen Bf., die Erfolgsaussichten eines Verfahrens in Straßburg einzuschätzen. Dem EGMR gewähren diese Vorgehensweisen hingegen ein hohes Maß an Freiheit bei der Entscheidung über Nichtvorlagerügen. m) Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien (2011) 642 aa) Ausgangslage Die belgischen Staatsangehörigen Fernand Ullens de Schooten (Bf. zu 1.) und Ivan Rezabek (Bf. zu 2.) betrieben in Belgien als Geschäftsführer die labormedizinische Einrichtung Biorim. 1989 leiteten die belgischen Behörden gegen die Bf. und elf weitere Personen Strafverfahren wegen Fälschungsdelikten (faux) und Verstoßes gegen Art. 3 des Königlichen Erlasses643 Nr. 143 vom 30.12.1982 (KE) ein. Nach dieser Vorschrift durften nur die von Ärzten, Pharmazeuten oder Chemikern geführten medizinischen Labore ihre Leistungen über die Krankenversicherung abrechnen. Dem Strafprozess wurde ein Zivilverfahren angeschlossen, in dem diverse Versicherungen Zahlungen in Höhe von annähernd 20 Mio. A 640

Siehe o., f) cc), g) cc), k) cc). Siehe o., k) bb), cc). 642 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07. 643 Frz. „arrêté royal“, ndl. „koninklijk besluit“. 641

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Teil 2: Verfahrensrechte

von den Bf. zurückforderten. Ebenfalls wegen Missachtung von Art. 3 KE setzte der belgische Gesundheitsminister dann mit Entscheidungen vom 18.03.1999 und 08.06.2000 die Betriebserlaubnis für das Labor für jeweils zwölf Monate aus. Im Rahmen eines auf Initiative des Bf. zu 1. eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens gegen Belgien nach Art. 226 EGV (jetzt Art. 258 AEUV) stellte die EUKommission am 17.07.2002 in einer begründeten Stellungnahme die Unvereinbarkeit des Art. 3 KE mit der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 EGV; jetzt Art. 49 AEUV) fest. Daraufhin wurden die beanstandeten Qualifikationsanforderungen mit Gesetz vom 24.05.2005 aus Art. 3 KE entfernt. bb) Nationale Verfahren (1) Straf- und Zivilverfahren644 Nach 40 Verhandlungsterminen seit dem 20.06.1997 verurteilte das Tribunal de première instance Brüssel die Bf. am 30.10.1998 zwar strafrechtlich, hielt aber den in den Zivilklagen der Versicherungen behaupteten Schaden für nicht hinreichend bewiesen. In der Berufungsinstanz machten die Bf. dann die Unvereinbarkeit des – offenbar erst zum 01.01.1990 in Kraft getretenen – Art. 3 KE mit dem EGV geltend. Die Cour d’appel Brüssel hielt etwaige Eingriffe in europarechtliche Rechte für gerechtfertigt und verurteilte die Bf. am 07.09.2000 zu Freiheitsstrafen von fünf bzw. drei Jahren sowie zu Geldstrafen, wies die Zivilklagen aber insgesamt ab. Aufgrund einer von den Bf. nicht verschuldeten überlangen Verfahrensdauer wurden die Freiheitsstrafen teilweise zur Bewährung ausgesetzt. Die Cour de cassation hob dieses Urteil am 14.02.2001 hinsichtlich der Zivilklagen auf, die sie zur Entscheidung an die Cour d’appel Mons verwies645. Diese befand am 23.11.2005, dass das Urteil der Cour d’appel Brüssel hinsichtlich der festgestellten Europarechtskonformität des damaligen Art. 3 KE rechtskräftig sei, und verurteilte die Bf. zur Zahlung von über 1,8 Mio. A. Die Cour de cassation bestätigte diese Einschätzung am 14.06.2006 und lehnte die von den Bf. verlangte Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens mit der Begründung ab, dass der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung keine Durchbrechung der Rechtskraft europarechtswidriger Urteile gefordert habe646. 644 Vgl. EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 6 ff. 645 Cour de cassation, Urt. v. 14.02.2001, N ë P.00.1350.F, abrufbar unter: http:// jure.juridat.just.fgov.be/. 646 Cour de cassation, Urt. v. 14.06.2006, N ë P.06.0073.F, abrufbar unter: http:// jure.juridat.just.fgov.be/; unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 01.06.1999, Eco Swiss, Rs. C-126/97, Slg. 1999, I-3055, Rn. 46 f., und EuGH, Urt. v. 16.03.2006, Kapferer, Rs. C234/04, Slg. 2006, I-2585, Rn. 21, 23.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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(2) Verwaltungs- und verfassungsgerichtliches Verfahren647 Nach erfolglosen Widerspruchsverfahren gegen die wiederholte Aussetzung der Betriebserlaubnis erhob das Labor Biorim jeweils im September 1999 und 2000 Nichtigkeitsklagen vor dem Conseil d’État, denen sich der Bf. zu 1. anschloss. Im einzelnen trugen die Kläger vor, dass Art. 3 KE gegen Art. 43, 49, 56 und 86 i.V. m. 82 EGV (jetzt Art. 49, 56, 63 und 106 i.V. m. 102 AEUV) verstoße, und beantragten hilfsweise eine Vorlage zum EuGH. Während der gerichtliche Berichterstatter (Auditeur) diese Auffassung im wesentlichen teilte, verneinte der Conseil d’État am 21.02.2007 die Anwendbarkeit des Europarechts und die Erforderlichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens. Zur Begründung führte der Conseil d’État aus, dass die Labore i. S. d. Art. 3 KE unzweifelhaft nicht von Art. 86 EGV (jetzt Art. 106 AEUV) erfasst würden und der Rechtsstreit im übrigen keinen hinreichenden grenzüberschreitenden Bezug aufweise. Das Labor Biorim als Gesellschaft belgischen Rechts sei auf dem belgischen Markt tätig und habe von den Grundfreiheiten keinen Gebrauch gemacht. Der Umstand, dass Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten die Leistungen des Labors hätten nutzen können, sei nach der Rechtsprechung des EuGH nicht ausreichend. Ferner ging der Conseil d’État auf die Gleichheitsgrundrechte der Art. 10 f. belg. Verf. ein. Die Rüge einer verbotenen Ungleichbehandlung zwischen Belgiern und sonstigen Unionsbürgern sei verspätet und damit unzulässig. Zur Verfassungsmäßigkeit der Privilegierung der Inhaber der geforderten Qualifikationen befragte der Conseil d’État die Cour d’arbitrage (seit dem 07.05. 2007 Cour constitutionnelle). Im dortigen Verfahren verlangte der Bf. zu 1. wiederum ein Vorabentscheidungsersuchen zur Vereinbarkeit von Art. 3 KE mit dem Europarecht. Die Cour constitutionnelle lehnte jedoch am 19.12.2007 ebenfalls wegen fehlender Anwendbarkeit der geltend gemachten europarechtlichen Bestimmungen eine Vorlage an den EuGH ab und verneinte auch einen Verstoß gegen belgisches Verfassungsrecht648. Mit Urteilen vom 10.09. und 22.12.2008 wies der Conseil d’État die Nichtigkeitsklagen schließlich insgesamt ab. cc) Verfahren vor dem EGMR (1) Rügen Mit ihrer am 14.12.2006 erhobenen Menschenrechtsbeschwerde Nr. 3989/07 machten beide Bf. verschiedene Verstöße der ordentlichen Gerichte gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend. Die Cour d’appel Mons habe die Europarechtswidrigkeit 647 Vgl. EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 23 ff. 648 Cour constitutionnelle, Urt. Nr. 160/2007 v. 19.12.2007, Gliederungspunkt II. B.4., Moniteur Belge/Belgisch Staatsblad v. 12.02.2008, S. 9239 (9240) (in Auszügen).

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Teil 2: Verfahrensrechte

des Art. 3 KE ignoriert und die Cour de cassation zusätzlich die Vorlage an den EuGH verweigert, so dass jeweils die Fairness des Verfahrens verletzt worden sei. Außerdem sei das Verfahren nicht in angemessener Frist abgeschlossen worden. Der Bf. zu 1. rügte darüber hinaus mit seiner das verwaltungsgerichtliche Verfahren betreffenden Beschwerde Nr. 38353/07 vom 21.08.2007 die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK durch den Conseil d’État. Auch dieser habe unter Missachtung der Vorlagepflicht europarechtswidrig entschieden und zudem das kontradiktorische Verfahren nicht eingehalten, da die Parteien nicht über die einschlägige Rechtsprechung des EuGH hätten debattieren können. Weiterhin habe der Conseil d’État die Anwendung des Art. 3 KE an die Staatsangehörigkeit der Beteiligten geknüpft, was nach Art. 14 i.V. m. Art. 6 Abs. 1 EMRK eine konventionswidrige Diskriminierung begründe. (2) Urteil des EGMR In seinem einstimmig ergangenen Urteil vom 20.09.2011 verband der EGMR beide Beschwerden zur gemeinsamen Entscheidung und erklärte die die Fairness des Verfahrens betreffenden Rügen für zulässig649. Im Rahmen der allein an Art. 6 Abs. 1 EMRK ausgerichteten650 Begründetheitsprüfung nahm der Gerichtshof sodann ausführlich zur konventionsrechtlichen Überprüfbarkeit von Vorlagepflichtverletzungen Stellung. Bereits eingangs wies der EGMR darauf hin, dass die Feststellung tatsächlicher oder rechtlicher Fehler innerstaatlicher Gerichte außerhalb seiner Zuständigkeit liege, soweit diese keine Konventionsverletzung begründeten. Die ggf. in Übereinstimmung mit dem Europarecht vorzunehmende Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts sei zuvörderst Sache der nationalen, insbesondere gerichtlichen Stellen, wohingegen sich die Rolle des EGMR auf die Überprüfung der Konventionskonformität von deren Entscheidungen beschränke651. Für die konventionsrechtliche Bewertung sei daher entscheidend, ob die gerügten Nichtvorlagen zum EuGH gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstießen. Nachdem der EGMR unter Rückgriff auf das europäische Primärrecht (Art. 267 AEUV und Vorgängernormen) und die CILFIT-Rechtsprechung des EuGH652 die Grundla649 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 37, 53. 650 Auf Art. 13 EMRK ging der EGMR nicht gesondert ein, da Art. 6 Abs. 1 EMRK als strengere Vorschrift vorrangig sei; EGMR, a. a. O., Rn. 52. Siehe auch näher u., 4. e). 651 EGMR, a. a. O., Rn. 54; mutatis mutandis unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Waite und Kennedy ./. Deutschland, Rep. 1999-I (= EuGRZ 1999, 207), Rn. 54; EGMR (GK), Urt. v. 22.03.2001, Streletz, Kessler und Krenz ./. Deutschland, Rep. 2001-II (= EuGRZ 2001, 210), Rn. 49; EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI (= EuGRZ 2007, 662), Rn. 143. 652 Siehe hierzu o., II. 1. b).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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gen der europarechtlichen Vorlagepflicht referiert hatte, ging er auf ihre Bedeutung für die EMRK ein. Zwar garantiere die Konvention kein Recht auf richterliche Vorlage eines Rechtsstreits bei einem anderen nationalen oder supranationalen Gericht; und in einem Vorabentscheidungssystem hätten potentiell vorlagepflichtige Gerichte stets zu prüfen, ob die Beantwortung einer aufgeworfenen Rechtsfrage für die zu treffende Entscheidung relevant sei653. Es bestehe jedoch insoweit ein Bezug zu Art. 6 Abs. 1 EMRK, als dieser die Verhandlung durch ein auf Gesetz beruhendes Gericht garantiere und damit auf ein nach Maßgabe des anwendbaren Rechts zuständiges Gericht verweise654. Dieser Aspekt spiele im gerichtlichen Kontext der EU eine besondere Rolle, da die Vorlagepflicht dem EuGH zufolge der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Europarechts diene. Die Weigerung eines innerstaatlichen, nicht notwendigerweise letztinstanzlichen Gerichts, bei einer nationalen oder gemeinschaftlichen Gerichtsinstanz eine Vorlagefrage zu stellen, könne unter bestimmten Umständen die Fairness des Verfahrens beeinträchtigen, nämlich wenn sie sich als willkürlich erweise. Im Anschluss an diese seiner ständigen Rechtsprechung entsprechende Feststellung unternahm der EGMR eine genauere Definition des verwendeten Willkürbegriffs655. Von Willkür sei danach auszugehen, wenn im anwendbaren Recht keine Ausnahme oder Befreiung von der Vorlagepflicht vorgesehen sei oder wenn die Nichtvorlage auf andere Gründe als die nach dem anwendbaren Recht zulässigen gestützt oder in Bezug auf letztere nicht ordnungsgemäß begründet sei656. Der EGMR präzisierte insoweit, dass die innerstaatlichen Gerichte kraft Art. 6 Abs. 1 EMRK die Unterlassung einer Vorlage anhand des anwendbaren Rechts zu begründen hätten, insbesondere wenn dieses die Nichtvorlage nur ausnahmsweise zulasse. Speziell in Bezug auf die Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV gab der EGMR den letztinstanzlichen Gerichten der Mitgliedstaaten auf, die Nichtvorlage anhand der in der Rechtsprechung des EuGH vorgesehenen Ausnahmen zu begründen657. Entsprechend dem CILFIT-Urteil des EuGH seien also die Gründe für die Einschätzung anzugeben, dass die betreffende europarechtliche Auslegungsfrage nicht entscheidungserheblich, bereits durch den EuGH geklärt oder sonst ohne vernünftigen Zweifel zu beantworten sei. Hinsichtlich der 653 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 57. 654 EGMR, a. a. O., Rn. 58. 655 EGMR, a. a. O., Rn. 59 ff. 656 „[L]e refus s’avère arbitraire [. . .] lorsqu’il y a refus alors que les normes applicables ne prévoient pas d’exception au principe de renvoi préjudiciel ou d’aménagement de celui-ci, lorsque le refus se fonde sur d’autres raisons que celles qui sont prévues par ces normes, et lorsqu’il n’est pas dûment motivé au regard de celles-ci“; EGMR, a. a. O., Rn. 59. 657 EGMR, a. a. O., Rn. 62.

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Teil 2: Verfahrensrechte

Kontrollintensität sah sich der Straßburger Gerichtshof einerseits in der Pflicht, streng zu prüfen, ob die angegriffene Nichtvorlageentscheidung ordnungsgemäß mit derartigen Gründen versehen sei. Andererseits stehe es ihm jedoch nicht zu, über Fehler zu befinden, die die innerstaatlichen Gerichte bei der Auslegung oder Anwendung des einschlägigen Rechts begangen hätten658. Im vorliegenden Fall stellte der EGMR fest, dass die belgischen Gerichte diesen Begründungsanforderungen gerecht geworden seien659. So habe die Cour de cassation entsprechend den CILFIT-Kriterien und unter ausführlicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH dargelegt, dass die aufgeworfene europarechtliche Frage bereits entschieden worden sei. Auch der Conseil d’État habe eingehend aufgezeigt, dass die Unanwendbarkeit von Art. 86 EGV (jetzt Art. 106 AEUV) unzweifelhaft sei und die sonstigen europarechtlichen Bestimmungen keinen Einfluss auf den anhängigen Rechtsstreit hätten. Zwar nahm der EGMR zur Kenntnis, dass die Bf. die von den belgischen Höchstgerichten zum materiellen Europarecht vertretenen Ansichten als fehlerhaft bestritten hatten, verneinte jedoch diesbezüglich seine Zuständigkeit660. Des weiteren wurde die Rüge zur behaupteten Missachtung des kontradiktorischen Verfahrens wegen Verfristung nach Art. 35 Abs. 1 EMRK nicht berücksichtigt. Im Ergebnis lehnte der Straßburger Gerichtshof eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren angesichts der gerichtlichen Begründungen und des gesamten Verfahrensablaufs ab661. In Bezug auf das Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist aus Art. 6 Abs. 1 EMRK befand der EGMR, dass die Bf. ihre Opfereigenschaft gemäß Art. 34 EMRK insoweit verloren hätten, als die Cour d’appel Brüssel im Jahr 2000 der entsprechenden Verletzung durch die teilweise Strafaussetzung zur Bewährung abgeholfen habe662. Das verbleibende Verfahren über drei Instanzen bis 2006 sei dagegen ohne spezifische Verzögerung und angesichts der besonderen Komplexität des Falles sowie der schwierigen europarechtlichen Fragen relativ zügig abgeschlossen worden663. Diesbezüglich wurde die Rüge daher wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig erklärt. Die auf Art. 6 Abs. 1 i.V. m. Art. 14 EMRK gestütze Rüge des Bf. zu 1. wegen Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit durch den Conseil d’État stufte der EGMR ebenfalls als unzulässig ein, da das betreffende Rechtsmittel bereits auf nationaler Ebene verfristet gewesen sei664. Zur Begründung verwies

658 659 660 661 662 663 664

EGMR, a. a. O., Rn. 61. EGMR, a. a. O., Rn. 63 ff. EGMR, a. a. O., Rn. 66. EGMR, a. a. O., Rn. 67. EGMR, a. a. O., Rn. 72 ff. EGMR, a. a. O., Rn. 75 ff. EGMR, a. a. O., Rn. 79 f.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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er darauf, dass Art. 35 EMRK für die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs die form- und fristgerechte Einlegung der nationalen Rechtsmittel voraussetze665. dd) Bewertung Letztinstanzliche Gerichte waren jeweils die Cour de cassation und der Conseil d’État in den Ausgangsverfahren sowie die Cour constitutionnelle im ergänzenden verfassungsgerichtlichen Verfahren. Sowohl im straf- und zivilgerichtlichen als auch im verwaltungsgerichtlichen Prozess war die europarechtliche Frage der Anwendbarkeit von Art. 3 KE unmittelbar entscheidungserheblich. Diese stand für die konkreten Verfahren selbst dann noch im Raum, wenn die EU-Kommission zutreffend von einem abstrakten Verstoß des Art. 3 KE gegen die Niederlassungsfreiheit ausgegangen sein sollte, da dem Europarecht kein Geltungs-, sondern nur ein Anwendungsvorrang zukommt666. Die Schutzwirkung der europarechtlichen Grundfreiheiten, hier insbesondere der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit667, hängt wiederum davon ab, ob der betreffende Sachverhalt einen hinreichenden grenzüberschreitenden, also mitgliedstaatsübergreifenden Bezug enthält. Nach den vom EuGH aufgestellten Leitlinien bleiben solche Betätigungen außerhalb des grundfreiheitlichen Anwendungsbereichs, deren wesentliche Elemente sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinausweisen668. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich nach den tatsächlichen Feststellungen des innerstaatlichen Gerichts669. Maßgeblich sind jeweils die Umstände des Ausgangsverfahrens, wobei allein die theoretische oder hypothetische Möglichkeit einer Grenzüberschreitung nicht

665

Siehe hierzu bereits o., Teil 1, C. III. Vgl. zum Anwendungsvorrang die o., Teil 1, B. III., angegebenen Nw. sowie EuGH, Urt. v. 16.07.1998, Imperial Chemical Industries ./. Colmer, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I-4695, Rn. 34. 667 Die Tätigkeit biomedizinischer Labore fällt in deren sachlichen Schutzbereich; EuGH, Urt. v. 11.03.2004, Kommission ./. Frankreich, Rs. C-496/01, Slg. 2004, I-2351, Rn. 55 ff. 668 EuGH, Urt. v. 20.04.1988, Strafverfahren gegen Guy Bekaert, Rs. 204/87, Slg. 1988, 2029, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 03.10.1990, Strafverfahren gegen Nino, Prandini et al., verb. Rs. 54/88, 91/88 und C-14/89, Slg. 1990, I-3537, Rn. 10 ff.; EuGH, Urt. v. 16.11.1995, Openbaar Ministerie ./. Van Buynder, Rs. C-152/94, Slg. 1995, I-3981, Rn. 10 ff.; EuGH, Urt. v. 16.01.1997, USSL n ë 47 di Biella ./. INAIL, Slg. 1997, I-195, Rn. 19 ff.; EuGH, Urt. v. 02.07.1998, Kapasakalis et al. ./. Griechischer Staat, Rs. C225/95 et al., Slg. 1998, I-4239, Rn. 22; EuGH, Urt. v. 01.04.2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, Rs. C-212/06, Slg. 2008, I-1683, Rn. 33. 669 EuGH, Urt. v. 18.03.1980, Procureur du Roi ./. Debauve, Rs. 52/79, Slg. 1980, 833, Rn. 9; EuGH, Urt. v. 23.04.1991, Höfner und Elser ./. Macrotron, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rn. 37 ff.; EuGH, Urt. v. 12.12.1996, Reisebüro Broede ./. Sandker, Rs. C-3/95, Slg. 1996, I-6511, Rn. 14. 666

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Teil 2: Verfahrensrechte

genügt670. Im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit reicht es aber aus, wenn die Dienstleistung grenzüberschreitend angeboten wird671. Auch in den von den Bf. angeführten Urteilen hielt der EuGH jedenfalls für unterschiedslose Maßnahmen, zu denen Art. 3 KE gleichfalls zu zählen ist, stets am Erfordernis eines grenzüberschreitenden Elements fest und beantwortete die jeweiligen Vorlagefragen bei fehlendem konkreten Grenzbezug nur, um dem vorlegenden Gericht die Beurteilung nach nationalem Recht zu erleichtern672. Von wenigen Sonderfällen abgesehen673, bilden die genannten Grundsätze zum grenzüberschreitenden Bezug somit ständige Bestandteile einer langjährigen gefestigten Rechtsprechung des EuGH, so dass insoweit von einer richterlichen Klärung der Europarechtslage (acte éclairé) auszugehen ist. Nach dem an diesen Kriterien des EuGH ausgerichteten tatsächlichen Befund des Conseil d’État waren die Anforderungen an den grenzüberschreitenden Bezug vorliegend nicht erfüllt. Demzufolge haben weder das Labor als Gesellschaft belgischen Rechts noch seine Mitarbeiter für ihre Niederlassung eine innerunionale Grenze überschritten, und auch eine von der Dienstleistungsfreiheit geschützte vorübergehende Geschäftstätigkeit im EU-Ausland wurde nicht bewiesen. Zwar ist den veröffentlichten Urteilen im Zivil- und Strafverfahren nicht zu entnehmen, dass die ordentlichen Gerichte entsprechende Feststellungen getrof-

670 Vgl. EuGH, Urt. v. 23.04.1991, Höfner und Elser ./. Macrotron, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rn. 38 ff.; EuGH, Urt. v. 28.06.1984, Moser ./. Land Baden-Württemberg, Rs. 180/83, Slg. 1984, 2539, Rn. 18; EuGH, Urt. v. 29.05.1997, Kremzow ./. Republik Österreich, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 16; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 7, Rn. 23; Lackhoff, S. 66; J. Gebauer, Grundfreiheiten, S. 92 ff. 671 EuGH, Urt. v. 10.05.1995, Alpine Investments ./. Minister van Financiën, Rs. C384/93, Slg. 1995, I-1141, Rn. 18 ff.; EuGH, Urt. v. 14.07.1994, Strafverfahren gegen Matteo Peralta, Rs. C-379/92, Slg. 1994, I-3453, Rn. 41; EuGH, Urt. v. 26.02.1991, Kommission ./. Frankreich, Rs. C-154/89, Slg. 1991, I-659, Rn. 9 f.; Schwarze/Holoubek, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 23, 42. Siehe auch allgemein Calliess/Korte, EU-Dienstleistungsrecht, § 3, Rn. 21 ff. 672 EuGH, Urt. v. 05.12.2000, Guimont, Rs. C-448/98, Slg. 2000, I-10663, Rn. 20 ff. (in Abgrenzung zu EuGH, Urt. v. 07.05.1997, Strafverfahren gegen Pistre et al., verb. Rs. C-321/94 bis C-324/94, Slg. 1997, I-2343, Rn. 44 f., 49); EuGH, Urt. v. 05.03. 2002, Reisch et al., verb. Rs. C-515/99 u. a., Slg. 2002, I-2157, Rn. 24 ff.; EuGH, Beschl. v. 17.02.2005, Mauri, Rs. C-250/03, Slg. 2005, I-1267, Rn. 18, 21; EuGH, Urt. v. 30.03.2006, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, Rs. C-451/03, Slg. 2006, I-2941, Rn. 28 ff.; EuGH, Urt. v. 05.12.2006, Cipolla et al., verb. Rs. C-94/04 und C-202/04, Slg. 2006, I-11421, Rn. 25, 30 f.; ähnlich auch EuGH, Urt. v. 08.09.2005, Mobistar und Belgacom Mobile, verb. Rs. C-544/03 und C-545/03, Slg. 2005, I-7723, Rn. 31 ff. 673 Ausnahmsweise genügt dem EuGH die lediglich potentielle Betroffenheit EUausländischer Interessenten für die Annahme eines Grundfreiheitsverstoßes, wenn Dienstleistungskonzessionen ohne Ausschreibung vergeben werden; hierzu bspw. EuGH, Urt. v. 06.04.2006, ANAV, Rs. C-410/04, Slg. 2006, I-3303, Rn. 19 ff. Vgl. ferner zu einem staatlichen Pflichtversicherungssystem EuGH, Urt. v. 22.05.2003, Freskot, Rs. C-355/00, Slg. 2003, I-5263, Rn. 61 ff.; Kutzscher, S. 85.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

221

fen haben. Da die dort relevanten faktischen Gegebenheiten jedoch mit denen des verwaltungs- und verfassungsgerichtlichen Verfahrens identisch waren, lässt sich insgesamt konstatieren, dass die europarechtlichen Grundfreiheiten auf den Fall des Labors Biorim keine Anwendung finden konnten. Eine dadurch hervorgerufene etwaige Inländerdiskriminierung zu Lasten belgischer Staatsangehöriger war allein nach nationalem (Verfassungs-)Recht zu beurteilen674, wurde von den belgischen Gerichten aber nicht beanstandet. Auf die Auslegung des weiterhin geltend gemachten Art. 86 EGV (jetzt Art. 106 AEUV), dessen Abs. 1 europarechtswidrige Maßnahmen der Mitgliedstaaten in Bezug auf öffentliche und monopolartige Unternehmen675 verbietet, kam es schließlich schon deshalb nicht an, weil keinerlei Anhaltspunkte für derartige Maßnahmen gegeben waren676. Somit standen in sämtlichen belgischen Ausgangsverfahren keine entscheidungserheblichen europarechtlichen Fragen im Raum, die der Klärung durch ein Vorabentscheidungsverfahren bedurft hätten; die Heranziehung des Art. 3 KE war mit dem Europarecht vereinbar. Nach alledem ist den belgischen Gerichten kein Verstoß gegen die Vorlagepflicht aus Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) vorzuwerfen. Angesichts der europarechtlichen Rechtslage bestand für den EGMR folglich kein Grund, den Verzicht der belgischen Gerichte auf eine Vorlage zum EuGH als Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK zu werten. Nichtsdestotrotz nahm der Straßburger Gerichtshof den Ausgangsfall zum Anlass, die Bedingungen der Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen zu präzisieren und weiterzuentwickeln677. Zunächst bestätigte der EGMR zwar die wesentlichen Grundsätze seiner ständigen Rechtsprechung, indem er auf Art. 6 Abs. 1 EMRK als unmittelbare Beurteilungsgrundlage abstellte und die Anerkennung eines konventionsimmanenten Rechts auf Vorlage ablehnte. Ebenso zog der Gerichtshof wieder das Kriterium der Willkür zur Konkretisierung der „gewissen Umstände“ heran, unter denen ein Vorlageverzicht die Fairness des 674 Vgl. allgemein Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 7, Rn. 23 f.; Streinz/ Streinz, Art. 18 AEUV, Rn. 62 ff., 67; Korte, in: Calliess/Ruffert, Art. 49 AEUV, Rn. 22 f.; Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 45, Rn. 23 f.; Schwarze/Holoubek, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 60; Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten, S. 140, 147 ff.; Calliess/Korte, EU-Dienstleistungsrecht, § 3, Rn. 33; Völker, S. 136 ff.; anders Epiney, Umgekehrte Diskriminierungen, S. 205 ff., 339 ff., 525 ff. Vgl. auch o., a) cc). 675 Siehe näher EuGH, Urt. v. 16.11.1977, INNO ./. ATAB, Rs. 13/77, Slg. 1977, 2115, Rn. 40 ff.; EuGH, Urt. v. 25.10.2001, Ambulanz Glöckner, Rs. C-475/99, Slg. 2001, I-8089, Rn. 24; Jung, in: Calliess/Ruffert, Art. 106 AEUV, Rn. 14 ff.; MüllerGraff, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, Europäisches Unionsrecht, Art. 106 AEUV, Rn. 7 ff. 676 Vgl. allgemein EuGH, Urt. v. 30.03.2006, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti, Rs. C-451/03, Slg. 2006, I-2941, Rn. 23 ff. 677 Die nicht näher begründete Prognose von Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (181), dass der EGMR hier seine bisherige Judikatur überprüfen könnte, hat sich somit als zutreffend erwiesen.

222

Teil 2: Verfahrensrechte

Verfahrens verletzen könne. Mit der Feststellung, dass sich Art. 6 Abs. 1 EMRK auch auf das nach dem anwendbaren Recht zuständige Gericht beziehe, wurde nun jedoch erstmals eine Ergänzung der Garantie des fairen Verfahrens um die Komponente eines Rechts auf den gesetzlichen Richter angedeutet678. Ebenfalls neu ist die nähere Definition des Willkürbegriffs, der jetzt an die Anforderungen der dem Vorlagesystem jeweils zugrundeliegenden Rechtsordnung gekoppelt ist und die nationalen Gerichte insbesondere explizit dazu verpflichtet, eine Nichtvorlage nach diesem Maßstab ordnungsgemäß zu begründen. Damit hat die Konventionsrechtsprechung einen Paradigmenwechsel vollzogen, durch den die Einbeziehung konventionsfremden Rechts in den Prüfungsmaßstab des EGMR erheblich erleichtert und zudem die Transparenz der menschenrechtlichen Kontrolle erhöht wird. Ungeachtet dessen, dass der EGMR nicht prinzipiell zwischen nationalen und supranationalen Vorlagekonstellationen unterscheidet679, führt die Anknüpfung an das jeweilige vorlagepflichtbegründende Recht zu einer wesentlich verbesserten Durchsetzbarkeit auch der europarechtlichen Kriterien, die die Vorlagepflicht zum EuGH konstituieren. So verwies der EGMR im Kontext des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV eingehend auf die zugehörige Rechtsprechung des EuGH und bestimmte sie zum maßgeblichen Bezugspunkt für die geforderte Begründung einer Nichtvorlage680. Damit sind die nationalen Gerichte jetzt auch konventionsrechtlich dazu angehalten, sich mit den europarechtlichen Grundlagen ihrer etwaigen Vorlagepflicht auseinanderzusetzen und ihr Vorlageverhalten danach auszurichten. Sofern man ausschließlich eine europarechtlich tragfähige Nichtvorlagebegründung als „ordnungsgemäß“ i. S. d. EMRK einstuft, ermöglicht der neue, europarechtsorientierte Prüfungsmaßstab für Willkür theoretisch sogar eine volle menschenrechtliche Kontrolle sämtlicher Vorlagepflichtverstöße. Deren praktische Umsetzung erscheint jedoch angesichts der Ausführungen des Straßburger Gerichtshofs zur Prüfungsintensität fraglich. Denn der EGMR will einerseits streng prüfen, ob eine Nichtvorlage ordnungsgemäß begründet ist, aber andererseits Fehler der innerstaatlichen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung des zugrundeliegenden Rechts nicht berücksichtigen681. Jedenfalls

678 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 58; siehe o., cc) (2). Vgl. auch EGMR, Entsch. v. 04.09.2012, Ferreira Santos Pardal ./. Portugal, Nr. 30123/10, pdf-Dok. S. 8; Schilling, EuGRZ 2014, 596 (597 f.). 679 Vgl. EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 57, 59. 680 Vgl. Schilling, EuGRZ 2012, 133 (136), der jedoch in Fn. 47 das Monopol des EuGH für die verbindliche Auslegung des Europarechts [siehe o., I. 1., 2. a)] verkennt. 681 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 61; siehe o., cc) (2).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

223

dürfte das Begründungserfordernis über die bloße Behauptung einer vom EuGH anerkannten Ausnahme von der Vorlagepflicht hinausgehen und zumindest eine nähere Argumentation umfassen, wie sie der EGMR vorliegend bei den belgischen Gerichten festgestellt hat682. Beruft sich aber ein mitgliedstaatliches Gericht irrig oder gar missbräuchlich auf eine solche Ausnahme, indem es etwa trotz ungesicherter EuGH-Judikatur einen acte éclairé oder trotz unklarer Europarechtslage einen acte clair annimmt, beruht der daraus resultierende Vorlagepflichtverstoß direkt auf einer unzutreffenden Evaluierung des Europarechts. Das Vorgehen des EGMR im Ausgangsfall lässt darauf schließen, dass derartige fehlerhaft begründeten Nichtvorlagen nach wie vor nicht über die EMRK sanktioniert werden683. Hätte sich nämlich die Rechtsprechung des EuGH zum grenzüberschreitenden Bezug tatsächlich wie von den Bf. behauptet weiterentwickelt, wäre die gerichtliche Begründung des Vorlageverzichts europarechtlich unhaltbar gewesen, da die in Bezug genommenen älteren EuGH-Urteile nicht mehr für die Annahme eines acte éclairé ausgereicht hätten. Eine entsprechende Nachprüfung hat der EGMR jedoch unter Hinweis auf die Grenzen seiner Zuständigkeit abgelehnt684. Die Kontrolle durch den EGMR erstreckt sich demnach nicht auf die inhaltliche Vertretbarkeit der gegebenen Begründung nach Europarecht, so dass die Anbindung des Willkürkriteriums an die europarechtlichen Anforderungen zum Teil wieder relativiert wird. Dadurch verbleibt eine deutliche Schutzlücke in der menschenrechtlichen Absicherung von Art. 267 AEUV: Vorlagepflichtige Gerichte könnten einer Beanstandung entgehen, wenn sie den Vorlageverzicht auf eine ausführliche, aber im Ergebnis europarechtlich nicht tragfähige Begründung stützen. Unter Umständen könnte dann noch die vom EGMR abschließend erwähnte Gesamtbetrachtung des Verfahrens685 als Korrektiv herangezogen werden, und in Fällen von offenkundiger Unvertretbarkeit und klarem Missbrauch dürfte ohnehin von klassischer Willkür auszugehen sein. Trotz der insoweit fortbestehenden Unsicherheiten ist mit dem vorliegenden EGMR-Urteil aber gerade im Vergleich zur vorherigen Rechtsprechung der Konventionsorgane eine insgesamt begrüßenswerte Konkretisierung und Verschärfung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erreicht worden686, die einen Fortschritt für die Sanktionierbarkeit von Vorlagepflichtverletzungen bedeutet.

682

EGMR, a. a. O., Rn. 64: „long raisonnement“, Rn. 65: „raisonnement démonstra-

tif“. 683

Vgl. auch Schilling, EuGRZ 2012, 133 (136); ders., EuGRZ 2014, 596 (597 f.,

601). 684 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 66; siehe o., cc) (2). 685 EGMR, a. a. O., Rn. 67; siehe o., cc) (2). 686 Vgl. Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (781 f.); Schilling, EuGRZ 2012, 133 (136).

224

Teil 2: Verfahrensrechte

n) Dhahbi ./. Italien (2014) 687 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Der in Marsala (Sizilien) wohnhafte Bf. Bouraoui Dhahbi war zur für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblichen Zeit noch tunesischer Staatsangehöriger, bevor er in Italien eingebürgert wurde. Dorthin war er mit einer rechtmäßigen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis gekommen, dann in ein privates Arbeitsverhältnis eingetreten und von der zuständigen nationalen Behörde sozialversichert worden. Im Mai 2001 klagte der Bf. vor dem erstinstanzlichen Gericht in Marsala auf Zahlung einer staatlichen Familienbeihilfe (assegno per nucleo familiare), die nach dem nationalen Gesetz Nr. 448/1998 in Italien lebenden italienischen688 Familien mit mindestens drei minderjährigen Kindern und einem Jahreseinkommen von unter 36 Mio. ITL (ca. 18.592,– A) zustand. Diese Voraussetzungen erfüllte der Bf. mit Ausnahme der italienischen Staatsangehörigkeit. Insoweit berief er sich auf Art. 65 des europäisch-tunesischen Assoziierungsabkommens689. Dort wird tunesischen Arbeitnehmern und den mit ihnen zusammenlebenden Familienangehörigen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit eine Behandlung ohne Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbürgt (Abs. 1 S. 1), wobei der Begriff der sozialen Sicherheit ausdrücklich auch Familienbeihilfen umfasst (Abs. 1 S. 2, Abs. 3). Nachdem das Gericht die Klage im April 2002 abgewiesen hatte, verlangte der Bf. vor dem Berufungsgericht (Corte d’appello) in Palermo u. a. die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Vereinbarkeit der Verweigerung der Familienbeihilfe mit dem Assoziierungsabkommen. Auch die Berufung blieb indes erfolglos, da das Gericht in seinem Urteil vom Oktober 2004 die Familienbeihilfe nicht dem vom Assoziierungsabkommen abgedeckten Bereich der sozialen Sicherheit zuordnete, sondern sie lediglich als Sozialhilfeleistung einstufte. Der Bf. ging daraufhin in Revision und wiederholte sein Vorlagebegehren. Die Corte di Cassazione legte jedoch ebenfalls nicht vor, sondern folgte im Ergebnis der Argumentation des Berufungsgerichts. In ihrem Urteil vom 15.04.2008 verwies sie darauf, dass in Art. 64 Abs. 1 und 2 des Assoziierungsabkommens auf Beschäftigungsverhältnisse, nicht aber auf Sozialhilfeleistungen Bezug genommen werde und auch Art. 65 Abs. 1 und 2 des Abkommens in diesem Kontext ständen. Dabei betonte sie, dass sich diese Auslegung nicht allein auf den Wortlaut stütze, 687

EGMR, Urt. v. 08.04.2014, Dhahbi ./. Italien, Nr. 17120/09. Später wurde die Leistungsberechtigung sukzessive auf alle Unionsbürger sowie auf Drittstaatsangehörige mit langfristiger Aufenthaltserlaubnis ausgedehnt; vgl. EGMR, a. a. O., Rn. 11, 29. 689 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits v. 17.07.1995, ABl. Nr. L 97 v. 30.03.1998, S. 2. Siehe auch u., Teil 4, A. III. 688

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

225

sondern in Anknüpfung an die Rechtsprechung des EuGH auch auf die für jede Leistung konstitutiven Elemente690. Mit dieser Entscheidung war der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft. bb) Verfahren vor dem EGMR In Straßburg rügte der Bf. daraufhin einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen unbegründeter Nichtvorlage zum EuGH sowie eine Verletzung von Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK, da er wegen einer Diskriminierung aufgrund seiner Staatsangehörigkeit nicht in den Genuss der begehrten Beihilfe gekommen sei. Im einzelnen argumentierte er u. a., dass der Begriff der „sozialen Sicherheit“ in der maßgeblichen Auslegung durch den EuGH auch nicht beitragsgestützte Beihilfeleistungen umfassen könne und das assoziationsrechtliche Diskriminierungsverbot damit anwendbar sei691. Ein Abweichen hiervon sei nur nach einer Vorlage an den EuGH zulässig, der über die Rechtsnatur der konkreten Familienbeihilfe bislang nicht entschieden habe. Die italienische Regierung entgegnete, die Corte di Cassazione habe die Europarechtslage für klar gehalten, und der Zugang zur Familienbeihilfe sei allein aus Haushaltsgründen beschränkt worden692. Der EGMR erklärte beide Rügen für zulässig693. Zur Begründetheit der Nichtvorlagerüge knüpfte er an seine auf das Urteil Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien694 zurückgehende Rechtsprechung an, dass letztinstanzliche nationale Gerichte einen Verzicht auf die Vorlage europarechtlicher Fragen nach Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) im Lichte der in der Rechtsprechung des EuGH etablierten Ausnahmen zu begründen hätten695. Die Gründe müssten also erkennen lassen, warum das nationale Höchstgericht befunden habe, dass die jeweilige Frage nicht entscheidungserheblich sei oder dass die Voraussetzungen eines acte éclairé oder acte clair vorlägen. Im letztinstanzlichen Urteil der Corte di Cassazione konnte der EGMR jedoch weder eine Bezugnahme auf das Vorlagebegehren des Bf. noch die Gründe für die angebliche Entbehrlichkeit einer Vorlage ausmachen696. Daher sei nicht ersichtlich, ob die vom Bf. aufgeworfene Frage nach den geltenden Maßstäben für nicht vorlagebedürftig gehalten oder ob sie schlicht ignoriert worden sei. Jedenfalls enthalte die Urteilsbegründung der Corte di Cassazione in dieser Hinsicht keinen Bezug zur Rechtsprechung des EuGH. 690

Vgl. EGMR, Urt. v. 08.04.2014, Dhahbi ./. Italien, Nr. 17120/09, Rn. 15. Vgl. EGMR, a. a. O., Rn. 27 f.; siehe hierzu noch u., cc). 692 Vgl. EGMR, a. a. O., Rn. 30, 44. 693 EGMR, a. a. O., Rn. 19 ff., 39 ff. 694 Siehe o., m) cc) (2), dd). 695 EGMR, Urt. v. 08.04.2014, Dhahbi ./. Italien, Nr. 17120/09, Rn. 31; unter Verweis auf EGMR, Entsch. v. 10.04.2012, Vergauwen et al. ./. Belgien, Nr. 4832/04, Rn. 89 f. 696 EGMR, Urt. v. 08.04.2014, Dhahbi ./. Italien, Nr. 17120/09, Rn. 32 f. 691

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Teil 2: Verfahrensrechte

Dieser Befund war für den EGMR ausreichend, um eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK anzunehmen697. Hinsichtlich der auf Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK gestützten Rüge stellte der Gerichtshof fest, dass der Ausschluss des Bf. von der Familienbeihilfe eine Ungleichbehandlung darstelle, die ausschließlich auf der Staatsangehörigkeit beruhe698. Hierfür könnten die von der italienischen Regierung geltend gemachten budgetären Interessen zwar grundsätzlich ein legitimes Ziel sein, doch müssten bei einer rein staatsangehörigkeitsbasierten Anknüpfung sehr gewichtige Gründe angeführt werden, damit von einer verhältnismäßigen Rechtfertigung der Unterscheidung ausgegangen werden könne. Ungeachtet des weiten staatlichen Einschätzungsspielraums auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit würden die hier vorgebrachten Argumente dafür nicht ausreichen, so dass ein Verstoß gegen Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK zu bejahen sei699. Aufgrund dessen sprach der Gerichtshof dem Bf. als Entschädigung nach Art. 41 EMRK ca. 9.416,– A für entgangene Beihilfeeinkünfte samt Zinsen sowie 10.000,– A für erlittenen immateriellen Schaden zu700. cc) Bewertung Im nationalen Ausgangsverfahren unterlag die Corte di Cassazione als letztinstanzliches Gericht gemäß Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) grundsätzlich der Pflicht zur Vorlage an den EuGH. Die vom Bf. aufgeworfene Frage zur europarechtlichen Qualifikation der streitgegenständlichen italienischen Familienbeihilfe war auch entscheidungserheblich und vom EuGH zuvor noch nicht beantwortet worden. Von einer offenkundig klaren Europarechtslage durfte die Corte di Cassazione ebenfalls nicht ausgehen. Denn der Bf. hatte verschiedene mit Nachweisen aus der Luxemburger Rechtsprechung belegte Argumente für seine Position vorgetragen, während sich die von den italienischen Gerichten vertretene gegenläufige Auffassung gerade nicht auf ein vergleichbares Fundament stützen konnte. Da somit weder ein acte éclairé noch ein acte clair gegeben war, verstieß die unterbliebene Vorlage der Corte di Cassazione gegen Europarecht. In materieller Hinsicht spricht auch viel dafür, dass ein Vorabentscheidungsverfahren zugunsten des Bf. ausgegangen wäre. Bereits Wortlaut und Systematik der einschlägigen Bestimmungen des Assoziierungsabkommens mit Tunesien deuten klar in diese Richtung. Weiterhin lässt sich der Judikatur des EuGH entnehmen, dass der assoziationsrechtliche Begriff der sozialen Sicherheit in Anleh-

697 698 699 700

EGMR, a. a. O., Rn. EGMR, a. a. O., Rn. EGMR, a. a. O., Rn. EGMR, a. a. O., Rn.

34. 48 f. 53 f. 56 ff.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

227

nung an die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71701 auszulegen war702. Die dort der sozialen Sicherheit zugeordneten Familienleistungen umfassen im wesentlichen alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten bestimmt sind, ohne dass es auf eine vorherige eigene Beitragsleistung ankommt703. In Abgrenzung zur Sozialhilfe ist dem EuGH zufolge außerdem maßgeblich, dass die betreffende Leistung „den Empfängern unabhängig von jeder auf Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit aufgrund einer gesetzlich umschriebenen Stellung gewährt wird“ 704. Auch diese Voraussetzung dürfte hier erfüllt gewesen sein, da der Anspruch auf die italienische Familienbeihilfe offenbar allein von den abstrakten Kriterien Wohnsitz, Anzahl der Kinder, Jahreseinkommen und eben Staatsangehörigkeit abhängig war. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass das vorlagepflichtwidrig ergangene Urteil der Corte di Cassazione auch zu einer Verletzung der materiellen Rechtsposition des Bf. aus dem europäischen Assoziierungsabkommen geführt hat. Umso erfreulicher ist es, dass der EGMR im Dhahbi-Urteil erstmals seit dem Aufkommen derartiger Beschwerden in den 1980er Jahren einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen unterlassener Vorlage zum EuGH festgestellt hat. Dabei legte er die Standards zugrunde, die er in seinem Urteil Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien definiert hatte und die entscheidend auf die vom nationalen Höchstgericht für den Vorlageverzicht gegebene Begründung ausgerichtet sind. Fehlt diese, oder orientiert sie sich nicht an den vom EuGH zugelassenen Ausnahmen von der Vorlagepflicht, führt dies zur Feststellung einer Konventionsverletzung. Diesen Maßstab hat der Gerichtshof nunmehr konsequent angewandt705, so dass der Vorlagepflichtverstoß bereits auf der Grundlage von Art. 6 Abs. 1 EMRK konventionsrechtlich sanktioniert werden konnte. Denn dem EGMR genügte es hier nicht, dass die Corte di Cassazione in ihrem Urteil ihre eigene Auffassung von der materiellen Europarechtslage hatte erkennen lassen, ohne jedoch auf das Vorlagebegehren des Bf. einzugehen und ohne darzulegen, 701 VO (EWG) Nr. 1408/71 des Rates v. 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABl. Nr. L 149 v. 05.07.1971, S. 2; inzwischen größtenteils ersetzt durch die VO (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. Nr. L 166 v. 30.04.2004, S. 1. 702 EuGH, Urt. v. 31.01.1991, Office national de l’emploi ./. Kziber, Rs. C-18/90, Slg. 1991, I-199, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 20.04.1994, Yousfi ./. Belgischer Staat, Rs. C58/93, Slg. 1994, I-1353, Rn. 24, 28. 703 Vgl. Art. 4 Abs. 1 lit. h, Abs. 2 i.V. m. Art. 1 lit. u VO (EWG) Nr. 1408/71. 704 EuGH, Urt. v. 16.07.1992, Hughes ./. Chief Adjudication Officer, Rs. C-78/91, Slg. 1992, I-4839, Rn. 15, 22; EuGH, Urt. v. 10.03.1993, Kommission ./. Luxemburg, Rs. C-111/91, Slg. 1993, I-817, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 29.10.1998, Kommission ./. Griechenland, Rs. C-185/96, Slg. 1998, I-6601, Rn. 25; ständige Rspr. 705 Vgl. noch anders EGMR, Urt. v. 20.06.2013, Wallishauser ./. Österreich (Nr. 2), Nr. 14497/06, Rn. 84 f.

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Teil 2: Verfahrensrechte

aufgrund welchen europarechtlichen Ausnahmetatbestandes eine Vorlage entbehrlich sei. Die Straßburger Kriterien für einen konventionswidrigen Vorlageverzicht waren damit eindeutig erfüllt. Zudem beanstandete der EGMR das Urteil der Corte di Cassazione auch in materiell-rechtlicher Hinsicht. Die festgestellte Verletzung von Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK wurde zwar nicht unter Rückgriff auf europarechtliche Bestimmungen oder die Rechtsprechung des EuGH, sondern ausschließlich konventionsautonom hergeleitet. Der hohe konventionsrechtliche Schutzstandard gegenüber Diskriminierungen, die allein an die Staatsangehörigkeit anknüpfen, ermöglichte es dem Bf. aber gleichwohl, die von ihm beanspruchte materielle Assoziationsrechtsposition über die Garantien der EMRK vor dem EGMR durchzusetzen. So glich die vom EGMR aufgrund des Verstoßes gegen Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK zuerkannte Entschädigung die vom Bf. geltend gemachten Schadenspositionen vollständig aus706. Das verfolgte Rechtsschutzziel wurde also letztlich erreicht707, so dass auch etwaige materielle Europarechtsverstöße der italienischen Stellen gegenüber dem Bf. nicht länger fortwirkten. o) Schipani et al. ./. Italien (2015)708 aa) Sachverhalt und nationales Verfahren Im Juli 1996 verklagten die Bf., eine Gruppe italienischer Ärzte, den italienischen Staat auf Schadensersatz wegen verspäteter Umsetzung der Richtlinien 75/ 363/EWG709 und 82/76/EWG710, gemäß denen die Stellen für Ärzte in beruflicher Weiterbildung u. a. „angemessen vergütet“ werden711. Die Mitgliedstaaten waren verpflichtet, ihr innerstaatliches Recht bis zum 31.12.1982 entsprechend anzupassen. In Italien kam es hierzu jedoch erst mit dem Gesetzesdekret 706

Vgl. EGMR, Urt. v. 08.04.2014, Dhahbi ./. Italien, Nr. 17120/09, Rn. 56 f., 59 f. Siehe auch Resolution CM/ResDH(2015)203 betr. das Urteil des EGMR v. 08.04.2014 im Fall Dhahbi ./. Italien, angenommen vom Ministerkomitee am 17.11. 2015. 708 EGMR, Urt. v. 21.07.2015, Schipani et al. ./. Italien, Nr. 38369/09. 709 Richtlinie 75/363/EWG des Rates v. 16.06.1975 zur Koordinierung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes, ABl. Nr. L 167 v. 30.06. 1975, S. 14. 710 Richtlinie 82/76/EWG des Rates v. 26.01.1982 zur Änderung der Richtlinie 75/ 362/EWG für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Arztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr sowie der Richtlinie 75/363/EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Arztes, ABl. Nr. L 43 v. 15.02.1982, S. 21. Im Schipani-Urteil des EGMR (a. a. O., Rn. 7, 23, 25, 53 f., 65, 70, 79) wird stattdessen stets eine – nicht existente – Richtlinie Nr. 82 v. 26.01.1976 angeführt. 711 Art. 13 RiLi 82/76/EWG. 707

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

229

Nr. 257/1991712, das ab dem Studienjahr 1991/1992 für sich spezialisierende Ärzte ein Stipendium in Höhe von 21,5 Mio. ITL (ca. 11.103,– A) sowie die Anrechenbarkeit der erworbenen Diplome in Auswahlverfahren für Mediziner vorsah. Die Bf., die bereits zuvor ihre Weiterbildung absolviert hatten, profitierten von dieser Regelung mangels Rückwirkung nicht mehr und sahen daher ihre Rechte aus den Richtlinien verletzt. Vor dem erstinstanzlichen Gericht in Rom scheiterten sie im Februar 2000 mit einer Klage auf Ausgleich der ihnen entstandenen finanziellen und sonstigen Nachteile, da das Gericht nicht für nachgewiesen hielt, dass die von ihnen belegten Spezialisierungskurse die gemeinschaftsrechtlichen Voraussetzungen erfüllten. Auch das Berufungsgericht wies die Klage ab und begründete seine Entscheidung damit, dass die Richtlinienvorschriften für einen Staatshaftungsanspruch nicht hinreichend bestimmt und zudem relevante Dokumente nicht vorgelegt worden seien. Die Bf. zogen daraufhin unter Verweis auf die Staatshaftungsrechtsprechung des EuGH vor die Corte di Cassazione und beantragten hilfsweise, den EuGH zu befragen, ob die nicht fristgerechte Umsetzung der beiden Richtlinien den Staat zum Ersatz der dadurch entstandenen Schäden verpflichte und ob die im Gesetzesdekret Nr. 257/1991 vorgesehenen Bedingungen eine solche Entschädigung unmöglich machten oder übermäßig erschwerten. Obwohl die Bf. mit ihrem Hauptantrag erfolglos blieben, leitete die Corte di Cassazione kein Vorabentscheidungsverfahren ein und nahm in ihrem Urteil vom November 2008 auch nicht auf das Vorlagebegehren Bezug. Zwar löse die verspätete Umsetzung der streitgegenständlichen Richtlinien dem EuGH zufolge einen Staatshaftungsanspruch aus. Dieser beziehe sich auf die entgangenen Chancen, in den Genuss der durch die Richtlinien gewährten Begünstigungen zu gelangen. Hier hätten die Bf. jedoch nicht den Ersatz eines solchen spezifischen Schadens begehrt, sondern vorgetragen, dass der Schaden durch die Verspätung selbst entstanden sei und das Gesetzesdekret Nr. 257/1991 eine diskriminierende Wirkung entfalte. Auf dieser Grundlage sei die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden. bb) Verfahren vor dem EGMR Mit ihrer im Juli 2009 erhobenen Menschenrechtsbeschwerde rügten die Bf. eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen der unterbliebenen Vorlage und weitere Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK allein und i.V. m. Art. 14 EMRK sowie gegen Art. 1 ZP 1. Der EGMR wies zunächst die von der italienischen Regierung vorgebrachte Einrede fehlender Rechtswegerschöpfung zurück713. Die Erfolgsaussichten für 712 713

50.

Decreto legislativo n. 257 v. 08.08.1991. EGMR, Urt. v. 21.07.2015, Schipani et al. ./. Italien, Nr. 38369/09, Rn. 44 ff.,

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Teil 2: Verfahrensrechte

eine vorherige Geltendmachung eines etwaigen Staatshaftungsanspruchs wegen judikativen Unrechts auf dem nationalen Zivilrechtsweg seien zweifelhaft gewesen, so dass insoweit kein effektiver Rechtsbehelf714 vorgelegen habe. Zur Begründung zog der Straßburger Gerichtshof auch die Rechtsprechung des EuGH heran, der das damalige italienische Staatshaftungsrecht für europarechtswidrig befunden hatte715. Die Nichtvorlagerüge der Bf. erklärte der EGMR für zulässig und prüfte ihre Begründetheit anhand des seit dem Urteil Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien716 verwendeten Maßstabs, der vornehmlich darauf abstellt, ob das nationale Gericht seinen Vorlageverzicht im Lichte der CILFIT-Kriterien des EuGH717 begründet hat718. Der EGMR wies darauf hin, dass das letztinstanzliche Urteil der Corte di Cassazione weder einen Bezug auf das Vorlagebegehren der Bf. noch Ausführungen zu den Gründen für den Vorlageverzicht enthalten habe719. Zwar habe die Corte di Cassazione die einschlägige EuGH-Rechtsprechung zur Entstehung eines Staatshaftungsanspruchs angeführt. Auch implizit ergebe sich hieraus aber keine europarechtlich tragfähige Begründung für den Verzicht auf die Vorlage der von den Bf. ebenfalls aufgeworfenen Frage nach der Rechtmäßigkeit der Bedingungen für die Realisierung eines Anspruchs, so dass Art. 6 Abs. 1 EMRK im Ergebnis verletzt sei720. Die übrigen Rügen wies der EGMR hingegen wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 Abs. 3 lit. a, Abs. 4 EMRK als unzulässig zurück721. Da der Gerichtshof keine kausale Verbindung zwischen der festgestellten Konventionsverletzung und dem geltend gemachten Vermögensschaden erkennen konnte, sprach er gemäß Art. 41 EMRK jedem der Bf. lediglich 3.000,– A als Ausgleich für immateriellen Schaden zu sowie allen Bf. gemeinsam noch einmal 5.000,– A für die Kosten des Individualbeschwerdeverfahrens722. Im dem Urteil beigefügten zustimmenden Sondervotum vertrat der Richter Wojtyczek die Auffassung, dass für den Umfang der Pflicht zur Begründung gerichtlicher Entscheidungen neben der Bedeutung der betreffenden Frage und der 714

Vgl. allgemein o., Teil 1, C. III. EGMR, Urt. v. 21.07.2015, Schipani et al. ./. Italien, Nr. 38369/09, Rn. 46 f.; u. a. unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C173/03, Slg. 2006, I-5177. 716 Siehe o., m) cc) (2), dd). 717 Siehe hierzu bereits o., II. 1. b). 718 EGMR, Urt. v. 21.07.2015, Schipani et al. ./. Italien, Nr. 38369/09, Rn. 69; unter Verweis auf EGMR, Entsch. v. 10.04.2012, Vergauwen et al. ./. Belgien, Nr. 4832/04, Rn. 89 f.; EGMR, Urt. v. 08.04.2014, Dhahbi ./. Italien, Nr. 17120/09, Rn. 31. 719 EGMR, Urt. v. 21.07.2015, Schipani et al. ./. Italien, Nr. 38369/09, Rn. 71. 720 EGMR, a. a. O., Rn. 72 f. 721 EGMR, a. a. O., Rn. 59 ff., 79 ff. 722 EGMR, a. a. O., Rn. 87, 90. 715

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

231

Dringlichkeit der Entscheidung v. a. die Schwere des Eingriffs in die Sphäre der Menschenrechte ausschlaggebend sein solle723. Der Ansatz des EGMR, eine europarechtlich ausgerichtete Begründung für das Absehen von einer Vorlage an den EuGH zu verlangen, führe im Vergleich mit anderen Rechtsfragen zu einer nicht hinreichend gerechtfertigten Besserstellung des Europarechts724. Auch wenn die hiesige Begründung der Corte di Cassazione den allgemeinen Anforderungen nicht genügt habe, plädierte Wojtyczek für einen je nach den Umständen des Einzelfalls nuancierten Ansatz, der dem nationalen Gericht einen Einschätzungsspielraum bei der Begründung von Entscheidungen über Vorlagebegehren beließe725. cc) Bewertung Als letztinstanzliches Gericht war die Corte die Cassazione grundsätzlich zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens verpflichtet. Wegen Nichtumsetzung der Richtlinie 82/76/EWG hatte der EuGH Italien bereits in einem Vertragsverletzungsverfahren verurteilt726. Im selben Kontext hatte der Luxemburger Gerichtshof dann in den von den Bf. angeführten Urteilen entschieden, dass im Falle von Defiziten bei der Richtlinienumsetzung die allgemeinen staatshaftungsrechtlichen Regeln anwendbar seien. Danach ist vorauszusetzen, dass die Richtlinie die Verleihung von Rechten an Bürger bezweckt, der Inhalt dieser Rechte auf der Grundlage der Richtlinie bestimmt werden kann und ein Kausalzusammenhang zwischen dem hinreichend qualifizierten Verstoß und dem entstandenen Schaden besteht727. Die im hier zugrundeliegenden Richtlinienrecht enthaltene grundsätzliche Vergütungspflicht sei als solche zwar unbedingt und hinreichend genau728; dies gelte jedoch nicht für die Bestimmung der Höhe, des Schuldners und der sonstigen Modalitäten der Vergütung, über die die Mitgliedstaaten in Ausübung des ihnen eingeräumten Ermessens zu entscheiden hätten729. Es sei Aufgabe der mitgliedstaatlichen Gerichte, das nationale Recht so weit wie 723 Zustimmendes Sondervotum des Richters Wojtyczek zu EGMR, Urt. v. 21.07. 2015, Schipani et al. ./. Italien, Nr. 38369/09, Rn. 3. 724 Sondervotum, a. a. O., Rn. 5. 725 Sondervotum, a. a. O., Rn. 6 f.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 18.07.2006, Pronina ./. Ukraine, Nr. 63566/00, Rn. 24. 726 EuGH, Urt. v. 07.07.1987, Kommission ./. Italien, Rs. 49/86, Slg. 1987, 2995, Rn. 7. 727 EuGH, Urt. v. 25.02.1999, Carbonari et al., Rs. C-131/97, Slg. 1999, I-1103, Rn. 52, m.w. N.; EuGH, Urt. v. 03.10.2000, Gozza et al., Rs. C-371/97, Slg. 2000, I7881, Rn. 38. Siehe hierzu näher u., Teil 3, A. I. 3. b) aa), bb). 728 EuGH, Urt. v. 25.02.1999, Carbonari et al., Rs. C-131/97, Slg. 1999, I-1103, Rn. 44; EuGH, Urt. v. 03.10.2000, Gozza et al., Rs. C-371/97, Slg. 2000, I-7881, Rn. 34. 729 EuGH, Urt. v. 25.02.1999, Carbonari et al., Rs. C-131/97, Slg. 1999, I-1103, Rn. 45 ff., 50; EuGH, Urt. v. 03.10.2000, Gozza et al., Rs. C-371/97, Slg. 2000, I-7881, Rn. 36, 45.

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Teil 2: Verfahrensrechte

möglich anhand von Wortlaut und Zweck des Richtlinienrechts auszulegen, damit das dort festgelegte Ergebnis erreicht werde730. Sie hätten auch darüber zu wachen, dass der durch verspätete Richtlinienumsetzung entstandene Schaden angemessen wiedergutgemacht werde. Hierfür genüge es grundsätzlich, wenn die zur ordnungsgemäßen Durchführung der Richtlinie schließlich getroffenen Maßnahmen rückwirkend und vollständig angewandt würden731. Damit wird deutlich, dass die erste von den Bf. vorgeschlagene Vorlagefrage tatsächlich bereits vom EuGH i. S. eines acte éclairé beantwortet war: Auf Umsetzungsdefiziten beruhende Vergütungsausfälle sind dem Grunde nach vom säumigen Mitgliedstaat zu ersetzen, erforderlichenfalls mit Hilfe einer richtlinienorientierten Auslegung oder rückwirkenden Anwendung des nationalen Rechts. Vor diesem Hintergrund kam nun der zweiten aufgeworfenen Vorlagefrage nach der Rechtmäßigkeit der im Gesetzesdekret Nr. 257/1991 statuierten Bedingungen eine besondere Relevanz zu. Denn das Dekret entfaltete gerade keine Rückwirkung und wurde von der Corte di Cassazione im Ergebnis auch nicht so ausgelegt, dass die Zielsetzung der Richtlinien, für die berechtigten Ärzte eine Vergütung sicherzustellen, erreicht worden wäre. Die urteilstragende Kritik der Corte di Cassazione an der Spezifizierung des Schadens durch die Bf. erstaunt, da dem Vorbringen der italienischen Regierung zufolge die Klagen der Bf. vor dem Berufungsgericht als letzter Tatsacheninstanz nicht mangels hinreichender Nachweise erfolglos geblieben sind732. Bei dieser Sachlage drängte sich die entscheidungserhebliche und vom EuGH bislang nicht geklärte Rechtsfrage auf, ob die konkreten Bedingungen des italienischen Rechts die Durchsetzung der europarechtlichen Staatshaftung übermäßig erschwerten oder praktisch unmöglich machten733. Dass die Corte di Cassazione sie ungeachtet des Antrags der Bf. nicht vorgelegt hat, dürfte daher mit Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) nicht zu vereinbaren gewesen sein. Das Fehlen einer aussagekräftigen Begründung der Nichtvorlage indiziert zusätzlich, dass eine sachgerechte inhaltliche Auseinandersetzung mit den europarechtlichen Vorgaben nicht stattgefunden hat. Für den Straßburger Gerichtshof bot der Fall mithin die Gelegenheit, nach dem Urteil Dhahbi ./. Italien734 erneut eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK aufgrund unterlassener Vorlage zum EuGH festzustellen. Wiederum überprüfte der 730 EuGH, Urt. v. 25.02.1999, Carbonari et al., Rs. C-131/97, Slg. 1999, I-1103, Rn. 49, 54; EuGH, Urt. v. 03.10.2000, Gozza et al., Rs. C-371/97, Slg. 2000, I-7881, Rn. 37, 45. 731 EuGH, Urt. v. 25.02.1999, Carbonari et al., Rs. C-131/97, Slg. 1999, I-1103, Rn. 53; EuGH, Urt. v. 03.10.2000, Gozza et al., Rs. C-371/97, Slg. 2000, I-7881, Rn. 39. 732 Vgl. EGMR, Urt. v. 21.07.2015, Schipani et al. ./. Italien, Nr. 38369/09, Rn. 64. 733 Zum Effektivitätsgebot siehe o., III. 3. a) aa) (3), sowie u., Teil 3, A. I. 3. b) bb) (3) (b). 734 Siehe o., n).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

233

EGMR insoweit allein, ob das nationale Höchstgericht seinen Vorlageverzicht in Anlehnung an das Europarecht ordnungsgemäß begründet hatte, nicht hingegen, ob tatsächlich ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht gegeben war. Im praktischen Ergebnis machte dies hier freilich keinen Unterschied, da die Corte di Cassazione gerade den relevanten Teil des Vorlagebegehrens gar nicht in ihrem Urteil behandelt hatte. Die konventionsrechtliche Beanstandung der Nichtvorlage im Schipani-Fall zeigt abermals den Mehrwert der an der europarechtlichen Vorlagepflicht ausgerichteten menschenrechtlichen Kontrolle gegenüber dem zuvor verwendeten klassischen Willkürmaßstab. Im Ergebnis ist eine Wertungsgleichheit zwischen Europarecht und EMRK so leichter erreichbar, und die stärkere Orientierung des EGMR am Europarecht erhöht außerdem Stringenz und Vorhersehbarkeit der Konventionsrechtsprechung. Für letztinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte ist nunmehr klar, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK zumindest eine an die CILFIT-Kriterien anknüpfende Nichtvorlagebegründung erfordert. Dadurch dürfte ihre Bereitschaft wachsen, die Europarechtslage vor der Entscheidung über eine Vorlage sorgfältiger zu prüfen. Insgesamt sind von der jüngeren Entwicklung der EGMR-Judikatur also positive Auswirkungen auf den Individualrechtsschutz zur Durchsetzung der Vorlagepflicht zu erwarten. Aus diesen Gründen sollte der Gerichtshof auch nicht dem Vorschlag des Richters Wojtyczek folgen, die Begründungsanforderungen bei Vorlageentscheidungen flexibler und eher an den Umständen des Einzelfalls als an der vorlagepflichtbegründenden Rechtsordnung auszurichten735. Ansonsten würden die dargestellten Verbesserungen wieder zunichtegemacht. Der Bedeutung des Rechtsstaatsprinzips und des gesetzlichen Richters für die Garantie eines fairen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1 EMRK wird der Vorschlag ebenfalls nicht gerecht. Festzuhalten bleibt schließlich, dass die Bf. im Schipani-Fall ihr Rechtsschutzziel nur zum Teil erreicht haben, da der EGMR ihnen zwar Ersatz für immateriellen Schaden und die in Straßburg angefallenen Verfahrenskosten zusprach, aber die vermögensrechtlichen Schadenspositionen unberücksichtigt ließ736. Dies war dem Umstand geschuldet, dass der hier festgestellte Verstoß gegen die EMRK ausschließlich verfahrensrechtlicher Natur war und keinen sicheren Rückschluss darauf zuließ, ob die Bf. mit ihrem materiellen Anspruch im Anschluss an eine Befassung des EuGH durchgedrungen wären. Damit unterscheidet sich die Fallkonstellation von derjenigen des Dhahbi-Urteils, in dem der EGMR zusätzlich materielles Konventionsrecht verletzt gesehen und dem Bf. eine umfassende Entschädigung bewilligt hatte737. Vorliegend hätte der EGMR allerdings noch darauf eingehen können, dass die Corte di Cassazione den Bf. mit der pflichtwidrigen 735 736 737

Siehe o., bb) (am Ende). Siehe o., bb). Siehe o., n) bb), cc).

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Teil 2: Verfahrensrechte

Nichtvorlage reale Prozesschancen genommen hat, so dass eine höhere Entschädigung begründbar gewesen wäre738. 4. Bestandsaufnahme a) Langjährige Ineffektivität des konventionsrechtlichen Rechtsschutzes Obwohl die Konventionsorgane bereits seit drei Jahrzehnten immer wieder mit Beschwerden befasst werden, die sich auf die Verweigerung einer Vorlage zum EuGH beziehen, ist bislang lediglich in zwei Urteilen aus den Jahren 2014 und 2015 eine daraus resultierende Verletzung der EMRK festgestellt worden739. Zwar waren in der überwiegenden Zahl der vorherigen Verfahren schon die europarechtlichen Voraussetzungen für das Eingreifen einer Vorlagepflicht der nationalen Gerichte nicht erfüllt, da die Europarechtslage als bereits durch den EuGH geklärt oder sonst hinreichend klar angesehen werden konnte oder die im Raum stehenden Fragen nicht entscheidungserheblich waren bzw. in die Zuständigkeit der nationalen Gerichte zur Tatsachenfeststellung und Rechtsanwendung fielen. In sieben Fällen ließ sich jedoch ein Verstoß gegen die europarechtliche Vorlagepflicht feststellen740. Fünf dieser Verstöße hätten einer individualschützenden Sanktionierung bedurft741, die von den Konventionsorganen gleichwohl nicht gewährleistet wurde. Lange Zeit sind vom Straßburger Rechtsschutzmechanismus somit keine praktisch wirksamen Impulse zur Durchsetzung der Vorlagepflicht ausgegangen. b) Leitlinien der konventionsrechtlichen Beurteilung Ebenso wie bereits die EKMR legt auch der EGMR an vorlagepflichtrelevante Rügen stets den Maßstab des in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Rechts auf ein faires Verfahren an. Vorlagepflichtverletzungen in Verfahren, die weder zivilrechtliche Ansprüche noch strafrechtliche Anklagen i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK zum Gegenstand haben, fallen folglich aus dem Kontrollbereich der Konventionsorgane heraus. Weiterhin werden die übrigen Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK von der Straßburger Rechtsprechung in den Vorlagefällen regelmäßig nicht herangezogen. Während dies für die gerichtliche Unabhängigkeit und

738

Vgl. insoweit o., f) cc), und u., 4. d). Siehe o., 3. n), o). Vgl. ferner Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (181); Peters/ Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 14; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 39; Lock, Verhältnis, S. 277; Dautricourt, S. 37, Fn. 152; Munding, S. 469, Fn. 2067; Gundel, FS Scheuing, 58 (64, Fn. 36). 740 Siehe o., 2. d) cc); 3. c) cc); 3. f) cc); 3. g) cc); 3. i) cc); 3. k) cc); 3. l) ee). 741 In den übrigen zwei Fällen entfiel der praktische Sanktionierungsbedarf wegen verfahrensrechtlicher Besonderheiten [siehe o., 3. i) cc)] sowie wegen Irrelevanz der Vorlagepflichtverletzung [siehe o., 3. l) ee)]. 739

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

235

Unparteilichkeit742 ausnahmslos gilt, entnimmt der EGMR in seiner jüngeren Judikatur der Garantie des auf Gesetz beruhenden Gerichts auch eine Zuweisung an das nach dem anwendbaren Recht zuständige Gericht. Damit ist indes noch keine Anerkennung eines strengen Rechts auf den gesetzlichen Richter verbunden743, wie es etwa in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verbürgt ist744. EKMR und EGMR haben vielmehr immer wieder betont, dass aus der Konvention kein Recht auf Vorlage an ein anderes Gericht abzuleiten sei. Schon früh brachte die EKMR das Kriterium der willkürlichen Nichtvorlage als entscheidendes Element für eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren ins Spiel745, das der EGMR fortan übernommen und beibehalten hat, wenn auch nunmehr in präzisierter Form und mit erweitertem Umfang746. Diese konventionsrechtlichen Grundsätze finden nicht allein auf Entscheidungen über die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH Anwendung, sondern werden universell stets dann zugrundegelegt, wenn die Vorlage eines innerstaatlichen Gerichts an eine andere nationale, inter- oder supranationale Instanz in Rede steht747. c) Die Entwicklungen bei der Ausgestaltung der Willkürprüfung Dennoch sind die genauen Konturen des Willkürkriteriums lange unscharf geblieben. Die in der Judikatur beider Konventionsorgane gewählten Formulierungen ließen es teils nur als eine beispielhafte748, später dagegen zunehmend als eine notwendige749 Voraussetzung eines Konventionsverstoßes erscheinen. Jedenfalls wurde weder klar, unter welchen Bedingungen ein Verstoß sonst denkbar wäre, noch existierte eine exakte Definition des Willkürbegriffs. Die Rechtslage nach Europarecht einschließlich der Rechtsprechung des EuGH bildete keinen festen Orientierungspunkt der Straßburger Entscheidungen, sondern wurde allenfalls selektiv und unregelmäßig in Bezug genommen. Vergleichsweise stärker 742 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1046, weist darauf hin, dass eine unhaltbare Handhabung der Vorlagepflicht die Unparteilichkeit des nationalen Gerichts in Frage stellen könnte. 743 Vgl. insoweit aber die Ansätze bei Meilicke, RIW 1994, 477 (479 f.); Meilicke, BB 2000, 17 (23); Lenski/Mayer, EuZW 2005, 225; Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (540, Fn. 76). 744 Siehe o., III. 3. a) aa). 745 Siehe o., 2. b) bb), cc). 746 Siehe sogleich c). 747 Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 22.06.2000, Coëme et al. ./. Belgien, Rep. 2000-VII, Rn. 114 ff.; EGMR, Urt. v. 05.11.2002, Wynen und Centre hospitalier interrégional Edith-Cavell ./. Belgien, Rep. 2002-VIII, Rn. 41 ff.; EGMR, Urt. v. 15.07.2003, Ernst et al. ./. Belgien, Nr. 33400/96, Rn. 74 ff.; EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 57, 59 – siehe bereits o., 3. m) cc) (2), dd). 748 Vgl. etwa o., 2. c) bb), cc); 3. a) bb), cc); 3. c) bb), cc); 3. e) bb). 749 Vgl. etwa o., 3. b) bb), cc); 3. f) bb); 3. i) bb); 3. j) cc); 3. k) bb).

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Teil 2: Verfahrensrechte

wurde demgegenüber auf die Urteilsbegründungen der nationalen Gerichte, denen wiederholt ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich des innerstaatlichen Rechts eingeräumt wurde, und das Prozessverhalten der jeweiligen Bf. abgestellt. Jenseits der herkömmlichen europa- und konventionsrechtlichen Anforderungen statuierte der EGMR im John-Fall sogar eine Obliegenheit des Bf., die Notwendigkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens bereits vor dem letztinstanzlichen Fachgericht detailliert darzulegen750. Generell empfiehlt es sich für die Einzelnen, dort zumindest auf die europarechtliche Dimension des Rechtsstreits hinzuweisen, schon um im Falle einer Vorlageverweigerung Probleme mit der Zulässigkeit von Anschlussrechtsbehelfen vor dem nationalen Verfassungsgericht oder dem EGMR zu vermeiden751. Die ursprüngliche Handhabung des Willkürerfordernisses durch die Konventionsorgane war üblicherweise stark am jeweiligen Einzelfall ausgerichtet und daher nur schwer vorhersehbar. Ausgehend von den Resultaten der bis 2011 entschiedenen Verfahren konnte nur in gravierenden Ausnahmefällen mit einem Erfolg von Menschenrechtsbeschwerden gegen Vorlagepflichtverstöße gerechnet werden. Die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK war zumindest dann nicht zu erwarten, wenn sich das nationale Gericht mit den betreffenden Fragen auseinandergesetzt und seine Entscheidung erforderlichenfalls begründet hatte sowie nicht offenkundig von unzutreffenden Prämissen ausgegangen war. Zudem wurde die Rücknahme eines Vorabentscheidungsersuchens für willkürfrei gehalten, wenn der EuGH dem vorlegenden Gericht die Entscheidung über den Fortgang des Vorlageverfahrens anheimgestellt hatte752. Dieses traditionelle Willkürkonzept ließ insgesamt noch eine beträchtliche Diskrepanz zwischen der Reichweite der europarechtlichen Vorlagepflicht und ihrer Durchsetzbarkeit nach Art. 6 Abs. 1 EMRK zu. Erst mit dem Urteil Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien von 2011 präzisierte und erhöhte der EGMR den konventionsrechtlichen Schutzstandard, indem er das Europarecht erstmals detailliert als vorlagepflichtbegründende und -ausgestaltende Referenzrechtsordnung heranzog und in seinen Prüfungsmaßstab integrierte753. Den nationalen Gerichten gab er ausdrücklich auf, eine unterlassene Vorlage nach Maßgabe der europarechtlich zulässigen Ausnahmen zu begründen. Im einzelnen ist danach eine Nichtvorlage willkürlich, wenn das Europarecht generell keine Befreiung von der Vorlagepflicht vorsieht oder das nationale Gericht andere Gründe als die europarechtlich vorgesehenen anführt oder

750

Siehe o., 3. k) bb), cc). Siehe o., 3. i) cc). 752 Siehe o., 3. j) cc), dd). 753 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 59 ff., 62; siehe o., 3. m) cc) (2), dd). 751

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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anhand der letzteren keine ordnungsgemäße Begründung abgibt754. Unter besonderen Umständen wird auch eine implizite Begründung bereits als ausreichend angesehen755. In diesem Rahmen enthält sich der EGMR jedoch einer Prüfung von Fehlern bei der Auslegung und Anwendung des Europarechts, so dass nicht im einzelnen kontrolliert wird, ob die Nichtvorlagebegründung des nationalen Gerichts auf einer vertretbaren Beurteilung der Europarechtslage beruht. Daher ist immer noch nicht bei allen Vorlagepflichtverletzungen mit einer konventionsrechtlichen Beanstandung zu rechnen. Insgesamt ähneln die neuen Leitlinien des EGMR stark dem seit 2010 vom BVerfG verwendeten Kontrollumfang756. Jeweils wird eine ordnungsgemäße bzw. vertretbare fachgerichtliche Begründung für die Handhabung der Vorlagepflicht am Maßstab des Europarechts verlangt, gleichzeitig aber am Kriterium der Willkür festgehalten. Allerdings hat das BVerfG die fachgerichtliche Auslegung und Anwendung des Europarechts nicht pauschal von der Überprüfung ausgeschlossen, so dass der Ansatz des EGMR insoweit noch zurückhaltender erscheint. Außer in den Fällen fehlender oder mit falschem Bezugspunkt abgegebener Begründung ist jedenfalls unzweifelhaft von einer konventionswidrigen Nichtvorlage auszugehen, wenn ein mitgliedstaatliches Gericht europäisches Sekundärrecht als ungültig einstuft. Die eigenmächtige Verwerfung von Europarecht war zwar bislang noch nicht Gegenstand einer Menschenrechtsbeschwerde und ist vom EGMR auch nicht direkt thematisiert worden, kann aber ggf. leicht identifiziert werden. Sie ist aufgrund des Verwerfungsmonopols des EuGH europarechtlich ausnahmslos verboten757 und unterfällt damit direkt dem ersten der vom EGMR definierten Willküraspekte.

754 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 59; vgl. auch EGMR, Entsch. v. 10.04.2012, Vergauwen et al. ./. Belgien, Nr. 4832/04, Rn. 89 f.; EGMR, Entsch. v. 04.09.2012, Ferreira Santos Pardal ./. Portugal, Nr. 30123/10, pdf-Dok. S. 8; EGMR, Urt. v. 08.04.2014, Dhahbi ./. Italien, Nr. 17120/09, Rn. 31; EGMR, Entsch. v. 21.04.2015, Chylinski et al. ./. Niederlande, Nr. 38044/12 u. a., Rn. 43; EGMR, Urt. v. 21.07.2015, Schipani et al. ./. Italien, Nr. 38369/09, Rn. 69; EGMR, Entsch. v. 08.09.2015, Wind Telecomunicazioni S.P.A. ./. Italien, Nr. 5159/14, Rn. 34; EGMR (GK), Urt. v. 23.05.2016, Avotin¸š ./. Lettland, Rep. 2016, Nr. 17502/07, Rn. 110. 755 Vgl. EGMR, Entsch. v. 08.09.2015, Wind Telecomunicazioni S.P.A. ./. Italien, Nr. 5159/14, Rn. 36 ff. 756 Siehe dazu o., III. 3. a) aa) (1), (2). Vgl. BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 2014, 2489 (2491), Rn. 28; ferner Giegerich/Lauer, ZEuS 2014, 461 (477); Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 39; Schilling, EuGRZ 2014, 596 (601). 757 Siehe o., II. 2.

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Teil 2: Verfahrensrechte

Bei Vorlageverweigerungen zu Auslegungsfragen verbleibt ungeachtet der Präzisierung des Willkürkriteriums eine gewisse Grauzone, wann genau eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK anzunehmen ist. Bejaht ein vorlagepflichtiges Gericht etwa anhand der europarechtlichen Kriterien pro forma eine Ausnahme von der Vorlagepflicht, obwohl dies nach der Rechts- und Tatsachenlage ganz offenkundig unvertretbar ist, dürfte der EGMR auch dann kaum noch eine willkürfreie „ordnungsgemäße Begründung“ attestieren, wenn europarechtliche Auslegungsfragen in Rede stehen. Die Glaubwürdigkeit des Straßburger Gerichtshofs wäre nämlich massiv in Frage gestellt, falls selbst eine im herkömmlichen Sinne willkürliche Vorlageverweigerung seiner Willkürkontrolle standhielte. Zwar hat der EGMR auch eine Gesamtbetrachtung des Ausgangsverfahrens angedeutet758, aber bislang jedenfalls sonstige Fehler im nationalen Gerichtsverfahren, die schon für sich allein gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstießen und die Verletzung der Vorlagepflicht begünstigt haben könnten, nicht bei der Evaluation von Willkür berücksichtigt759. d) Die begrenzte Wirkung der Urteile des EGMR Sollte ein Konventionsverstoß festgestellt werden, ergibt sich ein weiteres Hemmnis für die Durchsetzung der Vorlagepflicht aus der begrenzten Wirkung der EGMR-Urteile im nationalen Recht. Denn die in Art. 46 Abs. 1 EMRK enthaltene Verpflichtung der Vertragsstaaten, die gegen sie ergangenen endgültigen Urteile des Gerichtshofs zu befolgen, umfasst nach der ständigen Rechtsprechung der Konventionsorgane weder die Aufhebung eines konventionswidrigen innerstaatlichen Gerichtsurteils noch die Wiederaufnahme des nationalen Verfahrens760. Damit hängt es letztlich von den Vorschriften der jeweiligen nationalen Rechtsordnung ab, ob eine gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK verstoßende rechtskräf758

Siehe o., 3. m) cc) (2), dd). Siehe o., 3. f) bb), cc), zum konventionswidrigen Verzicht auf eine mündliche Verhandlung. 760 EGMR, Entsch. v. 30.03.2004, Krc ˇ márˇ ./. Tschechische Republik, Nr. 69190/01; EGMR, Entsch. v. 08.07.2003, Lyons et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-IX (= EuGRZ 2004, 777); EGMR, Urt. v. 31.10.1995, Papamichalopoulos et al. ./. Griechenland (Art. 50), Ser. A Vol. 330-B, Rn. 34; EGMR, Urt. v. 22.09.1994, Pelladoah ./. Niederlande, Ser. A Vol. 297-B, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 20.09.1993, Saïdi ./. Frankreich, Ser. A Vol. 261-C, Rn. 47; ebenso EKMR, Entsch. v. 18.10.1995, Kremzow ./. Österreich, DR Vol. 83-B, S. 48 (55); BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), NJW 1986, 1425 (1426 f.); Polakiewicz, Verpflichtungen, S. 112 ff.; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, S. 977 f., Rn. 3354; Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/ von Raumer, EMRK, Art. 46, Rn. 4 f., 28; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 16, Rn. 5; Breuer, EuGRZ 2004, 257 (263); ders., EuGRZ 2004, 782 (785 f.); ders., Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 578 ff.; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 2005, 15 (18); Pache/ Bielitz, DVBl. 2006, 325 (326 ff.); Sellmann/Augsberg, DÖV 2006, 533 (540 mit Fn. 76); Walter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 31, Rn. 54; weitergehend Ress, EuGRZ 1996, 350 (352). Siehe auch o., 3. f) cc). 759

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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tige Nichtvorlageentscheidung nachträglich korrigiert und das Vorabentscheidungsverfahren doch noch durchgeführt werden kann761. So lässt etwa das deutsche Recht ein Wiederaufnahmeverfahren zu, wenn der EGMR eine Konventionsverletzung festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht762; auch diverse andere Mitgliedstaaten haben gerade für Strafverfahren ähnliche Bestimmungen eingeführt763. Inzwischen hat das Ministerkomitee des Europarates den Konventionsstaaten die Einführung einer Wiederaufnahmemöglichkeit bei schwerwiegenden Verfahrensfehlern empfohlen und auch seine Überwachungspraxis entsprechend ausgerichtet764. Eine flächendeckende Anpassung der nationalen Rechtsordnungen wurde indes bislang nicht erreicht, wobei v. a. für Zivil- und Verwaltungsprozesse des öfteren noch keine Wiederaufnahme zugelassen wird765. Wenn es an einer nationalen Wiederaufnahmeregelung fehlt, ist eine effektive Durchsetzung der von einer Vorlagepflichtverletzung tangierten europarechtlichen Rechte derzeit zumeist nicht mehr erreichbar. Dann kann eine EMRKwidrige Nichtvorlage nur noch finanziell über eine gerechte Entschädigung zugunsten des Bf. sanktioniert werden, die der Straßburger Gerichtshof nach billigem Ermessen gewährt, wenn er dies gemäß Art. 41 EMRK für notwendig hält766. Zwar dürfte in der Regel unsicher bleiben, ob der Bf. im nationalen Ausgangsverfahren tatsächlich obsiegt hätte, wenn der EuGH pflichtgemäß einge761 E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 58; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 39; allgemein Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (498). 762 § 359 Nr. 6 StPO, § 580 Nr. 8 ZPO (in Bezug genommen von §§ 153 VwGO, 79 ArbGG, 134 FGO und 179 Abs. 1 SGG); siehe auch Braun, NJW 2007, 1620 (1620 ff.); Thomy, S. 155; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 2, Rn. 104. 763 Siehe etwa Art. 442bis belg. Code d’instruction criminelle; Art. 626-1 ff. frz. Code de procédure pénale; Art. 456 litau. StPO; Art. 443 Nr. 5 lux. Code d’instruction criminelle; Art. 457 Abs. 1 Nr. 3 ndl. StPO (Wetboek van Strafvordering); § 363 a österr. StPO. 764 Ministerkomitee des Europarates, Empfehlung Nr. R. (2000) 2 v. 19.01.2000 an die Mitgliedstaaten über die Wiedererwägung oder Wiederaufnahme gewisser Verfahren auf innerstaatlicher Ebene im Anschluss an Urteile des EGMR, EuGRZ 2004, 808; Interimsresolution ResDH(2005)85 im Fall Dorigo ./. Italien (Nr. 33286/96), angenommen vom Ministerkomitee am 12.10.2005; Interimsresolution CM/ResDH(2007)150 betr. das Urteil des EGMR v. 19.06.2003 im Fall Hulki Günes¸ ./. Türkei, angenommen vom Ministerkomitee am 05.12.2007; Resolution CM/ResDH(2009)65 betr. das Urteil des EGMR v. 02.06.2005 im Fall Göktepe ./. Belgien, angenommen vom Ministerkomitee am 05.06.2009. Hierzu Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 580 ff.; ders., in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK, Rn. 41; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 16, Rn. 5. 765 Vgl. die Zusammenstellung des Lenkungsausschusses für Menschenrechte (Steering Committee for Human Rights/Comité directeur pour les droits de l’homme) v. 07.04.2006, CDDH(2006)008 Addendum III, abrufbar unter: http://www.coe.int/t/dghl/ standardsetting/cddh/Meeting%20reports%20committee/62ndAddIII_en.pdf, S. 3 ff. 766 Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 41, Rn. 7, 29; Wenzel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 41 EMRK, Rn. 18 f.

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Teil 2: Verfahrensrechte

schaltet worden wäre. Da der EGMR sich gemeinhin der Spekulation über hypothetische Verfahrensergebnisse enthält767, wird also ein finanzieller Schaden des Bf. infolge der Konventionsverletzung kaum feststellbar sein. Es ist aber davon auszugehen, dass die völlige Vorenthaltung des Rechtsschutzes vor dem EuGH regelmäßig eine reale Verschlechterung der Verfahrenschancen des Bf. mit sich bringt. Diese hat dem EGMR bereits wiederholt für die Gewährung einer Entschädigung nach Art. 41 EMRK (früher Art. 50 EMRK) genügt768. Bei konventionswidrigen Vorlagepflichtverletzungen sollte der Gerichtshof daher ebenso dafür Sorge tragen, dass die Bf. über die Feststellung der Konventionsverletzung hinaus jedenfalls eine adäquate finanzielle Kompensation erhalten. e) Der Einfluss weiterer Verfahrensgarantien: Art. 7 Abs. 1 und Art. 13 EMRK Die sonstigen verfahrensrechtlichen Garantien der EMRK haben bisher nicht zu einer wirksameren Implementierung der europarechtlichen Vorlagepflicht beigetragen. Deren Missachtung in einem strafrechtlichen Verfahren hat den EGMR jedenfalls nicht dazu veranlasst, von der unklaren europarechtlichen Rechtslage auf das Fehlen einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage für eine Verurteilung zu schließen und eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK anzunehmen769. Stattdessen zieht der Gerichtshof auch in dieser Konstellation allein Art. 6 Abs. 1 EMRK als Prüfungsmaßstab heran. Das akzessorische Recht auf wirksame Beschwerde aus Art. 13 EMRK hat ebenfalls noch keine signifikante Bedeutung für den Rechtsschutz bei Missachtung der Vorlagepflicht erlangt770. Hiernach hat jedermann das Recht, im Falle einer vertretbar behaupteten Konventionsverletzung eine wirksame Beschwerde 767 EGMR (GK), Urt. v. 10.06.1996, Benham ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1996III, Rn. 68; EGMR, Urt. v. 25.02.1997, Findlay ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1997-I, Rn. 84 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Hood ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I (= NVwZ 2001, 304), Rn. 86; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, Lietzow ./. Deutschland, Rep. 2001-I (= NJW 2002, 2013), Rn. 52; EGMR (GK), Urt. v. 09.10.2003, Ezeh und Connors ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-X, Rn. 141 ff.; EGMR, Urt. v. 19.07.2007, Freitag ./. Deutschland, Nr. 71440/01, Rn. 64; Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 41, Rn. 14; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 581; ders., in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK, Rn. 41. 768 Z. B. EGMR, Urt. v. 09.04.1984, Goddi ./. Italien, Ser. A Vol. 76, Rn. 35; EGMR (GK), Urt. v. 25.03.1999, Pélissier und Sassi ./. Frankreich, Rep. 1999-II, Rn. 80; EGMR, Urt. v. 19.07.2007, Freitag ./. Deutschland, Nr. 71440/01, Rn. 64. Siehe auch bereits o., 3. f) cc), m.w. N. 769 Siehe o., 3. g) bb), cc); zur Praxis der EKMR siehe 2. e) bb), cc). 770 Vgl. auch Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 13, Rn. 38.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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bei einer innerstaatlichen Instanz zu erheben771. Da i. S. d. Art. 35 Abs. 3 EMRK offensichtlich unbegründete Beschwerden in der Regel keine solche vertretbare Behauptung enthalten772, kann Art. 13 EMRK nach Maßgabe der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 Abs. 1 EMRK von vornherein allein in Bezug auf willkürliche Vorlageverweigerungen in zivil- oder strafrechtlichen Verfahren zum Tragen kommen. Außerdem fordert die EMRK, abgesehen von dem in Art. 2 ZP 7 niedergelegten Recht auf Überprüfung in Strafsachen, gerade keine Beschwerdemöglichkeit gegen Gerichtsentscheidungen, die die Gewährleistung eines innerstaatlichen Instanzenzuges zur Folge hätte773. Vor diesem Hintergrund qualifiziert die Straßburger Rechtsprechung gewöhnlich Art. 6 Abs. 1 EMRK als abschließende Spezialregelung gegenüber Art. 13 EMRK774. Dem EGMR kommt danach selbst die Aufgabe zu, als „letzte Instanz“ außerordentlichen Rechtsschutz zur Verfügung zu stellen775. Dementsprechend wurde in der Praxis bislang nur in zwei der untersuchten Beschwerdeverfahren mit europarechtlichem Bezug überhaupt eine auf Art. 13 EMRK gestützte Rüge erhoben: In der Entscheidung Skandinavisk Metallförmedling AB ./. Schweden lehnte die EKMR eine Verletzung von Art. 13 EMRK ab776, im Urteil Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien sah der EGMR Art. 13 EMRK als von den strengeren Garantien des Art. 6 Abs. 1 EMRK absorbiert an777. Den nationalen Gerichten war aller771 Vgl. auch EGMR (GK), Urt. v. 26.10.2000, Kudła ./. Polen, Rep. 2000-XI (= EuGRZ 2004, 484), Rn. 157; EGMR, Urt. v. 09.05.2003, Šocˇ ./. Kroatien, Nr. 47863/ 99, Rn. 114; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 195, Rn. 660; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 532. 772 EGMR, Urt. v. 12.12.2006, Dobál ./. Slowakei, Nr. 65422/01, Rn. 50; EGMR, Urt. v. 22.06.2006, Gökçe und Demirel ./. Türkei, Nr. 51839/99, Rn. 70; EGMR, Urt. v. 21.02.1990, Powell und Rayner ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 172, Rn. 33; Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 13, Rn. 7 f.; Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 13 EMRK, Rn. 10 ff., 14. 773 Vgl. EGMR, Entsch. v. 06.02.2003, Wendenburg et al. ./. Deutschland, Rep. 2003-II (in Auszügen), Nr. 71630/01, Rn. 3; EGMR, Urt. v. 17.01.1970, Delcourt ./. Belgien, Ser. A Vol. 11, Rn. 25; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 81; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 523 f.; ders., in: Karpenstein/ Mayer, Art. 13 EMRK, Rn. 28; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 191. 774 EGMR, Urt. v. 22.06.2000, Coëme et al. ./. Belgien, Rep. 2000-VII, Rn. 117, m.w. N.; EGMR, Urt. v. 18.01.2005, Popov ./. Republik Moldau, Nr. 74153/01, Rn. 58; EGMR, Urt. v. 10.02.2005, Sukhorubchenko ./. Russland, Nr. 69315/01, Rn. 60; EGMR, Urt. v. 09.06.2005, Castren-Niniou ./. Griechenland, Nr. 43837/02, Rn. 33; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 526 f.; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 111 f.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 13 EMRK, Rn. 12 ff.; Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 13, Rn. 41. 775 Vgl. EGMR, Urt. v. 01.07.1997, Pammel ./. Deutschland, Rep. 1997-IV, Rn. 68; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 82. 776 EKMR, Entsch. v. 09.09.1998, Skandinavisk Metallförmedling AB ./. Schweden, Nr. 34805/97, Rn. 5. 777 EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 52; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 26.10.2000,

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Teil 2: Verfahrensrechte

dings in beiden Fällen weder ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht noch Willkür vorzuwerfen778. Dessen ungeachtet lässt sich jedoch gerade anhand des letztgenannten Judikats feststellen, dass der EGMR Art. 13 EMRK nicht nach einheitlichen Maßstäben auslegt, wenn eine Verletzung der von Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgten Verfahrensrechte im Raum steht. Denn in Bezug auf das ebenfalls zu diesen Garantien zählende Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist hat der EGMR aus Art. 13 EMRK ein Gebot wirksamen nationalen Rechtsschutzes gegen überlange Verfahrensdauer abgeleitet779. Darüber hinaus verlangt der EGMR einen effektiven Rechtsbehelf auf nationaler Ebene auch gegen Defizite im Urteilsvollzug780. Für die Aktivierung von Art. 13 EMRK in diesen Fallgruppen waren v. a. zwei Argumente ausschlaggebend: Erstens erforderte die Vielzahl der einschlägigen Menschenrechtsbeschwerden eine Rechtsschutzverlagerung auf die staatliche Ebene781. Zweitens entscheiden die nationalen Gerichte im ursprünglichen Verfahren gerade nicht über die Verfahrensdauer oder den Urteilsvollzug, so dass mit einer diese Aspekte betreffenden innerstaatlichen Beschwerde keine zweite, zusätzliche Rechtsschutzinstanz geschaffen wird782. Vorbehaltlich des Beschwerdeaufkommens beim EGMR gilt dies aber auch bei der letztinstanzlichen Verletzung anderer Verfahrensrechte einschließlich des bei unterbliebener Vorlage einschlägigen Rechts auf ein faires Verfahren783. So ist ein in der höchstrichterlichen Missachtung der Vorlagepflicht liegender Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1

Kudła ./. Polen, Rep. 2000-XI (= EuGRZ 2004, 484), Rn. 146. Hierzu Schilling, EuGRZ 2012, 133 (137 f.). 778 Siehe o., 2. f) cc), 3. m) dd). 779 EGMR (GK), Urt. v. 26.10.2000, Kudła ./. Polen, Rep. 2000-XI (= EuGRZ 2004, 484), Rn. 151 ff.; EGMR, Urt. v. 10.02.2005, Karobeïs ./. Griechenland, Nr. 37420/02, Rn. 21; EGMR, Urt. v. 22.12.2005, Atanasovic et al. ./. Mazedonien, Nr. 13886/02, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 15.02.2007, Kirsten ./. Deutschland, Nr. 19124/02, Rn. 53 ff.; Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 13 EMRK, Rn. 54 ff.; Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 13, Rn. 14 ff., 42. 780 EGMR, Urt. v. 15.01.2009, Burdov ./. Russland (Nr. 2), Rep. 2009, Nr. 33509/04, Rn. 98 ff.; EGMR, Urt. v. 15.10.2009, Yuriy Nikolayevich Ivanov ./. Ukraine, Nr. 40450/04, Rn. 65 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 190, 207. Siehe auch u., B. IV. 2. a). 781 EGMR (GK), Urt. v. 26.10.2000, Kudła ./. Polen, Rep. 2000-XI (= EuGRZ 2004, 484), Rn. 148 f.; EGMR (GK), Urt. v. 08.06.2006, Sürmeli ./. Deutschland, Rep. 2006VII (= EuGRZ 2007, 255), Rn. 104; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 190; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 115. 782 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 26.10.2000, Kudła ./. Polen, Rep. 2000-XI (= EuGRZ 2004, 484), Rn. 146 f., 154; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 13 EMRK, Rn. 15 f.; Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 528 f.; ders., in: Karpenstein/Mayer, Art. 13 EMRK, Rn. 20. 783 Schilling, EuGRZ 2012, 133 (137 f.); Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 529 ff.; Vospernik, ÖJZ 2001, 361 (365, 367 f.); vgl. auch Richter, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 113 f.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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EMRK gleichfalls nicht Gegenstand des Ausgangsprozesses; durch Einräumung einer erst- und einmaligen innerstaatlichen Beschwerdemöglichkeit allein diesbezüglich entstände also kein mehrstufiges Verfahren784. Angesichts dessen erscheint die unterschiedliche Behandlung der weitestgehend vergleichbaren verfahrensrechtlichen Konstellationen unter Art. 13 EMRK kaum zu rechtfertigen785. Es bleibt daher abzuwarten, ob der EGMR die Anforderungen dieser Garantie an den nationalen Rechtsschutz gegen die Judikative gerade bei zunehmenden Beschwerdezahlen künftig weiter erhöhen wird786. Bis dahin ergibt sich aus dem Recht auf wirksame Beschwerde kein Mehrwert für die Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen.

V. Möglichkeiten zur Verbesserung des Rechtsschutzes Die Untersuchung hat ergeben, dass gegenwärtig auf keiner der drei Ebenen des europäischen Rechtsschutzverbundes umfassend wirksame Verfahren bestehen, die die Einzelnen vor Verstößen gegen die Vorlagepflicht zum EuGH schützen könnten. Im Unionsrecht vermögen das Vertragsverletzungsverfahren und der Staatshaftungsanspruch das Fehlen eines Rechtsbehelfs, der zentralen Rechtsschutz vor einem Unionsgericht eröffnet, nicht zu kompensieren787. Die mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen lassen lediglich in Spanien und der Slowakei Ansätze einer vollständigen Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen erkennen788. Zudem weist auch der auf die Verfahrensgarantien der EMRK gestützte Konventionsrechtsschutz deutliche Lücken auf 789. Nachfolgend sollen daher Optionen für eine Optimierung des Rechtsschutzes ausgelotet werden. 1. Mitgliedstaatliche Ebene Zunächst steht es den EU-Mitgliedstaaten selbstredend frei, in eigener Regie bereits auf nationaler Ebene den Rechtsschutz gegen Vorlagepflichtverstöße aus784 Auch das Problem infiniten Rechtsschutzes stellt sich damit nicht; vgl. hierzu Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 13 EMRK, Rn. 29 f.; Schilling, EuGRZ 2014, 596 (600). 785 Vgl. Schilling, EuGRZ 2014, 596 (599 ff.); Breuer, Staatshaftung für judikatives Unrecht, S. 529, 531; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 114; siehe auch Meyer-Ladewig/Renger, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 13, Rn. 4 (am Ende). 786 Befürwortend Schilling, EuGRZ 2012, 133 (138). Damit könnten sich auch Impulse für eine entsprechend strengere Handhabung des europarechtlichen Rechtsschutzauftrags (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV) durch den EuGH ergeben; siehe o., III. 3. a) aa) (3). 787 Siehe o., III. 2. 788 Siehe o., III. 3.; vgl. auch Thomy, S. 254, Fn. 1240. 789 Siehe o., IV.

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Teil 2: Verfahrensrechte

zuweiten790. Eine unvoreingenommene innerstaatliche Überprüfung der entsprechenden Entscheidungen letztinstanzlicher Fachgerichte setzt dabei voraus, dass die nationale Kontrollinstanz fähig und willens ist, sich nicht auf die Perspektive des nationalen Rechts zu beschränken791, sondern stattdessen europarechtliche Maßstäbe anzulegen und insbesondere die Rechtsprechung des EuGH anzuwenden. Funktionell dürfte diese Aufgabe wohl grundsätzlich am besten bei den Verfassungsgerichten anzusiedeln sein, deren Unabhängigkeit von den zu überwachenden Fachgerichten zu gewährleisten wäre. Da die Verfassungsgerichte nach Art. 267 AEUV ihrerseits vorlageberechtigt bzw. -verpflichtet sind, wäre es ihnen auch ohne weiteres möglich, eventuell auftretende europarechtliche Zweifelsfragen selbst dem EuGH zu unterbreiten792. In der Praxis bedürfte es allerdings in vielen Mitgliedstaaten überhaupt erst der Einrichtung einer selbstständigen Verfassungsgerichtsbarkeit oder aber der strukturellen Anpassung der vorgesehenen (verfassungs-)gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten793. Angesichts der unterschiedlichen nationalen Rechtstraditionen und Justizsysteme erscheint es bis auf weiteres unwahrscheinlich, dass ein signifikanter Teil der Mitgliedstaaten derartige Reformen umsetzen wird, solange hierzu keine Impulse von der europäischen Ebene ausgehen. Gleichwohl könnte etwa in Deutschland und der Tschechischen Republik eine entscheidende Rechtsschutzverbesserung allein durch eine Änderung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erreicht werden. Dazu müssten das BVerfG und das tschechische Verfassungsgericht bei der Überwachung der Vorlagepraxis lediglich anstelle des bisherigen Willkürmaßstabs die einschlägigen europarechtlichen Kriterien anlegen. 2. Konventionsrechtliche Ebene Auch die Durchsetzbarkeit der europarechtlichen Vorlagepflicht über die EMRK könnte weiter gesteigert werden, wenn der Straßburger Gerichtshof seine Judikatur nach rechtsstaatlichen Grundsätzen794 umfassend an der Rechtslage im Europarecht ausrichtete795.

790

Siehe bereits Lieber, S. 214. Im ganzen skeptisch Lutz, S. 92. 792 Eine eingehende Kontrolle etwaiger Vorlageverweigerungen der nationalen Verfassungsgerichte selbst fände indes nach wie vor nicht statt; vgl. Nicolaysen, EuR 1985, 368 (373 f.). Denkbar wäre aber, insoweit die Befassung einer anderen Sektion des jeweiligen Verfassungsgerichts vorzusehen. 793 Siehe o., III. 3., insbesondere g). 794 Zum Einfluss des Rechtsstaatsprinzips auf das Recht auf ein faires Verfahren vgl. Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1046. 795 Vgl. auch Fastenrath, NJW 2009, 272 (276). 791

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

245

a) Verschärfung der Willkürkontrolle Hierfür wäre es noch nicht einmal zwingend erforderlich, den Willkürmaßstab im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EMRK als solchen ausdrücklich aufzugeben. Vielmehr würde es bereits ausreichen, etwaige Fehler der mitgliedstaatlichen Gerichte im Umgang mit dem Europarecht nicht länger von der konventionsrechtlichen Überprüfung auszuschließen. Das Europarecht ließe sich dann dergestalt in die Willkürkontrolle integrieren, dass bei jeder Vorlagepflichtverletzung Willkür bejaht und damit ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren angenommen würde. Eine solche Feststellung des EGMR ist keineswegs allein bei formellen Begründungsdefiziten, offenkundiger inhaltlicher Unvertretbarkeit und eigenmächtiger Verwerfung von europäischem (Sekundär-)Recht möglich796, sondern grundsätzlich ebenso, wann immer ungeklärte entscheidungserhebliche Auslegungsfragen in letzter Instanz des mitgliedstaatlichen Rechtswegs nicht dem EuGH vorgelegt werden. Denn wie jedes nationale Gericht kann auch der EGMR auf die bestehende Rechtsprechung des EuGH zum Umfang der Vorlagepflicht sowie zu den sich jeweils stellenden Fragen des materiellen Europarechts zurückgreifen und dann auf dieser Grundlage ermitteln, ob eine Vorlagepflicht bestand. Im einzelnen ist dafür lediglich zu untersuchen, ob eine aufgeworfene relevante Frage zur Auslegung des Europarechts nachweislich, nicht nur laut der vom nationalen Gericht gegebenen Begründung, bereits durch den EuGH geklärt wurde797 oder sonst eindeutig zu beantworten war798. Wenn sich dies nicht sicher bejahen lässt, also lediglich Zweifel hinsichtlich der Europarechtslage auftreten, unterlag das nationale Höchstgericht in der Regel bereits der Vorlagepflicht. Aus deren Missachtung kann der EGMR dann in eigener Zuständigkeit eine willkürliche Verfahrensrechtsverletzung ableiten. Bei dieser Beurteilung wird sich der EGMR typischerweise auf die reine Anwendung der europarechtlichen Vorlagepflichtkriterien beschränken können, so dass es keiner vertieften Auseinandersetzung mit den im Einzelfall umstrittenen materiell-rechtlichen Problemen bedarf799. Dass sich schon bei der Feststellung der Vorlagepflicht europarechtliche Auslegungsfragen stellen, die eine Befassung des EuGH erfordern, erscheint allein in seltenen, besonders gelagerten Ausnahmefällen vorstellbar, etwa wenn die Gerichtsqualität800 oder die Letztinstanzlich796

Siehe o., IV. 4. c). Das Kriterium der vorherigen Klärung durch den EuGH hat der EGMR bei der Prüfung der Äquivalenz des Rechtsschutzes im Rahmen der Bosphorus-Vermutung sogar von sich aus zugrundegelegt; siehe EGMR, Urt. v. 06.12.2012, Michaud ./. Frankreich, Rep. 2012, Nr. 12323/11, Rn. 114 f.; EGMR (GK), Urt. v. 23.05.2016, Avotin¸š ./. Lettland, Rep. 2016, Nr. 17502/07, Rn. 109. 798 Siehe o., II. 1. b). 799 Tendenziell a. A. Schilling, EuGRZ 2012, 133 (137). 800 Siehe o., I. 3. 797

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Teil 2: Verfahrensrechte

keit801 einer speziellen mitgliedstaatlichen Institution unklar ist. Da der EGMR kein mitgliedstaatliches Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV darstellt und somit nicht selbst zur Vorlage an den EuGH berechtigt ist802, wäre er dann an einer Heranziehung des Europarechts gehindert. Ansonsten liefe er Gefahr, seinerseits eigenmächtig in die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH für die verbindliche Auslegung des Europarechts803 überzugreifen804, was nicht im Sinne einer rechtsstaatlichkeitssichernden Kooperation beider Gerichtshöfe wäre805. Bei einer derartigen Konstellation könnte im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 EMRK also durchaus von einer willkürfreien Nichtvorlage ausgegangen werden. Ferner ist auch eine Fallgestaltung nicht auszuschließen, in der der EGMR mangels hinreichender Informationen die Entscheidungserheblichkeit des Europarechts im Ausgangsverfahren nicht einschätzen kann. Hier besteht für den Straßburger Gerichtshof aber die Möglichkeit, einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK schon wegen unzureichender Begründung der nationalen Gerichtsentscheidung anzunehmen806. Ob die aufgezeigte weitere Verschärfung des konventionsrechtlichen Willkürstandards tatsächlich Aussicht auf eine künftige Realisierung hat, ist zur Zeit nicht absehbar. Bei einer solchen Erweiterung des Rechtsschutzes gegen Vorlagepflichtverletzungen entspräche das Schutzniveau der EMRK jedenfalls nicht mehr dem klassischen Willkürkonzept und ginge womöglich schon über das absolut unabdingbare menschenrechtliche Minimum hinaus. Die aufgrund der besseren Erfolgsaussichten zu erwartende Erhöhung der Beschwerdezahl vor dem EGMR dürfte indes weitgehend durch die sich einstellenden Präventiveffekte kompensiert werden. Auch der für die Feststellung der europarechtlichen Vorlagepflicht ggf. notwendige zusätzliche Prüfungsaufwand erscheint bewältigbar. Ohnehin sollte die permanente Überlastung des Straßburger Gerichtshofes807 801 802 803

Siehe o., II. 1. a). Siehe o., I. 3. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, Art. 267 Abs. 1 AEUV; siehe schon o., I. 1.,

2. a). 804 Insoweit zutreffend English, Lutz John v Germany, Comment; Schilling, EuGRZ 2012, 133 (137). 805 Vgl. u., Teil 3, A. I. 5. d); sowie Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (177 f., 180 ff.); Ress, FS Hirsch, 155 (155). 806 Siehe EGMR, Urt. v. 20.09.2011, Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien, Nr. 3989/07 und 38353/07, Rn. 59 ff.; vgl. weiterhin EGMR, Urt. v. 28.04.2005, Albina ./. Rumänien, Nr. 57808/00, Rn. 33 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 21.01.1999, García Ruiz ./. Spanien, Rep. 1999-I (= NJW 1999, 2429), Rn. 26; EGMR, Urt. v. 19.12.1997, Helle ./. Finnland, Rep. 1997-VIII, Rn. 60; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 6, Rn. 103 f. 807 Vgl. Schäfer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 34 EMRK, Rn. 2; Mayer, in: Karpenstein/Mayer, Einleitung, Rn. 16 ff.; Wildhaber, EuGRZ 2009, 541 (550 f.); Kadelbach, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz, § 5, Rn. 25; Spiekermann, S. 128; Lenski/Mayer, EuZW 2005, 225.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

247

nicht als allzu gewichtiges Argument gegen eine Kontrollverschärfung angesehen werden. Falls erforderlich, obliegt es dem Europarat und seinen Mitgliedstaaten808, dafür Sorge zu tragen, dass die verfügbaren Kapazitäten verstärkt bzw. die Verfahrensabläufe und organisatorischen Strukturen des EGMR entsprechend angepasst werden, damit ein praktisch wirksamer Menschenrechtsschutz auch im Hinblick auf Vorlagepflichtverletzungen sichergestellt werden kann809. Des weiteren ist kaum zu befürchten, dass strengere konventionsrechtliche Anforderungen das Verhältnis des EGMR zu den nationalen Gerichten spürbar belasten würden, da die Überprüfung nationaler Gerichtsurteile dem System der EMRK schlechthin immanent ist und auch in der Vergangenheit nach einschneidenden Entscheidungen des EGMR keine derartigen Auswirkungen zu beobachten waren. Ebenso wenig wird der EGMR zu einer Superrevisionsinstanz für konventionsfremdes Recht, wenn er sich auf diese Weise der Durchsetzung der Europarechtsordnung annimmt. Denn im Hinblick auf die supranational determinierte Vorlagepflicht zum EuGH kommt den nationalen Höchstgerichten, deren Entscheidungen allein Gegenstand der konventionsrechtlichen Kontrolle sind, kein maßgeblicher eigener Auslegungs- und Gestaltungsspielraum zu810, wie er etwa bezüglich des nationalen Rechts besteht. Schließlich ließe sich mit einem bedarfsgerechten verbesserten Rechtsschutz gegen pflichtwidrige Nichtvorlagen auch eine Stärkung der Kohärenz zwischen dem Europarecht und der EMRK erreichen. Da die möglichen Nachteile allesamt als entweder beherrschbar oder hypothetisch einzustufen sind, ist bei einer auf die Konventionsebene ausgerichteten Betrachtung dem EGMR zu empfehlen, das einschlägige Europarecht uneingeschränkt in den praktizierten Willkürstandard einzubeziehen. b) Sonstige Anpassungen Gleichwohl lassen sich selbst mit einer solchen Maßnahme noch nicht alle festgestellten Lücken im konventionsrechtlichen Rechtsschutz gegen Vorlagepflichtverletzungen schließen. Weitere Hindernisse bilden die Beschränkung des Schutzbereiches von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen811 sowie die begrenzte Wirkung von Urteilen des EGMR im nationalen Recht812. Hinsichtlich des Schutzbereichs wird in unterschiedlichem Umfang bereits gefordert, Art. 6 Abs. 1 EMRK auch auf bislang als genuin öffentlich-rechtlich qua808 Vgl. Art. 50 EMRK, Art. 16, 38 f. der Satzung des Europarates v. 05.05.1949 (Sartorius II Nr. 110) sowie T. Thienel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 50 EMRK, Rn. 1 f. 809 Vgl. entsprechend o., Teil 1, D. III. 5. 810 Vgl. entsprechend o., III. 3. a) aa) (4). 811 Siehe o., IV. 1. 812 Siehe o., IV. 4. d).

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Teil 2: Verfahrensrechte

lifizierte Verfahren zu erstrecken. So wird teils vertreten, nur solche Streitigkeiten vom Anwendungsbereich auszunehmen, die in hoheitlichem Ermessen stehende Fürsorgeleistungen betreffen oder auf ein spezifisches staatliches Gewaltverhältnis (etwa Strafhaft oder Wehrdienst) zurückgehen813. Noch weitgehender sind Vorschläge, die auf die Einbeziehung sämtlicher Gerichtsverfahren über Individualrechte abzielen, ohne nach dem betroffenen Rechtsgebiet oder Art und Ausmaß der Involvierung des Staates zu differenzieren814. Eine solche Lösung hätte gegenüber der überkommenen, ebenso heterogenen wie unübersichtlichen Fallgruppenbildung den Vorzug gesteigerter Rechtsklarheit und -sicherheit815. Dennoch erhält der EGMR seine bisherige Rechtsprechung816 mit dem Argument aufrecht, dass auch der Grundsatz der evolutiven Auslegung der EMRK kein über den Wortlaut „civil“/„de caractère civil“ hinausgehendes Verständnis von Art. 6 Abs. 1 EMRK erlaube817. Während die Entstehungsgeschichte der Norm insoweit keine eindeutigen Schlüsse zulässt818, spricht die insgesamt zu einer recht umfassenden Eröffnung des Rechtswegs tendierende verwaltungsrechtliche Praxis in den Konventionsstaaten wiederum für eine Anhebung des menschenrechtlichen Standards der EMRK819. Das Telos der Konvention, die Sicherstellung eines wirksamen Menschenrechtsschutzes820, steht zudem in einem engen Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip821, dem der EGMR selbst auch für den öffentlich-rechtlichen Bereich ein Gebot effektiver gerichtlicher 813

Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 6 EMRK, Rn. 23. Gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Tulkens, Fischbach, Casadevall und Thomassen zu EGMR (GK), Urt. v. 08.12.1999, Pellegrin ./. Frankreich, Rep. 1999-VIII, 233/277, Rn. 5; abweichendes Sondervotum des Richters Loucaides, dem sich der Richter Traja angeschlossen hat, zu EGMR (GK), Urt. v. 05.10.2000, Maaouia ./. Frankreich, Rep. 2000-X, 294/322; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 222 f.; van Dijk, in: ders./van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 538 f. 815 Van Dijk, in: ders./van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 538; van Dijk, in: Macdonald/ Matscher/Petzold, S. 375 ff.; siehe auch Soyer/de Salvia, in: Pettiti/Decaux/Imbert, S. 253. 816 Siehe o., IV. 1. a), c). 817 EGMR (GK), Urt. v. 12.07.2001, Ferrazzini ./. Italien, Rep. 2001-VII (= NJW 2002, 3453), Rn. 30; zustimmend Gundel, FS Scheuing, 58 (75). 818 Näher van Dijk, in: ders./van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 514 ff.; van Dijk, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 348 ff.; Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 7; alle m.w. N.; ebenso das gemeinsame abweichende Sondervotum der Richter Tulkens, Fischbach, Casadevall und Thomassen zu EGMR (GK), Urt. v. 08.12.1999, Pellegrin ./. Frankreich, Rep. 1999-VIII, 233/277, Rn. 5. 819 Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 222 f. Zur Bedeutung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Konventionsstaaten als Wertungskriterium des EGMR siehe allgemein Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 3. 820 Siehe o., Teil 1, B. II. 2. b) bb), c). 821 Vgl. EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18 (= EuGRZ 1975, 91), Rn. 34; van Dijk, in: ders./van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 538 f.; van Dijk, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 378 f.; Rottmann/Laier, in: Esser/Harich/ Lohse/Sinn, S. 193 (205). 814

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Kontrolle entnimmt822. Angesichts dessen wäre es durchaus mit dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 EMRK in Einklang zu bringen, zumindest finanziell relevante Ansprüche unabhängig von ihrem Ursprung als zivilrechtlich einzuordnen823 oder sogar die zivilrechtliche Qualität pragmatisch als generelles Auffangkriterium für alle Rechtsverhältnisse zu verstehen, denen keine strafrechtliche Anklage zugrunde liegt824. Demnach ist eine formelle Änderung des Konventionstextes für eine rechtsschutzfördernde Ausweitung des Schutzbereiches von Art. 6 Abs. 1 EMRK jedenfalls nicht unabdingbar. In Bezug auf die innerstaatlichen Wirkungen von Urteilen des Straßburger Gerichtshofs ließe sich eine deutliche Verstärkung erreichen, wenn eine verbindliche konventionsrechtliche Verankerung der Pflicht zur vollständigen Wiedergutmachung (restitutio in integrum) ungeachtet der nationalen Rechtslage gelänge. Für Fälle, in denen eine vom EGMR beanstandete Konventionsverletzung nicht anderweitig wirksam zu beseitigen ist, könnte demnach die Wiederaufnahme des nationalen Verfahrens oder gar eine Durchbrechung der Rechtskraft vorgeschrieben werden, erforderlichenfalls durch eine entsprechende Änderung der EMRK oder die Einführung eines weiteren Zusatzprotokolls. Wenn sich jedenfalls alle EU-Mitgliedstaaten auf solche Reformschritte verständigten, ließe sich konventionsrechtlich sicherstellen, dass EMRK-widrigen Vorlagepflichtverletzungen schließlich im Rahmen eines neuen nationalen Verfahrens durch eine nachträgliche Befassung des EuGH abgeholfen werden kann. Bei der Entwicklung und Implementierung von Wiederaufnahmeregelungen sollte von vornherein ein rechtswegübergreifender Ansatz verfolgt werden825, um in jeder Art von gerichtlichem Verfahren die Option einer nachträglichen Korrektur von Verstößen gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK zu eröffnen. 3. Unionsrechtliche Ebene Die unsichere Änderungsperspektive auf der nationalen und konventionsrechtlichen Ebene veranlasst dazu, auch eine Weiterentwicklung des Unionsrechts zugunsten einer wirksamen Durchsetzung der Vorlagepflicht in Erwägung zu ziehen. Die Europäische Kommission826 und der EuGH selbst827 haben bereits 1975 822

EGMR, Urt. v. 06.09.1978, Klass ./. Deutschland, Ser. A Vol. 28, Rn. 55. Abweichendes Sondervotum des Richters Lorenzen, dem sich die Richter Rozakis, Bonello, Bîrsan, Fischbach und Strázˇnická angeschlossen haben, zu EGMR (GK), Urt. v. 12.07.2001, Ferrazzini ./. Italien, Rep. 2001-VII, 342/364, Rn. 6 ff. Vgl. darüber hinaus zur materiellen Schutzwirkung von Art. 1 ZP 1 im Bereich des Steuerrechts u., Teil 3, A. I. 4. b), 5. c). 824 Abweichendes Sondervotum des Richters Loucaides, dem sich der Richter Traja angeschlossen hat, zu EGMR (GK), Urt. v. 05.10.2000, Maaouia ./. Frankreich, Rep. 2000-X, 294/322; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 223. 825 Breuer, EuGRZ 2004, 782 (786). 826 Bericht der Kommission über die Europäische Union, Bulletin der EG, Beilage 5/ 75, S. 39, Rn. 125. 823

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Teil 2: Verfahrensrechte

vorgeschlagen, den Streitparteien eines mitgliedstaatlichen Gerichtsverfahrens ein Recht auf Anrufung des EuGH einzuräumen, wenn das nationale Gericht europarechtliche Fragen ohne Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens entschieden hat828. Diese Ansätze nahm das Europäische Parlament 1984 auf, als es seinerseits die Eröffnung eines Kassationsverfahrens vor dem EuGH gegen letztinstanzliche Entscheidungen nationaler Gerichte anregte, in denen die Vorlage verweigert oder eine Vorabentscheidung missachtet wird829. In der Folge haben der EuGH830 sowie eine Reflexionsgruppe der Kommission831 weitere Überlegungen zur Zukunft des europäischen Gerichtssystems angestellt. Tatsächlich bietet die Einführung einer europarechtlichen Nichtvorlagebeschwerde, mit der Vorlagepflichtverletzungen mitgliedstaatlicher Gerichte vor dem EuGH gerügt werden können, ein beträchtliches Optimierungspotential gegenüber dem Status quo832: Die bestehende Lücke im unionsrechtlichen Individualrechtsschutz könnte zielgerichtet geschlossen, die unionsweite Rechtseinheit bei Auslegung und Gültigkeit des Europarechts weitgehend gesichert werden833. Der gegenüber nationalen und konventionsrechtlichen Sanktionsmechanismen besondere Vorteil dieser Lösung besteht v. a. darin, dass mit dem für die verbindliche Auslegung des Europarechts ausschließlich zuständigen EuGH die sachnächste und kompetente Instanz834 darüber entscheiden würde, ob ein nationales Gericht seine Vorlagepflicht missachtet hat835. Wäre dies der Fall, könnte der 827 Vorschläge des Gerichtshofes zur Europäischen Union, Bulletin der EG, Beilage 9/75, S. 18 f. 828 Siehe auch Dauses, Gutachten D, S. D 127. 829 Art. 43 Spstr. 5 der Entschließung des Europäischen Parlaments v. 14.02.1984 zum Entwurf eines Vertrags zur Gründung der Europäischen Union, ABl. Nr. C 77 v. 19.03.1984, S. 33; abgedruckt auch bei Schwarze/Bieber, Eine Verfassung für Europa, S. 317 (340). 830 Reflexionspapier des EuGH v. 28.05.1999 über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Union, EuZW 1999, 750 (754 f.). 831 Bericht der Reflexionsgruppe der Europäischen Kommission v. 18./19.01.2000 über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, EuZW 2000, Sonderbeilage, 1 (6 ff.). 832 Insgesamt befürwortend Philippi, Charta der Grundrechte, S. 53 f.; Hirte, RabelsZ 66 (2002), 553 (573); Ress, Das Europarecht vor dem EGMR, S. 11, Fn. 50; Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (782 f.); Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S. 416 ff., 421 f.; Gundel, EWS 2004, 8 (13 f.); Allkemper, EWS 1994, 253 (258); Riese, EuR 1966, 24 (49); Meilicke, RIW 1994, 477 (479); Everling, EuR 1990, 195 (211); Mutke, DVBl. 1987, 403 (405); im Ansatz auch Knebelsberger, S. 227 f.; Rabe, FS Redeker, 201 (206); Magiera, DÖV 2000, 1017 (1024); van Kleffens, FS Riese, 45 (58); Vondung, AnwBl 2011, 331 (336); Hentschel-Bednorz, S. 240; Schilling, EuGRZ 2014, 596 (600). 833 Vgl. Bork, RabelsZ 66 (2002), 327 (355 f.); Turner/Muñoz, YEL 19 (1999/2000), 1 (53); Brakalova, S. 311; Hummert, S. 148; Lutz, S. 143; Lieber, S. 209 f.; Allkemper, Rechtsschutz, S. 210 f.; Meilicke, BB 2000, 17 (23 f.). 834 Vgl. Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (27); Gundel, EWS 2004, 8 (13 f.). 835 Vgl. Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (782); Wegener, EuR Beiheft 3 2008, 45 (58).

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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EuGH zugleich die ungeklärte europarechtliche Rechtsfrage beantworten836, so dass ein gesondertes nachgeschaltetes Vorabentscheidungsverfahren gar nicht mehr erforderlich wäre. Sanktionierung und Behebung des Vorlagepflichtverstoßes lägen praktischerweise in einer Hand. Auch das EuG, dem nach Art. 256 Abs. 3 AEUV die Zuständigkeit für Vorabentscheidungen in besonderen Sachgebieten durch die EuGH-Satzung übertragen werden kann837, könnte in die Bearbeitung von Nichtvorlagebeschwerden eingebunden werden838. Bei der genauen Ausgestaltung einer Nichtvorlagebeschwerde sind allerdings die Folgewirkungen für das gesamte Rechtsschutzsystem gebührend zu berücksichtigen. Der zuweilen konstatierten Gefahr der Überlastung des EuGH infolge der zusätzlichen Direktklagemöglichkeit839 sollte von vornherein durch eine Konzeption begegnet werden, die sich streng an den für einen effektiven und einheitlichen Individualrechtsschutz unabdingbaren Mindestanforderungen orientiert. Zunächst bietet sich ein Ausschluss der Popularbeschwerde durch die Beschränkung der Beschwerdebefugnis auf die unmittelbar betroffenen Parteien des nationalen Ausgangsverfahrens an840. Dass ein für keine Prozesspartei nachteiliger Vorlagepflichtverstoß wegen unterbliebener Beschwerde sanktionslos bleibt841, dürfte in der Praxis nur selten vorkommen, so dass das hieraus erwachsende Risiko für die europäische Rechtseinheit beherrschbar erscheint. Weiterhin sollte eine Beschwerde zum EuGH nur ex post, also innerhalb einer angemessenen Frist nach vollständiger und erfolgloser Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsschutzangebote, erhoben werden können842. Auf diese Weise würde nicht nur dem Subsidiaritätsprinzip (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV) entsprochen, sondern es wäre auch eine umfassende Aufbereitung des Ausgangsrechtsstreits durch die nationalen Gerichte sichergestellt. Um den Arbeitsaufwand des EuGH weiter zu begrenzen, sollte ferner vorausgesetzt werden, dass bereits im nationalen Verfahren eine Vorlage beantragt wurde und Beschwerden mit einer umfas836 Vgl. Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1046; Lutz, S. 87; Allkemper, Rechtsschutz, S. 210. 837 Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 256 AEUV, Rn. 27 ff.; Hess, RabelsZ 66 (2002), 470 (491 f.); Skouris, FS Starck, 991 (993); Prechal, YEL 25 (2006), 429 (439 f.); Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, S. 978 f., Rn. 3356 f.; Rabe, FS Zuleeg, 195 (200 ff.); Jung, EuR 1992, 246 (261 ff.); Dauses, FS Everling Bd. I, 223 (242 f.). 838 Vgl. Brakalova, S. 312, Fn. 1362; Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1045 f.; Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S. 417 f.; Wegener, EuR Beiheft 3 2008, 45 (58, Fn. 58). 839 P. Wollenschläger, Gemeinschaftsaufsicht, S. 264; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 123; ders., Gutachten D, S. D 127; Hummert, S. 149; Lutz, S. 144; Schwarze, DVBl. 2002, 1297 (1312); Meilicke, BB 2000, 17 (24); Everling, DRiZ 1993, 5 (12). 840 Vgl. Turner/Muñoz, YEL 19 (1999/2000), 1 (53); Hummert, S. 148. 841 Lutz, S. 143 f.; Brakalova, S. 313, Fn. 1364. 842 Hummert, S. 148; Dauses, Gutachten D, S. D 127 f.; ders., FS Everling Bd. I, 223 (236); Turner/Muñoz, YEL 19 (1999/2000), 1 (52 f.).

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Teil 2: Verfahrensrechte

senden und substantiierten Begründung versehen sind843. Erforderlichenfalls ließe sich die Annahmepraxis derart flexibilisieren, dass der EuGH seinerseits erfolglose Beschwerden lediglich mit einer kurzen bzw. schematischen Begründung zurückweist oder sich sogar auf die Behandlung von Beschwerden von grundsätzlicher Bedeutung beschränkt844. Mit diesen Maßnahmen könnte man auch einer etwaigen missbräuchlichen Inanspruchnahme der Nichtvorlagebeschwerde durch Prozessparteien entgegenwirken, die allein die Vollstreckung der nationalen Ausgangsentscheidung zu verschleppen beabsichtigen845. Dessen ungeachtet ist nicht von der Hand zu weisen, dass jede Übertragung weiterer Aufgaben auf den EuGH dort Kapazitäten bindet und in der Tendenz zu einer Verlängerung sämtlicher in Luxemburg anhängigen Verfahren führt, was sich bei Vorabentscheidungsverfahren dann auch auf die Dauer der mitgliedstaatlichen Ausgangsverfahren auswirkt846. Da unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten eine Erweiterung des Rechtsschutzes wünschenswert, seine Verzögerung aber bedenklich erscheint847, entsteht damit ein klassischer Zielkonflikt, der sich letztlich wohl nur dadurch auflösen lässt, dass die notwendigen Finanzmittel für eine adäquate personelle und sachliche Ausstattung der europäischen Gerichtsbarkeit bereitgestellt werden848. In die Kalkulation sollten auch die (volks-)wirtschaftlichen Kosten und Verluste eingestellt werden, die durch vorlagepflichtverletzungsbedingte Störungen im integrierten Binnenmarkt verursacht werden849. Die mit der Etablierung einer Nichtvorlagebeschwerde verbundene Kontrollverstärkung des EuGH über das Vorlageverhalten der mitgliedstaatlichen Gerichte hätte außerdem zur Folge, dass das auf Kooperation ausgerichtete Vorabentscheidungsverfahren um ein hierarchisierendes Element ergänzt würde850, was 843 844

Brakalova, S. 312; vgl. auch Meilicke, BB 2000, 17 (24). Bork, RabelsZ 66 (2002), 327 (355); Rösler, Europäische Gerichtsbarkeit, S. 418,

422. 845 Vgl. das Reflexionspapier des EuGH v. 28.05.1999 über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Union, EuZW 1999, 750 (755); Lutz, S. 144; Thomy, S. 253. 846 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1046 f.; Lutz, S. 93 f.; Prechal, YEL 25 (2006), 429 (436); Schmidt-Aßmann, JZ 1994, 832 (838). Zumindest bis zu einem EMRK-Beitritt der EU bezieht der EGMR allerdings bei der Entscheidung über die Angemessenheit der Verfahrensdauer nach Art. 6 Abs. 1 EMRK die durch ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH entstehende Verzögerung nicht ein; EGMR, Urt. v. 26.02.1998, Pafitis et al. ./. Griechenland, Rep. 1998-I (= RUDH 1998, 140), Rn. 95; siehe bereits o., Teil 1, D. I., III. 1. 847 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1046 f. 848 Vgl. Hopt, RabelsZ 66 (2002), 589 (595): „Lebensfrage der europäischen Integration“; Meilicke, BB 2000, 17 (24); Bork, RabelsZ 66 (2002), 327 (356). Vgl. insoweit auch die institutionellen Reformvorschläge des EuGH v. 28.03.2011 unter http://cu ria.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2011-04/projet_de.pdf. 849 Vgl. Brakalova, S. 327, Fn. 1419; Meilicke, BB 2000, 17 (23 f.). 850 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 1046; Lutz, S. 92; Brakalova, S. 313; Lieber, S. 210; Schwarze, DVBl. 2002, 1297 (1311 f.); Kutscher, EuR 1981, 392 (398); Hentschel-Bednorz, S. 245.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

253

mitunter als „Systembruch“ kritisiert wird851. Vereinzelt wird auch befürchtet, dass es zu einer Beeinträchtigung der Zusammenarbeit der nationalen Gerichte mit dem EuGH oder zu Verwerfungen in den nationalen Rechtsordnungen kommen könnte852. Setzt man sich mit den geäußerten Bedenken inhaltlich auseinander853, lässt sich zunächst feststellen, dass schon gegenwärtig keine wirkliche Gleichordnung zwischen europäischer und nationaler Gerichtsbarkeit existiert854. Denn der EuGH besitzt in europarechtlichen Fragen unbestreitbar vorrangige Entscheidungskompetenzen gegenüber den nationalen Gerichten855, wie etwa die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen856 oder die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen europarechtswidriger Urteile857 zeigen. Hier schließen sich Kooperation und Kontrolle also nicht gegenseitig aus, sondern dienen gemeinsam dem Ziel, ein loyales Zusammenwirken von europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene i. S. d. Art. 4 Abs. 3 EUV zu erreichen858. Daher ist kaum mit einem Rückzug der nationalen Gerichte aus dem Dialog mit dem EuGH zu rechnen, sondern vielmehr mit einem heilsamen präventiven Einfluss auf deren Vorlageverhalten, den ein wirksamer europarechtlicher Überprüfungsmechanismus alsbald entfalten dürfte859. Auch wenn damit unausweichlich eine gewisse Souveränitätseinbuße für die Mitgliedstaaten einhergeht860, besteht doch keine Notwendigkeit für eine tiefgreifende Umstrukturierung der nationalen Rechtsordnungen. Die Einhaltung der Vorlagepflicht ist anhand der europarechtlichen Vorgaben zu überprüfen, welche den mitgliedstaatlichen Gerichten lediglich bei der Einschätzung der Entscheidungserheblichkeit einer europarechtlichen Fragestellung signifikanten Spielraum 851 So Hummert, S. 149; ähnlich Dauses, Gutachten D, S. D 127 f.; ders., Vorabentscheidungsverfahren, S. 123; ders., FS Everling Bd. I, 223 (236); Thomy, S. 253 f.; P. Wollenschläger, Gemeinschaftsaufsicht, S. 264; Lieber, S. 210; Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 199; Everling, DRiZ 1993, 5 (12); vgl. auch den Bericht der Reflexionsgruppe der Europäischen Kommission v. 18./19.01.2000 über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Gemeinschaften, EuZW 2000, Sonderbeilage, 1 (7). 852 Vgl. Schermers/Watson, in: Schermers et al., Article 177 EEC, S. 39 f.; Reflexionspapier des EuGH v. 28.05.1999 über die Zukunft des Gerichtssystems der Europäischen Union, EuZW 1999, 750 (755). 853 Vgl. hierzu Lutz, S. 93. 854 Ress, Die Verwaltung 1987, 177 (181): „System der übergeordneten Kooperation“; Seidel, NVwZ 1993, 105 (106): „Überordnung [des EuGH]“; Allkemper, Rechtsschutz, S. 210, Fn. 916; Lutz, S. 92; Schwarze, DVBl. 2002, 1297 (1312); Lenaerts, EuR 2015, 3 (5); ferner T. Friedrich, Umfang, S. 52 f. Siehe auch bereits o., I. 1. 855 Lutz, S. 92; Brakalova, S. 327, Fn. 1418. 856 Siehe o., I. 1., II., und u., B. IV. 2. c). 857 Siehe o., III. 2. a). 858 Vgl. Brakalova, S. 327 ff.; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 107; Böcker, S. 247. 859 Meilicke, BB 2000, 17 (24); Brakalova, S. 328, Fn. 1426; allgemein Rennert, EuGRZ 2008, 385 (385). 860 Vgl. Lutz, S. 93; Thomy, S. 254; Allkemper, Rechtsschutz, S. 210 f.

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Teil 2: Verfahrensrechte

belassen861. Diesbezüglich wird sich den nationalen Urteilen regelmäßig entnehmen lassen, ob die Gerichte die Entscheidungserheblichkeit unter Verkennung des Europarechts oder aus Gründen des nationalen Rechts862 verneint haben863. Letzterenfalls kann der EuGH eine Nichtvorlagebeschwerde zurückweisen, ohne auf die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts eingehen und damit in die mitgliedstaatliche Sphäre übergreifen zu müssen864. Wenn ein nationales Gericht zwar vorlagepflichtwidrig, aber ansonsten materiell-rechtlich richtig geurteilt hat, würde bereits die Feststellung der Vorlagepflichtverletzung genügen; ggf. könnte der EuGH mit einer zusätzlichen Klarstellung der Europarechtslage für die notwendige Transparenz sorgen. Falls die Vorlagepflichtverletzung jedoch auf das materielle Europarecht durchschlägt, muss die Nichtvorlagebeschwerde auch insoweit zu wirksamer Abhilfe führen. Hier steht ebenfalls eine Lösung zur Verfügung, die sich unproblematisch in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen einfügen würde. So müsste der EuGH nicht zwingend mit der Befugnis zur Kassation vorlagepflichtwidriger Urteile865 ausgestattet werden, sondern es würde bereits genügen, wenn sich die Mitgliedstaaten für den Fall einer erfolgreichen Nichtvorlagebeschwerde zu einer Wiederaufnahme des nationalen Ausgangsverfahrens nach Maßgabe des EuGH-Urteils verpflichteten866. Im Anschluss an einen künftigen Beitritt der EU zur EMRK wäre eine Nichtvorlagebeschwerde zum EuGH ferner ein wichtiges Rechtsschutzinstrument auf Unionsebene, mit dem sich sicherstellen ließe, dass der EuGH regelmäßig über europarechtliche Rechtsfragen, insbesondere zur Grundrechtskonformität europa-

861 Siehe o., I. 3., II. Ausschließlich Sache der nationalen Gerichte ist indes die tatsächliche Feststellung des jeweiligen Sachverhalts; EuGH, Urt. v. 04.03.1999, Consorzio per la tutela del formaggio Gorgonzola, Rs. C-87/97, Slg. 1999, I-1301, Rn. 42; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 4. Diese hätte auch der EuGH im Nichtvorlagebeschwerdeverfahren zugrunde zu legen, so dass die gerichtliche Anwendung des Europarechts nur in rechtlicher, nicht aber in tatsächlicher Hinsicht überprüfbar wäre. Z. B. könnte der EuGH in einem die Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. AEUV) betreffenden Fall zwar beurteilen, ob die Definition des Warenbegriffs beachtet wurde (Rechtsfrage), nicht aber, wo die fragliche Ware hergestellt wurde (Tatfrage). 862 Bspw. bei prozessrechtlicher Unzulässigkeit einer Klage etwa wegen fehlender Parteifähigkeit oder Klagebefugnis. 863 Vgl. P. Wollenschläger, Gemeinschaftsaufsicht, S. 264; Dauses, Gutachten D, S. D 128. 864 Vorbehaltlich seiner Europarechtskonformität spielt das nationale Recht daher für die Prüfung einer Nichtvorlagebeschwerde keine entscheidende Rolle, so dass der EuGH insoweit weder gezwungen sein wird, sich hierzu detailliertes Fachwissen zu beschaffen noch externe Rechtsgutachten einzuholen, wie Lutz, S. 141 f., befürchtet. 865 Für eine Kassationskompetenz Brakalova, S. 311 ff.; Meilicke, BB 2000, 17 (24, Fn. 67); ebenfalls vorgesehen in Art. 43 Spstr. 5 der Entschließung des Europäischen Parlaments v. 14.02.1984 zum Entwurf eines Vertrags zur Gründung der Europäischen Union, ABl. Nr. C 77 v. 19.03.1984, S. 33, abgedruckt auch bei Schwarze/Bieber, Eine Verfassung für Europa, S. 317 (340). 866 Im Ergebnis ebenso Lutz, S. 93; vgl. auch Thomy, S. 254.

A. Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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rechtlicher Regelungen, entscheiden könnte, bevor diese ggf. zum Gegenstand einer Individualbeschwerde vor dem EGMR werden867. Generell würde der EGMR von einer spürbaren Entlastungswirkung profitieren, die mit der Einführung einer europarechtlichen Nichtvorlagebeschwerde zu erwarten wäre. Denn diese würde den EuGH in die Lage versetzen, in Fällen, die entweder allein die Verletzung der Vorlagepflicht oder aber zusätzlich auch materielle Grundrechtsverstöße betreffen, bereits der konventionsrechtlich relevanten Beschwer abzuhelfen. Ein Großteil der Verfahren, die aus den genannten Gründen sonst in Straßburg anhängig gemacht würden, könnte sich dann von vornherein erübrigen, was dem immer deutlicher betonten Prinzip der Subsidiarität des Konventionsrechtsschutzes entspräche868. Nach alledem bietet ein solches Modell der Nichtvorlagebeschwerde zum EuGH einen gangbaren Weg zur Überwindung der Rechtsschutzdefizite bei der Durchsetzung der Vorlagepflicht und des durch sie ebenfalls geschützten materiellen Europarechts. Der darin liegende Paradigmenwechsel zugunsten einer unmittelbar bürgerinitiierten Kontrolle nationaler Hoheitsakte durch den EuGH sollte als fortschrittliche Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses begriffen werden869. Mit der sukzessiven Erweiterung der EU ist die Heterogenität der praktischen Rechtsschutzbedingungen auf mitgliedstaatlicher Ebene stetig gewachsen, so dass es nun integrationsvertiefender Maßnahmen bedarf, die die unionsweite Rechtseinheit sicherstellen können870. Die vorgeschlagene, umsichtig ausgestaltete Teilsupranationalisierung des Rechtsschutzes begegnet keinen durchgreifenden Bedenken und könnte auch die allgemeine Wahrnehmung und Akzeptanz der Unionsgerichtsbarkeit verbessern871. Sie verdient daher eine baldige Realisierung. Hierfür bedarf es allerdings einer formellen Änderung der europäischen Verträge872, die nach Art. 48 EUV die Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten nach ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften voraussetzt. Am dafür erforderlichen politischen Willen in den Mitgliedstaaten wird jedoch gemeinhin gezweifelt873, was angesichts der langwierigen und problematischen Ratifikationsverfahren bei den vergangenen Primärrechtsanpassungen auch derzeit eine realistische Einschätzung sein dürfte. 867

Siehe o., Teil 1, D. III. 4. Vgl. Art. 1 ZP 15 (zur Unterzeichnung aufgelegt am 24.06.2013). 869 Ähnlich Brakalova, S. 329. 870 Meilicke, BB 2000, 17 (24); Brakalova, S. 329; vgl. auch Turner/Muñoz, YEL 19 (1999/2000), 1 (51). 871 Wegener, EuR Beiheft 3 2008, 45 (58). 872 Vgl. Brakalova, S. 313; Siegerist, S. 60 f.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 40; Kutscher, EuR 1981, 392 (398); Gundel, EWS 2004, 8 (14); Raue, GRUR Int. 2012, 402 (408, Fn. 95). 873 Vgl. Lutz, S. 93, 145; Lieber, S. 210, 214; Hirte, RabelsZ 66 (2002), 553 (573); Schmidt-Aßmann, JZ 1994, 832 (838); Schiller, NJW 1983, 2736 (2736); Kutscher, EuR 1981, 392 (398). 868

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Teil 2: Verfahrensrechte

4. Fazit Sowohl im mitgliedstaatlichen Recht als auch in der Konventions- und der Unionsrechtsordnung bestehen grundsätzlich vielversprechende Ansatzpunkte für eine verbesserte Durchsetzung der Vorlagepflicht zum EuGH. Die Erfolgsaussichten für eine tatsächliche Umsetzung der jeweiligen Reformvorschläge sind dennoch auf allen Ebenen ungewiss. Allgemein bietet eine stärkere Zentralisierung des Rechtsschutzes strukturell die beste Gewähr für eine unabhängige, den hemmenden Einflüssen des nationalen Rechtskreises enthobene Kontrolle874; zugleich ist ihr aber die Gefahr einer Überlastung der zentralen Instanz inhärent. Bei einem dezentral, also v. a. auf die nationalen (Verfassungs-)Gerichte ausgerichteten Rechtsschutzmodell verhält es sich jeweils umgekehrt. Da die Beachtung der Vorlagepflicht im Vorabentscheidungsverfahren zu den Funktionsvoraussetzungen der Unionsrechtsordnung gehört und hauptsächlich unionsrechtliche Fragen aufwirft, erscheint es sachgerecht, auch die zugehörigen Überwachungsmechanismen primär auf der Unionsebene anzusiedeln. Vorrangig sollte daher die Einführung einer Nichtvorlagebeschwerde zum EuGH als hierfür kompetentem Organ in der skizzierten Ausgestaltung forciert werden875. Zusätzlich ist den Mitgliedstaaten zu empfehlen, parallel die vorhandenen Möglichkeiten zum Ausbau des nationalen Rechtsschutzes, vorzugsweise vor den Verfassungsgerichten, zu nutzen876. So ließe sich über eine frühzeitige Filterwirkung eine gewisse Entlastung des EuGH erreichen. Diese Kombinationslösung ist lediglich mit dem Nachteil behaftet, dass das Schicksal der notwendigen Änderungen sowohl im Unionsrecht als auch in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen vom politischen Willen jedes einzelnen der EU-Mitgliedstaaten abhängt. Bis eine entsprechende Einigung erzielt ist, sollte der EGMR deshalb als Reserveinstanz einspringen, indem er Verstöße gegen die Vorlagepflicht nunmehr konsequent beanstandet. Denn auf konventionsrechtlicher Ebene lässt sich der Rechtsschutz auch ohne legislative Maßnahmen zumindest wesentlich erweitern. Hierfür könnte der EGMR seine Kontrolle nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK künftig auch auf vorlagepflichtrelevante Fehler der nationalen Gerichte im Umgang mit dem Europarecht erstrecken sowie den Umfang des sachlichen Schutzbereichs weiter ausdehnen877. Damit eine vollständig wirksame Umsetzung der Urteile des EGMR im nationalen Recht ebenfalls gewährleistet werden kann, bedarf es allerdings weiterer Anpassungsmaßnahmen, die wiederum die Mitwirkung der Mitgliedstaaten erfordern. 874 875 876 877

Vgl. am Beispiel des EGMR Meilicke, BB 2000, 17 (23). Siehe o., 3. Siehe o., 1. Siehe o., 2.

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997)

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B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997) Einen weiteren Beitrag zur verfahrensrechtlichen Durchsetzung des Europarechts über Art. 6 Abs. 1 EMRK kann der EGMR leisten, indem er die Mitgliedstaaten zur Befolgung gerichtlicher Entscheidungen anhält. Hierfür stellt der Fall Hornsby ./. Griechenland ein prominentes Beispiel dar.

I. Sachverhalt und Ausgangsverfahren Die Bf., das britische Ehepaar David und Ada Ann Hornsby, lebten als ausgebildete Englischlehrer auf der Insel Rhodos (Griechenland)878. Am 17.01.1984 beantragte Frau Hornsby beim Kultusministerium in Athen die Erlaubnis zur Gründung einer Privatschule (frontistirion) für englischen Sprachunterricht879 auf Rhodos. Das Ministerium lehnte den Antrag am 25.01.1984 mit der Begründung ab, dass die zuständigen Präfekturbehörden880 nach griechischem Recht nur griechischen Staatsangehörigen eine solche Erlaubnis erteilen dürften. Nachdem deshalb am 05.06.1984 auch ein weiterer Antrag bei der Präfekturbehörde gescheitert war, wandte sich Frau Hornsby an die EG-Kommission, die vor dem EuGH ein Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 169 EWGV (jetzt Art. 258 AEUV) gegen Griechenland anstrengte. Am 15.03.1988 urteilte der EuGH, dass Griechenland durch den Ausschluss der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten von der Gründung von Privatschulen gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 52 EWGV; jetzt Art. 49 AEUV) verstoßen habe881. Dennoch blieben die daraufhin erneuerten Anträge der Bf. wiederum ohne Erfolg, da die Präfekturbehörde an der Anwendung des griechischen Rechts festhielt. Am 08.06.1988 klagten die Bf. vor dem griechischen Obersten Verwaltungsgerichtshof 882 (OVGH) auf Aufhebung der behördlichen Entscheidungen. Mit Schreiben vom 23.11.1988 forderten sie außerdem den griechischen Ministerpräsidenten auf, die Befolgung des EuGH-Urteils sicherzustellen. Der OVGH 878 Zu Sachverhalt und Verfahrensgrundlagen EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 6 ff.; Zusammenfassung auf Deutsch ÖJZ 1998, 236, auf Französisch bei Spielmann, FS Cohen-Jonathan Vol. II, 1447 (1459 f.). 879 Nach den statistischen Angaben der griechischen Behörden wurden 2005 etwa 8.000 private Sprachschulen in Griechenland betrieben, die zusammen einen Jahresumsatz von mindestens 500 Mio. A erwirtschafteten; vgl. http://www.helleniccomserve. com/whoneedsgrktoteachenglish.html. 880 Im Zuge der zum 01.01.2011 in Kraft getretenen Verwaltungsreform in Griechenland kam es zur Abschaffung der 54 Präfekturen, so dass die mittlere Verwaltungsebene nunmehr aus 13 Regionen besteht. 881 EuGH, Urt. v. 15.03.1988, Kommission ./. Griechenland, Rs. 147/86, Slg. 1988, 1637, Rn. 17; hierzu Henssler/Kilian, EuR 2005, 192 (199). 882 Sumboýlio thò Epikrateßaò/Symvoulio tis Epikrateias.

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Teil 2: Verfahrensrechte

stellte im Mai 1989 unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH fest, dass die griechische Ausschlussregelung seit dem Beitritt Griechenlands zur EG zum 01.01.1981 wegen Verletzung der Niederlassungsfreiheit unanwendbar sei, gab den Klagen der Bf. statt und annullierte die angegriffenen Entscheidungen883. Das hiergegen von drittbeteiligten Sprachschulinhabern eingelegte Rechtsmittel wurde vom OVGH am 25.04.1991 zurückgewiesen. Das griechische Recht verpflichtete alle Verwaltungsbehörden, den Urteilen des OVGH nachzukommen, und zwar je nach Lage des Falles durch Ergreifung positiver Maßnahmen oder Unterlassung entgegenstehender Akte884. Am 08.08.1989 stellten die Bf. bei der Präfekturbehörde zwei weitere Zulassungsanträge und baten unter Hinweis auf die Urteile des OVGH um umgehende Entscheidung; die griechische Regierung ersuchten sie ebenfalls mehrfach um Intervention. Als eine Reaktion auch nach anwaltlicher Erinnerung ausblieb, veranlassten die Bf. am 28.03.1990 vor dem Strafgericht Rhodos885 ein Verfahren wegen Amtspflichtverletzung (Art. 259 gr. StGB) gegen die verantwortlichen Beamten, in dem der erforderliche Vorsatz aber nicht nachweisbar war. Am 14.11. 1990 erhoben die Bf. zunächst vor dem Zivilgericht Rhodos886, dann am 03.07. 1992 vor dem zuständigen VG Rhodos887 Staatshaftungsklage. Hier begehrten sie Ersatz aller ihnen durch die behördliche Missachtung der OVGH-Urteile entstandenen und weiter entstehenden materiellen wie immateriellen Schäden. Das VG stufte am 15.12.1995 zwar das Vorgehen der Behörden als rechtswidrig ein, hielt den behaupteten Schaden aber für nicht hinreichend bewiesen und ordnete weitere Untersuchungsmaßnahmen an. Unterdessen wurde das griechische Recht am 10.08.1994 durch das Präsidialdekret Nr. 211/1994888 insoweit geändert, dass auch EU-Ausländer zur Gründung von Privatschulen zuzulassen waren, Antragsteller ohne griechischen Sekundarschulabschluss aber eine bestandene Prüfung in griechischer Sprache und Geschichte nachzuweisen hatten. Nach Absprache mit dem Ministerium forderte der Direktor der Präfekturbehörde die Bf. am 11.11.1994 zur Ablegung dieser Prüfung auf, da sie ansonsten auch ihre Tätigkeit als angestellte Sprachlehrer nicht fortsetzen dürften889. Die von der EU-Kommission ebenfalls für europa883

OVGH, Urt. v. 09./10.05.1989, Nr. 1337/1989 und 1361/1989. Art. 95 Abs. 5 gr. Verf. a. F. i.V. m. § 50 Abs. 4 des Präsidialdekrets Nr. 18/1989; wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 23, 27. 885 Plhmeleiodikeio Rüdou/Plimeleiodikeio Rodou. 886 PolumelÝò Prwtodikeßo Rüdou/Polimeles Protodikeio Rodou. 887 Dioikhtikü Prwtodikeßo Rüdou/Dioikitiko Protodikeio Rodou. 888 Wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 28. 889 Die bis zum 10.08.1994 in Griechenland bestehenden Regelungen zur Einstellung von Lehrern durch private Sprachschulen benachteiligten auch EU-Ausländer gegen884

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997)

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rechtswidrig gehaltene griechische Neuregelung war in der Folge Gegenstand weiterer Vertragsverletzungsverfahren890.

II. Verfahren vor der EKMR Am 07.01.1990 wandten sich die Bf. an die EKMR und rügten die Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, da die Behörden die Urteile des OVGH nicht befolgen würden und die innerstaatlichen Verfahren unangemessen lang und ineffektiv seien. 1. Zulässigkeit Die EKMR erklärte die Beschwerde am 31.08.1994 mehrheitlich für nach Art. 26 f. EMRK a. F. (vgl. jetzt Art. 35 EMRK) zulässig891. Den von der griechischen Regierung erhobenen Einwand der Verfristung der Beschwerde wies sie mit der Begründung zurück, dass die Nichtbefolgung der verwaltungsgerichtlichen Urteile einen andauernden Zustand darstelle, in Bezug auf den die übliche Sechsmonatsfrist keine Anwendung finde. Weiterhin scheitere die Zulässigkeit der Beschwerde auch nicht an fehlender Rechtswegerschöpfung, da es genüge, wenn der Bf. von den verfügbaren effektiven und angemessenen Rechtsmitteln normalen Gebrauch mache. Angesichts der permanenten Weigerung der Exekutive, entsprechend den Urteilen des OVGH die begehrte Erlaubnis zu erteilen, sei eine weitere Klage zum OVGH entbehrlich gewesen. Auch die noch anhängige Staatshaftungsklage bilde kein adäquates Rechtsmittel, da die Behörden angemessene Schritte zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus der EMRK unterlassen hätten. Zivil-, straf- und disziplinarrechtliche Maßnahmen sowie die Befassung weiterer innerstaatlicher Überwachungsorgane seien hier ebenfalls nicht als effektive Rechtsmittel anzusehen. Angesichts der aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen Fragen liege ferner keine offensichtliche Unbegründetheit vor. Schließlich lehnte die EKMR am 11.04.1995 auch eine nachträgliche Zurückweisung der Beschwerde ab892. über griechischen Staatsangehörigen und wurden deshalb vom EuGH für unvereinbar mit den Vorschriften über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erklärt; EuGH, Urt. v. 01.06.1995, Kommission ./. Griechenland, Rs. C-123/94, Slg. 1995, I-1457, Rn. 1 ff. 890 Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 14.07.1997, Nr. IP/97/643, abrufbar unter: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-97-643_de.htm?locale=en; hierzu auch EGMR, Urt. v. 01.04.1998, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1998-II, Rn. 11; weiterhin Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 25.06.2009, Nr. IP/09/1001, abrufbar unter: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-09-1001_de.htm?locale=de. Siehe auch u., III. 5. 891 EKMR, Entsch. v. 31.08.1994, Hornsby ./. Griechenland (Zulässigkeit), Nr. 18357/ 91. 892 Vgl. Art. 29 EMRK i. d. F. des Art. 1 Abs. 2 ZP 3; EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91, Rn. 10; EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 31.

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Teil 2: Verfahrensrechte

2. Bericht gemäß Art. 31 EMRK a. F. In ihrem Bericht nach Art. 31 EMRK a. F. stellte die EKMR fest, dass beide Parteien die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK bejahten und der Streit über die Verweigerung der Erlaubnis zur Gründung einer privaten Sprachschule zivilrechtliche Ansprüche i. d. S. betreffe893. Der Umfang der von Art. 6 Abs. 1 EMRK verbürgten Garantien sei gemäß der Rechtsprechung des EGMR in Anbetracht des Rechtsstaatsprinzips sowie nach Sinn und Zweck der Konvention zu bestimmen894. Gerade diese Rechte seien praktisch und effektiv zu gewährleisten, da ihnen in einer demokratischen Gesellschaft besondere Bedeutung zukomme. Nach Auffassung der EKMR würde das Recht auf Zugang zu einem Gericht gänzlich entwertet, wenn staatliche Behörden die Befolgung gegen sie ergangener Gerichtsentscheidungen über zivilrechtliche Ansprüche konventionskonform verweigern könnten895. Diese Konstellation einfacher Urteilsmissachtung hielt die EKMR dabei schon im Hinblick auf die Konsequenzen für den Rechtsschutzsuchenden für weitgehend vergleichbar mit dem Fall der gesetzlichen Einräumung einer behördlichen Befugnis zur Aufhebung von Urteilswirkungen, in dem der EGMR bereits zuvor einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK angenommen hatte896. Vorliegend sah die EKMR entgegen dem Vorbringen der griechischen Regierung den Erlass des Präsidialdekrets Nr. 221/1994 nicht als hinreichende Reaktion auf die über fünf Jahre zuvor ergangenen Urteile des OVGH an897. Da die Behörden zwischenzeitlich keinerlei Schritte zur Urteilsumsetzung unternommen und die Bf. trotz verschiedener und zahlreicher Einlassungen nie eine offizielle Antwort auf ihre 1989 erneuerten Anträge erhalten hätten, sei ein wirksamer Rechtsschutz nicht gewährleistet gewesen. Die EKMR nahm deshalb mit 27:1 Stimmen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK an. In seinem zustimmenden Sondervotum stellte Kommissionsmitglied Rozakis die Befolgung von Gerichtsurteilen als zentrales Element von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit heraus898. Die griechische Exekutive sei ihrer Pflicht zur Kooperation mit der Judikative nicht nachgekommen, so dass es an einer effektiven Entscheidung über die Rechte der Bf. gefehlt habe. Dagegen wies das abweichende Kommissionsmitglied Martinez darauf hin, dass der OVGH die behördlichen Entscheidungen lediglich aufgehoben, den Bf. aber kein Recht auf 893

EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91, Rn. 51 f. EKMR, a. a. O., Rn. 54. 895 EKMR, a. a. O., Rn. 55. 896 EGMR, Urt. v. 19.04.1994, van de Hurk ./. Niederlande, Ser. A Vol. 288, Rn. 44 ff., insbesondere Rn. 52. 897 EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91, Rn. 56 ff. 898 Zustimmendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Rozakis zu EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91. 894

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997)

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die beantragte Schulgründung zugesprochen habe899. Die Behörden seien daher allein zu nochmaliger Antragsprüfung unter Berücksichtigung der Urteile verpflichtet gewesen. Ihre Säumnis sei dann zwar als indirekte Ablehnung verwaltungsgerichtlich angreifbar gewesen, habe aber nicht zu einer Verletzung von Art. 6 EMRK geführt.

III. Urteile des EGMR 1. Verfahren und Zulässigkeit Die EKMR leitete den Hornsby-Fall am 11.12.1995 gemäß Art. 44, 48 EMRK a. F. an den Straßburger Gerichtshof weiter und bat ihn um Prüfung, ob ein Verstoß Griechenlands gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliege900. Jedoch verzichteten sowohl die Bf. als auch die britische Regierung901 auf eine Beteiligung am Verfahren. In seinem Urteil vom 19.03.1997 bejahte der EGMR mit 8:1 Stimmen ebenfalls die Zulässigkeit der Beschwerde und wies die von der griechischen Regierung erneut erhobenen Einwände der Verfristung und fehlenden Rechtswegerschöpfung zurück902. Insbesondere habe eine zweite Befassung des OVGH keine Aussicht auf Abhilfe geboten, da lediglich eine Zurückverweisung an die säumige Behörde zu erwarten gewesen sei. 2. Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK Zur Begründetheit der Beschwerde trug die griechische Regierung vor, dass ein vom Verfahren vor dem OVGH zu trennender neuer Rechtsstreit über die Durchführung der ergangenen Urteile vorliege, der öffentlich-rechtlicher Natur sei und nicht vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 EMRK erfasst werde903. Ferner seien ihrer Ansicht nach die Verwaltungsbehörden den endgültigen Urteilen zwar zu Unrecht nicht nachgekommen, hätten hierzu aber durch die im griechischen Recht vorgesehenen Rechtsmittel gezwungen werden können. Der EGMR führte dazu aus, dass das „Recht auf ein Gericht“ in Art. 6 Abs. 1 EMRK illusorisch wäre, wenn die innerstaatliche Rechtsordnung zuließe, dass eine endgültige und bindende Gerichtsentscheidung zum Nachteil einer Partei 899 Abweichendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Martinez zu EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91. 900 Zum Verfahren EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997II, Rn. 1 ff. 901 Vgl. zum Interventionsrecht der Vertragspartei, deren Staatsangehörigkeit der Bf. besitzt, Art. 48 lit. b EMRK a. F. sowie nunmehr Art. 36 Abs. 1 EMRK. 902 EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 33 ff. 903 EGMR, a. a. O., Rn. 39. Deutsche Zusammenfassung der folgenden Urteilsabschnitte ÖJZ 1998, 237 f.

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Teil 2: Verfahrensrechte

unausgeführt bliebe904. Der Gerichtshof hielt es daher für unvorstellbar, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK detaillierte Garantien für ein faires Verfahren enthalte, ohne auch die Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen zu schützen. Vielmehr würde eine Beschränkung dieses Konventionsrechts auf den Zugang zu Gericht und den Ablauf des Verfahrens wahrscheinlich zu Situationen führen, die unvereinbar mit dem Rechtsstaatsprinzip wären, zu dessen Beachtung sich die Konventionsstaaten mit der Ratifizierung der EMRK verpflichtet hätten905. Entsprechend seiner vorherigen Rechtsprechung906 wertete der EGMR die Vollstreckung eines Gerichtsurteils somit für die Zwecke des Art. 6 EMRK als integralen Verfahrensbestandteil907. Von besonderer Bedeutung seien diese Grundsätze im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, das eine Streitigkeit betreffe, deren Ausgang für die zivilrechtlichen Rechte einer Partei entscheidend sei908. Der wirksame Schutz der Partei und die Herstellung eines rechtmäßigen Zustandes ständen unter der Voraussetzung, dass die Verwaltungsbehörden als ein Teil rechtsstaatsgebundender Staatsgewalt zur Befolgung einschlägiger Gerichtsurteile verpflichtet seien. Werde diese dagegen verweigert oder verzögert, verlören nach Auffassung des EGMR die während des gerichtlichen Verfahrens von Art. 6 EMRK verbürgten Rechte ihren Sinn. Im konkreten Fall ging der Gerichtshof davon aus, dass die Bf. infolge der Urteile von EuGH und OVGH berechtigt gewesen seien, in Übereinstimmung mit dem anwendbaren Recht die behördliche Bewilligung ihrer Anträge zu verlangen909. Eine abermalige Beschreitung des Verwaltungsrechtswegs gegen die fortdauernde Weigerung der Behörden habe aber keine wirksame Abhilfe erwarten lassen. Der EGMR erkannte zwar an, dass die Behörden bezüglich des Privatschulwesens sowohl die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen als auch die gebotene Unterrichtsqualität zu gewährleisten hätten und dass sie eine angemessene Zeitspanne für die Auswahl der geeignetsten Mittel zur Urteilsumsetzung benötigten. Dennoch hätten die Bf. seit dem Urteil des EuGH und jedenfalls nach den Urteilen des OVGH bis 1994 alle nach griechischem Recht maßgeblichen Voraussetzungen für eine Privatschulgründung durch EG-Ausländer erfüllt; überdies gebe es keine Anzeichen für eine Rücknahme ihres Antrags. Der Straßburger Gerichtshof schloss im Ergebnis mit 7:2 Stimmen auf eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK, da die griechischen Behörden über fünf Jahre 904

EGMR, a. a. O., Rn. 40. Ebenda, unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18 (= EuGRZ 1975, 91), Rn. 34 ff. 906 EGMR, Urt. v. 26.09.1996, Di Pede ./. Italien, Rep. 1996-IV, Rn. 22, 24; EGMR, Urt. v. 26.09.1996, Zappia ./. Italien, Rep. 1996-IV, Rn. 18, 20. 907 EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 40; siehe auch Dugrip/Sudre, JCP 1997, II-22949, 508 (508 ff.). 908 EGMR, a. a. O., Rn. 41. 909 Hierzu und zum Folgenden EGMR, a. a. O., Rn. 42 ff. 905

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997)

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lang die notwendigen Maßnahmen zur Durchsetzung einer rechtskräftigen und vollstreckbaren Gerichtsentscheidung unterlassen und der Konventionsgarantie dadurch ihre Wirkung genommen hätten. 3. Sondervoten Dem Urteil des EGMR vom 19.03.1997 wurden ein zustimmendes und zwei abweichende Sondervoten beigefügt. Der zustimmende Richter Morenilla sah mit dem Hornsby-Fall eine neue Entwicklungsphase des „Rechts auf ein Gericht“ bei Verwaltungsstreitigkeiten eröffnet910. In vielen europäischen Staaten seien die Verwaltungsgerichte entsprechend der französischen Rechtstradition zwar allein zur Aufhebung, nicht aber zur Substitution rechtswidriger Verwaltungsentscheidungen befugt. Obwohl dies formal auch für den OVGH gelte, hätten die Bf. nach dem anwendbaren griechischen und europäischen Recht einen Anspruch auf Erlaubniserteilung gehabt. Da die Behörden trotzdem jahrelang untätig geblieben seien, liege ungeachtet des Formalismus des Verwaltungsprozesses eine Rechtsschutzverweigerung vor. Die daher gebotene Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK entspreche der an einer teleologisch-evolutiven Konventionsauslegung ausgerichteten Rechtsprechungspraxis des EGMR und bewirke eine Angleichung des verfahrensrechtlichen Schutzniveaus bei verwaltungs- und zivilrechtlichen Streitigkeiten. Der abweichende Richter Pettiti hob zunächst die europarechtliche Komponente des Verfahrens hervor, sprach sich aber beim gegebenen Verfahrensstand gegen die Annahme einer Konventionsverletzung aus, da die Urteile des OVGH keine direkte Verpflichtung des griechischen Staates zur Erteilung der begehrten Erlaubnis enthalten hätten911. Er befürwortete indes die Ermittlung der genauen Ursachen der behördlichen Untätigkeit und schloss nicht prinzipiell aus, dass die Verzögerung durch die Verwaltung bereits einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK begründen könne. Auch der gleichfalls dissentierende Richter Valticos wies auf die Versäumnisse des griechischen Staates bei der Implementierung des Europarechts hin912. Obwohl er im einzelnen die Erforderlichkeit der vorgesehenen Zusatzprüfung bezweifelte, hielt er das Präsidialdekret Nr. 211/1994 insgesamt für eine europarechtskonforme Anpassung des griechischen Rechts. Dass die Bf. diese Prüfung trotz Aufforderung nicht abgelegt hätten, lasse darauf schließen, dass sie ihren

910 Zustimmendes Sondervotum des Richters Morenilla zu EGMR, Urt. v. 19.03. 1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, 514 (= ÖJZ 1998, 238, in Auszügen). 911 Abweichendes Sondervotum des Richters Pettiti zu EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, 518 (= ÖJZ 1998, 238 f., in Auszügen). 912 Abweichendes Sondervotum des Richters Valticos zu EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, 520 (= ÖJZ 1998, 239, in Auszügen).

