Die Drei - Ein Streifzug durch die Rolle der Zahl in Kunst, Kultur und Geschichte [1. ed.] 978-3-662-58787-4

Dieses Buch macht einen Spaziergang durch die vielfältige Welt der Zahl Drei. Sie zeigt sich hierbei in vielen unterschi

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German Pages 382 [382] Year 2019

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Die Drei - Ein Streifzug durch die Rolle der Zahl in Kunst, Kultur und Geschichte [1. ed.]
 978-3-662-58787-4

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Ernst-Erich Doberkat

Die Drei Ein Streifzug durch die Rolle der Zahl in Kunst, Kultur und Geschichte

Die Drei

Ernst-Erich Doberkat

Die Drei Ein Streifzug durch die Rolle der Zahl in Kunst, Kultur und Geschichte

Ernst-Erich Doberkat Lewackerstr. 6 b 44879 Bochum, Deutschland

ISBN 978-3-662-58787-4 ISBN 978-3-662-58788-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58788-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Annika Denkert Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Für Anneke Marika 

Vorwort Der New Yorker zeigte neulich einen Cartoon, in dem ein Paar in einer Gallerie vor einer Reihe von Gemälden steht und sie diskutiert. Die Gemälde hängen in einer Reihe und zeigen jeweils lediglich die Ziffern 1, 2, 3, 4, nichts sonst. Die Wand ist leer, von den Bildern abgesehen. Offenbar ist die Diskussion ernsthaft, man spürt förmlich, dass die beiden jeden Aspekt der einzelnen Zahlen erfassen möchten und in sie eindringen wollen.

Dieses Buch stellt die Zahl Drei in den Mittelpunkt, wir sehen uns an, in welchen Zusammenhängen die Drei vorkommt, in der Dichtung, der bildenden Kunst, in der Musik, bei den Chinesen, als Dreiermenge und bei Fraktalen, als Fibonacci-Zahl. Das Thema ist sicher unerschöpflich, hier wird denn auch nur ein kleiner Ausschnitt präsentiert. Wir haben in jedem Fall versucht, einen Bezug zur Mathematik herzustellen, mal mehr, mal weniger, und dabei zu zeigen, dass die Mathematik keine weltabgewandte, bedrohliche, langweilige und ziemlich unverständliche Kunst ist, dass sie vielmehr zum Kern der Dinge vordringt und daher unverzichtbar ist. Dazu sollte man wohl mathematische Argumente und die Argumentation verstehen. Auch hierzu möchte dieses Buch beitragen, vergnüglich, aber ohne die notwendige Strenge zu vernachlässigen (doch, doch, Sie werden sehen, das geht).

Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.3

Ein Buch über die Zahl Drei? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gute Güte – wirklich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Flug über die Kapitel aus großer Höhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 5 14

2 2.1 2.2

Sizilien ist dreieckig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trinakria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Odysseus fährt im Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Polyphem und die Isole dei Ciclopi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die Prophezeiung des Teiresias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skylla und Charybdis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sache mit den Schilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intermezzo: Pythagoras und der Schild des Euphorbos . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Der Satz des Pythagoras . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Seelenwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Inkommensurable Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Münzen aus Sizilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hasen und all das . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.1 Flaggen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.2 Der Hasen und der Löffel drei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.3 Der jüdische Friedhof in Satanov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7.4 Die Mogao-Höhlen in Dunhuang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Programmcode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 18 21 21 25 28 34 40 40 42 43 48 50 50 51 53 54 55 55

2.3 2.4 2.5

2.6 2.7

2.8 2.9 3 3.1 3.2 3.3

3.5 3.6

Dreiteilung des Winkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Origami . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Zirkel und Lineal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3.3.1 Konstruierbare Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.3.2 Erweiterungskörper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3.3.3 Des Rätsels Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Näherungen und andere Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.4.1 Die Lösung von Archimedes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 3.4.2 Die Quadratrix des Hippias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.4.3 Die Näherungslösung von Albrecht Dürer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Übrigens, auch die Kubikwurzel aus zwei ist faltbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Nachtrag: Ein visueller Beweis des Ähnlichkeitssatzes von Euklid . . . . . . . . 85

4 4.1 4.2

Die Dreiermenge von Georg Cantor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Die Konstruktion der Dreiermenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

3.4

x 4.3

Inhaltsverzeichnis Unendlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Unendliches Zählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Hilberts Hotel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 War’s das schon? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zurück zur Cantor-Menge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.1 Ternäre Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2 Selbstähnlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *Ein Blick hinter die Kulissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Werkzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Kontraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Zweidimensionaler Staub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Galerie einfacher Fraktale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.1 Turtle-Graphik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.2 Die Koch-Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Sierpinskis Sieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.4 Barnsleys Blätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97 97 99 101 108 108 111 114 114 117 118 121 121 123 126 129

0, 1, 1, 2, 3, 5, . . . , . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zahlen – Man kann auch Kaninchen nehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leonardo Fibonacci . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fibonacci-Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Ein Python-Skript . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Goldene Zahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Nicht nur Kaninchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 *Die Fibonacci-Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für reifere Leser: Erzeugende Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Die erzeugende Funktion für die Fibonacci-Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2 *Nur für ganz reife Leser! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Die erzeugende Funktion als Informant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Geld wechseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Jetzt drehen wir den Spieß um . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das haben wir erreicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135 135 137 144 144 146 149 152 156 158 160 167 169 171 175

6.3

Drei Kronen, alle anderen zu beherrschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Krone auf die andere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 In Sutri wurde gehandelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Die Investitur von Bischöfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Mitra ! Diadem ! Krone ! Tiara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.1 Kirchliche Protokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Verzicht auf die Tiara . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Und die Teufelszahl 666? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177 177 178 178 179 182 183 183 184

7 7.1

Piero della Francescas Flagellazione di Cristo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Die Geißelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

4.4

4.5

4.6

5 5.1 5.2 5.3

5.4

5.5 6 6.1

6.2

Inhaltsverzeichnis 7.2 7.3

7.4 7.5

7.6

7.7

7.8 8 8.1 8.2

8.3

8.4

8.5

8.6

xi

Die Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Das Prätorium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Die Personen im Vordergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Lichtquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Der Fußboden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.5 Convenerunt in unum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.6 Provenienz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Piero della Francesca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Vita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Der Mathematiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Historisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Florenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.3 Urbino . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1 R. Lightbown: Bitte um Hilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.2 J. R. Banker: Erinnerungsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.3 M. A. Lavin: Trauer und Tröstung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.4 J. V. Field: Übung zur Perspektive? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.5 S. Ronchey: Aufruf zum Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bunte Steine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187 190 190 191 192 193 194 196 196 197 198 200 211 211 213 215 217 217 220 224 228 229 234

Tres faciunt collegium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine kraftvolle Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Historie: Collegia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Triumviri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2 Ämter: Die Kraft der Drei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Die beiden Triumvirate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dreisatz, Goethes Franzosen und andere Betrachtungen . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Das Kind bekommt einen Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Ringe: runde Monoide? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.3 Mathematiker sind nicht Goethes Franzosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Heiligen Drei Könige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Die drei Weisen aus dem Morgenland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Der Weg nach Köln: Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Der Weg nach Mailand: Zwei Versionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Macbeths Hexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Die Prophezeiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Hekate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.3 Der Wald von Birnam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die unsichtbare Dritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237 237 238 240 242 244 244 248 250 252 253 254 255 259 263 264 267 271 272

xii

Inhaltsverzeichnis 8.6.1 Christenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 8.6.2 Miss West darf fehlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

9 9.1 9.2

9.3

10 10.1 10.2

10.3

10.4

10.5

Drei Chinesen mit nem Kontrabass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Schlacht am Roten Felsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Götter und Drachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.1 Drei Göttliche Könige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.2 Drachen und ihre Klassifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einige mathematische Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.1 Berechnung von Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.2 Die Technik der Himmlischen Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.3 Meister Suns Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3.4 Da steht ein Berg auf einer Insel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dreiklänge und andere Harmonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung und Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Noten, Tonleitern und all das . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.1 Die Dur-Tonleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.2 Die Moll-Tonleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.3 Metriken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.4 Dreiklänge und Restklassenringe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2.5 Tonnetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Ein kleiner Baukasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.2 Pachelbels Canon in D . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.3 Taverners The Lamb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.4 Beethovens Fünfte Symphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.5 *Eine Anmerkung zum Notensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Opern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.1 Die Zauberflöte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.2 Norma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.3 Die Walküre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.4.4 Die Liebe zu den drei Orangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.1 Das Credo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.5.2 Wiederverwendung und Parodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311 311 313 314 316 317 320 329 332 333 334 336 338 340 341 342 343 345 347 348 349 351

Wenn Sie mehr wissen wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368

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Übersicht 1.1 1.2 1.3

1.1

Gute Güte – wirklich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Ein Flug über die Kapitel aus großer Höhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

Gute Güte – wirklich?

Das Gedicht Der römische Brunnen von Conrad Ferdinand Meyer (Meyer 1928, Bd. 2, p. 99) beschreibt einen Brunnen in der römischen Villa Borghese: Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht. Der Brunnen besteht aus drei übereinander angeordneten Schalen. Meyer beschreibt den Fluss des Wassers in diesen drei Schalen, von oben nach unten. Offensichtlich muss dieser Brunnen aus drei Schalen bestehen, sonst würde das Gedicht seine Mitte und damit seinen Zweck verlieren: Stellen wir uns vor, dass eine der Schalen fehlt, so würde das Wasser einfach von oben nach unten fließen. Das Gedicht wäre gleichsam ohne inneren Kern, langweilig. Hätte man dagegen eine Schale mehr, so wäre die Schilderung auch ziemlich langweilig. Diese zusätzliche Schale würde wenig zur Poesie des Gedichts beitragen, halt eine Schale mehr, Serialisierung. Das Beispiel zeigt, dass die Zahl „Drei“ eine interessante Rolle spielen kann: Zwei Objekte einer Anordnung können gelegentlich zu wenig sein, damit etwas im gewünschten Sinne funktioniert. Vier Objekte hingegen können zu viel sein oder die Situationen unübersichtlich gestalten. Es ist bekannt, dass Conrad Ferdinand Meyer intensiv an diesem Gedicht gefeilt hat, die hier wiedergegebene Version ist die siebte Fassung. In © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 E. Doberkat, Die Drei, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58788-1_1

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den Vorgängerversionen wurden viele Dinge verändert, die Dreizahl der Schalen blieb jedoch in jedem Fall erhalten. Mag auch der originale Brunnen aus drei Schalen bestehen, es geht hier vielmehr darum, die Interaktion von drei Objekten (nicht zwei, nicht vier) in einem Gedicht zu beschreiben: Das ist der wesentliche Aspekt, den wir hier festhalten wollen. Wir werden diese Gedanken an der einen oder anderen Stelle in diesem Buch noch verschärfen können, wenn wir sehen, dass drei exakt die Anzahl von Objekten ist, die man benötigt, um genau das zu bekommen, was man haben möchte. Conrad Ferdinand Meyer hat übrigens mit Plautus im Nonnenkloster (Meyer 1928, Bd. 3, p. 124–154) eine elegante Novelle geschrieben, in der Poggio Bracciolini eine wesentliche Rolle spielt. Dieser italienische Gelehrte und Kirchendiplomat war nach Abschluss des Konzils zu Konstanz im Jahre 1417 wesentlich damit beschäftigt, Manuskripte antiker Autoren in Klöstern nördlich der Alpen aufzuspüren, ja, ihnen nachzujagen. Sein größter Erfolg war die Auffindung des Manuskripts De rerum natura von Lukrez (Lucretius 1973), das er in die Diskussion seiner gelehrten Zirkel in Florenz und in Rom eingebracht hat, ein Phänomen, das als der Beginn der italienischen Renaissance gefeiert wird (Greenblatt 2012). Man kann sicher darüber diskutieren, ob diese griffige, wohl auch verkaufsfördernde These den Tatsachen entspricht, schließlich ist die italienische Renaissance ein komplexes Phänomen mit vielen offenen und verborgenen Wurzeln. Die These hat aber den Vorteil, dass sie uns mitten in die Diskussion führt, die einen Teil dieses Buchs ausmacht. Einer der wichtigen Maler der Frührenaissance, der sich gleichzeitig als Mathematiker einen Namen gemacht hat, war Piero della Francesca, der mit der Geißelung Christi ein Bild geschaffen hat, das auch heute noch Kunsthistorikern Rätsel aufgibt und in seiner Bedeutung alles andere als klar ist, der gleichzeitig auch die mathematischen Grundlagen der Zentralperspektive genau untersucht und aufgeschrieben hat. Es ist diese Kombination aus Mathematik und bildender Kunst, die die Beschäftigung mit Piero in dem vorliegenden Buch so attraktiv macht. Wir werden einen Blick auf dieses Bild werfen und uns gleichzeitig mit seinen mathematischen Arbeiten auseinandersetzen, sogar zeigen können, wie aus seinen mathematischen Überlegungen zur Perspektive einige zentrale Konstruktionen in diesem Bild zustande gekommen sind. Auch als Mathematiker war Piero produktiv, eines seiner Lehrbücher war ein Traktat über den Abakus. Damit stellte er sich in die Tradition der Abakus-Bücher, die von dem wohl wichtigsten Mathematiker des Mittelalters begründet wurde, nämlich von Leonardo Fibonacci. Dieser Mathematiker ist deshalb so wichtig, weil wir ihm die Einführung arabischer Ziffern verdanken, zunächst in kaufmännische Rechnungen, dann in die alltägliche Zahldarstellung, eine damals revolutionäre Neuerung, von der wir heute noch profitieren. Eine Seitenlinie der Arbeiten von Fibonacci ist die Folge der nach ihm benannten Zahlen, die wohl zuerst in der berühmten Kaninchenaufgabe zu finden sind. Wir diskutieren diese Zahlen, wobei es uns im Rahmen dieser Darstellung um die Möglichkeiten geht, mit unendlichen Folgen von Zahlen umzugehen und kombina-

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torische Aufgaben zu lösen. Es geht uns also gerade nicht um einen gefälligen Zugang zum Goldenen Schnitt, der ebenfalls in diesem Kontext steht und fast reflexhaft mit Fibonacci verbunden wird. Fibonacci war Kaufmann in Pisa zu einer Zeit, in der Pisa noch im Zentrum der politischen und ökonomischen Macht auf der italienischen Halbinsel angesiedelt war. Als international tätiger Kaufmann ist er weit gereist, in die arabischen Länder, wo er die jetzt als arabisch bezeichnete indische Notation für Ziffern kennengelernt hat. Es ist gesichert, dass Fibonacci auch einige Zeit in Palermo auf Sizilien gelebt hat. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass Sizilien dreieckig ist, daher ist die Versuchung groß, sich Gedanken über die dreieckige Form von Sizilien zu machen. Einer handfesten Versuchung soll man nach Oscar Wilde bekanntlich nicht aus dem Wege gehen, daher verfolgen wir diesen Gedanken weiter, indem wir die Reisen des Odysseus um Sizilien näher betrachten und einige Stationen durch Zitate aus Homers Odyssee mit Leben füllen. Das gibt uns gleichzeitig die Gelegenheit, eingehender über einige Entwicklungen im Kontext von Sizilien zu berichten. Sizilien war in der Antike lange Zeit ein Teil von Groß-Griechenland (Magna Grecia). Auf diese Weise gerät der griechische Kulturkreis in den Blick. Hier kommt der Leserin natürlich gleich der Name Pythagoras in den Sinn, zusammen mit dem nach ihm benannten Satz. Wir werden uns mit Pythagoras zunächst im Umkreis des bekannten Theorems und seinen Folgerungen der Rationalität gewisser Zahlen befassen, wir werden dann aber auch in einem späteren Kapitel über die Bemühungen der pythagoräischen Schule berichten, Töne und Tonleitern als mathematische Objekte zu begreifen. Aber bleiben wir noch kurz in diesem griechischen Kontext: Eine der berühmten Aufgaben der antiken griechischen Mathematik bestand darin, einen Winkel ausschließlich mit Zirkel und Lineal in drei gleiche Teile zu teilen. Dieses Problem hat die Mathematik lange beschäftigt, bis hierfür im 18. Jahrhundert eine Lösung gefunden werden konnte (nämlich ein Beweis dafür, dass es keine Lösung für dieses Problem gibt). Wir betrachten genau dieses Problem aus algebraischer Sicht, dazu überlegen wir, was es eigentlich mathematisch bedeutet, eine solche Aufgabe zu formulieren. Hierbei zeigen wir auch in einem Nebengedanken, dass man diese und ähnliche Aufgaben durch Origami, also das Falten von Papier, lösen kann. Das sieht wie ein Kinderspiel aus. Das ist es auch, es bedeutet aber manchmal mühsames mathematisches Manipulieren, wenn man nachweisen will, dass die Papierfaltungen den gewünschten Effekt haben. Kehren wir kurz nach Italien zurück, diesem seit Jahrhunderten von ebenso sonnenwie bildungshungrigen Reisenden durchpflügten, aber auch gelegentlich von grell agierenden Politikern gequälten und innerlich zerrissenen Land. Offensichtlich ist hier die katholische Kirche nicht zu vernachlässigen. Ihr Haupt, der Papst, hat bis vor relativ kurzer Zeit – relativ vor dem Hintergrund der langen Geschichte der römischen Kirche – die Tiara getragen, eine dreifache Krone, deren Entstehungsgeschichte wir kurz nachzeichnen. Ein solches Phänomen darf in einem Buch über die Zahl Drei gewiss nicht fehlen.

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Wir vermerken in italienischen Zusammenhängen auch, dass mit Tres faciunt collegium ein Verwaltungsprinzip der Römer charakterisiert wurde, das sich als erstaunlich effektiv erwiesen hat und über dessen Wirken in der Römischen Republik vor Augustus kurz berichtet werden soll. Hierbei greifen wir gleich die Gelegenheit beim Schopf, über einige derartige Kollegien, also die Zusammenfassung von drei Einheiten zu einem Ganzen, zu berichten, sei es bei Shakespeare in seinem Drama Macbeth, sei es bei der Komposition mathematischer Strukturen, die gelegentlich auch gern in Dreierform daherkommen, sei es bei den Heiligen Drei Königen. In der chinesischen Mythologie kennt man die Dreierform ebenfalls. Sie kommt in der Gestalt der Drei Mythischen Könige daher, sagenumwobener Gestalten, die uns ebenfalls einen gezielten Blick wert sind. Das dient dann auch als Aufhänger dafür, über einige interessante Aufgaben der chinesischen Mathematik nachzudenken und damit zu zeigen, auf welche Weise und auch vor welchem Hintergrund deren Lösungen zustande gekommen sind. Es zeigt sich, dass sich die chinesische Mathematik nicht synchron mit der europäischen entwickelt hat (das wäre auch gar nicht zu erwarten gewesen), dass vielmehr von einigen Entwicklungen in der chinesischen Mathematik zu berichten ist, die der europäischen weit voraus waren. Auf der anderen Seite ist aber durch gewisse Eigentümlichkeiten vor allem in der Notation mathematischer Objekte zu beobachten, dass manche Entwicklungen, die spätestens seit dem Barock in Europa zu verzeichnen sind, in China erst später wahrgenommen werden können. Insbesondere hat die chinesische Mathematik keine Entwicklung aufzuweisen, die zu Werkzeugen und Methoden wie etwa der Mengenlehre geführt haben. Der Vater der Mengenlehre, Georg Cantor, stellte in einem von ihm wohl eher als nebensächlich betrachteten Gegenbeispiel eine interessante Konstruktion vor, nämlich eine Dreiermenge. Sie hat sich zu so etwas wie einem Lieblingsobjekt in der Mengenlehre und der Logik entwickelt, aber auch in der Welt der Fraktale, also der selbstähnlichen Objekte. Die Menge selbst lässt sich recht einfach konstruieren, wir werfen einen Blick auf ihre merkwürdigen Eigenschaften. Das wird uns gleichzeitig erlauben, ein wenig über unendliche Objekte nachzudenken. Auf der eher anschaulichen Seite zeigen wir an einigen Beispielen, wie solche Fraktale, also selbstähnliche Gebilde, bei denen die Unendlichkeit sozusagen schon durch die Selbstähnlichkeit eingebaut ist, zustande kommen und beschrieben werden können. Hierzu werden Programmbeispiele, die in der Programmiersprache Python formuliert sind, eingeführt, ausgeführt und diskutiert. Ohne die Drei hätten wir wenig Freude an der Musik, ist doch der Dreiklang einer der wichtigsten elementaren Bausteine jeder musikalischen Komposition. Auch hier kann man wieder beobachten, dass die Dreizahl aus konzeptionellen Gründen zentral ist: Ein Zweiklang wäre langweilig, ein Vierklang hat gewiss seine Reize, kann aber nicht als zentraler atomarer Baustein für Kompositionen verwendet werden. Die Konstruktion solcher Dreiklänge zeigt auch interessante mathematische Eigenschaften, von denen wir einige im letzten Kapitel des Buchs aufgreifen. Wir beobachten, dass die algebrai-

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schen Strukturen, die zum Beispiel bei der Behandlung der Dreiteilung des Winkels benutzt wurden, auch hier auf natürliche Weise auftreten, so dass ihre Eigenschaften im musikalischen Kontext interpretiert werden können. Wir diskutieren auch Beispiele für Opern, in der gerade die Dreierkonfiguration unter den Handelnden das zentrale Element darstellt. Das Schlusswort gebührt J. S. Bach, dessen h-Moll-Messe sich als eine Fundgrube für den Sammler der Zahl Drei erweist.

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Ein Flug über die Kapitel aus großer Höhe

Wir haben es jetzt irgendwie geschafft, von Conrad Ferdinand Meyers Römischem Brunnen über die Fahrten des Odysseus zu Bachs h-Moll-Messe zu gelangen. Es ist jetzt an der Zeit, eine etwas mehr ins Detail gehende Übersicht über die einzelnen Kapitel zu geben. Die Kapitel werden sozusagen in großer Höhe überflogen, um ein Panorama auszubreiten, die Details werden dann bei der Beschäftigung mit den einzelnen Kapiteln klar. Die bis auf gelegentliche Verweise voneinander unabhängigen Kapitel sind in aller Regel so konzipiert, dass sie einen mathematischen Kern haben, auf den in einer Rahmengeschichte hingearbeitet wird. Diese Geschichte dient als Aufhänger oder als Referenzpunkt für die mathematischen Entwicklungen. Eine Ausnahme bildet hier das Kapitel über die Tiara, dessen mathematischer Kern allerhöchstens in der Diskussion der Teufelszahl 666 zu finden ist. Einige Abschnitte sind mit einem Stern versehen, sie bieten zusätzliches Material. Jedes Kapitel schließt mit einer Art Arabeske – arabisch als  ‫ ﺍﻷﺭﺍﺑﻳﺳﻙ‬geschrieben – ab, einer kleinen Randbemerkung zu Vorkommen der Zahl Drei. Sie hat mit dem Inhalt des Kapitels nicht unbedingt etwas zu tun, erscheint gleichwohl interessant oder kurios und soll den Blick weiten helfen. Im Index wird in der Regel das erste Auftreten eines Begriffs vermerkt, bei ausgiebigeren Diskussionen auch mehr; Begriffe, die im Inhaltsverzeichnis auftauchen, werden meist nicht mehr im Index aufgeführt.

Sizilien ist dreieckig Die dreieckige Form der Insel Sizilien ist bereits durch die sizilianische Flagge offensichtlich, die ein traditionelles Symbol verwendet, die Trinakria; man findet auch die Bezeichnung Trinakia. Das ist unser Ausgangspunkt, wir zeigen auf, wie der sagenhafte homerische Held Odysseus um die Insel herumfährt. Die Dreiecksgestalt wird sichtbar, er wird beim Passieren der Straße von Messina auch mit den beiden Monstern Skylla und Charybdis konfrontiert. Das bietet uns die Gelegenheit, der Behandlung von Skylla und Charybdis in der Literatur nachzugehen, von Vergil über Erasmus bis Casanova. Wir zeigen, dass Sizilien als Teil von Groß-Griechenland auch das Symbol der

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Trinakria von den Griechen geerbt hat, was uns erlaubt, zum einen die historische Entwicklung ein wenig genauer nachzuzeichnen, zum anderen aber auch die Möglichkeit zu bekommen, uns mit dem Satz des Pythagoras und einem Beweis dafür ein wenig näher vertraut zu machen. Die Brücke zu Pythagoras ist ein etwas merkwürdiger Zusammenhang zwischen den Schilden griechischer Krieger und dem großen Philosophen. Wir bleiben bei dem Symbol der Trinakria, wenn wir über antike Münzen auf Sizilien berichten, die genau dieses Symbol zeigen. Es taucht später noch einmal zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf einer Münze auf, möglicherweise als Symbol für die Selbstständigkeit der Insel. Das Symbol der Trinakria wird in abgewandelter Form auch an vielfältigen anderen Stellen sichtbar, was sicher daran liegt, dass es sich sich um ein altes, aus dem asiatischen Raum stammendes Symbol handelt, das auf vielfältige Arten abgewandelt wurde, ein Verwandter der Swastika unseligen Angedenkens. Wir gehen kurz auf das Drei-Hasen-Fenster in Paderborn ein, das sich aus diesem Symbol ableiten lässt, und finden die drei Hasen merkwürdigerweise dann auch auf jüdischen Friedhöfen in der Ukraine. Das ist deshalb so merkwürdig, weil der Hase in der jüdischen Tradition als unrein gilt. Aber wir gehen dann noch weiter nach Osten und sehen, dass die drei Hasen mit ihren drei Löffeln schon in einer chinesischen Höhle vor langer, langer Zeit abgebildet wurden. Bei der Diskussion des Satzes von Pythagoras gehen wir übrigens darauf ein, dass das Pentagramm als das Symbol der Pythagoräer eine für diese peinliche Irregularität aufweist. Die Seitenverhältnisse lassen sich, ähnlich wie die Quadratwurzel aus der Zahl 2, nicht als rationale Zahlen darstellen. Wir bauen hierzu das Pentagramm mit einigen inneren Konstruktionen und geben den Programmcode dafür explizit in Python an, wie wir das auch in späteren Kapiteln tun werden, wann immer das hilfreich ist.

Dreiteilung des Winkels Ein antikes Problem forderte dazu auf, einen vorgegebenen Winkel in drei gleiche Teile zu teilen. Verwendet werden dürfen nur Zirkel und Lineal. Es hat sich gezeigt, dass dieses Problem nicht allgemein lösbar ist. Hierbei muss man jedoch genau herausarbeiten, was eigentlich die ausschließliche Benutzung des Zirkels und des Lineals mathematisch bedeutet. Wir analysieren diese Fragestellung aus algebraischer Sicht und kommen hierbei in mathematisch ein wenig tieferes Gewässer, wenn wir Körpererweiterungen benötigen. Dann zeigen wir, dass das Problem nicht gelöst werden kann, wobei lediglich solche elementaren Hilfsmittel benutzt werden, die auf den Körpererweiterungen aufbauen. Der große Mathematiker und Ingenieur Archimedes hat in der Antike eine Lösung für das Problem der Winkeldrittelung vorgeschlagen, das gilt auch für den als Playboy charakterisierten Hippias, der zweihundert Jahre früher als Archimedes das Problem mit

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der nach ihm benannten Kurve gelöst hat. Bei der Analyse dieser Lösungen stellt man jedoch fest, dass sie keinesfalls der strengen Beschränkung auf Zirkel und Lineal gehorchen, sondern zusätzliche Konstruktionen verwenden. Eine interessante Näherungslösung stammt von Albrecht Dürer, dieser Zugang wird dargestellt und analysiert. Es stellt sich heraus, dass sie überraschend akkurat, wenn auch nicht exakt, ist. Man kann die Winkeldrittelung auch auf anderem Wege angehen, nämlich indem man Papier faltet, also mit der japanischen Origami-Technik. Das wird auch in diesem Kapitel behandelt, verblüffenderweise zeigt sich, dass man mit Origami die Kubikwurzel aus der Zahl 2, die nicht konstruierbar im Sinne unserer Körpererweiterung ist, falten kann. Ein wichtiges Hilfsmittel in all diesen Diskussionen ist der Ähnlichkeitssatz des Euklid, der in der Regel im Geometrieunterricht der Schulen durchdekliniert wird. Wir geben einen hübschen visuellen Beweis dieses Satzes, wie er sich in einem englischen Mathematikbuch des 18. Jahrhunderts (Byrne 2017) findet.