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Teil 2: Verfahrensrechte

Erlaubnisantrag nicht weiter verfolgten. Da der EGMR keine bereits behobenen früheren Missstände beanstande, lasse sich nunmehr keine Konventionsverletzung feststellen. 4. Entschädigung Die Entscheidung über die Gewährung einer gerechten Entschädigung gemäß Art. 50 EMRK a. F. (jetzt Art. 41 EMRK) verschob der EGMR einstimmig, um den Ausgang des noch anhängigen Staatshaftungsprozesses in Griechenland913 abzuwarten. Dort gab das VG Rhodos der Klage der Bf. am 30.06.1997 teilweise statt und gewährte aufgrund der langjährigen Rechtsverletzungen Ersatz für immaterielle Schäden in Höhe von zusammen 800.000,– GRD (ca. 2.348,– A)914. Da die Bf. auch ohne Erlaubnis im Sprachschulwesen tätig gewesen seien, wurde jedoch kein Vermögensschaden anerkannt. Im weiteren Verfahren vor dem EGMR betonten die Bf., dass sie mit ihrer Beschwerde v. a. die Erteilung der begehrten Erlaubnis anstrebten, die geforderte Zusatzprüfung aber als rechtswidrig ablehnten915. Da die behördliche Verweigerung im Kunden- und Geschäftskreis Verunsicherung und Diffamierung ausgelöst habe, seien ihnen materielle und immaterielle Schäden von insgesamt schätzungsweise 578 Mio. GRD (ca. 1,7 Mio. A) entstanden. Während der Delegierte der EKMR die Zuerkennung einer Entschädigung befürwortete, hielt die griechische Regierung die Ansprüche der Bf. mit dem Urteil des VG Rhodos für abgegolten916. In seinem am 01.04.1998 ergangenen Urteil zur Entschädigung bestimmte der EGMR den Beginn des Anspruchszeitraums nicht nach der ersten ablehnenden Behördenentscheidung (wie die Bf.) oder dem Vertragsverletzungsurteil des EuGH, sondern stellte auf die Urteile des OVGH ab, da erst ab diesem Zeitpunkt eine berechtigte Hoffnung der Bf. auf Erlaubniserteilung bestanden habe917. Die Missachtung der Urteile könne zu einem nicht präzise berechenbaren Einnahmeverlust der Bf. geführt haben; im übrigen seien Unsicherheit, Angst- und Frustgefühle entstanden. Der EGMR bezog sich in diesem Kontext ausdrücklich auf die Rechtsprechung des EuGH zur Verpflichtung der Mitgliedstaaten, wegen verspäteter Richtlinienumsetzung entstandene Schäden zu ersetzen918, und sprach

913

Siehe bereits o., I. Vgl. EGMR, Urt. v. 01.04.1998, Hornsby ./. Griechenland (Art. 50), Rep. 1998-II, Rn. 9. 915 EGMR, a. a. O., Rn. 13. 916 EGMR, a. a. O., Rn. 14 f. 917 Hierzu und zum Folgenden EGMR, a. a. O., Rn. 16 ff. 918 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.07.1997, Bonifaci et al. und Berto et al. ./. INPS, verb. Rs. C-94/95 und C-95/95, Slg. 1997, I-3969, Rn. 45 ff.; siehe auch Spielmann, FS CohenJonathan Vol. II, 1447 (1461 f.). 914

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den Bf. mit 6:3 Stimmen nach billigem Ermessen eine Gesamtentschädigung von 25 Mio. GRD (ca. 73.368,– A) zu919. Die drei abweichenden Richter kritisierten per Sondervotum die Heranziehung der EuGH-Judikatur als „gänzlich unangemessen“, da der EuGH über europäisches Gemeinschaftsrecht entschieden habe und seine Begründung sogar inhaltliche Zweifel aufwerfe920. Überdies hielten sie die gewährte Entschädigung für ungerechtfertigt hoch, weil die Bf. bereits im nationalen Prozess eine relevante Summe erstritten hätten und ein kausaler Vermögensschaden nicht bewiesen worden sei. 5. Urteilsfolgen Nach den Feststellungen des Ministerkomitees des Europarates921 ist Griechenland seinen Verpflichtungen aus den Urteilen des EGMR im Hornsby-Fall vollständig nachgekommen922. Aufgrund der auch in anderen Straßburger Verfahren gegen Griechenland923 zutage getretenen strukturellen Defizite bei der Durchführung gerichtlicher Entscheidungen kam es darüber hinaus zu weitreichenden Reformen im griechischen Recht924. Insbesondere führte die Anpassung

919 Auf die Gewährung gesonderter Verfahrenskostenerstattung verzichtete der EGMR, vgl. Urt. v. 01.04.1998, Hornsby ./. Griechenland (Art. 50), Rep. 1998-II, Rn. 20 ff. 920 Abweichendes Sondervotum des Richters Valticos, dem sich die Richter Pettiti und Morenilla angeschlossen haben, zu EGMR, Urt. v. 01.04.1998, Hornsby ./. Griechenland (Art. 50), Rep. 1998-II, 738. 921 Resolution ResDH(2004)81 betr. die Urteile des EGMR zum unterbliebenen Vollzug gerichtlicher Entscheidungen in Griechenland, angenommen vom Ministerkomitee am 09.12.2004. 922 Am 09.07.1998 zahlte die griechische Regierung den Bf. die fällige Entschädigung, und am 14.11.1998 wurde die beantragte Schulgründung von der zuständigen Präfektur bewilligt. 923 Vgl. die Verurteilungen in EGMR (GK), Urt. v. 25.03.1999, Iatridis ./. Griechenland, Rep. 1999-II, Rn. 55 ff.; EGMR, Urt. v. 14.12.1999, Antonakopoulos, Vortsela und Antonakopoulou ./. Griechenland, Nr. 37098/97, Rn. 24 ff., 30 ff.; EGMR, Urt. v. 28.03.2000, Dimitrios Georgiadis ./. Griechenland, Nr. 41209/98, Rn. 24 ff., 31 ff.; EGMR, Urt. v. 15.02.2001, Pialopoulos et al. ./. Griechenland, Nr. 37095/97, Rn. 68 ff.; EGMR, Urt. v. 14.03.2002, Adamogiannis ./. Griechenland, Nr. 47734/99, Rn. 20 ff. 924 Per Verfassungsänderung wurden die Pflicht der Verwaltung zur Urteilsbefolgung ausgeweitet (Art. 95 Abs. 5 gr. Verf. n. F.) und die Zwangsvollstreckung gegen öffentliche Institutionen durch Beschlagnahme ihres Eigentums zugelassen (Art. 94 Abs. 4 gr. Verf. n. F. i.V. m. Art. 4 des Gesetzes Nr. 3068/2002), deren Verbot bereits zuvor mehrere griechische Gerichte als verfassungswidrig verworfen hatten. Die Überwachung der Durchführung griechischer Gerichtsentscheidungen wurde einem dreiköpfigen Richtergremium übertragen, das auch finanzielle Sanktionen verhängen kann (Art. 2 f. des Gesetzes Nr. 3068/2002 i.V. m. dem Präsidialdekret Nr. 61/2004 v. 19.02.2004). Zudem wurden die Geltendmachung zivilrechtlicher Staatshaftungsansprüche erleichtert und das beamtenrechtliche Disziplinarregime verschärft. Näher Anhang I der Resolution ResDH(2004)81 betr. die Urteile des EGMR zum unterbliebenen Vollzug gerichtlicher

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des griechischen Privatschulrechts an die Vorgaben des Europarechts schließlich zur Einstellung der zugehörigen Vertragsverletzungsverfahren, die wegen unterbliebener Umsetzung der vorherigen Urteile des EuGH bzw. europarechtswidriger Neuregelung eröffnet worden waren925. Der EGMR hat also die Durchsetzung des Europarechts in Griechenland wesentlich gestärkt926.

IV. Bewertung und Konsequenzen 1. Europarechtliche Rechtslage und Implementierungsproblematik Aus europarechtlicher Perspektive nimmt im Hornsby-Fall v. a. die Niederlassungsfreiheit (jetzt Art. 49 AEUV) der Bf. eine zentrale Stellung ein. Mit dieser grundlegenden binnenmarktrechtlichen Gewährleistung war es, wie der EuGH festgestellt hat927, schlechthin unvereinbar, EU-Ausländer pauschal von der Gründung privater Sprachschulen in Griechenland auszuschließen. Aber auch die 1994 eingeführte Zulassungsvoraussetzung einer Zusatzprüfung in griechischer Sprache und Geschichte erfüllte die europarechtlichen Anforderungen nicht. So ist für den darin liegenden Eingriff in die Niederlassungsfreiheit kein legitimer Zweck erkennbar, der die Kenntnis griechischer Geschichte beim Betrieb einer Sprachschule erforderlich erscheinen ließe. Gleiches gilt im Prinzip auch in Bezug auf griechische Sprachkenntnisse928, jedenfalls sofern einsprachiger Englischunterricht erteilt wird und auch sonst eine ordnungsgemäße Berufsausübung sichergestellt ist. Die genannten diskriminierenden Regelungen durften den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten aufgrund der vorrangig anzuwendenden und unmittelbar wirksamen Niederlassungsfreiheit929 bereits seit dem EGEntscheidungen in Griechenland, angenommen vom Ministerkomitee am 09.12.2004, unter III. 925 Europäische Kommission, Sechzehnter Jahresbericht über die Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts, 1998, KOM(1999) 301 endg., ABl. Nr. C 354 v. 03.12.1999, S. 1 (14), unter 2.1.2.4.; Europäische Kommission, Entsch. v. 06.04.2011, Nr. EL 2008/4564. 926 Winkler, Beitritt, S. 159; ders., EuGRZ 2007, 641 (646, Fn. 49); Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (869); Pellonpää, in: Caflisch et al., FS Wildhaber, 347 (368); A. Huber, Beitritt, S. 233 f.; Lock, LPICT 8 (2009), 375 (380, Fn. 21); Gundel, FS Scheuing, 58 (63). 927 Siehe o., I. 928 Entsprechend werden inzwischen für die Anerkennung von Berufsqualifikationen die für die Berufsausübung im Aufnahmemitgliedstaat erforderlichen Sprachkenntnisse vorausgesetzt; siehe Art. 53 Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 07.09.2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. Nr. L 255 v. 30.09.2005, S. 22. 929 Zum Diskriminierungsverbot als Ausgangspunkt der Niederlassungsfreiheit siehe EuGH, Urt. v. 27.06.1996, Asscher ./. Staatssecretaris van Financiën, Rs. C-107/94, Slg. 1996, I-3089, Rn. 36; Korte, in: Calliess/Ruffert, Art. 49 AEUV, Rn. 46 ff. Vgl. zum Vorrang die in Teil 1, B. III., und zur unmittelbaren Wirkung die in Teil 2, A. II. 3., angegebenen Nw.

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Beitritt Griechenlands zum 01.01.1981 also nicht mehr entgegengehalten werden930. Die griechischen Behörden waren somit verpflichtet, die europarechtswidrigen nationalen Vorschriften unangewendet zu lassen931. Bei verwaltungsbehördlicher Missachtung des europarechtlichen Anwendungsvorrangs können die betroffenen Bürger im allgemeinen den Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten in Anspruch nehmen, der ggf. durch ein Vorabentscheidungs- bzw. Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH ergänzt wird932. Im Hornsby-Fall warteten die Bf. untypischerweise zuerst das Vertragsverletzungsurteil des EuGH ab, bevor sie den nationalen Rechtsweg beschritten; im Ergebnis wurde ihre Rechtsposition indes von EuGH und OVGH gleichermaßen bestätigt933. Das Kernproblem des Falles bestand nun darin, dass die nationalen Verwaltungsbehörden auch nach Abschluss der gerichtlichen Klärung der relevanten Streitfragen die entscheidungsreife Bewilligung der Anträge der Bf. jahrelang verweigerten und dadurch die Herstellung eines europarechtskonformen Zustands verhinderten934. Der Nichtbefolgung gerichtlicher Entscheidungen durch die mitgliedstaatliche Exekutive wohnt generell das Risiko inne, dass die Durchsetzung des Europarechts empfindlich geschwächt oder sogar vereitelt wird. Über die vorliegend einschlägige Niederlassungsfreiheit hinaus kann hiervon grundsätzlich jegliches materielle Europarecht betroffen sein. Die strukturelle Schwierigkeit besteht in dieser Konstellation v. a. darin, dass der herkömmliche Mechanismus der Rechtsdurchsetzung vor Gericht durch den verzögerten oder ganz fehlenden Urteilsvollzug ins Leere läuft. Die dann dem Grunde nach bestehenden europarechtlichen Staatshaftungsansprüche935 sind zumindest in ihrer Höhe kaum beweisbar, sofern es um Verdienstausfall und entgangenen Gewinn geht. Zudem lassen sie sich regelmäßig ebenfalls nur über mitgliedstaatliche Gerichtsurteile realisieren936, selbst wenn diese als Zahlungstitel einer erleichterten Zwangsvollstreckung zu-

930 Zutreffend OVGH, Urt. v. 09./10.05.1989, Nr. 1337/1989 und 1361/1989, wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 13; zustimmendes Sondervotum des Richters Morenilla zu EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, 514, Rn. 11. 931 Siehe allgemein EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Simmenthal, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 17 f.; EuGH, Urt. v. 22.06.1989, Fratelli Costanzo ./. Comune di Milano, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839, Rn. 28 ff.; hierzu Pernice, GS Grabitz, 523 (535 f.); Cornils, S. 79 ff.; Zenner, S. 91 f.; Heckmann, S. 339; Funke, DÖV 2007, 733 (738). Siehe ebenso u., Teil 3, A. I. 3. b) bb) (2). 932 Vgl. bereits o., A. I. 1., III. 2. a). 933 Siehe auch Spielmann, La prise en compte, S. 4. 934 Vgl. auch A. Huber, Beitritt, S. 234. 935 Siehe o., A. III. 2. b), und ausführlich u., Teil 3, A. I. 3. b). 936 Vgl. Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 80.

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gänglich sein sollten937. Das europarechtliche Vertragsverletzungsverfahren dürfte aufgrund der finanziellen Sanktionsmöglichkeiten gegen säumige Mitgliedstaaten938 wohl am ehesten Aussicht auf eine Beendigung der administrativen Blockade versprechen. Es dient allerdings, wie das fehlende Initiativrecht der Einzelnen939 zeigt, jedenfalls nicht unmittelbar individualschützenden Zwecken und bietet des weiteren – wie im Hornsby-Fall – weder Gewähr für zeitnahe Abhilfe noch für finanzielle Kompensation. 2. Der EGMR als Katalysator für die Urteilsdurchsetzung Die Einschaltung des EGMR als internationaler Instanz kann in dieser Konfliktsituation eine zusätzliche Rechtsschutzperspektive zugunsten des Europarechts eröffnen940. So dürfte eine entsprechende Verurteilung in Straßburg, die die menschenrechtliche Dimension des Streitfalles veranschaulicht und gemäß Art. 46 EMRK verbindliche Pflichten auslöst, für den säumigen Mitgliedstaat regelmäßig einen starken Anreiz zum Vollzug des zuvor missachteten Urteils mit sich bringen941. Zusätzlich erlaubt die ermessensgeleitete Festlegung einer gerechten Entschädigung durch den EGMR eine adäquate finanzielle Kompensation auch dann, wenn Schwierigkeiten beim Nachweis des infolge unterbliebenen Urteilsvollzugs entstandenen Schadens bestehen. a) Konventionsrechtliche Anforderungen gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK Auch wenn die Befolgung gerichtlicher Urteile in Rede steht, zieht der Straßburger Gerichtshof das Recht auf ein faires Verfahren in Art. 6 Abs. 1 EMRK als maßgebliche konventionsrechtliche Garantie heran. Dabei wird der Begriff des gerichtlichen Verfahrens unter Einschluss des Urteilsvollzugs weit verstanden, so dass es für die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 6 EMRK ausreicht, wenn die zu vollziehenden Gerichtsurteile zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder eine strafrechtliche Anklage betreffen942. Auf die diesbezügliche Ein937 Vgl. etwa im deutschen Recht §§ 803 ff. ZPO und entsprechend § 167 Abs. 1 S. 1 VwGO. 938 Art. 260 Abs. 2 AEUV; siehe auch u., Teil 3, B. I. 4. c). 939 Siehe o., A. III. 2. a). 940 Siehe auch F. Jarvis/Sherlock, ELRev. 24 (1999), Human Rights Survey, 15 (26); Gundel, EWS 2004, 8 (9, Fn. 15); Dugrip/Sudre, JCP 1997, II-22949, 508 (508). 941 Dem Vollzug dürften auch im innerstaatlichen Recht keine weiteren Hindernisse entgegenstehen; insbesondere das sonst häufige Problem der fehlenden Möglichkeit zur Aufhebung europarechts- bzw. konventionswidriger nationaler Gerichtsurteile [siehe o., A. III. 2. a), IV. 4. d)] stellt sich hier gerade nicht. 942 Siehe schon o., A. IV. 1., sowie EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 40 f. In strafrechtlichen Verfahren sind darüber hinaus die Garantien aus Art. 6 Abs. 3 und ggf. Art. 5 EMRK einschlägig und gebieten gleichermaßen den Urteilsvollzug, der bei einem Freispruch die Entlassung aus der Haft umfasst;

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ordnung etwaiger nationaler Verfahren zur Urteilsdurchführung kommt es dagegen nicht an. Der EGMR verlangt generell nicht einmal die vorherige Anstrengung solcher Verfahren durch den Bf., da die Sicherstellung des Urteilsvollzugs zuvörderst die Aufgabe der staatlichen Behörden sei943. Die konventionsrechtliche Absicherung der Implementierung gerichtlicher Entscheidungen setzt weiterhin grundlegend voraus, dass diese rechtskräftig und verbindlich sind944. Hierzu lassen sich aus dem Hornsby-Fall insbesondere einige Spezifizierungen für den Urteilsvollzug durch die Exekutive ableiten. So ist es nicht notwendig, dass der betreffenden Behörde durch das Urteil selbst unmittelbar eine bestimmte Verpflichtung auferlegt wird, wie dies etwa nach einer erfolgreichen Verpflichtungs- oder Leistungsklage945 der Fall ist. Gerade wenn das entscheidende Gericht nur über kassatorische Befugnisse verfügt, kommt der Sicherstellung der Urteilsumsetzung eine entscheidende Bedeutung für die Effektivität des Rechtsschutzes zu946. Unabhängig vom zugrundeliegenden prozessrechtlichen Hintergrund im nationalen Recht gilt damit als allgemeines Verfahrensgebot der EMRK, dass Entscheidungen der Judikative in angemessener Zeit ein urteilskonformes Verwaltungshandeln nach sich ziehen müssen947. Dementsprechend hat der EGMR hier nicht allein die Verweigerung, sondern explizit auch die Verzögerung der Urteilsumsetzung als Verstoß gegen die EMRK eingestuft948. Werden insbesondere in dem zu vollziehenden Urteil wie vorliegend nationale Rechtsvorschriften als europarechtswidrig identifiziert, beschränkt sich anschließend die konventionsrechtliche Pflicht der Verwaltung somit nicht darauf, allein den Erlass neuer Regelungen abzuwarten. Ansonsten wäre auch ein langjähriger zermürbender Rechtsschutzausfall zu befürchten, v. a. wenn die Neuregelung wiederum nicht europarechtskonform sein sollte. Stattdessen haben die Behörden auf der Grundlage des bestehenden Rechts, d. h. der Vorgaben des Europarechts und des zu vollziehenden Urteils, entscheidungsreife Angelegenheiten

vgl. EGMR (GK), Urt. v. 08.04.2004, Assanidze ./. Georgien, Rep. 2004-II, Rn. 169 ff., 181 ff.; Rainey/Wicks/Ovey, S. 262. 943 EGMR, Urt. v. 15.01.2009, Burdov ./. Russland (Nr. 2), Rep. 2009, Nr. 33509/04, Rn. 68 ff.; EGMR, Urt. v. 12.06.2008, Moroko ./. Russland, Nr. 20937/07, Rn. 42; EGMR, Urt. v. 15.02.2007, Raylyan ./. Russland, Nr. 22000/03, Rn. 33; EGMR, Urt. v. 17.03.2005, Gorokhov und Rusyayev ./. Russland, Nr. 38305/02, Rn. 33; EGMR, Urt. v. 27.05.2004, Metaxas ./. Griechenland, Nr. 8415/02, Rn. 19. Siehe auch Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 13, Rn. 35. 944 EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 40, 45. 945 Vgl. etwa im deutschen Verwaltungsprozessrecht § 42 Abs. 1 Var. 2, § 113 Abs. 5 VwGO sowie § 43 Abs. 2 S. 1, § 113 Abs. 4 VwGO. 946 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 698 f.; vgl. auch Dugrip/Sudre, JCP 1997, II-22949, 508 (509 f.). 947 Vgl. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 699; Dugrip/Sudre, JCP 1997, II22949, 508 (510). 948 EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 41.

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Teil 2: Verfahrensrechte

in der Sache zu bescheiden949. Die konventionsrechtliche Rechtslage korrespondiert insoweit mit den Prinzipien der unmittelbaren Anwendbarkeit950 und praktischen Wirksamkeit des Europarechts951. Aus der weiteren Rechtsprechung des EGMR ergibt sich, dass eine Vollzugsverzögerung allenfalls unter besonderen Umständen gerechtfertigt sein kann, sofern der Wesensgehalt von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht beeinträchtigt wird952. Bei der Beurteilung im Einzelfall sind außer den Vollzugsfristen des nationalen Rechts, deren Überschreitung allein noch nicht automatisch zu einer Verletzung der EMRK führt, v. a. die Komplexität des Vollzugsverfahrens, das Verhalten des Bf. und der zuständigen Behörden sowie Ergebnis und Art des Urteilsspruchs zu berücksichtigen953. Im Rahmen seiner Akzessorietät zu Art. 6 Abs. 1 EMRK vermittelt außerdem Art. 13 EMRK ein Recht auf eine wirksame innerstaatliche Beschwerdemöglichkeit bei verzögertem oder unterbliebenem Urteilsvollzug. Der EGMR verlangt insoweit von den Konventionsstaaten die Bereitstellung eines effektiven Rechtsbehelfs, damit etwaigen Defiziten bereits auf nationaler Ebene abgeholfen werden kann954. b) Nationale und europäische Urteile als potentielle Vollzugsgegenstände Fraglich ist allerdings, ob der EGMR im Hornsby-Fall das Vertragsverletzungsurteil des EuGH oder die Urteile des OVGH als für die Vollzugspflicht maßgeblichen Anknüpfungspunkt ansah. In den einschlägigen Formulierungen des Straßburger Gerichtshofs wurden wiederholt beide erwähnt955, wohingegen 949 Vgl. EGMR, a. a. O., Rn. 42 ff.; EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91, Rn. 58 f. 950 Vgl. o., 1. 951 Vgl. Spielmann, FS Cohen-Jonathan Vol. II, 1447 (1461). 952 EGMR (GK), Urt. v. 28.07.1999, Immobiliare Saffi ./. Italien, Rep. 1999-V, Rn. 69, 74; EGMR, Urt. v. 07.05.2002, Burdov ./. Russland, Rep. 2002-III, Rn. 35; EGMR, Urt. v. 13.01.2005, Gizzatova ./. Russland, Nr. 5124/03, Rn. 20; EGMR, Urt. v. 18.01.2005, Popov ./. Republik Moldau, Nr. 74153/01, Rn. 54; EGMR, Urt. v. 14.06. 2005, OOO Rusatommet ./. Russland, Nr. 61651/00, Rn. 23; EGMR, Urt. v. 15.02. 2007, Raylyan ./. Russland, Nr. 22000/03, Rn. 29; EGMR, Urt. v. 15.01.2009, Burdov ./. Russland (Nr. 2), Rep. 2009, Nr. 33509/04, Rn. 67. Siehe auch Harris/O’Boyle/Bates/ Buckley, S. 234. 953 EGMR, Urt. v. 17.03.2005, Gorokhov und Rusyayev ./. Russland, Nr. 38305/02, Rn. 31; EGMR, Urt. v. 15.02.2007, Raylyan ./. Russland, Nr. 22000/03, Rn. 31; EGMR, Urt. v. 12.06.2008, Moroko ./. Russland, Nr. 20937/07, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 15.01.2009, Burdov ./. Russland (Nr. 2), Rep. 2009, Nr. 33509/04, Rn. 66 f. 954 EGMR, Urt. v. 15.01.2009, Burdov ./. Russland (Nr. 2), Rep. 2009, Nr. 33509/04, Rn. 98 ff.; EGMR, Urt. v. 15.10.2009, Yuriy Nikolayevich Ivanov ./. Ukraine, Nr. 40450/ 04, Rn. 65 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 190, 207. Siehe bereits o., A. IV. 4. e). 955 EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 42, 44; EGMR, Urt. v. 01.04.1998, Hornsby ./. Griechenland (Art. 50), Rep. 1998-II, Rn. 16, 18.

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997)

271

die EKMR ausschließlich auf die griechischen Urteile Bezug genommen hatte956. Das vom EGMR verwendete Argument, dass die den Parteien durch Art. 6 EMRK verbürgten Rechte im gerichtlichen Verfahren nicht durch die Missachtung der gerichtlichen Entscheidung konterkariert werden dürften957, spricht eher für ein Abstellen auf die nationalen Urteile. Für diese Deutung ausschlaggebend ist nicht so sehr die (jedenfalls bis zu einem EMRK-Beitritt der EU958) fehlende unmittelbare Bindung des EuGH an Art. 6 EMRK959, da Art. 47 GRC insoweit sogar weitergehende Garantien umfasst960, sondern vielmehr der Umstand, dass die Bf. im europarechtlichen Vertragsverletzungsverfahren nicht selbst Streitpartei waren961. Besonders widersprüchlich erscheint schließlich das EGMR-Urteil von 1998, in dem der Gerichtshof einerseits auf die Staatshaftungsrechtsprechung des EuGH hinwies, andererseits aber trotzdem nur für den Zeitraum nach Verkündung der OVGH-Urteile Entschädigung gewährte962, obwohl jedenfalls schon seit dem Vertragsverletzungsurteil des EuGH unzweifelhaft von einem offenkundigen Europarechtsverstoß auszugehen war. Auch wenn demnach eine gewisse Tendenz zur Orientierung an den nationalen Urteilen erkennbar wird, lässt sich selbst bei genauer Analyse kein klarer und eindeutiger Bezugspunkt des EGMR ausmachen. Im Hornsby-Fall blieb diese dogmatische Unsicherheit freilich ohne weitere Folgen, da der EuGH und der OVGH gleichermaßen zugunsten der europarechtlichen Rechtsposition der Bf. judiziert hatten und die Höhe der Entschädigung ohnehin nach billigem Ermessen bestimmt wurde. Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass der EGMR in Anwendung von Art. 6 Abs. 1 EMRK jedenfalls dann zur Beachtung des Europarechts durch die mitgliedstaatliche Exekutive und ggf. Legislative963 beitragen kann, wenn die betreffenden europarechtlichen Rechte dem Grunde nach bereits in einem rechtskräftigen nationalen Gerichtsurteil anerkannt worden sind. In verschiedenen wei-

956

EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91, Rn. 50,

56 ff. 957

EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 40. Siehe o., Teil 1, D. I., III. 1., 2. 959 Vgl. hierzu EGMR, Entsch. v. 20.01.2009, Cooperatieve Producentenorganisatie van de Nederlandse Kokkelvisserij U.A. ./. Niederlande, Rep. 2009, Nr. 13645/05 (= EuGRZ 2011, 11), Rn. 2. 960 Vgl. Art. 52 Abs. 3 GRC sowie Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, § 7, Rn. 81; Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 51, Rn. 30. 961 Diesen Status hatten hier allein die Kommission und Griechenland inne. 962 Siehe o., III. 4. 963 Vgl. zur Legislativintervention im Urteilsvollzug EGMR (GK), Urt. v. 28.07. 1999, Immobiliare Saffi ./. Italien, Rep. 1999-V, Rn. 70 ff.; EGMR, Urt. v. 14.12.1999, Antonakopoulos, Vortsela und Antonakopoulou ./. Griechenland, Nr. 37098/97, Rn. 24 ff.; EGMR, Urt. v. 28.03.2000, Dimitrios Georgiadis ./. Griechenland, Nr. 41209/98, Rn. 24 ff.; EGMR, Urt. v. 14.03.2002, Adamogiannis ./. Griechenland, Nr. 47734/99, Rn. 21. 958

272

Teil 2: Verfahrensrechte

teren Verfahren hat der EGMR die Konventionsstaaten unter Bestätigung der Hornsby-Rechtsprechung auf den Vollzug von Urteilen ihrer Gerichte in angemessener Zeit verpflichtet964, wobei bei entsprechender Fallgestaltung mitunter auch nichtverfahrensrechtliche Garantien der EMRK herangezogen wurden965. Die indirekte Durchsetzung von Urteilen des EuGH ist auf diese Weise ebenfalls möglich, falls die zu vollziehenden nationalen Gerichtsurteile die EuGH-Rechtsprechung befolgen und umsetzen. In Betracht kommen hierfür nicht nur Urteile im Vertragsverletzungsverfahren wie im Hornsby-Fall, sondern auch Vorabentscheidungen gemäß Art. 267 AEUV. c) Mögliche Schiedsrichterfunktion des EGMR zwischen EuGH und nationalen Höchstgerichten Schwieriger ist dagegen die Frage zu beantworten, ob sich mit einer auf Art. 6 Abs. 1 EMRK gestützten Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg darüber hinaus sicherstellen ließe, dass die Urteile des EuGH auch von der mitgliedstaatlichen Judikative beachtet werden. Da die EMRK selbst die Erschöpfung des nationalen Rechtswegs voraussetzt966, kann es in dieser Konstellation von vornherein nur um letztinstanzliche Gerichte gehen. Denkbar wäre insoweit etwa, dass sich ein nationales Höchstgericht weigert, ein zuvor ergangenes Vertragsverletzungs-, Vor-

964 EGMR (GK), Urt. v. 28.07.1999, Immobiliare Saffi ./. Italien, Rep. 1999-V, Rn. 63 ff.; EGMR, Urt. v. 14.12.1999, Antonakopoulos, Vortsela und Antonakopoulou ./. Griechenland, Nr. 37098/97, Rn. 24 ff.; EGMR, Urt. v. 28.03.2000, Dimitrios Georgiadis ./. Griechenland, Nr. 41209/98, Rn. 24 ff.; EGMR, Urt. v. 15.02.2001, Pialopoulos et al. ./. Griechenland, Nr. 37095/97, Rn. 68 ff.; EGMR, Urt. v. 14.03.2002, Adamogiannis ./. Griechenland, Nr. 47734/99, Rn. 20 ff.; EGMR, Urt. v. 07.05.2002, Burdov ./. Russland, Rep. 2002-III, Rn. 34 ff.; EGMR, Urt. v. 27.05.2004, Metaxas ./. Griechenland, Nr. 8415/02, Rn. 25 f.; EGMR, Urt. v. 13.01.2005, Gizzatova ./. Russland, Nr. 5124/03, Rn. 18 ff.; EGMR, Urt. v. 18.01.2005, Popov ./. Republik Moldau, Nr. 74153/01, Rn. 53 ff.; EGMR, Urt. v. 17.03.2005, Gorokhov und Rusyayev ./. Russland, Nr. 38305/02, Rn. 30 ff.; EGMR, Urt. v. 09.06.2005, Castren-Niniou ./. Griechenland, Nr. 43837/02, Rn. 25 ff.; EGMR, Urt. v. 14.06.2005, OOO Rusatommet ./. Russland, Nr. 61651/00, Rn. 22 ff.; EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Okyay et al. ./. Türkei, Rep. 2005-VII, Rn. 72 ff.; EGMR, Urt. v. 15.02.2007, Raylyan ./. Russland, Nr. 22000/03, Rn. 27 ff.; EGMR, Urt. v. 15.01.2009, Burdov ./. Russland (Nr. 2), Rep. 2009, Nr. 33509/04, Rn. 65 ff. 965 Zu Art. 1 ZP 1 EGMR (GK), Urt. v. 25.03.1999, Iatridis ./. Griechenland, Rep. 1999-II, Rn. 55 ff.; EGMR, Urt. v. 14.12.1999, Antonakopoulos, Vortsela und Antonakopoulou ./. Griechenland, Nr. 37098/97, Rn. 30 ff.; EGMR, Urt. v. 28.03.2000, Dimitrios Georgiadis ./. Griechenland, Nr. 41209/98, Rn. 31 ff.; EGMR, Urt. v. 09.11.2004, Svetlana Naumenko ./. Ukraine, Nr. 41984/98, Rn. 104 f.; EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Driza ./. Albanien, Rep. 2007-V, Rn. 107 ff. Zu Art. 8 EMRK siehe u., Teil 3, B. II. 4. Vgl. auch zu Art. 11 i.V. m. Art. 9 EMRK EGMR, Urt. v. 05.04.2007, Church of Scientology Moscow ./. Russland, Nr. 18147/02, Rn. 95 f. (behördliche Missachtung von Verfassungsgerichtsentscheidungen durch Anwendung verfassungswidriger Vorschriften). 966 Siehe o., Teil 1, C. III.

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997)

273

abentscheidungs- oder ggf. auch Nichtigkeitsurteil des EuGH zu befolgen967. Besondere Brisanz könnte z. B. ein Konflikt zwischen einem nationalen Verfassungsgericht und dem EuGH über die Reichweite von dessen europarechtlicher Letztentscheidungskompetenz gewinnen, wie er etwa in der Rechtsprechung des BVerfG zur sog. „Ultra-vires-Kontrolle“ angelegt ist968. Da die Abweichung von der EuGH-Rechtsprechung durch ein letztinstanzliches mitgliedstaatliches Gericht stets mit einem Verstoß gegen die Pflicht zur (ggf. erneuten) Vorlage an den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV einhergeht969, sind zunächst einmal die diesbezüglichen Sanktionsmechanismen anwendbar970. Darüber hinaus könnte sich aber aus Art. 6 Abs. 1 EMRK für die nationalen Gerichte eine zusätzliche konventionsrechtliche Pflicht ergeben, Urteilen des EuGH nachzukommen, sofern diese rechtskräftig971 und verbindlich972 sind973. Von Europarechts wegen besteht eine weitgehende mitgliedstaatliche Bindung an die Urteile des EuGH: Im Vertragsverletzungsverfahren ist der verurteilte Mitgliedstaat einschließlich der Judikative nach Art. 260 AEUV zur Beseitigung des vom EuGH festgestellten Verstoßes verpflichtet974. Vorabentscheidungsurteile binden zunächst unmittelbar das vorlegende und alle weiteren mit dem Ausgangsverfahren befassten nationalen Gerichte an die Rechtsauffassung des EuGH975; darüber hinaus entfalten sie eine allgemeine Bindungswirkung bei Un967 Vgl. Brakalova, S. 304 ff.; Schwarze, Befolgung, S. 32 ff.; Voß, in: Schermers et al., Article 177 EEC, S. 70 ff.; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 79 f. 968 BVerfGE 89, 155 (188, 210); 123, 267 (353 ff.); 126, 286 (302 f.). Siehe bereits o., A. II. 2.; weiterhin ausführlich Giegerich, Europäische Verfassung, S. 694 ff. Vgl. auch Breuer, JZ 2003, 433 (442). 969 Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 51; Brakalova, S. 306; siehe auch Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (28); C. O. Lenz, Judikative, in: Delbrück/Einsele, Wandel, S. 43 (49 f.); M. Albers, VVDStRL 71 (2012), 257 (281 f.). Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 27.03.1963, Da Costa en Schaake NV et al. ./. Administratie der Belastingen, verb. Rs. 28/62 bis 30/62, Slg. 1963, 63 (80 f.); BVerfGE 75, 223 (245). 970 Siehe o., A. III., IV. 971 Die Rechtskraft tritt nach Art. 91 Abs. 1 EuGH-VerfO mit dem Tag der Urteilsverkündung ein. 972 Vgl. insoweit bereits o., Teil 1, D. III. 4. 973 Siehe o., a). 974 EuGH, Beschl. v. 28.03.1980, Kommission ./. Frankreich, verb. Rs. 24/80 R und 97/80 R, Slg. 1980, 1319, Rn. 16; EuGH, Urt. v. 14.12.1982, Procureur de la République ./. Waterkeyn, verb. Rs. 314–316/81 und 83/82, Slg. 1982, 4337, Rn. 13 ff.; Schwarze/Schwarze, Art. 260 AEUV, Rn. 5 ff.; Streinz/Ehricke, Art. 260 AEUV, Rn. 6 ff.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 260 AEUV, Rn. 9 ff. 975 EuGH, Urt. v. 24.06.1969, Milch-, Fett- und Eierkontor ./. Hauptzollamt Saarbrücken, Rs. 29/68, Slg. 1969, 165, Rn. 3; EuGH, Urt. v. 03.02.1977, Benedetti ./. Munari, Rs. 52/76, Slg. 1977, 163, Rn. 26 f.; EuGH (GK), Urt. v. 05.10.2010, Elchinov, Rs. C173/09, Slg. 2010, I-8889, Rn. 29; EuGH (GK), Urt. v. 16.06.2015, Gauweiler et al., Rs. C-62/14, Slg. 2015 (= EuGRZ 2015, 379), Rn. 16; BFHE 124, 268 (271); Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 68; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 68; Brakalova, S. 304 f.; K. Brandt, JuS 1994, 300 (304).

274

Teil 2: Verfahrensrechte

gültigkeitserklärungen976 sowie im Hinblick auf Auslegungsfragen aufgrund des genannten Verbots vorlageloser Abweichung jedenfalls materiell für alle letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichte977. In diesem Umfang bietet die Rechtsprechung der Konventionsorgane im Hornsby-Fall mit der wiederholten Berufung auf das Rechtsstaatsprinzip978 einen wichtigen argumentativen Ansatzpunkt für eine konventionsrechtliche Relevanz der gerichtlichen Beachtung von EuGH-Urteilen. Denn das Gebot der Rechtsstaatlichkeit umfasst im einzelnen die durch einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellende Rechtsgleichheit für die Bürger und die damit verbundene Rechtssicherheit979 sowie die Effektivität des Rechtsschutzes980 und schließlich die vertikale Gewaltenteilung innerhalb der Judikative981. Gerade aus dem Element der Rechtssicherheit hat der EGMR 976 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.05.1981, International Chemical Corporation ./. Amministrazione delle finanze delle Stato, Rs. 66/80, Slg. 1981, 1191, Rn. 12 f.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 50; Pietrek, S. 294 f. Dies gilt auch für Nichtigkeitserklärungen nach Art. 264 AEUV, wenn der angefochtene Sekundärrechtsakt allgemeine Geltung entfaltete; ansonsten bleibt die Urteilswirkung auf die Adressaten des Rechtsakts beschränkt; näher Streinz/Ehricke, Art. 264 AEUV, Rn. 3 ff. 977 Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 71; M. Albers, VVDStRL 71 (2012), 257 (281 f.); wohl noch weitergehend EuGH, Urt. v. 27.03.1980, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Salumi, verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79, Slg. 1980, 1237, Rn. 9; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 69, 72; Gaitanides, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Art. 267 AEUV, Rn. 92; Pietrek, S. 295 ff. 978 EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91, Rn. 54; EGMR, Urt. v. 19.03.1997, Hornsby ./. Griechenland, Rep. 1997-II, Rn. 40 f. Ebenso EGMR (GK), Urt. v. 25.03.1999, Iatridis ./. Griechenland, Rep. 1999-II, Rn. 58; EGMR (GK), Urt. v. 28.07.1999, Immobiliare Saffi ./. Italien, Rep. 1999-V, Rn. 63, 66, 74; EGMR, Urt. v. 14.12.1999, Antonakopoulos, Vortsela und Antonakopoulou ./. Griechenland, Nr. 37098/97, Rn. 25, 30; EGMR, Urt. v. 28.03.2000, Dimitrios Georgiadis ./. Griechenland, Nr. 41209/98, Rn. 25, 31; EGMR, Urt. v. 15.02.2001, Pialopoulos et al. ./. Griechenland, Nr. 37095/97, Rn. 68; EGMR, Urt. v. 07.05.2002, Burdov ./. Russland, Rep. 2002-III, Rn. 34; EGMR, Urt. v. 13.01.2005, Gizzatova ./. Russland, Nr. 5124/03, Rn. 18; EGMR, Urt. v. 18.01.2005, Popov ./. Republik Moldau, Nr. 74153/01, Rn. 53; EGMR, Urt. v. 12.07.2005, Okyay et al. ./. Türkei, Rep. 2005-VII, Rn. 73; EGMR, Urt. v. 15.02.2007, Raylyan ./. Russland, Nr. 22000/03, Rn. 27. Siehe auch Dugrip/Sudre, JCP 1997, II-22949, 508 (509 f., 512). 979 Auf diese Prinzipien können sich die Einzelnen im Anwendungsbereich des Europarechts schon kraft des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 20 GRC) berufen. Näher Giegerich, Europäische Verfassung, S. 694 ff.; Nettesheim, GS Grabitz, 447 (448 ff.); vgl. auch EuGH, Urt. v. 13.02.1979, Granaria ./. Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Rs. 101/78, Slg. 1979, 623, Rn. 4 f.; EuGH, Urt. v. 22.10.1987, Foto-Frost ./. Hauptzollamt Lübeck-Ost, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 15. 980 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 696 ff.; ders./Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 8; Dugrip/Sudre, JCP 1997, II-22949, 508 (509 f.). 981 Hier ist das Verhältnis zwischen dem EuGH als supranationalem Gericht und den mitgliedstaatlichen Gerichten betroffen; vgl. Giegerich, GYIL 53 (2010), 867 (876, 878 f.). Allgemein zum Aspekt der Gewaltenteilung das zustimmende Sondervotum des Kommissionsmitglieds Rozakis zu EKMR, Bericht v. 23.10.1995, Hornsby ./. Griechenland, Nr. 18357/91; Scholler, Entwicklung, in: ders., Sicherung, S. 71 (80 f., 96); Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 699; ders./Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/ GG, Kap. 14, Rn. 10.

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997)

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bezogen auf die nationale Ebene bereits konkret abgeleitet, dass endgültige Urteile auch durch ein Gericht nicht mehr in Frage gestellt werden dürften, sofern hierfür keine zwingende Notwendigkeit bestehe982. Die Urteile des EuGH entfalten zudem häufig individualschützende Wirkungen983 und gewinnen damit eine menschenrechtliche Dimension, selbst wenn sie aus Verfahren hervorgehen, in denen der einzelne Bürger nicht als Partei auftreten kann984. Die Fairness eines mitgliedstaatlichen Gerichtsverfahrens i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK ließe sich daher durchaus auch unter dem Aspekt des fehlenden Urteilsvollzugs bezweifeln, wenn sich nationale Höchstgerichte in Opposition zur Rechtsprechung des für Fragen der verbindlichen Auslegung und Gültigkeit von Europarecht ausschließlich zuständigen EuGH stellten. Der Hornsby-Fall liefert dafür zwar noch keine direkte Präzedenz. Der dortige teleologisch ausgerichtete Ansatz lässt es aber auch nicht als völlig unwahrscheinlich erscheinen, dass der EGMR in einer derartigen Situation auf Seiten des EuGH eingreifen und einen Verstoß des nationalen Gerichts gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen unterbliebener Urteilsbefolgung feststellen könnte985. In der Kefalas-Entscheidung von 2005 verneinte der EGMR dann seine Zuständigkeit, die Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung durch ein nationales Gericht zu überprüfen986. Im dortigen Fall war jedoch tatsächlich keine signifikante Abweichung von der Judikatur des EuGH gegeben, was den EGMR zur Zurückhaltung veranlasst haben dürfte987. Auf andere Fallkonstellationen lässt sich dieser restriktive Ansatz dagegen nicht ohne weiteres übertragen. Denn die Zuständigkeit des EGMR umfasst auch die Einbeziehung von konventionsfremdem Recht bei der Auslegung und Anwendung der EMRK988, wie z. B. die konventionsrechtliche Beanstandung der Missachtung nationaler Gerichtsurteile

982 EGMR (GK), Urt. v. 28.10.1999, Bruma ˘ rescu ./. Rumänien, Rep. 1999-VII, Rn. 61 f., 74 ff.; EGMR, Urt. v. 24.07.2003, Ryabykh ./. Russland, Rep. 2003-IX, Rn. 51 ff.; EGMR, Urt. v. 02.11.2004, Tregubenko ./. Ukraine, Nr. 61333/00, Rn. 34 ff., 46 ff.; EGMR, Urt. v. 09.11.2004, Svetlana Naumenko ./. Ukraine, Nr. 41984/98, Rn. 91 f.; EGMR, Urt. v. 22.03.2005, Ros¸ca ./. Republik Moldau, Nr. 6267/02, Rn. 24 ff., 30 ff.; EGMR, Urt. v. 13.11.2007, Driza ./. Albanien, Rep. 2007-V, Rn. 63 ff.; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 269 f.; Spielmann, La jurisprudence, S. 179 (183); Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 105. 983 Vgl. bereits o., A. I. 1. 984 Zum Vertragsverletzungsverfahren vgl. o., b); zum Vorabentscheidungsverfahren siehe EuGH, Urt. v. 27.03.1963, Da Costa en Schaake NV et al. ./. Administratie der Belastingen, verb. Rs. 28/62 bis 30/62, Slg. 1963, 63 (81). 985 Vgl. Giegerich, Europäische Verfassung, S. 717. 986 EGMR, Entsch. v. 17.03.2005, Kefalas et al. ./. Griechenland (Zulässigkeit), Nr. 40051/02, pdf-Dok. S. 10; siehe o., A. IV. 3. j) cc). 987 Siehe o., A. IV. 3. j) dd). 988 Siehe Art. 32 EMRK sowie näher o., Teil 1, B.

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Teil 2: Verfahrensrechte

zeigt989. Stände nun ein solches Urteil selbst in deutlich erkennbarem Widerspruch zur etablierten Rechtsprechung des EuGH, wäre der EGMR somit zu einer entsprechenden Feststellung in der Lage, ohne Gefahr zu laufen, den exklusiven Kompetenzbereich des EuGH zu tangieren990. Diese Sanktionierungsmöglichkeit ergänzt das bei Vorlagepflichtverletzungen ohnehin bestehende konventionsrechtliche Überwachungspotential. Noch stärker als bei der Durchsetzung der Vorlagepflicht sticht im Kontext des Urteilsvollzugs die machtpolitische Implikation hervor, die mit einer Schiedsrichterfunktion des EGMR zwischen EU und Mitgliedstaat unweigerlich einherginge. Grundsätzlich ist es im Konfliktfall für die nationalen Höchstgerichte leichter als für den EuGH, ihre Urteile im jeweiligen nationalen Rechtsraum zur Durchsetzung zu bringen, da sie im Gegensatz zu jenem regelmäßig über die Befugnis zur Kassation nationaler Hoheitsakte verfügen991. Dem EGMR wäre es möglich, diesen machttechnischen Nachteil des EuGH dadurch auszugleichen, dass er die Auseinandersetzung wieder auf eine rechtliche Basis, nämlich die übergeordnete Ebene der EMRK, zurückführt. Die erhebliche Sprengkraft bergende Streitfrage nach dem letzten Wort zur Auslegung der Unionsverfassung könnte dann auf dieser Grundlage endgültig zugunsten des EuGH beantwortet werden992. Ob der Straßburger Gerichtshof diesen Schritt ggf. auch wirklich zu gehen bereit ist, wird sich aber allenfalls in der abzuwartenden weiteren Entwicklung seiner Rechtsprechung herausstellen.

V. Fazit Im Hornsby-Fall hat der EGMR Defizite im mitgliedstaatlichen Urteilsvollzug, die der Effektivität des Europarechts entgegenstanden, als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK eingestuft. Im Rahmen ihres materiellen Schutzbereiches verlangt diese Verfahrensgarantie, dass rechtskräftige und verbindliche Gerichtsurteile durch die nationale Exekutive und ggf. Legislative innerhalb angemessener Zeit umgesetzt werden. Die Durchsetzung europarechtlicher Rechte kann jedenfalls von der konventionsrechtlichen Überwachung des Vollzugs europarechtskonformer Urteile mitgliedstaatlicher Gerichte profitieren. Eine unmittelbare Vollzugssicherung von Urteilen des EuGH durch den EGMR fand bislang nicht statt. Bei Missachtung der EuGH-Judikatur durch ein letztinstanzliches mitgliedstaatliches Gericht ist primär der Rechtsschutz gegen Vorlagepflichtverletzungen einschlä-

989 Siehe EGMR, Urt. v. 05.04.2007, Church of Scientology Moscow ./. Russland, Nr. 18147/02, Rn. 95 f.; sowie o., b). 990 Vgl. bereits o., A. IV. 3. j) dd), V. 2. a). 991 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 716, unter Verweis auf § 95 Abs. 2 BVerfGG. 992 Vgl. auch Breuer, JZ 2003, 433 (442).

B. Effektive Urteilsdurchsetzung: Hornsby ./. Griechenland (1997)

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gig. Darüber hinaus kann der EGMR, ungeachtet seiner bisherigen Zurückhaltung in dieser Hinsicht, ohne Überschreitung seiner Zuständigkeit deutlich erkennbare Abweichungen nationaler Höchstgerichte von der Rechtsprechung des EuGH als mangelnde Urteilsbefolgung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK beanstanden. Auf diese Weise lässt sich der in Bezug auf das Europarecht bestehende judikative Primat des EuGH gegenüber den Mitgliedstaaten rechtsstaats- und rechtsschutzkonform durchsetzen.

Teil 3

Rechte aus europäischen Richtlinien Die Richtlinie als europäischer Sekundärrechtsakt stellt ein Instrument mehrstufiger Rechtssetzung dar, an der sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten in gegenseitiger Kooperation beteiligt sind1. Seit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge hat sie gerade für die Rechtsangleichung im Binnenmarkt eine enorme Bedeutung erlangt2. Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV ist die Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Sie bedarf also regelmäßig der Umsetzung im nationalen Recht, um ihre Wirkung voll entfalten zu können3. Das Zusammenspiel von europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene gestaltet sich dabei nicht selten problematisch, weil Richtlinien nicht, verspätet oder fehlerhaft umgesetzt oder die zur Umsetzung geschaffenen nationalen Vorschriften nicht oder entgegen den Vorgaben der Richtlinie vollzogen werden. Um derartigen Entwicklungen entgegenzutreten, hat der EuGH in seiner Rechtsprechung aus dem europäischen Primärrecht Mechanismen abgeleitet, die die Durchsetzung des Richtlinienrechts unterstützen, wie etwa die unmittelbare Richtlinienwirkung und die Staatshaftung für mitgliedstaatliche Europarechtsverstöße4. Dennoch verbleiben in der Praxis immer noch Fälle, in denen die Bürger nicht von Richtlinienrechten profitieren können, da der notwendige Rechtsschutz vor den Gerichten der Mitgliedstaaten und der Union entweder nur unzureichend gewährt wird oder ganz ausfällt. Ins1 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 288 AEUV, Rn. 23; Rickert, S. 30 ff.; Walzel/ Becker, Jura 2007, 653 (654); Pernice, EuR 1994, 325 (325, 327 f.); Bach, JZ 1990, 1108 (1109 f.). Der Begriff des Europäischen Rahmengesetzes, der im VVE (etwa Art. I-33 Abs. 1 UAbs. 3) für die Richtlinie vorgesehen war, erfasst ihr Wesen daher recht treffend. 2 Prokopf, S. 2 f.; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 67; Hilf, EuR 1993, 1 (1 f.); Götz, NJW 1992, 1849 (1849 ff.). 3 Bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist sind die Mitgliedstaaten jedoch nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV, Art. 288 Abs. 3 AEUV (vormals Art. 10 Abs. 2, Art. 249 Abs. 3 EGV) dazu verpflichtet, Maßnahmen zu unterlassen, die der Verwirklichung der Richtlinienziele zuwiderlaufen (sog. Vor- oder Sperrwirkung); EuGH, Urt. v. 18.12.1997, Inter-Environnement Wallonie ./. Région wallonne, Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411, Rn. 45; EuGH, Urt. v. 22.11.2005, Mangold, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 66 ff.; Koller, S. 15 ff.; Gronen, S. 75 ff.; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 83 f.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 288 AEUV, Rn. 24; Schliesky, DVBl. 2003, 631 (633, 636 ff.); Weiß, DVBl. 1998, 568 (570 ff.). 4 Siehe u., A. I. 3.

A. Steuerrecht

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besondere in den Bereichen des Steuer- und Umweltrechts sind deshalb Individualbeschwerden vor dem EGMR gegen EU-Mitgliedstaaten erhoben worden.

A. Steuerrecht I. S. A. Dangeville ./. Frankreich (2002) Im Bereich des Steuerrechts bildete das Urteil des EGMR im Fall S. A. Dangeville ./. Frankreich von 20025 den Auftakt einer inzwischen gefestigten Straßburger Rechtsprechung, die die menschenrechtliche Durchsetzung richtlinienbasierter vermögensrechtlicher Ansprüche ermöglicht. Gerade bei mitgliedstaatlichen Defiziten in der Richtlinienumsetzung können die europarechtlich verbürgten Rechte auf diese Weise von der Schutzwirkung der EMRK profitieren. 1. Sachverhalt Die Ursprünge des Dangeville-Falles reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Die im Versicherungsmaklergewerbe tätige französische Aktiengesellschaft (Société Anonyme; S. A.) Dangeville wurde 1978 vom französischen Staat für das Gesamtjahr zur Zahlung einer Umsatzsteuer von 291.816,– FF (ca. 44.487,– A) herangezogen6. Grundlage war Art. 256 Code général des impôts (CGI) in seiner bis zum 31.12.1978 geltenden Fassung7. Keine Berücksichtigung fand dabei die Sechste Umsatzsteuerrichtlinie des Rates8, die die Mitgliedstaaten spätestens bis zum 01.01.1978 in nationales Recht umzusetzen hatten. Nach Art. 13 Teil B lit. a dieser Richtlinie waren unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften die Versicherungs- und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und -vertretern erbracht wurden, 5 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III (= EuGRZ 2007, 671, mit Zusammenfassung des Sachverhalts); in Auszügen wiedergegeben bei Prat, S. 199 (200 ff.); kurzes Résumé bei Klenk, UVR 2003, 117 (117 f.). 6 Zum Folgenden EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III (= EuGRZ 2007, 671), Rn. 9 ff.; Breuer, JZ 2003, 433 (434). 7 Danach waren in Frankreich im Zusammenhang mit einer Tätigkeit industrieller oder kommerzieller Art vorgenommene Geschäfte unabhängig von ihrem Zweck und Ergebnis der Umsatzsteuer unterworfen; vgl. Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (171). Das französische Recht sah diese Steuerpflicht noch bis zum Jahr 1980 vor; Klenk, UVR 2003, 117 (117). 8 Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates v. 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ABl. Nr. L 145 v. 13.06.1977, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie; zum 01.01.2007 abgelöst durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. Nr. L 347 v. 11.12.2006, S. 1. Näher zur Sechsten Richtlinie Birkenfeld, Mehrwertsteuer, S. 16 f., 30 ff., m.w. N.

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

von der Steuer zu befreien. Die Festlegung der näheren Bedingungen zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen blieb den Mitgliedstaaten überlassen. Da Frankreich und einige andere Mitgliedstaaten die Sechste Richtlinie nicht fristgemäß implementiert hatten, wurde ihnen in der Neunten Umsatzsteuerrichtlinie9, die für den französischen Staat am 01.07.1978 in Kraft trat, eine Nachfrist zur Umsetzung bis zum 01.01.1979 eingeräumt. Die Neunte Richtlinie entfaltete jedoch nach der Rechtsprechung des EuGH keine Rückwirkung10, so dass sie die Wirkungen der Sechsten Richtlinie zwischen dem 01.01.1978 und dem 30.06.1978 nicht modifizieren konnte. Am 02.01.1986 erging eine Verwaltungsanweisung, derzufolge Versicherungsmakler, die für im genannten Zeitraum getätigte Geschäfte noch keine Umsatzsteuer entrichtet hatten, nicht mehr zur Zahlung herangezogen werden sollten. Die S. A. Dangeville klagte unter Berufung auf die Sechste Richtlinie vor den französischen Gerichten auf Erstattung (restitution) der gezahlten Umsatzsteuer für das Gesamtjahr 1978 und stützte ihren geltend gemachten Anspruch zusätzlich auf Staatshaftung (responsabilité de l’État) für die Nichtumsetzung der Richtlinie. 2. Verfahren und Rechtslage in Frankreich a) Der Primärrechtsweg vor dem Conseil d’État Mit Urteil vom 08.07.1982 wies das Tribunal administratif Paris die Klage der S. A. Dangeville in erster Instanz ab11. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass Richtlinien die Mitgliedstaaten gemäß Art. 189 Abs. 3 EWGV (jetzt Art. 288 Abs. 3 AEUV) nur auf das zu erreichende Ziel verpflichteten, jedoch die Wahl der angemessenen Mittel zur Umsetzung in innerstaatliches Recht allein im Ermessen der nationalen Stellen liege. Folglich könnten sich Individuen und private Körperschaften gegenüber einer Vorschrift des nationalen Rechts nicht unmittelbar auf eine Richtlinie berufen. Aus den gleichen Gründen scheiterte am 10.06.1982 auch eine weitere Versicherungsmaklergesellschaft, die S. A. Cabinet Revert et Badelon, mit einer entsprechenden Klage auf Umsatzsteuererstattung vor dem Tribunal administratif Paris. 9 Neunte Richtlinie 78/583/EWG des Rates v. 26.06.1978 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern, ABl. Nr. L 194 v. 19.07.1978, S. 16; im folgenden: Neunte Richtlinie. 10 EuGH, Urt. v. 22.02.1984, Rs. 70/83, Kloppenburg, Slg. 1984, 1075, Rn. 13 (betreffend die Umsatzsteuerbefreiung nach Art. 13 Teil B lit. d Nr. 1 der Sechsten Richtlinie). 11 Vgl. EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 13.

A. Steuerrecht

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Der Conseil d’État, das höchste französische Verwaltungsgericht12, verwarf schließlich im März 1986 das Rechtsmittel der S. A. Dangeville und bestätigte damit die Auffassung des Tribunal administratif 13. Der geltend gemachte Erstattungsanspruch wurde für unbegründet erklärt, da sich die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in einem Steuerrechtsstreit nicht auf die Vorschriften einer nicht umgesetzten Richtlinie stützen könnten. Eine solche Richtlinie sei in ihrer Wirkung von einer Verordnung zu unterscheiden und habe keinerlei Einfluss auf die Anwendung französischer Gesetzesvorschriften wie vorliegend Art. 256 CGI. Trotz des offenen Widerspruchs zur Rechtsprechung des EuGH hinsichtlich der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien14 leitete keines der beteiligten Gerichte ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 177 EWGV (jetzt Art. 267 AEUV) ein. b) Hintergrund: Die Entwicklung der französischen Rechtsprechung hinsichtlich der innerstaatlichen Durchsetzung des Europarechts Das Vorgehen der französischen Verwaltungsgerichte ist im Lichte der historischen Entwicklung der Stellung des internationalen Rechts in der französischen Rechtsordnung zu sehen, die durch die Eigenheiten gerade der dortigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung maßgeblich beeinflusst wurde. aa) Die Cohn-Bendit-Rechtsprechung und ihre Folgen Mit der Argumentation im Dangeville-Verfahren griff der Conseil d’État die Leitlinien seiner grundlegenden Entscheidung im Fall Cohn-Bendit aus dem Jahr 1978 auf, in der er sich erstmals mit der unmittelbaren Wirkung europäischer Richtlinien befasst hatte15. Dieser Fall betraf eine Ausweisung Daniel Cohn-Bendits aus Frankreich, die dieser unter Berufung auf die europarechtliche Arbeit12 Die französische Verwaltungsgerichtsbarkeit hat einen dreistufigen Aufbau: Das Tribunal administratif ist grundsätzlich in erster Instanz zuständig, die Cour administrative d’appel für Berufungsverfahren. Der Conseil d’État fungiert hauptsächlich als Revisionsgericht, besitzt aber auch erstinstanzliche und berufungsgerichtliche Befugnisse. Vgl. Liebler, VerwArch 101 (2010), 1 (11 ff.); Heim, S. 117; Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 71; sowie die Grafik bei Alter, S. 128. In allen Instanzen wird das Verwaltungsgericht durch einen unabhängigen öffentlichen Berichterstatter (rapporteur public) unterstützt, der bis zum 01.02.2009 Regierungskommissar (commissaire du gouvernement) genannt wurde. Ähnlich wie der Generalanwalt am EuGH analysiert er den Rechtsstreit und schlägt eine Lösung vor, die das Gericht dann meist übernimmt. Näher Liebler, VerwArch 101 (2010), 1 (6, 23 ff.); Heim, S. 118, Fn. 11. 13 Conseil d’État, 19.03.1986, S. A. Cabinet Jacques Dangeville, Nr. 46105; in Auszügen wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 17 f. 14 Näher u., 3. a). 15 Conseil d’État (Assemblée), 22.12.1978, Cohn-Bendit, Nr. 11604 (= RTDE 15 [1979], 168; EuGRZ 1979, 251; EuR 1979, 292; DVBl. 1980, 126). Ausführlich Hecker, S. 74 ff.; Heim, S. 117 ff.

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

nehmerfreizügigkeit (jetzt Art. 45 AEUV) und die Richtlinie 64/221/EWG16 anfocht. Die in Art. 6 dieser Richtlinie statuierte Pflicht der Mitgliedstaaten, dem Betroffenen die Gründe für die Entscheidung über die Aufenthaltserlaubnis mitzuteilen, war in Frankreich nicht in das nationale Recht übernommen worden17. Nachdem das Tribunal administratif das Verfahren ausgesetzt und den EuGH um Vorabentscheidung ersucht hatte, hob der Conseil d’État auf ein Rechtsmittel des Innenministers diesen Vorlagebeschluss auf und entschied in der Sache. Aus Art. 189 EWGV (jetzt Art. 288 AEUV) gehe eindeutig hervor18, dass Richtlinien nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich seien und ihre Umsetzung allein in die Sphäre der Mitgliedstaaten falle. Daraus folge, dass sich die Bürger zur Begründung einer Klage gegen einen einzelnen Verwaltungsakt nicht unmittelbar auf eine Richtlinie berufen könnten. Nach der Zurückverweisung des Rechtsstreits scheiterte Cohn-Bendit dann endgültig vor dem Tribunal administratif 19. In der französischen Literatur hat das Cohn-Bendit-Urteil des Conseil d’État zwar zunächst überwiegend inhaltliche Zustimmung erfahren20; nahezu einhellig fiel aber die Kritik an der Verletzung der Pflicht zur Vorlage an den EuGH (Art. 177 Abs. 3 EWGV; jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) aus21. Die Verweigerung richtliniengestützten Individualrechtsschutzes gegen einen Verwaltungsakt durch den Conseil d’État bedeutete jedoch nicht, dass dieser der 16 Richtlinie 64/221/EWG v. 25.02.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl. Nr. 56 v. 04.04. 1964, S. 850; ersetzt durch die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, etc. (Freizügigkeitsrichtlinie), ABl. Nr. L 158 v. 30.04.2004, S. 77, berichtigt durch ABl. Nr. L 229 v. 29.06.2004, S. 35, ABl. Nr. L 204 v. 04.08.2007, S. 28; hierzu auch u., Teil 4, A. IV. 17 Vgl. Bieber, EuR 1979, 294 (295). 18 Mit dieser Formulierung (im frz. Original: „Considérant [. . .] qu’il ressort clairement de l’article 189 [. . .]“), die allein auf den angeblich klaren Wortlaut des EGV abstellte, bediente sich der Conseil d’État einer nationalen Acte-clair-Doktrin, nach der eine Auslegung eindeutiger Bestimmungen ausgeschlossen ist; vgl. allgemein Vogenauer, Auslegung, Bd. I, S. 249 ff. Den Beurteilungsmaßstab für die Eindeutigkeit bildete dabei indes ausschließlich die eigene Rechtsauffassung des Conseil d’État, während die Rechtsprechung des EuGH gänzlich ignoriert wurde. Hierzu Heim, S. 126 ff.; Hecker, S. 78 ff.; Neidhardt, S. 71 ff.; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (658). 19 Die streitige Ausweisungsverfügung selbst war allerdings noch vor dem Urteil des Conseil d’État wieder aufgehoben worden. Um die Frage ihrer Rechtswidrigkeit zu klären und dem eingelegten Rechtsmittel des Innenministers abzuhelfen, wurde das gerichtliche Verfahren dennoch fortgesetzt. Vgl. Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 153; Bieber, EuR 1979, 294 (296); Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 433. 20 Vgl. die Nw. bei Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 433, Fn. 162. 21 Bieber, EuR 1979, 294 (297); Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 433; Tomuschat, EuGRZ 1979, 257 (258, 260); H. A. Petzold, DVBl. 1980, 126 (127); Dubouis, RTDE 15 (1979), 169 (179). Vgl. ferner differenzierend Dutheillet de Lamothe/Robineau, AJDA 1979 (mars), 27 (29 f.).

A. Steuerrecht

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Richtlinie damit jede innerstaatliche Wirkung abgesprochen hätte. Bereits im Cohn-Bendit-Urteil selbst findet sich der Hinweis, dass die Rechtswidrigkeit des zur Umsetzung der Richtlinie erlassenen nationalen Dekrets nicht geltend gemacht worden sei22. In der Tat ergibt sich aus der anschließenden Rechtsprechung23, dass der Conseil d’État gegenüber Rechtsakten mit Verordnungscharakter (actes réglementaires)24 die Berufung des Einzelnen auf entgegenstehende Richtlinienbestimmungen nach Ablauf der Umsetzungsfrist akzeptiert hat25. Demnach konnte eine richtlinienwidrige Einzelentscheidung wie etwa ein Verwaltungsakt nur dadurch erfolgreich angegriffen werden, dass die Richtlinienwidrigkeit eines als Ermächtigungsnorm zugrundeliegenden acte réglementaire gerügt wurde (sog. „exception d’illégalité“)26. Hingegen war es den Bürgern ganz verwehrt, unmittelbar subjektive Rechte aus einer nicht umgesetzten Richtlinie ohne Vermittlung einer Norm des nationalen Rechts geltend zu machen (sog. „invocabilité de substitution“)27. Dieser Umstand wurde etwa dann relevant, wenn der Einzelne eine Leistung begehrte, die allein in der Richtlinie, nicht aber in einer französischen Rechtsgrundlage vorgesehen war28. Hier fiel der nationale Primärrechtsschutz für Rechte aus unmittelbar wirksamen Richtliniennormen praktisch aus, so dass Betroffene nur noch im Staatshaftungsprozess auf Entschädigung hoffen konnten. Einschränkungen ergaben sich ferner, wenn eine nationale Norm wegen Richtlinienwidrigkeit bereits erfolgreich angegriffen worden war. Dann nämlich stand sie für künftige Entscheidungen nicht mehr als 22 Conseil d’État (Assemblée), 22.12.1978, Cohn-Bendit, Nr. 11604: „[. . .], à défaut de toute contestation sur la légalité des mesures réglementaires prises par le gouvernement français pour se conformer aux directives arrêtées par le Conseil des communautés européennes, [. . .]“. 23 Conseil d’État, 28.09.1984, Confédération nationale des sociétés de protection des animaux de France et des pays d’expression française, Nr. 28467 (= RTDE 20 [1984], 767); Conseil d’État, 07.12.1984, Fédération française des sociétés de protection de la nature et al., Nr. 41971 und 41972 (= RTDE 21 [1985], 192); Conseil d’État, 07.10.1988, Rassemblement des opposants à la chasse et al., Nr. 89855; Conseil d’État, 07.10.1988, Fédération française des sociétés de protection de la nature et Ligue française pour la protection des oiseaux, Nr. 92193 (= RTDE 25 [1989], 692); Conseil d’État (Assemblée), 03.02.1989, Compagnie Alitalia, Nr. 74052 (= RTDE 25 [1989], 699). 24 Zu dieser Kategorie gehören etwa „décret“, „arrêté“ und „ordonnance“; Heim, S. 120. 25 Zu den Einzelheiten Breuer, EuGRZ 2007, 654 (659); Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 434 ff.; siehe auch Classen, EuR 2010, 557 (559 f.). 26 Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 423 f., 434, 438, m.w. N.; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (659); Heim, S. 120. Die nationale Ermächtigungsnorm wird auch dann als rechtswidrig angesehen, wenn sie wegen unterbliebener Richtlinienumsetzung unvollständig ist; siehe Woehrling, in: Magiera/Sommermann, S. 45 (56), m.w. N. 27 Vgl. Breuer, EuGRZ 2007, 654 (661), m.w. N.; Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (126). 28 Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 444 f.; Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 157; Heim, S. 140; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (660 f.).

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taugliche Rechtsgrundlage zur Verfügung, ohne dass als Ersatz direkt auf die Richtlinie zurückgegriffen werden durfte29. bb) Das frühere Kontrolldefizit gegenüber Parlamentsgesetzen und nachrangigem Recht Wiederum anders stellte sich die französische Rechtslage lange Zeit dar, wenn die innerstaatliche Anwendung internationalen Rechts in Konflikt mit einem nationalen Parlamentsgesetz geriet. Ursprünglich wurde das Europarecht allein über Art. 55 der französischen Verfassung30, die allgemeine verfassungsrechtliche Grundlage für die Eingliederung internationaler Normen, in das französische Recht inkorporiert. Danach erlangen die ordnungsgemäß ratifizierten oder genehmigten Verträge oder Abkommen mit ihrer Veröffentlichung einen höheren Rang als die Gesetze, sofern sie auch von der anderen Vertragspartei angewandt werden. Den europäischen Verträgen, unter Einschluss zumindest der Zielverbindlichkeit von Richtlinien, kam somit eine Rangstufe zwischen Verfassungsrecht und Parlamentsgesetzen zu31. Dennoch führten die französischen Gerichte zunächst praktisch keinerlei Kontrolle von Parlamentsgesetzen am Maßstab des Völker- oder Europarechts durch, da die Zuständigkeit hierfür nicht geklärt war. Art. 61 frz. Verf. statuierte ein Monopol des Conseil constitutionnel für die verfassungsrechtliche Überprüfung von Parlamentsgesetzen vor ihrem Inkrafttreten32. Im Hinblick auf die Kontrolle von Verstößen des einfachen Rechts gegen nach Art. 55 frz. Verf. höherrangige internationale Verträge erklärte sich der Conseil constitutionnel jedoch generell für unzuständig, da die aufgrund des Vorbehalts der Gegenseitigkeit fehlende Unbedingtheit der Norm eine allgemeine präventive Prüfung unmöglich mache33. Anders als die Cour de cassation34 weigerte sich der Conseil d’État auch 29 Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 446; Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 158; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (660). 30 Verfassung der Französischen Republik v. 04.10.1958, zuletzt geändert durch Verfassungsgesetz Nr. 2008-724 v. 23.07.2008. 31 Heim, S. 120, 123. 32 Näher Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 213 ff. Erst seit der Verfassungsreform von 2008 existiert auch ex post eine konkrete Normenkontrolle durch den Conseil constitutionnel, die von den obersten Fachgerichten initiiert werden kann, vgl. Art. 61-1 frz. Verf. sowie F. Lange, DVBl. 2008, 1427 (1427 ff.); Karrenstein, DÖV 2009, 445 (450 ff.). 33 Conseil constitutionnel, 15.01.1975, Loi relative à l’interruption volontaire de grossesse, Nr. 74-54 DC (= EuGRZ 1975, 54); hierzu Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 311 ff.; Eissen, EuGRZ 1975, 69 (70 ff.); Ress, ZaöRV 35 (1975), 445 (449 ff.); C. Lerche, ZaöRV 50 (1990), 599 (614 f.); Scheffler, ZaöRV 67 (2007), 43 (56 f.); Mayer/Lenski/Wendel, EuR 2008, 63 (65). 34 Cour de cassation (Chambre mixte), 24.05.1975, Société Cafés Jacques Vabre, Nr. 73-13556 (= RTDE 11 [1975], 354; EuR 1975, 326); auszugsweise auch bei EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 41. Vgl. hierzu

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fortan, den Vorrang des internationalen Rechts gegenüber zeitlich nachfolgenden Legislativakten durchzusetzen; insoweit hielt er an der von der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei Normenkonflikten traditionell herangezogenen Lex-posteriorRegel fest35. Damit hing die individuelle Einklagbarkeit völker- und europarechtlicher Rechte über Jahre von der nur historisch begründbaren Rechtswegverteilung ab36. Die Verweigerung der Kontrolle von Parlamentsgesetzen bewirkte gleichzeitig, dass auf diesen basierendes nachrangiges Recht aufgrund der sog. „Loi-écranTheorie“ ebenfalls nicht überprüft werden konnte. Diese in der Rechtsprechung entwickelte Theorie geht davon aus, dass sich ein dem internationalen Vertrag zeitlich nachfolgendes Parlamentsgesetz gleichsam wie ein Schirm (frz. écran) zwischen das internationale und das untergesetzliche Recht schiebe und damit für letzteres zum alleinigen Prüfungsmaßstab werde37. Unter dieser Prämisse war die verwaltungsgerichtliche Durchsetzung internationalen Rechts in Frankreich großenteils ausgeschlossen. cc) Die Wende zur Europarechtsfreundlichkeit seit dem Nicolo-Urteil Zu einer Änderung dieses insgesamt unbefriedigenden Zustandes kam es erst 1989 mit dem Nicolo-Urteil38, in dem der Conseil d’État erstmals ein späteres französisches Gesetz auf seine Konformität mit europäischem Primärrecht überprüfte. Verfahrensgegenstand war das nationale Wahlgesetz, das nach Ansicht des Klägers die Bevölkerung der französischen Überseegebiete gemeinschaftsrechtswidrig in die Wahlen zum Europäischen Parlament einbezog. Auch wenn der Conseil d’État diesem Vorbringen in seinen knappen Ausführungen nicht folgte, lag doch der eigentliche Fortschritt des Urteils darin, dass überhaupt eine materielle Prüfung anhand des primären Gemeinschaftsrechts vorgenommen wurde39. Baumgartner, DVBl. 1977, 70 (73 ff.); C. Lerche, ZaöRV 50 (1990), 599 (616 f.); Scheffler, ZaöRV 67 (2007), 43 (57); Hecker, S. 57 ff. 35 Conseil d’État (Assemblée), 22.10.1979, Union démocratique du travail, Nr. 17541; siehe bereits zuvor Conseil d’État (Section), 01.03.1968, Syndicat général des fabricants de semoules de France, Nr. 62814 (= EuR 1968, 317). Näher Hecker, S. 43 ff.; Alter, S. 146 ff.; Scheffler, ZaöRV 67 (2007), 43 (56 ff.); vgl. auch Heim, S. 123; Neidhardt, S. 109; Mayer/Lenski/Wendel, EuR 2008, 63 (66). 36 Breuer, EuGRZ 2007, 654 (657); Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 364 f.; Heim, S. 124 f. 37 Näher Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 407 ff.; Heim, S. 123 f.; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (657); Scheffler, ZaöRV 67 (2007), 43 (55). 38 Conseil d’État (Assemblée), 20.10.1989, Nicolo, Nr. 108243 (= RTDE 25 [1989], 786; EuGRZ 1990, 106; EuR 1990, 62; DVBl. 1991, 324; ZaöRV 50 [1990], 644); auszugsweise auch bei EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 39. Hierzu Dewost, EuR 1990, 1 (1 ff.); Ludet/Stotz, EuGRZ 1990, 93 (93, 97 f.). 39 Der Conseil d’État verwies insoweit lapidar und ohne Vorlage an den EuGH auf den räumlichen Geltungsbereich des EWGV nach dessen Art. 227 (siehe jetzt Art. 52

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Die dogmatische Begründung für sein tiefgreifendes Revirement fand der Conseil d’État allerdings nicht in den europarechtlichen Anforderungen, sondern allein in einer geänderten Lesart von Art. 55 frz. Verf., der nun als implizite Kontrollermächtigung für die Gerichte aufgefasst wurde40. Mit der damit einhergehenden Aufgabe der „Loi-écran-Theorie“ war der Weg für die gerichtliche Überprüfung nachfolgender Parlamentsgesetze und ihrer Ausführungsnormen anhand von internationalen Verträgen fortan frei41. In der Folgezeit akzeptierte der Conseil d’État außerdem auch europäisches Sekundärrecht wie Verordnungen42, Richtlinien43 sowie Entscheidungen des Rates44 als Kontrollmaßstab für nationale leges posteriores. Die im Nicolo-Urteil eingeleitete historische Kehrtwende der französischen Verwaltungsrechtsprechung bereitete so den Weg für ein neues Verfassungsverständnis, das die wirksame innerstaatliche Anwendung des Europarechts bedeutend erleichtert hat45. Seit 1992 enthält die französische Verfassung außerdem spezielle Regelungen zur europäischen Integration46. Namentlich unter Berufung auf Art. 88-1 frz. Verf.47 haben der Conseil constitutionnel48 und EUV, 355 AEUV); vgl. Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 371 f. Im Ergebnis war die Abweisung der Klage aber europarechtskonform; vgl. insoweit Hecker, S. 84 f.; zum europawahlrechtlichen Status der Überseegebiete siehe außerdem näher u., Teil 5, A. II. 2. a). 40 Vgl. Regierungskommissar Frydman, Schlussanträge in der Rs. Nicolo, Nr. 108243, RTDE 25 (1989), 771; EuGRZ 1990, 99; ZaöRV 50 (1990), 629. Siehe auch Hecker, S. 84 ff.; Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 372 ff.; Mayer, Kompetenzüberschreitung, S. 151; Heim, S. 124 f.; C. Lerche, ZaöRV 50 (1990), 599 (617 ff.); Scheffler, ZaöRV 67 (2007), 43 (58). 41 Gundel, Einordnung des Gemeinschaftsrechts, S. 411; Bernardeau, in: de Sousa/ Heusel, S. 145 (150); Groussot, YEL 27 (2008), 89 (109 f.). 42 Conseil d’État, 24.09.1990, Boisdet, Nr. 58657 (= RGDIP 95 [1991], 964; DVBl. 1991, 324; EuR 1991, 183; EuZW 1991, 124); hierzu Stotz, EuZW 1991, 118 (118 f.). 43 Conseil d’État (Assemblée), 28.02.1992, S. A. Rothmans International France et S. A. Philip Morris France, Nr. 56776 und 56777 (= RTDE 28 [1992], 426); auszugsweise bei EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 40. Conseil d’État (Assemblée), 28.02.1992, Société Arizona Tobacco Products et S. A. Philip Morris France, Nr. 87753; Conseil d’État, 17.03.1993, Groupement pour le développement de la coiffure, Nr. 73272; Conseil d’État (Assemblée), 30.10.1996, S. A. Cabinet Revert et Badelon, Nr. 45126 (= RTDE 33 [1997], 185). Näher Breuer, EuGRZ 2007, 654 (659 f.); Heim, S. 125 f. 44 Conseil d’État, 10.01.2001, Région Guadeloupe, Nr. 219138. 45 Hecker, S. 83 f., m.w. N.; vgl. auch F. Lange, DVBl. 2008, 1427 (1428); Woehrling, in: Magiera/Sommermann, S. 45 (47); Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (128). 46 Art. 88-1 ff. frz. Verf. Vgl. auch Mayer/Lenski/Wendel, EuR 2008, 63 (64). 47 Der gegenwärtige Normtext lautet: „La République participe à l’Union européenne constituée d’États qui ont choisi librement d’exercer en commun certaines de leurs compétences en vertu du traité sur l’Union européenne et du traité sur le fonctionnement de l’Union européenne, tels qu’ils résultent du traité signé à Lisbonne le 13 décembre 2007.“ 48 Conseil constitutionnel, 10.06.2004, Loi pour la confiance dans l’économie numérique, Nr. 2004-496 DC (= EuGRZ 2005, 49; EuR 2004, 921; JZ 2004, 969), 7. Erwägungsgrund. Hierzu Breuer, EuGRZ 2007, 654 (657 f.); Walter, EuGRZ 2005, 77

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schließlich auch der Conseil d’État49 der Pflicht zur Richtlinienumsetzung inzwischen Verfassungsrang zuerkannt50. Darüber hinaus hat sich der Conseil d’État trotz der zunächst verbliebenen Relikte der Cohn-Bendit-Rechtsprechung51 zunehmend bemüht, in seiner gerichtlichen Praxis europarechtskonforme Ergebnisse zu erzielen52. So gestand er etwa den Behörden bis zum jeweiligen Inkrafttreten einer richtliniengemäßen nationalen Regelung sehr weitgehende Entscheidungsbefugnisse zu53. Im Perreux-Urteil von 2009 wurde die Cohn-Bendit-Rechtsprechung schließlich endgültig aufgegeben. Hier stellte der Conseil d’État ausdrücklich fest, dass eine gegen einen individuellen Verwaltungsakt gerichtete Klage ebenfalls auf unmittelbar wirksame Richtlinienbestimmungen gestützt werden könne54. Damit vermögen europäische Richtlinien in der französischen Rechtsordnung grundsätzlich ihre gesamten europarechtlich vorgesehenen Wirkungen zu entfalten. Hierzu gehört auch die unmittelbare positive Wirkung in Gestalt der „invocabilité de substitution“ 55, die jetzt jedenfalls mit einer Klage gegen einen abschlägigen Verwaltungsakt durchsetzbar ist. Mit dem Perreux-Urteil hat der Conseil d’État einen lange überfälligen Schritt vollzogen56, der die Kompatibilität der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in Frankreich mit der Judikatur des EuGH letztend-

(79 ff.); Sales, RTDE 41 (2005), 597 (601 ff.); Mayer, EuR 2004, 925 (929 ff.); Classen, JZ 2004, 969 (970 f.); Pfeiffer, ZaöRV 67 (2007), 469 (477 f.). Siehe ebenso Conseil constitutionnel, 27.07.2006, Loi relative au droit d’auteur et aux droits voisins dans la société d’information, Nr. 2006-540 DC, Rn. 17. 49 Conseil d’État, 08.02.2007, Société Arcelor Atlantique et Lorraine et al., Nr. 287110 (= EuR 2008, 57); Conseil d’État (Assemblée), 30.10.2009, Perreux, Nr. 298348 (= EuR 2010, 554); Classen, EuR 2010, 557 (559); Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (132); dies., EuConst 3 (2007), 436 (440 f.); Ritleng, RTDE 46 (2010), 223 (231); Dutheil de la Rochère, in: Beneyto/Pernice, S. 17 (24 f.). Vgl. auch bereits Conseil d’État (Section), 01.02.2006, Fédération européenne des réalisateurs de l’audiovisuel, Nr. 239962; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (658). 50 Damit wird nun auch die Spezifität des Europarechts im Vergleich zum klassischen Völkerrecht anerkannt; Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (130); Ritleng, RTDE 46 (2010), 223 (230 ff.). 51 Siehe o., aa). 52 Classen, EuR 2010, 557 (560), m.w. N.; Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (125 ff.); Ritleng, RTDE 46 (2010), 223 (223, 228 f., 233 f.); Scheffler, ZaöRV 67 (2007), 43 (59). 53 Conseil d’État (Assemblée), 29.06.2001, Vassilikiotis, Nr. 213229; vgl. auch Conseil d’État (Section), 03.12.1999, Association ornithologique et mammologique de Saône-et-Loire et al., Nr. 199622 u. a.; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (660); Woehrling, in: Magiera/Sommermann, S. 45 (56 f.). 54 Conseil d’État (Assemblée), 30.10.2009, Perreux, Nr. 298348 (= EuR 2010, 554); zum Hintergrund Classen, EuR 2010, 557 (558 ff.). 55 Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (127 f., 132); Ritleng, RTDE 46 (2010), 223 (230). 56 Vgl. auch Ritleng, RTDE 46 (2010), 223 (223 f.); Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (124 f.).

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lich hergestellt hat57. Zukünftig könnten sich allenfalls noch Dissonanzen ergeben, wenn ein Widerspruch zwischen europarechtlichen Normen und der französischen Verfassung auftreten sollte, da letztere aus innerstaatlicher Perspektive als normenhierarchisch höchstrangig angesehen wird58. Angesichts der inzwischen zu beobachtenden europarechtsfreundlichen Handhabung auch des Verfassungsrechts59 erscheint ein solches Konfliktszenario aber eher unwahrscheinlich60. c) Konsequenzen für den Primärrechtsschutz in der Ausgangssituation Im Ausgangsfall der S. A. Dangeville war der Primärrechtsweg mit dem Urteil des Conseil d’État von 1986 ausgeschöpft. Daher konnte die klagende Gesellschaft vom erst drei Jahre später eingeleiteten Umschwung des Conseil d’État im Nicolo-Urteil nicht mehr profitieren, sondern sah sich noch mit einer Rechtsprechung konfrontiert, die sowohl die unmittelbare Wirkung von Richtlinien als auch die Überprüfung von Parlamentsgesetzen am Europarecht ablehnte. Da mit dem CGI ein Parlamentsgesetz zur Disposition stand, tat sich für die S. A. Dangeville eine Rechtsschutzlücke auf, die die Durchsetzung ihrer Rechte aus der Sechsten Richtlinie vorerst unmöglich machte. Erst mit dem Nicolo-Urteil waren dem Grunde nach die Voraussetzungen für eine richtlinienkonforme Lösung des Falles vor den französischen Verwaltungsgerichten gegeben. Ein besonderes Problem stellte sich allerdings mit dem im CGI festgelegten Regel-Ausnahme-Verhältnis der Besteuerung61: Da mit Art. 261 ff. CGI die einschlägigen Bestimmungen über die Steuerbefreiung hinter den Vorgaben der Sechsten Richtlinie zurückblieben, wurde in der französischen Literatur zunächst argumentiert, die Berufung auf die Richtlinienwidrigkeit der Steuerbefreiungsvorschriften mit der Folge ihrer Unanwendbarkeit führe nicht zu einem Entfallen der Steuerschuld, weil Art. 256 CGI als Grundlage der Besteuerung für sich genommen nicht gegen die Richtlinie verstoße. Die Wirksamkeit der Richtlinienrechte wäre bei dieser Konstruktion letztlich von der detaillierten Ausgestaltung 57 Vgl. Ritleng, RTDE 46 (2010), 223 (233 f.); Dutheil de la Rochère, in: Beneyto/ Pernice, S. 17 (25). 58 Conseil d’État, 08.02.2007, Société Arcelor Atlantique et Lorraine et al., Nr. 287110 (= EuR 2008, 57); Conseil d’État, 03.12.2001, Syndicat national de l’industrie pharmaceutique et al., Nr. 226514; weniger restriktiv Conseil constitutionnel, 27.07.2006, Loi relative au droit d’auteur et aux droits voisins dans la société d’information, Nr. 2006540 DC, Rn. 19. Siehe auch Classen, EuR 2010, 557 (562 f.); Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (135 f.); dies., EuConst 3 (2007), 436 (458 ff.); Scheffler, ZaöRV 67 (2007), 43 (85 f.); Pfeiffer, ZaöRV 67 (2007), 469 (478 ff., 484 ff., 499 ff.); Mayer/Lenski/Wendel, EuR 2008, 63 (67 f.). 59 Vgl. Conseil d’État, 03.06.2009, Société Arcelor Atlantique et Lorraine et al., Nr. 287110; Gundel, FS Spellenberg, 573 (582); Classen, EuR 2010, 557 (563). 60 Vgl. Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (136); Pfeiffer, ZaöRV 67 (2007), 469 (504 ff.); Gundel, FS Spellenberg, 573 (584, 588 f.). 61 Zum Folgenden Breuer, EuGRZ 2007, 654 (660).

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des nationalen Steuerrechts abhängig gewesen. Im übrigen hatte der Conseil d’État bei vergleichbaren Fällen im innerstaatlichen Recht eine Gesamtschau der jeweiligen Normen vorgenommen62. So entschied er dann auch im Fall S. A. Cabinet Revert et Badelon, der ein paralleles Verfahren mit dem gleichen Gegenstand wie der Dangeville-Fall betraf63, dass die Berufung auf die entgegenstehenden Ziele der Richtlinie möglich sei, soweit der CGI in Art. 256, 261 insgesamt eine richtlinienwidrige Besteuerung vorsehe64. Hier war die Klage, die etwa zur gleichen Zeit wie die der S. A. Dangeville erhoben worden war, erfolgreich, da bereits die im Nicolo-Urteil entwickelten Grundsätze angewandt wurden. Der S. A. Cabinet Revert et Badelon kam damit letztlich zugute, dass sich ihre Klage immer noch im Verfahren des primären Rechtsschutzes befand, weil die Verlegung der Prozessakten beim Conseil d’État zu einer rund zehnjährigen Verfahrensverzögerung geführt hatte65. d) Die Unzulässigkeit des Staatshaftungsbegehrens aa) Ablauf des Verfahrens Die S. A. Dangeville hatte sich bereits im ersten gerichtlichen Verfahrensgang zur Begründung ihres Verlangens auf Rückzahlung der für das Jahr 1978 entrichteten Umsatzsteuer nicht nur unmittelbar auf die Sechste Richtlinie berufen, sondern darüber hinaus einen Anspruch aus Staatshaftung wegen Nichtumsetzung dieser Richtlinie in Frankreich geltend gemacht66. Da das erstinstanzliche Gericht diesen klägerischen Antrag schlicht ignoriert hatte, annullierte der Conseil d’État 1986 dessen Urteil zumindest insoweit und behandelte den Antrag nunmehr selbst67. Dazu führte er aus, dass das Verwaltungsgericht aufgrund der Vorschriften des innerstaatlichen Rechts68 generell nur mit einem gegen eine Verwaltungsentscheidung gerichteten Rechtsmittel befasst werden könne. Die S. A. Dangeville habe jedoch keine solche vorherige Entscheidung (décision préala62 Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (182); u. a. unter Verweis auf Conseil d’État (Assemblée), 01.07.1988, Société immobilière d’économie mixte de la ville de Paris, Nr. 47887. 63 Siehe schon o., a). 64 Conseil d’État (Assemblée), 30.10.1996, S. A. Cabinet Revert et Badelon, Nr. 45126 (= RTDE 33 [1997], 185). 65 Vgl. Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (180); Breuer, EuGRZ 2007, 654 (655, 660). 66 Siehe o., 1. 67 Conseil d’État, 19.03.1986, S. A. Cabinet Jacques Dangeville, Nr. 46105; in Auszügen wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 17 f. 68 Der Conseil d’État zitierte insoweit als seinerzeit einschlägige Normen Art. R. 89 Code des tribunaux administratifs i.V. m. Art. 1 des Dekrets v. 11.01.1965.

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ble) über eine mögliche Entschädigung herbeigeführt, so dass ihr hierauf gerichtetes Klagebegehren unzulässig sei. Da ihr Staatshaftungsantrag somit vor Gericht allein aus verfahrensrechtlichen Gründen gescheitert war, erneuerte ihn die S. A. Dangeville am 16.03.1987 unter Beachtung der formellen Anforderungen gegenüber dem Finanzministerium69. Dabei bezog sie sich nicht nur auf die unterbliebene Umsetzung der Richtlinie und die Anwendung gemeinschaftsrechtswidrigen französischen Rechts (responsabilité pour faute), sondern rügte auch eine gleichheitswidrige Steuerbelastung infolge der Verwaltungsanweisung vom 02.01.198670, mit der die Einziehung ausstehender Umsatzsteuer aus dem ersten Halbjahr 1978 eingestellt worden war (responsabilité sans faute)71. Gleichwohl wurde auch dieser Antrag abgelehnt. Anschließend strengte die S. A. Dangeville einen weiteren, nun auf Fragen der Staatshaftung begrenzten Prozess an. Nachdem sie am 23.05.1989 in erster Instanz vor dem Tribunal administratif 72 unterlegen war, hob die Cour administrative d’appel Paris als Berufungsgericht das erstinstanzliche Urteil am 01.07.1992 teilweise wieder auf 73. Das Gericht leitete insbesondere aus Art. 5 EWGV (siehe jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) die Pflicht des französischen Staates ab, die Folgen einer Gemeinschaftsrechtsverletzung zu beseitigen und ggf. effektiven Ersatz für entstandene Schäden zu gewährleisten74. Der Umstand, dass ein Steuerpflichtiger die Unvereinbarkeit einer gesetzlichen Bestimmung mit den Zielen einer europäischen Richtlinie vor den zuständigen Gerichten erfolglos angegriffen habe, stehe der Gewähr von Schadensersatz wegen versäumter Richtlinienumsetzung nicht entgegen. Art. 256 CGI in seiner vor dem 01.01.1979 geltenden Fassung als Grundlage der Besteuerung der S. A. Dangeville sei für die Zeit vom 01.01.1978 bis zum 30.06.1978 mit den durch die Sechste Richtlinie vorgegebenen Zielen 69 Zum Folgenden EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 19 f. 70 Siehe o., 1. 71 Vgl. allgemein zum französischen Staatshaftungsrecht Nacimiento, S. 114 ff.; Wolf, S. 235 ff., 250 ff.; Bernardeau, in: de Sousa/Heusel, S. 145 (148 ff.). 72 Nach Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (172), war das Tribunal administratif Versailles befasst; der EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 20, spricht dagegen abweichend vom Tribunal administratif Paris. 73 Cour administrative d’appel Paris, 01.07.1992, S. A. Jacques Dangeville, Nr. 89PAO2498 (= AJDA 1992, 768); in Auszügen wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 22; siehe auch Bernardeau, in: de Sousa/Heusel, S. 145 (151); M. A. Jarvis, Application, S. 402 f. Das Urteil wurde von der Lehre ganz überwiegend begrüßt; vgl. Schoißwohl, S. 170; Klenk, UVR 1993, 193 (197); differenzierend Prétot, AJDA 1992, 768 (770 f.). 74 Diese Begründung entspricht im wesentlichen den Erwägungen des EuGH; siehe EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Francovich et al., verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I5357, Rn. 31 ff.; Henrichs, S. 132; sowie u., 3. b) aa).

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nicht vereinbar gewesen. Die S. A. Dangeville könne daher die Erstattung der während dieser Periode entrichteten Umsatzsteuer in Höhe von 129.845,86 FF (ca. 19.795,– A) verlangen, zumal sie ihre rechtswidrige Steuerbelastung weder auf ihre Kunden abgewälzt noch anderweitig verrechnet habe. Nach dem partiellen Obsiegen der S. A. Dangeville ging die Finanzbehörde (direction générale des impôts) in das Revisionsverfahren. Der Conseil d’État hob daraufhin am 30.10.1996 die Berufungsentscheidung auf und wies die Klage der S. A. Dangeville in vollem Umfang als unzulässig ab75. bb) Begründung des Regierungskommissars Die tragenden Gründe des Urteils des Conseil d’État lassen sich den Schlussanträgen des Regierungskommissars Goulard entnehmen, der zunächst auf die staatshaftungsrechtliche Rechtsprechung von EuGH und Conseil d’État Bezug nahm. Die Entwicklung infolge des Nicolo-Urteils erfordere, einen Staatshaftungsanspruch auch in Fällen anzuerkennen, in denen ein Einzelakt unmittelbar auf ein wegen unterbliebener Richtlinienumsetzung gemeinschaftsrechtswidriges Gesetz gestützt wurde76. Hierbei handele es sich nicht um eine echte Haftung für legislatives Unrecht, da auch die Verwaltungsbehörde durch ihr Handeln auf richtlinienwidriger Gesetzesgrundlage den entstandenen Schaden verursacht habe. Damit ging der Regierungskommissar zwar dem Grunde nach vom Bestehen eines Anspruchs aus77. Trotzdem sprach er sich aber gegen die Bestätigung des Berufungsurteils aus, da das Berufungsgericht die Prinzipien der Rechtskraft (autorité de la chose jugée) und der Spezialität des (Finanz-)Rechtswegs (distinction des contentieux78) nicht gebührend berücksichtigt habe. Aus der Zusammenschau vergleichbarer Präzedenzfälle des Conseil d’État ergebe sich, dass eine Staatshaftungsklage stets als unzulässig abzuweisen sei, wenn das für Steuersachen zuständige Gericht nicht bereits zuvor die Irregularität der Be75 Conseil d’État (Assemblée), 30.10.1996, S. A. Dangeville, Nr. 141043 (= RTDE 33 [1997], 184); in Auszügen wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 25 f. 76 Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (173 ff.). Im einzelnen stellte der Regierungskommissar eine weitgehende Übereinstimmung der zugehörigen Rechtsprechung von EuGH und Conseil d’État fest. Näher zum französischen Staatshaftungsrecht M. A. Jarvis, Application, S. 397 ff.; Nacimiento, S. 114 ff.; Wolf, S. 235 ff.; Schoißwohl, S. 165 ff.; Henrichs, S. 128 ff. 77 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 175: „L’affaire [. . .] semblait [. . .] offrir l’occasion de juger [. . .] que toute décision administrative ayant fait application de dispositions législatives incompatibles avec une directive est constitutive d’une faute de nature à engager la responsabilité de l’Etat.“ 78 Dieser Grundsatz wird auch als „distinction des voies de recours“ oder „exception de recours parallèle“ bezeichnet; siehe Breuer, EuGRZ 2007, 654 (655, Fn. 6); Gromitsaris, Rechtsgrund, S. 134 ff.; Dufourcq, RFDA 2003, 953 (957).

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steuerung festgestellt habe oder wenn der geltend gemachte Anspruch an die Rechtswidrigkeit einer rechtskräftigen Entscheidung mit finanzieller Relevanz anknüpfe79. Auf diese Weise werde vermieden, dass ein Kläger die speziellen Verfahrensvorschriften des zuständigen Gerichtszweigs80, wie etwa Fristen, durch die Erhebung einer Staatshaftungsklage umgehe81. Diese Rechtsprechung sei allerdings nur auf solche Staatshaftungsklagen zu beziehen, die sich ausschließlich auf den Gegenstand des Ausgangsverfahrens beschränkten, also z. B. auf die Erstattung einer im primären Rechtsschutz erfolglos zurückverlangten Steuer gerichtet seien82. In Fällen, in denen zuvor ein anderes Klageziel verfolgt oder eine abweichende Schadensposition geltend gemacht worden sei, bleibe der Staatshaftungsprozess dagegen zulässig. Der Regierungskommissar befürwortete eine derartige Lösung, da sie die Wiederholung von Rechtsstreitigkeiten unterbinde und so die richterliche Autorität wahre, ohne zu einer Rechtsschutzverweigerung zu führen. In europarechtlicher Hinsicht verwies er auf den Grundsatz der verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten sowie die Gebote der Gleichbehandlung und Effektivität83. Man könne zwar davon ausgehen, dass die zur Zeit des ersten Verfahrens der S. A. Dangeville in Frankreich zur Verfügung stehenden Rechtsschutzmöglichkeiten den europarechtlichen Mindestanforderungen nicht entsprochen hätten. Jedoch seien nach der Rechtsprechung des EuGH bei der Beurteilung einer der Anwendung des Gemeinschaftsrechts entgegenstehenden nationalen Verfahrensvorschrift auch die Grundprinzipien des innerstaatlichen Rechtssystems zu berücksichtigen84. Als ein solches Prinzip stufte der Regierungskommissar die distinction des contentieux ein, wobei er eine diesbezügliche Vorlagefrage an den EuGH ausdrücklich nicht für geboten hielt85. Darüber hinaus

79 Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (176 f.); u. a. unter Verweis auf Conseil d’État, 11.10.1978, Delphin, Nr. 08769. 80 Für Prozesse in Steuerfragen sind derartige Regeln in Art. L. 190 ff. Livre des procédures fiscales (LPF) niedergelegt. Hierzu näher u., II. 1., 3. a). 81 Vgl. auch Dufourcq, RFDA 2003, 953 (957). 82 Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (177); u. a. unter Verweis auf Conseil d’État, 05.07.1996, Société civile immobilière Saint-Michel, Nr. 150398. 83 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 178; unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Rewe ./. Landwirtschaftskammer für das Saarland, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989; EuGH, Urt. v. 09.11.1983, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. San Giorgio, Rs. 199/82, Slg. 1983, 3595. Siehe bereits o., Teil 2, III. 3. a) aa) (3), sowie näher u., 3. b) bb) (3) (b). 84 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 179; unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Peterbroeck, Van Campenhout & Cie ./. Belgischer Staat, Rs. 312/93, Slg. 1995, 4599. 85 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 179.

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könnten Gemeinschaftsrechtsverstöße inzwischen bereits im primären Rechtsweg mit Erfolg gerügt werden; insbesondere habe der Conseil d’État wiederholt auch mit der Sechsten Richtlinie inkompatible Gesetzes- und Verordnungsvorschriften unangewendet gelassen86. Daher bedürfe es auch von Gemeinschaftsrechts wegen keiner zusätzlichen Zulassung der Staatshaftung zur Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes87. Die S. A. Dangeville habe das „Pech“ gehabt, dass über ihre Erstattungsklage „zu früh“ 88 entschieden worden sei, so dass ihre Situation nun „ungerecht erscheinen“ könne89. Dennoch sei es nicht angezeigt, in diesem auf Übergangsschwierigkeiten beruhenden „besonderen Einzelfall“ von den gängigen Verfahrensmaximen abzuweichen, da ansonsten gravierende Nachteile für die richterlich geschaffene Rechtssicherheit zu befürchten seien90. Auch wenn der Einwand der Rechtskraft (autorité de la chose jugée) mangels entsprechenden Vortrags in der Berufungsinstanz nun unzulässig sei, müsse das Berufungsurteil somit aus prozessualen Gründen (distinction des contentieux) aufgehoben und die Klage der S. A. Dangeville einschließlich des Antrags auf Erstattung von 20.000,– FF (ca. 3.049,– A) Verfahrenskosten abgewiesen werden. Mit dem diesem Vorschlag folgenden Urteil des Conseil d’État war die S. A. Dangeville auch im Staatshaftungsprozess in der letzten Instanz gescheitert. 18 Jahre nach der streitgegenständlichen Steuererhebung war der innerstaatliche Rechtsweg in Frankreich also endgültig ausgeschöpft91, ohne dass die wirksame Durchsetzung der durch die Sechste Richtlinie verliehenen Rechte erreicht werden konnte. Ungeachtet des europarechtlichen Bezugs unterblieb in sämtlichen Instanzen die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH.

86 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 181; unter Verweis auf Conseil d’État, 17.03.1993, Groupement pour le développement de la coiffure, Nr. 73272; Conseil d’État, 18.03.1994, S. A. Sofitam ex-Satam, Nr. 61379. Der Empfehlung des Regierungskommissars, im Fall S. A. Cabinet Revert et Badelon entsprechend zu verfahren, kam der Conseil d’État nach; Conseil d’État (Assemblée), 30.10.1996, S. A. Cabinet Revert et Badelon, Nr. 45126 (= RTDE 33 [1997], 185). 87 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 179 f. 88 Damit bezog sich der Regierungskommissar (a. a. O., S. 183) auf die Zeit vor dem Revirement durch das Nicolo-Urteil; siehe hierzu o., b). Die Formulierung leitet jedoch in die Irre, da die Klage der S. A. Dangeville ganz regulär letztinstanzlich entschieden wurde, wohingegen das Verfahren im Vergleichsfall S. A. Cabinet Revert et Badelon unter einer exzessiven Verzögerung litt; siehe o., c). 89 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 183: „Celle-ci n’aura eu que la malchance de voir sa réclamation fiscale jugée trop tôt. Nous sommes conscients de ce que la situation qui lui est ainsi faite peut paraître injuste, [. . .]“. 90 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 183. 91 Einen der deutschen Verfassungsbeschwerde vergleichbaren außerordentlichen Rechtsbehelf kennt das französische Recht nicht; Hübner/Constantinesco, S. 69; Classen, in: Sonnenberger/Classen, S. 70 ff.

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3. Rechtslage nach Europarecht In den steuerrechtlichen Fallkonstellationen der Durchsetzung europäischer Richtlinien kommen diverse europarechtlich begründete Rechte und Probleme von grundsätzlicher Bedeutung zum Tragen. Hierzu gehören die unmittelbare Wirkung von Richtlinien, die Haftung von Mitgliedstaaten nach Europarecht sowie die europarechtlichen Maßstäbe, denen die Ausgestaltung mitgliedstaatlicher Verfahren genügen muss. Anhand dieser Grundsätze soll im folgenden das Verhalten der französischen Staatsorgane im Dangeville-Fall auf seine Europarechtskonformität untersucht werden. a) Unmittelbare Wirkung von Richtlinien Angesichts der nicht fristgerechten Umsetzung der Sechsten Richtlinie durch den französischen Staat rückt vorliegend primär die unmittelbare Wirkung92 von Richtlinien in den Fokus, die der EuGH unter bestimmten Voraussetzungen zur Behebung derartiger Missstände zugelassen hat93. aa) Grundsätze Nach der Rechtsprechung des EuGH kann sich der einzelne Bürger nach Ablauf der Umsetzungsfrist auch direkt auf nicht oder unzureichend umgesetzte Normen einer Richtlinie berufen, sofern diese hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt sind94. Zur dogmatischen Begründung verweist der EuGH auf die in Art. 288 Abs. 3 AEUV (früher Art. 249 Abs. 3 EGV) verankerte Verbindlichkeit der Richtlinien und die praktische Wirksamkeit des Europarechts (effet utile)95. Zudem sei es den Mitgliedstaaten verwehrt, sich auf ihre eigene Umset-

92 Teils werden auch synonyme Bezeichnungen wie etwa „unmittelbare Anwendbarkeit“ oder „Direktwirkung“ gebraucht; vgl. Prokopf, S. 173 f., m.w. N.; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 104. 93 Grundlegend EuGH, Urt. v. 06.10.1970, Grad ./. Finanzamt Traunstein, Rs. 9/70, Slg. 1970, 825, insbesondere Rn. 10; EuGH, Urt. v. 04.12.1974, Van Duyn ./. Home Office, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 12. Vgl. auch die Analyse der Rechtsprechung bei Oldenbourg, S. 50 ff. 94 EuGH, Urt. v. 04.12.1974, Van Duyn ./. Home Office, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 12 ff.; EuGH, Urt. v. 27.06.1989, Kühne ./. Finanzamt München III, Rs. 50/88; Slg. 1989, 1925, Rn. 23. Zu den einzelnen Kriterien ausführlich Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 45 ff.; Prokopf, S. 182 ff.; Claßen, S. 67 ff.; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 106 ff.; Jarass/Beljin, JZ 2003, 768 (770 f.). 95 Art. 4 Abs. 3 EUV (früher Art. 10 EGV). EuGH, Urt. v. 04.12.1974, Van Duyn ./. Home Office, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 01.02.1977, Verbond van Nederlandse Ondernemingen ./. Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Rs. 51/ 76, Slg. 1977, 113, Rn. 22 ff.; EuGH, Urt. v. 05.04.1979, Ratti, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629, Rn. 21; EuGH, Urt. v. 20.09.1988, Oberkreisdirektor des Kreises Borken et al. ./. Moormann, Rs. 190/87, Slg. 1988, 4689, Rn. 22 ff.

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zungssäumigkeit zu berufen und diese den Einzelnen entgegenzuhalten (nemo auditur turpitudinem suam allegans)96. Weiterhin betont der Luxemburger Gerichtshof auch die Funktion der unmittelbaren Richtlinienwirkung als Mindestgarantie für den Rechtsschutz der Bürger97. Aus der unmittelbaren Geltung von Verordnungen lasse sich nicht ableiten, dass ähnliche Wirkungen bei anderen Rechtsakten ausgeschlossen seien98. Entsprechend der beabsichtigten Sanktionsfunktion gegen säumige Mitgliedstaaten lässt der EuGH diese Argumente allerdings nur im vertikalen StaatBürger-Verhältnis zugunsten des Bürgers gelten. Dagegen lehnt er in ständiger Rechtsprechung die Verpflichtung einzelner Bürger aus nicht umgesetzten Richtlinien gegenüber dem Mitgliedstaat oder anderen Bürgern ab, da Richtlinien allein für den betreffenden Mitgliedstaat verbindlich seien und der Gedanke des Rechtsmissbrauchs im Horizontalverhältnis zwischen Privaten nicht zum Tragen komme99. Lediglich mittelbare, faktische Belastungen für Dritte, die sich aus der unmittelbaren Richtlinienwirkung ergeben (sog. Doppelwirkung), werden vom EuGH aber grundsätzlich hingenommen100, ohne dass die sich in dieser Hinsicht 96 EuGH, Urt. v. 05.04.1979, Ratti, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629, Rn. 22; EuGH, Urt. v. 19.01.1982, Becker ./. Finanzamt Münster-Innenstadt, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rn. 34, 49 (zur Sechsten Richtlinie; siehe auch Lohse, UR 2003, 182 [182]); EuGH, Urt. v. 10.06.1982, Grendel, Rs. 255/81, Slg. 1982, 2301, Rn. 9 ff.; EuGH, Urt. v. 27.06.1989, Kühne ./. Finanzamt München III, Rs. 50/88; Slg. 1989, 1925, Rn. 23. Prokopf, S. 180 f.; Götz, NJW 1992, 1849 (1855); Bach, JZ 1990, 1108 (1114 f.); Weiß, DVBl. 1998, 568 (569); vgl. auch Giegerich, JuS 1997, 619 (621). 97 EuGH, Urt. v. 06.05.1980, Kommission ./. Belgien, Rs. 102/79, Slg. 1980, 1473, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 19.01.1982, Becker ./. Finanzamt Münster-Innenstadt, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 20.03.1997, Kommission ./. Deutschland, Rs. C96/95, Slg. 1997, I-1653, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 17.09.1997, Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft mbH ./. Bundesbaugesellschaft Berlin mbH, Rs. C-54/96, Slg. 1997, I4961, Rn. 44. 98 EuGH, Urt. v. 01.02.1977, Verbond van Nederlandse Ondernemingen ./. Inspecteur der Invoerrechten en Accijnzen, Rs. 51/76, Slg. 1977, 113, Rn. 21; EuGH, Urt. v. 05.04.1979, Ratti, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629, Rn. 19. 99 EuGH, Urt. v. 26.02.1986, Marshall ./. Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Rs. 152/84, Slg. 1986, 723, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 11.06.1987, Pretore di Salò ./. X., Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 08.10.1987, Kolpinghuis Nijmegen, Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969, Rn. 9 f.; EuGH, Urt. v. 14.07.1994, Faccini Dori ./. Recreb, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325, Rn. 20 ff.; EuGH, Urt. v. 26.09.1996, Strafverfahren gegen Luciano Arcaro, Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705, Rn. 36 f. Davon unberührt bleiben aber jeweils auch zulasten von Privaten sowohl der Anwendungsvorrang von Richtlinien gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht als auch die Möglichkeit, das nationale Recht richtlinienkonform auszulegen oder auf primärrechtliche Grundsätze zurückzugreifen; vgl. EuGH, Urt. v. 19.01.2010, Kücükdeveci, Rs. C-555/07, Slg. 2010, I-365, Rn. 48 ff.; Mörsdorf, EuR 2009, 219 (219 ff.). 100 EuGH, Urt. v. 07.01.2004, Wells, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723, Rn. 56 ff.; EuGH, Urt. v. 26.09.2000, Unilever Italia, Rs. C-443/98, Slg. 2000, I-7535, Rn. 50 f.; EuGH, Urt. v. 11.08.1995, Kommission ./. Deutschland (Großkrotzenburg), Rs. C-431/ 92, Slg. 1995, I-2189, Rn. 26, 39 f.; EuGH, Urt. v. 22.06.1989, Fratelli Costanzo ./. Comune di Milano, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839, Rn. 31.

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stellenden speziellen Abgrenzungsfragen schon in vollem Umfang geklärt wären101. Hiervon abgesehen ist die allgemeine Dogmatik des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien inzwischen unter weitgehender Zustimmung in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung und Lehre zum europarechtlichen Gemeingut geworden102. Nachdem der deutsche Bundesfinanzhof103 und schließlich auch der französische Conseil d’État104 ihren Widerstand gegen die Luxemburger Richtlinienrechtsprechung aufgegeben haben, hat sich diese nunmehr ausnahmslos durchgesetzt105. bb) Anwendung im Ausgangsfall Im Dangeville-Fall stand mit der Frage der unmittelbaren Wirkung der Sechsten Richtlinie eine grundsätzlich unkomplizierte Konstellation in Rede, da sich eine private Gesellschaft gegenüber dem französischen Staat auf die Ausnahmebestimmungen der Richtlinie berief. Der einschlägige Befreiungstatbestand des Art. 13 Teil B lit. a legte präzise die Pflicht der Mitgliedstaaten fest, die Umsätze aus den genannten Versicherungs- und ähnlichen Geschäften von der Steuer zu befreien. An der hinreichenden Bestimmtheit der Norm besteht damit kein Zweifel. Für die inhaltliche Unbedingtheit einer Richtlinienvorschrift ist erforderlich, dass diese vorbehaltlos anwendbar und nicht mehr von der gestaltenden Entscheidung eines europäischen oder mitgliedstaatlichen Organs abhängig ist106. Die Richtlinie überließ es zwar den Mitgliedstaaten, Bedingungen „zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der [. . .] Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Miß101 Vgl. Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 64 ff.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 288 AEUV, Rn. 63 ff.; Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 118; Craig, ELRev. 34 (2009), 349 (349 ff.); Jarass/Beljin, JZ 2003, 768 (772 f.); jeweils m.w. N. 102 Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 288 AEUV, Rn. 49 f.; BVerwGE 70, 41 (49); 74, 241 (246 ff.); Bach, JZ 1990, 1108 (1108); Streinz/Schroeder, Art. 288 AEUV, Rn. 102; sowie bereits Everling, FS Carstens Bd. 1, 95 (113). 103 Siehe nur BFHE 210, 164 (167); 233, 269 (273), Rn. 26 ff.; sowie ferner BVerfGE 75, 223 (224, 233 ff.); Hilf, EuR 1988, 1 (1 ff.); E. Zimmermann, FS Doehring, 1033 (1036 ff.). Zur früheren europarechtswidrigen Rspr. vgl. BFHE 133, 470 (470 ff.); 143, 383 (386 ff.); Kl. Friedrich, RIW 1985, 794 (796); Claßen, S. 74 ff. 104 Siehe o., 2. b). 105 Siehe Ritleng, RTDE 46 (2010), 223 (223); Charpy, EuConst 6 (2010), 123 (124 f.). 106 EuGH, Urt. v. 04.12.1974, Van Duyn ./. Home Office, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 12 ff.; EuGH, Urt. v. 12.05.1987, Traen, verb. Rs. 372/85 bis 374/85, Slg. 1987, 2141, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 20.09.1988, Beentjes, Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635, Rn. 43; EuGH, Urt. v. 23.02.1994, Comitato di coordinamento per la difesa della cava et al. ./. Regione Lombardia et al., Rs. C-236/92, Slg. 1994, I-483, Rn. 9; Leonard, S. 92.

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bräuchen“ festzusetzen. Damit stand aber nicht die verbindlich vorgeschriebene Umsatzsteuerbefreiung als solche im mitgliedstaatlichen Ermessen, sondern lediglich deren missbrauchsverhütende praktische Umsetzung107. Den Mitgliedstaaten verblieb hier also lediglich der für die Richtlinienumsetzung typische Handlungsspielraum, um das bindende Ziel der Richtlinie zu erreichen. Außerdem stand es ihnen frei, zur Missbrauchsverhütung auf bestehende allgemeine Vorschriften gegen Steuerhinterziehung zurückzugreifen. Die Gewährung der Steuerbefreiung selbst ist somit auch als inhaltlich unbedingt zu qualifizieren. Da Frankreich die Sechste Richtlinie zum maßgeblichen Stichtag am 01.01. 1978 nicht umgesetzt hatte, entfalteten die Befreiungsvorschriften fortan unmittelbare Wirkung zugunsten der Bürger gegenüber dem französischen Staat. Diese endete allerdings, als am 01.07.1978 in der Neunten Richtlinie mit Wirkung ex nunc eine Nachfrist zur Umsetzung bis zum 01.01.1979 gesetzt wurde108. Für die S. A. Dangeville waren demnach die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung von Art. 13 Teil B lit. a der Sechsten Richtlinie vom 01.01.1978 bis zum 30.06. 1978 erfüllt, so dass die für diesen Zeitraum gezahlte Umsatzsteuer kraft Europarechts nicht veranschlagt werden durfte109. Für vergleichbare Fälle hat der EuGH dann auch ausdrücklich festgestellt, dass die Begünstigten sich gegenüber dem umsetzungssäumigen Mitgliedstaat unmittelbar auf die Sechste Richtlinie berufen konnten110, so dass ihnen folglich auch ein Anspruch auf Erstattung der rechtsgrundlos entrichteten Steuer zustand111. Hinsichtlich des zweiten Halbjahres 1978 fehlt es dagegen an der Voraussetzung des Ablaufs der Umsetzungsfrist. Die Festlegung einer Nachfrist in der Neunten Richtlinie bewirkte vielmehr, dass die Umsetzungssäumnis der Mitgliedstaaten für diesen Zeitraum gleichsam legalisiert wurde, so dass für eine unmittelbare Richtlinienwirkung insoweit kein Raum mehr bleibt. Der europarechtliche Erstattungsanspruch der S. A. Dange107 Vgl. EuGH, Urt. v. 19.01.1982, Becker ./. Finanzamt Münster-Innenstadt, Rs. 8/ 81, Slg. 1982, 53, Rn. 31 ff. 108 Siehe o., 1. 109 So auch Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (182 f.); Conseil d’État (Assemblée), 30.10.1996, S. A. Cabinet Revert et Badelon, Nr. 45126 (= RTDE 33 [1997], 185). 110 EuGH, Urt. v. 19.01.1982, Becker ./. Finanzamt Münster-Innenstadt, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rn. 49. 111 Vgl. bereits EuGH, Urt. v. 16.12.1960, Humblet ./. Belgien, Rs. 6/60, Slg. 1960, 1163 (1185 f.); EuGH, Urt. v. 09.11.1983, Amministrazione delle Finanze dello Stato ./. San Giorgio, Rs. 199/82, Slg. 1983, 3595, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 02.02.1988, Barra ./. Belgischer Staat, Rs. 309/85, Slg. 1988, 355, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 29.06.1988, Deville ./. Administration des impôts, Rs. 240/87, Slg. 1988, 3513, Rn. 11; EuGH, Urt. v. 14.01.1997, Comateb et al., verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Slg. 1997, I-165, Rn. 20; EuGH, Urt. v. 02.12.1997, Fantask et al. ./. Industriministeriet, Rs. C-188/95, Slg. 1997, I-6783, Rn. 38; EuGH, Urt. v. 08.03.2001, Metallgesellschaft et al., Rs. C-397/98, Slg. 2001, I-1727, Rn. 84; U. Lange, Anspruch auf Erstattung, S. 44 ff.; Henrichs, S. 52 f.; Mössner, FS Rengeling, 339 (345); Friedrich/Nagler, DStR 2005, 403 (405).

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ville beschränkte sich somit auf die für das erste Halbjahr 1978 entrichtete Umsatzsteuer. b) Ansprüche aus Staatshaftung Europarechtlich waren die Mitgliedstaaten also durch die Sechste Richtlinie zur Gewährung der dort vorgesehenen Steuerbefreiungen verpflichtet, und für die Zeit der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie bestand diese Pflicht sogar direkt gegenüber den begünstigten Bürgern und Unternehmen. Das Beispiel der S. A. Dangeville zeigt jedoch, dass die französischen Staatsorgane weder zu einer wirksamen Richtlinienumsetzung noch sonst zu einer effektiven Garantie dieser europarechtlichen Rechte willens oder in der Lage waren. Da vor den französischen Gerichten insbesondere kein Rechtsschutz unter Berufung auf die unmittelbare Richtlinienwirkung zu erlangen war, stellt sich die Frage nach einer möglichen Kompensation durch den französischen Staat im Wege der Staatshaftung wegen Europarechtsverstoßes. aa) Grundlagen und Anwendbarkeit Eine derartige Haftung der Mitgliedstaaten für Verstöße gegen europäisches Recht hat der EuGH erstmals im grundlegenden, ebenfalls einen Fall unterlassener Richtlinienumsetzung betreffenden Francovich-Urteil von 1991 aus dem Wesen der Gemeinschaftsrechtsordnung abgeleitet und sich dabei maßgeblich auf die Effet-utile-Doktrin, das Rechtsschutzbedürfnis der Bürger und die Pflicht der Mitgliedstaaten zur Gemeinschaftstreue gestützt112. Später zog er auch den hinter Art. 340 Abs. 2 AEUV (vormals Art. 288 Abs. 2 EGV) stehenden Grundsatz heran, dass öffentliche Stellen für diejenigen Schäden haften, die in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursacht wurden113. Die Bedingungen für eine mitgliedstaatliche Staatshaftung machte der Gerichtshof zunächst allgemein von der Art des Rechtsverstoßes abhängig und konkretisierte sie anschließend weiter. Danach ist erforderlich, dass die verletzte europarechtliche Norm die Verleihung von Rechten an die Geschädigten bezweckt, der Verstoß gegen das Europarecht als hinreichend qualifiziert anzusehen ist und ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden besteht114. 112 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Francovich et al., verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 31 ff.; vgl. hierzu Böhm, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 12, Rn. 83 ff.; Streinz/Gellermann, Art. 340 AEUV, Rn. 38 ff.; Eilmansberger, S. 25 ff.; Bertelmann, S. 59 ff.; Hidien, S. 9 ff.; Zenner, S. 9 ff.; Henrichs, S. 53 f.; C. Albers, Haftung, S. 72 ff.; Grzeszick, EuR 1998, 417 (417 ff.). 113 EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/ 93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 28 f. 114 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Francovich et al., verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 38 ff.; EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 51 ff.; EuGH, Urt. v. 08.10.1996, Dillenkofer et al. ./. Bundesrepublik Deutschland, verb. Rs. C-178/94 u. a.,

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Im Kontext unterbliebener Richtlinienumsetzung greift die Staatshaftung typischerweise dann ein, wenn die Voraussetzungen einer unmittelbaren Richtlinienwirkung nicht vorliegen, z. B. mangels hinreichender Bestimmtheit der Norm oder im Horizontalverhältnis zwischen Privaten. Der EuGH hat indes mehrfach klargestellt, dass die unmittelbare Wirkung lediglich als Mindestgarantie für die Wirksamkeit von Richtlinien zu betrachten ist115. Vermag sich die unmittelbare Wirkung wie vorliegend im Dangeville-Fall nicht entfalten, weil ihre Durchsetzung an nationalen Rechtsschutzdefiziten scheitert, können somit auch weitere Sanktionsinstrumente wie die europarechtliche Staatshaftung herangezogen werden116. Dies ist nur folgerichtig, da sonst die umsetzungssäumigen Mitgliedstaaten Richtlinienrechte fortwährend missachten und so ihre effektive Wirkung zunichtemachen könnten, ohne im Verhältnis zum Bürger einem Haftungsrisiko zu unterliegen. Sowohl die unmittelbare Richtlinienwirkung als auch die Staatshaftung der Mitgliedstaaten zielen auf die praktische Wirksamkeit des Europarechts für den Bürger ab und ergänzen einander zugunsten eines möglichst weitgehenden Rechtsschutzes117. In ihrer Staatshaftungsklage bezog sich die S. A. Dangeville explizit auf die Nichtumsetzung der Richtlinie und die Anwendung des richtlinienwidrigen nationalen Rechts durch die französische Verwaltungsbehörde. Beide gerügten Verstöße ereigneten sich in den 1970er Jahren, also noch bevor der EuGH die europarechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten formell anerkannt hat. Da die Urteile des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren generell Rückwirkung entfalten118, sind Gerichte und Behörden aber regelmäßig verpflichtet, die Rechtspre-

Slg. 1996, I-4845, Rn. 21; Prokopf, S. 228 ff.; Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 176 ff.; Nacimiento, S. 62 ff. Näher sogleich u., bb). 115 EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/ 93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 20 ff.; EuGH, Urt. v. 20.03.1997, Kommission ./. Deutschland, Rs. C-96/95, Slg. 1997, I-1653, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 17.09.1997, Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft mbH ./. Bundesbaugesellschaft Berlin mbH, Rs. C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Rn. 44; zustimmend Eilmannsberger, S. 223 ff.; Böhm, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 12, Rn. 138; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 340 AEUV, Rn. 56. 116 Vgl. Henrichs, S. 76; Böcker, S. 113. 117 Vgl. EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 22; Höreth, S. 64 f. 118 EuGH, Urt. v. 27.03.1980, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Denkavit italiana, Rs. 61/79, Slg. 1980, 1205, Rn. 16; EuGH, Urt. v. 02.02.1988, Barra ./. Belgischer Staat, Rs. 309/85, Slg. 1988, 355, Rn. 11; EuGH, Urt. v. 12.06.1980, Express Dairy Foods, Rs. 130/79, Slg. 1980, 1887, Rn. 14; EuGH, Urt. v. 12.02.2008, Kempter, Rs. C-2/06, Slg. 2008, I-411, Rn. 35. Dogmatisch lässt sich dies auch damit begründen, dass durch die Rechtsprechung des EuGH die Rechtslage lediglich festgestellt, nicht aber neues Recht geschaffen wird; vgl. GA Warner, Schlussanträge v. 30.11.1976 in der Rs. 33/76, Rewe ./. Landwirtschaftskammer für das Saarland, Slg. 1976, 1989 (2006); Zenner, S. 24. Der Gerichtshof kann aber die Rückwirkung seiner Urteile ausnahmsweise zeitlich begrenzen; grundlegend EuGH, Urt. v. 08.04.1976, Defrenne ./. Sabena,

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chung des Gerichtshofs auch auf in der Vergangenheit liegende Sachverhalte anzuwenden119. Daher hatte der Conseil d’État bei der Entscheidung über den Staatshaftungsanspruch der S. A. Dangeville 1996 bereits die gesamte seither ergangene europäische Rechtsprechung zu berücksichtigen. bb) Anspruchsbegründung Ausgangspunkt für einen europarechtlichen Staatshaftungsanspruch ist, dass die verletzte Vorschrift des Europarechts die Verleihung subjektiver Rechte an den Einzelnen bezweckt. Bei Richtlinien müssen diese Rechte zum Regelungsziel gehören und inhaltlich bestimmbar sein120. Hier wurden den Begünstigten durch die Sechste Richtlinie hinreichend bestimmte subjektive Rechte auf Befreiung von der Umsatzsteuer eingeräumt, die der Zielverbindlichkeit der Richtlinie unterlagen121. Weiterhin muss ein hinreichend qualifizierter mitgliedstaatlicher Verstoß gegen das Europarecht vorliegen. Mit dieser Voraussetzung ermöglicht der EuGH eine differenzierte Beurteilung im Einzelfall unter Berücksichtigung von Ermessens- und Entscheidungsspielräumen des Mitgliedstaates, die gerade bei der Normsetzung bestehen können122. Ein Europarechtsverstoß ist dann hinreichend qualifiziert, wenn der Mitgliedstaat die Grenzen seines Ermessens offenkundig und erheblich überschritten hat123. Für diese Feststellung sind im Rahmen einer Gesamtbetrachtung verschiedene vom EuGH entwickelte Kriterien heranzuziehen wie etwa die Klarheit und Genauigkeit der verletzten Vorschrift, der Umfang des gewährten Ermessens, der Verschuldensgrad (Vorsatz oder Fahrlässigkeit; Entschuldbarkeit eines möglichen Rechtsirrtums) oder eine etwaige Mitverantwortung eines Gemeinschaftsorgans124. Ein hinreichend qualifizierter Verstoß Rs. 43/75, Slg. 1976, 455, Rn. 69 ff. Zum Ganzen Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 267 AEUV, Rn. 52 ff. 119 EuGH, Urt. v. 27.03.1980, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Salumi, verb. Rs. 66/79, 127/79 und 128/79, Slg. 1980, 1237, Rn. 9 ff.; siehe auch u., IV. 2. 120 EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Francovich et al., verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 40; EuGH, Urt. v. 08.10.1996, Dillenkofer et al. ./. Bundesrepublik Deutschland, verb. Rs. C-178/94 u. a., Slg. 1996, I-4845, Rn. 21, 30 ff.; EuGH, Urt. v. 02.04.1998, Norbrook Laboratories ./. Ministry of Agriculture, Fisheries and Food, Rs. C-127/95, Slg. 1998, I-1531, Rn. 108; siehe auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 340 AEUV, Rn. 55; Cornils, S. 124 f.; Claßen, S. 130 ff. 121 Siehe schon o., a) bb). 122 Streinz/Gellermann, Art. 340 AEUV, Rn. 47; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 340 AEUV, Rn. 46 f., 58 ff. 123 EuGH, Urt. v. 08.10.1996, Dillenkofer et al. ./. Bundesrepublik Deutschland, verb. Rs. C-178/94 u. a., Slg. 1996, I-4845, Rn. 25, m.w. N.; EuGH, Urt. v. 15.06.1999, Rechberger et al., Rs. C-140/97, Slg. 1999, I-3499, Rn. 50. 124 EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/ 93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 56; EuGH, Urt. v. 26.03.1996, The Queen ./. H. M. Treasury, ex parte British Telecommunications, Rs. C-392/93, Slg. 1996, I-1631,

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lässt sich bereits bei Vorliegen nur eines Kriteriums oder gar – im Falle fehlenden oder erheblich reduzierten mitgliedstaatlichen Ermessens – durch die bloße Verletzung des Europarechts selbst begründen125. Der Staatshaftungsanspruch setzt ferner einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen dem Europarechtsverstoß und dem entstandenen Schaden voraus126. Diese Kausalität bestimmt sich auf der Grundlage der Adäquanztheorie und ist etwa dann zu verneinen, wenn der Schaden auch bei rechtmäßigem Alternativverhalten eingetreten wäre oder der Ursachenzusammenhang durch weitere Handlungen unterbrochen wurde127. (1) Legislatives Unrecht Die mitgliedstaatliche Haftung für legislatives Unrecht hat der EuGH ausdrücklich anerkannt128. Im Kontext nicht ordnungsgemäßer Richtlinienumsetzung ist ein hinreichend qualifizierter Verstoß ohne weiteres zu bejahen, wenn die Umsetzung entweder gar nicht oder verspätet erfolgt ist. Da den Mitgliedstaaten nach Inkrafttreten der Richtlinie keinerlei Entscheidungsspielraum hinsichtlich der Umsetzungsfrist zusteht, führt die Nichtumsetzung bei Fristablauf stets zu einem haftungsrechtlich erheblichen Verstoß, ohne dass es auf die Dauer der Säumnis oder die Gründe hierfür ankommt129. Da die Sechste Richtlinie in Rn. 42; EuGH, Urt. v. 15.06.1999, Rechberger et al., Rs. C-140/97, Slg. 1999, I-3499, Rn. 50; EuGH, Urt. v. 04.07.2000, Haim, Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123, Rn. 43; EuGH, Urt. v. 18.01.2001, Stockholm Lindöpark, Rs. C-150/99, Slg. 2001, I-493, Rn. 39; EuGH, Urt. v. 28.06.2001, Larsy, Rs. C-118/00, Slg. 2001, I-5063, Rn. 39; siehe auch Säuberlich, S. 81 ff.; Diehr, S. 111 ff. 125 EuGH, Urt. v. 23.05.1996, The Queen ./. Ministry of Agriculture, Fisheries and Food, ex parte Hedley Lomas (Ireland), Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 28; EuGH, Urt. v. 08.10.1996, Dillenkofer et al. ./. Bundesrepublik Deutschland, verb. Rs. C-178/ 94 u. a., Slg. 1996, I-4845, Rn. 25; Streinz/Gellermann, Art. 340 AEUV, Rn. 48; Böhm, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 12, Rn. 126; Diehr, S. 119. 126 EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/ 93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 56; EuGH, Urt. v. 15.06.1999, Rechberger et al., Rs. C-140/97, Slg. 1999, I-3499, Rn. 72. 127 EuGH, Urt. v. 15.06.1999, Rechberger et al., Rs. C-140/97, Slg. 1999, I-3499, Rn. 67 ff., 76; Streinz/Gellermann, Art. 340 AEUV, Rn. 28, 52; Cornils, S. 125 f.; Säuberlich, S. 90 ff. 128 EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/ 93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 35 f.; Säuberlich, S. 23 ff.; Ehlers, JZ 1996, 776 (776 ff.). 129 EuGH, Urt. v. 08.10.1996, Dillenkofer et al. ./. Bundesrepublik Deutschland, verb. Rs. C-178/94 u. a., Slg. 1996, I-4845, Rn. 20 ff., 53 f.; EuGH, Urt. v. 24.09.1998, Brinkmann Tabakfabriken ./. Skatteministeriet, Rs. C-319/96, Slg. 1998, I-5255, Rn. 28; Streinz/Gellermann, Art. 340 AEUV, Rn. 49; Schoißwohl, S. 21. Bei inhaltlich fehlerhafter Umsetzung ist dagegen für einen hinreichend qualifizierten Verstoß erforderlich, dass die mitgliedstaatliche Regelung in evidentem Widerspruch zu Wortlaut und Ziel der Richtlinie steht; vgl. EuGH, Urt. v. 26.03.1996, The Queen ./. H. M. Treasury, ex parte British Telecommunications, Rs. C-392/93, Slg. 1996, I-1631, Rn. 42 ff.;

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Frankreich während des ersten Halbjahres 1978 nicht umgesetzt war, ergibt sich auf dieser Grundlage also ein hinreichend qualifizierter Verstoß des französischen Gesetzgebers gegen die in der Richtlinie enthaltenen individualschützenden Rechte, zu deren Umsetzung Frankreich nach Art. 249 Abs. 3 i.V. m. Art. 10 EGV (jetzt Art. 288 Abs. 3 AEUV i.V. m. Art. 4 Abs. 3 EUV) ohne weiteres Ermessen verpflichtet war. In Bezug auf die Kausalität ist festzustellen, dass der Schaden, der den von der Sechsten Richtlinie Begünstigten durch überzahlte Steuern entstanden ist, bei fristgerechter Umsetzung der Richtlinie in Frankreich aller Wahrscheinlichkeit nach ausgeblieben wäre. Sowohl die richtlinienwidrige Steuererhebung als auch die sie bestätigenden nationalen Gerichtsurteile beruhten allesamt auf dem europarechtswidrigen französischen Steuergesetz und knüpften damit direkt an den Verstoß des Gesetzgebers an, ohne diesen zu korrigieren und damit den Zurechnungszusammenhang zu unterbrechen130. Auch an der Kausalität der unterlassenen Richtlinienumsetzung für den Schaden besteht daher kein Zweifel, so dass bereits der Europarechtsverstoß des französischen Gesetzgebers eine Staatshaftung Frankreichs zu begründen vermag. (2) Administratives Unrecht Überdies kann sich eine solche Haftung auch aus dem Vollzug des richtlinienwidrigen französischen Steuergesetzes durch die Steuerbehörde ergeben. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Europarechts131 sind die mitgliedstaatlichen Verwaltungsbehörden dazu verpflichtet, nationales Recht bei fehlender Europarechtskonformität unangewendet zu lassen132. Die Missachtung dieser Pflicht ist daher grundsätzlich geeignet, die europarechtliche Staatshaftung auszulösen, deren allgemeine Voraussetzungen auch für Fälle exekutiven Unrechts gelten133. Schwarze/Berg, Art. 340 AEUV, Rn. 87; Böhm, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 12, Rn. 128. 130 Der Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (175), stellte primär auf die Vollzugsentscheidung der Verwaltung ab und ging hier daher nicht von einer „echten“ Haftung für legislatives Unrecht aus; siehe o., 2. d) bb). Sofern ein rechtswidriges Gesetz vollzogen wird und dadurch ein Schaden eintritt, lässt sich der Haftungsanspruch aber zumindest auch auf legislatives Unrecht stützen. Vgl. zur Rechtslage im französischen Staatshaftungsrecht Woehrling, in: Magiera/Sommermann, S. 45 (52 ff.). 131 Siehe die Nw. o., Teil 1, B. III. 132 EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Simmenthal, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 17 f.; EuGH, Urt. v. 22.06.1989, Fratelli Costanzo ./. Comune di Milano, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839, Rn. 28 ff. Siehe bereits o., Teil 2, B. IV. 1., m.w. N. 133 EuGH, Urt. v. 23.05.1996, The Queen ./. Ministry of Agriculture, Fisheries and Food, ex parte Hedley Lomas (Ireland), Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 23 ff.; EuGH, Urt. v. 24.09.1998, Brinkmann Tabakfabriken ./. Skatteministeriet, Rs. C-319/

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Vorliegend erfolgte die Steuererhebung, obwohl die nunmehr unmittelbar wirksame Sechste Richtlinie genau definierte Befreiungstatbestände enthielt, die den Vollzugsbehörden diesbezüglich keinerlei Ermessen gewährten. Die europarechtliche Rechtslage stand aufgrund der bereits damals gefestigten Rechtsprechung des EuGH zum Anwendungsvorrang und zur unmittelbaren Richtlinienwirkung eindeutig fest, so dass auch von einem entschuldbaren Rechtsirrtum der Behörde unter den gegebenen Umständen nicht ausgegangen werden kann. Daraus ist zu schließen, dass die rechtswidrige Steuererhebung in Frankreich einen weiteren hinreichend qualifizierten Verstoß darstellt, der als notwendige Bedingung für den eingetretenen Schaden kausal geworden ist. (3) Judikatives Unrecht Weitere Anknüpfungspunkte für eine Staatshaftung Frankreichs bieten die beiden Urteile des Conseil d’État, die der S. A. Dangeville die Durchsetzung ihres Anspruchs aus der Sechsten Richtlinie versagt haben. Der EuGH hat erstmals 1996 in Anknüpfung an das völkerrechtliche Prinzip der Haftungseinheit des Staates festgestellt, dass die europarechtliche Staatshaftung unabhängig davon eingreife, welches staatliche Organ durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat134. Seit 2003 erkennt der Gerichtshof ausdrücklich die Haftung der Mitgliedstaaten für letztinstanzliches Judikativunrecht an135. Diese kommt auch dann zum Zuge, wenn das nationale Gerichtsurteil in letzter Instanz einen schon zuvor entstandenen Europarechtsverstoß festschreibt, denn die Endgültigkeit eines solchen Urteils führt zu einem erhöhten Rechtsschutzbedürfnis des Einzelnen, dem mit einem Staatshaftungsprozess Rechnung getragen werden kann136. Auf diese Weise ist es möglich, die Effektivität des Europarechts auch gegenüber den nationalen Höchstgerichten zu sichern137. Der Grundsatz der Rechtskraft steht dem EuGH zufolge einer derartigen Haftung nicht entgegen, da diese lediglich zum Ersatz des entstandenen

96, Slg. 1998, I-5255, Rn. 30; Böhm, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 12, Rn. 98, 105 ff.; Diehr, S. 222; vgl. auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 340 AEUV, Rn. 57. 134 EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/ 93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 32 ff.; bestätigt in EuGH, Urt. v. 01.06.1999, Konle, Rs. C-302/97, Slg. 1999, I-3099, Rn. 62; EuGH, Urt. v. 04.07.2000, Haim, Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123, Rn. 27. Siehe auch Krieger, JuS 2004, 855 (858). 135 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 52; EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 30 ff. Siehe auch Kluth, DVBl. 2004, 393 (393 ff.); Kremer, NJW 2004, 480 (480 ff.); Brenner/Huber, DVBl. 2004, 863 (866); zu Einwänden und Kritik ausführlich Bertelmann, S. 92 ff. 136 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 34; Böhm, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 12, Rn. 111. 137 Frenz, DVBl. 2003, 1522 (1523).

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Schadens, nicht aber zwangsläufig zur Abänderung der schadensbegründenden Gerichtsentscheidung führt138. Die Staatshaftung für judikatives Unrecht richtet sich nach den allgemeinen Haftungsvoraussetzungen; allerdings kann hier ein hinreichend qualifizierter Verstoß unter Berücksichtigung der Besonderheit der richterlichen Funktion und der Belange der Rechtssicherheit nur angenommen werden, wenn das betreffende Gericht offenkundig gegen das Europarecht verstoßen hat139. Bei der erforderlichen Einzelfallbeurteilung ist neben den gängigen Kriterien eine etwaige Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV (früher Art. 234 Abs. 3 EGV) miteinzubeziehen 140. Auch in Fällen judikativen Unrechts genügt indes die offenkundige Verkennung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH, um einen haftungsauslösenden hinreichend qualifizierten Verstoß zu begründen141. (a) Urteil des Conseil d’État von 1986 Misst man zunächst das Urteil des Conseil d’État von 1986 im ersten Prozess der S. A. Dangeville an diesen Grundsätzen, ist festzustellen, dass die ständige Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Richtlinienwirkung gänzlich missachtet wurde142. Anstatt sich nach der für ihn verbindlichen Auslegung des damaligen EWGV durch den EuGH zu richten, bestätigte der Conseil d’État seine Cohn-Bendit-Rechtsprechung und vertrat damit eine fundamental gegenteilige Position, ohne seiner Vorlagepflicht als nationales Höchstgericht nachzukommen143. Dieses Vorgehen in Opposition zum EuGH macht deutlich, dass hier schon ein vorsätzlicher Europarechtsverstoß in Betracht kommt, ein entschuldba138 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 38 ff.; Frenz, DVBl. 2003, 1522 (1523); kritisch Kremer, EuR 2007, 470 (475 f.). Die Rechtskraft europarechtswidriger Urteile mitgliedstaatlicher Gerichte kann aber durchbrochen werden, um die Rückforderung einer unter Verstoß gegen Europarecht gewährten Beihilfe zu ermöglichen; EuGH, Urt. v. 18.07.2007, Lucchini, Rs. C-119/05, Slg. 2007, I6199, Rn. 63; Kremer, EuR 2007, 470 (488 ff.); ders., EuZW 2007, 726 (727 ff.); Nebbia, ELRev. 33 (2008), 427 (427 ff.). 139 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 53; EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 32; Bertelmann, S. 131 ff. 140 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 54 f.; EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 43. Zur Staatshaftung für judikatives Unrecht bei Vorlagepflichtverletzung näher o., Teil 2, A. III. 2. b). 141 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 56; EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 43. 142 Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (144); Breuer, JZ 2003, 433 (437); ders., BayVBl. 2003, 586 (588); Germelmann, S. 304. Mitnichten ergab sich also die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Entscheidung erst aus einem später ergangenen EuGH-Urteil, wie Classen, JZ 2006, 157 (165, Fn. 73), fälschlicherweise andeutet. 143 Siehe o., 2. a), b) aa).

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rer Rechtsirrtum aber jedenfalls auszuschließen ist. Aufgrund der Eindeutigkeit der europarechtlichen Rechtslage stellt das Urteil des Conseil d’État von 1986 somit einen offenkundigen, hinreichend qualifizierten Verstoß dar, der die Wirksamkeit der Rechte aus der Sechsten Richtlinie entscheidend behindert hat. (b) Urteil des Conseil d’État von 1996 Aus heutiger Sicht stellt sich schließlich die Frage, ob auch das den französischen Staatshaftungsprozess abschließende abweisende Urteil des Conseil d’État von 1996 als offenkundig europarechtswidrig und damit seinerseits staatshaftungsauslösend einzustufen ist. Da der Conseil d’État den geltend gemachten Anspruch der S. A. Dangeville ausschließlich unter Berufung auf die sog. distinction des contentieux ablehnte144, ist zu prüfen, ob die Anwendung dieser Verfahrensregel mit dem Europarecht vereinbar war. Sofern auf europäischer Ebene keine einschlägigen Vorschriften vorhanden sind, richtet sich die Durchsetzung europarechtlicher Rechte vor den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten nach dem innerstaatlichen Recht, das die zuständigen Stellen zu bestimmen und die verfahrens- und prozessrechtlichen Modalitäten festzulegen hat145. Diese nationale Autonomie findet jedoch ihre Grenze in der aus Art. 4 Abs. 3 EUV (früher Art. 10 EGV) folgenden mitgliedstaatlichen Kooperationspflicht, europarechtliche Rechte wirksam zu schützen146.

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Siehe o., 2. d) bb). EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Rewe ./. Landwirtschaftskammer für das Saarland, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Comet BV ./. Produktschap voor Siergewassen, Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, Rn. 11 ff.; EuGH, Urt. v. 21.09.1983, Deutsche Milchkontor GmbH et al. ./. Deutschland, verb. Rs. 205/82 bis 215/82, Slg. 1983, 2633, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 29.06.1988, Deville ./. Administration des impôts, Rs. 240/87, Slg. 1988, 3513, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Peterbroeck, Van Campenhout & Cie ./. Belgischer Staat, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, van Schijndel und van Veen, verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 20.09.2001, Courage und Crehan, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 11.09.2003, Safalero, Rs. C-13/01, Slg. 2003, I-8679, Rn. 49; EuGH, Urt. v. 13.03.2007, Unibet, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 39; Gärditz, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 35, Rn. 31 f., 55; Böcker, S. 171 f.; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (10); Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 4 EUV, Rn. 81; Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 49; Mössner, FS Rengeling, 339 (345). 146 EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Rewe ./. Landwirtschaftskammer für das Saarland, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Comet BV ./. Produktschap voor Siergewassen, Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, Rn. 11 ff.; EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Simmenthal, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 19.06.1990, The Queen ./. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Rn. 19 f.; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Peterbroeck, Van Campenhout & Cie ./. Belgischer Staat, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I4599, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 13.03.2007, Unibet, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 38; Böcker, S. 172 f.; U. Lange, Anspruch auf Erstattung, S. 101 f. 145

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

Gerade das Prinzip des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes ist als allgemeiner europarechtlicher Grundsatz anerkannt, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten sowie aus Art. 6 und 13 EMRK ergibt und außerdem in Art. 47 GRC niedergelegt ist147. Nunmehr bestätigt auch Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV explizit die Pflicht der Mitgliedstaaten, die Rechtsbehelfe einzurichten, die für einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen erforderlich sind148. Die jeweiligen Regelungen des nationalen Rechts dürfen dabei nicht ungünstiger ausgestaltet sein oder angewendet werden als bei entsprechenden rein innerstaatlichen Verfahren (Grundsatz der Äquivalenz), und sie dürfen die Ausübung der europarechtlichen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Grundsatz der Effektivität)149. Beide Grundsätze enthalten unmittelbar wirksame Handlungsanweisungen für die nationalen Rechtsanwendungsorgane150. Ob die Anforderungen des Effektivitätsgebots erfüllt sind, ist für jeden Fall nach der Wirkung der nationalen Verfahrensvorschrift unter Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesamtverfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den nationalen Stellen zu beurteilen, wobei auch die Grundsätze des nationalen Rechtsschutzsystems wie etwa die Rechtssicherheit miteinbezogen werden können151. Insge147

Siehe bereits o., Teil 2, A. I. 1., mit zahlreichen Nw. Mit der durch den Vertrag von Lissabon erreichten Rechtsverbindlichkeit von Art. 47 GRC dürfte das korrespondierende subjektive Recht des Einzelnen auf effektiven Rechtsschutz noch stärker in den Vordergrund treten; J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung, S. 189 f. 149 EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Rewe ./. Landwirtschaftskammer für das Saarland, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Comet BV ./. Produktschap voor Siergewassen, Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, Rn. 11 ff.; EuGH, Urt. v. 09.11.1983, Amministrazione delle Finanze dello Stato ./. San Giorgio, Rs. 199/82, Slg. 1983, 3595, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 02.02.1988, Barra ./. Belgischer Staat, Rs. 309/85, Slg. 1988, 355, Rn. 18; EuGH, Urt. v. 29.06.1988, Deville ./. Administration des impôts, Rs. 240/ 87, Slg. 1988, 3513, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Peterbroeck, Van Campenhout & Cie ./. Belgischer Staat, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, van Schijndel und van Veen, verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 16.05.2000, Preston et al., Rs. C-78/98, Slg. 2000, I3201, Rn. 31; EuGH, Urt. v. 20.09.2001, Courage und Crehan, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 19.06.2003, Eribrand, Rs. C-467/01, Slg. 2003, I-6471, Rn. 62; EuGH, Urt. v. 11.09.2003, Safalero, Rs. C-13/01, Slg. 2003, I-8679, Rn. 49; EuGH, Urt. v. 09.12.2003, Kommission ./. Italien, Rs. C-129/00, Slg. 2003, I-14637, Rn. 25; EuGH, Urt. v. 26.10.2006, Mostaza Claro, Rs. C-168/05, Slg. 2006, I-10421, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 13.03.2007, Unibet, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 43. 150 Dörr, Rechtsschutzauftrag, S. 49 f.; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 122, Rn. 417; C. Albers, Haftung, S. 162; Giegerich, JuS 1997, 714 (718); Schwarze/Hatje, Art. 4 EUV, Rn. 36. 151 EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Peterbroeck, Van Campenhout & Cie ./. Belgischer Staat, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Rn. 14; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, van Schijndel und van Veen, verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 01.06.1999, Eco Swiss, Rs. C-126/97, Slg. 1999, I-3055, Rn. 46; EuGH, Urt. v. 21.11.2002, Cofidis, Rs. C-473/00, Slg. 2002, I-10875, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 13.03. 2007, Unibet, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 54; EuGH, Urt. v. 07.06.2007, van 148

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samt muss sichergestellt sein, dass die Ziele der europarechtlichen Regelungen ihre Verwirklichung finden152. Die vorliegend angewandte französische Prozessrechtsregel der distinction des contentieux gilt unterschiedslos auch für Inlandsfälle, so dass der Äquivalenzgrundsatz hier nicht betroffen ist. Vielmehr könnte die Vereitelung der Durchsetzung des Staatshaftungsanspruchs dem Effektivitätsgebot zuwiderlaufen. Wie aus den Ausführungen des Regierungskommissars hervorgeht, wurde im Staatshaftungsprozess vor dem Conseil d’État das Effektivitätsgebot unter Berufung auf die Rechtsprechung des EuGH thematisiert. Die distinction des contentieux wurde dabei als eine dem nationalen Rechtsschutzsystem immanente grundlegende Vorschrift angesehen, die die Rechtssicherheit und richterliche Autorität schütze und mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts vereinbar sei153. Die Herleitung dieses Ergebnisses erfolgte allerdings lediglich auf abstrakt-genereller Ebene, ohne dass die Auswirkungen auf den Rechtsschutz im konkreten Fall Berücksichtigung fanden154. Damit steht das Vorgehen des Conseil d’État in deutlichem Gegensatz zum vom EuGH vorgegebenen Prüfungsmaßstab. Denn der EuGH stellt regelmäßig auf die tatsächlichen und rechtlichen Aspekte des Einzelfalls ab und überprüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, ob die Verwirklichung des Europarechts durch die nationale Bestimmung „praktisch“ oder „tatsächlich“ vereitelt bzw. übermäßig erschwert wird155. Diese Beurteilungsgrundlage begünstigt zwar nicht der Weerd et al., verb. Rs. C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I-4233, Rn. 33; von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 279 f.; ders., DVBl. 2008, 537 (539); Heinze, EuR 2008, 654 (662 f.). 152 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (9); Diehr, S. 136 f.; Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 271; vgl. auch EuGH, Urt. v. 09.03.1978, Amministrazione delle finanze dello Stato ./. Simmenthal, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 21 ff.; EuGH, Urt. v. 08.03.1979, Salumificio di Cornuda, Rs. 130/78, Slg. 1979, 867, Rn. 23 ff.; EuGH, Urt. v. 22.10.1998, Ministero delle Finanze ./. IN.CO.GE.’90 et al., verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307, Rn. 14. Bislang hat sich der EuGH allerdings noch nicht klar dazu geäußert, ob das Europarecht die Mitgliedstaaten ggf. auch dazu verpflichtet, europarechtswidrige rechtskräftige Entscheidungen ihrer Gerichte aufzuheben, wenn diese unter Verstoß gegen das Effektivitätsgebot zustandegekommen sind; vgl. EuGH, Urt. v. 16.03.2006, Kapferer, Rs. C-234/04, Slg. 2006, I2585, Rn. 22. 153 Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (178 f.); siehe näher o., 2. d) bb); zustimmend Schoißwohl, S. 172; zur Kritik M. A. Jarvis, Application, S. 404, Fn. 193. 154 Vgl. auch die zutreffende Analyse von Dufourcq, RFDA 2003, 953 (958). 155 EuGH, Urt. v. 21.11.2002, Cofidis, Rs. C-473/00, Slg. 2002, I-10875, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 07.06.2007, van der Weerd et al., verb. Rs. C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I-4233, Rn. 40; EuGH, Urt. v. 03.09.2009, Fallimento Olimpiclub, Rs. C-2/08, Slg. 2009, I-7501 (= EuZW 2009, 739), Rn. 27 ff.; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Peterbroeck, Van Campenhout & Cie ./. Belgischer Staat, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I-4599, Rn. 14, 21; von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 279 f.; Heinze, EuR 2008,

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

die Herausbildung einer allgemeingültigen Dogmatik, ermöglicht dem Gerichtshof aber andererseits hinreichende Flexibilität, um zu einem der jeweiligen Fallkonstellation angemessenen Ergebnis zu gelangen156. Im Ausgangsfall lässt sich feststellen, dass die Anwendung der distinction des contentieux das endgültige Scheitern des Rückzahlungsbegehrens der S. A. Dangeville vor französischen Gerichten bedeutete, so dass dort eine Durchsetzung dieser europarechtlich begründeten Rechtsposition fortan ausgeschlossen war. Diese Konsequenz war dem Regierungskommissar auch bewusst157, er begnügte sich allerdings mit dem Verweis auf die verbesserten Rechtsschutzmöglichkeiten für künftige Streitfälle. Die Besonderheiten des Ausgangsverfahrens, das durch mehrere fortwirkende Europarechtsverstöße aller drei französischen Staatsgewalten gekennzeichnet ist, hatten dagegen, anders als vom EuGH gefordert, keinerlei Einfluss auf das Urteil des Conseil d’État. Auch eine europarechtlich tragfähige Rechtfertigung für die Anwendung der distinction des contentieux lässt sich nicht erkennen. Das „Dammbruchargument“ des Regierungskommissars, dass eine Ausnahme von der prozessrechtlichen Regel in dieser besonderen Situation generell schwerwiegende Konsequenzen für die Stabilität durch Richterrecht geschaffener Rechtsbeziehungen befürchten lasse158, erweist sich als wenig stichhaltig, wenn man den Gerichten auch in zukünftigen Verfahren eine genaue Prüfung der jeweiligen Umstände abverlangt. Bei der gebotenen Einzelfallanalyse ergibt sich hier, dass europarechtlich bereits mit dem Beginn der unmittelbaren Wirkung der Sechsten Richtlinie Rechtssicherheit zugunsten des Rückzahlungsanspruchs bestand. Die maßgeblichen Fristen159 und Prozessvoraussetzungen zur Durchsetzung des Anspruchs im nationalen Verfahren wurden von der S. A. Dangeville insgesamt eingehalten, so dass eine Umgehung oder ein Missbrauch auszuschließen war. Das Scheitern des primären Rechtsschutzes beruhte also nicht auf einem Versäumnis der Klägerin, sondern allein darauf, dass der Conseil d’État die Anerkennung der unmittel654 (662 ff.); Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (10); Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 186. 156 Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 123, Rn. 419; Streinz/ Streinz, Art. 4 EUV, Rn. 53. 157 Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (183): „malchance“, „peut paraître injuste“; siehe o., 2. d) bb). 158 Regierungskommissar Goulard, a. a. O., S. 183: „[. . .] il faudrait pratiquer [. . .] une dérogation dont les conséquences seraient excessives quant à la stabilité des situations juridiques créées par le juge. Un seul cas particulier [. . .] ne peut justifier une telle dérogation.“ 159 Die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung ist im Interesse der Rechtssicherheit mit dem europarechtlichen Effektivitätsgrundsatz vereinbar; EuGH, Urt. v. 17.11.1998, Aprile ./. Amministrazione delle Finanze dello Stato, Rs. C-228/96, Slg. 1998, I-7141, Rn. 19, m.w. N.; EuGH, Urt. v. 11.07.2002, Marks & Spencer, Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Rn. 35; Lohse, UR 2003, 182 (186).

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baren Richtlinienwirkung verweigerte. Liegt die Verantwortung für den Misserfolg des Erstattungsprozesses wie hier ausschließlich in der Sphäre des Mitgliedstaates, bleibt für die Anwendung des Grundsatzes vom Vorrang des Primärrechtsschutzes kein Raum mehr, denn der Staat darf dem Bürger nicht seinen eigenen Europarechtsverstoß entgegenhalten160. Weiterhin erscheint es schwer vorstellbar, dass nach französischem Recht ein legitimes Interesse an der Perpetuierung der Wirkungen europarechtswidriger Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen bestehen könnte. Vielmehr lässt sich eine Kompensation der illegalen Akte durch Anerkennung eines Staatshaftungsanspruchs eher als Stärkung denn als Gefahr für die richterliche Autorität ansehen161. Demnach kann festgestellt werden, dass das Staatshaftungsurteil des Conseil d’État von 1996 durch die abstrakt-schematische Zugrundelegung der distinction des contentieux die Realisierung des europarechtlichen Anspruchs der S. A. Dangeville ungerechtfertigt verhindert hat. Der Conseil d’État hat somit das aus Art. 10 EGV (jetzt Art. 4 Abs. 3 EUV) abgeleitete Effektivitätsgebot verletzt162 und dadurch die Fortwirkung der vorherigen Verletzungen des Europarechts verursacht. Zu klären bleibt, ob dieser gerichtliche Europarechtsverstoß als offenkundig zu qualifizieren ist, wie es für die Haftung wegen judikativen Unrechts erforderlich ist. Zum Effektivitätsgebot stand dem Conseil d’État bereits eine genügend ausdifferenzierte Rechtsprechung des EuGH zur Verfügung. Es war also hinreichend klar und genau konturiert; weiterhin räumte es den mitgliedstaatlichen Gerichten nicht nur die Befugnis zu einer umfassenden Prüfung in der Sache ein, sondern trug ihnen diese auf. Der EuGH hat ausdrücklich festgestellt, dass auch die fehlerhafte Auslegung europäischer wie nationaler Rechtsvorschriften zur Auslösung der mitgliedstaatlichen Staatshaftung wegen judikativen Unrechts geeignet ist163. Auch wenn die wohl fahrlässige Verkennung der europarechtlichen Prüfungsanforderungen durch den Conseil d’État selbst nicht die Schwere eines offenkundigen Verstoßes erreichen sollte, führte sie mit der Abweisung der Staatshaftungsklage unmittelbar zur Bestätigung der vorangehenden Entscheidungen, die ihrerseits auf mehreren eindeutigen Verstößen gegen das Europarecht beruhten164. In Kenntnis dieser Sachlage unterließ es der Conseil d’État als verantwortliches Höchstgericht in Frankreich, den vorliegenden evident europarechtswidrigen Zustand zu beenden, ohne den EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren einzu160 Breuer, JZ 2003, 433 (437 f.); vgl. auch EuGH, Urt. v. 05.04.1979, Ratti, Rs. 148/ 78, Slg. 1979, 1629, Rn. 22; EuGH, Urt. v. 19.01.1982, Becker ./. Finanzamt MünsterInnenstadt, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 22.02.1984, Rs. 70/83, Kloppenburg, Slg. 1984, 1075, Rn. 3. 161 EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 43. 162 Im Ergebnis ebenso Germelmann, S. 304. 163 EuGH, Urt. v. 13.06.2006, Traghetti del Mediterraneo, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177, Rn. 33 ff.; Ruffert, CMLR 44 (2007), 479 (483). 164 Siehe o., (a), sowie (1), (2).

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schalten. Diese völlige Rechtsschutzverweigerung unter Verletzung der Vorlagepflicht nach Art. 177 Abs. 3 EGV a. F. (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) ist unter den gegebenen Umständen nicht entschuldbar und begründet die hinreichende Qualifikation und Offenkundigkeit des Verstoßes gegen das Effektivitätsgebot165. Das somit offenkundig europarechtswidrige Urteil des Conseil d’État von 1996, das ebenfalls für den der S. A. Dangeville entstandenen Schaden kausal geworden ist, löste folglich seinerseits die europarechtliche Staatshaftung Frankreichs aus. cc) Ergebnis zu b) Sowohl die verspätete Richtlinienumsetzung als auch der Vollzug des richtlinienwidrigen Steuergesetzes sowie die beiden letztinstanzlichen Urteile des Conseil d’État von 1986 und 1996 verstießen gegen das Europarecht und begründeten einen Staatshaftungsanspruch der S. A. Dangeville gegen die Französische Republik in Höhe der illegal erhobenen Steuer. Ungeachtet der Postulate des Europarechts war eine Durchsetzung dieses Anspruchs vor den französischen Gerichten aber ausgeschlossen, da die S. A. Dangeville den innerstaatlichen Rechtsweg bereits vollständig ausgeschöpft hatte166. Da die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 226 f. EGV (jetzt Art. 258 f. AEUV) unterblieb, bestand auch keine Möglichkeit mehr, den EuGH mit dem Fall zu befassen. 4. Das Verfahren vor den Konventionsorganen a) Zulässigkeit Am 06.03.1997 rügte die S. A. Dangeville als Bf. nach Art. 25 EMRK a. F. bei der seinerzeit noch existierenden EKMR eine Verletzung des Eigentumsrechts nach Art. 1 ZP 1 sowie des Diskriminierungsverbots gemäß Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 1 ZP 1. Im Dezember 1999 und im Januar 2000 machte sie außerdem Verstöße gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) und das Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) geltend. Nach der Überleitung der Beschwerde an den ständigen EGMR zum 01.11. 1998167 erklärte dieser sie am 12.09.2000 für teilweise zulässig. Während das Vorbringen hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK wegen Fristversäumung nach Art. 35 Abs. 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen wurde, überwies der Gerichtshof die anderen Rügen in die Sachprüfung168. Diesbezüglich bestand 165 Breuer, BayVBl. 2003, 586 (588 f.), spricht angesichts der schweren Europarechtsverstöße im Dangeville-Fall von einer haftungsauslösenden „Ausnahmesituation“. Auch Wattel, CMLR 41 (2004), 177 (182), hält den Fall für „very, very exceptional“. 166 Siehe o., 2. d) bb), am Ende. 167 Vgl. Art. 5 Abs. 2 ZP 11. 168 EGMR, Entsch. v. 12.09.2000, S. A. Dangeville ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 36677/97, pdf-Dok. S. 11, 14.

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kein Fristenproblem, da hier auch der Staatshaftungsprozess ein innerstaatliches Rechtsmittel zur Behebung von Konventionsverstößen darstellte169 und die Beschwerde rechtzeitig nach dem Urteil des Conseil d’État von 1996 erhoben worden war. Außerdem stellte der EGMR klar, dass die französische Verwaltungsanweisung vom 02.01.1986, die säumige Steuerzahler begünstigte und daher einen Anknüpfungspunkt der Diskriminierungsrüge der Bf. bildete170, im nationalen Verfahren nicht zwingend separat anzugreifen gewesen wäre, denn Frankreich konnte die Wirksamkeit eines solchen Rechtsmittels nicht hinreichend nachweisen171. Somit stand auch das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung der Zulässigkeit der rechtzeitig erhobenen Rügen nicht entgegen. b) Verstoß gegen Art. 1 ZP 1 Kern der rechtlichen Auseinandersetzung vor dem EGMR war der von der Bf. gerügte Verstoß gegen das Eigentumsrecht gemäß Art. 1 ZP 1. aa) Schutzbereich Im Gegensatz zu den entsprechenden nationalen Grundrechtsgewährleistungen ist die konventionsrechtliche Eigentumsgarantie nicht an eine konkrete rechtlich konstituierte Eigentums- und Wirtschaftsordnung angebunden172. Der autonome Eigentumsbegriff des Art. 1 ZP 1 ist im völkerrechtlichen Sinne weit auszulegen und beschränkt sich nicht nur auf Sacheigentum, sondern schließt alle vermögenswerten Rechte ein173. Hierzu zählen sämtliche nach nationalem Recht bestehenden Eigentumsrechte174 sowie auf privat- oder öffentlich-rechtlicher 169

Siehe schon allgemein o., Teil 1, C. III.; Breuer, JZ 2003, 433 (436). Siehe o., 1., 2. d) aa), sowie u., c). 171 EGMR, Entsch. v. 12.09.2000, S. A. Dangeville ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 36677/97, pdf-Dok. S. 12 f. 172 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 2; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 5; EGMR, Urt. v. 23.11.2000, Ehemaliger König von Griechenland et al. ./. Griechenland, Rep. 2000-XII (= EuGRZ 2001, 397), Rn. 60. Zur Entstehungsgeschichte von Art. 1 ZP 1 siehe S. Brandt, Eigentumsschutz, S. 53 ff.; Malzahn, S. 170 ff.; Çoban, S. 127 ff.; Mittelberger, Eigentumsschutz, S. 3 ff.; Offermann-Clas, S. 117 ff.; Fiedler, EuGRZ 1996, 354 (354). 173 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 1 ZP 1, Rn. 2; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 3; von Milczewski, S. 121 ff.; S. Brandt, Eigentumsschutz, S. 104 ff.; Harris/ O’Boyle/Bates/Buckley, S. 656 f.; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 22, Rn. 21, 41; EGMR, Urt. v. 26.06.1986, van Marle et al. ./. Niederlande, Ser. A Vol. 101 (= EuGRZ 1988, 35), Rn. 41; Riedel, EuGRZ 1988, 333 (334). 174 Auch das geistige Eigentum (Urheber-, Patent-, Markenrechte etc.) wird geschützt; vgl. EGMR (GK), Urt. v. 11.01.2007, Anheuser-Busch Inc. ./. Portugal, Nr. 73049/01, Rep. 2007-I, Rn. 72 ff.; EKMR, Entsch. v. 04.10.1990, Smith Kline und French Laboratories Ltd ./. Niederlande, DR 66, 70; Müller-Michaels, S. 65; von Milczewski, S. 127; Gelinsky, S. 32; Mittelberger, Eigentumsschutz, S. 22 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 5; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 1 ZP 1, Rn. 6; 170

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

Grundlage unbedingt entstandene und durchsetzbare Ansprüche auf vermögenswerte Leistungen175. Dass Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis und im Zusammenhang mit sonstigen Abgaben oder Geldstrafen stehende Rechte zum Schutzbereich gehören, ergibt sich bereits aus der Formulierung des Art. 1 Abs. 2 ZP 1176. Allgemein werden vom EGMR ohne weiteres solche Forderungen als schutzwürdig anerkannt, die bereits durch eine endgültige und verbindliche (Gerichts-)Entscheidung festgeschrieben wurden177. In der Regel genügt es aber, dass der Anspruchsinhaber legitimerweise auf die Erfüllung seiner Forderung vertrauen darf 178. Eine derartige „berechtigte Erwartung“ kann beispielsweise vorliegen, wenn die Forderung auf einer ausreichend gesicherten Grundlage etwa im nationalen Recht beruht179; allein die Hoffnung auf das Bestehen eines Anspruchs oder die Chance auf einen zukünftigen Eigentumserwerb reicht dagegen nicht aus180. Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 18; Kriebaum, S. 71 ff.; Çoban, S. 149 f.; Peukert, EuGRZ 1981, 97 (103); Riedel, EuGRZ 1988, 333 (334). 175 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 3 ff.; Meyer-Ladewig/von Raumer, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP 1, Rn. 12; Müller-Michaels, S. 71; Çoban, S. 144 ff. In sozialversicherungsrechtlichen Fällen erstreckt sich der Schutz der Eigentumsgarantie inzwischen auch auf Ansprüche, die nicht durch eigene Beiträge erworben wurden; EGMR (GK), Entsch. v. 06.07.2005, Stec et al. ./. Vereinigtes Königreich (Zulässigkeit), Rep. 2005-X, Rn. 47 ff.; EGMR, Urt. v. 30.09.2003, Koua Poirrez ./. Frankreich, Rep. 2003-X, Rn. 37, 42. 176 EGMR, Urt. v. 23.10.1990, Darby ./. Schweden, Ser. A Vol. 187, Rn. 30; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 6; von Milczewski, S. 127. 177 EGMR, Urt. v. 09.12.1994, Stran Greek Refineries und Stratis Andreadis ./. Griechenland, Ser. A Vol. 301-B, Rn. 59 ff.; EGMR (GK), Entsch. v. 10.07.2002, Polacek und Polackova ./. Tschechische Republik, Nr. 38645/97, Rn. 66; EGMR, Urt. v. 03.04. 2008, Regent Company ./. Ukraine, Nr. 773/03, Rn. 61; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 22, Rn. 30, 43; Kaiser, in: Karpenstein/Mayer, Art. 1 ZP 1, Rn. 18; Meyer-Ladewig/von Raumer, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP 1, Rn. 18 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 3. 178 EGMR, Urt. v. 29.11.1991, Pine Valley Developments Ltd et al. ./. Irland, Ser. A Vol. 222, Rn. 51; EGMR, Urt. v. 24.02.2005, Veselinski ./. Mazedonien, Nr. 45658/99, Rn. 75; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 3; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 10; vgl. Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 22, Rn. 30, 43. 179 EGMR, Urt. v. 23.10.2007, Cazacu ./. Republik Moldau, Nr. 40117/02, Rn. 38; EGMR (GK), Urt. v. 28.09.2004, Kopecky´ ./. Slowakei, Rep. 2004-IX, Rn. 52 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 06.10.2005, Maurice ./. Frankreich, Rep. 2005-IX, Rn. 63; EGMR (GK), Entsch. v. 10.07.2002, Gratzinger und Gratzingerova ./. Tschechische Republik, Rep. 2002-VII, Rn. 73; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 1 ZP 1, Rn. 14; Kaiser, in: Karpenstein/Mayer, Art. 1 ZP 1, Rn. 19 f. 180 EGMR (GK), Entsch. v. 13.12.2000, Malhous ./. Tschechische Republik (Zulässigkeit), Rep. 2000-XII; EGMR, Urt. v. 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Ser. A Vol. 31 (= EuGRZ 1979, 454), Rn. 50; EGMR (GK), Urt. v. 12.07.2001, Fürst Hans-Adam II. von Liechtenstein ./. Deutschland, Rep. 2001-VIII (= EuGRZ 2001, 466), Rn. 83; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 3; Mittelberger, Eigentumsschutz, S. 14; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 10; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 1 ZP 1, Rn. 14; Çoban, S. 146.