Die Dreiermenge von Georg Cantor Wir teilen eine Strecke in drei gleiche Teile und entfernen den mittleren Teil. Dadurch bleiben zwei Teilstrecken übrig, mit der wir die gleiche Prozedur durchführen: Sie werden jeweils in drei gleich lange Teile geteilt, der mittlere Teil wird eliminiert, so dass wir jetzt vier kleinere Teilstrecken haben. Für jede dieser Teilstrecken wird das Spiel wiederholt. Das kann man unendlich oft durchführen, auch wenn die Teilstücke immer kleiner werden. Was bleibt übrig? Bleibt überhaupt etwas übrig? Es stellt sich heraus, dass in der Tat etwas übrig bleibt, ja, dass sogar unendlich viele Elemente diesen Eliminationsprozess überleben. Das ist eine ziemlich erstaunliche Angelegenheit. Wir analysieren diese Menge aus unterschiedlichen Gesichtspunkten. Zum einen überlegt man sich, dass diese Menge zwar unendlich viele Elemente enthält, dass aber die Gesamtlänge der resultierenden Menge gleich 0 ist. Diese Menge ist auch selbstähnlich. Schneiden wir die Menge an einer beliebigen Stelle auf und zoomen hinein. Es stellt sich heraus, dass die ursprüngliche Menge wieder erscheint. Die Menge kann also aufgeteilt werden, und die ursprüngliche Gestalt erscheint wieder! Das überlegt man sich relativ einfach, wenn man sich den Konstruktionsprozess genauer daraufhin ansieht. Wir haben gerade gesehen, dass die resultierende Menge unendlich viele Elemente enthält, aber es ist nicht ganz klar, was unendlich eigentlich genauer bedeutet. Der Begriff der Unendlichkeit hat bekanntlich Philosophen, Theologen und Mathematiker seit einigen zweitausend Jahren intensiv beschäftigt. Durch die Arbeiten von Georg Cantor, auf den auch die gerade konstruierte Menge zurückgeht, wird der Begriff der Unendlichkeit mathematisch klarer gefasst. Wir dis-

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kutieren einige Aspekte dieses verwirrenden Begriffs und sehen uns Mengen an, die genauso viele Elemente wie die natürlichen Zahlen 1, 2, 3, . . . haben. Damit sind wir bei einem anderen merkwürdigen Begriff, nämlich „genauso viel Elemente“; auch das muss präzisiert werden. Diese Art der Unendlichkeit ist schon ziemlich groß, wie man sich leicht vorstellen kann; wie groß er ist, zeigen wir an Hilberts Hotel, einer beliebten Geschichte des großen Göttinger Mathematikers David Hilbert. Aber solche unendlichen Mengen sind noch nicht groß genug. Es gibt noch größere Mengen, die also, wenn man das so ausdrücken kann, noch unendlicher sind. Das scheint der Anschauung vollständig zu widersprechen. Wir berichten über Georg Cantors sehr nützliche Konstruktion, mit der man diesen Aspekt mathematisch besser in den Griff bekommt. Dieses Vorgehen ist als Cantors Diagonalverfahren bekannt. Dann ist es aber auch gut mit der Betrachtung von unendlichen Mengen, wir kommen wieder auf die Selbstähnlichkeit der Cantor-Menge zurück und malen einige interessante selbstähnliche Konstruktionen. Hierzu bemühen wir die für Kinder gedachte Programmiersprache LOGO und zeigen, wie die Schildkröte von LOGO in der PythonVariante selbstähnliche Mengen zeichnen kann. Der Programmcode für die Beispiele wird angegeben und ausgiebig diskutiert.

0, 1, 1, 2, 3, 5, . . . , Neulich berichtete die italienische Tageszeitung La Repubblica über den Vorschlag eines offenbar mit schwarzem Humor begabten Bloggers, in italienischen Schulen arabische Zahlen zu benutzen. Die Reaktionen unterboten lässig jedes Niveau. Es war offenbar nicht so recht bekannt, dass arabische Zahlen seit gut achthundert Jahren zumindest in Italien im Gebrauch sind. Der Mathematiker Leonardo Fibonacci hat sie im dreizehnten Jahrhundert aus dem arabischen Sprachraum mitgebracht. Er wies überzeugend nach, dass die Verwendung arabischer Ziffern wesentlich praktischer ist als die bislang benutzte Schreibweise mit römischen Ziffern (versuchen Sie doch einmal, das Produkt CMDXI · LVII zu berechnen). Der Name Fibonacci wird oft mit dem Goldenen Schnitt verbunden. Sieht man sich den Goldenen Schnitt genauer an, so findet man die im Hintergrund lauernden Fibonacci-Zahlen. Sie sind so konstruiert, dass jede Zahl die Summe ihrer beiden Vorgänger ist. Diese Zahlen lassen sich ganz gut durch das Vermehrungsverhalten von Kaninchen charakterisieren. So sind sie auch entstanden, denn Fibonacci hat in einem seiner Lehrbücher die berühmte Kaninchenaufgabe gestellt, die wir natürlich auch diskutieren Aber es ist uns nicht um den Goldenen Schnitt zu tun, sondern um die Folge der Fibonacci-Zahlen. Wir wenden diese Zahlen hin und her und zeigen, dass man diese unendliche Folge in einer einzigen mathematischen Entität, nämlich ihrer erzeugenden Funktion, repräsentieren kann. Kennen Sie die erzeugende Funktion einer Folge, so kennen Sie, im Prinzip jedenfalls, auch die einzelnen Zahlen. Dieses interessante

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Phänomen wird weiter beleuchtet, wir sehen uns die erzeugenden Funktionen einiger Folgen an und zeigen auch, wie man die Folge aus der erzeugenden Funktion wieder extrahieren kann. In diesem Sinn ist die erzeugende Funktion die Wäscheleine, an der man die einzelnen Zahlen aufhängen kann. Das ist jetzt alles gut und schön, mag sich die Leserin denken, was kann ich denn jetzt damit anfangen? Die Auskunft, dass erzeugende Funktionen ein wichtiges Hilfsmittel in der mathematischen Disziplin der Kombinatorik sind, mag den Leser vielleicht nicht überzeugen. Wenn wir aber ein konkretes Problem hernehmen, so sieht es schon anders aus: Wir zeigen, wie man das Problem des Geldwechselns mit erzeugenden Funktionen lösen kann. Das Problem sieht so aus: Sie sind mit einem Vorrat von Münzen ausgestattet, auf wie viele Arten können Sie denn einen gegebenen Geldbetrag aus den Münzen zusammensetzen? Das Beispiel ist ziemlich illustrativ, es hat aber den üblichen Defekt von Beispielen aus einem Lehrbuch, nämlich unrealistisch zu sein (wann hat man schon einen unbegrenzten Vorrat von Münzen in der Tasche?). Auf der anderen Seite muss man wohl gelegentlich betonen, dass die mathematische Behandlung von Problemen aus dem täglichen Leben in der Regel den Rahmen einer überschaubaren schriftlichen Darstellung sprengt. Durch die Realität sind nämlich in aller Regel Nebenbedingungen vorhanden, die meist nur mit großem Aufwand mathematisch modelliert werden können. Die Leserin kann sicher gelegentlich überlegen, was das für die Forderungen an den Mathematikunterricht in der Schule bedeutet, lebensnahe Anwendungen zum Inhalt zu haben.

Drei Kronen, alle anderen zu beherrschen Ein Buch, das sich mit der Zahl Drei befasst, darf die Tiara, also die dreifache Krone des römischen Papsts nicht ignorieren. Der damit verbundene mathematische Inhalt ist leer, gleichwohl diskutieren wir aus Gründen der Vollständigkeit das Zustandekommen dieses merkwürdigen Phänomens. Wir versuchen, die Entstehung dieses Symbols historisch nachzuvollziehen. Durch viele Machtkämpfe zwischen dem Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche und den französischen Königen einerseits und den deutschen Kaisern andererseits hat sich das machtpolitische Profil dieses Amts geschärft. Das wurde durch die Einführung der dreifachen Krone manifestiert. Wie so oft hat ein Machtsymbol auch eine Semantik im zugrunde liegenden Gültigkeitsbereich. Das ist mit der Tiara nicht anders, sie hat eine theologische Semantik, die freilich nicht ganz einfach herauszubringen ist. Wir folgen hier der theologischen Dissertation von B. Sirch (Sirch 1975), um diese Semantik nachzuzeichnen. Schließlich gehen wir kurz exemplarisch auf mit der Tiara verbundene Verschwörungstheorien ein: Die Verbindung zwischen Tiara und der sogenannten Teufelszahl würde im Englischen als Bollocks! kommentiert werden.

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Ein Buch über die Zahl Drei?

Piero della Francescas Flagellazione di Cristo Piero della Francesca war ein führender Maler der Frührenaissance, der auch als Mathematiker hervorgetreten ist. Im Rahmen seiner Arbeiten hat er die Zentralperspektive geometrisch erforscht und diese mathematischen Überlegungen auf die Konstruktion seiner Bilder angewandt. Das kann handfest nachgewiesen werden, zum Beispiel an einem nicht ganz uninteressanten Detail, nämlich der Fußbodenkonstruktion in der Geißelung Christi, dem Bild, mit dem wir uns in diesem Kapitel befassen werden. Zu diesem Bild gibt es viele Fragen: Es ist nicht klar, in wessen Auftrag Piero das Bild gemalt hat, es ist nicht klar, was dieses Bild aussagen soll, es ist nicht klar, wo das Bild ursprünglich aufbewahrt wurde. Aus diesem Dunstkreis von offenen Fragen hat sich seit den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine eifrige Industrie entwickelt, die Interpretationen für dieses Bild liefert. Unser Interesse an diesem Bild kommt dadurch zustande, dass wir im Vordergrund drei Männer stehen sehen, deren Bedeutung für das Bild, das ja einen zentralen Aspekt der Leidensgeschichte Christi darstellt, vollständig unklar ist, während das eigentliche Geschehen der Geißelung in den Hintergrund gedrängt wird. Wir geben einen Überblick über einige der Interpretationen, geben jedoch keine eigene. Da wir nicht alle zweiundvierzig vorliegenden Interpretationen diskutieren können, konzentrieren wir uns auf vier. Wir geben auch einen kurzen Abriss für einige Interpretationen, die nicht behandelt werden konnten, die jedoch von Interesse zu sein scheinen. Das Spektrum der Interpretationen ist breit, es reicht von der ostasiatischen Mystik über die Konstruktion einer Mordgeschichte bis hin zu verborgenen Botschaften in einem Astrolabium. Die Zeiten, in denen Piero gearbeitet hat, waren turbulent, das zentrale Ereignis der Zeit war die Eroberung Konstantinopels durch die Türken und damit die endgültige Auflösung des Byzantinischen Reiches; das geschah im Jahre 1453. Dieses Ereignis bewirkte Aktivitäten auf vielen politischen Bühnen in Italien, sei es in der katholischen Kirche, sei es in den Fürstentümern, die mit dem Kirchenstaat verbunden oder untereinander gegen die Kirche verbunden waren (kurz hintereinander aufgenommene Momentaufnahmen können da unterschiedliche Bilder liefern). Diese Aktivitäten waren nicht nur politischer Art, sie strahlen auch auf die bildende Kunst aus, so dass es kein Wunder ist, dass einige Interpretationen dieses Bildes einen recht engen Zusammenhang zwischen der Eroberung Konstantinopels mit dem daraus resultierenden Zustand der christlichen Kirche des Byzantinischen Reiches und dem Bild von Piero sehen. Um diesen Zusammenhang besser ausleuchten zu können, gehen wir auf die politische Situation in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts in Italien ein. Wir berichten auch kurz über das wenige, was über die Biographie des Malers bekannt ist, und zeigen auf, wie seine mathematischen Arbeiten seine Gestaltung des Bilds beeinflusst haben. Hierzu ist es nötig, ein wenig über die mathematischen Interessen von Piero zu berichten, die sich bei Weitem nicht auf geometrische Fragestellungen

Ein Flug über die Kapitel aus großer Höhe

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beschränkt haben. Seine mathematischen Lehrbücher geben auch hier bereitwillig Auskunft.

Tres faciunt collegium In diesem Kapitel beschäftigen wir uns mit Kollegien, die aus drei Einheiten zusammengesetzt sind. In der Regel sind diese Einheiten Personen, es kann aber auch sinnvoll sein, diesen Begriff mit abstrakten Entitäten zu füllen, zum Beispiel dann, wenn wir Strukturen in der Mathematik betrachten, die gerade aus drei miteinander agierenden Komponenten zusammengesetzt sind. Die Überschrift des Kapitels deutet darauf hin, dass es sich um ein von den Römern übernommenes Prinzip handelt, nämlich dass drei Leute eine Arbeitsgruppe bilden. Nach diesem Prinzip waren in der Römischen Republik einige Gremien zusammengesetzt, die wichtige Arbeiten zu verrichten und wichtige Entscheidungen zu treffen hatten (dabei soll nicht verkannt werden, dass die drei in Rede stehenden Personen von einer Vielzahl von Helfern, die meist Sklaven waren, unterstützt wurden). Wir befassen uns kurz mit diesem historischen Hintergrund und zeigen dabei auch, woher dieser Ausspruch kommt. In einem kleinen Ausflug machen wir dann die Annahme, dass es sich nicht um Personen, sondern um Abstrakta handelt, die zu einer Dreierkonfiguration zusammengesetzt werden. Das fängt beim Dreisatz an, der, in der Schule gelehrt, immer noch von vielen Erwachsenen gefürchtet wird. Das Vorgehen wird mit Scheherazades Hilfe weiter ausgesponnen, wenn man abstraktere Strukturen aus einfacheren Komponenten zusammensetzt. Es geht hierbei nicht nur um die Zusammensetzung allein (ähnlich wie es nicht nur darum geht, einfach drei Personen an einen Tisch zu setzen), es geht auch darum, die Interaktion zwischen diesen Strukturen genauer zu beschreiben. Wir zeigen das zunächst am Beispiel von arithmetischen Maschinchen, also solchen Gedankenexperimenten, mit denen man die einfachen arithmetischen Operationen durchführen kann. Die setzen wir zusammen und kommen dann zu abstrakteren Gebilden, nämlich zu Monoiden, und gehen dann sogar noch ein bisschen weiter in die abstrakte Mathematik. Dabei versäumen wir nicht die Gelegenheit, die von Altmeister Goethe angestrengte Analogie zwischen Mathematikern und Franzosen geradezurücken. Wenn man drei Objekte zusammensetzt, so brauchen diese Objekte nicht unbedingt handfest in der Wirklichkeit zu existieren. Das ist in der Mathematik so, das kann aber auch an ganz anderer Stelle so sein, nämlich im Bereich der religiösen Sagen und Mythen. Wir beschäftigen uns kurz mit der Geschichte der Heiligen Drei Könige. Ihre Existenz ist weder biblisch noch irgendwie historisch belegt, sie haben gleichwohl eine große Wirkungskraft entfaltet, weil ein treibender Mythos dahintersteckt. Wir verfolgen die Geschichte dieser religiösen Manifestation in einigen Verästelungen.

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Eine andere berühmte Dreierkonfiguration findet sich in Shakespeares berühmtem Drama Macbeth, das gleich mit einer Szene für drei Hexen eröffnet wird. Diese Hexen agieren als das Schwungrad, mit dem das Drama in Atem gehalten wird, und wir zeigen auf, wo dieser Schwung herkommt und wie er sich im Drama selbst manifestiert. Wenn auch drei Personen eine Gruppe bilden, so kann es vorkommen, dass die dritte Person gar nicht erst anwesend sein muss. Das zeigen wir am Beispiel zweier Holzschnitte des englischen Satirikers Hogarth, in dessen Geschichte zwar drei Personen eine Rolle spielen, an der entscheidenden Stelle die dritte Person jedoch fehlt, gleichwohl kommt die intendierte Übereinkunft zustande. Hierbei folgen wir der Interpretation, die der Göttinger Physiker und Spötter Lichtenberg gegeben hat.

Drei Chinesen mit nem Kontrabass . . . In der chinesischen Geschichte spielen drei mythische Könige eine große Rolle. Von ihnen wird gesagt, dass sie wesentliche Bestandteile der chinesischen Zivilisation ins Leben gerufen, erfunden oder weiterentwickelt haben; sie werden auch heute noch verehrt und – was ihr Weiterleben unwiderleglich demonstriert – sie sind Hauptpersonen diverser chinesischer Videospiele. Wir erzählen von diesen Königen, ihren Taten und auch davon, wie sie mit Drachen interagiert haben, nicht so sehr, wie wir es etwa mit Siegfried und dem Drachen gewöhnt sind, sondern auf vielfältigere und konstruktivere Art und Weise. Wir klassifizieren hierzu die Drachen, die nicht einfach nur Drachen sind und interessant aussehen, sondern vielmehr einige alltägliche Aufgaben unterstützen oder diese Aufgaben im täglichen Leben symbolisieren. Das ist der Aufhänger für einige Schilderungen aus der chinesischen Mathematik, die sich ja unabhängig von der abendländischen Mathematik entwickelt hat und durch andere Ansätze und Lösungen zur Blüte gekommen ist. Wir diskutieren einige interessante Aufgaben, die sich in alten chinesischen Mathematikbüchern finden, und lösen diese Aufgaben mit den Methoden, die in den Quellen geschildert werden, freilich in unsere Sprache übertragen. Meister Suns Problem sei besonders herausgehoben, es führt zu dem, was in der Algebra und der Algorithmik als der Chinesische Restsatz bekannt ist und außerordentlich interessante Anwendungen zum Beispiel in der Computerarithmetik hat. Wir sind erstaunt, mit welcher methodischen Vielfalt die chinesischen Mathematiker gearbeitet haben, aber auch, dass die Verwendung von Symbolen in dieser Mathematik vollständig fehlt. Das hat dann vielleicht zu einem Stillstand der Entwicklung im Vergleich mit der europäischen Mathematik seit dem Barock geführt. Leider fehlt uns hier die Möglichkeit, über die außerordentlich spannenden Errungenschaften der chinesischen Astronomie zu berichten, die in der Mathematik eigene Wege gegangen zu sein scheint.

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Dreiklänge und andere Harmonien In der Musik wimmelt es nur so von Vorkommen der Zahl Drei. Man denke an den Dreivierteltakt, Trios, dreisätzige Konzerte und so weiter und so fort. Es ist also nicht so einfach, hier eine Auswahl zu treffen. Was wäre aber unsere europäische Musik ohne Dreiklänge, die mit Fug und Recht als Grundbausteine der Musik bezeichnet werden? Bausteine, mit denen man auf verschiedene Arten arbeiten kann, die man umstellen kann, die man feilen, polieren oder auch kombinieren kann. Daher beginnen wir unsere Diskussion über die Drei in der Musik mit Dreiklängen, wir müssen sogar ein wenig früher anfangen und schreiben erst einmal Tonleitern auf, um die Noten fest in den Griff zu bekommen. Hier ergibt sich gleich eine Aufgabe zur Klassifikation, denn Tonleitern kommen nicht nur einfach so daher, sie werden in Dur- und Moll-Tonleitern unterschieden, innerhalb dieser Unterscheidung ist jeweils der Grundton wichtig. Es ergibt sich hieraus ein Instrumentarium, das zwar elementar ist, dass man aber handhaben muss, wenn man über Musik sprechen will. Daraus bauen wir dann Dreiklänge, wir zeigen, wie diese Dreiklänge klassifiziert werden und was man mit ihnen anstellen kann. Damit kommen wir dann zu einer interessanten mathematischen Beschreibung solcher Dreiklänge, indem wir den Quintenzirkel konstruieren und damit ein wenig herumspielen. Dieser Quintenzirkel gibt unmittelbar einen historischen Bezug zu Pythagoras und seiner Schule, denn die zugrunde liegenden Ideen wurden im Wesentlichen von den Pythagoräern entwickelt. Wir verfolgen jedoch zunächst eine andere Straße, die der Überlegung folgt, dass sich Dreiklänge in einer Restklassengruppe, denen wir mathematisch bei der Behandlung chinesischer Probleme begegnet sind, darstellen lassen. Die Manipulation der Dreiklänge ergibt interessante Transformationen in dieser Restklassengruppe und in ihren Untergruppen. Nimmt man dann noch einmal den Grundgedanken von Pythagoras auf, so gelangt man systematisch zu Tonnetzen, einer Konstruktion, die der große Leonhard Euler vorgeschlagen hat, als er sich mit den mathematischen Grundlagen der Musik befasste. Wir machen den Schritt von einzelnen Akkorden zu größeren Musikstücken und überlegen, was man mit einer vorgegebenen einfachen Melodie eigentlich alles machen kann: Man kann sie umkehren, transponieren, invertieren und allerhand andere Dinge mit ihr anstellen. An einigen Beispielen werden solche musikalischen Transformationen durchgeführt und erläutert, wobei die Transformation und nicht so sehr ihre algebraische Realisierung im Vordergrund stehen. Von einzelnen Melodien zu Opern. Die Opernliteratur als recht vollständiger Katalog (zwischen-)menschlichen Verhaltens bietet ein reiches Spektrum, aus dem man Dreierkonfigurationen unter den handelnden Personen extrahieren kann. Wir tun das bei vier ausgesuchten Opern, vier Sandkörnern am weiten Strand der Opernliteratur, gewiss,

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Ein Buch über die Zahl Drei?

aber doch geeignet, den Grundgedanken zu erläutern. Den Abschluss der Diskussion bildet eine Betrachtung über die h-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach, in der sich eine Vielzahl von Dreierstrukturen findet. Sie dienen musikalisch dazu, die theologischen Grundgedanken der Messe mit musikalischen Mitteln zu verdeutlichen.

1.3

Danksagungen

Das vorliegende Buch verdankt mehr, als das Auge sehen kann, meinem Kollegen Heinz-Wilhelm Alten, dessen Projekt zur Mathematikgeschichte, zum Beispiel durch die Übersichten (Alten et al. 2003; Scriba und Schreiber 2000), zudem einige wichtige Anregungen geliefert hat. Ständige freundschaftliche, kollegiale und kritische Begleiter waren – und bleiben hoffentlich – Eugenio G. Omodeo und Herrmann Stever, stets zu Diskussionen aufgelegt, stets bereitwillig zur Hilfe mit Rat und Tat. Pfarrer Arno Lohmann und Rabbiner Michel Birnbaum Monheit halfen mir, die Hasensymbole auf dem Friedhof zu Satanov zu verstehen, Grazia Nicotra ließ mich nicht im Stich, als ich vor gewundenem Gelehrten-Italienisch kapitulieren wollte. Mit Udo Schwarz konnte ich mich erfreulicherweise in langen Diskussionen nicht auf einen gemeinsamen Kunstbegriff einigen, als wir über Pieros Bild sprachen, erfreulich deshalb, weil wir das weiter diskutieren können. Laura Tiego führte mich sicher und geduldig vor gut zehn Jahren durch das faktengesättigte und anregende Buch (Ronchey 2006). Ein Gespräch mit Roswitha und Karl-Friedrich Herkenrath über Briefmarken führte dazu, die Sachsendreier als Arabeske aufzunehmen. Chunlai Zhou und Yixiang Chen gaben mir in Peking bzw. Schanghai großzügig ihre helfende Hand. Mein verstorbener Kollege Horst Wedde regte an, dass ich mich mit der Bach-Biographie von Albert Schweitzer (Schweitzer 1947) befasse; Mechthild von Schoenebeck und Burkhard Sauerwald gaben viele Anregungen zum musikalischen Teil. Aber was immer schief oder unvollständig dargestellt ist, sollte auf mein Konto geschrieben werden. Das Buch wurde beim Springer-Verlag von Annika Denkert und Carola Lerch betreut, die Zusammenarbeit war ausgesprochen angenehm und hilfreich. Martina Wiese (Wiese Transdukt) las mikroskopisch genau Korrektur und gab mir dabei viele freundliche Anregungen; Jutta Koßmann ließ dem Emeritus, der Infrastruktur eines Lehrstuhls ledig, freundlich, prompt und aktiv die Unterstützung des Dekanats zuteilwerden. Allen sei herzlich für ihre bereitwillige Hilfe und für ihre Geduld gedankt. Das Buch aber und alles andere ist nur möglich durch die verständnisvolle Liebe und Geduld meiner Frau Gudrun.

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Danksagungen

Anneke, 3 ist aber doch die vierte natürliche Zahl! Jeder Logiker weiß, dass 3 die vierte natürliche Zahl ist, denn mit der leeren Menge ; baut man das Zahlensystem seit G. Frege so auf: 0 = ;, 1 = {0}, 2 = {0, 1}, 3 = {0, 1, 2}, . . . Und so ist dieses Buch über die Zahl 3 unserem vierten Enkelkind Anneke gewidmet. Ich hoffe, Anneke hat später beim Lesen des Buchs so viel Vergnügen wie ich in den letzten beiden Jahren beim Schreiben. Bochum, Palermo und Peking, im Herbst 2018 Ernst-Erich Doberkat

2 Sizilien ist dreieckig

Übersicht 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9

Trinakria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Odysseus fährt im Dreieck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Skylla und Charybdis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sache mit den Schilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intermezzo: Pythagoras und der Schild des Euphorbos . . . . . . . . . . . . . . . . . Antike Münzen aus Sizilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hasen und all das . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Programmcode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wir folgen den Irrfahrten des Odysseus nach Sizilien und um die Insel und versuchen so, die Dreiecksgestalt erfahrbar zu machen und die sagenhaften Erlebnisse des homerischen Helden mit diesem Dreieck zu verknüpfen. Der sprichwörtlichen Skylla und Charybdis widmen wir einen kurzen Blick und zeigen, dass sich diese Meerenge in mannigfachen Zusammenhängen in der Literatur findet, von Casanova bis zur Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther. Sizilien aber ist natürlich mehr als nur ein Zwischenhalt auf der Sehnsuchtsreise des Odysseus. Die Gestalt der Insel findet sich in ihrer Flagge wieder, die ihre eigene Geschichte hat, und natürlich in ihren Münzen, die wir uns etwas näher ansehen. Vorher aber schlagen wir eine Brücke zum legendenumwobenen Pythagoras und seinem Theorem, aber auch seinen Bemühungen um die Kommensurabilität von Zahlen, die sich im Pentagramm seiner Jünger beweisbar nicht wiederfindet. Schließlich analysieren wir die Dreigestalt geometrisch und landen – bei den drei Hasen, was uns zu einer kurzen Fahrt von Paderborn über die jüdischen Friedhöfe in der Ukraine zu den Magao-Höhlen in China führt.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 E. Doberkat, Die Drei, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58788-1_2

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Sizilien ist dreieckig

2.1

Trinakria

Der Weg zum berühmten Teatro Antico in Taormina führt durch die enge Via Teatro Greco an Läden vorbei, die dem Bedürfnis von Touristen nach preiswerter persistenter und kompakter Speicherung ihrer Erinnerungen nachkommen. Sie bieten Souvenire an, die spezifisch für den Ort oder die Insel sind. Einer dieser Läden, kurz vor der Via Timoleone, führt neben einem reichen Angebot von Varianten des teste di moro (der Kopf des Mohren), den man hier im Osten der Insel besonders häufig sieht und der in vielen Größen angeboten wird, auch Tonfiguren. Ein Typ fällt besonders auf und weckt meine Neugierde (Abbildung 2.1, links). Es ist ein Gorgonenhaupt. So wie eine Nabe im Zentrum eines Rades von Speichen umgeben wird, so ist das Haupt Mittelpunkt von drei am Knie geknickten, in dieselbe Richtung laufenden Beinen, eine Trinakria oder Triscele. Die freundliche Verkäuferin in diesem Laden erzählt mir auskunftsfreudig und beredt die arg blutrünstige Geschichte der tragischen Liebe, für die die teste di moro stehen, vielleicht auch ihre persönliche Variante, während sie mir die Triscele einpackt. Zwei kleineren Tonköpfen von Odysseus und von Nausikaa konnte ich auch nicht widerstehen – als der schiffbrüchige Odysseus Nausikaa zum ersten Mal begegnet, spricht er sie an (Odyssee VI, 160–167)1 : Denn ich sahe noch nie solch einen sterblichen Menschen, Weder Mann noch Weib! Mit Staunen erfüllt mich der Anblick! Ehmals sah ich in Delos, am Altar Phöbos Apollons, Einen Sprößling der Palme von so erhabenem Wuchse. Denn auch dorthin kam ich, von vielem Volke begleitet, Jenes Weges, der mir so vielen Jammer gebracht hat! Und ich stand auch also vor ihm und betrachtet’ ihn lange Staunend; denn solch ein Stamm war nie dem Boden entwachsen. Also bewundre ich dich und staun und zittre vor Ehrfurcht. Odysseus wird uns gelegentlich hier begegnen und beschäftigen. Man findet die Triscele aber auch an anderer Stelle, wie etwa in Abbildung 2.1, rechts auf einer antikisierenden Darstellung. Auch hier zeigt sie das Gesicht der Medusa. Die Triscele ist ein offizielles Symbol der Region Sizilien (Abbildung 2.2), das Gesetzblatt

Gemeint ist: Gesang VI der Odyssee, Verse 160–167, zitiert nach (Homer 1990). Ich lasse im folgenden den expliziten Bezug auf die Odyssee weg, würde also obiges als „VI, 160–167“ zitieren. 1

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Trinakria La_Triquetra.jpg 2.261×2.265 Pixel

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Abb. 2.1 Triscele aus Ton und auf einer sizilianischen Münze https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a8/La_Triquetra.jpg

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Gazetta Ufficiale della Regione Sicilia der Region Sizilien legt im Gesetz Nr. 4 vom Januar 2000, Abschnitt 1 fest, dass die Flagge der Region die Triscele enthält. Das Gesetz enthält auch einen Hinweis, wie sie auszusehen hat: „La bandiera della Regione è formata da un drappo di forma rettangolare che al centro riproduce lo stemma della Regione siciliana, raffigurante la Triscele color carnato con il gorgoneion e le spighe, come individuato all’articolo . . . .“ Das Wort Triscele (oder Triskele) bedeutet dreibeinig, in der Heraldik ist auch die Version Triqueta geläufig. In etwas ungenauer Sprechweise wird auch die heraldische Bezeichnung Trinakria verwendet, womit ein in drei gleichläufige Beine eingebettetes Gorgonenhaupt bezeichnet wird. Wir werden diese Bezeichnungen parallel benutzen, weil es uns hauptsächlich um die Verwendung dieses Symbols für Sizilien zu tun ist. Offensichtlich stellt die Triscele oder Trinakria eine Abstraktion der Dreiecksgestalt der Insel dar, die durch diese drei Punkte gegeben ist: Im Westen vom Kap Lilibeo bei Marsala, im Süden Kap Passero in der Nähe von Siracusa und im Osten das Kap Peloro bei Messina. Das zeigt die Karte in Abbildung 2.3 im Überblick. Diese Dreiecksgestalt war natürlich schon in der Antike bekannt. Sie wurde von Ovid in seinen Metamorphosen als Hinweis auf das Grab des Giganten Typhoeus inter-

Abb. 2.2 Flagge der Region Sizilien

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Sizilien ist dreieckig

Abb. 2.3 Sizilien als Dreieck

pretiert. Typhoeus war nicht gerade lieblich anzuschauen, er soll hundert Drachenköpfe gehabt haben, alle mit schrecklichen Stimmen, und Schlangenbeine. Sein Name wurde mit einer asiatischen Komponente amalgamiert zu Taifun. Beim Aufstand der Götter, als es bald nach Erschaffung der Welt um die Macht im Olymp geht, wird er von Zeus (andere sagen, von Athene) vernichtet. Die Briefmarke zeigt den tödlichen Schlag des Zeus mit seinem Blitz. Ovid beschreibt es so: „Die mächtige Insel Sizilien wurde auf den Leib eines Giganten geschmettert und lastet schwer auf Typhoeus . . . Zwar müht er sich ab und ringt oftmals darum, sich erneut zu erheben, doch seine Rechte liegt unter Italiens Vorgebirge Peloros, die Linke, Kap Pachynos unter dir. Du, Lilybaion, hältst seine Beine, und sein Haupt drückt der Ätna nieder, aus dem er, hingestreckt, einen Steinhagel sendet und Feuer speit . . . Oft bemüht er sich, die Erdlast abzuwerfen und Städte und hohe Berge von seinem Leib zu schleudern“ (Ovidius Naso 1989, Verse 345–355). Die hier verwendete Übersetzung von G. Fink macht aus insula Trinacris im Deutschen die mächtige Insel Sizilien. Es sei vermerkt, dass der bekannte kulturhistorisch orientierte Reiseführer von E. Peterich diese Beziehung zwischen Dreiecksform und der Trinakria – „dieses ebenso seltsame wie peinliche Wappenschild . . . “ – für nicht überzeugend hält (Peterich 2002, p. 507). Die sagenhafte Bedeutung der Insel wird auch in den Fahrten des Odysseus angedeutet. Man findet in Büchern oder in Filmen Überlegungen, welche Route denn wohl diese mythenumwobene Reise genommen hat, ohne zu einem schlüssigen Ergebnis zu kommen; U. Eco fasst einige Vermutungen über die Reiseroute zusammen (Eco 2013, Kap. 3). Es gibt einige Hinweise auf Stationen in Sizilien, denen wir jetzt nachgehen.