A. Steuerrecht

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Hinsichtlich des personellen Schutzbereichs sticht hervor, dass in Art. 1 ZP 1 anders als in den sonstigen Konventionsrechten auch juristische Personen als Grundrechtsträger explizit erwähnt sind181. Dieser Umstand unterstreicht die besondere wirtschaftliche Bedeutung der Eigentumsgarantie gerade vor dem Hintergrund, dass die Freiheiten von Beruf und wirtschaftlicher Betätigung im Konventionssystem nicht eigens gewährleistet sind182. Im Dangeville-Prozess vor dem EGMR griffen beide Parteien ihre Argumentation aus den nationalen Gerichtsverfahren wieder auf und richteten sie auf die Maßstäbe der EMRK aus. Die Bf. machte geltend, Inhaberin eines bestimmten und fälligen Anspruchs zu sein, der aus der gemeinschaftsrechtswidrigen Steuererhebung resultiere und als Eigentumsposition zu qualifizieren sei183. Gleichermaßen verfüge sie über eine berechtigte Erwartung, diesen Anspruch zu realisieren, insbesondere da sowohl die französischen Behörden mit der Verwaltungsanweisung vom 02.01.1986 die Rechtswidrigkeit der Steuererhebung anerkannt als auch die französischen Gerichte nach dem Nicolo-Urteil Staatshaftungsansprüche wegen Gemeinschaftsrechtsverletzungen akzeptiert hätten. Überdies habe die prozessrechtliche Regel der distinction des contentieux nur eine relative Reichweite, weil der Conseil d’État in seiner bisherigen Rechtsprechung ein Staatshaftungsbegehren auch schon nach Scheitern des Primärrechtsschutzes zugelassen habe184. Dagegen bestritt die französische Regierung die Existenz einer Eigentumsposition nach Art. 1 ZP 1 in Form einer berechtigten Erwartung185. Zum einen knüpfe die Staatshaftungsklage der Bf. an die Illegalität der Steuererhebung an, obwohl der Conseil d’État in seinem ersten Urteil von 1986 deren Rechtmäßigkeit bestätigt habe. Zum anderen sei die stattgebende Berufungsentscheidung im Staatshaftungsprozess nicht repräsentativ für die Rechtsprechung insgesamt. Schließlich stehe die Regel der distinction des voies de recours dem Conseil d’État zufolge einem erfolgreichen Staatshaftungsbegehren entgegen. 181 Dessen ungeachtet können sich juristische Personen des öffentlichen Rechts nur bis zu einem bestimmten Grad an Staatsnähe auf die Eigentumsgarantie berufen, die Abgrenzung ist analog zur Parteifähigkeit nach Art. 34 EMRK vorzunehmen; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 8; von Milczewski, S. 131 f. Siehe auch o., Teil 1, C. I. 182 Vgl. Müller-Michaels, S. 71; Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1090); Kaiser, in: Karpenstein/Mayer, Art. 1 ZP 1, Rn. 2, 22; Behnsen, in: Karpenstein/Mayer, Art. 4 EMRK, Rn. 18. 183 Zum Folgenden EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 44. 184 Der Regierungskommissar Goulard, Schlussanträge in den Rs. S. A. Dangeville (Nr. 141043) und S. A. Cabinet Revert et Badelon (Nr. 45126), RTDE 33 (1997), 171 (177), hatte den entsprechenden Fall (Conseil d’État [Section], 03.05.1963, Alaux; hierzu Germelmann, S. 128 ff.) wegen fehlender Identität der Streitgegenstände für keinen tauglichen Bezugspunkt gehalten; vgl. auch o., 2. d) bb). 185 Hierzu EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 45.

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

Der EGMR stellte hierzu fest, dass die französische Gesetzeslage, die zwischen dem 01.01.1978 und dem 30.06.1978 die Erhebung der Umsatzsteuer auf die Geschäfte der Versicherungsmakler ermöglichte, gegen Art. 13 Teil B lit. a der Sechsten Richtlinie verstoßen habe, die im fraglichen Zeitraum unmittelbar anwendbar gewesen sei186. Dabei bezog er sich nicht nur auf die Europarechtsordnung in Gestalt der Sechsten und Neunten Richtlinie sowie der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH, sondern hielt Frankreich auch an den Feststellungen französischer Staatsorgane in der Verwaltungsanweisung vom 02.01.1986 und dem Urteil des Conseil d’État im Fall S. A. Cabinet Revert et Badelon fest. Die Entrichtung der Umsatzsteuer durch die Bf. sei unbestritten. Weiterhin wies der Gerichtshof auf die seit dem Nicolo-Urteil vom Conseil d’État praktizierte Kontrolle der Völker- und Europarechtskonformität französischer Rechtsnormen187 hin, die eine Staatshaftung wegen europarechtswidriger nationaler Maßnahmen einschließe. Hinsichtlich der französischen Prozessregel der distinction des voies de recours unterstrich der EGMR, dass die Bf. ihren Anspruch seit dem ersten Verfahren auf eine völlig klare, präzise und unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrechtsnorm gestützt habe188. Dieser Anspruch sei nicht mit dem ersten Urteil des Conseil d’État von 1986 untergegangen und habe daher auch während des zweiten Verfahrens fortbestanden. Allein die Berufung auf ein lange existierendes Prinzip durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit könne die Missachtung der gegenwärtigen Vorgaben des Europarechts nicht rechtfertigen189. In diesem Zusammenhang griff der Gerichtshof seine bekannte Formel zur dynamischen Interpretation der Konvention auf, nach der letztere ein „lebendiges Instrument“ darstelle, das im Lichte der aktuellen Lebensumstände und der heutzutage in den demokratischen Staaten vorherrschenden Anschauungen auszulegen sei190. Dieser Ansatz bildete damit den argumentativen Hebel für den EGMR, um das Europarecht in die konventionsrechtliche Beurteilung des Falles einzubeziehen. Dementsprechend schloss der Gerichtshof, dass das prozessrechtliche Prinzip der distinction des contentieux ein durch die Sechste Richtlinie begründetes materielles Recht nicht habe erlöschen lassen können. Er gelangte zu dem Ergebnis, dass die

186

EGMR, a. a. O., Rn. 46. Vgl. o., 2. b) cc). 188 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 47: „norme communautaire parfaitement claire, précise et directement applicable“/„Community norm that was perfectly clear, precise and directly applicable“. 189 In dem als Nachweis mutatis mutandis angeführten Fall Delcourt ./. Belgien hatte der EGMR allgemein festgestellt, dass die lange Existenz einer nationalen Rechtsnorm keine Rechtfertigung für die Nichterfüllung der gegenwärtigen Anforderungen des internationalen Rechts biete; vgl. EGMR, Urt. v. 17.01.1970, Delcourt ./. Belgien, Ser. A Vol. 11, Rn. 36. 190 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 47, u. a. unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 22.02.1994, Burghartz ./. Schweiz, Ser. A Vol. 280-B, Rn. 28. 187

A. Steuerrecht

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Bf. in den zwei französischen Verfahren zu Recht die Rückzahlung der für den Zeitraum vom 01.06.1978 bis zum 30.06.1978 entrichteten Umsatzsteuer eingefordert habe. Ein solcher Anspruch verkörpere einen Vermögenswert und habe daher den Charakter von Eigentum i. S. d. Art. 1 ZP 1191. Jedenfalls habe die Bf. die berechtigte Erwartung der Erstattung der streitgegenständlichen Summe gehabt192. Damit akzeptierte der EGMR in Anwendung der europarechtlichen Vorgaben den auf der Grundlage der Richtlinie entstandenen Steuerrückzahlungsanspruch und stellte ihn als Eigentumsposition unter den Schutz der EMRK. bb) Eingriff Nach der Bejahung der Schutzbereichseröffnung untersuchte der EGMR das Bestehen eines Eingriffs in das Eigentumsrecht. Ausgehend von der Normstruktur des Art. 1 ZP 1 werden herkömmlich drei Kategorien von Eingriffen unterschieden: die in Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP 1 geregelten Eigentumsentziehungen 193, die Nutzungsregelungen nach Maßgabe von Art. 1 Abs. 2 ZP 1194 sowie die allein von Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP 1 erfassten sonstigen Eingriffe. Über die exakte dogmatische Abgrenzung der einzelnen Eingriffsarten besteht kein allgemeiner Konsens195, zumal auch der EGMR in seiner jüngeren Rechtsprechung und gerade bei komplizierten Sachverhalten eine explizite Unterscheidung für entbehrlich hält196 und betont, dass die spezifischen Regeln 191 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 48, unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 20.11.1995, Pressos Compania Naviera S. A. et al. ./. Belgien, Ser. A Vol. 332, Rn. 31. 192 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 48, unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 29.11.1991, Pine Valley Developments Ltd et al. ./. Irland, Ser. A Vol. 222, Rn. 51. 193 Hierzu gehören die formellen Enteignungen, die rechtlich den Verlust des Eigentums bewirken, und die De-facto-Enteignungen, die sich ohne formellen Eigentumsübergang ebenso schwerwiegend auswirken; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 10 ff.; Müller-Michaels, S. 73 ff.; Reininghaus, S. 16 ff.; Pellonpää, GS Ryssdal, 1087 (1092 ff., 1098 ff.). 194 Dies sind hoheitliche Maßnahmen, die zwar das Eigentum in seiner „Substanz“ nicht aufheben, aber einen bestimmten Gebrauch vorschreiben oder untersagen; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 14 f.; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 27; Mittelberger, Eigentumsschutz, S. 66 ff.; Hartwig, RabelsZ 63 (1999), 561 (569 f.); Peukert, EuGRZ 1981, 97 (106). 195 Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 32; Gelinsky, S. 86 ff., m.w. N.; Peters/Altwicker, EMRK, § 32, Rn. 22; Mittelberger, EuGRZ 2001, 364 (366 f.); Frowein, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 529 f. 196 EGMR (GK), Urt. v. 05.01.2000, Beyeler ./. Italien, Rep. 2000-I, Rn. 106 (hierzu kritisch Rudolf, AJIL 94 [2000], 736 [739 f.]); EGMR, Urt. v. 25.07.2002, Sovtransavto Holding ./. Ukraine, Rep. 2002-VII, Rn. 93; EGMR (GK), Urt. v. 22.06.2004, Broniowski ./. Polen, Rep. 2004-V (= EuGRZ 2004, 472), Rn. 136; EGMR, Urt. v. 29.06.2004, Piven ./. Ukraine, Nr. 56849/00, Rn. 49; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 32; Kriebaum, S. 202 ff.

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

in Art. 1 Abs. 1 S. 2 und Art. 1 Abs. 2 ZP 1 im Lichte des allgemeinen Grundsatzes der Achtung des Eigentums (Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP 1) auszulegen seien197. Ebenso ging der Gerichtshof auch im vorliegenden Fall vor. Die beiden Urteile des Conseil d’État wertete der EGMR als Eingriff in Art. 1 ZP 1, da sie die Durchsetzung des Rückerstattungsanspruchs verhinderten, der der Bf. sowohl nach Gemeinschaftsrecht als auch nach der Verwaltungsanweisung vom 02.01. 1986 zugestanden habe198. Die erneute Bezugnahme auf die Verwaltungsanweisung dürfte dabei v. a. als Hinweis des Gerichtshofs auf den Umstand zu deuten sein, dass die französischen Steuerbehörden die Rechtswidrigkeit der Steuererhebung selbst anerkannt haben. Da sich die Anweisung nach der zutreffenden Feststellung des EGMR nur auf den Eintreibungsverzicht bei noch laufenden Steuerverfahren bezog, konnte die Bf., deren Verfahren bereits abgeschlossen war, allein daraus formell kein unmittelbares Recht auf Rückzahlung herleiten. Da das Vorliegen eines Eingriffs jedoch im Ergebnis unproblematisch zu bejahen war, gab der Gerichtshof hierzu auch lediglich eine kurze Begründung ab. Insbesondere ließ er letztlich offen, ob von einem Entzug des Eigentums nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP 1 (wie von der Bf. gerügt) oder vielmehr von einer Nutzungsregelung nach Art. 1 Abs. 2 ZP 1 auszugehen sei. Für die erste Möglichkeit spreche zwar, dass die Beeinträchtigung der Durchsetzung eines Anspruchs gegen den Staat einen Eigentumsentzug darstellen könne199; andererseits biete sich im Steuerbereich angesichts der ausdrücklichen Erwähnung in Art. 1 Abs. 2 ZP 1 eine Prüfung als Nutzungsregelung als „natürlicherer Ansatz“ an200. Der EGMR sah hier kein exklusives Alternativverhältnis und verzichtete auf eine genauere Festlegung, da beide Kategorien nicht strikt zu trennen seien und jedenfalls eine Auslegung der jeweils anwendbaren Regel im Lichte des Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP 1 erforderlich sei (siehe o.). cc) Rechtfertigung Auch wenn der Wortlaut von Art. 1 ZP 1 für die Anforderungen an die Rechtfertigung der verschiedenen Eingriffstypen zunächst eine differenziertere Ausgestaltung vermuten lässt, sind sämtliche Eingriffe in das Eigentumsrecht letztlich an sehr ähnlichen, kumulativ zu erfüllenden Kriterien zu messen. Sowohl Eigentumsentziehungen als auch Nutzungsregelungen müssen auf einer gesetzlichen

197 EGMR, Urt. v. 21.02.1986, James et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 98, Rn. 37; EGMR, Urt. v. 08.07.1986, Lithgow et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 102, Rn. 106; S. Brandt, Eigentumsschutz, S. 120. 198 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 50. 199 So bereits EGMR, Urt. v. 20.11.1995, Pressos Compania Naviera S. A. et al. ./. Belgien, Ser. A Vol. 332, Rn. 34. 200 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 51: „démarche plus naturelle“/„more natural approach“.

A. Steuerrecht

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Grundlage beruhen201, dem öffentlichen bzw. Allgemeininteresse dienen202 und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit203 genügen204. Aus der Formulierung von Art. 1 Abs. 2 ZP 1 lässt sich aber entnehmen, dass Regelungen zur Sicherung der Zahlung von Steuern, sonstigen Abgaben und Geldstrafen vom Erfordernis des Allgemeininteresses ausgenommen sind, was insoweit zu einem weiteren staatlichen Beurteilungsspielraum führt205. Sonstige Eingriffe, die weder als Enteignung noch als Nutzungsregelung identifiziert werden können, unterliegen zwar keinen geschriebenen Schranken, werden vom EGMR aber auf eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage und ihre Verhältnismäßigkeit überprüft206. Der Gerichtshof verlangt, dass ein gerechter Ausgleich zwischen den Erfordernissen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft und den Anforderungen der Wahrung der Grundrechte des Einzelnen stattgefunden hat207. Über diese Formel findet dann auch das Kriterium des Allgemeininteresses wieder Eingang in die Abwägung. Entsprechend seinen Prämissen in der Eingriffsprüfung wählte 201 Die in Art. 1 Abs. 1 S. 2 ZP 1 zusätzlich genannten allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts spielen dagegen lediglich eine untergeordnete Rolle, da das Völkerrecht für die Enteignung nur hinsichtlich des Eigentums von Ausländern Vorgaben macht; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 37, Fn. 95; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 1 ZP 1, Rn. 50 f.; vgl. entsprechend EGMR, Urt. v. 21.02.1986, James et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 98 (= EuGRZ 1988, 341), Rn. 59 ff., 65 f. 202 Beide Begriffe sind nach ganz h. M. in Rechtsprechung und Literatur als deckungsgleich zu verstehen; EGMR, Urt. v. 21.02.1986, James et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 98 (= EuGRZ 1988, 341), Rn. 40 ff., 43; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 38; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 26; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 1 ZP 1, Rn. 42; ders., EuGRZ 1981, 97 (107); Reininghaus, S. 126 ff.; Mittelberger, Eigentumsschutz, S. 115 f.; ders., EuGRZ 2001, 364 (367); Çoban, S. 194; Gelinsky, S. 174. 203 Auch die Frage einer etwaigen Entschädigungspflicht bei Enteignungen gehört zur Verhältnismäßigkeitsprüfung; EGMR, Urt. v. 23.09.1982, Sporrong und Lönnroth ./. Schweden, Ser. A Vol. 52 (= EuGRZ 1983, 523), Rn. 69, 71, 73; EGMR, Urt. v. 21.02.1986, James et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 98 (= EuGRZ 1988, 341), Rn. 54; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 22 f.; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 46 ff.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 1 ZP 1, Rn. 68 ff.; Riedel, EuGRZ 1988, 333 (338); Fiedler, EuGRZ 1996, 354 (355 f.). 204 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 17, 26 f.; Wegener, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 5, Rn. 35; Heselhaus, in: Heselhaus/Nowak, § 32, Rn. 27; MeyerLadewig/von Raumer, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP 1, Rn. 51; S. Brandt, Eigentumsschutz, S. 131 ff.; von Milczewski, S. 141 ff.; Çoban, S. 194 ff.; Kriebaum, S. 431 ff. 205 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 26; van Rijn, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 891 f.; EGMR, Urt. v. 23.02.1995, Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH ./. Niederlande, Ser. A Vol. 306-B, Rn. 60; EGMR, Urt. v. 23.02.2006, Stere et al. ./. Rumänien, Nr. 25632/02, Rn. 51. 206 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 25, Rn. 28; Müller-Michaels, S. 97 f. 207 EGMR, Urt. v. 23.09.1982, Sporrong und Lönnroth ./. Schweden, Ser. A Vol. 52 (= EuGRZ 1983, 523), Rn. 69; EGMR, Urt. v. 23.04.1996, Phocas ./. Frankreich, Rep. 1996-II, Rn. 53; EGMR, Urt. v. 15.11.1996, Prötsch ./. Österreich, Rep. 1996-V, Rn. 43; EGMR, Urt. v. 23.02.2006, Stere et al. ./. Rumänien, Nr. 25632/02, Rn. 50.

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der EGMR im Dangeville-Fall gleichfalls diesen Weg und entnahm den Maßstab für die Rechtfertigung vorliegend direkt Art. 1 Abs. 1 S. 1 ZP 1 samt der zugehörigen Judikatur208. (1) Gesetzliche Grundlage und Vorliegen von Allgemeininteresse Die Bf. trug vor, der Eingriff entbehre einer gesetzlichen Grundlage, da sich ein Grundsatz des französischen Prozessrechts nicht gegenüber dem Prinzip des Vorrangs europäischer Richtlinien durchsetzen könne209. Dagegen rechtfertigte die französische Regierung die Abweisung der Klage wiederum unter Hinweis auf die distinction des contentieux als traditionellen Grundsatz der Rechtsprechung210. Die Regierung hielt diese Regel auch für gemeinschaftsrechtskonform und berief sich auf das Fantask-Urteil des EuGH211, nach dem die Ausgestaltung von Verfahren bei Klagen auf Rückzahlung rechtsgrundloser Leistungen unter gewissen Bedingungen der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten überlassen worden sei. Eine mögliche Beeinträchtigung der Bf. sei daher als eine im öffentlichen Interesse getroffene verhältnismäßige Maßnahme zu werten. Zum Vorliegen einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage nahm der EGMR nicht ausdrücklich Stellung. Damit blieb hier offen, ob ein wegen Europarechtswidrigkeit unanwendbares nationales Steuergesetz automatisch auch als konventionsrechtliche Ermächtigungsgrundlage ausscheidet. Der Gerichtshof stellte lediglich klar, dass die Verwaltungsanweisung vom 02.01.1986 darauf ausgerichtet gewesen sei, das nationale Recht an die Sechste Richtlinie anzupassen. Darin erkannte er „offenkundig“ eine legitime Absicht in Übereinstimmung mit dem Allgemeininteresse i. S. d. Art. 1 ZP 1212. Da die Verwaltungsanweisung keinen entscheidenden Rechtsakt für den Eingriff in das Eigentumsrecht der S. A. Dangeville darstellte213, verzichtete der Gerichtshof hierzu auf weitere Ausführungen. Es lässt sich allerdings festhalten, dass die Herstellung von Europarechtskonformität als legitimes Ziel für Maßnahmen, die Konventionsrechte beeinträchtigen, ohne weiteres anerkannt wird214. 208

EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 52. Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 53. 210 Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 54; sowie bereits o., 2. d) bb). 211 EuGH, Urt. v. 02.12.1997, Fantask et al. ./. Industriministeriet, Rs. C-188/95, Slg. 1997, I-6783. 212 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 55: „manifestement“/„clearly“. 213 Zu Gleichheitsgesichtspunkten siehe u., c). 214 Vgl. Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 668; außerdem EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 150; EGMR, Urt. v. 06.12.2012, Michaud ./. Frankreich, Rep. 2012, Nr. 12323/11, Rn. 100; EGMR, Entsch. v. 18.06.2013, Povse ./. Österreich, Nr. 3890/11, 209

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Im Rahmen der anschließenden Prüfung, ob die Urteile des Conseil d’État dem konventionsrechtlichen Allgemeininteresse entsprachen, verwies der EGMR zunächst auf seine Ausführungen zum Schutzbereich215. Im übrigen habe die überaus strenge Auslegung der distinction des contentieux durch den Conseil d’État die Bf. im vorliegenden Einzelfall um das einzige innerstaatliche Verfahren gebracht, das zur Durchsetzung des Rechts aus Art. 1 ZP 1 hinreichend gewesen wäre216. So gelang es dem Straßburger Gerichtshof, auch die verfahrensrechtliche Dimension des Falles zu einem Abwägungsgesichtspunkt bei der Prüfung einer Verletzung des Eigentumsrechts zu machen217. Weitere rechtfertigende Gründe des Allgemeininteresses für die Missachtung des Gemeinschaftsrechts durch den Conseil d’État sah der EGMR nicht. Insbesondere das von der Regierung herangezogene Fantask-Urteil des EuGH betreffe eine andere Fragestellung und biete daher keinen tauglichen Bezugspunkt. Im Fall Fantask hatte der EuGH entschieden, dass bestimmte nationale Verjährungsfristen nach Gemeinschaftsrecht zulässig seien, sofern sie die Ausübung gemeinschaftsrechtlich begründeter Rechte nicht praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten218. Wie der EGMR zutreffend feststellte, ging es dagegen in der Dangeville-Konstellation gerade nicht um die Anwendbarkeit von Verjährungs- oder sonstigen Ausschlussfristen219, sondern um die Weigerung der letztinstanzlichen Gerichte, das Recht auf Erstattung als solches zu berücksichtigen220. Der EGMR setzte sich in diesem Kontext also direkt mit dem Inhalt des EuGH-Urteils auseinander und stellte selbstständig den vergleichenden Bezug zum Dangeville-Fall her. Hinzu kommt, dass die Zugrundelegung der distinction des contentieux es der Bf. vorliegend tatsächlich praktisch unmöglich gemacht hat, ihre Rechte durchzusetzen221. Das Fantask-Urteil konnte somit die Position der französischen Regierung nicht stützen.

Rn. 73; Winkler, EuGRZ 2007, 641 (647); Pellonpää, in: Caflisch et al., FS Wildhaber, 347 (367). 215 Vgl. EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 47, 56. 216 EGMR, a. a. O., Rn. 56; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 25.01.2000, Miragall Escolano et al. ./. Spanien, Rep. 2000-I, Rn. 38. 217 Siehe näher u., 5. b). 218 EuGH, Urt. v. 02.12.1997, Fantask et al. ./. Industriministeriet, Rs. C-188/95, Slg. 1997, I-6783, Rn. 48, 52; bestätigt in EuGH, Urt. v. 09.02.1999, Dilexport, Rs. C-343/ 96, Slg. 1999, I-579, Rn. 33; siehe auch Gundel, NVwZ 1998, 910 (910 ff.); Sperlich, ÖJZ 2001, 121 (124 f.). 219 Diese wurden aber in den Folgeverfahren S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich (siehe u., II.) sowie Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich (siehe u., III.) relevant. 220 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 56; zustimmend Breuer, JZ 2003, 433 (437); Tamme, Aspects of enforcement, S. 6. 221 Tamme, Aspects of enforcement, S. 6; siehe bereits o., 3. b) bb) (3) (b).

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Zu Recht sah der EGMR den Ursprung des Eingriffs in der unterlassenen Anpassung des französischen Rechts an das Gemeinschaftsrecht, die die richtlinienwidrige Steuererhebung erst ermöglicht hatte. Der Conseil d’État habe in seinem Urteil von 1986 versäumt, die Konsequenzen aus der gemeinschaftsrechtsfreundlichen Verwaltungsanweisung vom 02.01.1986 zu ziehen. Angesichts des späten Erlasses und der begrenzten Reichweite dieser Verwaltungsanweisung222 attestierte der EGMR Frankreich, dass das Verständnis des Gemeinschaftsrechts auf der innerstaatlichen Ebene zu Schwierigkeiten geführt zu haben scheine223, und wies dazu auch auf die unterschiedliche Praxis der französischen Höchstgerichte bei der Überprüfung nationaler Normen am Maßstab des internationalen Rechts hin224. Von der Bf. könne nicht verlangt werden, die Konsequenzen dieser Schwierigkeiten bei der Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts sowie der Divergenzen zwischen den verschiedenen nationalen Behörden zu tragen225. Auf dieser Grundlage kam der EGMR zu dem Schluss, dass der Eingriff in das Eigentumsrecht der Bf. nicht im Allgemeininteresse notwendig war226. (2) Gerechter Interessenausgleich Auch wenn mit dieser Feststellung bereits eine Vorentscheidung getroffen war, widmete sich der Gerichtshof noch kurz der Frage, ob ein gerechter Ausgleich der widerstreitenden Interessen gegeben war. Hierzu wiederholte die Bf., dass die Urteile des Conseil d’État zu keiner Rechtfertigung des Eingriffs führen könnten, da sie das Gemeinschaftsrecht missachteten bzw. die relevanten materiellen Fragen gar nicht behandelten227. Der Rechtskrafteinwand scheitere schon daran, dass die Verfahrensgegenstände der beiden Prozesse, einerseits die unterlassene Richtlinienumsetzung und andererseits die Anwendung gemeinschaftsrechtswidriger Rechtsnormen, verschieden gewesen seien. Im übrigen habe sie die zu viel entrichtete Umsatzsteuer weder mit der Lohnsteuer verrechnen noch auf ihre Kunden abwälzen können. Infolge der inkonsistenten Rechtsprechung des Conseil d’État sei ihr jedwede Kompensa-

222 Zwischen der Notifikation der Neunten Richtlinie und der Verwaltungsanweisung lagen mehr als sieben Jahre; Fälle bereits gezahlter Steuer wurden von der Anweisung nicht erfasst. 223 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 57. Der EGMR zitierte hier den Conseil d’État selbst, der im Urteil S. A. Cabinet Revert et Badelon (30.10.1996, Nr. 45126) das „Versagen der französischen Behörden“ eingestanden hatte, „mit den Zielen der Sechsten Richtlinie vereinbare Maßnahmen rechtzeitig zu ergreifen“. 224 Hierzu siehe o., 2. b) bb). 225 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 57. 226 EGMR, a. a. O., Rn. 58. 227 EGMR, a. a. O., Rn. 59.

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tion vorenthalten worden, was eine übermäßige und nicht interessengerechte Belastung darstelle. Die französische Regierung entgegnete, für die Bf. habe die Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung bestanden, und verteidigte erneut die Anwendung der distinction des contentieux um der Rechtssicherheit willen228. Außerdem sei die Bf. selbst für die Unzulässigkeit der Staatshaftungsklage verantwortlich, da sie hier ebenso wie im ersten Verfahren den geschuldeten Steuerbetrag anstelle des tatsächlich erlittenen wirtschaftlichen und finanziellen Schadens geltend gemacht habe. Dieser Einwand erweist sich als formalistische Schutzbehauptung, denn die relevante Schadensposition entspricht gerade der rechtsgrundlos gezahlten Steuer229. Die Unterstellung der Regierung, die Bf. hätte bei einer entsprechend abgewandelten Formulierung ihrer Klage obsiegen können, ist daher nicht nur unglaubhaft, sondern führt auch die übrigen zugunsten der französischen Position vorgebrachten Argumente ad absurdum. Der abschließende Hinweis, dass die zu Unrecht steuerlich belasteten Gesellschaften ihren Verlust durch Preiserhöhungen ausgleichen könnten, verdeutlicht zusätzlich die grundlegende Verkennung der staatlichen Erstattungspflicht und des ökonomischen Kontextes durch die Regierung. Auch insofern ist es wenig überraschend, dass der EGMR den Eingriff in das Eigentum der Bf. für unverhältnismäßig hielt230. Das Scheitern des Anspruchs gegen den Staat und das Fehlen wirksamer innerstaatlicher Verfahren zur Durchsetzung des Eigentumsrechts231 hätten dem erforderlichen gerechten Ausgleich zwischen den Anforderungen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft und den Erfordernissen des individuellen Grundrechtsschutzes nicht entsprochen. Folglich stellte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 1 ZP 1 fest. c) Verstoß gegen Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 1 ZP 1 Überdies rügte die Bf. die Verletzung des Diskriminierungsverbots des Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 1 ZP 1 durch die Verwaltungsanweisung vom 02.01.1986 und die uneinheitliche Rechtsprechung des Conseil d’État232. Die infolge der Verwaltungsanweisung eingetretene Privilegierung säumiger Steuerzahler wirke sich insofern besonders gravierend aus, als die Verwaltung keinerlei Maßnahmen zur 228

EGMR, a. a. O., Rn. 60. Tamme, Aspects of enforcement, S. 6; Breuer, JZ 2003, 433 (442). Hinzu kommen lediglich Zinsen und Rechtsverfolgungskosten; vgl. insoweit Lohse, UR 2003, 182 (185); EuGH, Urt. v. 08.03.2001, Metallgesellschaft et al., Rs. C-397/98, Slg. 2001, I1727, Rn. 87 ff. 230 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 61. 231 Vgl. insoweit bereits EGMR, Urt. v. 23.04.1996, Phocas ./. Frankreich, Rep. 1996-II, Rn. 60. 232 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 63 f. 229

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Erstattung bereits gezahlter Summen getroffen habe. Diese Ungleichbehandlung verfolge kein legitimes Ziel und sei wegen Unverhältnismäßigkeit ohnehin nicht zu rechtfertigen. Außerdem habe kein wirksamer Rechtsweg gegen die Verwaltungsanweisung offengestanden. Eine weitere Diskriminierung sah die Bf. darin begründet, dass der S. A. Cabinet Revert et Badelon anders als ihr selbst trotz gleicher Ausgangslage die Steuererstattung vom Conseil d’État gewährt worden war233. Die Regierung bestritt hingegen das Vorliegen eines Verstoßes234. Die Situation der beiden klagenden Gesellschaften sei nicht identisch gewesen, die S. A. Cabinet Revert et Badelon habe zulässigerweise allein von der Änderung der Rechtsprechung profitiert. Bezüglich der Verwaltungsanweisung berief sich die Regierung vorwiegend auf den staatlichen Einschätzungsspielraum. Nicht alle betroffenen Gesellschaften hätten die Steuerrückzahlung verlangt, und die Entscheidung über Erstattungsansprüche sei gerade den Gerichten überlassen worden. Der Gerichtshof hielt es angesichts der bereits festgestellten Konventionsverletzung nicht für notwendig, die Diskriminierungsrüge gesondert zu prüfen235. In der Tat kommt der Frage nach dem zusätzlichen Vorliegen einer konventionswidrigen Diskriminierung im Vergleich zur vorhandenen Verletzung des Eigentumsrechts allenfalls eine untergeordnete Bedeutung zu. Eine besondere Schwierigkeit bildet schon die Identifizierung der ungerechtfertigt diskriminierenden Handlung. So erscheint fraglich, ob die Verweisung der Rückzahlungsfrage an die nationalen Gerichte und materielle Divergenzen aufgrund eines Rechtsprechungswechsels innerhalb eines Jahrzehnts als solche bereits dem Diskriminierungsverbot entgegenstehen. Deshalb bietet es sich hier an, das Vorgehen der französischen Staatsorgane anhand seines Resultats einer globalen Betrachtung zu unterziehen: Da kraft Europarechts die Erstattung der illegal erhobenen Steuer auf Verlangen für alle Betroffenen zu gewährleisten war, ist unter den gegebenen Umständen keine Rechtfertigung für die permanente und endgültige Verweigerung der Rückzahlung ersichtlich. Diese Wertung deckt sich insoweit mit der Beurteilung des EGMR zu Art. 1 ZP 1 und orientiert sich gleichermaßen an den europarechtlichen Vorgaben. Damit wird umso klarer, warum der Gerichtshof auf weitere Ausführungen hierzu verzichtet hat. Die Feststellung eines Verstoßes auch gegen Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 1 ZP 1 wäre zwar gut begründbar gewesen, hätte aber kaum zu neuen inhaltlichen Erkenntnissen geführt. d) Entschädigung und Urteilsfolgen Hat der Gerichtshof eine Konventionsverletzung festgestellt, kann er nach Art. 41 EMRK der verletzten Partei eine Entschädigung zusprechen, sofern er 233 234 235

Siehe o., 2. c). EGMR, a. a. O., Rn. 65. EGMR, a. a. O., Rn. 66.

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dies für notwendig hält, weil nach innerstaatlichem Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung möglich ist. Die Bf. benannte als Schadensposition die Gesamtsumme der im Jahr 1978 gezahlten Umsatzsteuer (umgerechnet ca. 44.487,– A). Die Einwände der Regierung, die die Anrechnung ersparter Lohnsteuer in nicht mehr genau bezifferbarer Höhe sowie den Abzug von auf die Kunden abgewälzten Beträgen forderte, wies die Bf. unter Hinweis auf das französische Steuerrecht und vorgelegte Bescheinigungen zurück236. Der EGMR erkannte zwar an, dass es der Bf. gelungen sei, auch einen immateriellen Schaden nachzuweisen, sah sein Urteil in dieser Hinsicht aber als ausreichende Entschädigung an237. Bezüglich des materiellen Schadens sprach er sich für eine Kompensation durch Erstattung der im ersten Halbjahr 1978 rechtswidrig erhobenen Umsatzsteuer aus. Weitere Abzüge hielt er nicht für erforderlich, da weder eine Lohnsteuerpflicht feststehe noch eine Weitergabe der Umsatzsteuer an die Kunden der Bf. bewiesen sei. Außerdem hätten Conseil d’État und Regierung auch die S. A. Cabinet Revert et Badelon nicht mit derartigen Gegenforderungen konfrontiert. Daher orientierte sich der Gerichtshof an den von der Bf. beigebrachten Unterlagen und sprach ihr umgerechnet ca. 21.734,– A für den materiellen Schaden zu. Dieses Vorgehen spiegelt die gängige Straßburger Praxis wider, als Entschädigung die Summe festzusetzen, die der Betroffene durch den Konventionsverstoß eingebüßt hat238. Ausdrücklich widersprach der EGMR auch der Ansicht der Regierung, dass die Bf. wegen angeblich unzureichender nationaler Rechtswegerschöpfung nur für einen Teil ihrer Kosten und Auslagen Ersatz verlangen könne. Frankreich musste daher zusätzlich für den von der Bf. in den Verfahren vor den französischen Gerichten und dem EGMR aufgewendeten Betrag (umgerechnet ca. 21.190,– A) in vollem Umfang aufkommen. Der darüber hinausgehende Antrag auf gerechte Entschädigung wurde vom Gerichtshof zurückgewiesen. Das Urteil des EGMR ist nach einer Verfahrensdauer in Straßburg von über fünf Jahren einstimmig ergangen. Zu einer Verweisung an die Große Kammer nach Art. 43 EMRK kam es nicht. Frankreich ist seinen Verpflichtungen aus dem Urteil unterdessen vollständig nachgekommen239.

236

EGMR, a. a. O., Rn. 68 f. Zum Folgenden EGMR, a. a. O., Rn. 70 ff. 238 Vgl. bspw. EGMR, Urt. v. 23.10.1990, Darby ./. Schweden, Ser. A Vol. 187, Rn. 38; EGMR, Urt. v. 29.03.2001, Thoma ./. Luxemburg, Rep. 2001-III, Rn. 71; EGMR, Urt. v. 19.04.2001, Marônek ./. Slowakei, Rep. 2001-III, Rn. 64; Dörr, in: ders./Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 33, Rn. 46. 239 Resolution ResDH(2006)32 betr. das Urteil des EGMR v. 16.04.2002 im Fall S. A. Dangeville ./. Frankreich, angenommen vom Ministerkomitee am 21.06.2006. 237

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5. Analyse, Reaktionen, Bewertung und Auswirkungen a) Identifizierung der Eigentumsposition Das Dangeville-Urteil ist die erste Entscheidung des EGMR, in der europarechtliche Rechte durch die Feststellung eines mitgliedstaatlichen Verstoßes gegen das Eigentumsrecht nach Art. 1 ZP 1 durchgesetzt wurden. Der EGMR integrierte dabei die sich aus dem Europarecht ergebende Rechtsposition der Bf. in den Schutzbereich des Art. 1 ZP 1. Die normative Prägung dieses Schutzbereichs begünstigt generell die Anknüpfung an eine konventionsfremde Rechtsordnung240. So verwies der Gerichtshof mehrfach und ausdrücklich darauf, dass das Begehren der Bf. auf eine Norm des europäischen Gemeinschaftsrechts gestützt sei241. Auch die französische Rechtslage wurde zwar intensiv analysiert. Jedoch kann für den Dangeville-Fall ausgeschlossen werden, dass sich der EGMR allein auf einen im französischen Recht wurzelnden Erstattungs- oder Schadensersatzanspruch bezogen hat242. Denn nach der positiven Entscheidung der Cour administrative d’appel hatte der letztinstanzlich zuständige Conseil d’État die Anerkennung eines derartigen durchsetzbaren Anspruchs nach französischem Recht abgelehnt, und die Verwaltungsanweisung vom 02.01.1986 betraf ausschließlich die Einstellung des Vollzugs des richtlinienwidrigen Steuergesetzes243. Nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs war demnach klar, dass das französische Recht in der maßgeblichen höchstrichterlichen Auslegung zumindest für die gegebene Fallkonstellation keinerlei Rückzahlungsanspruch gewährte. Der EGMR konnte daher nur von einer konventionsrechtlich schutzfähigen Eigentumsposition ausgehen, indem er unmittelbar an das Europarecht anknüpfte. Die Verwendung des Arguments von der EMRK als einem „lebendigen Instrument“ 244, das der EGMR oft bei der Weiterentwicklung seiner Rechtsprechung benutzt245 und funktionell dem Effet-utile-Topos des EuGH ähnelt246, spricht außerdem dafür, dass der Gerichtshof sich hier seines innovativen Vorgehens auch bewusst war. Damit wird unterstrichen, dass eine zeitgemäße Interpretation der EMRK dem europäischen Integrationsprozess Rechnung tragen muss247. So hob 240

Vgl. Daiber, EuR 2007, 406 (410). EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 46 f., 50, 56. 242 Vgl. zweifelnd Daiber, EuR 2007, 406 (408). 243 Siehe o., 1. 244 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 47; siehe auch o., 4. b) aa). 245 Sog. dynamische oder evolutive Auslegung; vgl. Breuer, JZ 2003, 433 (435); K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 239 ff., m.w. N. Siehe schon o., Teil 1, B. II. 2. c). 246 Goerlich, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 101 (110). 247 Vgl. Goerlich, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 101 (113). 241

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der EGMR die Autonomie des Europarechts hervor, als er konstatierte, dass die Judikatur des Conseil d’État in Verbindung mit dem Prinzip der distinction des contentieux ein durch eine europäische Richtlinie begründetes Recht nicht untergehen lassen könne248. Diese Aussage deutet ebenfalls darauf hin, dass der EGMR bei der Bestimmung der Eigentumsposition direkt auf den ursprünglichen richtlinienbasierten Erstattungsanspruch abstellte. Dass dieser Anspruch in den üblichen Verfahren vor den nationalen Gerichten nicht mehr durchsetzbar war, wurde in der Argumentation des EGMR zum Schutzbereich nicht näher diskutiert. Die Berufung auf das Delcourt-Urteil249 lässt aber darauf schließen, dass der Gerichtshof den Steuerrückzahlungsanspruch als Teil einer übergeordneten internationalen (hier: supranationalen) Rechtsordnung aufgefasst hat, die der direkten Beeinflussung durch Regeln des nationalen Rechts entzogen ist. Die Versäumnisse von Legislative, Exekutive und Judikative in Frankreich sprach der EGMR zwar in der Rechtfertigungsprüfung an250, unterließ aber die Auseinandersetzung mit den nach Europarecht daraus resultierenden Staatshaftungsansprüchen. Dieses Vorgehen ist insofern auf Kritik gestoßen, als dem EGMR attestiert wurde, nicht hinreichend zwischen Erstattungs- und Staatshaftungsanspruch zu differenzieren und so auf methodisch zweifelhafte Weise trotz fehlender innerstaatlicher Durchsetzbarkeit eine „berechtigte Erwartung“ i. S. d. Art. 1 ZP 1 anzuerkennen251. Die geäußerten Einwände sind insofern nachvollziehbar, als sie die im ganzen knappe, deskriptive und damit auf den ersten Blick in ihrer Tragweite nur schwer erschließbare Argumentation des EGMR bemängeln252. Gleichzeitig vernachlässigen sie jedoch die praktischen Gegebenheiten des Verfahrens und bleiben eine angemessene Würdigung des dynamischen Fortschritts zugunsten des Europarechts schuldig, den der EGMR mit seinem Urteil im Ergebnis erreicht hat. Zwar nahm der Straßburger Gerichtshof den Dangeville-Fall nicht zum Anlass, eine explizite Aussage zu der Frage zu treffen, ob kraft Europarechts begründete vermögensrechtliche Ansprüche immer als Eigentumspositionen nach Art. 1 ZP 1 zu qualifizieren sind. Angesichts dessen, dass der EGMR stets über Einzelfälle entscheidet, lassen sich generalisierende Schlüsse aus seiner Judikatur gemeinhin 248 Vgl. EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 47. 249 EGMR, Urt. v. 17.01.1970, Delcourt ./. Belgien, Ser. A Vol. 11, Rn. 36; siehe o., 4. b) aa). 250 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 57. 251 Breuer, JZ 2003, 433 (436): „Sichtweise wird der juristischen Realität in keiner Weise gerecht“; Bergmann, EuGRZ 2004, 620 (624): „dogmatisch durchaus [angreifbar]“; Hofstötter, S. 64: „dogmatically unsatisfactory solution“; Dufourcq, RFDA 2003, 953 (954): „[l]a Cour demeure [. . .] confuse dans l’identification de la règle de droit fondatrice de la créance“; Haltern, VerwArch 96 (2005), 311 (341 f.), hält sogar eine „zu Unrecht“ ergangene „Fehlentscheidung“ für möglich; vgl. auch Germelmann, S. 305 ff. 252 Vgl. bereits Tamme, Aspects of enforcement, S. 11; Hofstötter, S. 64.

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auch nur mit Vorsicht ziehen253. Hinsichtlich der Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 1 ZP 1 kommt dem Dangeville-Fall allerdings insofern allgemeine Bedeutung zu, als er exemplarisch die typische strukturelle Lage bei der Durchsetzung vermögenswerter europarechtlicher Rechte abbildet. Hier machte der EGMR das Bestehen einer „berechtigten Erwartung“ und damit eines schutzfähigen Eigentumsrechts nicht von der nationalen, sondern von der europäischen Rechtsordnung abhängig. Existiert demzufolge eine europarechtlich gesicherte Rechtsstellung, kommt es für die Betroffenheit des Schutzbereichs nicht mehr darauf an, ob ihre Durchsetzung und Vollstreckung im nationalen Rechtssystem erfolgreich verläuft. Ansonsten bestände die Gefahr, dass während des nationalen Verfahrens auftretende mitgliedstaatliche Europarechtsverstöße den gebotenen konventionsrechtlichen Schutz der betroffenen Individualrechte dadurch vereiteln, dass die fehlende innerstaatliche Vollstreckbarkeit die Annahme einer „berechtigten Erwartung“ und so bereits die Eröffnung des Schutzbereichs ausschlösse. In einem derartigen „Teufelskreis“ wären die jeweiligen europarechtlichen Rechtspositionen gegenüber mitgliedstaatlichen Eingriffen von vornherein schutzlos gestellt. Vorliegend hätte sich diese generell drohende Gefahr sowohl für den Erstattungs- als auch für den Staatshaftungsanspruch realisiert. Vor diesem Hintergrund ist auch an die ständige Rechtsprechung des EGMR zu erinnern, nach der die Konvention „nicht theoretische oder illusorische, sondern praktische und effektive Rechte“ gewährleiste254. Nimmt man diese Formel ernst, verbietet es sich, europarechtswidrige Maßnahmen der Mitgliedstaaten zum Maßstab der konventionsrechtlichen Beurteilung zu machen. Vielmehr sind diese Maßnahmen selbst an der EMRK zu messen. Verlangt das Europarecht demnach die Durchsetzung eines Anspruchs, darf der Inhaber hierauf auch vertrauen. Damit fällt die entsprechende Forderung in den Schutzbereich des Art. 1 ZP 1, so dass mitgliedstaatliche Eingriffe255 rechtfertigungsbedürftig werden. Auf der Rechtfertigungsebene, die regelmäßig eine differenziertere Prüfung ermöglicht, ist anschließend festzustellen, ob eine Konventionsverletzung vorliegt256. Diese europarechtsfreundliche Auslegung der EMRK ist weder methodisch noch systematisch zu beanstanden257 und garantiert, dass dem sowohl das 253

Vgl. K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 227 ff. EGMR, Urt. v. 09.10.1979, Airey ./. Irland, Ser. A Vol. 32, Rn. 24; EGMR, Urt. v. 13.05.1980, Artico ./. Italien, Ser. A Vol. 37, Rn. 33; EGMR, Urt. v. 06.02.2003, Mamatkulov und Abdurasulovic ./. Türkei, Nr. 46827/99 und 46951/99, Rn. 93, 105; K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 241 f. Siehe auch o., Teil 1, B. II. 2. c). 255 Die Qualifikation einer beeinträchtigenden Maßnahme als Eingriff dürfte in der Regel unproblematisch sein; vgl. schon o., 4. b) bb). 256 Siehe u., b). 257 Vgl. auch Breuer, JZ 2003, 433 (436): „Wertungsentscheidung, die grundsätzlich akzeptiert werden kann und die Gemeinschaftsfreundlichkeit des [EGMR] unterstreicht“. Siehe weiterhin o., Teil 1, B. II. 2. 254

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Europa- als auch das Konventionsrecht prägenden Effektivitätsgrundsatz hinreichend Rechnung getragen werden kann. Dadurch kommt es zu einer Angleichung der materiellen Schutzwirkungen beider Rechtsordnungen258. Im Dangeville-Fall lag es für den EGMR nahe, seiner Prüfung den Erstattungsanspruch aus unmittelbarer Richtlinienwirkung zugrunde zu legen. Dieser deckte das Begehren der Bf. vollständig ab, beruhte auf einer gesicherten Rechtsprechung des EuGH und war weder mit Auslegungs- noch mit Beweisproblemen verbunden. Da die Frist für die Menschenrechtsbeschwerde gemäß Art. 26 EMRK a. F. bzw. Art. 35 Abs. 1 EMRK im Falle der Anstrengung eines Staatshaftungsprozesses erst nach dessen Abschluss beginnt259, waren auch sämtliche Fragen aus dem französischen Verfahren des primären Rechtsschutzes zulässiger Gegenstand des Beschwerdeverfahrens nach der EMRK. Der Erstattungsanspruch stellte damit bereits eine von Art. 1 ZP 1 geschützte Eigentumsposition dar. Dieses subjektive Recht bildete dann auch die Grundlage aller Ansprüche aus europarechtlicher Staatshaftung260. Insoweit bestand für den EGMR kein Bedarf mehr, zusätzlich die dogmatisch anspruchsvolleren Staatshaftungsansprüche einzubeziehen, die ohnehin zum gleichen Rechtsschutzziel geführt hätten und deren europarechtliche Begründung insbesondere hinsichtlich des judikativen Unrechts vom EuGH seinerzeit noch nicht vollständig geklärt war261. Ungeachtet dessen, dass in casu alle Voraussetzungen für die europarechtliche Staatshaftung vorlagen, erscheint es unter Rechtsschutzaspekten auch folgerichtig, dass der EGMR der Bf. nicht die höhere Darlegungslast eines Staatshaftungsanspruchs auferlegt hat, die sie nur aufgrund des von ihr selbst gänzlich unverschuldeten Scheiterns des Erstattungsprozesses getroffen hätte. b) Ausrichtung der Rechtfertigungsprüfung Liegt ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 1 ZP 1 vor, bleibt noch eine konventionsrechtliche Rechtfertigung möglich, gerade wenn der Eingriff doch europarechtlich zulässig sein sollte262. Lässt sich dagegen ein materieller Europarechtsverstoß feststellen, dürfte regelmäßig auch eine Konventionsverletzung zu bejahen sein, wobei verschiedene Begründungen denkbar sind: Entweder ist die nationale gesetzliche Grundlage wegen des Vorrangs des Europarechts unanwendbar und daher untauglich263, oder der Eingriff entspricht nicht dem öffent258

Vgl. allgemein Ress, FS Hirsch, 155 (163). Siehe o., 4. a), und Teil 1, C. IV.; hierzu auch Breuer, JZ 2003, 433 (436); ähnlich wohl Hofstötter, S. 65 f. 260 Siehe o., 3. b) bb). 261 Siehe u., e). 262 Zum europarechtlichen Effektivitätsgebot in Fällen fehlender Rechtswegerschöpfung, Fristversäumung o. ä. durch den Einzelnen vgl. u., III. 3., 4. 263 Siehe o., Teil 1, B. III., sowie u., Teil 5, C. V. 1., D. V. 2.; weiterhin Daiber, EuR 2007, 406 (410 f.). 259

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lichen bzw. Allgemeininteresse oder den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips264. Die Prüfung der Rechtfertigung der in das Eigentumsrecht eingreifenden mitgliedstaatlichen Akte, insbesondere der letztinstanzlichen Gerichtsurteile, ist damit entscheidend für die Vereinbarkeit dieser Eingriffe mit der EMRK. Der EGMR unterließ hier die Evaluierung der gesetzlichen Eingriffsgrundlage und untersuchte, ob die Anwendung des rechtskraftwahrenden Grundsatzes der distinction des contentieux, die der Realisierung jedweden Rückzahlungsanspruchs zuwiderlief, im Allgemeininteresse notwendig war. Der anfängliche Verweis des Gerichtshofs auf seine Ausführungen zum Schutzbereich zeichnete dabei bereits vor, dass die dem Europarecht entgegenstehenden Auswirkungen der distinction des contentieux auch zur Annahme der Konventionswidrigkeit führen würden. Anschließend wies der EGMR teils implizit auf die von Anfang an klare europarechtliche Rechtslage, auf das legislative, exekutive und judikative Unrecht, auf die eklatanten Rechtsschutzdefizite sowie auf das fehlende Verschulden der Bf. hin265. Damit zog er zahlreiche Aspekte heran, die auch für das Vorliegen eines Verstoßes gegen das europarechtliche Effektivitätsgebot relevant sind266. Zwar berief sich der EGMR von sich aus weder auf das Effektivitätsgebot selbst noch auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH. Stattdessen führte er die nach Europarecht gebotene Einzelfallprüfung gleichsam im konventionsrechtlichen Gewand durch267. Besonders bemerkenswert ist, dass Art. 1 ZP 1 auch eine verfahrensrechtliche Komponente beigemessen wurde268, die als Beurteilungskriterium in der Rechtfertigungsprüfung zum Tragen kam269 und es trotz der Unzulässigkeit der Verfahrensrügen der Bf.270 ermöglichte, das Fehlen effektiven Rechtsschutzes hinreichend in die Gesamtbewertung einzubeziehen271. So war hier nach dem Recht der EMRK keinerlei schutzwürdiges Bedürfnis für die Anwendung der distinction des contentieux ersichtlich. Dieses vom EGMR gefundene Resultat entspricht vollends den Postulaten des Europarechts. Dass der Eingriff in das Eigentumsrecht als nicht im Allgemein264 Vgl. Dautricourt, S. 37. Siehe außerdem EGMR, Urt. v. 26.02.2009, Grifhorst ./. Frankreich, Nr. 28336/02, Rn. 102, 104 f., wo sich der Straßburger Gerichtshof bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im Rahmen von Art. 1 ZP 1 auch auf europarechtliche Aspekte bezog; hierzu Michl, Überprüfung, S. 30. 265 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 56 f. 266 Siehe o., 3. b) bb) (3) (b). 267 Vgl. Breuer, JZ 2003, 433 (438); Dufourcq, RFDA 2003, 953 (958); Petersmann, EJLS Vol. 1 No. 2 (2007), S. 28. 268 Allgemein zur Rolle verfahrensrechtlicher Aspekte bei der Prüfung von Art. 1 ZP 1 von Milczewski, S. 153 ff. 269 Siehe bereits EGMR, Urt. v. 22.09.1994, Hentrich ./. Frankreich, Ser. A Vol. 296A (= EuGRZ 1996, 593), Rn. 42, 45 ff.; Rudolf, EuGRZ 1996, 573 (576 f.). 270 Siehe o., 4. a). 271 Siehe o., 4. b) cc) (1); sowie Dufourcq, RFDA 2003, 953 (959 f.).

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interesse liegend eingestuft wurde, bedeutet damit der Sache nach eine faktische Bestätigung und Durchsetzung des europarechtlichen Effektivitätsgebots durch den Straßburger Gerichtshof272, in der gleichzeitig eine scharfe Missbilligung der europarechtswidrigen Rechtsprechung des Conseil d’État liegt273. Die anschließende Feststellung eines verfehlten und unverhältnismäßigen Interessenausgleichs leitet sich hieraus als logische Folge ab. Angesichts der Sach- und Rechtslage ist das Urteil des EGMR zugunsten der Bf. im Ergebnis konsequent und damit klar zu begrüßen. c) Indirekte Sanktionierung der Verstöße gegen die Vorlagepflicht Im Dangeville-Urteil bestimmte der EGMR also nicht nur den Schutzbereich des Art. 1 ZP 1 mit Hilfe des Europarechts, sondern orientierte zumindest de facto auch seine Rechtfertigungsprüfung an dessen Anforderungen. Diese Dominanz des Europarechts lässt erkennen, dass eine Befassung des EuGH mit dem Dangeville-Fall und der zugehörigen französischen Rechtsprechung sehr wünschenswert gewesen wäre. Denn das EU-Rechtsschutzsystem zielt für die von den Einzelnen initiierte Durchsetzung europarechtlicher Individualrechte auf die Kooperation der mitgliedstaatlichen Gerichte mit dem EuGH ab, die vorwiegend über das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV (früher Art. 234 EGV) organisiert ist274. Die involvierten französischen Gerichte haben jedoch mit Ausnahme der Cour administrative d’appel, die zugunsten der S. A. Dangeville judiziert hat, das Europarecht entgegen den Vorgaben des EuGH ausgelegt, ohne ein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten. Der Conseil d’État war darüber hinaus in beiden Verfahren als letztinstanzliches Gericht nach Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) zur Vorlage in Luxemburg verpflichtet275. Seine offene Auflehnung gegen die Vorlagepflicht im ersten sowie ihre Missachtung im zweiten Verfahren führten dazu, dass die S. A. Dangeville keine Möglichkeit mehr hatte, die Einschaltung des EuGH zu erreichen. Denn eine Verfassungsbeschwerde oder sonstige innerstaatliche Sanktionsmechanismen zur Durchsetzung der Vorlagepflicht existieren in Frankreich bis heute nicht276. Da auch die Europäische Kommission die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens unter-

272 Im Ergebnis ebenso Wattel, CMLR 41 (2004), 177 (189); vgl. auch Petersmann, EJLS Vol. 1 No. 2 (2007), S. 28; Dautricourt, S. 37. Mithin ist es alles andere als erstaunlich, dass sich der Einwand der Rechtskraft in der Abwägung nicht durchzusetzen vermochte; a. A. Classen, JZ 2006, 157 (165, Fn. 73). 273 Dufourcq, RFDA 2003, 953 (954). 274 Siehe o., Teil 2, A. I. 1. 275 Vgl. allgemein o., Teil 2, A. II. 1. 276 Vgl. o., Teil 2, A. III. 3. g); sowie Tamme, Aspects of enforcement, S. 11; Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (150).

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ließ277, verblieb der EGMR als einzige Instanz, die effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten imstande war278. Wie bereits gezeigt279, sieht der EGMR in einer willkürlichen Verletzung der Vorlagepflicht einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK. Zumindest das erste Urteil des Conseil d’État von 1986 dürfte selbst den traditionellen restriktiven Willkürmaßstab ohne weiteres erfüllen. Allerdings war die Rüge einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Dangeville-Fall wegen Verfristung unzulässig280, und außerdem fallen Streitigkeiten über steuerrechtliche Ansprüche ohnehin nicht in den Schutzbereich dieser Konventionsgarantie281. In seiner Prüfung von Art. 1 ZP 1 sprach der EGMR die Verstöße gegen die Vorlagepflicht nicht an, sondern stellte lediglich allgemein das Fehlen eines effektiven Rechtsbehelfs zur Durchsetzung des konventionsrechtlichen Eigentumsrechts in Frankreich fest. Dennoch gelang es dem EGMR durch seine europarechtsfreundliche Handhabung von Art. 1 ZP 1282, die entstandene Lücke im materiellen Rechtsschutz zu schließen283 und auf diese Weise auch die Vorlagepflichtverstöße des Conseil d’État zu sanktionieren. In der Wahrnehmung dieser Reserve-284 oder Auffangfunktion liegt ein wichtiger Beitrag des Gerichtshofs zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in der EU285 sowie zur Weiterentwicklung der wechselseitigen Kohärenz von Europa- und Konventionsrechtsordnung286. Eine solche indirekte Durchsetzung der europarechtlichen Vorlagepflicht über eine materielle Konventionsgarantie wie Art. 1 ZP 1 wird insbesondere dann erforderlich, wenn auf mitgliedstaatlicher Ebene entsprechende Rechtsschutzmechanismen nicht vorhanden sind287 oder im konkreten Fall ineffektiv bleiben288 und 277

Vgl. allgemein o., Teil 2, A. III. 2. a). Vgl. Breuer, EuGRZ 2007, 654 (661 f.). 279 Siehe insbesondere o., Teil 2, A. IV. 4. b), c). 280 Siehe o., 4. a). 281 Siehe o., Teil 2, A. IV. 1. c), V. 2. b); EGMR (GK), Urt. v. 12.07.2001, Ferrazzini ./. Italien, Rep. 2001-VII, Rn. 29 ff.; sowie Breuer, JZ 2003, 433 (439 mit Fn. 56); Gundel, EWS 2004, 8 (10, Fn. 16); Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (149). 282 Breuer, JZ 2003, 433 (442); ders., EuGRZ 2007, 654 (662); Haltern, VerwArch 96 (2005), 311 (342); Daiber, EuR 2007, 406 (412). 283 Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (180); Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (151); Breuer, JZ 2003, 433 (439); Dederer, ZaöRV 66 (2006), 575 (609); Peters/ Altwicker, EMRK, § 4, Rn. 12 f.; Gundel, FS Scheuing, 58 (63 f.). 284 So Breuer, JZ 2003, 433 (439, 442); Goerlich, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 101 (119); Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (151 f.); Haltern, VerwArch 96 (2005), 311 (342); E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 59. 285 Vgl. Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (180); Dautricourt, S. 39. 286 Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (869). 287 Siehe o., Teil 2, A. III. 3. g); sowie Breuer, JZ 2003, 433 (439, 442 f.). 288 Denkbar ist etwa auch, dass die nationalen Gerichte infolge von Überlastung nicht imstande sind, in angemessener Zeit zu entscheiden; vgl. Breuer, JZ 2003, 433 (442). 278

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auch über Art. 6 Abs. 1 EMRK keine Abhilfe geschaffen werden kann289. Angesichts der verminderten Kontrolldichte gerade des deutschen BVerfG im Rahmen von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG290 wie auch des EGMR bei Art. 6 Abs. 1 EMRK291 bleibt für derartige Konstellationen noch beträchtlicher Raum. Dieses regelmäßig entstehende Rechtsschutzdefizit lässt sich insbesondere dann weitgehend ausgleichen, wenn die mitgliedstaatlichen Gerichte erkennbar auch materielles Europarecht gebrochen haben, also inhaltlich von bestehender Rechtsprechung des EuGH abgewichen sind oder sonst eine eindeutige Europarechtslage missachtet haben. Dann nämlich steht dem EGMR ein klarer europarechtlicher Bezugspunkt für seine eigene materiell-rechtliche Beurteilung nach der EMRK zur Verfügung. Die anschließende Verurteilung des Mitgliedstaates in Straßburg wird zumeist den Weg für einen europarechtskonformen Abschluss des Verfahrens ebnen, entweder über eine Wiederaufnahme vor den nationalen Gerichten292 und ggf. Nachholung der Vorlage zum EuGH oder durch Gewährung einer ausreichenden Entschädigung gemäß Art. 41 EMRK unmittelbar durch den EGMR. Bei unklarer Europarechtslage ist es dem EGMR zwar in aller Regel möglich, wegen Missachtung der Vorlagepflicht einen verfahrensrechtlichen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK anzunehmen293. Der Feststellung einer europarechtlich implizierten Verletzung einer materiellen Konventionsgarantie wie Art. 1 ZP 1 steht dagegen typischerweise gerade der Umstand entgegen, dass die einschlägigen inhaltlichen Fragen des Europarechts mangels Befassung des EuGH noch offen sind, so dass dem EGMR insoweit der notwendige Referenzrahmen fehlt294. d) Kompetenzabgrenzung zum EuGH So stellt sich bei der Heranziehung des Europarechts durch den Straßburger Gerichtshof die Problematik der Kompetenzabgrenzung zum EuGH, der nach Maßgabe von Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV (früher Art. 220 EGV) für die letztverbindliche Auslegung des Europarechts exklusiv zuständig ist295. Im Dangeville-Urteil vertrat der EGMR weder eine vom EuGH abweichende Interpretation des Europarechts, noch nahm er eigenständig zu offenen europarechtlichen Fragen Stellung. Vielmehr übernahm er bei der Prüfung des Schutz289 Vgl. o., Teil 2, IV. 4.; sowie Breuer, JZ 2003, 433 (439). Vgl. ferner zum Konventionsrechtsschutz gegen überlange Verfahrensdauer o., Teil 2, A. IV. 3. j) dd). 290 Siehe o., Teil 2, A. III. 3. a) aa). 291 Siehe o., Teil 2, A. IV. 4. c). 292 Vgl. hierzu o., Teil 2, A. IV. 4. d), V. 2. b). 293 Siehe o., Teil 2, A. V. 2. a). 294 Siehe sogleich u., d). 295 Siehe o., Teil 2, A. I. 1., 2. a); sowie Giegerich, Europäische Verfassung, S. 712; Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (151); Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 19 EUV, Rn. 5, 14 ff.

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bereichs lediglich die seit langem bestehende und gefestigte Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien296. So war der EGMR in der Lage, die für die Existenz einer konventionsrechtlich geschützten Eigentumsposition maßgebliche Frage, ob ein Anspruch auf Steuerrückzahlung bestand, im Einklang mit der Europarechtsordnung zu beantworten. Da die europarechtliche Rechtslage diesbezüglich keine Zweifel zuließ, konnte der Straßburger Gerichtshof die entsprechenden Vorgaben ohne weiteres anwenden. Damit handelt es sich aus der Sicht des Europarechts um eine gerichtliche Implementierung, die der EGMR gleichsam stellvertretend für den EuGH und die nationalen Gerichte vornahm, indem er die europarechtswidrigen französischen Urteile beanstandete. Wie in anderen Fällen, in denen der EGMR mit konventionsfremdem Recht befasst war297, orientierte er sich hier ebenfalls an der einschlägigen Rechtsprechung der zur Auslegung dieses Rechts berufenen Instanz. Eine Leitwirkung für die konventionsrechtliche Beurteilung entfaltete das Europarecht auch in der Rechtfertigungsprüfung des EGMR. Dies macht schon die Auseinandersetzung des EGMR mit dem Fantask-Urteil des EuGH deutlich, das freilich zu Recht für nicht einschlägig befunden wurde298. Im übrigen richtete der EGMR seine konventionsrechtliche Bewertung des Vorliegens von Allgemeininteresse an den Kriterien aus, die nach Europarecht für die Annahme eines Verstoßes gegen das Effektivitätsgebot zugrunde zu legen sind299. Dabei vermied er allerdings eine unmittelbare Heranziehung des Effektivitätsgebots und zog es vor, nach Möglichkeit in den technischen Kategorien der EMRK zu operieren. Da die Wertungen beider Rechtsordnungen einander sehr weitgehend entsprachen, hatte der EGMR zu einer noch stärker am Europarecht ausgerichteten Argumentation auch keinen Anlass. Vorliegend ist somit kein Übergriff des EGMR in den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich des EuGH auszumachen300. Vielmehr übte der EGMR seine Funktion als „Schiedsrichter“ zwischen dem EuGH und dem Conseil d’État301 zugunsten des Luxemburger Gerichtshofs aus, so dass dessen Letztentscheidungskompetenz gegenüber den nationalen Gerichten gestärkt wurde302, denn der vom EGMR verurteilte Mitgliedstaat muss seine Pflicht zur Behebung der 296 Breuer, JZ 2003, 433 (436, 442); ders., EuGRZ 2007, 654 (662); Weise, in: Esser/ Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (152). 297 Siehe schon o., Teil 1, B. II. 2. c). Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 05.04.2007, Church of Scientology Moscow ./. Russland, Nr. 18147/02, Rn. 95 f.; EGMR (GK), Urt. v. 16.02.2000, Amann ./. Schweiz, Rep. 2000-II, Rn. 52. 298 Siehe o., 4. b) cc) (1). 299 Siehe o., b). 300 So auch Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (152); Breuer, JZ 2003, 433 (438 f.). 301 Dufourcq, RFDA 2003, 953 (953, 960); Tamme, Aspects of enforcement, S. 11. 302 Breuer, JZ 2003, 433 (442). Vgl. auch o., Teil 2, B. IV. 2. c).

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Konventionsverletzung aus Art. 46 Abs. 1 EMRK durch Rückkehr zu europarechtskonformem Verhalten erfüllen303. Die Gefahr eines Kompetenzkonflikts zwischen EGMR und EuGH könnte aber allgemein dann entstehen, wenn in einem Straßburger Verfahren europarechtliche Fragen auftreten sollten, die vom EuGH nicht oder nicht hinreichend geklärt wurden und nicht eindeutig zu beantworten sind. Da der EGMR nicht zu den mitgliedstaatlichen Gerichten i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV zählt, fehlt ihm die Berechtigung, eine Vorlagefrage an den EuGH zu richten und so verbindliche Auskunft über die europarechtliche Rechtslage zu erhalten304. Die ausschließliche Interpretationskompetenz des EuGH steht wiederum einer autonomen Auslegung des Europarechts durch den EGMR entgegen305. Wenn der EGMR bei der Heranziehung des Europarechts dessen Auslegung durch den EuGH missachtete oder missverstände, wäre auch sein darauf gestütztes konventionsrechtliches Ergebnis fehlerbehaftet, da gerade nicht das maßgebliche Verständnis des Europarechts in die Straßburger Entscheidungsfindung einflösse306. Gegenläufige Auffassungen beider Gerichtshöfe zum Europarecht hätten obendrein das Potential, die europäische Rechtseinheit in Mitleidenschaft zu ziehen307. Eine möglichst umfassende Orientierung des EGMR an der vorhandenen einschlägigen Rechtsprechung des EuGH308 kann hier wesentlich dazu beitragen, diese Risiken weitgehend beherrschbar zu halten. Falls eine derartige Judikatur ganz fehlt oder sonst europarechtliche Unklarheiten verbleiben, könnte der EGMR hingegen versuchen, die Problematik über eine rein konventionsrechtliche Vorgehensweise ohne formelle Bezugnahme auf das Europarecht rechtsschutzgerecht aufzulösen309. Darüber hinaus besteht nach der bisherigen Rechtsprechung des EGMR zumindest in Willkürfällen die Möglichkeit, die den Eingriff in ein Konventionsrecht autorisierende nationale Rechtsgrundlage infolge der Unklarheit 303

Vgl. Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (152). Siehe o., Teil 2, A. I. 3. Zum geplanten Verfahren der Vorabbefassung des EuGH im Zuge eines EMRK-Beitritts der EU vgl. o., Teil 1, D. III. 4. 305 Vgl. EuGH, Gutachten 2/13 v. 18.12.2014 (Beitritt der EU zur EMRK), Slg. 2014 (= EuGRZ 2015, 56), Rn. 246; Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 239; Michl, Überprüfung, S. 48 f. Siehe bereits o., Teil 2, A. V. 2. a). 306 E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 24. 307 Breuer, JZ 2003, 433 (438); Daiber, EuR 2007, 406 (409); E. Klein, in: Merten/ Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 24. 308 Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 239, stellt insoweit eine „Vernetzung“ von Europarecht und EMRK fest. Im übrigen hat der EGMR auch bei der Kontrolle der Konventionskonformität des Europarechts eine weitreichende Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf dessen Besonderheiten einschließlich der Rechtsprechung des EuGH erkennen lassen; vgl. EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI (= EuGRZ 2007, 662), Rn. 150, 155 f., 159 ff.; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 56 f.; siehe auch o., Teil 1, D. I. 309 Vgl. auch o., Teil 1, B. I. 304

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der Europarechtslage insgesamt als nicht hinreichend bestimmt und vorhersehbar einzustufen, so dass wegen fehlender Gesetzesqualität eine Verletzung der EMRK anzunehmen ist310. Bei inhaltlich zwar vertretbaren, aber dennoch vorlagepflichtwidrig zustandegekommenen Entscheidungen der mitgliedstaatlichen Gerichte dürfte indes eine materiell-rechtliche Sanktionierung durch den EGMR häufig scheitern, sofern keine besonderen Umstände gegeben sind. Vor diesem Hintergrund wird die dringende Notwendigkeit deutlich, bei einem Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV stets einen wirksamen verfahrensrechtlich konzipierten Rechtsschutz zu gewährleisten311. e) Vorreiterrolle des EGMR bei der Ahndung judikativen Unrechts? Bei der Analyse des Straßburger Dangeville-Urteils bietet es sich trotz der diesbezüglichen Zurückhaltung des EGMR besonders an, den Aspekt der Staatshaftung für judikatives Unrecht näher in den Blick zu nehmen. Schließlich scheiterte der französische Staatshaftungsprozess v. a. daran, dass der Conseil d’État sein eigenes europarechtswidriges Urteil von 1986 über die distinction des contentieux als unabänderlich festschrieb, was gerade mit den typischerweise gegen eine Staatshaftung für Gerichtsurteile vorgebrachten Argumenten begründet wurde312. Der EGMR folgte dieser restriktiven Linie jedoch ebenso wenig wie der EuGH in seinem etwa anderthalb Jahre später ergangenen Köbler-Urteil. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die Dangeville-Rechtsprechung des EGMR als richtungweisend für die folgende EuGH-Judikatur zugunsten einer europarechtlich begründeten Staatshaftung für judikatives Unrecht einzustufen ist. Nach dem obiter dictum des EuGH im Urteil Brasserie du pêcheur und Factortame war zwar bereits seit 1996 grundsätzlich klar, dass sich aus jedem Handeln oder Unterlassen staatlicher Organe eine Haftung des Staates ergeben kann313. Die konkreten Haftungsmodalitäten bei Judikativunrecht sind jedoch erst der mit dem Köbler-Urteil beginnenden Rechtsprechung zu entnehmen. Bei der Anwendung dieser europarechtlichen Grundsätze gelangt man zu dem Ergebnis, dass die Urteile des Conseil d’État von 1986 und 1996 eine solche Staatshaftung auszulösen geeignet waren314. Der tatsächliche Einfluss des Dangeville-Urteils auf die Rechtsprechung des EuGH lässt sich allerdings nicht eindeutig bemessen, zumal der EGMR ausschließlich auf den Erstattungsanspruch abstellte und die europa310 Vgl. EGMR, Urt. v. 12.01.2010, Gillan und Quinton ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2010, Nr. 4158/05, Rn. 76 ff.; EGMR, Entsch. v. 29.06.2006, Weber und Saravia ./. Deutschland, Rep. 2006-XI, Rn. 90; sowie T. Thienel, GYIL 50 (2007), 543 (560). Siehe ausführlich u., Teil 5, C. V. 1., 2. 311 Siehe o., Teil 2, A. V. 4. 312 Vgl. o., 2. d) bb); sowie Breuer, JZ 2003, 433 (437). 313 EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/ 93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 32 ff.; siehe o., 3. b) bb) (3). 314 Siehe o., 3. b) bb) (3), cc).

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rechtliche Staatshaftung selbst nicht thematisierte315. Darüber hinaus nahm weder der EuGH in seinen betreffenden Urteilen noch der Generalanwalt in den zugehörigen Schlussanträgen auf das Dangeville-Urteil Bezug316. Weiterhin ist zu bedenken, dass die französischen Gerichtsurteile neben dem legislativen und exekutiven Unrecht nur einer von mehreren haftungsauslösenden Faktoren waren317. Der Dangeville-Fall hat indes die praktischen Defizite im EU-Rechtsschutzverbund veranschaulicht, die entstehen, wenn nationale Höchstgerichte die Befolgung des Europarechts verweigern. Damit wurde der Bedarf für eine Haftung wegen Judikativunrechts zur Wahrung der Effektivität des Europarechts deutlich erkennbar318. Mit seiner europarechtsfreundlichen Lösung hat der EGMR jedenfalls die grundlegende Tendenz aus der Sicht des Konventionsrechts vorgegeben, dass offenkundig europarechtswidrige Urteile mitgliedstaatlicher Gerichte der Durchsetzung europarechtlicher Verbürgungen nicht entgegenstehen dürfen. Schon insofern lässt sich eine gewisse auch die Staatshaftung für Judikativunrecht begünstigende Vorreiterrolle des EGMR also kaum bestreiten319. Auch wenn sich S. A. Dangeville ./. Frankreich als Präzedenzfall für die Beurteilung von europarechtlichen Staatshaftungsansprüchen demnach nur bedingt eignet, lässt sich aus der vom EGMR zugrundegelegten Reichweite des Schutzbereichs von Art. 1 ZP 1 ableiten, dass derartige Ansprüche unter dem Schutz der EMRK stehen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sie sich auf eine gesicherte Rechtsprechung des EuGH gründen, so dass keine Gefahr divergierender Einschätzungen durch die beiden europäischen Gerichtshöfe zu befürchten ist320. Bislang sind von der Konstellation des Dangeville-Verfahrens wesentlich abweichende Fälle zur Durchsetzung europarechtlicher Staatshaftungsansprüche gegen Mitgliedstaaten nicht vor den EGMR gelangt. Am ehesten sind Menschenrechtsbeschwerden wegen Haftungsansprüchen zu erwarten, die die nationalen Gerichte unter Missachtung ihrer Vorlagepflicht entgegen den Vorgaben des EuGH zurückgewiesen haben. Dann nämlich fällt das Rechtsschutzsystem der EU praktisch aus, so dass dem EGMR wiederum eine Reservefunktion zuguns315 Der Befund von Haltern, VerwArch 96 (2005), 311 (341), der EGMR nehme das judikative Unrecht seitens des Conseil d’État umstandslos an, ist daher formell gesehen unzutreffend. Vgl. auch Dufourcq, RFDA 2003, 953 (959 f.). 316 Vgl. Hofstötter, S. 66; Nikolaou, S. 53; Gundel, EWS 2004, 8 (10 f., Fn. 26). 317 Siehe o., 3. b) bb); vgl. auch Hofstötter, S. 65; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (662). 318 Vgl. Haltern, VerwArch 96 (2005), 311 (342). 319 Breuer, BayVBl. 2003, 586 (587 f.), sieht über Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) eine Präjudizwirkung für das europäische Gemeinschaftsrecht; zustimmend Bertelmann, S. 130; Böhm, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 12, Rn. 110, Fn. 230. Siehe auch Haltern, VerwArch 96 (2005), 311 (341 f.); Hofstötter, S. 64 ff.; Breuer, EuGRZ 2007, 654 (662); Nikolaou, S. 53; Siegerist, S. 30 f.; Gundel, EWS 2004, 8 (10 f., Fn. 26). 320 Vgl. o., d).

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ten eines effektiven Rechtsschutzes zukommt321. Mit der Feststellung einer Konventionsverletzung in diesem Kontext wird nicht nur die europarechtliche Haftung der betreffenden Mitgliedstaaten erneut festgeschrieben; gleichzeitig werden diese auch mit dem Stigma der Menschenrechtsverletzung belegt, das die Sanktionswirkung noch verstärken dürfte. Dagegen sind gegen die Union selbst bzw. gegen die EZB gerichtete Haftungsansprüche Einzelner gemäß Art. 340 Abs. 2, 3 AEUV, über die nach Art. 268 AEUV der EuGH zu entscheiden hat, so lange kein tauglicher Gegenstand einer Beschwerde zum EGMR, bis die EU selbst der EMRK beigetreten ist322. Aufgrund der fehlenden mitgliedstaatlichen Verantwortlichkeit323 und angesichts der bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten vor dem EuGH324 erscheint es derzeit auch nahezu ausgeschlossen, dass eine stellvertretend gegen alle EU-Mitgliedstaaten gerichtete Beschwerde in Straßburg erfolgreich sein könnte. f) Fazit Dadurch, dass der EGMR sein Urteil im Dangeville-Fall auch zu zentralen Punkten oft knapp gehalten und auf hintergründige Ausführungen weitgehend verzichtet hat, erschließen sich einige Gedankengänge methodisch nicht ohne weiteres. Angesichts seiner genuin menschenrechtlich ausgerichteten Funktion überrascht es auch nicht, dass der Gerichtshof keine umfassende dogmatische Klärung der Probleme im Verhältnis zwischen nationalem und europäischem Recht unternommen hat325. Dennoch ist das Dangeville-Urteil im ganzen überzeugend. Es hat nicht nur der Bf. endlich zum jahrelang verweigerten effektiven Rechtsschutz verholfen, sondern stellt einen Beitrag zur durch die EMRK vermittelten Durchsetzung des Europarechts dar326, der in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen ist327.

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Siehe o., c). Siehe hierzu o., Teil 1, D. I., III. 1. 323 Vgl. EGMR, Entsch. v. 09.12.2008, Connolly ./. 15 Mitgliedstaaten der EU, Nr. 73274/01. 324 Siehe zum sog. Bosphorus-Vorbehalt EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 155 ff.; sowie näher o., Teil 1, D. I., m.w. N. 325 Vgl. Dufourcq, RFDA 2003, 953 (960). 326 Insoweit lässt sich das Dangeville-Urteil – ungeachtet aller Unterschiede im Detail – auch als konsequente Fortsetzung der schon im Matthews-Urteil von 1999 (siehe u., Teil 5, A. IV. 4.) verfolgten Linie des EGMR zugunsten des Schutzes europarechtlicher Individualrechte auffassen; vgl. Goerlich, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 101 (119). 327 Breuer, JZ 2003, 433 (443), sieht eine „richtungsweisende Standortbestimmung des Gerichtshofs im System des Rechtsschutzes gegen unterbliebene Richtlinienumsetzung“. 322

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Auch wenn es sich wie stets nur um eine Einzelfallentscheidung handelt, verdienen viele der zu beobachtenden Entwicklungen eine Fortschreibung in der Straßburger Rechtsprechung. Die Auslegung des konventionsrechtlichen Schutzbereichs von Art. 1 ZP 1 mit Hilfe des Europarechts einschließlich der Rechtsprechung des EuGH, die Durchführung einer auch den Anforderungen des Europarechts genügenden Rechtfertigungsprüfung, die materielle Sanktionierung der Missachtung der Vorlagepflicht und die tendenzielle Begünstigung einer Staatshaftung für judikatives Unrecht sind der Fallgestaltung sowie auch generell angemessen und bezeugen Innovationskraft und Fingerspitzengefühl des EGMR. Das Urteil dokumentiert die Bereitschaft des Straßburger Gerichtshofs, das in Art. 1 ZP 1 liegende Schutzpotential auch zugunsten des Europarechts zu aktivieren. Gleichzeitig hat er dabei jede Anmaßung eigener Befugnisse zur Interpretation des Europarechts vermieden. Obgleich der Fall auf eine europäische Steuerrichtlinie zurückging, wurde materiell nicht nur das sich aus dieser Richtlinie ergebende Sekundärrecht in Gestalt der Befreiung von der Umsatzsteuer durchgesetzt328, sondern damit verbunden auch das einschlägige, oft durch EuGH-Rechtsprechung konkretisierte primäre Europarecht. Dies gilt für die unmittelbare Richtlinienwirkung wegen der expliziten Bezugnahme durch den EGMR direkt, für die europarechtliche Staatshaftung, das Effektivitätsgebot und die Vorlagepflicht jedenfalls indirekt. Das Urteil des EGMR bildet damit einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einer immer stärkeren inhaltlichen Parallelisierung von Europa- und Konventionsrecht. Funktionell wächst dem Straßburger Gerichtshof die Rolle einer Wächterinstanz zu, die subsidiär den Schutz europarechtlicher Individualrechte sicherstellt und so den Ausfall bzw. das Versagen der eigentlich berufenen Rechtsschutzorgane kompensiert. Ein die Kontrollintensität des EGMR befördernder Umstand mag im Dangeville-Fall darin zu sehen sein, dass mit der Steuerrückzahlung keine hochpolitischen Fragen oder Probleme betroffen waren, die den Gerichtshof zu einem zurückhaltenderen Vorgehen hätten veranlassen können329. Außerdem ist anzunehmen, dass die Vielzahl und Schwere der Defizite im französischen Verfahren die Europarechtsfreundlichkeit des EGMR besonders gestärkt haben.

II. S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich (2003) Dieser Fall bildete die Grundlage für das erste von zwei Straßburger Folgeverfahren zum Dangeville-Prozess, die ebenfalls auf die Mängel bei der Umsetzung der Sechsten Richtlinie in Frankreich zurückgingen und damit den gleichen Problemkreis betrafen. 328 329

Vgl. Weise, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 141 (147). Dufourcq, RFDA 2003, 953 (956). Siehe hierzu auch u., Teil 5, D. V. 3.

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1. Sachverhalt und Besonderheiten im Verfahren Ebenso wie die S. A. Dangeville330 wurden auch die französischen Versicherungsmaklergesellschaften S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye zur Entrichtung der Umsatzsteuer für das Jahr 1978 herangezogen, ohne dass die während des ersten Halbjahres bestehende unmittelbare Wirkung der Sechsten Richtlinie beachtet wurde331. Das auf die Richtlinie gestützte Begehren der S. A. Cabinet Diot, die für den Zeitraum von Januar bis Mai 1978 gezahlte Umsatzsteuer zu erstatten, wurde am 27.05.1981 vom Tribunal administratif Paris und am 22.06. 1983 vom Conseil d’État zurückgewiesen. Beide Gerichte folgten der Cohn-Bendit-Rechtsprechung332 und verweigerten ohne Vorlage an den EuGH die Anerkennung der unmittelbaren Richtlinienwirkung. Am 07.11.1986 wies der Conseil d’État auch die Klage der S. A. Gras Savoye auf Erstattung der für das erste Halbjahr 1978 gezahlten Umsatzsteuer ab. Nach der stattgebenden Entscheidung der Cour administrative d’appel Paris im Staatshaftungsprozess der S. A. Dangeville vom 01.07.1992 beantragten die beiden anderen Gesellschaften beim directeur des services fiscaux den Ersatz des ihnen durch die Missachtung der Richtlinie entstandenen Schadens. Diese Anträge wurden am 25.05.1993 bzw. am 19.10.1993 vom Finanzminister abgelehnt. Daraufhin klagten beide Gesellschaften im September bzw. Dezember 1993 vor dem Tribunal administratif Paris auf Schadensersatz wegen Verletzung des Gemeinschaftsrechts sowie auf Erstattung der streitigen Umsatzsteuer. Das Gericht wies die Klagen mit Urteil vom 15.03.1995 ab und begründete dies ebenso wie zuvor der Finanzminister unter Berufung auf die Präklusionsvorschrift des Art. L. 190 Livre des procédures fiscales (LPF)333. Danach können sich Erstattungs- und Schadensersatzklagen, die auf die Unvereinbarkeit der Besteuerungsgrundlage mit einer höherrangigen Rechtsnorm gestützt werden, nur auf einen Zeitraum von vier bis fünf Jahren vor der gerichtlichen Entscheidung beziehen, in der diese Unvereinbarkeit festgestellt wurde. Das Tribunal adminis330

Siehe o., I. 1. Zum Sachverhalt EGMR, Urt. v. 22.07.2003, S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich, Nr. 49217/99 und 49218/99, Rn. 8 ff. Kurzes Résumé des Falles bei Klenk, UVR 2005, 136 (137). 332 Siehe o., I. 2. b) aa). 333 Die damals geltende Originalfassung lautete wie folgt (Auszug): „[. . .] Sont instruites et jugées selon les règles du présent chapitre toutes actions tendant à la décharge ou à la réduction d’une imposition ou à l’exercice de droits à déduction, fondées sur la non-conformité de la règle de droit dont il a été fait application à une règle de droit supérieure. Lorsque cette non-conformité a été révélée par une décision juridictionnelle, l’action en restitution des sommes versées ou en paiement des droits à déduction non exercés ou l’action en réparation du préjudice subi ne peut porter que sur la période postérieure au 1er janvier de la quatrième année précédant celle où la décision révélant la non-conformité est intervenue.“ 331

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tratif erläuterte dazu, dass damit die Zeitspanne bestimmt werde, in der die Steuerzahler ihre Ansprüche geltend machen könnten. Diese Regelung verfolge das Ziel der Rechtssicherheit, ohne einer effektiven Rechtsdurchsetzung entgegenzustehen. Da hier auf das Berufungsurteil im Dangeville-Fall vom 01.07.1992 als maßgebliche Gerichtsentscheidung für die Fristberechnung abzustellen sei, seien die sich auf das Jahr 1978 beziehenden Zahlungsforderungen der beiden Gesellschaften wegen Verfristung unzulässig. Die von den Gesellschaften eingelegte Berufung wurde von der Cour administrative d’appel Paris mit Urteilen vom 19.12.1996 zurückgewiesen334. Die daraufhin auch unter Hinweis auf die Garantien der EMRK angestrengte Revision erklärte der Conseil d’État am 09.12.1998 für unzulässig. Während des zweiten Verfahrens leiteten die französischen Gerichte ebenfalls kein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH ein. 2. Verfahren vor dem EGMR Mit ihren am 07. bzw. 11.05.1999 erhobenen Menschenrechtsbeschwerden rügten die S. A. Cabinet Diot und die S. A. Gras Savoye die Verletzung des Eigentumsrechts aus Art. 1 ZP 1, des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK und des Rechts auf wirksame Beschwerde gemäß Art. 13 EMRK i.V. m. Art. 1 ZP 1. Beide Beschwerden wurden von der Kammer zur gemeinsamen Entscheidung verbunden335. a) Zulässigkeit Im Zulässigkeitsverfahren hielt die französische Regierung die Beschwerden hinsichtlich der gerügten Verletzung von Art. 1 ZP 1 für unzulässig, soweit sie an die Steuererhebung selbst anknüpften336. Da diesbezüglich bereits das Urteil des Conseil d’État vom 07.11.1986337 die endgültige innerstaatliche Entscheidung darstelle, sei das Vorbringen der Bf. nach Art. 35 Abs. 1 EMRK verfristet. Der EGMR folgte dieser Argumentation allerdings nicht und stellte stattdessen auf die Urteile des Conseil d’État vom 09.12.1998 ab338. Zur Begründung bezog sich der Straßburger Gerichtshof überraschenderweise nicht auf seine sonstige Spruchpraxis, derzufolge auch ein zur Abhilfe geeigneter Staatshaftungsprozess 334 Zwischenzeitlich hatte der Conseil d’État die Staatshaftungsklage der S. A. Dangeville abgewiesen; siehe o., I. 2. d) aa). 335 Art. 43 Abs. 1 EGMR-VerfO a. F.; jetzt Art. 42 Abs. 1 EGMR-VerfO. 336 EGMR, Entsch. v. 03.09.2002, S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 49217/99 und 49218/99, pdf-Dok. S. 5. 337 Dieses Urteil betraf allerdings allein die S. A. Gras Savoye, wie der EGMR (a. a. O., S. 6) zu Recht angemerkt hat. 338 EGMR, Entsch. v. 03.09.2002, S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 49217/99 und 49218/99, pdf-Dok. S. 6.

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dem innerstaatlichen Verfahren zugerechnet wird339, sondern wies auf den europarechtlichen Kontext des Falles hin. So führte er aus, dass sich die seinerzeit angewandte Rechtsprechung des Conseil d’État im Widerspruch zur damals noch nicht in nationales Recht umgesetzten Sechsten Richtlinie befunden habe. Daher seien angesichts der Umstände die Urteile des Conseil d’État von 1998 und nicht dasjenige von 1986 als innerstaatlicher Verfahrensabschluss anzusehen, so dass die Beschwerden fristgerecht erhoben worden seien. Die dogmatischen Hintergründe dieser Ausführungen ließ der EGMR indes im Dunkeln. Der Schluss, dass das Urteil von 1986 wegen seiner Europarechtswidrigkeit von vornherein als tauglicher Bezugspunkt für den Fristbeginn ausscheide, dürfte überzogen sein, zumal die betroffenen europarechtlichen Rechtspositionen auch in den Folgeurteilen nicht respektiert wurden. Methodisch gesehen erscheint es im Lichte seiner bisherigen Rechtsprechung eher naheliegend, dass der EGMR mit der Heranziehung der französischen Europarechtsverstöße das besondere Bedürfnis nach Abhilfe durch ein zweites nationales Verfahren zu unterstreichen beabsichtigte und konsequenterweise auch die Fristbestimmung hieran ausrichtete. Die aufgeworfenen materiellen Streitfragen zu Art. 1 ZP 1 überwies der EGMR in die Sachprüfung. In Bezug auf die Rüge einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bekräftigte der EGMR, dass Steuerrechtsstreitigkeiten trotz ihrer vermögensrechtlichen Auswirkungen für die Steuerzahler nicht dem Bereich zivilrechtlicher Rechtsverhältnisse zuzuordnen seien340. In den betreffenden Verwaltungsverfahren des vorliegenden Falls seien auch keine strafrechtlichen Elemente enthalten. Der Gerichtshof räumte zwar ein, dass eine Erstattungsklage grundsätzlich auch als privatrechtlicher Akt aufgefasst werden könne, orientierte seine Qualifikation aber an den charakteristischen Elementen des Einzelfalls: Die Befassung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und die von den Bf. vorgebrachten Argumente (Nichteintritt der Verjährung nach Steuerrecht, Unterlassen der Richtlinienumsetzung, Illegalität der Steuererhebung) zeigten, dass es sich hier um einen dem öffentlichen Recht zugehörigen Steuerrechtsstreit handele. Wegen Unanwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK hielt der Gerichtshof folglich diesen Teil der Beschwerde für ratione materiae unvereinbar mit der EMRK und wies ihn gemäß Art. 35 Abs. 3, 4 EMRK als unzulässig zurück. Ebenso wenig teilte der Gerichtshof die Ansicht der Bf., die französischen Behörden hätten durch die mangelnde Würdigung des Schadensersatzbegehrens gegen Art. 13 EMRK i.V. m. Art. 1 ZP 1 verstoßen341. Die innerstaatlichen Gerichte 339

Siehe o., I. 4. a), sowie Teil 1, C. III., IV. Hierzu EGMR, Entsch. v. 03.09.2002, S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 49217/99 und 49218/99, pdf-Dok. S. 6 f. Siehe auch bereits o., Teil 2, A. IV. 1. c). 341 EGMR, a. a. O., S. 7. 340

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hätten die Behandlung der Klagen nicht verweigert, sondern vielmehr in drei Instanzen über sie entschieden. Tatsächlich überschneide sich diese Rüge insoweit mit derjenigen zu Art. 1 ZP 1, als die Bf. die Weigerung der französischen Verwaltungsgerichte angriffen, den durch die behauptete Beeinträchtigung ihres Eigentumsrechts entstandenen Schaden zu ersetzen. Daher wies der Gerichtshof diesen Beschwerdegrund als offensichtlich unbegründet zurück (Art. 35 Abs. 3, 4 EMRK). Mit diesem Vorgehen bestätigte der EGMR seine Rechtsprechung, dass das Recht auf wirksame Beschwerde aus Art. 13 EMRK die Konventionsstaaten zur Überprüfung behaupteter Verletzungen von EMRK-Rechten im jeweiligen Einzelfall verpflichte, aber die erfolgreiche Durchsetzung des betroffenen Konventionsrechts durch den Rechtsbehelf gleichwohl nicht garantiert sein müsse342. Daraus folgt, dass inhaltliche Fehlentscheidungen nationaler Instanzen für sich nicht automatisch einen Verstoß gegen Art. 13 EMRK zu begründen vermögen. Insgesamt wurde also allein die Rüge der Verletzung des Eigentumsrechts aus Art. 1 ZP 1 vom EGMR für zulässig erklärt. b) Begründetheit Zur Begründetheit führten die Bf. aus, dass das eigentumsrechtliche Problem nicht in der gesetzlich festgelegten Steuerpflicht liege, sondern in der Erhebung einer gemeinschaftsrechtswidrigen Steuer infolge der Nichtumsetzung der Sechsten Richtlinie343. Die Ansprüche auf Erstattung rechtsgrundlos entrichteter Steuerbeträge stellten als vermögensrechtliche Forderungen Eigentum i. S. d. Art. 1 ZP 1 dar. Demgegenüber entgegnete die französische Regierung, dass die Steuerpflicht selbst nicht als Verletzung des Eigentumsrechts angesehen werden könne344. Die nationalen Gerichte hätten sich der Cohn-Bendit-Rechtsprechung des Conseil d’État angeschlossen, und dem EGMR stehe es nicht zu, die gerichtliche Anwen-

342 Die Beschwerdeinstanz muss aber in der Lage sein, sich inhaltlich mit der gerügten Konventionsverletzung zu befassen und einen angemessenen Rechtsschutz zu gewährleisten. EGMR (GK), Urt. v. 08.06.2006, Sürmeli ./. Deutschland, Rep. 2006-VII (= EuGRZ 2007, 255), Rn. 98; EGMR, Urt. v. 27.09.1999, Smith und Grady ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-VI, Rn. 135 ff.; EGMR, Urt. v. 25.03.1993, Costello-Roberts ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 247-C, Rn. 40; EGMR, Urt. v. 30.10.1991, Vilvarajah et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 215, Rn. 122; EGMR, Urt. v. 06.02.1976, Swedish Engine Drivers’ Union ./. Schweden, Ser. A Vol. 20, Rn. 50; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 196; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 13 EMRK, Rn. 4; J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung, S. 213 f.; Tonne, S. 184 ff.; Wetzel, S. 97 f.; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 20, Rn. 33, 38, 42, 45. 343 EGMR, Urt. v. 22.07.2003, S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich, Nr. 49217/99 und 49218/99, Rn. 24. 344 EGMR, a. a. O., Rn. 25.

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dung des innerstaatlichen Rechts zu überprüfen345. Die Erwartungen der Bf., die Steuerbeträge zurückzuerlangen, seien nicht von Art. 1 ZP 1 geschützt. Die angegriffenen Verwaltungsgerichtsentscheidungen beruhten auf dem gemeinschaftsrechtskonformen Prinzip der distinction des voies de recours, wahrten die Verhältnismäßigkeit und seien damit konventionsgemäß. Der EGMR verwies sogleich auf sein Dangeville-Urteil, in dem er zumindest vom Vorliegen einer berechtigten Erwartung auf Rückzahlung der für das erste Halbjahr 1978 rechtsgrundlos erhobenen Steuer ausgegangen war346. Auch hinsichtlich einer möglichen Rechtfertigung wiederholte er lediglich kurz seine dortigen Ausführungen, dass der Eingriff nicht im Allgemeininteresse erforderlich gewesen sei und der unzureichende innerstaatliche Rechtsschutz für die Konventionsgarantie das gerechte Gleichgewicht zwischen dem Interesse der Gemeinschaft und den Anforderungen des Grundrechtsschutzes verletzt habe. Da der EGMR die Gründe der vorliegenden Beschwerden für identisch mit jenen im Dangeville-Verfahren hielt, übertrug er die zugehörige Beurteilung ohne nähere Unterscheidung auf den Ausgangsfall und stellte auch hier eine Verletzung von Art. 1 ZP 1 fest. c) Urteilsfolgen Als gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK sprach der Gerichtshof beiden Bf. die im betreffenden Zeitraum überzahlten Steuerbeträge zu347. Das darüber hinausgehende Begehren der Bf., die zusätzlich einen erheblichen Inflationsausgleich verlangten, wies er dagegen zurück. Allerdings hielt der EGMR die geltend gemachten Verfahrenskosten von 15.244,90 A pro Gesellschaft in vollem Umfang für erstattungsfähig. Nach einer Verfahrensdauer vor dem EGMR von knapp über vier Jahren erging das Urteil einstimmig und wurde ohne Befassung der Großen Kammer rechtskräftig. Frankreich hat das Urteil befolgt und die festgesetzten Summen an die Bf. ausgezahlt348. 3. Europarechtliche Rechtslage Wie im Dangeville-Fall erlangten die Bf. auch hier Ansprüche auf Rückzahlung der richtlinienwidrig erhobenen Steuerbeträge aus unmittelbarer Richtlinien345 Das hierzu als Nachweis angegebene Urteil des EGMR im Fall Dulaurans ./. Frankreich (Nr. 34553/97) v. 07.03.2000 ist tatsächlich am 21.03.2000 ergangen, stützt die Argumentation der Regierung aber nicht. 346 Zum Folgenden EGMR, Urt. v. 22.07.2003, S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich, Nr. 49217/99 und 49218/99, Rn. 26 ff.; siehe außerdem o., I. 4. b). 347 Für die S. A. Cabinet Diot 102.807,50 A und für die S. A. Gras Savoye 275.991,57 A. Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 30 ff. 348 Resolution ResDH(2006)31 betr. das Urteil des EGMR v. 22.07.2003 im Fall S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich, angenommen vom Ministerkomitee am 21.06.2006.

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wirkung sowie aus europarechtlicher Staatshaftung wegen legislativen und administrativen Unrechts349. Die Verweigerung des Primärrechtsschutzes unter Verletzung der Vorlagepflicht350 durch den Conseil d’État ist als ebenfalls haftungsauslösendes judikatives Unrecht einzuordnen351. Eine Besonderheit liegt aber darin, dass die Bf. hier erst nach dem Berufungsurteil im Dangeville-Fall 1992 einen Staatshaftungsprozess begonnen haben. Die jeweiligen Klagen wurden daher von den französischen Gerichten aufgrund der steuerprozessrechtlichen Präklusionsvorschrift des Art. L. 190 LPF abgewiesen, ohne dass die distinction des contentieux oder allgemeine prozessrechtliche Verjährungsregeln eine Rolle in den nationalen Gerichtsverfahren gespielt hatten. Die Vereinbarkeit dieses Vorgehens mit dem Europarecht wird im folgenden untersucht. a) Allgemeine Vereinbarkeit von Art. L. 190 LPF mit dem Europarecht Der EuGH hat sich mit der Europarechtskonformität von Art. L. 190 LPF bereits in seinem Urteil Roquette Frères auseinandergesetzt. Dort führte er unter Berufung auf den Wortlaut der Norm und die Angaben der französischen Regierung352 aus, dass Art. L. 190 LPF sämtliche Fälle betreffe, in denen die Unvereinbarkeit der nationalen Grundlage der Abgabenerhebung mit einer höherrangigen Rechtsvorschrift nationaler, internationaler oder gemeinschaftsrechtlicher Natur von einem nationalen, internationalen oder Gemeinschaftsgericht festgestellt worden sei353. Da die entsprechende Frist demnach in gleicher Weise für auf das Gemeinschaftsrecht wie für auf das innerstaatliche Recht gestützte Rechtsbehelfe gelte, verstoße sie nicht gegen das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot. Auch eine Verletzung des Effektivitätsgebots durch Art. L. 190 LPF an sich nahm der EuGH nicht an, weil die der Rechtssicherheit dienende vier- bis fünfjährige Ausschlussfrist als angemessen einzustufen sei354. Diese grundsätzliche Beurteilung des EuGH, die seiner gängigen Rechtsprechung zu den europarechtlichen Anforderungen an die Verfahrensausgestaltung in den Mitgliedstaaten355 entspricht, ist angesichts des Ziels von Art. L. 190 LPF 349

Vgl. o., I. 3. a) bb), b) bb) (1), (2). Art. 177 Abs. 3 EWGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV). Vgl. o., Teil 2, A. II. 1. 351 Vgl. o., I. 3. b) bb) (3) (a). 352 EuGH, Urt. v. 28.11.2000, Roquette Frères, Rs. C-88/99, Slg. 2000, I-10465, Rn. 17. Die Regierung hatte auf die Rechtsprechung der Cour de cassation verwiesen, die Art. L. 190 LPF auch bei Betroffenheit höherrangigen nationalen Rechts angewandt hatte; vgl. Cour de cassation, Urt. v. 17.11.1998 und v. 06.04.1999; hierzu auch GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussanträge v. 11.05.2000 in der Rs. C-88/99, Roquette Frères, a. a. O., Rn. 27. 353 EuGH, Urt. v. 28.11.2000, Roquette Frères, Rs. C-88/99, Slg. 2000, I-10465, Rn. 29 ff. 354 EuGH, a. a. O., Rn. 22 ff. 355 Siehe o., I. 3. b) bb) (3) (b). 350

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auch nicht zu beanstanden. Die Vorschrift soll nämlich sicherstellen, dass diejenigen Steuerzahler, die von einer wegen unerkannt gebliebenen Verstoßes gegen höherrangiges Recht illegalen Steuererhebung betroffen sind, zumindest in gewissem Umfang noch Rückzahlungsansprüche geltend machen können, obwohl sie erst nach der erstmaligen gerichtlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit Rechtsmittel ergriffen haben356. Auf die Zulässigkeit bereits zuvor erhobener Klagen hat Art. L. 190 LPF hingegen keinen Einfluss357. Lediglich erst nachträglich verfolgte weitergehende Ansprüche, die Fälle jenseits der festgelegten Frist betreffen, werden um der Rechtssicherheit willen ausgeschlossen. Ebenso wie vorliegend die Sechste Richtlinie358 war indes auch im Fall Roquette Frères die einschlägige Richtlinie bei Klageerhebung noch nicht in nationales Recht umgesetzt worden. Dennoch griff der EuGH nicht auf seine frühere Rechtsprechung zurück, nach der nationale Rechtsmittelfristen für Klagen zum Schutz von Rechten aus einer Richtlinie erst nach ordnungsgemäßer Umsetzung der Richtlinie zu laufen beginnen359. Diese sog. Emmottsche Fristenhemmung hatte der Luxemburger Gerichtshof seinerzeit damit begründet, dass die Einzelnen vorher keine hinreichende Kenntnis von ihren Rechten erlangen könnten360. Im Urteil Roquette Frères wie in der übrigen jüngeren Judikatur bezog er diese Aussagen hingegen allein auf die damals entschiedene Fallkonstellation361 und wandte auch bei Betroffenheit von Richtlinien regelmäßig seine zum Effektivitätsgebot entwickelten allgemeinen Kriterien an362. 356 Vgl. Tribunal administratif Paris, Urt. v. 15.03.1995, wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 17; sowie die Ausführungen der frz. Regierung, wiedergegeben bei GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlussanträge v. 11.05.2000 in der Rs. C-88/99, Roquette Frères, Slg. 2000, I-10465, Rn. 18. 357 So hatte die bereits Anfang der 1980er Jahre erhobene Erstattungsklage der S. A. Cabinet Revert et Badelon schließlich 1996 vor dem Conseil d’État Erfolg, ohne dass Art. L. 190 LPF zur Anwendung gekommen wäre; siehe o., I. 2. c). 358 Vgl. EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 40. 359 EuGH, Urt. v. 25.07.1991, Emmott ./. Minister for Social Welfare und Attorney General, Rs. C-208/90, Slg. 1991, I-4269, Rn. 23; Prokopf, S. 239 ff.; Leonard/Szczekalla, UR 2005, 420 (426 f.); Friedrich/Nagler, DStR 2005, 403 (405); Sperlich, ÖJZ 2001, 121 (121 ff.); Müller-Franken, DVBl. 1998, 758 (759 f.); Seibert, BB 1995, 543 (543, 545 ff.); Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 186. 360 EuGH, a. a. O., Rn. 21 f. 361 Der Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Emmott, war unter Verstoß gegen den Grundsatz von Treu und Glauben jegliche Möglichkeit genommen worden, ihren richtliniengestützten Anspruch geltend zu machen. In einem derartigen Fall wäre auch nach den nunmehr anwendbaren Grundsätzen wohl ein Verstoß gegen das Effektivitätsgebot zu bejahen; Gundel, NVwZ 1998, 910 (912). 362 EuGH, Urt. v. 28.11.2000, Roquette Frères, Rs. C-88/99, Slg. 2000, I-10465, Rn. 34; EuGH, Urt. v. 02.12.1997, Fantask et al. ./. Industriministeriet, Rs. C-188/95, Slg. 1997, I-6783, Rn. 48, 51 f.; EuGH, Urt. v. 06.12.1994, Johnson ./. Chief Adjudication Officer, Rs. C-410/92, Slg. 1994, I-5483, Rn. 26 ff.; EuGH, Urt. v. 21.11.2002,

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Ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Anwendung des Europarechts praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert, ist danach stets im Einzelfall nach Maßgabe ihrer Stellung im Gesamtverfahren sowie von Ablauf und Besonderheiten des Verfahrens vor den nationalen Stellen zu beurteilen363. Der Sache nach werden die nationalen Verfahrensmodalitäten im Rahmen einer Gesamtabwägung mit dem europarechtlichen Effektivitätsinteresse einer Vernünftigkeitsprüfung unterworfen364. Die vom EuGH im Urteil Roquette Frères, das einen Fall ohne weitere Besonderheiten im nationalen Rechtsschutz betraf, anerkannte abstrakte Europarechtskonformität von Art. L. 190 LPF erlaubt somit keinen zwingenden Schluss darauf, ob auch bei der Anwendung der Vorschrift im vorliegenden Verfahren die Bedingungen für einen effektiven Rechtsschutz konkret gewährleistet waren. b) Vorliegendes Verfahren Der Ausgangsfall ist zunächst dadurch gekennzeichnet, dass die Situation der Bf. gerade nicht von dem mit Art. L. 190 LPF typischerweise verfolgten legitimen Zweck, bislang unerkannt gebliebene Ansprüche zu begrenzen365, abgedeckt wird. Denn die Inkompatibilität von Art. 256 CGI mit der Sechsten Richtlinie war angesichts des klaren Widerspruchs von Anfang an offensichtlich und wurde von den Bf. in den Erstattungsprozessen auch bis zur letzten Instanz erfolglos geltend gemacht. Gleichwohl ignorierten die französischen Gerichte unter Berufung auf die Cohn-Bendit-Rechtsprechung die unmittelbare Wirkung der Richtlinie366. Zudem missachtete der Conseil d’État wiederholt seine Vorlagepflicht und nahm dem EuGH damit jeweils die Möglichkeit, auf die Verletzung des Europarechts durch Frankreich hinzuweisen. Daher wurde die entsprechende Feststellung von einem nationalen Gericht erst 1992 im (allerdings nicht rechtskräftig gewordenen) Berufungsurteil des Dangeville-Falls getroffen367, also 14 Jahre nach dem Veranschlagungszeitraum der Steuer. Unterwürfe man die Bf. nun in Anknüpfung hieran der Ausschlussfrist des Art. L. 190 LPF, zöge dies in doppelter Hinsicht absurde Konsequenzen nach sich: Erstens gereichte ihnen die Rechtsschutzverweigerung im Erstattungsprozess erneut zum Nachteil, weil sie sonst bereits selbst das die Inkompatibilität mit höherrangigem Recht feststellende Urteil herbeigeführt hätten und damit von Art. L. 190 LPF nicht mehr betroffen gewesen wären. In der Sache berief sich Cofidis, Rs. C-473/00, Slg. 2002, I-10875, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 07.06.2007, van der Weerd et al., verb. Rs. C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I-4233, Rn. 33, 41. Zustimmend Gundel, NVwZ 1998, 910 (916). 363 Ausführlich o., I. 3. b) bb) (3) (b). 364 Herrmann, Richtlinienumsetzung, S. 186 f. 365 Siehe o., a). 366 Siehe o., 1. 367 Siehe o., I. 2. d) aa).

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Frankreich damit unzulässigerweise auf seine eigenen früheren Verstöße gegen das Europarecht. Zweitens könnte eine andauernde Verzögerung der Inkompatibilitätsfeststellung durch die mitgliedstaatlichen Gerichte dazu führen, dass mit fortschreitendem Zeitablauf immer mehr Ansprüche auf Steuerrückzahlung der Ausschlussfrist unterfallen und auch in einem Staatshaftungsprozess nicht mehr durchsetzbar sind368. Im Ausgangsfall wird besonders deutlich, dass der Eintritt der nachteiligen Folgen der Ausschlussfrist maßgeblich vom Verhalten der mitgliedstaatlichen Organe abhing, wohingegen die auf den Rechtsweg verwiesenen Bf. nur marginale Einflussmöglichkeiten wahrnehmen konnten. Zwar wäre die Ausschlussfrist des Art. L. 190 LPF wohl von vornherein nicht anwendbar gewesen, wenn die Bf. ebenso wie die S. A. Dangeville unmittelbar nach dem Ende ihrer Erstattungsprozesse Staatshaftungsklage erhoben hätten. Eine solche Obliegenheit trifft die Rechtsschutzsuchenden nach Europarecht aber nicht: So hat der EuGH in einem Fall, der ebenfalls die Durchsetzung europarechtlich begründeter Zahlungsanprüche zum Gegenstand hatte, sogar für eine Durchbrechung der Bestandskraft europarechtswidriger mitgliedstaatlicher Verwaltungsakte nicht vorausgesetzt, dass der Einzelne zuvor einen Staatshaftungsprozess gegen den Mitgliedstaat geführt hat369. Hier sind keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich, die höhere Anforderungen an die Rechtsschutzbemühungen der Bf. rechtfertigen könnten. Im Gegenteil haben die Bf. lediglich finanzielle Kompensation statt einer formellen Aufhebung der vorherigen Entscheidungen verlangt, deren Rechtskraft dadurch nicht berührt wird370. Außerdem hätte auch ein früherer Staatshaftungsprozess in Frankreich jedenfalls deswegen nicht zum Rechtsschutzziel geführt, weil der Conseil d’État sich in derartigen Fällen zumindest noch bis 1996 unter Berufung auf die distinction des contentieux weigerte, das Resultat eines Erstattungsverfahrens über die Staatshaftung zu korrigieren, wie das Beispiel des Dangeville-Falles zeigt371. Nach den schweren Defiziten des Erstattungsprozesses wäre den Bf. eine weitere Verlängerung des innerstaatlichen Verfahrens unter derart widrigen Umständen ohnehin nicht zumutbar gewesen. Diese einzelnen Aspekte und Besonderheiten der hier gegebenen Rechtsschutzkonstellation führen europarechtlich zu dem Schluss, dass die französischen Verfahrensbedingungen die praktische Durchsetzung des Europarechts für die Bürger zumindest übermäßig erschwert und damit das Effektivitätsgebot verletzt haben. Denn die konkrete Anwendung von Art. L. 190 LPF führte vorliegend zu widersinnigen Ergebnissen: Die evident europarechtswidrigen Urteile aus den Er368 Außerdem dürfte die Frist dann auch einer möglichen Wiederaufnahme bereits im Primär- und Sekundärrechtsschutz abgeschlossener Verfahren entgegenstehen. 369 EuGH, Urt. v. 13.01.2004, Kühne & Heitz, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837, Rn. 26 ff. 370 Vgl. EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 39; sowie o., I. 3. b) bb) (3). 371 Siehe o., I. 2. d).

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stattungsprozessen wurden festgeschrieben, ohne dass den Bf. effektiver Rechtsschutz gewährt worden wäre. Damit war auch ein Festhalten an einer den Schutz der Rechtssicherheit bezweckenden Norm unverhältnismäßig, so dass Art. L. 190 LPF hier zugunsten der Effektivität des Europarechts zurückzutreten hatte372. Angesichts der grundsätzlichen Billigung von Art. L. 190 LPF als abstrakt europarechtskonform durch den EuGH und wegen der Komplexität der relevanten Abwägungsgesichtspunkte dürften die Art. L. 190 LPF dennoch anwendenden Urteile des Conseil d’État von 1998373 aber kein offenkundiges judikatives Unrecht begründen, das für eine zusätzliche Anknüpfung der mitgliedstaatlichen Staatshaftung erforderlich ist374. Dies ändert aber nichts an der Verletzung der Vorlagepflicht durch den Conseil d’État als letztinstanzliches Gericht auch in den späteren Staatshaftungsprozessen, da die Bf. auf die europarechtlichen Probleme im Falle der Anwendung von Art. L. 190 LPF ausdrücklich hingewiesen haben und sich somit eine Frage nach Art. 177 Abs. 1 lit. a EGV a. F. (jetzt Art. 267 Abs. 1 lit. a AEUV) stellte. Von den genannten Abweichungen abgesehen, deckt sich damit das Ergebnis der europarechtlichen Prüfung für das Ausgangsverfahren mit dem im Dangeville-Fall gefundenen: Den Bf. wurde die Rückzahlung der Umsatzsteuer europarechtswidrig vorenthalten. 4. Bewertung des Urteils des EGMR Bei einer Analyse der Ausführungen des EGMR zur Begründetheit fällt auf, dass das Urteil S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich von 2003 weitgehend aus Verweisen auf die Dangeville-Rechtsprechung besteht. Deren Leitlinien wurden ohne eine erneute inhaltliche Auseinandersetzung strikt auf den Folgefall angewandt. Der EGMR wiederholte und bestätigte damit seine Anknüpfung an und seine grundlegende Wertentscheidung für den Anspruch auf Steuererstattung. Die europarechtsfreundliche Haltung aus dem Dangeville-Urteil wurde beibehalten, Ergänzungen oder Präzisierungen zur Rolle des Europarechts im Konventionssystem finden sich allerdings nicht. Für die typischen Fälle der Verletzung von auf europäischen Steuerrichtlinien basierenden Individualrechten ist das Dangeville-Urteil also nicht als Ausnahmeerscheinung, sondern als Leiturteil mit Präzedenzwirkung zu begreifen, an dem sich auch die zukünftige Rechtsprechung des EGMR ausrichten wird. Angesichts der starken strukturellen und inhaltlichen Ähnlichkeit zum Dangeville-Fall375 verwundert es auch kaum, dass der Gerichtshof sein dortiges Urteil nunmehr in S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye zugrundegelegt hat. Da 372 373 374 375

Vgl. allgemein Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, S. 123, Rn. 420. Siehe o., 1. (am Ende). Siehe o., I. 3. b) bb) (3). Vgl. Klenk, UVR 2005, 136 (137).

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auch hier wiederum ein Verstoß gegen das europarechtliche Effektivitätsgebot festzustellen war, bestand der Sache nach die gleiche Ausgangslage. Folglich hat der EGMR im Ergebnis zu Recht beide Fälle in identischer Weise behandelt, obwohl er sich nicht ausdrücklich am Europarecht orientierte und auf eine detaillierte Abwägung zwischen der Effektivität einerseits und der Verfahrensautonomie bzw. Rechtssicherheit andererseits verzichtete. Im Rahmen des Bezugs auf das Dangeville-Urteil inkorporierte der EGMR dennoch den Aspekt des nationalen Rechtsschutzdefizits ausdrücklich in die Rechtfertigungsebene der Prüfung eines Verstoßes gegen die materielle Eigentumsgarantie376. Damit gelang es dem Gerichtshof, die bestehende Blockade wirksamen Rechtsschutzes aufzubrechen und über Art. 1 ZP 1 die Durchsetzung der betroffenen europarechtlichen Rechtspositionen gegenüber dem effektivitätshindernden französischen Prozessrecht sicherzustellen377. Auch die Schwächen im Gewährleistungsgehalt des Rechts auf wirksame Beschwerde aus Art. 13 EMRK378 konnten so letztlich ausgeglichen werden.

III. Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich (2007) Ebenso wie die vorhergehenden Beschwerdeverfahren betraf auch der Fall Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich die Ansprüche französischer Versicherungsmaklergesellschaften, die im ersten Halbjahr 1978 unter Verstoß gegen die Sechste Richtlinie zur Umsatzsteuer herangezogen worden waren. 1. Sachverhalt und nationales Verfahren Bf. waren die Pariser Gesellschaften Aon Conseil et Courtage S. A., die im Wege der Rechtsnachfolge der Gesellschaft SGAP Expansion die Rechte von deren Vorgängergesellschaften S. A. SGAP und S. A. OGIA übernommen hatte, und Christian de Clarens S. A. Letztere scheiterte mit insgesamt vier im Oktober 1978 und Juni 1979 unter Berufung auf die Sechste Richtlinie erhobenen Klagen auf Rückzahlung der rechtswidrig erhobenen Umsatzsteuer am 08.01.1981 vor dem Tribunal administratif Paris, weitere Instanzen wurden nicht befasst. SGAP und OGIA brachten keinerlei Erstattungsbegehren vor. Nach dem Berufungsurteil im Dangeville-Fall vom 01.07.1992 verlangten SGAP, OGIA und Christian de Clarens von der Verwaltung am 20.12.1993 den Ersatz des erlittenen Schadens. Diese Anträge wurden im Februar bzw. März 1994 vom Finanzminister unter Hinweis auf Art. L. 190 LPF als unzulässig abgelehnt.

376 EGMR, Urt. v. 22.07.2003, S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich, Nr. 49217/99 und 49218/99, Rn. 27. 377 Vgl. Klenk, UVR 2005, 136 (137). 378 Siehe o., 2. a).

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Daraufhin strengten alle drei Gesellschaften am 09.04.1994 einen Staatshaftungsprozess vor dem Tribunal administratif Paris an und machten insbesondere die unterbliebene Richtlinienumsetzung geltend. Dort wurden ihre Klagen mit denen der S. A. Cabinet Diot und Gras Savoye verbunden und 1995 für unzulässig erklärt379. Das Gericht stellte fest, dass sich Art. L. 190 LPF sowohl auf Erstattungs- als auch auf Schadensersatzklagen beziehe und als gemeinschaftsrechtskonform einzustufen sei380, ging aber nicht auf den jeweiligen Verfahrensablauf im Einzelfall ein. Im folgenden Berufungsverfahren vor der Cour administrative d’appel Paris bekräftigten die Gesellschaften SGAP Expansion und Christian de Clarens, dass ihnen Art. L. 190 LPF wegen der vorherigen Gemeinschaftsrechtsverletzung nicht entgegengehalten werden könne, blieben damit jedoch wiederum erfolglos381. Die anschließend eingelegte Revision wurde schließlich 2000 in beiden Fällen vom Conseil d’État ebenfalls aufgrund von Art. L. 190 LPF zurückgewiesen382. Ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH wurde von keiner Instanz initiiert. 2. Verfahren vor dem EGMR In ihrer am 03.05.2001 erhobenen Individualbeschwerde zum EGMR machten die Bf. die Verletzung von Art. 1 ZP 1 allein und i.V. m. Art. 14 EMRK sowie von Art. 6 und 13 EMRK geltend. a) Zulässigkeit Gegenstand der einstimmig ergangenen Zulässigkeitsentscheidung des EGMR war im wesentlichen die Opfereigenschaft von Aon Conseil et Courtage i. S. d. Art. 34 S. 1 EMRK, die von der französischen Regierung mit der Begründung bestritten wurde, dass Aon Conseil et Courtage ihre Gläubigerstellung hinsichtlich des Anspruchs auf Steuerrückzahlung vor dem Hintergrund der verschiedenen Unternehmensübernahmen nicht hinreichend nachgewiesen habe383. Aon Conseil et Courtage trug dagegen vor, dass sie mit dem Vollzug der Vermögensübertragungen in die gesamten Rechtspositionen von SGAP und OGIA eingetreten sei und diese auch vor französischen Gerichten geltend gemacht habe384. 379

Siehe o., II. 1. Tribunal administratif Paris, Urt. v. 15.03.1995, teils wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 17. 381 Cour administrative d’appel Paris, Urt. v. 28.01.1997, teils wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 23. 382 Conseil d’État, Urt. v. 10.11.2000, teils wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 25.01. 2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 26. 383 Vgl. EGMR, Entsch. v. 02.06.2005, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 70160/01, pdf-Dok. S. 6. 384 Vgl. EGMR, a. a. O., S. 7 f. 380

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Der EGMR analysierte detailliert die relevanten Anspruchsübergänge zwischen den einzelnen Gesellschaften und gelangte anhand der Parteivorträge, der Eintragung im französischen Handels- und Gesellschaftsregister und der Zulassung des Berufungverfahrens vor der Cour administrative d’appel sowie unter Hinweis auf den versicherungsrechtlichen Charakter des Anspruchs zu dem Schluss, dass der aufgeworfene Beschwerdegrund direkt die persönlichen Interessen von Aon Conseil et Courtage betreffe und deren Opfereigenschaft damit gegeben sei385. Soweit die Beschwerde Art. 1 ZP 1 betraf, überwies sie der Gerichtshof in die Begründetheitsprüfung. Das übrige Vorbringen wurde dagegen für unzulässig erklärt386, bezüglich Art. 14 EMRK mangels Anhaltspunkten für einen Verstoß wegen offensichtlicher Unbegründetheit, hinsichtlich Art. 6 und 13 EMRK jeweils mit der gleichen Begründung wie im Fall S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich387. b) Begründetheit Die französische Regierung bestritt vor dem EGMR die Vergleichbarkeit der vorliegenden Situation mit dem Dangeville-Fall, da die Gesellschaften hier nicht von Anfang an gegen die illegale Steuererhebung vorgegangen seien, so dass die vorgebrachten Ansprüche sowohl nach Art. L. 190 LPF als auch nach allgemeinen Verjährungsregeln ausgeschlossen seien388. Wegen dieser Versäumnisse bei der Rechtsverfolgung könnten sich die Bf. nach dem Prinzip der Subsidiarität nicht auf das Fehlen effektiver Rechtsmittel wegen der gerichtlichen Missachtung der unmittelbaren Richtlinienwirkung berufen. Jedenfalls sei die innerstaatliche Abweisung der Klagen aus Gründen der Rechtssicherheit gerechtfertigt gewesen. Die Bf. hingegen sahen in Art. L. 190 LPF eine mit Art. 1 ZP 1 unvereinbare Rechtswegbeschränkung389. Entweder stehe mangels einer maßgeblichen günstigen Gerichtsentscheidung gar kein Rechtsweg offen, oder es werde nach einer solchen Entscheidung nur ein Teil der Ansprüche berücksichtigt. Die Gerichte könnten so die Schadensersatzansprüche Betroffener entwerten, indem sie die Feststellung der Unvereinbarkeit mit höherrangigem Recht verzögerten. Zusätzlich unterstrich die Gesellschaft Christian de Clarens ihre Bemühungen im primären Rechtsschutz. Der EGMR erinnerte in seinen Ausführungen zum Bestehen einer Eigentumsposition nach Art. 1 ZP 1 an die Missachtung der Sechsten Richtlinie durch 385

EGMR, a. a. O., S. 9 f. EGMR, a. a. O., S. 10 f. 387 Siehe o., II. 2. a). 388 Vgl. EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 30 f. 389 Vgl. EGMR, a. a. O., Rn. 32 f. 386

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Frankreich und an das beim Conseil d’État bis 1996 bestehende Kontrolldefizit für auf Europarecht gestützte Erstattungsklagen390. Unter Bezugnahme auf seine vorherigen einschlägigen Urteile stellte der Straßburger Gerichtshof dann fest, dass den Bf. eine Ausschlussfrist nicht entgegengehalten werden könne, wenn das betreffende innerstaatliche Rechtsmittel ineffektiv gewesen sei391. Hier hätten die Bf. erst nach dem später selbst aufgehobenen Berufungsurteil im Dangeville-Fall von 1992 von der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes ausgehen können. Außerdem seien die zwingenden Vorschriften der Sechsten Richtlinie zu Beginn des Staatshaftungsprozesses der Bf. immer noch nicht umgesetzt gewesen. Obwohl die Ansprüche der Bf. bei Klageerhebung nach den anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Normen bestanden hätten, seien sie von den französischen Behörden und Verwaltungsgerichten missachtet worden. Diese gemeinschaftsrechtlich begründeten Rechte seien wegen der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts und der Ineffektivität des Rechtsschutzes nicht mit Ablauf der nationalen Ausschlussfrist untergegangen, denn allein die Berufung auf die Frist habe den Verstoß gegen die geltenden Regeln des Europarechts nicht rechtfertigen können392. Der EGMR ergänzte, dass die unvernünftige Auslegung eines Verfahrenserfordernisses, die die materielle Prüfung einer Entschädigungsklage behindere, zu einer Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz durch die Gerichte führe393. Aus diesen Gründen hätten die Bf. zumindest eine berechtigte Erwartung auf Rückzahlung der streitigen Steuersumme gehabt. In der Rechtfertigungsprüfung sah der Gerichtshof das geforderte gerechte Gleichgewicht zwischen Gemeinschafts- und Individualinteresse ebenso wie in den Vorgängerurteilen durch das Fehlen ausreichender Rechtsmittel verletzt, so dass er erneut einen Verstoß gegen Art. 1 ZP 1 annahm394. c) Urteilsfolgen Als gerechte Entschädigung nach Art. 41 EMRK sprach der EGMR den Bf. wiederum die Erstattung der im ersten Halbjahr 1978 rechtsgrundlos entrichteten Umsatzsteuer zu395. Die genauen Beträge von 164.267,89 A für Aon Conseil et Courtage und 73.711,63 A für Christian de Clarens legte der Gerichtshof nach 390

EGMR, a. a. O., Rn. 36 ff. Vgl. bereits o., I. 2. b), c), 4. b) aa). EGMR, a. a. O., Rn. 39 ff.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III; EGMR, Urt. v. 22.07.2003, S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye ./. Frankreich, Nr. 49217/99 und 49218/99. 392 EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 42 f. 393 EGMR, a. a. O., Rn. 43; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 25.01.2000, Miragall Escolano et al. ./. Spanien, Rep. 2000-I, Rn. 37. 394 EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 46 ff. 395 EGMR, a. a. O., Rn. 53. 391

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billigem Ermessen eigenständig fest. Damit lag er ohne weitere Begründung deutlich unter den von den Bf. beantragten Summen, insbesondere die hohen Zinsforderungen fanden keine Berücksichtigung. Auch die laut EGMR erstattungsfähigen Verfahrenskosten von 5.099,12 A für Aon Conseil et Courtage und 3.652,68 A für Christian de Clarens zuzüglich jeweils 2.000,– A für das Verfahren vor dem Gerichtshof blieben hinter den Anträgen der Bf. zurück. d) Sondervotum Hinischtlich des Konventionsverstoßes zulasten von Aon Conseil et Courtage wurde das ansonsten einstimmig ergangene Urteil nur von fünf der sieben Richter getragen. Die Richter Costa und Kovler brachten ihre insoweit abweichende Auffassung in einem gemeinsamen Sondervotum396 zum Ausdruck. Sie verwiesen darauf, dass Aon Conseil et Courtage im Gegensatz zu Christian de Clarens erst über 15 Jahre nach der Steuererhebung erstmals Rechtsschutz gesucht und somit nicht innerhalb von „höchstens vier Jahren“ vor der gemäß Art. L. 190 LPF maßgeblichen Gerichtsentscheidung ihr Erstattungsbegehren vorgebracht habe397. Damit bezogen sie die Ausschlussfrist des Art. L. 190 LPF fälschlicherweise nicht auf den Zeitraum der Erstattungsfähigkeit von Ansprüchen, sondern auf den Zeitpunkt der Klageerhebung, der in den Fällen des Art. L. 190 LPF gerade zwingend nach der maßgeblichen Gerichtsentscheidung liegt398. Auch die Aussage, Christian de Clarens habe durch die Erstattungsklagen sehr schnell die Ausschlussfrist unterbrechen können399, trifft nicht zu, da die bereits 1978 und 1979 erhobenen Erstattungsklagen ohnehin nicht Art. L. 190 LPF unterfielen und mit der Staatshaftungsklage von 1994 ein hiervon unabhängiges neues Gerichtsverfahren eingeleitet wurde. Die Bemessung der Frist hielten die Richter für ausreichend. Zur Begründung zogen sie ausdrücklich das EuGH-Urteil Roquette Frères vom 28.11.2000 heran, in dem die Europarechtskonformität von Art. L. 190 LPF bejaht worden war400. Auch wenn Art. 1 ZP 1 in diesem Urteil des EuGH keine Rolle gespielt habe, sei es misslich, wenn nunmehr der Anschein von Divergenzen zwischen EuGH und EGMR aufkomme, die beide Höchstgerichte sorgfältig zu vermeiden suchten401. An der Rechtssicherheit ausgerichtete 396

Siehe Art. 45 Abs. 2 EMRK, Art. 74 Abs. 2 EGMR-VerfO. Gemeinsames teils abweichendes Sondervotum der Richter Costa und Kovler zu EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 5. 398 Siehe o., II. 1., 3. a). 399 Gemeinsames teils abweichendes Sondervotum der Richter Costa und Kovler zu EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 3. 400 Siehe hierzu o., II. 3. a). 401 Gemeinsames teils abweichendes Sondervotum der Richter Costa und Kovler zu EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 7; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. 397

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Verjährungsfristen von hinreichender Länge unterfielen zudem dem staatlichen Einschätzungsspielraum und seien auch in der Rechtsprechung des EGMR stets anerkannt worden402. Ferner lasse sich die Straßburger Judikatur, dass die Hoffnung auf Fortbestand eines alten und seit langem nicht mehr effektiv ausübbaren Rechts keine Eigentumsposition i. S. d. Art. 1 ZP 1 begründe403, mutatis mutandis auf den Anspruch von Aon Conseil et Courtage übertragen404. Die beiden abweichenden Richter schlossen hieraus auf die Unanwendbarkeit ratione materiae von Art. 1 ZP 1 bzw. verneinten einen Verstoß in Bezug auf Aon Conseil et Courtage. 3. Europarechtliche Rechtslage Auch im Fall Aon Conseil et Courtage S. A. et al. sind zugunsten der betreffenden Gesellschaften zunächst Steuerrückzahlungsansprüche aus unmittelbarer Richtlinienwirkung sowie aus Staatshaftung wegen legislativen und administrativen Unrechts entstanden405. Im Unterschied zu den vorherigen Verfahren wurde hier aber der nationale Rechtsweg im Erstattungsprozess nicht ausgeschöpft bzw. gar nicht erst beschritten, so dass diesbezüglich ein haftungsrelevantes judikatives Unrecht von vornherein ausscheidet406. So hat die Bf. Christian de Clarens nach dem europarechtswidrigen erstinstanzlichen Urteil des Tribunal administratif von 1981 keine weiteren Rechtsschutzanstrengungen unternommen. Damit versäumte sie, dieses Urteil durch die höheren Instanzen der französischen Gerichtsbarkeit überprüfen zu lassen und so selbst eine Entscheidung i. S. d. Art. L. 190 LPF herbeizuführen, die die Beachtung des Europarechts hätte gewährleisten können407. Zwar sind sämtliche in Parallelfällen durchgeführten Verfahren des primären Rechtsschutzes wegen der Cohn-Bendit-Rechtsprechung tatsächlich erfolglos geblieben. Jedoch war zumindest die europarechtliche Rechtslage durch die ständige Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von RichtVereinigtes Königreich, Rep. 1999-I; EGMR, Urt. v. 16.04.2002, Société Colas Est et al. ./. Frankreich, Rep. 2002-III; EGMR (GK), Urt. v. 12.04.2006, Stec et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2006-VI, Rn. 58; EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C-145/04, Slg. 2006, I-7917; EuGH, Urt. v. 22.10.2002, Roquette Frères, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011. 402 Sondervotum, a. a. O., Rn. 8, unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 22.10.1996, Stubbings et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1996-IV (insbesondere Rn. 50 ff.). 403 EGMR (GK), Entsch. v. 13.12.2000, Malhous ./. Tschechische Republik (Zulässigkeit), Rep. 2000-XII. 404 Gemeinsames teils abweichendes Sondervotum der Richter Costa und Kovler zu EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 9. 405 Vgl. entsprechend o., II. 3. 406 Vgl. o., I. 3. b) bb) (3). 407 Vgl. die nachvollziehbare Argumentation der frz. Regierung, wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 30.

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linien408 von Anfang an klar, während sich eine potentielle Ineffektivität des Rechtsschutzes noch gar nicht abzeichnete. Diesbezüglich ist zu beachten, dass das Funktionieren des europäischen Rechtsschutzverbundes und damit die praktische Wirksamkeit des Europarechts auch davon abhängen, dass die Einzelnen bereit sind, zur Sicherung ihrer Rechte erforderlichenfalls Rechtsmittel zu ergreifen409, selbst wenn dies stets mit einem gewissen Prozessrisiko behaftet ist. Erst die Ausschöpfung des Rechtswegs ermöglicht eine Kontrolle unterinstanzlicher Urteile, die sowohl den Besonderheiten jedes Einzelfalls Rechnung trägt als auch die Rechtseinheit insgesamt sicherstellt. So geht das europäische Primärrecht von dem Leitbild aus, dass sich in einem nationalen Gerichtsverfahren stellende europarechtliche Fragen spätestens in der letzten Instanz klären lassen, die nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ausdrücklich zur Vorlage an den EuGH verpflichtet ist410. Unter Verweis hierauf können die Einzelnen bei Bedarf versuchen, das letztinstanzliche Gericht zur Änderung oder Überprüfung seiner bisherigen Judikatur anzuhalten. Dementsprechend sind nach der Rechtsprechung des EuGH die Aufhebung belastender europarechtswidriger Verwaltungsakte und die Staatshaftung für judikatives Unrecht nur möglich, wenn zuvor der mitgliedstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft wurde411. Es bietet sich daher an, dieses Erfordernis ebenfalls bei der Prüfung des Effektivitätsgebots zugrunde zu legen412. Wenn ein mitgliedstaatliches Verfahren wegen fehlender Rechtswegbeschreitung oder -erschöpfung nicht durchgeführt werden kann, wird nämlich später kaum der Nachweis zu führen sein, dass eben dieses Verfahren praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert worden sei413. Stattdessen ist es in solchen Fällen auch von Europarechts wegen hinzunehmen, dass die säumigen Betroffenen durch das Eingreifen angemessener nationaler Verfahrensvorschriften nachteilige Folgen zu gewärtigen haben, selbst wenn 408

Siehe o., I. 3. a) aa). Vgl. EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (26); Schwarze/Hatje, Art. 4 EUV, Rn. 62; Potacs, EuR 2004, 595 (598 ff.); ders., FS Ress, 729 (734); Masing, S. 19 f., 37 ff., 50 ff.; Schwarze, Kontrolle, in: ders./Schmidt-Aßmann, Ausmaß, S. 203 (209 f.); Streinz, VVDStRL 61 (2002), 300 (341 ff.); vgl. auch Giegerich, JuS 1997, 619 (621); Kulms, S. 98 ff., 106 ff. 410 Siehe o., Teil 2, A. II. 1., 2. 411 Zur Aufhebung von Verwaltungsakten EuGH, Urt. v. 13.01.2004, Kühne & Heitz, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837, Rn. 26 ff.; Potacs, EuR 2004, 595 (598 ff.); ders., FS Ress, 729 (734); Prokopf, S. 248 ff. Zur Staatshaftung EuGH, Urt. v. 30.09.2003, Köbler, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 33 ff. 412 Siehe auch EuGH, Urt. v. 05.03.1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 83 ff. 413 Es kommt gerade auf den Verfahrensablauf vor den nationalen Stellen an; siehe EuGH, Urt. v. 21.11.2002, Cofidis, Rs. C-473/00, Slg. 2002, I-10875, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 07.06.2007, van der Weerd et al., verb. Rs. C-222/05 bis C-225/05, Slg. 2007, I4233, Rn. 33. 409

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damit das Fortbestehen eines europarechtswidrigen Zustandes verbunden ist414. Derartige Verjährungs- oder Ausschlussvorschriften der Mitgliedstaaten fungieren dann als aus Gründen der Rechtssicherheit gerechtfertigte Schranken des europarechtlichen Effektivitätsgebots415. Bleiben die vorgesehenen Rechtsmittel ohne zwingende Gründe ungenutzt, tragen die Einzelnen die Hauptverantwortung für den Ausfall des Rechtsschutzes. Der Mitgliedstaat ist in diesem Kontext selbst bei früherem eigenen rechtswidrigen Handeln nicht verpflichtet, eine nachträglich erhobene Klage noch zuzulassen. Im Unterschied zu den vorherigen Fällen liegt hier der wesentliche Grund für die fehlgeschlagene Anspruchsdurchsetzung mithin in der Sphäre der Bf. Christian de Clarens, so dass die Anwendung von Art. L. 190 LPF auch bei der gebotenen Einzelfallbetrachtung nicht als unverhältnismäßig anzusehen ist und ein Verstoß gegen das Effektivitätsgebot ausscheidet. Vor diesem Hintergrund gelangt die entsprechende Abwägung in Bezug auf Aon Conseil et Courtage zu einem noch klareren Ergebnis. Denn deren Vorgängergesellschaften haben gar keinen Primärrechtsschutz gegen die richtlinienwidrige Steuererhebung in Anspruch genommen, sondern erst nach dem für Art. L. 190 LPF maßgeblichen Urteil im Dangeville-Fall von 1992 überhaupt einen Prozess angestrengt. Da Aon Conseil et Courtage die gesamten Rechtspositionen dieser Gesellschaften übernommen hatte, musste sie sich auch deren früheres Verhalten zurechnen lassen. Somit lag hier obendrein die typische Situation vor, die Art. L. 190 LPF erfassen soll, nämlich die Behandlung unerkannt gebliebener Ansprüche aus der Vergangenheit416. Wie vom EuGH gebilligt, sollen solche Ansprüche aber nur für den festgelegten Zeitraum realisierbar sein. Durch den langzeitigen Verzicht auf Primärrechtsschutz haben es die Vorgängergesellschaften versäumt, die unabdingbare Mindestvoraussetzung dafür zu schaffen, dass ihr Rückzahlungsbegehren überhaupt Gegenstand eines innerstaatlichen Verfahrens werden konnte. Die Erhebung einer Erstattungsklage innerhalb der allgemeinen Fristen war auch jedenfalls zumutbar. Die fehlende Rechtswegbeschreitung rechtfertigt damit das Eingreifen von Art. L. 190 LPF, was wiederum eine Verletzung des Effektivitätsgebots ausschließt.

414 EuGH, Urt. v. 28.11.2000, Roquette Frères, Rs. C-88/99, Slg. 2000, I-10465, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 02.12.1997, Fantask et al. ./. Industriministeriet, Rs. C-188/95, Slg. 1997, I-6783, Rn. 48; EuGH, Urt. v. 10.07.1997, Palmisani ./. INPS, Rs. C-261/95, Slg. 1997, I-4025, Rn. 28. 415 Vgl. EuGH, Urt. v. 17.11.1998, Aprile ./. Amministrazione delle Finanze dello Stato, Rs. C-228/96, Slg. 1998, I-7141, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 28.11.2000, Roquette Frères, Rs. C-88/99, Slg. 2000, I-10465, Rn. 22; EuGH, Urt. v. 11.07.2002, Marks & Spencer, Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Rn. 35; EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Rewe ./. Landwirtschaftskammer für das Saarland, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 16.12.1976, Comet BV./. Produktschap voor Siergewassen, Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, Rn. 11 ff.; Böcker, S. 46. 416 Siehe hierzu o., II. 3. a).

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Im Fall Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ist also bezüglich beider Bf. kein Verstoß Frankreichs gegen das europarechtliche Effektivitätsgebot feststellbar. Ihre ursprünglichen Rückzahlungsansprüche waren wegen Art. L. 190 LPF nicht mehr durchsetzbar, so dass die französischen Gerichte mit der Abweisung der Staatshaftungsklagen europarechtskonform entschieden haben. Dessen ungeachtet bleibt festzuhalten, dass der Conseil d’État als letztinstanzliches Gericht auch mit seinem Urteil vom 10.11.2000 seine Pflicht zur Vorlage an den EuGH bzw. zur Aussetzung des Verfahrens verletzt hat. Denn auf das erst wenige Wochen später ergangene EuGH-Urteil im Fall Roquette Frères konnte er noch nicht zurückgreifen. Da der Conseil d’État hier aber dennoch zu einem europarechtlich tragfähigen Ergebnis gefunden hat, bestand für dieses Versäumnis materiellrechtlich kein weiteres Sanktionsbedürfnis. 4. Bewertung des Urteils des EGMR Obwohl die europarechtliche Prüfung des Falles demnach die Argumentation der französischen Regierung im Ergebnis bestätigt, ging der EGMR hier mehrheitlich von einem Verstoß Frankreichs gegen das Eigentumsrecht beider Bf. aus, ohne zwischen den einzelnen Verfahren zu unterscheiden. Der Sache nach bewertete der Gerichtshof damit alle die Sechste Richtlinie betreffenden Beschwerden gleich. Das Urteil ist zumindest hinsichtlich der Betroffenheit des Schutzbereichs deutlich ausführlicher gehalten als im Fall S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye, orientiert sich inhaltlich aber ebenfalls sehr stark an der Dangeville-Rechtsprechung. So wies der Gerichtshof wiederum auf den gemeinschaftsrechtlichen Charakter des Rückzahlungsanspruchs und die französischen Gemeinschaftsrechtsverstöße hin. Ebenso neu wie überraschend ist hingegen, dass das verfahrensrechtliche Problem des effektiven Rechtsschutzes ganz wesentlich in den Ausführungen zum Schutzbereich thematisiert wurde, wohingegen es im Dangeville-Urteil noch einen zentralen Gegenstand der Rechtfertigungsprüfung dargestellt hatte417. Diese bestand vorliegend dagegen ausschließlich aus einem Verweis auf die entsprechenden Passagen des Dangeville-Urteils, da die Ausgangslage „identisch“ sei418. Ein einheitliches methodisches Vorgehen des Gerichtshofs ist damit nicht mehr erkennbar. Das ist insofern bedauerlich, als gerade die Rechtfertigungsprüfung das geeignete Instrumentarium dafür bietet, eine präzise und transparente Abwä-

417 EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 56. Die dortige Einordnung liegt auch auf der Linie der früheren Rspr. des EGMR; vgl. EGMR, Urt. v. 22.09.1994, Hentrich ./. Frankreich, Ser. A Vol. 296-A (= EuGRZ 1996, 593), Rn. 42, 45 ff.; Rudolf, EuGRZ 1996, 573 (576 f.). Siehe auch o., I. 5. b). 418 EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 47: „grief identique“/„identical complaint“.

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gung zwischen den widerstreitenden Interessen, der Durchsetzung des Anspruchs einerseits und der durch Art. L. 190 LPF geschützten Rechtssicherheit andererseits, vorzunehmen419. Diesem Standard werden die auf den Schutzbereich bezogenen Aussagen des EGMR zu den Rechtsschutzdefiziten in Frankreich nicht gerecht. Anstatt auf die konkreten Umstände des vorliegenden Verfahrens abzustellen, begründete der Gerichtshof die von ihm angenommene Ineffektivität des Rechtsschutzes allein mit den Erfahrungen aus dem Dangeville-Fall und wählte damit einen hypothetischen Ansatz. Die Versäumnisse der Bf. bei der Verfolgung ihrer Rechte, die einen fundamentalen Unterschied zum Dangeville-Fall ausmachten, wurden hingegen überhaupt nicht erwähnt. Dafür holte der Gerichtshof mit dem Hinweis auf die Unzulässigkeit der unvernünftigen Interpretation einer Verfahrensvorschrift420 anscheinend die im Urteil S. A. Cabinet Diot und S. A. Gras Savoye vorenthaltene spezifische Begründung nach, die zum vorliegenden Fall so allerdings nicht mehr passen mag. Worin hier diese Unvernünftigkeit genau bestehen soll, wurde dann ebenfalls nicht weiter ausgeführt. Diese Argumentationsmuster des EGMR sind durch eine abstrakte und schematische Heranziehung von Teilen seiner früheren Rechtsprechung gekennzeichnet, welche die ausschlaggebenden Besonderheiten des gegebenen Einzelfalls nicht hinreichend würdigt. Auf diese Weise ist der Gerichtshof über das legitime Ziel einer effektiven Durchsetzung europäischer Individualrechte hinausgeschossen, da er aus der EMRK Anforderungen an die Mitgliedstaaten abgeleitet hat, die das Europarecht selbst nicht an sie stellt. Letztlich wird man wohl vom EGMR in dieser Situation nicht unbedingt erwarten können, dass er eigenständig eine anspruchsvolle europarechtliche Abwägung vornimmt. Da der Straßburger Gerichtshof über kein Vorlagerecht zum EuGH verfügt, sind seinen Rechtsfindungsmöglichkeiten diesbezüglich Grenzen gesetzt421. Daraus ist zu schließen, dass die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens durch ein mitgliedstaatliches Gericht gegenüber der Befassung des EGMR mit europarechtlichen Fragen grundsätzlich vorzuziehen ist. Aus konventionsrechtlicher Perspektive könnte eine Erklärung für die Wertung des Gerichtshofs darin liegen, dass die fehlende Rechtswegerschöpfung für die Zulässigkeit einer Individualbeschwerde unschädlich bleibt, wenn der Bf. anhand einer gefestigten Rechtsprechung zu gleich gelagerten Fällen die Nutzlosigkeit des Rechtsbehelfs nachweisen kann422. Wenn man sich auch in materieller Hin419

Vgl. o., I. 5. b). EGMR, Urt. v. 25.01.2007, Aon Conseil et Courtage S. A. et al. ./. Frankreich, Nr. 70160/01, Rn. 43. 421 Siehe o., I. 5. d). 422 EGMR, Entsch. v. 19.01.1999, Allaoui et al. ./. Deutschland, Nr. 44911/98, Rn. 1; EKMR, Entsch. v. 12.03.1987, Ugurlukoc ./. Deutschland, DR 51, 186; Grabenwarter/ 420

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sicht an diesem im Vergleich zum Europarecht für den Einzelnen günstigeren Standard orientierte, läge es zumindest bei einer nachträglichen Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung der Parallelverfahren und der dort zu Tage getretenen Defizite nahe, den damaligen französischen Rechtsschutz für ineffektiv zu halten. Da der EGMR insoweit eine Begründung vermissen ließ, bleibt aber spekulativ, ob er tatsächlich vor diesem Hintergrund über die Rechtsverfolgungsobliegenheiten der Einzelnen hinwegging, um bewusst ein hohes menschenrechtliches Schutzniveau zu etablieren. Die abweichenden Richter kritisierten in ihrem Sondervotum ebenfalls die fehlende Einbeziehung der Versäumnisse bei der Rechtsverfolgung in Frankreich, allerdings nur bezüglich der Bf. Aon Conseil et Courtage. Die Übereinstimmung mit der Mehrheitsmeinung hinsichtlich der Bf. Christian de Clarens beruhte dabei auf einem fehlerhaften Verständnis der Funktionsweise von Art. L. 190 LPF im französischen Recht423. Hingegen ist die Bezugnahme auf das EuGH-Urteil Roquette Frères von 2000 zur Vermeidung von Divergenzen zum Europarecht klar zu begrüßen, auch wenn eine einzelfallbezogene Auseinandersetzung mit der Wirkung von Art. L. 190 LPF und der Effektivität des Rechtsschutzes hier gleichfalls unterblieben ist. Weiterhin legten sich die Richter nicht genau fest, ob ein Verstoß gegen Art. 1 ZP 1 bereits wegen fehlender Schutzbereichseröffnung oder aufgrund einer Rechtfertigung des Eingriffs ausscheiden soll. Soweit das Resultat des Sondervotums vom Urteil des Gerichtshofs abweicht, ist es diesem gegenüber jedenfalls vorzugswürdig, da es insofern zu einem weitgehenden Entscheidungseinklang der EMRK mit dem Europarecht führt. Die sich aus der Mehrheitsmeinung ergebenden Rechtsunklarheiten vermag das Sondervotum aber nicht zu kompensieren. Im Urteil Aon Conseil et Courtage S. A. et al. bestätigte der EGMR somit nicht nur ein weiteres Mal seine Dangeville-Rechtsprechung, sondern erweiterte sie noch über das europarechtlich gebotene Maß hinaus. Die von der europarechtswidrigen französischen Richtlinienpraxis Betroffenen können auf dieser Grundlage auch ungeachtet eigener Versäumnisse Rückzahlungsansprüche über Art. 1 ZP 1 durchsetzen. Die aufgezeigten, auch konventionsrechtlich kritikwürdigen Begründungsmängel erschweren es gleichwohl, aus dem Urteil Rückschlüsse für andere Fallkonstellationen zu ziehen. Folglich ist nicht zu erwarten, dass es entscheidende Impulse für die Beziehung zwischen Europa- und Konventionsrechtsordnung auslösen wird.

Pabel, EMRK, § 13, Rn. 31; Schulte, Individualrechtsschutz, S. 219; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 35 EMRK, Rn. 27; Ehlers, Jura 2000, 372 (381); Murswiek, JuS 1986, 8 (10); Matscher, EuGRZ 1982, 489 (497). Vgl. auch schon o., Teil 1, C. III. 423 Siehe o., 2. d).

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IV. Exkurs: Iovit¸oni et al. ./. Rumänien (2012) Während die Ansprüche auf Steuerrückzahlung in den soeben behandelten Fällen auf europäisches Richtlinenrecht zurückgingen424, war der EGMR im Fall Iovit¸oni et al. ./. Rumänien425 mit einer primärrechtswidrigen Steuererhebung konfrontiert. Diese Konstellation weist sowohl strukturelle Parallelen zum Kontext der Steuerrichtlinien als auch verfahrensrechtliche Besonderheiten auf und wird daher im folgenden als Exkurs behandelt. 1. Sachverhalt und innerstaatliche Verfahren Die rumänischen Staatsangehörigen Coriolan Gabriel Iovit¸oni (Bf. zu 1.) und Paraschiva Anghel (Bf. zu 2.) sowie eine rumänische Handelsgesellschaft (Bf. zu 3.) hatten Gebrauchtfahrzeuge im EU-Ausland erworben und wurden in Rumänien zwischen Juli und Dezember 2008 zur Zahlung einer Umweltsteuer in Höhe von umgerechnet ca. 400,– bis 2000,– A herangezogen426. Die auf der Grundlage von Regierungsverordnungen eingeführte427 und später modifizierte428 Steuerpflicht entstand bei der erstmaligen Zulassung von Fahrzeugen bestimmter Klassen in Rumänien ab dem 01.07.2008, wobei die Berechnung des genauen Steuerbetrages anhand verschiedener fahrzeugspezifischer Kriterien der zuständigen Steuerbehörde oblag. Die Bf. entrichteten die jeweils veranschlagten Steuersummen, verlangten dann jedoch deren Rückerstattung und machten in den gerichtlichen Verfahren die Europarechtswidrigkeit der rumänischen Umweltsteuer geltend. Diese erfasse aus dem EU-Ausland importierte Gebrauchtwagen, nicht aber gleichartige Fahrzeuge, die bereits vor ihrer Veräußerung in Rumänien zugelassen worden seien, so dass rumänische Kunden zum Kauf der letzteren bewegt würden. Im Verlauf des Jahres 2010 wiesen die rumänischen Gerichte die Klagen der Bf. allesamt ab. Die Bf. zu 1. und 2. scheiterten vor dem Appellationsgericht (Curtea de Apel) Timis¸oara bereits, weil sie ein vorheriges Verwaltungsverfahren versäumt hatten; im Fall der Bf. zu 3. hielt das Appellationsgericht Cluj die Umweltsteuer mangels direkter Diskriminierung für europarechtskonform. In keinem der nationalen Ausgangsverfahren wurde eine Vorlage an den EuGH gerichtet, obwohl die Europarechtslage in verbindlichen Entscheidungen anderer rumä424

Siehe o., I.–III. EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Iovit¸oni et al. ./. Rumänien, Nr. 57583/10, 1245/ 11 und 4189/11. 426 Hierzu und zum Folgenden EGMR, a. a. O., Rn. 1 ff. 427 Ordonant¸a ˘ de urgent¸a˘ a Guvernului nr. 50/2008 pentru instituirea taxei pe poluare pentru autovehicule (Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung zur Einführung einer Umweltsteuer für Kraftfahrzeuge) v. 21.04.2008, veröffentlicht im Monitorul Oficial al României (Gesetzblatt Rumäniens), Partea I, Nr. 327 v. 25.04.2008. 428 Dringlichkeitsverordnungen Nr. 208/2008, 218/2008, 7/2009 und 117/2009. 425

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nischer Appellationsgerichte bereits abweichend beurteilt worden war429. Auch eine Verfahrensaussetzung angesichts der in zwei weiteren Parallelfällen ergangenen Vorlageentscheidungen der Tribunale Sibiu und Gorj fand nicht statt. 2. Europarechtliche Rechtslage und nationale Reform Im Jahr 2011 nahm der EuGH in zwei auf die erwähnten Vorlagen zurückgehenden Vorabentscheidungsurteilen zur Vereinbarkeit der rumänischen Umweltsteuerregelung mit dem Europarecht Stellung. Im Tatu-Urteil qualifizierte der Gerichtshof eine Zulassungssteuer wie die den Bf. auferlegte Umweltsteuer als inländische Abgabe, die nicht den Regeln über den freien Warenverkehr (Art. 28 ff. AEUV) unterliege, sondern an der steuerlichen Vorschrift des Art. 110 AEUV (früher Art. 90 EGV) zu messen sei430. Gemäß Art. 110 Abs. 1 AEUV dürfen auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten weder unmittelbar noch mittelbar höhere inländische Abgaben gleich welcher Art als auf gleichartige inländische Waren erhoben werden. Dieses Verbot soll die vollkommene Wettbewerbsneutralität inländischer Abgaben für bereits auf dem inländischen Markt befindliche und für importierte Waren gewährleisten431. Da das rumänische Umweltsteuerrecht keine formale Unterscheidung nach Herkunft oder Staatsangehörigkeit enthielt, verneinte der EuGH eine unmittelbare Diskriminierung432 und prüfte anschließend das Bestehen einer mittelbar diskriminierenden Wirkung im Konkurrenzverhältnis zwischen eingeführten und bereits im Inland zugelassenen Gebrauchtfahrzeugen, die nach Typ, Eigenschaften und Abnutzung als gleichartig anzusehen sind433. Zwar übersteige die Zulassungssteuer 429 Vgl. EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Iovit¸oni et al. ./. Rumänien, Nr. 57583/10, 1245/11 und 4189/11, Rn. 32, zur insoweit uneinheitlichen Rspr. in Rumänien in den Jahren 2009 und 2010. 430 EuGH, Urt. v. 07.04.2011, Tatu, Rs. C-402/09, Slg. 2011, I-2711, Rn. 32 f.; unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 17.06.2003, De Danske Bilimportører, Rs. C-383/01, Slg. 2003, I-6065, Rn. 32, 34; EuGH, Urt. v. 05.10.2006, Nádasdi und Németh, verb. Rs. C290/05 und C-333/05, Slg. 2006, I-10115, Rn. 38–41; EuGH, Urt. v. 18.01.2007, Brzezin´ski, Rs. C-313/05, Slg. 2007, I-513, Rn. 50. 431 EuGH, Urt. v. 07.04.2011, Tatu, Rs. C-402/09, Slg. 2011, I-2711, Rn. 34 f.; EuGH, Urt. v. 11.12.1990, Kommission ./. Dänemark, Rs. C-47/88, Slg. 1990, I-4509, Rn. 8 f.; EuGH, Urt. v. 18.01.2007, Brzezin´ski, Rs. C-313/05, Slg. 2007, I-513, Rn. 27; EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Weigel, Rs. C-387/01, Slg. 2004, I-4981, Rn. 66; EuGH, Urt. v. 03.06.2010, Kalinchev, Rs. C-2/09, Slg. 2010, I-4939, Rn. 37; Streinz/Kamann, Art. 110 AEUV, Rn. 2; Schwarze/Stumpf, Art. 110 AEUV, Rn. 1; Waldhoff, in: Calliess/ Ruffert, Art. 110 AEUV, Rn. 5. 432 EuGH, Urt. v. 07.04.2011, Tatu, Rs. C-402/09, Slg. 2011, I-2711, Rn. 36 f. 433 Vgl. hierzu EuGH, a. a. O., Rn. 55; EuGH, Urt. v. 11.12.1990, Kommission ./. Dänemark, Rs. C-47/88, Slg. 1990, I-4509, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 03.06.2010, Kalinchev, Rs. C-2/09, Slg. 2010, I-4939, Rn. 32, 39 f.; sowie Streinz/Kamann, Art. 110 AEUV, Rn. 18 ff.; Schwarze/Stumpf, Art. 110 AEUV, Rn. 9 ff.; Waldhoff, in: Calliess/Ruffert, Art. 110 AEUV, Rn. 12.

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bei Erhebung auf eingeführte Fahrzeuge vorliegend nicht den Restwert der Steuer, der im Wert ebenfalls besteuerter inländischer Fahrzeuge enthalten sei434. Jedoch bewirke die Umweltsteuer eine Erschwerung der Einfuhr und des Inverkehrbringens von im EU-Ausland erworbenen Gebrauchtfahrzeugen in Rumänien, wie auch der starke Rückgang entsprechender Zulassungen zeige435. Denn eingeführte Fahrzeuge mit beträchtlichem Alter und erheblicher Abnutzung würden mit bis zu 30% ihres Marktwerts besteuert, wohingegen gleichartige inländische Fahrzeuge mit Erstzulassung vor Juli 2008 nicht mit einer solchen Steuer belastet seien. Das mit der Steuer verfolgte Ziel des Umweltschutzes ließe sich nach Ansicht des EuGH umfassender und kohärenter über die marktneutrale Besteuerung aller im Inland in Betrieb genommenen Altfahrzeuge erreichen, etwa im Rahmen einer jährlichen Verkehrsabgabe436. Eine Zulassungssteuer in einer der rumänischen Umweltsteuer entsprechenden Ausgestaltung hielt der EuGH im Ergebnis folglich für nicht mit Art. 110 AEUV vereinbar437. Im Nisipeanu-Urteil stellte der EuGH weiterhin fest, dass das rumänische Umweltsteuerrecht seine mittelbar diskriminierende und für EU-Importe abschreckende Wirkung auch nach den 2008 und 2009 vorgenommenen Änderungen beibehalten habe438. Darüber hinaus betonte der Gerichtshof seine ständige Rechtsprechung, dass die im Vorlageverfahren gefundene Auslegung Sinn und Tragweite der ausgelegten Norm seit ihrem Inkrafttreten umfasse und somit auch für vor Ergehen des Vorabentscheidungsurteils entstandene Rechtsverhältnisse zugrunde zu legen sei439. Eine zeitliche Begrenzung dieser Urteilswirkungen aus Gründen der Rechtssicherheit komme nur in Betracht, wenn die Betroffenen in gutem Glauben seien und die Gefahr schwerwiegender Störungen bestehe440. Vorliegend sah der EuGH von einer solchen Beschränkung ab, da er die von der

434 EuGH, Urt. v. 07.04.2011, Tatu, Rs. C-402/09, Slg. 2011, I-2711, Rn. 39 ff., 47, m.w. N. 435 EuGH, a. a. O., Rn. 57 f.; entsprechend EuGH, Urt. v. 07.07.2011, Nisipeanu, Rs. C-263/10, Slg. 2011, I-97*, Rn. 26. 436 EuGH, Urt. v. 07.04.2011, Tatu, Rs. C-402/09, Slg. 2011, I-2711, Rn. 60; ebenso EuGH, Urt. v. 07.07.2011, Nisipeanu, Rs. C-263/10, Slg. 2011, I-97*, Rn. 28. 437 EuGH, Urt. v. 07.04.2011, Tatu, Rs. C-402/09, Slg. 2011, I-2711, Rn. 61; ebenso EuGH, Urt. v. 07.07.2011, Nisipeanu, Rs. C-263/10, Slg. 2011, I-97*, Rn. 29. 438 EuGH, Urt. v. 07.07.2011, Nisipeanu, Rs. C-263/10, Slg. 2011, I-97*, Rn. 27. 439 EuGH, a. a. O., Rn. 32; unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 02.02.1988, Blaizot et al., Rs. 24/86, Slg. 1988, 379, Rn. 27; EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Skov und Bilka, Rs. C-402/03, Slg. 2006, I-199, Rn. 50; EuGH, Urt. v. 18.01.2007, Brzezin´ski, Rs. C313/05, Slg. 2007, I-513, Rn. 55. Siehe auch bereits o., Teil 2, A. I. 2. a). 440 EuGH, Urt. v. 07.07.2011, Nisipeanu, Rs. C-263/10, Slg. 2011, I-97*, Rn. 33 f.; unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 10.01.2006, Skov und Bilka, Rs. C-402/03, Slg. 2006, I-199, Rn. 51; EuGH, Urt. v. 03.06.2010, Kalinchev, Rs. C-2/09, Slg. 2010, I-4939, Rn. 50 ff.

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rumänischen Regierung befürchteten wirtschaftlichen Auswirkungen des Urteils als nicht hinreichend nachgewiesen wertete441. Im Anschluss an diese Rechtsprechung des EuGH wurde die Umweltsteuer in Rumänien im Januar 2012 einer umfassenden gesetzlichen Neuregelung unterzogen442. Nunmehr wird die Steuer beim ersten Wechsel des Eigentums an einem Gebrauchtfahrzeug fällig, sofern bei der Zulassung noch keine Besteuerung stattgefunden hat. Ferner können Steuerpflichtige, die nach altem Recht zu einer höheren als der im neuen Gesetz vorgesehenen Umweltsteuer herangezogen wurden, die Erstattung des Differenzbetrages beantragen. 3. Verfahren vor dem EGMR In ihren 2010 erhobenen Menschenrechtsbeschwerden rügten die Bf. die Verletzung von Art. 1 ZP 1, Art. 14 EMRK sowie Art. 6 EMRK aufgrund der europarechtswidrigen Steuererhebung sowie im Fall der Bf. zu 2. auch aufgrund der Ablehnung einer Vorlage zum EuGH durch das Appellationsgericht. Die Beschwerden wurden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden. Der EGMR ließ in seiner Prüfung offen, ob die Bf. angesichts der teilweisen Versäumung des innerstaatlichen Verwaltungsverfahrens und der Gesetzesnovelle von 2012 bereits den innerstaatlichen Rechtsweg ausgeschöpft hatten443. Zu Art. 1 ZP 1 bezog sich der Gerichtshof anschließend auf seine Dangeville-Rechtsprechung, derzufolge ein europarechtlich begründeter Steuerrückzahlungsanspruch gegen den Staat eine konventionsrechtliche Eigentumsposition darstellen könne444. Daher sei zu ermitteln, ob die Bf. bei der Anrufung der nationalen Gerichte eine durchsetzbare Forderung i. S. d. Art. 1 ZP 1 innegehabt hätten. Hierzu stellte der EGMR fest, dass die vorliegend einschlägige Vorschrift des Art. 110 AEUV die Anwendung des Grundsatzes des freien Warenverkehrs betreffe und damit einen viel allgemeineren Charakter aufweise als die im Dangeville-Fall zu-

441 Die rumänische Regierung hatte sich hierzu auf die hohe Anzahl von ca. 40.000 Steuerrückzahlungsbegehren sowie auf die Wirtschaftskrise in Rumänien berufen. Siehe EuGH, Urt. v. 07.07.2011, Nisipeanu, Rs. C-263/10, Slg. 2011, I-97*, Rn. 34 ff. Allgemein reichen dem EuGH die dem Mitgliedstaat urteilsbedingt drohenden finanziellen Konsequenzen für sich allein nicht aus, um eine Begrenzung der Urteilswirkung zu rechtfertigen; EuGH, Urt. v. 20.09.2001, Grzelczyk, Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Rn. 52; EuGH, Urt. v. 18.01.2007, Brzezin´ski, Rs. C-313/05, Slg. 2007, I-513, Rn. 58 ff. 442 Gesetz Nr. 9/2012 über die Steuer auf den Schadstoffausstoß von Kraftfahrzeugen, Gesetzblatt Rumäniens v. 11.01.2012; siehe auch EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Iovit¸oni et al. ./. Rumänien, Nr. 57583/10, 1245/11 und 4189/11, Rn. 35 ff. 443 EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Iovit¸oni et al. ./. Rumänien, Nr. 57583/10, 1245/ 11 und 4189/11, Rn. 43 f. Siehe hierzu noch u., 4. 444 EGMR, a. a. O., Rn. 45; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 16.04.2002, S. A. Dangeville ./. Frankreich, Rep. 2002-III, Rn. 47 ff. Siehe auch o., I. 4. b) aa), 5. a).

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grundeliegende Europarechtsnorm445. Die ständige Rechtsprechung des EuGH zur Rückwirkung von Vorabentscheidungsurteilen446 nahm der Straßburger Gerichtshof zwar ausdrücklich zur Kenntnis, verwies jedoch anschließend auf die vor dem Luxemburger Tatu-Urteil uneinheitliche Praxis der nationalen Gerichte zur Vereinbarkeit der Umweltsteuer mit Art. 110 AEUV447. Da die materielle Rechtslage insoweit unklar gewesen sei und somit die Einschaltung des EuGH erfordert habe, lasse sich nur schwerlich annehmen, dass die Bf. schon vor Erlass des Tatu-Urteils Ansprüche aus einer klaren, präzisen und unmittelbar anwendbaren Norm des Europarechts ableiten konnten448. In diesem Kontext zog sich der EGMR darauf zurück, dass er außer bei offensichtlicher Willkür nicht in eigener Zuständigkeit über Tatsachen- und Rechtsfehler der nationalen Gerichte entscheide, die ihrerseits in erster Linie zur Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts berufen seien449. Sodann verneinte er mangels offensichtlicher Willkür der angegriffenen rumänischen Urteile das Bestehen einer durchsetzbaren Forderung der Bf. und damit die Anwendbarkeit von Art. 1 ZP 1. Infolge der Akzessorietät des konventionsrechtlichen Diskriminierungsverbots konnte deshalb auch keine Verletzung von Art. 14 EMRK festgestellt werden450. Die Art. 6 EMRK betreffende Rüge blieb schließlich schon wegen des steuerlichen Kontexts des Rechtsstreits erfolglos451. Die Beschwerden wurden mithin allesamt wegen Unvereinbarkeit ratione materiae mit der EMRK für unzulässig erklärt. 4. Bewertung Nach Maßgabe des Europarechts war die streitgegenständliche Umweltsteuer nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH wegen Verstoßes gegen Art. 110 AEUV rechtswidrig, so dass den Bf. grundsätzlich entsprechende europarechtliche Erstattungsansprüche zustanden452. Da allerdings die materielle Europarechtslage bei Ergehen der rumänischen Gerichtsurteile 2010 noch uneindeutig war, stellten sich insofen europarechtliche Auslegungsfragen, die bei Entscheidungserheblichkeit die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte zum EuGH 445 EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Iovit¸oni et al. ./. Rumänien, Nr. 57583/10, 1245/ 11 und 4189/11, Rn. 47. 446 Siehe o., 2. 447 EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Iovit¸oni et al. ./. Rumänien, Nr. 57583/10, 1245/ 11 und 4189/11, Rn. 48 f. 448 EGMR, a. a. O., Rn. 50. 449 EGMR, a. a. O.; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 28.09.2004, Kopecky ´ ./. Slowakei, Rep. 2004-IX, Rn. 56; EGMR, Entsch. v. 01.02.2011, Agro-B spol. s r. o. ./. Tschechische Republik, Nr. 740/05. 450 EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Iovit¸oni et al. ./. Rumänien, Nr. 57583/10, 1245/ 11 und 4189/11, Rn. 52 ff. 451 EGMR, a. a. O., Rn. 55 f. Siehe bereits o., I. 5. c), sowie Teil 2, A. IV. 1. c). 452 Siehe allgemein EuGH, Urt. v. 14.01.1997, Comateb et al., verb. Rs. C-192/95 bis C-218/95, Slg. 1997, I-165, Rn. 20; sowie o., I. 3. a) bb), m.w. N.

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auslösten. Von der Letztinstanzlichkeit der rumänischen Appellationsgerichte in den fraglichen Umweltsteuerverfahren dürfte hier auszugehen sein, da ihre Urteile durchweg endgültigen Charakter hatten453. In den danach letztinstanzlichen nationalen Urteilen über die Klagen der Bf. zu 1. und 2. erwies sich das Europarecht indes als nicht entscheidungserheblich, weil die Abweisung jeweils auf die Versäumung des vorherigen Verwaltungsverfahrens durch die Bf. zurückzuführen war. Diesbezüglich lässt sich daher kein Verstoß gegen die europarechtliche Vorlagepflicht feststellen; im übrigen ist insoweit auch konventionsrechtlich die Unzulässigkeit der entsprechenden Beschwerden wegen fehlender Rechtswegerschöpfung454 anzunehmen. In Bezug auf die Bf. zu 1. und 2. lag demnach keine konventionsrechtlich sanktionierbare Europarechtsverletzung vor. Anders liegt es hingegen im Fall der Bf. zu 3., deren Klage nicht aus formellen Gründen scheiterte, sondern infolge einer falschen Anwendung des Europarechts abgewiesen wurde. Da es hier trotz gegebener Entscheidungserheblichkeit des Europarechts weder zur Anrufung des EuGH noch zu einer Aussetzung des nationalen Verfahrens bis zur Beantwortung der bereits von anderen Gerichten gestellten Vorabentscheidungsfragen455 kam, ist auch ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV nachweisbar. Aus europarechtlicher Sicht war im Fall der Bf. zu 3. also eine Beanstandung des Urteils des Appellationsgerichts Cluj durch den EGMR geboten. Nach Konventionsrecht bestehen ferner keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der entsprechenden Menschenrechtsbeschwerde. Insbesondere bot das Umweltsteuergesetz von 2012 keinen noch zu ergreifenden effektiven Rechtsbehelf, weil allein über die dort vorgesehene teilweise Steuererstattung kein europarechtskonformer Zustand erreichbar war. Der EGMR übertrug in seinen materiell-rechtlichen Ausführungen zu Art. 1 ZP 1 die Leitlinien seiner im Richtlinienkontext ergangenen Dangeville-Judikatur auf den vorliegenden Fall einer ausschließlich primärrechtswidrigen Besteuerung. Im Widerspruch zum Europarecht stehende Steuererhebungen unterliegen damit grundsätzlich einem einheitlichen konventionsrechtlichen Maßstab. Zudem zog der Straßburger Gerichtshof ebenfalls die einschlägige Rechtsprechung des EuGH heran. Bei der Bestimmung der konventionsrechtlichen Eigentumsposition erwies es sich jedoch als problematisch, dass der EuGH relevante europarechtliche Vorfragen erst nach dem letztinstanzlichen nationalen Urteil geklärt hatte. Der bisherigen Rechtsprechung der Konventionsorgane lassen sich keine eindeutigen allgemeingültigen Grundsätze dazu entnehmen, ob Änderungen der Sach453 Vgl. EGMR, Entsch. v. 03.04.2012, Iovit¸oni et al. ./. Rumänien, Nr. 57583/10, 1245/11 und 4189/11, Rn. 32. In Bezug auf die Ausgangsbeschwerden hat der EGMR diesen Aspekt nicht erwähnt. 454 Siehe o., Teil 1, C. III. 455 Vgl. allgemein EuGH, Urt. v. 14.12.2000, Masterfoods und HB, Rs. C-344/98, Slg. 2000, I-11369, Rn. 49, 57; Pechstein, EU-Prozessrecht, S. 392 f., Rn. 793 ff.; Hess, RabelsZ 66 (2002), 470 (499).

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und Rechtslage, die erst nach der letzten innerstaatlichen Entscheidung eingetreten sind, noch bei der Beurteilung nach der EMRK zu berücksichtigen sind. So stellt der EGMR im ausländer- und aufenthaltsrechtlichen Kontext bei bereits erfolgter Abschiebung oder Auslieferung regelmäßig auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung456 bzw. deren Rechtskraft457 ab, wohingegen bei fortgesetztem Aufenthalt des Ausländers im Konventionsstaat auch nachfolgende Entwicklungen bis zum Abschluss des Straßburger Verfahrens einbezogen werden458. Auf diese Weise wahrt der EGMR die Balance zwischen den Geboten einer fairen Bestimmung der staatlichen Verantwortlichkeit einerseits sowie eines effektiven und gegenwartsbezogenen Menschenrechtsschutzes andererseits. Gerade im vorliegenden Fall der Bf. zu 3. bestehen darüber hinaus zwei europarechtlich begründete Besonderheiten. Erstens führt die Ex-tunc-Wirkung der Luxemburger Vorabentscheidungsurteile dazu, dass die vom EuGH gefundene Auslegung bei der Würdigung von zuvor begründeten Rechtsverhältnissen zugrunde zu legen ist und auch bereits zur Zeit der innerstaatlichen Entscheidung allein maßgebend war459. Der Straßburger Gerichtshof hätte also ohne weiteres auf das vom EuGH geklärte Europarecht zurückgreifen können. Danach war ein Rückzahlungsanspruch eindeutig zu bejahen, so dass grundsätzlich zumindest eine berechtigte Erwartung auf seine europarechtskonforme Realisierung existierte460. Zweitens war gerade die Vorlageverweigerung durch das letztinstanzliche Gericht dafür ursächlich, dass das Europarecht in seiner korrekten Auslegung auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht zur Anwendung gelangte. Dieser Umstand gibt hier umso mehr dazu Anlass, die europarechtliche Rückwirkungsfiktion auch im Rahmen von Art. 1 ZP 1 anzuerkennen. Denn aufgrund des nachweislichen Vorlagepflichtverstoßes ließe sich das letztinstanzliche nationale Urteil sogar bereits als willkürlich einstufen461. Nach dem vom EGMR stattdessen gewählten zurückhaltenden Kontrollansatz kann sich hingegen ein Mitgliedstaat erfolgreich auf die ursprüngliche Rechts456 EGMR, Urt. v. 20.03.1991, Cruz Varas et al. ./. Schweden, Ser. A Vol. 201, Rn. 76; EGMR, Urt. v. 30.10.1991, Vilvarajah et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 215, Rn. 107; EGMR, Urt. v. 05.07.2005, Said ./. Niederlande, Rep. 2005-VI, Rn. 48 (jeweils zu Art. 3 EMRK). 457 EGMR, Urt. v. 28.06.2007, Kaya ./. Deutschland, Nr. 31753/02, Rn. 57, m.w. N. (zu Art. 8 EMRK); siehe auch u., Teil 4, B. I. 1. a) bb). 458 EGMR, Urt. v. 05.07.2005, Said ./. Niederlande, Rep. 2005-VI, Rn. 48; EGMR (GK), Urt. v. 15.11.1996, Chahal ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1996-V, Rn. 86, 97; EGMR (GK), Urt. v. 29.04.1997, H.L.R. ./. Frankreich, Rep. 1997-III, Rn. 37; siehe auch EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 90 f. 459 Siehe o., 2. 460 Vgl. allgemein o., I. 4. b) aa); sowie EGMR, Entsch. v. 10.11.2005, EEGSlachthuis Verbist Izegem ./. Belgien, Rep. 2005-VII; Kaiser, in: Karpenstein/Mayer, Art. 1 ZP 1, Rn. 19 f. 461 Siehe o., Teil 2, A. V. 2. a).

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unklarheit, die auf sein eigenes Fehlverhalten in Gestalt der Vorlagepflichtverletzung zurückgeht, berufen und so einen wirksamen materiellen Konventionsrechtsschutz unterbinden. Diese Konsequenz steht im Widerspruch zum allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben (nemo auditur turpitudinem suam allegans)462 und konterkariert die Zielsetzung der EMRK. Es ist deshalb insgesamt vorzugswürdig, den Mitgliedstaat konventionsrechtlich an der zwischenzeitlich ergangenen Auslegung durch den EuGH festzuhalten. Dann könnten die Einzelnen auch unter den gegebenen Umständen ihre europarechtlich begründeten, aber innerstaatlich zurückgewiesenen Erstattungsansprüche mit Hilfe des EGMR über Art. 1 ZP 1 durchsetzen. Die vorliegend im Fall der Bf. zu 3. festzustellende Perpetuierung der aufgetretenen Rechtsschutzlücke infolge der Erfolglosigkeit der Menschenrechtsbeschwerde ließe sich so vermeiden. Dem Straßburger Gerichtshof ist daher zu empfehlen, seine menschenrechtsfördernde Auslegung der EMRK zugunsten des Europarechts künftig auf den Bereich der Rückwirkung von Vorabentscheidungsurteilen zu erstrecken. Bis dahin verbleibt Bürgern in der Situation der Bf. zu 3. lediglich der Rückgriff auf die europarechtlich vorgesehenen Sanktionsmittel bei Vorlagepflichtverletzungen463.

B. Umweltrecht Weitere Urteile des EGMR betrafen die Durchsetzung umweltrechtlicher Richtlinienbestimmungen im mitgliedstaatlichen Rechtsraum. Als insoweit wegweisend wird zunächst der Fall Guerra et al. ./. Italien464 behandelt, der das Recht auf Umweltinformationen zum Gegenstand hatte (I.). Anschließend wird auf den Fall Giacomelli ./. Italien465 eingegangen, in dem der Straßburger Gerichtshof mit den Vorgaben zur Umweltverträglichkeitsprüfung befasst war (II.). Im Unterschied zu den steuerrechtlichen Verfahren haben die im Bereich des Umweltrechts aufgetretenen Probleme ihren Ursprung typischerweise nicht in der mangelhaften Richtlinienumsetzung in nationales Recht, sondern lassen sich auf Defizite beim Vollzug der erlassenen Umsetzungsbestimmungen zurückführen.

I. Umweltinformationen: Guerra et al. ./. Italien (1998) 1. Sachverhalt und umweltrechtliche Grundlagen Anna Maria Guerra und 39 weitere Beschwerdeführerinnen wohnen im italienischen Manfredonia (Region Apulien, Provinz Foggia), etwa einen Kilometer 462 Siehe auch Art. 26, 31 Abs. 1 WVK; sowie o., I. 3. a) aa), und Teil 1, B. II. 1., 2. b) bb). 463 Siehe o., Teil 2, A. III. 2. 464 EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I (= EuGRZ 1999, 188, mit zusammengefasstem Sachverhalt). 465 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00.

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entfernt von der im Nachbarort Monte Sant’Angelo befindlichen Chemiefabrik der Firma Enichem agricoltura466. Diese Fabrik stellte Düngemittel und Caprolactam467 her und emittierte nach dem unbestrittenen Vortrag der Bf. im Zuge ihres Betriebs große Mengen explosionsgefährlichen Gases sowie weitere Chemikalien, darunter v. a. Arsentrioxid, die einem Sachverständigenbericht von 1988 zufolge häufig in Richtung Manfredonia abgingen. Mehrfach ereigneten sich Störfälle, der folgenschwerste im September 1976, als nach einer Explosion 150 Menschen mit akuter Arsenvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten. 1982 beschloss der Rat der EG mit der sog. „Seveso-Richtlinie“ 82/501/ EWG468 verschiedene Maßnahmen zur Vorbeugung und Bewältigung von Unfällen bei gefährlichen Industrietätigkeiten469. Nach der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten die Beibringung diverser sicherheitsrelevanter Informationen durch die Betreiber derartiger Industrieanlagen zu veranlassen (Art. 5) und dafür Sorge zu tragen, dass potentiell betroffene Personen über Sicherheitsmaßnahmen und Verhalten im Falle eines schweren Industrieunfalls informiert werden (Art. 8). Zur Umsetzung der Richtlinie in italienisches Recht erging u. a. 1988 das Dekret des Staatspräsidenten Nr. 175470 (im folgenden: DPR 175/88). Auf dieser Grundlage wurde die Chemiefabrik zunächst als „hochriskant“, nach der Beschränkung ihrer Produktion auf Düngemittel 1989 dann als „gefährlich“ eingestuft. Ein 1985 gegen sieben Direktoren der Betreiberfirma eingeleitetes Strafverfahren wegen verschiedener Umweltdelikte führte 1991 in zwei Fällen zu Verurteilungen, die jedoch in der Berufungsinstanz mit der Begründung wieder aufgehoben wurden, dass insbesondere auch die regionalen Behörden für die Versäumnisse verantwortlich seien. 1989 reichte die Firma einen nach Art. 5 DPR 175/88 erforderlichen Sicherheitsbericht bei der italienischen Regierung ein. Nach abschließender Prüfung ordneten Umwelt- und Gesundheitsministerium am 14.09.1993 gemäß Art. 19 DPR 175/88 gemeinsam mehrere weitere Sicherheitsvorkehrungen für die Fabrik an und erteilten dem zuständigen Präfekten Weisungen für die von ihm zu veranlassenden Maßnahmen. Nach

466 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 12 ff. 467 Caprolactam ist eine Chemikalie, die bei der Produktion von Kunstfasern wie Nylon eingesetzt wird. 468 Richtlinie 82/501/EWG des Rates v. 24.06.1982 über die Gefahren schwerer Unfälle bei bestimmten Industrietätigkeiten, ABl. Nr. L 230 v. 05.08.1982, S. 1. 469 U. a. wird Arsentrioxid nach Art. 1 Abs. 2 lit. d Spstr. 2 i.V. m. Anhang III der Richtlinie als gefährlicher Stoff klassifiziert. 470 Decreto del Presidente della Repubblica del 17.05.1988 n. 175, attuazione della direttiva CEE n. 82/501, relativa ai rischi di incidenti rilevanti connessi con determinate attività industriali, ai sensi della legge 16 aprile 1987, n. 183; Gazzetta Ufficiale – Serie generale – del 01.06.1988 n. 127, S. 3.

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

Art. 17 DPR 175/88 oblag es dem Präfekten, auf der Grundlage der von der Fabrik und dem Koordinationskomitee für Industriesicherheit erhaltenen Angaben einen Notfallplan zu erstellen und weiterzuleiten. Gleichfalls hatte er sicherzustellen, dass die Bürgermeister ihrer Pflicht aus Art. 11 DPR 175/88 nachkamen, die betroffene Bevölkerung über den Produktionsprozess und die verwendeten Chemikalien, mögliche Betriebsrisiken, die vorgesehenen Sicherheits- und Notfallmaßnahmen sowie über das Vorgehen bei Unfällen zu informieren. Hiervon abgesehen war es zum Schutz von Industriegeheimnissen den Behörden untersagt, die erhaltenen Informationen offenzulegen. Jedoch erklärte der Bürgermeister von Monte Sant’Angelo in einem Schreiben an die EKMR vom 07.12.1995, dass die ministerielle Untersuchung nach Art. 19 DPR 175/88 noch andauere und er bislang keine entsprechenden Unterlagen erhalten habe. Die Stadtverwaltung warte noch auf Anweisungen der Zivilschutzbehörde, bevor über die zu treffenden Sicherheitsmaßnahmen entschieden und die Bevölkerung hiervon in Kenntnis gesetzt werden könne. 1994 war auch die Düngemittelproduktion in der Fabrik dauerhaft eingestellt worden, und nur ein Wärmekraftwerk und eine Wasseraufbereitungsanlage wurden weiter betrieben. Der Bürgermeister sagte für den Fall einer Wiederaufnahme der Produktion die Information der Bevölkerung zu, sobald die Untersuchungsergebnisse verfügbar seien. Unabhängig vom Vorliegen einer gefährlichen Industrietätigkeit wurde in Italien außerdem mit dem Gesetz Nr. 349/1986471 jedem Bürger ein gesetzlicher Anspruch auf freien Zugang zu den bei der öffentlichen Verwaltung vorhandenen Informationen über den Zustand der Umwelt472 eingeräumt. Nach Art. 3 der 1990 erlassenen Richtlinie 90/313/EWG473 hatten die Mitgliedstaaten ihre Behörden dann dazu zu verpflichten, allen natürlichen oder juristischen Personen auf Antrag ohne Nachweis eines Interesses Informationen über die Umwelt einschließlich möglicher Beeinträchtigungen und Schutzmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates bezeichnete schließlich 1996 den öffentlichen Zugang zu klarer und umfassender Information

471 Art. 14 Abs. 3 Legge del 08.07.1986, n. 349, Istituzione del Ministero dell’ambiente e norme in materia di danno ambientale, Supplemento Ordinario n. 59, Gazzetta Ufficiale – Serie generale – del 15.07.1986, n. 162. 472 Nach der Rechtsprechung zählte hierzu jede Information über den Lebensraum von Menschen von gewissem Interesse für die Allgemeinheit; Consiglio di Giustizia Amministrativa per la Regione Siciliana (höchstes Verwaltungsgericht für Sizilien), Urt. Nr. 476 v. 21.11.1991, kurz resümiert bei EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 33. 473 Richtlinie 90/313/EWG des Rates v. 07.06.1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, ABl. Nr. L 158 v. 23.06.1990, S. 56; näher Frenz, Umweltrecht, S. 164 ff.; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 29 ff.; Nitschke, S. 78 ff.; D. Klein, Umweltinformation, S. 64.

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nicht nur über die Risiken der Kernenergie, sondern auch hinsichtlich vieler anderer Bereiche als grundlegendes Menschenrecht474. 2. Verfahren vor der EKMR Die Bf. wandten sich am 18.10.1988 an die EKMR und rügten, dass die Unterlassung praktischer Maßnahmen zur Reduzierung von Umweltverschmutzung und Unfallrisiken zu einer Verletzung ihres Rechts auf Leben und körperliche Integrität aus Art. 2 EMRK und die fehlende Aufklärung der Bevölkerung über Risiken und Notfallverfahren zu einem Verstoß gegen die Informationsfreiheit aus Art. 10 EMRK geführt hätten. a) Zulässigkeitsentscheidung Am 06.07.1995 erklärte die EKMR die das Informationsdefizit betreffende Rüge mehrheitlich für zulässig475. Hinsichtlich der ebenfalls gerügten Unterlassung von Umweltschutzmaßnahmen akzeptierte sie hingegen den Einwand der italienischen Regierung, dass die Bf. die in Italien verfügbaren Rechtsschutzmöglichkeiten nicht ausgeschöpft hätten. Zwar hätten weitere strafrechtliche Schritte keine wirksame Abhilfe für die Bf., sondern allenfalls eine Verurteilung der Beschuldigten ermöglicht. Nach Art. 700 Codice di procedura civile i.V. m. den einschlägigen Normen des Codice civile habe es den Bf. jedoch offengestanden, einstweilige gerichtliche Anordnungen gegen die Fabrik zu beantragen, um anstelle der begehrten staatlichen Vorkehrungen die Beseitigung der Gefahrenquelle, etwa durch ein Betriebsverbot oder weitere Auflagen, zu erreichen. Dieser Teil der Beschwerde wurde daher mangels Rechtswegerschöpfung als unzulässig zurückgewiesen. b) Bericht gemäß Art. 31 EMRK a. F. In ihrem Bericht vom 29.06.1996 prüfte die EKMR dann die fehlende Information der Bevölkerung am Maßstab von Art. 10 EMRK. Zum Rechtsschutz stellte sie fest, dass der im Gesetz Nr. 349/1986 vorgesehene allgemeine Anspruch auf Umweltinformation vorliegend nicht anwendbar gewesen sei, da die zuständigen Behörden nicht von sich aus über die begehrten Informationen verfügten und das im DPR 175/88 geregelte Informationsverfahren wegen der Schutzbestimmungen für Industriegeheimnisse als abschließend anzusehen sei476. 474 Resolution 1087 (1996) v. 26.04.1996 (16. Sitzung) über die Folgen des Unfalls von Tschernobyl, § 4. 475 EKMR, Entsch. v. 06.07.1995, Guerra et al. ./. Italien (Zulässigkeit), Nr. 14967/ 89. 476 EKMR, Bericht v. 29.06.1996, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 39.

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Des weiteren erörterte die EKMR ausführlich, ob aus Art. 10 EMRK auch positive Informationspflichten des Staates abzuleiten seien. Auch wenn die Informationsfreiheit v. a. staatliche Beschränkungen des Empfangs von Informationen verbiete477, ließen sich nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane positive Verpflichtungen auf Sicherstellung des Informationsbezugs nicht von vornherein ausschließen478, zumal auch zu Art. 8 EMRK eine erweiternde Interpretation entwickelt worden sei479. Wie die einschlägigen EG-rechtlichen und italienischen Vorschriften zeigten, stelle die Information der Öffentlichkeit ein wesentliches Instrument für den Schutz von öffentlichem Wohlergehen und Gesundheit bei Umweltgefahren dar480. Diesem Ziel dienten sowohl die Informationsbestimmungen über präventive Sicherheitsmaßnahmen und die Verfahren für den Notfall als auch jene über Art und Risiken der industriellen Aktivität. Auch in den wechselseitig voneinander abhängigen Bereichen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes sei die Konvention im Lichte der gegenwärtigen Bedingungen zugunsten eines wirksamen Individualrechtsschutzes auszulegen481. Darüber hinaus deute die Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zumindest auf europäischer Ebene auf die Entwicklung einer Überzeugung hin, ein Grundrecht auf Information bei Umweltbeeinträchtigungen anzuerkennen. Die Bedeutung eines solchen Rechts ergebe sich aus seinem Sinn und Zweck, die menschliche Gesundheit und damit indirekt auch von anderen Konventionsgarantien erfasste Rechte zu schützen. Denn schwere Umweltbelastungen könnten die Wohnungsnutzung und das Privat- und Familienleben der Betroffenen beeinträchtigen482 sowie in extremen Fällen sogar ihr Leben gefährden. Daher sprach sich die EKMR dafür aus, über die Einbeziehung eines Rechts auf Bezug behördlicher Umweltinformationen in Art. 10 EMRK einen zusätzlichen Präventivschutz zu gewährleisten483, wobei sie insbesondere an einen Teil des Wortlauts von Art. 10 Abs. 1 S. 2 EMRK anknüpfte484. Weiterhin verwies sie

477 EKMR, a. a. O., Rn. 41; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 26.03.1987, Leander ./. Schweden, Ser. A Vol. 116, Rn. 74; EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Gaskin ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 160, Rn. 52. 478 EKMR, Bericht v. 29.06.1996, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 42. 479 Vgl. EGMR, Urt. v. 23.07.1968, „Belgischer Sprachenfall“, Ser. A Vol. 6 (= EuGRZ 1975, 298), S. 32 f., Rn. 7. 480 EKMR, Bericht v. 29.06.1996, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 43. 481 EKMR, a. a. O.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 09.10.1979, Airey ./. Irland, Ser. A Vol. 32, Rn. 26. 482 Hierzu EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 51; sowie näher u., 4. d) bb). 483 EKMR, Bericht v. 29.06.1996, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 46 ff. 484 EKMR, a. a. O., Rn. 47. Der entsprechende Normtext lautet in den authentischen Fassungen: „This right shall include freedom to [. . .] receive [. . .] information [. . .]“/„Ce droit comprend [. . .] la liberté de recevoir [. . .] des informations [. . .]“.

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auf das grundlegende Prinzip des Art. 1 EMRK, nach dem die Konventionsstaaten alle Maßnahmen für eine effektive Ausübung der Rechte aus der EMRK zu treffen hätten, so dass mitunter auch positives staatliches Handeln erforderlich sei485. Art. 10 EMRK verpflichte die Staaten somit, Umweltinformationen nicht nur zugänglich zu machen, sondern sie auch einzuholen, aufzubereiten und zu verbreiten, sofern nicht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Vertraulichkeit der Informationen entgegenstehe486. Die Entscheidung über Art und Umfang der im konkreten Fall zu treffenden effektiven Maßnahmen sei Sache der Staaten. Vorliegend hätten die zuständigen italienischen Behörden zumindest in der Zeit zwischen dem Erlass des DPR 175/88 und dem Produktionsende in der Fabrik 1994 adäquate Umweltinformationen für die im Hochrisikogebiet lebenden Bf. sicherstellen müssen. Da aber keine der im DPR 175/88 vorgesehenen Maßnahmen zur Unterrichtung der Öffentlichkeit ergriffen worden sei, stellte die EKMR mit 21:8 Stimmen eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. c) Sondervoten zum Bericht Sieben der abweichenden Kommissionsmitglieder brachten ihre Kritik an dieser extensiven Interpretation von Art. 10 EMRK in insgesamt drei Sondervoten zum Ausdruck. Ungeachtet gewisser positiver Verpflichtungen der Staaten zur Sicherung der Meinungsäußerungsfreiheit enthalte Art. 10 EMRK selbst dann nicht derart weitgehende Informationspflichten, wenn sie im nationalen Recht vorgesehen seien. Eine solche Auslegung stehe weder mit der natürlichen Bedeutung des Wortlauts noch mit der bisherigen Rechtsprechung des EGMR in Einklang487. Stattdessen wurde in den Sondervoten zumeist favorisiert, einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK anzunehmen, in dessen Rahmen bereits eine Pflicht der Staaten zu positiven Maßnahmen anerkannt worden sei488. Vereinzelt wurde die relevante staatliche Pflicht auch eher in der Überwachung der Industrie zum Schutz des Privatlebens der Betroffenen als in der bloßen Information der Bevölkerung gesehen489.

485 EKMR, a. a. O., Rn. 48; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 09.10.1979, Airey ./. Irland, Ser. A Vol. 32, Rn. 25, und EGMR, Urt. v. 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Ser. A Vol. 31, Rn. 31. 486 EKMR, Bericht v. 29.06.1996, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 49 ff. 487 Abweichendes Sondervotum der Kommissionsmitglieder Thune, Nowicki, Conforti und Bratza zu EKMR, Bericht v. 29.06.1996, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, 248; abweichendes Sondervotum der Kommisionsmitglieder Danelius und Lorenzen, a. a. O., S. 245. 488 Abweichendes Sondervotum der Kommissionsmitglieder Thune, Nowicki, Conforti und Bratza, a. a. O., S. 248 f.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 51; im Ergebnis ebenso das abweichende Sondervotum des Kommissionsmitglieds Schermers, a. a. O., S. 246. 489 Abweichendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Schermers, a. a. O., S. 246.

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3. Urteil des EGMR a) Zuständigkeit und Verfahren Nachdem die EKMR den Gerichtshof am 16.09.1996 nach Art. 48 EMRK a. F. mit der Beschwerde befasst hatte, machten die Bf. im folgenden Verfahren auch die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 8 und 2 EMRK wegen der fehlenden behördlichen Information geltend. Für die italienische Regierung gehörte dieses Vorbringen dagegen nicht mehr zum durch die Zulässigkeitsentscheidung festgelegten Prüfungsgegenstand. In seinem Urteil vom 19.02.1998 erörterte der als Große Kammer konstituierte EGMR daher zunächst seine Zuständigkeit ratione materiae nach Art. 49 EMRK a. F. (jetzt Art. 32 Abs. 2 EMRK) und gelangte zu einem positiven Ergebnis490. Nach dem Prinzip „jura novit curia“ sei er an die rechtliche Qualifikation eines Sachverhalts durch die Parteien oder die EKMR nicht gebunden und könne einen zulässigen Beschwerdegrund unter allen aufgeworfenen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkten würdigen. In Anbetracht der engen Verbundenheit des ursprünglichen Vortrags der Bf. mit Art. 8 und 2 EMRK seien somit auch diese Garantien in die Prüfung einzubeziehen. Die von der Regierung erneut erhobene Einrede der Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs wies der EGMR mit 19:1 Stimmen und der Begründung zurück, dass sowohl ein zivilrechtlicher Eilantrag als auch ein strafrechtliches Verfahren nicht dazu geeignet gewesen seien, die Bereitstellung der Umweltinformationen durch die Behörde zu erwirken491. b) Materielle Konventionsgarantien In materieller Hinsicht plädierten die Bf. wie die EKMR für positive staatliche Informationspflichten aus Art. 10 EMRK, während die italienische Regierung unter Hinweis auf fehlende explizite Normen und zu erwartende Schwierigkeiten bei der Durchsetzung solcher Pflichten die Anwendbarkeit dieser Vorschrift bestritt. Der EGMR zog vergleichend seine Rechtsprechung zu Beschränkungen der Pressefreiheit heran, nach der ein Recht der Öffentlichkeit auf Informationsempfang logisch aus der spezifischen Aufgabe von Journalisten folge, Nachrichten von öffentlichem Interesse mitzuteilen492. Demgegenüber gehe es hier um Mängel im von Italien zur Umsetzung der „Seveso-Richtlinie“ geschaffenen Informationsmechanismus. Daraus, dass Art. 10 Abs. 1 S. 2 EMRK vor staatlichen 490

EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 43 ff. EGMR (GK), a. a. O., Rn. 48 f. Ob ggf. ein verwaltungsgerichtliches Verfahren zielführend gewesen wäre, wurde weder vom Gerichtshof oder der EKMR noch von den Parteien thematisiert. 492 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 53; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 26.11.1991, Observer und Guardian ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 216 (= EuGRZ 1995, 16), Rn. 59 (b), und EGMR, Urt. v. 25.06.1992, Thorgeir Thorgeirson ./. Island, Ser. A Vol. 239, Rn. 63. 491

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Behinderungen des Empfangs von Informationen schütze493, ergebe sich unter den gegebenen Umständen keine Pflicht für den Staat, aus eigenem Antrieb Informationen zu sammeln und zu verbreiten494. Anders als die EKMR hielt der Gerichtshof folglich mit 18:2 Stimmen die Informationsfreiheit des Art. 10 EMRK nicht für einschlägig. In der anschließenden Prüfung analysierte der EGMR das mit dem Betrieb der umstrittenen Fabrik verbundene Risiko und bejahte die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK, weil sich die toxischen Emissionen direkt auf das Recht der Bf. auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens auswirkten495. Da die Bf. ein staatliches Unterlassen gerügt hätten, wies der Gerichtshof auf seine Rechtsprechung hin, dass die Staaten aus Art. 8 EMRK auch zu positiven Maßnahmen für eine effektive Gewährleistung der Konventionsgarantie verpflichtet sein könnten496. Insbesondere habe er bereits das Potential schwerer Umweltbelastungen anerkannt, die Wohnungsnutzung und dadurch auch das Privat- und Familienleben der Betroffenen zu beeinträchtigen497. Das Vorgehen der italienischen Behörden habe diesen konventionsrechtlichen Schutzanforderungen jedoch nicht genügt, da die Bf. bis zur Produktionseinstellung 1994 nicht die wesentlichen Informationen erhalten hätten, um die vor Ort für sich und ihre Familien bestehenden Risiken abschätzen zu können. Der Gerichtshof nahm daher einstimmig einen Verstoß Italiens gegen Art. 8 EMRK an. Vor diesem Hintergrund wurde die von den Bf. unter Hinweis auf den Krebstod von Arbeitern der Fabrik erhobene Rüge einer Verletzung von Art. 2 EMRK durch die fehlenden Informationen nicht mehr geprüft. c) Sondervoten Dem Urteil wurden fünf Sondervoten beigefügt, von denen zwei das Ergebnis der Mehrheitsmeinung partiell nicht mittrugen. Teils wurde zusätzlich Art. 2 EMRK in Bezug auf den Schutz der körperlichen Unversehrtheit für einschlägig gehalten und eine Entwicklung der Rechtsprechung in diese Richtung angeregt498. Andere Richter befürworteten eher die Anwendung von Art. 10 EMRK499

493

Siehe EGMR, Urt. v. 26.03.1987, Leander ./. Schweden, Ser. A Vol. 116, Rn. 74. EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 53. 495 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 57. 496 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 58; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 09.10.1979, Airey ./. Irland, Ser. A Vol. 32, Rn. 32, und EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 55. 497 EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 60; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 51. Näher u., 4. d) bb). 498 Zustimmendes Sondervotum des Richters Walsh zu EGMR (GK), Urt. v. 19.02. 1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, 232; zustimmendes Sondervotum des Rich494

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oder schlossen die Ableitung positiver Informationspflichten des Staates aus dieser Garantie zumindest nicht grundsätzlich aus, sofern die Öffentlichkeit nicht auf anderem Wege Kenntnis erlangen kann500 oder die Betroffenen die Bereitstellung der Informationen verlangt haben501. In einer Einzelmeinung wurde schließlich fehlende Rechtswegerschöpfung moniert, da die begehrten Informationen in einem nationalen Gerichtsverfahren über eine Aussetzung des Fabrikbetriebs hätten vorgelegt werden müssen502. d) Urteilsfolgen Einen von den Bf. auf 20 Mrd. ITL (ca. 10,3 Mio. A) bezifferten „biologischen“ Schaden infolge des Informationsdefizits hielt der EGMR für nicht hinreichend dargelegt, sprach ihnen aber 10 Mio. ITL (ca. 5.165,– A) pro Person als Ersatz für den erlittenen immateriellen Schaden zu (Art. 50 EMRK a. F.; jetzt Art. 41 EMRK)503. Die Aufstockung der bereits gewährten Prozesskostenhilfe lehnte der Gerichtshof ab. Ohne Erfolg blieb auch ein Antrag der Bf., Italien zu verpflichten, die Dekontamination der Industrieanlage zu veranlassen, eine epidemiologische Studie über das Gebiet und die betroffene Bevölkerung durchzuführen sowie eine Untersuchung über mögliche schwere Folgen für die Anwohner vorzunehmen, die krebserregenden Stoffen ausgesetzt waren. Denn der Gerichtshof verneinte seine Kompetenz zu einer solchen Anordnung und bekräftigte, dass es Sache der Staaten sei, über die Mittel zur Gewährleistung der Konventionsgarantien und zur Behebung einer Verletzung der EMRK zu entscheiden504. Zur Umsetzung des Urteils des EGMR hat die italienische Regierung nicht nur den Bf. die fälligen Beträge gezahlt, sondern auch das Urteil sämtlichen betroffenen Behörden zukommen lassen und es mehrfach in italienischer Sprache veröffentlicht, um die auf verschiedenen Ebenen aufgetretene fehlerhafte Rechtsanwendung künftig zu unterbinden und so weiteren Verstößen gegen Art. 8 EMRK ters Jambrek, a. a. O., S. 234. Ebenso Schmidt-Radefeldt, EuGRZ 1999, 192 (193); Maljean-Dubois, RGDIP 102 (1998), 995 (1007, 1009). 499 Teils zustimmendes und teils abweichendes Sondervotum des Richters Thór Vilhjálmsson, a. a. O., S. 236. 500 Zustimmendes Sondervotum der Richter Palm, Bernhardt, Russo, Macdonald, Makarczyk und van Dijk, a. a. O., S. 233. 501 Zustimmendes Sondervotum des Richters Jambrek, a. a. O., S. 234 f.; hierzu kritisch Maljean-Dubois, RGDIP 102 (1998), 995 (1005). 502 Teils abweichendes und teils zustimmendes Sondervotum des Richters Mifsud Bonnici, a. a. O., S. 237. 503 EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 64 ff. 504 Ständige Rspr.; EGMR (GK), a. a. O., Rn. 74; EGMR, Urt. v. 19.02.1991, Zanghì ./. Italien, Ser. A Vol. 194-C, Rn. 26; EGMR, Urt. v. 27.08.1991, Demicoli ./. Malta, Ser. A Vol. 210, Rn. 45; EGMR, Urt. v. 08.06.1995, Yag˘cı und Sargın ./. Türkei, Ser. A Vol. 319-A, Rn. 81.

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vorzubeugen505. Diese Aufklärungsmaßnahmen haben der Regierung zufolge dazu beigetragen, dass sich in Italien nunmehr Verwaltungspraktiken entwickelt haben, durch die eine schnelle und adäquate Information über Umweltrisiken gewährleistet ist. Die anschließenden behördlichen Untersuchungen in der Fabrik hätten ergeben, dass keine Hochrisikolage mehr bestehe, so dass weitere Maßnahmen nicht erforderlich seien. 4. Analyse und Bedeutung des Falles Der Guerra-Fall verdeutlicht exemplarisch die konventionsrechtliche Durchsetzung individualschützenden europäischen Richtlinenrechts im Umweltbereich und insbesondere bezüglich der Gewährleistung von Umweltinformationen. Nachfolgend wird daher ein Überblick über die insoweit allgemein in Betracht kommenden europarechtlichen Verbürgungen und die typischen Probleme bei ihrer mitgliedstaatlichen Implementierung gegeben. Auf dieser Grundlage werden dann die Abhilfemöglichkeiten im europäischen Rechtsschutz mit besonderem Augenmerk auf die EMRK untersucht. a) Informationsgewährleistungen und weitere individualschützende Normen in europäischen Umweltrichtlinien Die Gewährleistung von Umweltinformationen für die Öffentlichkeit ist Gegenstand verschiedener europäischer Richtlinien, die allesamt individualschützenden Charakter aufweisen. So bezweckte die im Guerra-Fall relevante „Seveso-Richtlinie“ 82/501/EWG den Schutz der Bürger vor schädlichen Folgen gefährlicher Industrietätigkeiten. Sie wurde inzwischen durch die 1996 erlassene sog. „Seveso-II-Richtlinie“ 96/82/EG506 ersetzt, die ihrerseits 2003 anlässlich weiterer Industrieunfälle ergänzend abgeändert wurde507. In Art. 13 Abs. 1 ihrer aktuellen Fassung werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass allen potentiell betroffenen Personen und Einrichtungen mit Publikumsverkehr Informationen über die Sicherheitsmaßnahmen und das richtige Verhalten bei einem Unfall in einem risikobehafteten Betrieb in regelmäßigen Abständen und in der bestgeeigneten Form ohne Aufforderung mitgeteilt werden. Weitere antragsunabhängige Informationspflichten der mitgliedstaatlichen Behörden bestehen

505 Resolution ResDH(2002)146 betr. das Urteil des EGMR (GK) v. 19.02.1998 im Fall Guerra et al. ./. Italien, angenommen vom Ministerkomitee am 17.12.2002. 506 Richtlinie 96/82/EG des Rates v. 09.12.1996 zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, ABl. Nr. L 10 v. 14.01.1997, S. 13. 507 Richtlinie 2003/105/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16.12. 2003 zur Änderung der Richtlinie 96/82/EG des Rates zur Beherrschung der Gefahren bei schweren Unfällen mit gefährlichen Stoffen, ABl. Nr. L 345 v. 31.12.2003, S. 97.

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etwa hinsichtlich der Luftqualität508, der Abfallwirtschaft509 und der Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen510. Im übrigen enthalten auch zahlreiche Umweltrichtlinien Vorgaben für die Beteiligung der Öffentlichkeit an den maßgeblichen nationalen Entscheidungsverfahren511. Ein allgemeines, nicht auf spezifische Regelungsbereiche beschränktes Recht auf Zugang zu Umweltinformationen vermittelt die sog. Umweltinformationsrichtlinie 2003/4/EG512, die die Regelungen der abgelösten Vorgängerrichtlinie 90/313/EWG513 im Vorfeld der Ratifikation der Aarhus-Konvention514 durch die EG erweitert und präzisiert hat515. Nach Art. 3 Abs. 1 RiLi 2003/4/EG gewährleisten die Mitgliedstaaten die Verpflichtung ihrer Behörden, die bei ihnen vorhandenen oder für sie bereitgehaltenen Umweltinformationen allen natürlichen 508 Art. 26 Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.05.2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ABl. Nr. L 152 v. 11.06. 2008, S. 1. 509 Art. 31 Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.11.2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien, ABl. Nr. L 312 v. 22.11.2008, S. 3; bis zum 12.12.2010 auch Art. 6 Abs. 1 Richtlinie 91/689/EWG des Rates v. 12.12.1991 über gefährliche Abfälle, ABl. Nr. L 377 v. 31.12.1991, S. 20. 510 Art. 13 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2009/41/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 06.05.2009 über die Anwendung genetisch veränderter Mikroorganismen in geschlossenen Systemen (Neufassung), ABl. Nr. L 125 v. 21.05.2009, S. 75. 511 Vgl. Art. 2 Richtlinie 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 26.05.2003 über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme, ABl. Nr. L 156 v. 25.06.2003, S. 17; Art. 6 Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 27.06.2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme, ABl. Nr. L 197 v. 21.07.2001, S. 30; Art. 6 ff. Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.06.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. Nr. L 175 v. 05.07.1985, S. 40 (Änderungen in ABl. Nr. L 73 v. 14.03. 1997, S. 5; ABl. Nr. L 156 v. 25.06.2003, S. 17; ABl. Nr. L 140 v. 05.06.2009, S. 114); Art. 15 Richtlinie 2008/1/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.01.2008 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, ABl. Nr. L 24 v. 29.01.2008, S. 8; Art. 14 Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.10.2000 zur Schaffung eines Ordnungsrahmens für Maßnahmen der Gemeinschaft im Bereich der Wasserpolitik, ABl. Nr. L 327 v. 22.12.2000, S. 1; sowie Epiney, Umweltrecht, S. 293 f., Rn. 56 ff. Zu den Rechtsschutzvorgaben siehe u., c). 512 Richtlinie 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 28.01.2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates, ABl. Nr. L 41 v. 14.02.2003, S. 26. 513 Richtlinie 90/313/EWG des Rates v. 07.06.1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, ABl. Nr. L 158 v. 23.06.1990, S. 56. Siehe auch schon o., 1. 514 Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten v. 25.06.1998, in Kraft getreten am 30.10.2001, durch die EG ratifiziert am 17.02. 2005, ILM 38 (1999), 517, BGBl. 2006 II, S. 1251, 1252. Näher von Danwitz, NVwZ 2004, 272 (272 ff.); Walter, EuR 2005, 302 (304 ff.); Marauhn, in: Giegerich/Proelß, Bewahrung, S. 11 (26 ff.); D. Klein, Umweltinformation, S. 34 f., 50 ff., 469 ff. 515 Näher Epiney, Umweltrecht, S. 283 ff., Rn. 39 ff.

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und juristischen Personen auf Antrag zugänglich zu machen, ohne dass diese ein Interesse geltend zu machen brauchen. Der in Art. 2 Nr. 1 RiLi 2003/4/EG konkretisierte Begriff der Umweltinformationen ist recht weit gehalten und umfasst nicht nur Informationen über den Zustand der Umwelt, sondern auch über diesbezügliche Maßnahmen und Tätigkeiten, über zugehörige wirtschaftliche Analysen sowie über den Zustand der menschlichen Gesundheit und Sicherheit. Sofern die begehrten Informationen nicht vorliegen, sind die Behörden jedoch nicht zu Nachforschungen verpflichtet. Nähere Regelungen zu Zugangsmodalitäten wie Bearbeitungsfristen und Gebührenerhebung finden sich in Art. 3 ff. RiLi 2003/ 4/EG. Die in Art. 4 RiLi 2003/4/EG in zwei Kategorien abschließend aufgeführten Ausnahmetatbestände sind eng auszulegen, wobei in jedem Einzelfall das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe der Information zu berücksichtigen und gegen das Interesse an deren Verweigerung abzuwägen ist. Weiterhin haben die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen für eine aktive und systematische Verbreitung von Umweltinformationen in der Öffentlichkeit zu ergreifen (Art. 7 RiLi 2003/4/EG). Damit garantiert die Richtlinie zwar keine umfassende, aber doch eine weitreichende Information der Einzelnen in Umweltsachen und eröffnet durch gesteigerte Transparenz auch eine bessere öffentliche Kontrolle der Tätigkeit der Verwaltung516. Jenseits der Bestimmungen zu Umweltinformationen und Öffentlichkeitsbeteiligung existieren noch diverse weitere umweltrechtliche Richtlinienvorschriften mit Schutzwirkung für die Einzelnen. Beispielhaft sei an dieser Stelle nur auf die Regelungen hingewiesen, die sich spezifisch auf einzelne Umweltmedien beziehen, insbesondere zum Gewässerschutz, zur Luftreinhaltung sowie zur Bekämpfung von Umgebungslärm517. Gerade in diesem Kontext genügt dem EuGH stets bereits der Hinweis auf den Schutz der menschlichen Gesundheit als Richtlinienziel für die Anerkennung des individualschützenden Charakters der jeweiligen Normen, selbst wenn es sich dabei um vorsorgeorientierte Grenzwertfestsetzungen handelt518. Wenn eine Umweltrichtlinie also dem Schutz hinreichend individualisierter Interessen zu dienen bestimmt ist, muss sich dies durch entsprechende Individualberechtigungen im zur Umsetzung ergangenen nationalen 516 Vgl. Epiney, Umweltrecht, S. 293, Rn. 54 f.; D. Klein, Umweltinformation, S. 239 ff. Zu den Rechtsschutzvorgaben siehe u., c). 517 Ausführlich zu den einzelnen Kategorien Epiney, Umweltrecht, S. 392 ff., Rn. 1 ff.; Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 192 AEUV, Rn. 6 ff. 518 EuGH, Urt. v. 28.02.1991, Kommission ./. Deutschland, Rs. C-131/88, Slg. 1991, I-825, Rn. 7; EuGH, Urt. v. 17.10.1991, Kommission ./. Deutschland, Rs. C-58/89, Slg. 1991, I-4983, Rn. 14; EuGH, Urt. v. 30.05.1991, Kommission ./. Deutschland, Rs. C-59/ 89, Slg. 1991, I-2607, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 30.05.1991, Kommission ./. Deutschland, Rs. 361/88, Slg. 1991, I-2567, Rn. 16; näher Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 46 ff.; Calliess, in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 81 (85 ff.); Calliess, in: ders./ Ruffert, Art. 192 AEUV, Rn. 42; Wegener, Vollzugskontrolle, in: Lübbe-Wolff, Vollzug, S. 145 (150 ff.); Ruffert, Subjektive Rechte, S. 287 ff.; Scheuing, NVwZ 1999, 475 (484); Kley-Struller, EuGRZ 1995, 507 (517); Pernice, EuR 1994, 325 (339).

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Recht niederschlagen519. Dementsprechend kann der insoweit betroffene einzelne Bürger die Einhaltung zwingender Umweltschutzbestimmungen verlangen. Reine Verfahrensvorschriften oder Produktnormen in Richtlinien entfalten dagegen grundsätzlich keine derartigen individualberechtigenden Wirkungen520. b) Umweltrechtliche Vollzugsproblematik Anhand des Guerra-Falls lässt sich anschaulich aufzeigen, wie weitgehend die Wirksamkeit des europäischen Umweltrechts und der dort verbürgten individualschützenden Rechte von der konsequenten Anwendung durch die Mitgliedstaaten abhängt521. Art. 192 Abs. 4 AEUV betont als Ausformung der allgemeinen Regeln522 eigens die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Finanzierung und Durchführung der europäischen Umweltpolitik. Bei Verordnungen haben die Mitgliedstaaten vorbehaltlich unionsunmittelbarer Durchführung523 den Vollzug durch Behörden und Gerichte zu gewährleisten, mitunter sind zuvor auch nationale Konkretisierungsmaßnahmen erforderlich524. Den ganz überwiegenden Teil des Sekundärrechts im Umweltbereich machen jedoch die Richtlinien aus525. Sie enthalten hier oft bereits sehr detaillierte inhaltliche Vorgaben526, bedürfen aber immer noch stets der Umsetzung in nationales Recht, das anschließend durch die Mitgliedstaaten zu vollziehen ist. So wurde vorliegend die Richtlinie 82/501/EWG zunächst ordnungsgemäß in das italienische Präsidialdekret 175/88 überführt527, das die Wahrnehmung der 519 Ruffert, Subjektive Rechte, S. 224; Calliess, in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 81 (86 f.); siehe auch Pernice, EuR 1994, 325 (339 f.). 520 Ruffert, Subjektive Rechte, S. 289. 521 Vgl. Lübbe-Wolff, Einleitung, in: dies., Vollzug, S. 1 (1); Schwarze/Käller, Art. 192 AEUV, Rn. 34. 522 Vgl. Art. 4 Abs. 3, Art. 5 EUV, Art. 288, 291 Abs. 1 AEUV; Krämer, Defizite, in: Lübbe-Wolff, Vollzug, S. 7 (9 f.); Epiney, Umweltrecht, S. 227, Rn. 143; Streinz/ Kahl, Art. 192 AEUV, Rn. 51; Nitschke, S. 100 f. 523 Vgl. die Beispiele bei Krämer, Defizite, in: Lübbe-Wolff, Vollzug, S. 7 (10 f.). 524 Vgl. bspw. Art. 12 Abs. 1, Art. 28 Abs. 6 VO (EG) Nr. 1221/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.11.2009 über die freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 761/2001 („Öko-Audit“), ABl. Nr. L 342 v. 22.12.2009, S. 1. 525 Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 192 AEUV, Rn. 38; Hauser, S. 99. 526 Der damit einhergehende Verlust eigenständigen mitgliedstaatlichen Ausgestaltungsspielraums begünstigt Vereinheitlichungstendenzen im europäischen Umweltrecht; Schwarze/Jahns-Böhm, 1. Aufl., Art. 175 EGV, Rn. 27. 527 Diese Art der Umsetzung genügte grundsätzlich den vom EuGH gestellten Anforderungen; vgl. EuGH, Urt. v. 28.02.1991, Kommission ./. Deutschland, Rs. C-131/88, Slg. 1991, I-825, Rn. 6; EuGH, Urt. v. 09.04.1987, Kommission ./. Italien, Rs. 363/85, Slg. 1987, 1733, Rn. 7. Hinsichtlich der Durchführung von Art. 7 Abs. 1 Spstr. 3, Abs. 2 RiLi 82/501/EWG (Ausarbeitung von Alarm- und Gefahrenabwehrplänen; Inspektio-

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Informationspflichten gegenüber der Bevölkerung dem Präfekten und den Bürgermeistern als zuständigen Behörden zuwies. Dennoch wurden die Anwohner während der Betriebsdauer der Fabrik nicht informiert. Die Anwendung der entsprechenden Vorschriften unterblieb also, ohne dass die Hintergründe hierfür eindeutig bestimmbar wären: Obwohl im September 1993 ministerielle Weisungen an den Präfekten ergangen waren, monierte der Bürgermeister im Dezember 1995, dass das Verfahren in den Ministerien nicht abgeschlossen sei. Die Sachlage deutet aber darauf hin, dass zumindest der Präfekt seiner Pflicht aus Art. 17 DPR 175/88, die Information der Bevölkerung sicherzustellen, nicht nachgekommen sein dürfte. Damit liegt zuvörderst ein Verstoß gegen das italienische Recht vor, mit dem aber gleichzeitig eine Verletzung der dahinterstehenden europäischen Richtlinie verbunden ist528. Derartige Vollzugsdefizite bei der Exekutive treten gerade im Umweltrecht unabhängig vom europarechtlichen Bezug besonders häufig auf 529, was zu einer beachtlichen Diskrepanz zwischen dem geschriebenen Recht und der Praxis führt530. Zwar ist die Notwendigkeit eines wirksamen Umweltschutzes in der jüngeren Vergangenheit allgemein stärker in das öffentliche Bewusstsein gedrungen, doch die Durchführung umweltrechtlicher Vorschriften wird nach wie vor durch ein ganzes Ursachenbündel erschwert531. So machen sich der Mangel an qualifiziertem Personal und die Unterfinanzierung vieler Verwaltungen in langwierigen Verfahren, einer geringen Kontrollfrequenz und einer inkonsequenten Sanktionierungspraxis bemerkbar. Außerdem kann eine unklare oder umstrittene innerstaatliche Kompetenzverteilung Reibungsverluste bis hin zu Vollzugsausfällen begünstigen. In den Einzelfallabwägungen der Verwaltung wird der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen nicht selten Vorrang vor konkurrierenden Umweltbelangen eingeräumt, insbesondere wenn dies etwa aufgrund einer schwierigen Wirtschaftslage oder wegen bestehender regionaler Strukturschwächen auch politisch opportun erscheint. Gerade bei der Forcierung solcher einzelstaatlichen Prioritäten durch die Behörden wächst die Gefahr einer Missachtung des europäi-

nen) hat der EuGH allerdings eine Vertragsverletzung Italiens moniert; vgl. EuGH, Urt. v. 17.06.1999, Kommission ./. Italien, Rs. C-336/97, Slg. 1999-I, 3771. 528 Vgl. Miller, EJL 11 (1999), 170 (172 f.); sowie allgemein Winter, Kompetenzen, in: Lübbe-Wolff, Vollzug, S. 107 (119). 529 Albin, Vollzugskontrolle, S. 84; Krämer, Defizite, in: Lübbe-Wolff, Vollzug, S. 7 (34); Pernice/Rodenhoff, ZUR 2004, 149 (150); D. Klein, Umweltinformation, S. 241. 530 Albin, Vollzugskontrolle, S. 29, 73; Lübbe-Wolff, Natur + Recht 1993, 217 (217 f.). 531 Zum Folgenden Krämer, Defizite, in: Lübbe-Wolff, Vollzug, S. 7 (28 ff.); Albin, Vollzugskontrolle, S. 83 f.; Engelsberger, S. 271 ff.; Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, S. 159; Streinz/Kahl, Art. 192 AEUV, Rn. 77 f.; Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 192 AEUV, Rn. 39 f.; Epiney, Umweltrecht, S. 230 f., Rn. 148; Lübbe-Wolff, Natur + Recht 1993, 217 (218 ff.); Hansmann, NVwZ 1995, 320 (323 ff.); Scheuing, NVwZ 1999, 475 (476).

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schen Umweltrechts weiter, die ohnehin schon in Transparenz- und Verständnisproblemen angelegt ist. Diese wiederum lassen sich u. a. auf eine komplizierte und unübersichtliche Rechtssetzung auch auf europäischer Ebene, Auslegungsschwierigkeiten aufgrund unklarer Formulierungen oder unbestimmter Rechtsbegriffe, mangelhafte Informationen über Verlauf und Ergebnis des nationalen Umsetzungsverfahrens sowie auf Systemwidersprüche zwischen europäischen und nationalen Regelungskonzepten zurückführen. Da das Umweltrecht in aller Regel das Allgemeinwohl anstelle spezifischer Partikularinteressen schützt, sind Organisationen und Verbände, die auf seine effektive Durchsetzung dringen und ggf. politischen Druck aufzubauen imstande sind, im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten unterrepräsentiert. Die aus dieser komplexen Gemengelage entstehenden Defizite im Vollzug des europäischen Umweltrechts wirken sich nicht nur in ökologischer Hinsicht nachteilig aus, sondern beeinträchtigen zugleich den fairen Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt, der von der flächendeckenden Einhaltung der geltenden umweltrechtlichen Standards abhängt532. c) Abhilfeoptionen auf europäischer und mitgliedstaatlicher Ebene Zur Behebung der genannten Vollzugsmängel kommen verschiedende Mechanismen nach europäischem und nationalem Recht in Betracht. Auf Unionsebene stellt die Kommission auch hinsichtlich der Durchführung von Umweltsekundärrecht das zentrale Überwachungsorgan dar533. In ihrer Funktion als „Hüterin der Verträge“ nach Art. 17 Abs. 1 S. 2, 3 EUV kann sie gemäß Art. 337 AEUV Berichte und Auskünfte von den Mitgliedstaaten einholen, welche wiederum nach Art. 4 Abs. 3 EUV allgemein zur Kooperation verpflichtet sind. Auch das Sekundärrecht selbst enthält häufig Berichtspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Kommission534. Bei der Sammlung von Umweltdaten wird die Kommission durch die Europäische Umweltagentur in Kopenhagen unterstützt535. Besondere praktische Bedeutung hat ein Anfang der 1980er Jahre eingeführtes Beschwerde-

532 Pernice, NVwZ 1990, 414 (423, 426); Everling, NVwZ 1993, 209 (211); Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 192 AEUV, Rn. 38; Schwarze/Käller, Art. 192 AEUV, Rn. 34; Epiney, Umweltrecht, S. 231, Rn. 148; Engelsberger, S. 66; Albin, DVBl. 2000, 1483 (1486 f.). 533 Albin, Vollzugskontrolle, S. 237 ff.; Epiney, Umweltrecht, S. 232, Rn. 151 f.; P. M. Huber, in: Rengeling, EUDUR Bd. I, § 19, Rn. 26. 534 P. M. Huber, in: Rengeling, EUDUR Bd. I, § 19, Rn. 30; Engelsberger, S. 79 ff.; Schwarze/Käller, Art. 192 AEUV, Rn. 38; Krämer, GYIL 34 (1991), 9 (30). 535 Aktuelle Rechtsgrundlage ist die VO (EG) Nr. 401/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.04.2009 über die Europäische Umweltagentur und das Europäische Umweltinformations- und Umweltbeobachtungsnetz, ABl. Nr. L 126 v. 21.05. 2009, S. 13. Die Agentur besitzt allerdings keine eigenständigen Überwachungsbefugnisse; vgl. auch Albin, Vollzugskontrolle, S. 243 ff.; Schwarze/Käller, Art. 192 AEUV, Rn. 41; Sach/Simm, in: Rengeling, EUDUR Bd. I, § 44, Rn. 29.

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verfahren erlangt, das es jedem Bürger ohne weitere formelle Anforderungen ermöglicht, mitgliedstaatliche Verstöße gegen europäisches Umweltrecht bei der Kommission anzuzeigen536. Diese durch die Einbindung der Bürger dezentralisierte und subjektivierte Überwachung vermag freilich ihrerseits nur dann hinreichende Wirksamkeit zu entfalten, wenn den Bürgern die notwendigen Informationen sowohl über die einschlägigen Rechtsvorschriften als auch über empirische Umweltdaten zur Verfügung stehen. Ist die Kommission nach Prüfung der vorliegenden Angaben der Auffassung, dass ein Mitgliedstaat seinen europarechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV einleiten, das erforderlichenfalls bis zu einem Feststellungsurteil des EuGH führt537. Der Luxemburger Gerichtshof kann also nicht selbst unmittelbar den Vollzug der europarechtlichen Vorgaben in den Mitgliedstaaten anordnen, hat aber gemäß Art. 260 AEUV die Möglichkeit, gegen einen weiterhin säumigen Mitgliedstaat die Zahlung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgelds verhängen538, was durchaus ein beträchtliches Disziplinierungspotential mit sich bringt539. Obwohl das Vertragsverletzungsverfahren in keinem anderen Politikbereich so häufig angewendet wird wie im Umweltrecht540, ist allein auf seiner Grundlage jedoch keine umfassende Sanktionierung der in den Mitgliedstaaten bestehenden Vollzugsdefizite möglich. Gerade bei nicht systematisch auftretenden Mängeln geht die Kommission in der Regel zurückhaltend vor, was zumeist auf das Fehlen hinreichender Kapazitäten zurückzuführen ist, aber auch durch politische Rücksichtnahme auf die Mitgliedstaaten bedingt sein kann541. Erschwerend kommt hinzu, dass die Einzelnen keinen Rechtsanspruch auf Einleitung und Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens besitzen542. 536 Streinz/Kahl, Art. 192 AEUV, Rn. 74; Epiney, Umweltrecht, S. 90, Rn. 66, S. 232 f., Rn. 153; Jahns-Böhm, S. 131 f., 252; Schwarze/Käller, Art. 192 AEUV, Rn. 38; Hauser, S. 3 ff.; Scheuing, NVwZ 1999, 475 (481); Sach/Simm, in: Rengeling, EUDUR Bd. I, § 44, Rn. 30 ff.; Ruffert, Subjektive Rechte, S. 210 ff. 537 Siehe Art. 260 Abs. 1 AEUV; Schwarze/Schwarze, Art. 260 AEUV, Rn. 3 f.; Streinz/Ehricke, Art. 260 AEUV, Rn. 1 ff.; Wunderlich, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Art. 260 AEUV, Rn. 2 ff.; sowie bereits o., Teil 2, A. III. 2. a). 538 Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 04.07.2000, Kommission ./. Griechenland, Rs. C-387/97, Slg. 2000, I-5047, Rn. 89 ff.; EuGH, Urt. v. 25.11.2003, Kommission ./. Spanien, Rs. C-278/01, Slg. 2003, I-14141, Rn. 40 ff.; Ehlers, Jura 2007, 684 (689). 539 Scheuing, NVwZ 1999, 475 (477); Epiney, Umweltrecht, S. 233 f., Rn. 155. Die Kommission kann ggf. weiteren Sanktionsdruck aufbauen, indem sie die Auszahlung von Strukturfondsmitteln daran knüpft, dass die Mitgliedstaaten das europäische Umweltrecht einhalten; Albin, DVBl. 2000, 1483 (1491 f.); Ehlers, Jura 2007, 684 (689). 540 Albin, Vollzugskontrolle, S. 285 f.; von Borries, FS Rengeling, 485 (487, 494). 541 Epiney, Umweltrecht, S. 235, Rn. 157, S. 241, Rn. 160; Albin, Vollzugskontrolle, S. 299 ff.; Ehlermann, FS Pescatore, 205 (207 ff.); Jahns-Böhm, S. 131, 252; Krämer, GYIL 34 (1991), 9 (34); Scheuing, NVwZ 1999, 475 (478); Sach/Simm, in: Rengeling, EUDUR Bd. I, § 44, Rn. 21. 542 Siehe o., Teil 2, A. III. 2. a).

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Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie bereits auf nationaler Ebene eine effektive Kontrolle der Anwendung europäischer Umweltvorgaben sichergestellt werden kann. Besonders naheliegend, aber auch ambitioniert wäre die Einrichtung unabhängiger, spezialisierter sowie mit hinreichendem Budget und weitgehenden Inspektionsbefugnissen543 ausgestatteter Aufsichtsbehörden in den Mitgliedstaaten, die auch auf Initiative der Bürger und in enger Zusammenarbeit mit den europäischen Behörden die Durchführung des Umweltrechts vor Ort überwachen könnten544. Da viele Ursachen des Vollzugsdefizits in der Sphäre der Exekutive begründet liegen, ist es darüber hinaus jedenfalls unerlässlich, dass der erforderliche Rechtsschutz vor den mitgliedstaatlichen Gerichten gewährleistet ist, so dass die betroffenen Bürger in die Lage versetzt werden, selbst und unmittelbar ihrer „Wächterfunktion“ nachzukommen545. In einigen Bereichen sind die europarechtlich gebotenen Rechtsschutzanforderungen bereits im jeweiligen speziellen Sekundärrechtsakt näher normiert worden. Hinsichtlich des Zugangs auf Umweltinformationen muss Antragstellern nach Art. 6 RiLi 2003/4/EG546 ein Überprüfungsverfahren sowohl bei einer Behörde als auch vor einem Gericht oder einer anderen gesetzlich eingerichteten unabhängigen Stelle offenstehen. Auch für Verwaltungstätigkeit, die unter Richtlinienbestimmungen über die Öffentlichkeitsbeteiligung fällt, sind mitunter gerichtliche oder ähnliche Kontrollmöglichkeiten zugunsten derjenigen Betroffenen vorgeschrieben, die über ein ausreichendes Interesse verfügen oder eine Rechtsverletzung geltend machen547. Noch weiter geht ein Richtlinienvorschlag der Kommission548, der ein im Umfang vergleichbares, aber bereichsübergreifendes 543

Hierzu Albin, DVBl. 2000, 1483 (1486 f.). Näher zu den Möglichkeiten einer Harmonisierung der nationalen Vollzugssysteme Pache, Möglichkeiten, in: Lübbe-Wolff, Vollzug, S. 177 (181 ff.); Streinz/Kahl, Art. 192 AEUV, Rn. 66; Nitschke, S. 90 ff.; siehe auch Engelsberger, S. 290; Pernice, NVwZ 1990, 414 (424). Vgl. allgemein zur Verwaltungskooperation zwischen EU und Mitgliedstaaten Art. 197 AEUV sowie Frenz, DÖV 2010, 66 (66 ff.), m.w. N. 545 Siehe Masing, S. 13, 37 ff.; Streinz/Kahl, Art. 192 AEUV, Rn. 70; Oestreich, Die Verwaltung 2006, 29 (45 ff.); Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 (264); Potacs, Europäische Union, S. 21 ff., 36; Pernice, NVwZ 1990, 414 (423), der die „Herabzonung“ der Überwachungsaufgabe auf die kleinste soziale Einheit empfiehlt; sowie D. Klein, Umweltinformation, S. 241, 246 f. 546 Vgl. schon o., a). 547 Art. 10 a Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.06.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. Nr. L 175 v. 05.07.1985, S. 40 (Änderungen in ABl. Nr. L 73 v. 14.03.1997, S. 5; ABl. Nr. L 156 v. 25.06.2003, S. 17; ABl. Nr. L 140 v. 05.06.2009, S. 114); Art. 16 Richtlinie 2008/1/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.01.2008 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung, ABl. Nr. L 24 v. 29.01.2008, S. 8. 548 Vorschlag v. 24.10.2003 für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (sog. Aarhus-Richtlinie), KOM(2003) 624 endg.; näher Dross, ZUR 2004, 152 (152 ff.). 544

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Klagerecht für Mitglieder der Öffentlichkeit wegen möglicher Verstöße gegen eine Umweltrechtsvorschrift vorsieht, allerdings bislang nicht das europäische Gesetzgebungsverfahren durchlaufen hat. Obgleich die EU und alle Mitgliedstaaten549 völkerrechtlich ohnehin durch Art. 9 der Aarhus-Konvention zur Einrichtung derartiger Rechtsbehelfe verpflichtet sind, wäre eine zügige Verabschiedung einer an diesem Vorschlag orientierten Neuregelung zu begrüßen550, zumal diese auch Potential für eine übersichtlichere Normierung der verstreuten europäischen Rechtsschutzvorgaben in Umweltrichtlinien eröffnen dürfte. Obendrein gilt auch im Umweltrecht die allgemeine primärrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 19 Abs. 1 UAbs. 2 EUV zur Schaffung effektiver Durchsetzungsmöglichkeiten551, wobei zu den „vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ ebenfalls das nationale Recht zählt, das auf individualschützendem europäischen Sekundärrecht basiert552. In Umweltsachen betrifft dies insbesondere den Rechtsschutz gegen die Verwaltung im Bereich der Verpflichtungs- und allgemeinen Leistungsbegehren (status positivus)553, soweit die europäischen Umweltnormen und ggf. das ihnen entsprechende oder sie weiter konkretisierende nationale Recht den Staat zum Handeln verpflichten. Im GuerraFall waren entsprechende Klagemöglichkeiten vor den italienischen Gerichten zur Erlangung der begehrten Umweltinformationen offenbar nicht vorhanden554. Der Durchsetzbarkeit mitgliedstaatlicher Vorschriften, die zur Umsetzung europäischer Vorgaben ergangen sind, kommt insoweit eine besondere Bedeutung zu, als die üblichen europarechtlichen, aber ebenfalls primär vor den nationalen Gerichten geltend zu machenden Instrumente zum Schutz der Einzelnen vor Umsetzungsmängeln im Falle von Vollzugsdefiziten nur sehr bedingt durchgreifen. Eine unmittelbare Wirkung von Richtlinienrechten scheidet auch im Verhältnis der Bürger zum Mitgliedstaat von vornherein aus, sobald die Richtlinie umfassend, fristgerecht und fehlerfrei umgesetzt wurde555. Bei nicht ordnungsgemäßer 549 Siehe den Ratifikationsstand unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails. aspx?src=TREATY&mtdsg_no=XXVII-13&chapter=27&lang=en. 550 Ob der Zugang zu Gerichten auch für Fälle, die ausschließlich nationale Umweltvorschriften betreffen, einer europäischen Regelung offensteht, ist kompetenzrechtlich nicht abschließend geklärt; vgl. Pernice/Rodenhoff, ZUR 2004, 149 (150 f.); Epiney, Umweltrecht, S. 296, Rn. 64; Ekardt/Pöhlmann, EurUP 2004, 128 (129 ff.); Streinz/ Kahl, Art. 192 AEUV, Rn. 73. 551 Zu Art. 13 EMRK vgl. u., d) bb). 552 Vgl. auch Schwarze/Schwarze, Art. 19 EUV, Rn. 47, 49. 553 Vgl. im deutschen Verwaltungsprozessrecht § 42 Abs. 1 Var. 2, § 113 Abs. 5 VwGO und § 43 Abs. 2 S. 1, § 113 Abs. 4 VwGO sowie zur Rechtslage in Frankreich, Dänemark und Polen von Danwitz, NVwZ 2004, 272 (279 f.). 554 Inzwischen wurden in Italien aber einige Regelungen getroffen, die zu einer Verbesserung des nationalen Rechtsschutzes gegen Untätigkeit der Verwaltung in Umweltsachen geführt haben; vgl. Zito/D’Orsogna/Giordano, in: Ebbesson, S. 313 (334 f.). 555 Vgl. o., A. I. 3. a) aa); Epiney, Umweltrecht, S. 236, Rn. 159.

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Umsetzung von in Richtlinien enthaltenen Rechtsschutzvorgaben kann es hingegen an der erforderlichen inhaltlichen Unbedingtheit fehlen, da die nähere Verfahrensausgestaltung zumeist dem nationalen Recht überlassen bleibt556. Die Verfolgung eines Staatshaftungsanspruchs wegen administrativen Unrechts gegen den Mitgliedstaat557 dürfte gleichfalls regelmäßig auf Schwierigkeiten stoßen, da gerade im Umweltrecht mitunter der genaue Inhalt der subjektiven Rechte der Einzelnen und v. a. der durch den Vollzugsmangel entstandene Schaden nicht hinreichend bestimmbar sind558. Hinzu kommt, dass eine etwaige Schadensersatzleistung des Mitgliedstaates noch keine Gewähr für eine ordnungsgemäße behördliche Anwendung der einschlägigen Vorschriften bietet, so dass ein Staatshaftungsprozess allenfalls teilweise Abhilfe schaffen kann. Auch das Vorabentscheidungsverfahren, das stets ein mitgliedstaatliches Gerichtsverfahren voraussetzt, spielt im umweltrechtlichen Kontext eine vergleichsweise untergeordnete Rolle559. Liegen Probleme bei der Auslegung oder Zweifel an der Gültigkeit des Europarechts vor, die möglicherweise sogar ursächlich für das Vollzugsdefizit sind, hat das befasste nationale Gericht zwar die Möglichkeit bzw. die Pflicht, gemäß Art. 267 AEUV den EuGH einzuschalten560. Stellt sich dagegen keine europarechtliche Frage, weil etwa der Vollzug aus anderen Gründen unterblieben ist, fehlt es schon an einem tauglichen Vorlagegegenstand, so dass eine Vorlage an den EuGH nicht in Betracht kommt. So hätte der EuGH auch im Guerra-Fall mit einer Vorabentscheidung wohl nicht weiterhelfen können. In dieser Konstellation tragen dann die nationalen Gerichte eine umso höhere Verantwortung für den Individualrechtsschutz gegen Vollzugsdefizite in den Mitgliedstaaten. d) Subsidiärer Umweltrechtsschutz nach Maßgabe der EMRK aa) Potential und Grenzen konventionsrechtlicher (Vollzugs-)Kontrolle Im Guerra-Fall haben sich weder die europarechtlichen Aufsichtsmechanismen noch die Rechtsschutzangebote vor den nationalen Gerichten als hinreichend erwiesen, um die umweltrechtlichen Rechtspositionen der Einzelnen effektiv zu gewährleisten. Die Konventionsorgane haben diese Lücke im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten geschlossen und damit ihre Bereitschaft demonstriert, einen Beitrag zur Implementierung europäischer Umweltstandards zu 556

Walter, EuR 2005, 302 (333 f.). Vgl. o., A. I. 3. b) aa), bb) (2); Albin, Vollzugskontrolle, S. 194 f.; Streinz/Kahl, Art. 192 AEUV, Rn. 64. 558 Epiney, Umweltrecht, S. 240, Rn. 159; Wegener, Rechte des Einzelnen, S. 221 ff.; Scheuing, NVwZ 1999, 475 (484). 559 Albin, Vollzugskontrolle, S. 206 ff.; vgl. auch Krämer, EuGRZ 1998, 309 (309, 311). 560 Siehe ausführlich o., Teil 2, A. I., II. 557

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leisten. Auch wenn die Lösungswege von EKMR und EGMR dogmatisch signifikante Unterschiede v. a. hinsichtlich der anwendbaren Konventionsgarantie aufwiesen, ließen beide Straßburger Organe doch keinen Zweifel daran, dass im Ergebnis eine Verletzung der EMRK vorlag. Schon wegen des konventionsrechtlichen Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung561 kommt dem Schutzsystem der EMRK allerdings generell lediglich eine Komplementärfunktion zu, wie die Zulässigkeitsentscheidung der EKMR ebenfalls gezeigt hat562. Falls also im nationalen Recht zur Behebung der gerügten Missstände geeignete Rechtsbehelfe bestehen – wie hier zur Abwehr der Fabrikemissionen –, müssen diese stets vorrangig ergriffen werden. Gerade im Kontext der nach wie vor zahlreich auftretenden Vollzugsdefizite bewahrt diese Filterwirkung der Rechtswegerschöpfung den EGMR vor einer nicht mehr zu bewältigenden Beschwerdeflut aus dem Umweltbereich. Schließlich zeigt schon das Beispiel der EU-Kommission, dass die Möglichkeiten einer zentralen Stelle bei der Vollzugsüberwachung begrenzt sind563. Dies gilt in noch stärkerem Maße für den nahezu an der Belastungsgrenze arbeitenden EGMR, der gezwungen ist, der Sicherung der grundlegenden Menschenrechtsstandards Priorität einzuräumen. Viele gerade im Verfahrensbereich auftretende Vollzugsmängel dürften sich insoweit noch unter der konventionsrechtlich relevanten Mindesteingriffsschwelle564 befinden. Führt das mitgliedstaatliche Gerichtsverfahren in Fällen mit hinreichendem Menschenrechtsbezug allerdings nicht zum Rechtsschutzziel, steht das Tor nach Straßburg weit offen. Wenn in einer derartigen Konstellation auch das europäische Kontrollregime bei der Kommission nicht aktiviert wird, verbleibt der EGMR sogar als einzige Instanz, die noch zur Durchsetzung umweltrechtlicher Individualrechte in der Lage ist. Bei einer Vielzahl ähnlich gelagerter Beschwerden, etwa zu typischen Vollzugsfehlern, böte sich für den Gerichtshof die Anwendung des Piloturteilsverfahrens an565. Das Potential des EGMR im Umweltrechtsschutz 561

Siehe hierzu o., Teil 1, C. III. Siehe o., 2. a). 563 Vgl. o., c). 564 Vgl. insoweit u., bb). 565 Art. 61 EGMR-VerfO. Diese Technik ist vom EGMR auf der Grundlage politischer Empfehlungen des Ministerkomitees des Europarates entwickelt worden; Baumann, Piloturteilsverfahren, S. 92 ff.; Wildhaber, EuGRZ 2009, 541 (549 f.); Schmahl, EuGRZ 2008, 369 (370 ff.); Breuer, EuGRZ 2008, 121 (121 ff.); ders., EuGRZ 2004, 445 (447 ff.); ders., in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK, Rn. 20 ff.; Garlicki, in: Caflisch et al., FS Wildhaber, 177 (184 ff.); Spiekermann, S. 137 f.; Caflisch, EuGRZ 2006, 521 (521 ff.); Ress, ZaöRV 69 (2009), 289 (294, 298); Giegerich, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Breuer et al., Im Dienste des Menschen, S. 95 (105 f.). Vgl. auch EGMR (GK), Urt. v. 22.06.2004, Broniowski ./. Polen, Rep. 2004-V (= EuGRZ 2004, 472), Rn. 190 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 19.06.2006, Hutten-Czapska ./. Polen, Rep. 2006VIII, Rn. 231 ff.; EGMR, Urt. v. 15.01.2009, Burdov ./. Russland (Nr. 2), Rep. 2009, Nr. 33509/04, Rn. 126 ff. 562

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umfasst nicht nur den Ausgleich von Vollzugsmängeln, sondern kann gleichermaßen bei unterbliebener oder fehlerhafter Umsetzung umweltrechtlicher Richtlinen relevant werden566. Die lange Straßburger Verfahrensdauer von fast zehn Jahren im Guerra-Fall verdeutlicht indes, dass die Befassung des EGMR eher als letzter Ausweg denn als Königsweg zur Behebung mitgliedstaatlicher Vollzugsdefizite im Umweltrecht anzusehen ist. Als schließlich 1998 das Urteil des Gerichtshofs erging, war die streitgegenständliche Fabrik bereits mehrere Jahre außer Betrieb, so dass der Anspruch der Bf. auf Umweltinformationen praktisch bereits gegenstandslos geworden war. Ohnehin beschränkt sich der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung zumeist auf die Feststellung einer Konventionsverletzung und sieht davon ab, den Staaten konkrete Vorgaben zu deren Behebung zu machen567. Eine wichtige Ausnahme568 bildet die Opferentschädigung gemäß Art. 41 EMRK, dessen Anwendung auch vorliegend zur finanziellen Kompensation des von den Bf. erlittenen immateriellen Schadens geführt hat. Unter Präventionsgesichtspunkten ist darüber hinaus die Publizitätswirkung der Judikatur des EGMR nicht zu unterschätzen. So dürfte das Guerra-Urteil mittels der anschließend in Italien getroffenen Maßnahmen die dortigen Behörden stärker für die Belange des Umweltrechts insgesamt sensibilisiert haben und schon damit in seinen Wirkungen über eine rein punktuelle Abhilfe569 hinausgegangen sein. bb) Rolle von Umweltrechten bei Auslegung und Anwendung der EMRK Das methodische Vorgehen der Konventionsorgane im Guerra-Fall bietet außerdem weiteren Aufschluss über die Verortung und Konkretisierung umweltrechtlicher Rechte in der EMRK. Da der Text der Konvention selbst keine spezifischen Umweltgarantien enthält570, haben EKMR und EGMR die sich inhaltlich 566

Vgl. entsprechend zum Steuerrecht o., A. I.–III. Siehe o., 3. d); Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 46, Rn. 4; Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK, Rn. 5. 568 Vgl. auch Meyer-Ladewig/Brunozzi, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 46, Rn. 6; Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK, Rn. 6 ff., 10 ff., mit einem Überblick über die verschiedenen Fallgruppen der Anordnung konkreter Maßnahmen durch den EGMR. 569 So allgemein Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, S. 158; ders., EuGRZ 1999, 192 (192). 570 Vgl. demgegenüber das in Art. 24 der Afrikanischen (Banjul-)Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker v. 27.06.1981 (ILM 21 [1982], 58) statuierte Kollektivrecht aller Völker auf eine insgesamt zufriedenstellende und ihrer Entwicklung günstige Umwelt sowie das in Art. 11 Abs. 1 des Zusatzprotokolls von San Salvador zur Amerikanischen Menschenrechtskonvention über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte v. 17.11.1988 (ILM 28 [1989], 156) enthaltene, aber nicht einklagbare Recht eines jeden Menschen, in einer gesunden Umwelt zu leben. Hierzu Schmidt-Radefeldt, 567

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anbietenden liberalen Abwehrrechte in unterschiedlichem Maße dynamisch ausgelegt und auf umweltrechtliche Sachverhalte angewandt, so dass eine Weiterentwicklung hin zu „ökologischen Menschenrechten“ stattfand571. Im Bereich staatlicher Umweltinformationen taucht insbesondere die Frage auf, inwieweit die Staaten durch die EMRK auch positiven Verpflichtungen unterliegen, selbst aktiv Maßnahmen zu ergreifen. Die EKMR hat hier eine entsprechende staatliche Informationspflicht aus Art. 10 EMRK abgeleitet. Diese progressive und innovative Interpretation hat zwar den Vorzug einer sachnahen informationsbezogenen Fallanknüpfung572, lässt sich aber dem Gesamtwortlaut der Vorschrift nicht unmittelbar entnehmen und ist in der vorherigen Rechtsprechung der Konventionsorgane ohne Präzedenz. Der EGMR teilte die in den Sondervoten zum Kommissionsbericht diesbezüglich vorgebrachte Kritik und nahm eine eigenständige rechtliche Qualifikation vor. Er wählte einen etwas zurückhaltenderen Ansatz über Art. 8 EMRK und konnte damit auf seine eigene etablierte Judikatur Bezug nehmen, in der Gewährleistungspflichten bereits anerkannt waren573. Die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK setzt stets voraus, dass die Umweltbeeinträchtigung sich in signifikanter Weise negativ auf den Genuss des Rechts auf Wohnung, Privat- und Familienleben auswirkt; maßgeblich sind die jeweiligen Umstände des Einzelfalls574. Einer ernsthaften Gefährdung der Gesundheit des Betroffenen bedarf es hierzu nicht575, regelmäßig ist aber eine gewisse Nähe zur Emissionsquelle erforderlich576. Wie Ökologische Menschenrechte, S. 37 f.; Marauhn, in: Giegerich/Proelß, Bewahrung, S. 11 (35 ff.); Peters, Menschenrechte, in: Kirchschläger/Kirchschläger, S. 215 (216). 571 Ausführlich Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, S. 55 ff.; außerdem ders., EuGRZ 1999, 192 (192); Peters, Menschenrechte, in: Kirchschläger/Kirchschläger, S. 215 (216 f.); Desgagné, AJIL 89 (1995), 263 (265 ff.); Maljean-Dubois, RGDIP 102 (1998), 995 (995 f.); Hauser, S. 133. 572 Maljean-Dubois, RGDIP 102 (1998), 995 (1006), sieht Art. 10 EMRK als „la disposition la plus logique pour consacrer le droit à l’information en matière d’environnement“. 573 Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, S. 159; ders., EuGRZ 1999, 192 (193); unter Hinweis auf EGMR, Urt. v. 21.02.1990, Powell und Rayner ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 172, Rn. 40 ff.; EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 51 ff.; sowie ferner EGMR, Urt. v. 26.03.1985, X und Y ./. Niederlande, Ser. A Vol. 91, Rn. 23; EGMR, Urt. v. 09.10.1979, Airey ./. Irland, Ser. A Vol. 32, Rn. 32. Siehe auch Maljean-Dubois, RGDIP 102 (1998), 995 (1004 f.). 574 Vgl. EGMR, Urt. v. 09.06.2005, Fadeyeva ./. Russland, Rep. 2005-IV, Rn. 69 f.; EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-VIII (= EuGRZ 2005, 584), Rn. 96, 118. Näher Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, S. 135 ff. 575 EGMR, Urt. v. 22.05.2003, Kyrtatos ./. Griechenland, Rep. 2003-VI, Rn. 52; EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 51; Braig, S. 281, 285. 576 Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, S. 159; ders., EuGRZ 1999, 192 (193); Braig, S. 285, 309.

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der EGMR inzwischen klargestellt hat, vermittelt die EMRK indes auch indirekt kein darüber hinausgehendes Recht auf eine saubere und ruhige Umwelt noch auf Naturschutz oder -erhaltung577. Bei Schutzpflichtfällen legt der Gerichtshof prüfungstechnisch in der Regel nicht das sonst übliche eingriffsorientierte Schema zugrunde, sondern untersucht stattdessen, ob der Staat die notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Rechts aus Art. 8 EMRK getroffen hat578. Ansonsten gelten im wesentlichen die gleichen Grundsätze wie in abwehrrechtlichen Konstellationen. In beiden Kategorien muss ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen Einzel- und Gemeinschaftsinteresse hergestellt werden, wobei der Staat hinsichtlich der Bestimmung der dazu notwendigen Schritte über einen weiten Beurteilungsspielraum verfügt579. Dass der EGMR sich im Guerra-Urteil darauf beschränkte, schlicht das Fehlen wesentlicher Umweltinformationen zu monieren, und auf eine Abwägung verzichtete, mag damit zu erklären sein, dass das Defizit hier nicht auf eine bewusste staatliche Verweigerungshaltung zurückzuführen war, sondern hauptsächlich auf Nachlässigkeit der Behörden, für die schon keinerlei legitimes Interesse besteht580. Im allgemeinen muten die genannten, vom EGMR konventionsautonom aufgestellten Leitlinien581 aber vergleichsweise unbestimmt und ausfüllungsbedürftig an. Gerade wenn die Einschätzung der tatsächlichen Gefährdungslage ungewiss erscheint, dürften sie nur schwer zu handhaben sein. Hier könnten die europäischen Umweltrichtlinien und das zu ihrer Umsetzung ergangene nationale Recht, soweit sie präzisere Handlungspflichten vorschreiben, zu einer näheren Konkretisierung des konventionsrechtlichen Schutzstandards in EU-Mitgliedstaaten bei-

577 EGMR, Urt. v. 22.05.2003, Kyrtatos ./. Griechenland, Rep. 2003-VI, Rn. 52; EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-VIII (= EuGRZ 2005, 584), Rn. 96; EGMR, Urt. v. 09.06.2005, Fadeyeva ./. Russland, Rep. 2005-IV, Rn. 68; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 34; Braig, S. 276, 285. 578 EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 58; EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 51, 55; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19, Rn. 5 ff. 579 Beim Abwägungsvorgang können auch die in Art. 8 Abs. 2 EMRK erwähnten Ziele von Bedeutung sein. EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 51; EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-VIII (= EuGRZ 2005, 584), Rn. 97 ff., 119; EGMR, Urt. v. 21.02.1990, Powell und Rayner ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 172, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 17.10.1986, Rees ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 106, Rn. 37. Siehe auch Maljean-Dubois, RGDIP 102 (1998), 995 (1019). 580 Maljean-Dubois, RGDIP 102 (1998), 995 (1019 f.). Vgl. auch EGMR, Urt. v. 09.06.1998, McGinley und Egan ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1998-III, Rn. 100 f. 581 Vgl. EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C (= EuGRZ 1995, 530), Rn. 55.

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tragen582. Ein den Schutzbereich von Art. 8 EMRK berührender Verstoß gegen eine solche Umweltvorschrift, insbesondere durch unterbliebenen, falschen oder verspäteten Vollzug, würde dann das Fehlen eines ausgewogenen Interessengleichgewichts und damit die Verletzung der Konventionsgarantie indizieren. So weit ging der EGMR im Guerra-Urteil allerdings noch nicht; hier stellte er lediglich die Vollzugsvorgänge in Italien anhand der nationalen Umsetzungsvorschriften dar583, ohne diese jedoch explizit bei seiner Wertung zu berücksichtigen oder näher auf ihren richtlinienrechtlichen Ursprung einzugehen. Sein Ergebnis kommt allerdings praktisch einer konventionsrechtlichen Rezeption der in der „Seveso-Richtlinie“ statuierten staatlichen Informationsgewährleistungspflicht gleich. In späteren umweltrechtlichen Urteilen verstärkte sich dann die Tendenz des Gerichtshofs, einen Zusammenhang zwischen der Missachtung des innerstaatlichen Rechts und der Verletzung der Konvention herzustellen584, so dass für die künftige Rechtsprechung weiteres Entwicklungspotential bezüglich der Einbeziehung auch des Europarechts denkbar erscheint585. Die wichtigste konventionsrechtliche Beurteilungsgrundlage dürfte dabei Art. 8 EMRK bleiben, der sich inzwischen als zentrales und universell heranziehbares ökologisches Menschenrecht herausgebildet hat586. Denn der EGMR legte nicht nur im Guerra-Urteil Wert auf die Konsistenz seiner Rechtsprechung, sondern maß nachfolgende Fälle mit Umweltrechtsbezug ebenfalls primär an Art. 8 EMRK587. Es ist daher zu erwarten, dass diese Grundausrichtung weiterhin beibehalten wird. Auch andere Konventionsgarantien können aber durchaus zum Tragen kommen, insbesondere wenn die Feststellung eines Eingriffs ohne weitere Beweisschwierigkeiten möglich ist. So ist bei Industrieunfällen mit Todesopfern von einer Verletzung des Rechts auf Leben gemäß Art. 2 EMRK auszugehen, wenn der Staat die gebotenen rechtlichen und verwaltungsmäßigen Schutzmaßnahmen un582 Vgl. bereits Szczekalla, in: Rengeling, EUDUR Bd. I, § 12, Rn. 44; F. Jarvis/ Sherlock, ELRev. 24 (1999), Human Rights Survey, 15 (20); allgemein Calliess, EuGRZ 1996, 293 (295, 298). Siehe auch o., Teil 1, B. II. 2. b) bb), c). 583 EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 59. 584 EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003VIII (= EuGRZ 2005, 584), Rn. 120; EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 86 ff., 93 f. Siehe hierzu u., II. 3. b), 4. 585 Näher u., II. 4. 586 Schmidt-Radefeldt, Ökologische Menschenrechte, S. 134 f.; ders., EuGRZ 1999, 192 (192); Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 60, Rn. 32; Calliess, in: Bosselmann, Ökologische Grundrechte, S. 209. 587 EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003VIII (= EuGRZ 2005, 584), Rn. 96 ff., 118 ff.; EGMR, Urt. v. 10.11.2004, Tas¸kın et al. ./. Türkei, Rep. 2004-X, Rn. 111 ff.; EGMR, Urt. v. 16.11.2004, Moreno Gómez ./. Spanien, Slg. 2004-X (= NJW 2005, 3767), Rn. 53 ff.; EGMR, Urt. v. 09.06.2005, Fadeyeva ./. Russland, Rep. 2005-IV, Rn. 68 ff.; EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 76 ff.

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terlassen hat588. In diesem Kontext hat der Gerichtshof den Schutzbereich von Art. 2 EMRK nun ausdrücklich auch auf das Recht der Öffentlichkeit auf Informationen erstreckt und sich dabei auf die jüngeren europäischen Rechtsentwicklungen bezogen589. Die Anwendung von Art. 10 EMRK in künftigen Umweltinformationsfällen ist hingegen nach dem Guerra-Urteil recht unwahrscheinlich geworden, obwohl sie in einigen Sondervoten zum Urteil für möglich gehalten wurde590. Da Art. 8 EMRK relativ viel Flexibilität gewährt, dürfte nämlich seine Schutzwirkung zumeist ausreichen. Erst wenn seine Voraussetzungen nicht vorliegen, etwa mangels hinreichender räumlicher Nähe zum umweltrelevanten Geschehen, kann wieder Bedarf zum Rückgriff auf die Informationsfreiheit entstehen. Besondere Bedeutung gerade für den Rechtsschutz in Umweltsachen kann schließlich den verfahrensrechtlichen Garantien der EMRK zukommen. Fehlt es im innerstaatlichen Recht bei einem konventionsrechtlich relevanten Verstoß gegen europäische Umweltvorgaben an angemessenen Rechtsbehelfen, sind die Betroffenen in ihrem Recht auf wirksame Beschwerde aus Art. 13 EMRK verletzt591. Falls der mitgliedstaatliche Rechtsschutz wirkungslos bleibt, weil übermäßige Verzögerungen auftreten oder die Behörden die Befolgung eines nationalen Gerichtsurteils verweigern, liegt ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK nahe592. 5. Fazit zu I. Damit lässt sich festhalten, dass die materiellen Garantien der EMRK vielfältige Möglichkeiten eröffnen, um Versäumnissen der Mitgliedstaaten bei der Implementierung individualschützenden europäischen Umweltrechts wirksam zu begegnen. Das Guerra-Urteil bietet ein repräsentatives Beispiel für das Funktionieren einer solchen subsidiären Kontrolle durch den EGMR. Mit der konven588 EGMR (GK), Urt. v. 30.11.2004, Öneryıldız ./. Türkei, Rep. 2004-XII, Rn. 89 ff.; Meyer-Ladewig, NVwZ 2007, 25 (27); vgl. auch Szczekalla, in: Rengeling, EUDUR Bd. I, § 12, Rn. 35. 589 EGMR (GK), Urt. v. 30.11.2004, Öneryıldız ./. Türkei, Rep. 2004-XII, Rn. 90, 62; insbesondere unter Verweis auf die Resolution 1087 (1996) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates v. 26.04.1996 (16. Sitzung) über die Folgen des Unfalls von Tschernobyl. Im Ergebnis ebenso bereits EGMR, Urt. v. 18.06.2002, Öneryıldız ./. Türkei, Nr. 48939/99, Rn. 84. Siehe auch D. Klein, Umweltinformation, S. 29; Braig, S. 292 f., 310. 590 Siehe o., 3. c); vgl. hierzu auch D. Klein, Umweltinformation, S. 16 f. 591 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-VIII (= EuGRZ 2005, 584), Rn. 137 ff.; Meyer-Ladewig, NVwZ 2007, 25 (27). 592 Vgl. EGMR, Urt. v. 22.05.2003, Kyrtatos ./. Griechenland, Rep. 2003-VI, Rn. 30 ff.; EGMR, Urt. v. 10.11.2004, Tas¸kın et al. ./. Türkei, Rep. 2004-X, Rn. 130 ff.; Calliess, in: Bosselmann, Ökologische Grundrechte, S. 208 f.; sowie bereits o., Teil 2, B. IV. 2. Siehe aber auch zu Art. 8 EMRK EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 93, 98; näher u., II. 3. b), 4.

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tionsrechtlichen Verankerung staatlicher Umweltinformationspflichten hat es nicht nur den Rechtsschutz der Bürger gestärkt, sondern auch zu mehr Rechtsklarheit beigetragen. Indem der Gerichtshof einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK feststellte, sanktionierte er zugleich die Defizite beim Vollzug der italienischen Vorschriften zur Umsetzung der „Seveso-Richtlinie“ und unterstützte so indirekt die Durchsetzung des europäischen Umweltsekundärrechts. Der grundlegende Ansatz, die Einhaltung elementarer europäischer Umweltstandards durch die Mitgliedstaaten deren konventionsrechtlichem Verantwortungsbereich zuzuordnen, wurde in der nachfolgenden Rechtsprechung des EGMR aufgenommen und weiterentwickelt593.

II. Umweltverträglichkeitsprüfung: Giacomelli ./. Italien (2006) Mit dem Urteil Giacomelli ./. Italien erstreckte der EGMR den im Guerra-Fall angewandten Sanktionsmechanismus für individualschützende Rechte aus europäischen Umweltrichtlinien über die Bereitstellung von Umweltinformationen hinaus auch auf die Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP). 1. Sachverhalt und innerstaatliches Verfahren Die Bf., Piera Giacomelli, lebt seit 1950 in einem Haus am Stadtrand von Brescia (Lombardei, Italien) in unmittelbarer Nähe (30 Meter) zu einer Industrieanlage, die teils als gefährlich eingestuften Sondermüll lagerte und verarbeitete und seit 1982 von der Aktiengesellschaft Ecoservizi betrieben wurde594. Die von der Region Lombardei im April 1989 für fünf Jahre erteilte Betriebserlaubnis für die Anlage umfasste erstmals auch die Entgiftung gefährlicher Industrieabfälle unter Verwendung von Chemikalien. Weiterhin wurden 1991 eine Kapazitätserhöhung hinsichtlich des Gesamtvolumens und der Giftmüllmenge und 1993 einige technische Verbesserungen genehmigt. 1994 erneuerte die Region die Betriebserlaubnis verbindlich für fünf weitere Jahre, nachdem Ecoservizi hierüber schriftliches Einvernehmen mit den örtlichen Behörden hergestellt hatte. Die Bf. verlangte wegen der Ausweitung des Anlagenbetriebs ein neues Genehmigungsverfahren unter Einbeziehung der Umweltauswirkungen und klagte vor den italienischen Verwaltungsgerichten595 gegen die von der Region 1993 und 1994 getroffenen Entscheidungen. Von einer zwischenzeitlichen Vollzugsaussetzung abgesehen, blieben die Klagen jedoch in allen Instanzen erfolglos, da der Betriebsumfang der Anlage nach Auffassung der Gerichte bereits zuvor ohne Widerspruch der Bf. festgelegt worden war. 593

Siehe noch u., II. 3. b), 4. Zum Sachverhalt EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 10 ff. 595 Vgl. allgemein zur Verwaltungsgerichtsorganisation in Italien Pörtge, S. 36 ff. 594

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

1996 wurde auf Initiative der Region erstmals ein UVP-Verfahren eingeleitet, an dem auch die betroffenen Kommunen beteiligt waren. Im April 1999 gestattete die Region Änderungen an der Anlage zur Altölbehandlung und erteilte Ecoservizi wiederum für fünf Jahre eine neue Betriebserlaubnis, die allerdings in Abhängigkeit von den Ergebnissen des noch laufenden UVP-Verfahrens wieder aufhebbar war. Im von der Bf. gegen diese Entscheidungen angestrengten vorläufigen Rechtsschutzverfahren596 wurde der Vollzug der Betriebserlaubnis zunächst wegen des nicht abgeschlossenen UVP-Verfahrens am 18.02.2000 verwaltungsgerichtlich ausgesetzt, in der Berufung vom Consiglio di Stato aber am 11.04. 2000 wieder zugelassen, da die vorgeschriebenen Grenzwerte eingehalten worden seien. Das Umweltministerium stellte dann mit UVP-Dekreten vom Mai 2000 und vom April 2001 fest, dass der Betrieb gegen Umweltvorschriften verstoße, ließ ihn aber unter Auflagen weiterlaufen. Den Klagen von Ecoservizi gegen diese Dekrete gaben die Verwaltungsgerichte jeweils statt und verpflichteten das Ministerium zu einer neuen UVP. Mit Urteil vom 29.04.2003 annullierte das Regionale VG der Lombardei in der Hauptsache die strittigen Entscheidungen der Region von 1999 und verfügte die Stilllegung der Fabrik bis zum Abschluss der UVP, da die Region ihren Untersuchungspflichten nicht nachgekommen sei. Auch wenn die geplante, als wesentliche Betriebsänderung einzustufende Altölverarbeitung nicht umgesetzt worden sei, habe der Zustand der Anlage aufgrund verschiedener Beschwerden und der UVP-Dekrete überprüft werden müssen. Der Consiglio di Stato als höchste Instanz setzte zwar am 01.07.2003 die Schließungsverfügung aus, bestätigte aber am 25.05.2004 wegen der fehlenden UVP die Illegalität der Betriebserlaubnis von 1999. Die zuständigen lokalen und regionalen Gesundheits- und Umweltbehörden hatten 1993, 1995 sowie zwischen 2000 und 2003 wiederholte Grenzwertüberschreitungen und Unregelmäßigkeiten in und an der Anlage festgestellt und die Justiz hierüber informiert597. Als auch auf Gesundheitsrisiken für die Anwohner hingewiesen wurde, machte die Region im November 2003 zahlreiche Umweltauflagen für die Anlage und ordnete ständige Kontrollen und Messungen an. Am 23.04.2004 erhielt die Anlage eine neue fünfjährige Betriebserlaubnis, von der die zur Entgiftung bestimmten Abfälle bis zum Abschluss der ministeriellen UVP ausgenommen waren. Das Umweltministerium befürwortete in seinem neuen UVP-Dekret vom 28.04.2004 unter Hinweis auf die große Bedeutung der Anlage für die Abfallbeseitigung ihren Weiterbetrieb unter der Voraussetzung der Einhaltung aller Auflagen. Anschließend erstreckte die Region die Betriebserlaubnis provisorisch auf Giftmüll, um Ecoservizi die Anpassung an die Vorgaben des UVP-Dekrets zu ermöglichen. Die von der Bf. gegen die Betriebserlaubnis 596 Vgl. Art. 21 Legge del 06.12.1971, n. 1034, Istituzione dei tribunali amministrativi regionali, Gazzetta Ufficiale del 13.12.1971, n. 314. 597 Näher EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 47, 53 ff.

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und das UVP-Dekret von 2004 eingelegten Rechtsmittel blieben jedenfalls bis zum Urteil des EGMR ohne Erfolg. 2. Einschlägige europäische und italienische UVP-Vorschriften a) Inhalt Der europarechtliche Bezugspunkt des Giacomelli-Falles liegt im UVP-Richtlinienrecht, namentlich in der 1985 erlassenen Richtlinie 85/337/EWG 598, die inzwischen durch die Richtlinie 2011/92/EU 599 ersetzt wurde. Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, vor der Durchführung bestimmter Projekte in einem rechtlich geordneten und transparenten Verfahren eine umfassende Prüfung der zu erwartenden Auswirkungen auf die Umwelt vorzunehmen. Hierzu sollen in gemeinsamer Kooperation von Vorhabenträgern, Behörden und Öffentlichkeit möglichst vollständige Angaben erstellt werden, die beim Genehmigungsverfahren zu berücksichtigen sind600. Obgleich das europäische UVP-Recht hauptsächlich Verfahrensvorgaben enthält, entfaltet es auch insoweit zumindest indirekt individualschützende Wirkungen, da die frühzeitige Begrenzung von Umweltbeeinträchtigungen nach dem Vorsorgeprinzip allen hiervon potentiell betroffenen Personen zugutekommt601. Zusätzlich macht der hohe Stellenwert der Öffentlichkeitsbeteiligung602 deutlich, dass das UVP-Richtlinienrecht im Hinblick auf die bürgerrechtliche Schutzrichtung in engem Zusammenhang mit den Richtlinien über Umweltinformationen steht603. Die Einhaltung des im UVP-Richtlinienrecht und im zugehörigen nationalen Umsetzungsrecht vorgesehenen Prüfungsverfahrens kann somit auch für die Rechtsstellung der Einzelnen von signifikanter Bedeutung sein. Dementsprechend legt das europäische UVP-Recht Mindestanforderungen an den nationalen Rechtsschutz gegen UVP-relevante Akte und Unterlassungen fest604.

598 Richtlinie 85/337/EWG des Rates v. 27.06.1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. Nr. L 175 v. 05.07. 1985, S. 40 (Änderungen in ABl. Nr. L 73 v. 14.03.1997, S. 5; ABl. Nr. L 156 v. 25.06.2003, S. 17; ABl. Nr. L 140 v. 05.06.2009, S. 114). Näher Feldmann, in: Rengeling, EUDUR Bd. I, § 34, Rn. 1 ff. 599 Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.12.2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, ABl. Nr. L 26 v. 28.01.2012, S. 1. Ausführlich Epiney, Umweltrecht, S. 298 ff., Rn. 68 ff. 600 Art. 8 RiLi 2011/92/EU; früher Art. 8 RiLi 85/337/EWG. 601 Siehe auch Masing, S. 23 f. 602 Art. 6 ff. RiLi 2011/92/EU; früher Art. 6 ff. RiLi 85/337/EWG. 603 Vgl. o., I. 4. a); sowie D. Klein, Umweltinformation, S. 92 ff. 604 Art. 11 RiLi 2011/92/EU; früher Art. 10 a RiLi 85/337/EWG. Siehe auch Epiney, Umweltrecht, S. 309 ff., Rn. 79 ff.

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

Nach den sekundärrechtlichen Vorgaben sind Projekte, bei denen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Genehmigungspflicht zu unterwerfen sowie vor Erteilung der Genehmigung einer UVP zu unterziehen605. Die Projekte werden in Art. 4 RiLi 2011/92/EU606 i.V. m. den Anhängen I und II näher spezifiziert. Vorbehaltlich der Ausnahmebestimmungen607 besteht für die Projekte des Anhangs I UVP-Pflicht608, wohingegen bei den in Anhang II genannten Projekten die Mitgliedstaaten aufgrund einer Einzelfalluntersuchung bzw. festzulegender Schwellenwerte oder Kriterien609 über die Durchführung einer UVP entscheiden610. Abfallbeseitigungsanlagen zur chemischen Behandlung gefährlicher Abfälle werden bereits seit dem Inkrafttreten der UVP-Richtlinie 85/ 337/EWG nach Nr. 9 Anhang I als UVP-pflichtig klassifiziert611. In Italien wurde die Richtlinie 85/337/EWG durch verschiedene Gesetze und Dekrete in nationales Recht umgesetzt. Nach Art. 6 des Gesetzes Nr. 349/ 1986612 ist jedes Projekt, das erhebliche Umweltauswirkungen erwarten lässt, vor der Genehmigung den Ministerien für Umwelt, Kultur- und Naturerbe sowie der betroffenen Region zur UVP vorzulegen. Für Anlagen zur chemischen Abfallbehandlung gilt in Entsprechung zur Richtlinie ausdrücklich UVP-Pflicht613. Das Umweltministerium entscheidet in Abstimmung mit den anderen Behörden bin605

Art. 2 Abs. 1 RiLi 2011/92/EU; früher Art. 2 Abs. 1 RiLi 85/337/EWG. Früher Art. 4 RiLi 85/337/EWG. 607 Ausnahmeklauseln finden sich im UVP-Richtlinienrecht allgemein für einzelne Projekte (Art. 2 Abs. 4 RiLi 2011/92/EU; früher Art. 2 Abs. 3 RiLi 85/337/EWG), für Projekte, die Zwecken der Landesverteidigung dienen (Art. 1 Abs. 3 RiLi 2011/92/EU; früher Art. 1 Abs. 4 RiLi 85/337/EWG), sowie für durch einen besonderen Gesetzgebungsakt genehmigte Projekte (Art. 1 Abs. 4 RiLi 2011/92/EU; früher Art. 1 Abs. 5 RiLi 85/337/EWG). 608 Art. 4 Abs. 1 RiLi 2011/92/EU; früher Art. 4 Abs. 1 RiLi 85/337/EWG. 609 Insbesondere sind die in Anhang III genannten Kriterien der Beschaffenheit, des Standortes und der potentiellen Auswirkungen der Projekte zu berücksichtigen. 610 Art. 4 Abs. 2, 3 RiLi 2011/92/EU; früher Art. 4 Abs. 2, 3 RiLi 85/337/EWG. Bereits nach der ursprünglichen Fassung der Richtlinie 85/337/EWG war der Spielraum der Mitgliedstaaten stets durch Art. 2 Abs. 1 RiLi begrenzt, so dass die Projekte des Anhangs II nicht allgemein von der UVP freigestellt werden durften; vgl. EuGH, Urt. v. 22.10.1998, Kommission ./. Deutschland, Rs. C-301/95, Slg. 1998, I-6135, Rn. 38 ff. 611 In der aktuellen Fassung der Richtlinie 2011/92/EU wird auf die entsprechenden Definitionen in der Richtlinie 2008/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 19.11.2008 über Abfälle und zur Aufhebung bestimmter Richtlinien (ABl. Nr. L 312 v. 22.11.2008, S. 3) verwiesen. 612 Legge del 08.07.1986, n. 349, Istituzione del Ministero dell’ambiente e norme in materia di danno ambientale, Supplemento Ordinario n. 59, Gazzetta Ufficiale – Serie generale – del 15.07.1986, n. 162. 613 Art. 1 lit. f Decreto del Presidente del Consiglio dei Ministri del 10.08.1988, n. 377, regolamentazione delle pronunce di compatibilità ambientale di cui all’art. 6 della legge 8 luglio 1986, n. 349, recante istituzione del Ministero dell’ambiente e norme in materia di danno ambientale, Gazzetta Ufficiale – Serie generale – del 31.08. 1988, n. 204, S. 6. 606

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nen 90 Tagen über die Vereinbarkeit des Projekts mit den Umweltvorschriften. Bei einem negativen Ergebnis hat es die Aussetzung der Arbeiten anzuordnen und den italienischen Ministerrat einzuschalten. Die Region muss neue abfallbehandelnde Anlagen vor Erteilung einer Betriebserlaubnis unter Beteiligung der regionalen und lokalen Stellen prüfen und das Verfahren bei UVP-pflichtigen Projekten bis zur Entscheidung des Umweltministeriums aussetzen614. Die Betriebserlaubnis ist mit den notwendigen Umweltauflagen für den Betreiber zu versehen, bei Verstößen wird sie ausgesetzt bzw. aufgehoben615. b) Anwendung Demnach waren in Italien die maßgeblichen UVP-Vorschriften bereits in Kraft getreten, als Ecoservizi im April 1989 erstmals eine auch die chemische Abfallbehandlung umfassende Betriebserlaubnis erhielt. Spätestens vor Erteilung dieser neuen und erweiterten Erlaubnis hätte die Anlage somit zwingend einer UVP mit Entscheidung des Umweltministeriums unterzogen werden müssen. Bis zum Abschluss des erst 1996 eingeleiteten UVP-Verfahrens im Jahre 2004 war der Betrieb der Anlage folglich sowohl nach europäischem als auch nach italienischem Recht illegal, da die Voraussetzungen für eine Betriebserlaubnis zu keinem Zeitpunkt erfüllt waren. Diese permanente Missachtung des einschlägigen Umweltrechts hat in erster Linie die Region Lombardei zu verantworten, die über sieben Jahre die UVP-Pflicht vollständig ignorierte und 1989, 1994 sowie 1999 rechtswidrige Betriebserlaubnisse erteilte, welche selbst die nachweislich erforderlichen Umweltauflagen nicht enthielten. Angesichts dessen ist auch den zuständigen staatlichen Aufsichtsbehörden Versagen vorzuwerfen. Das Umweltministerium verzichtete außerdem 2000 und 2001 entgegen der gesetzlichen Regelung auf eine Schließung der Anlage, die entsprechenden Dekrete wurden aber ohnehin alsbald verwaltungsgerichtlich aufgehoben. Die seit 1994 mit dem Fall beinahe permanent befassten italienischen Gerichte waren insgesamt kaum imstande, die behördlichen Defizite wirksam zu korrigieren. So wurde offenbar im ersten, hauptsächlich die Betriebserlaubnis von 1994 betreffenden gerichtlichen Verfahren ohne klar ersichtlichen Grund überhaupt nicht auf die unterbliebene UVP eingegangen. Nachdem im zweiten Verfahren das Regionale VG der Lombardei die Betriebserlaubnis von 1999 in zwei Urteilen für rechtswidrig befunden und die Aussetzung des Anlagenbetriebs verfügt 614 Art. 27 Decreto legislativo del 05.02.1997, n. 22, Attuazione delle direttive 91/ 156/CEE sui rifiuti, 91/689/CEE sui rifiuti pericolosi e 94/62/CE sugli imballaggi e sui rifiuti di imballaggio, Supplemento Ordinario n. 33, Gazzetta Ufficiale del 15.02.1997, n. 38; inzwischen abgelöst durch Decreto legislativo del 03.04.2006, n. 152, Norme in materia ambientale, Supplemento Ordinario n. 96, Gazzetta Ufficiale del 14.04.2006, n. 88. 615 Art. 28 Decreto legislativo n. 22/1997, a. a. O.

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hatte, gestattete der Consiglio di Stato anschließend dennoch den Weiterbetrieb, indem er ohne Rücksicht auf die UVP-Vorschriften die Vorlage einzelner Kontrollergebnisse genügen ließ. Als schließlich auch der Consiglio di Stato 2004 die Rechtswidrigkeit der Erlaubnis feststellte, blieb dies ohne praktische Auswirkungen, da der betreffende Betriebszeitraum unterdessen bereits verstrichen war. Die oft gegenläufigen und nicht konsequent an den UVP-Vorschriften ausgerichteten Gerichtsurteile haben also ihrerseits dazu beigetragen, dass das UVP-rechtlich verfolgte Ziel, Genehmigung und Betrieb einer umweltrelevanten Anlage nur nach vorheriger UVP zuzulassen, insgesamt 15 Jahre lang nicht erreicht wurde. Soweit die verfügbaren Informationen schließen lassen, konnte erst mit der Betriebserlaubnis von 2004, die der Anordnung zahlreicher Umweltauflagen folgte und erst nach Abschluss der ministeriellen UVP auf die gemäß Anhang I UVPpflichtigen Betriebsarten erstreckt wurde, den Anforderungen sowohl der UVPRichtlinie 85/337/EWG als auch des italienischen Umsetzungsrechts entsprochen werden. Es liegt nahe, dass sich diese am Ende positive Entwicklung des Verwaltungshandelns wesentlich unter dem Eindruck des eindeutigen Urteils des Regionalen VG der Lombardei vom 29.04.2003 vollzogen hat. 3. Der Fall vor den Konventionsorganen a) Verfahren und Parteivorbringen Die Bf. erhob am 22.07.1998 nach Art. 25 EMRK a. F. Beschwerde zur EKMR und rügte eine Verletzung von Art. 8 EMRK. Nach der Überleitung der Beschwerde an den EGMR zum 01.11.1998 erklärte dieser sie am 15.03.2005 für zulässig616. Die italienische Regierung konnte hier mit ihren Einreden zur fehlenden Rechtswegerschöpfung nicht durchdringen. Der Gerichtshof stellte dazu klar, dass nach den Verwaltungsprozessen keine Schadensersatzklage vor den ordentlichen Gerichten mehr erforderlich gewesen sei617. Die Frage, ob die Menschenrechtsbeschwerde angesichts des noch laufenden nationalen Prozesses verfrüht erhoben worden sei, verwies er dagegen in die Begründetheitsprüfung618. Zur Begründung der Beschwerde führte die Bf. den von der Anlage ausgehenden dauerhaften Lärm und die sonstigen schädlichen Emissionen an619. Außerdem wies sie auf die verspätete UVP und die Nichtumsetzung der ministeriellen Dekrete hin. Unter diesen Bedingungen liege in der Giftmüllbehandlung kein öffentlicher Nutzen. 616

EGMR, Entsch. v. 15.03.2005, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00. EGMR, a. a. O., pdf-Dok. S. 8. 618 EGMR, a. a. O., pdf-Dok. S. 9; siehe auch EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 65 ff. 619 Vgl. EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 69 ff. 617

B. Umweltrecht

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Die Regierung ging in der Sache hingegen von einer Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 8 Abs. 2 EMRK aus und behauptete, die Entscheidungen der Verwaltungsbehörden seien gesetzeskonform zum Schutz der öffentlichen Gesundheit sowie zur Sicherung des wirtschaftlichen Wohls der Region ergangen620. Da der Betrieb der Anlage hier im Einklang mit dem Grundrecht auf Gesundheit stehe, nicht erwiesenermaßen gefährlich, aber vor Ort unverzichtbar sei, unterscheide sich die Ausgangslage von bereits durch den EGMR entschiedenen Fallkonstellationen621. Des weiteren hätten sowohl das VG als auch das Umweltministerium in ihren jüngsten Entscheidungen die Umweltkompatibilität der Anlage bestätigt, welche ohnehin durch häufige Kontrollen sichergestellt sei. b) Materielle Ausführungen des EGMR Im Anschluss an eine resümierende Darstellung seiner bisherigen Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK in Umweltfragen622 stellte der EGMR fest, dass bei umweltrelevanten Entscheidungen des Staates wie im Giacomelli-Fall sowohl der materielle Inhalt als auch das zugrundeliegende Verfahren einer konventionsrechtlichen Überprüfung am Maßstab von Art. 8 EMRK zugänglich seien623. In materieller Hinsicht wies der Gerichtshof die Prärogative für die Entscheidung über die Notwendigkeit eines Eingriffs primär den nationalen Behörden zu, da sie die örtlichen umweltpolitischen Erfordernisse im Prinzip besser als ein internationales Gericht beurteilen könnten. Der Prüfungsschwerpunkt wurde daher deutlich auf die prozedurale Komponente gelegt. Auch wenn Art. 8 EMRK keine expliziten Verfahrenserfordernisse enthalte, müsse der Entscheidungsprozess für eingreifende Maßnahmen fair sein und die von Art. 8 EMRK geschützten Individualinteressen gebührend berücksichtigen624. Der Gerichtshof erstreckte seine Prüfung diesbezüglich auf alle prozeduralen Aspekte einschließlich der Art der betreffenden Politik oder Entscheidung, der Berücksichtigung der Ansichten der Bürger und der verfügbaren Verfahrensgarantien625. Für die Entscheidungsfähig-

620

Vgl. EGMR, a. a. O., Rn. 72 ff. Vgl. EGMR, a. a. O., Rn. 73; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 57; EGMR, Urt. v. 09.12.1994, López Ostra ./. Spanien, Ser. A Vol. 303-C. 622 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 76 ff., m.w. N.; vgl. auch o., I. 4. d) bb). 623 EGMR, a. a. O., Rn. 79 f.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 10.11.2004, Tas ¸kın et al. ./. Türkei, Rep. 2004-X, Rn. 115. 624 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 82; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 24.02.1995, McMichael ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 307-B, Rn. 87. 625 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, a. a. O.; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003VIII, Rn. 104. 621

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

keit der Behörden sei es zwar keine zwingende Voraussetzung, dass umfassende und nachprüfbare Daten über alle Aspekte der jeweiligen Frage vorlägen. Bei der Behandlung komplexer Fragen der Umwelt- und Wirtschaftspolitik müssten jedoch angemessene Untersuchungen und Studien durchgeführt werden, damit Auswirkungen, die die Umwelt und individuelle Rechte zu beeinträchtigen geeignet seien, prognostiziert und abgeschätzt werden könnten und so ein gerechter Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen erreichbar sei626. Eigens betonte der Gerichtshof in diesem Zusammenhang die Bedeutung des Zugangs der Öffentlichkeit zu den Studienergebnissen und weiteren für die Beurteilung der Gefahrenlage relevanten Informationen627. Weiterhin müsse den betroffenen Personen gerichtlicher Rechtsschutz gegen alle Handlungen und Unterlassungen offenstehen, wenn sie ihre Interessen und Stellungnahmen nicht ausreichend im Entscheidungsprozess berücksichtigt sähen628. Zur Bestimmung des staatlichen Beurteilungsspielraums stellte der Gerichtshof somit darauf ab, ob die Interessen der Bf. gebührende Berücksichtigung gefunden und ihr hinreichende Verfahrensgarantien zur Verfügung gestanden hatten. Im konkreten Fall analysierte der EGMR anschließend anhand dieser Grundsätze die Verwaltungs- und Gerichtsverfahren in Italien629. Zunächst wies er darauf hin, dass den behördlichen Erlaubnissen zum allgemeinen Betrieb der Anlage sowie zur Entgiftung von Industrieabfällen entgegen den gesetzlichen Vorschriften keine angemessene Untersuchung vorausgegangen sei. Die UVP habe nicht nur erst mit siebenjähriger Verspätung begonnen, sondern auch zweimal zu negativen ministeriellen Dekreten geführt. Obwohl der Anlagenbetrieb gerichtlich für rechtswidrig erklärt worden und nach den einschlägigen Gesetzen bis zu einer positiven Entscheidung des Umweltministeriums auszusetzen gewesen sei, habe die Verwaltung zu keiner Zeit die Schließung der Anlage angeordnet. Als wesentliche Versäumnisse der Behörden identifizierte der EGMR somit einerseits die Missachtung der innerstaatlichen Umweltgesetze an sich und andererseits zusätzlich die fehlende Umsetzung der die Illegalität des Betriebs bestätigenden Gerichtsurteile im zweiten Verfahren. Damit hätten die Behörden sowohl das

626 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 83; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-VIII, Rn. 128. 627 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, a. a. O.; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 19.02.1998, Guerra et al. ./. Italien, Rep. 1998-I, Rn. 60; EGMR, Urt. v. 09.06.1998, McGinley und Egan ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1998-III, Rn. 97. 628 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, a. a. O.; mutatis mutandis unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-VIII, Rn. 128; EGMR, Urt. v. 10.11.2004, Tas¸kın et al. ./. Türkei, Rep. 2004X, Rn. 118 f. 629 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 85 ff.

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Rechtsstaatsprinzip verletzt als auch die im innerstaatlichen Recht vorgesehenen verfahrensrechtlichen Garantien der Bf. über einen sehr langen Zeitraum vereitelt630. Hierzu zählte der Gerichtshof insbesondere die obligatorische vorherige Durchführung einer UVP bei jedem potentiell umweltschädlichen Projekt und die Möglichkeit für jeden betroffenen Bürger, sich am Genehmigungsverfahren zu beteiligen, die eigene Position einzubringen und ggf. die Aussetzung der gefährlichen Aktivität durchzusetzen. Selbst wenn man davon ausgehe, dass nach dem UVP-Dekret vom 28.04.2004 alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Rechte der Bf. getroffen worden seien, ändere dies nichts daran, dass ihr Recht auf Achtung der Wohnung durch den gefährlichen Anlagenbetrieb über mehrere Jahre gravierend beeinträchtigt worden sei631. Vor diesem Hintergrund sah der Gerichtshof das erforderliche gerechte Gleichgewicht zwischen dem Interesse der Allgemeinheit am Betrieb einer Anlage zur Giftmüllbehandlung und der effektiven Gewährleistung des Rechts der Bf. auf Achtung von Wohnung, Privat- und Familienleben ungeachtet des staatlichen Einschätzungsspielraums in Italien als nicht gewahrt an632. Dementsprechend wies er die Verfahrenseinrede der italienischen Regierung633 endgültig zurück und stellte einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK fest. c) Urteilsfolgen Der Gerichtshof verneinte zwar einen hinreichend nachgewiesenen Kausalzusammenhang in Bezug auf einen materiellen Schaden der Bf., ging aber von einem beträchtlichen immateriellen Schaden aus, da die Bf. während des jahrelang andauernden rechtswidrigen Zustandes unter Angst gelitten habe und außerdem mehrere Gerichtsverfahren wegen der illegalen Betriebserlaubnisse erforderlich gewesen seien634. Der Bf. wurden daher nach billigem Ermessen 12.000,– A als Entschädigung zuerkannt. Hinsichtlich der Ausgaben der Bf. für die Gerichtsverfahren bekräftigte der EGMR seine etablierte Rechtsprechung, dass nur tatsächlich getätigte, notwendige und in der Höhe angemessene Kosten und Auslagen erstattungsfähig seien635. Diese Voraussetzungen sah er hier bezüglich der nationalen Verfahren anteilig und für das Verfahren in Straßburg insgesamt erfüllt und sprach der Bf. weitere 8.598,– A zu. Alle Anträge auf weitergehende Entschädigung wurden dagegen zurückgewiesen.

630

EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 93 f. EGMR, a. a. O., Rn. 96. 632 EGMR, a. a. O., Rn. 97. 633 Siehe o., a). 634 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 103 f. 635 EGMR, a. a. O., Rn. 107; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 25.03.1998, Belziuk ./. Polen, Rep. 1998-II, Rn. 49; EGMR, Urt. v. 17.02.2005, Sardinas Albo ./. Italien, Nr. 56271/00, Rn. 110. 631

400

Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

4. Bewertung Mit dem Giacomelli-Urteil hat der Straßburger Gerichtshof erstmals europäischen UVP-Vorschriften zur Durchsetzung verholfen. Anwendung und Auslegung von Art. 8 EMRK durch den EGMR fügen sich harmonisch in die bestehende Umweltrechtsprechung der Konventionsorgane ein und bestätigen einmal mehr die universelle Einsetzbarkeit und Flexibilität dieser Konventionsgarantie in umweltrechtlichen Fällen. Die Besonderheit des Urteils liegt v. a. in der detaillierten Herausarbeitung der von Art. 8 EMRK gewährleisteten Verfahrensgarantien, mit der der Gerichtshof an seine bereits bestehende Rechtsprechung anknüpfte636. Da die materielle Komponente staatlicher Entscheidungen gerade im umweltrechtlichen Bereich mangels hinreichender objektiver Beurteilungskriterien und wegen des daraus folgenden weiten staatlichen Einschätzungsspielraums nur schwer konventionsrechtlich überprüfbar ist, erscheint die starke Konzentration des EGMR auf die Einhaltung der Verfahrensregeln sachgerecht und konsequent. Dies gilt vorliegend ganz besonders, da die Defizite im UVP-Verfahren den Kern des Giacomelli-Falles ausmachten. Die vom Gerichtshof allgemein aufgestellten Anforderungen, nämlich die vorherige Durchführung geeigneter Prüfungsverfahren, hinreichende Öffentlichkeitsbeteiligung und gerichtlicher Rechtsschutz637, finden sich allesamt auch im UVP-Richtlinienrecht wieder. Mehrfach hat der EGMR außerdem auf die Verstöße der italienischen Behörden gegen die nationalen Umweltgesetze hingewiesen, die als Betriebsvoraussetzung eine vorherige UVP anordnen638. Für den Gerichtshof fungierte damit das nationale Recht als weitere Richtschnur für die genaue Konkretisierung des nach der EMRK anzulegenden verfahrensrechtlichen Maßstabs. Die zugrundeliegenden Vorgaben des europäischen Richtlinienrechts fließen auf diese Weise mediatisiert über das nationale Umsetzungsrecht in den Standard von Art. 8 EMRK ein, so dass sich aus dem Europarecht, dem nationalen Recht und der EMRK im wesentlichen gleiche Verpflichtungen des Mitgliedstaates gegenüber dem Bürger ergeben. Dieser Ansatz, der sich bezogen auf die Umweltinformationsvorschriften bereits im Guerra-Urteil abzeichnete639, wird nun im Kontext der UVP-Vorschriften deutlicher erkennbar. Wegen der weitgehenden rechtlichen Konvergenz ist es bei Vollzugsmängeln wie vorliegend unschädlich, dass der Gerichtshof wiederum nicht direkt an das Europarecht angeknüpft, sondern sich hier auf die Feststellung beschränkt hat, dass das Gesetz Nr. 349/1986 in Übereinstimmung

636 Siehe etwa EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2003, Hatton et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2003-VIII, Rn. 104, 128; EGMR, Urt. v. 10.11.2004, Tas¸kın et al. ./. Türkei, Rep. 2004-X, Rn. 118 f. 637 EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 83. 638 EGMR, a. a. O., Rn. 86 ff., 92 ff. 639 Siehe o., I. 4. d) bb).

B. Umweltrecht

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mit der UVP-Richtlinie 85/337/EWG ergangen sei640. Ein expliziter Hinweis darauf, dass die UVP-Pflicht selbst für den italienischen Gesetzgeber nicht disponibel war, hätte die Argumentation des EGMR allenfalls ergänzend untermauern können. Anders läge es dagegen, wenn das nationale Recht durch einen alternativen oder kumulativen Fehler bei der Richtlinienumsetzung nicht das Schutzniveau der Richtlinie erreichen sollte. Dann müsste sich der EGMR unmittelbar an den Richtlinenvorgaben orientieren, um die garantierten Rechte der Bürger vollständig gewährleisten zu können. Neben der behördlichen Missachtung der UVP-Vorschriften kritisierte der EGMR auch die mangelnde Umsetzung der im zweiten Verfahren ergangenen nationalen Gerichtsurteile, die die Einstellung des illegalen Anlagenbetriebs verfügten. Dieser sonst üblicherweise im Kontext von Art. 6 Abs. 1 EMRK relevante Aspekt641 bildete hier einen integralen Bestandteil der Prüfung von Art. 8 EMRK und wurde mitursächlich für dessen Verletzung. Die Probleme bei der innerstaatlichen Rechtsdurchsetzung waren jedoch nicht allein auf Versäumnisse der Exekutive bei der Urteilsbefolgung zurückzuführen, sondern ebenso auf die gegensätzlichen Entscheidungen der italienischen Gerichte642. So hätten die Behörden allenfalls in den Zeiträumen vom 18.02.2000 bis zum 11.04.2000 sowie vom 29.04.2003 bis zum 01.07.2003 eine Schließung der Anlage aufgrund verwaltungsgerichtlicher Urteile vollziehen können, bevor diese jeweils höchstrichterlich aufgehoben oder ausgesetzt wurden. Gerade der Consiglio di Stato hat die UVP-Verstöße bis zum Mai 2004 nicht hinreichend gewürdigt und die Realisierung der gesetzlich vorgeschriebenen Konsequenzen verhindert. Damit bestätigt sich letztlich die klar ausgesprochene Feststellung des EGMR, dass die Rechtsschutzgarantien der Bürger über einen langen Zeitraum wirkungslos geblieben sind. Zur weiteren Präzisierung ist allerdings hervorzuheben, dass die vom Gerichtshof vornehmlich wegen der Nichtbefolgung der italienischen Urteile attestierte Verletzung des Rechtsstaatsprinzips643 gleichermaßen im Hinblick auf die Missachtung des europäischen und italienischen Umweltrechts durch die nationalen Behörden und Gerichte feststellbar ist. Normativ bestimmen der fünfte Erwägungsgrund der Präambel der EMRK sowie Art. 3 und der zweite Erwägungsgrund der Präambel der Satzung des Europarates644 das Rechtsstaatsprinzip („rule of law“/„prééminence du droit“) zur den Vertragsstaaten gemeinsamen

640

EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 60. Siehe ausführlich o., Teil 2, B. 642 Siehe o., 2. b). 643 Vgl. EGMR, Urt. v. 02.11.2006, Giacomelli ./. Italien, Nr. 59909/00, Rn. 93; unter Verweis auf EGMR (GK), Urt. v. 28.07.1999, Immobiliare Saffi ./. Italien, Rep. 1999-V, Rn. 63. 644 Sartorius II Nr. 110. 641

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

Grundlage des Europarates und der EMRK645. Die Konventionsorgane haben es daher schon früher ausdrücklich bei der Interpretation der EMRK herangezogen646 und festgestellt, dass es als eines der Fundamentalprinzipien einer demokratischen Gesellschaft allen Konventionsartikeln inhärent sei647. Da das Rechtsstaatsprinzip nicht nur der EMRK, sondern auch dem Recht von Union und Mitgliedstaaten innewohnt648 und damit eine übergreifende Kategorie darstellt649, eignet es sich ganz allgemein besonders gut als Instrument zur integrativen Verknüpfung dieser Rechtsordnungen650. Wenn ein Mitgliedstaat das Europarecht und ggf. zusätzlich das nationale Umsetzungsrecht verletzt, liegt darin ein Rechtsstaatlichkeitsdefizit, das im Rahmen der EMRK regelmäßig einen gerechten Interessenausgleich verhindert und somit durch den EGMR sanktionierbar ist. Das Rechtsstaatsprinzip bietet folglich eine weitere sowohl methodisch-dogmatisch belastbare als auch argumentativ hinreichend flexible Grundlage dafür, übereinstimmende Wertungen zugunsten der Bürger in Unions- und Konventionsrechtsordnung zu erreichen und mit Hilfe des EGMR durchzusetzen. Auch das Giacomelli-Urteil zeigt aber, dass der EGMR den effektiven Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten nicht gleichwertig ersetzen kann. Gerade in umweltrechtlichen Verfahren erscheint die frühzeitige Korrektur der Rechtsverstöße vor Ort gegenüber der nachträglichen Feststellung einer Konventionsverlet645 Siehe EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18 (= EuGRZ 1975, 91), Rn. 34; ausführlich Wittinger, Europarat, S. 245 ff., 405 ff., m.w. N.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, § 26, Rn. 102; Wiederin, in: R. Hofmann/Marko/Merli/Wiederin, S. 295 (295 ff.); siehe weiterhin JacotGuillarmod, in: Pettiti/Decaux/Imbert, S. 56 f.; Rupp-Swienty, S. 21. 646 EGMR, Urt. v. 21.02.1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 18 (= EuGRZ 1975, 91), Rn. 34; EKMR, Bericht v. 01.06.1973, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Ser. B Vol. 16, Rn. 54; EGMR, Urt. v. 02.08.1984, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 82, Rn. 67. Siehe auch bereits o., Teil 2, B. III. 2., IV. 2. c). 647 EGMR, Urt. v. 28.03.2000, Dimitrios Georgiadis ./. Griechenland, Nr. 41209/98, Rn. 31; EGMR, Urt. v. 14.12.1999, Antonakopoulos, Vortsela und Antonakopoulou ./. Griechenland, Nr. 37098/97, Rn. 30; EGMR (GK), Urt. v. 25.03.1999, Iatridis ./. Griechenland, Rep. 1999-II, Rn. 58; EGMR, Urt. v. 25.06.1996, Amuur ./. Frankreich, Rep. 1996-III, Rn. 50. Vgl. auch Spielmann, La jurisprudence, S. 179 (179 ff.). 648 Vgl. Art. 2, 7 EUV; EuGH, Urt. v. 13.02.1979, Granaria ./. Hoofdproduktschap voor Akkerbouwprodukten, Rs. 101/78, Slg. 1979, 623, Rn. 5; EuGH, Urt. v. 23.04. 1986, Les Verts ./. Europäisches Parlament, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23; Giegerich, Europäische Verfassung, S. 149 ff., 894 ff.; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, § 26, Rn. 100 f., 103 ff.; Ullerich, S. 15 ff.; Scheuing, Europäische Union, in: Scholler, Sicherung, S. 27 (27 ff.); Schmahl, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 6, Rn. 1 ff.; Wittinger, JöR N. F. 57 (2009), 427 (434 ff.); Prechal, YEL 25 (2006), 429 (430). 649 Vgl. Wiederin, in: R. Hofmann/Marko/Merli/Wiederin, S. 295 (296); Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 8; Scheuing, Europäische Union, in: Scholler, Sicherung, S. 27 (45 f.). 650 Vgl. auch den entsprechenden Ansatz von Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (180 ff.).

C. Ergebnis zu Teil 3

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zung samt finanziellem Ausgleich stets vorzugswürdig. Immerhin ist es den italienischen Behörden offenbar noch vor dem Urteil des EGMR gelungen, einen weitgehend umweltrechts- und konventionskonformen Zustand zu erreichen, was der Gerichtshof selbst angesichts des seinerzeit noch in Italien anhängigen Rechtsstreits dahinstehen ließ. Denn unabhängig von der beim Abschluss des Straßburger Verfahrens bestehenden Sachlage genügten die in den Jahren zuvor nahezu permanent vorhandenen Verstöße jedenfalls für die Begründetheit der Menschenrechtsbeschwerde. Zusammenfassend ergibt sich, dass der EGMR mit dem Giacomelli-Urteil die konventionsrechtliche Implementierung individualschützender europäischer Umweltstandards auch im umweltverfahrensrechtlichen Bereich sicherstellt. Trotz seiner grundlegenden Bedeutung für die Durchsetzung von UVP-Vorschriften ist das Urteil indes bislang auf relativ geringe Resonanz gestoßen651. Für die Zukunft ist anzunehmen, dass sich der vom EGMR gewährte Schutz bei entsprechend gelagerten Beschwerden nicht auf die Rechte auf Umweltinformationen und eine ordnungsgemäße UVP beschränken, sondern auch sonstige europarechtlich begründete Rechte umfassen wird. Vor allem Art. 8 EMRK, für den bereits eine austarierte umweltbezogene Rechtsprechung besteht, bei Bedarf aber auch weitere Konventionsrechte bilden hierfür taugliche Anknüpfungspunkte652. Im übrigen hat der EGMR bereits unter Beweis gestellt, dass er die verfügbaren methodischen Instrumente zur systemkonformen Integration europäischer Umweltstandards in die EMRK zu nutzen weiß.

C. Ergebnis zu Teil 3 Die Durchsetzung europäischer Richtlinienrechte kann vom EGMR in unterschiedlichen Zusammenhängen unterstützt werden. Im Bereich des Steuerrechts hat der Straßburger Gerichtshof Ansprüche auf Erstattung europarechtswidrig erhobener Steuern dem Schutz der Eigentumsgarantie des Art. 1 ZP 1 unterstellt. Durch eine ebenfalls europarechtsfreundliche Abwägung in der Rechtfertigungsprüfung konnte die Effektivität der unmittelbaren Wirkung von Richtlinienrechten und der mitgliedstaatlichen Staatshaftung konventionsrechtlich gesichert werden. Auf diese Weise sanktionierte der EGMR die Defizite bei der mitgliedstaatlichen Richtlinienumsetzung und gleichzeitig den praktischen Ausfall des nationalen Rechtsschutzes, der durch die systematische Missachtung der Vorlagepflicht zum EuGH entstanden war. Generell kann der EGMR bei Auslegung und Anwendung nichtverfahrensrechtlicher Konventionsrechte auf europarechtliche Normen zurückgreifen, wenn die materielle Europarechtslage hinreichend 651 Vgl. aber jeweils die kurze Besprechung bei Meyer-Ladewig, NVwZ 2007, 25 (30), und Peters, Menschenrechte, in: Kirchschläger/Kirchschläger, S. 215 (217). 652 Siehe bereits o., I. 4. d) bb).

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Teil 3: Rechte aus europäischen Richtlinien

klar ist und somit die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH nicht berührt wird. Die Heranziehung des Europarechts durch den EGMR beruht jedoch auf keiner universellen und eindeutigen Methodik, so dass Abweichungen der Straßburger Prüfungsergebnisse von der Europarechtslage auftreten, die den Individualrechtsschutz behindern oder aber erleichtern können. Der Entscheidungseinklang zwischen Europarecht und EMRK ließe sich weiter verbessern, wenn der EGMR künftig auch die Rückwirkung von Vorabentscheidungsurteilen des EuGH in rechtsschutzfördernder Weise berücksichtigte. Im Umweltrecht wird die praktische Wirksamkeit individualschützender Richtlinienrechte z. B. auf Umweltinformationen oder Durchführung einer UVP vorwiegend durch mitgliedstaatliche Vollzugsdefizite beeinträchtigt. Führen insbesondere der nationale Rechtsschutz und die Überwachung durch die EU-Kommission nicht zu effektiver Abhilfe, kann subsidiär der EGMR die Implementierung des europäischen Umweltrechts gewährleisten. Hierfür bietet v. a. Art. 8 EMRK einen flexiblen konventionsrechtlichen Anknüpfungspunkt; ggf. können auch Art. 2, 6 und 13 EMRK von Bedeutung sein. Indem der Straßburger Gerichtshof auf zur Richtlinienumsetzung erlassenes nationales Recht oder den Ablauf des innerstaatlichen Verfahrens vor Behörden und Gerichten abstellt, fließen europarechtliche Vorgaben indirekt in seine Beurteilung ein. Aufgrund des rechtsordnungsübergreifend verbürgten Rechtsstaatsprinzips wird eine Verletzung der EMRK bei Bestehen eines mitgliedstaatlichen Europarechtsverstoßes jedenfalls indiziert.

Teil 4

Freizügigkeitsrechte Dieser Teil hat die Durchsetzung europarechtlicher Freizügigkeitsrechte zum Gegenstand. Im Anschluss an eine überblicksartige Darstellung des im Europarecht bestehenden Freizügigkeitsregimes (A.) werden die entsprechenden konventionsrechtlichen Durchsetzungsmöglichkeiten behandelt (B.). Nach Maßgabe der Rechtsprechung des EGMR steht hier insbesondere der Konventionsrechtsschutz zur Sicherung des Aufenthaltsrechts im Vordergrund. Darüber hinaus werden auch die sonstigen konventionsrechtlich garantierten Freizügigkeitskomponenten vorgestellt.

A. Europarechtliche Freizügigkeitsrechte im Überblick Die Gewährleistung grenzüberschreitender Freizügigkeit gehört zum konstitutiven Kernbestand des europäischen Integrationssystems und entfaltet ihre funktionelle Bedeutung auf verschiedenartige Weise. Wichtige Einzelaspekte bilden die freie Ein- und Ausreise zwischen den Mitgliedstaaten, der vorübergehende und dauerhafte Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat sowie die Gleichbehandlung mit den dortigen Inländern1. Während die Freizügigkeit also in positiver Hinsicht die Mobilität der Berechtigten absichert, schützt ihre negative Komponente mit dem Aufenthalts- und Bleiberecht gerade das Unterlassen der Fortbewegung2. Die Frage der Inländergleichbehandlung kann für beide Dimensionen relevant werden.

I. Ökonomischer Ursprung und anschließende Generalisierung Mit den 1958 durch den EWGV etablierten Grundfreiheiten des Binnenmarktes fanden erstmals elementare Freizügigkeitsverbürgungen Eingang in das Europarecht, namentlich Mobilitäts- und Aufenthaltsrechte einschließlich des Gebots der Inländergleichbehandlung3. Obwohl die dahinterstehende Integrationsidee von Anfang an auch auf das politische Zusammenwachsen Europas gerichtet war 1

Schönberger, Unionsbürger, S. 318. Vgl. Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 29, 46 ff., 60, 65. 3 Siehe ausdrücklich Art. 45 Abs. 2 AEUV. 2

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

(finalité politique)4, dienten diese mitgliedstaatsübergreifenden Freizügigkeitsrechte doch zuallererst dem Ziel, die ökonomische Betätigung der Marktteilnehmer in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum zu ermöglichen und zu fördern5. Bis heute stellt daher der Bezug zu einer grenzüberschreitenden wirtschaftlichen Aktivität eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten dar6. Im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes (Art. 26 Abs. 2 AEUV) werden die Grundfreiheiten vom EuGH generell extensiv ausgelegt7 und dogmatisch inzwischen allesamt als unmittelbar anwendbare Beschränkungsverbote aufgefasst8, in deren Schutzbereiche nur aus Gründen des Ordre public9 oder in nicht diskriminierender Weise aufgrund zwingender Erfordernisse des Allgemeinwohls10 eingegriffen werden darf. Nach dem Beitritt neuer Mitgliedstaaten bestehen im Verhältnis zu diesen allerdings regelmäßig Übergangsvorschriften für die Anwendbarkeit der Freizügigkeitsrechte11. Aus welcher Grundfreiheit sich im einzelnen jeweils das Freizügigkeitsrecht ergibt, richtet sich nach der Art der zugrundeliegenden Wirtschaftstätigkeit. Während die Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 ff. AEUV) im Kontext der 4 P. M. Huber, ZaöRV 68 (2008), 307 (318); Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 2; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 22 f. 5 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 36; Scheuing, EuR 2003, 744 (746); Schönberger, Unionsbürger, S. 318 f.; Höfler, S. 19 f., 39; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 19 ff.; Leopold/Semmelmann, ZEuS 2008, 275 (276); Calliess, EuR Beiheft 1 2007, 7 (9 f.); Becker, EuR 1999, 522 (523 f.); vgl. auch O’Leary, YEL 27 (2008), 167 (169). 6 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 22, Rn. 2 f., 10, 13; Streinz, Europarecht, Rn. 822, 845 ff.; Schwarze/Becker, Art. 34 AEUV, Rn. 19; siehe bereits o., Teil 2, A. IV. 3. m) dd), m.w. N. Kritisch Epiney, EuR 2008, 840 (851 f.). 7 EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Orfanopoulos und Oliveri, verb. Rs. C-482/01 und C493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 64 f.; EuGH, Urt. v. 20.02.1997, Kommission ./. Belgien, Rs. C-344/95, Slg. 1997, I-1035, Rn. 14; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 36; Streinz/Magiera, Art. 21 AEUV, Rn. 10. 8 Siehe F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 25 ff.; Scheuing, EuR 2003, 744 (778); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 34–36 AEUV, Rn. 9, 57 ff.; sowie die Normtexte insbesondere von Art. 45 Abs. 1–3, Art. 49 Abs. 1 und Art. 56 Abs. 1 AEUV. 9 Art. 45 Abs. 3, Art. 52, Art. 62 i.V. m. 52 AEUV; zum Sekundärrecht siehe u., IV. 10 Siehe grundlegend EuGH, Urt. v. 20.02.1979, Rewe ./. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649, Rn. 8; EuGH, Urt. v. 10.11.1982, Rau ./. De Smedt, Rs. 261/81, Slg. 1982, 3961, Rn. 12; EuGH, Urt. v. 30.11.1995, Gebhard, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 23.05.1996, O’Flynn ./. Adjudication Officer, Rs. C-237/94, Slg. 1996, I-2617, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 11.05.1999, Pfeiffer, Rs. C-255/97, Slg. 1999, I-2835, Rn. 19; EuGH, Urt. v. 04.06.2002, Kommission ./. Portugal, Rs. C-367/98, Slg. 2002, I-4731, Rn. 49; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 34–36 AEUV, Rn. 80 ff.; Schwarze/Becker, Art. 34 AEUV, Rn. 44, 105, 107 ff.; Trstenjak/Beysen, EuR 2012, 265 (276). 11 Ausführlich Domaradzka, S. 34 ff., 48 ff., 64 ff., 77 ff., 113 ff., 153 ff., 214 f.; Schroeder/Lechner/Müller, ZÖR 2009, 85 (87 ff.); weiterhin Kadelbach, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 626. Vgl. auch u., B. II. 2.

A. Europarechtliche Freizügigkeitsrechte im Überblick

407

Ausübung einer abhängigen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat einschlägig ist, kommt die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV) zum Tragen, wenn es um eine dortige selbstständige und auf Dauer angelegte Erwerbstätigkeit mit fester Niederlassung geht12. Die gegenüber diesen beiden Garantien subsidiäre13 Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) findet schließlich Anwendung, falls die selbstständige Leistungserbringung lediglich vorübergehend erfolgt14. Ihr freizügigkeitsrechtlicher Gewährleistungsgehalt, der sich ohnehin auf die aktive und passive Variante beschränkt15, umfasst daher nicht den dauerhaften Aufenthalt im EU-Ausland16 und bleibt somit hinter den anderen Personenverkehrsfreiheiten zurück. Unter bestimmten Umständen können ferner auch die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 ff. AEUV)17 und die Warenverkehrsfreiheit (Art. 34 ff. AEUV)18 eine freizügigkeitsrechtliche Schutzwirkung entfalten. Nachdem die grundfreiheitlichen Freizügigkeitsrechte durch Sekundärrecht seit den 1960er Jahren näher konkretisiert worden waren19, wurden sie später auch auf bestimmte nicht erwerbstätige Personengruppen erstreckt20 und damit 12

Näher Höfler, S. 39 ff., 45 f.; Scheuing, EuR 2003, 744 (747 ff., 751 f.). Vgl. Art. 57 Abs. 1 AEUV; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 6, 15 ff. 14 Vgl. Art. 57 Abs. 3 AEUV; Höfler, S. 46; Streinz/Müller-Graff, Art. 56 AEUV, Rn. 27. 15 Bei der Korrespondenzdienstleistungsfreiheit als verbleibender Variante überschreitet nur die Dienstleistung selbst die Binnengrenzen, nicht aber die beteiligten Personen; Scheuing, EuR 2003, 744 (752); Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 56, 57 AEUV, Rn. 32 f. 16 EuGH, Urt. v. 19.10.2004, Zhu und Chen, Rs. C-200/02, Slg. 2004, I-9925, Rn. 22; EuGH, Urt. v. 05.10.1988, Steymann ./. Staatssecretaris van Justitie, Rs. 196/ 87, Slg. 1988, 6159, Rn. 15 ff. 17 EuGH, Urt. v. 25.01.2007, Festersen, Rs. C-370/05, Slg. 2007, I-1129, Rn. 21 ff., 35 ff., 48: unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 56 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 63 Abs. 1 AEUV) und Art. 2 Abs. 1 ZP 4 durch eine nationale Vorschrift, die für den Erwerb eines landwirtschaftlichen Grundstücks die Begründung eines dortigen ständigen Wohnsitzes durch den Erwerber voraussetzte. Siehe auch Giegerich, in: Dörr/Grote/ Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 100. Näher zur Kapitalverkehrsfreiheit u., Teil 5, D. III. 2. 18 EuGH, Urt. v. 13.01.2000, TK-Heimdienst, Rs. C-254/98, Slg. 2000, I-151, Rn. 22 ff.: Die Warenverkehrsfreiheit steht nationalen Vorschriften entgegen, nach denen z. B. Lebensmittelhändler Waren im Umherziehen nur in Gebieten anbieten dürfen, in denen sie eine ortsfeste Betriebsstätte unterhalten. 19 Vgl. insbesondere VO (EWG) Nr. 1612/68 des Rates v. 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 257 v. 19.10.1968, S. 2; ersetzt durch VO (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union, ABl. Nr. L 141 v. 27.05.2011, S. 1. 20 Richtlinie 93/96/EWG des Rates v. 29.10.1993 über das Aufenthaltsrecht der Studenten, ABl. Nr. L 317 v. 18.12.1993, S. 59 (in Nachfolge der gleichnamigen Richtlinie 90/366/EWG des Rates v. 28.06.1990, ABl. Nr. L 180 v. 13.07.1990, S. 30); Richtlinie 90/365/EWG des Rates v. 28.06.1990 über das Aufenthaltsrecht der aus dem Erwerbs13

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

allmählich aus dem ursprünglich streng ökonomischen Kontext gelöst. Um die volle Effektivität der europarechtlichen Freizügigkeit sicherzustellen, hat der EuGH ferner das Recht auf Rückkehr in den Heimatstaat ausdrücklich in die jeweiligen Gewährleistungen einbezogen21; für die Personenverkehrsfreiheiten ist auch eine unmittelbare Drittwirkung unter Privaten anerkannt worden22. Der freie Personenverkehr hat zudem seinen praktischen Ausdruck in der weitgehenden Abschaffung der Binnengrenzkontrollen gefunden, die im Rahmen des Schengen-Systems schrittweise erreicht wurde (siehe Art. 67 Abs. 2 S. 1, Art. 77 Abs. 1 lit. a AEUV)23.

II. Unionsbürgerschaftliches allgemeines Freizügigkeitsrecht (Art. 21 Abs. 1 AEUV) Ein weiterer Meilenstein in der fortschreitenden Entwicklung der Freizügigkeit wurde mit der Einführung der Unionsbürgerschaft und des allgemeinen Freizügigkeitsrechts durch den Vertrag von Maastricht 1993 gesetzt. Seitdem hat jeder Unionsbürger24 das Recht, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“ (so jetzt leben ausgeschiedenen Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen, ABl. Nr. L 180 v. 13.07.1990, S. 28; Richtlinie 90/364/EWG des Rates v. 28.06.1990 über das Aufenthaltsrecht, ABl. Nr. L 180 v. 13.07.1990, S. 26; alle ersetzt durch die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG (siehe u., IV.). Vgl. ferner zum primärrechtlich abgeleiteten ausbildungsbezogenen Freizügigkeitsrecht EuGH, Urt. v. 26.02.1992, Raulin ./. Minister van Onderwijs en Wetenschappen, Rs. C-357/89, Slg. 1992, I-1027, Rn. 34 ff. Zum Ganzen näher Höfler, S. 47 ff.; Scheuing, EuR 2003, 744 (754 ff.); Calliess, EuR Beiheft 1 2007, 7 (13). 21 EuGH, Urt. v. 07.07.1992, The Queen ./. Immigration Appeal Tribunal und Surinder Singh, ex parte Secretary of State for the Home Department, Rs. C-370/90, Slg. 1992, I-4265, Rn. 19 ff.; siehe auch EuGH, Urt. v. 11.12.2007, Eind, Rs. C-291/05, Slg. 2007, I-10719, Rn. 32 ff.; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 27, 48. 22 EuGH, Urt. v. 15.12.1995, Bosman et al., Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 82 ff.; EuGH, Urt. v. 13.04.2000, Lehtonen und Castors Braine, Rs. C-176/96, Slg. 2000, I-2681, Rn. 49, 60; EuGH, Urt. v. 06.06.2000, Angonese, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139, Rn. 29 ff., 36; EuGH (GK), Urt. v. 11.12.2007, International Transport Workers’ Federation et al., Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779, Rn. 54 f., 57 ff.; Reich, S. 162 f.; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 34–36 AEUV, Rn. 112 ff., 221 f.; Streinz/ Schroeder, Art. 34 AEUV, Rn. 27; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 93; Herdegen, Europarecht, § 14, Rn. 12 ff.; siehe auch kritisch Streinz/ Leible, EuZW 2000, 459 (459 ff.). 23 Näher ter Steeg, Einwanderungskonzept, S. 75 ff.; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 18; Suhr, in: Calliess/Ruffert, Art. 67 AEUV, Rn. 7 ff.; Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 77 AEUV, Rn. 1 f., 5 ff.; Streinz/Weiß/Satzger, Art. 67 AEUV, Rn. 32, 38 ff.; Winkelmann, ZAR 2010, 213 (213 ff.), 270 (270 ff.). 24 Unionsbürger ist nach Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV (früher Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGV), wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt.

A. Europarechtliche Freizügigkeitsrechte im Überblick

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Art. 20 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 lit. a i.V. m. Art. 21 Abs. 1 AEUV)25; in Art. 45 Abs. 1 i.V. m. Art. 52 Abs. 2 GRC findet sich eine inhaltsgleiche Garantie26. Damit ist auch für nicht wirtschaftlich Tätige ein primärrechtliches Freizügigkeitsrecht verbürgt. Wie der inkludierte Vorbehalt klarstellt, gelten die primär- und sekundärrechtlichen Schranken der Freizügigkeit fort27. Sind Freizügigkeitsrechte bereits in anderen Bestimmungen des Primärrechts wie etwa den Grundfreiheiten niedergelegt, gehen solche Regelungen als leges speciales Art. 21 Abs. 1 AEUV vor28. Weiterhin findet Art. 21 Abs. 1 AEUV keine Anwendung auf rein mitgliedstaatsinterne Sachverhalte29; jedoch geht aus der Rechtsprechung des EuGH zum Teil noch nicht eindeutig hervor, welche Anforderungen im einzelnen an die Intensität des grenzüberschreitenden Bezuges zu stellen sind30. In Entsprechung zu seiner grundfreiheitlichen Judikatur hat der EuGH das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 21 Abs. 1 AEUV regelmäßig als Beschränkungsverbot verstanden31 und ihm ausdrücklich unmittelbare Wirkung zu25 Dabei erstreckt sich das Freizügigkeitsrecht nur auf das innerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des Europarechts (Art. 52 EUV, 355 AEUV) liegende Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 155 f.; Streinz/Magiera, Art. 21 AEUV, Rn. 18; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 21 AEUV, Rn. 4; Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 21 AEUV, Rn. 14. 26 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 46; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 134 ff.; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 21 AEUV, Rn. 3. 27 Schwarze/Hatje, Art. 21 AEUV, Rn. 7, 15; J. Gebauer, Grundfreiheiten, S. 211; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 46, 48. 28 Scheuing, EuR 2003, 744 (763 f.); Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 46, 50; Schönberger, Unionsbürger, S. 324 f.; Höfler, S. 62 ff.; Schwarze/Hatje, Art. 21 AEUV, Rn. 18; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 21 AEUV, Rn. 16 f.; Becker, EuR 1999, 522 (531 f.). 29 EuGH, Urt. v. 25.07.2008, Metock et al., Rs. C-127/08, Slg. 2008, I-6241, Rn. 77; EuGH, Urt. v. 01.04.2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, Rs. C-212/06, Slg. 2008, I-1683, Rn. 33, 39; EuGH, Urt. v. 05.06.1997, Uecker und Jacquet, verb. Rs. C-64/96 und C-65/96, Slg. 1997, I-3171, Rn. 16, 23; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 47; Streinz/Magiera, Art. 21 AEUV, Rn. 14; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 157 f.; dagegen offenbar weitergehend Schwarze/Hatje, Art. 21 AEUV, Rn. 9. 30 Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (777 ff.). Tendenziell ist schon irgendein mitgliedstaatsübergreifender Kontext ausreichend; Epiney, EuR 2008, 840 (850 f.), m.w. N. Ist der tatsächliche Genuss des unionsbürgerrechtlichen Kernbestandes gefährdet, kann sogar bereits die potentielle Überschreitung der EU-Außengrenze genügen; vgl. EuGH, Urt. v. 08.03.2011, Ruiz Zambrano, Rs. C-34/09, Slg. 2011, I-1177, Rn. 40 ff. Im Ergebnis restriktiver dagegen EuGH, Urt. v. 05.05.2011, McCarthy, Rs. C-434/09, Slg. 2011, I-3375, Rn. 44 ff. 31 EuGH, Urt. v. 18.07.2006, De Cuyper, Rs. C-406/04, Slg. 2006, I-6947, Rn. 39 ff.; EuGH, Urt. v. 26.10.2006, Tas-Hagen und Tas, Rs. C-192/05, Slg. 2006, I10451, Rn. 31 ff.; EuGH, Urt. v. 23.10.2007, Morgan und Bucher, verb. Rs. C-11/06 und C-12/06, Slg. 2007, I-9161, Rn. 25 f., 32 f.; EuGH, Urt. v. 22.05.2008, Nerkowska, Rs. C-499/06, Slg. 2008, I-3993, Rn. 32 ff.; Leopold/Semmelmann, ZEuS 2008, 275 (288 ff.); M. Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, § 15, Rn. 42 ff.; Kluth, in: Calliess/ Ruffert, Art. 21 AEUV, Rn. 6; Tamme, GYIL 54 (2011), 773 (778). Zur Rechtfertigung

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

erkannt32. Daraus folgt, dass zuvor rein sekundärrechtlich verfasste unionsbürgerliche Freizügigkeitsrechte durch Art. 21 Abs. 1 AEUV ihrerseits mit Primärrechtsrang ausgestattet, also gleichsam rangvereinheitlichend „konstitutionalisiert“ werden33. Alle zugehörigen Sekundärrechtsakte34 sind demnach im Lichte und im Zweifel zugunsten der primärrechtlichen Freizügigkeitsverbürgung auszulegen35, und bei der Anwendung der vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen müssen als allgemeine Grundsätze des Europarechts insbesondere die Grundrechte, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Wesensgehaltsgarantie gewahrt bleiben36. Ferner steht das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 Abs. 1 AEUV) in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung des Freizügigkeitsrechts. So können sich Unionsbürger, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten37, in allen dem sachlichen Anwendungsbereich des Europarechts unterfallenden Situationen auf Art. 18 Abs. 1 AEUV berufen und gegen ungerechtfertigte Ungleichbehandlungen vorgehen38. unterschiedsloser Eingriffe durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls vgl. Scheuing, EuR 2003, 744 (778 ff.); Meyer/Magiera, Art. 45 GRC, Rn. 13, m.w. N. 32 EuGH, Urt. v. 17.09.2002, Baumbast und R, Rs. C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Rn. 80 ff.; EuGH, Urt. v. 19.10.2004, Zhu und Chen, Rs. C-200/02, Slg. 2004, I-9925, Rn. 26; EuGH, Urt. v. 23.03.2006, Kommission ./. Belgien, Rs. C-408/03, Slg. 2006, I2647, Rn. 34; Höfler, S. 67 ff.; Schwarze/Hatje, Art. 21 AEUV, Rn. 7; Scheuing, EuR 2003, 744 (759 ff.). 33 Schönberger, Unionsbürger, S. 322 f.; Kadelbach, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 626 f.; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 46; Becker, EuR 1999, 522 (528 f.); M. Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, § 15, Rn. 14. 34 Vgl. insbesondere u., IV. 35 EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Orfanopoulos und Oliveri, verb. Rs. C-482/01 und C493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 65; EuGH, Urt. v. 09.11.2000, Yiadom, Rs. C-357/98, Slg. 2000, I-9265, Rn. 23 ff.; Kadelbach, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 626 f.; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 48; Schönberger, Unionsbürger, S. 323 f.; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 21 AEUV, Rn. 4. 36 EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Orfanopoulos und Oliveri, verb. Rs. C-482/01 und C493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 95 ff.; EuGH, Urt. v. 17.09.2002, Baumbast und R, Rs. C-413/99, Slg. 2002, I-7091, Rn. 91 ff.; EuGH, Urt. v. 19.10.2004, Zhu und Chen, Rs. C-200/02, Slg. 2004, I-9925, Rn. 32; EuGH, Urt. v. 07.09.2004, Trojani, Rs. C-456/02, Slg. 2004, I-7573, Rn. 45 f.; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 48; Schwarze/Hatje, Art. 21 AEUV, Rn. 15; M. Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, § 15, Rn. 87 ff. 37 Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts kann sich dabei aus dem Europarecht oder aus dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats ergeben; EuGH, Urt. v. 12.05.1998, Martínez Sala ./. Freistaat Bayern, Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691, Rn. 60 ff.; EuGH, Urt. v. 07.09.2004, Trojani, Rs. C-456/02, Slg. 2004, I-7573, Rn. 37 ff.; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 59. 38 Vgl. zu Sozialhilfeleistungen EuGH, Urt. v. 07.09.2004, Trojani, Rs. C-456/02, Slg. 2004, I-7573, Rn. 42 f.; EuGH, Urt. v. 20.09.2001, Grzelczyk, Rs. C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Rn. 31 ff., 46; zu Studienbeihilfen EuGH (GK), Urt. v. 18.11.2008, Förster, Rs. C-158/07, Slg. 2008, I-8507, Rn. 36 ff.; EuGH, Urt. v. 15.03.2005, Bidar, Rs.

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Einer Rechtfertigung zugänglich sind dabei mittelbare Diskriminierungen, die auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhen und in verhältnismäßiger Weise einen legitimen Zweck verfolgen39.

III. Zum freizügigkeitsrechtlichen Status von Drittstaatsangehörigen Personen, die nicht gemäß Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV Unionsbürger sind, können auf verschiedene Weise in das europäische Freizügigkeitsrecht einbezogen sein, auch wenn sich für sie aus Art. 21 Abs. 1 AEUV jedenfalls keine selbstständigen Rechte ergeben40. In der GRC enthalten insbesondere Art. 15 Abs. 3 zu den Arbeitsbedingungen und Art. 19 zum Schutz vor Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung spezielle freizügigkeitsrelevante Garantien zu ihren Gunsten. Weiterhin bestimmt Art. 45 Abs. 2 GRC, dass Staatsangehörigen von Drittländern (und auch Staatenlosen41), die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, „nach Maßgabe der Verträge Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit gewährt“ werden könne. Damit wird auf die einwanderungsrechtlichen Vorschriften der Art. 77 ff. AEUV (vgl. früher Art. 61 ff. EGV) verwiesen42, auf deren Grundlage bereits verschiedene einschlägige Sekundärrechtsakte ergangen sind43. C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Rn. 37 ff., 48. Näher Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 57 ff.; Kadelbach, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 627, 635 ff.; Schönberger, Unionsbürger, S. 326, 390 ff., 395 ff.; Leopold/ Semmelmann, ZEuS 2008, 275 (291 ff.); Schwarze/Hatje, Art. 21 AEUV, Rn. 11 f.; M. Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, § 15, Rn. 36 ff.; Domröse/Kubicki, EuR 2008, 873 (873 ff.); Calliess, EuR Beiheft 1 2007, 7 (30 ff.). Zu den richtlinienrechtlichen Vorgaben siehe u., IV. 39 EuGH, Urt. v. 15.03.2005, Bidar, Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Rn. 49 ff., 54 ff.; EuGH, Urt. v. 23.03.2004, Collins, Rs. C-138/02, Slg. 2004, I-2703, Rn. 65 ff.; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 60; Leopold/Semmelmann, ZEuS 2008, 275 (296 ff.); O’Leary, YEL 27 (2008), 167 (181 f.). 40 Höfler, S. 58; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 61. 41 Meyer/Magiera, Art. 45 GRC, Rn. 26; Schöbener, in: Tettinger/Stern, Art. 45 GRC, Rn. 22; Jarass, EU-Grundrechte, § 38, Rn. 19; vgl. für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ausdrücklich Art. 67 Abs. 2 S. 2 AEUV. 42 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. Nr. C 303 v. 14.12.2007, S. 17 (29); Meyer/Magiera, Art. 45 GRC, Rn. 4, 20; Jarass, EU-Grundrechte, § 38, Rn. 16; Schöbener, in: Tettinger/Stern, Art. 45 GRC, Rn. 22. Für Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich bestehen im Hinblick auf Art. 67–89 AEUV Sonderregeln; vgl. Protokoll (Nr. 21) über die Position des Vereinigten Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 295; Protokoll (Nr. 22) über die Position Dänemarks, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 298. 43 Siehe etwa Richtlinie 2003/86/EG des Rates v. 22.09.2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. Nr. L 251 v. 03.10.2003, S. 12; Richtlinie 2003/ 109/EG des Rates v. 25.11.2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufent-

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Darüber hinaus können drittstaatsangehörige Familienmitglieder von Unionsbürgern reflexweise von deren primärrechtlichen Freizügigkeitsrechten44 begünstigt werden45. Die praktische Wirksamkeit der unionsbürgerlichen Freizügigkeit lässt sich nämlich unter Umständen nur dadurch sichern, dass die mit dem Unionsbürger in einer familiären Beziehung stehenden Personen an dessen Rechtsposition teilhaben. Eine derartige Ausstrahlungswirkung des Unionsbürgerrechts hat der EuGH etwa zugunsten von drittausländischen Ehegatten von Unionsbürgern46 sowie für Eltern minderjähriger Unionsbürger47 angenommen und mitgliedstaatliche Eingriffe auch am Maßstab der Grundrechte48 und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes des Europarechts überprüft. Keinen Einfluss auf die Rechtsstellung der drittstaatsangehörigen Familienmitglieder hat dabei der Umstand, ob diese sich zuvor rechtmäßig im Unionsgebiet aufgehalten haben49. Bestimmte Drittausländer genießen ferner besondere Freizügigkeitsrechte auf der Grundlage völkerrechtlicher gemischter Abkommen, die zwischen der E(W)G/EU und ihren Mitgliedstaaten einerseits und den entsprechenden Drittstaaten andererseits geschlossen wurden50. So sind Bürger von Island, Liechtenhaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl. Nr. L 16 v. 23.01.2004, S. 44; Richtlinie 2004/114/EG des Rates v. 13.12.2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zur Absolvierung eines Studiums oder zur Teilnahme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst, ABl. Nr. L 375 v. 23.12.2004, S. 12; Richtlinie 2005/71/EG des Rates v. 12.10. 2005 über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung, ABl. Nr. L 289 v. 03.11.2005, S. 15; Richtlinie 2009/ 50/EG des Rates v. 25.05.2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung (sog. „Blue-Card-Richtlinie“), ABl. Nr. L 155 v. 18.06.2009, S. 17. Näher Wilson, S. 100 ff.; Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 79 AEUV, Rn. 15 ff.; Thym, Einwanderungspolitik, in: R. Hofmann/Löhr, S. 183 (195 ff.); ter Steeg, Einwanderungskonzept, S. 343 ff., 347 ff., 355 ff., 380 ff. 44 Zur sekundärrechtlichen Ausgestaltung siehe u., IV. 45 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 61 ff.; Meyer/Magiera, Art. 45 GRC, Rn. 30; Höfler, S. 58 f. 46 EuGH, Urt. v. 11.07.2002, Carpenter, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 37 ff.; EuGH, Urt. v. 23.09.2003, Akrich, Rs. C-109/01, Slg. 2003, I-9607, Rn. 50 ff. 47 EuGH, Urt. v. 19.10.2004, Zhu und Chen, Rs. C-200/02, Slg. 2004, I-9925, Rn. 45 ff.; EuGH, Urt. v. 08.03.2011, Ruiz Zambrano, Rs. C-34/09, Slg. 2011, I-1177, Rn. 40 ff. 48 Bedeutsam ist v. a. das Recht auf Achtung des Familienlebens gemäß Art. 7 GRC bzw. Art. 8 EMRK. 49 EuGH, Urt. v. 25.07.2008, Metock et al., Rs. C-127/08, Slg. 2008, I-6241, Rn. 48 ff. (insoweit in Abkehr von EuGH, Urt. v. 23.09.2003, Akrich, Rs. C-109/01, Slg. 2003, I-9607, Rn. 50 ff.); vgl. auch Epiney, EuR 2008, 840 (840 ff.), sowie EuGH, Urt. v. 08.03.2011, Ruiz Zambrano, Rs. C-34/09, Slg. 2011, I-1177, Rn. 40 ff. 50 Mit ihrem Inkrafttreten sind die Abkommen gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV (früher Art. 300 Abs. 7 EGV) integrierender Bestandteil der Europarechtsordnung; siehe EuGH, Urt. v. 30.04.1974, Haegeman ./. Belgischer Staat, Rs. 181/73, Slg. 1974, 449, Rn. 2 ff.; EuGH, Urt. v. 30.09.1987, Demirel ./. Stadt Schwäbisch Gmünd, Rs. 12/86,

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stein und Norwegen nach Maßgabe von Art. 28 ff. des EWR-Abkommens51 freizügigkeitsrechtlich weitgehend den Unionsbürgern gleichgestellt 52. Die Freizügigkeit im Verhältnis zur Schweiz wird durch ein bilaterales Abkommen53 geregelt, das die schrittweise Herstellung des freien Personenverkehrs innerhalb von zwölf Jahren vorsieht54. Aus den sonstigen mit Drittstaaten bestehenden Abkommen ergibt sich für deren Bürger dagegen kein Recht auf erstmaligen Zugang zum Binnenmarkt. Die Europa-Mittelmeer-Abkommen mit den Maghreb-Staaten Algerien55, Marokko56 und Tunesien57 sowie das Partnerschaftsabkommen mit Russland58 enthalten aber zugunsten zugelassener Drittausländer unmittelbar anwendbare Diskriminierungsverbote v. a. in Bezug auf die Arbeitsbedingungen59; eine gültige Arbeitserlaubnis kann insoweit auch zu einem entsprechenden Aufenthaltsrecht führen60. In den Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit den Staaten des westlichen Balkans wird zusätzlich der Arbeitsmarkt für Ehepartner und Kinder von legal beschäftigten Arbeitnehmern geöffnet61. Das Asso-

Slg. 1987, 3719, Rn. 7; EuGH, Urt. v. 20.09.1990, Sevince ./. Staatssecretaris van Justitie, Rs. C-192/89, Slg. 1990, I-3461, Rn. 8 ff.; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 216 AEUV, Rn. 25 ff. 51 Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum v. 02.05.1992, in Kraft seit dem 01.01.1994, ABl. Nr. L 1 v. 03.01.1994, S. 3. 52 Näher M. Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, § 15, Rn. 48 f.; Mech, S. 35 ff., 50 ff., 68 ff. 53 Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit v. 21.06.1999, in Kraft seit dem 01.06.2002, ABl. Nr. L 114 v. 30.04.2002, S. 6. 54 Näher Benesch, S. 66 ff., 85 ff.; M. Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, § 15, Rn. 50 ff.; Fehrenbacher, NVwZ 2002, 1344 (1344 ff.); Kälin, ZAR 2002, 123 (123 ff.). 55 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Demokratischen Volksrepublik Algerien andererseits v. 22.04.2002, ABl. Nr. L 265 v. 10.10.2005, S. 2. 56 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und dem Königreich Marokko andererseits v. 26.02.1996, ABl. Nr. L 70 v. 18.03.2000, S. 2. 57 Europa-Mittelmeer-Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Tunesischen Republik andererseits v. 17.07.1995, ABl. Nr. L 97 v. 30.03.1998, S. 2. 58 Abkommen über Partnerschaft und Zusammenarbeit zur Gründung einer Partnerschaft zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Russischen Föderation andererseits v. 24.06.1994, in Kraft seit dem 01.12.1997, ABl. Nr. L 327 v. 28.11.1997, S. 3; hierzu Weiß, Personenverkehrsfreiheiten, S. 51 f. 59 Husmann, ZAR 2009, 305 (309 ff.); Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 AEUV, Rn. 40; Streinz/Franzen, Art. 45 AEUV, Rn. 70. 60 EuGH, Urt. v. 14.12.2006, Gattoussi, Rs. C-97/05, Slg. 2006, I-11917, Rn. 36 ff.; EuGH, Urt. v. 02.03.1999, Eddline El-Yassini, Rs. C-416/96, Slg. 1999, I-1209, Rn. 64 ff.; Meinel, S. 186. 61 Überblick über die Abkommen unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=URISERV:r18003; siehe auch Husmann, ZAR 2009, 305 (312 f.); Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 AEUV, Rn. 39.

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ziationsverhältnis zur Türkei auf der Grundlage des Assoziierungsabkommens EWG-Türkei62 ist programmatisch sogar an den binnenmarktlichen Grundfreiheiten orientiert63. Im einzelnen wird türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen unter den in Art. 6 f. des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/8064 statuierten Voraussetzungen ein privilegierter Zugang zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates einschließlich der dafür erforderlichen Aufenthaltsrechte65 eingeräumt66. Außerdem ist die Einführung neuer Beschränkungen des Arbeitsmarktzugangs sowie der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit nach Maßgabe von Art. 13 ARB 1/80 und Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen67 verboten68.

IV. Das Regime der Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG Wesentliche Teile des europarechtlichen Freizügigkeitsrechts haben 2004 mit der Richtlinie 2004/38/EG69 eine einheitliche Kodifikation erfahren, durch die das vorherige Sekundärrecht größtenteils abgelöst wurde70. Ungeachtet des primärrechtlichen Einflusses ist damit das Recht der Unionsbürger auf freie Bewegung und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten samt der zugehörigen

62 Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Türkei v. 12.09.1963, in Kraft seit dem 01.12. 1964, ABl. 217 v. 29.12.1964, S. 3687. 63 Art. 12 ff. des Abkommens; siehe auch EuGH, Urt. v. 02.06.2005, Dörr und Ünal, Rs. C-136/03, Slg. 2005, I-4759, Rn. 61 ff.; EuGH, Urt. v. 30.09.2004, Ayaz, Rs. C275/02, Slg. 2004, I-8765, Rn. 44; beide m.w. N. 64 Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrates v. 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation (nachfolgend: ARB 1/80), in Kraft ab dem 01.07.1980, auszugsweise abgedruckt in InfAuslR 1982, 33 (nicht im Amtsblatt veröffentlicht). 65 EuGH, Urt. v. 20.09.1990, Sevince ./. Staatssecretaris van Justitie, Rs. C-192/89, Slg. 1990, I-3461, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 16.12.1992, Kus ./. Landeshauptstadt Wiesbaden, Rs. C-237/91, Slg. 1992, I-6781, Rn. 27 ff.; EuGH, Urt. v. 11.05.2000, Savas, Rs. C-37/98, Slg. 2000, I-2927, Rn. 60; EuGH, Urt. v. 08.12.2011, Ziebell, Rs. C-371/08, Slg. 2011, I-12735, Rn. 48. 66 Näher u., B. I. 2. a), m.w. N. 67 Zusatzprotokoll v. 23.11.1970, in Kraft seit dem 01.01.1973, ABl. Nr. L 293 v. 29.12.1972, S. 4. 68 Beide Stillhalteklauseln sind ebenfalls unmittelbar wirksam; vgl. EuGH, Urt. v. 21.10.2003, Abatay et al., verb. Rs. C-317/01 und C-369/01, Slg. 2003, I-12301, Rn. 58 ff.; EuGH, Urt. v. 19.02.2009, Soysal und Savatli, Rs. C-228/06, Slg. 2009, I1031, Rn. 45 ff.; Mielitz, NVwZ 2009, 276 (276 ff.). 69 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, etc. (Freizügigkeitsrichtlinie), ABl. Nr. L 158 v. 30.04.2004, S. 77, berichtigt durch ABl. Nr. L 229 v. 29.06.2004, S. 35, ABl. Nr. L 204 v. 04.08.2007, S. 28. 70 Vgl. Art. 38 RiLi 2004/38/EG.