Odysseus fährt im Dreieck

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Der schwer zu widerstehende Sog der Erzählung wirft uns mitten in die Geschichte hinein.

2.2

Odysseus fährt im Dreieck

Nach der Niederlage Trojas und der Zerstörung der Stadt wollte Odysseus, Herrscher über die Insel Ithaka, nach Hause zurückkehren, zu seiner Frau Penelope und seinem Sohn Telemachos. Ithaka liegt östlich von Patras im Ionischen Meer, ist also von Troja nicht auf direktem Seeweg zu erreichen. Anderen trojanischen Helden wie etwa Agamemnon war die Rückkehr nicht besonders gut bekommen, und auch Odysseus wird seinen Weg nicht geradewegs nach Ithaka finden. Er sammelt seine Schiffe, zwölf an der Zahl, und seine Mitstreiter aus Ithaka, „Gefährten“ genannt, und fährt los. Er wird als einziger in Ithaka ankommen, ohne Schiff und ohne Gefährten. Das wird nun von Homer nicht gerade linear erzählt: Mit dem Begriff der Odyssee verbindet man ja auch nicht gerade eine vorhersehbare, ohne Komplikationen verlaufende Reise zwischen zwei Punkten. Es kommt immer wieder zu Unterbrechungen, zu Reisekatastrophen, zu unvorhergesehenen Gastaufenthalten und zu gefährlichen Begegnungen. Einige dieser Singularitäten berühren Sizilien, und davon soll jetzt die Rede sein.

2.2.1

Polyphem und die Isole dei Ciclopi

Da ist die Episode mit Polyphem im neunten Gesang. Polyphem ist ein Zyklop, also ein ziemlich wilder Geselle. Zunächst besucht Odysseus die – nach den nachvollziehbaren Ortsangaben der Odyssee – an der Nordküste Afrikas beheimateten Lotophagen, die den Gefährten Lotos zu essen geben (IX, 94–98): Wer nun die Honigsüße der Lotosfrüchte gekostet, Dieser dachte nicht mehr an Kundschaft oder an Heimkehr, Sondern sie wollten stets in der Lotophagen Gesellschaft Bleiben und Lotos pflücken und ihrer Heimat entsagen. Doch danach reißt er die Gefährten mit Gewalt los aus ihrer paradiesischen und gefährlichen Stimmung des dolce far niente, sie fahren los („und schlugen die graue Woge mit Rudern“, IX,104) und gelangen zum Land der wilden, gesetzlosen Zyklopen (Mondi 1983), die als, wir würden heute sagen, extreme Individualisten leben, um den Rest der Welt wenig bekümmert. Sie sind des Schiffbaus oder der Seefahrt nicht kundig, auch wenn die Landschaft sie mit einem sicheren Hafen begünstigt. Hier lagern die Gefährten, auf einer kleinen Insel bemerken sie Ziegen, die sie erlegen. Als Odysseus

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Sizilien ist dreieckig

zu einer Expedition mit einigen seiner Männer aufbricht, werden sie der Höhle eines dieser Riesen gewahr (IX, 187– 192): All da wohnt’ auch ein Mann von Riesengröße, der einsam Stets auf entlegene Weiden sie trieb und nimmer mit andern Umging, sondern für sich auf arge Tücken bedacht war. Gräßlich gestaltet war das Ungeheuer, wie keiner, Welchen der Halm ernährt. Er glich dem waldichten Gipfel Hoher Kettengebirge, der einsam vor allen emporsteigt. Sie besuchen die Höhle dieses als nicht gerade sympathischen Zeitgenossen geschilderten Riesen Polyphem, den sie aber erst später zu Gesicht bekommen, machen es sich in der Höhle bequem und essen von seinen Vorräten. Als Polyphem überraschend nach Hause kommt, verstecken sie sich zunächst. Er bemerkt sie beim Feueranzünden und ist begreiflicherweise befremdet über diese Eindringlinge, die sich als Griechen vorstellen und das Gastrecht beanspruchen, das Zeus allen Fremden zuspricht (IX, 266 – 271): Reich uns eine geringe Bewirtung oder ein andres Kleines Geschenk, wie man gewöhnlich den Fremdlingen anbeut! Scheue doch, Bester, die Götter! Wir Armen flehen dir um Hilfe! Und ein Rächer ist Zeus den hilfeflehenden Fremden, Zeus, der Gastliche, welcher die heiligen Gäste geleitet! Die Chuzpe, beim Eindringen in eine Behausung auch noch Gastgeschenke vom Besitzer zu verlangen, kann wohl als charakteristisch für Odysseus in seiner Zeit (Finley 2002) angesehen werden. Polyphem aber setzt die Eindringlinge gefangen, erfährt auf seine Frage nach dem Namen des Anführers von Odysseus, dass dessen Name „Niemand“ ist, und verspeist, nach einigem Hin und Her, sechs der Gefährten. Bevor Odysseus dasselbe Schicksal ereilt, entwirft er während der Abwesenheit des Monsters einen Plan zur Rache. Es gelingt ihm, Polyphem so betrunken zu machen, dass er ohnmächtig am Boden liegt; er blendet ihn mit einem Pfahl aus Olivenholz. Die Abbildung 2.4 zeigt die Rekonstruktion der Polyphem-Gruppe aus der Grotte des Tiberius in Sperlonga (Latium). Polyphem ruft um Hilfe „Niemand blendet mich“, was seine Mit-Zyklopen begreiflicherweise nicht zum Eingreifen veranlasst. Odysseus und die verschonten Gefährten fliehen aus der Höhle, nachdem Odysseus sie unter die Widder gebunden hat, die der blinde Polyphem zur Weide passieren lässt, indem er zur Kontrolle nur über ihre Rücken streicht. Die Reisenden erreichen ihr Schiff und verlassen die Insel. Odysseus kann der Versuchung nicht widerstehen, Polyphem seinen Namen zu nennen (IX, 501–505): Hör, Kyklope! Sollte dich einst von den sterblichen Menschen Jemand fragen, wer dir dein Auge so schändlich geblendet,

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Abb. 2.4 Die Blendung des Polyphem (Rekonstruktion von Prof. B. Andreae, Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum, Sammlung Antike)

Sag ihm: Odysseus, der Sohn Laertes’, der Städteverwüster, Der in Ithaka wohnt, der hat mein Auge geblendet! Das ist unklug, denn Polyphem bittet seinen Vater, den Meeresgott Poseidon, um Rache (IX, 530–535): Gib, dass Odysseus, der Sohn Laertes’, der Städteverwüster, Der in Ithaka wohnt, nicht wiederkehre zur Heimat! Oder ward ihm bestimmt, die Freunde wiederzusehen Und sein prächtiges Haus und seiner Väter Gefilde, Laß ihn spät, unglücklich und ohne Gefährten zur Heimat Kehren auf fremdem Schiff und Elend finden im Hause! So kommt’s denn auch: Odysseus muss gegen die verbissene Wut des Poseidon kämpfen, und er kommt allein, ohne die Gefährten, auf einem Schiff der Phäaken nach Ithaka. Polyphem und die mit ihm dort lebenden Zyklopen schleudern einige Felsbrocken auf die fliehenden Griechen. Diese Felsbrocken sind es, die nach der Überlieferung die Isole dei Ciclopi bilden, etwa zehn Kilometer nordöstlich von Catania (Abbildung 2.5). Diese Überlieferung lokalisiert das Geschehen in Sizilien. Der griechische Historiker Thucydides siedelt die Zyklopen und damit auch Polyphem in seinem historischen Abriss in Sizilien an: „Die ältesten Bewohner eines Teils des Landes sollen die Kyklopen . . . gewesen sein, von denen ich weder den Ursprung anzugeben weiss, oder woher sie dorthin eingewandert waren . . . Man muss sich mit dem begnügen, was die Dichter davon melden, und den

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Sizilien ist dreieckig

Abb. 2.5 Eine der Zyklopen-Inseln

Gegenstand dem Ermessen eines jeden überlassen“ (Thucydides 1828, p. 590). Und so kommt es, dass Polyphem als Sizilianer betrachtet wird, wohl auch ohne schlüssige Belege bei Homer dafür zu finden. Eine Plausibilitätsbetrachtung sagt, dass die Felsbrocken, die die Inseln der Zyklopen bilden, als Wurf aus dem Ätna stammen, was die Bindung der Zyklopen, damit Polyphems und dieses Abenteuers des Odysseus an Sizilien befestigt. Odysseus gelangt nach diesem Abenteuer mit seinen Gefährten über einige Zwischenaufenthalte zu der Nymphe Kirke, die seine Leute verhext. Als Nymphe ist Kirke eine der niederen Gottheiten, die auch Zauberkräfte haben können – und auch wirklich haben, wie die in Schweine verwandelten Gefährten von Odysseus praktisch und leidvoll erfahren müssen. Eines dieser Abenteuer, das er auf dem Weg zu Kirke zu bewältigen hat, wirkt schon fast wie einem modernen Fantasyroman entnommen: Odysseus landet mit seinen Gefährten auf den Inseln der Winde, den Äolischen (oder Liparischen) Inseln, die etwa dreißig Kilometer nördlich der Nordküste von Sizilien liegen. Sie bleiben dort einen Monat und erhalten als Abschiedsgeschenk einen Schlauch, der ihnen einen günstigen Wind zur Heimfahrt sichern soll. Die Gefährten vermuten in dem Schlauch jedoch einen Schatz von Gold und Silber, den, wie sie argwöhnisch denken, Odysseus ihnen vorenthält. Sie öffnen den Schlauch heimlich, der Schlauch enthält aber tatsächlich nur Wind. Die unvermutete Öffnung führt dazu, dass ein Sturm hervorbricht, der die Schiffe der Gefährten in eine völlig andere Weltgegend bringt. Bevor Odysseus zu Kirke kommt, verliert er in einem anderen Abenteuer alle Schiffe bis auf eins, so dass die Rache des Polyphem langsam an Substanz gewinnt.

Odysseus fährt im Dreieck

2.2.2

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Die Prophezeiung des Teiresias

Odysseus und seine Leute lassen es sich ein Jahr lang bei Kirke wohl ergehen („Da besteig ich mit Kirke das köstlichbereitete Lager“, X, 347), die Gefährten drängen jedoch darauf, wieder nach Hause zurückzukehren. Kirke gibt Odysseus recht zögerlich frei. Sie verspricht ihm, ihre Zauberkräfte nicht gegen ihn einzusetzen; er muss ihr aber versprechen, das Schattenreich am Ende der Welt zu besuchen, dort die Toten zu beschwören und den Seher Teiresias zu treffen. Diese Beschwörung ist für mich eine der bezwingendsten Szenen in der Odyssee: Odysseus opfert ein Schaf (XI, 36–41), Schwarz entströmte das Blut, und aus dem Erebos kamen Viele Seelen herauf der abgeschiedenen Toten. Jüngling’ und Bräute kamen, und kummerbeladene Greise, Und aufblühende Mädchen, im jungen Grame verloren. Viele kamen auch, von ehernen Lanzen verwundet, Kriegerschlagene Männer mit blutbesudelter Rüstung. In diesem Schattenreich findet Odysseus viele seiner im Trojanischen Krieg gestorbenen Weggefährten wieder, und er findet auch Teiresias. Für den weiteren Fortgang der Geschichte, der Reise und auch für den Bezug zum dreieckigen Sizilien ist nun die sehr ernste Warnung des Teiresias ziemlich wichtig; Teiresias warnt ihn nämlich eindringlich davor, sich beim Aufenthalt auf der Insel Trinakria an den Rindern des Sonnengottes Helios zu vergreifen. Falls er dies nämlich tue, so werde der Fluch des Polyphem unmittelbar im Erfüllung gehen und er alle seine Gefährten verlieren. Odysseus schwört, sich an diese Warnung zu halten. Er kehrt zu Kirke zurück, die ihm weitere Anweisungen für seine Reise gibt, unter anderem warnt sie vor den Sirenen. Sie erläutert ihm auch, dass er darüber hinaus zwei eng miteinander verflochtenen Gefahren entkommen muss, nämlich dem Strudel der Charybdis zu entgehen, an dem das Ungeheuer Skylla wartet. Odysseus bewältigt die Sirenenklänge bekanntlich, indem er sich am Mast seines Schiffs festbinden lässt, es gelingt ihm jedoch nicht, ungeschoren, also ohne Verlust von Gefährten, zwischen Skylla und Charybdis zu navigieren (XII, 235–243). . . . die wilde Charybdis, Welche die salzige Flut des Meeres fürchterlich einschlang. Wenn sie die Flut ausbrach, wie ein Kessel auf flammendem Feuer, Brauste mit Ungestüm ihr siedender Strudel, und hochauf Spritzte der Schaum und bedeckte die beiden Gipfel der Felsen. Wenn sie die salzige Flut des Meeres wieder hineinschlang, Senkte sich mitten der Schlund des reißenden Strudels, und ringsum Donnerte furchtbar der Fels und unten blickten des Grundes Schwarze Kiesel hervor. . . .