A. Europarechtliche Freizügigkeitsrechte im Überblick

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Bedingungen und Beschränkungen gegenwärtig umfassend geregelt71. Entsprechendes gilt für die Freizügigkeit von Familienangehörigen, die Unionsbürger begleiten oder ihnen nachziehen72. Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV entfaltet die Freizügigkeitsrichtlinie grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung73, sondern bedarf der Umsetzung in ggf. richtlinienkonform auszulegendes mitgliedstaatliches Recht74. Die Richtlinie gewährleistet für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen (nachfolgend „Berechtigte“) zunächst das Recht, unter Mitführung eines gültigen Personalausweises bzw. Reisepasses frei aus einem Mitgliedstaat auszureisen sowie in einen anderen Mitgliedstaat einzureisen (Art. 4 f.). Das Aufenthaltsrecht in einem anderen Mitgliedstaat ist in Abhängigkeit von Dauer und Zweck des Aufenthalts in drei Kategorien geregelt. Für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten besteht für die Berechtigten ein Aufenthaltsrecht unter den für die Einreise geltenden Voraussetzungen (Art. 6 RiLi), solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen (Art. 14 Abs. 1 RiLi). Bei einer darüber hinausgehenden Aufenthaltsdauer müssen Aufenthaltswillige, die nicht erwerbstätig sind, nachweisen, dass sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen; weiterhin kann letzterer die Anmeldung bei den zuständigen Behörden verlangen (Art. 7 f. RiLi). Die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen (Art. 14 Abs. 2–4 RiLi). Nach einem fünfjährigen rechtmäßigen und ununterbrochenen Aufenthalt erwerben die Berechtigten dann ein bedingungsloses Recht auf Daueraufenthalt, wobei für aus dem Erwerbsleben ausgeschiedene Personen erleichterte Voraussetzungen gelten (Art. 16 ff. RiLi). Das Recht auf Inländergleichbehandlung verpflichtet den Aufnahmemitgliedstaat nicht, den Berechtigten während der ersten drei Monate des Aufenthalts einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen zu gewähren75. Die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zulässigen Beschränkungen der Freizügigkeit werden in Art. 27 ff. RiLi konkreti-

71 Vgl. Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 49; ferner Höfler, S. 82 ff., 105 ff.; Schönberger, Unionsbürger, S. 365 ff.; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 151 ff. 72 Vgl. Art. 2 Nr. 2, Art. 3 RiLi 2004/38/EG. 73 Siehe aber o., Teil 3, A. I. 3. a). 74 In Deutschland Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU) v. 30.07.2004 (Sartorius I Nr. 560). Vgl. auch Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 40. 75 Art. 24 RiLi 2004/38/EG i.V. m. der 10. und 21. Präambelerwägung; hierzu Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 58; siehe auch EuGH (GK), Urt. v. 18.11. 2008, Förster, Rs. C-158/07, Slg. 2008, I-8507, Rn. 55; EuGH (GK), Urt. v. 15.09. 2015, Alimanovic, Rs. C-67/14, Slg. 2015 (= NJW 2016, 555), Rn. 46, 49 ff., 63.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

siert76. Entsprechende Maßnahmen müssen den Verfahrensgarantien in Art. 30 f. RiLi genügen und dürfen ausschließlich an das persönliche Verhalten des Betroffenen anknüpfen, sofern dieses „eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstell[t], die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt“ 77. Schließlich enthält die Richtlinie Vorgaben für den Umgang der Mitgliedstaaten mit Rechtsmissbrauch und Verstößen gegen das Umsetzungsrecht (Art. 35 f.). Nationale Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die gegenüber der Richtlinie für die Berechtigten günstiger sind, bleiben gemäß Art. 37 RiLi unberührt.

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten Europarechtlich begründete Freizügigkeitsrechte sind bislang im Kontext von Aufenthaltsverboten und Ausweisungen sowie bei der Durchsetzung der Erteilung einer langfristigen Aufenthaltserlaubnis Gegenstand der Rechtsprechung des EGMR gewesen. Nachfolgend wird einerseits die betreffende Judikatur anhand der konkreten Fälle erörtert, andererseits aber auch allgemein die freizügigkeitsrechtliche Schutzwirkung der einschlägigen Garantien der EMRK untersucht.

I. Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen Die Entziehung des Aufenthaltsrechts durch Ausweisung bzw. Aufenthaltsverbot stellt einen besonders schwerwiegenden Eingriff in die Bleibekomponente der Freizügigkeit dar. Soweit ersichtlich, gehen die bisherigen Verfahren vor dem EGMR, in denen aufenthaltsbeendende Maßnahmen unter Berufung auf das Europarecht angegriffen wurden, fast ausschließlich78 auf Menschenrechtsbeschwerden türkischer Staatsangehöriger zurück, die gegenüber einem EU-Mitgliedstaat Rechte aus dem Assoziationsverhältnis mit der Türkei geltend machten. Vor der EKMR war allerdings die Ausweisung eines Gemeinschaftsangehörigen wegen Betäubungsmitteldelikten Gegenstand des bereits behandelten Verfahrens Brighina ./. Deutschland79. 76 Siehe auch näher Brosius-Gersdorf, Migration, in: Bauer/Cruz Villalón/Iliopoulos-Strangas, S. 11 (16 ff.). 77 Art. 27 Abs. 2 RiLi 2004/38/EG; siehe bereits EuGH, Urt. v. 26.02.1975, Bonsignore ./. Oberstadtdirektor der Stadt Köln, Rs. 67/74, Slg. 1975, 297, Rn. 5 ff.; EuGH, Urt. v. 27.10.1977, Bouchereau, Rs. 30/77, Slg. 1977, 1999, Rn. 27 ff., 33 ff.; EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Orfanopoulos und Oliveri, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 66. Zu den Anforderungen an eine Beschränkung des Aufenthaltsrechts auf einen Teil des nationalen Hoheitsgebiets siehe EuGH, Urt. v. 26.11.2002, Oteiza Olazabal, Rs. C-100/01, Slg. 2002, I-10981, Rn. 37 ff.; Giegerich, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 86; Chaltiel, RMCUE 2003, 120 (120 ff.); F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 158. 78 Eine spezielle Ausnahme bildet der die politischen Betätigungsrechte einer Europaabgeordneten betreffende Fall Piermont ./. Frankreich; hierzu näher u., Teil 5, B. 79 Siehe o., Teil 2, A. IV. 2. b).

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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1. Assoziationsrechtliche Ausgangsfälle a) Yildiz ./. Österreich (2002) aa) Sachverhalt und nationales Verfahren80 Die jeweils 1975, 1976 und 1995 geborenen Bf. sind türkische Staatsangehörige. Der Bf. zu 1., Mehmet Yildiz, zog 1989 nach Österreich, wo er zunächst mit seinen Eltern und Geschwistern, seit 1994 dann mit der in Österreich aufgewachsenen Bf. zu 2. zusammenlebte. Die Bf. zu 1. und 2. schlossen im März 1997 die Zivilehe, ihre gemeinsame Tochter ist die Bf. zu 3. Der Bf. zu 1. wurde 1993 in zwei Fällen wegen Diebstahls sowie zwischen 1992 und 1994 wegen verschiedener Verkehrsdelikte verurteilt. Am 21.09.1994 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot gegen den Bf. zu 1., das am 24.01.1995 von der Sicherheitsdirektion Vorarlberg bestätigt wurde. Dabei wurde das österreichische Fremdengesetz von 1992 (§§ 18 ff.) zugrundegelegt, demzufolge gegen einen Ausländer ein Aufenthaltsverbot zu verhängen war, wenn er wiederholt für ähnliche Straftaten verurteilt worden war oder mehrfach schwere Ordnungswidrigkeiten begangen hatte. Vom 11.05.1995 bis zum 11.08.1995 befand sich der Bf. zu 1. in Schubhaft81. Nachdem eine Beschwerde zum VfGH erfolglos geblieben war, berief sich der Bf. zu 1. vor dem VwGH auf das Assoziierungsabkommen EWG–Türkei und beantragte eine Vorlage zum EuGH. Der VwGH wies die Beschwerde am 04.12.1996 zurück, da der Bf. zu 1. nicht nachgewiesen habe, dass er selbst oder ein Familienangehöriger die für die Begründung assoziationsrechtlicher Rechte nach Art. 6 f. ARB 1/80 geforderten Mindestzeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt erfüllt habe82. Auch seien Verfahrensrügen gegen die entsprechenden Behördenentscheidungen unterblieben. Nach seiner Ausweisung aus Österreich im Juni 1997 reiste der Bf. zu 1. in die Türkei aus, wo ihn die Bf. zu 2. und 3. mehrfach besuchten. Im März 2001 wurde die Ehe der Bf. zu 1. und 2. durch ein türkisches Gericht geschieden. Die Bf. zu 2. erhielt das alleinige Sorgerecht für die Bf. zu 3.; dem Bf. zu 1. wurde ein Umgangsrecht eingeräumt. Auch nach dem Auslaufen des Aufenthaltsverbots bestanden für den Bf. zu 1. nur sehr beschränkte Möglichkeiten, im Wege der Familienzusammenführung legal nach Österreich zurückzukehren.

80 Hierzu EGMR, Urt. v. 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (= ÖJZ 2003, 158), Rn. 9 ff. 81 Österr. Terminus für Abschiebungshaft. 82 Näher VwGH, Erkenntnis v. 04.12.1996, Geschäftszahl 95/21/0897, abrufbar unter: http://www.ris.bka.gv.at/Vwgh/.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

bb) Verfahren vor dem EGMR Mit ihrer am 18.07.1997 erhobenen und am 01.11.1998 an den EGMR übergeleiteten Menschenrechtsbeschwerde rügten die Bf. mit Unterstützung der türkischen Regierung eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK durch das Aufenthaltsverbot gegen den Bf. zu 1. Sie trugen vor, dass der darin liegende Eingriff einer gesetzlichen Grundlage i. S. d. Art. 8 Abs. 2 EMRK entbehrt habe, da das nationale Recht durch unmittelbar anwendbares Europarecht verdrängt worden sei. Der VwGH habe aber das Assoziierungsabkommen und insbesondere den ARB 1/80 willkürlich nicht angewandt. Außerdem hielten die Bf. das Aufenthaltsverbot für unverhältnismäßig, da der Bf. zu 1. seine gesamten Familienbande in Österreich habe und lediglich zu geringen Strafen wegen Bagatelldelikten verurteilt worden sei. Unter Berufung auf Art. 8 und 6 EMRK beanstandeten die Bf. ferner die vom VwGH unterlassene Vorlage zum EuGH. Am 22.05.2001 erklärte der EGMR die Art. 8 EMRK betreffenden Rügen für zulässig83. Das Art. 6 EMRK betreffende Vorbringen wurde dagegen als unzulässig zurückgewiesen, da ausländerrechtlichen Entscheidungen der von Art. 6 Abs. 1 EMRK geforderte zivil- oder strafrechtliche Bezug fehle84. In seinem Urteil zur Begründetheit stellte der EGMR am 31.10.2002 zunächst fest, dass für die Beurteilung des Familienlebens der Zeitpunkt der Rechtskraft des Aufenthaltsverbots maßgebend sei85. Dieses habe die Trennung des Bf. zu 1. von seiner Lebensgefährtin und der gemeinsamen Tochter bewirkt und sei daher als Eingriff in das Recht aus Art. 8 EMRK einzustufen86. In der Rechtfertigungsprüfung untersuchte der Gerichtshof anschließend, ob der Eingriff gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK gesetzlich vorgesehen war87. Hierzu verwies er allgemein auf die Prärogative der nationalen Gerichte bei der Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts. Vorliegend habe sich der VwGH detailliert mit dem Verhältnis zwischen dem österreichischen Fremdengesetz als nationaler Rechtsgrundlage und dem europäischen Assoziationsrecht auseinandergesetzt, das Vorbringen des Bf. zu 1. zur Erfüllung der Voraussetzungen des ARB 1/80 aber nicht für ausreichend gehalten. Dies genügte dem EGMR, um das Bestehen einer gesetzlichen Grundlage für das Aufenthaltsverbot zu be83

EGMR, Teilentsch. v. 22.05.2001, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97. Siehe bereits o., Teil 2, A. IV. 1. c). 85 EGMR, Urt. v. 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (= ÖJZ 2003, 158), Rn. 34 f., 44; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, Rep. 1997-I, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 26.09.1997, El Boujaïdi ./. Frankreich, Rep. 1997VI, Rn. 33; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99, Rn. 25. 86 EGMR, Urt. v. 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (= ÖJZ 2003, 158), Rn. 36. 87 EGMR, a. a. O., Rn. 37 ff. 84

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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jahen, das mit der Verhütung von Straftaten auch einem legitimen Zweck gedient habe. Anschließend bekräftigte der Gerichtshof die Berechtigung der Konventionsstaaten zur Ausweisung krimineller Ausländer, sofern der darin liegende Eingriff in Art. 8 EMRK in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, also durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und insbesondere unter Wahrung eines fairen Interessenausgleichs verhältnismäßig sei88. Bei der Analyse der familiären Situation der Bf. und der Dauer ihres Aufenthalts in Österreich stellte der EGMR einen hohen Integrationsgrad des Bf. zu 1. fest und monierte, dass die österreichischen Behörden versäumt hätten zu untersuchen, ob der Bf. zu 2. der Nachzug in die Türkei zumutbar gewesen sei89. Die vom Bf. zu 1. begangenen Straftaten sah der EGMR zwar nicht als vernachlässigbar, aber doch als minder schwer an, außerdem seien seit April 1994 weitere Delikte ausgeblieben. Angesichts dieser Fallumstände verneinte der Gerichtshof einen gerechten Ausgleich der Interessen, wertete das Aufenthaltsverbot als unverhältnismäßig und nahm einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK an. Zur ursprünglich auch unter Art. 8 EMRK gerügten Nichtvorlage zum EuGH äußerte sich der EGMR hingegen nicht. Auf die Festsetzung einer gerechten Entschädigung nach Art. 41 EMRK verzichtete der Gerichtshof, da er die von den Bf. geltend gemachten Vermögensschäden für nicht nachgewiesen hielt und ansonsten die Feststellung des Konventionsverstoßes als ausreichende Genugtuung ansah90. Nach billigem Ermessen wurden den Bf. lediglich 8.000,– A für ihre Kosten und Auslagen in den gerichtlichen Verfahren zugesprochen. Österreich hat diese Erstattung geleistet und dem Bf. zu 1. zudem einen neuen Aufenthaltstitel angeboten91. b) Yagiz ./. Österreich (1999) aa) Sachverhalt und nationales Verfahren92 Der Bf., der 1958 geborene türkische Staatsangehörige Sevket Yagiz, reiste 1989 illegal nach Österreich ein, wo er nach Festsetzung einer Geldstrafe eine regelmäßig erneuerte Aufenthaltserlaubnis erhielt und als Arbeiter beschäftigt war. 1991 folgte ihm seine Ehefrau mit den beiden 1975 bzw. 1985 geborenen Kindern aus der Türkei nach. Nachdem der Bf. 1993 und 1994 wegen Trunken88

EGMR, a. a. O., Rn. 41 f. EGMR, a. a. O., Rn. 43. 90 EGMR, a. a. O., Rn. 50 f. 91 Resolution CM/ResDH(2009)117 betr. die Urteile des EGMR in den Fällen Yildiz, Jakupovic, Radovanovic und Maslov ./. Österreich, angenommen vom Ministerkomitee am 03.12.2009. 92 EGMR, Entsch. v. 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96, pdf-Dok. S. 2 f. 89

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

heit im Straßenverkehr und Verweigerung eines Atemalkoholtests zu Geldstrafen verurteilt worden war, verhängte die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck gegen ihn am 09.02.1995 ein auf das Fremdengesetz von 1992 gestütztes Aufenthaltsverbot von fünf Jahren. Hiergegen beschritt der Bf. den österreichischen Rechtsweg und berief sich u. a. auf das Assoziierungsabkommen EWG–Türkei und die Vorschriften zu seiner Durchführung. In letzter Instanz bestätigte der VwGH am 20.03.1996 die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltsverbots mit der Begründung, dass eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vorliege und die privaten Interessen des Bf. gebührend berücksichtigt worden seien93. bb) Verfahren vor dem EGMR Am 15.05.1996 erhob der Bf. Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg und rügte eine Verletzung seines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK94. Das Aufenthaltsverbot zwinge ihn zu einer Trennung von seiner Familie, obwohl die begangenen Straftaten nicht schwerwiegend gewesen seien, und verstoße gegen das europäische Assoziationsrecht, das türkischen Arbeitnehmern nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zum Arbeitsmarkt und ein Aufenthaltsrecht gewähre. Außerdem dürften Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Sicherheit gegen solche Arbeitnehmer nicht allein auf strafrechtliche Verurteilungen gestützt werden, sondern müssten durch das persönliche Verhalten des Betroffenen gerechtfertigt sein. Der EGMR verwies zunächst generell auf die Rechtsprechung der EKMR, derzufolge die Ausweisung eines Ausländers nicht in Art. 8 EMRK eingreife, wenn enge Familienmitglieder ihn vernünftigerweise begleiten könnten oder seine Anwesenheit im Konventionsstaat nur bedingt und vorläufig sei95. Vorliegend ging der Gerichtshof indes von einem Eingriff aus, da der Bf. die Perspektive eines langfristigen Aufenthaltsrechts gehabt habe. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung96 hielt der EGMR das Fremdengesetz für eine ausreichende gesetzliche Grundlage. Selbst wenn das Assoziierungsabkommen mit der Türkei hier unmittelbar anwendbar sein sollte, habe der Bf. nicht dargetan, dass er daraus Rechte ableiten könne, die von den österreichischen Behörden missachtet worden seien. Der Gerichtshof führte weiter aus, dass das Aufenthaltsverbot der Verhütung von Straftaten gedient habe und in Anbetracht aller Umstände verhältnismäßig sei. Denn der Bf. sei erst als Erwachsener nach Österreich gekommen und habe dort 93 VwGH, Erkenntnis v. 20.03.1996, Geschäftszahl 96/21/0153, abrufbar unter: http://www.ris.bka.gv.at/Vwgh/. 94 EGMR, Entsch. v. 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96, pdf-Dok. S. 3 f. 95 EGMR, a. a. O., S. 4; unter Verweis auf EKMR, Entsch. v. 08.12.1981, X. ./. Deutschland, DR 27, 243; EKMR, Entsch. v. 17.12.1976, Agee ./. Vereinigtes Königreich, DR 7, 164, Nr. 7729/76. 96 EGMR, Entsch. v. 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96, pdf-Dok. S. 4 f.

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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lediglich dreieinhalb Jahre zusammen mit seiner Familie gelebt. Es gebe daher keine Anzeichen für einen Verlust der sozialen Bindungen in der Türkei, so dass auch der Familie die Rückkehr dorthin zugemutet werden könne. Folglich lehnte der EGMR einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK ab und erklärte die Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 Abs. 3 EMRK für unzulässig. c) Caglar ./. Deutschland (2000) aa) Sachverhalt und nationales Verfahren97 Der Bf., der 1946 geborene türkische Staatsangehörige Ahmed Duran Caglar, reiste 1971 als Arbeitnehmer nach Deutschland ein und erhielt 1987 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Seine Ehefrau und die 1964, 1968 und 1970 in der Türkei geborenen Kinder folgten ihm 1972 nach. Am 12.07.1988 wurde der Bf. wegen Drogenhandels festgenommen und am 06.11.1991 vom LG Darmstadt zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Während der Haftzeit arbeitete er bei einem privaten Unternehmen, das ihn nach der vorzeitigen Haftentlassung am 04.03.1993 noch sechs Monate weiterbeschäftigte. Nach mehreren Anhörungen verfügte die zuständige Verwaltungsbehörde am 01.12.1993 in Anwendung von §§ 47 f. Ausländergesetz98 die Ausweisung des Bf., wobei sie auf die Abschreckungswirkung gegenüber anderen Ausländern verwies und aus dem persönlichen Tatverhalten des Bf. ein spezifisches Risiko erneuter Straffälligkeit ableitete. Die hiergegen nach erfolglosem Widerspruchsverfahren gerichtete Klage des Bf. wurde vom VG Darmstadt am 03.03.1998 abgewiesen. Der Bf. habe gewöhnlich in den Restaurants, in denen er beschäftigt gewesen sei, in professioneller Weise mit Heroin gehandelt und erst sehr spät ein Geständnis abgelegt. Angesichts der von der Drogenkriminalität ausgehenden besonders schweren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit sei die Ausweisung des Bf. auch aus generalpräventiven Gründen und trotz der langen Dauer von Aufenthalt und legaler Beschäftigung in Deutschland rechtmäßig. In den weiteren Instanzen vor dem Hessischen VGH und dem BVerfG blieb der Bf. 1999 ebenfalls ohne Erfolg. In einem zweiten gerichtlichen Verfahren ging der Bf. dann gegen die von der Verwaltung zum 15.07.1999 angedrohte Abschiebung in die Türkei vor. Bis zur Entscheidung des EGMR wurden jedoch mit Ausnahme einer noch vor dem BVerfG 97 EGMR, Entsch. v. 07.12.2000, Caglar ./. Deutschland, Nr. 62444/00, pdf-Dok. S. 2 ff. 98 Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern im Bundesgebiet v. 09.07.1990, BGBl. 1990 I, S. 1354, 1356, außer Kraft am 01.01.2005. Danach war ein nicht privilegierter Ausländer bei einer rechtskräftigen strafrechtlichen Verurteilung zu mindestens drei Jahren Freiheitsentzug auszuweisen. Vgl. jetzt § 53 AufenthG (Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet, BGBl. 2008 I, S. 162, zuletzt geändert durch BGBl. 2016 I, S. 3155).

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

anhängigen Verfassungsbeschwerde alle Rechtsmittel des Bf. von den deutschen Gerichten zurückgewiesen. bb) Verfahren vor dem EGMR In seiner Zulässigkeitsentscheidung vom 07.12.2000 behandelte der EGMR die vom Bf. am 26.05.2000 gegen seine bevorstehende Abschiebung erhobene Beschwerde, mit der die Verletzung von Art. 3, 8 und 6 EMRK geltend gemacht wurde99. Zu Art. 3 EMRK trug der Bf. vor, dass er seit 30 Jahren nicht mehr in der Türkei gewesen sei und ihm dort eine erneute strafrechtliche Verurteilung sowie eine erhöhte Selbstmordgefährdung drohten. Dies genügte dem Gerichtshof jedoch nicht als Nachweis für ein substantielles Risiko von Folter oder unmenschlicher Behandlung i. S. d. Art. 3 EMRK, so dass er einen Verstoß gegen diese Konventionsgarantie ablehnte. Weiterhin rügte der Bf. einen angesichts seines langjährigen Aufenthalts in Deutschland unverhältnismäßigen Eingriff in Art. 8 EMRK. Hierzu führte er aus, dass er nach seiner Verurteilung 1991 nicht wieder straffällig geworden sei und seine unter psychischen Problemen leidende Frau seiner Hilfe bedürfe. Der EGMR bejahte kurz das Vorliegen sowohl eines Eingriffs als auch einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage, ferner diene die Maßnahme auch der Verhütung von Straftaten und der Aufrechterhaltung der Ordnung. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigte der Gerichtshof zwar den langen rechtmäßigen Aufenthalt und die Familienbande des Bf. in Deutschland, betonte demgegenüber aber die Schwere der begangenen Straftat. Angesichts der verheerenden Wirkungen von Drogen sei ein entschlossenes Durchgreifen der Behörden gegenüber denjenigen, die aktiv zur Verbreitung dieses Übels beitrügen, verständlich100. Trotz der mit der Abschiebung für den Bf. verbundenen Härte liege daher angesichts des den Konventionsstaaten unter diesen Umständen verbleibenden Einschätzungsspielraums kein unverhältnismäßiger Eingriff vor, so dass eine Verletzung von Art. 8 EMRK ausscheide. Abschließend bezog sich der Bf. auf das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK und machte neben Anhörungsfehlern und einer überlangen Verfahrensdauer geltend, dass das VG Darmstadt eine Vorlage zum EuGH versäumt habe. Dazu wies er darauf hin, dass eine auf generalpräventive Erwägungen gestützte Ausweisung nach der Rechtsprechung des EuGH mit dem Ordre-publicVorbehalt des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 unvereinbar sei. Auch diese Rüge blieb indes ohne Erfolg, da ausländerrechtliche Entscheidungen nicht vom Schutzbe99 EGMR, Entsch. v. 07.12.2000, Caglar ./. Deutschland, Nr. 62444/00, pdf-Dok. S. 5 ff. 100 EGMR, a. a. O., S. 8; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, Rep. 1998-I, Rn. 54.

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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reich des Art. 6 EMRK umfasst sind101. Die Beschwerde wurde damit insgesamt für unzulässig erklärt und zurückgewiesen. 2. Rechtslage und Bewertung nach europäischem Assoziationsrecht a) Existenz einer assoziationsrechtlichen Rechtsposition Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, wie sie in den geschilderten Fällen ergangen sind, fallen von vornherein nur dann in den Anwendungsbereich des Europarechts, wenn dieses den betroffenen Personen überhaupt eine aufenthaltsrechtliche Position einräumt. Während Unionsbürger ohne weiteres ein europarechtliches Aufenthaltsrecht in anderen Mitgliedstaaten innehaben102, kommt bei türkischen Staatsangehörigen eine Privilegierung kraft Assoziationsrechts in Betracht103, das einen integrierenden Bestandteil der Europarechtsordnung bildet104. Gemäß Art. 6 ARB 1/80 verfestigt sich die arbeitsmarkt- und aufenthaltsrechtliche Rechtsstellung türkischer Arbeitnehmer stufenweise in Abhängigkeit von der Beschäftigungsdauer: Ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat entsteht frühestens, wenn der türkische Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt dieses Staates angehört105, seit einem Jahr bei demselben Arbeitgeber ordnungsgemäß beschäftigt ist und dort auch weiterhin arbeitet. Nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung bleibt das Aufenthaltsrecht auch bei einem Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber im selben Beruf erhalten, nach vier Jahren besteht es dann unabhängig von der Art der ausgeübten Erwerbstätigkeit. Für nachziehende oder im Aufnahmemitgliedstaat geborene Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt angehörenden türkischen Arbeitnehmers ergibt sich aus Art. 7 S. 1 ARB 1/80 ein Aufenthaltsrecht, wenn sie mindestens drei Jahre lang einen gemeinsamen Wohnsitz mit dem Arbeitnehmer hatten106. Bei Kindern genügt nach 101

Siehe o., Teil 2, A. IV. 1. c). Siehe o., A. I., II., IV. 103 Siehe bereits o., A. III. Ausführlich Fehrenbacher, ZAR 2008, 335 (336 ff.); Karger, ZAR 2008, 228 (228 ff.); Can, S. 123 ff.; Gutmann, S. 74 ff., 97 ff., 114 ff.; M. Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, § 15, Rn. 46 f.; Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 AEUV, Rn. 34 ff.; Akyürek, Status, in: Bauer/Cruz Villalón/IliopoulosStrangas, S. 77 (77 ff.). 104 EuGH, Urt. v. 30.09.1987, Demirel ./. Stadt Schwäbisch Gmünd, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719, Rn. 7; EuGH, Urt. v. 20.09.1990, Sevince ./. Staatssecretaris van Justitie, Rs. C-192/89, Slg. 1990, I-3461, Rn. 9 f.; Akyürek, Status, in: Bauer/Cruz Villalón/Iliopoulos-Strangas, S. 77 (77). 105 Diese Voraussetzung erfüllen alle Arbeitnehmer, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaates nachkommen und das Recht haben, eine Berufstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet auszuüben; siehe EuGH, Urt. v. 26.11.1998, Birden ./. Stadtgemeinde Bremen, Rs. C-1/97, Slg. 1998, I-7747, Rn. 51; EuGH, Urt. v. 10.02.2000, Nazli et al., Rs. C-340/97, Slg. 2000, I-957, Rn. 31; Marx, § 3, Rn. 98 ff. 106 Hierzu EuGH, Urt. v. 18.07.2007, Derin, Rs. C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Rn. 47 ff., m.w. N.; siehe auch EuGH, Urt. v. 25.09.2008, Er, Rs. C-453/07, Slg. 2008, I-7299, Rn. 25 ff. 102

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

Art. 7 S. 2 ARB 1/80 eine abgeschlossene Berufsausbildung im Aufnahmemitgliedstaat, sofern ein Elternteil dort seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war. Diese Rechte können allerdings wieder erlöschen, wenn der Betroffene den Aufnahmemitgliedstaat während eines erheblichen Zeitraums ohne berechtigte Gründe verlässt107. Die Prüfung, ob die im ARB 1/80 festgelegten Voraussetzungen für das Bestehen einer Assoziationsrechtsstellung im konkreten Einzelfall tatsächlich erfüllt sind, obliegt den zuständigen nationalen Stellen108, wobei die sich auf das Assoziationsrecht berufenden türkischen Staatsangehörigen allerdings regelmäßig die erforderlichen Nachweise zu erbringen haben. Im Fall Yildiz ./. Österreich hat der Bf. dies nach den Ausführungen der österreichischen Gerichte unterlassen, so dass die Anwendbarkeit des Assoziationsrechts verneint wurde109. In den beiden anderen Ausgangsfällen wurden diesbezüglich hingegen keine ausdrücklichen Feststellungen getroffen. Im Fall Yagiz ./. Österreich war der Bf. als Arbeiter beschäftigt, und die Behörde bezog sich selbst auf das Assoziationsrecht; im Fall Caglar ./. Deutschland konnte der Bf. einen langjährigen Aufenthalt als Arbeitnehmer vorweisen. Auf dieser unvollständigen Tatsachengrundlage ist zwar keine abschließende Bewertung der Fälle nach dem ARB 1/80 möglich. Soweit ersichtlich, war jedoch die Betroffenheit des Assoziationsrechts in den zugrundeliegenden nationalen Verfahren nicht streitig. Daher wird hiervon auch in der folgenden Darstellung ausgegangen. b) Anforderungen an die Entziehung des Aufenthaltsrechts Assoziationsrechtlich begründete Aufenthaltsrechte türkischer Staatsangehöriger in den EU-Mitgliedstaaten dürfen gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit entzogen werden110. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist dieser Ordre-public-Vorbehalt so weit wie möglich nach den für die Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb der EU geltenden Grundsätzen (siehe Art. 45 Abs. 3 AEUV) auszulegen111. Danach 107 EuGH, Urt. v. 18.07.2007, Derin, Rs. C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Rn. 54 ff.; EuGH, Urt. v. 16.02.2006, Torun, Rs. C-502/04, Slg. 2006, I-1563, Rn. 24 f.; EuGH, Urt. v. 07.07.2005, Aydinli, Rs. C-373/03, Slg. 2005, I-6181, Rn. 27; EuGH, Urt. v. 16.03.2000, Ergat, Rs. C-329/97, Slg. 2000, I-1487, Rn. 48; Fehrenbacher, ZAR 2008, 335 (340 ff.); Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, S. 531 ff., Rn. 1602 ff. 108 Vgl. EuGH, Urt. v. 18.07.2007, Derin, Rs. C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Rn. 43. 109 Siehe o., 1. a) aa); zur konventionsrechtlichen Überprüfbarkeit siehe u., 3. b) bb) (1). 110 EuGH, Urt. v. 10.02.2000, Nazli et al., Rs. C-340/97, Slg. 2000, I-957, Rn. 44. 111 EuGH, a. a. O., Rn. 55 ff.; EuGH, Urt. v. 11.11.2004, Cetinkaya, Rs. C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Rn. 42 ff.; EuGH, Urt. v. 02.06.2005, Dörr und Ünal, Rs. C-136/03, Slg. 2005, I-4759, Rn. 62 ff.; EuGH, Urt. v. 04.10.2007, Polat, Rs. C-349/06, Slg. 2007, I-8167, Rn. 29 f.; Karger, ZAR 2008, 228 (230 f.); Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 232 f.; Steinebach/Günes¸, ZAR 2010, 97 (99); Brosius-Gersdorf, Migration, in:

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setzt die Heranziehung des Begriffs der öffentlichen Ordnung voraus, dass über eine einfache Gesetzesverletzung hinaus eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt112. Eine Ausweisung ist nur zulässig, wenn die Einzelfallprüfung ergibt, dass das persönliche Verhalten des Ausländers auf eine konkrete und gegenwärtige Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet113. Im Rahmen dieser Prognose sind auch nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Tatsachen zugunsten des Ausländers vom zuständigen Gericht zu berücksichtigen114. Dagegen ist es insbesondere nicht mit dem Europarecht vereinbar, wenn die Ausweisung auf generalpräventive Gesichtspunkte gestützt oder aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung automatisch verfügt wird115. Für Fälle von Betäubungsmittelkriminalität gelten im Vergleich zu sonstigen Straftaten anscheinend keine generell strengeren Regeln116. Weiterhin sind stets die allgemeinen, sich insbesondere aus dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ergebenden grundrechtlichen Begrenzungen zu beachten117. Während diese Anforderungen insgesamt den Kriterien entsprechen, die nach Art. 27 Abs. 1, 2 und Art. 28 Abs. 1 RiLi 2004/38/EG für die Ausweisung von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen gelten, lässt sich der durch

Bauer/Cruz Villalón/Iliopoulos-Strangas, S. 11 (23 f.); sowie bereits W. Cremer, InfAuslR 1995, 138 (139 ff.). 112 EuGH, Urt. v. 10.02.2000, Nazli et al., Rs. C-340/97, Slg. 2000, I-957, Rn. 57; EuGH, Urt. v. 04.10.2007, Polat, Rs. C-349/06, Slg. 2007, I-8167, Rn. 34, 39; sowie bereits EuGH, Urt. v. 27.10.1977, Bouchereau, Rs. 30/77, Slg. 1977, 1999, Rn. 33 ff. 113 EuGH, Urt. v. 10.02.2000, Nazli et al., Rs. C-340/97, Slg. 2000, I-957, Rn. 58, 61; EuGH, Urt. v. 07.07.2005, Dogan, Rs. C-383/03, Slg. 2005, I-6237, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 18.07.2007, Derin, Rs. C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Rn. 74; EuGH, Urt. v. 04.10.2007, Polat, Rs. C-349/06, Slg. 2007, I-8167, Rn. 35, 39. Vgl. auch Art. 12 Richtlinie 2003/109/EG des Rates v. 25.11.2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, ABl. Nr. L 16 v. 23.01.2004, S. 44. 114 EuGH, Urt. v. 11.11.2004, Cetinkaya, Rs. C-467/02, Slg. 2004, I-10895, Rn. 45 ff.; unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Orfanopoulos und Oliveri, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 82; BVerwGE 121, 315 (319 ff.); Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, S. 538, Rn. 1620; Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 233; Steinebach/Günes¸, ZAR 2010, 97 (99). 115 EuGH, Urt. v. 10.02.2000, Nazli et al., Rs. C-340/97, Slg. 2000, I-957, Rn. 59, 63 f.; EuGH, Urt. v. 07.07.2005, Dogan, Rs. C-383/03, Slg. 2005, I-6237, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 18.07.2007, Derin, Rs. C-325/05, Slg. 2007, I-6495, Rn. 74; EuGH, Urt. v. 04.10.2007, Polat, Rs. C-349/06, Slg. 2007, I-8167, Rn. 35; Gutmann, S. 125 f.; Marx, § 7, Rn. 184; Meinel, S. 113; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, S. 539, Rn. 1622. 116 Vgl. EuGH, Urt. v. 10.02.2000, Nazli et al., Rs. C-340/97, Slg. 2000, I-957, Rn. 58; siehe ferner für Unionsbürger EuGH, Urt. v. 23.11.2010, Tsakouridis, Rs. C145/09, Slg. 2010, I-11979, Rn. 39 ff.; EuGH, Urt. v. 19.01.1999, Calfa, Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11, Rn. 22 ff. 117 Vgl. EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Orfanopoulos und Oliveri, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 97 ff. Näher u., 3.

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Art. 28 Abs. 2, 3 RiLi 2004/38/EG vermittelte erhöhte Schutzstandard hingegen nicht auf türkische Assoziationsberechtigte übertragen118. Denn die Richtlinie 2004/38/EG ist gerade spezifisch auf die Unionsbürgerschaft ausgerichtet119, und im Assoziationsverhältnis mit der Türkei verfügt allein der Assoziationsrat über die Kompetenz, die Regeln für die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer festzulegen120. Da er das Assoziationsregime bisher gerade nicht umfassend an die Richtlinie 2004/38/EG angeglichen hat, bleibt der Ausweisungsschutz türkischer Assoziationsberechtigter also insoweit hinter den derzeit für Unionsbürger geltenden Bedingungen zurück. Das Vorliegen der genannten europarechtlichen Voraussetzungen für eine Ausweisung haben jeweils die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte festzustellen121. Sehen nationale Vorschriften eine demgegenüber erleichterte Entziehung des Aufenthaltsrechts vor, wie etwa die zwingende oder Regelausweisung oder eine sonstige schematisierende Entscheidungsdirektive, sind sie europarechtskonform restriktiv zu handhaben oder ganz außer Anwendung zu lassen122. Stets muss eine den europarechtlichen Vorgaben genügende Beurteilung im konkreten Einzelfall vorgenommen werden123. Die dabei zu treffenden tatsächlichen Feststellungen sowie die hierauf beruhenden (Ermessens-)Entscheidungen mit prognostisch-wertendem Charakter sind naturgemäß zwar nur eingeschränkt überprüfbar. Dennoch kann eine nachträgliche Kontrolle ihrer Europarechtskonformität insbesondere daran anknüpfen, ob die in der Rechtsprechung des EuGH elaborierten Beurteilungskriterien beachtet worden sind. Nach diesen Maßstäben ist im Fall Yagiz ./. Österreich nicht erkennbar, dass die österreichischen Stellen bei der Verhängung bzw. Bestätigung des Aufenthaltsverbots gegen den Bf. die Anforderungen des Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nachweislich missachtet hätten. Obwohl angesichts der verhängten moderaten 118 EuGH, Urt. v. 08.12.2011, Ziebell, Rs. C-371/08, Slg. 2011, I-12735, Rn. 60 ff., 74; GA Bot, Schlussanträge v. 14.04.2011 in der Rs. C-371/08, Ziebell, a. a. O., Rn. 42 ff.; BVerwG, Beschl. v. 25.08.2009, NVwZ 2010, 392 (394 ff.), Rn. 30 ff.; Hailbronner, Asyl- und Ausländerrecht, S. 539 f., Rn. 1625; Karger, ZAR 2008, 228 (232 f.); vgl. ferner Kurzidem, ZAR 2010, 121 (126). 119 EuGH, Urt. v. 08.12.2011, Ziebell, Rs. C-371/08, Slg. 2011, I-12735, Rn. 69 ff., 73 f. Siehe auch o., A. IV. 120 Art. 36 Zusatzprotokoll zum Assoziierungsabkommen EWG-Türkei v. 23.11. 1970, in Kraft seit dem 01.01.1973, ABl. Nr. L 293 v. 29.12.1972, S. 4; siehe auch GA Bot, Schlussanträge v. 14.04.2011 in der Rs. C-371/08, Ziebell, Slg. 2011, I-12735, Rn. 54 f. 121 Vgl. EuGH, Urt. v. 04.10.2007, Polat, Rs. C-349/06, Slg. 2007, I-8167, Rn. 39; EuGH, Urt. v. 08.12.2011, Ziebell, Rs. C-371/08, Slg. 2011, I-12735, Rn. 85 f.; EuGH, Urt. v. 23.11.2010, Tsakouridis, Rs. C-145/09, Slg. 2010, I-11979, Rn. 55. 122 Vgl. Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 231 ff. 123 Vgl. EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Orfanopoulos und Oliveri, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 69 ff.; BVerwGE 121, 315 (319 ff.); BVerwG, Urt. v. 02.09.2009, NVwZ 2010, 389 (390), Rn. 22; Marx, § 7, Rn. 184.

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Strafen ein größerer Begründungsaufwand v. a. hinsichtlich des Prognoseaspekts wünschenswert gewesen wäre, beruhte das spezialpräventiv motivierte Aufenthaltsverbot doch auf der Annahme einer erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung, für die die persönliche Delinquenz des Bf. maßgebend war. Beim gegebenen Sachstand lag dieses Vorgehen innerhalb des Einschätzungsspielraums der mitgliedstaatlichen Organe und ist daher von Europarechts wegen nicht zu beanstanden. Dagegen lassen sich im Fall Caglar ./. Deutschland klare Abweichungen von den europarechtlichen Vorgaben feststellen. Da die Ausweisung des Bf. auch generalpräventiv begründet wurde, war sie ermessensfehlerhaft und hätte gerichtlich beanstandet werden müssen. Zudem haben es die Tatsachengerichte unterlassen, auch die der behördlichen Beurteilung nachfolgende persönliche Entwicklung des Bf. in ihre Prognoseentscheidung einzustellen. Im fast neunjährigen Zeitraum zwischen der strafrechtlichen Verurteilung 1991 bis zum letzten Spruch des Hessischen VGH im Jahr 2000 war der Bf. nämlich nicht wieder straffällig geworden, so dass bei der gebotenen Aktualisierung der ursprünglichen Gefahreneinschätzung eine erheblich verminderte Risikolage zu erwarten war. Diese Versäumnisse der deutschen Gerichte führten zu einer signifikanten Unterschreitung des europarechtlich vorgeschriebenen Prüfungsstandards, da die konkrete Anwendung von Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 damit teilweise im Widerspruch zur nunmehr etablierten Rechtsprechung des EuGH stand. Schon weil die zugehörigen europarechtlichen Fragen seinerzeit noch nicht vollständig durch den EuGH geklärt waren, ergab sich für den Hessischen VGH als letztinstanzliches Gericht außerdem die Pflicht zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens124. Die die Ausweisung des Bf. bestätigende letztinstanzliche Gerichtsentscheidung stellt sich somit nicht nur wegen Verstoßes gegen Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 als europarechtswidrig dar, sondern ist auch unter Verletzung der europarechtlichen Vorlagepflicht ergangen. 3. Schutzwirkung von Art. 8 EMRK und Folgen für die Durchsetzbarkeit des Europarechts Obgleich weder der Wortlaut noch die Entstehungsgeschichte von Art. 8 EMRK per se auf eine aufenthaltsrechtliche Dimension dieser Garantie hindeutet125, hat das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens doch auch in dieser Hinsicht eine elementare Bedeutung erlangt126, wie die behandelten Ausgangsfälle ebenfalls verdeutlichen. Bereits die EKMR hat Art. 8 EMRK als universell aufgefasst und schon früh auf aufenthaltsrechtliche Fallkonstellationen an124

Art. 177 Abs. 3 EGV a. F./Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV). Sander, S. 43 ff., 91; A. Zimmermann/Elberling, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 27, Rn. 97. 126 Vgl. Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Art. 8, Rn. 77. 125

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gewandt127. Nachdem in der Praxis der EKMR indes noch verstärkt auf die Möglichkeit der Familienmitglieder eines ausgewiesenen Ausländers abgestellt worden war, mit ihm zusammen den Aufenthaltsstaat zu verlassen128, entwickelte der EGMR maßgeblich seit Anfang der 1990er Jahre eine umfangreiche und zunehmend ausdifferenzierte Rechtsprechung, die insgesamt stärker die menschenrechtlichen Grenzen der staatlichen Ausweisungsbefugnis in den Blick nahm129. Nachfolgend sollen insbesondere die in diesem Rahmen bestehenden Voraussetzungen und Möglichkeiten aufgezeigt werden, europarechtliche Vorgaben in die konventionsrechtliche Prüfung einzubeziehen. a) Grundlinien des Schutzbereichs des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens Im Kontext aufenthaltsbeendender Maßnahmen setzt die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK die Betroffenheit des Privat- oder Familienlebens der potentiell beschwerten Personen voraus130. Diesbezüglich hat der EGMR zunächst vornehmlich das Element des Familienlebens mit dem üblichen weiten Begriffsverständnis herangezogen131. Danach umfasst das Familienleben alle Beziehungen zu nahen Verwandten einschließlich (Groß-)Eltern, Geschwistern sowie Onkeln bzw. Tanten132, soweit zu diesen Personen ein tatsächlich ge-

127 EKMR, Entsch. v. 09.01.1959, X. ./. Belgien, YbECHR 2 (1958–1959), 352 (353); EKMR, Entsch. v. 30.06.1959, X. ./. Schweden, YbECHR 2 (1958–1959), 354 (372 f.); EKMR, Entsch. v. 13.04.1961, X. ./. Belgien, CD 6, 5 (15 f.); EKMR, Entsch. v. 16.07.1965, X. ./. Deutschland, CD 17, 28 (30); EKMR, Entsch. v. 12.07.1976, X. ./. Schweiz, DR 6, 124 (125 f.); Sander, S. 91 ff. 128 EKMR, Entsch. v. 16.07.1965, X. ./. Deutschland, CD 17, 28 (30); EKMR, Entsch. v. 12.07.1976, X. ./. Schweiz, DR 6, 124 (125 f.); EKMR, Entsch. v. 19.05. 1977, X. und Y. ./. Deutschland, DR 9, 219 (220 f.); EKMR, Entsch. v. 15.12.1977, X. ./. Deutschland, DR 12, 197 (198 ff.); Hobe, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, in: Hailbronner/Klein, Einwanderungskontrolle, S. 195 (199); Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 236. 129 Grundlegend EGMR, Urt. v. 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Ser. A Vol. 193, Rn. 36 f., 43 ff.; Thym, EuGRZ 2006, 541 (544 f.). 130 Vgl. A. Zimmermann/Elberling, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 27, Rn. 100. Die Opfereigenschaft ist auch gegeben, wenn die jeweilige Maßnahme trotz Rechtskraft noch nicht vollzogen wurde; siehe Caroni, S. 172, m.w. N.; sowie allgemein Art. 34 EMRK und o., Teil 1, C. II. 131 Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, Art. 8 EMRK, Rn. 40; Thym, EuGRZ 2006, 541 (542 f.). 132 EGMR, Urt. v. 09.06.1998, Bronda ./. Italien, Rep. 1998-IV, Rn. 48, 50; EKMR, Bericht v. 27.06.1995, X., Y. und Z. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 21830/93, Rn. 52 ff.; Thym, EuGRZ 2006, 541 (542 f.); ausführlich Sander, S. 51 ff. Auch bei stabilen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften sowie bei Pflegeelternschaft kann Familienleben vorliegen; siehe EGMR, Urt. v. 22.07.2010, P. B. und J. S. ./. Österreich, Nr. 18984/02, Rn. 30; EGMR, Urt. v. 27.04.2010, Moretti und Benedetti ./. Italien, Nr. 16318/07, Rn. 47 ff.

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lebtes Nähe- oder Abhängigkeitsverhältnis besteht133. In der jüngeren ausländerrechtlichen Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs lässt sich dann eine Neuausrichtung der Abgrenzung zwischen Familien- und Privatleben dahingehend erkennen, dass sich der Begriff des Familienlebens nunmehr auf die aus (Ehe-)Partnern und minderjährigen Kindern134 bestehende „Kernfamilie“ beschränkt, wohingegen die Gesamtheit aller übrigen familiären und sonstigen sozialen, auch beruflichen Beziehungen einer Person dem Privatleben zugeordnet wird135. Obwohl beide Bereiche durch Art. 8 EMRK formell gleichrangig geschützt sind, kann sich diese Differenzierung spürbar auf den inhaltlichen Ablauf der konventionsrechtlichen Prüfung auswirken136: So greift der Schutz des Familienlebens zwar bereits mit dem Bestehen der Kernfamilie, erfordert aber nicht notwendigerweise deren Verbleib im Aufenthaltsstaat137. Demgegenüber setzt das Privatleben ein über längere Zeit etabliertes Beziehungsgeflecht voraus, das regelmäßig ortsgebunden ist und daher nach einer Entziehung des Aufenthaltsrechts typischerweise nicht mehr aufrechterhalten werden kann138. Tendenziell entfaltet die Garantie des Familienlebens bei einer kürzeren Aufenthaltsdauer also die schnellere, das Recht auf Privatleben nach längerem Aufenthalt indes die intensivere Schutzwirkung gegenüber aufenthaltsbeendenden Maßnahmen.

133 EGMR, Urt. v. 13.06.1979, Marckx ./. Belgien, Ser. A Vol. 31, Rn. 31; EGMR, Entsch. v. 26.03.2002, Mir ./. Schweiz, Nr. 51268/99, Rn. 2; EGMR, Urt. v. 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00, Rn. 63; EGMR, Urt. v. 27.04.2010, Moretti und Benedetti ./. Italien, Nr. 16318/07, Rn. 46; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Art. 8, Rn. 58, 61; Hobe, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, in: Hailbronner/Klein, Einwanderungskontrolle, S. 195 (198 f.); Wolff, EuR 2005, 721 (725). 134 Der konventionsrechtliche Familienbegriff umfasst auch kinderlose Ehen; Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, Art. 8 EMRK, Rn. 48; A. Zimmermann/Elberling, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 27, Rn. 103; vgl. auch EGMR, Urt. v. 26.05. 1994, Keegan ./. Irland, Ser. A Vol. 290, Rn. 44; EGMR, Urt. v. 03.12.2009, Zaunegger ./. Deutschland, Nr. 22028/04, Rn. 37. 135 EGMR (GK), Urt. v. 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, Rep. 2003-X, Rn. 94 ff., 97; EGMR, Urt. v. 02.06.2005, Znamenskaya ./. Russland, Nr. 77785/01, Rn. 27; EGMR, Urt. v. 16.06.2005, Sisojeva et al. ./. Lettland, Nr. 60654/00, Rn. 102 f.; EGMR, Urt. v. 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00, Rn. 67; EGMR (GK), Urt. v. 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Rep. 2006-XII, Rn. 59; EGMR, Urt. v. 28.06.2007, Kaya ./. Deutschland, Nr. 31753/02, Rn. 56 ff.; EGMR, Urt. v. 17.02.2009, Onur ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27319/07, Rn. 44, 46; siehe auch bereits EGMR, Urt. v. 16.12.1992, Niemietz ./. Deutschland, Ser. A Vol. 251-B, Rn. 29; Thym, EuGRZ 2006, 541 (543); Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Art. 8, Rn. 81; Sander, S. 82 ff.; Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41 (43); Steinebach/Günes¸, ZAR 2010, 97 (100). 136 Hierzu Thym, EuGRZ 2006, 541 (544); Sander, S. 89 f. 137 Vgl. EGMR, Urt. v. 16.06.2005, Sisojeva et al. ./. Lettland, Nr. 60654/00, Rn. 103; siehe auch EGMR, Entsch. v. 23.03.1999, Yagiz ./. Österreich, Nr. 32846/96, pdf-Dok. S. 4. 138 Vgl. EGMR, Urt. v. 07.08.1996, C. ./. Belgien, Rep. 1996-III, Rn. 25; Rainey/ Wicks/Ovey, S. 352.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

Die genannte Definition des Privat- und Familienlebens in Art. 8 EMRK ist autonom konventionsrechtlichen Ursprungs und knüpft trotz ihrer normativen Gesamtprägung im wesentlichen an tatsächliche Umstände an139. Das hat zur Folge, dass die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK insoweit nicht entscheidend von der freizügigkeits- bzw. aufenthaltsrechtlichen Stellung des einzelnen Betroffenen abhängt140, also auch die europarechtliche Rechtslage hier noch nicht adäquat in die konventionsrechtliche Prüfung einfließen kann. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, ob überhaupt ein Familien- oder Privatleben im Aufenthaltsstaat geführt wurde. Ist dies zu verneinen, etwa weil es dort an einer „kernfamiliären“ Beziehung fehlte und der Aufenthalt noch nicht von hinreichender Dauer für eine Verfestigung des Privatlebens war141, kommt Art. 8 EMRK nicht zum Zuge, selbst wenn dem Betroffenen europarechtlich ein Aufenthaltsrecht in dem jeweiligen Staat zusteht. Hier kann sich gerade für zwischen den Mitgliedstaaten kurzfristig mobile Unionsbürger sowie für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige ohne Daueraufenthaltsrecht eine empfindliche Schutzlücke im Konventionsrecht auftun, die über die Garantien des ZP 4 und des ZP 7 nur in Ausnahmefällen wieder zu schließen sein dürfte142. b) Rechtfertigung von Eingriffen aa) Allgemeine Voraussetzungen Greift eine aufenthaltsbeendende Maßnahme in den so definierten Schutzbereich von Art. 8 EMRK ein, bedarf sie der Rechtfertigung gemäß Abs. 2. Danach muss der Eingriff gesetzlich vorgesehen sein, also den Voraussetzungen einer anwendbaren, üblicherweise dem nationalen Recht zu entnehmenden Ermächtigungsgrundlage entsprechen143, die für den Betroffenen zugänglich und in ihrer Wirkung vorhersehbar ist144. Als weitere Anforderung ist normiert, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft für die im einzelnen genannten Schutzgüter notwendig ist. Ausländerrechtliche Verfügungen zur Beendigung des Aufenthalts werden in der Praxis der Konventionsorgane zumeist mit der Aufrechterhaltung der Ordnung oder der Verhütung von Straftaten gerechtfertigt145. 139

Vgl. Daiber, EuR 2007, 406 (409). Näher auch zur dogmatisch uneindeutigen Rechtsprechung des EGMR Hoppe, ZAR 2006, 125 (127 ff.); Eckertz-Höfer, ZAR 2008, 41 (44 f.); beide m.w. N. 141 Die Aufenthaltsdauer als solche stellt hierfür allerdings lediglich ein Indiz dar; siehe EGMR, Entsch. v. 26.03.2002, Mir ./. Schweiz, Nr. 51268/99, Rn. 2; a. A. Thym, EuGRZ 2006, 541 (544, Fn. 29). 142 Siehe u., 4. 143 Näher Sander, S. 138 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18, Rn. 7 ff. 144 EGMR (GK), Urt. v. 09.10.2003, Slivenko ./. Lettland, Rep. 2003-X, Rn. 100; EGMR (GK), Urt. v. 16.02.2000, Amann ./. Schweiz, Rep. 2000-II, Rn. 50. 145 Sander, S. 144 ff.; A. Zimmermann/Elberling, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/ GG, Kap. 27, Rn. 138; siehe auch o., 1. a) bb), b) bb), c) bb). Demgegenüber kommt 140

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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Während bei Vorliegen einer Straftat üblicherweise keine nähere Differenzierung zwischen beiden Eingriffszielen stattfindet146, wird bei nicht strafbewehrten Verstößen etwa gegen das Aufenthaltsrecht auf die Aufrechterhaltung der Ordnung abgestellt147. Geht es um Betäubungsmitteldelikte, insbesondere das Inverkehrbringen verbotener Substanzen, kann der Eingriff zusätzlich auf den Schutz der Gesundheit gestützt werden148. Allgemein müssen aufenthaltsrechtliche Maßnahmen, die zur Verfolgung der genannten Ziele getroffen werden, einen präventiven Charakter haben und auf der Grundlage einer Prognoseentscheidung zur künftigen Gefahrenlage ergehen149. Diesen Aspekt behandelt der EGMR indes erst im Rahmen der konventionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung150. Sie ist auf die Wahrung eines angemessenen Ausgleichs zwischen den widerstreitenden Interessen ausgerichtet151 und wird vom EGMR bei Art. 8 EMRK mit je nach einschlägigem Teilrechtsgebiet variierenden Maßstäben durchgeführt152. Nachdem sich im Aufenthaltsrecht zunächst eine ausnehmend kasuistische und als intransparent kritisierte Straßburger Entscheidungspraxis herausgebildet hatte153, verwendet der EGMR seit dem Boultif-Urteil eine systematisierte Liste der relevanten Abwägungskrite-

den übrigen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Eingriffszielen nur eine untergeordnete praktische Bedeutung zu. 146 Bspw. EGMR, Urt. v. 13.07.1995, Nasri ./. Frankreich, Ser. A Vol. 320-B, Rn. 37; EGMR, Urt. v. 21.10.1997, Boujlifa ./. Frankreich, Rep. 1997-VI, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99, Rn. 40; Sander, S. 144 f. 147 EKMR, Entsch. v. 12.03.1987, Dilawar ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 12408/86; EKMR, Entsch. v. 10.09.1992, M. K. ./. Schweden, Nr. 20470/92; EGMR, Urt. v. 16.06.2005, Sisojeva et al. ./. Lettland, Nr. 60654/00, Rn. 106; Sander, S. 144. Zum restriktiven Verständnis dieses Eingriffsziels Caroni, S. 44; Palm-Risse, S. 349; Hobe, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, in: Hailbronner/Klein, Einwanderungskontrolle, S. 195 (200 f.); Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Art. 8 EMRK, Rn. 610 ff. 148 EKMR, Entsch. v. 19.05.1977, X. und Y. ./. Deutschland, DR 9, 219 (221, 223); EGMR, Urt. v. 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, Rep. 1999-VIII, Rn. 40; EGMR, Urt. v. 13.02.2001, Ezzouhdi ./. Frankreich, Nr. 47160/99, Rn. 29; Sander, S. 145. 149 Sander, S. 145; Hoppe, ZAR 2008, 251 (253). 150 Vgl. EGMR, Urt. v. 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97, Rn. 45 [siehe bereits o., 1. a) bb)]; EGMR, Urt. v. 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, Rep. 2001IX, Rn. 50 f.; EGMR, Urt. v. 27.10.2005, Keles ./. Deutschland, Nr. 32231/02, Rn. 59 f.; Sander, S. 148. 151 Bspw. EGMR, Urt. v. 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99, Rn. 41; vgl. auch EGMR, Urt. v. 22.03.2007, Maslov ./. Österreich, Nr. 1638/03, Rn. 33; EGMR, Urt. v. 22.05.2008, Emre ./. Schweiz, Nr. 42034/04, Rn. 65; Sander, S. 149. 152 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 22, Rn. 43; vgl. auch Pätzold, in: Karpenstein/ Mayer, Art. 8 EMRK, Rn. 97. 153 Abweichendes Sondervotum des Richters Martens zu EGMR, Urt. v. 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, Rep. 1996-II, 613, Rn. 4; Sherlock, ELRev. 23 (1998), Human Rights Survey, 62 (70); Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 236; Sander, S. 151 f.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

rien154. Zu den Leitlinien der aufenthaltsrechtlichen Verhältnismäßigkeitskontrolle zählen demzufolge (1) die Natur und Schwere des begangenen Delikts, (2) die seitdem vergangene Zeit und das Verhalten des Ausländers währenddessen, (3) die Aufenthaltsdauer im Konventionsstaat, (4) die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, (5) die familiäre Situation des Ausländers (z. B. Ehedauer), (6) die etwaige Kenntnis des Partners von der Straffälligkeit bei Beginn der familiären Beziehung, (7) gemeinsame Kinder und deren Alter sowie (8) die für die Familie zu erwartenden Schwierigkeiten im Herkunftsstaat. In der Folgerechtsprechung ist dieser Katalog inzwischen noch um (9) das Wohl und mögliche ausweisungsbedingte Probleme der Kinder sowie (10) die Stärke der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen des Ausländers an Aufenthalts- und Herkunftsstaat ergänzt worden155. Der Gerichtshof betont allerdings, dass die genannten Kriterien in Abhängigkeit von den spezifischen Umständen des jeweiligen Einzelfalls (z. B. Bestehen von Familien- oder Privatleben bzw. eines kriminellen Hintergrundes) selektiv herangezogen und unterschiedlich gewichtet werden können156. Mitunter kann der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch erfordern, dass durch die Befristung der Ausweisung eine Rückkehrperspektive eröffnet wird157. Im Hinblick auf die Ein154 Grundlegend EGMR, Urt. v. 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, Rep. 2001-IX, Rn. 48; weiterhin EGMR, Urt. v. 11.07.2002, Amrollahi ./. Dänemark, Nr. 56811/00, Rn. 35; EGMR, Urt. v. 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99, Rn. 32; EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aoulmi ./. Frankreich, Rep. 2006-I, Rn. 83; EGMR, Urt. v. 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99, Rn. 42; EGMR (GK), Urt. v. 23.06. 2008, Maslov ./. Österreich, Rep. 2008, Nr. 1638/03, Rn. 68. Ausführlich zu den einzelnen Kriterien und der zugehörigen Spruchpraxis Sander, S. 152 ff.; siehe auch Hoppe, ZAR 2008, 251 (253). 155 EGMR (GK), Urt. v. 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Rep. 2006-XII, Rn. 58; EGMR, Urt. v. 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Deutschland, Nr. 69735/01, Rn. 59; EGMR (GK), Urt. v. 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Rep. 2008, Nr. 1638/03, Rn. 68; Sander, S. 153, 167 ff.; Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 237; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 420 f. 156 EGMR (GK), Urt. v. 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Rep. 2008, Nr. 1638/03, Rn. 70; EGMR, Urt. v. 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99, Rn. 33; Sander, S. 153; A. Zimmermann/Elberling, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 27, Rn. 139 ff., 143 f. 157 EGMR, Urt. v. 17.04.2003, Yilmaz ./. Deutschland, Nr. 52853/99, Rn. 48 f.; EGMR, Urt. v. 10.07.2003, Benhebba ./. Frankreich, Nr. 53441/99, Rn. 37. Allerdings

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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stufung von Straftaten ist des weiteren bemerkenswert, dass die Betäubungsmittelkriminalität und gerade die aktive Verbreitung von Drogen vom EGMR als besonders schwerwiegend gewertet wird158; ähnlich liegt es bei Delikten gegen Leib und Leben159 oder die sexuelle Selbstbestimmung160. Selbst in diesen Fällen kann jedoch nicht automatisch auf die Angemessenheit des Eingriffs geschlossen werden, vielmehr ist stets eine Gesamtschau vonnöten161. Gelangt der EGMR zu dem Ergebnis, dass eine aufenthaltsbeendende Maßnahme gegen Art. 8 EMRK verstößt, ist der verurteilte Konventionsstaat verpflichtet, dem betreffenden Ausländer ohne nennenswerte Verzögerung die Wiedereinreise zu ermöglichen162. bb) Einbeziehung des Europarechts Gegenüber der Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK bietet die stärker an rechtlichen Faktoren orientierte Kontrolle der Eingriffsrechtfertigung mehr Möglichkeiten für eine Berücksichtigung des Europarechts in der konventionsrechtlichen Prüfung. (1) Zugrundeliegende Tatsachen Dies setzt freilich grundlegend voraus, dass überhaupt die Tatbestandsvoraussetzungen der jeweiligen europarechtlichen Norm erfüllt sind. In aufenthaltsrechtlichen Streitigkeiten ist hierfür z. B. regelmäßig entscheidend, wie lange sich der Ausländer in einem Mitgliedstaat aufgehalten hat oder dort beschäftigt war163. Ist die entsprechende Faktenlage streitig oder unklar164, muss ein sich vor dem EGMR auf das Europarecht berufender Bf. üblicherweise nach der allgemeigenügt regelmäßig die Einrichtung eines separaten Befristungsverfahrens; EGMR, Urt. v. 28.06.2007, Kaya ./. Deutschland, Nr. 31753/02, Rn. 68 f.; näher Hoppe, ZAR 2008, 251 (257 f.); siehe auch Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 240. 158 EGMR, Urt. v. 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, Rep. 1998-I, Rn. 54; EGMR, Urt. v. 30.11.1999, Baghli ./. Frankreich, Rep. 1999-VIII, Rn. 48; EGMR, Urt. v. 17.04. 2003, Yilmaz ./. Deutschland, Nr. 52853/99, Rn. 46; EGMR (GK), Urt. v. 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Rep. 2008, Nr. 1638/03, Rn. 80; Sander, S. 154; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 22, Rn. 75; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 420. 159 Vgl. EGMR, Urt. v. 02.08.2001, Boultif ./. Schweiz, Rep. 2001-IX, Rn. 51; EGMR, Entsch. v. 22.06.2004, Ndangoya ./. Schweden, Nr. 17868/03, pdf-Dok. S. 17 f.; EGMR (GK), Urt. v. 18.10.2006, Üner ./. Niederlande, Rep. 2006-XII, Rn. 63. 160 EGMR, Urt. v. 29.01.1997, Bouchelkia ./. Frankreich, Rep. 1997-I, Rn. 51; EGMR, Urt. v. 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Deutschland, Nr. 69735/01, Rn. 61. 161 Vgl. EGMR, Urt. v. 26.09.1997, Mehemi ./. Frankreich, Rep. 1997-VI, Rn. 37; EGMR, Urt. v. 31.01.2006, Sezen ./. Niederlande, Nr. 50252/99, Rn. 43 ff.; Sander, S. 154 f. 162 EGMR, Urt. v. 10.04.2003, Mehemi ./. Frankreich (Nr. 2), Rep. 2003-IV, Rn. 43 ff., 47; Sander, S. 177 f. 163 Siehe z. B. o., 1. a), sowie allgemein 2. a) und A. IV. 164 Zur Beweisbedürftigkeit allgemein Benzing, S. 374 ff.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

nen Beweislastregel affirmanti incumbit probatio165 die Tatsachen beweisen166, die die Anwendbarkeit des Europarechts begründen. Zwar kann der EGMR bei der Prüfung der Rechtssache erforderlichenfalls auch eigene Ermittlungen vornehmen, die die Konventionsstaaten zu unterstützen verpflichtet sind167. In der überwiegenden Zahl der Fälle greift er jedoch auf die tatsächlichen Feststellungen der nationalen Gerichte zurück168. Dieses Vorgehen bietet sich aufgrund deren größerer räumlicher wie zeitlicher Nähe zum faktischen Geschehen169 sowie aus Gründen der Prozessökonomie an, zumal der Gerichtshof eine Funktion als Superrevisionsinstanz ablehnt170. Die Grenze der autonomen Beweiserhebung und Sachverhaltsevaluierung der nationalen Gerichte ist aber jedenfalls erreicht, wenn offenkundige Anzeichen für ein willkürliches, unvernünftiges oder sonst den grundlegenden Prinzipien der EMRK zuwiderlaufendes Verfahren bestehen171. Vor diesem Hintergrund sollten Rechtsschutzsuchende möglichst während des innerstaatlichen Gerichtsverfahrens den Beweis für die ihrer europarechtlichen Rechtsposition zugrundeliegenden Tatsachen antreten. Sollte ihr Vorbringen von den nationalen Gerichten dann ohne sachliche Gründe entweder gar nicht gewürdigt oder evident unrichtig behandelt werden, dürfte ohne weiteres von einer willkürgleichen Konstellation auszugehen sein, die dem EGMR Anlass zur Beanstandung geben wird. Im Ausgangsfall Yildiz ./. Österreich172 fehlte es jedoch an stichhaltigen Anhaltspunkten für ein entsprechendes Fehlverhalten der österreichischen Gerichte. (2) Maßgeblicher Anknüpfungspunkt Sofern nach den festgestellten Tatsachen das Europarecht im konkreten Fall Anwendung findet, gibt es für den EGMR grundsätzlich zwei gangbare methodi165 Benzing, S. 663 f., 670 ff., m.w. N.; T. Thienel, GYIL 50 (2007), 543 (548 ff.); Wenzel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 38 EMRK, Rn. 9 ff. Zu Einschränkungen vgl. EGMR, Urt. v. 13.06.2000, Timurtas¸ ./. Türkei, Rep. 2000-VI, Rn. 66; EGMR, Urt. v. 18.06.2002, Orhan ./. Türkei, Nr. 25656/94, Rn. 266. 166 Zum Beweismaß des EGMR vgl. Benzing, S. 537 ff.; T. Thienel, GYIL 50 (2007), 543 (563 ff.). 167 Siehe Art. 38 EMRK; T. Thienel, GYIL 50 (2007), 543 (546 ff.), m.w. N.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 38 EMRK, Rn. 2 ff.; Wenzel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 38 EMRK, Rn. 4, 6; Benzing, S. 663; Jötten, S. 142. 168 Wenzel, in: Karpenstein/Mayer, Art. 38 EMRK, Rn. 5; Benzing, S. 409; Jötten, S. 138. Siehe beispielhaft auch o., 1. a) bb). 169 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.07.2004, Pla und Puncernau ./. Andorra, Rep. 2004-VIII, Rn. 46. 170 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 15.01.2007, Sisojeva et al. ./. Lettland, Rep. 2007-I, Rn. 89 f.; EGMR (GK), Urt. v. 21.01.1999, García Ruiz ./. Spanien, Rep. 1999-I, Rn. 28 f. 171 EGMR (GK), Urt. v. 15.01.2007, Sisojeva et al. ./. Lettland, Rep. 2007-I, Rn. 89; EGMR, Urt. v. 13.07.2004, Pla und Puncernau ./. Andorra, Rep. 2004-VIII, Rn. 46, 59. 172 Siehe o., 1. a).

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sche Wege, um es bei Art. 8 EMRK in die konventionsrechtliche Rechtfertigungsprüfung zu integrieren173: So kann der Gerichtshof entweder bereits die nationale Ermächtigungsgrundlage am Europarecht messen174 oder aber europarechtswidrige Eingriffe als unverhältnismäßig einstufen. Soweit ersichtlich, ist der erste Weg in der bisherigen Straßburger Rechtsprechung auch im Kontext anderer Konventionsgarantien noch nicht beschritten worden175, was vorwiegend darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Konventionsorgane den innerstaatlichen Stellen bei der Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts gemeinhin die Einschätzungsprärogative eingeräumt haben176. Andererseits hat der Gerichtshof bislang aber auch nicht ausdrücklich ausgeschlossen, dass eine wegen Vorrangs des Europarechts unanwendbare nationale Vorschrift als untaugliche Eingriffsgrundlage zu werten sei. Vielmehr ist ein in diese Richtung gehender Prüfungsansatz im Fall Yildiz ./. Österreich v. a. am erforderlichen Tatsachennachweis gescheitert177. Trotzdem bietet es sich gerade in aufenthaltsrechtlichen Fällen kaum an, die Rechtfertigungsprüfung auf die notwendigerweise generell-abstrakte Ermächtigungsgrundlage auszurichten. Da das Europarecht eine einzelfallbezogene Beurteilung verlangt178 und auch der EGMR entsprechend vorgeht179, wird man in aller Regel die konkrete Gesetzesanwendung im betreffenden Fall180 in den Blick nehmen müssen. Als gut geeignet zur angemessenen Gesamtwürdigung der verschiedenen relevanten Einzelaspekte hat sich die recht flexible Verhältnismäßigkeitsabwägung erwiesen, die in der Straßburger Rechtsprechung zu aufenthaltsrechtlichen Eingriffen üblicherweise den Schwerpunkt der Rechtfertigungsprüfung ausmacht181. Unter den zahlreichen Abwägungskriterien lassen sich auch die Vorgaben des Europarechts berücksichtigen, so dass strukturell eine weitgehende Synchronisierung der europa- und konventionsrechtlichen Standards im Aufenthaltsrecht möglich wird.

173 Vgl. auch o., Teil 3, A. I. 5. b), zu Art. 1 ZP 1, sowie u., Teil 5, D. V. 2., zu Art. 11 EMRK. 174 Siehe allgemein o., Teil 1, B. III. Zum Fehlen einer nationalen Ermächtigungsgrundlage siehe u., II. 3. b) aa), 4. 175 Vgl. o., Teil 3, A. I. 5. b), und u., Teil 5, C. IV., V. 1. 176 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (= ÖJZ 2003, 158), Rn. 38; sowie o., Teil 1, B. III., m.w. N. 177 EGMR, Urt. v. 31.10.2002, Yildiz ./. Österreich, Nr. 37295/97 (= ÖJZ 2003, 158), Rn. 39; siehe bereits o., 1. a) bb). 178 Siehe o., 2. b). 179 Vgl. Thym, EuGRZ 2006, 541 (550 f.); Hoppe, ZAR 2008, 251 (258); ders., ZAR 2006, 125 (126). 180 Die Anwendung eines Gesetzes kann ggf. in restriktiver oder selektiver Weise erfolgen und so im Ergebnis die europa- und konventionsrechtlichen Anforderungen auch dann erfüllen, wenn das ermächtigende Gesetz selbst ihnen nicht genügen sollte. 181 Sander, S. 148.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

(3) Konvergenz- und Divergenzfaktoren Besonders günstig sind die Bedingungen dafür in Bezug auf die spezifisch grundrechtlichen Anforderungen. Denn das bei der Durchführung von Europarecht einschlägige182 Unionsgrundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRC) besitzt nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC den gleichen Gewährleistungsgehalt wie Art. 8 EMRK als korrespondierende Konventionsgarantie183, was insoweit sogar zu einem völligen grundrechtlichen Gleichklang beider Rechtsordnungen führt. Dieser konstitutive inhaltliche Einfluss der EMRK auf das Europarecht184 fördert dann reflexartig auch dessen Durchsetzbarkeit vor dem EGMR. Für die Rezeption weitergehender185 oder sonstiger genuin europarechtlicher Standards, die z. B. dem Sekundärrecht oder der EuGH-Judikatur entstammen können, fehlt es zwar an einer derartigen Rückkopplung an die Konventionsrechtsordnung. Dessen ungeachtet bezieht der EGMR mitunter auch solche Vorgaben in die Verhältnismäßigkeitsprüfung ein, wie besonders das Urteil der Großen Kammer im Fall Maslov ./. Österreich zeigt. Dort griff der Straßburger Gerichtshof nicht nur auf die Richtlinie 2004/38/EG186 zurück, um den Ausweisungsschutz Minderjähriger zu bestimmen187, sondern adaptierte auch die Rechtsprechung des EuGH zur Wertungsrelevanz von Tatsachen, die erst nach der letzten Behördenentscheidung eingetreten sind188. Ferner lassen sich gegenüber automatischen und schematischen Ausweisungen, die generell als unzulässig einzustufen sind189, parallele Schutzstrukturen feststellen. Mitunter kommt es jedoch auch zu Abweichungen der konventionsrechtlichen Beurteilung des EGMR von der Europarechtslage. So findet sich das europarechtliche Verbot generalpräventiver Ausweisungen190 in der Straßburger Recht182

Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC. Siehe Jarass, EU-Grundrechte, § 12, Rn. 2; Meyer/Borowsky, Art. 52 GRC, Rn. 30 ff., 32; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Art. 52 GRC, Rn. 53 f., 56 ff.; Naumann, EuR 2008, 424 (425 ff., 434 f.). 184 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.06.2006, Parlament ./. Rat, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I5769, Rn. 52 ff.; EuGH, Urt. v. 27.04.2006, Kommission ./. Deutschland, Rs. C-441/02, Slg. 2006, I-3449, Rn. 109; EuGH, Urt. v. 29.04.2004, Orfanopoulos und Oliveri, verb. Rs. C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 98 f.; Thym, NJW 2006, 3249 (3250); ders., EuGRZ 2006, 541 (553 f.); ders., DVBl. 2008, 1346 (1354); Hoppe, ZAR 2008, 251 (254, 258). 185 Vgl. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC. 186 Siehe o., A. IV. 187 EGMR (GK), Urt. v. 23.06.2008, Maslov ./. Österreich, Rep. 2008, Nr. 1638/03, Rn. 82. 188 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 90 ff., insbesondere 93; vgl. auch Hoppe, ZAR 2008, 251 (253). Siehe aber zum maßgeblichen Zeitpunkt für das Vorliegen von Privat- oder Familienleben EGMR (GK), a. a. O., Rn. 61, m.w. N., sowie o., 1. a) bb). 189 Zum Gebot der Einzelfallprüfung vgl. bereits o., aa) und 2. b); ferner Hoppe, ZAR 2008, 251 (258). 190 Siehe o., 2. b). 183

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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sprechung bislang noch nicht wieder; wiederholt und selbst im europarechtlich relevanten Ausgangsfall Caglar ./. Deutschland191 wurden generalpräventiv begründete Maßnahmen vom EGMR unbeanstandet gelassen192. Auch die besondere Strenge des EGMR bei bestimmten Drogendelikten193 hat in diesem Ausmaß keine Entsprechung in der Judikatur des EuGH194 und ist daher potentiell geeignet, zu nicht mit dem Europarecht übereinstimmenden Ergebnissen zu führen195. Dieser Befund zeigt, dass sich noch keine einheitliche Praxis des EGMR im Umgang mit dem europarechtlichen Aufenthaltsrecht herausgebildet hat. Die weitere Entwicklung seiner Rechtsprechung in dieser Hinsicht ist bislang nicht absehbar, zumal die starke Einzelfallorientierung nicht selten eine eindeutige dogmatische Einordnung erschwert196. Im Interesse der Rechtsschutzsuchenden sowie des Entscheidungseinklangs zwischen EGMR und EuGH wäre es aber wünschenswert, wenn die europarechtliche Dimension aufenthaltsrechtlicher Beschwerden in Straßburg weiter in den Vordergrund rückte. Erforderlichenfalls könnte der EGMR sogar die Europarechtskonformität des Eingriffs als selbstständigen Wertungsaspekt ergänzend in die Verhältnismäßigkeitsprüfung aufnehmen197. Normalerweise dürfte sich indes schon auf der Grundlage der bestehenden Kriterien die Durchsetzung des Europarechts erreichen lassen: Stellt sich der Eingriff zum Nachteil des Bf. als europarechtswidrig heraus, etwa weil europarechtlich etablierte Standards unterschritten wurden, kann ohne weiteres auch die konventionsrechtliche Rechtfertigung versagt werden; ein staatlicher Beurteilungsspielraum ist dann nicht mehr eröffnet. Eine Verletzung der Vorlagepflicht zum EuGH, die mit dem materiellen Europarechtsverstoß regelmäßig einhergehen wird198, lässt sich auf diese Weise vom EGMR indirekt mitsanktionieren199. Problematisch wird es hingegen wiederum, wenn über die Europarechtslage keine hinreichende Klarheit besteht, weil eine relevante Auslegungsfrage von den mitgliedstaatlichen Gerichten nicht erkannt oder ihre Vorlage zum EuGH verweigert wurde. Hier stößt die Durchsetzbarkeit europarechtlicher Aufenthaltsrechte über Art. 8 EMRK an ihre Grenzen, 191

Siehe o., 1. c). EGMR, Urt. v. 06.12.2007, Chair und J. B. ./. Deutschland, Nr. 69735/01, Rn. 24, 60 ff.; EGMR, Urt. v. 28.06.2007, Kaya ./. Deutschland, Nr. 31753/02, Rn. 17, 59 ff.; Thym, Migrationsverwaltungsrecht, S. 240; Hoppe, ZAR 2008, 251 (253). Das OVG Bremen hat generalpräventive Ausweisungsgründe hingegen für grundsätzlich mit Art. 8 EMRK unvereinbar gehalten; Urt. v. 06.11.2007, NordÖR 2008, 131 (132). 193 Siehe o., aa). 194 Siehe o., 2. b). 195 Siehe auch u., c). 196 Vgl. Hoppe, ZAR 2008, 251 (253). 197 Zur europarechtsfreundlichen Auslegung von Art. 8 EMRK siehe auch u., II. 3. b) aa), 4. 198 Vgl. o., Teil 2, A. II. 199 Siehe schon o., Teil 3, A. I. 5. c). 192

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denn der Straßburger Gerichtshof darf das Europarecht nicht eigenmächtig auslegen200. Und es erscheint eher unwahrscheinlich, dass er allein wegen der Vorlagepflichtverletzung einen unverhältnismäßigen Eingriff und damit einen Verstoß gegen eine Konventionsgarantie annehmen wird, die das Privat- und Familienleben schützt. Insoweit ließe sich nämlich sonst über Art. 8 EMRK der vom EGMR bislang praktizierte Ausschluss aufenthaltsrechtlicher Sachverhalte vom Schutzbereich des Art. 6 EMRK201 einfach umgehen202. c) Zwischenergebnis Sofern das für eine Eröffnung des Schutzbereichs erforderliche tatsächliche Familien- oder Privatleben vorliegt, enthält Art. 8 EMRK ein weitreichendes Potential zur Durchsetzung europarechtlicher Aufenthaltsrechte. Dieses kann gerade im Rahmen der einzelfallbezogenen und prinzipiell europarechtsoffenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zum Tragen kommen, wenn die Europarechtslage ausreichend klar ist. Unabhängig davon, ob unionsbürgerliche oder assoziationsrechtliche Rechtspositionen betroffen sind, bestehen zahlreiche materielle Übereinstimmungen mit den Gewährleistungen von Art. 8 EMRK. In den vorgestellten Ausgangsfällen hatte die Berufung der Bf. auf das Europarecht dagegen keine entscheidenden Auswirkungen. Während in den Fällen Yildiz ./. Österreich und Yagiz ./. Österreich bereits kein Europarechtsverstoß nachweisbar war203, ging der EGMR im Fall Caglar ./. Deutschland trotz entsprechender Veranlassung nicht auf den europarechtlichen Kontext ein. Damit traten kumulativ die inhaltlichen Differenzen zwischen Europa- und Konventionsrechtsordnung zu Tage, die bei der Beurteilung von generalpräventiv begründeten Ausweisungen und Drogendelikten noch immer existieren204. Überdies war die damalige Rechtsprechung des EGMR noch nicht auf die Einbeziehung der Folgeentwicklung nach der letzten Behördenentscheidung ausgerichtet. Nach der entsprechenden Anpassung im Maslov-Urteil205 dürften sich die Bedingungen für eine Durchsetzung des Europarechts über Art. 8 EMRK insoweit aber weiter verbessert haben. Diese Tendenz zur verstärkten Heranziehung des Europarechts in aufenthaltsrechtlichen Konstellationen sollte der EGMR zukünftig beibehalten, um einen kohärenten und effektiven Rechtsschutz für europarechtlich Berechtigte zu ermöglichen.

200 201 202 203 204 205

Siehe o., Teil 2, A. V. 2. a); Teil 3, A. I. 5 d). Siehe o., 1. a) bb), c) bb), sowie Teil 2, A. IV. 1. c). Vgl. jedoch noch u., 4. c). Siehe o., 2. Siehe o., b) bb) (3). Siehe ebenda.

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4. Weitere konventionsrechtliche Garantien in ZP 4 und ZP 7 In Ergänzung zu Art. 8 EMRK enthalten das ZP 4 und das ZP 7 weitere Garantien, die unter Umständen vor europarechtswidrigen Ausweisungen schützen können. Dies ist potentiell gerade dann von besonderer Bedeutung, wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 8 EMRK nicht vorliegen sollten206. Jedoch sind beide Protokolle nicht von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert worden, so dass konventionsrechtlich kein einheitlicher Schutzstandard besteht. Im einzelnen gilt das ZP 4 nicht für Griechenland und das Vereinigte Königreich, und das ZP 7 findet keine Anwendung auf Deutschland, die Niederlande und das Vereinigte Königreich. a) Verbot der Ausweisung eigener Staatsangehöriger, Art. 3 Abs. 1 ZP 4 Im ZP 4 statuiert Art. 3 Abs. 1 das Verbot, eigene Staatsangehörige durch eine Einzel- oder Kollektivmaßnahme auszuweisen. In Entsprechung zum allgemeinen Völkerrecht ist für die Bestimmung der Staatsangehörigkeit grundsätzlich das betreffende nationale Recht maßgeblich207. Hier besteht also keine Möglichkeit, den Schutzbereich zumindest auf ausländische Unionsbürger zu erstrecken208, zumal der absolute Verbotscharakter von Art. 3 Abs. 1 ZP 4 von vornherein keinerlei Eingriffsrechtfertigung zulässt209. Die Durchsetzung europarechtlicher Rechte über diese Norm erscheint daher höchstens unter besonderen Umständen und auf indirekte Weise denkbar, etwa wenn der Ausgewiesene neben der für Art. 3 Abs. 1 ZP 4 relevanten zusätzlich noch die Staatsangehörigkeit eines oder mehrerer anderer EU-Mitgliedstaaten besitzt. Der Ausweisungsbegriff ist aus Effektivitätsgründen tendenziell weit zu verstehen und schließt auch zeitweilige Maßnahmen210 sowie die willkürliche Entziehung der Staatsangehörigkeit zu Ausweisungszwecken211 ein; nicht erfasst wird demgegenüber die Auslieferung 206

Siehe o., 3. a). EGMR, Urt. v. 16.06.2005, Sisojeva et al. ./. Lettland, Nr. 60654/00, Rn. 100; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP 4, Rn. 2; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 4, Rn. 3. Siehe auch näher u., Teil 5, A. VI. 4. 208 Vgl. Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP 4, Rn. 5. 209 EGMR (GK), Entsch. v. 23.01.2002, Slivenko et al. ./. Lettland, Rep. 2002-II, Rn. 72, 77; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 72; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 4, Rn. 5. 210 Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 63; Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 948. 211 Näher Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 78 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 69; beide m.w. N.; siehe auch EKMR, Entsch. v. 15.12.1969, X. ./. Deutschland, CD 31, 107 (110 f.). 207

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als Überstellung an eine andere Gerichtsbarkeit zur Strafverfolgung oder -vollstreckung212. b) Verbot der Kollektivausweisung von Ausländern, Art. 4 ZP 4 Art. 4 ZP 4 verbietet Kollektivausweisungen ausländischer Personen und entspricht damit Art. 19 Abs. 1 GRC213. In der Rechtsprechung der Konventionsorgane sind Kollektivausweisungen als aufenthaltsbeendende Maßnahmen definiert, die nicht auf einer objektiven Einzelfallprüfung mit individualisierter Begründung beruhen, sondern pauschal gegen Personengruppen gerichtet werden, welche nach generellen Kriterien (z. B. Staatsangehörigkeit, Rasse oder Hautfarbe) bestimmt sind214. Die näheren Umstände der Ausweisung wie vorherige Ankündigung, Anweisungen an die Verwaltung, die schematische Inhaltsgleichheit von Verwaltungsakten oder das Fehlen effektiver Rechtsmittel können dabei indiziell Rückschlüsse auf einen kollektiven Charakter ermöglichen215. Ein Eingriff ist auch anzunehmen, wenn Ausländergruppen durch die generelle Verweigerung von Arbeitserlaubnissen o. ä. indirekt einem faktischen Zwang zur Ausreise unterworfen werden216. Bei der gebotenen teleologisch-effektiven Auslegung kommen als Ausländer i. S. d. Art. 4 ZP 4 auch Unionsbürger217 und türkische Assoziationsberechtigte in Betracht. Da kein Beschränkungsvorbehalt 212 EKMR, Entsch. v. 13.05.1974, X. ./. Österreich und Deutschland, CD 46, 214; EKMR, Entsch. v. 27.05.1974, Brückmann ./. Deutschland, YbECHR 17 (1974), 458 (478 f.); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 70; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 68; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 743; Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 948; a. A. Rainey/Wicks/Ovey, S. 561. 213 M. Wollenschläger, in: Heselhaus/Nowak, § 17, Rn. 20; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 4 ZP 4, Rn. 1. 214 EGMR, Urt. v. 20.12.2016, Shioshvili et al. ./. Russland, Nr. 19356/07, Rn. 68; EGMR (GK), Urt. v. 03.07.2014, Georgien ./. Russland (I), Rep. 2014 (in Auszügen), Nr. 13255/07, Rn. 167; EGMR, Urt. v. 20.09.2007, Sultani ./. Frankreich, Rep. 2007-IV, Rn. 81; EGMR, Urt. v. 05.02.2002, Cˇonka ./. Belgien, Rep. 2002-I, Rn. 59; EGMR, Entsch. v. 23.02.1999, Andric ./. Schweden, Nr. 45917/99, Rn. 1; EKMR, Entsch. v. 11.01.1995, Tahiri ./. Schweden, Nr. 25129/94, Rn. 3; EKMR, Entsch. v. 16.12.1988, Alibaks et al. ./. Niederlande, DR 59, 274; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 4 ZP 4, Rn. 1; A. Zimmermann/ Elberling, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 27, Rn. 167; Doehring, ZaöRV 45 (1985), 372 (374). 215 EGMR, Urt. v. 05.02.2002, C ˇ onka ./. Belgien, Rep. 2002-I, Rn. 61 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 03.07.2014, Georgien ./. Russland (I), Rep. 2014 (in Auszügen), Nr. 13255/07, Rn. 174 ff.; A. Zimmermann/Elberling, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/ GG, Kap. 27, Rn. 168; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 4 ZP 4, Rn. 2; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer, Art. 4 ZP 4, Rn. 4. 216 Vgl. EKMR, Entsch. v. 03.10.1975, Becker ./. Dänemark, DR 4, 215 (235, 256); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 74; A. Zimmermann/Elberling, in: Dörr/Grote/ Marauhn, EMRK/GG, Kap. 27, Rn. 166; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 4 ZP 4, Rn. 1. 217 Anders dagegen im Rahmen von Art. 16 EMRK; siehe u., Teil 5, B. II. 3. b), IV. 2.

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existiert218, sind kollektive Ausweisungen ebenso wie im Europarecht ohne jede Ausnahme verboten; insoweit besteht also ein äquivalentes Schutzniveau. Die europarechtliche Relevanz des Rechts aus Art. 4 ZP 4 ist 2010 im Kontext der umstrittenen Massenausweisungen rumänischer und bulgarischer Roma aus Frankreich besonders deutlich geworden219; unter derartigen Umständen kann auch Rechtsschutz vor dem EGMR in Betracht zu ziehen sein220. c) Verfahrensrechtliche Schutzvorschriften, Art. 1 ZP 7 Art. 1 ZP 7 enthält bestimmte verfahrensrechtliche Mindestgarantien in Ausweisungsverfahren und verkleinert damit die Rechtsschutzlücke, die durch die Unanwendbarkeit von Art. 6 EMRK in diesem Sachgebiet entsteht221. So darf ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates aufhält, nur aufgrund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden. Über das auf das jeweilige innerstaatliche Recht verweisende Erfordernis der Rechtmäßigkeit der Ausweisung222 kann theoretisch auch europarechtlichen Vorgaben Rechnung getragen werden, indem ersichtlich europarechtswidrigen Maßnahmen die Akzeptanz versagt wird223. Unklar ist hingegen, ob bereits eine Vorlagepflichtverletzung eines die Ausweisung bestätigenden nationalen Gerichts die Rechtmäßigkeit der Entscheidung entfallen lässt. Einerseits soll sich die entsprechende konventionsrechtliche Prüfung auch auf die Einhaltung zuständigkeits- und verfahrensrechtlicher Vorschriften erstrecken224, was für eine bedarfsgerechte umfassende Sicherung rechtsstaatlicher Standards unter Einschluss von Art. 267 AEUV225 spricht. Andererseits konzentriert sich der EGMR bei Art. 1 ZP 7 mitunter v. a. auf die Verhinderung von Willkür und Missbrauch226, und es 218 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 74; vgl. allerdings die Abweichungen im Notstandsfall zulassende Ausnahmeklausel des Art. 15 EMRK. 219 Zu den Zweifeln an der Europarechtskonformität vgl. die Stellungnahme der zuständigen EU-Kommissarin Reding v. 14.09.2010, abrufbar unter: http://europa.eu/ rapid/press-release_SPEECH-10-428_en.htm. 220 Vgl. insoweit etwa EGMR, Urt. v. 05.02.2002, C ˇ onka ./. Belgien, Rep. 2002-I, Rn. 7 ff., 18 ff., 59 ff. 221 Vgl. o., 1. a) bb), c) bb), sowie Teil 2, A. IV. 1. c); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 178. 222 EGMR, Urt. v. 05.10.2006, Bolat ./. Russland, Rep. 2006-XI, Rn. 81; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 1 ZP 7, Rn. 3; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 180; Hoppe, in: Karpenstein/ Mayer, Art. 1 ZP 7, Rn. 4 f. 223 Siehe o., Teil 1, B. III. 224 Rn. 11 des Erläuternden Berichts zum ZP 7, HRLJ 6 (1985), 82 (84), außerdem abrufbar unter: http://conventions.coe.int/Treaty/en/Reports/Html/117.htm; EGMR, Urt. v. 05.10.2006, Bolat ./. Russland, Rep. 2006-XI, Rn. 81. 225 Vgl. bereits o., Teil 2, A. V. 2. 226 Vgl. EGMR, Urt. v. 08.06.2006, Lupsa ./. Rumänien, Rep. 2006-VII, Rn. 55 ff.; EGMR, Urt. v. 12.10.2006, Kaya ./. Rumänien, Nr. 33970/05, Rn. 55 ff.; Graben-

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fehlt noch an unmittelbar einschlägiger Fallpraxis. Die weiteren in Art. 1 Abs. 1 lit. a–c ZP 7 aufgeführten Rechte auf Gehör, Prüfung und (insbesondere rechtliche) Vertretung227 erhöhen ferner die Chance auf Korrektur europarechtswidriger Ausweisungen noch im innerstaatlichen Verfahren. Ihre Einschränkung nach Maßgabe des Abs. 2 dürfte im Falle einer Europarechtsverletzung jedenfalls am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz scheitern.

II. Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich (2006) Der Fall Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich betraf die Durchsetzung des Anspruchs auf Erteilung einer langfristigen Aufenthaltserlaubnis für ausländische Unionsbürger in Frankreich. 1. Sachverhalt und nationales Verfahren Die 1952 geborene Bf., die spanische Staatsangehörige Maria Isabel Aristimuño Mendizabal, lebt seit 1975 in Frankreich, wo sie von 1976 bis 1979 zunächst als politischer Flüchtling Asyl genoss228. Am 15.10.1984 heiratete sie einen Spanier, der als ehemaliger Anführer der ETA229 seit Juni 1984 inhaftiert war und 1992 nach Spanien ausgeliefert wurde. Ihre 1984 geborene gemeinsame Tochter besitzt die französische Staatsangehörigkeit. Die Bf. selbst ist nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten. Im Zeitraum von 1979 bis Ende 1989 wurde warter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 180; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer, Art. 1 ZP 7, Rn. 5; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 1 ZP 7, Rn. 3; Trechsel, FS Ermacora, 195 (199). Siehe auch bereits allgemein o., Teil 1, B. III. 227 Näher Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 181 f.; Trechsel, FS Ermacora, 195 (200 f.). 228 Zum Folgenden EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99, Rn. 8 ff.; deutsche Zusammenfassung bei Sander, S. 184. 229 Die 1959 gegründete ETA (Euskadi Ta Askatasuna; baskisch für „Baskenland und Freiheit“) strebt einen unabhängigen baskischen Staat an und hat in Spanien, von einigen „Waffenruhen“ unterbrochen, immer wieder terroristische Anschläge und andere Verbrechen (Entführungen, Raubüberfälle, Sabotage, organisierte Schutzgelderpressung) verübt. Frankreich, insbesondere der Süden, scheint von der ETA eher als Rückzugsgebiet genutzt zu werden; hier wurden auch in den letzten Jahren wiederholt hochrangige Mitglieder der Organisation verhaftet (vgl. die Berichte unter: http://www. spiegel.de/politik/ausland/0,1518,695868,00.html; http://www.spiegel.de/politik/aus land/0,1518,750265,00.html; http://www.spiegel.de/politik/ausland/eta-anfuehrer-infrankreich-gefasst-a-1054263.html). Im Januar 2011 verkündete die ETA einen „dauerhaften und allgemeinen Waffenstillstand“ (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ 0,1518,738674,00.html), im April 2017 übergab sie ihre Waffen den Behörden (http:// www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/baskenland-eta-waffenverstecke-sprengstoff-sepa ratisten-nationalismus). Vgl. weiterhin Whittaker, Terrorism Reader, S. 137 ff.; ders., Terrorists and Terrorism, S. 43 ff.; sowie die „Country Reports on Terrorism 2011“ des US-Außenministeriums v. 31.07.2012 über Frankreich und Spanien, abrufbar unter: http://www.state.gov/j/ct/rls/crt/2011/195543.htm.

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ihr jährlich eine neue befristete Aufenthaltserlaubnis (carte de séjour) erteilt. Ihr Antrag auf anschließende Verlängerung wurde nicht beschieden, stattdessen erhielt sie von der für die Präfektur handelnden zuständigen Behörde an ihrem Wohnsitz in Tarnos (Departement Landes, Aquitanien) eine Antragsbestätigung (récépissé de demande de titre de séjour), die für drei Monate zum Aufenthalt berechtigte und bis November 1993 fünfzehnmal verlängert wurde. Auch nachdem die Bf. im August 1993 eine Aufenthaltserlaubnis mit fünf Jahren Gültigkeit beantragt hatte, wurden lediglich kurzfristige Aufenthaltstitel für drei Monate oder zwei Wochen bewilligt, die bis Dezember 2003 immer wieder erneuert wurden. Nach einer unbeantwortet gebliebenen Eingabe beim Präfekten erhob die Bf. am 12.08.1994 Klage vor dem Tribunal administratif Pau, in der sie u. a. vortrug, dass ihr nach französischem und Gemeinschaftsrecht ein Anspruch auf die begehrte, fünf Jahre gültige Aufenthaltserlaubnis zustehe. Das Gericht annullierte am 06.11.1996 die implizite Ablehnung des Präfekten aus formalen Gründen230; die hiergegen gerichtete Berufung des Innenministers wurde am 27.01.2000 von der Cour administrative d’appel Bordeaux als verfristet zurückgewiesen. Ein zusätzlicher Antrag der Bf. beim Tribunal administratif Pau, die Verwaltung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu verpflichten231, scheiterte im Januar 1997, da das Vorbringen verspätet gewesen und die Verwaltung lediglich gehalten sei, das Begehren erneut zu prüfen. Ggf. könne die Bf. außerdem ein gerichtliches Verfahren zur Sicherstellung des Urteilsvollzugs anstrengen232. Die Ausstellung einer langfristigen Aufenthaltserlaubnis von zehn Jahren Dauer für die Bf. erfolgte schließlich erst im Dezember 2003, als Unionsbürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Frankreich nach französischem Recht bereits keines Aufenthaltstitels mehr bedurften233. 2. Einschlägige europarechtliche und französische Vorschriften Im vorliegenden Fall war bis zum Inkrafttreten der europarechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit für spanische Staatsangehörige in Frankreich allein das französische Ausländerrecht anwendbar, demzufolge Ausländer seinerzeit nach einem über zehnjährigen regulären Aufenthalt einen zehn Jahre gültigen Aufenthaltstitel beanspruchen konnten234. Diese Voraussetzungen erfüllte die Bf. jeden230 Die Kommission für den Aufenthalt von Ausländern (Commission départementale de séjour des étrangers) war vorschriftswidrig nicht mit dem Fall befasst worden. 231 Vgl. Art. L. 8-2 f. Code des tribunaux administratifs et des cours administratives d’appel a. F.; jetzt Art. L. 911-2 f. Code de justice administrative. 232 Vgl. Art. L. 8-4 Code des tribunaux administratifs et des cours administratives d’appel a. F.; jetzt Art. L. 911-4 Code de justice administrative. 233 Siehe u., 2. 234 Art. 15-10 ë Ordonnance v. 02.11.1945 i. d. F. der Loi v. 02.08.1989.

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falls seit Ende 1989. Erst nach Ablauf der europarechtlichen Übergangsfrist zum 01.01.1992 wurden dann die in Art. 48 EWGV (jetzt Art. 45 AEUV) und dem zugehörigen Sekundärrecht enthaltenen Rechte zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer im Verhältnis zwischen Spanien und den anderen Mitgliedstaaten wirksam235, die ab dem 01.11.1993 um das mit der Unionsbürgerschaft eingeführte, subsidiäre allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 8 a EGV (Maastrichter Fassung; jetzt Art. 21 AEUV) ergänzt wurden236. Vor ihrer Ablösung durch die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG237 verpflichtete die hier einschlägige Richtlinie 68/360/EWG238 die Mitgliedstaaten, den freizügigkeitsberechtigten Personen bei Vorlage der geforderten Dokumente den Aufenthalt zu gestatten und zum Nachweis eine verlängerbare Aufenthaltserlaubnis mit einer Gültigkeitsdauer von mindestens fünf Jahren zu erteilen (Art. 4, 6 Abs. 1 lit. b). Diese Erlaubnis hatte jedoch keine konstitutive Funktion, sondern diente allein dem deklaratorischen Nachweis des unmittelbar europarechtlich begründeten Aufenthaltsrechts239. Weiterhin mussten die Staaten alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um die Formalitäten und Verfahren zur Beschaffung der Aufenthaltsdokumente „soweit irgend möglich zu vereinfachen“ (Art. 9 Abs. 3 RiLi 68/360/EWG). Abweichungen waren ausschließlich aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Ordre public) zulässig (Art. 10 RiLi 68/360/EWG). Zudem bestimmte Art. 5 Abs. 1 RiLi 64/221/EWG240, dass die Entscheidung über Erteilung oder Verweigerung der ersten Aufenthaltserlaubnis binnen kürzester Frist und spätestens sechs Monate nach Antragstellung zu treffen war. 235 Siehe Art. 55 ff. der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und die Anpassungen der Verträge, ABl. Nr. L 302 v. 15.11.1985, sowie die VO (EWG) Nr. 2194/91 des Rates v. 25.06.1991 zur Übergangszeit für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen Spanien und Portugal einerseits und den anderen Mitgliedstaaten andererseits, ABl. Nr. L 206 v. 29.07.1991, S. 1. Lediglich in Bezug auf Luxemburg galt eine um ein Jahr längere Übergangsfrist. 236 Siehe jeweils näher o., A. I., II. 237 Siehe o., A. IV. Die Verwaltungsformalitäten für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen sind in Art. 5 Abs. 5, Art. 8 ff., 19 f., 25 f. RiLi 2004/38/EG geregelt; danach kann der Aufnahmemitgliedstaat etwa die Anmeldung bei den zuständigen Behörden verlangen. 238 Richtlinie 68/360/EWG des Rates v. 15.10.1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft, ABl. Nr. L 257 v. 19.10.1968, S. 13. 239 EuGH, Urt. v. 08.04.1976, Royer, Rs. 48/75, Slg. 1976, 497, Rn. 31 ff.; EuGH, Urt. v. 14.07.1977, Sagulo et al., Rs. 8/77, Slg. 1977, 1495, Rn. 4 ff.; EuGH, Urt. v. 25.07.2002, MRAX, Rs. C-459/99, Slg. 2002, I-6591, Rn. 74; EuGH, Urt. v. 23.03. 2006, Kommission ./. Belgien, Rs. C-408/03, Slg. 2006, I-2647, Rn. 63 f.; Scheuing, EuR 2003, 744 (747). Siehe auch Art. 25 Abs. 1 RiLi 2004/38/EG. 240 Richtlinie 64/221/EWG des Rates v. 25.02.1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind, ABl. Nr. 56 v. 04.04.1964, S. 850; inzwischen ebenfalls durch die RiLi 2004/38/EG ersetzt.

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

445

In Frankreich existierten jedenfalls seit 1981 spezifische Rechtsakte241 zur Umsetzung dieser Vorgaben, so dass das nationale Aufenthaltsrecht den Anforderungen der europäischen Richtlinien entsprach; in den Erlassen des Innenministers war eine maximale Bearbeitungszeit von sechs Monaten für alle Anträge auf Aufenthaltserlaubnis vorgeschrieben. Im November 2003 wurde das Erfordernis eines Aufenthaltstitels für Unionsbürger mit gewöhnlichem Aufenthalt in Frankreich schließlich abgeschafft242, und seit 2006 besteht eine an die nunmehr gültige Richtlinie 2004/38/EG angepasste Neuregelung243. 3. Prüfung durch den EGMR Mit ihrer am 23.09.1999 erhobenen Menschenrechtsbeschwerde machte die Bf. Verstöße gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK wegen überlanger Verfahrensdauer vor den Verwaltungsgerichten, gegen Art. 13 EMRK wegen unzureichender Rechtsschutzmöglichkeiten sowie gegen Art. 8 EMRK und Art. 2 ZP 4 aufgrund der Verweigerung einer langfristigen Aufenthaltserlaubnis geltend. a) Zulässigkeit In einer ersten Teilentscheidung über die Beschwerde erklärte der EGMR am 18.09.2003 die sich auf die Verfahrensdauer und den zugehörigen Rechtsschutz beziehenden Rügen einstimmig für unzulässig244. Denn die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK scheiterte bereits daran, dass Streitigkeiten über den Aufenthalt von Ausländern nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs weder zivilrechtliche Ansprüche noch strafrechtliche Anklagen betreffen245, und in der Folge konnte auch Art. 13 EMRK insoweit keine Anwendung finden. Die übrigen Fragen zur Zulässigkeit waren am 21.06.2005 Gegenstand einer weiteren einstimmig ergangenen Entscheidung246. Hier wies der EGMR zunächst den Einwand der französischen Regierung zurück, dass die Bf. mit der Bewilligung der langfristigen Aufenthaltserlaubnis 2003 ihre Opfereigenschaft i. S. d. Art. 34 EMRK verloren habe247. Dies sei nur dann anzunehmen, wenn die natio241 Im einzelnen Décrets v. 28.04.1981 und v. 11.03.1994, Circulaires v. 07.08.1981 und v. 07.06.1994, Art. 9-1 Ordonnance v. 02.11.1945 i. d. F. der Loi v. 11.05.1998. Siehe hierzu EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99, Rn. 45 ff. 242 Art. 14 Loi relative à la maîtrise de l’immigration, au séjour des étrangers en France et à la nationalité v. 26.11.2003. 243 Art. L. 121-1 ff. Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile. 244 EGMR, Teilentsch. v. 18.09.2003, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 51431/99, Rn. 1 ff. 245 Siehe o., I. 1. a) bb), c) bb), sowie Teil 2, A. IV. 1. c). 246 EGMR, endg. Entsch. v. 21.06.2005, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 51431/99. 247 Siehe EGMR, a. a. O., pdf-Dok. S. 10 f.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

nalen Stellen die behauptete Konventionsverletzung anerkannt und behoben hätten248. Ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK sei aber weder von den Behörden noch von den Gerichten in Frankreich eingeräumt worden. Zudem könne die Ausstellung eines Aufenthaltstitels über 14 Jahre nach der Beantragung allenfalls als teilweise Abhilfe angesehen werden, da der gerügte Konventionsverstoß hier im Unterschied zu Fällen von Ausweisung oder Abschiebung auf die lang anhaltende Unsicherheit über den aufenthaltsrechtlichen Status zurückgehe. Im folgenden erklärte der EGMR die Art. 8 und 13 EMRK betreffenden Rügen für zulässig und überwies sie in die Begründetheitsprüfung249, wohingegen der auf Art. 2 ZP 4 gestützte Teil der Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 Abs. 3, 4 EMRK als unzulässig zurückgewiesen wurde250. Zu Art. 2 ZP 4 hatte die Bf. für eine gegenwartsbezogene Konventionsauslegung plädiert und vorgetragen, dass sich die dort verbürgte Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit bei Unionsbürgern auf die Gesamtheit der EU-Mitgliedstaaten erstrecke, so dass der Bezug der Vorschrift auf das Hoheitsgebiet eines Staates insoweit obsolet sei. In der Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis hatte die Bf. daher einen nicht gerechtfertigten Eingriff in ihr Freizügigkeitsrecht aus Art. 2 ZP 4 gesehen. Dagegen folgte der EGMR der Argumentation der französischen Regierung und stellte fest, dass die Bf. nicht dargelegt habe, inwieweit ihre Freiheit, sich auf französischem Staatsgebiet zu bewegen oder es zu verlassen, beschränkt worden sei251. b) Begründetheit In seinem Urteil vom 17.01.2006 untersuchte der EGMR sodann die Begründetheit der Beschwerde in Bezug auf die von der Bf. gerügten Verstöße gegen Art. 8 und 13 EMRK. aa) Art. 8 EMRK Im Straßburger Verfahren monierte die Bf. primär eine Verletzung ihres Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK, da sie sowohl nach französischem als auch nach Gemeinschaftsrecht Anspruch auf Erteilung einer langfristigen Aufenthaltserlaubnis gehabt habe, die ein normales Privatleben, Zugang zu einer regelmäßigen Arbeit und die Integration im Empfangsland ermögliche252. Dabei berief sie sich im einzelnen auf die lange Dauer ihres Auf-

248

Siehe hierzu bereits o., Teil 1, C. II. EGMR, endg. Entsch. v. 21.06.2005, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 51431/99, pdf-Dok. S. 14 f. 250 EGMR, a. a. O., S. 16. 251 Siehe zu Art. 2 ZP 4 noch u., III. 1., 2. 252 EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99, Rn. 55 ff. 249

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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enthalts in Frankreich, ihre Eigenschaft als Mutter eines französischen Kindes und ihren Status als Unionsbürgerin, der ihr Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit garantiere. Die Bf. führte weiter aus, dass die 14 Jahre währende Weigerung der französischen Behörden, den begehrten Aufenthaltstitel zu erteilen, einen Zustand andauernder Ungewissheit und Angst sowie erheblichen materiellen wie immateriellen Schaden verursacht habe. Ihre Bemühungen um eine dauerhafte Beschäftigung oder eine Existenzgründung als Selbstständige seien wesentlich erschwert worden und schließlich erfolglos geblieben, so dass sie auf gering qualifizierte Tätigkeiten angewiesen und zudem über mehrere Jahre sozialhilfeberechtigt gewesen sei. Der behördliche Eingriff sei weder auf gesetzlicher Grundlage ergangen noch durch einen legitimen Zweck gerechtfertigt gewesen; vielmehr habe die Verwaltung Form- und Verfahrensregeln, insbesondere die vorgeschriebene Entscheidungsfrist, missachtet. Die französische Regierung bestritt, dass sich aus Art. 8 EMRK ein Recht auf Erteilung eines langfristigen Aufenthaltstitels ergebe253. Darüber hinaus sei die Bf. seit 1975 stets zum Aufenthalt in Frankreich berechtigt gewesen und nie von ihrer dort lebenden Familie getrennt worden. Da es kein objektives Risiko einer bevorstehenden Abschiebung gegeben habe, sei schon kein Eingriff in das Privatund Familienleben der Bf. erfolgt. Der EGMR stellte zunächst klar, dass nach seiner ständigen Rechtsprechung die Konvention kein Recht für Nichtstaatsangehörige enthalte, in einen Staat einzureisen, sich dort niederzulassen oder sonst zu verbleiben; vielmehr stehe den Staaten diesbezüglich nach Völkerrecht ein Recht zur Kontrolle zu254. Aus Art. 8 EMRK ergebe sich insbesondere kein Anspruch auf eine bestimmte Art der Aufenthaltserlaubnis, sofern der Betroffene durch das behördliche Vorgehen nicht in der Ausübung seiner Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens beeinträchtigt werde. Vorliegend wählte der EGMR jedoch von vornherein einen anderen Ansatz, indem er entscheidend auf die Gemeinschaftszugehörigkeit der Bf. abstellte255. Diese sei als Spanierin spätestens seit dem 01.01.1992 direkt aus dem Gemeinschaftsrecht zum Aufenthalt in Frankreich berechtigt gewesen und habe auf dieser Grundlage einen fünfjährigen Aufenthaltstitel beanspruchen können. Hierzu verwies der EGMR auf die Rechtsprechung des EuGH zum rein deklaratorischen Charakter der mitgliedstaatlichen Aufenthaltserlaubnis. Der Straßburger Gerichtshof gelangte mithin zu der Einschätzung, dass Art. 8 EMRK im gegebenen 253

Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 62 ff. EGMR, a. a. O., Rn. 65; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 19.02.1998, Dalia ./. Frankreich, Rep. 1998-I, Rn. 52; EGMR, Entsch. v. 29.04.2003, Dremlyuga ./. Lettland, Nr. 66729/01. 255 EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99, Rn. 67 ff. Zu den europarechtlichen Vorgaben siehe o., 2. 254

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

Fall im Lichte des Gemeinschaftsrechts und v. a. der den Mitgliedstaaten obliegenden Verpflichtungen auszulegen sei256. Wie in der Zulässigkeitsentscheidung von 2005 bezog sich der EGMR auf die lange Zeit ungewisse Aufenthaltslage der Bf., die für sie gravierende Auswirkungen in materieller und persönlicher Hinsicht gehabt habe, so dass ein Eingriff in ihr Privat- und Familienleben anzunehmen sei257. Bei der anschließenden Prüfung einer möglichen Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zog der EGMR detailliert die anwendbaren Vorschriften des nationalen Rechts und der gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerfreizügigkeit heran258. Während die Bf. nach französischem Recht sogar bereits seit 1989 einen langfristigen Aufenthaltstitel habe beanspruchen können, sei zudem ab 1992 die Entscheidung über seine Erteilung kraft Gemeinschaftsrechts spätestens sechs Monate nach Antragstellung zu treffen gewesen, wobei das französische Umsetzungsrecht eine Gültigkeit von fünf, nach Verlängerung sogar von zehn Jahren vorgesehen habe. Wiederum zitierte der Straßburger Gerichtshof die Judikatur des EuGH, der 1997 eine Vertragsverletzung Belgiens wegen Verweigerung des richtlinienrechtlich vorgeschriebenen Aufenthaltstitels für Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten festgestellt hatte259, und wertete die Situation der Bf. als vergleichbar, weil ihr 14 Jahre lang lediglich insgesamt 69 Antragsbestätigungen zugegangen seien. Folglich verneinte er eine Rechtfertigung des Eingriffs, da die behördliche Verzögerung der Erlaubniserteilung weder im französischen noch im Gemeinschaftsrecht gesetzlich vorgesehen gewesen sei, und nahm unter Verzicht auf die Prüfung der übrigen Rechtfertigungsvoraussetzungen mit 6:1 Stimmen eine Verletzung von Art. 8 EMRK an260. bb) Art. 13 EMRK Zur Begründung ihrer Rüge eines Verstoßes gegen Art. 13 EMRK trug die Bf. im wesentlichen vor, dass es im französischen Recht an einem effektiven Verfahren fehle, um die Verwaltung zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu ver-

256 EGMR, a. a. O., Rn. 69; mutatis mutandis unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 27.04. 1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314 (hierzu siehe u., Teil 5, B.); EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I (hierzu siehe u., Teil 5, A. IV.); EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI (hierzu siehe o., Teil 1, D. I.). Siehe allgemein o., Teil 1, B. II. 257 EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99, Rn. 70 ff. 258 EGMR, a. a. O., Rn. 73 ff. Siehe auch o., 2. 259 EuGH, Urt. v. 20.02.1997, Kommission ./. Belgien, Rs. C-344/95, Slg. 1997, I1035, Rn. 22 ff., 34. 260 EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99, Rn. 79.

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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pflichten, wobei sie insbesondere den Einschätzungsspielraum der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie die Dauer des gerichtlichen Verfahrens kritisierte261. Die französische Regierung bestritt ein vertretbares Vorbringen einer für Art. 13 EMRK relevanten anderweitigen Konventionsverletzung und hielt im übrigen die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten für ausreichend262. Der EGMR stellte einstimmig fest, dass mit der Nichtigkeitsklage gegen eine ablehnende Entscheidung und Anträgen auf gerichtliche Anordnung oder Urteilsvollzug vor den Verwaltungsgerichten sowie der Zivilklage wegen schwerer Rechtsverletzung (voie de fait) verschiedene wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung ständen, so dass Art. 13 EMRK nicht verletzt sei263. cc) Sondervotum Die partiell abweichende Richterin Mularoni bestätigte in ihrem Sondervotum264 explizit die Mehrheitsmeinung hinsichtlich der Einbeziehung des Gemeinschaftsrechts und der Bejahung eines Eingriffs in Art. 8 EMRK. Jedoch verneinte sie eine Verletzung dieser Garantie und plädierte aus Gründen der Kohärenz für eine parallele Wertung zu Art. 13 EMRK, da die Bf. zumindest zwei der verfügbaren nationalen Rechtsbehelfe nicht ergriffen habe265 und der EGMR gegenüber den nationalen Gerichten eine subsidiäre Stellung einnehme. c) Urteilsfolgen In Anwendung von Art. 41 EMRK sprach der EGMR der Bf. mit 6:1 Stimmen nach billigem Ermessen einen Betrag von 50.000,– A als Ausgleich für den entstandenen materiellen und immateriellen Schaden sowie 2.800,– A als Erstattung für die Kosten des Straßburger Verfahrens zu266. Nach den Feststellungen des Ministerkomitees des Europarates hat Frankreich seine Verpflichtungen aus dem Urteil umfassend erfüllt267.

261

EGMR, a. a. O., Rn. 80 ff. EGMR, a. a. O., Rn. 84 ff. 263 EGMR, a. a. O., Rn. 87 ff. 264 Teilweise abweichendes Sondervotum der Richterin Mularoni zu EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99. 265 Damit sind offenbar der Antrag auf Urteilsvollzug und die Zivilklage gemeint; siehe o., bb). 266 EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99, Rn. 92 ff. Das darüber hinausgehende Entschädigungsbegehren wurde einstimmig zurückgewiesen. 267 Resolution ResDH(2007)38 betr. das Urteil des EGMR v. 17.01.2006 im Fall Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, angenommen vom Ministerkomitee am 20.04.2007. Zur Vorbeugung weiterer Verstöße wurden die zuständigen französischen Behörden über das Urteil des EGMR informiert. 262

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

4. Bewertung und Konsequenzen Der Fall Aristimuño Mendizabal offenbart signifikante Probleme bei der innerstaatlichen Durchsetzung europarechtlicher Freizügigkeitsrechte in Frankreich. Da keine Verweigerungsgründe vorlagen, konnte die Bf. ihren Anspruch auf Erteilung einer langfristigen Aufenthaltserlaubnis jedenfalls seit Ende 1989 auf das französische Recht sowie als gemeinschaftsangehörige Arbeitnehmerin ab dem 01.01.1992 auch auf das Europarecht stützen268. Seitdem vergingen bis zur Bewilligung der Erlaubnis Ende 2003 fast zwölf Jahre, obwohl europarechtlich über den Antrag innerhalb von sechs Monaten zu entscheiden war. Diese Umstände erscheinen insofern erstaunlich, als die Vorgaben des Europarechts allesamt klar waren und ordnungsgemäß Eingang in die französische Rechtsordnung gefunden hatten, so dass zwischen europäischem und nationalem Recht keine Diskrepanzen bestanden. Rein spekulativ bleibt, ob aufgrund der früheren ETA-Zugehörigkeit des Ehemannes der Bf. vielleicht politische Erwägungen eine Rolle gespielt haben könnten. Als zentrales rechtliches Problem ist jedenfalls ein Vollzugsdefizit bei den französischen Behörden festzustellen, die die einschlägigen Normen eklatant und dauerhaft missachteten. Nach dem Obsiegen der Bf. im langwierigen Verfahren vor den französischen Verwaltungsgerichten fehlte es zudem an der gebotenen Urteilsbefolgung, da die behördliche Verweigerungshaltung zunächst beibehalten wurde. Der nationale Rechtsschutz stieß also schon an seine Grenzen269, und wegen der Eindeutigkeit der Europarechtslage gab es auch keinen Bedarf für eine Einschaltung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens270. Bei dieser Sachlage war aufgrund der eingetretenen Rechtswegerschöpfung aber bereits die Beschwerdeerhebung in Straßburg möglich, denn die Konvention fordert nicht, zuvor ein weiteres innerstaatliches Verfahren mit dem Ziel des Urteilsvollzugs anzustrengen271. Zwar kann die Existenz derartiger nationaler Rechtsbehelfe, wie das EGMR-Urteil zeigt, den Anforderungen von Art. 13 EMRK genügen; der Verzicht auf ihre Nutzung betrifft hingegen allein die Zulässigkeit der Menschenrechtsbeschwerde und hat keine Auswirkungen auf die materiell-rechtliche Beurteilung nach der EMRK. Entgegen dem Sondervotum272 hat der EGMR daher die prozessualen und die inhaltlichen Aspekte zu Recht klar voneinander getrennt.

268

Siehe o., 2.; zum 01.11.1993 kam ferner der Unionsbürgerstatus hinzu. Vgl. auch Thym, EuGRZ 2006, 541 (548): „Versagen der französischen Behörden und der angerufenen Gerichte“. 270 Siehe zu Vollzugsdefiziten schon o., Teil 2, B. IV., und insbesondere Teil 3, B. I. 4. c). 271 Siehe o., Teil 2, B. II. 1., IV. 2. a), m.w. N. 272 Siehe o., 3. b) cc). 269

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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In den Ausführungen des Gerichtshofs zu Art. 8 EMRK sticht zunächst das klare Bekenntnis zu einer europarechtsfreundlichen Auslegung dieser Garantie hervor273. Der EGMR hat damit verdeutlicht, dass die Konvention, obgleich sie selbst keinen bestimmten Aufenthaltstitel garantiert, doch zur Durchsetzung anderweitig begründeter Aufenthaltsrechte, die nicht dem autonomen Verfügungsbereich des einzelnen Staates unterliegen274, herangezogen werden kann275. Mit diesem universellen Verständnis von Art. 8 EMRK wird das Europarecht vom EGMR als Grenze des im Aufenthaltsrecht traditionell weiten staatlichen Gestaltungs- und Entscheidungsspielraums276 anerkannt, was die Sanktionierung von Europarechtsverstößen über die EMRK erheblich erleichtert. Die darin liegende Ausweitung der konventionsrechtlichen Kontrolle in aufenthaltsrechtlichen Fällen bewegt sich gleichwohl innerhalb der üblichen Prüfungskompetenz des EGMR277. Denn nach wie vor stellt der Gerichtshof nur dann eine Konventionsverletzung fest, wenn dafür im jeweiligen Einzelfall die konventionsrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind278. So blieb der EGMR ganz auf der Linie seiner sonstigen Rechtsprechung, als er die Annahme eines Eingriffs in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK vorliegend mit der lang anhaltenden unsicheren und prekären Lebenssituation der Bf. begründete, die durch die Verweigerung des begehrten Aufenthaltstitels entstanden war279. Diese Beurteilung knüpfte nämlich zum einen an die insoweit maßgeblichen tatsächlichen Umstände an280, berücksichtigte zum anderen aber auch die positiven Verpflichtungen, die den Konventionsstaaten zum effektiven Schutz des Privat- und Familienlebens obliegen281. Die Rechtfertigungsbedürftigkeit des europarechtswidrigen Vorgehens der französischen Behörden hätte sich also sogar allein nach den herkömmlichen Maß-

273

Siehe o., 3. b) aa), sowie allgemein Teil 1, B. II. Vgl. EGMR, Urt. v. 17.01.2006, Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich, Nr. 51431/99, Rn. 69: „[L]’article 8 doit être interprété en l’espèce à la lumière du droit communautaire et en particulier des obligations imposées aux Etats membres quant aux droits d’entrée et de séjour des ressortissants communautaires [. . .].“ 275 Vgl. auch Gundel, FS Scheuing, 58 (65 mit Fn. 42). 276 EGMR, Urt. v. 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, Rep. 1996-VI, Rn. 63; EGMR, Urt. v. 24.04.1996, Boughanemi ./. Frankreich, Rep. 1996-II, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, Rep. 1996-I, Rn. 38; EGMR, Urt. v. 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 94, Rn. 67; Rupp-Swienty, S. 80 f.; Sander, S. 147 f., 150 f. 277 Siehe allgemein o., Teil 1, B.; a. A. Daiber, EuR 2007, 406 (409), die von einer Kompetenzausweitung ausgeht. 278 Vgl. o., Teil 1, B. I. 279 Siehe o., 3. b) aa). 280 Siehe schon o., I. 3. a). 281 Siehe etwa EGMR, Urt. v. 15.06.2006, Shevanova ./. Lettland, Nr. 58822/00, Rn. 69 f.; EGMR, Urt. v. 16.06.2005, Sisojeva et al. ./. Lettland, Nr. 60654/00, Rn. 104 f.; EGMR, Urt. v. 22.06.2006, Kaftailova ./. Lettland, Nr. 59643/00, Rn. 64 f.; hierzu Sander, S. 179 ff. 274

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stäben von Art. 8 EMRK ohne direkten Rückgriff auf das Europarecht herleiten lassen. In der anschließenden Prüfung der Rechtfertigung konzentrierte sich der EGMR dann ganz auf das Erfordernis der gesetzlichen Eingriffsermächtigung. Hier ist bemerkenswert, dass neben dem französischen Umsetzungsrecht gerade die europarechtlichen Vorgaben zu einer ausführlichen Analyse herangezogen wurden. Dieses Vorgehen unterstreicht die Ernsthaftigkeit des propagierten europarechtsfreundlichen Ansatzes, denn in strukturell vergleichbaren Fällen hat der Gerichtshof zumeist allein auf das europarechtskonforme nationale Recht, nicht aber unmittelbar auf das Europarecht abgestellt282. Dass vorliegend eine intensivere Bezugnahme stattfand, mag darauf zurückzuführen sein, dass in dreifacher Hinsicht besonders günstige Bedingungen für eine konventionsrechtliche Europarechtsdurchsetzung gegeben waren. Erstens bestanden keine Zweifel bezüglich der verbindlichen Auslegung des Europarechts, so dass dem EGMR unbeschadet des zugehörigen Monopols des EuGH ein Rückgriff möglich war283. Zweitens entsprach das nationale Recht gänzlich den europarechtlichen Anforderungen, was etwaige Konformitäts- und Anwendbarkeitsprobleme ausschloss. Drittens war der Eingriff in keiner der beiden Rechtsordnungen gesetzlich vorgesehen. Allein dieser Umstand begründete schon einen Konventionsverstoß und machte eine aufwendige Abwägung der Verhältnismäßigkeit entbehrlich284. Wenn überhaupt keine Rechtsgrundlage für einen Eingriff existiert, kann die Rechtfertigungsprüfung also erheblich vereinfacht und abgekürzt werden285. Insgesamt ähneln Ausgangslage und Problemstellung des Falles Aristimuño Mendizabal den behandelten umweltrechtlichen Konstellationen, die ebenfalls behördliche Defizite in Normvollzug und Urteilsbefolgung betrafen286. Wie dort hat sich Art. 8 EMRK als flexibel anwendbare Konventionsgarantie erwiesen, über die europarechtliche Standards letztlich wirksam durchgesetzt werden können, auch wenn der Rechtsschutz in der Praxis oft erst spät erreichbar ist. Im aufenthaltsrechtlichen Kontext kann Art. 8 EMRK ferner eine wichtige Reservefunktion bei der Sicherstellung des Urteilsvollzugs zukommen, weil die Berufung auf Art. 6 EMRK hier ausgeschlossen ist287. Aber besonders die vorliegend sichtbar gewordene verstärkte Orientierung an europarechtlichen Normen einschließlich der Rechtsprechung des EuGH zeigt, dass sich der EGMR zunehmend der Möglichkeiten bewusst wird, die die EMRK zum Schutz einer univer282

Siehe o., Teil 3, B. I. 4. d) bb), II. 3. b), 4. Vgl. schon o., Teil 3, A. I. 5. d). 284 Siehe auch Sander, S. 188. 285 In reinen Schutzpflichtfällen, in denen die konventionsrechtliche Prüfung nicht dem eingriffsorientierten Schema folgt, bleibt dagegen stets eine konstitutive Interessenabwägung erforderlich; vgl. o., Teil 3, B. I. 4. d) bb). 286 Siehe o., Teil 3, B. I. und insbesondere II. 287 Siehe o., I. 1. a) bb), c) bb), sowie Teil 2, A. IV. 1. c). 283

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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sell verstandenen Rechtsstaatlichkeit bietet288. Auch vor diesem Hintergrund ist die Straßburger Unterstützung zur Implementierung europarechtlicher Freizügigkeitsrechte im Fall Aristimuño Mendizabal uneingeschränkt zu begrüßen.

III. Sonstige Freizügigkeitskomponenten Die sonstigen Komponenten europarechtlicher Freizügigkeit sind zwar noch kaum Gegenstand der Straßburger Judikatur gewesen289. Sie werden in gewissem Umfang aber von verschiedenen Schutzvorschriften im Konventionsrecht abgedeckt, die zu ihrer Durchsetzung wirksam werden können. 1. Interne Freizügigkeit, Art. 2 Abs. 1 ZP 4 Die interne Freizügigkeit wird durch Art. 2 Abs. 1 ZP 4290 gewährleistet. Danach hat jede Person, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Staates aufhält, das Recht, sich dort frei zu bewegen und ihren Wohnsitz frei zu wählen. Territorial bezieht sich die Garantie also stets auf den einzelnen Konventionsstaat291, so dass ihre Bedeutung für die Implementierung des Europarechts eher begrenzt bleiben dürfte. Denn der Schutzbereich erfasst so nicht die EU-weite, sondern allein die mitgliedstaatsinterne Freizügigkeit, der aber nur dann europarechtliche Relevanz zukommt, wenn ein hinreichender grenzüberschreitender Bezug innerhalb der EU vorliegt292. Ist dies jedoch der Fall, können europarechtlich verbürgte Fortbewegungs- und Niederlassungsrechte auch über Art. 2 Abs. 1 ZP 4 abgesichert werden293, zumal bei der Bestimmung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts neben dem nationalen auch auf das Europarecht zurückzugreifen ist294. Im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes und angesichts der vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten spricht viel dafür, dass Art. 2 ZP 4 ebenfalls die wirtschaftliche Dimension der Freizügigkeit schützt, einschließlich des zugehörigen Vermögenstransfers sowie, gerade im Rahmen der wesensmäßigen An288 Vgl. Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (182); Thym, EuGRZ 2006, 541 (548); ferner auch Pellonpää, in: Caflisch et al., FS Wildhaber, 347 (367). 289 Vgl. aber speziell zur Betätigungsfreiheit von Mitgliedern des Europäischen Parlaments u., Teil 5, B. 290 Zum Ratifikationsstand siehe o., I. 4. 291 Vgl. bereits o., II. 3. a). 292 Siehe o., A. I., II. 293 Siehe im einzelnen zum Gewährleistungsgehalt von Art. 2 Abs. 1 ZP 4 Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 41 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 58 ff., 62 ff., 65 f.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 2 ZP 4, Rn. 1 ff., 6 ff.; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EMRK, Art. 2 ZP 4, Rn. 1 ff., 6 ff.; jeweils m.w. N. Vgl. ferner zum Fehlen wesentlicher gleichheitsrechtlicher Gehalte in Art. 2 ZP 4 Jarass, EU-Grundrechte, § 38, Rn. 2. 294 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 58; siehe schon o., Teil 1, B. III. Vgl. aber auch noch u., Teil 5, B. II. 3. a), IV. 1.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

wendung auf juristische Personen295, der Begründung und Verlegung eines Unternehmenssitzes296. Von Bedeutung ist schließlich, dass sich die in Abs. 3 und 4 enthaltenen Rechtfertigungsvoraussetzungen entsprechend wie bei Art. 8 EMRK297 mit den jeweiligen europarechtlichen Anforderungen298 parallelisieren lassen. Praktische Auswirkungen können sich daraus z. B. bei Zuzugs- oder Aufenthaltsbeschränkungen für bestimmte Landesteile ergeben, die kraft Europarechts gegenüber EU-Ausländern nur unter strengen Voraussetzungen verhängt werden dürfen299. Im Falle eines Europarechtsverstoßes ist dann eine Rechtfertigung gebietsbezogener Beschränkungen der internen Freizügigkeit, die sonst nach Abs. 4 ggf. auch bei rein wirtschaftspolitischer Motivation im öffentlichen Interesse liegen können300, jedenfalls ausgeschlossen. 2. Ausreisefreiheit, Art. 2 Abs. 2 ZP 4 Die Freiheit zur Ausreise stellt eine unentbehrliche Voraussetzung für die Wahrnehmung grenzüberschreitender Freizügigkeitsrechte dar. Konventionsrechtlich ist sie durch Art. 2 Abs. 2 ZP 4 verbürgt, der jeder Person das Recht einräumt, jedes Land einschließlich des eigenen zu verlassen. Sowohl die vorübergehende Ausreise als auch die dauerhafte Auswanderung sind vom Schutzbereich abgedeckt301. Ein Eingriff liegt jedenfalls vor, wenn die Ausreise entweder tatsächlich verhindert wird oder dies zumindest beabsichtigt ist302. Als eingreifende Maßnahmen kommen konkret etwa das Verbot oder die Genehmigungsbedürftigkeit der Ausreise303 sowie die Vorenthaltung oder Beschlagnahme von Reisedokumenten304 in Betracht. Ob auch allein die Anknüpfung negativer Rechtsfolgen an die Ausreise genügt, ist durch den EGMR zwar noch nicht ge295

Siehe o., Teil 1, C. I., sowie Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 17, Rn. 5. Näher Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 32, 34 ff., 37 f., 53. 297 Siehe o., I. 3. b) bb). 298 Siehe hierzu o., A. 299 EuGH, Urt. v. 26.11.2002, Oteiza Olazabal, Rs. C-100/01, Slg. 2002, I-10981, Rn. 37 ff.; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 86; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 158. 300 Vgl. Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 117. 301 Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 50; zur Verlegung des Unternehmenssitzes ins Ausland ders., a. a. O., Rn. 53 ff., sowie entsprechend o., 1. 302 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 64. 303 EGMR, Urt. v. 23.05.2006, Riener ./. Bulgarien, Nr. 46343/99, Rn. 110; EGMR, Urt. v. 31.10.2006, Földes und Földesné Hajlik ./. Ungarn, Rep. 2006-XII, Rn. 32 ff.; EGMR, Urt. v. 22.02.1994, Raimondo ./. Italien, Ser. A Vol. 281-A, Rn. 39; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 64. 304 EGMR, Urt. v. 06.04.2000, Labita ./. Italien, Rep. 2000-IV, Rn. 193; EGMR, Urt. v. 22.05.2001, Baumann ./. Frankreich, Rep. 2001-V, Rn. 61 ff.; EGMR, Urt. v. 21.12. 2006, Bartik ./. Russland, Rep. 2006-XV, Rn. 35 ff.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 2 ZP 4, Rn. 8. 296

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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klärt305, wird aber bei einer europarechtsorientierten Auslegung zu bejahen sein, da die europarechtlichen Freizügigkeitsgewährleistungen durchgehend als Beschränkungsverbote verstanden werden306. Bei Übergriffen von privater Seite (z. B. Reisebeschränkungen durch Familienoberhäupter o. ä.) kann sich aus Art. 2 Abs. 2 ZP 4 eine staatliche Schutzpflicht zur Gewährleistung der Ausreisefreiheit ergeben307, über die auch den europarechtlichen Erfordernissen Rechnung getragen werden kann308. Im übrigen dürfte wiederum die Rechtfertigungsprüfung, die sich hier ausschließlich nach Abs. 3 richtet309, den maßgeblichen Bezugspunkt für eine Einbeziehung des Europarechts bilden310. 3. Einreisefreiheit: Rückkehr- und Nachzugsrechte a) Art. 3 Abs. 2 ZP 4 Nach Art. 3 Abs. 2 ZP 4 wird die Einreisefreiheit in Entsprechung zur Rechtslage im Völkergewohnheitsrecht nur Angehörigen des betreffenden Staates, nicht aber Ausländern garantiert311. Auch Inhaber europarechtlicher Freizügigkeitsrechte werden also lediglich dann von dieser Norm geschützt, wenn sie in ihren eigenen Heimatstaat zurückkehren312. Dennoch erfüllt die Gewährleistung der freien Einreise in Gestalt eines Rechts auf Rückkehr schon deshalb eine für die Freizügigkeit allgemein wichtige Funktion, weil sie die Ausreisefreiheit komplementär ergänzt und dadurch erst effektiv werden lässt313. Art. 3 Abs. 2 ZP 4 vermittelt Schutz unabhängig vom mit der Einreise verfolgten Zweck, jedoch nur gegen die vollständige Entziehung des Einreiserechts314. Ungeachtet des fehlenden Gesetzesvorbehalts315 wird hingegen eine bloße Beschränkung unter be305

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 64. Siehe o., A. I., II. 307 Private werden durch die Freizügigkeitsrechte des Konventionsrechts nicht direkt verpflichtet; siehe Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 93; vgl. ferner zu Art. 12 IPbpR Henkin/Jagerskiold, S. 176, 440 mit Anm. 41. 308 Vgl. dagegen zur unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten o., A. I. (am Ende). 309 Zur Entstehungsgeschichte siehe R. Hofmann, Ausreisefreiheit, S. 70 f., 127. 310 Vgl. entsprechend o., 1. und I. 3. b) bb); Überblick über die bisherige allgemeine Fallpraxis des EGMR bei Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 67. 311 Siehe Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 46, 64, 87, 89. Zur Bestimmung der Staatsangehörigkeit siehe auch o., I. 4. a), und u., Teil 5, A. VI. 4. 312 Zum europarechtlichen Schutz des Rückkehrrechts vgl. o., A. I. (am Ende). 313 Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 48, 51; siehe auch o., 2. 314 Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 46 ff., 101; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 73. 315 Vgl. EGMR (GK), Entsch. v. 23.01.2002, Slivenko et al. ./. Lettland, Rep. 2002II, Rn. 72, 77; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 4, Rn. 5. 306

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

stimmten Umständen für zulässig gehalten, etwa wenn ein ausgelieferter Straftäter sich wieder in seinen Heimatstaat flüchten oder ein Soldat im Auslandsdienst seine Heimführung erreichen will316. Im Falle europarechtswidriger Einreisemodalitäten sollte Art. 3 Abs. 2 ZP 4 im Interesse eines effektiven Menschenrechtsschutzes teleologisch möglichst dahingehend ausgelegt und angewandt werden, dass auch eine Konventionsverletzung festgestellt werden kann. b) Art. 8 EMRK Die Einreisefreiheit kann konventionsrechtlich ferner durch Art. 8 EMRK geschützt werden, soweit es um den Nachzug ausländischer Familienangehöriger geht. Hier wird zumeist die Frage aufgeworfen, ob dem betreffenden Konventionsstaat die positive Verpflichtung obliegt, das Familienleben durch die Gestattung der Einreise von Angehörigen zu schützen317. In den Nachzugsfällen hat die Rechtsprechung der Konventionsorgane jedoch insgesamt noch nicht die praktische Bedeutung erreicht, die ihr etwa für den Rechtsschutz gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen zukommt318. Ebenso wie zuvor die EKMR verfolgt auch der Straßburger Gerichtshof eine restriktive Grundlinie, indem er betont, dass die Staaten grundsätzlich selbst über die Einreise fremder Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet zu entscheiden hätten und Art. 8 EMRK kein Recht gewähre, den geeignetsten Ort für das Familienleben auszuwählen319. In der konventionsrechtlichen Prüfung findet eine umfassende Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls statt, wobei der spezifischen Situation der beteiligten Personen und dem staatlichen Allgemeininteresse besonderes Gewicht zukommt320. Als Krite-

316 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 73; Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 49, 101; vgl. auch Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 949 f. 317 Grundlegend EGMR, Urt. v. 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 94, Rn. 67; weiterhin EGMR, Urt. v. 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, Rep. 1996-I, Rn. 38; EGMR, Urt. v. 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Rep. 2006-I, Rn. 38; ausführlich Sander, S. 102 ff.; siehe auch Thym, EuGRZ 2006, 541 (545). 318 Sander, S. 291. Begründete Zuzugsbegehren werden überwiegend bereits auf nationaler Ebene erfolgreich durchgesetzt; Thym, EuGRZ 2006, 541 (545), m.w. N. 319 EGMR, Urt. v. 28.11.1996, Ahmut ./. Niederlande, Rep. 1996-VI, Rn. 67; EGMR, Urt. v. 19.02.1996, Gül ./. Schweiz, Rep. 1996-I, Rn. 38; EGMR, Entsch. v. 06.11.2001, Adnane ./. Niederlande, Nr. 50568/99; EGMR, Urt. v. 21.12.2001, S¸en ./. Niederlande, Nr. 31465/96, Rn. 36; EGMR, Urt. v. 01.12.2005, Tuquabo-Tekle et al. ./. Niederlande, Nr. 60665/00, Rn. 43; EGMR, Urt. v. 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Rep. 2006-I, Rn. 39; Sander, S. 125 f.; Heringa/Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 706 ff.; Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, Art. 8 EMRK, Rn. 54; Oeter, in: Hailbronner/Klein, Einwanderungskontrolle, S. 125 (133 f.). 320 EGMR, Urt. v. 21.12.2001, S ¸ en ./. Niederlande, Nr. 31465/96, Rn. 37 ff.; EGMR, Urt. v. 01.12.2005, Tuquabo-Tekle et al. ./. Niederlande, Nr. 60665/00, Rn. 44 ff.; EGMR, Urt. v. 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande, Rep.

B. Konventionsrechtliche Durchsetzungsmöglichkeiten

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rien herangezogen werden dabei im einzelnen der Familienstatus zum Zeitpunkt der Einwanderung, die Zumutbarkeit eines gemeinsamen Lebens im Ausland, die Intensität der familiären Beziehung, die Bindungen an das Herkunftsland sowie die Effektivität der staatlichen Einwanderungskontrolle321. Sie entsprechen im wesentlichen den Aspekten, die in herkömmlichen Eingriffskonstellationen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zum Tragen kommen322. Allgemein lassen sich Nachzugsbeschränkungen wegen der oft schwächeren familiären Bindungen aber leichter rechtfertigen als Eingriffe, die die Trennung einer schon bestehenden Familieneinheit bewirken323. Ein konventionsrechtlicher Nachzugsanspruch aus Art. 8 EMRK wird regelmäßig nur dann im Raum stehen, wenn keine andere zumutbare Möglichkeit zur Führung des Familienlebens gegeben ist324. Zur Auseinandersetzung mit europarechtlich begründeten Nachzugsrechten, die insbesondere Familienangehörigen von Unionsbürgern (seien sie selbst Unionsbürger oder Drittstaatsangehörige) nach Maßgabe der Richtlinie 2004/38/EG325 zustehen, hatte die Straßburger Rechtsprechung bislang anscheinend noch keine Gelegenheit. Ebenso wie in aufenthaltsrechtlichen Fällen326 lassen sich allerdings auch hier die Vorgaben des Europarechts in die bei Art. 8 EMRK vorzunehmende Abwägung einbeziehen. So hat sich der EGMR gegenüber einem Nachzug von im Ausland zurückgelassenen Familienmitgliedern (insbesondere Kindern) offen gezeigt, wenn deren Bezugsperson über einen gesicherten Aufenthaltsstatus in einem Konventionsstaat verfügt, weil eine erzwungene Entscheidung zwischen diesem Status und der Herstellung des Familienlebens unverhältnismäßig sein könne327. In vergleichbarer Weise ist hiervon ebenfalls stets auszugehen, wenn ein europarechtliches Aufenthaltsrecht besteht und Familienangehörige kraft Europarechts zum Nachzug berechtigt sind. In diesen Fällen schlägt sich demzufolge die europarechtliche Rechtslage insofern in der konven2006-I, Rn. 39 ff.; zum Prüfungsansatz in Schutzpflichtkonstellationen siehe bereits o., Teil 3, B. I. 4. d) bb), sowie Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 19, Rn. 5 ff. 321 Sander, S. 126 ff.; Heringa/Zwaak, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 708 f.; beide m.w. N. aus der Rspr.; siehe auch Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./ von Raumer, Art. 8 EMRK, Rn. 83. 322 Näher Sander, S. 104, 132 f., 136 f. 323 Sander, S. 135. 324 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 22, Rn. 76; Sander, S. 133. 325 Siehe o., A. IV. 326 Siehe o., I. 3. b) bb). 327 Vgl. EGMR, Urt. v. 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 94, Rn. 68; EGMR, Urt. v. 10.04.2003, Mehemi ./. Frankreich (Nr. 2), Rep. 2003-IV, Rn. 45; EGMR, Entsch. v. 06.11.2001, Adnane ./. Niederlande, Nr. 50568/99; EGMR, Entsch. v. 09.01.2001, J. M. ./. Niederlande, Nr. 38047/ 97; EGMR, Entsch. v. 18.03.2003, Ismail Ebrahim und Serhan Ebrahim ./. Niederlande, Nr. 59186/00; EGMR, Entsch. v. 20.10.2005, Haydarie et al. ./. Niederlande, Nr. 8876/ 04; Sander, S. 127 f.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

tionsrechtlichen Beurteilung nieder, als eine Verweigerung des Familiennachzugs als Verstoß gegen Art. 8 EMRK zu werten ist. 4. Gleichbehandlung: Art. 14 EMRK und Art. 1 ZP 12 Auch über die gleichheitsrechtlichen Garantien des Konventionsrechts könnte unter Umständen eine Durchsetzung europarechtlicher Freizügigkeitsrechte erreicht werden. Da sowohl nach Art. 14 EMRK als auch nach Art. 1 ZP 12 eine Diskriminierung wegen der nationalen Herkunft verboten ist, liegt es nicht fern, unter Berufung auf diese Garantien gegen Ungleichbehandlungen vorzugehen, die in europarechtswidriger Weise an die Staatsangehörigkeit anknüpfen. Immerhin hat der EGMR bereits mehrfach festgestellt, dass die aufenthaltsrechtliche Begünstigung europarechtlich geschützter Personen gegenüber Drittstaatsangehörigen mit Art. 14 EMRK vereinbar sei, da im Rahmen der EU eine besondere Rechtsordnung bestehe328. Die hier deutlich werdende Akzeptanz der Freizügigkeitsvorschriften des Europarechts lässt auch ein aktives Eintreten des EGMR zugunsten der europarechtlichen Inländergleichbehandlungsgebote denkbar erscheinen329. Werden diese durch eine erkennbar unzulässige Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen verletzt, sollte auch für eine konventionsrechtliche Rechtfertigung des darin liegenden Eingriffs in das durch Art. 14 EMRK geschützte Recht auf Gleichbehandlung kein Raum mehr bleiben. Art. 14 EMRK kann indessen wegen seiner Akzessorietät nur dann zum Zuge kommen, wenn der jeweilige Sachverhalt in den Regelungsbereich mindestens eines sonstigen Konventionsrechts fällt330. Da die v. a. für Art. 8 EMRK relevanten freizügigkeits- und insbesondere aufenthaltsrechtlichen Fragestellungen typischerweise Sonderregeln für Ausländer betreffen, dürfte Art. 14 EMRK hier keine ausschlaggebende eigene Bedeutung mehr zukommen. In den übrigen Fällen von europarechtlichem Interesse, in denen es beispielsweise um die Durchsetzung wirtschaftlicher Freizügigkeitsrechte aus den Grundfreiheiten geht, ohne dass ein Bezug zum Privat- und Familienleben vorliegt, dürfte allenfalls Art. 2 ZP 4 als Anknüpfungspunkt für Art. 14 EMRK zur Verfügung stehen. Ansonsten 328 EGMR, Urt. v. 18.02.1991, Moustaquim ./. Belgien, Ser. A Vol. 193, Rn. 49; EGMR, Urt. v. 07.08.1996, C. ./. Belgien, Rep. 1996-III, Rn. 38; EGMR, Entsch. v. 04.05.2000, Aftab et al. ./. Norwegen, Nr. 32365/96, Rn. 2; Sander, S. 192; Dautricourt, S. 21 f. 329 Vgl. entsprechend EGMR, Urt. v. 08.04.2014, Dhahbi ./. Italien, Nr. 17120/09, Rn. 45 f., 49 f., 53 f. [siehe bereits o., Teil 2, A. IV. 3. n) bb), cc)]; EGMR, Urt. v. 30.09.2003, Koua Poirrez ./. Frankreich, Rep. 2003-X, Rn. 36 ff., 46 ff.; EGMR, Urt. v. 16.09.1996, Gaygusuz ./. Österreich, Rep. 1996-IV, Rn. 39 ff., 42 ff.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 14 EMRK, Rn. 27. 330 EGMR, Urt. v. 28.05.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 94, Rn. 71; EGMR, Urt. v. 25.10.2005, Okpisz ./. Deutschland, Nr. 59140/00, Rn. 30 ff.; EGMR, Urt. v. 22.01.2008, E. B. ./. Frankreich, Nr. 43546/02, Rn. 47 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26, Rn. 4 ff.; Sander, S. 189 f.

C. Ergebnis zu Teil 4

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und gerade im Kontext des Einreiserechts wird es zumeist an einem inhaltlich einschlägigen Konventionsrecht fehlen. Denn die EMRK enthält keine Auffanggarantie i. S. einer allgemeinen Handlungsfreiheit und verbürgt gerade für wirtschaftliche Rechtspositionen keinen umfassenden Schutz331. In dieser Hinsicht könnte dann ggf. der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 1 ZP 12 seine Wirkung entfalten, der nicht akzessorietätsgebunden ist und damit einen im Vergleich zu Art. 14 EMRK weiteren Anwendungsbereich besitzt332. Da hier nun die Ausübung jeglicher Rechte diskriminierungsfrei gewährleistet wird333, stellt u. a. jede staatsangehörigkeitsbedingte Ungleichbehandlung unmittelbar einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff dar334. Aufgrund dieser strukturellen Gleichheit mit den entsprechenden europarechtlichen Tatbeständen ergibt sich mithin auf Konventionsebene ein breiter Raum für eine europarechtskonforme materielle Beurteilung potentieller Menschenrechtsbeschwerden. Nachdem das ZP 12 am 01.04.2005 in Kraft getreten ist, bleibt jedoch der noch recht geringe Ratifikationsstand335 unter den EU-Mitgliedstaaten ein wesentliches Hindernis für eine einheitliche Durchsetzung des Europarechts über seinen Art. 1. Von ihnen sind bislang Finnland, Kroatien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Portugal, Rumänien, Slowenien, Spanien und Zypern an das ZP 12 gebunden.

C. Ergebnis zu Teil 4 Mit den Grundfreiheiten und den unionsbürgerlichen Gewährleistungen gehören die Freizügigkeitsrechte zum absoluten Kernbestand der europäischen Integrationsrechtsordnung. Darüber hinaus können auch Drittstaatsangehörige in unterschiedlichem Umfang freizügigkeitsberechtigt sein, etwa wenn sie eine entsprechende grundrechtliche Position innehaben, als Familienangehörige eines Unionsbürgers von dessen Status profitieren oder auf völkervertraglicher Grundlage Rechte herleiten können. Für Unionsbürger und ihre Familienangehörigen stellt die Freizügigkeitsrichtlinie 2004/38/EG die zentrale sekundärrechtliche Kodifikation dar, die im Lichte der primärrechtlichen Verbürgungen auszulegen ist. Für die Durchsetzung europarechtlicher Freizügigkeitsrechte vor dem EGMR kommt dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK 331 Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 4, Rn. 55; Richter, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 1, 91. 332 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26, Rn. 41; Peters/Altwicker, EMRK, § 34, Rn. 1 ff.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 1 ZP 12, Rn. 2. 333 Peters/Altwicker, EMRK, § 34, Rn. 4 f.; Peters/König, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 21, Rn. 45 ff., jeweils unter ausdrücklichem Einschluss internationaler Rechtsquellen; siehe auch Sauer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 1 ZP 12, Rn. 2 f. 334 Vgl. Frowein, in: ders./Peukert, Art. 1 ZP 12, Rn. 4. 335 Zum Hintergrund vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26, Rn. 41; Sauer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 1 ZP 12, Rn. 1.

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Teil 4: Freizügigkeitsrechte

gerade im Bereich des Aufenthaltsrechts sowie bezüglich des Nachzugs von Familienangehörigen eine zentrale Bedeutung zu, sofern die tatsächlichen Voraussetzungen für die Eröffnung des Schutzbereichs gegeben sind. Im europarechtlich relevanten Rechtsschutz gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen war der Straßburger Gerichtshof bislang v. a. mit Beschwerden türkischer Staatsangehöriger befasst, die sich auf Rechte aus dem Assoziationsregime beriefen. Die assoziationsrechtlichen Gebote der Einzelfallprüfung und der spezialpräventiven Begründung sind mutatis mutandis aber auch für Unionsbürger gewährleistet, so dass europarechtlich weitgehend einheitliche Vorgaben für Ausweisungen und ähnliche Eingriffe bestehen. Obgleich aus unterschiedlichen Gründen in keinem der hierzu untersuchten Ausgangsfälle eine erfolgreiche Durchsetzung des Europarechts durch den EGMR stattfand, bieten sich auf der Rechtfertigungsebene die vergleichsweise besten Voraussetzungen für eine Einbeziehung des Europarechts in die konventionsrechtliche Prüfung. Gerade im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung lässt sich bei gebührender Berücksichtigung aller Aspekte und Kriterien des Einzelfalls ein europarechtskonformes Ergebnis erzielen, wenn die Europarechtslage hinreichend klar ist. Das hier vorhandene weitgehende Synchronisierungspotential zwischen Europarecht und EMRK hat der Straßburger Gerichtshof jedoch noch nicht nachhaltig umgesetzt, denn ungeachtet der mannigfachen materiell-rechtlichen Übereinstimmungen sind teils auch divergierende Bewertungsmuster zu verzeichnen, insbesondere bei generalpräventiven Ausweisungen und Drogendelikten. Im Fall Aristimuño Mendizabal ./. Frankreich beanstandete der EGMR die Verweigerung einer langfristigen Aufenthaltserlaubnis, auf die die Bf. einen europarechtlichen Anspruch hatte. Hier betonte der Gerichtshof die Notwendigkeit einer europarechtsfreundlichen Auslegung von Art. 8 EMRK und unterstrich damit die europarechtlichen Grenzen des konventionsrechtlichen Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten. Die bestehenden nationalen Defizite in Normvollzug und Urteilsbefolgung ließen sich relativ unproblematisch als Konventionsverletzung einstufen, da weder nach Europarecht noch nach nationalem Recht eine taugliche Eingriffsgrundlage vorlag. Das Urteil bildet damit ein gutes Beispiel für eine wirksame Implementierung des Europarechts durch den EGMR. Jenseits von Art. 8 EMRK existiert bislang keine wesentliche Straßburger Fallpraxis mit unmittelbarer Bedeutung für die Durchsetzung der europarechtlichen Freizügigkeit. Jedoch kann über die einschlägigen Garantien in den verschiedenen Zusatzprotokollen zur EMRK ein ergänzender Rechtsschutz erreicht werden, der freilich schon aufgrund der nicht flächendeckenden Ratifikation durch die EU-Mitgliedstaaten bis auf weiteres unvollständig bleibt. So kommt gegenüber Ausweisungsmaßnahmen etwa die Berufung auf Art. 3 Abs. 1 ZP 4, Art. 4 ZP 4 und Art. 1 ZP 7 in Betracht; ansonsten können grenzüberschreitende Freizügigkeitsrechte durch Art. 2 Abs. 1 und 2 ZP 4 sowie Art. 3 Abs. 2 ZP 4 geschützt

C. Ergebnis zu Teil 4

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sein. Europarechtlich verbotene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit lassen sich ferner im Regelungsbereich eines Konventionsrechts über Art. 14 EMRK, ansonsten allein über Art. 1 ZP 12 sanktionieren. Das Europarecht kann teilweise bereits bei der Bestimmung des Schutzbereichs der jeweiligen Konventionsgarantien herangezogen werden; das entscheidende Instrument für seine Durchsetzung über die EMRK bildet indes auch hier die Versagung der Rechtfertigung für europarechtswidrige Eingriffe. Abschließend ist mithin festzustellen, dass europarechtliche Freizügigkeitsgewährleistungen zwar überwiegend, aber doch nicht umfassend von der Konventionsrechtsordnung geschützt werden. In Fällen unmittelbarer Drittwirkung des Europarechts kann eine entsprechende konventionsrechtliche Schutzpflicht des Staates entstehen. Gerade auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts herrschen für eine Parallelisierung von Europarecht und EMRK günstige Bedingungen, die der EGMR in seiner Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK bislang nur teilweise genutzt hat. Ferner ist die grundfreiheitlich verbürgte Einreise von EU-Ausländern in einen anderen Mitgliedstaat zu ausschließlich wirtschaftlichen Zwecken derzeit lediglich lückenhaft konventionsrechtlich abgesichert. Jedenfalls bleibt auch in Bezug auf die Freizügigkeit eine noch konsequentere und systematischere Berücksichtigung europarechtlicher Vorgaben durch den Straßburger Gerichtshof wünschenswert.

Teil 5

Politische Rechte Die durch das Europarecht unmittelbar oder mittelbar geschützten Rechte im Bereich der politischen Betätigung sind vielfältig. Dies zeigen auch die unterschiedlichen Fallkonstellationen vor dem EGMR, die in diesem Teil näher untersucht werden sollen. Sie reichen von der Durchsetzung des Wahlrechts zum Europäischen Parlament über den Schutz der Rechtsstellung der Europaabgeordneten bis hin zu Problemen grenzüberschreitender Parteienfinanzierung in der EU. Häufig werden die politischen Betätigungsrechte im Kontext übergeordneter Konfliktlagen besonders virulent. So haben sich einige der nachfolgend behandelten Verfahren vor dem Hintergrund der britisch-spanischen Meinungsverschiedenheiten um Gibraltar, des seinerzeitigen Protests gegen französische Atomversuche in der Südsee oder der Separationsbestrebungen im Baskenland entwickelt. Derartige Konflikte erzeugen immer wieder Anreize zur rechtlichen Auseinandersetzung, bedürfen aber auch gerade der Eindämmung und Regulierung durch unabhängige Instanzen nach den objektiven Maßstäben des Rechts.

A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1 Ein für die demokratische Teilhabe der Unionsbürger1 entscheidendes Element bildet das Wahlrecht zum Europäischen Parlament, dem einzigen unmittelbar demokratisch legitimierten Unionsorgan2. Im folgenden soll zunächst auf die historischen Grundlagen und die inhaltliche Entwicklung des Europawahlrechts eingegangen werden, wobei die europarechtlichen Vorgaben unter Berücksichtigung des den Mitgliedstaaten verbliebenen Ausgestaltungsspielraums analysiert werden. Sodann wird ausgehend von dem grundlegenden Urteil des EGMR im Fall Matthews ./. Vereinigtes Königreich die Bedeutung der EMRK für die Durchsetzung des Europawahlrechts untersucht.

1

Siehe Art. 2 S. 1, Art. 10 EUV. Peuker, ZEuS 2008, 453 (457); P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, § 12, Rn. 1, S. 186; sowie näher Ress, ZEuS 1999, 219 (221 ff.); Strejcek, FS Öhlinger, 395 (395). 2

A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1

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I. Die historische Genese des Europawahlrechts 1. Die Anfänge des gemeinschaftlichen Parlamentarismus Die ursprünglichen Gründungsverträge der drei Gemeinschaften EGKS, EWG und EAG enthielten noch kein Recht der Bürger auf Wahl zum Europäischen Parlament. In den Vertragstexten wurde zunächst nicht einmal der Begriff des Parlaments verwendet3: Vielmehr sprach der EGKS-Vertrag von 1951 von einer „Gemeinsamen Versammlung“ 4, und auch die Römischen Verträge von 1957 kannten lediglich eine „Versammlung“. Dieser Terminus war zwar aus dem Französischen („Assemblée“) übernommen worden, in dem er ohne pejorativen Unterton auf Parlamente Anwendung findet5, spiegelte indes gleichfalls die damals noch schwach ausgeprägte Stellung der Volksvertretung im System der Gemeinschaftsorgane wider. Die Abgeordneten wurden nicht direkt gewählt, sondern von den einzelnen nationalen Parlamenten aus ihrer Mitte ernannt6. Das zugehörige Verfahren war von jedem Mitgliedstaat für sein Abgeordnetenkontingent selbst zu bestimmen7. Somit unterschied sich die „Versammlung“ der einzelnen Gemeinschaften in ihrem Konstituierungsmodus zunächst nicht von den parlamentarischen Versammlungen anderer internationaler Organisationen8. Anders als EWGV und EAGV erlaubte Art. 21 Abs. 1 EGKSV in seiner Urfassung9 als Alternative zur Delegation aus den Parlamenten der Mitgliedstaaten auch die allgemeine direkte Wahl der Abgeordneten auf nationaler Ebene. Von dieser Möglich-

3 Art. 21 Abs. 1 EGKSV a. F., Art. 138 Abs. 1 EWGV a. F., Art. 108 Abs. 1 EAGV a. F. Die ab 1958 auftretende Selbstbezeichnung als „Europäisches Parlament“ (ABl. Nr. P 1 v. 20.04.1958, S. 1, 7; Entschließung v. 30.03.1962, ABl. Nr. P 31 v. 26.04.1962, S. 1045; Sack, ZEuS 2007, 457 [472]) stieß zunächst v. a. beim Ministerrat und einigen Mitgliedstaaten auf Widerstand, bürgerte sich aber in den 1970er Jahren ein und wurde mit der Einheitlichen Europäischen Akte (Art. 3 Abs. 1 i.V. m. Art. 32 EEA) 1987 erstmals ein Begriff des europäischen Primärrechts. Seit dem Vertrag von Maastricht 1993 wird in sämtlichen Primärrechtstexten ausschließlich vom „Europäischen Parlament“ gesprochen. Vgl. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 EUV, Rn. 4; Heintzen, ZEuS 2000, 377 (377 f.); Haag/Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, Vorbem. zu Art. 189–201 EGV, Rn. 5 f.; Giegerich, Europäische Verfassung, S. 212; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 323. 4 Siehe Art. 7 Spstr. 2 EGKSV a. F. 5 Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 4. 6 Art. 138 Abs. 1 EWGV a. F., Art. 108 Abs. 1 EAGV a. F., Art. 21 Abs. 1 Var. 1 EGKSV a. F.; siehe auch Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 1. 7 Zu den nationalen Auswahlverfahren Bieber, Organe, S. 109 f. 8 In der Vorgabe nationaler Abgeordnetenkontingente kommt insbesondere eine Orientierung an der Beratenden Versammlung des Europarates zum Ausdruck, vgl. Art. 25 lit. a, 26 der Satzung des Europarates v. 05.05.1949 (Sartorius II Nr. 110) sowie näher C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 19 f.; Schierwater, S. 24. 9 BGBl. 1952 II, S. 447.

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Teil 5: Politische Rechte

keit hat letztlich aber kein Mitgliedstaat je Gebrauch gemacht, obgleich mehrere nationale Parlamente schon Schritte in diese Richtung unternommen hatten10. Auch im Rahmen der geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) sollte die auf der Gemeinsamen Versammlung der EGKS aufbauende Versammlung aus Vertretern der nationalen Parlamente bestehen11. Diese neue Versammlung wurde aber in Art. 38 EVG-Vertrag beauftragt, bereits binnen sechs Monaten Vorschläge für ihre künftige Wahl auf demokratischer Grundlage vorzulegen12. Der von der sog. Ad-hoc-Versammlung13 schon im Vorgriff vorgeschlagene Satzungsentwurf für eine Europäische (Politische) Gemeinschaft sah sogar eine gemeinschaftsweite Direktwahl einer Kammer des „Parlaments“ sowie die spätere Festlegung des Wahlsystems in einem Gesetz der Gemeinschaft vor14. Dieser Plan wurde jedoch nach dem Scheitern des EVG-Vertrages in der französischen Assemblée nationale 1954 nicht weiter verfolgt15. Mit Inkrafttreten des Fusionsabkommens 1958 bestand nur noch eine einzige Versammlung für alle drei Gemeinschaften16. Im Zuge der Anpassung des Montanrechts an EWGV und EAGV verschwand auch die Direktwahloption aus dem EGKSV. Allerdings erhielt die fusionierte Versammlung nun den primärrechtlichen Auftrag, Entwürfe für allgemeine unmittelbare Wahlen nach einem einheitlichen Verfahren auszuarbeiten17. Die entsprechenden Bestimmungen waren vom Rat einstimmig zu erlassen und den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu empfehlen. Mit dieser Regelung war also bereits der Kern des späteren umfassenden subjektiven Wahlrechts in den Gründungsverträgen der Gemeinschaften angelegt. 1960 billigte das (sich nunmehr selbst so bezeichnende) Europäische Parlament den aus zweijährigen Beratungen hervorgegangenen sog. Dehousse-Ent10 C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 20, m.w. N.; Bangemann/Bieber, S. 37; Bieber/Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 223 AEUV, Rn. 2. 11 Siehe Art. 33 § 1 EVG-Vertrag (BGBl. 1954 II, S. 343). 12 C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 20; Hoffmann, Zusammensetzung, S. 56 f. 13 Bei diesem Gremium handelte es sich um die auf EVG-Stärke aufgestockte Gemeinsame Versammlung der EGKS; vgl. C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 20 f.; Weidenfeld, in: Härtel, Handbuch Föderalismus, Bd. IV, § 80, Rn. 12; Hoffmann, Zusammensetzung, S. 43, Fn. 1. 14 Art. 11 Abs. 2, Art. 13 des Entwurfs eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft, von der Ad-hoc-Versammlung angenommen am 10.03.1953; abgedruckt bei Schwarze/Bieber, Eine Verfassung für Europa, S. 397; siehe auch Hoffmann, Zusammensetzung, S. 43 f., 57 ff. 15 C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 21; Smit/Herzog, Art. 138 EGV a. F., Nr. 138.03, S. 5–46. 16 Art. 1 f. des Abkommens über gemeinsame Organe für die europäischen Gemeinschaften v. 25.03.1957, BGBl. 1957 II, S. 1156. 17 Art. 21 Abs. 3 EGKSV a. F., Art. 138 Abs. 3 EWGV, Art. 108 Abs. 3 EAGV a. F.; vgl. nunmehr Art. 223 Abs. 1 AEUV.

A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1

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wurf eines Europawahlabkommens18, der die ausnahmslose Einführung einer Direktwahl nach einem möglichst einheitlichen Verfahren erst nach Ablauf einer Übergangszeit vorsah19. Selbst diese äußerst moderaten Vorschläge fanden v. a. infolge französischen Widerstands aber nicht die erforderliche einstimmige Zustimmung des Rates20. Nachdem das Parlament den Rat 1969 bereits auf die Option einer Untätigkeitsklage hingewiesen hatte21, kam es in der Folgezeit zu einer konstruktiveren Haltung des Rates und direkten Verhandlungen mit dem Parlament22, das seinerseits 1975 einen neuen formellen Entwurf für den Übergang zu Direktwahlen vorlegte23. 2. Die Einführung der Direktwahl Auf dieser Grundlage wurde am 20.09.1976 durch einen Beschluss des Rates24 der „Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung“ 25 erlassen. Wie in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehen, wur18 Entschließung über die Annahme des Entwurfs eines Abkommens betreffend die Wahl des Europäischen Parlaments in allgemeiner unmittelbarer Wahl v. 17.05.1960, ABl. Nr. P 37 v. 02.06.1960, S. 834, abgedruckt in: Europäisches Parlament, Für allgemeine direkte Wahlen zum Europäischen Parlament, Dokumentensammlung, 1969, S. 254; siehe auch Müller-Graff, Direktwahl, S. 15, Bangemann/Bieber, S. 38 f.; Bieber, Organe, S. 125; Patijn/Millar, FS Bieber, 159 (160); Schreiber/Schrötter, S. 12. 19 Art. 1, 3, 4, 9 des Entwurfs, a. a. O. 20 C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 21 f.; Müller-Graff, Direktwahl, S. 15 ff.; Bangemann/Bieber, S. 39; Bieber, Organe, S. 126; siehe auch die Antwort der Räte der Gemeinschaften v. 03.04.1963 auf eine entsprechende Parlamentsanfrage, ABl. Nr. P 63 v. 20.04.1963, S. 1333, abgedruckt in: Europäisches Parlament, Für allgemeine direkte Wahlen zum Europäischen Parlament, a. a. O., S. 264. 21 Entschließung des Europäischen Parlaments v. 12.03.1969 betreffend allgemeine unmittelbare Wahlen für das Europäische Parlament (Dok. 214/69), ABl. Nr. C 41 v. 01.04.1969, S. 12, abgedruckt in: Europäisches Parlament, Für allgemeine direkte Wahlen zum Europäischen Parlament, a. a. O., S. 294 f.; näher dazu Müller-Graff, Direktwahl, S. 16; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 326 f.; Constantinesco, GS Sasse, 247 (254); Schreiber/Schrötter, S. 13. 22 Zu den Hintergründen ausführlich Müller-Graff, Direktwahl, S. 18 ff.; Bangemann/Bieber, S. 39 ff. 23 Entschließung über die Annahme des Entwurfs eines Vertrages zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments (sog. Patijn-Entwurf) v. 14.01.1975, ABl. Nr. C 32 v. 11.02.1975, S. 15, abgedruckt in: Europäisches Parlament, Direktwahlen zum Europäischen Parlament, 1977, S. 23, und in JöR N. F. 25 (1976), 24. Siehe Kundoch, JöR N. F. 25 (1976), 1 (8 f.); Smit/Herzog, Art. 138 EGV a. F., Nr. 138.05, S. 5-47 f.; Patijn/Millar, FS Bieber, 159 (164 f.); C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 22. 24 Beschluß des Rates v. 20.09.1976 (76/787/EGKS, EWG, Euratom), ABl. Nr. L 278 v. 08.10.1976, S. 1, abgedruckt in: Europäisches Parlament, Direktwahlen zum Europäischen Parlament, 1977, S. 9. 25 ABl. Nr. L 278 v. 08.10.1976, S. 5, abgedruckt in: Europäisches Parlament, Direktwahlen zum Europäischen Parlament, 1977, S. 13. Inzwischen „Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments“, zuletzt geändert durch Beschluss des Rates v. 25.06.2002 und 23.09.2002 (2002/772/EG,

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den die Bestimmungen dieses Direktwahlaktes (DWA) anschließend von den Mitgliedstaaten nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften angenommen26, so dass sie zum 01.07.1978 in Kraft treten konnten. Art. 1 DWA a. F. ordnete erstmals die allgemeine und unmittelbare Wahl sämtlicher Abgeordneten des Parlaments durch die Völker der Mitgliedstaaten an. Damit markierte der DWA den entscheidenden Durchbruch für das langjährige Bestreben, das Europäische Parlament unmittelbar durch die Bürger zu legitimieren. Auch wenn er gewisse Elemente einer völkerrechtlichen Vereinbarung aufweist27, gehört der DWA doch zum europäischen Primärrecht28. Dies zeigen sowohl das zugrundeliegende halbautonome Verfahren nach Europarecht29 und die spätere unmittelbare Anpassung des DWA durch die jeweiligen Beitrittsverträge30 als auch die Tatsache, dass der DWA selbst primärrechtsändernde Vorschriften enthielt31. Euratom), ABl. Nr. L 283 v. 21.10.2002, S. 1. Die Bestimmungen des Aktes bildeten keinen integrativen Bestandteil des Ratsbeschlusses, sondern waren dem Beschluss „beigefügt“. Darüber hinaus erhielten sie keine nähere rechtliche Qualifizierung. 26 Der DWA wurde u. a. in Deutschland (BGBl. 1977 II, S. 733) in der Form eines Zustimmungsgesetzes erlassen; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 51. 27 Neben der Aufspaltung des Regelungsgegenstandes in Beschluss und Akt zählt dazu v. a. die Unterzeichnungspraxis: So wurde nicht nur der Beschluss durch den Ratspräsidenten und sämtliche Ratsmitglieder unterzeichnet, sondern auch der Text des Aktes durch die Vertreter der Mitgliedstaaten. Für eine nähere Analyse siehe Hilf, Elemente, in: Ress, Souveränitätsverständnis, S. 21 (26 f.); C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 99 ff.; Bangemann/Bieber, S. 43; vgl. auch BVerfGE 104, 214 (219). 28 Diese Rechtsnatur kommt dem DWA jedenfalls mit seiner Annahme durch die Mitgliedstaaten zu. Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 86; ders., ZVglRWiss 104 (2005), 163 (167); GA Darmon, Schlussanträge v. 24.03.1993 in der Rs. C-41/92, The Liberal Democrats ./. Europäisches Parlament, Slg. 1993, I-3153, Rn. 52; Böttger, EuR 2002, 898 (899); Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 51; Kotroni, S. 249; von Arnauld, EuR 2003, 191 (198 f.); Breuer, EuGRZ 2005, 229 (229 f.); Wölker, EuR 2007, 32 (33); Lorenzmeier, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 209 (211, Fn. 12); im Ergebnis ebenso C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 119. Anders Schreiber, NVwZ 2004, 21 (24), der von einem Sekundärrechtsakt eigener Art ausgeht. 29 Der häufig als „Zwitterstellung“ zwischen Europa- und Völkerrecht (etwa Bieber/ Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 223 AEUV, Rn. 12; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 51) bezeichnete Charakter des DWA ist letztlich v. a. auf dieses spezielle europarechtliche Änderungsverfahren zurückzuführen; siehe C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 104 f.; Haag, FS Bieber, 137 (141); Giegerich, ZVglRWiss 104 (2005), 163 (167); Denkschrift zu dem Beschluß und Akt des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung, BT-Drs. 8/360 v. 06.05.1977, S. 8 (10). 30 Z. B. Art. 10 der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik und die Anpassungen der Verträge, ABl. Nr. L 302 v. 15.11.1985; vgl. auch Art. 5 des Beschlusses des Rates der EU v. 01.01.1995 zur Anpassung der Dokumente betreffend den Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur EU (95/1/EG, Euratom, EGKS), ABl. Nr. L 1 v. 01.01.1995, S. 1 (2); Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 51. 31 Vgl. Art. 14 DWA a. F.

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Inhaltlich wurden im DWA diverse Modalitäten und Einzelheiten zur Direktwahl festgelegt, z. B. Aspekte des Abgeordnetenstatus32 sowie Terminierung und Ablauf der Wahl33. Das von Art. 138 Abs. 3 EWGV34 vorgegebene Ziel eines einheitlichen Wahlverfahrens blieb freilich noch unerreicht. Vielmehr wurde vorbehaltlich der Vorschriften des DWA jedem Mitgliedstaat die Regelung des Verfahrens nach seinem nationalen Recht überlassen35. Aus diesem Grund wurde seinerzeit die Frage der Vertragskonformität des DWA kontrovers diskutiert36. Festzuhalten bleibt heute jedenfalls, dass der DWA einen angesichts der damaligen politischen Verhältnisse zweckmäßigen integrationsorientierten Zwischenschritt hin zu einem weiter vereinheitlichten Verfahren darstellte, das als Zielvorgabe in den Gemeinschaftsverträgen erhalten blieb und durch Art. 7 Abs. 1 DWA a. F. noch einmal bekräftigt wurde37. Nach Schaffung der entsprechenden innerstaatlichen Vorschriften fand dann die erste Direktwahl zum Parlament im Juni 1979 statt38; seitdem werden regelmäßig im Fünfjahresrhythmus Europawahlen abgehalten39. Infolge der Beitritte neuer Mitgliedstaaten40 zum europäischen Integrationsverbund sowie durch die deutsche Wiedervereinigung hat sich der Kreis der Wahlberechtigten41 inzwischen erheblich vergrößert, und parallel wuchs auch die Zahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Insgesamt hat der DWA also trotz gewisser Unzulänglichkeiten durchaus die von ihm erhoffte demokratie- und integrationsfördernde Wirkung42 entfalten können.

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Art. 4 ff. DWA a. F.; siehe jetzt Art. 6 f. DWA. Art. 9 f. DWA a. F.; siehe jetzt Art. 10 f. DWA. 34 Für das Montan- und Euratomrecht entsprechend Art. 21 Abs. 3 EGKSV a. F. und Art. 108 Abs. 3 EAGV a. F. 35 Art. 7 Abs. 2 DWA a. F.; siehe jetzt Art. 8 DWA. 36 Vgl. C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 89 ff., 118; Grabitz/Läufer, S. 233 f.; Kundoch, JöR N. F. 25 (1976), 1 (17); Smit/Herzog, Art. 138 EGV a. F., Nr. 138.05, S. 548 f. Zur inzwischen erfolgten Änderung des Primärrechts siehe u., 3. 37 Vgl. auch näher Bangemann/Bieber, S. 48 ff.; Bieber, Organe, S. 132 f.; Partsch, EuR 1978, 293 (294). 38 Bieber/Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 223 AEUV, Rn. 3; Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 8. 39 Art. 14 Abs. 3 EUV (früher Art. 190 Abs. 3 EGV, davor Art. 3 Abs. 1 DWA a. F.). 40 Seit Einführung der Direktwahl gab es sechs Erweiterungsrunden: 1981 Griechenland; 1986 Portugal und Spanien; 1995 Finnland, Österreich, Schweden; 2004 Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern; 2007 Bulgarien und Rumänien; 2013 Kroatien. 41 Zur Wahlberechtigung siehe noch u., II. 2. a) und VI. 42 Vgl. hierzu Zuleeg, FS Aubin, 361 (368); Constantinesco, GS Sasse, 247 (254); Kundoch, JöR N. F. 25 (1976), 1 (7). 33

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3. Vom Maastrichter Vertrag zum Wahlverfahren nach gemeinsamen Grundsätzen Mit dem Vertrag von Maastricht (1993) fand auch der Grundsatz der Demokratie seinen Platz im Kanon der nun ausdrücklich normierten fundamentalen Verfassungsprinzipien, auf denen die neu geschaffene EU beruhen sollte43. Diese Hervorhebung des Demokratieprinzips allein vermochte in ihrer Allgemeinheit allerdings keine direkten Impulse für eine nähere Konkretisierung zu setzen44. Eine substantiell größere Bedeutung ist der kontinuierlichen Ausweitung der Entscheidungs- und Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments beizumessen45, mit der auch eine Aufwertung des Europawahlrechts einherging46. Dessen Ausübung wurde in Maastricht außerdem durch die Einführung der Unionsbürgerschaft erleichtert, da die Unionsbürger fortan nach Art. 19 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 22 Abs. 2 AEUV) in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat zu den dortigen Bedingungen an den Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen konnten47. Mit dieser Regelung wurde zwar die lang erstrebte Vereinheitlichung des Europawahlrechts nach wie vor nicht erreicht. Jedoch stärkte der Maastrichter Vertrag die Befugnisse des Europäischen Parlaments bei der Verfahrensvereinheitlichung und -neugestaltung insofern, als es mit der Mehrheit seiner Mitglieder den beabsichtigten Regelungen vor einer Entscheidung des Rates zustimmen muss48. In der Zeit zwischen 1982 und 1998 legte das Europäische Parlament mehrere Entwürfe für ein einheitliches Wahlverfahren vor49, die aufeinander aufbauend die Harmonisierung zentraler Verfahrensbestandteile vorsahen50. Ein Hauptproblem bildete der Gegensatz zwischen dem in den Mitgliedstaaten überwiegend angewandten Verhältniswahlrecht und dem im Vereinigten Königreich vorherr43 Art. 6 Abs. 1 EUV a. F. sowie 3. und 6. Erwägungsgrund der Präambel des EUV a. F.; jetzt Art. 2 S. 1, Art. 10 EUV sowie 2., 4. und 7. Erwägungsgrund der Präambel des EUV. 44 Vgl. Streinz/Pechstein, Art. 2 EUV, Rn. 4. 45 Vgl. Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 10 ff.; Peuker, ZEuS 2008, 453 (460); Terhechte, EuR 2008, 143 (162 f.). 46 Vgl. Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 26, Rn. 66. 47 Näher u., II. 3. 48 Art. 190 Abs. 4 UAbs. 2 EGV; jetzt Art. 223 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 AEUV. Vgl. Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 223 AEUV, Rn. 3. 49 Entschließung v. 10.03.1982, ABl. Nr. C 87 v. 05.04.1982, S. 61, 64 (Bericht „Seitlinger“); Entschließung v. 10.03.1993, ABl. Nr. C 115 v. 26.04.1993, S. 121 (Bericht „De Gucht“); Entschließung v. 15.07.1998, ABl. Nr. C 292 v. 21.09.1998, S. 66, 68 (Bericht „Anastassopoulos“). Damit war einer 1992 von den britischen „Liberal Democrats“ angestrengten Untätigkeitsklage gegen das Europäische Parlament die Grundlage entzogen; EuGH, Beschl. v. 10.06.1993, The Liberal Democrats ./. Europäisches Parlament, Rs. C-41/92, Slg. 1993, I-3153, Rn. 1 ff. 50 Vgl. Haag/Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 190 EGV, Rn. 39 ff.; Eickhoff, S. 89 f.; Schwarze/Schoo, Art. 223 AEUV, Rn. 2 f.; Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Art. 14 EUV, Rn. 71 ff.

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schenden Mehrheitswahlrecht51. Der Parlamentsentwurf von 1998 mündete im Jahr 2002 schließlich in einen Beschluss des Rates, der die Änderung des DWA in seine heutige Fassung herbeiführte52. Zwischenzeitlich war das Primärrecht mit dem Vertrag von Amsterdam dahingehend angepasst worden, dass zur Erfüllung des Handlungsauftrags auch bereits die Schaffung eines Wahlverfahrens genügt, das im Einklang mit den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen steht53. Damit gab man zwar einerseits praktisch den hohen Anspruch auf, ein wirklich einheitliches Wahlverfahren zu etablieren. Andererseits ermöglichte es die Neufassung aber, wenigstens die wichtigsten Elemente dauerhaft auf eine hinreichend flexible gemeinsame Grundlage zu stellen. So wurde mit dem Ratsbeschluss von 2002 die unionsweite Einführung des Verhältniswahlsystems erreicht, nach dem die Mitglieder des Europäischen Parlaments gemäß Art. 1 Abs. 1 DWA nunmehr auf der Grundlage von Listen oder von übertragbaren Einzelstimmen gewählt werden. Im DWA nicht erfasste Fragen des Wahlverfahrens sind gemäß Art. 8 Abs. 1 DWA von den Mitgliedstaaten weiterhin nach deren innerstaatlichen Vorschriften zu regeln. Ausdrücklich gestattet der DWA die Zulassung von Vorzugsstimmen auf der Grundlage von Listen (Art. 1 Abs. 2 DWA) sowie die Einrichtung von Wahlkreisen oder eine andere Unterteilung der Wahlgebiete (Art. 2 DWA). Für die Sitzvergabe können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 3 DWA eine Mindestschwelle von landesweit höchstens 5% der abgegebenen Stimmen festlegen54; in Art. 4 DWA wird außerdem die Bestimmung einer Obergrenze für die Wahlkampfkosten der Wahlbewerber zugelassen. Ferner dürfen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates den Entzug des Abgeordnetenmandats vorsehen55. Ungeachtet dieser Flexibilität stellt das Ver51 Haag/Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 190 EGV, Rn. 40; Schwarze/ Schoo, Art. 223 AEUV, Rn. 3; Streinz/Huber, Art. 223 AEUV, Rn. 2; C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 291 ff.; Seeler, EuR 1998, 721 (727). 52 Beschluss des Rates v. 25.06.2002 und 23.09.2002 (2002/772/EG, Euratom), ABl. Nr. L 283 v. 21.10.2002, S. 1. Die Änderungen sind nach Ratifikation in allen Mitgliedstaaten am 01.04.2004, also noch vor den Europawahlen im selben Jahr, in Kraft getreten (BGBl. 2004 II, S. 520). Vgl. auch Bieber/Haag, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Art. 223 AEUV, Rn. 8 ff.; Streinz/Huber, Art. 223 AEUV, Rn. 4; Mittag/Hülsken, integration 2009, 105 (113 f.); Schreiber, NVwZ 2004, 21 (25 f.). 53 Art. 190 Abs. 4 UAbs. 1 EGV; jetzt Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV. Siehe Giegerich, Europäische Verfassung, S. 216 f.; Streinz/Huber, Art. 223 AEUV, Rn. 7; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 223 AEUV, Rn. 4; Haag, FS Bieber, 137 (139); Schreiber, NVwZ 2004, 21 (25). 54 Am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts hat das BVerfG jedoch die Sperrklauseln von zunächst 5% und dann 3%, die in Deutschland bei Europawahlen vorgesehen waren (ehemals § 2 Abs. 7 EuWG), für verfassungswidrig und nichtig erklärt; BVerfGE 129, 300 (316 ff., 343), mit abweichender Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff (S. 346 ff.); BVerfGE 135, 259 (280, 282 f., 291 ff.), mit abweichender Meinung des Richters Müller (S. 299 ff.); anders auch noch BVerfGE 51, 222 (234 ff.); siehe ferner Arndt, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 1, Rn. 34. 55 Art. 13 Abs. 3 DWA; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 86.

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hältniswahlsystem den gemeinsamen Nenner des vereinheitlichten Wahlverfahrens dar, von dem insgesamt abzuweichen den Mitgliedstaaten ausdrücklich verboten ist (Art. 2, Art. 8 Abs. 2 DWA). Mit der jetzt geltenden Fassung des Art. 1 Abs. 3 DWA haben auch die Grundsätze der freien und geheimen Wahl56 Eingang in das Primärrecht gefunden57. Überarbeitet wurde ebenfalls die Liste der für die Mitgliedschaft im Parlament geltenden Inkompatibilitäten (Art. 7 DWA); erwähnenswert ist hier v. a. die Ergänzung um die grundsätzliche Unvereinbarkeit des europäischen mit einem nationalen Parlamentsmandat (Abs. 2). Auch wenn man sich nicht auf ein komplett einheitliches Wahlverfahren i. S. d. Art. 190 Abs. 4 UAbs. 1 Var. 1 EGV (jetzt Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 Var. 1 AEUV) verständigen konnte58, ist doch zumindest dem Auftrag des Art. 190 Abs. 4 Var. 2 EGV (jetzt Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 Var. 2 AEUV) Genüge getan worden, das Verfahren nach gemeinsamen Grundsätzen zu gestalten59. Damit hat ein jahrzehntelanges Streben nach verbindlichen harmonisierten Standards im Europawahlverfahren zunächst einmal seinen Abschluss gefunden. Es erscheint auch unwahrscheinlich, dass sich die Mitgliedstaaten in absehbarer Zeit auf eine weitergehende Vereinheitlichung des Wahlverfahrens einigen werden60.

II. Die gegenwärtige Ausgestaltung des unionsrechtlichen Wahlgrundrechts Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament wird durch mehrere verbindliche, allesamt im Primärrechtsrang stehende Wahlrechtsgrundsätze geprägt, die gemeinsam in Art. 14 Abs. 3 EUV, Art. 39 Abs. 2 GRC und Art. 1 Abs. 3 DWA aufgezählt werden. Danach hat die Europawahl allgemein, unmittelbar, frei und geheim zu erfolgen. Die Unmittelbarkeit der Wahl wird darüber hinaus in Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1 EUV bekräftigt und zusammen mit der Allgemeinheit auch in Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV statuiert. Hingegen findet die Wahlrechtsgleichheit in den maßgeblichen Vorschriften keine ausdrückliche Erwähnung61. 1. Grundrechtscharakter Die primärrechtlich verankerten Wahlrechtsgrundsätze bilden auch die normative Grundlage für ein entsprechendes europäisches Wahlgrundrecht der Unions56

Hierzu u., II. 2. c). Näher Schreiber, NVwZ 2004, 21 (25). 58 Vgl. die Übersicht über die vom „europäischen Standard“ abweichenden Wahlrechtselemente in den Mitgliedstaaten bei Wüst/Tausendpfund, APuZ 23–24/2009, 3 (4 f.). 59 Vgl. Schreiber, NVwZ 2004, 21 (22 f., 25, 28); sowie die Übersicht bei Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 223 AEUV, Rn. 45. 60 Ruffert, EuR Beiheft 1 2009, 31 (40). 61 Siehe u., 2. d) aa). 57

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bürger. Zwar sind die Grundsätze selbst nicht als subjektive Rechtspositionen, sondern vielmehr als objektive Rechtssätze formuliert, die der Union und den Mitgliedstaaten Verpflichtungen auferlegen62. Nach Maßgabe der ständigen Rechtsprechung des EuGH seit dem Urteil Van Gend & Loos63 lässt sich jedoch die unmittelbare Anwendbarkeit der Wahlrechtsprinzipien zugunsten der Unionsbürger feststellen. Denn die aufgestellten Grundsätze sind hinreichend klar und bestimmt und zielen darauf ab, den Unionsbürgern eine effektive und faire Wahl zum Europäischen Parlament zu gewährleisten. Daher verwundert es nicht, dass Art. 39 Abs. 2 GRC als Teil der europäischen Bürgerrechte gleichfalls in einer objektiven Formulierung gehalten ist. Darüber hinaus gebietet der Einfluss der EMRK auf die Europarechtsordnung ebenso eine subjektivierende Auslegung. Zum einen müssen alle EU-Mitgliedstaaten die in Art. 3 ZP 1 verbürgten Wahlgrundrechte64 völkerrechtlich gegen sich gelten lassen, zum anderen bilden diese einen wesentlichen Anhaltspunkt für die Ermittlung ungeschriebener Unionsgrundrechte65. Schließlich kommt nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC den in der GRC enthaltenen Rechten die gleiche Bedeutung und Tragweite zu wie den ihnen entsprechenden Rechten in der EMRK und ihren Protokollen66. Zwar ist Art. 39 Abs. 2 GRC nicht in der ursprünglich vom Präsidium des Grundrechtekonvents als Teil seiner Erläuterungen zur GRC zusammengestellten Liste67 der Rechte aus der GRC enthalten, die ganz oder teilweise EMRK-Rechten entsprechen. Diese Erläuterungen sind als Hilfe bei der Auslegung der GRC zu berücksichtigen68, beanspruchen aber keine Rechtsverbindlichkeit69. Daher kann auch die Liste der einander ent-

62

Vgl. Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 90. EuGH, Urt. v. 05.02.1963, Van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (5 f., 24 ff.). Vgl. auch bereits o., Teil 2, A. II. 3. 64 Siehe dazu näher u., III. 65 Vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV; EuGH, Urt. v. 13.12.1979, Liselotte Hauer ./. Land Rheinland-Pfalz, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 91; Strejcek, FS Öhlinger, 395 (403). 66 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. Nr. C 303 v. 14.12.2007, S. 17 (33). Da das Grundrechtsschutzniveau auf Unionsebene über den kleinsten gemeinsamen Nenner der Mitgliedstaaten hinausgeht, erstreckt sich die Transferklausel auch auf die Garantien derjenigen Protokolle zur EMRK, die nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind. Aufgrund der Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung sind Union und Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts stets an den gleichen Grundrechtsstandard gebunden. Vgl. näher von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Art. 52 GRC, Rn. 59, m.w. N.; Rengeling/Szczekalla, § 7, Rn. 468 mit Fn. 72; teils abweichend Meyer/Borowsky, Art. 52 GRC, Rn. 35. 67 Erläuterungen zur GRC, a. a. O., S. 17 (33 f.). 68 Art. 52 Abs. 7 GRC und Abs. 5 der Präambel zur GRC. 69 Erläuterungen zur GRC, ABl. Nr. C 303 v. 14.12.2007, S. 17; Meyer/Borowsky, Art. 52 GRC, Rn. 31b. 63

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sprechenden Grundrechte nicht als abschließend angesehen werden70, so dass bei der Beurteilung der Entsprechung von Rechten auch inhaltliche Aspekte von Bedeutung sind71. So betreffen Art. 39 Abs. 2 GRC und Art. 3 ZP 1 nicht nur den gleichen geschützten Lebensbereich72, sondern der erwähnte maßgebliche Einfluss von Art. 3 ZP 1 auf die europarechtlichen Wahlrechtsgewährleistungen führt hier praktisch zu einem materiellen Gleichklang beider Rechtsordnungen. Insofern erweist es sich als konsequent und transparenzfördernd, diese ohnehin bestehende Kohärenz durch Anwendung von Art. 52 Abs. 3 GRC auch formell anzuerkennen und zu bestätigen73. Damit werden die Anforderungen des mit Art. 39 Abs. 2 GRC korrespondierenden subjektiven Konventionsrechts aus Art. 3 ZP 1 mittelbar in das europäische Wahlrecht inkorporiert74. Die Möglichkeit, im Unionsrecht noch weitergehenden Schutz zu gewähren, bleibt nach Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC ausdrücklich unberührt75. Das folglich auf verschiedene Weise herleitbare subjektive Wahlgrundrecht zum Europäischen Parlament ist besonders für diejenigen Unionsbürger relevant, die als Inländer im Mitgliedstaat ihrer Staatsangehörigkeit an der Europawahl teilnehmen und sich daher nicht auf Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV berufen können76. Auch ihnen gegenüber ist es den Mitgliedstaaten primärrechtlich verboten, die Europawahl in ihrem Gebiet als rein innerstaatliche Angelegenheit zu behandeln. Allen Unionsbürgern ist es damit möglich, gestützt auf das Europarecht gegen unverhältnismäßige Eingriffe in ihre aktive oder passive Wahlfreiheit vorzugehen77. Selbst europawahlrechtliche Vorschriften, die in den Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten fallen und damit prinzipiell auch den Maßstäben des

70 von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Art. 52 GRC, Rn. 53; Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199, Fn. 13). 71 Sonst wäre entweder die Liste des Präsidiums als exklusiver Maßstab zementiert, oder dem Begriff der „Entsprechung“ wäre mit juristischer Methodik kaum beizukommen. Vgl. auch Meyer/Borowsky, Art. 52 GRC, Rn. 31 ff. 72 Zu diesem Kriterium von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Art. 52 GRC, Rn. 54; Grabenwarter, FS Steinberger, 1129 (1135 f.). 73 Im Ergebnis ebenso Jarass, EU-Grundrechte, § 35, Rn. 9. Die Herstellung der notwendigen Kohärenz zwischen GRC und EMRK stellt das mit Art. 52 Abs. 3 GRC verfolgte zentrale Ziel dar; vgl. Erläuterungen zur GRC, ABl. Nr. C 303 v. 14.12.2007, S. 17 (33); Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (155). 74 Zur Rechtsfolge Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (200 f.); von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Art. 52 GRC, Rn. 56 ff.; Rengeling/Szczekalla, § 7, Rn. 475; Meyer/Borowsky, Art. 52 GRC, Rn. 30, 34; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 52 GRC, Rn. 31 ff. 75 Näher Naumann, EuR 2008, 424 (430 ff.). 76 Art. 39 Abs. 1 GRC ist demgegenüber zwar offener formuliert, knüpft aber immer noch an die für Staatsangehörige des Wohnsitzstaates geltenden Bedingungen an. Siehe u., 3.; sowie Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 90 ff.; Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 10 ff. 77 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 92.

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nationalen Verfassungsrechts genügen müssen78, sind stets in Orientierung am Europarecht auszulegen und anzuwenden, da sich die durch sie geregelte Wahl nicht auf ein nationales, sondern auf ein europäisches Organ bezieht79. In Deutschland ist dies v. a. für die autonomen Bestimmungen von Europawahlgesetz80 und Europawahlordnung81 relevant, die die innerstaatlichen Modalitäten der Vorbereitung und Durchführung der Europawahl festlegen. Im übrigen reduziert sich der eigenständige Spielraum der Mitgliedstaaten umso mehr, je detaillierter die Vorgaben für die Wahlen zum Europäischen Parlament sind, die das Europarecht selbst enthält82. Solange allerdings nicht alle Aspekte des Europawahlverfahrens von einer umfassenden europäischen Einheitsregelung abgedeckt werden, bleibt es beim Zusammenwirken der Wahlrechtsnormen aus den verschiedenen Ebenen des europäischen Integrationsverbunds. In diesem Kontext sind sämtliche Träger von europäischer wie mitgliedstaatlicher Hoheitsgewalt an die Gewährleistungen des europäischen Wahlgrundrechts gebunden. 2. Einzelne Wahlrechtsgrundsätze a) Allgemeine Wahl Gemäß dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl steht allen Legitimationssubjekten das Recht auf Wahlteilnahme unter gleichen Bedingungen zu83. Bei Wahlen zum Europäischen Parlament ist nach Maßgabe von Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1, Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV für jeden Unionsbürger und damit für alle Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten (siehe Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV) sowohl das aktive als auch das passive Europawahlrecht gewährleistet84. Die Zahl der zu vergebenden Mandate beträgt nach Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 EUV

78 Vgl. BVerfGE 51, 222 (234 f.); Murswiek, JZ 1979, 48 (48); Hahlen, DÖV 1979, 282 (283); ders., DÖV 1979, 505 (506); differenzierend Bleckmann, DÖV 1979, 503 (503 ff.); Schönberger, Unionsbürger, S. 505 f. 79 Schönberger, Unionsbürger, S. 505 f., 508. 80 Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland (EuWG) v. 16.06.1978 i. d. F. der Bekanntmachung v. 08.03.1994 (BGBl. 1994 I, S. 423, 555), zuletzt geändert durch Gesetz v. 07.10.2013 (BGBl. 2013 I, S. 3749). 81 Europawahlordnung (EuWO) v. 27.07.1988 i. d. F. der Bekanntmachung v. 02.05. 1994 (BGBl. 1994 I, S. 957), zuletzt geändert durch Verordnung v. 16.12.2013 (BGBl. 2013 I, S. 4335). 82 Schönberger, Unionsbürger, S. 507. 83 Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 24; Jarass, EU-Grundrechte, § 35, Rn. 15; Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 30; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 58; vgl. auch BVerfGE 58, 202 (205); 99, 69 (77 f.). 84 Schwarze/Schoo, Art. 14 EUV, Rn. 49; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 58; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 9; Schönberger, Unionsbürger, S. 491. Siehe zur Wahlberechtigung auch u., VI.

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höchstens 750 zuzüglich des Präsidenten85. Einschränkungen der Allgemeinheit der Wahl wie Regelungen über das Wahlalter, die Verwirkung des Wahlrechts oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter sind zulässig, soweit sie aus zwingenden Gründen erforderlich sind86. Im deutschen Recht finden sich beispielsweise entsprechende Bestimmungen in §§ 6 ff. EuWG. In den Bereichen, die in Ermangelung eines gänzlich einheitlichen Wahlverfahrens87 gemäß Art. 8 DWA durch die Mitgliedstaaten zu regeln sind, gebietet das Europarecht kraft Art. 4 Abs. 3 EUV (früher Art. 10 EGV), dass das Wahlrecht zum Europäischen Parlament in Übereinstimmung mit den primärrechtlichen Grundsätzen effektiv ausgeübt werden kann und im Vergleich zu den nationalen Wahlverfahren nicht ungerechtfertigt ungünstiger ausgestaltet ist88. Auf diese Weise wird zwar die mögliche Bandbreite der mitgliedstaatlichen Normierung eingeschränkt, ein weitergehender Homogenisierungseffekt für die nationalen Verfahren ergibt sich dagegen nicht. Aus dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl lässt sich also nicht ableiten, dass den Mitgliedstaaten kein Raum für unterschiedliche Verfahrensregeln mehr bleibe und bei fehlender Einheitlichkeit stets die für das Wahlrecht jeweils günstigsten nationalen Regelungen EU-weit zur Anwendung kämen89. Einzelnen Mitgliedstaaten würde sonst der ihnen vom DWA eingeräumte Handlungsspielraum genommen, ohne dass dies europarechtlich erforderlich ist. Setzt beispielsweise ein Mitgliedstaat das Mindestwahlalter auf 15 Jahre herab, besteht aus Sicht des Europarechts kein Bedürfnis, diese Regelung auch auf Mitgliedstaaten zu übertragen, die sich generell für eine Altersgrenze von 18 Jahren entschieden haben. Insoweit verlangt der Allgemeinheitsgrundsatz eben kein einheitliches europäisches Wahlverfahren, sondern erfordert lediglich, dass die Regelungen eines Mitgliedstaats allein dort für alle Betroffenen in gleicher Weise gelten90. Mit dem Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl kommt ferner zum Ausdruck, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament im gesamten Unionsgebiet stattzu85 Hiervon abweichend setzte sich das Europäische Parlament bis zum Ende der Wahlperiode 2009–2014 vorbehaltlich beitrittsbedingter Änderungen aus 754 Abgeordneten zusammen. Nachdem 2009 noch gemäß Art. 189 Abs. 2 EGV ein aus 736 Mitgliedern bestehendes Parlament gewählt worden war, wurden nachträglich 18 weitere Sitze hinzugefügt; Art. 2 Abs. 1 Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen i. d. F. des Protokolls v. 23.06.2010, ABl. Nr. C 263 v. 29.09.2010, S. 1. Vgl. Schwarze/Schoo, Art. 14 EUV, Rn. 41 ff., 47; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 46. 86 Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 24, m.w. N.; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 58; Schwarze/Schoo, Art. 14 EUV, Rn. 49; Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 61; Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 39, 40 GRC, Rn. 9. 87 Vgl. o., I. 3. 88 Vgl. entsprechend o., Teil 2, A. III. 3. a) aa) (3), und Teil 3, A. I. 3. b) bb) (3) (b). 89 So aber Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 59. 90 Jarass, EU-Grundrechte, § 35, Rn. 15.

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finden haben91. Dazu gehört grundsätzlich das Territorium sämtlicher Mitgliedstaaten, soweit es den für die Wahl maßgeblichen Vorschriften des Europarechts (insbesondere Art. 14 EUV, 223 ff. AEUV) unterliegt. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich nach Art. 52 EUV und dem differenzierten Regime des Art. 355 AEUV92, der teils auf die Sondervorschriften zum Beitritt einzelner Mitgliedstaaten verweist (Art. 355 Abs. 4, 5 lit. c AEUV). Nach Art. 52 Abs. 2 EUV i.V. m. Art. 355 Abs. 1 AEUV entfalten die Verträge grundsätzlich Geltung für die genannten französischen Überseegebiete93 sowie für die Azoren, Madeira und die Kanarischen Inseln. Dies schließt die Vorschriften über das Europawahlrecht mit ein, deren Wirksamkeit im übrigen auch von Anpassungsmaßnahmen des Rates, die nach Art. 349 AEUV im Hinblick auf die periphere Lage dieser Gebiete möglich sind, nicht beeinträchtigt werden darf. Denn Art. 349 Abs. 3 AEUV stellt derartige Maßnahmen unter den Vorbehalt, dass Integrität und Kohärenz der Unionsrechtsordnung gewahrt bleiben. Für die in Anhang II zum AEUV aufgeführten überseeischen Länder und Hoheitsgebiete (ÜLG) gilt dagegen gemäß Art. 355 Abs. 2 AEUV das besondere Assoziierungssystem des Vierten Teils des AEUV (Art. 198 ff.), in dessen Rahmen kein Europawahlrecht vorgesehen ist94; die betroffenen außereuropäischen Gebiete sind vielmehr als Drittländer anzusehen95. Die Mitgliedstaaten sind daher europarechtlich nicht verpflichtet, dort Wahlen zum Europäischen Parlament abzuhalten96. Es steht ihnen jedoch nach Art. 8 Abs. 1 DWA frei, die Voraussetzungen für das Europawahlrecht auch unter Anknüpfung an den Wohnsitz festzulegen und so ebenfalls den in ÜLG wohnenden Unionsbürgern ein entsprechen-

91 Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 61; Denkschrift zu dem Beschluß und Akt des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 20. September 1976 zur Einführung allgemeiner und unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung, BT-Drs. 8/360 v. 06.05.1977, S. 8 (11). 92 Der räumliche Anwendungsbereich des EAGV ist demgegenüber weiter, vgl. Art. 198 Abs. 1 EAGV. 93 Guadeloupe, Französisch-Guayana, Martinique, Mayotte, Réunion, Saint-Martin. 94 Vgl. EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Eman und Sevinger, Rs. C-300/04, Slg. 2006, I-8055, Rn. 46 ff.; EuGH, Urt. v. 12.02.1992, Leplat ./. Territoire de la Polynésie française, Rs. C-260/90, Slg. 1992, I-643, Rn. 10; EuGH, Urt. v. 22.11.2001, Niederlande ./. Rat, Rs. C-110/97, Slg. 2001, I-8763, Rn. 49. 95 EuGH, Gutachten 1/94 v. 15.11.1994 (WTO), Slg. 1994, I-5267, Rn. 17; Streinz/ Kokott, Art. 355 AEUV, Rn. 6. 96 Der mittelbare Einfluss der Unionsrechtsordnung auf die ÜLG im Rahmen der Assoziation erfordert keine über die Mitwirkung in den Assoziationsgremien hinausgehende demokratische Beteiligung der ÜLG-Bewohner. Da die ÜLG nicht zum Unionsgebiet gehören, fungiert das Europäische Parlament für sie auch nicht als gesetzgebende Körperschaft i. S. d. Art. 3 ZP 1. Vgl. EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Eman und Sevinger, Rs. C-300/04, Slg. 2006, I-8055, Rn. 47 ff.

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des Wahlrecht einzuräumen97. Derartige Regelungen müssen dann den allgemeinen europarechtlichen Vorgaben, insbesondere dem Gleichbehandlungsgrundsatz, entsprechen. So hatte der EuGH 2006 im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens über niederländische Wahlrechtsvorschriften98 zu befinden, die den in Drittstaaten residierenden Niederländern das Europawahlrecht zuerkannten, gleichzeitig aber die niederländischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in den zum Königreich der Niederlande gehörenden ÜLG99 grundsätzlich vom aktiven100 Europawahlrecht ausschlossen101. Da hierfür keine rechtfertigenden Gründe erkennbar waren, stellte der EuGH eine europarechtswidrige Ungleichbehandlung zulasten der in den ÜLG ansässigen Bürger fest102. Der Vertrag von Lissabon hat dem Europäischen Rat die Befugnis übertragen, den europarechtlichen Status der in Art. 355 Abs. 1 und 2 AEUV genannten dänischen, französischen und niederländischen Gebiete auf Initiative des betroffenen Mitgliedstaates und nach Anhörung der Kommission durch einstimmigen Beschluss zu ändern (Art. 355 Abs. 6 AEUV)103. So zählt Saint-Barthélemy seit 2012 zu den ÜLG104, wohingegen Mayotte 2014 in den Geltungsbereich der Verträge gewechselt ist105. Auf den Kanalinseln und der Insel Man gelten die europäischen Verträge nach Art. 355 Abs. 5 lit. c AEUV106 nur, soweit dies erforderlich ist, um die Anwen97 Vgl. EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Eman und Sevinger, Rs. C-300/04, Slg. 2006, I-8055, Rn. 42, 54 f., 61; Besselink, CMLR 45 (2008), 787 (801 f.). Zum mitgliedstaatlichen Spielraum diesbezüglich vgl. u., V. 3. a), VI. 98 Art. B 1 und Y 3 Nederlandse Kieswet a. F. 99 Die Niederländischen Antillen und Aruba fallen unter Art. 198 ff., 355 Abs. 2 i.V. m. Anhang II AEUV. Dieser europarechtliche Status blieb von der staatsrechtlichen Auflösung des Verbandes der Niederländischen Antillen zum 10.10.2010 unberührt, in deren Rahmen die Inseln Bonaire, Saba und Sint Eustatius in die Niederlande eingegliedert wurden, während Curaçao und Sint Maarten einen Autonomiestatus ähnlich dem Arubas erhielten. 100 Siehe insoweit Besselink, CMLR 45 (2008), 787 (790, 795 f.), Fn. 7, 9 f. 101 EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Eman und Sevinger, Rs. C-300/04, Slg. 2006, I8055. 102 EuGH (GK), a. a. O., Rn. 57 ff.; ebenso GA Tizzano, Schlussanträge v. 06.04.2006 in den Rs. C-145/04 (Spanien ./. Vereinigtes Königreich) und C-300/04 (Eman und Sevinger), Slg. 2006, I-7917, I-7920, Rn. 164 ff.; vgl. auch Simon, AFDI Vol. LII (2006), 725 (732). 103 Vgl. auch die zugehörigen Erklärungen zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon Nr. 43 in Bezug auf Mayotte und Nr. 60 betreffend die Niederländischen Antillen und Aruba, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 351, 358; ferner Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 355 AEUV, Rn. 3 f., 8; Perrot, RTDE 45 (2009), 717 (736 ff.). 104 Beschluss 2010/718/EU des Europäischen Rates v. 29.10.2010 zur Änderung des Status der Insel Saint-Barthélemy gegenüber der Europäischen Union, ABl. Nr. L 325 v. 09.12.2010, S. 4. 105 Beschluss 2012/419/EU des Europäischen Rates v. 11.07.2012 zur Änderung des Status von Mayotte gegenüber der Europäischen Union, ABl. Nr. L 204 v. 31.07.2012, S. 131.

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dung der im Beitrittsvertrag von 1972 vorgesehenen Regelung sicherzustellen. Die einschlägigen Bestimmungen im Protokoll Nr. 3 zum Beitrittsvertrag erklären bestimmte Bereiche des Europarechts für anwendbar107, die Normen über das Europawahlrecht gehören allerdings nicht dazu. In diesem Zusammenhang ist auch Anhang I DWA zu sehen, demzufolge das Vereinigte Königreich die Vorschriften des DWA nur auf das Vereinigte Königreich anwenden wird. Die Kanalinseln und die Insel Man als nicht zum Vereinigten Königreich gehörende Kronbesitztümer mit Sonderstatus108 fallen somit aus dem Regelungsbereich des DWA heraus109. Auf die Rechtslage in Bezug auf Gibraltar wird nachfolgend noch eingegangen110. b) Unmittelbare Wahl Nach dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl sind die Mitglieder des Europäischen Parlaments direkt durch die Wahlberechtigten selbst zu wählen. Die Zwischenschaltung weiterer Auswahlebenen in den Wahlvorgang ist damit unzulässig, was sowohl die Vermittlung durch Wahlmänner als auch die Beteiligung anderer Wahlgremien ausschließt111. Die Wahl nach Listen ist dagegen ohne Verstoß gegen das Unmittelbarkeitsprinzip möglich, auch wenn einzelne Kandidaten nur in Kombination mit anderen wählbar sind und der genaue Listeninhalt von den Wählern nicht beeinflusst werden kann112. Es muss allerdings sichergestellt sein, dass die Entscheidung der Wähler über die Liste endgültig ist, also insbesondere keiner nachträglichen Änderung oder Ergänzung unterliegt113. Der Unmittelbarkeitsgrundsatz steht des weiteren der vor Einführung der Direktwahl114 üblichen Bestimmung der Europaabgeordneten durch die nationalen 106

Entsprechend Art. 198 Abs. 4 lit. d EAGV. ABl. Nr. L 73 v. 27.03.1972, S. 5 (164). Es gelten etwa grundsätzlich die europäischen Regeln über das Zollregime, den freien Warenverkehr einschließlich landwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Wettbewerbspolitik. Vgl. Streinz/Kokott, Art. 355 AEUV, Rn. 12; Booß, in: Lenz/Borchardt, Art. 355 AEUV, Rn. 6; De Schutter/L’Hoest, CDE 2000, 141 (213); Zillmer, S. 77 ff. 108 Engl. „Crown Dependencies“; vgl. die Übersicht des Ministry of Justice des Vereinigten Königreichs unter: https://www.justice.gov.uk/downloads/about/moj/our-re sponsibilities/crown-dependencies.pdf; sowie Zillmer, S. 45 f., 49 ff. 109 Bieber/Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 15 DWA (Anhang zu Art. 223 AEUV), Rn. 2. 110 Siehe u., IV., V. 111 Jarass, EU-Grundrechte, § 35, Rn. 17; Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 25; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 30. 112 Jarass, EU-Grundrechte, § 35, Rn. 22; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 31; siehe auch BVerfGE 129, 300 (342 f.). 113 Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 26; Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 EUV, Rn. 79; vgl. auch BVerfGE 3, 45 (49 f.); 47, 253 (279 f.). 114 Siehe o., I. 1. In Irland wurden die auf frei gewordene Sitze im Europäischen Parlament nachrückenden Abgeordneten noch bis 1984 unter Verstoß gegen den Unmit107

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Teil 5: Politische Rechte

Parlamente entgegen115. Primärrechtliche Durchbrechungen der Unmittelbarkeit der Wahl sind immer wieder im Zuge von Beitritten neuer Mitgliedstaaten während der laufenden Wahlperiode vorgesehen worden. Um die Repräsentation der beigetretenen Staaten umgehend zu gewährleisten, entsandten deren Volksvertretungen Mitglieder in das Europäische Parlament116, die später durch direkt gewählte Abgeordnete ersetzt wurden117. Nach vergleichbarem Muster verfuhr man auch in der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung, als vom Deutschen Bundestag bestimmte Delegierte als Beobachter ohne Stimmrecht die Bürger der neuen Bundesländer vertraten118. Derartige Übergangsverfahren sollen es den neuen Mitgliedstaaten, die mit zahlreichen beitrittsbedingten Herausforderungen konfrontiert sind, ermöglichen, sich reibungslos in die europäischen Strukturen zu integrieren. Sie sind daher nicht prinzipiell zu beanstanden119, zumal die Gewährleistung der Unmittelbarkeit der Wahl konventionsrechtlich nicht durch Art. 3 ZP 1 gefordert wird120. Jedoch sollten vermeidbare Abweichungen vom Unmittelbarkeitsgrundsatz, wie etwa die Option der Benennung zusätzlicher Europaabgeordneter für die Wahlperiode 2009–2014 aus den Reihen der nationalen Parlamente der betroffenen Mitgliedstaaten121, künftig schon aus Gründen der europarechtlichen Kohärenz unterbleiben122.

telbarkeitsgrundsatz vom nationalen Parlament bestimmt; Haag/Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 190 EGV, Rn. 13, sowie Rn. 40 nach Art. 190 EGV. 115 Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 60; Schwarze/Schoo, Art. 14 EUV, Rn. 50; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 14 EUV, Rn. 27; Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 32. 116 Etwa beim Beitritt Griechenlands 1981 (Art. 23 Abs. 2 der Beitrittsakte, ABl. Nr. L 291 v. 19.11.1979, S. 21), von Portugal und Spanien 1986 (Art. 28 Abs. 2 der Beitrittsakte, ABl. Nr. L 302 v. 15.11.1985, S. 28), von Finnland, Österreich und Schweden 1995 (Art. 31 Abs. 2 der Beitrittsakte, ABl. Nr. C 241 v. 29.08.1994, S. 27) sowie bei der Erweiterung 2004 (Art. 25 Abs. 2 der Beitrittsakte, ABl. Nr. L 236 v. 23.09.2003, S. 40) und dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens 2007 (Art. 21 Abs. 3 Protokoll über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union, ABl. Nr. L 157 v. 21.06.2005, S. 29). Siehe auch Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 62; Schwarze/Schoo, Art. 14 EUV, Rn. 51. 117 Beim Beitritt Rumäniens und Bulgariens 2007 sind national begrenzte Direktwahlen zum Europäischen Parlament bereits innerhalb eines Jahres in den Beitrittsvereinbarungen vorgeschrieben worden; Art. 21 Abs. 2 Protokoll über die Bedingungen und Einzelheiten der Aufnahme der Republik Bulgarien und Rumäniens in die Europäische Union, a. a. O. Im Zuge des Beitritts Kroatiens 2013 war die national begrenzte Direktwahl nach Maßgabe von Art. 19 Abs. 2 der Beitrittsakte (ABl. Nr. L 112 v. 24.04.2012, S. 21) noch vor dem Beitrittstag abzuhalten. 118 Näher Giegerich, ZaöRV 51 (1991), 384 (446 ff.); vgl. auch Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 14 EUV, Rn. 25; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 61. 119 Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 61. 120 Siehe u., III. 121 Art. 2 Abs. 2 lit. c Protokoll (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen i. d. F. des Protokolls v. 23.06.2010, ABl. Nr. C 263 v. 29.09.2010, S. 1.

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c) Freie und geheime Wahl Die Grundsätze der freien und geheimen Wahl garantieren beide die Autonomie der Willensentscheidung des Wahlbürgers im demokratischen Meinungsbildungsprozess. Die Freiheit der Wahl schützt Stimmabgabe und Wahlkandidatur umfassend vor Zwang und anderen nicht zu rechtfertigenden Beeinflussungen. Damit ist jede spürbare Druckausübung auf den Wähler, die zu einer Verkürzung seiner Entscheidungsfreiheit führen könnte, unzulässig123. Entsprechend entfaltet der Wahlfreiheitsgrundsatz auch im Vorfeld und nach einer Wahl seine Schutzwirkung124. Um eine „freie Wahl“ zu haben, muss dem Wähler eine tatsächliche Auswahlmöglichkeit zwischen verschiedenen frei aufgestellten Kandidaten oder Listen offenstehen125. Staatliche und EU-Institutionen dürfen im Wahlkampf generell nicht Partei ergreifen, sondern sind zur Neutralität verpflichtet126. Die europarechtliche Zulässigkeit einer Wahlpflicht, wie sie in mehreren Mitgliedstaaten besteht127, ist im Schrifttum nicht unumstritten. So wird kritisch darauf verwiesen, dass der öffentlichen Nichtbeteiligung an einer Wahl ein selbstständiger Aussagewert zukommen könne128. Für die Rechtmäßigkeit einer Wahlpflicht spricht aber neben ihrer Anerkennung im Sekundärrecht129, dass die Freiheit der Wahl gerade auf deren Ausübung130 und nicht auf Abstinenz oder Boykott ausgerichtet ist. Seinen Protest kann der Bürger auch dadurch ausdrücken, dass er einen leeren oder durchgestrichenen Wahlzettel abgibt und dies ggf. publik macht. Darüber hinaus kann eine Wahlpflicht unter Umständen erforderlich sein, um das Funktionieren des demokratischen Systems überhaupt aufrechtzuerhalten131. 122 Siehe auch kritisch Europäisches Parlament, Entschließung v. 06.05.2010, ABl. Nr. C 81 E v. 15.03.2011, S. 78 (80), unter 2.; Schwarze/Schoo, Art. 14 EUV, Rn. 44, 52. 123 Vgl. Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 32. 124 Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 35. 125 Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 63. 126 Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 27. 127 Dabei handelt es sich um Belgien, Griechenland (Art. 51 Abs. 5 gr. Verf.), Luxemburg und Zypern. Siehe die Übersicht bei Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 223 AEUV, Rn. 45; sowie Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 17, Fn. 31; Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 35 mit Fn. 90. 128 Vgl. Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 27; ferner Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 39, 40 GRC, Rn. 11; Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 14 EUV, Rn. 80; zweifelnd Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 32. 129 Die Möglichkeit der Mitgliedstaaten, eine Wahlpflicht einzuführen oder beizubehalten, wird in Art. 8 Abs. 2, Art. 15 lit. c Richtlinie 93/109/EG v. 06.12.1993 (ABl. Nr. L 329 v. 30.12.1993, S. 34) zugrundegelegt; vgl. Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 35. 130 So auch der Ausgangspunkt von Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 32. 131 Für die Zulässigkeit einer Wahlpflicht im Ergebnis auch Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 63; Jarass, EU-Grundrechte, § 35, Rn. 18, 22.

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Ebenfalls der Wahlfreiheit dient letztlich der Grundsatz der geheimen Wahl, der den Wähler vor einer Offenbarung des Inhalts seiner Wahlentscheidung schützt132. Die unerlaubte Kenntnisnahme Dritter muss durch eine höchstpersönliche und ggf. durch technische Vorkehrungen gesicherte Stimmabgabe ausgeschlossen sein133. Gegen die Briefwahl, die Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen durch eine Vertrauensperson bei der Stimmabgabe und ähnliche aus sachlichen Gründen erforderliche Einschränkungen des Wahlgeheimnisses bestehen allerdings keine Bedenken134. Gleichermaßen kann der Wähler seine Entscheidung vor oder nach der Stimmabgabe freiwillig selbst offenlegen, hierauf gerichtete Maßnahmen von staatlicher oder privater Seite bleiben aber rechtswidrig135. d) Gleiche Wahl aa) Geschriebenes Unionsrecht Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl findet als solcher im geschriebenen europäischen Primärrecht keine explizite Erwähnung136. Wahlrechtsgleichheit bedeutet, dass alle Wähler ihr Wahlrecht in formal gleicher Weise ausüben können137. Während im Mehrheitswahlrecht lediglich der gleiche Zählwert der Stimmen umfasst ist („one man, one vote“), wird bei den an der Verhältniswahl ausgerichteten Wahlrechtssystemen auch die Erfolgswertgleichheit, also gleicher Einfluss der einzelnen Stimme auf das Wahlergebnis, verlangt138. Bezüglich des passiven Wahlrechts ist des weiteren die gleiche Erfolgschance für alle Kandidaten zu gewährleisten139. Nach Art. 9 DWA darf bei der Europawahl jeder Wähler nur einmal wählen. Neben dem Ausschluss mehrfacher Stimmabgabe140 impliziert diese Regelung auch, dass jeder Stimme formell das gleiche Gewicht zu132 Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 65; Jarass, EUGrundrechte, § 35, Rn. 19. 133 Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 28; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 34. 134 Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 34; Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 28. 135 Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 36; Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 28. 136 Die Anregung der deutschen Bundesländer und der Bundesregierung, die Gleichheit der Wahl in den Text der GRC aufzunehmen, hat sich seinerzeit nicht durchsetzen können; vgl. Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 40; Bernsdorff/Borowsky, S. 192 (200), 310 (314). 137 Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 37; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 36. 138 Sachs/Magiera, Art. 38 GG, Rn. 90; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 36. 139 Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 36; vgl. auch Sachs/Magiera, Art. 38 GG, Rn. 90. 140 Zur Entstehungsgeschichte vgl. Partsch, EuR 1978, 293 (300); zur weiteren Umsetzung siehe u., 3.

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kommen soll, so dass die Zählwertgleichheit im Europawahlrecht auf diese Weise abgesichert ist. Obwohl die Europawahl nach dem Verhältniswahlsystem erfolgt (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 DWA), sind die beiden anderen zentralen Elemente der gleichen Wahl, die Gleichheit von Erfolgswert und Erfolgschance, auf europäischer Ebene jedoch insgesamt nicht vollständig verwirklicht. Zunächst kommt es durch die nach Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 Var. 2 AEUV i.V. m. Art. 8 Abs. 1 DWA weiterhin möglichen Unterschiede zwischen den nationalen Wahlverfahren141 zu Gleichheitsbeeinträchtigungen142. Noch weitgehendere Auswirkungen hat aber der ponderierte Schlüssel, nach dem die Abgeordnetenkontingente der Mitgliedstaaten entsprechend dem Prinzip der degressiven Proportionalität143 festgelegt werden. Während die genaue Sitzverteilung ursprünglich direkt in Art. 190 Abs. 2 UAbs. 1 EGV enthalten war, beschließt jetzt nach Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 EUV der Europäische Rat einstimmig auf Initiative und mit Zustimmung des Europäischen Parlaments über dessen Zusammensetzung144, was eine größere Flexibilität insbesondere im Hinblick auf zukünftige Erweiterungen erlauben soll145. Aus diesem Konzept folgt, dass die Völker der bevölkerungsärmeren Länder im Verhältnis stärker im Europäischen Parlament vertreten sind146. Beispielsweise werden gegenwärtig die rund 400.000 Malteser durch sechs Abgeordnete repräsentiert, während die über 80 Mio. Deutschen (nur) 96 Parlamentarier entsenden dürfen147. Diese relative Diskrepanz bewirkt, dass die Wählerstimmen nicht EUweit denselben Erfolgswert besitzen, im Beispiel also die Stimmen aus Deutschland einen deutlich geringeren Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments haben als die Stimmen aus Malta. Aus der Perspektive des passiven Wahlrechts bedeutet dies wiederum, dass ein in Deutschland antretender Kandidat ver141

Vgl. näher o., I. 3. Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 87; Haratsch, in: Heselhaus/ Nowak, § 47, Rn. 39; Haag/Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 190 EGV, Rn. 15; Schwarze/Schoo, 2. Aufl., Art. 190 EGV, Rn. 10; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 37; Tiedtke, S. 124; Fromm, HuV-I 2008, 82 (94). 143 Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EUV. Der Begriff wurde mit dem Vertrag von Lissabon erstmals in das Primärrecht eingeführt; näher Arndt, ZaöRV 68 (2008), 247 (258 ff.). Das frühere Erfordernis der angemessenen Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten beim Zuschnitt der Kontingente (Art. 190 Abs. 2 UAbs. 2 EGV) ist dafür entfallen. 144 Beschluss des Europäischen Rates v. 28.06.2013 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (2013/312/EU), ABl. Nr. L 181 v. 29.06.2013, S. 57. 145 Dougan, CMLR 45 (2008), 617 (633). 146 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 87; ders., Europäische Verfassung, S. 846, 852; ders., VVDStRL 69 (2010), 57 (87); Schönberger, Unionsbürger, S. 501, 503, 507; Tiedtke, S. 123; Suski, S. 76; Luczak, S. 94; Peuker, ZEuS 2008, 453 (461); Partsch, EuR 1978, 293 (301). 147 Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3, 4 EUV i.V. m. Art. 3 des Beschlusses des Europäischen Rates v. 28.06.2013 über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (2013/312/EU), ABl. Nr. L 181 v. 29.06.2013, S. 57. 142

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gleichsweise mehr Wählerstimmen auf sich vereinigen muss, um einen Sitz im Europäischen Parlament zu erhalten, als Bewerber in den anderen Mitgliedstaaten. Folglich ist auch eine europaweit gleiche Erfolgschance der einzelnen Kandidaten ausgeschlossen. Die vorgenommene Sitzverteilung im Europäischen Parlament ist das Ergebnis des in einem supranationalen Staatenverbund zwingend nötigen Kompromisses zwischen dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatengleichheit und dem demokratischen Erfordernis eines egalitären Wahlrechts148. Einerseits müssen auch die zahlreichen kleineren europäischen Staaten angemessen parlamentarisch vertreten sein, andererseits darf aber die Arbeitsfähigkeit des Parlaments nicht durch eine zu hohe Mitgliederzahl in Mitleidenschaft gezogen werden149. Da ein einheitliches Unionsvolk und damit die Grundlage für einen demokratischen Meinungsbildungsprozess in einer europäischen Öffentlichkeit angesichts sprachlicher und politisch-kultureller Hindernisse nach wie vor nicht existiert150, ist die Einschränkung der universellen Erfolgswertgleichheit beim derzeitigen Stand der europäischen Integration nicht nur vernünftig151, sondern kann sogar als Beispiel für die effektive Organisation eines Parlaments in einer sich vertiefenden Integrationsgemeinschaft gelten152. Nationale Wertungsmaßstäbe der Wahlrechtsgleichheit sind auf Unionsebene nicht anwendbar153, hier bedürfen die demokratischen Grundsätze in erster Linie einer strukturadäquaten Realisierung154. Das System 148 Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 38; Magiera, FS Everling Bd. I, 789 (797); Leinen, FS Bieber, 147 (154); Classen, AöR 119 (1994), 238 (248). Kritisch Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 63 f.; Peuker, ZEuS 2008, 453 (463 f.); Kaufmann, S. 252 ff.; C. Lenz, NJW 1996, 1328 (1329). Siehe auch BVerfGE 123, 267 (373 f.). 149 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 87; ders., Europäische Verfassung, S. 848, 1293 f.; Kirsch, S. 146 f.; Bryde, FS Zuleeg, 131 (134); Schwarze/Schoo, 2. Aufl., Art. 190 EGV, Rn. 11; Rengeling/Szczekalla, § 35, Rn. 1077; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 38; Magiera, FS Everling Bd. I, 789 (797); Schoo, EuR Beiheft 1 2009, 51 (58); Ruffert, EuR Beiheft 1 2009, 31 (40); siehe auch Kluth, Legitimation, S. 70; Suski, S. 81. 150 Vgl. BVerfGE 89, 155 (185); 123, 267 (359); Luczak, S. 332; Rupp, NJW 1995, 2210 (2211); Magiera, FS Everling Bd. I, 789 (796); Armbrecht, S. 120; Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (36). 151 Bryde, FS Zuleeg, 131 (134); Classen, AöR 119 (1994), 238 (248). 152 Vgl. auch Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 87; ders., Europäische Verfassung, S. 846 ff.; ders., GYIL 52 (2009), 9 (38). 153 Selbst für die nationalstaatliche Ebene existieren hierzu keine universellen Standards; Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (37); Hector, ZEuS 2009, 599 (604); Everling, EuR 2010, 91 (97). Vgl. auch BVerfGE 123, 267 (365 f.); BVerfG (Kammer), Beschl. v. 31.05.1995, NJW 1995, 2216 (2216); hierzu Rupp, NJW 1995, 2210 (2210 f.); C. Lenz, NJW 1996, 1328 (1328 f.); weiterhin Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 88. 154 Schuppert, FS Rauschning, 201 (211 f.); P. M. Huber, Demokratie, in: Drexl/ Kreuzer/Scheuing/Sieber, Europäische Demokratie, S. 27 (55); Classen, AöR 119 (1994), 238 (248); im Ergebnis ebenso Ohler, in: Streinz/Ohler/Herrmann, Vertrag von Lissabon, S. 64; siehe auch Arndt, ZaöRV 68 (2008), 247 (251).

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der degressiven Proportionalität beugt Marginalisierungseffekten zulasten der Abgeordneten aus bevölkerungsärmeren Ländern vor und verhindert gleichzeitig eine zu starke Dominanz der Vertreter einwohnerreicher Mitgliedstaaten155, was der Akzeptanz des Parlaments als Institution derzeit noch insgesamt zugutekommen dürfte. Die im Lissabon-Vertrag vorgesehene und seit 2014 angewandte Ausgestaltung mit mindestens sechs und höchstens 96 Sitzen pro Mitgliedstaat156 verstärkt im Verhältnis zur Nizzaer Rechtslage157 (fünf bzw. 99 Sitze) zunächst sogar geringfügig die ungleiche Repräsentation158 und belässt damit noch Spielraum für eine weitere Anpassung der Mandatsverteilung an die tatsächlichen Bevölkerungsverhältnisse. Mit dem Voranschreiten des Integrationsprozesses und der zunehmenden Entwicklung einer europäischen Bürgeridentität erscheint es langfristig durchaus vorstellbar, die Gewichte von der Staatenegalität weiter in Richtung der Wahlrechtsgleichheit zu verschieben. Ein etwaiger Verzicht auf die degressive Proportionalität könnte dann mit der Einführung eines weitestgehend einheitlichen Wahlverfahrens sowie ggf. auch mitgliedstaatsübergreifender Wahlkreise bzw. transnationaler Wahllisten verbunden werden159. Dergestalt verlöre der einzelne Europaabgeordnete großenteils seine Bindung an einen einzelnen Mitgliedstaat160 und entspräche noch besser dem Bild eines „europäischen“ Volksvertreters. Ein angemessener Minderheitenschutz wäre freilich auch unter diesen Umständen zu berücksichtigen. Die skizzierte weitere Integrationsvertiefung bei der parlamentarischen Repräsentation muss noch nicht zwingend mit der Gründung eines europäischen Bundesstaates einhergehen161. Vor diesem Hintergrund sollte sich das BVerfG von seinem im Lissabon-Urteil vertretenen staatsfixierten Demokratiekonzept lösen162 und dem grundgesetzlichen Integrationsauftrag163 auch 155

Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (36). Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3, 4 EUV. 157 Art. 190 Abs. 2 UAbs. 1 EGV. 158 Kritisch Peuker, ZEuS 2008, 453 (461); Luczak, S. 330 f. Dagegen geht Piepenschneider, integration 2009, 153 (163), irrig von einer Verbesserung der Wahlrechtsgleichheit aus. 159 Siehe auch Franzius/Preuß, S. 118 ff. 160 Vgl. bereits Böhm, BayVBl. 2006, 173 (176); Kirsch, S. 147. Skeptisch Ruffert, EuR Beiheft 1 2009, 31 (40); sowie im Ergebnis auch Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (36). 161 Dingemann, ZEuS 2009, 491 (514); Ruffert, DVBl. 2009, 1197 (1199). 162 Im Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267) hat das BVerfG zwar einerseits die Gleichheit der Wahl auf europäischer Ebene als unvollkommen kritisiert (S. 371 ff.), aber andererseits offenbar ihre vollständige Realisierung erschwert (S. 349 f.). Zu Recht kritisch Ukrow, ZEuS 2009, 717 (722 f.); Dingemann, ZEuS 2009, 491 (513 f.); Calliess, ZEuS 2009, 559 (574 f.); Terhechte, EuZW 2009, 724 (729); Schönberger, GLJ 10 (2009), 1201 (1210 ff.); Halberstam/Möllers, GLJ 10 (2009), 1241 (1251). 163 Siehe Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG i.V. m. S. 1 der Präambel sowie o., Teil 2, A. III. 3. a) aa) (4). 156

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dadurch gerecht werden, dass es die künftige demokratische Weiterentwicklung der EU als supranationaler Herrschaftsordnung mitträgt. bb) Die Gleichheit der Wahl als allgemeiner Rechtsgrundsatz Ungeachtet der genannten konkreten Beschränkungen ist die Gleichheit der Wahl zumindest in ihren Grundzügen zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Europarechts zu zählen. Systematisch leitet der EuGH die allgemeinen Rechtsgrundsätze mittels wertender Rechtsvergleichung aus den Gewährleistungen der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten her164; für den Grundrechtsschutz ist diese Rechtsprechung in Art. 6 Abs. 3 EUV kodifiziert worden165. Die Europawahlen unterliegen demzufolge den „dem Wahlrecht aller Mitgliedstaaten gemeinsamen freiheitlichen und demokratischen Grundsätze[n]“ 166. Bei einer Analyse der mitgliedstaatlichen Verfassungstexte stellt sich heraus, dass der umfassende Grundsatz der Gleichheit der Wahl zwar nicht in allen, aber doch in der überwiegenden Anzahl der Mitgliedstaaten für innerstaatliche Wahlen ausdrückliche Erwähnung in der Verfassung findet167. Allerdings handelt es sich nicht um eine absolute Garantie, da aus zwingenden Gründen erforderliche Einschränkungen der Erfolgswertgleichheit z. B. durch Sperrklauseln gemeinhin als gerechtfertigt angesehen werden168. 164 EuGH, Urt. v. 12.11.1969, Erich Stauder ./. Stadt Ulm, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419, Rn. 7; EuGH, Urt. v. 17.12.1970, Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4; EuGH, Urt. v. 14.05.1974, Nold ./. Kommission, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 13; EuGH, Urt. v. 13.12.1979, Liselotte Hauer ./. Land Rheinland-Pfalz, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15; EuGH, Urt. v. 18.10.1989, Orkem ./. Kommission, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 28 ff. Vgl. auch Giegerich, Europäische Verfassung, S. 846 f.; Steinberger, FS Doehring, 951 (958 f.); C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 165 ff., m.w. N.; Strunz, S. 90 ff.; zum Geltungsgrund allgemeiner Rechtsgrundsätze im Europarecht Lazarus, S. 59 ff. 165 Streinz/Streinz, Art. 6 EUV, Rn. 24. Über den Grundrechtsbezug hinausgehend lassen sich allgemeine Rechtsgrundsätze freilich in allen Bereichen des Europarechts herleiten; C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 173 f.; Ress, GS Geck, 625 (640). 166 EuGH, Urt. v. 29.09.1976, De Dapper et al. ./. Europäisches Parlament, Rs. 54/ 75, Slg. 1976, 1381, Rn. 25; Giegerich, Europäische Verfassung, S. 847, Fn. 2835. 167 Art. 10 bulg. Verf.; Art. 28 Abs. 1 S. 2, Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG; § 60 Abs. 1 S. 3 estn. Verf., § 25 Abs. 1 S. 2 finn. Verf.; Art. 3 Abs. 3 S. 2 frz. Verf.; Art. 48 Abs. 2 S. 1 ital. Verf.; Art. 45 Abs. 1 kroat. Verf.; Art. 6 lett. Verf.; Art. 55 Abs. 1, Art. 78 Abs. 2 litau. Verf.; Art. 26 Abs. 1 S. 1, Art. 60 Abs. 1 S. 1, Art. 95 Abs. 1 S. 1, Art. 117 Abs. 2 S. 1 österr. B-VG; Art. 96 Abs. 2, Art. 127 Abs. 1, Art. 169 Abs. 2 poln. Verf.; Art. 10 Abs. 1 port. Verf.; Art. 62 Abs. 1, Art. 81 Abs. 1 rum. Verf.; § 1 Abs. 2 S. 1 schwed. Verf.; Art. 30 Abs. 3 S. 1, Art. 69 Abs. 2 S. 3, Abs. 3 S. 1, Art. 74 Abs. 1 slowak. Verf.; Art. 43 Abs. 1, Art. 80 Abs. 2 slowen. Verf.; Art. 68 Abs. 1, Art. 69 Abs. 2, Art. 140 S. 3 span. Verf.; Art. 18 Abs. 1, 2, Art. 102 Abs. 1 tschech. Verf.; Art. 2 Abs. 1 ung. Verf. Aus Art. 61 Abs. 2 belg. Verf. und Art. 16 Abs. 1 Nr. 4 ir. Verf. ergibt sich dagegen lediglich eine Gewährleistung der Zählwertgleichheit.

A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1

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Im EMRK-Recht verbürgt Art. 3 ZP 1 das Recht auf freie Wahlen. Die Gleichheit der Wahl wird zwar auch dort nicht direkt erwähnt. Die Wahlen sind nach dem Wortlaut aber „unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes [. . .] gewährleisten“ 169. Aus diesem Erfordernis leiten die Konventionsorgane auch das Prinzip der Gleichbehandlung aller Bürger bei der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts ab170. Da Art. 3 ZP 1 allerdings kein bestimmtes Wahlsystem verlangt, bleibt den Staaten insoweit ein beträchtlicher Ausgestaltungsspielraum erhalten171. So hat der EGMR festgestellt, dass aus der Anerkennung des Gleichheitsprinzips kein zwingendes Gebot der Gleichheit von Erfolgswert oder -chance folge, da verlorene Stimmen in keinem Wahlsystem völlig ausgeschlossen werden könnten172. Vielmehr geht er von einer Verpflichtung zur Systemgerechtigkeit aus, so dass Einschränkungen in einem Wahlsystem konventionswidrig, in einem anderen dagegen zulässig sein können173. Insgesamt kommt es darauf an, dass die freie Äußerung der Volksmeinung effektiv gewährleistet bleibt174 und etwaige Eingriffe auf gesetzlicher 168 In Deutschland etwa die 5 %-Sperrklausel des § 6 Abs. 6 S. 1 BWahlG; vgl. die ständige Rspr. des BVerfG: BVerfGE 1, 208 (247 ff., 255 f.); 51, 222 (234 ff.); 82, 322 (337 ff.); 95, 408 (417 ff.); außerdem Sachs/Magiera, Art. 38 GG, Rn. 94; A. Weber, Menschenrechte, S. 893. Für die nationalen Sperrklauseln von 5% und 3% im Europawahlrecht hat das BVerfG eine Rechtfertigung nunmehr abgelehnt; BVerfGE 129, 300 (316 ff.), mit abweichender Meinung der Richter Di Fabio und Mellinghoff (S. 346 ff.); BVerfGE 135, 259 (280, 291 ff.), mit abweichender Meinung des Richters Müller (S. 299 ff.). 169 Die nach der Schlussklausel der EMRK allein verbindlichen Sprachfassungen lauten: „[. . .] hold free elections [. . .], under conditions which will ensure the free expression of the opinion of the people [. . .]“ (engl.); „[. . .] organiser [. . .] des élections [. . .], dans les conditions qui assurent la libre expression de l’opinion du peuple [. . .]“ (frz.). 170 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 54; vgl. auch Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 32; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 108. 171 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 54; ebenso schon EKMR, Entsch. v. 18.12.1980, Liberal Party, Mrs R. & Mr P. ./. Vereinigtes Königreich, DR 21, 211 (223 ff., 238 f.); vgl. auch Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 34; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 114; Wildhaber, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Art. 3 ZP 1, Rn. 38 ff.; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 3 ZP 1, Rn. 6; Frowein, EuR 1983, 301 (303). 172 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 54; EGMR (GK), Urt. v. 08.07.2008, Yumak und Sadak ./. Türkei, Rep. 2008, Nr. 10226/03, Rn. 112; vgl. auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 108; Arndt, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 1, Rn. 32; Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 41; Wildhaber, in: Pabel/Schmahl, IntKomm, Art. 3 ZP 1, Rn. 39; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 3 ZP 1, Rn. 4; A. Weber, Menschenrechte, S. 892 f. 173 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 54; siehe auch Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 32, 35. 174 Diese Bedingung stellt für den EGMR das „Fundamentalprinzip“ des Art. 3 ZP 1 dar; vgl. EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Podkolzina ./. Lettland, Rep. 2002-II, Rn. 33; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 52 f.

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Grundlage beruhen, einem legitimen Zweck dienen sowie verhältnismäßig sind175. Das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK entfaltet darüber hinaus in der Regel nur einen eigenständigen Gewährleistungsgehalt, wenn die Ungleichbehandlung fallprägend ist, also etwa bestimmte Personengruppen vom Wahlrecht ausgeschlossen wurden176. Außer der EMRK zieht der EuGH auch weitere internationale Menschenrechtsschutzverträge wie den IPbpR zur Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze heran177. Anders als die EMRK statuiert der von sämtlichen EU-Mitgliedstaaten ratifizierte IPbpR in Art. 25 lit. b sogar ausdrücklich ein Recht auf Teilnahme an gleichen Wahlen. Da auch mit dem IPbpR verschiedene Wahlrechtssysteme vereinbar sein sollen, zielt die Vorschrift ebenfalls primär auf die Zählwertgleichheit ab und gewährleistet keine kategorische Erfolgswertgleichheit178. Dennoch müssen sich sämtliche Einschränkungen der Gleichheit von Erfolgswert und -chance grundsätzlich daran messen lassen, ob sie (ggf. systembedingt) als angemessen179 einzustufen und somit gerechtfertigt sind180. Aus der Zusammenschau der analysierten Bezugsnormen ergibt sich, dass der Grundsatz der Gleichheit der Wahl in allen maßgeblichen Rechtsquellen ausgeprägt ist, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Während er in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen zumeist eine umfassende Gewährleistung gefunden hat, die indes gleichwohl gerechtfertigte Beschränkungen zulässt, verbürgen Art. 3 ZP 1 und Art. 25 IPbpR insgesamt keine vollständige Erfolgswertund -chancengleichheit, sondern statuieren diesbezüglich vielmehr einen Mindeststandard gegen im jeweiligen Wahlsystem unverhältnismäßige und damit nicht zu rechtfertigende Eingriffe. Hier zeigen sich also Differenzen im Schutz175 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 52, 54; EGMR, Urt. v. 01.07.1997, Gitonas et al. ./. Griechenland, Rep. 1997-IV, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 06.04.2000, Labita ./. Italien, Rep. 2000-IV, Rn. 201; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 98. 176 EGMR, Urt. v. 22.06.2004, Aziz ./. Zypern, Rep. 2004-V, Rn. 35 ff.; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 32, 114. Siehe auch EGMR (GK), Urt. v. 22.12.2009, Sejdic´ und Finci ./. Bosnien und Herzegowina, Rep. 2009, Nr. 27996/06 und 34836/06, Rn. 38, 42 ff., 51; EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Podkolzina ./. Lettland, Rep. 2002-II, Rn. 42; EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 68; EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 59. 177 EuGH, Urt. v. 27.06.2006, Parlament ./. Rat, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 37; EuGH, Urt. v. 18.10.1989, Orkem ./. Kommission, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 31; EuGH, Urt. v. 14.05.1974, Nold ./. Kommission, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 13; EuGH, Urt. v. 13.12.1979, Liselotte Hauer ./. Land Rheinland-Pfalz, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15; Strunz, S. 91. 178 M. Nowak, Art. 25 CCPR, Rn. 31; Henkin/Partsch, S. 240, 461 f. (Anm. 149 f.); vgl. auch C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 191. 179 Art. 25 IPbpR: „without unreasonable restrictions“ (engl.)/„sans restrictions déraisonnables“ (frz.). 180 M. Nowak, Art. 25 CCPR, Rn. 32 f.; C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 191.

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niveau zwischen dem überwiegenden Teil der nationalen Rechtsordnungen und den Garantien der internationalen Menschenrechtsschutzverträge. Folglich lässt sich zwar prinzipiell ein allgemeiner Rechtsgrundsatz der Gleichheit der Wahl feststellen. Allein die Zählwertgleichheit stellt aber – in Entsprechung zu Art. 9 DWA – eine absolute Garantie dar, wohingegen im Hinblick auf die Gleichheit von Erfolgswert und -chance nur begrenzter Schutz gewährt wird, da verhältnismäßige Eingriffe der Rechtfertigung zugänglich sind. Damit das hergeleitete Prinzip als Bestandteil des Europarechts anerkannt werden kann, ist nach der Rechtsprechung des EuGH erforderlich, dass es auf die europäische Ebene übertragbar ist und sich in Struktur und Ziele der Union einfügt181. Da diese Voraussetzung jedoch in der Rechtsprechungspraxis keine genauen Konturen erfahren hat182, existieren hier unterschiedliche Deutungsansätze. Ursprünglich wurde vertreten, dass ein gegen die (Gründungs-)Verträge verstoßender allgemeiner Rechtsgrundsatz nicht zum europäischen Recht gehören könne183. Inzwischen ist hingegen die Auffassung vorherrschend geworden, die das Kriterium des Einfügens in die Unionsordnung als Ausdruck eines allgemeinen Schrankenvorbehalts ansieht, der die Einschränkung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes im öffentlichen Interesse der Union ermöglicht184. Den zwei Ansätzen ist das Anliegen gemein, die Kompatibilität verschiedener Elemente des Europarechts sicherzustellen. Für den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit mit seinem hier festgestellten Inhalt sind im Ergebnis beide Anforderungen erfüllt. Daraus, dass dieser Grundsatz schon von sich aus Ausgestaltungsspielraum lässt und als Schranke weitreichende Rechtfertigungsmöglichkeiten eröffnet sind, folgt entsprechend auch seine Vereinbarkeit mit den geschriebenen Regeln des europäischen Wahlrechts. So ist das degressiv proportionale Kontingentierungssystem, das zu einer Begrenzung der unionsweiten Gleichheit von Erfolgswert und -chance führt, wie bereits gezeigt, bei der derzeitigen Verfassung der Union organisatorisch erforderlich und lässt sich damit angesichts des insoweit anzulegenden wenig strengen Maßstabs rechtfertigen185. Auch das europarechtliche Demokratieprinzip186 und der allgemeine Gleichheitssatz187 stellen keine weiter181 EuGH, Urt. v. 17.12.1970, Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4; Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 42; C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 171; Ress, GS Geck, 625 (643). 182 C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 171, m.w. N. 183 Bleckmann, EuGRZ 1981, 257 (257); Ress, GS Geck, 625 (643); siehe auch C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 171. 184 In diese Richtung etwa EuGH, Urt. v. 14.05.1974, Nold ./. Kommission, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 14; EuGH, Urt. v. 13.12.1979, Liselotte Hauer ./. Land RheinlandPfalz, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 22 f.; vgl. auch Hilf, EuGRZ 1977, 158 (160); C. Lenz, Ein einheitliches Verfahren, S. 171, m.w. N. 185 Siehe o., aa), sowie Arndt, ZaöRV 68 (2008), 247 (251). 186 Art. 2 S. 1, Art. 10 EUV.

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gehenden Anforderungen an die Wahlrechtsgleichheit 188. Mithin sind die Gleichheit der Wahl als allgemeiner Rechtsgrundsatz und das übrige europäische Primärrecht miteinander in Einklang zu bringen, so dass keine Kollisionslage besteht. Diese europarechtliche Anerkennung der Wahlrechtsgleichheit hilft also nicht über deren Beschränkungen durch das geschriebene Primärrecht hinweg. Sie führt aber dazu, dass dort, wo das europäische Wahlrecht nicht näher determiniert ist, also ausfüllungsfähige oder -bedürftige Spielräume enthält, dem Prinzip der Wahlrechtsgleichheit jedenfalls so gut wie möglich Rechnung zu tragen ist189. Dies wird insbesondere auch bei den europarechtlichen Anforderungen an die Wahlrechtsgleichheit bei Europawahlen bezogen auf jeden einzelnen Mitgliedstaat relevant. Da sich hier die Besonderheiten der Integrationsgemeinschaft, die zur Zulässigkeit von Gleichheitsbeschränkungen auf europäischer Ebene geführt haben, nicht rechtfertigend auswirken, sind insoweit höhere Standards an Erfolgswert- und -chancengleichheit einzufordern. § 1 S. 2 EuWG enthält beispielsweise die Gleichheit der Wahl als allgemeinen Wahlrechtsgrundsatz, der ausschließlich für die Bestimmung des deutschen Abgeordnetenkontingents gilt190. Ein absolutes Gebot gibt es aber wegen der diesbezüglich nicht einheitlichen Vorgaben in den einschlägigen Rechtserkenntnisquellen auch in diesem Kontext nicht191. Der angestrebte Beitritt der EU zur EMRK würde die Rechtslage im Hinblick auf die Wahlrechtsgleichheit zwar substantiell kaum ändern, aber insofern zu mehr Transparenz und Effektivität beitragen, als dann die Anforderungen von Art. 3 ZP 1 auch für die Union direkt verbindlich und entsprechend vor dem EGMR durchsetzbar wären192. 3. Das Europawahlrecht im Wohnsitzmitgliedstaat, Art. 22 Abs. 2 AEUV In Verbindung mit der Einführung der Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht 1993 wurde auch das Wahlrecht zum Europäischen Parlament 187 Vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV i.V. m. Art. 20 ff. GRC; Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 8, 18, 40 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 157 AEUV. 188 Vgl. Streinz/Pechstein, Art. 2 EUV, Rn. 4; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 65 f.; H.-J. Cremer, EuR 1995, 21 (37). 189 Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 66 f.; Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/ Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 64; Arndt, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 1, Rn. 41; Kirsch, S. 147 f., die von einem „fortwährenden Optimierungsgebot“ ausgeht. 190 Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 63. Der entsprechenden Vorschrift in Österreich kommt sogar Verfassungsrang zu, siehe Art. 23a Abs. 1 B-VG. 191 Vgl. Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 14 EUV, Rn. 64; Streinz/ Huber, Art. 14 EUV, Rn. 66 f. 192 Vgl. auch Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, § 2 III, Rn. 36 f. Siehe allgemein o., Teil 1, D. III. 1., 2.

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weiter gestärkt193. Nach Maßgabe von Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV194 genießen alle Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, das aktive und passive Europawahlrecht zu denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaates. Zuvor waren die Mitgliedstaaten vollständig in der Entscheidung frei, ob sie EG-Ausländern ein Wahlrecht zum Europäischen Parlament einräumen wollten, was sehr unterschiedliche Regelungen nach sich zog195. Nunmehr gewährleistet Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV, dass Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich des Europawahlrechts verpflichtend wie Inländer zu behandeln sind und damit dem Wahlverfahren ihres Wohnsitzmitgliedstaates unterworfen werden. Diese Regelung ergänzt das in Art. 21 AEUV statuierte Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt196 und wird vom Grundsatz der Nichtdiskriminierung zwischen in- und ausländischen Unionsbürgern getragen197. Eine entsprechende Parallelbestimmung zu Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV findet sich in Art. 39 Abs. 1 GRC, der das wohnsitzgebundene Europawahlrecht für Unionsbürger als europäisches Bürgergrundrecht klassifiziert, dessen Anwendungsbereich und Inhalt aber nicht erweitert198. Beide Normen gewährleisten ein unmittelbar anwendbares subjektives Recht der Unionsbürger und gehen damit über einen bloßen Regelungsauftrag an den Sekundärrechtsgeber hinaus199. Dieser hat zwar die Befugnis zur näheren Ausgestaltung des Europawahlrechts (Art. 22 Abs. 2 S. 2 AEUV), kann aber über seinen zentralen Gewährleistungsgehalt nicht disponieren. Inhaber des Bürgerrechts aus Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV und Art. 39 Abs. 1 GRC sind Unionsbürger mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, und solche, die außer der Staatsangehörigkeit des Wohnsitzmitgliedstaates noch eine zweite EU-Staatsangehörigkeit innehaben200. Die Vorschriften erfassen also lediglich eine Minderheit der Unionsbürger, so dass ihre praktische Bedeutung bislang auch relativ beschränkt geblieben

193

Siehe o., I. 3. Früher Art. 19 Abs. 2 S. 1 EGV. Siehe auch die durch den Vertrag von Lissabon ergänzte Aufzählung in Art. 20 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 lit. b AEUV. 195 Näher Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 22 AEUV, Rn. 14; Partsch, EuR 1978, 293 (300). 196 Siehe hierzu o., Teil 4, A. II. 197 Dritter Erwägungsgrund der Richtlinie 93/109/EG des Rates v. 06.12.1993, ABl. Nr. L 329 v. 30.12.1993, S. 34; vgl. auch Degen, DÖV 1993, 749 (757). 198 Dies ergibt sich schon aus der Querschnittsklausel des Art. 52 Abs. 2 GRC. Die im Vergleich mit Art. 22 Abs. 2 AEUV vereinfachte Formulierung des Art. 39 Abs. 1 GRC entspricht den insoweit gesteigerten Anforderungen an Deutlichkeit und Lesbarkeit einer Grundrechtsnorm. Vgl. Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 3 f.; Bernsdorff/Borowsky, S. 201 f.; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 22 AEUV, Rn. 9. 199 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 89. 200 Ebenda. 194

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ist201. Dennoch leisten sie einen wichtigen Beitrag bei der Entwicklung des Europäischen Parlaments hin zu einer echten europäischen Volksvertretung. Denn dadurch, dass alle in einem Mitgliedstaat ansässigen Unionsbürger aktiv wie passiv über die Wahl der dort zu bestimmenden Abgeordneten entscheiden können, wird auch der Umstand konkretisiert, dass diese Abgeordneten nicht nur das Volk jenes Mitgliedstaates, sondern vielmehr die Gesamtheit der Unionsbürger repräsentieren202. Dies führt zwar noch nicht per se zur Herausbildung eines einheitlichen europäischen Wahlvolks203, stellt aber zumindest einen ersten normativen Ansatz in diese Richtung dar204, da die Wirkung der Aufteilung des Parlaments in mitgliedstaatliche Kontingente abgeschwächt205 und so eine verstärkte politische Integration erreicht wird206. Die Gewährleistung des Europawahlrechts für Unionsbürger in ihrem EU-Wohnsitzstaat bewirkt darüber hinaus, dass in der EU residierende Unionsbürger auch dann an der Europawahl teilnehmen können, wenn die Vorschriften ihres Heimatmitgliedstaats im Ausland lebenden Staatsbürgern das Wahlrecht versagen207. Dadurch werden sowohl die Allgemeinheit als auch die Gleichheit der Wahl zum Europäischen Parlament und somit letztlich die Verwirklichung des Demokratieprinzips (Art. 2 S. 1, Art. 10 EUV) gefördert. Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV gilt nach seinem Wortlaut unbeschadet des Art. 223 Abs. 1 AEUV und der Bestimmungen zu dessen Durchführung, etwa des Direktwahlakts. Diesen Vorschriften kommt demnach gegenüber Art. 22 Abs. 2 AEUV eine Vorrangstellung zu208. Im übrigen sind die Mitgliedstaaten frei, Unionsbürgern die Ausübung des Europawahlrechts über das in Art. 22 Abs. 2 AEUV vorgesehene Maß hinaus zu erleichtern, also beispielsweise auch auf das Wohn-

201 Vgl. den Fünften Bericht der Kommission über die Unionsbürgerschaft v. 15.02. 2008, KOM(2008) 85 endg., S. 7; sowie Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 22 AEUV, Rn. 19; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 89; Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 9; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 24. 202 Siehe Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1, Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV; Haag, FS Bieber, 137 (144); Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 85. Die Behauptung des BVerfG im Lissabon-Urteil (BVerfGE 123, 267 [375]), dass im Europäischen Parlament die „in ihren Staaten organisierten Völker Europas“ in Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit repräsentiert seien, trifft daher nicht zu; siehe auch die berechtigte Kritik bei Halberstam/Möllers, GLJ 10 (2009), 1241 (1249); Giegerich, GYIL 52 (2009), 9 (27, Fn. 67); Classen, JZ 2009, 881 (882 f.); Dingemann, ZEuS 2009, 491 (513 f.); Hector, ZEuS 2009, 599 (605 [Fn. 19], 612); Selmayr, ZEuS 2009, 637 (651). 203 Vgl. o., 2. d) aa). 204 Haratsch, in: Heselhaus/Nowak, § 47, Rn. 6. 205 Vgl. Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 85; Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 26, Rn. 50, 66. 206 Vgl. auch Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 20; Tiedtke, S. 121. 207 Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 22 AEUV, Rn. 16; Hobe, in: Tettinger/Stern, Art. 39 GRC, Rn. 20. 208 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 86.

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sitzerfordernis zu verzichten209. Die Bestimmung der näheren Modalitäten des Wahlrechts für Unionsbürger überlässt Art. 22 Abs. 2 S. 2 AEUV (vormals Art. 19 Abs. 2 S. 2 EGV) der sekundärrechtlichen Regelung. Danach legt der Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren210 und nach Anhörung des Europäischen Parlaments die Einzelheiten zur Durchführung des Wahlrechts fest. Hierunter fällt der Erlass all derjenigen Normen, die für die Gleichstellung der Unionsbürger in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat bei Europawahlen erforderlich sind211. Dem primärrechtlichen Rechtssetzungsauftrag ist der Rat mit der Annahme der Richtlinie 93/109/EG212 nachgekommen, die in Deutschland durch Änderungen von Europawahlgesetz und Europawahlordnung umgesetzt worden ist213. In Entsprechung zu Art. 9 DWA ist die mehrfache Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts nach Art. 4 RiLi ausgeschlossen, so dass sich die Wahlberechtigten entscheiden müssen, ob sie von ihrem Wahlrecht in ihrem Herkunfts- oder im Wohnsitzmitgliedstaat Gebrauch machen möchten (vgl. Art. 8 Abs. 1 RiLi). Eine im Wohnsitzstaat geltende Wahlpflicht erstreckt sich nach Art. 8 Abs. 2 RiLi auch auf diejenigen (ausländischen) Unionsbürger, die erklärt haben, ihr aktives Wahlrecht dort ausüben zu wollen. Die näheren Modalitäten der Wahlrechtsausübung sind in Art. 9 f. RiLi geregelt, dort finden sich etwa die Voraussetzungen der Eintragung in das Wählerverzeichnis und die Anforderungen an eine Kandidaturerklärung. Über die Bedingungen und Einzelheiten des anwendbaren Wahlrechts hat der Wohnsitzmitgliedstaat die dort aktiv und passiv wahlberechtigten Unionsbürger rechtzeitig und in geeigneter Form zu informieren (Art. 12 RiLi). Art. 14 RiLi gestattet solchen Mitgliedstaaten Ausnahmeregelungen, in denen mehr als 20% der dort wohnenden Unionsbürger im Wahlalter eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Die Einräumung des Europawahlrechts für EUAusländer kann dann an die Voraussetzung einer Mindestresidenzzeit von höchstens fünf Jahren für das aktive bzw. zehn Jahren für das passive Wahlrecht geknüpft werden, sofern den ausländischen Unionsbürgern die Wahl im Herkunftsstaat möglich ist. Bislang hat lediglich Luxemburg entsprechende Sonder209

Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 22 AEUV, Rn. 17. Vgl. Art. 289 Abs. 2 AEUV; Streinz/Gellermann, Art. 289 AEUV, Rn. 4 f., 7; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 289 AEUV, Rn. 3, 5 f. 211 Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 22 AEUV, Rn. 18; Dürig, NVwZ 1994, 1180 (1180). 212 Richtlinie 93/109/EG des Rates v. 06.12.1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, ABl. Nr. L 329 v. 30.12.1993, S. 34; geändert durch Richtlinie 2013/ 1/EU des Rates v. 20.12.2012, ABl. Nr. L 26 v. 26.01.2013, S. 27. 213 Näher Dürig, NVwZ 1994, 1180 (1180 f.); Borchmann, NJW 1994, 1522 (1522 f.); Meyer/Magiera, Art. 39 GRC, Rn. 8, Fn. 20; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, § 9, Rn. 93. 210

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vorschriften erlassen214. Ob eine derartige Einschränkungsmöglichkeit noch als Ausnahmeregelung angesehen werden kann, die nach Art. 22 Abs. 2 S. 2 Halbs. 2 AEUV aufgrund besonderer Probleme eines Mitgliedstaats gerechtfertigt ist, erscheint indes zweifelhaft. Zwar eröffnet das Primärrecht („vorbehaltlich“) die Möglichkeit, die Ausübung der Unionsbürgerrechte zu begrenzen. Dennoch bedeutet die Qualifizierung eines signifikanten Anteils von EU-Ausländern an der Wahlbevölkerung als „besonderes Problem“ eine letztlich an die Staatsangehörigkeit der betroffenen Unionsbürger anknüpfende Diskriminierung, die nach Maßgabe von Art. 18 AEUV verboten ist215. Sie offenbart ein Normverständnis, das nicht recht zum Gedanken der europäischen Integration passt, und die dahinterstehende Furcht zumindest einiger Mitgliedstaaten vor einem dominanten Einfluss ausländischer Unionsbürger auf die Zusammensetzung des „eigenen“ Abgeordnetenkontingents. Da der EuGH aber bislang noch nicht mit Art. 14 RiLi befasst war, sind die relativ langen Mindestresidenzzeiten nach wie vor anwendbarer sekundärrechtlicher Maßstab für mitgliedstaatliche Ausnahmeregeln.

III. Allgemeine Gewährleistungen durch Art. 3 ZP 1 Für die Frage der Durchsetzung des europäischen Wahlgrundrechts im System der EMRK bildet die Wahlrechtsgarantie des Art. 3 ZP 1 den zentralen Anknüpfungspunkt. Bereits in der Präambel zur EMRK wird „eine wahrhaft demokratische politische Ordnung“ 216 als Schlüsselelement zur Sicherung der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgehoben. Dennoch wurde die Verbürgung des Wahlrechts noch nicht in den ursprünglichen Text der EMRK aufgenommen, da sich das Ministerkomitee des Europarates nicht auf eine solche „politische Klausel“ einigen konnte217. Nachdem der anfangs vorgesehene Wortlaut der Norm während der folgenden Beratungen mehrfach geändert worden war, wurde die Wahlrechtsgarantie 1952 schließlich als Art. 3 Bestandteil des ZP 1. Danach verpflichten sich die Vertragsparteien, in angemessenen Zeitabständen freie und geheime Wahlen unter Bedingungen abzuhalten, welche die freie Äußerung der Meinung des Volkes bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten. 214 Der maßgebliche Anteil der EU-Ausländer in Luxemburg betrug im Jahr 2012 39,41%. Vgl. zu den luxemburgischen Beschränkungen die Mitteilung der Kommission v. 12.03.2013, KOM(2013) 126 endg., unter 5.3; außerdem Giegerich, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 93; Haag, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 22 AEUV, Rn. 18, Fn. 66. 215 Vgl. Reich, S. 432; Streinz/Streinz/Michl, Art. 52 GRC, Rn. 10. 216 Vierter Erwägungsgrund: „an effective political democracy“ (engl.)/„un régime politique véritablement démocratique“ (frz.). 217 Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 1; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 103; R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (370 f.); Besselink, CMLR 45 (2008), 787 (788).

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Im Vergleich mit den anderen Rechten der EMRK ist bemerkenswert, dass der Wortlaut von Art. 3 ZP 1 zunächst nicht auf ein subjektives Recht schließen lässt, sondern mit der zurückhaltenden und unpersönlichen Formulierung vielmehr die Verpflichtung der Vertragsstaaten zur Abhaltung von Wahlen hervorgehoben wird218. Daher hat die EKMR die Wahlrechtsgarantie zunächst als institutionelle Gewährleistung und objektives allgemeines Wahlrecht aufgefasst219 und diese Einschätzung erst in ihrer späteren Rechtsprechung revidiert220. So setzte sich Mitte der 1970er Jahre die Ansicht durch, dass Art. 3 ZP 1 ein subjektives Wahlrecht verbürge, aktiv und passiv an Wahlen teilzunehmen. In seinem grundlegenden Wahlrechtsurteil Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien von 1987 hat auch der EGMR diese Entwicklung bestätigt und Art. 3 ZP 1 als subjektives Recht anerkannt221. Neben Art. 5 ZP 1 und den Präambeln von ZP 1 und ZP 4 ließen auch die Entstehungsmaterialien zum ZP 1 auf ein individuelles Wahlrecht schließen222. Mit der staatenbezogenen Formulierung sei beabsichtigt gewesen, der Verpflichtung der Vertragsparteien eine größere Feierlichkeit zu verleihen und zudem deutlich zu machen, dass diese positives Handeln gebiete223. Die subjektiv-rechtliche Qualität von Art. 3 ZP 1 lässt sich obendrein auch aus dem Schutzzweck der Konvention ableiten: Die in der EMRK enthaltenen Rechte sollen praktisch und effektiv gewährleistet werden, was mit einer individuellen Durchsetzungsmöglichkeit durch den Einzelnen am besten sichergestellt werden kann224. Nach seinem eindeutigen Wortlaut ist Art. 3 ZP 1 auf die Wahl der „gesetzgebenden Körperschaften“ 225 anwendbar. Bei der Auslegung dieses Begriffs 218

Frowein, in: ders./Peukert, Art. 3 ZP 1, Rn. 1. EKMR, Entsch. v. 04.01.1960, X. ./. Deutschland, CD 2, 1 (3); EKMR, Entsch. v. 30.05.1961, X. et al. ./. Belgien, CD 6, 48 (53 f.); Grabenwarter, EMRK, 4. Aufl., § 23, Rn. 90. 220 EKMR, Entsch. v. 30.05.1975, W., X., Y. und Z. ./. Belgien, DR 2, 110 (112 f., 116), Rn. 3; hierzu Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 916 f. 221 Ständige Rspr.; EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 49 ff.; EGMR, Urt. v. 01.07.1997, Gitonas et al. ./. Griechenland, Rep. 1997-IV, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 02.09.1998, Ahmed et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1998-VI, Rn. 75; EGMR, Urt. v. 06.04.2000, Labita ./. Italien, Rep. 2000-IV, Rn. 201; EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Podkolzina ./. Lettland, Rep. 2002-II, Rn. 33. 222 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 49; siehe auch Frowein, in: ders./Peukert, Art. 3 ZP 1, Rn. 1. 223 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 50; vgl. auch Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 22. 224 Vgl. die ständige Rspr. des EGMR, etwa Urt. (GK) v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 34; Urt. (GK) v. 30.01.1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei et al. ./. Türkei, Rep. 1998-I, Rn. 33; außerdem Grabenwarter, EMRK, 4. Aufl., § 23, Rn. 90. 225 Engl. „legislature“; frz. „corps législatif“. 219

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kommt es darauf an, ob das betreffende Organ nach Maßgabe der zugrundeliegenden Verfassungsordnung226 als konstituierender Teil der Legislative mit substantieller Gesetzgebungskompetenz anzusehen ist227. Wahlen zu solchen Organen müssen in angemessenen, regelmäßigen Zeitabständen abgehalten werden228. Dabei sind sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht vom Schutz des Art. 3 ZP 1 umfasst. Die Berechtigten dürfen somit ihre Stimme abgeben sowie selbst kandidieren und im Erfolgsfalle das Mandat als Parlamentsmitglied ausüben229. Diese individuellen Wahlrechte aus Art. 3 ZP 1 sollen die Wahlfreiheit der Wahlberechtigten und die Unabhängigkeit der Parlamentsabgeordneten sichern und stehen grundsätzlich natürlichen Personen zu230. Die EKMR hat aus der Wahlfreiheit auch abgeleitet, dass politische Parteien die Gelegenheit erhalten müssten, ihre Kandidaten für Wahlen zu präsentieren231. Nachdem der EGMR sich ursprünglich zurückhaltend positioniert und bei Parteien lediglich die Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK herangezogen hatte232, hat er inzwischen Parteien als unmittelbare Träger des passiven Wahlrechts jedenfalls dann anerkannt, wenn im jeweiligen Wahlsystem eine Kandidatur auf Parteilisten vorgesehen war233. Zudem können die politischen Parteien indirekt von dem Schutz profitieren, der sich aus der in Art. 3 ZP 1 verankerten Wahlmöglichkeit der individuell Berechtigten ergibt234. 226 Siehe bereits o., Teil 1, B. III.; zur Anwendbarkeit auf das Europäische Parlament siehe u., IV. 3. b). 227 Vgl. EKMR, Entsch. v. 05.07.1985, Booth-Clibborn ./. Vereinigtes Königreich, DR 43, 236 (247, 260); EKMR, Entsch. v. 11.09.1995, Timke ./. Deutschland, DR 82A, 158 (159); Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 45 ff.; Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 929 ff.; Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (334). 228 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 108; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 51; Strejcek, FS Öhlinger, 395 (403). 229 EKMR, Entsch. v. 12.12.1985, Fryske Nasjonale Partij ./. Niederlande, DR 45, 240 (242, 244); EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 51; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 23 ff. 230 EGMR, Urt. v. 01.07.1997, Gitonas et al. ./. Griechenland, Rep. 1997-IV, Rn. 39; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 18, 59. 231 EKMR, Entsch. v. 08.10.1976, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 7, 95 (96, 99); EKMR, Entsch. v. 08.12.1981, X. ./. Island, DR 27, 145 (150, 156); Richter, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 26, 60 (Fn. 163). 232 EGMR (GK), Urt. v. 30.01.1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei et al. ./. Türkei, Rep. 1998-I, Rn. 25; EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Yazar et al. ./. Türkei, Rep. 2002-II, Rn. 32; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 60; Rainey/Wicks/Ovey, S. 549. 233 EGMR, Urt. v. 11.01.2007, Russian Conservative Party of Entrepreneurs et al. ./. Russland, Nr. 55066/00 und 55638/00, Rn. 51 ff., 67; EGMR, Urt. v. 08.07.2008, Georgian Labour Party ./. Georgien, Rep. 2008, Nr. 9103/04, Rn. 72, 74; Arndt, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 1, Rn. 8; siehe auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 107. 234 Vgl. EGMR, Urt. v. 11.06.2002, Sadak et al. ./. Türkei (Nr. 2), Rep. 2002-IV, Rn. 33 ff., 40 (Verstoß gegen Art. 3 ZP 1 durch automatischen Mandatsverlust infolge

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Von den bekannten Wahlrechtsgrundsätzen235 sind nur die beiden eng miteinander zusammenhängenden Prinzipien der Freiheit und Geheimheit der Wahl ausdrücklich in Art. 3 ZP 1 niedergelegt. Aus der Wahlfreiheit fließt die Garantie für den Wähler, seine Wahlentscheidung ohne jede Art von Zwang treffen zu können236. Der Grundsatz der geheimen Wahl verpflichtet einerseits die Staaten, das Wahlgeheimnis durch geeignete Vorkehrungen zu sichern, und vermittelt andererseits einen individuellen Anspruch des Wählers auf anonyme Stimmabgabe237. Die Geheimhaltung der Wahlentscheidung schützt den Wähler gleichzeitig vor unzulässiger Einflussnahme und sichert auf diese Weise auch seine Wahlfreiheit ab238. Die Allgemeinheit der Wahl ist zwar in Art. 3 ZP 1 nicht aufgeführt, wird allerdings in der Rechtsprechung der Konventionsorgane bereits seit 1967 als mitgewährleistet angesehen239. Der Ausschluss bestimmter Personen oder Gruppen von der Ausübung des Wahlrechts stellt damit einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in Art. 3 ZP 1 dar240. Anders als die bereits genannten Prinzipien wird die Unmittelbarkeit der Wahl dagegen nicht durch Art. 3 ZP 1 geschützt, so dass der Standard des EMRK-Systems hier punktuell hinter dem des Unionsrechts zurückbleibt. Hintergrund dieser Abweichung war das Bestreben, den Staaten ausreichenden Spielraum bei der Ausgestaltung des Wahlrechts zu belassen und auch indirekte Wahlen, beispielsweise mit Hilfe von Wahlmännern, nicht von vornherein auszuschließen241. Dementsprechend schreibt Art. 3 ZP 1 auch kein bestimmtes Wahlsystem vor, so dass je nach der politischen Entwicklung eines Staates ganz unterschiedliche Wahlverfahren möglich sind, solange sich die getroffenen Regelungen in dem zugrundeliegenden System rechtfertigen lassen (Grundsatz der Systemgerechtig-

eines Parteiverbots); Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 60 f.; Rainey/Wicks/Ovey, S. 549. 235 Siehe o., II. 2. 236 EKMR, Entsch. v. 08.10.1976, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 7, 95 (96, 99); EKMR, Entsch. v. 08.03.1979, Lindsay et al. ./. Vereinigtes Königreich, DR 15, 247 (251, 256); Cremona, GS Ryssdal, 309 (313); Frowein, in: ders./Peukert, Art. 3 ZP 1, Rn. 4; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 108. 237 Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 29. 238 Siehe zum Europarecht bereits o., II. 2. c); zur EMRK Cremona, GS Ryssdal, 309 (313); Frowein, in: ders./Peukert, Art. 3 ZP 1, Rn. 4; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 108. 239 EKMR, Entsch. v. 06.10.1967, X. ./. Deutschland, CD 25, 38 (39); EKMR, Entsch. v. 19.12.1974, X. ./. Niederlande, DR 1, 87 (87 ff.); EKMR, Entsch. v. 03.12. 1979, X. ./. Belgien, DR 18, 250 (251, 253); EKMR, Entsch. v. 05.07.1985, Booth-Clibborn ./. Vereinigtes Königreich, DR 43, 236 (247, 260); EGMR (GK), Urt. v. 06.10. 2005, Hirst ./. Vereinigtes Königreich (Nr. 2), Rep. 2005-IX, Rn. 59; Richter, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 30. 240 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 111 f.; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Art. 3 ZP 1, Rn. 14. 241 Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 31.

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keit)242. Die nicht abschließend geklärte Frage, ob bei einer Wahl unterschiedliche Bestimmungen in verschiedenen Teilen eines Wahlgebiets zur Anwendung kommen dürfen, stellt sich im Hinblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament mit besonderer Brisanz, da zahlreiche Einzelheiten des Europawahlrechts europarechtlich der Regelung durch die Mitgliedstaaten überlassen sind243. Letztlich ergibt sich hier ein Problem der Gleichheit der Wahlbürger, auf die bei der Europawahl ggf. voneinander abweichende Vorschriften Anwendung finden244. Die Wahlrechtsgleichheit, in Art. 3 ZP 1 gleichfalls nicht direkt erwähnt, leiten die Straßburger Organe daraus ab, dass nach dem Wortlaut die Wahlbedingungen die freie Äußerung der Volksmeinung gewährleisten müssen245. Dieses Prinzip der Gleichbehandlung aller Bürger bei der Ausübung des Wahlrechts umfasst zwar die Gewährleistung der Zählwertgleichheit der Stimmen, nicht aber die strikte Gleichheit von Erfolgswert und -chance246. Die Anwendung unterschiedlicher Wahlsysteme innerhalb eines Wahlgebiets ist Gegenstand eines die Europawahlen im Vereinigten Königreich betreffenden Verfahrens vor der EKMR gewesen247. Dort hatten die Wähler in Nordirland nicht nach dem seinerzeit sonst landesweit üblichen Mehrheitswahlrecht, sondern nach dem Verhältniswahlsystem abgestimmt. Dieses Vorgehen hielt die EKMR aufgrund des Minderheitenschutzes in dem religiös-kulturell heterogenen Gebiet für gerechtfertigt248. Besondere sachliche Gründe können demnach zur Zulässigkeit lokal spezifischer Wahlbestimmungen führen249. Ob der EGMR dazu auch die quasiföderale Verbundstruktur der EU zählen und damit die verbleibende Uneinheitlichkeit des Europawahlverfahrens billigen würde, erscheint aber nach wie vor zweifelhaft. Einerseits handelt es sich zumindest um keine einschneidende Ungleichbehandlung, da die wesentlichen Verfahrenselemente einschließlich des Verhältniswahlsystems inzwischen europarechtlich festgeschrieben sind und auch die Zählwertgleichheit durchgehend sichergestellt ist. Andererseits dürfte nur schwer der Nachweis zu führen sein, dass die tatsächlichen Bedingungen für die Europawahl in den einzelnen Mitgliedstaaten 242 EKMR, Entsch. v. 08.03.1979, Lindsay et al. ./. Vereinigtes Königreich, DR 15, 247 (251, 256); EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 54; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 32, 35. 243 Vgl. Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 Var. 2 AEUV, Art. 8 Abs. 1 DWA; außerdem o., I. 3. 244 Siehe schon o., II. 2. d) aa). 245 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 54; vgl. auch Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 32. 246 Siehe o., II. 2. d) bb). 247 EKMR, Entsch. v. 08.03.1979, Lindsay et al. ./. Vereinigtes Königreich, DR 15, 247 (= EuGRZ 1979, 250). 248 EKMR, a. a. O., S. 251, 257. 249 Vgl. Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 40.

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so unterschiedlich sind, dass die divergierenden Wahlrechtsbestimmungen als erforderlich angesehen werden können250. In einer entsprechenden Prüfung hätte der EGMR jedenfalls Gelegenheit, dem im Detail immer noch wenig ausdifferenzierten Grundsatz der Gleichheit der Wahl sowohl im Recht der EMRK als auch über Art. 6 Abs. 3 EUV im Unionsrecht schärfere Konturen zu verleihen. Für alle durch Art. 3 ZP 1 gewährleisteten Rechte gilt allgemein, dass sie trotz Fehlens eines ausdrücklichen Schrankenvorbehalts Beschränkungen unterworfen werden können (implizite Schranken)251. Aufgrund des politischen Charakters des Wahlrechts genießen die Staaten hier zwar einen weiten Beurteilungsspielraum252. Eingriffe in die Rechte aus Art. 3 ZP 1 sind aber nur zulässig, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage ergehen, einem legitimen Zweck dienen und verhältnismäßig sind253. Ob im Einzelfall die Voraussetzungen für Wahlrechtseinschränkungen vorliegen, muss in einem objektiven und fairen Verfahren durch eine unparteiische Instanz festgestellt werden254.

IV. Matthews ./. Vereinigtes Königreich (1999) Mit der Anwendbarkeit der in Art. 3 ZP 1 verbürgten Rechte auf die Wahl zum Europäischen Parlament hat sich der EGMR 1999 in seinem Leiturteil Matthews ./. Vereinigtes Königreich255 grundlegend auseinandergesetzt. Dieses Judikat hat nicht nur eine weitere Perspektive für den effektiven Schutz europäischer 250 Kritisch auch Winkler, EuGRZ 2001, 18 (21); Kluth, in: Calliess/Ruffert, 3. Aufl., Art. 190 EGV, Rn. 10. 251 Ständige Rspr.; EKMR, Entsch. v. 12.07.1976, X. ./. Österreich, DR 6, 120 (121 ff.); EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 52; EGMR, Urt. v. 01.07.1997, Gitonas et al. ./. Griechenland, Rep. 1997IV, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 02.09.1998, Ahmed et al. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1998-VI, Rn. 75; EGMR, Urt. v. 11.06.2002, Sadak et al. ./. Türkei (Nr. 2), Rep. 2002IV, Rn. 31; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 96; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 113; Peters/Altwicker, EMRK, § 17, Rn. 6. 252 Ständige Rspr.; EGMR, Urt. v. 01.07.1997, Gitonas et al. ./. Griechenland, Rep. 1997-IV, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Podkolzina ./. Lettland, Rep. 2002-II, Rn. 33 ff.; EGMR, Urt. v. 11.01.2007, Russian Conservative Party of Entrepreneurs et al. ./. Russland, Nr. 55066/00 und 55638/00, Rn. 48. 253 Ständige Rspr.; EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 52; EGMR, Urt. v. 01.07.1997, Gitonas et al. ./. Griechenland, Rep. 1997-IV, Rn. 39; EGMR, Urt. v. 06.04.2000, Labita ./. Italien, Rep. 2000-IV, Rn. 201; EGMR, Urt. v. 11.06.2002, Sadak et al. ./. Türkei (Nr. 2), Rep. 2002-IV, Rn. 31; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 98; R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (359). 254 Vgl. EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Podkolzina ./. Lettland, Rep. 2002-II, Rn. 35 f.; EGMR, Urt. v. 10.01.2012, Kerimli und Alibeyli ./. Aserbaidschan, Nr. 18475/06 und 22444/06, Rn. 37; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 103, 116. 255 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I (= EuGRZ 1999, 200).

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Bürgerrechte eröffnet, sondern zeitigt auch vielfältige Auswirkungen im Recht sowohl der Union als auch der EMRK. 1. Hintergrund und Sachverhalt Im zugrundeliegenden Rechtsstreit ging es um die Frage, ob auch in Gibraltar Wahlen zum Europäischen Parlament abgehalten werden müssen. Gibraltar wurde vom spanischen König im Vertrag von Utrecht 1713 an die britische Krone abgetreten, wobei für den Fall einer zukünftigen Veräußerung ein vorrangiges Rückerwerbsrecht der spanischen Krone vereinbart wurde256. Heute besitzt Gibraltar den Status eines britischen Überseegebiets (British Overseas Territory) nach Schedule 6 des British Nationality Act 1981257. Es handelt sich damit um ein vom Vereinigten Königreich abhängiges Gebiet, das der britischen Krone zugeordnet ist, ohne selbst Bestandteil des Vereinigten Königreiches zu sein. Die innere Organisation Gibraltars bestimmt sich nach der Gibraltar Constitution Order von 2006258, die die gleichnamige Order von 1969 ersetzte. Der Name der in allgemeinen Wahlen bestimmten Volksvertretung Gibraltars wurde zu diesem Anlass von House of Assembly in Gibraltar Parliament geändert. Diesem Gremium sind Befugnisse der lokalen Gesetzgebung zugewiesen259, außerdem können das Parlament des Vereinigten Königreichs und die Queen in Council für Gibraltar geltende Gesetze erlassen260. Die Exekutivgewalt in Gibraltar übt ein Gouverneur als Repräsentant der britischen Krone aus, der von einem Ministerkabinett unterstützt wird und auch den von der Volksvertretung verabschiedeten Gesetzen zustimmen muss261. Europarechtlich handelt es sich bei Gibraltar um ein europäisches Hoheitsgebiet i. S. d. Art. 355 Abs. 3 AEUV262, dessen auswärtige Beziehungen ein Mitgliedstaat (das Vereinigte Königreich) wahrnimmt, so dass die europäischen Ver256 Art. X letzter Satz des Vertrags von Utrecht v. 13.07.1713. Siehe Waibel, in: Wolfrum, MPEPIL Vol. IV, S. 454 (455 ff.), Rn. 6 ff. 257 Abrufbar unter: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/1981/61; geändert durch den British Overseas Territories Act 2002, abrufbar unter: http://www.legislation. gov.uk/ukpga/2002/8/contents. Ausführlich zum Status Gibraltars De Schutter/L’Hoest, CDE 2000, 141 (146 ff.); Waibel, in: Wolfrum, MPEPIL Vol. IV, S. 454 (459 f.), Rn. 24 ff. 258 Supplement to the Gibraltar Gazette No. 3,574 v. 28.12.2006, abrufbar unter: http://www.convent.gi/wp-content/uploads/2014/07/Gibraltar-Constitution-Order-2006. pdf. 259 Chapter III (Sections 24 ff.) der Verfassung von Gibraltar von 2006, Anhang 1 zur Gibraltar Constitution Order von 2006. 260 Vgl. EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C145/04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 17. 261 Sections 19 ff., 33 f., 44 ff. der Verfassung von Gibraltar von 2006, Anhang 1 zur Gibraltar Constitution Order von 2006. 262 Früher Art. 299 Abs. 4 EGV. Für die EAG gilt insoweit Art. 198 Abs. 2 EAGV.

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träge hier grundsätzlich Anwendung finden263. Dies gilt auch für das Europawahlrecht, das nicht zu den verschiedenen Sachbereichen zählt, die in Bezug auf Gibraltar Ausnahmeregelungen unterworfen sind264. Nach Art. 28 des Beitrittsvertrages von 1972265 ist etwa Sekundärrecht für gewisse Teile der gemeinsamen Handels- und Agrarpolitik sowie des Umsatzsteuerrechts nicht auf Gibraltar anwendbar, sofern der Rat nicht einstimmig auf Vorschlag der Kommission etwas anderes bestimmt. Gemäß dem Zollkodex266 gehört Gibraltar außerdem nicht zum Zollgebiet der EU, und es leistet auch keinen Beitrag zum Unionshaushalt. Die in Gibraltar anzuwendende europäische Gesetzgebung bezieht sich dagegen insbesondere auf den freien Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr, die Gesundheit sowie den Umwelt- und Verbraucherschutz267. Im April 1994 beantragte Denise Matthews, eine britische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Gibraltar, bei der Wahlbehörde für Gibraltar ihre Eintragung in das Wählerverzeichnis für die Wahlen zum Europäischen Parlament. Die Behörde wies ihren Antrag aber unter Verweis auf Anhang II DWA a. F. zurück. Diese Norm, die nach dem Ratsbeschluss von 2002 inzwischen zum Anhang I DWA geworden ist, statuiert, dass das Vereinigte Königreich die Vorschriften des DWA nur auf das Vereinigte Königreich anwenden wird. Sie ist nach Art. 15 DWA integraler Bestandteil des DWA und steht damit im Primärrechtsrang268. Die Wahlbehörde für Gibraltar hat daraus abgeleitet, dass Gibraltar in das Wahlgebiet für die Wahlen zum Europäischen Parlament nicht eingeschlossen sei269. In ihrer gegen das Vereinigte Königreich gerichteten Individualbeschwerde nach Art. 25 EMRK a. F. (vgl. jetzt Art. 34 EMRK) rügte Matthews eine Verlet263 Vgl. Erklärung Nr. 55 Spaniens und des Vereinigten Königreichs zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 356; GA Tizzano, Schlussanträge v. 06.04.2006 in den Rs. C-145/04 (Spanien ./. Vereinigtes Königreich) und C-300/04 (Eman und Sevinger), Slg. 2006, I-7917, I-7920, Rn. 17; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 355 AEUV, Rn. 9; Streinz/Kokott, Art. 355 AEUV, Rn. 7. 264 Vgl. Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 355 AEUV, Rn. 9; Booß, in: Lenz/ Borchardt, Art. 355 AEUV, Rn. 4; Streinz/Kokott, Art. 355 AEUV, Rn. 7; De Schutter/ L’Hoest, CDE 2000, 141 (158 ff.); Waibel, in: Wolfrum, MPEPIL Vol. IV, S. 454 (460), Rn. 27. 265 ABl. Nr. L 73 v. 27.03.1972, S. 5 (20). 266 Art. 3 VO (EWG) Nr. 2913/92 des Rates v. 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. Nr. L 302 v. 19.10.1992, S. 1; Art. 3 VO (EG) Nr. 450/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaft (Modernisierter Zollkodex) v. 23.04.2008, ABl. Nr. L 145 v. 04.06. 2008, S. 1. 267 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 12. 268 Siehe o., I. 2. 269 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 7.

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zung von Art. 3 ZP 1, sowohl allein als auch i.V. m. Art. 14 EMRK. Durch eine Erklärung vom 23.10.1953 hatte das Vereinigte Königreich nach Art. 63 EMRK a. F. (jetzt Art. 56 EMRK) die Geltung der Konvention ausdrücklich auf Gibraltar ausgedehnt270. Das ZP 1 findet kraft der am 25.02.1988 abgegebenen britischen Erklärung gemäß Art. 4 ZP 1 in Gibraltar ebenfalls Anwendung. 2. Verfahren vor der EKMR Die damals noch zuständige EKMR erklärte die Beschwerde am 16.04.1996 für zulässig271 und nahm in ihrem Bericht vom 29.10.1997 gemäß Art. 31 EMRK a. F. dazu Stellung272. Dabei konzentrierte sie sich v. a. auf die Anwendbarkeit von Art. 3 ZP 1 auf das Europäische Parlament. In ihren früheren Entscheidungen hatte die EKMR am Status des Europäischen Parlaments als gesetzgebender Körperschaft i. S. d. Art. 3 ZP 1 mit der Begründung gezweifelt, dieses verfüge zwar über gewisse Überwachungs- und Budgetrechte, nehme aber keine gesetzgebenden Funktionen wahr273. Regelmäßig hatte sie in diesem Zusammenhang jedoch darauf hingewiesen, dass die Rechte aus Art. 3 ZP 1 auch dann zu achten seien, wenn Legislativbefugnisse auf supranationale Einrichtungen übertragen werden274. Im Matthews-Fall ging die EKMR dann überraschend auf umgekehrte Weise vor: Angesichts des inzwischen eingeführten Mitentscheidungsverfahrens erkannte sie zwar eine signifikante Entwicklung der Befugnisse des Europäischen Parlaments, hielt diesen Umstand letztlich aber für nicht entscheidungserheb270 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 19. Siehe auch die Bekanntmachung v. 04.06.1984, BGBl. 1984 II, S. 564. Mit Wirkung vom 14.01.2006 erklärte das Vereinigte Königreich gemäß Art. 56 Abs. 4 EMRK inzwischen auch die dauerhafte Anerkennung der Zuständigkeit des EGMR für u. a. Gibraltar betreffende Individualbeschwerden; vgl. http://www.coe.int/en/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/005/declarations? p_auth=hPEYsyPw. 271 EKMR, Entsch. v. 16.04.1996, Matthews ./. Vereinigtes Königreich (Zulässigkeit), Nr. 24833/94. 272 EKMR, Bericht v. 29.10.1997 (Plenum), Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 279, teils auf Deutsch abgedruckt in EuGRZ 1999, 206. 273 Vgl. EKMR, Entsch. v. 08.03.1979, Lindsay et al. ./. Vereinigtes Königreich, DR 15, 247 (251, 256); EKMR, Entsch. v. 10.05.1979, Alliance des Belges de la Communauté européenne ./. Belgien, DR 15, 259 (261, 263 f.); EKMR, Entsch. v. 09.12.1987, Tête ./. Frankreich, DR 54, 52 (59 f., 67 f.); EKMR, Entsch. v. 10.03.1988, Fournier ./. Frankreich, DR 55, 130 (134 f., 140); EKMR, Entsch. v. 12.04.1991, Van Wambeke ./. Belgien, Nr. 16692/90; EKMR, Entsch. v. 18.10.1995, André ./. Frankreich, Nr. 27759/ 95; Grabenwarter/Pabel, EMRK, 5. Aufl., § 23, Rn. 106; Reid, S. 207. 274 EKMR, Entsch. v. 08.03.1979, Lindsay et al. ./. Vereinigtes Königreich, DR 15, 247 (251, 256); EKMR, Entsch. v. 10.05.1979, Alliance des Belges de la Communauté européenne ./. Belgien, DR 15, 259 (261, 263); EKMR, Entsch. v. 09.12.1987, Tête ./. Frankreich, DR 54, 52 (59, 67); EKMR, Entsch. v. 10.03.1988, Fournier ./. Frankreich, DR 55, 130 (134, 139).

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lich275. Aus dem Wortlaut des Art. 3 ZP 1 ergebe sich nämlich, dass sich die Verfasser der Konvention bei der Annahme des Artikels auf innerstaatliche Gesetzgebungskörperschaften bezogen hätten, was auch durch die travaux préparatoires zur EMRK und die daran anschließende Rechtsprechung des EGMR bestätigt werde276. Anders als im Fall von regionalen Vertretungskörperschaften mit Legislativkompetenzen nach der jeweiligen innerstaatlichen Verfassung entspreche die Erstreckung von Art. 3 ZP 1 auf supranationale Repräsentationsorgane weder dem Ziel und Zweck der Vorschrift noch der historischen Intention ihrer Verfasser277. Dies gelte auch dann, wenn die europäische Gesetzgebung wie in Gibraltar bereits maßgeblichen Einfluss auf das Recht des betreffenden Territoriums gewonnen habe. Mit dieser hauptsächlich von historischen Argumenten getragenen Begründung gelangte die EKMR mit 11:6 Stimmen zu dem Ergebnis, dass keine Verletzung von Art. 3 ZP 1 festzustellen sei. 3. Urteil des EGMR Da das Vereinigte Königreich die obligatorische Gerichtsbarkeit des EGMR gemäß Art. 46 EMRK a. F. anerkannt hatte, konnte die EKMR die Beschwerde nach Maßgabe von Art. 44, 48 EMRK a. F. auch ohne ausdrückliche britische Zustimmung beim Gerichtshof anhängig machen, um die Konventionsrechtslage durch dessen Entscheidung klären zu lassen278. Nach Inkrafttreten des ZP 11279 am 01.11.1998 wurde das Verfahren gemäß Art. 5 § 5 ZP 11280 an die Große Kammer des EGMR überwiesen, die in ihrem Urteil vom 18.02.1999 zu den von den Parteien und der EKMR aufgeworfenen Rechtsfragen umfassend Stellung bezog. a) Konventionsrechtliche Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs Die erste zu klärende Frage betraf die Verantwortlichkeit des Vereinigten Königreichs nach der EMRK für den Ausschluss Gibraltars von den Wahlen zum Europäischen Parlament. Die britische Regierung argumentierte, die eigentliche Beschwer der Bf. resultiere aus dem DWA als Gemeinschaftsrechtsakt, der von 275 EKMR, Bericht v. 29.10.1997 (Plenum), Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 279, Rn. 60. 276 EKMR, a. a. O., Rn. 62. 277 EKMR, a. a. O., Rn. 62 f.; hierzu kritisch Peukert, GS Ryssdal, 1107 (1116). 278 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 1. 279 Protokoll Nr. 11 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Umgestaltung des durch die Konvention eingeführten Kontrollmechanismus v. 11.05.1994, BGBl. 1995 II, S. 579. 280 Nach dieser Vorschrift waren beim EGMR anhängige, bei Inkrafttreten des ZP 11 noch nicht entschiedene Rechtssachen der Großen Kammer des EGMR zur Prüfung vorzulegen.

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einem einzelnen Mitgliedstaat nicht einseitig zurückgenommen oder geändert werden könne, so dass dem Vereinigten Königreich eine effektive Kontrollmöglichkeit und -befugnis fehle281. Derartige Rechtsakte, die Wahlen zu einem europäischen Verfassungsorgan beträfen, könnten den Mitgliedstaaten weder gemeinsam noch individuell zugerechnet werden. Für den EGMR bildete Art. 1 EMRK den Prüfungsmaßstab für die Anwendbarkeit der Konvention. Danach sichern die Vertragsparteien allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen die in der EMRK bestimmten Rechte und Freiheiten zu. Der Gerichtshof verwies darauf, dass europäische Rechtsakte als solche nicht von ihm überprüft werden könnten, da die EG nicht zu den Vertragsparteien der EMRK zähle282. Die Konvention stehe einer Übertragung von Hoheitsgewalt auf internationale Organisationen nicht entgegen, solange die Einhaltung der Konventionsrechte weiterhin sichergestellt sei283. Dies zu gewährleisten, liege auch nach dem Kompetenztransfer im Verantwortungsbereich der Vertragsstaaten. Damit bezog sich der EGMR implizit auf die Rechtsprechung der EKMR, die in früheren Entscheidungen bereits entsprechende Grundsätze aufgestellt hatte284. Ohne die Frage aufzuwerfen, ob das Vereinigte Königreich möglicherweise ungeachtet von Anhang I DWA Europawahlen in Gibraltar hätte abhalten können285, identifizierte der EGMR sowohl den DWA samt zugrundeliegendem Ratsbeschluss als auch den die Befugnisse des Europäischen Parlaments erweiternden Vertrag von Maastricht als entscheidend ursächliche Anknüpfungspunkte für eine mögliche Konventionsverletzung286. Beide sah er als völkerrechtliche Verpflichtungen an, die das Vereinigte Königreich aus eigenem Entschluss eingegangen sei287, und stimmte insoweit dem Vortrag der Bf. zu. 281 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 26. 282 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 32; hierzu auch bereits EKMR, Entsch. v. 10.07.1978, Confédération Française Démocratique du Travail ./. EG, DR 13, 231 (235, 240). Siehe außerdem Conforti, FS Cassese, 221 (224 f.), sowie o., Teil 1, C. V., D. I. 283 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 32; siehe weiterhin EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 154; EGMR, Urt. v. 06.12.2012, Michaud ./. Frankreich, Rep. 2012, Nr. 12323/11, Rn. 102. 284 EKMR, Entsch. v. 09.02.1990, Melchers & Co. ./. Deutschland, DR 64, 138 (145, 152 f.); hierzu näher Giegerich, ZaöRV 50 (1990), 836 (836 ff.); Philippi, ZEuS 2000, 97 (101 ff.); De Schutter/L’Hoest, CDE 2000, 141 (188 ff., 199 ff.); Bultrini, ZEuS 1998, 493 (500 ff.); Gerstner/Goebel, Jura 1993, 626 (635). Vgl. auch bereits EKMR, Entsch. v. 09.12.1987, Tête ./. Frankreich, DR 54, 52 (59, 67); EKMR, Entsch. v. 28.05.1975, Hess ./. Vereinigtes Königreich, DR 2, 72 (74, 76) (= EuGRZ 1975, 482); EKMR, Entsch. v. 10.06.1958, X. ./. Deutschland, YbECHR 2 (1958–1959), 256 (300 f.). 285 Vgl. näher u., V. 4. 286 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 33. 287 Ebenda; bestätigt in EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 157. Nach Rudolf, AJIL

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Diese Bewertung erscheint aus konventionsrechtlicher Sicht, die auf die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten abstellt, konsequent288. Der Vertrag von Maastricht wie auch der DWA bilden zwar Instrumente zur Änderung des europäischen Primärrechts und erhielten mit ihrem Inkrafttreten auch einen entsprechenden Rang. Wie die gesamte Europarechtsordnung lassen sie sich im Ursprung aber dennoch auf völkerrechtliches Handeln der Mitgliedstaaten (Ratifikation) zurückführen, wenn auch selbst dieses schon in europarechtliche Regeln eingebettet wurde289. Gegen eine europarechtsautonome Einordnung von DWA und Maastrichter Vertrag sprach für den EGMR weiterhin, dass diese nicht vor dem EuGH angegriffen werden konnten290. Vielmehr wies er dem Vereinigten Königreich und allen übrigen EG-Mitgliedstaaten gemeinsam die Verantwortlichkeit für die Konsequenzen der eingegangenen Verpflichtungen zu291. Vor dem Hintergrund der Effektivität der Konventionsrechte führe die britische Entscheidung, mit dem Beitritt die Anwendung des Europarechts einschließlich des Sekundärrechts weitgehend auf Gibraltar zu erstrecken, dazu, dass die Rechte aus Art. 3 ZP 1 auch im Hinblick auf die europäische Gesetzgebung zu gewährleisten seien292. Die fehlende effektive Kontrolle des Vereinigten Königreichs über die bestehende Situation ändere nichts mehr an seiner durch die Übernahme der verschiedenen völkerrechtlichen Verpflichtungen ausgelösten Verantwortlichkeit gemäß Art. 1 EMRK. Neben diesen vom EGMR genannten Aspekten gab es mit der Verwaltungsentscheidung der Wahlbehörde von Gibraltar formell einen weiteren Anknüpfungspunkt für eine Passivlegitimation des Vereinigten Königreichs293. Denn aufgrund des Sonderstatus Gibraltars als britisches Überseegebiet muss sich das Vereinigte 93 (1999), 682 (684), hatte das Vereinigte Königreich ursprünglich sogar selbst verlangt, Gibraltar vom Anwendungsbereich des DWA auszunehmen. 288 Vgl. auch Jacqué, RTDE 41 (2005), 756 (758). 289 So regelt die Rechtsgrundlage des DWA (ursprünglich Art. 138 Abs. 3 EWGV; jetzt Art. 223 Abs. 1 AEUV) der Sache nach ein spezielles Verfahren zur Vertragsänderung; siehe dazu schon o., I. 2. Als weiteres Beispiel lässt sich heute auch die allgemeine Revisionsvorschrift des Art. 48 EUV anführen. 290 Als Primärrecht sind sie allenfalls einer Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 1 lit. a AEUV (früher Art. 234 Abs. 1 lit. a EGV) zugänglich, können aber vom EuGH bspw. nicht für ungültig erklärt werden; siehe noch u., 4. Hier liegt ein wichtiger Unterschied zum Fall Melchers & Co. ./. Deutschland der EKMR (Entsch. v. 09.02.1990, DR 64, 138), der eine Entscheidung der EG-Kommission, also vom EuGH voll überprüfbares Sekundärrecht, betraf; vgl. EuGH, Urt. v. 07.06.1983, Musique Diffusion française et al. ./. Kommission, verb. Rs. 100/80 bis 103/80, Slg. 1983, 1825; Gerstner/Goebel, Jura 1993, 626 (626 f.). 291 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 33; vgl. auch Marsch/Sanders, EuR 2008, 345 (363); Bröhmer, EuZW 2006, 71 (74). 292 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 34 f. 293 Giegerich, ZVglRWiss 104 (2005), 163 (167); Winkler, EuGRZ 2001, 18 (25); hierzu auch Busch, S. 58.

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Königreich die Akte der dortigen Behörden konventionsrechtlich zurechnen lassen und ist dann jedenfalls als vor dem EGMR passivlegitimierte Partei anzusehen. b) Anwendbarkeit von Art. 3 ZP 1 auf das Europäische Parlament Der EGMR hatte sich weiterhin damit zu befassen, ob der Anwendungsbereich von Art. 3 ZP 1 auch supranationale Vertretungsorgane wie das Europäische Parlament einschließt. Während die Bf. bejahend auf frühere Entscheidungen der EKMR verwies, in denen diese auch die Begründetheit von das Europäische Parlament betreffenden Beschwerden geprüft hatte, erklärte die britische Regierung, dass sich Art. 3 ZP 1 ausschließlich auf die (nationalen oder lokalen) gesetzgebenden Körperschaften souveräner Staaten beziehe294. Das Europäische Parlament und die Grundzüge seines Wahlverfahrens seien aber Ausdruck des Rechtssystems der EG und nicht der jeweiligen Mitgliedstaaten. Die EKMR hatte in ihrem Bericht unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Konvention die britische Sicht im wesentlichen gestützt295. Der EGMR löste sich von dieser historischen Ausrichtung und ging einen progressiveren Weg, indem er seine ständige Rechtsprechung aufnahm, derzufolge die Konvention als „living instrument“ im Lichte der jeweiligen Zeitumstände auszulegen sei296. Dass ein Organ von den Verfassern der Konvention noch nicht bedacht worden sei, bedeute daher nicht, dass es sich dem Anwendungsbereich der Konvention entziehe297. Vielmehr habe der Gerichtshof bei der Auslegung der EMRK die von den Vertragsstaaten durch internationale Verträge geschaffenen verfassungsrechtlichen und parlamentarischen Strukturen mitzuberücksichtigen. Dementsprechend zeige auch die Anerkennung regionaler Vertretungen als gesetzgebende Körperschaften, dass nicht nur nationale Parlamente von Art. 3 ZP 1 erfasst seien298. Angesichts der Koexistenz von europäischem Ge294 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 36 f. 295 Siehe o., 2. 296 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 39; EGMR (GK), Urt. v. 23.03.1995, Loizidou ./. Türkei (Preliminary Objections), Ser. A Vol. 310, Rn. 71. Siehe bereits o., Teil 1, B. II. 2. c), und Teil 3, A. I. 4. b) aa), 5. a). 297 In ihrem abweichenden Sondervotum zu EKMR, Bericht v. 29.10.1997, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 294/349, hatten die Kommissionsmitglieder Weitzel, Rozakis, Pellonpää, Conforti und Bratza bereits betont, dass die Nichtexistenz des Europäischen Parlaments bei Redaktion des ZP 1 der Anwendung dieser Vorschrift auf die Europawahl nicht entgegenstehe; zustimmend Ress, Das Europarecht vor dem EGMR, S. 9. 298 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 40; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 53; EKMR, Entsch. v. 12.07.1976, X. ./. Österreich, DR 6, 120; EKMR, Entsch. v. 11.09.1995, Timke ./. Deutschland, DR 82-A, 158.

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meinschaftsrecht und nationalem Recht unter Vorrangstellung des ersteren befinde sich Gibraltar in derselben Lage wie die anderen Teile der EU. Der EGMR berief sich des weiteren auf das in Art. 3 ZP 1 enthaltene Grundprinzip wirksamer politischer Demokratie299 und stellte fest, dass eine alternative Möglichkeit zur Repräsentation Gibraltars im Europäischen Parlament nicht erkennbar sei. Anders als noch die EKMR sah er daher allein im supranationalen Charakter des Europäischen Parlaments keinen Grund, dieses Organ von den Gewährleistungen des Konventionswahlrechts auszuschließen. Gerade im Hinblick auf die ältere Rechtsprechung der EKMR300 bedurfte damit indes noch der Klärung, ob das Europäische Parlament nunmehr über die notwendigen Kompetenzen verfügte, um als gesetzgebende Körperschaft i. S. d. Art. 3 ZP 1 qualifiziert werden zu können. Die Bf. stützte sich hier insbesondere auf die Erweiterung der Parlamentsrechte durch den Vertrag von Maastricht301. Dagegen wandte die britische Regierung ein, dass dem Europäischen Parlament mit den Rechten der Gesetzesinitiative und -verabschiedung die beiden wichtigsten Befugnisse einer gesetzgebenden Körperschaft fehlen würden. Auch das durch den Maastrichter Vertrag eingeführte Mitentscheidungsverfahren schaffe keine wirkliche Gleichbehandlung mit dem Rat und beziehe sich nur auf einen geringen Teil der gemeinschaftlichen Gesetzgebung302. Der Gerichtshof wies darauf hin, dass bei der Beurteilung auch die Besonderheiten („sui generis nature“) der EG zu berücksichtigen seien, in der keine Gewaltenteilung nach üblichem Muster bestehe, sondern mit Parlament, Rat und Kommission verschiedene Organe an der Gesetzgebung beteiligt seien303. Seit dem Vertrag von Maastricht sei die Rechtsstellung des Parlaments nicht mehr allein durch „Beratungs- und Kontrollbefugnisse“ (Art. 137 EGV a. F.) charakterisiert; für den konventionsrechtlichen Status komme es entscheidend auf die tatsächlichen parlamentarischen Rechte im gemeinschaftlichen Rechtssetzungsprozess an. Im folgenden analysierte der EGMR die Befugnisse des Europäischen Parlaments in den verschiedenen Beschlussverfahren, bei Ernennung und Entlassung der Kommission sowie im Haushaltsbereich und erwähnte auch das Recht, die 299 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 42 ff. Damit griff der Gerichtshof ein Leitmotiv seiner Rechtsprechung zu den politischen Rechten auf; siehe schon EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 47; EGMR (GK), Urt. v. 30.01.1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei et al. ./. Türkei, Rep. 1998-I, Rn. 45; außerdem Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (259, Fn. 35). 300 Siehe hierzu o., 2. 301 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 46. 302 Vgl. EGMR (GK), a. a. O., Rn. 45. 303 Hierzu EGMR (GK), a. a. O., Rn. 48 ff.

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Kommission zur Unterbreitung von Vorschlägen aufzufordern (Art. 138 b Abs. 2 EGV a. F., jetzt Art. 225 AEUV)304. Für den Gerichtshof stellte sich das Parlament bei dieser ganzheitlichen Zusammenschau als grundlegendes Instrument der demokratischen und politischen Kontrolle im gemeinschaftlichen System dar305. Ungeachtet seiner begrenzten Rechte sei es aufgrund seiner unmittelbaren demokratischen Legitimation derjenige Strukturbestandteil, der dem Bemühen um Sicherstellung „wirksamer politischer Demokratie“ am besten entspreche306. Trotz des Ausschlusses Gibraltars von einigen Bereichen der Gemeinschaftstätigkeit verblieben doch wesentliche Regelungsgegenstände, in denen das Europarecht dort unmittelbare Wirkung entfalte und die teils auch dem Mitentscheidungsverfahren unterworfen seien307. Die Einbindung des Parlaments in den Rechtssetzungsprozess wie in die allgemeine demokratische Überwachung der Gemeinschaftstätigkeit hielt der EGMR für hinreichend, um es im Ergebnis als einen Teil der „gesetzgebenden Körperschaft“ für Gibraltar i. S. d. Art. 3 ZP 1 anzusehen. c) Art. 56 Abs. 3 EMRK Als abhängiges Gebiet unterfällt Gibraltar auch Art. 56 Abs. 3 (früher Art. 63 Abs. 3) EMRK. Danach wird die EMRK in Hoheitsgebieten, für deren internationale Beziehungen ein Konventionsstaat verantwortlich ist, unter Berücksichtigung der örtlichen Notwendigkeiten angewendet. Diese Vorschrift steht noch ganz im Kontext der Kolonialzeit und war ursprünglich für diejenigen Gebiete gedacht, deren Entwicklungsstand noch keine volle Anwendung der Konvention zuließ308. Trotzdem wurde sie unter Verweis auf die besondere verfassungsrechtliche Lage Gibraltars in zwei zustimmenden Sondervoten zum Bericht der EKMR herangezogen: Zum einen genieße die dortige Wählerschaft im allgemeinen kein Mitbestimmungsrecht in auswärtigen Angelegenheiten309, zum anderen führe der Status Gibraltars als Kronkolonie („Crown Colony“) dazu, dass seine Einwohner sich weder an den Wahlen zum britischen noch zum Europäischen Parlament beteiligen dürften310. 304

EGMR (GK), a. a. O., Rn. 51. EGMR (GK), a. a. O., Rn. 52. 306 Ebenda: „effective political democracy“/„régime politique véritablement démocratique“. 307 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 53. 308 Vgl. EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 26 (= EuGRZ 1979, 162), Rn. 38; zustimmendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Loucaides zu EKMR, Bericht v. 29.10.1997, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 292/347. Siehe auch u., B. III. 2. 309 Zustimmendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Busuttil zu EKMR, Bericht v. 29.10.1997, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 289/344. 310 Zustimmendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Loucaides, a. a. O., S. 292/347. 305

A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1

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Der EGMR, von der britischen Regierung auf die Sondervoten hingewiesen, knüpfte an seine frühere Rechtsprechung zum Beweis derartiger „örtlicher Notwendigkeiten“ an. Solche auf den spezifischen Status eines abhängigen Gebiets bezogenen Erfordernisse müssten zwingender Natur sein, um die Anwendung von Art. 56 Abs. 3 EMRK zu rechtfertigen311. Hier habe aber weder die Regierung einschlägige Tatsachen vorgetragen, noch sah der Gerichtshof selbst entsprechende Anhaltspunkte. Der bloße Hinweis auf den verfassungsrechtlichen Status quo genügte ihm damit nicht für die Anerkennung einer örtlichen Notwendigkeit. Auch mit Blick auf die vom EGMR stets verlangte Effektivität der Konventionsrechte312 ist dieser Ansatz einer Erforderlichkeitsprüfung folgerichtig, da die Durchsetzung der EMRK in den häufig Sonderregimen unterworfenen abhängigen Gebieten ansonsten leicht in Frage gestellt werden könnte. d) Konventionsrechtliche Prüfung des Ausschlusses Gibraltars von der Europawahl Nach Klärung der geschilderten Vorfragen konzentrierte sich der EGMR schließlich auf die materielle Prüfung, ob der Ausschluss Gibraltars von der Europawahl mit dem Konventionsrecht, namentlich Art. 3 ZP 1, vereinbar war. Die Regierung des Vereinigten Königreiches verwies insoweit auf den staatlichen Beurteilungsspielraum und betonte, der Wahlausschluss Gibraltars sei auch Folge des seinerzeit bei den Europawahlen im Vereinigten Königreich gültigen einfachen Mehrheitswahlrechts gewesen313. Wegen seiner geringen Einwohnerzahl habe man für Gibraltar keinen selbstständigen Wahlkreis schaffen können, und auch die Zuordnung zu einem bestimmten Wahlkreis im Vereinigten Königreich sei mangels enger historischer oder sonstiger Bindungen nicht in Betracht gekommen314. Die Bf. beklagte dagegen die vollständige Vorenthaltung des Europawahlrechts und forderte den Schutz der Grundrechte unabhängig von wahlsystembedingten Schwierigkeiten. Der EGMR ließ sich auch in diesem Kontext von den Prämissen seiner bisherigen Rechtsprechung315 leiten. Er erinnerte an die Einschränkbarkeit der Rechte aus Art. 3 ZP 1 im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und billigte den Vertrags-

311 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 59; siehe auch EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 26 (= EuGRZ 1979, 162), Rn. 38. 312 Vgl. o., Teil 1, B. II. 2. c). 313 Seit der Änderung des DWA durch den Ratsbeschluss von 2002 unterliegen die Europawahlen einheitlich dem Verhältniswahlsystem (Art. 1 Abs. 1, Art. 2, 8 Abs. 2 DWA); siehe auch o., I. 3. 314 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 60. 315 Vgl. schon o., III.

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staaten einen weiten Beurteilungsspielraum insbesondere bei der Entscheidung für ein Wahlsystem sowie der Ausgestaltung der Wahlrechtsbedingungen zu316. Jedoch reklamierte der Gerichtshof die Überprüfungskompetenz für sich, ob die gewählte Ausgestaltung den Anforderungen des ZP 1 genüge, und hob dabei hervor, dass jedenfalls die freie Äußerung der Volksmeinung bei der Wahl der gesetzgebenden Körperschaften zu gewährleisten sei317. Für den vorliegenden Fall stellte er fest, dass die Bf. keinerlei Möglichkeit gehabt habe, ihre Meinung bei der Europawahl auszudrücken. Da sie in Gibraltar dennoch unmittelbar durch die europäische Gemeinschaftsgesetzgebung betroffen sei, stelle sich die Lage hier anders dar als bei außerhalb des jeweiligen Hoheitsgebiets lebenden Personen, die so ihre Verbindung zu diesem Gebiet geschwächt hätten318. Gestützt auf diese Argumente folgerte der EGMR, dass der Bf. der Wesensgehalt ihres Wahlrechts entzogen worden sei, und gelangte mit 15:2 Stimmen zu einer Verletzung von Art. 3 ZP 1 durch das Vereinigte Königreich. Dabei fällt auf, dass der Gerichtshof keine weitere Abwägung zwischen dem Konventionswahlrecht und eventuell in Betracht kommenden rechtfertigenden Gründen für den Ausschluss Gibraltars mehr vornahm. Stattdessen stellte er alsbald auf die Verletzung des Wesensgehalts von Art. 3 ZP 1 ab und gab damit zu verstehen, dass er unter den gegebenen Umständen einen vollständigen Entzug des Wahlrechts jedenfalls als unverhältnismäßig erachte319. Angesichts des festgestellten Verstoßes gegen Art. 3 ZP 1 nahm der Gerichtshof des weiteren einstimmig davon Abstand, zu der weiteren Rüge der Bf. Stellung zu nehmen, sie sei als Einwohnerin von Gibraltar auch Opfer einer Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 3 ZP 1 verletzenden Diskriminierung320. Ebenfalls einstimmig wurde das Vereinigte Königreich nach Art. 41 EMRK verpflichtet, der Bf. einen Teil der geltend gemachten Kosten und Auslagen zu erstatten321. e) Sondervotum Die beiden das Urteil im wesentlichen nicht mittragenden Richter des EGMR haben ihre Auffassung in einem gemeinsamen abweichenden Sondervotum dar316 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 63 f. 317 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 63; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 52. 318 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 64. 319 Zu einem entsprechenden Ergebnis waren auch die Kommissionsmitglieder Weitzel, Rozakis, Pellonpää, Conforti und Bratza in ihrem abweichenden Sondervotum zu EKMR, Bericht v. 29.10.1997, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 294/ 349, gekommen. 320 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 68. 321 EGMR (GK), a. a. O., Rn. 70 f.

A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1

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gelegt322. Darin plädierten sie zunächst generell für eine besondere Zurückhaltung des EGMR gegenüber Akten der Gemeinschaft323 und folgten dieser Linie auch in den entscheidenden Rechtsfragen des Falles. So wurde unter Berufung auf die historisch argumentierende EKMR die Anwendbarkeit der Konvention auf supranationale Organe abgelehnt, was auch die schwierige Analyse der wesentlichen Eigenschaften solcher Organe vermeide324. Darüber hinaus genügten die Befugnisse des Europäischen Parlaments den abweichenden Richtern nicht für dessen Anerkennung als gesetzgebende Körperschaft, diesem Status komme vielmehr der Ministerrat am ehesten nahe325. Jedenfalls beständen Zweifel an einer entsprechenden Funktion des Parlaments für Gibraltar, da dieses Gebiet von der Anwendung bestimmter Teile des EG-Vertrags ausgeschlossen sei und die gemeinschaftlichen Kompetenzbereiche, in denen das Parlament eine wichtige Rolle spiele, begrenzt seien326. Im übrigen wurde im Sondervotum darauf hingewiesen, dass das Vereinigte Königreich beim Erlass des DWA 1976 seinen Verpflichtungen aus der EMRK voll entsprochen habe, weil das Europäische Parlament damals mit Sicherheit noch keine gesetzgebende Körperschaft gewesen sei327. Fortan sei dem Vereinigten Königreich die Einbeziehung Gibraltars in das Wahlrechtsregime des DWA wegen des europarechtlichen Einstimmigkeitserfordernisses aber nicht mehr möglich gewesen. In diesem Kontext wiesen die beiden Richter auf den britisch-spanischen Streit über Gibraltar hin, ließen dabei jedoch außer Acht, dass das Vereinigte Königreich die maßgebliche Erweiterung der Befugnisse des Europäischen Parlaments durch den Vertrag von Maastricht gebilligt hatte, ohne im Einklang mit Art. 3 ZP 1 ein Wahlrecht auch in Gibraltar sicherzustellen328. 4. Bewertung und allgemeine Auswirkungen Das Urteil des EGMR im Fall Matthews gilt gemeinhin als Leitentscheidung für die Kontrolle des europäischen Primärrechts am Maßstab der EMRK329. Im 322 Gemeinsames abweichendes Sondervotum der Richter Sir John Freeland und Jungwiert zu EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 276/330, auf Deutsch abgedruckt in EuGRZ 1999, 205. 323 Sondervotum, a. a. O., Rn. 2. 324 Sondervotum, a. a. O., Rn. 3. 325 Sondervotum, a. a. O., Rn. 5 ff. 326 Sondervotum, a. a. O., Rn. 8. 327 Sondervotum, a. a. O., Rn. 9. 328 Diesen Aspekt behandelten sowohl der EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 33, als auch Kommissionsmitglied Schermers in seinem abweichenden Sondervotum zu EKMR, Bericht v. 29.10.1997, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 303/359. 329 Vgl. Busch, S. 56 f.; Winkler, EuGRZ 2001, 18 (27); C. Lenz, EuZW 1999, 311 (311); Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 932; Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (860); Sauer, Jurisdiktionskonflikte, S. 310; Laier, in: Esser/Harich/

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Anschluss an die Rechtsprechung der EKMR330 hat der Gerichtshof den Staaten so grundsätzlich die Möglichkeit genommen, die Effektivität der Konventionsrechte durch die Errichtung einer supranationalen Ebene zur Ausübung von Hoheitsgewalt zu mindern331. Freilich bestand vorliegend die Besonderheit, dass nicht ausschließlich ein Akt eines supranationalen Organs (etwa der Ratsbeschluss zum DWA) in Rede stand, sondern die konventionsrechtliche Verantwortlichkeit aufgrund der Ratifikation des DWA und des Vertrags von Maastricht durch das Vereinigte Königreich auch direkt an Maßnahmen eines Mitgliedstaates angeknüpft werden konnte. Bezogen auf das Europawahlrecht hat der EGMR der Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments seit dem Vertrag von Maastricht und damit auch der rechtlichen wie politischen Realität der europäischen Integrationsgemeinschaft klar und konsequent Rechnung getragen. Bezieht man die Verfassungsstruktur der Konventionsstaaten auf regionaler Ebene in die Beurteilung nach der EMRK ein, ist es geboten, im europäisch-supranationalen Bereich entsprechend zu verfahren332. Als einziges unmittelbar demokratisch legitimiertes europäisches Organ333 kann das Parlament partielle Defizite im Legislativbereich durch seine übrigen Kontrollrechte kompensieren334, so dass ihm konventionsrechtlich eben auch der Status einer gesetzgebenden Körperschaft zukommt. Im Matthews-Urteil ist der EGMR also seiner Linie treu geblieben, die Auslegung der EMRK veränderten Gegebenheiten anzupassen und die effektive Gewährleistung der Konventionsrechte sicherzustellen335. Indem er für das Europäische Parlament denselben Schutzstandard wie für nationale Parlamente einforderte, hat der Gerichtshof gleichzeitig den Konstitutionalisierungsprozess in der EU begünstigt336. Aus dem Urteil lässt sich ableiten, dass konventionskonforme Europawahlen in allen dem Unionsrecht unterworfenen Gebieten durchgeführt werden müs-

Lohse/Sinn, S. 125 (127); Busse, NJW 2000, 1074 (1075 ff.); Krisch, MLR 71 (2008), 183 (200). 330 Siehe o., 2., 3. a). 331 Giegerich, Europäische Verfassung, S. 916 f.; Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (253); King, ELRev. 25 (2000), 79 (88); Winkler, EuGRZ 2001, 18 (24); ausführlich ders., Beitritt, S. 169 ff.; vgl. auch bereits Giegerich, ZaöRV 50 (1990), 836 (861). 332 Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (260); zustimmend auch O’Connell, EHRLR 2006, 281 (284). 333 Siehe bereits o., vor I. 334 Vgl. die ausführliche Analyse bei Bröhmer, ZEuS 1999, 197 (205 ff.); im Ergebnis ebenso Frank, S. 298; Doherty/Reid, EHRLR 1999, 420 (426). 335 Ständige Rspr.; EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 87; EGMR (GK), Urt. v. 23.03.1995, Loizidou ./. Türkei (Preliminary Objections), Ser. A Vol. 310, Rn. 71; siehe auch K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 239 ff., m.w. N. 336 Grabenwarter, FS Steinberger, 1129 (1134).

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sen337. Dies gilt jedenfalls insoweit, als dem Unionsrecht dort eine Stellung zukommt, die es rechtfertigt, das Europäische Parlament als gesetzgebende Körperschaft für das jeweilige Gebiet zu qualifizieren. Die nur selektive Anwendung einzelner europäischer Regeln in einem Gebiet bei ansonsten weitgehendem Ausschluss vom europarechtlichen Regime führt dagegen auch nach den Maßstäben der EMRK nicht zu einer Einbeziehung in die Europawahlen338. Hier zeigt sich wiederum eine Parallelität von Unionsrecht und EMRK, denn derartige Gebiete wie etwa die Kanalinseln und die Insel Man sind schon vom EU-Wahlrecht nicht erfasst339 und damit sowohl aus unions- als auch aus konventionsrechtlicher Sicht zu Recht von den Europawahlen ausgeschlossen. Für sie ergeben sich also auch aus dem Matthews-Urteil keine weiteren Auswirkungen. Weiterhin lässt sich das Urteil des EGMR nur auf den ersten Blick als europarechtskritische Entscheidung einordnen. Zwar wurde der Sache nach mit Anhang II DWA a. F. eine Norm des europäischen Primärrechts als konventionswidrig qualifiziert340. Für die Einwohner Gibraltars bedeutete dies jedoch den maßgeblichen Schritt zur Durchsetzung ihres ebenfalls im Primärrechtsrang stehenden Wahlgrundrechts zum Europäischen Parlament, dessen Ausübung ihnen unter Berufung auf Anhang II DWA a. F. verwehrt worden war. Durch die Einbeziehung des Europäischen Parlaments in das Schutzregime der EMRK verschaffte der Straßburger Gerichtshof dem europäischen Wahlgrundrecht auch den Charakter eines Grundrechts nach der EMRK341, jedenfalls soweit sich beide Gewährleistungen decken342. Darauf aufbauend hat der EGMR beanstandet, dass Unionsbürgern ihr politisches Bürgerrecht in einem Teil des Unionsgebiets vorenthalten worden war, und sich so auch für Rechtsgleichheit unter allen Unionsbürgern eingesetzt343. Anders als in den bislang untersuchten Fällen wurde ein europarechtliches Individualrecht mit Hilfe der EMRK nicht nur gegen einen einzelnen Mitgliedstaat durchgesetzt, sondern gleichzeitig auch gegenüber einer kollidierenden Vorschrift des europäischen Primärrechts und damit gegenüber der Gesamtheit der Mitgliedstaaten344. Hier übernahm der EGMR in gewisser Weise eine Ersatzfunktion für den EuGH, der in einer derartigen Situation keinen effektiven Grundrechts-

337 Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (253); Besselink, CMLR 45 (2008), 787 (801). 338 De Schutter/L’Hoest, CDE 2000, 141 (213 f.); vgl. auch King, ELRev. 25 (2000), 79 (84). 339 Zum unionsrechtlichen Status siehe o., II. 2. a). 340 Siehe auch Gundel, FS Scheuing, 58 (64). 341 Grabenwarter, FS Steinberger, 1129 (1134). 342 Siehe o., II., III. 343 Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (259). 344 Vgl. auch Michl, Überprüfung, S. 47, 244.

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schutz garantieren kann345. Als Primärrecht wäre die einschränkende Norm zwar tauglicher Auslegungsgegenstand im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 1 lit. a AEUV346; für eine strenge Überprüfung ihrer Grundrechtskonformität mit der Folge einer Rechtswidrigkeits- oder Nichtigkeitserklärung fehlt dagegen eine verfahrensrechtliche Befugnis des EuGH347. Der EGMR wiederum war nicht in der Lage, das genuin europarechtliche Verhältnis von Wahlgrundrecht und Ausschlussklausel zu klären348, doch konnte er ersterem aus konventionsrechtlichen Gründen und damit in eigener Zuständigkeit den Vorrang einräumen. In diesem Primat manifestiert sich erneut die Rolle des Straßburger Gerichtshofs als höchste Instanz für Menschen- und Bürgerrechte in Europa, die Lücken im europäischen wie nationalen Rechtsschutz zu schließen vermag349. Der EGMR fungiert so auch für den Schutz europarechtlich begründeter Individualrechte gleichsam als übergeordneter Verfassungsgerichtshof, der über die Einhaltung der gesamteuropäischen Grundrechtsverfassung in Gestalt der EMRK wacht350. Da aus Sicht der EMRK die Durchsetzung des Wahlgrundrechts zu gewährleisten war, oblag es nun zuvörderst dem Vereinigten Königreich als verurteiltem Mitgliedstaat, zur Beseitigung des Konventionsverstoßes auf die Beteiligung der Einwohner Gibraltars an den Europawahlen hinzuwirken.

345 Vgl. Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (257 f.); E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 35; Busch, S. 61 f.; Canor, ELRev. 25 (2000), 3 (5); Tulkens, RUDH 2000, 50 (56); Warnken, S. 185; Benoît-Rohmer, RTDE 41 (2005), 261 (279); Daiber, EuR 2007, 406 (412); Lorenzmeier, in: Becker et al., Die Europäische Verfassung, S. 209 (211, Fn. 12); Blanke, in: ders./Mangiameli, S. 183; Fromont/Van Waeyenberge, CDE 2015, 113 (130). Siehe auch weiterführend King, ELRev. 25 (2000), 79 (85 ff.). 346 Früher Art. 234 Abs. 1 lit. a EGV. Siehe Schwarze/Schwarze, Art. 267 AEUV, Rn. 9; Streinz/Ehricke, Art. 267 AEUV, Rn. 18; Canor, ELRev. 25 (2000), 3 (7). 347 Siehe schon o., 3. a). Beispielsweise gehört das Primärrecht gemäß Art. 263 Abs. 1 AEUV (früher Art. 230 Abs. 1 EGV) nicht zu den möglichen Prüfungsgegenständen im Nichtigkeitsklageverfahren; EuGH, Beschl. v. 13.01.1995, Roujansky ./. Rat, Rs. C-253/94 P, Slg. 1995, I-7, Rn. 6, 11; EuGH, Beschl. v. 13.01.1995, Bonnamy ./. Rat, Rs. C-264/94 P, Slg. 1995, I-15, Rn. 6, 11. Siehe auch Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (95 f.); Scheeck, ZaöRV 65 (2005), 837 (860, Fn. 87); Kotroni, S. 250; Gundel, FS Scheuing, 58 (64); Michl, Überprüfung, S. 100. 348 Vgl. De Schutter/L’Hoest, CDE 2000, 141 (144). Zum Monopol des EuGH für die verbindliche Auslegung von Europarecht siehe bereits o., Teil 2, A. V. 2. a), und Teil 3, A. I. 5. d). 349 Vgl. Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (257); Heer-Reißmann, Letztentscheidungskompetenz, S. 240, 323; K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 366; Spiekermann, S. 162; C. Lenz, EuZW 1999, 311 (311 f.); Canor, ELRev. 25 (2000), 3 (4); skeptisch dagegen Schwarze, DVBl. 2002, 1297 (1315). 350 Vgl. Goerlich, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 101 (120 f.); Laier, in: Esser/Harich/Lohse/Sinn, S. 125 (138 f.); Hoffmeister, Der Staat 40 (2001), 349 (353 ff., 380); Giegerich, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Breuer et al., Im Dienste des Menschen, S. 95 (105); Steiner, FS Bethge, 653 (655); sowie ferner bereits o., Teil 1, A. I.

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V. Folgeentwicklungen: Der schwierige Umgang mit dem Matthews-Urteil 1. Erste Reaktionen Anlässlich der Änderung des DWA durch den Ratsbeschluss von 2002351 schlug das Vereinigte Königreich die Aufhebung von Anhang I DWA vor352. Dieser Vorschlag scheiterte jedoch am Widerstand Spaniens, das mit dem Vereinigten Königreich seit langem im politischen Streit über Gibraltar steht353. Mit seiner Blockadehaltung hat Spanien schnelle Rechtssicherheit zugunsten einer effektiven Gewährleistung des europäischen Wahlgrundrechts verhindert. Die Urteile des EGMR wirken zwar nach Art. 46 Abs. 1 EMRK nur inter partes, so dass die formelle Verpflichtung zur Herstellung eines konventionskonformen Zustandes lediglich den als Verfahrenspartei verurteilten Staat trifft354. Vorliegend besteht diese strikte Bindung aus dem Urteil also allein gegenüber dem Vereinigten Königreich. Materiell-rechtlich sind indes alle Konventionsparteien verpflichtet, sämtliche Hoheitsakte zu unterlassen, die eine Verletzung von Rechten aus der EMRK nach sich ziehen355. Dies betrifft hier die restlichen EU-Mitgliedstaaten, deren Zustimmung für eine Änderung des DWA erforderlich ist. Da der Begriff der Hoheitsgewalt in Art. 1 EMRK weit auszulegen ist und sich nicht nur auf eine rein territoriale Verantwortlichkeit bezieht356, kann auch die Mitwirkung der EU-Mitgliedstaaten an europäischen Rechtsakten eine Ausübung von Hoheitsgewalt gegenüber den davon betroffenen Bürgern darstellen. So hat der EGMR im Matthews-Urteil ausgeführt, dass das Vereinigte Königreich „gemeinsam mit allen übrigen Parteien des Vertrags von Maastricht“ ratione materiae für die Konsequenzen dieses Vertrages nach der EMRK verantwortlich sei357. Den anderen 351

Siehe o., I. 3. EuGH, Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C-145/04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 12. 353 Vgl. auch Ress, FS Hirsch, 155 (156). 354 Bröhmer, ZEuS 1999, 197 (215); Ress, EuGRZ 1996, 350 (350); Canor, ELRev. 2000, 3 (11); Warnken, S. 186; Breuer, in: Karpenstein/Mayer, Art. 46 EMRK, Rn. 31, 43. 355 Vgl. Busch, S. 61; Bröhmer, ZEuS 1999, 197 (215 f.); Giegerich, ZVglRWiss 104 (2005), 163 (167 f.); Ress, EuGRZ 1996, 350 (350). 356 EGMR (GK), Urt. v. 18.12.1996, Loizidou ./. Türkei, Rep. 1996-VI (= EuGRZ 1997, 555), Rn. 52; EGMR, Urt. v. 26.06.1992, Drozd und Janousek ./. Frankreich und Spanien, Ser. A Vol. 240, Rn. 91; siehe auch Busch, S. 60; Giegerich, Europäische Verfassung, S. 917; Ress, ZEuS 1999, 471 (481); Warnken, S. 186; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (96); De Schutter/L’Hoest, CDE 2000, 141 (165). 357 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 33: „together with all the other parties to the Maastricht Treaty“/„conjointement avec l’ensemble des autres parties au traité de Maastricht“; hierzu auch De Schutter/L’Hoest, CDE 2000, 141 (169, 212 f.); Schermers, CMLR 36 (1999), 673 (680). 352

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Mitgliedstaaten ist damit konventionsrechtlich jedes Verhalten verboten, das die Behebung der Konventionsverletzung verzögert, erschwert oder sie ganz verhindert358. Da das spanische Veto jedenfalls zu einer Verzögerung bei der rechtlichen Implementierung eines konventionsgemäßen Wahlrechts für Gibraltar geführt haben dürfte, liegt hierin ein eigener Verstoß Spaniens gegen Art. 3 ZP 1 begründet. Schon aus Gründen der Rechtsklarheit und Transparenz hätte Spanien kraft seiner Bindung an die EMRK zumindest einer konventionskonformen Änderung der DWA-Ausschlussvorschrift zustimmen müssen. Im Schrifttum wird teils eine direkte Rückwirkung dieser Verpflichtung aus der EMRK auf die europäische Ebene angenommen. So wird von einer „gesamtschuldnerischen Haftung der Mitgliedstaaten“ gesprochen, die sich „im Gemeinschaftsrecht wie eine Art Vorbehalt zugunsten der EMRK“ auswirke359, oder ein Estoppel-Effekt hergeleitet, derart dass die Mitgliedstaaten in der EU nicht konventionswidrig von ihren Rechten Gebrauch machen dürften360. Eine solche automatische Homogenisierung von Europa- und Konventionsrechtsordnung erscheint zwar angesichts des teilidentischen Verpflichtetenkreises einerseits durchaus sinnvoll, mutet jedoch andererseits gerade im Vergleich zur üblichen Wirkung der EMRK im innerstaatlichen Recht sehr progressiv an und bedürfte daher weiterer dogmatischer Begründung361. Jedenfalls aber sind die Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts an die Unionsgrundrechte gebunden, wie sie nach Art. 6 Abs. 3 EUV (früher Art. 6 Abs. 2 EUV) als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts anerkannt sind362. Daher lief der seinerzeitige Fortbestand der uneindeutigen Europarechtslage im Hinblick auf das Wahlrecht für Gibraltar unmittelbar nach dem MatthewsUrteil der Pflicht der Mitgliedstaaten zuwider, für die Effektivität des europäischen Wahlgrundrechts auch im positiv-normativen Bereich Sorge zu tragen. Gleichwohl haben die anderen Mitgliedstaaten Spaniens Ablehnung der Abschaffung von Anhang I DWA hingenommen, ohne einen Verstoß gegen das Europarecht zu monieren. Auch heute ist die Vorschrift formell noch immer in Kraft363. 2. Das neue britische Wahlrecht für Gibraltar Im Zuge einer bilateralen spanisch-britischen Übereinkunft erklärte das Vereinigte Königreich zu Protokoll der Ratstagung vom 18.02.2002 unter Hinweis auf 358 Vgl. Bröhmer, ZEuS 1999, 197 (216); Giegerich, Europäische Verfassung, S. 916, Fn. 3098; ders., ZVglRWiss 104 (2005), 163 (167 f.). 359 Bröhmer, ZEuS 1999, 197 (216). 360 Ress, ZEuS 1999, 471 (481). 361 Zweifel lässt auch Busch, S. 61, anklingen. 362 EuGH, Urt. v. 18.06.1991, ERT, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 f.; Schwarze/Hatje, Art. 6 EUV, Rn. 20. 363 Vgl. Giegerich, ZVglRWiss 104 (2005), 163 (168); sowie näher u., 4.

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Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV), dass es für die notwendigen Änderungen Sorge tragen werde, „um den Wählern Gibraltars die Teilnahme an den Wahlen zum Europäischen Parlament als Teil der Wähler eines bestehenden Wahlbezirks des Vereinigten Königreichs und zu den für diese geltenden Bedingungen zu ermöglichen“ 364. Damit solle das Matthews-Urteil des EGMR europarechtskonform umgesetzt werden. Rat und Kommission nahmen diese Erklärung zur Kenntnis365. Am 08.05.2003 erließ das Vereinigte Königreich dann den European Parliament Representation Act 2003 (EPRA)366. In Section 9 EPRA war vorgesehen, Gibraltar einem bestehenden Wahlbezirk in England oder Wales anzugliedern, um einen neuen, kombinierten Wahlbezirk zu bilden. Dementsprechend gliederten die britischen Behörden Gibraltar mit der European Parliamentary Elections Order 2004 dem Wahlbezirk Südwest-England an. Der Sache nach versuchte das Vereinigte Königreich also einseitig, ohne Änderung der europarechtlichen Vorschriften, der Wahlrechtsverletzung in Gibraltar abzuhelfen, wie es bereits in einem abweichenden Sondervotum zum Bericht der EKMR für möglich gehalten worden war367. Nach dem EPRA kann an den Europawahlen in Gibraltar nur teilnehmen, wer am Wahltag in das örtliche Wählerverzeichnis eingetragen ist. In dieses Verzeichnis können diejenigen Unionsbürger und sog. „qualifying Commonwealth citizens“ (QCC) aufgenommen werden, die in Gibraltar ansässig sind, das 18. Lebensjahr vollendet haben und nicht aus rechtlichen Gründen von den dortigen Europawahlen ausgeschlossen sind. Unter QCC versteht das Gesetz hier Bürger des Commonwealth, die nach dem Recht von Gibraltar zur Einreise nach und zum Aufenthalt in Gibraltar berechtigt sind368. Diese Ausweitung des Kreises der Wahlberechtigten über die Unionsbürger hinaus ist auf die verfassungsrechtlichen Traditionen des Vereinigten Königreichs zurückzuführen, wo Staatsangehörigkeits- und Einwanderungsrecht traditionell eng miteinander verbunden sind369. So dürfen die QCC etwa auch an den Wahlen zum britischen Parlament teilnehmen370.

364

Wiedergegeben bei EuGH, Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C-145/04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 12. 365 EuGH, a. a. O., Rn. 13. 366 Abrufbar unter: http://www.legislation.gov.uk/ukpga/2003/7/contents. 367 Abweichendes Sondervotum der Kommissionsmitglieder Weitzel, Rozakis, Pellonpää, Conforti und Bratza zu EKMR, Bericht v. 29.10.1997, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 294/349, unter (3); vgl. auch Bröhmer, ZEuS 1999, 197 (215 f., Fn. 65). 368 Section 16 (5) EPRA. 369 H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (263). 370 Representation of the People Act 2000, abrufbar unter: http://www.legislation. gov.uk/ukpga/2000/2/contents.