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Sizilien ist dreieckig

Abb. 2.6 Straße von Messina

Man möchte wohl nicht in der Haut des Odysseus stecken. Das Ungeheuer Skylla entreißt ihm sechs weitere Gefährten, seine Mannschaft wird immer kleiner. Zu Skylla und Charybdis findet sich mehr in Abschnitt 2.3. Die Karte in Abbildung 2.6 zeigt die Straße von Messina, die als Vorbild und Modell für das sprichwörtliche Paar Skylla und Charybdis angesehen wird. Skilla ist heutzutage ein kleiner Ort in Kalabrien, Charybdis wird meist mit dem nordöstlichen Extrempunkt unseres Dreiecks, dem Kap Peloro in der Nähe von Messina, identifiziert, vgl. Abbildung 2.3 auf Seite 20. So gelangen unsere Reisenden zur Insel des Sonnengottes Helios. Auf ihr weiden die Rinder, vor denen Odysseus von Teiresias mit diesen Worten gewarnt wurde (XII, 127–130, 137–140): Jetzo erreichst du die Insel Trinakria. Siehe, da weiden Viele fette Rinder und Schafe des Sonnenbeherrschers: ... Wenn du nun, eingedenk der Heimfahrt, diese verschonest, Siehe, dann mögt ihr, obzwar unglücklich, gen Ithaka kehren. Wenn du sie aber beraubst, alsdann weissag ich Verderben Deinem Schiff und den Freunden, und so du auch selbst entrinnest Kehrst du doch spät, unglücklich und ohne Gefährten zur Heimat. Eines Tages jedoch, während Odysseus schläft, überkommt die Gefährten der Hunger und der Unmut. Sie schlachten die besten Rinder des Helios, Odysseus kann das nicht mehr verhindern (XII, 370–373).

Odysseus fährt im Dreieck

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Da erschrak ich und rief wehklagend den ewigen Göttern: Vater Zeus und ihr anderen unsterbliche selige Götter! Ach, ihr habt mir zum Fluche den grausamen Schlummer gesendet, Daß die Gefährten indes den entsetzlichen Frevel verübten! Es hilft nichts, der Sonnengott Helios verklagt ihn bitterlich bei Zeus. Der Zorn der Götter prägt sich mit den Versen ein (XII, 394–396): Bald erschienen darauf die schrecklichen Zeichen der Götter: Ringsum krochen die Häute, es brüllte das Fleisch an den Spießen, Rohes zugleich und gebratnes, und laut wie Rindergebrüll scholl’s . . . Zeus schickt den Reisenden auf ihrer Weiterfahrt ein unheilvolles Unwetter, das alle Gefährten vernichtet (XII, 415–419). Und nun donnerte Zeus; der hochgeschleuderte Strahl schlug Schmetternd ins Schiff: und es schwankte, vom Donner des Gottes erschüttert. Alles war Schwefeldampf, und die Freund’ entstürzten dem Boden. Ähnlich den Wasserkrähn bekämpften sie, rings um das Schiff her, Steigend und sinkend die Flut; doch Gott nahm ihnen die Heimkehr. Odysseus selbst kann sich mit Mühe retten, er muss aber noch einmal gegen Skylla und Charybdis kämpfen (XII, 441–446): Zu der Stund entstürzten Charybdis’ Schlunde die Balken. Aber ich schwang mich von oben mit Händen und Füßen hinunter ... Aber Skylla ließ mich der Vater der Menschen und Götter Nicht mehr schaun, ich wäre sonst nie dem Verderben entronnen! Damit ist ein wesentlicher Teil der Rache des Poseidon erfüllt. Es war Odysseus jedoch auch vorhergesagt, dass er nach Hause kommen würde, und der weitere Verlauf der Geschichte befasst sich nun mit den Geschehnissen seiner Heimkehr. Sie führt ihn zu Nausikaa, über die auf Seite 18 kurz berichtet wurde, und die freundliche Hilfe ihrer Leute, die ihn nach Ithaka rudern, zum nachhaltigen und sehr spürbaren Verdruss von Poseidon. Unser Held kehrt heim, zunächst als Bettler verkleidet, und berichtet Penelope, seiner Gattin, die ihn in dieser Verkleidung nicht erkennt, von sich in der dritten Person (XIX, 273–278): . . . Doch seine lieben Gefährten Und sein rüstiges Schiff verlor er im stürmenden Meere, Als er Trinakiens Ufer verließ; denn es zürnten dem Helden Zeus und der Sonnengott, des Rinder die Seinen geschlachtet. Alle diese versanken im dunkelwogenden Meere. Aber er rettete sich auf den Kiel . . .

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Sizilien ist dreieckig

Damit bestätigt er den Ort des Geschehens, all das muss also auf Sizilien geschehen sein, wenn wir der Gleichung Trinakria = Sizilien Glauben schenken wollen. Diese Auffassung wurde in der Antike vertreten, es gab jedoch auch damals schon kritische Stimmen, die sich zum Teil auf philologische Argumente stützten, die hier im Detail zu referieren jedoch sicher zu weit führen würde. So argumentiert etwa (Kranz 1915) auf der Grundlage eines Vergleichs mit anderen Mythen und einer Strukturanalyse der Odyssee, dass die Reisen des Odysseus viel weiter im Osten gedacht werden müssen. Der Leser sei auf den Eintrag Thrinakie in der schrankwandfüllenden Realencyclopädie (Kroll und Mittelhaus 1936, Spalte 606f) verwiesen. Auch wenn die Quellenlage mitunter schwächer ist, als man sich das wünschen würde, so steht doch fest, dass Trinakria und damit Sizilien tief in einem Epos verankert ist, das zu den bedeutendsten und wirkungsmächtigsten unserer Kultur gehört. Es zeigt, wie wesentlich Sizilien implizit und explizit für unser Verständnis des Mittelmeerraums ist. Man muss ja nicht gleich auf das enthusiastische Goethe-Zitat aus der Italienischen Reise vom 13. April 1787 in Palermo verfallen: „Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele: hier ist erst der Schlüssel zu allem“ (Goethe 1998, p. 252). Die Vorstellung, zwischen zwei Übeln wählen zu müssen, und zu wissen, dass eine Wahl so unheilvoll wie die andere sein kann, wird durch die Redensart Zwischen Skylla und Charybdis charakterisiert, in brachialer Art und Weise gelegentlich durch Zwischen Pest und Cholera. Die prägende Wirkung der homerischen Dichtung zeigt sich auch darin, dass dieses Bild in der Literatur häufig verwendet wird, wenn auch nicht immer einheitlich, wie wir jetzt sehen werden.

2.3

Skylla und Charybdis

Wir wollen ein wenig bei diesem Bild verweilen und einige Zitate diskutieren, in denen es verwendet wird. In der umfangreichen und kenntnisreich kommentierten Sammlung klassischer griechischer und lateinischer Sprichwörter (Tosi 2017) findet sich das lateinische Sprichwort Incidis in Scyllam, cupiens evitare Charybdim mit der italienischen Übersetzung Vai contro Scilla, desiderando evitare Cariddi (Tosi 2017, Nr. 2051, p. 1402), also etwa Gegen Skylla fahren und dabei Charybdis vermeiden. Wir verfolgen einige Hinweise aus diesem Eintrag in der kurzen Diskussion der Redensart. Sie beschreibt, dass in der volkstümlichen Vorstellung Charybdis ein alles verzehrendes Monstrum ist, im übertragenen Sinne auch eine Person, die extrem gefräßig ist, sei es im eigentlichen, sei es im übertragenen Sinne. Skylla wird in diesem Zusammenhang als ein Geschöpf angesehen, das halb Frau, halb Seeungeheuer ist. Als

Skylla und Charybdis

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weitere Bedeutung dieser Redensart finden wir auch eine Charakterisierung einer unvorteilhaften Situation, deren Alternative ebenfalls als nicht besonders begehrenswert erscheint.

Vergil In der Aeneis, dem augustäischen Gründungsepos, irrt der aus Troja vertriebene Held im Mittelmeer umher, bis er auf dem Umweg über Karthago die Küste Latiums erreicht. Er muss durch die Straße von Messina fahren ((Vergilius Maro 2014, Dritter Gesang, 419 – 430)): Barst, wie man saget, der Grund, da vereiniget beiderlei Erdreich Veste noch war; einströmte die Flut und mit stürmender Brandung Riß sie das Siculerland von Hesperia; Felder und Städte, Durch Meerufer getrennt, durchspült’ ein geengeter Strudel. Rechts hält Scylla den Strand und die unfriedsame Charybdis Links; und zum untersten Wirbel des Abgrunds schlürfet sie dreimal Jäh die unendlichen Fluten hinab, dann wieder zur Luft auf Schnellt sie die wechselnden hoch und schlägt die Gestirne mit Meerschaum. Aber Scylla verweilt im dunkelen Winkel der Felskluft, Wo sie das Haupt ausstreckt und die Schiff’ an die Zacken heranzieht. Vorn ist Menschengestalt, und schön von Busen die Jungfrau, Bis an den Schoß; doch hinten ein graunvoll ringelnder Wallfisch, Welcher Delphinenschwänz’ an den Bauch der Wölfe gefüget. Besser dem Ziele genaht des trinacrischen Berges Pachynos, Auch mit Verzug, und umher auf längerer Bahn dich und gewendet, Als in der graulichen Höhl’ einmal nur gesehen das Scheusal Scylla, . . . Vergil kennt seinen Homer, und das Passieren der Meerenge durch Aeneas lässt Analogien zu Odysseus aufkommen.

Horaz In der Ode An die Trinkgenossen (Horatius Flaccus 2016) beschreibt Horaz einen jungen Mann, den die Frau, in die er sich verliebt hat, nicht gut behandelt – ob Knabe hier ironisch gemeint ist, sei dahingestellt. Sie wird mit Charybdis verglichen: . . . Wie Venus dir auch bezähmt das Herz, Von nicht errötenswerter Flamme Glühest du; immer allein für Edles Entrafft dich Sehnsucht. Was du auch hast, wohlan,

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Sizilien ist dreieckig Vertraue sicherm Ohre dich! – Armer, ach! Wie rollt im Strudel dich Charybdis, Knabe, der bessere Glut verdienet!

Man bekommt eine Vorstellung von dem, was dieser junge Mann durchmachen muss. Die Turbulenzen der Liebe mit einem dieser verzehrenden Monster zu vergleichen, bleibt, wie wir gleich sehen werden, nicht Horaz vorbehalten.

Cicero In seiner (zweiten, nicht gehaltenen) Rede gegen Verres, den ehemaligen Gouverneur der Insel Sizilien, der im Jahre -70 angeklagt war, die Insel ausgeplündert zu haben, charakterisiert Cicero, der von den Bürgern Siziliens mit ihrer Vertretung beauftragt worden war, den Angeklagten so: „Denn ich glaube, weder Skylla noch Charybdis war den Schiffern so gefährlich, wie er, wenn er in jenen Gewässern wütete; ja, er war viel gefährlicher, weil er sich mit einer viel zahlreicheren und blutgierigeren Horde von Bestien umgeben hat. Er ist ein zweiter Polyphemos, nur noch ungeschlachter; denn der alte Kyklop am Aitna tyrannisierte nur jenen einen Landstrich, in dem seine Höhle lag, dieser neue dagegen die ganze Insel Sicilien“ (Cicero 2014, Nr. 146, In Verrem actio secundam). Da haben wir denn auch gleich einen Hinweis auf Polyphem, die Verbindung zwischen den beiden Bildern lässt die Untaten des Verres dann noch viel grässlicher aussehen.

Erasmus Der Humanist Erasmus von Rotterdam hat mit Adagia eine umfangreiche Sammlung von Sprichwörtern vorgelegt, in der sich unter I.v.4 das Sprichwort Evitata Charybdi in Scyllam incidi (Erasmus von Rotterdam 1982, 387 – 389) findet, also Nachdem ich Charybdis entkommen bin, fiel ich in Scylla. Nach einer mythologischen Diskussion zur Abstammung der Sagengestalten, die mit diesen Meerungeheuern verknüpft sind, kommt Erasmus auf den Gebrauch der Redensart zu sprechen. Er unterscheidet drei Möglichkeiten: Um eine Warnung auszusprechen, dass man an einem Punkt angelangt ist, von dem aus man ohne Verlust nicht zurückkehren kann: Hier sollte man das kleinere der beiden Übel wählen. Er gibt als Beispiel eine Situation an, in der man entweder Geld oder seine Sicherheit verlieren kann, und schlägt vor, dass man die Möglichkeit wählt, das Geld zu gefährden statt das Leben, denn, so argumentiert er, der Verlust von Besitz kann wieder gutgemacht werden, ein verlorenes Leben aber nicht.

Skylla und Charybdis

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Wenn man an einem Punkt angelangt ist, an dem eine Handlung zweischneidig und gefährlich ist, dann sollte man mit größtmöglicher Umsicht handeln, um nicht in der einen oder anderen Hinsicht zu irren. In diesem Fall, so führt er aus, ist nicht die Frage, was das größere Risiko ist, vielmehr, wo die größte Gefahr liegt. Durch die Vermeidung einer gefährlichen Situation kommt man in eine andere (was Erasmus durch ein für uns wenig zeitgemäßes Beispiel erläutert). Erasmus führt in seiner mythologischen Diskussion auch eine Verbindung zu Kirke an, die aus Eifersucht Scylla mit einer wenig vorteilhaften Figur, halb Mensch, halb Wechselbalg, versehen hat. Es gibt offenbar viele Beziehungen zwischen den Akteuren der Odyssee, die sich sozusagen im Hintergrund abspielen und von denen der (heutige) Leser nichts ahnt. Wir finden über (Tosi 2017) hinausgehend noch einen anderen Bezug zu Skylla und Charybdis bei Erasmus, diesmal in seiner Auseinandersetzung mit Martin Luther. Es war diese Auseinandersetzung, die den Dissens zwischen dem Humanisten Erasmus und dem Reformator Luther als breiten und tiefen Riss sichtbar machte und, als Konsequenz im Reichstag zu Augsburg, zur Abspaltung der Lutheraner von der katholischen Kirche führte. Sie ging also über eine bloße intellektuelle Auseinandersetzung mit der Hilfe von wohlgewählten Metaphern weit hinaus. In seiner Schrift Vom freien Willen (Erasmus von Rotterdam 1988) setzt er sich mit einem der Grundprobleme der Theologie, dem freien Willen, auseinander und formuliert seine Position in scharfer Abgrenzung zu der Luthers. „Luther hat ihn [den freien Willen] zunächst nur durch Abtrennung des rechten Armes verstümmelt, späterhin auch damit nicht zufrieden, hat er den freien Willen vollends erdrosselt und beseitigt. . . . Man hätte doch nicht so die Scylla der Hoffart meiden sollen, dass man der Charybdis der Verzweiflung oder der Gleichgültigkeit verfiel; man hätte das ausgerenkte Glied, um es zu heilen, nicht nach der entgegengesetzten Seite verrenken, sondern es an seinen rechten Ort wieder einrenken sollen; man hätte auch nicht so unvorsichtig seinen Gegner angreifen sollen, dass dieser einem in den Rücken fallen konnte.“ (Erasmus von Rotterdam 1988, IV 16, p. 87-88). In der Tat eine scharfe Salve gegen die Vorgehensweise des Reformators. Luther greift in seiner Replik das Bild auf: „Schweigen will ich einst weilen davon, dass Du . . . hartnäckig darauf achtest, nur ja nirgend wo nicht aalglatt und zweideutig zu sein, und vorsichtiger als Odysseus zwischen Scylla und Charybdis zu segeln scheinst“. Hier geht es vorerst um die Präliminarien der Darstellung seiner Position. Dann erläutert er seine Argumente und greift die vorsichtige, aus seiner Sicht lavierende Vorgehensweise des Erasmus hart an: „Versteht sich, daß Du nicht definierst, wie weit jenes aktive Tun und jenes passive Erdulden sich erstreckt, und Dir Mühe gibst, Unwissenheit zu erzeugen, was die Barmherzigkeit Gottes vermöge und was unser Wille, und zwar eben dort, wo Du lehrst, was unser Wille tue und was die Barmherzigkeit Gottes. So dreht sich Deine Weisheit im Kreise herum, mit welcher Du beschlössest, keiner der Parteien anzuhängen und zwischen Scylla und

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Sizilien ist dreieckig Charybdis sicher hervorzugehen: daß Du mitten aus dem Meer mit Fluten überschüttest und verwirrt alles fest bejahst, was Du verneinst und verneinst, was Du fest bejahst“ (Luther 1525).