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3. Der spanisch-britische Streit im Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH Die neuen britischen Regeln zum Europawahlrecht in Gibraltar stießen alsbald auf den Widerstand Spaniens. Nachdem die auf spanische Initiative befasste Kommission im Verfahren nach Art. 227 EGV (jetzt Art. 259 AEUV) keinen Anlass zum Einschreiten gesehen hatte, erhob Spanien gegen das Vereinigte Königreich eine im wesentlichen auf zwei Hauptrügen gestützte Vertragsverletzungsklage zum EuGH. Die politische Brisanz dieses Rechtsstreits wird dadurch unterstrichen, dass er zu den wenigen Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH gehört, die durch die Klage eines Mitgliedstaates initiiert worden sind371. a) Zuerkennung des Europawahlrechts an QCC Zum einen hielt Spanien die Zuerkennung des Europawahlrechts an die nicht gemeinschaftsangehörigen QCC für unvereinbar mit Art. 189, 190, 17 und 19 EGV372. Die spanische Argumentation baute auf einer historischen und systematischen Auslegung der Wahlrechtsvorschriften des EGV auf 373. Da das Wahlrecht nach Art. 19 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 22 Abs. 2 AEUV) allein für Unionsbürger gewährleistet und die Unionsbürgerschaft an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gekoppelt sei, seien Drittstaatsangehörige kraft Gemeinschaftsrechts vom Europawahlrecht ausgeschlossen. Schließlich verweise auch die Formulierung in Art. 189 Abs. 1 EGV, das Europäische Parlament bestehe aus Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten, auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten. Dagegen erläuterte das Vereinigte Königreich, dass das Wahlrecht für QCC auf Vereinbarungen im Rahmen des Commonwealth zurückgehe und für Parlamentswahlen auf nationaler wie auf europäischer Ebene zur britischen Verfassungstradition gehöre374. Es gebe keine gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über den Kreis der bei der Europawahl wahlberechtigten Personen, so dass die Mitgliedstaaten diesbezüglich autonom entscheiden könnten und auch die Einräumung des Wahlrechts an Drittstaatsangehörige möglich sei. Die Kommission trat im Verfahren als Streithelferin des Vereinigten Königreichs auf und sprach sich da371 Den Regelfall bildet das Verfahren nach Art. 258 AEUV (früher Art. 226 EGV) mit der Kommission als klagender Partei. Vgl. aber EuGH, Urt. v. 04.10.1979, Frankreich ./. Vereinigtes Königreich, Rs. 141/78, Slg. 1979, 2923; EuGH, Urt. v. 16.05. 2000, Belgien ./. Spanien, Rs. C-388/95, Slg. 2000, I-3123; EuGH (GK), Urt. v. 16.10.2012, Ungarn ./. Slowakei, Rs. C-364/10, Slg. 2012; ferner Wägenbaur, EuZW 2006, 705 (705); Schwarze/Schwarze, Art. 259 AEUV, Rn. 3. 372 Vgl. jetzt Art. 14 EUV, Art. 223, 20 und 22 AEUV. 373 Zum spanischen Vorbringen EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C-145/04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 37 ff. 374 Zur britischen Position vgl. EuGH (GK), a. a. O., Rn. 46 ff.

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für aus, über eine weite Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Normen die verfassungsrechtlichen Besonderheiten im Vereinigten Königreich zu respektieren. Der EuGH verwies in seinem Urteil auf die Notwendigkeit der Umsetzung der Straßburger Matthews-Rechtsprechung375. Er stellte fest, dass vorbehaltlich gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben die Regelung der Einzelheiten des Wahlverfahrens für die Wahlen zum Europäischen Parlament nach Art. 8 DWA den Mitgliedstaaten überlassen sei376. Dem EuGH zufolge legte das seinerzeitige Gemeinschaftsrecht aber nicht ausdrücklich und genau fest, wem das Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament zukomme. Der in Art. 189 f. EGV enthaltene Volksbegriff könne unterschiedliche Bedeutungen haben und lasse keinen eindeutigen Rückschluss auf die Wahlberechtigung zu. Art. 19 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 22 Abs. 2 AEUV) statuiere lediglich ein Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit bei der Ausübung des Europawahlrechts. Auch wenn die Unionsbürgerschaft der „grundlegende Status“ der Angehörigen der Mitgliedstaaten sei, zeigten das Petitions- und das Beschwerderecht in Art. 194 f. EGV (jetzt Art. 227 f. AEUV) beispielhaft, dass die vom Primärrecht verliehenen Rechte nicht zwangsläufig auf Unionsbürger beschränkt sein müssten377. Eine Ausweitung des Europawahlrechts auf Nichtunionsbürger durch einen Mitgliedstaat wirke sich im übrigen nur auf die Wahl der in diesem Mitgliedstaat gewählten Vertreter aus, da die Zahl der Abgeordneten in Art. 190 Abs. 2 EGV festgelegt sei. Im Ergebnis sah der EuGH daher kein gemeinschaftsrechtliches Hindernis für eine Zuerkennung des Europawahlrechts an Personen, die keine Unionsbürger sind, aber enge Verbindungen zu einem Mitgliedstaat aufweisen. Somit stellte er diesbezüglich keinen Gemeinschaftsrechtsverstoß des Vereinigten Königreiches fest. b) Anschluss des Gebietes von Gibraltar an einen britischen Wahlbezirk Mit seinem zweiten Klagegrund griff Spanien die Angliederung des Gebietes von Gibraltar an einen englischen Wahlbezirk durch den britischen EPRA an und erläuterte auch den völkerrechtlichen Hintergrund seiner Rüge378. Gibraltar sei 1946 als Hoheitsgebiet ohne Selbstregierung i. S. von Kapitel XI UN-Charta eingetragen worden, das nach der sog. Friendly Relations Declaration der UN-Generalversammlung379 einen vom Hoheitsgebiet des verwaltenden Staates deutlich 375

Vgl. EuGH (GK), a. a. O., Rn. 60, 64. Zum Folgenden EuGH (GK), a. a. O., Rn. 65 ff. 377 Nach den genannten Vorschriften kann neben den Unionsbürgern jede natürliche oder juristische Person mit Wohnort oder satzungsmäßigem Sitz in einem Mitgliedstaat eine Petition an das Europäische Parlament bzw. eine Beschwerde an den Europäischen Bürgerbeauftragten richten. 378 Zum spanischen Vortrag EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C-145/04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 81 ff. 379 Res. 2625 (XXV) v. 24.10.1970, Sartorius II Nr. 4, S. 8. 376

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getrennten und verschiedenen Status haben müsse. Dementsprechend sei Gibraltar von der örtlichen Anwendung der Vorschriften über das Europawahlrecht nach Anhang I DWA ausgeschlossen. Diesen Vorgaben stehe aber der britische EPRA entgegen, indem er die Ausübung des Wahlrechts in Gibraltar, die Führung des Wählerverzeichnisses durch einen örtlichen Funktionsträger und die Zuständigkeit der Gerichte von Gibraltar vorsehe. Daher liege in dem britischen Gesetz gleichzeitig auch ein Verstoß des Vereinigten Königreiches gegen seine Erklärung vom 18.02.2002, mit der eine europarechtskonforme Regelung zugesagt worden sei. Nach spanischer Auffassung hätte es vielmehr genügt, die Wähler Gibraltars einem britischen Wahlbezirk zuzuordnen, ohne auf das Gebiet selbst Bezug zu nehmen. Das Vereinigte Königreich entgegnete mit Unterstützung der Kommission, dass Anhang I DWA so weit wie möglich im Licht der Grundrechte und des Art. 3 ZP 1 ausgelegt werden müsse380. Die im EPRA vorgesehenen Voraussetzungen entsprächen dem britischen Wahlstandard und seien mutatis mutandis für die Wähler in Gibraltar angepasst worden, die ebenfalls die Möglichkeit haben müssten, in der Nähe ihres Wohnorts zu wählen. Die Anknüpfung an das Gebiet Gibraltars führe nicht dazu, dass dieses als Teil des Vereinigten Königreichs angesehen werde. Der Kommission zufolge verfügten die Behörden Gibraltars auch nur über einen geringen Ermessensspielraum und würden durch die britischen Behörden kontrolliert. Auch für den zweiten Teil der Klage bestätigte der EuGH im wesentlichen die britische Argumentationslinie381. Die Anpassung des britischen Wahlrechts an die Verhältnisse in Gibraltar sei erforderlich, damit die dortigen Wähler keinen Nachteilen bei der Ausübung ihres Wahlrechts ausgesetzt seien. Ansonsten hätten sich Wähler aus Gibraltar in das Vereinigte Königreich begeben müssen, um dort zu wählen, das Wählerverzeichnis einzusehen oder Rechtsstreitigkeiten auszutragen. Ausdrücklich berief sich der EuGH auf die Rechtsprechung des EGMR, dass das Wahlrecht trotz des weiten staatlichen Ermessens seine Wirksamkeit nicht verlieren dürfe. Für den EuGH gab die im EPRA vorgesehene Ausgestaltung des Europawahlrechts in Gibraltar damit keinen Grund zur Beanstandung, so dass die Klage Spaniens in vollem Umfang abgewiesen wurde. 4. Analyse des Verhältnisses von europäischem Wahlgrundrecht und Anhang I DWA Das Urteil des EuGH beantwortet indes die Frage nicht, ob die Vorschriften des britischen EPRA zum Wahlrecht in Gibraltar auch ohne eine formelle Ände380 Zum Folgenden EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C-145/04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 86 ff. 381 EuGH (GK), a. a. O., Rn. 90 ff.

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rung des Anhangs I DWA erlassen werden durften, der die Anwendbarkeit des DWA nach wie vor auf das Vereinigte Königreich beschränkt. Wie auch aus den Schlussanträgen des Generalanwalts Tizzano hervorgeht382, liegt hier ein Kernproblem des gesamten Falles383. Der Gerichtshof orientierte sich zwar überwiegend an den Schlussanträgen, beschränkte sich hierzu aber auf die Feststellung, es sei unstrittig, dass das Vereinigte Königreich seiner Verpflichtung aus dem Matthews-Urteil „trotz der Beibehaltung des Anhangs I [. . .] nachkommen musste“ 384. a) Konventionskonforme Auslegung Ein Ansatz zur Auflösung des Konflikts zwischen Anhang I DWA und dem Wahlgrundrecht könnte in einer konventionskonformen Auslegung der DWAVorschrift liegen, da sämtliche Mitgliedstaaten darin übereinstimmen dürften, „die EMRK als europäischen ordre public“ auch im Anwendungsbereich des Europarechts zu achten385. Für eine mögliche Interpretation des Anhangs I in dem Sinne, dass das Vereinigte Königreich zur Beschränkung der Anwendung des DWA auf sein eigentliches Staatsgebiet lediglich berechtigt, aber nicht verpflichtet sein solle386, liefert der englische Wortlaut387 der Norm einen Anhaltspunkt, der statt des förmlich-verbindlichen „shall“ die neutralere Formulierung „will“ enthält388. Der Vergleich mit den anderen Sprachfassungen389 macht indes deutlich, dass eine einfache Futurform ausgedrückt werden sollte. Die zukünftige Anwendung des DWA wurde damit knapp und abschließend geregelt, ohne dass das Vereinigte Königreich diesbezüglich einen eigenen Ermessensspielraum erhielt390. 382 Vgl. GA Tizzano, Schlussanträge v. 06.04.2006 in den Rs. C-145/04 (Spanien ./. Vereinigtes Königreich) und C-300/04 (Eman und Sevinger), Slg. 2006, I-7917, I-7920, Rn. 118 ff. 383 Vgl. Burgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 (42): „la question sous-jacente mais cardinale“ (Hervorhebung im Original). 384 EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C-145/ 04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 90. 385 Giegerich, ZVglRWiss 104 (2005), 163 (170) – Hervorhebung nicht im Original; siehe auch Vogenauer, Auslegung, Bd. I, S. 352 f. 386 Vgl. Giegerich, Europäische Verfassung, S. 916, Fn. 3098. 387 „The United Kingdom will apply the provisions of this Act only in respect of the United Kingdom.“ 388 Giegerich, ZVglRWiss 104 (2005), 163 (168). 389 Deutsch: „Das Vereinigte Königreich wird die Vorschriften dieses Akts nur auf das Vereinigte Königreich anwenden.“; Frz.: „Le Royaume-Uni appliquera les dispositions du présent acte uniquement en ce qui concerne le Royaume-Uni.“; Ital.: „Il Regno Unito applicherà le disposizioni di questo atto soltanto nei confronti del Regno Unito.“; Ndl.: „Het Verenigd Koninkrijk zal de bepalingen van deze akte alleen ten aanzien van het Verenigd Koninkrijk toepassen.“ 390 Wäre dies beabsichtigt gewesen, hätte sich etwa folgende Alternativformulierung angeboten: „Dem Vereinigten Königreich steht es frei, die Vorschriften dieses Akts nur auf das Vereinigte Königreich anzuwenden.“

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Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass das Vereinigte Königreich dem DWA freiwillig zugestimmt hat391, was ja ebenfalls in Bezug auf sämtliche anderen Normen zumindest des Primärrechts zutrifft. Ansonsten wäre die territoriale Reichweite des Europawahlrechts nicht mehr einheitlich auf europäischer Ebene festgelegt, sondern geriete für die betroffenen britischen Gebiete in Abhängigkeit von einer rein nationalen Entscheidung des Vereinigten Königreichs392. Diese weitreichende Konsequenz dürfte mit der recht ausdruckslosen Formulierung des DWA kaum intendiert gewesen sein. Die vorhandenen Indizien sprechen somit eher dagegen, die Wirkung von Anhang I DWA EMRK-konform allein auf eine Berechtigung des Vereinigten Königreichs ohne eine entsprechende Verpflichtung zu beschränken. b) Rein nationale Wahlrechtsgrundlage? Fraglich ist daher, ob es möglich wäre, auf der Grundlage nationalen britischen Rechts ohne formelle Einbeziehung des DWA Wahlen zum Europäischen Parlament abzuhalten. Allerdings haben die von Spanien angegriffenen Vorschriften des EPRA einen anderen Regelungsgegenstand als die Normen des DWA. Mit Ausnahme des Postulats, dass überhaupt gewählt werden soll, werden im wesentlichen Verfahrensfragen geregelt, die ohnehin zum mitgliedstaatlichen Gestaltungsspielraum gehören. Hingegen legt der DWA die unabdingbaren Standards fest, die für die Wahlen zum Europäischen Parlament europaweit gelten, z. B. Inkompatibilitätsregeln, Mandatsende und Verbot der Mehrfachwahl393. Werden in einem Gebiet Europawahlen durchgeführt, müssen diese Vorgaben des DWA demnach zwingend eingehalten werden, damit überhaupt ein einheitliches Parlament entstehen kann. Der DWA stellt insoweit eine gemeinsame Geschäftsgrundlage für die Europawahl dar, die sich nicht beliebig durch inkompatible nationale Gesetze ersetzen lässt. Denkbar wäre lediglich, dass das nationale Recht exakt den Inhalt des DWA abbildet, was vorliegend freilich nicht der Fall ist. Ein solches Vorgehen könnte im übrigen auch nur als unzulässige Umgehung des Anhangs I gewertet werden. Die Existenz dieser Ausschlussvorschrift macht allein dann Sinn, wenn man sie auch auf den materiellen Inhalt des DWA und nicht gerade nur auf seine Geltung als Europarecht bezieht. Wie gezeigt, sind nämlich die Mitgliedstaaten in ihrer Entscheidung über das „Ob“ und die wesentlichen Aspekte des „Wie“ einer Europawahl nicht frei, sondern an das Wahlgrundrecht und den supranationalen institutionellen Rahmen gebunden. Dies aber sind Regelungskomplexe, für die der DWA unabdingbare Vorgaben enthält. Aus alledem folgt, dass Gebiete wie Gibraltar, in denen der DWA keine Anwendung findet,

391 392 393

So aber offenbar Conforti, FS Cassese, 221 (227 f.). Giegerich, ZVglRWiss 104 (2005), 163 (168). Siehe o., I. 2., 3.

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von der Europawahl prima facie ausgeschlossen sind394. Für Gibraltar, das dem Europarecht weitgehend unterworfen ist, besteht damit eine Kollisionslage zwischen dem EMRK-rechtlich abgesicherten europäischen Wahlgrundrecht einerseits und der Ausnahmeklausel des Anhangs I andererseits. c) Primärrechtliche Normenkollision Da beide Normen zum europäischen Primärrecht gehören, lässt die europarechtliche Normenhierarchie zunächst nicht erkennen, welcher Regel der Vorrang gebührt. Der Generalanwalt betonte diesbezüglich die „herausragende Stellung des Schutzes der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht“, wie sie sich aus Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) mit dem Verweis auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen und die Gewährleistungen der EMRK ergebe395. Die auch in der ständigen Rechtsprechung des EuGH verankerten Grundrechte seien für Gemeinschaft und Mitgliedstaaten gleichermaßen verbindlich, so dass im Gemeinschaftsrecht keine Maßnahmen als rechtens anerkannt werden könnten, die mit der Beachtung dieser Rechte unvereinbar seien396. Angesichts des MatthewsUrteils des EGMR gelte dies in besonderem Maße. Wie die bestehende Normenkollision methodisch aufgelöst werden soll, geht dagegen aus den Ausführungen des Generalanwalts nicht klar hervor. Der vorgeschlagene Primat der Grundrechtsposition vermittelt zunächst den Eindruck, dass es auch innerhalb des Primärrechts Normen von unterschiedlicher Wertigkeit geben könne397, so dass Anhang I DWA hinter das vorrangige Wahlgrundrecht zurückzutreten habe. Ob eine dieser Konzeption entsprechende Rechtsfigur des „primärrechtswidrigen Primärrechts“ überhaupt existiert und wie sie ggf. im einzelnen ausgestaltet ist, erscheint derzeit noch weitgehend ungeklärt398. Zwar kommt gerade den nunmehr in Art. 2 und 6 EUV verankerten fundamentalen Grundlagen der Union, zu denen auch das Demokratieprinzip und die Achtung der Grundrechte gehören, eine 394 Diese Prämisse hat der Generalanwalt für die Zeit vor dem Matthews-Urteil als selbst unter den Beteiligten unstreitig zugrundegelegt; siehe GA Tizzano, Schlussanträge v. 06.04.2006 in den Rs. C-145/04 (Spanien ./. Vereinigtes Königreich) und C300/04 (Eman und Sevinger), Slg. 2006, I-7917, I-7920, Rn. 117; im Ergebnis ebenso Burgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 (40); Ress, Das Europarecht vor dem EGMR, S. 8. 395 GA Tizzano, a. a. O., Rn. 118 ff. 396 GA Tizzano, a. a. O., Rn. 121; unter Verweis auf EuGH, Urt. v. 12.06.2003, Schmidberger, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 73; EuGH, Urt. v. 18.06.1991, ERT, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41; EuGH, Urt. v. 29.05.1997, Kremzow ./. Republik Österreich, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 14. 397 GA Tizzano, a. a. O., Rn. 129, spricht ausdrücklich von einer „höherrangige[n] Rechtsnorm“. Vgl. ferner auch EuGH (GK), Urt. v. 03.09.2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation ./. Rat und Kommission, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351, Rn. 301 ff.; Schriewer, Theorie, S. 189 f. 398 Vgl. Streinz/Huber, 1. Aufl., Art. 190 EGV, Rn. 14; Rengeling/Szczekalla, § 2, Rn. 132.

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besondere Bedeutung im Europarecht zu399. Dennoch ist es dogmatisch nicht zwingend, aus dieser Sonderstellung einen kategorischen Vorrang gegenüber grundrechtseinschränkendem Primärrecht wie Anhang I DWA abzuleiten. Überdies spricht in formeller Hinsicht viel für die grundsätzliche Gleichrangigkeit sämtlichen Primärrechts400, mit der Folge, dass die Verantwortung für die Auflösung primärrechtsinterner Widersprüche sowohl den EuGH im Rahmen seiner Auslegungskompetenz nach Art. 19 EUV401 als auch die Mitgliedstaaten in ihrer Funktion als „Herren der Verträge“ träfe402. d) Europäisches Wahlgrundrecht als vorrangige lex posterior Der generalanwaltliche Ansatz eines Vorrangs des Wahlgrundrechts, den letztlich auch der EuGH stillschweigend zugrundegelegt hat, könnte sich aber jedenfalls aus einem anderen Grund als richtig erweisen. Als 1976 der DWA samt Anhang erlassen wurde, hatte das Wahlgrundrecht zum Europäischen Parlament noch nicht seine heutige inhaltliche Ausprägung erreicht. Von der EKMR war das Europäische Parlament lange Zeit nicht als gesetzgebende Körperschaft anerkannt403. Im Matthews-Urteil hat der EGMR dies zumindest für den Zeitraum nach Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht, der dem Parlament zahlreiche Kompetenzerweiterungen gebracht hatte, revidiert. Die daraus resultierende Anwendbarkeit von Art. 3 ZP 1 auf das Europäische Parlament führte über Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) zu den heutigen Konturen des europäischen Wahlgrundrechts404, gerade auch speziell in Bezug auf Gibraltar. Seitdem kann diese nunmehr vollständig ausgebildete Grundrechtsposition des europäischen Wahlbürgers gegenüber der dem Allgemeinheitsgrundsatz entgegenstehenden Ausschlussnorm des Anhangs I DWA als lex posterior behandelt werden. Der Lex-posterior-Grundsatz zugunsten der jüngeren Norm (lex posterior derogat legi priori) gilt im modernen Recht unbestritten und kommt insbesondere dann zum Tragen, wenn nacheinander entstandene hierarchisch gleichrangige Normen miteinander kollidieren405. Anhang I DWA wird demnach als ältere Vorschrift 399 Pache, in: Heselhaus/Nowak, § 4, Rn. 130, 135; Rengeling/Szczekalla, § 2, Rn. 131, § 3, Rn. 255; H. Hofmann, Normenhierarchien, S. 89 ff.; Steyns, S. 163 ff., 230 ff.; Sichert, S. 729 ff.; Peters, Elemente, S. 341 f.; kritisch Kaufmann, S. 100 ff. 400 Näher Gärditz, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 34, Rn. 7; H. Hofmann, Normenhierarchien, S. 93; Heintzen, EuR 1994, 35 (36); Kaufmann, S. 92; Haag, in: Bieber/Epiney/Haag, Die EU, § 6, Rn. 47 f.; vgl. auch Pache, in: Heselhaus/Nowak, § 4, Rn. 120. 401 Früher Art. 220 EGV. Vgl. von Arnauld, EuR 2003, 191 (214 ff.); Pache, in: Heselhaus/Nowak, § 4, Rn. 135. 402 Heintzen, EuR 1994, 35 (42, 48 f.). 403 Vgl. o., IV. 2. 404 Vgl. o., II. 1. 405 Schilling, Rang und Geltung, S. 448 ff., 457, m.w. N.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 572 f.; ders., Grundzüge, S. 33; Kramer, Methodenlehre, S. 117 f.; Zip-

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insoweit unanwendbar, als er dem europäischen Wahlgrundrecht widerspricht, so dass auch aus europarechtlicher Sicht der DWA grundsätzlich in Gibraltar zugrundegelegt werden kann406. Dieser Befund bestätigt somit das Ergebnis der generalanwaltlichen Ausführungen. Dass der Generalanwalt das Matthews-Urteil als Wendepunkt vom Verbot zum Gebot der Durchführung von Europawahlen in Gibraltar darstellte407, bildet möglicherweise einen Anhalt dafür, dass er sich auch von vergleichbaren Überlegungen leiten ließ, ohne diese allerdings im Detail offenzulegen. e) Die Anwendbarkeit von Anhang I DWA in Bezug auf Drittstaatsangehörige Wie der Generalanwalt zutreffend weiter erläuterte, gilt der Primat des europäischen Wahlgrundrechts jedoch nur zugunsten der entsprechend Grundrechtsberechtigten408. Da Drittstaatsangehörige anders als Unionsbürger bereits damals weder aus Art. 3 ZP 1409 noch aus dem weitgehend entsprechenden europäischen Wahlgrundrecht410 einen Anspruch auf Einräumung des Europawahlrechts herleipelius, S. 33; Heckmann, S. 157 ff., 161 f.; Stein/von Buttlar/Kotzur, S. 35, Rn. 109; vgl. auch C. Thiele, AVR 46 (2008), 1 (8 f.); Bieber/Salomé, CMLR 33 (1996), 907 (910); Klabbers, in: Cannizzaro, The Law of Treaties, S. 192 (198); Vranes, ZaöRV 65 (2005), 391 (391 ff.); Höpfner, DÖV 2006, 820 (823). 406 Das Vereinigte Königreich hätte unter Umständen auch versuchen können, die einseitige Anwendung des DWA auf Grundlage von Art. 307 EGV (jetzt Art. 351 AEUV) zu rechtfertigen, da das ZP 1 eine vor seinem EG-Beitritt geschlossene Übereinkunft darstellt; vgl. Giegerich, Europäische Verfassung, S. 916, Fn. 3098; Ress, ZEuS 1999, 471 (475 f.); Canor, ELRev. 25 (2000), 3 (10 f.); Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (332); Besselink, CMLR 45 (2008), 787 (807 f.); Vedder, in: Hummer/ Obwexer, S. 278; Winkler, Beitritt, S. 150 f.; Malenovsky´, RGDIP 113 (2009), 753 (761). 407 GA Tizzano, Schlussanträge v. 06.04.2006 in den Rs. C-145/04 (Spanien ./. Vereinigtes Königreich) und C-300/04 (Eman und Sevinger), Slg. 2006, I-7917, I-7920, Rn. 117. 408 GA Tizzano, a. a. O., Rn. 128 ff. 409 Vgl. hierzu noch ausführlich u., VII. 1.; sowie ferner Arndt, in: Karpenstein/ Mayer, Art. 3 ZP 1, Rn. 7. 410 Vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon durften die Mitgliedstaaten Drittausländern zwar nach Art. 8 Abs. 1 DWA das Europawahlrecht in freier politischer Entscheidung einräumen, konnten es ihnen aber ebenso wieder entziehen. Für Nichtunionsbürger war der Bestand ihres Europawahlrechts also nicht grundrechtlich geschützt. Vgl. GA Tizzano, Schlussanträge v. 06.04.2006 in den Rs. C-145/04 (Spanien ./. Vereinigtes Königreich) und C-300/04 (Eman und Sevinger), Slg. 2006, I-7917, I-7920, Rn. 130; Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 6, Rn. 4, 12; Streinz/Huber, 1. Aufl., Art. 190 EGV, Rn. 9. Zur Staatsangehörigkeit als Wahlrechtsvoraussetzung siehe auch den Verhaltenskodex für Wahlen der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht beim Europarat (Venedig-Kommission) von 2002, Leitlinien und Erläuternder Bericht, Dok. CDL-AD (2002) 23, jeweils Nr. 1.1.b., abrufbar unter: http://www.venice.coe.int/ webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDL-AD(2002)023-ger. Zur aktuellen Rechtslage siehe u., VI.

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ten konnten, hat Anhang I DWA ihnen gegenüber seinen Ausschlusscharakter behalten411. Daraus folgt, dass das Vereinigte Königreich mit der Einräumung des Europawahlrechts an die QCC in Gibraltar gegen Anhang I DWA verstoßen hat412, der mangels Aufhebung nach wie vor solche Rechtswirkungen entfaltet, die das Wahlgrundrecht nicht tangieren. Trotz der eindeutigen Empfehlung des Generalanwalts erwähnte der EuGH diese logische Konsequenz in seiner zu Recht als minimalistisch kritisierten413 Argumentation nicht und ließ das britische Gesetz gänzlich unbeanstandet414. Damit hat es der Gerichtshof bedauerlicherweise versäumt, das Verhältnis zwischen Wahlgrundrecht und Anhang I DWA in differenzierter Weise zu klären. Die Missachtung der verbliebenen Rechtswirkung von Anhang I DWA durch den EuGH kam praktisch einer förmlichen Abschaffung der Ausschlussvorschrift gleich, auf die sich die Mitgliedstaaten gerade nicht geeinigt hatten415. Indem der EuGH nicht auf die Kopplung der Trägerschaft des europäischen Wahlgrundrechts an den Unionsbürgerstatus einging, ließ er darüber hinaus eine günstige Gelegenheit ungenutzt, die Wechselbeziehungen zwischen Unionsbürgerschaft und politischen Grundrechten näher zu beleuchten, und offenbarte ungewohnte Zaghaftigkeit416. Das zurückhaltende Vorgehen des EuGH zeigt sich im übrigen auch darin, dass er sich allein auf den damaligen Stand des Gemeinschaftsrechts bezog und den Teil des spanischen Vortrags, der sich auf seinerzeit noch unverbindliche Texte (die GRC und den VVE) stützte417, vollends außer Betracht ließ418. 5. Fazit Im Ergebnis setzt sich das europäische Wahlgrundrecht im Rahmen seines Gewährleistungsgehalts somit auch in der Europarechtsordnung gegenüber Anhang I DWA durch. Der EuGH hat der wahlgrundrechtsfreundlichen Rechtsprechung 411

GA Tizzano, a. a. O., Rn. 130 ff. Gegenwärtig wäre vornehmlich ein Verstoß gegen Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1, Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV festzustellen; siehe u., VI. 413 So etwa Burgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 (25, 28, 41); H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (268). 414 Siehe o., 3.; dem EuGH dennoch zustimmend Haag, FS Bieber, 137 (141, 145). 415 Siehe o., 1.; vgl. auch Burgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 (42); Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (184). 416 Vgl. Burgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 (32 f., 37); H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (267 f.). 417 Vgl. EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C145/04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 42, 45. 418 In anderen Fällen hat der EuGH dagegen die GRC bereits vor ihrem formellen Inkrafttreten in seine Würdigung einbezogen; vgl. etwa EuGH, Urt. v. 27.06.2006, Parlament ./. Rat, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 38, 58. Hierzu auch BurgorgueLarsen, RTDE 43 (2007), 25 (34). 412

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des EGMR letztlich zur vollen Entfaltung verholfen419. Zumindest im Hinblick auf die zweite Rüge im spanisch-britischen Verfahren bildete das Matthews-Urteil des EGMR die entscheidende Leitlinie für den Luxemburger Gerichtshof 420. Zwar gelang es ihm nur teilweise, die richtigen Konsequenzen für das Europarecht zu ziehen, weil die Billigung des Wahlrechts auch für QCC in Gibraltar konventions- und europarechtlich nicht geboten war. Aus grundrechtlicher Perspektive aber hat der EuGH weitgehend die Übereinstimmung des europarechtlichen Schutzes des Wahlgrundrechts mit den Anforderungen der EMRK bestätigt und einen wesentlichen Beitrag dafür geleistet, die Grundrechtspositionen der Europawahlberechtigten in Gibraltar zu sichern.

VI. Die Anknüpfung der Wahlberechtigung nach dem Lissabon-Vertrag 1. Änderungen des Primärrechts Der Vertrag von Lissabon hat auch einige primärrechtliche Bestimmungen zum Europawahlrecht geändert. Nunmehr sind laut Art. 10 Abs. 2 UAbs. 1 EUV „[d]ie Bürgerinnen und Bürger [. . .] auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“. Noch deutlicher bestimmt Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV: „Das Europäische Parlament setzt sich aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammen.“ Hingegen wurden die noch von der Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament ausgehenden Art. 189 Abs. 1 und Art. 190 Abs. 1, 2 UAbs. 2 EGV aufgehoben. Diese Änderungen entsprechen praktisch der bereits im gescheiterten VVE vorgesehenen Reform421. In der Zusammenschau machen sie deutlich, dass anstelle der Völker der Mitgliedstaaten nunmehr die Gesamtheit der Unionsbürger als unmittelbarer Legitimationsträger des Europäischen Parlaments anzusehen ist422. Der bisherige Gewährleistungsgehalt des europäischen Wahlgrundrechts findet also ausdrück-

419 Vgl. Lock, Verhältnis, S. 272; sowie Callewaert, EuR Beiheft 3 2008, 177 (184), der insoweit von einer „unmittelbare[n] Korrekturwirkung im Gemeinschaftsrecht“ spricht. 420 Vgl. Montanari, La Comunità Internazionale 2007, 703 (711); Usher, FS Bieber, 599 (604 f.). 421 Vgl. Art. I-20 Abs. 2, I-46 Abs. 2 S. 1 VVE; hierzu Burgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 (35), m.w. N.; Ruffert, EuR 2004, 165 (189); Epping, in: Vedder/Heintschel von Heinegg, EVV, Art. I-20, Rn. 4; Ohler, in: Streinz/Ohler/Herrmann, Verfassung, S. 44; Schönberger, Unionsbürger, S. 495; Böhm, BayVBl. 2006, 173 (176); Montanari, La Comunità Internazionale 2007, 703 (708 f.); Sack, ZEuS 2007, 457 (477 ff.). 422 Vgl. H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (270, 272); Schönberger, Unionsbürger, S. 499 f., 507; Luczak, S. 332; Peuker, ZEuS 2008, 453 (456); Pernice, EuZW 2008, 65 (65); Ruffert, EuR Beiheft 1 2009, 31 (35); Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 10 EUV, Rn. 2, Art. 14 EUV, Rn. 11; Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 65; Franzius/ Preuß, S. 119 f.; S.-C. Lenski, DVBl. 2012, 1057 (1062).

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lich Eingang in das neue geschriebene Primärrecht der Union. Damit erhält die Repräsentation der Unionsbürger im Europäischen Parlament einen Ausschließlichkeitscharakter: Wenn das Parlament nach dem klaren Wortlaut von Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV aus den Vertretern der Unionsbürger besteht, ist es den Mitgliedstaaten konsequenterweise allgemein verwehrt, durch die Einräumung des Wahlrechts auch Drittstaatsangehörigen die Möglichkeit zu geben, über die Zusammensetzung der Abgeordneten zu entscheiden423. 2. Mitgliedstaatliche Erklärungen Demgegenüber waren Spanien und v. a. das Vereinigte Königreich bestrebt, unerwünschte Auswirkungen des Vertrags von Lissabon auf zwischen ihnen umstrittene Fragen zu vermeiden. Wie schon zuvor zum VVE 424 gaben sie daher auch zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon entsprechende Erklärungen ab425. Beide Staaten stimmten zunächst in Erklärung Nr. 55 darin überein, dass die Geltung der Verträge für Gibraltar „keine Änderungen der jeweiligen Standpunkte der betreffenden Mitgliedstaaten“ mit sich bringe. Außerdem stellte das Vereinigte Königreich in Erklärung Nr. 64 unilateral fest, dass durch Art. 14 EUV und andere Bestimmungen der Verträge „nicht die Grundlagen des Wahlrechts für die Wahlen zum Europäischen Parlament geändert werden sollen“. Während die gemeinsame Erklärung Nr. 55 keine weiteren rechtlichen Probleme aufwerfen dürfte, erscheint die Tragweite der britischen Erklärung Nr. 64 zum Wahlrecht weit weniger offensichtlich. Zunächst bleibt unklar, wie der Begriff der „Grundlagen des Wahlrechts“ zu verstehen ist. Auch wenn eine derartige Interpretation nicht zwingend ist426, liegt es nach dem GibraltarRechtsstreit und angesichts der direkten Bezugnahme auf Art. 14 EUV nahe, dass das Vereinigte Königreich zu diesen Grundlagen auch die Möglichkeit eines Europawahlrechts für Nichtunionsbürger gezählt wissen wollte. In diesem Fall befände sich die britische Erklärung in direktem Widerspruch zu Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV. Anders als diese Norm stehen Schlusserklärungen wie die vorliegende nicht im Primärrechtsrang; sie können allerdings nach Maßgabe des auch völkergewohnheitsrechtlich geltenden427 Art. 31 Abs. 2 WVK als ein Kriterium bei der

423 Ebenso Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 40, Fn. 68; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 85, Fn. 275; Schwarze/Schoo, Art. 223 AEUV, Rn. 6. 424 Erklärungen Nr. 45 und Nr. 48 zum Vertrag über eine Verfassung für Europa v. 29.10.2004, ABl. Nr. C 310 v. 16.12.2004, S. 473 f. 425 Erklärungen Nr. 55 und Nr. 64 zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 356, 358. 426 Vgl. H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (271). 427 Siehe schon o., Teil 1, B. II. (vor 1.).

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Auslegung des Vertrages zu berücksichtigen sein428. Die Abänderung des Vertragsinhalts entgegen seinem eindeutigen Wortlaut ist jedoch allein durch eine einseitige Interpretationserklärung nicht möglich429. Da die Einlegung eines Vorbehalts im europäischen Verfassungsrecht zur Wahrung der Gleichheit der Mitgliedstaaten ausgeschlossen ist430, hätte für eine solche Wirkung entweder der Vertragstext selbst modifiziert oder die betreffende Erklärung in ein von allen Mitgliedstaaten zu ratifizierendes Protokoll (vgl. Art. 51 EUV; früher Art. 311 EGV) aufgenommen werden müssen, was hier gerade nicht geschehen ist. Zudem hat sich kein anderer Mitgliedstaat der Erklärung des Vereinigten Königreiches angeschlossen; die von Italien abgegebene Erklärung431 deutet vielmehr auf eine gegensätzliche Auffassung hin432. Diese Umstände stehen letztlich auch der Annahme einer stillschweigenden Akzeptanz der britischen Erklärung durch die anderen Mitgliedstaaten entgegen433. Daraus folgt, dass die Auslegung der Neufassung der Wahlrechtsvorschriften in den Gründungsverträgen der Union auch durch die Einbeziehung der Erklärung Nr. 64 zu keinem anderen Ergebnis gelangt. Die Bedeutung dieser Erklärung erschöpft sich damit in der unverbindlichen Darlegung der Rechtsauffassung des Vereinigten Königreiches434. 3. Wandel der EuGH-Rechtsprechung? Mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon, insbesondere von Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV, dürfte als Konsequenz der veränderten Rechtslage auch eine Abkehr des EuGH von seiner im Urteil Spanien ./. Vereinigtes Königreich vertretenen Linie eines „offenen Wahlrechts“ näher gerückt sein. Schließlich hatte sich der Gerichtshof dort ausdrücklich auf den „derzeitigen Stand des 428 Streinz/Kokott, Art. 51 EUV, Rn. 6; Schwarze/Becker, Art. 51 EUV, Rn. 9 f.; H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (270 f.); Toth, CMLR 23 (1986), 803 (810 f.); ebenso, allerdings ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die WVK, EuGH, Urt. v. 20.02.2001, Kaur, Rs. C-192/99, Slg. 2001, I-1237, Rn. 23 f. 429 Vgl. H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (271); Giegerich, Europäische Verfassung, S. 861; A. Aust, Modern Treaty Law, S. 126 ff.; K. Ipsen/Heintschel von Heinegg, Völkerrecht, § 15, Rn. 4; Stein/von Buttlar/Kotzur, S. 27, Rn. 87; ILC, Fiftieth session, Third report on reservations to treaties by Alain Pellet, UN Doc. A/CN.4/491/Add.4, 02.07.1998, Rn. 236 ff.; ferner zur Abgrenzung der Interpretationserklärung vom Vorbehalt die Entscheidung des Court of Arbitration v. 30.06.1977 im Schiedsverfahren zwischen dem Vereinigten Königreich und Frankreich über die Abgrenzung des Festlandsockels, ILM 18 (1979), 397 (418), Rn. 55. 430 Ausführlich Giegerich, Europäische Verfassung, S. 859 ff. 431 Erklärung Nr. 57 zur Schlussakte der Regierungskonferenz von Lissabon, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 357. 432 So auch die Einschätzung von Dougan, CMLR 45 (2008), 617 (635, Fn. 84). 433 Vgl. H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (272). 434 Im Ergebnis ebenso Streinz/Huber, Art. 14 EUV, Rn. 40, Fn. 68; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 85, Fn. 275; vgl. auch Schmalenbach, in: Calliess/ Ruffert, Art. 51 EUV, Rn. 6.

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Gemeinschaftsrechts“ berufen, als er feststellte, dass die Zuständigkeit für die Bestimmung der Europawahlberechtigten bei den Mitgliedstaaten liege435. Dass er die bereits im VVE vorgesehene Reform nicht in seine Ausführungen einbezogen hatte, dürfte dazu beigetragen haben, dass das Vereinigte Königreich bei den Verhandlungen zum Lissabon-Vertrag davon absah, auf eine erneute Änderung des Vertragstextes zu drängen436. Die Lissabonner Fassung der Unionsverträge enthält nun das Potential, dass sich die Unionsbürgerschaft durch ihre gestärkte Rolle als Legitimationsbasis noch weiter zu einem Grundstein einer europäischen Identität entwickelt437. Der Unionsbürgerstatus bietet auch den bei weitem geeignetsten Anknüpfungspunkt für eine einheitliche Wahlberechtigung zum Europäischen Parlament, die stets über das europäische Wahlgrundrecht abgesichert ist. Dass die bislang aufgrund mitgliedstaatlicher Entscheidung wahlberechtigten Drittstaatsangehörigen dann von der Europawahl ausgeschlossen sind, erscheint in diesem Kontext hinnehmbar. Denn mit dem Status als Unionsbürger ist gerade verbunden, dass die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaatsangehörigen in ihrer Rechtsstellung bevorzugt werden438. Außerdem dürfte für die betroffenen Drittstaatler in ihrem Aufenthaltsmitgliedstaat in der Regel eine Möglichkeit bestehen, über eine Einbürgerung die Unionsbürgerschaft zu erlangen439. Nach allem wäre es daher zu begrüßen, wenn auch der EuGH unter dem neuen Recht eine umfassende primärrechtliche Exklusivbindung des Europawahlrechts an die Unionsbürgerschaft anerkennen würde. 4. Mitgliedstaatlicher Spielraum bei Ein- und Ausbürgerung In letzter Konsequenz behalten allerdings nach wie vor die Mitgliedstaaten insofern Einfluss auf die Zusammensetzung der Wahlberechtigten, als sie nach der Rechtsgrundverweisung des Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV (früher Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGV) über ihr Staatsangehörigkeitsrecht bestimmen, wer überhaupt den Unionsbürgerstatus erlangt440. Bei der Festlegung des Kreises ihrer Staatsangehö435 EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Spanien ./. Vereinigtes Königreich, Rs. C-145/ 04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 78; ebenso EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Eman und Sevinger, Rs. C-300/04, Slg. 2006, I-8055, Rn. 45. 436 Vgl. Burgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 (35). 437 Vgl. H. P. Aust, ZEuS 2008, 253 (274). 438 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 35; Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 20 AEUV, Rn. 17. 439 Siehe sogleich u., 4. Vgl. ferner Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, § 24, Rn. 28. 440 Die 2. Erklärung zur Schlussakte von Maastricht v. 07.02.1992 (ABl. Nr. C 191 v. 29.07.1992, S. 98) stellt klar, dass es in die Kompetenz der Mitgliedstaaten fällt anzugeben, „wer für die Zwecke der Gemeinschaft als ihr Staatsangehöriger anzusehen ist“. Damit sind freilich Regelungsunterschiede zwischen den Staatsangehörigkeitserwerbsund -verlusttatbeständen der einzelnen Mitgliedstaaten verbunden. Näher Schönberger, Unionsbürger, S. 275 ff.; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 23 f.;

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rigen sind die Mitgliedstaaten zwar grundsätzlich frei, sie unterliegen aber den allgemeinen Regeln des Völkergewohnheitsrechts441. Danach sind andere Staaten nur dann zur Anerkennung einer Einbürgerung verpflichtet, wenn zwischen dem einbürgernden Staat und der eingebürgerten Person eine echte Verbindung besteht442. Weiterhin verbietet das Völkergewohnheitsrecht den willkürlichen Entzug der Staatsangehörigkeit443. Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH haben die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihres Staatsangehörigkeitsrechts außerdem das Europarecht zu beachten444. Hier wird v. a. das Gebot der Unionstreue aus Art. 4 Abs. 3 EUV (früher Art. 10 EGV) relevant, das sowohl eine exzessive, den EU-Politiken entgegenstehende Einbürgerungspraxis als auch solche Ausbürgerungen untersagt, die an die Ausübung europarechtlicher Rechte und Freiheiten geknüpft werden445. Das Recht der EMRK enthält kein Recht auf Einbürgerung446, sondern setzt vielmehr das Bestehen einer staatsangehörigkeitsrechtlichen Verbindung für die Gewährung bestimmter Konventionsgarantien voraus447. Hingegen liefe es der Effektivität dieser verbürgten Rechte zuwider, könnten sie die Konventionsstaaten nach Belieben mittels Ausbürgerung umgehen. So ist allgemein anerkannt, dass das Ausweisungsverbot des Art. 3 Abs. 1 ZP 4 nicht über einen i. S. d. Art. 17 EMRK missbräuchlichen Entzug der Staatsangehörigkeit ausgehöhlt wer-

Streinz/Magiera, Art. 20 AEUV, Rn. 27; Sauerwald, S. 87 ff.; siehe auch S.-C. Lenski, DVBl. 2012, 1057 (1057 f.). 441 BVerfGE 37, 217 (218); Hailbronner, in: ders./Renner/Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 59 ff.; R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (392); Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, § 9, Rn. 25. 442 Siehe IGH, Urt. v. 06.04.1955, Nottebohm (Liechtenstein ./. Guatemala), Second Phase, ICJ Reports 1955, 4 (23). 443 Vgl. indiziell Art. 15 Abs. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte v. 10.12.1948 (Sartorius II Nr. 15); Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht Bd. I/2, S. 80 ff.; Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 25. Das europäische Völkervertragsrecht bleibt zur Zeit noch hinter diesem Standard zurück. So ist das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit v. 06.11.1997 (BGBl. 2004 II, S. 579), das in Art. 4 lit. c, 7 ein Verbot willkürlicher Ausbürgerung enthält, erst für zwölf EU-Mitgliedstaaten in Kraft. 444 EuGH, Urt. v. 07.07.1992, Micheletti et al. ./. Delegación del Gobierno en Cantabria, Rs. C-369/90, Slg. 1992, I-4239, Rn. 10; EuGH, Urt. v. 11.11.1999, Belgien ./. Mesbah, Rs. C-179/98, Slg. 1999, I-7955, Rn. 29; EuGH, Urt. v. 20.02.2001, Kaur, Rs. C-192/99, Slg. 2001, I-1237, Rn. 19; EuGH (GK), Urt. v. 02.03.2010, Rottmann, Rs. C-135/08, Slg. 2010, I-1449, Rn. 45, 48, 50 ff. 445 Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 9, Rn. 26; Schwarze/Hatje, Art. 20 AEUV, Rn. 5; Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 20 AEUV, Rn. 9; Streinz/Magiera, Art. 20 AEUV, Rn. 28; Schönberger, Unionsbürger, S. 282 ff.; A. Zimmermann, EuR 1995, 54 (59 ff.); Sauerwald, S. 94 ff., 119 f.; Haag, FS Bieber, 137 (145). 446 Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 950; R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (393). 447 Vgl. hinsichtlich des Wahlrechts u., VII. 1.

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den darf 448. In entsprechender Weise ist die Ausbürgerung eigener Staatsangehöriger, die zumeist ipso iure zum Verlust der Unionsbürgerschaft und damit des Europawahlrechts führt449, auch an den Anforderungen von Art. 3 ZP 1 zu messen. Ausbürgerungen, die dem europäischen Standard einer offenen und pluralistischen Gesellschaft widersprechen, insbesondere also solche, die in Missbrauchsabsicht oder willkürlich erfolgt sind, verstoßen daher auch gegen die Wahlrechtsgarantie des Art. 3 ZP 1450. Nach einer derartigen rechtswidrigen Ausbürgerung ist es folglich den Mitgliedstaaten verwehrt, dem Betroffenen unter Berufung auf das Fehlen der Staatsangehörigkeit die Ausübung des Europawahlrechts zu verweigern451.

VII. Durchsetzung des Europawahlrechts zugunsten mobiler Unionsbürger 1. Konventionsrechtsschutz gegen Eingriffe im Wohnsitzmitgliedstaat Die Anerkennung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft eröffnet den Unionsbürgern über Art. 3 ZP 1 weitgehende Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer europarechtlichen Wahlrechte mit Hilfe des EGMR. Dabei stellt sich die Frage, ob zu diesen konventionsrechtlich durchsetzbaren Rechten auch das Recht der Unionsbürger nach Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV und Art. 39 Abs. 1 GRC gehört, in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, an den Europawahlen teilzunehmen. Denkbar wäre beispielsweise, dass der Wohnsitzmitgliedstaat die Richtlinie 93/109/EG, die die Einzelheiten zur Ausübung dieses Rechts festlegt452, nicht ordnungsgemäß umsetzt oder sonst Vorschriften erlässt, die das Europawahlrecht der Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten in europarechtswidriger Weise beschränken. Primär ist auch in solchen Fällen Rechtsschutz vor den nationalen Gerichten des Wohnsitzmitgliedstaats zu suchen, die ggf. eine Vorlage an den EuGH nach Art. 267 AEUV veranlassen können bzw. müssen453. Das nicht unmittelbar indi448 Giegerich, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 26, Rn. 79; Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 950 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 69; Hoppe, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 4, Rn. 3. Siehe auch o., Teil 4, B. I. 4. a). 449 Dies gilt zumindest dann, wenn die ausgebürgerte Person nicht noch die Staatsangehörigkeit eines weiteren EU-Mitgliedstaats besitzt. Vgl. zur Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung EuGH (GK), Urt. v. 02.03.2010, Rottmann, Rs. C-135/08, Slg. 2010, I-1449, Rn. 45, 48, 50 ff. 450 R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (392 f.). 451 R. Thienel, a. a. O., S. 393. 452 Siehe o., II. 3. 453 Siehe o., Teil 2, A. I., II.

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vidualschützende Vertragsverletzungsverfahren könnte hier nur zur Abhilfe durch den EuGH führen, wenn die Kommission (Art. 258 AEUV) oder ein Mitgliedstaat (Art. 259 AEUV) das Anliegen der betroffenen Unionsbürger unterstützte. Dass sich in diesem Rechtsschutzsystem im (wenn mitunter auch speziellen) Einzelfall Lücken auftun, die eine Befassung des EuGH und damit effektiven Rechtsschutz verhindern, erscheint somit keineswegs ausgeschlossen. Dann kommt die Menschenrechtsbeschwerde zum EGMR als weitere Option ins Spiel, zumal Unionsrecht und Art. 3 ZP 1 im wesentlichen entsprechende Wahlgrundrechte gewährleisten454. Es bedarf jedoch noch der Klärung, ob sich Unionsbürger gegenüber ihrem Wohnsitzstaat auch dann auf Art. 3 ZP 1 berufen können, wenn sie nicht seine Staatsangehörigen sind. Genau genommen müssten sie unter den in Art. 3 ZP 1 verwendeten Begriff des „Volkes“ 455 fallen, um vom personellen Schutzbereich der Vorschrift erfasst zu werden. a) Der staatsangehörigkeitsbasierte Volksbegriff des Art. 3 ZP 1 Der Wortlaut von Art. 3 ZP 1 ist insoweit uneindeutig und verlangt daher nach näherer Auslegung456. Die Rechtsprechung der Konventionsorgane beinhaltet keine expliziten und einheitlichen Aussagen über die Träger des Wahlrechts. Während die EKMR in ihren Entscheidungen die Beschränkung des Wahlrechts auf Staatsangehörige indirekt als zulässigen Eingriff angesehen hat457, spricht der EGMR davon, dass Art. 3 ZP 1 die Gleichbehandlung aller Staatsbürger hinsichtlich der Wahlrechtsausübung garantiere458. Damit bleibt unklar, ob das Wahlrecht nach der EMRK von vornherein nur ein Recht für Staatsbürger darstellt oder der Schutzbereich darüber hinausgeht, dann aber durch gerechtfertigte Eingriffe eingeschränkt werden kann. Historisch betrachtet orientiert sich die klassische Konzeption der Staatstheorie an der Notwendigkeit, das Staatsvolk als politische Gemeinschaft nach außen abzugrenzen459. Ganz überwiegend wird daher angenommen, dass politische Mit454

Siehe o., II., III. Engl. „people“; frz. „peuple“. 456 Zum Folgenden ausführlich R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (361 ff.). 457 EKMR, Entsch. v. 11.12.1976, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 9, 121 (122, 124); EKMR, Entsch. v. 28.02.1979, X. ./. Vereinigtes Königreich, DR 15, 137 (138, 141); EKMR, Entsch. v. 21.05.1997, Luksch ./. Italien, DR 89-A, 76 (76, 78); R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (360). 458 EGMR, Urt. v. 02.03.1987, Mathieu-Mohin und Clerfayt ./. Belgien, Ser. A Vol. 113, Rn. 54; EGMR, Entsch. v. 29.03.2001, Antonopoulos ./. Griechenland, Nr. 58333/00, pdf-Dok. S. 6; EGMR, Entsch. v. 02.07.2002, Gorizdra ./. Republik Moldau, Nr. 53180/99, pdf-Dok. S. 11; EGMR, Entsch. v. 26.09.2002, Tsimas ./. Griechenland, Nr. 74287/01, pdf-Dok. S. 4.; Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/ Zwaak, S. 920; Cremona, GS Ryssdal, 309 (316); R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (360). 459 Vgl. R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (365 f.). 455

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Teil 5: Politische Rechte

wirkungsrechte nur Staatsangehörigen zuständen460, was auch in der Formulierung von Art. 21 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zum Ausdruck kommt461. Von dieser traditionellen Auffassung ließen sich gleichfalls die Redaktoren der EMRK leiten, die eine Beschränkung des Wahlrechts auf die jeweiligen Staatsangehörigen als selbstverständlich voraussetzten, ohne überhaupt direkt darüber zu diskutieren462. In dieses Bild passt das Bestreben, über Art. 16 EMRK die politische Tätigkeit von Ausländern auch allgemein beschränken zu können463. Noch in der heutigen Praxis der europäischen Staaten zeigt sich, dass jedenfalls das Wahlrecht zu gesetzgebenden Organen auf staatlicher Ebene weitgehend den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten ist464. In Art. 25 IPbpR findet sich sogar ausdrücklich eine entsprechend eingeschränkte Gewährleistung des Wahlrechts („Every citizen . . .“). Die nach Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK für die Auslegung der EMRK maßgebliche Übung der Vertragsstaaten deutet für rein nationale Wahlen also ebenso wie die Entstehungsgeschichte auf eine allein auf Staatsangehörige bezogene Regelung des Wahlrechts in Art. 3 ZP 1 hin. Im übrigen lässt sich eine entsprechende Einschränkung jedenfalls aus Gründen der Abgrenzung der Wahlberechtigten rechtfertigen465. b) Die europarechtsgeprägte Modifikation des Volksbegriffs Anders liegt es dagegen in Bezug auf die Wahlen zum Europäischen Parlament, denn der bisher festgestellte Befund lässt sich nicht auf den besonderen europarechtlichen Kontext der Rechte aus Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV und Art. 39 Abs. 1 GRC übertragen. Hierzu existiert bislang weder spezielle Rechtsprechung der Konventionsorgane, noch lassen sich die aufgezeigten historischen Zusam-

460 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, § 24, Rn. 26 ff.; Grawert, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, § 16, Rn. 20; Schmitt, Verfassungslehre, S. 227 f.; R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (366 ff.). 461 Sartorius II Nr. 15. Danach genießt jedermann (nur) in seinem Land („his country“) politische Teilhabe; vgl. auch Rosas, in: Alfredsson/Eide, S. 431. 462 R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (370 ff.), m.w. N.; vgl. auch Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 920. 463 Vgl. Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 919 f.; Cremona, GS Ryssdal, 309 (316); R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (360 f., Fn. 29); außerdem u., B. II. 2., 3. b), c), IV. 2. 464 Einen Sonderfall bildet allerdings das Vereinigte Königreich, wo bei ständigem Aufenthalt auch für Staatsangehörige der Commonwealth-Staaten und Irlands ein volles Wahlrecht besteht (Representation of the People Act 2000, abrufbar unter: http:// www.legislation.gov.uk/ukpga/2000/2/contents); vgl. die Dokumentation bei R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (374 ff.); siehe auch Augustin, S. 341; Haag, FS Bieber, 137 (138); Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18, Rn. 25, § 23, Rn. 106. 465 R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (379 ff.); im Ergebnis ebenso Richter, in: Dörr/ Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 59, 70; anders offenbar Dörr, FS Rengeling, 205 (211 f.).

A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1

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menhänge ohne weiteres fruchtbar machen. Schließlich war man sich bei der Schaffung der EMRK einer zukünftigen Möglichkeit der Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen auf ein supranationales Europäisches Parlament überhaupt nicht bewusst466. Wie der EGMR aber im Matthews-Urteil ausgeführt hat, sind die von den Konventionsstaaten vereinbarten gemeinsamen verfassungsrechtlichen und parlamentarischen Strukturen bei der Interpretation der EMRK zu berücksichtigen467. Auch die Entwicklung des europäischen Integrationsverbunds muss danach in die Auslegung der Konventionsbestimmungen einbezogen werden468. Dies gilt umso mehr, als die EMRK nach der teleologisch ausgerichteten ständigen Rechtsprechung des EGMR als „lebendiges Instrument“ im Lichte der jeweiligen Lebensbedingungen auszulegen ist469 und für einen praktischen und effektiven Grundrechtsschutz sorgen soll470. Diese Prämissen betreffen nicht nur einzelne Aspekte in den Beziehungen zwischen Europarecht und EMRK wie etwa die Qualifikation des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft. Bei konsequenter Anwendung führen sie vielmehr zu einem maßgeblichen Einfluss der Europarechtsordnung auf den Schutzumfang von Gewährleistungen der EMRK471. Da der Begriff des „Volkes“ in Art. 3 ZP 1 auch auf das Europarecht Bezug nimmt472, spielt das Europawahlrecht ausländischer Unionsbürger im Wohnsitzstaat nach Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV und Art. 39 Abs. 1 GRC eine zentrale Rolle bei der Bestimmung des persönlichen Schutzbereichs von Art. 3 ZP 1, soweit es um Wahlen zum Europäischen Parlament geht. Das Gebot schutzzweckkonformer systemischer Integration aus Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK473 bestätigt seinerseits diesen Befund. Mit dem Vertrag von Maastricht hat das überkommene staatsangehörigkeitsbasierte Leitbild bei der Bestimmung des Wahlvolkes nach Art. 3 ZP 1 für Europawahlen

466 Vgl. EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 39; abweichendes Sondervotum der Kommissionsmitglieder Weitzel, Rozakis, Pellonpää, Conforti und Bratza zu EKMR, Bericht v. 29.10.1997, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, 294/349, unter (2). 467 EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 39. 468 Vgl. bereits o., Teil 1, B. II. 2. 469 EGMR (GK), Urt. v. 23.03.1995, Loizidou ./. Türkei (Preliminary Objections), Ser. A Vol. 310, Rn. 71; EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Matthews ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1999-I, Rn. 39. Siehe bereits o., IV. 3. b), sowie Teil 1, B. II. 2. c), und Teil 3, A. I. 4. b) aa), 5. a). 470 Siehe z. B. EGMR (GK), Urt. v. 27.09.1995, McCann et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 324, Rn. 146; EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 87. 471 Vgl. Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (334 f.); R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (386). Siehe auch o., Teil 1, B. II. 2. c), III. 472 Vgl. Arndt, in: Karpenstein/Mayer, Art. 3 ZP 1, Rn. 7; sowie o., Teil 1, B. III. 473 Siehe allgemein o., Teil 1, B. II. 2.

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Teil 5: Politische Rechte

seine Bedeutung demzufolge weitgehend verloren474. Diese Entwicklung ist auch durchaus sachgerecht, denn ausländische Unionsbürger unterliegen in ihrem jeweiligen Wohnsitzmitgliedstaat in gleicher Weise den europäischen Rechtsakten wie im Heimatstaat475. Diesen Unionsbürgern im Bedarfsfall gegenüber dem Wohnsitzstaat die Berufung auf Art. 3 ZP 1 zu versagen, würde sie letztlich dazu zwingen, ihr Europawahlrecht doch im Heimatstaat wahrzunehmen. Ein solcher europarechtswidriger Zustand stände der von der EMRK angestrebten Effektivität des Grundrechtsschutzes diametral entgegen. Daraus ist zu schließen, dass auch ausländische Unionsbürger zur Durchsetzung ihres Europawahlrechts in den personellen Schutzbereich von Art. 3 ZP 1 einzubeziehen sind. Allein auf diese Weise ist es möglich, die jeweiligen wahlrechtlichen Wertungen von Europarecht und EMRK miteinander in Übereinstimmung zu bringen476. Im Ergebnis lässt sich eine durch die Einwirkung des Europarechts auf die EMRK bedingte Erweiterung des Kreises der durch Art. 3 ZP 1 Berechtigten feststellen: Der dortige Begriff des „Volkes“ erstreckt sich hinsichtlich der Europawahlen auch auf residierende EU-Ausländer477. Dieser Effekt reicht indes nicht weiter als die diesbezüglichen europarechtlichen Vorgaben in Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV und Art. 39 Abs. 1 GRC. Weder können sich Drittstaatsangehörige bei Europawahlen auf Art. 3 ZP 1 berufen478, noch ergeben sich Veränderungen für ausländische Unionsbürger bei Wahlen zu den nationalen Parlamenten ihrer Wohnsitzstaaten479. Als wichtigste Konsequenz eröffnet sich aber für Unionsbürger aus dem EUAusland die Möglichkeit, ihr Europawahlrecht vor dem EGMR auch gegenüber dem Wohnsitzstaat durchzusetzen. Gegenstand derartiger Verfahren könnten neben überlangen Mindestresidenzzeiten 480 auch Beschränkungen sein, denen ausländische Unionsbürger in einigen Mitgliedstaaten bei der Mitgliedschaft in oder der Gründung von politischen Parteien unterliegen481. Solche Regelungen behindern die aktive Teilnahme der EU-Ausländer am politischen Leben in ihrem

474 Relevant bleibt die Staatsangehörigkeit aber noch bei der Vorfrage, ob jemand überhaupt Unionsbürger und damit aus Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV und Art. 39 Abs. 1 GRC berechtigt ist, denn die Unionsbürgerschaft ist nach Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV an die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates gekoppelt; siehe o., VI. 4. 475 R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (387). 476 Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 70. 477 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (335). 478 Vgl. o., a) und VI. 479 R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (386 f.). 480 Siehe o., II. 3. 481 Siehe im einzelnen die „Opinion of the E.U. Network of Independent Experts on Fundamental Rights regarding the participation of E.U. Citizens in the political parties of the Member State of residence“ v. März 2005 (CFR-CDF.Opinion 1.2005), abrufbar unter: http://ec.europa.eu/justice/fundamental-rights/f iles/cfr_cdfopinion1_2005_en.pdf.

A. Wahlrecht zum Europäischen Parlament und Art. 3 ZP 1

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Wohnsitzstaat und können sich daher auch auf die effektive Ausübung insbesondere des passiven Europawahlrechts negativ auswirken482. Sofern die benachteiligten Unionsbürger im unionsrechtlichen Rechtsschutzsystem, etwa durch ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH, keine Abhilfe erreichen sollten, dürften ihre Chancen auf Rechtsschutz in Straßburg günstig sein. Denn auch das Recht zur Kandidatur bei Wahlen ist von Art. 3 ZP 1 umfasst, und der EGMR legt gerade im Bereich des Wahlrechts großen Wert auf die Effektivitätsmaxime483. 2. Konventionsrechtsschutz bei Rückkehr in den Herkunftsmitgliedstaat Da die Richtlinie 93/109/EG den Unionsbürgern die Entscheidung überlässt, ob sie ihr Europawahlrecht im Herkunfts- oder im Residenzstaat wahrnehmen wollen484, ist schließlich noch die Konstellation denkbar, dass sich in einem anderen Mitgliedstaat residierende Unionsbürger dazu entschließen, in ihrem Herkunftsstaat an der Europawahl teilzunehmen. Berufen sie sich nun diesem gegenüber auf die Gewährleistungen des Art. 3 ZP 1, ergeben sich im personellen Schutzbereich von vornherein keine Schwierigkeiten, da sie als Staatsangehörige unproblematisch unter den Begriff des „Volkes“ fallen. Auch im Hinblick auf Art. 1 EMRK steht der konventionsrechtlichen Verantwortung des Herkunftsstaates in solchen Fällen nichts entgegen485. Obwohl sie ihren Wohnsitz im EU-Ausland haben, unterstehen die betreffenden Unionsbürger als Staatsangehörige ohne weiteres der Personalhoheit ihres Herkunftsstaates. Wenn sie an den dort stattfindenden Wahlen zum Europäischen Parlament teilnehmen wollen, sind sie außerdem der herkunftsstaatlichen Hoheitsgewalt regelmäßig insofern unterworfen, als sie von den einschlägigen nationalen Beschränkungen und Durchführungsbestimmungen betroffen werden. Neben solchen Eingriffen des Herkunftsstaates kommt aber auch in diesem Zusammenhang eine Verantwortlichkeit des Wohnsitzstaates in Betracht, etwa wenn dieser die ausländischen Unionsbürger dabei behindert, im Herkunftsstaat an der Europawahl teilzunehmen486. Als Faustregel kann gelten, dass eine etwaige Menschenrechtsbeschwerde stets gegen denjenigen Mitgliedstaat zu richten ist, der unmittelbar für die angegriffene Einschränkung der effektiven Ausübung des Europawahlrechts verantwortlich ist.

482 483 484 485 486

Haag, FS Bieber, 137 (146). Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 25, Rn. 20, 24. Siehe o., II. 3. Hierzu R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (388 f.). R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (389, Fn. 158).

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Teil 5: Politische Rechte

VIII. Ergebnis zu A. Das Wahlrecht zum Europäischen Parlament bildet für die Unionsbürger das zentrale politische Recht auf Unionsebene487. Es wird durch diverse Vorschriften in EUV, AEUV, GRC und DWA primärrechtlich geregelt und enthält die Allgemeinheit, Unmittelbarkeit, Freiheit und Geheimheit der Wahl als elementare Grundsätze. Auch die Wahlrechtsgleichheit ist als allgemeiner Rechtsgrundsatz Teil des Unionsrechts, ohne dass jedoch eine absolute Gleichheit von Erfolgswert oder -chance gewährt wird. Die materiellen Gewährleistungen der europarechtlichen Wahlrechtsgrundsätze werden mit Ausnahme der Unmittelbarkeit der Wahl auch im System der EMRK durch Art. 3 ZP 1 geschützt, so dass hier eine weitgehende inhaltliche Übereinstimmung zu verzeichnen ist. Im die Allgemeinheit der Wahl betreffenden Matthews-Urteil hat der EGMR zum ersten Mal Art. 3 ZP 1 auf das Europäische Parlament angewandt und damit das Konventionssystem weiter für die Europarechtsordnung geöffnet. Waren in diesem Fall die Rahmenbedingungen durch den historisch-kolonialen Kontext und die speziellen Vorschriften auch außergewöhnlich488, so haben sich aus dem Urteil des EGMR doch weitreichende und für das Europarecht insgesamt bedeutsame Konsequenzen ergeben. Die Anerkennung des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft i. S. d. Art. 3 ZP 1 führte zum Abschluss der Herausbildung eines eigenen europarechtlichen Wahlgrundrechts, das im Rahmen seiner materiellen Deckung mit Art. 3 ZP 1 im Bedarfsfall auch vor dem EGMR durchgesetzt werden kann. Diese Möglichkeit besteht gleichermaßen zugunsten des Europawahlrechts im Wohnsitzmitgliedstaat gemäß Art. 22 Abs. 2 S. 1 AEUV und Art. 39 Abs. 1 GRC, weil der Volksbegriff des Art. 3 ZP 1 auch ausländische Unionsbürger umfasst. Konstellationen wie der Matthews-Fall, in denen direkt europäisches Primärrecht angegriffen wird, dürften jedoch auch in Zukunft Seltenheitswert haben. Eher denkbar erscheinen Verstöße von Mitgliedstaaten gegen das europäische Wahlgrundrecht bei der Regelung oder Durchführung der Wahlen zum Europäischen Parlament, einschließlich der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben. Mögliche Beispiele sind hier etwa die Missachtung des DWA, Fehler bei der Implementierung der Richtlinie 93/109/EG oder überhöhte Anforderungen des Residenzstaates für die dortige Ausübung des Europawahlrechts oder politische Aktivitäten im Vorfeld489. Sollte der Wahlbürger vor den nationalen Gerichten und ggf. über das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH nicht zum Rechts487

Schönberger, Unionsbürger, S. 507; Haag, FS Bieber, 137 (146). K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 366; King, ELRev. 25 (2000), 79 (84); Schokkenbroek, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 934; Breuer, EuGRZ 2005, 229 (229). 489 Vgl. Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (262); Haag, FS Bieber, 137 (146). 488

B. Politische Betätigungsrechte und Art. 10 EMRK

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schutzziel gelangen, steht ihm grundsätzlich der Weg nach Straßburg offen. Ist mit der Verletzung des Wahlgrundrechts, wie regelmäßig zu erwarten, auch ein Verstoß gegen Art. 3 ZP 1 verbunden, kann dieser vor dem EGMR erfolgreich gerügt werden. Auch im Kontext des Wahlrechts hat sich gezeigt, dass der EGMR bereit ist, das Europarecht bei der Auslegung und Anwendung der EMRK miteinzubeziehen und die entsprechende europäische Grundrechtsposition zu stärken. Der EuGH wiederum hat anschließend den vom EGMR eingeforderten Schutz der Grundrechte zum Maßstab seines Urteils im Fall Spanien ./. Vereinigtes Königreich gemacht und so indirekt die besondere Rolle des EGMR auf diesem Gebiet anerkannt490. Damit lässt sich feststellen, dass beide Gerichtshöfe in allgemeiner Harmonie491 und wechselseitiger Rücksichtnahme an der weiteren Ausdifferenzierung und Durchsetzung des europäischen Wahlgrundrechts mitwirken.

B. Politische Betätigungsrechte und Art. 10 EMRK: Piermont ./. Frankreich (1995) Der Piermont-Fall führt zu der Fragestellung, inwieweit Rechte von Unionsbürgern und insbesondere von Mitgliedern des Europäischen Parlaments auf politische Betätigung innerhalb des Europawahlgebiets konventionsrechtlich abgesichert sind. Im Verfahren vor den Konventionsorganen hat diesbezüglich die Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK eine ausschlaggebende Bedeutung erlangt.

I. Sachverhalt und nationale Verfahren492 Die Bf. Dorothee Piermont, eine deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in Deutschland und seinerzeit Mitglied des Europäischen Parlaments, hielt sich vom 24.02. bis zum 03.03.1986 in Französisch-Polynesien auf. Als langjährige Umweltaktivistin und Pazifistin kam sie damit vor den anstehenden Wahlen zum französischen Parlament und zur Gebietsversammlung einer Einladung der Französisch-Polynesischen Befreiungsfront nach. Bereits bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen wurde sie von der Grenzpolizei auf Anordnung des französischen Hochkommissars um Zurückhaltung bei Äußerungen über innere Angelegenheiten Frankreichs gebeten und darauf hingewiesen, dass ihr anderenfalls die Ausweisung drohe. Die Bf. nahm u. a. an einem von der Unabhängigkeits- und Antinuklearbewegung organisierten Demonstrationszug bei Papeete teil, der ohne 490

Montanari, La Comunità Internazionale 2007, 703 (711). Vgl. Burgorgue-Larsen, RTDE 43 (2007), 25 (43). 492 Hierzu näher EGMR, Urt. v. 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, Rn. 8 ff.; deutsche Zusammenfassung in InfAuslR 1996, 45. 491

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Teil 5: Politische Rechte

Zwischenfälle verlief. Dort verurteilte sie auf Französisch den Fortgang der Kernwaffentests, die ihrer Ansicht nach zeigten, dass die französische Präsenz im pazifischen Raum eine Einmischung in die Angelegenheiten der Polynesier darstelle. Der französische Hochkommissar wertete diese Äußerungen als Angriff auf die französische Politik und verfügte deshalb am 02.03.1986 die Ausweisung der Bf., die er mit einem Wiedereinreiseverbot verband. Der Bf. wurde diese Anordnung am nächsten Tag bekanntgegeben, als sie sich bereits an Bord eines Flugzeugs nach Neukaledonien befand. Auf Einladung verschiedener Lokalpolitiker traf die Bf. dann am 04.03.1986 in Neukaledonien ein. Auf dem Flughafen von Nouméa drohte eine Konfrontation mit etwa 40 als Loyalisten bekannten Aktivisten, die gegen den Aufenthalt der Bf. protestierten. Die Bf. wurde nach der Passkontrolle von der Polizei in Empfang genommen und bis zu ihrer Abreise in einem Flughafenbüro festgehalten. Nach dem Scheitern von Vermittlungsversuchen belegte der Hochkommissar in Neukaledonien die Bf. mit einem Einreiseverbot, da ihre Anwesenheit vor dem Hintergrund der in Französisch-Polynesien getroffenen Maßnahmen geeignet sei, die öffentliche Ordnung insbesondere während des laufenden Wahlkampfes zu stören. In der folgenden Nacht wurde die Bf. in ein Flugzeug nach Tokio gesetzt. Die Bf. rief gegen die behördlichen Maßnahmen zunächst die zuständigen französischen Verwaltungsgerichte an. Am 23.12.1986 gab das Tribunal administratif Papeete ihrer Klage gegen die Anordnung des Hochkommissars in Französisch-Polynesien statt, da diese angesichts der Umstände unverhältnismäßig und damit schon auf der Grundlage des nationalen Rechts rechtswidrig ergangen sei. Desgleichen annullierte das Tribunal administratif Nouméa am 24.12.1986 das in Neukaledonien verhängte Einreiseverbot, weil es den gesetzlichen Begründungsanforderungen nicht genügt habe. Jedoch folgte der Conseil d’État den vom Minister für die überseeischen Gebiete eingelegten Rechtsmitteln und hob die verwaltungsgerichtlichen Urteile am 12.05.1989 wieder auf. Hierzu führte der Conseil d’État aus, dass nach den in den Überseegebieten anwendbaren französischen Gesetzen493 die Hochkommissare ihr Ermessen nicht überschritten hätten und polizeiliche Maßnahmen keiner weiteren Begründung bedürften. Die von der Bf. angeführten europarechtlichen Freizügigkeitsvorschriften fänden in den französischen Überseegebieten nach Maßgabe von Art. 135 und 227 EWGV keine Anwendung. Auch die den Mitgliedern des Europäischen Parlaments zustehenden Vorrechte und Befreiungen stän493 Als maßgebliche Rechtsgrundlage wurde Art. 7 Loi relative à la naturalisation et au séjour des étrangers v. 03.12.1849 (anwendbar in den Überseegebieten durch Loi v. 29.05.1874) herangezogen, wonach der Innenminister die umgehende Ausweisung und Abschiebung eines Ausländers aus dem französischen Hoheitsgebiet anordnen kann; in den Überseegebieten kommt diese Befugnis dem Hochkommissar zu (Loi v. 06.09. 1984).

B. Politische Betätigungsrechte und Art. 10 EMRK

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den den vorgenommenen polizeilichen Maßnahmen nicht entgegen. Konventionsrechtlich entspreche das behördliche Vorgehen sowohl der Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 und 14 EMRK als auch den Rechtfertigungserfordernissen des Art. 2 Abs. 3 ZP 4. Ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH wurde nicht eingeleitet; die Bf. blieb damit jeweils in letzter Instanz erfolglos. Am 23.11.1994 hob der Hochkommissar in Neukaledonien das dortige Einreiseverbot schließlich von sich aus wieder auf, da gegen eine Einreise der Bf. keine Bedenken mehr beständen.

II. Verfahren vor den Konventionsorganen 1. Grundlagen Mit ihren am 06. und 08.11.1989 gegen Frankreich erhobenen Individualbeschwerden494 rügte die Bf. jeweils die Verletzung von Art. 2 ZP 4 sowie von Art. 10 und 14 EMRK durch das behördliche Vorgehen in Französisch-Polynesien und Neukaledonien. Bei der Ratifikation der EMRK und des ZP 4 am 03.05. 1974 hatte Frankreich erklärt, dass beide Verträge auf das gesamte französische Staatsgebiet und in Bezug auf die Überseegebiete unter Berücksichtigung der örtlichen Notwendigkeiten Anwendung finden sollten495. Die seinerzeit zuständige EKMR verband beide Beschwerden am 02.09.1991 zur gemeinsamen Entscheidung und erklärte sie angesichts der aufgeworfenen Fragen für zulässig496. Nachdem die EKMR am 20.01.1994 ihren Bericht zur Begründetheit497 angenommen hatte, verwies sie die Rechtssache am 11.03.1994 gemäß Art. 32 Abs. 1, Art. 47, 48 lit. a EMRK a. F. an den EGMR, der selbst schließlich am 27.04.1995 sein Urteil fällte498. 2. Bericht der EKMR und Sondervoten In ihrem Bericht gemäß Art. 31 EMRK a. F. befasste sich die EKMR mit der Begründetheit der Beschwerden. Hier stellte sie fest, dass weder die in Französisch-Polynesien noch die in Neukaledonien getroffenen Maßnahmen das in Art. 2 ZP 4 verbürgte Freizügigkeitsrecht verletzt hätten, da die Bf. bereits die Voraussetzung des rechtmäßigen Aufenthalts in den Überseegebieten infolge der 494

Vgl. Art. 25 EMRK a. F. Siehe Art. 63 EMRK a. F. (jetzt Art. 56 EMRK) und Art. 5 ZP 4; sowie die französischen Erklärungen unter: http://www.coe.int/en/web/conventions/search-ontreaties/-/conventions/treaty/005/declarations; http://www.coe.int/en/web/conventions/ search-on-treaties/-/conventions/treaty/046/declarations. 496 EKMR, Entsch. v. 03.12.1992, Piermont ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 15773/ 89 und 15774/89. 497 Siehe sogleich u., 2. 498 Siehe u., 3. 495

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Teil 5: Politische Rechte

Ausweisung bzw. des Einreiseverbots nicht mehr erfüllt habe499. Im Rahmen der Prüfung eines Verstoßes gegen die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 Abs. 1 EMRK) untersuchte die EKMR ferner die Tragweite von Art. 16 EMRK, demzufolge Art. 10, 11 und 14 EMRK nicht so auszulegen sind, als untersagten sie den Vertragsstaaten, die politische Tätigkeit von Ausländern zu beschränken500. Sie erinnerte an die insoweit restriktive Konzeption des historischen Völkerrechts bei der Entstehung der EMRK und betonte demgegenüber die Notwendigkeit einer zeitgemäßen Konventionsauslegung. Vor dem Hintergrund der Entwicklung der europäischen Integration komme daher dem Status der Bf. als Europaabgeordneter eine besondere Bedeutung zu501. Entsprechend den Funktionen und der länderübergreifenden Struktur des Europäischen Parlaments obliege es seinen Mitgliedern, zu den politischen Problemen der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten umfassend Stellung zu beziehen502. Dies schließe die Teilnahme an Veranstaltungen in den französischen überseeischen Gebieten ein, wo ebenfalls Europawahlen stattfänden. Hieraus folgerte die EKMR, dass die Bf. nicht als „Ausländerin“ i. S. d. Art. 16 EMRK anzusehen sei, soweit sie als Mitglied des Europäischen Parlaments gehandelt habe503. Die wegen der politischen Äußerungen der Bf. in Französisch-Polynesien getroffenen Maßnahmen wertete die EKMR als Eingriff in Art. 10 EMRK, der zwar auf gesetzlicher Grundlage zum Schutz der öffentlichen Ordnung ergangen, jedoch nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sei504. Da die Bf. selbst keine relevante Gefahr verursacht habe und das behördliche Vorgehen zudem von der politischen Diskussion strittiger Fragen in der Öffentlichkeit abschrecken könne, liege eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor. Bezüglich der Situation in Neukaledonien lehnte die EKMR dagegen einen Konventionsverstoß mit der Begründung ab, dass ein an sich EMRK-konformes Einreiseverbot notwendigerweise die Konsequenz habe, dass insbesondere die Meinungsäußerungsfreiheit nicht ausgeübt werden könne505. Auf eine gesonderte Erörterung der Rechtslage nach Art. 10 i.V. m. 14 EMRK wurde jeweils verzichtet506.

499 EKMR, Bericht v. 20.01.1994, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, S. 35, Rn. 39 ff., 43, 86 ff., 91. Diese Feststellung erging hinsichtlich der Maßnahmen in Französisch-Polynesien einstimmig und bezüglich derjenigen in Neukaledonien mit 13:1 Stimmen; EKMR, a. a. O., Rn. 45, 93, 100, 102. 500 EKMR, a. a. O., Rn. 57 ff. 501 EKMR, a. a. O., Rn. 61 ff. 502 EKMR, a. a. O., Rn. 63 ff., 66 ff. 503 EKMR, a. a. O., Rn. 69. 504 EKMR, a. a. O., Rn. 57, 70 ff. (ergangen mit 8:6 Stimmen). 505 EKMR, a. a. O., Rn. 96 (ergangen mit 12:2 Stimmen). 506 EKMR, a. a. O., Rn. 80, 98 f. (einstimmige Verneinung eines Verstoßes bezüglich der Situation in Neukaledonien).

B. Politische Betätigungsrechte und Art. 10 EMRK

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Dem Bericht der EKMR sind insgesamt fünf Sondervoten mit abweichenden Begründungen oder Ergebnissen von Kommissionsmitgliedern beigefügt worden. Mehrfach wurde dabei die Anwendbarkeit von Art. 16 EMRK bejaht, jedoch entweder seine Einbeziehung in die Rechtfertigungsprüfung nach Art. 10 Abs. 2 EMRK507 oder eine an Rechtsstaats- und Verhältnismäßigkeitsprinzip orientierte enge Auslegung unter Berücksichtigung des Europaabgeordnetenstatus der Bf.508 postuliert. Lediglich ein Sondervotum lehnte im Ergebnis einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK in Französisch-Polynesien ab, v. a. weil der Eingriff für geringfügig gehalten wurde509. Weiterhin wurde verschiedentlich von einer Verletzung von Art. 10 EMRK auch in Neukaledonien ausgegangen, da in diesem Kontext bereits eine Einreise der Bf. stattgefunden habe510 oder aber ein rechtmäßiger Aufenthalt nicht erforderlich sei511; außerdem beständen Zweifel an der gesetzlichen Grundlage des Einreiseverbots512. Das Kommissionsmitglied Geus nahm zusätzlich auch einen Verstoß gegen Art. 2 ZP 4 an, da die Bf. nach ihrer Einreise in Neukaledonien ohne jede Rechtsgrundlage festgehalten worden sei513. 3. Urteil des EGMR a) Freizügigkeit gemäß Art. 2 ZP 4 Der EGMR ging in seinem Urteil zunächst auf die Rügen der Bf. ein, die das Freizügigkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 ZP 4514 betrafen. In Bezug auf die Situation in Polynesien stellte der Gerichtshof fest, dass die Bf. nicht im Auftrag des Europäischen Parlaments unterwegs gewesen sei und sich während ihres Aufenthalts frei habe bewegen können515. Damit folgte er 507 Zustimmendes Sondervotum der Kommissionsmitglieder Nørgaard und Thune zu EKMR, Bericht v. 20.01.1994, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, S. 48; teils abweichendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Danelius, dem sich die Kommissionsmitglieder Busuttil, Jörundsson, Liddy und Marxer angeschlossen haben, a. a. O., S. 53 f.; beide unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 28.03.1990, Groppera Radio AG et al. ./. Schweiz, Ser. A Vol. 173, Rn. 61 (zu Art. 10 Abs. 1 S. 3 EMRK). 508 Zustimmendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Loucaides, dem sich das Kommissionsmitglied Pellonpää angeschlossen hat, zu EKMR, Bericht v. 20.01.1994, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, S. 50 f. 509 Teils abweichendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Danelius, dem sich die Kommissionsmitglieder Busuttil, Jörundsson, Liddy und Marxer angeschlossen haben, a. a. O., S. 53 f. 510 Teils zustimmendes und teils abweichendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Rozakis, a. a. O., S. 52, Rn. 2. 511 Abweichendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Geus, a. a. O., S. 55, Rn. 7. 512 Ebenda. 513 Abweichendes Sondervotum des Kommissionsmitglieds Geus, a. a. O., Rn. 3 ff. 514 Siehe hierzu schon o., Teil 4, B. III. 1. 515 EGMR, Urt. v. 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, Rn. 44; auszugsweise deutsche Übersetzung in InfAuslR 1996, 45.

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zumindest indirekt dem Vorbringen der französischen Regierung, die vorliegend die Anwendbarkeit der Immunitätsregeln für Europaabgeordnete verneint hatte516. Weiterhin führte der EGMR aus, dass Polynesien nach Maßgabe von Art. 5 Abs. 4 ZP 4 als vom französischen Mutterland getrenntes Hoheitsgebiet i. S. d. ZP 4 zu behandeln sei. Daraus ergebe sich, dass sich die Bf. nach der Bekanntgabe der Ausweisungsanordnung nicht mehr rechtmäßig in Polynesien aufgehalten habe, so dass bereits kein Eingriff in Art. 2 ZP 4 vorgelegen habe und eine Verletzung dieser Garantie ausscheide517. Hinsichtlich des Vorgehens in Neukaledonien trug die Bf. vor, dass sie mit dem Passieren der (Grenz-)Kontrolle auf dem Flughafen rechtmäßig eingereist sei; das anschließend verhängte Einreiseverbot sei vom französischen Gesetz nicht gedeckt gewesen und auch sonst als ungerechtfertigte Ausweisung zu qualifizieren518. Die französische Regierung verwies demgegenüber auf den lediglich formalen Charakter der Grenzabfertigung und die allgemeinen Befugnisse des Hochkommissars zur Wahrung der öffentlichen Ordnung519. Der Gerichtshof wählte einen ganzheitlichen Ansatz zur Bestimmung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, nach dem Einreisewillige im Umkreis des Flughafens auch weitere Kontrollen zu gewärtigen hätten520. Da die Bf. den Flughafen nicht verlassen habe und dort mit dem entsprechend bezeichneten sowie auch vom Conseil d’État nicht beanstandeten Einreiseverbot belegt worden sei, sei ihr Aufenthalt in Neukaledonien zu keiner Zeit rechtmäßig gewesen. Eine Verletzung von Art. 2 ZP 4 liege daher auch insoweit nicht vor. b) Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art. 10 Abs. 1 EMRK Zu ihrer auf Art. 10 EMRK gestützten Rüge der Maßnahmen in Polynesien führte die Bf. aus, dass die freie Äußerung ihrer politischen Ansichten trotz ihrer Mitgliedschaft im Europäischen Parlament habe unterbunden werden sollen521. Die Ausweisung und das Wiedereinreiseverbot seien als ungerechtfertigte Eingriffe in Art. 10 EMRK anzusehen. Die französische Regierung hielt das behördliche Vorgehen hingegen nach Maßgabe von Art. 63 a. F., 16 und 10 Abs. 2 EMRK für gerechtfertigt522. Insbesondere sei die Bf. ungeachtet ihres Mandats als Ausländerin i. S. d. Art. 16 EMRK zu behandeln, da sie sich in parteipolitischer und nicht in parlamentarischer Funktion zu Fragen außerhalb der Gemein516 517 518 519 520 521 522

Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 42. EGMR, a. a. O., Rn. 44 f. Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 46. Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 47. EGMR, a. a. O., Rn. 49. Zum Vortrag der Bf. EGMR, a. a. O., Rn. 51, 57, 62, 66, 69, 73. Zum Vortrag der Regierung EGMR, a. a. O., Rn. 52, 54, 56, 61, 67, 70, 74.

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schaftskompetenz geäußert habe und ferner das Staatsangehörigkeitsrecht Sache der Mitgliedstaaten sei. Ebenso wie die EKMR nahm auch der Gerichtshof einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK an523. Eine Rechtfertigung unter Rückgriff auf Art. 63 Abs. 3 EMRK a. F. (jetzt Art. 56 Abs. 3 EMRK), der die Berücksichtigung der örtlichen Notwendigkeiten bei der Anwendung der Konvention in den Überseegebieten vorschreibt, lehnte er jedoch ab524. Denn allein eine angespannte politische Lage im Wahlkampf, die grundsätzlich auch im Mutterland eintreten könne, begründe noch keine örtlichen Notwendigkeiten i. S. dieser Vorschrift. Zur Anwendbarkeit der Ausländerklausel des Art. 16 EMRK auf den Ausgangsfall bezog sich der EGMR auf die Europarechtslage525. Zwar könne die Unionsbürgerschaft vorliegend nicht berücksichtigt werden, da sie zur fraglichen Zeit noch nicht eingeführt gewesen sei. Nichtsdestotrotz befand der Gerichtshof Art. 16 EMRK für unanwendbar, weil die Bf. Staatsangehörige eines EU-Mitgliedstaates und obendrein Mitglied des Europäischen Parlaments gewesen sei, insbesondere zumal auch die Einwohner der Überseegebiete an der Europawahl teilnähmen. In der anschließenden Prüfung der Rechtfertigung nach Art. 10 Abs. 2 EMRK akzeptierte der EGMR zunächst die Rechtsgrundlage des Eingriffs sowie die Berufung auf die Ziele der Aufrechterhaltung der Ordnung und der territorialen Integrität526. Nachfolgend bekräftigte er, dass sich die freie Meinungsäußerung als wesentliche Grundlage einer demokratischen Gesellschaft und entscheidende Bedingung für ihren Fortschritt auch auf strittige und Anstoß erregende Positionen erstrecke, wie es Pluralismus, Toleranz und geistige Offenheit forderten527. Besondere Bedeutung entfalte die Meinungsäußerungsfreiheit dabei für einen gewählten Volksvertreter, so dass gegen ihn gerichtete Eingriffe strengster Kontrolle durch den Gerichtshof bedürften, dem die abschließende Entscheidung über die Vereinbarkeit solcher Maßnahmen mit Art. 10 EMRK obliege. In diesem Lichte sei zwar die seinerzeit in Polynesien herrschende politische Ausgangsund Stimmungslage zu berücksichtigen528. Doch habe sich die Bf. im Verlauf einer genehmigten friedlichen Demonstration geäußert, um die Anliegen lokaler Parteien zu unterstützen, und nicht selbst zu Gewalt oder Unruhen aufgerufen, die auch nachfolgend ausgeblieben seien. Da der Eingriff ferner nicht rein symbolischer Natur gewesen sei, habe er somit den gerechten Ausgleich zwischen 523

EGMR, Urt. v. 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, Rn. 53. EGMR, a. a. O., Rn. 59. Siehe hierzu auch Flauss, RTDH 1996, 364 (376 ff., 386 ff.). 525 EGMR, a. a. O., Rn. 64. 526 EGMR, a. a. O., Rn. 66 ff., 69 ff. 527 EGMR, a. a. O., Rn. 76; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 23.04.1992, Castells ./. Spanien, Ser. A Vol. 236, Rn. 42. 528 EGMR, Urt. v. 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, Rn. 77. 524

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den staatlichen Interessen und der Meinungsäußerungsfreiheit verfehlt und sei nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen529. Der EGMR bejahte also im Ergebnis eine Verletzung von Art. 10 EMRK durch die Maßnahmen in Polynesien. Das in Neukaledonien ergangene Einreiseverbot wertete der EGMR im Unterschied zur EKMR als Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 10 EMRK), da die Bf. daran gehindert worden sei, die gastgebenden Politiker zu treffen und ihre Ansichten vor Ort vorzutragen530. Entgegen der Ansicht der Bf. sei die Maßnahme auch jedenfalls von den gesetzlichen Befugnissen des Hochkommissars gedeckt gewesen531. Bezüglich der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs betonte der Gerichtshof nochmals die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit und befand, dass das Verhalten der Bf. sowie die Furcht vor ihren Äußerungen zu sensiblen Themen das Einreiseverbot motiviert haben könnten532. Trotz der angespannten politischen Stimmung habe aber kein substantieller Unterschied zur Situation in Polynesien bestanden, so dass der EGMR unter Verweis auf seine dort gegebene Begründung gleichfalls einen Verstoß gegen Art. 10 EMRK feststellte533. Aufgrund dieses Befundes hielt der Gerichtshof die zusätzliche Prüfung einer Verletzung des Diskriminierungsverbots (Art. 14 i.V. m. 10 EMRK) nicht für notwendig534. c) Sondervotum Das Urteil des EGMR erging zu Art. 2 ZP 4 und Art. 14 i.V. m. 10 EMRK einstimmig sowie zu Art. 10 EMRK mit 5:4 Stimmen. Die dissentierenden Richter erläuterten in einem Sondervotum, warum sie einen Verstoß gegen die Meinungsäußerungsfreiheit jeweils ablehnten. Bezüglich der Maßnahmen in Polynesien sprachen sie sich dafür aus, sowohl die dortige politische Situation als örtliche Notwendigkeiten i. S. d. Art. 63 Abs. 3 EMRK a. F. (jetzt Art. 56 Abs. 3 EMRK) als auch die Ausländereigenschaft nach Art. 16 EMRK in die Rechtfertigungsprüfung gemäß Art. 10 Abs. 2 EMRK einzubeziehen535. Die Anwendbarkeit von Art. 16 EMRK wurde grundsätzlich bejaht, da die Vorschrift eindeutig und ohne Ausnahmen formuliert sei; die Lösung des Gerichtshofs gehe dagegen über die europarechtlichen Immuni-

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EGMR, a. a. O., Rn. 77 f. Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 79 ff. 531 EGMR, a. a. O., Rn. 84. 532 EGMR, a. a. O., Rn. 85. 533 EGMR, a. a. O., Rn. 85 f. 534 EGMR, a. a. O., Rn. 87 ff. 535 Gemeinsames teils abweichendes Sondervotum der Richter Ryssdal, Matscher, Sir John Freeland und Jungwiert zu EGMR, Urt. v. 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, S. 31, Rn. 2 ff. 530

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tätsregeln für Abgeordnete hinaus. Im Rahmen der gewachsenen Internationalisierung der Politik müsse jedoch gleichfalls das legitime Interesse eines Mitglieds des Europäischen Parlaments an den Belangen eines Gebietes in die Wertung einfließen536. Insgesamt gelangte das Sondervotum zu dem Schluss, dass der Eingriff aufgrund seiner geringen praktischen Auswirkungen, der ungemäßigten Äußerungen der Bf. und der Lage in Polynesien verhältnismäßig gewesen sei537. Das in Neukaledonien erlassene Einreiseverbot sahen die dissentierenden Richter ähnlich wie die EKMR schon nicht als Eingriff in Art. 10 EMRK an, da die Bf. dort aufgrund ihres unrechtmäßigen Aufenthalts nicht zur freien Meinungsäußerung berechtigt gewesen sei538. Im Falle der Annahme eines Eingriffs lasse sich dieser wegen der besonders angespannten Lage in Neukaledonien rechtfertigen539. Schließlich wurde im Sondervotum hilfsweise eine Verletzung von Art. 14 i.V. m. 10 EMRK verneint, da keine Anhaltspunkte für eine unterschiedliche Behandlung zwischen der Bf. und einer Person in einer entsprechenden Situation beständen540. d) Urteilsfolgen In Anwendung von Art. 50 EMRK a. F. (jetzt Art. 41 EMRK)541 sprach der EGMR der Bf. nach billigem Ermessen einstimmig 80.000,– FF (ca. 12.196,– A) als gerechte Entschädigung für durch Verfahrens- und zusätzliche Reisekosten erlittene Vermögenseinbußen zu. Die darüber hinausgehenden Anträge der Bf. auf eine erheblich höhere Entschädigung wurden abgelehnt, da die Bf. nur teilweise obsiegt und zudem drei Rechtsanwälte hinzugezogen habe. Hinsichtlich des immateriellen Schadens erachtete der Gerichtshof die Feststellung der Konventionsverstöße für ausreichend, zumal sich die Bf. nicht um die Rücknahme der beanstandeten Maßnahmen bemüht habe. Nach den Ausführungen des Ministerkomitees des Europarates ist Frankreich seinen Verpflichtungen aus dem Urteil nachgekommen542.

III. Europarechtliche Rechtslage Aus europarechtlicher Sicht ist der Piermont-Fall durch die Besonderheit gekennzeichnet, dass Französisch-Polynesien und Neukaledonien bereits seit Grün536

Sondervotum, a. a. O., Rn. 5. Sondervotum, a. a. O., Rn. 7 ff. 538 Sondervotum, a. a. O., Rn. 10. 539 Sondervotum, a. a. O., Rn. 11. 540 Sondervotum, a. a. O., Rn. 13. 541 Siehe insoweit EGMR, Urt. v. 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, Rn. 92 ff. 542 Resolution DH (95) 255, angenommen vom Ministerkomitee am 20.11.1995. 537

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dung der EWG zu den überseeischen Ländern und Hoheitsgebieten (ÜLG) gehören, die vorbehaltlich der Assoziierungsvorschriften543 und ausdrücklicher Verweisungen nicht in den räumlichen Anwendungsbereich des Europarechts fallen und daher grundsätzlich wie Drittstaaten zu behandeln sind544. Die Bf. konnte im Hinblick auf diese Gebiete also weder die Grundfreiheiten noch sonstige Freizügigkeitsvorschriften des Gemeinschaftsrechts für sich in Anspruch nehmen. Diese Ausgangslage besteht auch nach der Einführung der Unionsbürgerschaft 1993 unverändert fort. Die sich daraus ergebenden Rechte stehen den Unionsbürgern zwar personell selbst dann zu, wenn sie in den ÜLG ansässig sind, aber eben nicht territorial in Bezug auf das Gebiet der ÜLG545. Dementsprechend liegt es im freien Ermessen des jeweiligen Mitgliedstaates, ob in seinen ÜLG Wahlen zum Europäischen Parlament abgehalten werden546. Finden aber Europawahlen statt, muss das zugehörige mitgliedstaatliche Recht im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen des Europarechts ausgestaltet und angewandt werden547. Angesichts der Beteiligung Französisch-Polynesiens und Neukaledoniens an den Wahlen zum Europäischen Parlament548 ruft das behördliche Vorgehen gegen die Bf. in den beiden ÜLG europarechtliche Bedenken hervor. Denn der im Europarecht geltende allgemeine Grundsatz der Gleichbehandlung549 gebietet, dass die rechtlichen Bedingungen für die Ausübung des aktiven und passiven Europawahlrechts in den ÜLG jenen in den Mitgliedstaaten gleichwertig sind550. Hierzu gehört auch die freie politische Betätigung der Europaabgeordneten, die u. a. durch die Einräumung von Immunität und weiteren Vorrechten abgesichert wird, wie sie in Art. 343 S. 1 AEUV und Art. 6 Abs. 2 DWA i.V. m. dem zugehö-

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Art. 198 ff. AEUV (früher Art. 131 ff. EWGV). Art. 52 Abs. 2 EUV, Art. 355 Abs. 2 UAbs. 1 i.V. m. Anhang II AEUV (urspr. Art. 227 Abs. 3 i.V. m. Anhang IV EWGV); EuGH, Urt. v. 12.02.1992, Leplat ./. Territoire de la Polynésie française, Rs. C-260/90, Slg. 1992, I-643, Rn. 10; EuGH, Gutachten 1/94 v. 15.11.1994 (WTO), Slg. 1994, I-5267, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 22.11.2001, Niederlande ./. Rat, Rs. C-110/97, Slg. 2001, I-8763, Rn. 49; EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Eman und Sevinger, Rs. C-300/04, Slg. 2006, I-8055, Rn. 46; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 355 AEUV, Rn. 6; Streinz/Kokott, Art. 355 AEUV, Rn. 6. Siehe bereits o., A. II. 2. a). 545 Vgl. EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Eman und Sevinger, Rs. C-300/04, Slg. 2006, I-8055, Rn. 29, 46; Schmalenbach, in: Calliess/Ruffert, Art. 198 AEUV, Rn. 5. 546 Vgl. EuGH (GK), a. a. O., Rn. 47 ff.; siehe schon o., A. II. 2. a). 547 Vgl. EuGH (GK), a. a. O., Rn. 57 ff., 67 f.; siehe o., A. II. 2. a). 548 Rechtsgrundlage ist die Loi n ë 77-729 relative à l’élection des représentants au Parlement européen v. 07.07.1977. 549 Vgl. EuGH (GK), Urt. v. 12.09.2006, Eman und Sevinger, Rs. C-300/04, Slg. 2006, I-8055, Rn. 57, 67; EuGH, Urt. v. 10.01.2006, IATA und ELFAA, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 95; EuGH, Urt. v. 06.12.2005, ABNA et al., verb. Rs. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 63; siehe jetzt außerdem Art. 20 GRC. 550 Vgl. R. Stock, InfAuslR 1996, 51 (51). 544

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rigen Protokoll von 1965551 niedergelegt sind. Ausdrücklich verankert sind dort etwa die Reisefreiheit der Abgeordneten zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments (Art. 7 VBP; zuvor Art. 8 VBP) sowie ihre Indemnität für in Ausübung ihres Amtes getätigte Äußerungen und Abstimmungen (Art. 8 VBP; zuvor Art. 9 VBP). Weitgehende Einigkeit besteht indes über die Notwendigkeit, ungeachtet des eher engen Wortlauts alle generell in Ausübung des Mandats unternommenen Reisen von Parlamentsmitgliedern zu schützen, da eine unbeschränkte Reisefreiheit im gesamten Wahlgebiet eine Grundvoraussetzung effektiver Abgeordnetentätigkeit in einem supranationalen Vertretungsorgan bildet552. Zur Mandatsausübung sind dabei ähnlich wie im Kontext der Indemnität553 auch außerhalb des unmittelbaren parlamentarischen Rahmens stattfindende Veranstaltungen zu zählen, weil die politische Tätigkeit des Abgeordneten in der Öffentlichkeit einen wesentlichen Bestandteil seiner Arbeit als Volksvertreter ausmacht554. Auf diese Weise kann der Abgeordnete nämlich einerseits auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken und zudem andererseits selbst Anregungen der Wahlbürger aufnehmen, um sie anschließend in den parlamentarischen Diskurs einzubringen555. Ausgehend von dieser teleologisch gebotenen weiten Auslegung der Reisefreiheit für Europaabgeordnete in Ausübung ihres Mandats556 war Frankreich durch das europarechtliche Gleichbehandlungsgebot verpflichtet, auch in den Wahlgebieten Französisch-Polynesien und Neukaledonien einen entsprechenden Schutzstandard zu gewährleisten. Mit diesen Vorgaben waren die gegen die Bf. verhängten Reisebeschränkungen, die auf die Unterbindung ihrer politischen Betätigung abzielten, nicht vereinbar. Als weiterer allgemeiner Grundsatz des Europarechts (jetzt Art. 6 Abs. 3 EUV) ist im gegebenen Zusammenhang außerdem die grundrechtliche Meinungsäußerungsfreiheit zugunsten des Parlamentsmitglieds zu berücksichtigen, die nunmehr ausdrücklich ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen garantiert ist und 551 Urspr. Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften v. 08.04.1965, ABl. 152 v. 13.07.1967, S. 13; jetzt Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 266; im folgenden jeweils abgekürzt VBP. 552 Eickhoff, S. 120: „unbeschränkte Freizügigkeit eine Selbstverständlichkeit“; Fleuter, S. 117 f.; ähnlich Cl. Schmidt, CDE 1991, 67 (76); vgl. auch Uppenbrink, S. 77 f. 553 Hierzu Bieber, EuR 1981, 124 (129 f.); Fleuter, S. 108 f. 554 Eickhoff, S. 120; Fleuter, S. 117 f.; siehe auch Wurbs, S. 94 f.; Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 26, Rn. 53. 555 Siehe allgemein Wurbs, S. 95; sowie EKMR, Bericht v. 20.01.1994, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, S. 35, Rn. 66 f. 556 Eine entsprechende Angleichung des Wortlauts im VBP hat bislang noch nicht stattgefunden. Der Politische Ausschuss des Europäischen Parlaments hat jedoch für die einschlägige Passage des damaligen Art. 8 (jetzt Art. 7) folgende Formulierung vorgeschlagen: „Die Reise der Mitglieder des Europäischen Parlaments innerhalb der Europäischen Gemeinschaft unterliegt keinerlei Beschränkungen“ (Dok. EP A2-121/86, S. 30; zitiert nach Eickhoff, S. 120).

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Teil 5: Politische Rechte

folglich die Wahl des Ortes einer Meinungsäußerung einschließt557. Entsprechend der Beurteilung durch den EGMR558 ließen sich die von den französischen Behörden vorgenommenen Eingriffe in die freie Meinungsäußerung der Bf. angesichts der wichtigen Funktion dieses Grundrechts in der politischen Auseinandersetzung und der in den beiden ÜLG vorherrschenden Umstände nicht rechtfertigen. Die Behandlung der Bf. in den ÜLG ist somit im Ergebnis als europarechtswidrig einzustufen. Verschiedene der für diese Bewertung relevanten europarechtlichen Rechtsfragen, insbesondere zum Umfang der parlamentarischen Reisefreiheit, ihrer Gewährleistung in den ÜLG sowie zur dortigen Anwendbarkeit der europäischen Grundrechte, sind jedoch bislang nicht umfassend durch den EuGH geklärt worden, so dass insoweit rechtliche Unsicherheiten verbleiben. Erst recht war die Europarechtslage in den französischen Gerichtsverfahren im Piermont-Fall angesichts der seinerzeit noch weniger elaborierten Rechtsprechung des EuGH keinesfalls so hinreichend klar, dass die Notwendigkeit für ein Vorabentscheidungsverfahren entfallen wäre. Die vom Conseil d’État als letztinstanzlichem Gericht unterlassene Vorlage der genannten Rechtsfragen an den EuGH stellte demnach einen Verstoß gegen Art. 177 Abs. 3 EWGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) dar, auf den das Scheitern der Bf. bei der nationalen Durchsetzung ihrer europarechtlich begründeten Rechte auf politische Betätigung und freie Meinungsäußerung maßgeblich zurückzuführen ist.

IV. Konventionsrechtliche Bewertung 1. Allgemeines Der EGMR konnte vorliegend die konventionsrechtliche Durchsetzung der europarechtlichen Rechtsposition der Bf. sicherstellen. Die teils unterschiedliche Auffassung der EKMR sowie die abweichenden Meinungen von Mitgliedern beider Spruchkörper559 illustrieren gleichwohl die Umstrittenheit des letztlich angenommenen doppelten Verstoßes gegen Art. 10 EMRK. Die demgegenüber weitgehende Ablehnung einer Verletzung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 2 ZP 4 geht im wesentlichen darauf zurück, dass stets das nationale französische Recht, nicht aber das Europarecht560 als entscheidender Maßstab für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Bf. in den beiden ÜLG herangezogen wurde. Dieses Vorgehen ist insofern verständlich, als die Europarechtslage zu dieser Frage nicht ganz 557 Vgl. jetzt Art. 11 GRC; siehe auch Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 389; ders., in: Heselhaus/Nowak, § 23, Rn. 22; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, S. 550, Rn. 1805; Kadelbach, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 26, Rn. 53. 558 Siehe o., II. 3. b); sowie jetzt Art. 52 Abs. 3 GRC. 559 Siehe o., II. 2., 3. c). 560 Vgl. hierzu o., Teil 4, B. III. 1.

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eindeutig war561 und der EGMR selbst keine Klärung herbeiführen konnte562. Im Vergleich zu Art. 2 ZP 4 bestanden dann im Rahmen von Art. 10 EMRK weitergehende Möglichkeiten für den Gerichtshof, auf den europarechtlichen Kontext Rücksicht zu nehmen. Hinzu kommt, dass Art. 10 EMRK gerade in Fällen der politischen Auseinandersetzung eine besondere Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft zukommt563, die regelmäßig zugunsten der politischen Betätigung ins Gewicht fällt. In verfahrensrechtlicher Hinsicht hat die Bf. eine Rüge des Vorlagepflichtverstoßes nach Art. 6 Abs. 1 EMRK von vornherein unterlassen, was aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem öffentlich-rechtlichen Charakter des Verfahrens zu erklären ist564. 2. Restriktive Handhabung der Ausnahmeklauseln Die Durchführung der konventionsrechtlichen Prüfung am strengen Maßstab von Art. 10 EMRK wurde v. a. durch die restriktive Auslegung der beiden Ausnahmevorschriften Art. 63 Abs. 3 EMRK a. F. (jetzt Art. 56 Abs. 3 EMRK) und Art. 16 EMRK erleichtert, die der EGMR als gesonderte Rechtfertigungsgründe behandelte. Das enge Verständnis der örtlichen Notwendigkeiten in den Überseegebieten entspricht dem Charakter von Art. 63 Abs. 3 EMRK a. F. (jetzt Art. 56 Abs. 3 EMRK) als Kolonialklausel, die ursprünglich zur Rücksichtnahme auf etwaige allgemeine Entwicklungsdefizite in den abhängigen Gebieten konzipiert war565. Inzwischen wird sie aber als weitgehend überholt angesehen566 und sollte somit auch nicht als zusätzlicher Abwägungsfaktor im Rahmen des Art. 10 Abs. 2 EMRK zum Tragen kommen567, schon um der Verfestigung eines abgesenkten Konventionsstandards in den Überseegebieten vorzubeugen568. Erstmals befasste sich der EGMR im Piermont-Urteil mit der Befugnis der Konventionsstaaten nach Art. 16 EMRK, die politische Tätigkeit von Ausländern 561

Vgl. o., III. Siehe entsprechend o., Teil 3, A. I. 5. d). 563 Siehe auch Flauss, RTDH 1996, 364 (372, 374). 564 Siehe o., Teil 2, A. IV. 1. c). 565 EGMR, Urt. v. 25.04.1978, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 26, Rn. 38; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 56 EMRK, Rn. 2; Johann, in: Karpenstein/ Mayer, Art. 56 EMRK, Rn. 1; Kokott/Rudolf, AJIL 90 (1996), 456 (459). Siehe auch o., A. IV. 3. c). 566 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 17, Rn. 12; Johann, in: Karpenstein/Mayer, Art. 56 EMRK, Rn. 1; vgl. auch EGMR, Entsch. v. 19.09.2006, Quark Fishing Ltd. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 15305/06. 567 So aber das gemeinsame teils abweichende Sondervotum der Richter Ryssdal, Matscher, Sir John Freeland und Jungwiert zu EGMR, Urt. v. 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, S. 31, Rn. 3, 7; siehe o., II. 3. c). 568 Kokott/Rudolf, AJIL 90 (1996), 456 (460); vgl. auch Flauss, RTDH 1996, 364 (379). 562

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Teil 5: Politische Rechte

zu beschränken569. Dabei bezog er die Vorschrift nicht allein auf das Verbot der Diskriminierung wegen der nationalen Herkunft in Art. 14 EMRK, sondern ebenfalls auf die Meinungsäußerung als Freiheitsrecht. Vorliegend kam es daher auch für die Prüfung von Art. 10 EMRK darauf an, ob die Bf. als Ausländerin i. S. d. Art. 16 EMRK anzusehen war. Diese Frage der Auslegung und Anwendung der Konvention wurde von EKMR und EGMR unter Einbeziehung europarechtlicher Aspekte im Ergebnis übereinstimmend verneint570. Sowohl in der ausführlichen Herleitung der EKMR als auch in den kurzen Ausführungen des EGMR stellten jeweils der Europaabgeordnetenstatus der Bf. und die Beteiligung der ÜLG an den Wahlen zum Europäischen Parlament tragende Argumente dar. Der EGMR verwies zusätzlich darauf, dass die Bf. die Staatsangehörigkeit eines „Mitgliedstaates der EU“ innehatte. Welches dieser Elemente letztlich ausschlaggebend für die Unanwendbarkeit von Art. 16 EMRK war, lässt sich dem Urteil dagegen nicht exakt entnehmen571. Besonders die Bezugnahme auf die EU, die als solche erst zeitlich nach den in Rede stehenden Sachverhaltsgeschehnissen gegründet wurde572, zeigt aber, dass es auch dem Gerichtshof auf eine zeitgemäße Konventionsauslegung ankam573, selbst wenn er dies anders als die EKMR nicht eigens erwähnt hat. Es ist daher nur konsequent, dass gegenwärtig in Anbetracht der mit der Unionsbürgerschaft eingeführten Rechte auf politische Mitwirkung in anderen Mitgliedstaaten574 nahezu einhellig davon ausgegangen wird, dass Unionsbürger innerhalb der gesamten EU nicht mehr als Ausländer i. S. d. Art. 16 EMRK qualifiziert werden können575. In den nicht zur EU gehörenden ÜLG, in denen Euro569

Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 647. Siehe o., II. 2., 3. b). 571 Vgl. R. Stock, InfAuslR 1996, 51 (51); Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, S. 541, Rn. 1774; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 356, Fn. 175; K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 342, Fn. 437; Kadelbach, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 642, Fn. 170; R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (391). 572 Vgl. auch Flauss, RTDH 1996, 364 (369). 573 Vgl. Tulkens, RUDH 2000, 50 (50): „première contribution de la Cour à la citoyenneté européenne“. 574 Siehe im einzelnen das für Unionsbürger in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat gewährleistete Europa- und Kommunalwahlrecht nach Maßgabe von Art. 20 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 lit. b i.V. m. Art. 22 AEUV. 575 Mensching, in: Karpenstein/Mayer, Art. 16 EMRK, Rn. 4 f.; Blanke, in: Merten/ Papier, HGR VI/1, § 142, Rn. 34; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18, Rn. 27, § 23, Rn. 58; Frowein, in: ders./Peukert, Art. 16 EMRK, Rn. 1; Giegerich, EuGRZ 2004, 758 (770 f.); Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 2, Rn. 61; Kadelbach, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 642; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, S. 541, Rn. 1774; Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 157 f.; K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 342; F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt, S. 356, Fn. 175; Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 7, Rn. 63; R. Stock, InfAuslR 1996, 51 (51); vgl. auch Harris/O’Boyle/Bates/ 570

B. Politische Betätigungsrechte und Art. 10 EMRK

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pawahlen stattfinden, gilt dies nach dem Piermont-Urteil jedenfalls für Mitglieder des Europäischen Parlaments. Darüber hinaus spricht viel dafür, dass auch die politische Betätigung von (ausländischen) Unionsbürgern ohne europäisches Abgeordnetenmandat in diesen ÜLG ohne Rücksicht auf Art. 16 EMRK dem Schutz der Konvention unterliegt. Denn echte demokratische Teilhabe an einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit, die dem Charakter des Europäischen Parlaments als Vertretung der Unionsbürger576 gerecht wird, lässt sich nur gewährleisten, wenn alle wahlberechtigten Unionsbürger in sämtlichen Wahlgebieten in einen offenen Meinungsaustausch über Themen der europäischen Politik treten können577. Im Kontext der supranationalen europäischen Integration erscheint demnach insgesamt eine möglichst restriktive Auslegung des Art. 16 EMRK angezeigt578. Dieser Ansatz steht auch mit der Dogmatik des Konventionsrechts in Einklang, da über den normativ geprägten Ausländerbegriff ohne weiteres europarechtliche Wertungen rezipierbar sind579. Zudem läuft Art. 16 EMRK als vorbehaltlose Ausnahmevorschrift dem menschenrechtlichen Schutzzweck der EMRK allgemein zuwider580 und hat in nachfolgenden Menschenrechtsschutzverträgen581 keine Entsprechung mehr gefunden582. Im übrigen können die in Art. 16 EMRK genannten Konventionsgarantien auch gegenüber Unionsbürgern immer noch auf herkömmliche Weise583 eingeschränkt werden584. 3. Schlussfolgerungen Mit dem Piermont-Urteil hat der EGMR die Stellung der EMRK als europäisches Verfassungsinstrument auch im Bereich der politischen Rechte gestärkt585. Buckley, S. 648; Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290 (333); R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (391); Flauss, RTDH 1996, 364 (368). 576 Siehe Art. 14 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 EUV sowie o., A. VI. 577 Vgl. Kokott/Rudolf, AJIL 90 (1996), 456 (458 f.); R. Stock, InfAuslR 1996, 51 (51). 578 Vgl. auch Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 1079; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 23, Rn. 58; R. Thienel, FS Öhlinger, 356 (391). 579 Vgl. Daiber, EuR 2007, 406 (410); sowie o., Teil 1, B. III. 580 Die Parlamentarische Versammlung des Europarates empfahl bereits 1977 die Abschaffung von Art. 16 EMRK; Empfehlung 799 (1977) über die politischen Rechte und die politische Stellung von Ausländern, YbECHR 20 (1977), 78 ff.; zustimmend Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 1081. 581 Hierzu zählen etwa der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, die Amerikanische Menschenrechtskonvention von 1969 und die Afrikanische (Banjul-)Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von 1981. 582 Kokott/Rudolf, AJIL 90 (1996), 456 (458); Mensching, in: Karpenstein/Mayer, Art. 16 EMRK, Rn. 1; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 2, Rn. 61. 583 Siehe Art. 10 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 2 EMRK sowie Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 14 EMRK, Rn. 12. 584 Flauss, RTDH 1996, 364 (371); Kokott/Rudolf, AJIL 90 (1996), 456 (459). 585 Vgl. Kokott/Rudolf, AJIL 90 (1996), 456 (458).

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Teil 5: Politische Rechte

Indem der Straßburger Gerichtshof insbesondere bei der Auslegung und Anwendung von Art. 16 EMRK auf die europarechtlichen Besonderheiten des Falles abstellte586, konnte Frankreich letztlich an seinen Verpflichtungen aus dem Europarecht festgehalten werden, die es mit der Einrichtung des Europäischen Parlaments und der Beteiligung der ÜLG an den Europawahlen eingegangen war587. Mit der Feststellung des Konventionsverstoßes wurde gleichzeitig die Verletzung der Vorlagepflicht zum EuGH indirekt sanktioniert. Denn trotz der verbliebenen Unsicherheiten bezüglich der Europarechtslage bestanden für den EGMR noch ausreichende Anknüpfungspunkte, um ein europarechtskonformes Ergebnis der menschenrechtlichen Prüfung zu erreichen. Eine erfolgreiche Durchsetzung des Europarechts über die EMRK ist unter Umständen also auch dann möglich, wenn sich der Gerichtshof lediglich an den wesentlichen Determinanten der europarechtlichen Vorgaben orientieren kann. Weiterhin wird die konventionsrechtliche Durchsetzbarkeit europarechtlich begründeter politischer Rechte infolge des Piermont-Urteils insofern begünstigt, als die entsprechenden Garantien der EMRK unabhängig vom Aufenthaltsstatus der betreffenden Personen Anwendung finden588. Den Mitgliedstaaten ist es damit verwehrt, durch die Verhängung von Einreiseverboten die politische Betätigung ausländischer Unionsbürger dem Schutz der EMRK zu entziehen. Vielmehr müssen sich eingreifende Maßnahmen der Mitgliedstaaten in jedem Fall an Art. 10 f. EMRK messen lassen, ohne dass es hierfür auf die Rechtslage nach Art. 2 ZP 4 ankommt. Festzuhalten bleibt insbesondere, dass Art. 10 EMRK auch die freie Wahl des Ortes der Meinungsäußerung einschließlich der grenzüberschreitenden Kommunikation umfasst589. Schließlich macht der Piermont-Fall deutlich, dass die politischen Freiheitsgarantien der Konvention zugunsten der Status- und Sonderrechte von Mitgliedern des Europäischen Parlaments herangezogen werden können. So lassen sich mitgliedstaatliche Eingriffe, die die allgemeine politische Betätigung der Parlamentarier und ggf. auch die ihnen im VBP eingeräumten Vorrechte590 beschränken, 586 Siehe Flauss, RTDH 1996, 364 (370): „,communautarisation‘ de l’interprétation et de l’application de la Convention européenne“; vgl. auch Cohen-Jonathan/Flauss, RUDH 1999, 253 (259, Fn. 31). 587 Vgl. De Schutter/L’Hoest, CDE 2000, 141 (205, Fn. 174), zum rechtsordnungsübergreifenden Aspekt des „estoppel“, hier in Gestalt des Verbots widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium). 588 Siehe zur Situation in Neukaledonien EGMR, Urt. v. 27.04.1995, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, Rn. 81; anders noch EKMR, Bericht v. 20.01.1994, Piermont ./. Frankreich, Ser. A Vol. 314, S. 35, Rn. 96; siehe dazu bereits o., II. 2., 3. b); vgl. ferner Flauss, RTDH 1996, 364 (371, 382 f.); Kadelbach, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 642, Fn. 170. 589 Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 153; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 4, S. 550, Rn. 1805; van Rijn, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 784. 590 Siehe o., III.

C. Parlamentarische Immunität und Art. 8 EMRK

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konventionsrechtlich sanktionieren. Beispielsweise steht Art. 10 EMRK nicht nur Freizügigkeitsbeschränkungen entgegen, die auf die Verhinderung einer Meinungsäußerung gerichtet sind, sondern kann gleichfalls gegenüber der Verletzung der parlamentarischen Indemnität geltend gemacht werden, etwa wenn wegen politischer Äußerungen strafrechtliche Maßnahmen ergriffen werden. Allgemein führt der EGMR bei Eingriffen in die Meinungsäußerungsfreiheit gewählter Volksvertreter sogar eine besonders strenge Kontrolle durch591. Trotz der durch den Schauplatz in den französischen Überseegebieten bedingten speziellen Umstände hat der Piermont-Fall somit universell neue Impulse für das Verständnis der politischen Garantien der EMRK und deren Verhältnis zum Europarecht gegeben. Aufgrund der Anerkennung der politischen Bedeutung des Europäischen Parlaments kann das Piermont-Urteil des EGMR sogar als Wegbereiter der späteren Matthews-Rechtsprechung angesehen werden, mit der diese Entwicklung durch die Qualifikation des Europäischen Parlaments als gesetzgebende Körperschaft i. S. d. Art. 3 ZP 1 fortgeschrieben wurde592.

C. Parlamentarische Immunität und Art. 8 EMRK: Marchiani ./. Frankreich (2008) Der vom EGMR 2008 abschließend entschiedene Fall Marchiani ./. Frankreich betrifft die Reichweite der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern des Europäischen Parlaments und wirft damit die Frage nach der Durchsetzbarkeit entsprechender Immunitätsrechte insbesondere über Art. 8 EMRK auf.

I. Sachverhalt und Ausgangsverfahren593 Der Bf. Jean-Charles Marchiani, ein französischer Staatsangehöriger, gehörte vom 20.07.1999 bis zum 19.07.2004 als Abgeordneter dem Europäischen Parlament an, nachdem er zuvor u. a. als französischer Präfekt tätig gewesen war. Seit Anfang der 2000er Jahre betrieben die französischen Strafverfolgungsbehörden jeweils unter der Leitung desselben Untersuchungsrichters insgesamt vier Ermittlungsverfahren gegen den Bf. wegen Verdachts der Vorteilsannahme (trafic d’influence) sowie der Beihilfe zur Untreue (recel d’abus de biens sociaux) und zum illegalen Waffenhandel (recel du produit du commerce illicite d’armes), u. a. im Zusammenhang mit Waffenlieferungen nach Afrika und der Auftragsvergabe an

591

Siehe o., II. 3. b); sowie Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 29. Siehe o., A. IV. 3. b); sowie Gundel, FS Scheuing, 58 (64). 593 Ausführlich EGMR, Entsch. v. 24.01.2006, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 1 ff.; EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 2 ff. 592

554

Teil 5: Politische Rechte

Pariser Flughäfen. Im Frühjahr 2003 wurden dem Präsidenten des Europäischen Parlaments zwei Berichte des zuständigen Generalstaatsanwalts mit der Bitte um Aufhebung der parlamentarischen Immunität des Bf. übermittelt, die die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Flucht- und Verdunkelungsgefahr ermöglichen sollte. Nachdem bald darauf eine französische Tageszeitung über den Fall berichtet und dabei Auszüge aus den Beschlüssen des Untersuchungsrichters wiedergegeben hatte, lehnte der Ausschuss für Recht und Binnenmarkt des Europäischen Parlaments den Antrag auf Immunitätsaufhebung im November 2003 einstimmig ab, da eine tendenziöse Strafverfolgung (fumus persecutionis)594 nicht auszuschließen sei. Am 14.06.2004 ordnete der Untersuchungsrichter eine viermonatige Telefonüberwachung des Wohnungsanschlusses des Bf. sowie des Mobiltelefons seiner Ehefrau an. Die Überwachung und das Abgeordnetenmandat des Bf. überlappten sich damit für rund einen Monat. Vom 02.08.2004 bis zum 18.02.2005 wurde der Bf. dann in Untersuchungshaft genommen. Der Bf. erhob am 13.08.2004 unter Berufung auf sein früheres europäisches Abgeordnetenmandat Nichtigkeitsklage gegen die Anordnung der Telefonüberwachung, die nach Art. 100-7 Abs. 1 Code de procédure pénale (CPP) gegenüber Abgeordneten nur nach Information des Präsidenten des betreffenden parlamentarischen Organs zulässig sei, und regte u. a. die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH an. Die zuständige Untersuchungskammer (chambre de l’instruction) der Cour d’appel Paris erklärte daraufhin am 08.12. 2004 die während der Mandatszeit (also vom 14.06.2004 bis zum 19.07.2004) gegen den Wohnungsanschluss des Bf. gerichteten Überwachungsmaßnahmen für nichtig. Am 16.03.2005 hob die Cour de cassation als Revisionsgericht diese Nichtigerklärung dann schließlich wieder auf, da keine rechtlichen Anhaltspunkte für die Anwendbarkeit von Art. 100-7 Abs. 1 CPP auf Europaabgeordnete beständen; ein Vorabentscheidungsverfahren wurde nicht eingeleitet. Das Europäische Parlament beschloss am 05.07.2005, die Immunität und die Vorrechte seines früheren Mitglieds zu verteidigen, und forderte die Aufhebung des Urteils der Cour de cassation, das unter Missachtung von Art. 10 (jetzt Art. 9) VBP595 ergangen sei. Gleichzeitig ersuchte das Parlament die EU-Kommission, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich wegen Verletzung des primären Gemeinschaftsrechts anzustrengen, was diese jedoch am 04.08. 2006 ablehnte.

594

Hierzu Schultz-Bleis, S. 111 ff.; Sieglerschmidt, EuGRZ 1986, 445 (450). Urspr. Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Gemeinschaften v. 08.04.1965, ABl. 152 v. 13.07.1967, S. 13; jetzt Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union, ABl. Nr. C 202 v. 07.06.2016, S. 266. Siehe bereits o., B. III. 595

C. Parlamentarische Immunität und Art. 8 EMRK

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Im Frühjahr 2005 kam es in zwei der laufenden Strafverfahren zur Anklageerhebung gegen den Bf. vor dem Tribunal de grande instance Paris. Den Antrag des Bf., eine Vorlage zur Auslegung von Art. 10 (jetzt Art. 9) VBP an den EuGH zu richten, wies das Gericht zurück, da hierfür angesichts der Rechtsprechung der Cour de cassation keine Notwendigkeit bestehe. Nachfolgend wurde der Bf. jeweils zu mehrjährigen Haft- und hohen Geldstrafen verurteilt.

II. Ablauf des Verfahrens vor dem EGMR Der Bf. erhob am 08.09.2003 Menschenrechtsbeschwerde vor dem EGMR, mit der er die Verletzung von Art. 5 EMRK wegen ungerechtfertigter Untersuchungshaft sowie verschiedene Verstöße gegen Art. 6 EMRK rügte, die sich u. a. auf die Fairness des Verfahrens, die Unschuldsvermutung und die behördlichen Informationspflichten bezogen596. In der Folgezeit ergänzte er dieses Vorbringen weiter und machte zudem einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK durch die Telefonüberwachung geltend597. Die Überwachungsmaßnahmen seien rechtswidrig gewesen, da ihm aufgrund von Art. 10 (jetzt Art. 9) VBP bis zum Ende seines Mandats der Schutz aus Art. 100-7 CPP zugestanden habe. In seiner ersten Zulässigkeitsentscheidung vom 24.01.2006 erklärte der EGMR einstimmig sämtliche Rügen, die nicht Art. 8 EMRK oder die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 1, 2 EMRK betrafen, entweder wegen Fehlens einer endgültigen innerstaatlichen Entscheidung oder wegen Verfristung für unzulässig598. Am 27.05.2008 entschied der Gerichtshof dann abschließend über die Zulässigkeit der übrigen Rügen und befand, dass der Bf. die im französischen Recht zur Durchsetzung der Unschuldsvermutung vorgesehenen Rechtsschutzmöglichkeiten nicht ausgeschöpft habe, so dass die betreffende Rüge gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK unzulässig sei599. Einzig die Telefonüberwachung, der in besonderem Maße europarechtliche Relevanz zukommt600, war somit Gegenstand einer weitergehenden inhaltlichen Überprüfung am Maßstab der EMRK601. 596 Siehe EGMR, Entsch. v. 24.01.2006, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 14 f.; EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 15. 597 Anträge vom 06.02.2004, 02.08.2005 und 24.11.2005; siehe EGMR, Entsch. v. 24.01.2006, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 15 f.; EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 15. 598 EGMR, Entsch. v. 24.01.2006, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 16 ff. 599 EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 16 ff. 600 Siehe u., III. 601 EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 19 ff., 22 ff.; siehe u., IV.

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Teil 5: Politische Rechte

III. Europarechtliche Dimension 1. Grundlagen und Problemstellung In Bezug auf das Europarecht stellt sich im Marchiani-Fall v. a. die Frage nach dem Umfang der parlamentarischen Immunität, die den Europaabgeordneten durch Art. 343 S. 1 AEUV (früher Art. 291 S. 1 EGV), Art. 6 Abs. 2 DWA i.V. m. Art. 9 (früher Art. 10) VBP „[w]ährend der Dauer der Sitzungsperiode“ eingeräumt wird. Gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a VBP steht den Mitgliedern des Europäischen Parlaments im Hoheitsgebiet ihres eigenen Staates die dort den Parlamentsmitgliedern zuerkannte Unverletzlichkeit zu. Da damit der jeweilige nationale Immunitätsstandard übernommen wird, ist der Schutz der Europaabgeordneten also in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich602, was aber aufgrund der erwarteten Widerstände gegen eine einheitliche Regelung hingenommen wurde603. Im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaates, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, können die Europaparlamentarier nach Art. 9 Abs. 1 lit. b VBP weder festgehalten noch gerichtlich verfolgt werden. Ihre Immunität während der Reise zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments ist subsidiär durch Art. 9 Abs. 2 VBP geschützt604. Die Immunität erstreckt sich jeweils auch auf Verfahren, die Vorgänge vor Mandatsbeginn betreffen605, und ist während der gesamten Wahlperiode von fünf Jahren wirksam, die sich aus den jährlichen Sitzungsperioden zusammensetzt606. Nach Aufhebung durch das Europäische Parlament607 oder bei Ergreifung auf frischer Tat kann dagegen keine Immunität geltend gemacht werden (Art. 9 Abs. 3 VBP). Bei der Anwendung des VBP handeln europäische Organe und mitgliedstaatliche Behörden nach Art. 18 (früher Art. 19) VBP im gegenseitigen Einvernehmen. 602 GA Darmon, Schlussanträge v. 03.06.1986 in der Rs. 149/85, Wybot ./. Faure, Slg. 1986, 2391, Rn. 8; Fleuter, S. 112; Eickhoff, S. 112; Böttger, EuR 2002, 898 (907); Uppenbrink, S. 61, 69 f.; Bieber, EuR 1981, 124 (130); Streinz/Steinle, Art. 343 AEUV, Rn. 19. 603 Streinz/Steinle, Art. 343 AEUV, Rn. 19; Schultz-Bleis, S. 36 f. Reformbestrebungen zur Schaffung einer uniformen europäischen Immunität sind schon wegen der damit erreichbaren Gleichbehandlung aller Mitglieder des Europäischen Parlaments zu begrüßen, bislang aber leider erfolglos geblieben; hierzu Eickhoff, S. 113; Fleuter, S. 114 ff.; Schultz-Bleis, S. 40, Fn. 124; Sieglerschmidt, EuGRZ 1986, 445 (451 f.). 604 Näher Schultz-Bleis, S. 43 f. 605 Eickhoff, S. 110; Schultz-Bleis, S. 100; Uppenbrink, S. 63. 606 Vgl. Art. 229 AEUV, Art. 133 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (ABl. Nr. L 116 v. 05.05.2011, S. 1); EuGH, Urt. v. 10.07.1986, Wybot ./. Faure, Rs. 149/85, Slg. 1986, 2391, Rn. 15 ff., 27; Eickhoff, S. 111; Schultz-Bleis, S. 27 ff., 102; Uppenbrink, S. 62 f.; Böttger, EuR 2002, 898 (908); Cl. Schmidt, CDE 1991, 67 (77 f.). 607 Vgl. Art. 6 f. der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (a. a. O.); hierzu Eickhoff, S. 114 ff.

C. Parlamentarische Immunität und Art. 8 EMRK

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Die streitgegenständliche Telefonüberwachung in Frankreich erfolgte im Heimatstaat des Bf. und zumindest teilweise während seiner Mitgliedschaft im Europäischen Parlament, so dass vorliegend der damalige Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. a VBP einschlägig ist. Die von Art. 100-7 CPP608 jedenfalls für Überwachungsmaßnahmen gegen Abgeordnete des französischen Parlaments zwingend vorgeschriebene Information des Parlamentspräsidenten durch den Untersuchungsrichter fand jedoch nicht statt. Für die europarechtliche Beurteilung kommt es daher darauf an, ob der in Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. a VBP verwendete Begriff der Unverletzlichkeit so auszulegen ist, dass er diese Informationspflicht einschließt. Bejahendenfalls müsste Art. 100-7 CPP dann nämlich auch auf Europaabgeordnete Anwendung finden. 2. Positionen der Verfahrensbeteiligten Im Verfahren vor dem EGMR lagen die diesbezüglich vertretenen Standpunkte weit auseinander609. Der Bf. trug vor, dass die Europaabgeordneten in gleicher Form wie die nationalen Parlamentarier durch Art. 100-7 CPP zu schützen seien. Der Präsident des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments befürwortete als Drittintervenient eine europarechtsautonome Auslegung des Begriffs der Unverletzlichkeit in Übereinstimmung mit Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. b VBP, in dessen Rahmen auch die Einleitung eines Strafverfahrens und untersuchungsrichterliche Maßnahmen als verbotene gerichtliche Verfolgung qualifiziert werden610. Jede Begünstigung, die den nationalen Abgeordneten im innerstaatlichen Recht gewährt werde, um die freie und unabhängige Ausübung ihrer Funktionen sicherzustellen, sei als Unverletzlichkeit i. S. d. VBP auf die Mitglieder des Europäischen Parlaments anzuwenden. Allerdings verfüge das Europäische Parlament selbst über kein Rechtsmittel, um die Immunität seiner Mitglieder durchzusetzen. Die französische Regierung hielt eine Anwendung von Art. 100-7 CPP auf Europaabgeordnete hingegen für europarechtswidrig, da die Immunität in Art. 26 frz. Verf. abschließend geregelt sei und Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. a VBP auf das nationale Recht verweise; jedenfalls sei der Immunitätsbegriff identisch. Zudem stelle die Informationspflicht in Art. 100-7 CPP eine bloße Formalität dar und stehe einer Telefonüberwachung nicht immunitätsgleich entgegen. Ein verfassungsrechtliches Prinzip der Gleichheit von französischen und europäischen 608 Art. 100-7 CPP lautet in der frz. Originalfassung: „Aucune interception ne peut avoir lieu sur la ligne d’un député ou d’un sénateur sans que le président de l’assemblée à laquelle il appartient en soit informé par le juge d’instruction. [. . .] Les formalités prévues par le présent article sont prescrites à peine de nullité.“ 609 Zum Folgenden EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 20 ff. 610 Eickhoff, S. 110; Uppenbrink, S. 61; vgl. auch Fleuter, S. 112; Schultz-Bleis, S. 41 ff.

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Teil 5: Politische Rechte

Parlamentariern existiere nicht. Im übrigen bezog sich die Regierung auf eine parlamentarische Stellungnahme des EU-Kommissionspräsidenten, der sich aufgrund des Immunitätsbegriffs des französischen Rechts ebenfalls gegen die Heranziehung von Art. 100-7 CPP ausgesprochen hatte. 3. Unklarheit der Europarechtslage Aus der Rechtsprechung des EuGH, dem die endgültige Entscheidung über die Auslegung von Art. 9 (früher Art. 10) Abs. 1 lit. a VBP vorbehalten ist611, lässt sich bislang keine eindeutige Antwort ableiten. Denn der Luxemburger Gerichtshof hat einerseits die Notwendigkeit europarechtsautonomer Auslegung des VBP betont, andererseits aber Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. a VBP bezüglich des sachlichen Umfangs der Immunität als Verweisung auf das nationale Recht gedeutet612. Hieraus ergibt sich jedoch nicht, inwiefern ein Mitgliedstaat berechtigt ist, den Status nationaler und europäischer Abgeordneter unterschiedlich zu regeln. Aus teleologischer Sicht ist zu berücksichtigen, dass das VBP den Schutz der Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der EU und insbesondere des Europäischen Parlaments bezweckt613. Diesem Ziel entspräche am besten eine europarechtsautonome Definition des Immunitätsbegriffs. Denn die Bezugnahme des VBP auf die nationalen Rechtsordnungen drohte großenteils leerzulaufen, wenn die Mitgliedstaaten die den nationalen Parlamentariern eingeräumten Vorrechte den Europaabgeordneten als angeblich nicht immunitätsrelevant vorenthalten dürften. Die in Art. 100-7 CPP statuierte Pflicht zur Information des Parlamentspräsidenten entfaltet zwar eine geringere Schutzwirkung als etwa ein Zustimmungserfordernis, ist aber gleichwohl geeignet, die Transparenz der Überwachungsmaßnahmen zu erhöhen und missbräuchliche Strafverfolgung zu erschweren. Damit dient sie letztlich der Sicherstellung der freien und unabhängigen politischen Tätigkeit der Parlamentarier i. S. d. VBP. Gegen einen bloß formalen Charakter der Informationspflicht spricht schon die Entscheidung des französischen Gesetzgebers selbst, ihre Missachtung mit einer absoluten Nichtigkeitssanktion zu belegen. Darüber hinaus bildet die Information des jeweiligen europäischen Organs durch die nationalen Stellen einen wesentlichen Bestandteil

611

Vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV; sowie o., Teil 2, A. I. 1., 2. a). EuGH, Urt. v. 10.07.1986, Wybot ./. Faure, Rs. 149/85, Slg. 1986, 2391, Rn. 11 ff. 613 Präsident des EuG, Beschl. v. 02.05.2000, Rothley et al. ./. Europäisches Parlament, Rs. T-17/00 R, Slg. 2000, II-2085, Rn. 89 f.; Eickhoff, S. 114; Schultz-Bleis, S. 92, 100; Schwarze/Schoo, Art. 223 AEUV, Rn. 10; Thym, EuR 2000, 990 (993 ff.); Uppenbrink, S. 65; vgl. auch allgemein EuGH, Urt. v. 15.09.1981, Lord Bruce of Donington ./. Aspden, Rs. 208/80, Slg. 1981, 2205, Rn. 14; Bieber, Verfahrensrecht, S. 155. 612

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der nach Art. 4 Abs. 3 EUV (vgl. früher Art. 10 EGV) i.V. m. Art. 18 (früher Art. 19) VBP gebotenen einvernehmlichen Kooperation bei der Anwendung des VBP614. Es erscheint demnach insgesamt vorzugswürdig, Informationspflichten wie in Art. 100-7 CPP ebenfalls dem Immunitätsbegriff des Art. 9 Abs. 1 lit. a VBP zu unterstellen. Jedenfalls fehlt es angesichts der gegensätzlichen Auffassungen auch der beteiligten Gemeinschaftsorgane an einer hinreichend klaren Rechtslage im Europarecht. Damit durfte im Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Telefonüberwachung die Cour de cassation als letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) ihre eigene Rechtsauffassung nicht für unzweifelhaft halten und war folglich verpflichtet, hinsichtlich der Auslegung von Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. a VBP ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH einzuleiten. Diese Vorlagepflicht wurde hier zum Nachteil des Bf. verletzt. In den separaten Strafprozessen bestand für das Tribunal de grande instance Paris hingegen mangels Letztinstanzlichkeit keine Pflicht zur Einschaltung des EuGH.

IV. Prüfung durch den EGMR anhand von Art. 8 EMRK In seiner Zulässigkeitsentscheidung vom 27.05.2008615 qualifizierte der EGMR die Überwachungsmaßnahmen als klaren Eingriff in die Rechte aus Art. 8 EMRK, da die telefonische Kommunikation von den Schutzgütern des Privatlebens und der Korrespondenz umfasst werde616. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK bezog sich der Gerichtshof zunächst auf das Erfordernis der innerstaatlichen Rechtsgrundlage, die für die betroffene Person zugänglich, hinsichtlich ihrer Konsequenzen hinreichend vorhersehbar und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar („compatibilité avec la prééminence du droit“) sein müsse617. Das Kriterium der Vorhersehbarkeit verlange, dass das innerstaatliche Recht vor willkürlichen Eingriffen in Art. 8 EMRK Schutz biete. Dafür sei der Gesetzestext so klar zu formulieren, dass die Betroffenen die Voraussetzungen behördlicher Überwachungsmaßnahmen einschätzen könnten. 614 Vgl. zur Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit EuGH (GK), Urt. v. 21.10.2008, Marra, verb. Rs. C-200/07 und C-201/07, Slg. 2008, I-7929, Rn. 41 ff.; Cl. Schmidt, CDE 1991, 67 (95). 615 Vgl. schon o., II. 616 EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 22 f.; unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 02.08.1984, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 82, Rn. 64; EGMR, Urt. v. 24.04.1990, Kruslin ./. Frankreich, Ser. A Vol. 176-A, Rn. 26; EGMR, Urt. v. 24.04.1990, Huvig ./. Frankreich, Ser. A Vol. 176-B, Rn. 25; EGMR, Urt. v. 25.06.1997, Halford ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1997-III, Rn. 48; EGMR, Urt. v. 25.03.1998, Kopp ./. Schweiz, Rep. 1998II, Rn. 53. 617 Hierzu EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 23 ff.

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Teil 5: Politische Rechte

In Bezug auf Art. 100 ff. CPP sah der EGMR diese Anforderungen grundsätzlich als erfüllt an, ging dann aber auf die umstrittene Frage der Anwendbarkeit von Art. 100-7 CPP auf Mitglieder des Europäischen Parlaments ein618. Hierzu wies er darauf hin, dass die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts auch im Falle einer Verweisung auf internationale Rechtsquellen zuvörderst den nationalen Stellen obliege619. Desgleichen seien die gerichtlichen Organe der (Europäischen) Gemeinschaft besser geeignet, das Gemeinschaftsrecht auszulegen und anzuwenden. Seine eigene Funktion begrenzte der EGMR jeweils darauf, die Vereinbarkeit der Wirkungen derartiger Entscheidungen mit der Konvention zu überprüfen620. Es stehe ihm daher grundsätzlich nicht zu, der Einschätzung der Cour de cassation zum Anwendungsbereich von Art. 100-7 CPP und zum Wesen der dort vorgesehenen Maßnahmen zu widersprechen, wenn wie hier keine offensichtlich willkürliche Auslegung vorliege. Im folgenden führte der EGMR aus, dass Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. a VBP mangels eines einheitlichen Rahmens für das Immunitätsregime des Europäischen Parlaments auf die nationalen Rechtsordnungen verweise621. Nach französischem Immunitätsrecht seien die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen sowie die Durchführung von Untersuchungs- und Überwachungsmaßnahmen gegen einen Abgeordneten aber zulässig, soweit sie nicht Äußerungen oder Abstimmungen in Ausübung des Mandats beträfen622. Zu Art. 100-7 CPP vertrat der EGMR ebenso wie die Cour de cassation die Auffassung, dass sich die Norm allein auf nationale Abgeordnete beziehe und somit nicht auf Mitglieder des Europäischen Parlaments angewendet werden könne623. Die angeordnete Nichtigkeitsfolge bei Zuwiderhandlung erfordere generell ein restriktives Verständnis der Vorschrift. Außerdem werde Art. 100-7 CPP in keiner gemeinschaftsrechtlichen Entscheidung und in keinem Urteil eines Gemeinschaftsgerichts in der vom Bf. vorgeschlagenen extensiven Weise ausgelegt, wie auch die Erklärung des EU-Kommissionspräsidenten624 als besonders berechtigter Persönlichkeit deutlich mache. Die

618

EGMR, a. a. O., S. 23 f. EGMR, a. a. O., S. 24. 620 Ebenda; mutatis mutandis unter Verweis auf EGMR, Urt. v. 02.08.1984, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 82, Rn. 79; EGMR, Urt. v. 24.04.1990, Kruslin ./. Frankreich, Ser. A Vol. 176-A, Rn. 28 f.; EGMR, Urt. v. 24.04.1990, Huvig ./. Frankreich, Ser. A Vol. 176-B, Rn. 28; EGMR (GK), Urt. v. 18.02.1999, Waite und Kennedy ./. Deutschland, Rep. 1999-I (= EuGRZ 1999, 207), Rn. 54; EGMR (GK), Urt. v. 30.06.2005, Bosphorus Hava Yolları Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi ./. Irland, Rep. 2005-VI, Rn. 143. 621 EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 24. 622 Vgl. Art. 26 frz. Verf. 623 EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 24 f. 624 Siehe o., III. 2. 619

C. Parlamentarische Immunität und Art. 8 EMRK

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Nichtanwendung von Art. 100-7 CPP auf den Bf. stelle mithin weder die rechtliche Grundlage der Telefonüberwachung noch die erforderliche Gesetzesqualität in Frage. Der Gerichtshof hielt die getroffenen Maßnahmen daher für gesetzlich vorgesehen i. S. d. Art. 8 Abs. 2 EMRK625. Als weitere Rechtfertigungsvoraussetzungen untersuchte der EGMR, ob der Eingriff zur Verfolgung eines legitimen Ziels in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war626. Die Telefonüberwachung, die der Wahrheitsfindung in einem strafrechtlichen Verfahren gedient habe, ordnete er dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung zu. Im Hinblick auf die Notwendigkeit des Eingriffs betonte der Gerichtshof die Bedeutung effektiver Verfahren zur Kontrolle der staatlichen Maßnahmen. Der insoweit erforderliche Standard sei vorliegend gewährleistet gewesen, weil gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung gestanden habe, die Telefonüberwachung unter richterlicher Aufsicht erfolgt sei und die zugehörigen gesetzlichen Vorschriften ihrerseits der EMRK genügten. Zu Umfang, Dauer, Rahmen und Verwendung der Überwachungsmaßnahmen habe der Bf. keine Anhaltspunkte für einen unverhältnismäßigen Eingriff vorgetragen. Da folglich keine Konventionsverletzung feststellbar sei, erklärte der EGMR den verbliebenen Teil der Beschwerde schließlich wegen offensichtlicher Unbegründetheit für unzulässig627.

V. Konventionsrechtliche Bewertung und Folgen Anhand der Marchiani-Rechtsprechung des EGMR wird zunächst deutlich, dass das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK potentiell Schutz vor strafverfahrensrechtlichen Maßnahmen bietet, die unter Verstoß gegen die parlamentarische Immunität von Mitgliedern des Europäischen Parlaments ergriffen werden. Sofern wie im Fall der Telefonüberwachung ein Eingriff unproblematisch bejaht werden kann, kommt der Rechtfertigungsprüfung eine entscheidende Bedeutung für die konventionsrechtliche Beurteilung zu628. 1. Gesetzesqualität der Eingriffsgrundlage Besonderes Augenmerk ist dabei auf die konventionsrechtlichen Anforderungen zu legen, die an die innerstaatliche Rechtsgrundlage des Eingriffs gestellt werden. Vorliegend hat sich der EGMR nicht direkt dazu geäußert, ob einer erkennbar europarechtswidrigen Rechtsgrundlage die nach Art. 8 Abs. 2 EMRK erforderliche Gesetzesqualität zu versagen ist. Dafür spricht jedenfalls das eigens 625 EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 25. 626 EGMR, a. a. O., S. 25 f. 627 EGMR, a. a. O., S. 26. 628 Vgl. schon o., Teil 3, A. I. 5. b), und Teil 4, B. I. 3. b) bb), II. 4.

562

Teil 5: Politische Rechte

erwähnte Kriterium, dass das jeweilige nationale Gesetz rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen müsse629. An dieser Voraussetzung dürfte es bei umfassender Betrachtung nämlich zumindest dann fehlen, wenn ein nachweisbarer oder gar offenkundiger Widerspruch zu supranationalen Vorgaben gegeben ist, der zur Unanwendbarkeit des jeweiligen nationalen Gesetzes führt630. Im Marchiani-Fall war die Ausgangslage indes komplizierter. Denn hier bestand bereits über den Inhalt des Europarechts in Gestalt von Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. a VBP Unklarheit631, die ihrerseits geeignet war, die hinreichende Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit von Art. 100-7 CPP bezüglich seiner Anwendbarkeit auf Europaabgeordnete in Frage zu stellen. Der Umgang des EGMR mit dieser Situation632 erscheint widersprüchlich. Einerseits übte der Straßburger Gerichtshof dadurch Zurückhaltung, dass er auf die vorrangige Zuständigkeit der europäischen und nationalen Gerichte verwies und seinen Prüfungsumfang auf offensichtliche Willkür beschränkte. Andererseits nahm er gleich darauf eine selbstständige Analyse verschiedener Aspekte des Europarechts und des französischen Rechts vor, um gerade das Fehlen offensichtlicher Willkür zu begründen. Dabei bezog sich der EGMR im Hinblick auf das VBP nur selektiv auf die Rechtsprechung des EuGH, indem er die Verweisung auf das nationale Recht hervorhob, aber nicht auf das Gebot europarechtsautonomer Auslegung einging633. Hier wird bereits eine eigenmächtige Deutung des Europarechts erkennbar, die in die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH übergreift634. Dieser Ansatz des EGMR hatte zur Folge, dass die weitere Argumentation vornehmlich an der französischen Rechtslage ausgerichtet war. Besonders augenfällig wird dies in der Feststellung des EGMR, dass es keine gemeinschaftsrechtliche Rechtsprechung gebe, die Art. 100-7 CPP weit auslege635. Da die europäischen Gerichte nicht für die Auslegung nationalen Rechts zuständig sind, wäre insoweit vielmehr auf Art. 10 (jetzt Art. 9) Abs. 1 lit. a VBP als maßgebliche eu629

Siehe o., IV. Siehe bereits grundlegend o., Teil 1, B. III., sowie Teil 3, A. I. 5. b), und u., D. V. 2.; im Ergebnis ebenso Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Art. 8, Rn. 103; Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, Art. 8 EMRK, Rn. 91. Vgl. umgekehrt auch EGMR, Urt. v. 26.02.2009, Grifhorst ./. Frankreich, Nr. 28336/02, Rn. 90 f., mit Bestätigung der Gesetzesqualität der Eingriffsgrundlage unter Rückgriff auf die Rechtsprechung des EuGH; hierzu Michl, Überprüfung, S. 30. 631 Siehe o., III. 3. 632 Siehe o., IV. 633 EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 24 f.; siehe o., IV. 634 Siehe Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, Art. 267 Abs. 1 AEUV sowie bereits o., Teil 2, A. I. 1., 2. a), und Teil 3, A. I. 5. d). 635 EGMR, endg. Entsch. v. 27.05.2008, Marchiani ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 30392/03, pdf-Dok. S. 24 f.; siehe o., IV. 630

C. Parlamentarische Immunität und Art. 8 EMRK

563

roparechtliche Bezugsnorm abzustellen gewesen. Methodisch fragwürdig stützte sich der EGMR schließlich auch auf die Rechtsauffassung des EU-Kommissionspräsidenten als „besonders autorisierter Persönlichkeit“ 636, obwohl dieser seinerseits über keine Befugnis zur verbindlichen Auslegung des Europarechts verfügt. Es lässt sich somit festhalten, dass der Straßburger Gerichtshof bei seinem Versuch, die Europarechtslage in Eigenregie zu ergründen, wiederholt mit der europarechtlichen Dogmatik gebrochen und zudem seinen eigenen restriktiven Prüfungsansatz konterkariert hat. Zwar konnte der EGMR aufzeigen, dass die Rechtsauffassung der Cour de cassation zumindest inhaltlich vertretbar und damit nicht offenkundig willkürlich war. Zur verbindlichen Klärung der Europarechtslage trug dies freilich nichts bei, da es diesbezüglich allein auf die Einschätzung des EuGH ankommt. Die insoweit verbleibende Unklarheit ließ den EGMR jedoch nicht an der Gesetzesqualität von Art. 100-7 CPP zweifeln, obgleich bei weitreichenden Eingriffen wie der Telefonüberwachung üblicherweise ein strenger konventionsrechtlicher Maßstab angelegt wird637. Die zugehörigen französischen Ermächtigungsnormen waren vom EGMR allerdings schon zuvor für allgemein hinreichend bestimmt erklärt worden638, und die hier in Rede stehende Informationspflicht gegenüber dem Parlamentspräsidenten betraf nicht die eigentliche Durchführung der Überwachungsmaßnahmen selbst. Diese Umstände könnten ebenfalls dazu beigetragen haben, dass die noch offene europarechtliche Fragestellung nicht zu einer Beanstandung der französischen Gesetzesgrundlage durch den EGMR geführt hat. 2. Insbesondere: Sanktionierbarkeit des Verstoßes gegen die Vorlagepflicht Mit der Marchiani-Entscheidung von 2008 wurde somit auch keine Sanktionierung des Vorlagepflichtverstoßes der Cour de cassation erreicht, der hier für die fortwährende Uneindeutigkeit der Europarechtslage ursächlich war639, aber im Menschenrechtsbeschwerdeverfahren weder vom Bf. gerügt noch vom EGMR proprio motu thematisiert wurde.

636

Siehe EGMR, a. a. O., S. 25: „personnalité particulièrement autorisée“. Im einzelnen EGMR, Urt. v. 24.04.1990, Kruslin ./. Frankreich, Ser. A Vol. 176A, Rn. 30 ff.; EGMR, Urt. v. 24.04.1990, Huvig ./. Frankreich, Ser. A Vol. 176-B, Rn. 29 ff.; EGMR, Urt. v. 25.03.1998, Kopp ./. Schweiz, Rep. 1998-II, Rn. 64, 72 ff.; EGMR (GK), Urt. v. 16.02.2000, Amann ./. Schweiz, Rep. 2000-II, Rn. 52 ff.; EGMR, Urt. v. 18.02.2003, Prado Bugallo ./. Spanien, Nr. 58496/00, Rn. 30 ff.; Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 22, Rn. 38 f.; Harris/O’Boyle/Bates/Buckley, S. 346, 400 ff.; Arai, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, S. 338. 638 Siehe EGMR, Urt. v. 24.08.1998, Lambert ./. Frankreich, Rep. 1998-V, Rn. 24 ff., 28. 639 Siehe schon o., III. 3. 637

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Teil 5: Politische Rechte

Im Rahmen von Art. 8 EMRK wäre eine Berücksichtigung der Vorlagepflichtverletzung wiederum bei der Prüfung der Gesetzesqualität der Eingriffsgrundlage in Betracht gekommen. Denn deren Anwendungsbereich bleibt unklar, solange der EuGH die europarechtlichen Vorfragen nicht beantwortet hat640. Auf der Basis der bisherigen Rechtsprechung des EGMR ist es jedoch nicht möglich, von der Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht zwingend darauf zu schließen, dass der nationalen Eingriffsgrundlage die hinreichende Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit fehlen. Die Europarechtslage ist nämlich schon als unklar anzusehen, wenn kein acte éclairé oder acte clair vorliegt641. Der EGMR verneint hingegen die Gesetzesqualität erst, wenn die betreffenden Normen willkürliche Eingriffe ermöglichen642 oder von den nationalen Gerichten offensichtlich willkürlich ausgelegt wurden643. Letzteres ist auch darauf zurückzuführen, dass die EMRK keine absolute Vorhersehbarkeit des Gesetzes fordert, sondern verbleibende Auslegungsfragen vielmehr gerichtlich beantwortet werden sollen644. So zielen die an ein nationales Gesetz gestellten konventionsrechtlichen Anforderungen darauf ab, den Einzelnen vor Willkür der Exekutivorgane zu schützen und die demokratische Rückbindung des Eingriffs an einen vom Parlament beschlossenen Rechtsakt zu gewährleisten645. Hingegen dient der Gesetzesvorbehalt der EMRK nicht ohne weiteres der Einhaltung staatsorganisationsrechtlicher Regeln wie der Zuständigkeitsverteilung unter verschiedenen Gerichten646, so dass es umso schwieriger erscheint, ihn zur Wahrung des Monopols verbindlicher Europarechtsauslegung des EuGH heranzuziehen. Maßstab und Umfang der vom EGMR in diesem Kontext durchgeführten Kontrolle sind weitgehend auf die Verhältnisse nationaler Gesetzgebung und Rechtsprechung ausgerichtet und daher kaum zur Durchsetzung verfahrensrechtlicher Vorgaben supranationalen Ursprungs geeignet. Auch bei Missachtung der Vorlagepflicht wird demnach nur dann ein Wegfall der Gesetzesqualität der nationalen Eingriffsgrundlage wegen 640

Siehe o., 1. Siehe o., Teil 2, A. II. 1. b). 642 EGMR, Urt. v. 12.01.2010, Gillan und Quinton ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2010, Nr. 4158/05, Rn. 76 ff.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 02.08.1984, Malone ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 82, Rn. 79; Pätzold, in: Karpenstein/Mayer, Art. 8 EMRK, Rn. 95. 643 Siehe o., IV.; vgl. auch EGMR, Urt. v. 25.03.1985, Barthold ./. Deutschland, Ser. A Vol. 90, Rn. 48; EGMR, Entsch. v. 29.06.2006, Weber und Saravia ./. Deutschland, Rep. 2006-XI, Rn. 90; Grabenwarter/Marauhn, in: Grote/Marauhn, Kap. 7, Rn. 31; Frowein, in: ders./Peukert, Vorbem. zu Art. 8-11 EMRK, Rn. 8. 644 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: dies./von Raumer, EMRK, Art. 8, Rn. 105; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18, Rn. 11; Grabenwarter/Marauhn, in: Grote/Marauhn, Kap. 7, Rn. 28 ff. 645 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18, Rn. 7, 9; Frowein, in: ders./Peukert, Vorbem. zu Art. 8–11 EMRK, Rn. 2; Schilling, AVR 44 (2006), 57 (60 f.). 646 Vgl. Grabenwarter/Marauhn, in: Grote/Marauhn, Kap. 7, Rn. 22 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18, Rn. 7. 641

C. Parlamentarische Immunität und Art. 8 EMRK

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mangelnder Vorhersehbarkeit anzunehmen sein, wenn das nationale Gericht zu einer inhaltlich unvertretbaren Lösung gelangt647. Bei einer uneindeutigen Europarechtslage, die unterschiedliche Interpretationen zulässt, stößt somit die indirekte Sanktionierung von Vorlagepflichtverletzungen über materielle, nichtverfahrensrechtliche Konventionsgarantien an ihre Grenzen648. Sofern sich wie im Marchiani-Fall keine gesonderten Anhaltspunkte ergeben, die eine Unverhältnismäßigkeit des Eingriffs begründen, findet dann keine Beanstandung durch den EGMR statt. Fraglich ist des weiteren, ob die pflichtwidrige Nichtvorlage im Marchiani-Fall zumindest als Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 EMRK) erfolgreich hätte gerügt werden können649. Ein Verstoß gegen die Vorlagepflicht ist hier allein im gerichtlichen Verfahren über die Rechtmäßigkeit der Telefonüberwachung feststellbar650. Nach den vom EGMR für die Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs von Art. 6 Abs. 1 EMRK verwendeten Kriterien651 hatten die heimlichen Überwachungsmaßnahmen keinerlei Bezug zu den zivil- oder vermögensrechtlichen Verhältnissen des Bf., so dass das zugehörige Gerichtsverfahren keine zivilrechtlichen Ansprüche betraf. Aber auch eine Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage war nicht Gegenstand dieses Verfahrens. Zwar erfolgte die Telefonüberwachung im Verlauf offizieller strafrechtlicher Ermittlungen, aber bei der Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit wurde nicht über die strafrechtliche Verantwortlichkeit einer Person befunden, wie es Art. 6 Abs. 1 EMRK insoweit voraussetzt652. Somit wäre eine konventionsrechtliche Durchsetzung der europarechtlichen Vorlagepflicht über das Recht auf ein faires Verfahren schon an der fehlenden Eröffnung des Schutzbereichs gescheitert und hätte ebenfalls keine realistische Rechtsschutzoption geboten. 3. Implikationen für den Konventionsrechtsschutz der Europaabgeordneten gegen freiheitsentziehende Maßnahmen Auch wenn der Bf. vorliegend erst nach Ablauf seines europäischen Abgeordnetenmandats in Untersuchungshaft genommen wurde, gibt der Marchiani-Fall doch Anlass, auf den Rechtsschutz gegen mitgliedstaatliche Eingriffe in die persönliche (Fortbewegungs-)Freiheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments einzugehen. Denn die vorläufige Festnahme, die Verhängung von Untersuchungshaft und sonstige freiheitsentziehende Maßnahmen sind geeignet, die parlamenta647

Siehe allgemein o., Teil 1, B. III. Siehe bereits o., Teil 3, A. I. 5. c), d). 649 Vgl. o., Teil 2, A. IV. 1. a). 650 Siehe o., III. 3. 651 Siehe o., Teil 2, A. IV. 1. a). 652 Grabenwarter/Pabel, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 14, Rn. 29; siehe auch o., Teil 2, A. IV. 1. b). 648

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Teil 5: Politische Rechte

rische Arbeit der Europaabgeordneten erheblich zu beeinträchtigen oder sogar ganz zu unterbinden653. Europarechtlich sind die Parlamentarier daher nach Art. 8 f. (früher Art. 9 f.) VBP gegen Freiheitsentziehungen geschützt: Indemnitätsverletzende Eingriffe sind schlechthin unzulässig; ferner bietet die Immunität insoweit einerseits absoluten Schutz in fremden Mitgliedstaaten und andererseits relativen Schutz nach Maßgabe des nationalen Rechts im Heimatmitgliedstaat, sofern jeweils keine Ergreifung auf frischer Tat erfolgt und die Immunität nicht aufgehoben wurde654. Wenn nun die Freiheit von Abgeordneten unter Verstoß gegen diese Bestimmungen entzogen wird, ohne dass nationale Gerichte einschreiten, kommt es auf den EGMR an, reserveweise die parlamentarischen Vorrechte der Abgeordneten durchzusetzen. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt im Konventionsrecht ist das Recht auf Freiheit und Sicherheit gemäß Art. 5 EMRK, an dem sich freiheitsentziehende Maßnahmen der staatlichen Gewalt messen lassen müssen. Eine Entziehung der Freiheit liegt demnach vor, wenn jemand gegen seinen Willen an einem bestimmten, begrenzten Ort für eine gewisse Zeit festgehalten wird655; ausschlaggebend ist die konkrete Situation des Betroffenen656. Derartige Eingriffe können nach dem Katalog des Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK gerechtfertigt sein. Neben dem Vorliegen eines der dort genannten Haftgründe ist dafür erforderlich, dass die Maßnahme auf einer gesetzlichen Grundlage beruht sowie rechtmäßig und insbesondere willkürfrei ergeht657. Da die EMRK gerade über das jeweils näher spezifizierte Rechtmäßigkeitskriterium auf die innerstaatliche Rechtsordnung verweist, kontrolliert der EGMR erforderlichenfalls genauer als in sonstigen Konstellationen, ob deren Anforderungen eingehalten wurden658. Ein entsprechendes Vorgehen 653

Vgl. Schultz-Bleis, S. 55 f.; Wurbs, S. 24 f. Siehe bereits o., III. 1. 655 Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 5 EMRK, Rn. 10; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 6; Trechsel, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 285 ff.; Dörr, in: ders./Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 13, Rn. 120; Elberling, in: Karpenstein/Mayer, Art. 5 EMRK, Rn. 6 ff. 656 EGMR, Urt. v. 06.11.1980, Guzzardi ./. Italien, Ser. A Vol. 39, Rn. 92; EGMR, Urt. v. 28.05.1985, Ashingdane ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 92, Rn. 41; EGMR, Urt. v. 05.10.2004, H. L. ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 2004-IX, Rn. 89; Elberling, in: Karpenstein/Mayer, Art. 5 EMRK, Rn. 6. 657 Ausführlich Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 10 ff.; Dörr, in: ders./Grote/ Marauhn, EMRK/GG, Kap. 13, Rn. 132 ff.; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 5 EMRK, Rn. 23 ff.; Elberling, in: Karpenstein/Mayer, Art. 5 EMRK, Rn. 17 ff.; alle m.w. N. 658 „[T]he Court can and should review whether this law has been complied with“/ „la Cour peut et doit vérifier si ce droit a été respecté“: EGMR, Urt. v. 08.02.2011, Seferovic ./. Italien, Nr. 12921/04, Rn. 37; EGMR (GK), Urt. v. 08.04.2004, Assanidze ./. Georgien, Rep. 2004-II, Rn. 171; EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Bozano ./. Frankreich, Ser. A Vol. 111, Rn. 58; vgl. auch EGMR (GK), Urt. v. 10.06.1996, Benham ./. Vereinigtes Königreich, Rep. 1996-III, Rn. 40 f.; EGMR, Urt. v. 24.10.1979, Winterwerp ./. Niederlande, Ser. A Vol. 33, Rn. 46. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 12; Harris/ 654

D. Grenzüberschreitende Parteienfinanzierung und Art. 11 EMRK

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bietet sich ebenso im Hinblick auf die Beachtung europarechtlicher Vorgaben an659. So genügt die Entziehung der persönlichen Freiheit eines Europaabgeordneten dem Rechtmäßigkeitsstandard des Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK jedenfalls dann nicht mehr, wenn sie im Widerspruch zum VBP steht. Bei hinreichender Klarheit der europarechtlichen Rechtslage ist es dem EGMR möglich, einen solchen Europarechtsverstoß als Verletzung von Art. 5 EMRK zu beanstanden, die nach dessen Abs. 5 einen Schadensersatzanspruch des Betroffenen begründet660. Bestehen hingegen entscheidende Unklarheiten im Europarecht, ist der EGMR zur Zurückhaltung gezwungen, um das beim EuGH liegende Monopol der verbindlichen Auslegung nicht zu verletzen661. Auch die dem potentiell europarechtswidrig festgehaltenen Parlamentarier verbleibende Berufung auf die Verfahrensrechte des Art. 5 Abs. 2–4 EMRK dürfte insoweit nicht zu wirksamer Abhilfe führen662. Die Rechtsprechung des EGMR bietet weiterhin keinen Anhalt dafür, dass die Missachtung der europarechtlichen Vorlagepflicht durch ein nationales Höchstgericht bereits die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung insgesamt entfallen lassen könnte. Bleibt die materielle Europarechtslage unklar, kann die Vorlagepflichtverletzung somit auch dadurch fortwirken, dass sie eine Schwächung des (nichtverfahrensrechtlichen663) Konventionsrechtsschutzes verursacht. Dieser Zusammenhang unterstreicht abermals die Notwendigkeit einer anderweitigen konsequenten Durchsetzung von Art. 267 Abs. 3 AEUV664.

D. Grenzüberschreitende Parteienfinanzierung und Art. 11 EMRK: Parti nationaliste basque – Organisation régionale d’Iparralde ./. Frankreich (2007) Dieser Fall geht auf eine Menschenrechtsbeschwerde zurück, mit der sich eine politische Partei gegen die restriktive Regelung grenzüberschreitender Parteienfinanzierung in Frankreich wandte. An der Schnittstelle zwischen KapitalverO’Boyle/Bates/Buckley, S. 133 f.; Dörr, in: ders./Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 13, Rn. 141, 210 ff.; Meyer-Ladewig/Harrendorf/König, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/ von Raumer, EMRK, Art. 5, Rn. 16; siehe auch Trechsel, EuGRZ 1980, 514 (521). Zurückhaltender Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 5 EMRK, Rn. 28; Frowein, EuGRZ 1980, 231 (236). Siehe schon o., Teil 1, B. III. 659 Vgl. bereits EKMR, Entsch. v. 03.03.1978, Caprino ./. Vereinigtes Königreich (Zulässigkeit), DR 12, 14 (14, 18 f./26 ff.), und o., Teil 1, B. III. 660 Hierzu EGMR, Urt. v. 29.11.1988, Brogan et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 145-B, Rn. 67; EGMR, Urt. v. 29.05.1997, Tsirlis und Kouloumpas ./. Griechenland, Rep. 1997-III, Rn. 64 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 21, Rn. 55, m.w. N. 661 Siehe o., Teil 3, A. I. 5. d). 662 Vgl. zu Art. 5 Abs. 4 EMRK EGMR, Entsch. v. 21.04.2015, Chylinski et al. ./. Niederlande, Nr. 38044/12 u. a., Rn. 41 ff. 663 Vgl. demgegenüber zum verfahrensrechtlichen Schutz insbesondere durch Art. 6 Abs. 1 EMRK o., Teil 2, A. IV. 4., V. 2., und Teil 3, A. I. 5. c). 664 Siehe o., Teil 2, A. V. 4., und Teil 3, A. I. 5. d).

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kehrsfreiheit und Vereinigungsfreiheit gelegen, besitzt der Rechtsstreit sowohl eine wirtschaftliche als auch eine politische Dimension. Die deutliche Prägung des Verfahrens durch den politischen Kontext der Parteienfinanzierung legt es hier allerdings nahe, die betroffenen europarechtlichen Rechte dem politischen Bereich zuzuordnen.

I. Sachverhalt, französisches Recht und innerstaatliches Verfahren665 Die Bf. Parti nationaliste basque – Organisation régionale d’Iparralde666 (PNB), eine Vereinigung nach französischem Recht mit Sitz in Bayonne, bildet einen regionalen Zweig der spanischen Partei Eusko Alderdi Jeltzalea – Partido Nacionalista Vasco (EAJ-PNV). Nach den Parteistatuten verfolgt die PNB ebenso wie ihre Mutterpartei das Ziel, den baskischen Nationalismus zu verteidigen und zu fördern. Dazu entwickelt sie politische Programme, stellt Kandidaten für Wahlen auf und nimmt an Wahlkämpfen teil. Um Finanzmittel insbesondere von ihrer Mutterpartei empfangen zu können, richtete die PNB eine Finanzierungsgesellschaft ein und beantragte für diese am 16.09.1998 die erforderliche Genehmigung bei der zuständigen Nationalen Kommission667 (CCFP). Nach Art. 11 des einschlägigen französischen Gesetzes Nr. 88-227 über die finanzielle Transparenz des politischen Lebens668 können politische Parteien finanzielle Zuwendungen nur über eine von ihnen zu bestimmende Finanzierungsgesellschaft oder eine entsprechend beauftragte natürliche Person beziehen. Diesen Mittlern ist es unter Strafandrohung verboten, direkt oder indirekt materielle Unterstützung von einem ausländischen Staat oder einer juristischen Person ausländischen Rechts entgegenzunehmen669. Französische juristische Personen dürfen dagegen nur dann zur Finanzierung politischer Parteien oder Gruppierungen beitragen, wenn sie selbst zu den politischen Vereinigungen gehören670. Zuwendungen natürlicher Personen sind allgemein bis zu einem jährlichen Betrag von 7.500,– A gestattet671. Auf dieser Grundlage stufte die CCFP am 22.01.1999 die bisherige überwiegende Finanzierung der PNB durch die spanische Mutterpartei als rechtswidrig ein und lehnte die begehrte Genehmigung ab. Auch ein Antrag der PNB auf 665 Siehe EGMR, Urt. v. 07.06.2007, Parti nationaliste basque – Organisation régionale d’Iparralde ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 1 ff. 666 Baskisch „Euzko Alberdi Jeltzalea – Iparraldeko Erakundea“; „Iparralde“ stellt die baskische Bezeichnung für einen Teil Südwestfrankreichs dar. 667 Commission nationale des comptes de campagnes et des financements politiques. 668 Loi n ë 88-227 relative à la transparence financière de la vie politique v. 11.03. 1988, geändert durch Loi n ë 95-65 v. 19.01.1995. 669 Art. 11-4 Abs. 5 i.V. m. Art. 11-5 Loi n ë 88-227. Entsprechende Regeln gelten nach Art. L. 52-4 und L. 52-8 Code électoral auch für die Wahlkampffinanzierung. 670 Art. 11-4 Abs. 2 Loi n ë 88-227. 671 Art. 11-4 Abs. 1 Loi n ë 88-227.

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Überprüfung dieser Entscheidung wurde am 02.07.1999 zurückgewiesen. In der Begründung räumte die CCFP zwar das Bestehen einer Konfliktlage zwischen den französischen Gesetzesbestimmungen und dem europarechtlichen Prinzip des freien Kapitalverkehrs ein, hielt aber die Regelung bestimmter Aspekte der Kapitalverkehrsfreiheit durch das örtliche Recht („la loi locale“) für möglich672. Der Conseil d’État wies das von der PNB hiergegen eingelegte Rechtsmittel mit Urteil vom 08.12.2000 zurück und bestätigte, dass auch ausländische politische Parteien dem Verbot unterlägen, sich an der Finanzierung französischer Parteien zu beteiligen, wohingegen inländische Parteien hiervon aufgrund der ihnen durch Art. 4 frz. Verf.673 zugewiesenen Rolle ausgenommen seien. Zwar verneinte der Conseil d’État seine Zuständigkeit für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der strittigen Verbotsvorschrift, äußerte sich jedoch zu ihrer Vereinbarkeit mit der EMRK und dem Europarecht. Nach dem Willen des Gesetzgebers bezwecke das Verbot die Vermeidung eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen politischen Parteien und ausländischen juristischen Personen, „welches dem Ausdruck der nationalen Souveränität abträglich wäre“ 674. Daher lasse sich ein etwaiger Eingriff in die gemäß Art. 14 EMRK diskriminierungsfrei zu gewährleistende, hier aber nur indirekt betroffene Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK jedenfalls in Übereinstimmung mit dem Erfordernis der Aufrechterhaltung der Ordnung in Art. 10 Abs. 2 EMRK rechtfertigen. In europarechtlicher Hinsicht sah der Conseil d’État nur begrenzte Auswirkungen des Finanzierungsverbots auf den freien Kapitalverkehr (Art. 56 Abs. 1 EGV; jetzt Art. 63 AEUV) und erklärte die französische Regelung aus Gründen der öffentlichen Ordnung (Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV; jetzt Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV) für zulässig. Einem weiteren, auf Art. 191 EGV (vgl. jetzt Art. 10 Abs. 4 EUV, Art. 224 AEUV) gestützten Einwand der PNB folgte der Conseil d’État ebenfalls nicht, da er diese die Parteien auf europäischer Ebene betreffende Norm vorliegend für unanwendbar hielt. Ein Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH wurde allerdings nicht eingeleitet.

II. Grundlagen des Verfahrens vor dem EGMR 1. Zulässigkeit Am 25.04.2001 erhob die PNB unter Berufung auf Art. 10 i.V. m. Art. 11 EMRK sowie Art. 3 ZP 1 Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg, die vom EGMR am 05.10.2006 für zulässig erklärt wurde675. Dass sich die PNB im inner672

Siehe EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 7. Dessen Abs. 1 lautet: „Les partis et groupements politiques concourent à l’expression du suffrage. Ils se forment et exercent leur activité librement. Ils doivent respecter les principes de la souveraineté nationale et de la démocratie.“ 674 Zitiert nach EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 8: „qui serait préjudiciable à l’expression de la souveraineté nationale“. 675 EGMR, Entsch. v. 05.10.2006, PNB ./. Frankreich (Zulässigkeit), Nr. 71251/01. 673

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staatlichen Verfahren, wie von der französischen Regierung gerügt, nicht direkt auf Art. 11 EMRK gestützt hatte, hielt der Gerichtshof dabei für unschädlich, weil dort jedenfalls Art. 10 EMRK geltend gemacht worden sei. Gerade hinsichtlich politischer Parteien bestehe eine enge Verbindung zwischen beiden Konventionsgarantien, da der Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit auch ein Ziel der Vereinigungsfreiheit darstelle und zudem die Rechtfertigungsanforderungen ähnlich seien676. 2. Parteivorbringen In der Sache trug die Bf. vor dem EGMR vor, dass sie durch das Verbot, materielle Unterstützung von ihrer spanischen Mutterpartei zu beziehen, den Großteil ihrer finanziellen Ressourcen einbüße677. Daher sei eine Fortsetzung ihrer politischen Aktivität (v. a. in Bezug auf Wahlen) unmöglich, zumal sie von der staatlichen Parteienfinanzierung kaum profitieren könne. Die Beschränkung der Finanzierung aus dem Ausland betreffe außerdem besonders Parteien von Minderheiten, denen eine wichtige Rolle bei der Integration zukomme. Die Bf. bestritt die vom Conseil d’État bestätigte Gesetzeskonformität des Eingriffs nach französischem Recht und verwies anschließend auf den europarechtlichen Hintergrund des Falles. So widerspreche das Zuwendungsverbot für politische Parteien, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat registriert seien, nicht nur dem Prinzip des freien Kapitalverkehrs, sondern auch dem Ziel der Verordnung (EG) Nr. 2004/ 2003678, die Verbindungen zwischen Parteien und Bürgern in der EU zu stärken. Jedenfalls sei die nationale Souveränität Frankreichs vorliegend nicht tangiert, da sich die PNB ausschließlich auf lokaler Ebene an Wahlen beteilige. Weiterhin unterliege ihre Mutterpartei den in Spanien bestehenden Kontrollmechanismen zur Sicherstellung finanzieller Transparenz. Somit lasse sich das Finanzierungsverbot konventionsrechtlich weder zur Aufrechterhaltung der Ordnung noch zur Verhütung von Straftaten i. S. d. Art. 10 f. EMRK rechtfertigen. Im übrigen hielt die Bf. den Eingriff auch für unverhältnismäßig und widersprüchlich, insbesondere weil die vergleichsweise weniger transparente Parteienfinanzierung durch ausländische natürliche Personen erlaubt bleibe. Die französische Regierung ging dagegen bereits vom Fehlen eines Eingriffs aus, da der Bf. weder die politische Betätigung verboten noch die Möglichkeit genommen worden sei, sich anderweitige Finanzierungsquellen zu erschließen679. Stattdessen habe die Entscheidung der CCFP lediglich die Konsequenz, dass die Bf. keinen Zugang zu Leistungen aus der staatlichen Parteienfinanzie676

EGMR, a. a. O., pdf-Dok. S. 21 f., m.w. N. Hierzu und zum Folgenden siehe EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 19, 25 ff. 678 Siehe u., III. 1. 679 Hierzu und zum Folgenden siehe EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 20 ff. 677

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rung und ähnlichen finanziellen Vorteilen erhalte. Falls dennoch ein Eingriff vorliege, entspreche dieser dem nationalen Sicherheitsinteresse und gewährleiste durch die Unterbindung ausländischer Einmischung in die nationale Politik die Souveränität und Unabhängigkeit des Staates. Neben der Aufrechterhaltung der Ordnung diene das Verbot auch der Verhütung von Straftaten, da die legale Herkunft ausländischen Kapitals schwerer zu verifizieren sei. Schließlich hielt die Regierung die französische Regelung auch deswegen für verhältnismäßig, weil die Bf. nach Verzicht auf die Auslandsfinanzierung einen neuen Antrag bei der CCFP stellen und dann von natürlichen Personen und französischen politischen Gruppen Zuwendungen erhalten könne. 3. Positionen anderer Institutionen des Europarates Neben dem EGMR haben sich weitere Institutionen des Europarates mit den Modalitäten der Finanzierung politischer Parteien auseinandergesetzt. So sprach sich die Parlamentarische Versammlung des Europarates für eine aus staatlichen und privaten Quellen kombinierte Parteienfinanzierung aus, um Abhängigkeiten der Parteien und Einflussnahmen auf sie zu verhindern680. Zum Vorschlag gehörten u. a. auch eine strikte Begrenzung von Parteispenden juristischer Personen sowie die Festlegung einer gesetzlichen Obergrenze für Spendenbeträge. Das Ministerkomitee des Europarates empfahl den Regierungen der Mitgliedstaaten hingegen, Zuwendungen aus ausländischen Quellen in besonderer Weise zu begrenzen, zu verbieten oder zu regulieren681. Die sog. Venedig-Kommission682 hielt in ihren Leitlinien über die Parteienfinanzierung von 2001683 ein Verbot finanzieller Beiträge von ausländischen Staaten und Unternehmen an politische Parteien für erforderlich sowie eine Deckelung von Zuwendungen für erwägenswert. 2006 erstellte sie dann auf Ersuchen 680 Empfehlung 1516 (2001) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates v. 22.05.2001 über die Finanzierung politischer Parteien, abrufbar unter: http://assem bly.coe.int/nw/xml/XRef/Xref-XML2HTML-en.asp?fileid=16907&lang=en, in Auszügen auch wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007II, Rn. 17. 681 Art. 7 der Empfehlung Rec(2003)4 v. 08.04.2003 des Ministerkomitees des Europarates über gemeinsame Regeln gegen Korruption bei der Finanzierung politischer Parteien und Wahlkämpfe, abrufbar unter: https://wcd.coe.int/ViewDoc.jsp?id=2183. 682 Das 1990 gegründete, offiziell als „Europäische Kommission für Demokratie durch Recht“ betitelte Gremium fungiert als beratendes Organ des Europarates etwa bei der Unterstützung der Staaten im Rechtssetzungsprozess (z. B. durch Begutachtung von Verfassungsentwürfen) oder mit allgemeiner Informationsarbeit; ausführlich Rülke, S. 23 ff. 683 Dok. CDL-INF (2001) 8, angenommen auf der 46. Plenarsitzung v. 09.–10.03. 2001, abrufbar unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/CDL-INF(2001) 008-E.aspx, auszugsweise auch wiedergegeben bei EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 16.

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des EGMR684 ein rechtsvergleichendes Gutachten685 zum Problemkreis des PNB-Falles, in dem sie auf die historisch und politisch bedingt sehr heterogene Ausgestaltung des Parteienrechts in den seinerzeit 44 Mitgliedstaaten des Europarates hinwies. So sei die Finanzierung politischer Parteien aus ausländischen Quellen in 28 Staaten verboten oder substantiell eingeschränkt. Während in Frankreich ein explizites Verbot statuiert sei, sähen beispielsweise Spanien, Deutschland686, das Vereinigte Königreich (ohne Nordirland) sowie Litauen in unterschiedlichem Umfang Ausnahmen für Zuwendungen aus EU-Mitgliedstaaten vor. In 16 weiteren Staaten, u. a. Zypern, Tschechien, Ungarn, Österreich, Belgien, Dänemark und Finnland, existiere dagegen keine Verbotsregelung für ausländisches Kapital. Die Venedig-Kommission leitete daraus ab, dass die Beschränkungen der Parteienfinanzierung im Einzelfall unter Berücksichtigung des politischen Systems des jeweiligen Staates, seiner Beziehungen mit den Nachbarstaaten, seines Verfassungsrechts und der allgemeinen Funktionsweise der dortigen Parteienfinanzierung zu beurteilen seien. Als mögliche Beweggründe für staatliche Eingriffe kämen etwa die internationalistisch ausgerichtete Politik extremistischer Parteien im 20. Jahrhundert, die Furcht vor separatistischen Bewegungen sowie das Bemühen, Mittel aus der staatlichen Parteienfinanzierung im eigenen Land zu halten, in Betracht. Die eine liberale Linie verfolgenden Staaten hielten Beschränkungen entweder nicht für notwendig oder wollten die Kooperation zwischen Parteien im Rahmen inter- und supranationaler Netzwerke687 bzw. sogar ihre eigene Unterstützung für politische Bewegungen in der Dritten Welt nicht behindern. Im Hinblick auf die Finanzierung politischer Parteien durch Parteien aus anderen EU-Mitgliedstaaten befürwortete die Venedig-Kommission angesichts der besonderen Natur der EU und der bisherigen Erfahrungen mit Parteienkooperation in Europa einen spezifischen, weniger restriktiven Ansatz, der sowohl die im Recht der europäischen Parteien688 zum Ausdruck kommenden Gedanken der Kooperation und Integration als auch die Vorgaben der Kapitalverkehrsfreiheit689

684 Siehe Art. A1 Abs. 2 EGMR-VerfO sowie EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 3. 685 Dok. CDL-AD (2006) 014, angenommen auf der 66. Plenarsitzung v. 17.–18.03. 2006, abrufbar unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD (2006)014-e, zusammengefasst bei EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 29 ff. 686 Vgl. § 25 Abs. 2 Nr. 3 lit. a PartG in Bezug auf Spenden von EU-Bürgern und -Wirtschaftsunternehmen; hierzu S.-C. Lenski, § 25 PartG, Rn. 47 ff.; Kersten, in: ders./ Rixen, § 25 PartG, Rn. 72 ff., 76 ff. 687 Die Venedig-Kommission nennt hier insbesondere die Parlamentarischen Versammlungen des Europarates und der OSZE, das Europäische Parlament sowie den Nordischen Rat. 688 Siehe u., III. 1. 689 Siehe u., III. 2.

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respektieren solle. Während die Zusammenarbeit zwischen Parteien i. S. d. EMRK „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sei, gelte dies nicht ohne weiteres für ihre Erschwerung durch die Unterbindung finanzieller Beziehungen. Dennoch sei ein Verbot von Zuwendungen aus dem Ausland unter bestimmten Umständen mit Art. 11 EMRK zu vereinbaren, etwa wenn das Geld zu illegalen Zwecken eingesetzt werde oder eine Gefahr für die territoriale Integrität des betroffenen Staates, seine demokratische Entwicklung, den politischen Wettbewerb oder den Wahlablauf in Rede stehe. Abschließend wies die Venedig-Kommission darauf hin, dass bei der Prüfung jedenfalls auch die sich aus der EU-Mitgliedschaft ergebenden internationalen Verpflichtungen des Staates zu berücksichtigen seien.

III. Europarechtliche Dimension Wie teils bereits ersichtlich wurde, werfen sowohl die Entscheidungen der französischen Stellen als auch die dem EGMR vorgetragenen Argumente verschiedene europarechtliche Fragen auf, insbesondere zum europäischen Parteienrecht, zur Kapitalverkehrsfreiheit und zur Vereinigungsfreiheit nach der GRC. 1. Recht europäischer politischer Parteien Zunächst stellt sich die Frage nach der Bedeutung der von der PNB herangezogenen europarechtlichen Vorschriften zur Regelung des europäischen Parteienwesens für den vorliegenden Fall. Nach Art. 191 Abs. 1 EGV (jetzt Art. 10 Abs. 4 EUV) tragen politische Parteien auf europäischer Ebene zur Herausbildung eines europäischen politischen Bewusstseins und zum Ausdruck des Willens der Unionsbürger bei; der letztere Aspekt wird auch von Art. 12 Abs. 2 GRC aufgegriffen. In Anwendung der durch den Vertrag von Nizza eingeführten Regelungsermächtigung in Art. 191 Abs. 2 EGV (jetzt Art. 224 AEUV) wurden diese noch recht programmatisch anmutenden Grundsätze mit der Verordnung (EG) Nr. 2004/2003690 (PartVO) sekundärrechtlich präzisiert und ergänzt691, v. a. im Hinblick auf die Finanzierung der europäischen politischen Parteien.

690 VO (EG) Nr. 2004/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 04.11. 2003 über die Regelungen für die politischen Parteien auf europäischer Ebene und ihre Finanzierung, ABl. Nr. L 297 v. 15.11.2003, S. 1, geändert durch VO (EG) Nr. 1524/ 2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 18.12.2007, ABl. Nr. L 343 v. 27.12.2007, S. 5; zum 01.01.2017 ersetzt durch VO (EU, Euratom) Nr. 1141/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2014 über das Statut und die Finanzierung europäischer politischer Parteien und europäischer politischer Stiftungen, ABl. Nr. L 317 v. 04.11.2014, S. 1. Vgl. Armbrecht, S. 201 ff.; kritisch von Arnim, NJW 2005, 247 (248 ff.). 691 Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EUV, Rn. 16 ff.; Bieber, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Art. 224 AEUV, Rn. 5 ff.

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Teil 5: Politische Rechte

Die Anerkennung als „politische Partei auf europäischer Ebene“ war nach der in Art. 2 Nr. 3 i.V. m. Art. 3 PartVO enthaltenen Definition an diverse kumulativ zu erfüllende Voraussetzungen geknüpft692. So musste die jeweilige Partei bzw. das Parteienbündnis im Sitzmitgliedstaat Rechtspersönlichkeit besitzen, in mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten parlamentarisch vertreten sein oder in jedem dieser Staaten wenigstens drei Prozent der abgegebenen Stimmen bei der letzten Europawahl erreicht haben, die fundamentalen Grundsätze der EU beachten sowie die Teilnahme an den Europawahlen zumindest beabsichtigen. Hier genügten PNB und EAJ-PNV selbst im Verbund nicht dem Kriterium der hinreichenden parlamentarischen Repräsentation, da sich ihre gemeinsame Tätigkeit allein auf Frankreich und Spanien beschränkt693. Sie waren damit nicht als europäische, sondern vielmehr als nationale Parteien zu qualifizieren, so dass auf sie statt des europäischen Parteienrechts weiterhin die mitgliedstaatlichen Regelungen Anwendung fanden694. Diesbezüglich erweist sich die Berufung der PNB auf das Europarecht also als nicht substantiiert. Europäischen politischen Parteien ist es im übrigen verboten, andere politische Parteien insbesondere auf nationaler Ebene zu finanzieren695. 2. Kapitalverkehrsfreiheit, Art. 63 ff. AEUV (Art. 56 ff. EGV) Der Umstand, dass die Union bislang lediglich für den Bereich der europäischen politischen Parteien eine Regelungskompetenz besitzt, entbindet die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihres nationalen Parteienfinanzierungsrechts indessen nicht von der Verpflichtung, sonstige europarechtliche Vorgaben allgemeiner Natur wie etwa die Grundfreiheiten zu beachten696. Hier kann insbesondere die Kapitalverkehrsfreiheit (Art. 63 Abs. 1 AEUV; früher Art. 56 Abs. 1 EGV) relevant werden, die gemäß Art. 26 Abs. 2 AEUV (früher Art. 14 Abs. 2 EGV) zusammen mit dem freien Verkehr von Waren, Personen und Dienstleistungen zu den vier konstitutiven Elementen des europäischen Binnenmarktes ge-

692

Vgl. jetzt Art. 2 Nr. 3 i.V. m. Art. 3 Abs. 1 VO (EU, Euratom) Nr. 1141/2014. Die EAJ-PNV entsendet allerdings regelmäßig ein Mitglied in das Europäische Parlament; die derzeitige Abgeordnete gehört dort der Fraktion „Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa“ an. 694 Vgl. Art. 7 Abs. 1 S. 2 PartVO; jetzt Art. 22 Abs. 1 S. 2 VO (EU, Euratom) Nr. 1141/2014. 695 Art. 22 Abs. 1 S. 1 VO (EU, Euratom) Nr. 1141/2014; früher Art. 7 Abs. 1 S. 1 PartVO. Vgl. bereits die Erklärung Nr. 11 zur Schlussakte der Konferenz von Nizza zu Art. 191 EGV, ABl. Nr. C 80 v. 10.03.2001, S. 79; hierzu Rengeling/Szczekalla, § 18, Rn. 744. 696 Gutachten der Venedig-Kommission, Dok. CDL-AD (2006) 014, angenommen auf der 66. Plenarsitzung v. 17.–18.03.2006, abrufbar unter: http://www.venice.coe.int/ webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2006)014-e, Rn. 29 ff.; Tamme, Aspects of enforcement, S. 9. 693

D. Grenzüberschreitende Parteienfinanzierung und Art. 11 EMRK

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hört. An ihr sind stets sämtliche mitgliedstaatlichen Bestimmungen zu messen, die den grenzüberschreitenden Kapitalverkehr innerhalb der Union berühren. a) Anwendbarkeit und Schutzbereich Art. 63 Abs. 1 AEUV verbietet alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern. Diese primärrechtliche Gewährleistung entfaltet seit ihrer Neufassung durch den Vertrag von Maastricht (als Art. 73 b Abs. 1 EGV a. F.) unmittelbare Wirkung, so dass es diesbezüglich keines Rückgriffs auf konkretisierendes Richtlinienrecht mehr bedarf 697. Da für den Bereich der grenzüberschreitenden Finanzierung von Parteien auf nationaler Ebene auch keine spezielle sekundärrechtliche Regelung besteht698, ist hier direkt auf die Garantie des freien Kapitalverkehrs abzustellen. Der Begriff des Kapitalverkehrs wird allerdings mangels einer primärrechtlichen Definition nach wie vor in Anlehnung an das ökonomische Verständnis und den nicht abschließenden Katalog exemplarischer Transaktionsformen bestimmt, der in Anhang I der Richtlinie 88/361/EWG699 enthalten ist700. Der elementaren Bedeutung von Art. 63 Abs. 1 AEUV für das Funktionieren des Binnenmarktes entsprechend701, ergibt sich daraus ein weiter Anwendungsbereich, der Erwerb, Veräußerung und Transfer von Geld- oder Sachkapital über Staatsgrenzen hinweg umfasst, ohne dass es entscheidend auf die Einseitigkeit der Wertübertragung oder einen besonderen Anlagezweck ankommt702. In personeller Hinsicht werden alle natürlichen und juristischen Personen begünstigt, die eine hiernach geschützte wirtschaftliche Transaktion durchführen möchten703. Damit fallen grenzüberschreitende finanzielle Zuwendungen zwischen politischen Parteien ebenfalls in den Schutzbereich der Kapitalverkehrsfreiheit.

697 Zuvor wurde die Kapitalverkehrsrichtlinie 88/361/EWG (ABl. Nr. L 178 v. 08.07. 1988, S. 5) herangezogen; vgl. EuGH, Urt. v. 23.02.1995, Aldo Bordessa et al., verb. Rs. C-358/93 und C-416/93, Slg. 1995, I-361, Rn. 33; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 63 AEUV, Rn. 3; Streinz/Sedlaczek/Züger, Art. 63 AEUV, Rn. 5 ff. 698 Siehe o., 1. 699 Richtlinie 88/361/EWG des Rates v. 24.06.1988 zur Durchführung von Artikel 67 des Vertrages, ABl. Nr. L 178 v. 08.07.1988, S. 5. 700 Vgl. EuGH, Urt. v. 27.01.2009, Persche, Rs. C-318/07, Slg. 2009, I-359, Rn. 24; EuGH, Urt. v. 23.02.2006, van Hilten-van der Heijden, Rs. C-513/03, Slg. 2006, I-1957, Rn. 39; EuGH, Urt. v. 05.03.2002, Reisch et al., verb. Rs. C-515/99 u. a., Slg. 2002, I2157, Rn. 30; Streinz/Sedlaczek/Züger, Art. 63 AEUV, Rn. 18 ff.; Bröhmer, in: Calliess/ Ruffert, Art. 63 AEUV, Rn. 10; Rohde, S. 117 f.; Schürmann, in: Lenz/Borchardt, Art. 63 AEUV, Rn. 3 f. 701 Siehe Hindelang, JZ 2009, 829 (830 f.). 702 Zutreffend J. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 156 ff., m.w. N.; Rohde, S. 120 f.; vgl. auch Kotthaus, S. 32 ff. 703 Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 10, Rn. 212; Schwarze/Glaesner, Art. 63 AEUV, Rn. 18; Kotthaus, S. 41 f.

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Teil 5: Politische Rechte

b) Eingriff Wie bei den anderen Grundfreiheiten stellen auch bei der Kapitalverkehrsfreiheit sowohl offene als auch versteckte Diskriminierungen sowie für alle Wirtschaftsteilnehmer unterschiedslos wirkende Beschränkungen rechtfertigungsbedürftige Eingriffe dar704. Das französische Gesetz Nr. 88-227 untersagt die Finanzierung politischer Parteien durch juristische Personen, die nicht selbst inländische politische Vereinigungen sind. Ausländische Parteien mit dem Status einer juristischen Person fallen also vollständig unter das Finanzierungsverbot. In der relevanten Vergleichsgruppe der politischen Parteien knüpft die Verbotsregelung direkt an die ausländische Kapitalherkunft an und ist somit als offen diskriminierender Eingriff einzustufen, der den entsprechenden primärrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen zu genügen hat. Dies gilt unabhängig davon, ob die auf das Gesetz gestützte Verweigerung der Genehmigung für eine Finanzierungsgesellschaft tatsächlich allein den Ausschluss der PNB von der staatlichen Parteienfinanzierung zur Folge hatte, wie die französische Regierung vortrug705. Denn in jedem Fall wird der Bezug von Kapital, das von ausländischen Parteien stammt, nach französischem Recht schlechter gestellt als ein vergleichbarer rein inländischer Sachverhalt. c) Rechtfertigung Als Rechtfertigungsgrund für diese Ungleichbehandlung zog der Conseil d’État hier Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV (jetzt Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV) heran, der u. a. das Recht der Mitgliedstaaten anerkennt, Maßnahmen zu ergreifen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gerechtfertigt sind. Dabei können die Mitgliedstaaten die Anforderungen des Ordre public grundsätzlich im Lichte ihrer nationalen Bedürfnisse festlegen, solange nicht rein wirtschaftliche Zwecke ausschlaggebend sind706. Als legitime Interessen gelten etwa die Verhinderung und Verfolgung von Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Drogenhandel oder Terrorismus707. In Übereinstimmung mit dem restriktiven Verständnis aller 704 Für die Reichweite des Beschränkungsverbots kann auf die Dassonville- und die Keck-Formel, die beide im Kontext der Warenverkehrsfreiheit vom EuGH entwickelt wurden, abgestellt werden; Pache, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 10, Rn. 215 ff.; Connor, GLJ 11 (2010), 159 (166, 175 f., 195); Schwarze/Glaesner, Art. 63 AEUV, Rn. 22 f.; siehe auch Kotthaus, S. 79 ff., 92 ff. 705 Siehe o., II. 2. 706 EuGH, Urt. v. 14.03.2000, Église de Scientologie, Rs. C-54/99, Slg. 2000, I1335, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 28.10.1975, Rutili ./. Ministre de l’intérieur, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219, Rn. 30; J. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 176. Einem solchen Vorgehen dürfte regelmäßig auch Art. 65 Abs. 3 AEUV (früher Art. 58 Abs. 3 EGV) entgegenstehen; Schwarze/Glaesner, Art. 65 AEUV, Rn. 11. 707 EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Sanz de Lera et al., verb. Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94, Slg. 1995, I-4821, Rn. 22; EuGH, Urt. v. 23.02.1995, Aldo Bordessa et al., verb. Rs. C-358/93 und C-416/93, Slg. 1995, I-361, Rn. 19 ff.; J. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 174 f.; Rohde, S. 158.

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Ausnahmevorschriften zu den Grundfreiheiten unterliegt jedoch auch Art. 65 AEUV (früher Art. 58 EGV) einer engen Auslegung, so dass für eine mögliche Rechtfertigung ein strenger Maßstab anzulegen ist708. Dementsprechend verlangt der EuGH das Vorliegen einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt709 und in jedem konkreten Einzelfall nachzuweisen ist710. Auch wegen der verbleibenden Unbestimmtheit des Ordre-public-Begriffs bedürfen mitgliedstaatliche Beschränkungen einer besonders sorgfältigen Überprüfung anhand des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, der die Gebote der Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit enthält711. Außerdem muss die jeweilige Maßnahme die Gewährleistungsgehalte der europäischen Grundrechte wahren, die bei Eingriffen in Grundfreiheiten ebenfalls als Schranken-Schranken zum Tragen kommen712. Vorliegend führten die französischen Stellen sowohl den verfassungsrechtlich verankerten Schutz der nationalen Souveränität als auch die Verhütung von Straftaten als wesentliche Gründe für das Finanzierungsverbot an713. Allgemein erscheint es als ein legitimes staatliches Anliegen, der Entstehung von Abhängigkeiten zwischen für die politische Ordnung relevanten Parteien und ihren Geldgebern entgegenzuwirken sowie kapitalbezogene Straftaten zu bekämpfen. Das Totalverbot der Finanzierung politischer Parteien durch ausländische juristische Personen stellt durch die weitgehende Verhinderung des Kapitalflusses eine Maßnahme dar, die diese Ziele zumindest fördern kann, wirft aber auch die Frage nach seiner Erforderlichkeit auf.

708 EuGH, Urt. v. 14.03.2000, Église de Scientologie, Rs. C-54/99, Slg. 2000, I1335, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 19.01.1999, Calfa, Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11, Rn. 23; EuGH, Urt. v. 28.10.1975, Rutili ./. Ministre de l’intérieur, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219, Rn. 27; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 65 AEUV, Rn. 1; Schwarze/Glaesner, Art. 65 AEUV, Rn. 7, 12; Haferkamp, S. 137; Kimms, S. 187; Tamme, Aspects of enforcement, S. 9. 709 EuGH, Urt. v. 01.10.2009, Woningstichting Sint Servatius, Rs. C-567/07, Slg. 2009, I-9021, Rn. 28; EuGH, Urt. v. 14.03.2000, Église de Scientologie, Rs. C-54/99, Slg. 2000, I-1335, Rn. 17; EuGH, Urt. v. 19.01.1999, Calfa, Rs. C-348/96, Slg. 1999, I-11, Rn. 21; EuGH, Urt. v. 27.10.1977, Bouchereau, Rs. 30/77, Slg. 1977, 1999, Rn. 33 ff.; Schwarze/Glaesner, Art. 65 AEUV, Rn. 7; J. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 175; Hindelang, JZ 2009, 829 (838); Kotthaus, S. 126. 710 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.07.2000, Albore, Rs. C-423/98, Slg. 2000, I-5965, Rn. 22, 24; Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 65 AEUV, Rn. 26; Hindelang, JZ 2009, 829 (838); Tamme, Aspects of enforcement, S. 9. 711 Vgl. Haferkamp, S. 137; J. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 176, 178 ff.; Emmerich-Fritsche, S. 60 ff., 418, 435 ff.; Schwarze/Glaesner, Art. 65 AEUV, Rn. 7, 12; Streinz/Sedlaczek/Züger, Art. 65 AEUV, Rn. 45 ff.; Trstenjak/Beysen, EuR 2012, 265 (276, 284). 712 EuGH, Urt. v. 18.06.1991, ERT, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 f.; Rengeling/Szczekalla, § 4, Rn. 264; Streinz, Europarecht, Rn. 870; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 392 f., Rn. 842. 713 Siehe o., I., II. 2.

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Erforderlich ist eine Maßnahme dann, wenn kein anderes effektives Mittel zur Erreichung des verfolgten Ziels verfügbar ist, das den freien Kapitalverkehr weniger stark einschränkt714. Hier kommen die Statuierung einer Meldepflicht715 und ggf. die Festlegung von Höchstgrenzen716 oder Quotierungen für Zuwendungen an politische Parteien als mildere Mittel in Betracht. Beide Maßnahmen weisen gegenüber dem Totalverbot eine deutlich geringere Eingriffsintensität auf und sind jedenfalls bei kombinierter Anwendung ebenso geeignet, Abhängigkeiten der Parteien von bestimmten Spendern zu unterbinden sowie eine hinreichende Transparenz der Kapitalströme sicherzustellen. Dies belegt auch die Regelung für Zuwendungen durch natürliche Personen, die herkunftsunabhängig einen jährlichen Betrag von 7.500,– A pro Person erlaubt. Es ist nämlich kein Grund dafür ersichtlich, dass die Schutzgüter des Ordre public gerade durch Beiträge juristischer Personen einer stärkeren Beeinträchtigung ausgesetzt wären. Darüber hinaus kann in einem supranationalen Staatenverbund wie der EU aufgrund der bestehenden Verflechtung von wirtschaftlicher und politischer Integration gemeinhin davon ausgegangen werden, dass aus anderen Mitgliedstaaten stammende Parteispenden geringer bis mittlerer Höhe keine relevant höhere Souveränitätsgefährdung mit sich bringen als entsprechende inländische Zuwendungen. Für die Zulässigkeit diskriminierender Eingriffe bedarf es daher entsprechend der Rechtsprechung des EuGH konkreter und tatsächlicher Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Ordre public, die sich nicht in der ausländischen Kapitalherkunft erschöpfen. Dieses Erfordernis sichert den Bestand des europarechtlichen Regel-Ausnahme-Verhältnisses und gewährleistet damit entscheidend die praktische Wirksamkeit des freien Kapitalverkehrs auch zwischen politischen Parteien. Solche Anhaltspunkte können etwa vorliegen, wenn die Kapitalgeber beherrschenden Einfluss auf die begünstigte politische Partei ausüben oder diese die erhaltenen Mittel zu rechtswidrigen Zwecken verwendet. Ferner könnte von einer Gefährdung auszugehen sein, wenn das Kapital aus Drittstaaten zufließt, welche die der EU zugrundeliegenden Werte und Fundamentalprinzipien (vgl. Art. 2, 6 EUV) nicht teilen oder in denen es an wirksamen Finanzaufsichtsmechanismen

714 J. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit, S. 179; EuGH, Urt. v. 01.10.2009, Woningstichting Sint Servatius, Rs. C-567/07, Slg. 2009, I-9021, Rn. 33; EuGH, Urt. v. 14.03.2000, Église de Scientologie, Rs. C-54/99, Slg. 2000, I-1335, Rn. 18; EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Sanz de Lera et al., verb. Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94, Slg. 1995, I-4821, Rn. 23; Rohde, S. 165; Koch, S. 209 ff.; Emmerich-Fritsche, S. 211. 715 Meldeverfahren können über die in Art. 65 Abs. 1 lit. b AEUV (früher Art. 58 Abs. 1 lit. b EGV) genannten Zwecke administrativer oder statistischer Informationen hinaus auch aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit vorgesehen werden. Zur Meldepflicht als milderem Mittel instruktiv EuGH, Urt. v. 14.12.1995, Sanz de Lera et al., verb. Rs. C-163/94, C-165/94 und C-250/94, Slg. 1995, I-4821, Rn. 23 ff., 39. 716 Vgl. etwa im europäischen Parteienrecht Art. 20 Abs. 1, 7, 9 VO (EU, Euratom) Nr. 1141/2014.

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fehlt. Die französischen Stellen haben hier keines dieser oder vergleichbarer Kriterien nachgewiesen und sich anstatt der gebotenen Einzelfallprüfung auf die undifferenzierte Anwendung des gesetzlichen Verbots beschränkt, das seinerseits ausländisches Kapital abstrakt und pauschal unter Generalverdacht stellt717. Insbesondere wurde auch keine europarechtskonforme Auslegung oder teleologische Reduktion des Gesetzes vorgenommen, die z. B. über ein restriktives Verständnis der Ausländereigenschaft718 durchaus möglich gewesen wäre. Das kategorische Parteienfinanzierungsverbot für ausländische juristische Personen stellt demnach nicht das mildeste effektive Mittel zur Sicherung des Ordre public dar und hält somit der im Rahmen der Grundfreiheitsprüfung gebotenen strengen Erforderlichkeitskontrolle nicht stand. Eine entsprechende Wertung ergibt sich im Lichte des europäischen Grundrechts der Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GRC, das in der Grundfreiheitsprüfung als weitere Schranken-Schranke zu beachten ist. Bereits dem Wortlaut der Norm, der den politischen Bereich ausdrücklich einbezieht, lässt sich entnehmen, dass politische Parteien wie auch im Rahmen von Art. 11 EMRK719 zu den geschützten Vereinigungen gehören720. Diese Auslegung wird durch die Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC bestätigt, die eine weitgehende Parallelisierung der Gewährleistungsgehalte der Vereinigungsfreiheit in GRC und EMRK bewirkt721. Die französische Parteienfinanzierungsregelung ist auch in diesem grundrechtlichen Kontext als nicht erforderlicher und damit unverhältnismäßiger Eingriff einzustufen, so dass eine Rechtfertigung nicht möglich ist. 3. Ergebnis zu III. Nach alledem sind die nur für europäische Parteien geltenden Sonderregeln des Europarechts vorliegend nicht anwendbar. Das diskriminierende Totalverbot der Finanzierung französischer Parteien durch ausländische Parteien lässt sich aber weder mit der Kapitalverkehrsfreiheit noch mit der ebenfalls zu berücksichtigenden Vereinigungsfreiheit der hier betroffenen Parteien vereinbaren. Aufgrund dieses doppelten Verstoßes gegen vorrangiges europäisches Primärrecht hätte die Verbotsregelung gegenüber der PNB nicht zur Anwendung gelangen

717

Vgl. bereits Tamme, Aspects of enforcement, S. 9 f. Vgl. ferner entsprechend zu den Deutschengrundrechten des GG und zum Inländererfordernis in Art. 19 Abs. 3 GG o., Teil 2, A. III. 3. a) bb), mit diversen Nw. 719 Siehe u., IV. 1. 720 Mann, in: Heselhaus/Nowak, § 28, Rn. 11, unter Bezugnahme auf weitere verbindliche Sprachfassungen; im Ergebnis ebenso Rengeling/Szczekalla, § 18, Rn. 747; Meyer/Bernsdorff, Art. 12 GRC, Rn. 16. 721 Vgl. Meyer/Borowsky, Art. 52 GRC, Rn. 30 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, § 17, Rn. 18; von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Art. 52 GRC, Rn. 56 ff.; Naumann, EuR 2008, 424 (425 ff., 434 f.). 718

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dürfen. Da die Frage der Europarechtskonformität des französischen Rechts Gegenstand im Verfahren vor dem Conseil d’État war, hätte sie dieser als letztinstanzliches Gericht vielmehr nach Art. 234 Abs. 3 EGV (jetzt Art. 267 Abs. 3 AEUV) dem EuGH vorlegen müssen. Abermals ist also eine Verletzung der Vorlagepflicht durch ein mitgliedstaatliches Höchstgericht festzustellen, die zum Scheitern der nationalen Durchsetzung des Europarechts geführt hat.

IV. Materielle Beurteilung durch den EGMR Mit Urteil vom 07.06.2007 entschied schließlich der EGMR über die materiellen Aspekte der Menschenrechtsbeschwerde der PNB. 1. Anwendbare Konventionsrechte und Eingriffsqualität Zunächst bestätigte der Gerichtshof seine ständige Rechtsprechung, die politische Parteien stets dem Schutzbereich der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 11 EMRK zugeordnet hat722. Diese Konventionsgarantie diene zwar gerade bei Betroffenheit politischer Parteien auch dem Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit und sei somit im Lichte von Art. 10 EMRK auszulegen. Hier erkannte der EGMR aber keine Anhaltspunkte dafür, dass die angegriffene Maßnahme die Bf. aufgrund der von ihr vertretenen politischen Vorstellungen benachteiligen sollte. Die finanziellen Folgen für die Fähigkeit der Bf. zur Wahlteilnahme stufte der Gerichtshof lediglich als Sekundäreffekte ein und hielt daher auch eine zusätzliche Heranziehung der Wahlrechtsgarantie des Art. 3 ZP 1 nicht für erforderlich723. Die französische Regelung wurde damit allein am Maßstab von Art. 11 EMRK gemessen. In der Eingriffsprüfung724 wies der EGMR darauf hin, dass das Verbot der Parteienfinanzierung durch ausländische juristische Personen sämtliche zulässigen Arten des Kapitaltransfers an Parteien betreffe. Für die Bf. ergäben sich daraus angesichts ihrer geringen Größe und ihres lokalen Betätigungsfelds nicht zu vernachlässigende Auswirkungen in Bezug auf ihre finanziellen Ressourcen und ihre politische Aktivität. Der Gerichtshof bejahte aus diesem Grund einen Eingriff in die Ausübung der durch Art. 11 EMRK geschützten Rechte der Bf. 722 EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 33; EGMR (GK), Urt. v. 30.01.1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei et al. ./. Türkei, Rep. 1998-I, Rn. 24 ff.; EGMR, Urt. v. 09.04.2002, Yazar et al. ./. Türkei, Rep. 2002-II, Rn. 32; EGMR (GK), Urt. v. 08.12.1999, Partei der Freiheit und Demokratie (ÖZDEP) ./. Türkei, Rep. 1999-VIII, Rn. 27; Lécuyer, S. 256 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23, Rn. 87; Marauhn, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 4, Rn. 76; Tomuschat, in: Macdonald/Matscher/Petzold, S. 495; Mann, in: Heselhaus/Nowak, § 28, Rn. 11. 723 EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 34. 724 Siehe EGMR, a. a. O., Rn. 36 ff.

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2. Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK Anschließend untersuchte der EGMR eine mögliche Rechtfertigung des Eingriffs gemäß Art. 11 Abs. 2 EMRK. Danach darf die Vereinigungsfreiheit nur solchen Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die aufgeführten Schutzgüter notwendig sind. Für die Anerkennung einer einschränkenden Norm als Gesetz i. d. S. verlangt der Gerichtshof regelmäßig, dass diese hinreichend präzise formuliert ist, um den Bürger in die Lage zu versetzen, die Folgen einer bestimmten Handlung in angemessener Weise vorhersehen zu können725. Das Finanzierungsverbot für ausländische Parteien ließ sich nach Ansicht des EGMR dem Normtext des französischen Gesetzes Nr. 88-227 in der nötigen Klarheit entnehmen. Dass im Bewilligungsverfahren für eine Finanzierungsgesellschaft bei einem Verstoß gegen das Verbot nur der Widerruf ex post, nicht aber bereits explizit die Verweigerung der Genehmigung vorgesehen sei, stehe der Vorhersehbarkeit der von der CCFP getroffenen Entscheidung nicht entgegen. Der Gerichtshof teilte insoweit den pragmatischen Ansatz des Conseil d’État und akzeptierte das französische Gesetz als taugliche Eingriffsgrundlage726. Als legitimes Ziel des Eingriffs identifizierte der EGMR ebenso wie die französischen Stellen die Aufrechterhaltung der Ordnung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK. Auch wenn sich dieser Begriff vornehmlich auf die Abwendung von Störungen des öffentlichen Friedens beziehe, umfasse er gleichfalls den Schutz der institutionellen Ordnung727. Ob der Eingriff darüber hinaus die Verhütung von Straftaten bezwecke, bedürfe daher keiner Entscheidung. In der folgenden Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft betonte der Gerichtshof eingangs die Bedeutung von Regelungen zur Förderung der finanziellen Transparenz des politischen Lebens, in deren Rahmen auch das streitige Finanzierungsverbot ergangen sei728. Anschließend fasste er die wesentlichen Leitlinien für eine Rechtfertigung nach Art. 11 Abs. 2 EMRK zusammen729. Danach seien die dort vorgesehenen Ausnahmeregeln eng auszulegen, so dass nur überzeugende und zwingende Gründe Beschränkungen der Vereinigungsfreiheit rechtfertigen könnten. Den Konventionsstaaten komme bei der Beurteilung der Notwendigkeit einer Maßnahme lediglich ein eingeschränkter Einschätzungsspielraum zu, wohingegen der EGMR sich eine genaue 725 EGMR, a. a. O., Rn. 40 ff.; EGMR, Urt. v. 26.04.1991, Ezelin ./. Frankreich, Ser. A Vol. 202, Rn. 45. 726 EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 42. 727 EGMR, a. a. O., Rn. 43. 728 EGMR, a. a. O., Rn. 45, unter Hinweis auf die entsprechenden Äußerungen anderer Institutionen des Europarates (siehe o., II. 3.). 729 EGMR, a. a. O., Rn. 46.

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Kontrolle des einschränkenden Gesetzes und seiner Anwendung durch Behörden und Gerichte vorbehalte. Dies gelte besonders in Bezug auf politische Parteien angesichts ihrer wichtigen Rolle in einer demokratischen Gesellschaft. Aufgabe des Gerichtshofs sei es zu überprüfen, ob der Eingriff im Lichte der gesamten Fallgestaltung verhältnismäßig gewesen sei und die nationalen Stellen ihre Entscheidungen auf eine akzeptable Bewertung der relevanten Tatsachen gestützt hätten. Vorliegend erkannte der EGMR ohne weiteres die Notwendigkeit eines Verbots der Parteienfinanzierung durch ausländische Staaten zum Schutz der nationalen Souveränität an730. Im Hinblick auf Zuwendungen von ausländischen Parteien sei dagegen nicht von vornherein eine Souveränitätsbeeinträchtigung auszumachen. Der Gerichtshof entschied sich hier dafür, die Zulässigkeit der Parteienfinanzierung aus dem Ausland dem Beurteilungsspielraum731 der Konventionsstaaten zuzuordnen732. Zur Begründung verwies er auf die diesbezüglich festgestellte Heterogenität der Staatenpraxis und die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates für eine Reglementierung oder ein Verbot733. Daraus lasse sich insgesamt ableiten, dass das Verbot der Parteienfinanzierung durch ausländische Parteien nicht bereits als solches unvereinbar mit Art. 11 EMRK sei. Auf die Rolle des Europarechts ging der EGMR nur vergleichsweise kurz ein734. In Anknüpfung an das Gutachten der Venedig-Kommission bilde der europäische Kontext zweifelsohne ein zu berücksichtigendes Element, da eine gewisse Einwirkung („intrusion“) EU-ausländischer Parteien auf die Politik anderer Mitgliedstaaten zur Logik der europäischen Integration zu gehören scheine. Dennoch sei es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, sich in Fragen einzumischen, die die Vereinbarkeit von mitgliedstaatlichem Recht mit dem europäischen Integrationsvorhaben beträfen735. Außerdem handele es sich bei der Entscheidung des französischen Gesetzgebers für ein ausnahmsloses Finanzierungsverbot um eine hochpolitische Angelegenheit, die seinem Einschätzungsspielraum unterliege. Der EGMR nahm damit seine Prüfungsdichte so weit zurück, dass das Europarecht als Entscheidungsfaktor praktisch ausfiel736. 730

EGMR, a. a. O., Rn. 47. Engl. „margin of appreciation“; frz. „marge d’appréciation“. Vgl. allgemein Rupp-Swienty, S. 27 ff.; Macdonald, in: ders./Matscher/Petzold, S. 83 ff.; F. Wollenschläger, Gewährleistung, in: Iliopoulos-Strangas et al., Rechtsstaat, S. 45 (74 ff.). 732 EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 47. 733 Siehe o., II. 3. 734 EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 48. 735 Ebenda. Im frz. und engl. Originalwortlaut: „[I]l n’appartient pas à la Cour d’empiéter sur des questions qui touchent à la compatibilité du droit interne d’un Etat membre avec le projet communautaire.“/„[I]t is not for the Court to interfere in matters relating to the compatibility of a member State’s domestic law with the European Union project.“ 736 Siehe noch näher u., V. 731

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Schließlich untersuchte der Gerichtshof, ob Intensität und Ziel des Eingriffs in einem angemessenen Verhältnis standen737. Dem Finanzierungsverbot maß er hier lediglich eine begrenzte Tragweite zu, da es den juristischen Status der Bf. nicht betreffe und auch keine Zensurwirkung für politische Inhalte drohe. Der Bf. stehe es dagegen offen, erneut eine Genehmigung zu beantragen und ihre Finanzierung über Mitgliedsbeiträge, Spenden natürlicher Personen oder Zuwendungen französischer Parteien zu bestreiten oder aber die staatliche Parteienfinanzierung738 in Anspruch zu nehmen. Allerdings räumte der EGMR ein, dass die Erschließung dieser alternativen Finanzquellen im Fall der Bf. angesichts ihrer politischen Zielsetzung und ihres lokal begrenzten Aktionsradius hypothetisch erscheine. Da sich die Bf. jedoch letztlich in der gleichen Situation befinde wie jede andere finanzschwache Partei, sei sie durch die angegriffene Regelung nicht unangemessen beanachteiligt. Der EGMR hielt den Eingriff daher zur Aufrechterhaltung der Ordnung für gerechtfertigt und stellte mit 6:1 Stimmen fest, dass Art. 11 EMRK allein oder i.V. m. Art. 10 EMRK nicht verletzt sei. 3. Sondervotum Der von der Mehrheitsmeinung abweichende Richter Rozakis hat seine Auffassung in einem Sondervotum dargelegt. Auch er erkannte das legitime staatliche Interesse an, die Einkünfte politischer Parteien zu überprüfen, um Missbrauch in Form von Parteilichkeit und Korruption zu bekämpfen739. Anders als die Parteienfinanzierung durch ausländische Staaten, die auch einem vollständigen Verbot unterworfen werden könne, seien jedoch bei Zuwendungen durch ausländische Parteien moderne Entwicklungen und politische Realitäten wie der eng integrierte Verbund der EU zu berücksichtigen740. In diesem Zusammenhang wies Rozakis darauf hin, dass das französische Verbotsgesetz mit der Anknüpfung an den Begriff der ausländischen juristischen Person („personne morale de droit étranger“) nicht zwingend auch politische Parteien erfasse, so dass den Behörden in dieser Hinsicht ein gewisser Interpretationsspielraum im jeweiligen Einzelfall verbleibe741. Der kategorische und unflexible Ansatz der französischen Gerichte laufe dagegen auf ein präventives Pauschalverbot bereits der Gründung einer Finanzierungsgesellschaft hinaus, was für die betroffene Partei mit einer untrag-

737

EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 49 ff. Die wesentlichen Leistungen der staatlichen Parteienfinanzierung in Frankreich einschließlich der Wahlkampfkostenerstattung sind von den jeweiligen Wahlergebnissen der Parteien abhängig (vgl. EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007II, Rn. 14 f., 36, 50). 739 Abweichendes Sondervotum des Richters Rozakis zu EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, 381/416, Rn. 1. 740 Ebenda. 741 Sondervotum, a. a. O., Rn. 2 f. 738

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baren Belastung verbunden sei742. Auf diese Weise werde den staatlichen Stellen die ihnen nach dem Gesetz offenstehende Möglichkeit genommen, eine konventionskonforme Bewertung eines bestimmten Kapitaltransfers nach weiteren Kriterien als der bloßen Herkunft des Kapitals vorzunehmen. Insbesondere hätte anstelle der Präventivkontrolle eine mildere nachträgliche Überprüfung von Zuwendungen aus dem Ausland durchgeführt werden können743. Des weiteren kritisierte Rozakis nachdrücklich die völlige Missachtung des europäischen Kontexts des Falles, dem eine grundlegende Bedeutung zukomme744. Da beide involvierten Parteien rechtmäßig in EU-Mitgliedstaaten und damit innerhalb des europäischen Integrationsverbunds tätig seien, liege eine fundamental andere Konstellation vor als in einem „unorganisierten“ internationalen Umfeld. Zwar könnten auch im europäischen Rahmen noch Kontrollen und Verbote zum Tragen kommen. Der Umstand, dass das nationale Recht ohne jede Rücksicht auf die europäische Dimension angewandt worden sei, sei aber nicht akzeptabel und wirke sich unmittelbar auf den Umfang der von Art. 11 Abs. 2 EMRK erlaubten Beschränkungen aus. Richter Rozakis stellte somit eine unzulässige Überschreitung des staatlichen Spielraums fest und sah die Vereinigungsfreiheit der PNB verletzt.

V. Kritische Würdigung Im PNB-Fall kam es nicht zu einer Befassung der Großen Kammer des EGMR, so dass das Verfahren mit dem Urteil des Gerichtshofs von 2007 abgeschlossen war. Das Resultat des langen Rechtsstreits ist freilich ernüchternd, da auch die letzte europäische Rechtsschutzinstanz keine Durchsetzung der europarechtlich verbürgten Rechte der Bf. herbeigeführt hat. Damit sind die Verstöße der französischen Stellen gegen die Kapitalverkehrsfreiheit i.V. m. der europäischen Vereinigungsfreiheit sowie gegen die Vorlagepflicht zum EuGH sanktionslos perpetuiert worden. 1. Schwächen der konventionsrechtlichen Prüfung des EGMR Der Misserfolg der PNB bedeutet aber keineswegs, dass die EMRK von vornherein ein ungeeignetes Instrument zur Sicherstellung einer europarechtskonformen Parteienfinanzierung wäre. Zwar spielte die Verfahrensgarantie des Art. 6 Abs. 1 EMRK hier trotz des Vorlagepflichtverstoßes des Conseil d’État keine Rolle, da sie auf politisch geprägte parteienrechtliche Streitigkeiten nicht anwendbar ist745. In materieller Hinsicht lassen jedoch sowohl der auch politische 742

Sondervotum, a. a. O., Rn. 4. Sondervotum, a. a. O., Rn. 4 f. 744 Sondervotum, a. a. O., Rn. 5. 745 Siehe o., Teil 2, A. IV. 1. c); EGMR, Urt. v. 21.10.1997, Pierre-Bloch ./. Frankreich, Rep. 1997-VI, Rn. 49 ff.; EGMR, Entsch. v. 06.03.2003, Zˇdanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 24, Rn. 14. 743

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Parteien umfassende Schutzbereich von Art. 11 EMRK als auch der konventionsrechtliche Eingriffsbegriff per se alle Möglichkeiten für erfolgreiche Beschwerden offen. Das Scheitern der PNB geht vielmehr ausschließlich auf die vom Gerichtshof in concreto vorgenommene Rechtfertigungsprüfung zurück, die zwar dem üblichen Schema folgt, aber selbst bei rein konventionsrechtlicher Betrachtung inhaltliche Schwächen offenbart. So unterließ es der EGMR, die Erforderlichkeit des Finanzierungsverbots im Vergleich zu milderen Alternativmaßnahmen sorgfältig zu untersuchen, und verwies stattdessen lapidar auf den vermeintlichen staatlichen Einschätzungsspielraum im politischen Bereich746. Diese pauschale Argumentation ähnelt dem Vorgehen der französischen Stellen, die sich ebenfalls auf abstrakte Erwägungen stützten, ohne die spezifischen Besonderheiten der jeweiligen Fallgestaltung hinreichend zu würdigen. In methodischer Hinsicht lässt sich damit feststellen, dass der Gerichtshof seinem selbst gesetzten und vorliegend auch generell bestätigten Standard einer strengen Kontrolle der Notwendigkeit des Eingriffs in die Vereinigungsfreiheit in der konkreten Anwendung nicht gerecht geworden ist747. Weiterhin erscheint die Annahme der Verhältnismäßigkeit i. e. S. des Finanzierungsverbots unter Verweis auf erkanntermaßen748 rein hypothetische anderweitige Finanzquellen praxisfern und somit nicht überzeugend. Derartige Mängel an methodischer Konsistenz und argumentativer Stringenz in der Rechtsprechung des EGMR sind generell zu bedauern, da sie die Rechtssicherheit im Konventionssystem erschüttern und zudem den Mehrwert der Straßburger Judikatur als wirksames Korrektiv gegenüber den nationalen Instanzen schmälern. 2. Unterlassene Einbeziehung des Europarechts Die europarechtliche Dimension des Falles wurde vom Gerichtshof zwar thematisiert, floss jedoch nicht in die konventionsrechtliche Beurteilung ein, so dass trotz der Europarechtswidrigkeit des Finanzierungsverbots kein Konventionsverstoß angenommen wurde. Die diesbezügliche Zurückhaltung des Gerichtshofs mit der Begründung, sich nicht in europarechtliche Fragen einmischen und den staatlichen Spielraum achten zu wollen, überrascht angesichts der verschiede-

746 Zu den mitunter problematischen Auswirkungen eines Rückgriffs des EGMR auf den staatlichen Spielraum vgl. Rupp-Swienty, S. 266; Gundel, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 147, Rn. 41 f. Zur Gefahr eines Begründungsdefizits siehe insbesondere Macdonald, in: ders./Matscher/Petzold, S. 85. 747 Vgl. die offensichtliche Diskrepanz zwischen Definition (Rn. 46) und Anwendung (Rn. 47) der Kontrolldichte im Urteil des EGMR v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II. 748 Siehe EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 50 (hierzu schon o., IV. 2.). Auch Arndt/Engels, in: Karpenstein/Mayer, Art. 11 EMRK, Rn. 41, sprechen von „erkennbarer Skepsis“ des EGMR.

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Teil 5: Politische Rechte

nen Beispiele für eine erfolgreiche Durchsetzung des Europarechts mit Hilfe der EMRK749 und wurde im Sondervotum zu Recht kritisiert750. Schließlich bestanden auch im PNB-Fall dem Grunde nach gute Voraussetzungen für eine übereinstimmende Wertung in beiden Rechtsordnungen, weil sowohl die europäische Kapitalverkehrsfreiheit als auch die konventionsrechtliche Vereinigungsfreiheit gemäß der jeweils maßgeblichen Rechtsprechung nur unter Wahrung strenger Verhältnismäßigkeit einschränkbar sind751. Allgemein führt das Gebot der systemischen Integration (Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK) gegenüber den Mitgliedstaaten der EU zu einer menschenrechtsfördernden Auslegung der EMRK im Lichte des Europarechts752. Und auch aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit verbietet es sich, einen europarechtswidrigen mitgliedstaatlichen Eingriff konventionsrechtlich als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig einzustufen753; ein dergestalt argumentierender Mitgliedstaat müsste sich den berechtigten Vorwurf widersprüchlichen Verhaltens gefallen lassen754. Auf Europarecht basierende Begrenzungen staatlicher Gestaltungsfreiheit sind daher auch in Fragen politischer Natur für die Eingriffsrechtfertigung nach der EMRK von Belang. Da jedenfalls die EU-Mitgliedstaaten die Kapitalverkehrsfreiheit zu achten haben, kommt der Heterogenität der Regelungen zur Parteienfinanzierung in den Staaten des Europarates keine entscheidende Bedeutung mehr zu755. Für das Europarecht kann insoweit erst recht nichts anderes gelten als für nationale Gewährleistungen, an denen der EGMR die Staaten mitunter festgehalten hat, auch wenn sie nicht europaratsweit verbürgt waren756. Gerade in wirtschaftlich relevanten Bereichen spricht die weit fortgeschrittene europäische Integration für einen europarechtlich determinierten, einheitlichen EMRK-Kontrollstandard gegenüber den Mitgliedstaaten der EU, der einen extensiv verstandenen staatlichen Beurteilungsspielraum nicht mehr zulässt757. Jedenfalls die zwingenden Vorgaben des Europarechts kann der EGMR ohne weiteres vom Be-

749 Siehe etwa o., A. IV. 4., B. IV. 3., sowie Teil 3, A. I. 5. f), B. I. 5., II. 4., und Teil 4, B. II. 4. Vgl. auch Gundel, FS Scheuing, 58 (65). 750 Siehe o., IV. 3. 751 Vgl. auch Lécuyer, S. 271, der zutreffend alle Elemente für eine gegenteilige Entscheidung vorhanden sieht. 752 Siehe o., Teil 1, B. II. 2. 753 Vgl. schon o., Teil 3, B. II. 4., m.w. N.; Teil 4, B. I. 3. b) bb) (3); außerdem Langenfeld/A. Zimmermann, ZaöRV 52 (1992), 259 (313). Zum aus den Schrankenbestimmungen der Konventionsrechte implizit ableitbaren Recht auf rechtsstaatliches Handeln siehe Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG, Kap. 9, Rn. 91. 754 Langenfeld/A. Zimmermann, ZaöRV 52 (1992), 259 (313). 755 Vgl. auch allgemein o., Teil 1, B. II. 756 Vgl. etwa o., Teil 3, B. I. 4. d) bb), II. 3. b), 4. 757 Siehe bereits Rupp-Swienty, S. 268 ff.; Calliess, EuGRZ 1996, 293 (295, 298); Langenfeld/A. Zimmermann, ZaöRV 52 (1992), 259 (311 ff.).

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urteilungsspielraum ausnehmen und damit der konventionsrechtlichen Disposition der Mitgliedstaaten entziehen758. Angesichts der relativ klaren Rechtslage nach Europarecht759 wäre es dem EGMR im PNB-Fall auch problemlos möglich gewesen, den europarechtlichen Aspekten ohne Überschreitung seiner Zuständigkeit Rechnung zu tragen. So hätte eine bloße Anwendung der einschlägigen Normen einschließlich der zugehörigen Rechtsprechung des EuGH keinen Übergriff in dessen autonomen Interpretationsbereich bedeutet760. Auf diese Weise hätte der EGMR bereits zu dem Schluss kommen können, dass das französische Eingriffsgesetz in der vorgenommenen Auslegung wegen nachweislichen Verstoßes gegen vorrangiges Europarecht konventionsrechtlich schon keine anwendbare gesetzliche Grundlage darstellte761, wobei sich sogar die Offenkundigkeit des Verstoßes mit der Missachtung der Rechtsprechung des EuGH durch die nationalen Stellen hätte belegen lassen. Ein europarechtskonformes Ergebnis hätte sich allerdings selbst unter Verzicht auf eine formelle Heranziehung des Europarechts allein auf Grundlage der EMRK erzielen lassen, wenn der EGMR die im Rahmen des Art. 11 Abs. 2 EMRK vorgesehene strenge Kontrolle eingehalten hätte. Ebenso wie bei der Prüfung der Kapitalverkehrsfreiheit762 ergibt sich auch hiernach, dass gegenüber dem Finanzierungsverbot mildere Mittel zur Verfügung gestanden hätten und es somit an der Notwendigkeit des Eingriffs fehlte. Dass der Straßburger Gerichtshof stattdessen zum gegenteiligen Schluss gelangte, indem er Prüfungsumfang und -intensität signifikant verringerte, hat unweigerlich den Entscheidungseinklang von Europa- und Konventionsrechtsordnung geschwächt. Der PNB-Fall erweist sich damit als versäumte Gelegenheit für den EGMR, seine Stellung als entscheidende Wächterinstanz für den Grundrechtsschutz in Europa763 zu unterstreichen764. 3. Selbstbeschränkung des EGMR als Rechtsschutzhindernis Die eigenwillige Zurückhaltung des EGMR i. S. eines judicial self-restraint ist wohl nur mit dem hochpolitischen Charakter des Falles plausibel erklärbar, auf 758 Vgl. auch die Wertung des EGMR im Urt. v. 16.02.2010, Akdas ¸ ./. Türkei, Nr. 41056/04, Rn. 30 f. (Gewährleistung des Zugangs zu einem Werk des europäischen Literaturerbes durch Art. 10 EMRK). 759 Siehe o., III.; Tamme, Aspects of enforcement, S. 12. 760 Vgl. schon o., Teil 3, A. I. 5. d). 761 Vgl. entsprechend o., C. V. 1., sowie Teil 3, A. I. 5. b), und allgemein Teil 1, B. III. 762 Siehe o., III. 2. c). 763 Vgl. etwa o., A. IV. 4. (am Ende). 764 Tamme, Aspects of enforcement, S. 12; ähnlich Dautricourt, S. 37 f.; vgl. ferner Rupp-Swienty, S. 270.

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den der Gerichtshof auch selbst hingewiesen hat765. Grundsätzlich lässt sich nachvollziehen, dass eine internationale gerichtliche Instanz wie der EGMR in für einen Staat besonders sensiblen Fragen eine gewisse Rücksichtnahme walten lässt, um die dortige Akzeptanz der eigenen Entscheidungen nicht zu gefährden766. Vor dem Hintergrund des hohen Stellenwertes der nationalen Souveränität767 und der wiederholten Präsenz von ETA-Terroristen in Frankreich768 dürfte der von der PNB propagierte baskische Nationalismus hier ganz überwiegend auf Vorbehalte und Ablehnung stoßen. Nichtsdestotrotz ist es Aufgabe des Straßburger Gerichtshofs, bei der Anwendung der EMRK unvoreingenommen allein nach rechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden und das Individuum ohne Rücksicht auf politisch divergierende Auffassungen zu schützen769. Solange die etablierten Rechtfertigungsanforderungen der EMRK nicht erfüllt sind, bleiben mitgliedstaatliche Eingriffe in Konventionsgarantien rechtswidrig und sind zu beanstanden. Verordnet sich der EGMR dennoch aus politischen Erwägungen eine weitgehende Selbstbeschränkung, obwohl eine genaue Prüfung unter zumutbarem Aufwand möglich ist, ergeben sich nicht nur in Fällen mit europarechtlichem Bezug eklatante Rechtsschutzlücken770. Diese drohen die Wirksamkeit des Konventionssystems insgesamt zu unterminieren, so dass der unbedingt zu wahrende menschenrechtliche Mindeststandard771 nicht mehr garantiert werden kann. Die Straßburger Rechtsprechung sollte sich daher vielmehr an ihrem eigenen Anspruch orientieren, die EMRK als praktisches und effektives Instrument auszulegen und anzuwenden772. In der Rechtswirklichkeit ist hierfür erforderlich, auch unbequeme Entscheidungen nicht zu scheuen, wenn sie für eine wirksame Rechtsdurchsetzung angezeigt sind. Dass der EGMR dazu grundsätzlich durchaus in der Lage ist, hat er bislang schon des öfteren bewiesen. Im Interesse der Bürger bleibt somit zu hoffen, dass bei künftigen Straßburger Verfahren mit politischer Relevanz der hier verfolgte restriktive 765 EGMR, Urt. v. 07.06.2007, PNB ./. Frankreich, Rep. 2007-II, Rn. 48; Dautricourt, S. 38. Zur sonstigen Rechtsprechung des EGMR in diesem Kontext vgl. näher Rupp-Swienty, S. 189 ff. 766 K. Gebauer, Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme, S. 250; vgl. auch JacotGuillarmod, in: Pettiti/Decaux/Imbert, S. 50; Ress, ZaöRV 69 (2009), 289 (298); Calliess, EuGRZ 1996, 293 (294). 767 Siehe Titel I frz. Verf. sowie Lécuyer, S. 302; Classen, in: Sonnenberger/Classen, S. 46 f. 768 Vgl. hierzu bereits o., Teil 4, B. II. 1. 769 Doehring, ZaöRV 69 (2009), 311 (314). 770 Vgl. Rupp-Swienty, S. 191 f., 272 ff. 771 Siehe o., Teil 1, B. I.; vgl. auch Schweizer, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 138, Rn. 92; E. Klein, in: Merten/Papier, HGR VI/1, § 167, Rn. 64. 772 EGMR (GK), Urt. v. 27.09.1995, McCann et al. ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 324, Rn. 146; EGMR, Urt. v. 07.07.1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Ser. A Vol. 161, Rn. 87; Ress, ZaöRV 69 (2009), 289 (294, 308). Siehe auch o., A. VII. 1. b), und Teil 1, B. II. 2. c).

E. Ergebnis zu Teil 5

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einem ganzheitlichen Ansatz weichen möge, der eine sachgerechte Kontrolle gewährleisten und dabei auch etwaige europarechtliche Aspekte des Rechtsstreits einbeziehen sollte773.

E. Ergebnis zu Teil 5 Das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament gewährleistet die demokratische Beteiligung der Unionsbürger auf EU-Ebene und wird durch die primärrechtlichen Grundsätze der allgemeinen, unmittelbaren, freien und geheimen Wahl geprägt; die Gleichheit der Wahl ist vorbehaltlich spezieller Einschränkungen ebenfalls verbürgt. Für die konventionsrechtliche Durchsetzbarkeit des Europawahlrechts bestehen grundsätzlich günstige Rahmenbedingungen, da bis auf das Unmittelbarkeitsgebot sämtliche Wahlrechtsprinzipien auch von Art. 3 ZP 1 garantiert werden und der EGMR das Europäische Parlament im Matthews-Urteil als gesetzgebende Körperschaft anerkannt hat. Im dort zugrundeliegenden Rechtsstreit über das Europawahlrecht in Gibraltar hat der Straßburger Gerichtshof die Konventionswidrigkeit einer primärrechtlichen Ausschlussnorm festgestellt und damit stellvertretend für den EuGH den Rechtsschutz zugunsten des europäischen Wahlgrundrechts gesichert. Ferner beeinflussen sich die Wahlrechtsverbürgungen von Europa- und Konventionsrechtsordnung insoweit wechselseitig, als einerseits das Europarecht nach Maßgabe von Art. 52 Abs. 3 GRC im Lichte von Art. 3 ZP 1 auszulegen ist und sich andererseits der persönliche Schutzbereich von Art. 3 ZP 1 auch auf EU-Ausländer erstreckt, die nach Art. 22 Abs. 2 AEUV in ihrem Wohnsitzstaat europawahlberechtigt sind. Weiterhin können Unionsbürger ihre politischen Betätigungsrechte im Rahmen von Art. 10 f. EMRK unabhängig von ihrem jeweiligen Aufenthaltsstatus gegen die Mitgliedstaaten der EU durchsetzen. Dies gilt insbesondere auch für die den Mitgliedern des Europäischen Parlaments durch das VBP eingeräumten Vorrechte und Befreiungen. Schutzwirkung entfalten insoweit zudem Art. 5 EMRK gegen Freiheitsentziehungen sowie Art. 8 EMRK gegen Überwachungsmaßnahmen. Konventionsrechtliche Ausnahmeklauseln, die wie Art. 16 EMRK und Art. 56 Abs. 3 EMRK rechtsschutzhindernd wirken, sind demgegenüber generell restriktiv auszulegen. Die europarechtlichen Rechte auf grenzüberschreitende politische Mitwirkung führen sogar zur Unanwendbarkeit von Art. 16 EMRK auf Unionsbürger. Steht allgemein die Vereinbarkeit einer nationalen gesetzlichen Eingriffsgrundlage mit dem Europarecht in Frage, ist mit der Annahme einer materiellen Konventionsverletzung durch den EGMR nur zu rechnen, wenn der Europarechtsverstoß zumindest nachweisbar ist oder die nationalen Stellen offenkundig willkürlich vorgegangen sind. Die Missachtung der Vorlagepflicht allein lässt der EGMR hierfür indes nicht genügen. 773 Vgl. bereits Weidmann, S. 260, der die Entscheidungen des EGMR neben einem effektiven Grundrechtsschutz auch der europäischen Integration verpflichtet sieht.

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Teil 5: Politische Rechte

Die Regulierung der Finanzierung politischer Parteien bestimmt sich bei Parteien auf europäischer Ebene nach Europarecht und ansonsten nach dem Recht der Mitgliedstaaten. Diese haben jeweils die allgemeinen europarechtlichen Vorgaben wie Grundfreiheiten und Grundrechte zu beachten. Ein weitreichendes diskriminierendes Verbot der Parteienfinanzierung aus dem EU-Ausland ist üblicherweise mangels Erforderlichkeit als europarechtswidrig einzustufen. In Entsprechung hierzu schützt auch Art. 11 EMRK politische Parteien und verlangt regulär eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen. Gleichwohl räumt der EGMR den Staaten bei hochpolitischen Fragen mitunter einen weiten Einschätzungsspielraum ein, ohne europarechtliche Wertungen hinreichend zu berücksichtigen. Dadurch können Defizite im Rechtsschutz gegen europarechtswidrige Eingriffe in politische Rechte entstehen, die der EGMR künftig vermeiden sollte.

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Zusammenfassung der Ergebnisse I. Grundlagen 1. Das rechtliche Fundament der europäischen Integration hat wesentlich zu ihrem Erfolg beigetragen. Die praktische Wirksamkeit der Rechte, die das Europarecht den Einzelnen verleiht, hängt letztlich von der Gewährleistung eines effektiven Individualrechtsschutzes ab. Dafür kann eine stellvertretende Durchsetzung europarechtlicher Rechtspositionen durch den EGMR, die zur Schließung von Lücken im Rechtsschutzsystem von EU und Mitgliedstaaten führt, von zentraler Bedeutung sein. 2. Europarechtlich verbürgte Rechte können vom EGMR durch die Feststellung einer Konventionsverletzung durchgesetzt werden. Den unmittelbaren konventionsrechtlichen Prüfungsmaßstab bildet dabei nicht das Europarecht selbst, sondern die jeweils inhaltlich betroffene Garantie der EMRK. Bei materieller Übereinstimmung von Europa- und Konventionsrechtsordnung gibt letztere bereits autonom die Durchsetzung des Europarechts vor, so dass dessen formelle Heranziehung für den EGMR entbehrlich ist. Ansonsten kann das Europarecht auf verschiedene Weise in die konventionsrechtliche Beurteilung einfließen. 3. Bei der Auslegung der EMRK bezieht der EGMR in Entsprechung zu Art. 31 Abs. 3 lit. b WVK europarechtliche Vorschriften ein, die weitgehend einen gemeineuropäischen Standard oder eine übergreifende internationale Entwicklungslinie widerspiegeln. Außerdem ist das Europarecht vom EGMR im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU auch über die systemische Integrationsnorm des Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK zu berücksichtigen, wenn dies mit den übrigen Auslegungskriterien des Art. 31 WVK, insbesondere dem von der EMRK verfolgten Ziel des Menschenrechtsschutzes, in Einklang steht. Diese Vereinbarkeit ist im Kontext der individualschützenden Durchsetzung europarechtlicher Normen gegenüber den EU-Mitgliedstaaten regelmäßig gegeben. Die Auslegungspraxis des EGMR folgt diesbezüglich zwar keiner generellen dogmatischen Konzeption, lässt sich aber allgemein von Effektivität, evolutiver Dynamik und Gegenwartsbezogenheit leiten, was die Integration des Europarechts in die Konventionsrechtsordnung grundsätzlich begünstigt. 4. Verweist die EMRK durch Gesetzesvorbehalte oder sonstige normative Rezeptionsbegriffe auf konventionsfremdes Recht, wird dadurch auch das anwend-

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Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse

bare Europarecht in Bezug genommen. Der EGMR überprüft die Einhaltung konventionsfremden Rechts durch die Konventionsstaaten jedoch nur eingeschränkt, wobei seine Kontrollintensität von der Regelungsdichte auf Konventionsebene abhängt. Mit der Beanstandung einer innerstaatlichen Vorschrift ist insbesondere zu rechnen, wenn diese von einer zuständigen Instanz für rechtswidrig erklärt wurde oder in Inhalt oder Anwendung evidente Mängel erkennen lässt. 5. Die Durchsetzung des Europarechts durch den EGMR setzt die verfahrensrechtliche Zulässigkeit der zugehörigen Menschenrechtsbeschwerde gemäß den herkömmlichen Anforderungen der Art. 34 f. EMRK voraus. So muss der Beschwerdeführer partei-, prozess- und postulationsfähig sein, die Eigenschaft als Opfer einer Konventionsverletzung aufweisen und nach Erschöpfung aller wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfe fristgerecht Beschwerde beim EGMR erheben, ohne dass spezielle Unzulässigkeitsgründe eingreifen. Auf EU-Ebene bestehende Rechtsbehelfe gehören grundsätzlich zum innerstaatlichen Rechtsweg. 6. Bis die EU durch einen Beitritt zur EMRK selbst deren Vertragspartei wird, unterliegt sie keiner unmittelbaren völkerrechtlichen Bindung an die Konvention. Derzeit sind gegen die EU gerichtete Beschwerden mit der EMRK ratione personae unvereinbar, so dass eine Durchsetzung des Europarechts allein auf der Grundlage von Beschwerden gegen Mitgliedstaaten möglich ist. 7. Eingriffe der Unionsgewalt sind den Mitgliedstaaten zurechenbar, wenn diese daran zumindest indirekt durch Handeln oder Unterlassen mitgewirkt haben. Mitgliedstaatliche Eingriffe, die vom Sekundärrecht zwingend vorgeschrieben sind, werden vom EGMR gemäß der Bosphorus-Vermutung so lange als konventionsrechtlich gerechtfertigt angesehen, wie die EU einen im Einzelfall konventionsäquivalenten Rechtsschutz bietet. Zudem nimmt der EGMR auf das EU-Rechtsschutzsystem Rücksicht, indem er sich bisher einer Überprüfung der Dauer von Vorabentscheidungsverfahren anhand von Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält. 8. Art. 6 Abs. 2 EUV verpflichtet die EU bei Erfüllung der europarechtlichen Voraussetzungen zum Beitritt zur EMRK, durch den der Grundrechtsschutz in Europa erweitert und kohärenter gestaltet werden soll. Der Entwurf der zugehörigen völkerrechtlichen Übereinkunft zwischen der EU und allen Konventionsstaaten sah zunächst den Beitritt der EU zur EMRK selbst sowie zu den ZP 1 und 6 vor, wurde vom EuGH aber Ende 2014 als primärrechtswidrig eingestuft. 9. Ab Wirksamkeit des Beitritts entsteht eine direkte Konventionsbindung der EU, die damit zur potentiellen Beschwerdegegnerin vor dem EGMR wird. Handlungen und Unterlassungen der Unionsgewalt sowie unionsrechtsdeterminierte mitgliedstaatliche Akte werden der vollen externen Kontrolle durch den EGMR unterliegen, der seine Bosphorus-Rechtsprechung dann ersatzlos aufgeben sollte. Die EMRK wird in der Unionsrechtsordnung im formellen Rang eines völker-

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rechtlichen Vertrages nach Art. 216 Abs. 2 AEUV stehen. Die EU einschließlich des EuGH wird in allen Rechtssachen, in denen sie Partei war, nach Art. 46 Abs. 1 EMRK an die Rechtsprechung des EGMR gebunden sein. Daher sollte eine Möglichkeit zur Durchbrechung der Rechtskraft konventionswidriger Entscheidungen des EuGH geschaffen werden. 10. Der im Entwurf der Beitrittsübereinkunft vorgesehene Mitbeschwerdegegner-Mechanismus erlaubt es dem EGMR grundsätzlich, eine europarechtlich bedingte Konventionsverletzung ohne Klärung der innerunionalen Kompetenzverteilung festzustellen. Bei entsprechenden Zweifeln sollten künftige Beschwerden sowohl gegen die EU als auch gegen die betreffenden Mitgliedstaaten gerichtet werden. 11. Gegenüber dem geplanten Verfahren der Vorabbefassung des EuGH oder einem etwaigen eigenen Vorlagerecht des EGMR wäre es vorzugswürdig, den europäischen Individualrechtsschutz so auszubauen, dass der EuGH eine Missachtung der Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV durch mitgliedstaatliche Höchstgerichte wirksam sanktionieren kann. 12. Die absehbar zunehmende Bedeutung des Europarechts für die Konventionsrechtsordnung gibt dazu Anlass, bei der Auswahl von EGMR-Richtern verstärkt auf die europarechtliche Qualifikation der Kandidaten zu achten. Um einer drohenden Überlastung des EGMR vorzubeugen, besteht noch Raum für organisatorische und verfahrensrechtliche Anpassungsmaßnahmen.

II. Verfahrensrechte 13. Verfahrensrechte spielen eine wichtige Rolle für die Durchsetzung sämtlicher materiellen Rechtspositionen. Im Europarecht stellt das Vorabentscheidungsverfahren des Art. 267 AEUV einen essentiellen gerichtlichen Koordinierungsmechanismus dar, um die individualschützende Durchsetzung europarechtlicher Rechtspositionen unter Wahrung der unionsweiten Rechtseinheit zu gewährleisten. 14. Für die letztverbindliche Auslegung von Primärrecht sowie für die Gültigkeit und letztverbindliche Auslegung von Sekundärrecht und völkerrechtlichen Verträgen der EU hat der EuGH das Entscheidungsmonopol inne. Stellt sich eine entscheidungserhebliche europarechtliche Auslegungsfrage, die weder als acte éclairé noch als acte clair einzustufen ist und nicht nur vorläufig entschieden werden soll, sind letztinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage an den EuGH verpflichtet. Sobald die Gültigkeit von Europarecht in Frage steht, unterliegen alle mitgliedstaatlichen Gerichte ausnahmslos der Vorlagepflicht; für eine eigene „Ultra-vires-Kontrolle“ durch nationale Gerichte verbleibt praktisch kein Raum. Der EGMR ist nicht vorlageberechtigt.

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Teil 6: Zusammenfassung der Ergebnisse

15. Das Eingreifen der Vorlagepflicht führt zu einem korrespondierenden Anspruch der Streitparteien auf Vorlage an den EuGH. Obgleich die Befolgung der Vorlagepflicht für das Funktionieren des Vorabentscheidungssystems entscheidend ist, wird sie von den mitgliedstaatlichen Gerichten immer wieder fahrlässig oder vorsätzlich unterlassen. 16. Auf unionsrechtlicher Grundlage stehen lediglich das Vertragsverletzungsverfahren gemäß Art. 258 AEUV und die Staatshaftung für judikatives Unrecht als Sanktionsmittel gegen Vorlagepflichtverletzungen zur Verfügung, die jedoch beide nur eingeschränkt Abhilfe zu schaffen vermögen. 17. In einigen EU-Mitgliedstaaten können die nationalen Verfassungsgerichte die Verletzung der Vorlagepflicht u. U. als Verstoß gegen Justizgrundrechte beanstanden. Entsprechende Praxis ist in Deutschland, Österreich, Spanien, der Tschechischen Republik, der Slowakei und in Slowenien dokumentiert; in Kroatien, Malta und Ungarn sind zumindest die rechtlichen Voraussetzungen gegeben. Ein umfassender Rechtsschutz ergibt sich dadurch indes regelmäßig nicht. Hierfür wäre allgemein erforderlich, dass jeweils eine unabhängige mitgliedstaatliche Kontrollinstanz eine volle Überprüfung am Maßstab der europarechtlichen Vorlagepflicht vornimmt. 18. Das deutsche BVerfG beschränkt sich grundsätzlich auf eine Willkürkontrolle anhand des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG). Seine Rechtsprechung hat sich seit 2010 dem CILFIT-Maßstab des EuGH insofern angenähert, als eine vertretbare fachgerichtliche Begründung für das Nichtbestehen der Vorlagepflicht verlangt wird, lässt jedoch noch keine vollständige Kongruenz mit den europarechtlichen Kriterien erkennen. 19. Das BVerfG ist bislang zwar nicht europarechtlich, wohl aber verfassungsrechtlich aufgrund des Prinzips der Europarechtsfreundlichkeit (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG i.V. m. S. 1 der Präambel) und des Justizgewährungsanspruchs (Art. 20 Abs. 3 i.V. m. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) zur vollständigen Überprüfung sämtlicher Vorlagepflichtverstöße deutscher Fachgerichte verpflichtet. Darüber hinaus gebietet der europarechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz, dass das BVerfG vorzugsweise durch eine entsprechende Auslegung der materiellen Grundrechte des Grundgesetzes die Durchsetzung europarechtlicher Individualrechte mit der Verfassungsbeschwerde ermöglicht, wenn die jeweiligen Garantien hinreichend vergleichbar sind. 20. Angesichts der derzeitigen Lückenhaftigkeit der sonstigen Sanktionsmechanismen kommt dem Konventionsrechtsschutz gegen Vorlagepflichtverletzungen besondere Relevanz zu. Die dafür einschlägige Garantie ist Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der das Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren in Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen sowie über strafrechtliche Anklagen verbürgt, jedoch genuin öffentlich-rechtliche Verfahren nicht erfasst. EKMR und EGMR haben seit 1987 über zahlreiche entsprechende Beschwerden entschieden. Eine Konventionsverletzung wurde jedoch erstmals im Jahr 2014 fest-

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gestellt, obwohl auch schon früher Vorlagepflichtverstöße nachweisbar gewesen wären. 21. Die EKMR hat für eine diesbezügliche Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK eine nicht näher bestimmte willkürliche Unterlassung der Vorlage vorausgesetzt. Der EGMR übernahm dieses Willkürkriterium in seine ständige Rechtsprechung, konkretisierte es bis 2011 aber lediglich flexibel und stark einzelfallabhängig. An europarechtlichen Vorgaben orientierte sich der EGMR dabei jeweils nur sporadisch und selektiv. Dadurch entstanden Lücken und Unsicherheiten im Konventionsrechtsschutz gegen Vorlagepflichtverstöße. 22. Insbesondere nahm der EGMR keine Willkür an, wenn das nationale Gericht sich mit der Vorlagebedürftigkeit auseinandergesetzt oder seinen Vorlageverzicht sorgfältig begründet hatte oder aber zu einem inhaltlich nicht offenkundig falschen Ergebnis gelangt war. Desgleichen hielt er die Rücknahme eines Vorabentscheidungsersuchens für willkürfrei, wenn der EuGH dem vorlegenden Gericht die Entscheidung über den Fortgang des Vorlageverfahrens anheimgestellt hatte. Nach diesen Grundsätzen ist mit der Beanstandung einer Vorlagepflichtverletzung durch den EGMR am ehesten zu rechnen, wenn ein nationales Gericht Europarecht eigenmächtig für ungültig hält oder signifikant von der bestehenden Rechtsprechung des EuGH abweicht. Anderweitige nationale Verfahrensfehler, die den Vorlagepflichtverstoß begünstigt haben könnten, lässt der EGMR bei der Willkürprüfung regelmäßig außer Betracht; sie können indes ihrerseits Konventionsrechte verletzen. 23. In der Entscheidung John ./. Deutschland von 2007 verlangte der EGMR als notwendige Bedingung für die Bejahung von Willkür, dass der Bf. vor dem letztinstanzlichen Fachgericht die Erforderlichkeit eines Vorabentscheidungsverfahrens ausdrücklich und präzise begründet hat. Damit wurden die entsprechenden konventionsrechtlichen Anforderungen überspannt und der europarechtliche Kontext missachtet. Europarechtlich sind die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet, unmittelbar anwendbares Europarecht von Amts wegen zu prüfen, wenn sie nach nationalem Recht hierzu befugt sind; entsprechende Einschränkungen müssen dem Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip genügen. Im deutschen Prozessrecht gilt allgemein der Grundsatz iura novit curia. Generell sollten die Einzelnen jedenfalls vor dem letztinstanzlichen Fachgericht zum Europarecht vortragen, um bei unterlassener Vorlage die Unzulässigkeit außerordentlicher Anschlussrechtsbehelfe nach nationalem Recht und der EMRK zu vermeiden. 24. Im Urteil Ullens de Schooten und Rezabek ./. Belgien von 2011 definierte der EGMR den Willkürbegriff erstmals in ausdrücklicher Anknüpfung an die vorlagepflichtbegründende Rechtsordnung und näherte Art. 6 Abs. 1 EMRK damit weiter an ein Recht auf den gesetzlichen Richter an. Eine unterlassene Vorlage zum EuGH ist danach willkürlich und somit konventionswidrig, wenn das Europarecht keine Befreiung von der Vorlagepflicht vorsieht oder das nationale

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Gericht andere Gründe als die europarechtlich vorgesehenen anführt oder anhand der letzteren keine „ordnungsgemäße“ Begründung abgibt. Diese Ausrichtung am Europarecht erhöht die Effektivität und Transparenz der menschenrechtlichen Kontrolle. Gleichwohl überprüft der EGMR nicht im einzelnen die europarechtliche Richtigkeit der geforderten Nichtvorlagebegründung, so dass nach wie vor kein umfassender Konventionsrechtsschutz besteht. Zumindest in Fällen offenkundiger Unvertretbarkeit dürfte insoweit jedoch regelmäßig eine Beanstandung durch den EGMR zu erwarten sein. 25. Stellt der EGMR eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK infolge eines Vorlagepflichtverstoßes fest, hängt dessen wirksame Behebung davon ab, ob die mitgliedstaatliche Rechtsordnung eine Wiederaufnahme des gerichtlichen Verfahrens zulässt. Die Einräumung einer solchen Möglichkeit in allen Verfahrenszweigen sollte für die Staaten konventionsrechtlich verpflichtend werden. Ansonsten sollte der EGMR mit einer Entschädigung nach Art. 41 EMRK wenigstens eine angemessene finanzielle Kompensation gewähren. 26. Die sonstigen Verfahrensgarantien der EMRK haben bislang keine relevante Bedeutung für den Rechtsschutz gegen Vorlagepflichtverletzungen erlangt. In Bezug auf Strafverfahren lehnt es der EGMR unter Hinweis auf die Prärogative der nationalen Stellen für Fragen des innerstaatlichen Rechts ab, bei Missachtung der Vorlagepflicht auf das Fehlen einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage für eine Verurteilung zu schließen und eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 EMRK anzunehmen. Das akzessorische Recht auf wirksame Beschwerde in Art. 13 EMRK sieht der EGMR gewöhnlich als vom strengeren Art. 6 Abs. 1 EMRK absorbiert an. Bei höchstrichterlichen Vorlagepflichtverstößen verlangt er anders als bei überlanger Verfahrensdauer und Defiziten im Urteilsvollzug trotz vergleichbarer Ausgangslage keinen innerstaatlichen Rechtsbehelf. 27. Um die konventionsrechtliche Durchsetzbarkeit der Vorlagepflicht zum EuGH zu steigern, sollte der EGMR seine Willkürkontrolle nach Art. 6 Abs. 1 EMRK vollständig an die europarechtlichen Kriterien anpassen. Ein Konventionsverstoß wegen unterlassener Vorlage ist in der Regel anzunehmen, wenn die materielle Europarechtslage zumindest nicht zweifelsfrei feststand. Nur in speziellen Ausnahmefällen kann die Evaluation der Vorlagepflicht durch den EGMR das Monopol des EuGH zur verbindlichen Auslegung von Europarecht tangieren; hierauf sollte der EGMR erforderlichenfalls durch Selbstbeschränkung Rücksicht nehmen. Dem EGMR und hilfsweise den Konventionsstaaten ist zu empfehlen, den Schutzbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Einbeziehung auch genuin öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten auszuweiten. 28. Der Rechtsschutz gegen Vorlagepflichtverletzungen sollte auf der Ebene des EU-Primärrechts durch Einführung einer individualschützenden Nichtvorlagebeschwerde beim EuGH als kompetenter Stelle ergänzt werden. Die Bewäl-

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tigung der Verfahren ist durch strenge Zulässigkeitsvoraussetzungen sowie eine adäquate Ausstattung und Organisation des EuGH sicherzustellen. Eine Verurteilung durch den EuGH sollte die Mitgliedstaaten zumindest zur Wiederaufnahme des nationalen Gerichtsverfahrens verpflichten. Die zu erwartenden Präventivund Filterwirkungen würden insbesondere nach einem EMRK-Beitritt der EU gerade den EGMR als Reserveinstanz entlasten. 29. Die Nichtbefolgung gerichtlicher Entscheidungen, die dem Schutz europarechtlicher Rechte dienen, durch Zuwiderhandlung oder Untätigkeit mitgliedstaatlicher Stellen kann die Wirksamkeit des Europarechts schwächen oder vereiteln. Art. 6 Abs. 1 EMRK gebietet innerhalb seines Schutzbereichs die effektive Durchsetzung endgültiger Gerichtsurteile als zentrales Element von Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit. Die nationale Exekutive und ggf. auch Legislative müssen vorbehaltlich besonderer Umstände in angemessener Zeit urteilskonform handeln; Defizite im Urteilsvollzug sind durch den EGMR sanktionierbar. Europarechtliche Rechtspositionen können so regelmäßig konventionsrechtlich durchgesetzt werden, wenn sie in einer rechtskräftigen und verbindlichen nationalen Gerichtsentscheidung anerkannt worden sind. Auf diese Weise wird zumindest indirekt auch die Beachtung der zugrundeliegenden Rechtsprechung des EuGH gefördert. 30. Missachtet ein letztinstanzliches mitgliedstaatliches Gericht ein Urteil des EuGH, greifen in erster Linie die Sanktionsmechanismen gegen Vorlagepflichtverletzungen. Der Konventionsrechtsschutz gegen die Nichtbefolgung supranationaler Urteile durch nationale Höchstgerichte besitzt noch keine klaren Konturen. Der EGMR zeigt insoweit Zurückhaltung, würde sich bei Beanstandung deutlich erkennbarer Rechtsprechungsabweichungen aber innerhalb seiner Zuständigkeit halten. Eine solche Kontrolle anhand von Art. 6 Abs. 1 EMRK wäre teleologisch und systematisch begründbar und könnte den EGMR in eine einflussreiche Schiedsrichterfunktion zwischen dem EuGH und den Höchstgerichten der Mitgliedstaaten bringen.

III. Rechte aus europäischen Richtlinien 31. Die unterlassene, verspätete oder fehlerhafte Umsetzung europäischer Richtlinien steht der praktischen Implementierung richtlinienimmanenter individualschützender Regelungen entgegen. Der Kompensation auf europarechtlicher Ebene dienen die vom EuGH anerkannten Mechanismen der unmittelbaren Richtlinienwirkung als Mindestgarantie sowie der mitgliedstaatlichen Staatshaftung für legislatives, exekutives und judikatives Unrecht. Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten wird durch die europarechtlichen Gebote der Gleichbehandlung und Effektivität begrenzt. Die Anforderungen des Effektivitätsgebots sind anhand sämtlicher Umstände des Einzelfalls zu konkretisieren; bei fehlender nationaler Rechtswegerschöpfung scheidet ein Verstoß regelmäßig aus.

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32. In Frankreich war die unmittelbare Wirkung europäischer Richtlinien zwischen 1978 und 2009 nur eingeschränkt verwaltungsgerichtlich durchsetzbar. Richtlinienwidrige Eingriffe konnten lediglich bei Illegalität der zugrundeliegenden Ermächtigungsnorm abgewehrt werden. Zudem bestand bis 1989 keine nationale Kontrolle der Europarechtskonformität französischer Parlamentsgesetze und des zugehörigen Durchführungsrechts außerhalb der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichtsbarkeit. 33. Diese Gegebenheiten verursachten Rechtsschutzlücken in diversen Verfahren über die Rückzahlung von Steuern, welche infolge unterbliebener Richtlinienumsetzung europarechtswidrig erhoben worden waren. Die französischen Gerichte negierten hier die primären Erstattungsansprüche der Betroffenen und versagten zudem aus prozessrechtlichen oder Rechtskrafterwägungen den Sekundärrechtsschutz. Dabei wurde die Pflicht zur Vorlage an den EuGH systematisch verletzt. 34. Der EGMR erkennt durch europäisches Primär- oder Sekundärrecht gesicherte vermögenswerte Rechte, insbesondere Ansprüche auf Steuerrückzahlung, in unmittelbarer Anknüpfung an die Europarechtsordnung als Eigentumspositionen i. S. d. Art. 1 ZP 1 an. Der Schutzbereich ist auch dann eröffnet, wenn eine erfolgreiche Rechtsdurchsetzung auf nationaler Ebene nicht gewährleistet ist. In diesem Fall liegt ein Eingriff in die Konventionsgarantie vor, dessen Rechtfertigung im Ergebnis grundsätzlich von seiner Europarechtskonformität abhängt; die Befolgung des Europarechts wird allgemein als legitimes Eingriffsziel eingestuft. Im einzelnen stellt der EGMR nicht auf die Anwendbarkeit der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ab, sondern prüft die Wahrung des Allgemeininteresses und der Verhältnismäßigkeit. In die Abwägung wird ebenfalls die verfahrensrechtliche Dimension einbezogen, so dass sich eine weitgehende Parallelität der Wertungskriterien von Europa- und Konventionsrechtsordnung ergibt. Auch europarechtliche Staatshaftungsansprüche und das Effektivitätsgebot können so indirekt mit Hilfe des EGMR gegen die Mitgliedstaaten durchgesetzt werden. 35. Erweist sich ein vorlagepflichtwidrig ergangenes nationales Urteil erkennbar auch als materiell europarechtswidrig, kann der EGMR durch die Feststellung eines Verstoßes gegen eine inhaltlich betroffene nichtverfahrensrechtliche Garantie der EMRK den Ausfall sonstiger Rechtsschutzmöglichkeiten abmildern oder kompensieren. Dadurch wird zum einen die Vorlagepflichtverletzung indirekt sanktioniert und zum anderen die europarechtliche Letztentscheidungskompetenz des EuGH gegenüber den mitgliedstaatlichen Gerichten gestärkt. Ist die materielle Europarechtslage hingegen unklar, fehlt insoweit typischerweise der Bezugspunkt für eine europarechtsorientierte Entscheidung des EGMR, weil dieser nicht vorlageberechtigt und aufgrund des Monopols des EuGH, das Europarecht verbindlich auszulegen, an einer autonomen Interpretation gehindert ist. 36. Urteile des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren wirken vorbehaltlich anderweitiger Anordnung bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ausgelegten

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Norm zurück und ermöglichen damit auch die Klärung von in der Vergangenheit begründeten Rechtsverhältnissen. Der EGMR bezieht hingegen die Rückwirkung von Vorabentscheidungsurteilen, die erst nach der letzten innerstaatlichen Entscheidung ergangen sind, nicht mehr in seine materielle Beurteilung ein. Stattdessen sollte künftig die vom EuGH gefundene Auslegung auch konventionsrechtlich zugrundegelegt werden, um Rechtsschutzlücken nach Vorlagepflichtverletzungen zu vermeiden. 37. Die europarechtsbezogene Rechtsprechung des EGMR schwankt in ihrer methodischen Konsistenz; ein zu schematischer oder selektiver Ansatz kann die Ausrichtung der konventionsrechtlichen Prüfung am Europarecht behindern. Zieht der EGMR das anwendbare Europarecht im Einzelfall nicht oder nur unvollständig heran, steigt die Wahrscheinlichkeit für ergebnisrelevante Abweichungen der Konventions- von der Europarechtsordnung. Diese beeinträchtigen zwar den gemeinsamen Entscheidungseinklang, können auf EMRK-Ebene ggf. aber auch zu einem vergleichsweise höheren Schutzniveau führen, das sich auf die Durchsetzung von Individualrechten nicht negativ auswirkt. 38. Das Umweltrecht in der EU wird durch diverse europäische Richtlinienvorgaben geprägt, die insbesondere die Gewährleistung von Umweltinformationen und Öffentlichkeitsbeteiligung, die Umweltverträglichkeitsprüfung sowie den Schutz einzelner Umweltmedien regeln. Ihre individualschützenden Bestimmungen müssen für die Bürger wirksam durchsetzbar sein. Gerade im Umweltbereich treten aber häufig Defizite im mitgliedstaatlichen Vollzug des zur Richtlinienumsetzung ergangenen Rechts auf. Sie gehen auf allgemeine Verwaltungsschwächen, politische Zielkonflikte oder unübersichtliche Regelungstechnik zurück und gefährden sowohl ökologische als auch ökonomische Belange. 39. Auf Unionsebene kann die Kommission auf Vollzugsmängel mit einem Vertragsverletzungsverfahren reagieren. Für eine frühzeitige und dezentrale Abhilfe sollten die Mitgliedstaaten die Effektivität von behördlicher Aufsicht und gerichtlichem Rechtsschutz sicherstellen. Die unmittelbare Richtlinienwirkung, die mitgliedstaatliche Staatshaftung und das Vorabentscheidungsverfahren sind jedoch nur sehr begrenzt zur Behebung von Vollzugsfehlern geeignet. 40. Der EGMR kann subsidiär und ggf. im Piloturteilsverfahren zur Implementierung europäischer Umweltstandards beitragen, indem er v. a. die liberalen Abwehrrechte der EMRK auf umweltrechtliche Sachverhalte anwendet. Dergestalt kommt zuvörderst Art. 8 EMRK als universell heranziehbares ökologisches Menschenrecht zum Tragen, soweit eine umweltbedingte signifikante Beeinträchtigung der Wohnung oder des Privat- und Familienlebens eintritt. Ferner kann Rechtsschutz durch den EGMR über Art. 2, 6 oder 13 EMRK zu erreichen sein. Außer nach Art. 41 EMRK trifft der Gerichtshof allerdings keine konkreten Anordnungen zur Behebung einer Konventionsverletzung.

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41. Die konventionsautonomen Leitlinien des EGMR bei der Prüfung von Art. 8 EMRK im umweltrechtlichen Kontext erweisen sich als relativ unbestimmt und ausfüllungsbedürftig. In Schutzpflichtfällen wird in der Regel anhand einer Interessenabwägung untersucht, ob der Staat die notwendigen Schutzmaßnahmen getroffen hat. Zunehmend richtet der EGMR seine Beurteilung am zur Richtlinienumsetzung ergangenen nationalen Recht aus, so dass durch dieses mediatisiert auch die dahinterstehenden Richtlinienrechte in den Standard von Art. 8 EMRK einfließen und durchgesetzt werden können. Dann besteht insoweit auf allen drei Verbundebenen eine rechtliche Konvergenz. Nur bei nicht ordnungsgemäßer Richtlinenumsetzung ist ein direktes Abstellen des EGMR auf die europarechtliche Rechtsquelle selbst erforderlich. Die Missachtung des Europarechts oder des zugehörigen nationalen Umsetzungsrechts durch den Mitgliedstaat indiziert jedenfalls das Fehlen eines ausgewogenen Interessenausgleichs nach der EMRK. 42. Der EGMR berücksichtigt bei der Beurteilung nach Art. 8 EMRK auch den Ablauf des innerstaatlichen Verfahrens. Im umweltrechtlichen Kontext sind namentlich die vorherige Durchführung geeigneter Prüfungsverfahren, eine hinreichende Öffentlichkeitsbeteiligung und der gerichtliche Rechtsschutz einschließlich der Befolgung nationaler Gerichtsurteile von Bedeutung. Dadurch wird der Durchsetzung europarechtlicher Bürgerrechte und Verfahrensgarantien weiterer Raum eröffnet. 43. Das Rechtsstaatsprinzip entfaltet allgemein eine rechtsordnungsübergreifende Integrationsfunktion und erleichtert gerade zwischen Europa- und Konventionsrecht die Erzielung übereinstimmender Wertungen zugunsten eines effektiven Rechtsschutzes. Insbesondere spricht das in einer mitgliedstaatlichen Europarechtsverletzung liegende Rechtsstaatlichkeitsdefizit konventionsrechtlich regelmäßig für die Feststellung eines Verstoßes gegen die EMRK.

IV. Freizügigkeitsrechte 44. Im Europarecht ist die grenzüberschreitende Freizügigkeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten durch Mobilitäts- und Aufenthaltsrechte sowie das Gebot der Inländergleichbehandlung auf grundfreiheitlicher und unionsbürgerschaftlicher Grundlage verbürgt. Dieses Regime wird durch Sekundärrecht und Rechtsprechung des EuGH näher konkretisiert. Auch Personen ohne Unionsbürgerstatus können aufgrund der GRC, der Rechte familienangehöriger Unionsbürger oder völkerrechtlicher Abkommen mit Drittstaaten in unterschiedlichem Umfang freizügigkeitsberechtigt sein. Insbesondere genießen türkische Arbeitnehmer gemäß dem ARB 1/80 ein beschäftigungsabhängiges gestuftes Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat. Der Entzug eines europarechtlich begründeten Aufenthaltsrechts aus Gründen des Ordre public setzt mindestens voraus, dass sich aus dem

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persönlichen Verhalten des Ausländers im Einzelfall eine konkrete und gegenwärtige Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft ableiten lässt. 45. Vor dem EGMR hat v. a. der Rechtsschutz zugunsten aufenthaltsrechtlicher Positionen am Maßstab von Art. 8 EMRK praktische Relevanz erlangt. Der einschlägige Schutzbereich des Privat- und Familienlebens knüpft im wesentlichen an die Intensität und Dauer persönlicher Beziehungen und damit an tatsächliche Gegebenheiten an, so dass europarechtliche Vorgaben erst auf Rechtfertigungsebene rezipiert werden können. Die dadurch entstehenden Schutzlücken lassen sich durch Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 ZP 4 sowie Art. 1 ZP 7 nur teilweise schließen. 46. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen, die in Art. 8 EMRK eingreifen, müssen auf gesetzlicher Grundlage ergehen und für die erfassten Schutzgüter notwendig sein. In der aufenthaltsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung zieht der EGMR selektiv und einzelfallabhängig die seit dem Boultif-Urteil aufgestellten Abwägungskriterien heran. Wird der Eingriff für konventionswidrig erklärt, muss der verurteilte Staat einem bereits abgeschobenen Ausländer unverzüglich die Wiedereinreise gestatten. 47. Beruft sich ein Bf. vor dem EGMR auf das Europarecht, trägt er grundsätzlich die Beweislast für die Tatsachen, die die Anwendbarkeit des Europarechts begründen. Der EGMR legt überwiegend die diesbezüglichen Feststellungen der innerstaatlichen Gerichte zugrunde, sofern das dortige Verfahren nicht willkürbehaftet war. Daher sollten die erforderlichen Tatsachenbeweise möglichst bereits auf nationaler Ebene angetreten werden. 48. In aufenthaltsrechtlichen Fällen kann der EGMR die Europarechtskonformität des Eingriffs im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung systemgerecht überprüfen, sofern die europarechtliche Rechtslage hinreichend klar ist. Übereinstimmende Standards nach Europarecht und EMRK bestehen v. a. im Hinblick auf spezifisch grundrechtliche Anforderungen sowie gegenüber automatischen Ausweisungen. Im Kontext von generalpräventiven Eingriffen und Betäubungsmittelkriminalität liegt die EMRK hingegen unter dem Schutzniveau des Europarechts, weil der EGMR noch nicht konsequent auf europarechtliche Vorgaben zurückgreift. 49. Mitgliedstaatliche Vollzugsdefizite bei der europarechtlich gebotenen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis werden vom EGMR ebenfalls über Art. 8 EMRK sanktioniert. Dabei hat der Gerichtshof diese Garantie ausdrücklich im Lichte des Europarechts erweiternd ausgelegt und so seine Kontrolle verschärft. Fehlt für den unterbliebenen Norm- oder Urteilsvollzug sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene eine gesetzliche Eingriffsgrundlage, wird unter Verzicht auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung unmittelbar eine Konventionsverletzung angenommen.

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50. Art. 2 Abs. 1 ZP 4 verbürgt allein die mitgliedstaatsinterne Freizügigkeit und kann daher nur insoweit europarechtliche Fortbewegungs- und Niederlassungsrechte einschließlich ihrer wirtschaftlichen Dimension absichern. Das Recht auf Ausreise ist europarechtskonform über Art. 2 Abs. 2 ZP 4 durchsetzbar. Konventionsrechtliche Einreiserechte bestehen nach Art. 3 Abs. 2 ZP 4 nur für eigene Staatsangehörige sowie nach Art. 8 EMRK für nachziehende Familienmitglieder, soweit das Familienleben nicht anderweitig zumutbar hergestellt werden kann. Nach Europarecht verbotene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit lassen sich im Regelungsbereich eines Konventionsrechts über Art. 14 EMRK, ansonsten allein über Art. 1 ZP 12 sanktionieren.

V. Politische Rechte 51. Die Wahl zum Europäischen Parlament ist seit Inkrafttreten des DWA 1978 als Direktwahl organisiert. Sie gewährleistet in zahlreichen Politikfeldern die demokratische Partizipation der Unionsbürger auf EU-Ebene. Das Wahlverfahren ist gegenwärtig nicht einheitlich, sondern auf Basis der Verhältniswahl nach den Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen ausgestaltet. Die Unionsbürger sind Inhaber eines subjektiven europäischen Wahlgrundrechts, das sich aus den primärrechtlichen Geboten der allgemeinen, unmittelbaren, freien, geheimen und gleichen Wahl konstituiert und im Lichte des Art. 3 ZP 1 auszulegen ist. 52. Europawahlen müssen im gesamten Unionsgebiet einschließlich aller Gebiete, in denen die Vorschriften über das Europawahlrecht anwendbar sind, abgehalten werden. In anderen Gebieten wie den assoziierten ÜLG nach Anhang II AEUV können die Mitgliedstaaten den Unionsbürgern, ggf. in Anknüpfung an den Wohnsitz, freiwillig das Wahlrecht einräumen. Bei der Ausfüllung und Ergänzung des europäischen Wahlrechtsregimes müssen die Mitgliedstaaten die allgemeinen europarechtlichen Grundsätze, insbesondere das Effektivitäts- und das Gleichbehandlungsgebot, beachten. 53. Im geschriebenen Europarecht ist die Gleichheit der Wahl lediglich im Hinblick auf den Zählwert verbürgt. Das Recht auf gleichen Erfolgswert und gleiche Erfolgschance besteht allein als ungeschriebener allgemeiner Rechtsgrundsatz, der aber verhältnismäßige Einschränkungen zulässt. Die sich derzeit aus dem System der degressiven Proportionalität und verfahrensrechtlichen Unterschieden ergebenden Gleichheitsdefizite bei Europawahlen sind daher grundrechtskonform. Bei fortschreitender Integration sollten eine weitere Vereinheitlichung des Europawahlverfahrens sowie die Einrichtung mitgliedstaatsübergreifender Wahlkreise angestrebt werden. 54. Art. 3 ZP 1 schützt das individuelle aktive und passive Wahlrecht zu nach dem jeweils anwendbaren Recht konstitutiven Legislativorganen. Das Europäische Parlament wird vom EGMR als gesetzgebende Körperschaft für die dem

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Europarecht unterworfenen Gebiete qualifiziert. Mit Ausnahme der Unmittelbarkeit der Wahl umfasst Art. 3 ZP 1 auch die europarechtlichen Wahlrechtsgrundsätze, wobei gerade die Gleichheit von Erfolgswert und -chance an der Systemgerechtigkeit orientiert ist. Eingriffe in die Rechte aus Art. 3 ZP 1 unterliegen den üblichen Rechtfertigungsanforderungen. Damit sind weitgehend ähnliche Gewährleistungen wie im Europarecht verbürgt, was dessen Durchsetzbarkeit vor dem EGMR begünstigt. 55. Für auf völkerrechtlicher Grundlage entstandenes europäisches Primärrecht besteht eine gemeinsame konventionsrechtliche Verantwortlichkeit der EUMitgliedstaaten. Im Falle der Grundrechtswidrigkeit von Primärrecht kann der EGMR stellvertretend effektiven Rechtsschutz bieten, wenn der EuGH etwa infolge seiner insoweit fehlenden Normverwerfungskompetenz hierzu nicht in der Lage sein sollte. Obgleich nach Feststellung eines EMRK-Verstoßes die Verpflichtung aus Art. 46 Abs. 1 EMRK formell allein die verurteilte Verfahrenspartei trifft, bleiben materiell-rechtlich auch alle anderen Konventionsparteien zu vertragsgemäßem Verhalten verpflichtet. 56. Zur Befolgung des Matthews-Urteils des EGMR hat das Vereinigte Königreich das Europawahlrecht in Gibraltar unilateral eingeführt und über das nationale Recht ausgestaltet. Diese Regelung hat der EuGH nachfolgend in Anknüpfung an die Straßburger Rechtsprechung als europarechtskonform bestätigt. Die im europäischen Primärrecht bestehende Kollisionslage zwischen dem formell fortgeltenden Anhang I DWA und dem Wahlgrundrecht lässt sich zugunsten des letzteren nach dem Lex-posterior-Grundsatz auflösen. 57. Nach Maßgabe des Vertrags von Lissabon sind ausschließlich die Unionsbürger europawahlberechtigt, so dass die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörigen das Wahlrecht zum Europäischen Parlament nicht mehr einräumen dürfen. Erwerb und Verlust des Unionsbürgerstatus werden jedoch nach wie vor durch die mitgliedstaatlichen Staatsangehörigkeitsregeln bestimmt, die im Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben auszugestalten und anzuwenden sind. Willkürliche oder sonst missbräuchliche Ausbürgerungen, die zum Verlust von Unionsbürgerschaft und Europawahlrecht führen, sind mit Art. 3 ZP 1 nicht vereinbar. 58. Das im Vertrag von Maastricht eingeführte und durch die Richtlinie 93/ 109/EG konkretisierte Europawahlrecht ausländischer Unionsbürger in ihrem Wohnsitzmitgliedstaat begrenzt die Wirkung der nationalen Kontingentierung des Europäischen Parlaments und fördert die Verwirklichung des Demokratieprinzips. Im Anwendungsbereich dieses Rechts ist der persönliche Schutzbereich von Art. 3 ZP 1 durch europarechtsfreundliche Auslegung auf EU-Ausländer zu erstrecken, so dass auch konventionsrechtlich entsprechender Rechtsschutz gegen den Wohnsitzstaat sichergestellt ist. 59. Die politische Betätigung von Unionsbürgern steht gegenüber der mitgliedstaatlichen Hoheitsgewalt unter dem Schutz von Art. 10 und 11 EMRK, ohne

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dass es auf den jeweiligen Aufenthaltsstatus der Unionsbürger und die Rechtslage nach Art. 2 ZP 4 ankommt. Namentlich Art. 10 EMRK umfasst auch die freie Wahl des Ortes der Meinungsäußerung einschließlich der grenzüberschreitenden Kommunikation. Die politischen Freiheitsgarantien der EMRK können weiterhin zugunsten der Status- und Sonderrechte von Mitgliedern des Europäischen Parlaments (z. B. Reisefreiheit) Schutzwirkung entfalten. Allgemein führt der EGMR bei Eingriffen in die Meinungsäußerungsfreiheit gewählter Volksvertreter eine besonders strenge Kontrolle durch. Eine im Ergebnis erfolgreiche Durchsetzung des Europarechts über die EMRK ist u. U. auch dann möglich, wenn sich der EGMR lediglich an den wesentlichen Determinanten der europarechtlichen Vorgaben orientieren kann. 60. Die nicht mehr zeitgemäße Kolonialklausel des Art. 56 Abs. 3 EMRK und der Ausländervorbehalt in Art. 16 EMRK werden vom EGMR als gesonderte Rechtfertigungsgründe behandelt und restriktiv ausgelegt. Insbesondere stellen Unionsbürger in der EU sowie in den ÜLG, in denen Europawahlen stattfinden, aufgrund ihrer europarechtlich verbürgten politischen Mitwirkungsrechte keine Ausländer i. S. d. Art. 16 EMRK dar. 61. Die parlamentarische Immunität und Indemnität von Europaabgeordneten sind nach Maßgabe des VBP zu bestimmen und können mit Hilfe der EMRK gegen strafverfahrensrechtliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten verteidigt werden. Eine Überwachung etwa der Telekommunikation ist an Art. 8 EMRK, eine Freiheitsentziehung an Art. 5 EMRK zu messen. Der im Rechtmäßigkeitserfordernis des Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK enthaltene Verweis auf konventionsfremdes Recht erleichtert dem EGMR die weitgehende Berücksichtigung auch des einschlägigen Europarechts. 62. Allgemein ist zu erwarten, dass der EGMR aus rechtsstaatlichen Gründen von der Unanwendbarkeit eines nachweislich oder sogar offenkundig europarechtswidrigen mitgliedstaatlichen Gesetzes ausgeht und ein solches nicht als ausreichende Grundlage für Eingriffe in ein Konventionsrecht anerkennt. Wenn infolge einer Missachtung von Art. 267 Abs. 3 AEUV die Europarechtskonformität eines Eingriffs unklar bleibt, verweigert der Straßburger Gerichtshof allein aus diesem Grund aber nicht die Anerkennung der nationalen Rechtsgrundlage als hinreichend bestimmtes und vorhersehbares Gesetz i. S. d. EMRK. Diesbezüglich wird ein Konventionsverstoß regelmäßig nur bei offensichtlich willkürlicher Rechtsauslegung oder -anwendung durch die innerstaatlichen Gerichte angenommen. Ist keine evidente Willkür feststellbar, kann die Vorlagepflichtverletzung folglich eine Schwächung des materiell-rechtlichen Konventionsrechtsschutzes bewirken, soweit dem EGMR die europarechtlichen Leitlinien für seine inhaltliche Beurteilung fehlen. 63. Die Finanzierung politischer Parteien in der EU unterliegt bei Parteien auf europäischer Ebene dem einschlägigen EU-Verordnungsrecht und bei Parteien

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auf nationaler Ebene dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht. Die Regelung grenzüberschreitender Finanztransaktionen der Parteien muss dabei den Anforderungen der Kapitalverkehrsfreiheit und der europäischen Vereinigungsfreiheit genügen. Ein weitgehendes diskriminierendes Verbot der Parteienfinanzierung aus EU-ausländischen Quellen hält der strengen europarechtlichen Rechtfertigungsprüfung unter herkömmlichen Umständen nicht stand. 64. Konventionsrechtlich steht die Tätigkeit politischer Parteien einschließlich ihrer Finanzierung unter dem Schutz von Art. 11 EMRK, wobei Eingriffe wie im EU-Recht einer genauen Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterwerfen sind. Gemäß dem Rechtsstaatsprinzip sind europarechtswidrige Maßnahmen jedenfalls nicht als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig zu werten. Allerdings räumt der EGMR den Konventionsstaaten in bestimmten als hochpolitisch eingestuften Fällen einen erweiterten Beurteilungsspielraum ein und verringert seine eigene Prüfungsdichte. 65. Eine solche Selbstbeschränkung des EGMR kann bei der menschenrechtlichen Prüfung zur Vernachlässigung europarechtlicher Aspekte führen und mit einem Verlust an methodischer und argumentativer Stringenz einhergehen. Im Anwendungsbereich zwingender Vorgaben des Europarechts sollte der EGMR stattdessen kontextunabhängig einen europarechtlich determinierten einheitlichen Konventionsstandard gegenüber den EU-Mitgliedstaaten anlegen. Auf diese Weise können sowohl der konventionsrechtlich verbriefte wirksame Menschenrechtsschutz sichergestellt als auch der Entscheidungseinklang zwischen Europarecht und EMRK gewahrt werden.

VI. (Gesamt-)Fazit 66. Defizite bei der praktischen Durchsetzung europarechtlicher Individualrechte im EU-Verbund lassen sich ganz überwiegend auf Vorlagepflichtverletzungen oder Vollzugsmängel in den Mitgliedstaaten sowie sehr vereinzelt auf grundrechtswidriges Primärrecht zurückführen. Es ist daher notwendig, den insoweit vorgesehenen Rechtsschutz auf allen Ebenen konsequent zu gewähren und ggf. zu ergänzen. Auf Grundlage der EMRK kommt dem EGMR reserveweise eine wichtige Stellvertreterfunktion zugunsten der Durchsetzung des Europarechts zu. 67. Vorlagepflichtverletzungen und Vollzugsmängel unterliegen im Anwendungsbereich von Art. 6 Abs. 1 EMRK der verfahrensrechtlichen Beanstandung durch den EGMR, der insoweit an europarechtliche Vorlagepflichtkriterien bzw. an bereits bestehende Gerichtsentscheidungen anknüpfen kann. Bei hinreichend klarer Europarechtslage ist die Durchsetzung des Europarechts auch über nichtverfahrensrechtliche Konventionsgarantien erreichbar, insbesondere im Rahmen ohnehin mit dem Europarecht übereinstimmender materieller Gewährleistungsge-

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halte, bei Verweisen der EMRK auf konventionsfremdes Recht oder über eine schutzzweckkonforme europarechtsfreundliche Auslegung der Konvention. 68. Bislang lässt die judizielle Praxis des EGMR eine gegenüber dem Europarecht grundsätzlich offene Ausrichtung erkennen, zeigt sich aber infolge der starken Einzelfallorientierung noch insgesamt uneinheitlich und nur partiell gefestigt. Zukünftig sollte der Straßburger Gerichtshof seine Spielräume noch stärker nutzen, um das rechtsstaatliche Schutzpotential der EMRK für europarechtliche Individualrechte umfassend zu aktivieren.

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Stichwortverzeichnis Aarhus-Konvention 376, 383 Abschiebung 152, 365, 411, 421 f., 446 f., 538, 601 „Abwägungsjudikatur“ 144 Akzessorietät 240, 270, 363, 458 f., 596 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 529, 532 Allgemeine Handlungsfreiheit 459 Äquivalenzgebot 125 f., 133–136, 191, 292, 306 f., 595, 597, 602 Assoziationsrecht 97, 413 f., 416–427, 430, 438, 440, 460, 602 – Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 414, 417 f., 422–427, 600 – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei 414, 416–418, 420 – Europa-Mittelmeer-Abkommen 224– 228, 413 – Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen 413 Aufenthaltsbeendende Maßnahmen 416– 442, 456, 601 Aufenthaltserlaubnis 224, 282, 416, 419, 421, 442–453, 460, 601 Aufenthaltsrecht 365, 405, 408, 410– 454, 457 f., 460 f., 515, 539, 541 f., 545, 548, 552, 589, 600 f., 604 Aufenthaltsverbot 150, 416–420, 426 Aufsicht, behördliche 382, 395, 578, 599 Ausbürgerung 528–530, 603 Auslieferung 60, 365, 411, 439 f., 442, 456 Ausweisung 60, 149–152, 281 f., 411, 415–417, 419–422, 425–428, 432, 436– 442, 446, 460, 529, 537 f., 540, 542, 601 – kollektive 439–441 „Auswirkungsjudikatur“ 144

Autonomie, verfahrensrechtliche 125, 292, 305, 348, 434, 451, 597 Beamtenrecht 144, 188, 265 Begründung 50, 116, 122, 124 f., 130, 139, 141, 153, 159, 164, 167, 170, 176, 180, 182, 187, 189, 192, 195, 199–202, 204 f., 210, 213–215, 217 f., 222 f., 225, 227, 230–233, 236–238, 245 f., 252, 257, 259, 265, 280, 286, 290–294, 316, 327, 339, 349 f., 352, 357 f., 367, 372, 420, 427, 440, 448, 460, 500 f., 514, 538, 540 f., 544, 569, 582, 585, 594–596 Beihilfe 92, 224–227, 304, 410, 415 Beitritt der EU zur EMRK 66, 68, 71– 90, 254, 271, 336, 488, 592 f., 597 – Auswirkungen 75–90 – Voraussetzungen 72–75 Beitritt zur EG/EU 176, 178, 255, 258, 406, 466 f., 474 f., 477 f., 481, 499, 523 Benelux-Gerichtshof 102 Berichtspflicht 380 „Bermuda-Dreieck“ 33 Berufsfreiheit 132 f., 137 Betäubungsmittelkriminalität 149–152, 416, 421 f., 425, 431, 433, 437 f., 460, 576, 601 Beurteilungsspielraum 103, 124, 189, 206, 226, 231, 236, 253, 300 f., 317, 322, 353, 388, 398–400, 422, 427, 435, 437, 449, 497, 507 f., 581–587, 590, 605 Beweislast 212, 434, 601 Binnenmarkt 35, 132, 166, 173–175, 183, 252, 266, 278, 380, 405 f., 413 f., 554, 574 f.

Stichwortverzeichnis Bosphorus-Rechtsprechung 68–71, 77, 245, 592 Bundesstaat, europäischer 483 BVerfG 62, 105, 119–136, 148, 150, 189– 192, 201 f., 205, 209, 244, 273, 331, 421, 469, 483 f., 490, 594 – Prüfungsmodalitäten 120–136, 205, 594 – „Ultra-vires-Kontrolle“ 110, 135, 273, 593 CILFIT-Kriterien, -Rechtsprechung siehe unter Vorlagepflicht Cohn-Bendit-Rechtsprechung 281–284, 287, 304, 338, 341, 345, 353 Commonwealth 515 f., 532 de minimis non curat praetor 67 Demokratie 35, 39, 260, 314, 402, 419, 430, 462, 464, 467 f., 475, 479, 482– 484, 487, 490, 492, 505 f., 510, 521, 540, 543 f., 549, 551, 561, 564, 571, 573, 581 f., 586, 589, 602 f., 605 Diskriminierung 229, 359–361, 576, 578 f., 590, 605 Diskriminierungsverbot 132, 138, 154, 169, 179, 189 f., 215 f., 218, 224–226, 228, 266, 310 f., 321 f., 343, 349 f., 362 f., 406, 410 f., 413, 458 f., 461, 486, 489, 492, 500, 508, 517, 539 f., 544 f., 550, 569, 602 distinction des contentieux, distinction des voies de recours 291–293, 305, 307–309, 313 f., 318 f., 321, 325, 328, 334, 342 f., 346 Dogmatik 52, 81, 161, 271, 286, 294, 296, 299, 308, 315, 325, 327, 336, 340, 385, 402, 406, 430, 437, 514, 522, 551, 563, 591 Drittstaaten 47, 97, 102, 475 f., 546, 575, 578, 600 Drittstaatsangehörige 37, 224, 411–414, 416–427, 457–459, 516, 523 f., 526, 528, 534, 603 Drogendelikte siehe Betäubungsmittelkriminalität

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EAG(-Recht) 34, 96, 463 f., 467, 475, 477, 498 Effektivitätsgebot 125–127, 133, 191, 204, 292, 306–310, 319, 327–330, 332, 337, 343–348, 354–356, 595, 597 f., 602 effet utile siehe Praktische Wirksamkeit EGKS 463 f., 467 EGMR – Entlastung 88–90, 255, 597 – Leitfunktion 80 – Reform 88–90, 247, 593 – Reservefunktion 68, 256, 330, 335, 511 f., 566, 597, 605 – Schiedsrichterfunktion 276, 332, 597 – Selbstbeschränkung, Zurückhaltung 55–57, 70, 77, 199, 205, 275, 277, 334, 365, 509, 524, 562, 567, 582, 585, 587 f., 596 f., 605 – Sondervotum 230 f., 260 f., 263–265, 352 f., 358, 373 f., 449 f., 508 f., 544 f., 583 f., 586 – Stellvertreterfunktion 36 f., 332, 589, 591, 603, 605 – Überlastung 246, 385 – Urteilswirkung 79–81, 83, 238–240, 247, 249, 268, 332 f., 386, 513, 593, 599, 603 – Verfassungsgerichtscharakter 37, 512 – Zuständigkeit 39–41, 185, 196, 199, 216, 218, 223, 275, 277, 363, 372, 374, 451, 500 f., 512, 587, 597 Eigentumsrecht 137, 164, 189, 195, 229, 310–322, 324–332, 339–342, 348–353, 356, 358, 362–366, 403, 598 – Eigentumsbegriff 311 f. – Enteignung 153, 315–317 – Schutzbereich 311–315, 319, 324–329, 335, 337, 356–358 Einbürgerung 528–530 Eingriff 54–56, 136, 138, 150 f., 171, 179, 231, 266, 315–318, 320 f., 326– 328, 388 f., 397, 412, 416, 418–420, 422, 430 f., 433, 435, 440, 446–449, 451 f., 454, 457–461, 472, 485–487,

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Stichwortverzeichnis

495, 497, 530 f., 535, 540–545, 548, 552 f., 559, 561, 563–566, 569–572, 576–583, 585–590, 592, 598, 601, 603–605 – der Unionsgewalt 68 f., 76, 98, 592 Eingriffsgrundlage siehe Gesetzliche Grundlage Einheitliche Europäische Akte 173, 463 Einschätzungsspielraum siehe Beurteilungsspielraum Einseitige Erklärung 83, 526 f. Einzelfall, -beurteilung 51, 69, 71, 104, 116, 144, 151, 171, 186, 198, 213, 227, 231, 233, 236, 270, 300, 304, 307 f., 325, 328, 340 f., 345, 354 f., 357 f., 377, 379, 387, 394, 424–426, 432, 435–438, 440, 451, 456, 460, 497, 531, 572, 577, 579, 583, 592, 595, 597, 601, 606 EKMR 40, 54, 147–164, 166, 169–172, 177, 185, 234 f., 241, 259–261, 264, 271, 310, 369–373, 385–387, 396, 416, 420, 427 f., 456, 493 f., 496, 500–506, 509 f., 515, 522, 531, 539–541, 543– 545, 548, 550, 594 f. – Sondervotum 371, 387, 506–508, 515, 541 Emissionen 373, 385, 396 EMRK – als Menschenrechtsschutzvertrag 41, 48–51, 486 f., 551 – als Unionsrecht 78 f. – Ausländervorbehalt (Art. 16 EMRK) 54, 532, 540–544, 549–552, 589, 604 – Auslegung 42–54, 275, 370, 386–390, 400, 402 f., 446, 504, 531–534, 549– 552, 580 f., 588 f., 591 – autonome 54, 143, 145, 228, 311, 388, 430, 600 – dynamische 314, 387, 591 – europarechtsorientierte, -freundliche 44–54, 163, 326, 337, 366, 437, 447 f., 451, 454, 460, 532–534, 537, 541, 550 f., 586, 591, 601, 603–606 – evolutive 52, 248, 263, 324, 591

– teleologische 52, 263, 275, 440, 456, 533, 597 – Geltungsbereich 500, 539 – Kolonialklausel 506 f., 542–544, 549, 589, 604 – living instrument 52, 314, 324, 504, 533 – Telos 50, 52, 185, 248, 275, 366, 493, 551 – Verantwortlichkeit, Zurechnung 71, 76, 78, 80–83, 336, 501–504, 510, 513, 535, 592, 603 – Verletzung, Verstoß 36, 39 f., 56, 82, 86, 159, 165, 168 f., 177, 180 f., 196, 199, 226–228, 230, 232–240, 242, 245 f., 260, 262 f., 269, 275 f., 321– 324, 327, 330 f., 334, 336, 342, 351 f., 356, 371, 373, 385, 389–391, 399, 401, 404, 419, 448, 451 f., 456, 458, 460, 508, 512–514, 530, 537, 540 f., 544, 548, 552, 584, 589, 591, 593–596, 598–601, 603 f. – Verweis auf konventionsfremdes Recht 54–57, 441, 566, 591 f., 604, 606 „Engel-Kriterien“ 145, 162 Entschädigung, gerechte (Art. 41 EMRK) 165, 168, 177 f., 181, 196, 226, 228, 230, 233 f., 239 f., 264 f., 268, 271, 322 f., 331, 342, 351 f., 374, 386, 399, 419, 449, 508, 545, 596, 599 Entscheidungseinklang 358, 404, 437, 587, 599, 605 Erfolgschance 480–482, 485–488, 496, 536, 602 f. Erfolgswert 480–482, 484–488, 496, 536, 602 f. Ermächtigungsgrundlage siehe Gesetzliche Grundlage Ermessen 66, 98, 112 f., 177, 196, 205, 227, 231, 239, 248, 265, 268, 271, 280, 297, 300–303, 352, 399, 419, 426 f., 449, 518 f., 538, 545 f. Erweiterung der EG/EU siehe Beitritt zur EG/EU estoppel 514, 552 ETA 442, 450, 588

Stichwortverzeichnis EuG 93, 251 EuGH – als Verfassungsgericht 37 – Entlastung 104, 256 – Letztentscheidungskompetenz 273, 332, 598 – Monopol verbindlicher Auslegung 79, 82, 85, 93, 95, 114, 199, 222, 246, 275, 304, 331–333, 452, 512, 558, 562–564, 567, 587, 593, 596, 598 – Satzung 80, 84, 86, 93, 100, 251 – Überlastung 251 – Urteilswirkung 86, 253, 273–275, 299, 361–363, 365 f., 381, 404, 598 f. – Verwerfungsmonopol 109, 237 – Vorabbefassung 74, 83–88, 593 – Zuständigkeit 74, 79, 82, 85, 92 f., 95–101, 103–111, 114, 190, 275 f., 331–333, 404, 512, 522, 562, 603 Euratom siehe EAG(-Recht) Europäische Integration 34–37, 39, 255, 286, 324, 405, 459, 467, 473, 482 f., 488, 490, 492, 510, 533, 540, 551, 572, 578, 582–584, 586, 589, 591, 602 – Integrationsoffenheit 50 f., 128 f., 134 Europäische Kommission 66, 74, 84, 116, 155, 157, 182–184, 188, 203, 214, 219, 249 f., 257 f., 329, 380–382, 385, 404, 476, 499, 505 f., 515 f., 518, 531, 554, 558, 560, 563, 599 Europäische (Politische) Gemeinschaft 464 Europäische Umweltagentur 380 Europäische Zentralbank 336 Europäischer Bürgerbeauftragter 116, 517 Europäischer Rat 476, 481 Europäisches Parlament 88, 250, 462– 567 – Befugnisse, Kompetenzen 468, 500, 505 f., 509 f., 522 – Mitentscheidungsverfahren 500, 505 f. – Wahlrecht siehe Wahlrecht zum Europäischen Parlament – Zusammensetzung 473 f., 481–484

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Europarat 44, 46, 50 f., 53, 72 f., 77, 247, 401 f., 463, 571 f., 581, 586 – Ministerkomitee 239, 265, 449, 492, 545, 571, 582 – Parlamentarische Versammlung 88 f., 368, 370, 551, 571 f. Europarecht – allgemeine Rechtsgrundsätze 45, 96, 484, 486–488, 514, 536, 546 f., 602 – als Völkerrecht 45 f., 502 f., 603 – Anwendung 92, 118, 160, 199, 237, 286, 345, 364, 378, 382, 410, 434, 472, 476 f., 499, 503, 560, 587 – (Anwendungs-)Vorrang 45, 55, 79, 94, 137, 219, 266 f., 295, 302 f., 318, 327, 435, 505, 521 f., 579, 587 – Auslegung 85, 92, 115, 118, 124, 176, 197, 199, 237, 250, 309, 331, 333, 337, 361, 365 f., 406, 410, 424, 438, 452, 459, 471, 516–520, 522, 527, 547, 557–560, 562 f., 577, 579, 589, 593, 598 f., 602 – Autonomie 45, 74, 101, 325, 503, 557 f., 562, 587 – Begriff 34 – Drittwirkung 408, 461 – Geltung(sbereich) 44, 175 f., 285 f., 409, 474–477, 498 f., 526, 538, 546 – Gültigkeit 85, 98–100, 108–111, 157, 237, 250, 273–275, 503, 512, 593, 595 – innerstaatlicher Rang 284–288 – konventionskonforme Auslegung 519 f. – Missachtung 38, 81, 250, 267, 276, 299, 302, 304, 314, 319 f., 331, 333, 338, 350 f., 379–381, 395, 401, 404, 450, 536, 554, 587, 597, 600, 604 – Primärrecht 81, 84 f., 96, 98, 216, 255, 278, 285, 295, 337, 354, 359, 364, 383, 408–410, 412, 414, 459, 463 f., 466, 470, 472, 474, 478, 480 f., 488, 491 f., 499, 503, 509, 511 f., 517, 520– 522, 525 f., 536, 554, 575 f., 579, 589, 592 f., 596, 598, 602 f., 605 – Sekundärrecht 85, 94, 96, 98, 108– 111, 121 f., 179, 278, 286, 337, 378,

680

Stichwortverzeichnis

380, 382 f., 391, 394, 407, 409–411, 414, 436, 444, 459, 479, 489, 491 f., 499, 503, 573, 575, 592 f., 598, 600 – unmittelbare Wirkung 45, 94, 113, 190 f., 266, 270, 306, 363, 406, 409, 414, 418, 420, 471, 489, 506, 575, 595 – völkerrechtliche Verträge 97 f., 412, 593, 600 – Vollzug siehe dort Europarechtsfreundlichkeit 51, 128, 134, 285, 288, 320, 326, 330, 335, 337, 347, 403, 451 f., 460, 594, 603, 606 Europarechtskonformität 41, 57, 97, 137, 152, 156, 171, 176, 186, 192, 198, 214, 254, 263, 267, 269, 276, 285–287, 294 f., 302, 314, 318, 331, 333, 343, 345, 347, 349, 352, 356, 359, 364 f., 415, 426, 437, 441, 452, 459 f., 515, 518, 552, 579 f., 584, 587, 598, 601– 604 Europawahlgesetz 469, 473 f., 488, 491 Europawahlordnung 473, 491 EVG 464 EWR 79, 167, 176, 413 exception d’illégalité 283 Extremismus 572 Fahrerlaubnis 186–188 Familiennachzug 456–458, 460, 602 Folterverbot (Art. 3 EMRK) 422 Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) 158 f., 537, 539–545, 547– 553, 569 f., 580, 583, 587, 589, 603 f. Freiheitsentziehende Maßnahmen 565– 567, 589, 604 Freiheitsstrafe 149, 155, 214, 248, 421, 555 Freizügigkeit 405–461, 489, 499, 538 f., 541 f., 546–548, 553, 574, 600–602 – allgemeines Freizügigkeitsrecht 132, 408–412, 444 – Ausreisefreiheit 405, 415, 454 f., 602 – Einreisefreiheit 405, 415, 447, 455– 459, 461, 538–545, 552, 602 – interne 453 f., 602

– Richtlinie 2004/38/EG 414–416, 425 f., 436, 444 f., 457, 459 Friendly Relations Declaration 517 Frist 63–65, 99, 196, 218 f., 251, 259, 261, 270, 280, 283, 292, 294, 297, 301, 308, 310 f., 319, 327, 330, 339 f., 343– 346, 351–353, 355, 377, 444, 447, 555, 592 – Emmottsche Fristenhemmung 344 Fundamentalprinzip 402, 485, 578 Funktionenteilung, -trennung 120, 130, 134, 141 Fusionsabkommen 464 GASP 74, 101 Geldstrafe 155, 158, 166 f., 182, 214, 312, 317, 419 f., 555 Geldwäsche 576 Gemeinsamer Markt 157, 169 f., 200, 202, 204 Genehmigungspflicht 394, 454 Generalanwalt 74, 84, 281, 335, 519, 521–524 Generalprävention 421 f., 425, 427, 436–438, 460, 601 Gerichte, mitgliedstaatliche/nationale 37, 70, 85, 87, 92–94, 101, 104, 107 f., 110, 113, 115, 118, 120, 154, 184 f., 198, 200, 205 f., 223, 225, 233, 236 f., 247, 250, 253 f., 267, 273, 275 f., 304, 309, 331 f., 335, 357, 382 f., 402, 434, 437, 441, 449, 530, 536, 564, 593–595, 597 f. Gesetzesvorbehalt siehe Schranken(vorbehalt) Gesetzgebende Körperschaft 54, 475, 492–494, 500 f., 504–506, 508–511, 522, 530, 533, 536, 553, 589, 602 Gesetzliche Grundlage 185, 317 f., 327, 333 f., 418, 420, 422, 430, 447, 452, 460, 485 f., 540 f., 543, 559, 561–566, 581, 587, 589, 596, 598, 601, 604 – Bestimmtheit, Vorhersehbarkeit 159, 185, 240, 317, 334, 430, 559, 562–565, 581, 596, 604

Stichwortverzeichnis Gesetzlicher Richter 119–131, 135 f., 138–140, 142, 222, 233, 235, 595 Gestaltungsspielraum siehe Handlungsspielraum Gesundheitsschutz 149–151, 370, 377, 397, 415, 424, 431, 444 Gewaltenteilung 117, 260, 274, 505, 597 Gibraltar 462, 498–526, 589, 603 – Status, Verfassung 498 f., 503, 506– 509, 517 f., 520 f. – Vertrag von Utrecht 498 Gleichbehandlung 153, 405, 410 f., 415, 458, 476, 485, 489, 496, 531, 546 f., 556, 594, 597, 600, 602 – Gleichbehandlungsgebot siehe Äquivalenzgebot Gleichheitsrechte 133, 136–138, 141, 189, 215, 274, 290, 453, 458 f., 470, 480–488, 490, 496 f., 511, 536, 589, 602 f. Grenzüberschreitender Bezug 165 f., 173, 215, 219–221, 223, 405–407, 409, 453, 575 Grundfreiheiten des Binnenmarktes 132– 134, 181, 215, 219–221, 405–409, 414, 458 f., 461, 546, 574, 576 f., 579, 590, 600 – Arbeitnehmerfreizügigkeit 281 f., 406 f., 424, 443 f., 448 – Beschränkungsverbot 406, 455, 575 f. – Dienstleistungsfreiheit 133, 172 f., 215, 219–221, 407 f., 414, 499, 574 – Kapitalverkehrsfreiheit 157, 168, 215, 407, 499, 567–570, 572–579, 584, 586 f., 605 – Niederlassungsfreiheit 151 f., 164– 166, 176, 178–180, 214 f., 219, 257 f., 266 f., 407 f., 414, 447 – Warenverkehrsfreiheit 154 f., 160, 169–171, 184, 254, 360, 362, 407, 477, 574, 576 Grundrechte 40, 58, 68, 109, 119–142, 189, 215, 254 f., 317, 370, 397, 410, 412, 436, 459, 470–473, 484, 489, 492, 507, 511–514, 518–525, 528, 531,

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536 f., 547 f., 577, 579, 589 f., 594, 601–603, 605 – Deutschengrundrechte 132 – Freiheitsgrundrechte 136–138 – Justizgrundrechte 119–131, 135–142, 594 Handelsmonopole 153–155 Handlungsspielraum 71, 247, 297, 378, 460, 462, 474, 485, 487 f., 495, 520 Haustürgeschäft 207, 210 f. Heterogenität 255, 496, 572, 582, 586 Hierarchisierung 94, 252 Hoheitsgewalt 102, 473, 502, 510, 513, 535, 603 Homogenisierung 474, 514 Individualberechtigung siehe Subjektives Recht Individualbeschwerde 192 f., 209, 213, 215, 229, 236, 255, 279, 336, 339, 349, 396, 403, 418, 420, 445, 459, 499, 531, 535, 539, 555, 563, 567, 569, 580, 585, 592–594 – Zulässigkeit 57–67, 148, 151, 154, 156, 159, 162, 165, 168, 170, 172, 174, 177, 182 f., 187, 190, 192, 195 f., 202, 209 f., 216, 218, 225, 230, 236 f., 259, 261, 310 f., 339–341, 349 f., 357, 363 f., 369, 385, 396, 418, 421–423, 445 f., 448, 450, 500, 539, 555, 559, 561, 569 f., 592 Individualrechtsschutz siehe Rechtsschutz Informationsfreiheit (Art. 10 EMRK) 369–374, 387, 390 Inkompatibilität siehe Unvereinbarkeit Inländerdiskriminierung 166, 221 Inländergleichbehandlung siehe Gleichbehandlung Integration siehe Europäische Integration invocabilité de substitution 283, 287 IPbpR 66, 455, 486, 532, 551 iura novit curia 179, 191 f., 206, 372, 595

682

Stichwortverzeichnis

judicial self-restraint siehe EGMR: Selbstbeschränkung, Zurückhaltung Juristische Person 58, 98 f., 101, 133, 313, 368, 377, 454, 517, 568 f., 571, 575–580, 583 Justizgewährungsanspruch 129 f., 134, 594 Kassation 250, 254, 269, 276 Kausalität 118, 180 f., 196, 200, 208 f., 212, 230 f., 265, 298, 301–303, 310, 399, 401, 502 – Adäquanztheorie 301 Kodifikation, Kodifizierung 125, 414, 459, 484 Kohärenz 38, 47, 50, 71, 77, 109, 247, 330, 361, 438, 449, 472, 475, 478, 592 Kompetenztransfer 502 Konkordanz 132 Konstitutionalisierung 410, 510 Kontrolldichte 56, 75, 120, 125, 130, 133, 136, 138, 222, 237, 331, 337, 365, 553, 562, 566, 581 f., 585–590, 592, 594, 601, 604–606 Konventionsfremdes Recht 39, 41, 54– 57, 163, 222, 275, 324, 332, 591 f., 604, 606 Konventionskonformität 81, 86, 205, 210, 216, 333, 403, 510, 513 f., 519 f., 540, 584 Konvergenz 400, 436, 600 Kooperationspflicht siehe Loyalitätsgebot Kooperationsverhältnis 129 Kronbesitz 477, 498, 506 Legitimes Ziel 179, 209, 226, 266, 309, 318, 322, 345, 357, 388, 411, 419, 447, 486, 497, 561, 576 f., 581, 583, 598 Letztentscheidungskompetenz 273, 276, 332, 598 Lex-posterior-Grundsatz 285 f., 522, 603 lex specialis 409 lis pendens 65 Loi-écran-Theorie 285 f.

Loyalitätsgebot (Art. 4 Abs. 3 EUV) 72, 83, 116 f., 125, 184, 204, 253, 290, 298, 305, 380, 529, 559 Menschenrechtsbeschwerde siehe Individualbeschwerde Mindeststandard 40, 49, 77, 486, 588 Ministerrat siehe Rat der EG/EU Missbrauch 66 f., 103, 223, 252, 280, 295, 297, 308, 416, 441, 529 f., 558, 583, 603 Mitbeschwerdegegner-Mechanismus 74, 80–83, 593 Mitglieder des Europäischen Parlaments 462–470, 473 f., 477 f., 481–483, 490, 492, 525 f., 537–567, 574, 589, 604 – Immunität 542, 544, 546, 553–563, 566, 604 – Indemnität 547, 553, 566, 604 – Vorrechte und Befreiungen 538, 546 f., 552–563, 566 f., 589, 604 Montanrecht siehe EGKS Mündliche Verhandlung 59, 85, 176– 178, 180 f., 187 Neutralität 479 Nichtigkeitsklage 84, 98 f., 101, 273, 512 Nichtvorlagebeschwerde 87 f., 250–256, 596 f. Normenhierarchie 288, 521 f. Normenkollision 521 f., 603 Normenkontrolle 176 – abstrakte 59, 139 – Individualantrag 137 – konkrete 97, 105, 284 Normverifikationsverfahren (Art. 100 Abs. 2 GG) 130 Notifikation, Notifizierung 182–184, 320 nulla poena sine lege (Art. 7 EMRK) 156, 159, 161, 167, 182 f., 185 f., 240, 596 obiter dictum 334 Offenkundigkeit, Offensichtlichkeit 56, 69, 99, 103, 107, 110, 112, 114, 118 f.,

Stichwortverzeichnis 122, 124, 130, 136, 180, 185, 223, 226, 236, 238, 245, 271, 300, 304 f., 309 f., 318, 335, 345, 347, 363, 434, 560, 562–564, 587, 589, 595 f., 604 Öffentliche Sicherheit 149–151, 415, 420 f., 424, 444, 576, 578 Öffentlichkeitsbeteiligung 376 f., 382, 393, 400, 599 f. Ordre public 406, 422, 424, 444, 519, 576–579, 600 pacta sunt servanda 50 Paradigmenwechsel 222, 255 Parallelisierung, Parallelität 133, 337, 454, 461, 511, 579, 598 Partei, europäische 569, 572–574, 590, 604 Parteienfinanzierung 462, 567–587, 590, 604 f. Parteienrecht 147, 569, 572–574, 584, 604 f. Petitionsrecht 517 Piloturteilsverfahren 385, 599 PJZS 100 f. „Plaumann-Formel“ 98 Politische Betätigung 147, 462–590, 602–605 Popularbeschwerde, -klage 59, 135, 251 Präjudiz 335 Präklusion 193, 338, 343 Praktische Wirksamkeit 178, 270, 294, 298 f., 324, 354, 404, 412, 578, 591 Präventivwirkung 131, 199, 246, 253, 386, 431, 597 Präzedenz 275, 291, 335, 347, 387 Privatschule 257–267 Prognose 149, 221, 398, 425–427, 431 Prozesskostenhilfe 207–213, 374 Prozessökonomie 103, 206, 434 Prozessrisiko 354 Prüfungsdichte siehe Kontrolldichte Prüfungsmaßstab 39 f., 121–123, 126 f., 130 f., 163, 171, 222, 236, 240, 285 f., 307, 502, 564, 577, 591, 594

683

QCC 515 f., 524 f. Rat der EG/EU 72, 78, 100 f., 279, 286, 367, 463–466, 468 f., 475, 491, 499, 502, 505, 507, 509 f., 513–515 Ratifikation, Ratifizierung 76, 78, 85, 138 f., 173, 255, 262, 284, 376, 439, 459 f., 469, 471, 486, 503, 510, 527, 539 Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) 150, 152, 370–374, 387–391, 396–401, 403 f., 418–422, 425, 427–439, 445–449, 451, 454, 456–461, 553, 555, 559–561, 564, 589, 599–602, 604 – Schutzbereich 387 f., 428–430, 433, 438, 451, 460, 559, 601 Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK) 70, 92, 140, 143–277, 306, 310, 330 f., 339 f., 349 f., 362 f., 390, 401, 404, 418, 422 f., 438, 441, 445, 452, 549, 555, 565, 584, 592, 594–597, 599, 605 Recht auf freie Wahlen (Art. 3 ZP 1) 54, 462, 471 f., 475, 478, 485 f., 488, 492– 497, 500 f., 503–509, 514, 518, 522 f., 530–537, 553, 569, 580, 589, 602 f. Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) 54, 56, 268, 555, 566 f., 589, 604 Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) 58, 369, 372 f., 389 f., 404, 599 Recht auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK) 61, 92, 127, 216, 240–243, 270, 306, 310, 339–341, 348–350, 390, 404, 445 f., 448–450, 596, 599 Rechtfertigung (von Eingriffen) 150 f., 171, 179, 190, 226, 316–322, 325–329, 332, 337, 342, 348, 351, 356, 358, 397, 403, 409–411, 418–422, 430–439, 446– 448, 451 f., 454 f., 457–461, 476, 486– 488, 495 f., 508, 531, 539, 541–545, 548 f., 559–567, 569 f., 576–579, 581– 583, 585–588, 592, 598, 601, 603–605 Rechtsangleichung 278

684

Stichwortverzeichnis

Rechtsbehelf, außerordentlicher 105, 126, 140, 192, 293, 595 Rechtsbeugung 117 Rechtseinheit 104, 109, 197 f., 217, 250 f., 255, 274, 333, 354, 471, 520, 593 Rechtsgemeinschaft 35 f. Rechtsgleichheit siehe Gleichheitsrechte Rechtskraft 210, 214, 238 f., 269, 271, 273, 276, 291, 293, 303, 320, 328 f., 346, 365, 418, 428, 597 f. – Durchbrechung 80, 117, 249, 304, 593 Rechtsmittel 104 f., 126, 151, 167, 172, 219, 258 f., 261, 281, 289, 311, 344, 350 f., 354 f., 393, 422, 440, 538, 557, 569 – Berufung 105, 148 f., 158, 161, 164, 167, 182, 194, 200, 204 f., 214, 224, 229, 232, 281, 290 f., 293, 313, 339, 343, 345, 348–351, 367, 392, 443 – Revision 105, 116, 140, 149, 151, 155, 158, 182, 189, 194 f., 201 f., 204, 224, 281, 291, 339, 349, 554 Rechtsschutz 36–38, 49–51, 68–92, 94 f., 98, 101, 113, 117, 131, 133–135, 140–142, 163, 193 f., 197–199, 267 f., 277, 292, 295, 298 f., 307, 327, 333– 337, 341 f., 346, 352–354, 357 f., 369, 375, 382–385, 390 f., 393, 398, 400, 403 f., 441, 445, 449 f., 452, 456, 460, 484, 497 f., 530, 535–537, 561, 565– 567, 584, 587, 589–606 – äquivalenter 68 f., 245, 441, 592 – Ausfall 269, 278, 283, 337, 355, 401, 403, 598 – außerordentlicher 241 – Bedürfnis 298, 303 – Defizit, Lücke 37, 69, 71, 115, 119, 122 f., 126 f., 129, 137, 142, 169, 184 f., 206, 223, 234, 243, 247, 250, 255, 260, 278, 288, 299, 328, 330 f., 335, 348, 357, 366, 384, 430, 441, 461, 512, 531, 588, 590 f., 594 f., 598 f., 601 – effektiver 38, 61 f., 77, 92, 95, 104, 125–127, 129, 195, 242, 251, 269, 274,

293, 306, 328, 330, 336, 345, 347 f., 351, 356, 358, 365 f., 370, 402, 438, 453, 456, 511 f., 531, 533 f., 588, 591, 600, 603, 605 – Effektivierung 36 f., 200 – infiniter 243 – primärer 280 f., 288 f., 292 f., 308 f., 313, 327, 343, 346, 350, 353, 355, 598 – sekundärer siehe Staatshaftung – subsidiärer 115, 143, 337, 384–390, 404, 449 – Verbesserung 71, 77, 100, 122, 142, 222, 233, 243–256, 308, 383, 438, 593, 596 f. – Verbund 243, 335, 354 – Verweigerung 240, 263, 282, 285, 292, 310, 336, 343, 345 – vorläufiger 108, 111, 149, 392, 593 – Zentralisierung 256 Rechtssetzung 278, 380, 491, 505 f., 571 Rechtssicherheit 64, 71, 195, 248, 274 f., 293, 304, 306–308, 321, 339, 343 f., 347 f., 350, 352, 355, 357, 361, 513, 585 Rechtsstaat, -lichkeit, -sprinzip 37 f., 129, 132–134, 139, 143, 233, 244, 246, 248, 252, 260, 262, 274, 277, 330, 399, 401 f., 404, 441, 453, 541, 559, 562, 586, 597, 600, 604–606 Rechtsweg 36, 83, 98, 104, 245, 262, 267, 280, 285, 291, 346, 350, 353–355, 420, 592 – Eröffnung 87, 101, 135, 248, 322 – Erschöpfung 61–63, 66, 83, 87, 137, 140, 156, 182 f., 191, 196, 210, 219, 225, 229 f., 251, 259, 261, 272, 288, 293, 310 f., 323 f., 353 f., 357, 362, 364, 369, 372, 374, 385, 396, 450, 555, 592, 597 – horizontale 61, 63, 192 f., 206 – local remedies rule 61 – vertikale 61–63 res iudicata 65 Revirement 286, 293

Stichwortverzeichnis Richtlinie 96, 151, 158–160, 182–184, 186–188, 194, 197, 199, 207, 210–212, 228 f., 231 f., 278–359, 366–404, 414– 416, 425 f., 436, 444 f., 448, 457, 459, 491 f., 530, 535, 575, 597–600, 603 – Doppelwirkung 295 f. – fehlerhafte Umsetzung 278, 301, 386, 401, 536, 597, 600 – Nichtumsetzung 231, 278, 280, 283, 289, 291, 298 f., 301, 320, 336, 340 f., 344, 349, 386, 597 f. – Sperrwirkung 278 – unmittelbare Wirkung 184, 197, 278, 280–289, 294–299, 303 f., 308 f., 314, 327, 332, 337 f., 342 f., 345, 350, 353 f., 383, 403, 415, 597–599 – verspätete Umsetzung 228 f., 232, 264, 278, 280, 290, 297, 301, 310, 597 – Zielverbindlichkeit 278, 280, 282, 284, 294, 297, 300 Römische Verträge 278, 463 Rückwirkung 42, 159, 167 f., 229, 232, 280, 299, 363, 365 f., 404, 514, 598 f. Sanktionierung 87, 113, 117, 119, 126, 135, 141, 167, 171, 180 f., 185, 200, 205, 213, 221, 227, 234, 243, 251, 276, 329–331, 334, 337, 379, 381, 391, 403, 437, 451, 552, 563, 565, 593, 598, 601 f. Sanktionierungsbedarf, Sanktionsbedürfnis 113–115, 356 Sanktionsdruck 381 Sanktionsfunktion, -wirkung 119, 295, 336 Schadensersatz 198–200, 208, 264, 290, 303 f., 324, 338, 340 f., 348, 350, 384, 396, 567 Schadensersatzklage (Art. 340 AEUV) 80, 336 Schengen-System 408 Schranken(vorbehalt) 54–56, 317, 355, 409, 440, 453, 455, 487, 497, 564, 586, 591 – implizite Schranken 497

685

– Schranken-Schranken 577–579 Schuman-Plan 35 Schutzpflicht 370–374, 383, 387–389, 451 f., 455 f., 461, 600 Separatismus 572 Souveränität 114, 253, 504, 569–571, 577 f., 582, 588 Sozialhilfe 224, 227, 410, 415, 447 Spezifizierung 125, 152, 192, 205 f., 213, 232, 236, 269 Staatenlose 411 Staatsangehörigkeit 132, 147, 169 f., 216, 218, 224–228, 257, 360, 408, 410 f., 432, 439 f., 458 f., 461, 472, 489–492, 515–517, 528–534, 543, 550, 556, 602 f. – Entziehung 439, 529 f. Staatshaftung 62, 94, 112, 174–176, 180, 204, 229–232, 243, 258 f., 264 f., 267, 271, 278, 280, 283, 289–294, 298–311, 313 f., 321, 325–327, 337, 339, 346, 349, 351–354, 356, 403, 597–599 – für exekutives Unrecht 291, 302 f., 335, 343, 353, 384, 597 – für judikatives Unrecht 118 f., 128, 142, 303–310, 327, 334–336, 343, 347, 353 f., 594, 597 – für legislatives Unrecht 280, 291, 301 f., 335, 343, 353, 597 – hinreichend qualifizierter Verstoß 298, 300–305, 310 – Voraussetzungen 118, 298–304 status positivus siehe Schutzpflicht Stellvertretende Verfassungsgerichtsbarkeit 36 f., 332, 589, 591, 603 Steuerrecht 138, 140, 147, 161 f., 279– 366, 403 f., 598 – Lohnsteuer 320, 323 – Umsatzsteuer 166, 279–281, 290, 314 f., 320, 323, 337 f., 348, 351, 499 – Umweltsteuer, Zulassungssteuer 359– 364 Strafrechtliche Anklagen 143, 145 f., 184, 234, 247, 249, 268, 340, 418, 445, 565, 594

686

Stichwortverzeichnis

Stringenz 123, 213, 233, 585, 605 Subjektives Recht 36, 92, 112 f., 175, 283, 300, 306, 327, 377 f., 384, 464, 471 f., 489, 493, 602 Subsidiarität, -sprinzip 61, 94, 115, 133, 143, 191 f., 251, 255, 337, 350, 384, 390, 404, 407, 444, 449, 556, 599 Superrevisionsinstanz, vierte Instanz 55, 247, 434 Supranationalität 247, 255, 274, 325, 482, 484, 500 f., 504 f., 509 f., 520, 533, 547, 551, 562, 564, 572, 578, 597 Synchronisierung 104, 435, 460 Systemgerechtigkeit, -konformität 403, 485, 495 f., 601, 603 Systemische Integration 44, 49–51, 533, 586, 591

UN-Charta 517

Telekommunikationsüberwachung 554 f., 557–561, 563, 565, 589, 604 Terrorismus 442, 576, 588 Transparenz 254, 356, 377, 380, 393, 472, 488, 514, 558, 568, 570, 578, 581, 596 Treu und Glauben 43, 49 f., 344, 366 Treuepflicht siehe Loyalitätsgebot

Untersuchungshaft 146, 554 f., 565

Übereinstimmung von Schutzstandards 41, 134, 400, 402, 435 f., 438, 440 f., 460, 472, 510 f., 525, 531, 534, 536, 586, 589, 591, 594, 600 f., 605 f. Überseegebiet, Überseeische Länder und Hoheitsgebiete 285 f., 475 f., 498, 503, 538–540, 543, 546, 548–553, 602, 604 – Assoziierung 475 f., 546, 602 Umdeutung 97 Umweltrecht 366–404, 452, 599 – Umweltinformationen 366–391, 393, 398, 400, 403 f., 599 – Umweltverträglichkeitsprüfung 366, 391–404, 599 Umweltschutz 361, 370, 379, 388, 499 Unberührtheitsklausel (Art. 53 EMRK) 39 f., 74, 162 f.

Venedig-Kommission 571–574, 582

Ungleichbehandlung siehe Diskriminierung Unionsbürger, -schaft 37, 101, 132, 215, 408–416, 423, 425 f., 430, 438–440, 442–447, 457, 459 f., 462, 468, 470– 473, 475, 488–492, 511, 515–517, 523–526, 528, 530 f., 533–537, 543, 546, 550–552, 573, 589, 600, 602–604 Unionstreue siehe Loyalitätsgebot Unklarheit der Europarechtslage 122, 124, 138, 168, 179 f., 184 f., 203, 223, 226, 240, 245 f., 251, 331, 333 f., 363, 365 f., 437, 514, 548 f., 552, 558 f., 562–565, 567, 598, 604 Unschuldsvermutung 156, 161, 555 Untätigkeitsklage 465, 468 Unvereinbarkeit 121, 139, 194, 214, 259, 262, 266, 290 f., 293, 338, 343, 345 f., 350, 361, 422, 425, 437, 470, 516, 520 f., 547, 579, 603 – mit der EMRK 66, 340, 363, 592 Urteilsdurchsetzung siehe Vollzug von Urteilen

venire contra factum proprium siehe Widersprüchliches Verhalten Verbraucherschutz 207, 210, 499 Vereinigungsfreiheit 132, 494, 540, 552, 567–570, 573, 579–587, 589 f., 603, 605 Verfahrensdauer 70, 76, 95, 161 f., 164, 167 f., 172, 182 f., 196, 199 f., 216, 218, 242, 252, 259, 269, 276, 323, 330 f., 386, 422, 445, 449, 592, 596 Verfahrensverzögerung 115, 182, 196, 200, 252, 263, 269 f., 289, 293, 346, 390, 448, 514 Verfassungsbeschwerde 62, 105, 119– 142, 148, 150, 153, 174, 189–192, 201, 209 f., 293, 329, 422, 594

Stichwortverzeichnis Verfassungsgerichte, mitgliedstaatliche/ nationale 62, 105 f., 109 f., 119–142, 236, 244, 256, 273, 594 Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 92, 484, 486, 521 Verhältnismäßigkeit 149 f., 179, 195, 198, 209 f., 226, 317 f., 321 f., 328 f., 342, 355, 410–412, 418–420, 422, 431–433, 435–438, 442, 452, 457, 460, 472, 486 f., 497, 507 f., 538, 541, 544 f., 561, 565, 570 f., 577–579, 582 f., 585 f., 590, 598, 601 f., 605 Verordnung 96, 138, 173–175, 203, 227, 281, 286, 295, 378, 570, 573 Versammlungsrecht 147 Verschulden 212, 300, 303–305, 309 f., 327 f. Vertrag über eine Verfassung für Europa 71, 278, 524–526, 528 Vertrag von Amsterdam 469 Vertrag von Lissabon 72, 96, 99 f., 125, 306, 476, 481, 483, 489, 523, 525–528, 603 Vertrag von Maastricht 408, 463, 468, 488, 502 f., 505, 509 f., 513, 522, 533, 575, 603 Vertrag von Nizza 483, 573 Vertragsänderung 87, 255, 503, 525 f. Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV) 66, 115–117, 128, 142, 204, 214, 231, 243, 253, 257, 259, 264, 266–268, 270–273, 310, 329, 379, 381, 448, 516–518, 531, 554, 594, 599 – auf Initiative eines Mitgliedstaates 516 – Feststellungsurteil 117, 381 Verweisnormen siehe EMRK: Verweis auf konventionsfremdes Recht Völkerrecht 42–54, 61, 68, 72, 76, 78 f., 86, 97 f., 107, 130, 138, 287, 303, 311, 317, 383, 412, 439, 447, 455, 459, 466, 471, 482, 502 f., 517, 526, 529, 540, 592 f., 600, 603 Volksbegriff 517, 531–536 Vollstreckbarkeit, Vollstreckung 161, 252, 262 f., 265, 267, 326, 440

687

Vollzug – dezentraler 92, 378 – gebundener 76 – unionsunmittelbarer 69–71, 76, 378 – von Normen 452, 460, 601 – von Richtlinien 278, 366, 378–391, 395–404, 536, 599 – von Urteilen 39, 81, 242, 257–277, 323, 342, 374 f., 390, 398 f., 401, 443, 449 f., 452, 460, 545, 596 f., 601, 603 – von Verordnungen 378 Vollzugsdefizit 242, 379–391, 395 f., 398–404, 450, 452, 460, 596 f., 599, 601, 605 Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) 62 f., 70, 84–88, 91–256, 267, 272–274, 281 f., 292 f., 299, 309, 329, 339, 349, 357, 359–366, 384, 404, 417–419, 427, 441, 450, 476, 503, 512, 530, 535 f., 539, 548, 554, 559, 569, 592–599 – Anregung 62, 188 – Auslegungsfragen 95–98, 104, 106– 108, 110, 157, 179, 212, 217, 238, 245, 274, 347, 363, 384, 427, 437, 503, 512, 548, 559, 593 – Entscheidungserheblichkeit 103, 112, 121 f., 125, 132, 162, 166, 168, 175, 178, 183, 192, 204 f., 212, 217, 219, 221, 225 f., 232, 234, 245 f., 253 f., 363 f., 593 – Funktion 91–95 – Gerichtsbegriff 101 f., 136 f. – Gültigkeitsfragen 95, 98–100, 108– 111, 157, 237, 384, 503, 512, 593, 595 – Letztinstanzlichkeit (des Gerichts) 104 f., 148, 151 f., 154, 157, 159, 165, 168, 170, 172, 178, 183, 188, 190, 192, 196, 202, 204 f., 212, 217, 219, 225 f., 233, 245 f., 272 f., 276, 329, 347, 354, 356, 363–365, 427, 548, 559, 580 – Vorlagepflicht siehe dort – Vorlagerecht, -berechtigung 84, 86 f., 101–103, 126, 244–246, 333, 357, 384, 593, 598

688

Stichwortverzeichnis

– Wirkung des Vorabentscheidungsurteils 273 f., 361–363, 365 f., 404, 598 f. Vorbehalt 82, 284, 409, 422, 424, 475, 514, 527 Vorlagepflicht 86–88, 91, 103–256, 354, 363 f., 384, 593–598, 605 – acte clair, Acte-clair-Doktrin 107–109, 112, 114, 123, 154 f., 157, 169, 171, 174, 180, 206, 223, 225 f., 282, 564, 593 – acte éclairé 107, 123, 151 f., 166, 198 f., 212, 220, 223, 225 f., 232, 564, 593 – Ausnahmen 106–108, 217, 225, 227, 236 – CILFIT-Kriterien, -Rechtsprechung 107, 125, 216–218, 230, 233, 594 – der nationalen Verfassungsgerichte 105 f. – Durchsetzung 115–256, 276, 329–331, 593–599, 604–606 – nach EU-Recht 87 f., 115–119, 249–256, 593 f., 596 f. – nach nationalem Recht 119–142, 243 f., 256, 329, 594 – über materielle Garantien der EMRK 329–331, 337, 364–366, 403 f., 437 f., 552, 563–565, 567, 584–589, 598 f., 604–606 – über Verfahrensgarantien der EMRK 143–249, 256, 330 f., 334, 441 f., 549, 565, 584, 594–597, 605 – Grundlagen 104–113 – im vorläufigen Rechtsschutz 108, 111, 593 – subjektiv-rechtlicher Gehalt 112 f., 118, 594 – Verletzung, Missachtung, Verstoß 87, 112–132, 135–142, 157, 163, 171, 180 f., 184–186, 191 f., 199 f., 204– 206, 212, 226 f., 232–234, 236–256, 273, 276, 282, 304, 310, 329–331, 334 f., 337, 343, 345, 347, 356, 364– 366, 403, 427, 437 f., 441, 548, 552,

559, 563–565, 567, 580, 584, 589, 593–599, 604 f. Vorsorgeprinzip 393 „Wächterfunktion“ der Bürger 382 Wahlrecht zum Europäischen Parlament 285, 462–537, 546, 589, 602 f. – aktives 472 f., 476, 485, 489–491, 493 f., 546, 589, 602 – degressive Proportionalität 481–483, 487, 602 – Direktwahl 463–467, 477, 602 – Direktwahlakt 465–467, 469 f., 474, 477, 480, 490 f., 499, 501–503, 509– 511, 513 f., 517–524, 536, 546, 556, 602 f. – Genese 463–470 – Grundrechtscharakter 470–473, 511, 513, 521–525, 528, 536 f., 589, 602 – im Wohnsitzmitgliedstaat 468, 488– 492, 530–536, 550, 589, 603 – Kontingent(ierung) 463, 481, 487 f., 490, 492, 603 – Mindestresidenzzeit 491 f., 534 – passives 472 f., 480 f., 485, 489–491, 493 f., 535, 546, 589, 602 – Sperrklauseln 469, 484 f. – Verhältniswahl 468–470, 480 f., 496, 507, 602 – Wahlberechtigung 467, 473, 488–492, 515–517, 525–528, 532, 589, 603 – Wahlpflicht 479, 491 – Wahlrechtsgrundsätze 470 f., 473– 488, 495, 536, 589, 602 f. – allgemeine Wahl 464–466, 470, 473–477, 490, 495, 522, 536, 589, 602 – freie Wahl 470, 472, 479 f., 495, 536, 589, 602 – geheime Wahl 470, 479 f., 495, 536, 589, 602 – gleiche Wahl 470, 480–488, 490, 496 f., 536, 589, 602 – unmittelbare Wahl 464–466, 470, 477 f., 495, 536, 589, 602 f.

Stichwortverzeichnis – Wahlverfahren 464 f., 467–470, 473 f., 481, 483, 489, 495–497, 504, 517, 520, 602 Wertungseinklang 40 f., 49, 133, 402, 436, 472, 600 Wesensgehalt 186, 270, 410, 508 Wettbewerb 92, 148, 200–204, 206, 380, 477, 573 – Wettbewerbsneutralität 360 Widersprüchliches Verhalten 552, 586 Wiederaufnahme des Verfahrens 80, 117, 181, 238 f., 249, 254, 331, 346, 596 f. Willkür 56, 110, 120–125, 130, 136, 139, 142, 150, 152, 154–157, 159, 161 f., 164, 167, 169–172, 174, 177, 180, 183, 185, 187, 190, 192, 195, 198, 201 f., 205 f., 209 f., 213, 217, 221– 223, 233, 235–238, 241 f., 244–247, 330, 333, 363, 365, 418, 434, 439, 441, 529 f., 559 f., 562–564, 566, 589, 594– 596, 601, 603 f. WVK 42–54, 98, 526 f., 532 f., 591

689

Zählwert 480 f., 484, 486 f., 496, 602 Zielkonflikt 252, 599 Zivilrechtliche Ansprüche 143–146, 165, 177, 187, 234, 247–249, 260, 262, 268, 340, 418, 445, 565, 594 Zoll 147, 173 f., 477, 499 ZP 4 39, 54, 407, 430, 439–441, 445 f., 453–456, 458, 460, 493, 529, 539, 541 f., 544, 548 f., 552, 601 f., 604 ZP 6 39, 75, 592 ZP 7 39, 54, 241, 430, 439, 441 f., 460, 601 ZP 11 310, 501 ZP 12 39, 458 f., 461, 602 ZP 15 63, 67, 255 ZP 16 85 f. Zuständigkeitsverteilung, innerunionale 81 f., 378, 593 Zwangsgeld 381