Skylla und Charybdis sind also auf der einen Seite die Gefahren, deren einer man entgeht und prompt in die Fänge der anderen gerät, auf der anderen Seite der Auseinandersetzung markieren sie die Gegenpole, die der Gegner zu vermeiden vorgibt und auf diese Weise indifferent wirkt. Sie wirken wie Kristallisationspunkte, an denen die beiden Widersacher ihre Kontroversen festmachen, eine interessante Wendung. Wir verlassen den fundamentalen theologischen Streit, nicht ohne auf die vergleichende Diskussionen in (Rupp und Watson 1969; Winter 2013) hinzuweisen. (Massing 2018) analysiert diesen bitteren Streit als bis heute nachwirkende grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen christlichem Humanismus und protestantischer Revolution.

Shakespeare Im Kaufmann von Venedig hat sich der junge venezianische Aristokrat Lorenzo in Jessica, die Tochter des Juden Shylock, verliebt (Shakespeare 1993, vol. 1, 595–671). Der verwitwete Shylock ist gegen diese Verbindung, und in der dritten Szene des fünften Akts spricht Jessica mit Lanzelot, dem Diener ihres Vaters, über diese eher ungewöhnliche Liebe zwischen einer Jüdin und einem Adligen, der anschließend dazukommt, woraus sich ein heftiger Flirt ergibt (die Übersetzung stammt von A. W. Schlegel). Lanzelot Ei, Ihr könnt gewissermaßen hoffen, dass Euer Vater Euch nicht erzeugt hat, dass Ihr nicht des Juden Tochter seid. Jessica Das wäre in der Tat eine Bastard-Hoffnung, dann würden die Sünden meiner Mutter an mir heimgesucht werden. Lanzelot Wahrhaftig, dann fürchte ich, Ihr seid von Vaters und Mutters wegen verdammt. Wenn ich die Scylla, Euren Vater, vermeide, so falle ich in die Charybdis, Eure Mutter; gut, Ihr seid auf die eine und die andre Art verloren. Das ist eine andere Verwendung von Skylla und Charybdis in einem Liebesverhältnis als die bei Horaz: Hier sieht der Diener als Kommentator die beiden Monster als Repräsentanten der Eltern, mit denen der Liebhaber es aufnehmen muss.

Balzac In seinem Roman Glanz und Elend der Kurtisanen unterhalten sich zwei junge Damen, von denen eine gerade den Liebhaber gewechselt hat: „Jetzt bin ich wieder an einen Bankier geraten, vom Regen in die Traufe“ (Balzac 1998, p. 65), im Original „Et je

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suis retombée à un banquier, de caraïbe en syllabe“, eine Passage, die in (Tosi 2017, p. 1403) ein wenig griesgrämig, aber nicht zu Unrecht, als Verhunzung, storpiatura, kritisiert wird.

Casanova In seinen Memoiren, aus denen man viel und vieles über das Leben in Europa vor der Französischen Revolution erfährt, berichtet Casanova im ersten Buch über eine Reise nach Konstantinopel. Er muss bei den Reisevorbereitungen erfahren, dass eine Dienerin eines seiner Manuskripte als Altpapier für den Haushalt verwendet, und macht sich so seine Gedanken ((Casanova 2012, Positionen 6068-6086), in der gedruckten Fassung (Casanova 1985, Band 2, p. 71) fehlt der Hinweis auf Skylla und Charybdis): „Ich behaupte, ein dummer Diener ist gefährlicher als ein boshafter, vor allem fällt er mehr zur Last; gegen einen boshaften kann man auf der Hut sein, nie aber gegen einen dummen. Eine Nichtswürdigkeit kann man bestrafen, eine Dummheit aber niemals anders, als indem man den Dummen oder die Dumme wegjagt. Und durch den Wechsel gerät man gewöhnlich von der Charybdis in die Scylla. Dies Kapitel und die beiden folgenden waren vollendet; sie enthielten im Detail das, was ich nun ohne Zweifel nur in allgemeinen Zügen niederschreiben werde, denn das dumme Mädchen, das mich bedient, hat sich derselben zu ihrem Gebrauch bemächtigt. Als Entschuldigung führte sie mir an, diese Papiere wären beschrieben, beschmutzt und voller durchstrichener Stellen gewesen, deshalb hätte sie diese den nicht beschriebenen vorgezogen, da diese mir nach ihrer Meinung doch viel wertvoller sein müssten.“ Auch hier ist die Verwendung allerdings recht unspezifisch, von Katastrophen oder lebensbedrohlichen Situationen bei der Wahl des einen oder des anderen keine Spur.

Hugo Im Glöckner von Notre-Dame von Victor Hugo weiß Gringoire, eine der Hauptpersonen der Geschichte, nicht recht, wie er sich entscheiden soll. Das wird im Kapitel II.1, das die Überschrift „Aus der Szylla in die Charybdis“ trägt, anschaulich dargestellt.

Goethe In der Italienischen Reise schildert Goethe die Szene, in der die Reisegesellschaft, der er angehört, die Straße von Messina passiert, um von Sizilien zurück nach Neapel zu fahren. Er stellt dann auch gleich weitergehende Überlegungen an (Goethe 1998, p. 313): „Nun der freie Blick in die Meerenge nord- und südwärts, bei einer ausgedehnten, an beiden Seiten schön beuferten Breite. Als wir dieses nach und nach anstaunten,

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Sizilien ist dreieckig

ließ man uns links in ziemlicher Ferne einige Bewegung im Wasser, rechts aber etwas näher einen vom Ufer sich auszeichnenden Felsen bemerken, jene als Charybdis, diesen als Scylla. Man hat sich bei Gelegenheit beider in der Natur so weit auseinander stehenden, von dem Dichter so nah zusammengerückten Merkwürdigkeiten über die Fabelei der Poeten beschwert und nicht bedacht, dass die Einbildungskraft aller Menschen durchaus Gegenstände, wenn sie sich solche bedeutend vorstellen will, höher als breit imaginiert und dadurch dem Bilde mehr Charakter, Ernst und Würde verschafft.“ Wie es sich für unseren Nationaldichter gehört, reflektiert er über die Verwendung der Metapher, hebt sie also auf eine Meta-Ebene und betrachtet sie dort neugierig. Ihre Kraft wird nicht unmittelbar sichtbar, wie etwa bei Vergil, Horaz oder Cicero, oder als Kristallisationspunkt, wie im Verfahren Erasmus vs. Luther. Aber beeindruckend ist es doch. Reif für die Insel? Skylla und Charybdis betreffen den nord-östlichen Teil der Insel; wenn wir uns wieder der Insel als Ganze zuwenden, so bleibt die Frage nach der Repräsentation ihrer Form durch das Symbol der Triqueta. Wie kommt es also, dass drei in eine Richtung laufende Beine die Insel repräsentieren, wie kommt es überhaupt zu diesem Symbol? Die Antwort ist in der Geschichte der Insel zu suchen, der Insel als Teil des antiken Griechenland, so dass wir einige Überlegungen hierzu anstellen. Eine reizvolle Theorie hat mit den Schilden griechischer Krieger zu tun, und damit befassen wir uns jetzt.

2.4

Die Sache mit den Schilden

Die Geschichte von Odysseus, seinen Heldentaten und seinen Irrfahrten, ist fest im griechischen Mythenkanon verankert. Sizilien wird in der Antike etwa seit dem achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zunehmend als Teil der griechischen Welt aufgefasst, als Teil von Magna Grecia, eine Zeit lang ist Siracusa die größte griechische Stadt überhaupt. Die Siculier, die ursprünglichen Bewohner Siziliens, werden zurückgedrängt, und der griechische Einfluss wird dominant. So wird von mindestens zwei Reisen des Philosophen Platon zwischen -480 und -460 nach Sizilien berichtet, der seine politische Philosophie in Siracusa verbreiten wollte (seine zweite Reise endete damit, dass ihn der Herrscher von Siracusa als Sklave verkaufte und Platon von Freunden losgekauft werden musste – was man auch als Parabel auf die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme von Wissenschaftlern deuten kann). Wichtige griechische Schriftsteller, Philosophen und Naturwissenschaftler lebten und arbeiteten in Sizilien. Ein Beispiel ist Empedokles, der

Die Sache mit den Schilden

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ca. -455 in Akragas, dem heutigen Agrigent, geboren wurde und der ein auf Epikur beruhendes Weltbild entwickelte, das einen Teil der heutigen Atomtheorie wenn nicht vorwegnahm, so doch in anschaulich ähnlicher Weise formulierte. Das Bild aus dem Dom von Orvieto zeigt Luca Signorellis Interpretation des Wirkens von Empedokles. So wird Empedokles etwa der Nachweis zugeschrieben, dass scheinbar leere Gefäße mit Luft gefüllt sind, Luft also in der Tat eine Substanz ist, mithin vom Nichts verschieden (Fritz 1945, p. 247). Der römische Dichter Lukrez, der etwa im Jahr -50 in seinem berühmten Lehrgedicht De rerum natura (Die Welt aus Atomen) eine ähnliche Theorie aufstellte, schreibt über die Philosophen, die vor ihm selbst über diese Probleme nachgedacht haben (Lucretius 1973, Buch I, Verse 716–720) Unter den ersten davon ist Empedokles, Akragas’ Bürger den jenes Eiland trug am Dreispitzgestade der Lande, ... trennt des Landes Italien Saum von seinen Gebieten. Hier ist die grause Charybdis, hier kündigt drohend des Ätna Donnern an, dass wieder die Wut der Flammen er sammelt. Auch hier, bei Lukrez, finden wir die Bindung der Charybdis an die dreieckige Insel, die durch den Bezug auf Empedokles und den Ätna eindeutig als Sizilien zu identifizieren ist. Empedokles war übrigens ebenfalls als Politiker tätig, dessen Arbeit aber nicht goutiert wurde. Er verließ seine Heimatstadt, wohl nolens volens, einige sagen, er habe sich in den Ätna gestürzt, der seine Sandalen wieder ausgespien habe (das ist die Version, der F. Hölderlin in seinen drei Fragmenten Der Tod des Empedeokles folgt), andere sagen, er sei auf dem Peloponnes gestorben. Die in Abbildung 2.7 gezeigte Schale ist sicher vor der Zeit des Empedokles entstanden. Sie wurde im sizilianischen Gela gefunden und wird in die erste Hälfte des siebten vorchristlichen Jahrhunderts datiert. Hier steht das Trinakria-Symbol im Zentrum einer geometrisch ansprechenden Konstruktion. Der Kommentar im Katalog der Ausstellung Sizilien. Von Odysseus zu Garibaldi, die 2008 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn gezeigt wurde, bemerkt dazu (Sizilien-Katalog 2008, p. 257, Nr. 70): „Der sizilianische Vasenmaler . . . bringt . . . als einer der Ersten das Selbstbewusstsein des griechisch kolonisierten Sizilien zum Ausdruck, indem er das Dreibeinmotiv als Emblem verwendet. Auf die Dreiecksform der Insel nimmt auch der in der Antike für Sizilien gebräuchliche Name Trinakria Bezug . . . “. Die archäologische Analyse in (Miro 1962, p. 133, Fußnote (40)) legt nahe, dass es sich bei diesem Symbol um einen Import aus dem östlichen Mittelmeer handelt, in der linguistischen Untersuchung (Caputo 1971) wird genauer auf Rhodos und Kreta als Herkunftsraum des Symbols eingegangen. Wir wollen eine andere, etwas spezifischere Geschichte erzählen, die Sparta in den Vordergrund der Überlegungen stellt und sich an der Diskussion des Jenenser Klassischen Philologen K. W. Göttling (Göttling 1863) orientiert. Sie

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Sizilien ist dreieckig

Abb. 2.7 Schale aus Gela

bindet die Verbreitung des Symbols an die Verwendung des soldatischen Schilds und ist insofern trotz aller spekulativen Elemente besser fassbar als die eher allgemeinen Überlegungen etwa in (Caputo 1971). Göttling (Göttling 1863) zeigt zunächst auf, welche Bedeutung den Schilden vor allem in der Ilias zukommt. Hier finden sich ins Einzelne gehende Darstellungen der Schilde einzelner wichtiger Heerführer wie etwa des Achilles, der in der Mitte Erde, Meer und Himmel abgebildet hat, oder des Agamemnon mit seinen zehn Kreisen aus Erz. Ich frage mich, wie die Kämpfer solche Schilde in längeren Zweikämpfen, wie sie etwa die Ilias oder die Odyssee schildert, überhaupt heben und mit ihnen gewandt agieren konnten. Zunächst sind diese Schilde noch individuell gestaltet und können auch als Kennzeichnung des Heldengrabes dienen: „Auf dem Grabe des Epaminondas war ein Schild mit einem Drachen versehen, um den Helden als echten Thebaner zu bezeichnen, der aus der mythischen Drachensaat hervorgegangen sei; vom Alkibiades ist es bekannt, dass er einen Schild führte, auf welchem ein Eros Blitze schleuderte, ohne Zweifel um anzuzeigen, dass der Besitzer, wenn auch den Genüssen des Lebens hold, doch im Kriege Feinde niederzuschmettern wisse“ (Göttling 1863, p. 121). Daraus wurde mit der Zeit der Trend abgeleitet, für größere Truppenkontingente eine Beschilderung einzuführen, aus der die Herkunft des betreffenden Kämpfers hervorging und die für den Fall, dass er im Kampf getötet werden würde, ebenfalls über die Herkunft des Kriegers Auskunft geben konnte. Hierzu wurde der Name der Stadt herangezogen, denn die Griechen waren in Stadtstaaten organisiert. Die Thebaner verwendeten ⇥, die Athener A⇥E, und die Spartaner schließlich eine Vorform des heutigen ⇤ (Sparta lief unter dem Namen Lakedaimon), denn das griechische Alphabet war noch nicht ausgeformt. Der entsprechende Buchstabe hieß Lamda und ist aus dem semitischen lamed hervorgegangen (Abbildung 2.8 zeigt den hebräischen Buchstaben lamed ). Es zeigte sich, dass diese Maßnahme Signal-

Die Sache mit den Schilden

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Abb. 2.8 Der hebräische Buchstabe lamed

wirkung hatte, denn es wird berichtet, „dass Jemans erschrocken sey, als er von fern die glänzenden, also mit weisse Farbe gemalten, Lambda auf den Schilden der Lacedämonier erblickt habe; . . . (wir) finden . . . die Nachricht, dass ein solcher Schild geradezu ein Lambda oder Labda hiess“ (Göttling 1863, p. 123). Die griechischen Buchstaben können in ihrer Frühzeit wie Bilder gewirkt haben – so wurde etwa das ! als Bild für die Fußstapfen eines Ochsen gesehen; in diesem Sinne lässt sich nach Göttling das Lambda als menschlicher Schenkel deuten, womit das „Niedertreten, das Besiegen eines Feindes . . . versinnbildlicht wird. . . . Auch der Erfolg eines solchen Besiegens wird in ähnlicher Weise bezeichnet . . . “ (Göttling 1863, p. 126). Wie wichtig ein solcher Schild ist, wird aus dem in der Antike berühmten Trinkspruch des Hybrias sichtbar, in der Übersetzung von J. G. Herder (Herder 1975, p. 136–137), Göttling zitiert das griechische Original: Mein grosser Schaz ist Spieß und Schwert, Und ein schöner Schild, der den Leib bedeckt: Damit kann ich pflügen und ernten, Auch lesen süßen Wein. Damit bin ich auch Herr im Hause! Und wer’s nicht wagt zu haben Spieß und Schwert, Und ein’n schönen Schild, der den Leib bedeckt, Der falle mir stracks zu Füssen, Und nenne mich Herr Groß-Mogul! In englischen Übersetzungen fand ich meist calling me master and great king für die letzte Zeile, Herder möchte offenbar den parodistischen Charakter herausstellen. So, damit haben wir einen Schenkel als Symbol spartanischer Tapferkeit und des siegreichen Erfolgs erklärt, und Göttling muss nun die Kurve zu den drei Schenkeln bekommen. Die erste Beobachtung besteht darin, den gebogenen Schenkel auch als Symbol der Geschwindigkeit zu sehen, die zweite, dass dieses Symbol auch nach Unteritalien transportiert wurde. Unteritalien und Sizilien waren ja Teil von Magna Grecia, wurden also als fester Teil der griechischen Welt angesehen. Dass dieser Transfer gelungen ist, zeigt nach Göttling eine Vase aus dem damals spartanischen Tarent in Unteritalien, die Amphiaraus, einen der vergöttlichten Helden aus der Erzählung Sieben gegen Theben mit einem Schild zeigt, der einen menschlichen Schenkel enthält. Ich konnte kein Bild der Vase finden, wohl aber für Abbildung 2.9 ein Bild des Amphiaraus mit einem entsprechenden Schild. Die Leichenspiele für einen vor Troja gefallenen Helden

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Sizilien ist dreieckig

Abb. 2.9 Der Schild des Amphiarus

zeigen noch das einfüßige Symbol im Schild. Abbildung 2.10 zeigt links nicht nur einen Ausschnitt, das Bild lässt den Helden über einem Wagen schweben und deutet damit die Schnelligkeit des Gefallenen an (Gerhard 1840–1858, Tafel 198) Auf einem sizi-

Abb. 2.10 Figuren mit Schilden

lianischen Grabmal (Gerhard 1840–1858, Tafel 6), Abbildung 2.10 rechts, findet sich dann schon der dreigliedrige Fuß, wodurch, wie Göttling schreibt, „das Unschöne der Form etwas verbessert wurde“ (Göttling 1863, p. 128). Diese Form wird dann weiterentwickelt und findet sich dann auf einer Vase (Gerhard 1840–1858, Tafel 141), Abbildung 2.11. Die Verzierung des Schildes auf dieser Vase enthält das Gorgonenhaupt als eine Nabe, was auch deshalb in unserem Zusammenhang interessant ist, weil Vorderseite und schematisch dargestellte Rückseite der Vase in einigen Punkten voneinander abweichen. Wir sehen nämlich, dass auf der vorderen Schauseite der Schild das dreifüßige Symbol enthält; es scheint keine auf der Hand liegende Erklärung für diese Abweichung zu geben. Die Erläuterung für das Gorgonenhaupt, also die Medusa, wird von dem griechischen Dichter Dioscorides geliefert (Dioscorides o. J., Verse 6.126f), ich habe leider keine deutsche Übersetzung des Epigramms gefunden: Not idly did Hyllus . . . blazon on his shield the Gorgon, that turns men to stone, and the three legs.

Die Sache mit den Schilden

39

Abb. 2.11 Vase mit Trinakria-Symbol

This is what they seem to tell his foes: “O you who brandish your spear against my shield, look not on me, and fly with three legs from the swift-footed man.” Die drei Schenkel deuten also auf die Geschwindigkeit und Gewandtheit des Besitzers hin, dienen durch die zusätzliche Verwendung des Haupts der Medusa also auch als Mahnung an den Feind, schnell zu fliehen. Schließlich verwandelt Medusa jeden in Stein, der sie ansieht. Ein Schild ist es auch, der uns einen Bezug zu Pythagoras herstellen lässt. Wir haben gesehen, dass Schilde unser Symbol transportiert haben könnten, wir haben auch gesehen, dass Schilde dem Totengedenken dienen. Das ist ziemlich offensichtlich. Wir werden aber gleich eine nachgerade metaphysische Funktion von Schilden kennenlernen, nämlich als Zeugnis einer Seelenwanderung. Die wandernde Seele fand – so sollten wir das wohl jetzt ausdrücken – eine Zeitlang ihren Sitz im Körper des Pythagoras, den wir jetzt diskutieren werden.

40

2.5

Sizilien ist dreieckig

Intermezzo: Pythagoras und der Schild des Euphorbos

Beim Namen Pythagoras denkt man gleich an a2 + b2 = c2 , erinnert sich vermutlich, dass diese Formel irgendetwas mit Dreiecken zu tun hat (mussten die nicht irgendwie rechtwinklig sein?) und ist sonst vielleicht ratlos oder, je nach Temperament, stolz, dass man seine Schul-Mathematik noch nicht ganz vergessen hat.

2.5.1

Der Satz des Pythagoras c b

a Sehen wir uns die Sache kurz an. Es geht um ein rechtwinkliges Dreieck wie oben, und der Satz sagt, dass das Quadrat über der Hypotenuse (das ist die rote Seite, die dem rechten Winkel gegenüber liegt) gleich der Summe der Quadrate über den Katheten (das sind die blauen Seiten, die die Schenkel des rechten Winkels bilden) ist. Mit a = 3, b = 4 und c = 5 sieht man 32 + 42 = 9 + 16 = 25 = 52 . Die Sache wird ulkig, wenn man sich überlegt, dass es kein rechtwinkliges Dreieck mit den Katheten a = 3 und b = 6 geben kann, dessen Hypotenuse die Länge c = 8 hat, weil 9 + 36 6= 64 ist; die Aussage arbeitet also sozusagen in zwei Richtungen. Man sagt, dass h3, 4, 5i ein pythagoräisches Tripel ist, weil die Komponenten ha, b, ci die Gleichung a2 + b2 = c2 erfüllen. Von diesen Tripeln gibt es unendlich viele, denn ist ha, b, ci ein pythagoräisches Tripel, so auch hn · a, n · b, n · ci für jedes n = 1, 2, 3, . . . . Offensichtlich ist aber h3, 6, 8i kein solches Tripel. Man kann offenbar etwas Praktisches mit diesen Tripeln anfangen, zum Beispiel beim Messen von Entfernungen. Die Frage ist aber zunächst, wie man den Satz beweist. Es gehört ja sozusagen zur Grundausrüstung eines Mathematikers, seine Aussagen zu beweisen, also hieb- und stichfest zu argumentieren, dass sie korrekt sind. Der Satz des Pythagoras ist lange bekannt, so dass es eine beträchtliche Anzahl von Beweisen dafür gibt. Auch das tun Mathematiker gern: Vorhandene Beweise durch elegantere ersetzen, oder einfach, einen Beweis aus einem anderen Blickwinkel heraus

41

Intermezzo: Pythagoras und der Schild des Euphorbos

führen. Ein recht einfacher, arithmetischer Beweis wird gleich präsentiert werden. Dazu benötigen wir die Aussage, dass (x + y)2 = x2 + 2 · x · y + y2 für alle Zahlen x und y gilt. Das ist der gefeierte Lehrsatz von Binomi. Dieser Satz soll auf den spätbarocken palermitanischen Puppenspieler Mimo „Pupo“ Binomi zurückgehen. Seine Devise Non dovete fare casino gilt als direkter Vorläufer des von Arnold Hau so mustergültig formulierten Gebots Redet nicht alle durcheinander!, vgl. (Bernstein et al. 1966, p. 179). Wenn man sich den Satz ansieht, so ist es klar: (x + y)2 = (x + y) · (x + y)

= x · (x + y) + y · (x + y)

= (x · x + x · y) + (y · x + y · y) = x2 + x · y + y · x + y2 = x2 + 2 · x · y + y2

Na gut. Jetzt zum Beweis des Satzes von Pythagoras. Wir nehmen uns ein Quadrat der Seitenlänge a + b her, es hat die Fläche (a + b)2 . Dieses Quadrat teilen wir geschickt auf (irgendwo muss ja jetzt c ins Spiel kommen), wie in Abbildung 2.12. a

D

b

R

C

b a S Q a

c b A

b

P

a

B

Abb. 2.12 Zum Beweis des Satzes von Pythagoras

Das ursprüngliche Dreieck ist 4PBQ, und alle Dreiecke haben dieselbe Fläche. Das liegt daran, dass man sie durch Verschieben und Drehen ineinander überführen kann, und diese Operationen ändern den Flächeninhalt eines Dreiecks nicht. Die Hypotenusen der Dreiecke sind wieder rot eingezeichnet. Sie haben die Länge c. Das rote Quadrat hat also die Fläche c2 . Wenn wir die Dreiecke 4PBQ und 4SDR jeweils an der roten Seite aneinander legen, bekommen wir ein Rechteck mit den Seiten a und b, also der

42

Sizilien ist dreieckig

Fläche a · b. Analog erhalten wir, wenn wir die Dreiecke 4PAS und 4RCQ an der roten Seite aneinander legen, ein Rechteck der Fläche a · b. Damit können wir jetzt die Fläche des „großen“ Quadrats zusammensetzen zu c2 + 2 · a · b, also der Summe aus dem roten Quadrat und den vier Dreiecken. Andererseits wissen wir aber, dass die Fläche dieses Quadrats gerade (a + b)2 ist, so dass wir die Gleichung (a + b)2 = c2 + 2 · a · b gefunden haben. Wenn wir die linke Seite schreiben als a2 + 2 · a · b + b2 (nach dem Satz von Binomi), so erhalten wir die Gleichung a2 + 2 · a · b + b2 = c2 + 2 · a · b. Auf beiden Seiten können wir nun den gemeinsamen Term 2 · a · b subtrahieren, denn eine Gleichung ist ja wie eine Waage, man muss auf beiden Seiten dasselbe tun: a2 + b2 = c2 . Aus dem Beweis wird klar, dass es sich um ein rechtwinkliges Dreieck handeln muss, weil sonst unsere Konstruktion nicht funktioniert.

2.5.2

Seelenwanderung

Der Satz des Pythagoras stammt mit ziemlicher Sicherheit nicht von Pythagoras: Ein Artikel in der New York Times (Chang 29. August 2017) berichtete neulich über archäologische Belege, die den Satz mindestens tausend Jahre vor Pythagoras zu datieren gestatten. Pythagoras hat ihn aber vermutlich gekannt und Konsequenzen daraus gezogen. Man sagt (Yan und Shiran 1987, p. 29), dass eine Hekatombe Vieh, also hundert Kühe, geschlachtet wurden, nachdem Pythagoras den Beweis für diesen Satz vorgelegt hatte. Pythagoras ist als historische Figur fassbar, wenn auch eher unscharf. Es wird berichtet, dass er im Jahre -570 auf Samos geboren wurde und in seiner Jugend ziemlich viel gereist ist, sich dann nach seiner Rückkehr aus Ägypten zuerst auf der Insel Samos, dann in Süditalien niedergelassen hat. Über die Reise nach Ägypten berichtet Diodorus Siculus, ein sizilianischer Historiker, der in der zweiten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts ein monumentales, zum Teil erhaltenes Geschichtswerk verfasst hat, dass Pythagoras seine Kenntnisse der Mathematik und Mystik dort erworben hat: „And that . . . Pythagoras learnt his mysterious and sacred expressions, the art of geometry, arithmetic, and transmigration of souls in Egypt“ (Booth 1814, p. VII.97). Seine Lehren wurden bald einflussreich: „For the opinion of Pythagoras prevails much amongst them,

Intermezzo: Pythagoras und der Schild des Euphorbos

43

that men’s souls are immortal, and that there is a transmigration of them into other bodies, and after a certain time they live again; and therefore in their funerals they write letters to their friends; and throw them into the funeral pile, as if they were to be read by the deceased“ (Booth 1814, p. V.314). Der Einfluss des Pythagoras und seiner Schule war so groß, dass gelegentlich sogar von einer Pythagoräischen Politik gesprochen wird (Fritz 1945, p. 245 und Fußnote 17). Die in Ägypten erworbenen Kenntnisse lassen sich sicher mit dem Glauben des Pythagoras an die Seelenwanderung in Einklang bringen, über die in einer verlorenen, jedoch in einer sekundären Quelle verfügbaren Stelle von Diodorus berichtet wird. Dieser Glaube wurde manifest beim Besuch des Pythagoras in einem Heiligtum in Mykene, bei dem er unvermittelt in Tränen ausbrach, als er einen besonderen Schild an der Wand hängen sah. Als Begründung für seine Tränen gab er an, dass dies früher sein Schild gewesen sei, denn er sei die Wiedergeburt des Euphorbos, eines Helden aus dem Trojanischen Krieg. Und in der Tat, man hat, so wird berichtet, den Schild von der Wand genommen und an der – nach außen nicht sichtbaren – Innenseite die Inschrift EY ORBOY gelesen (Göttling 1863, p. 222). Um Pythagoras ranken sich einige Legenden und Anekdoten, die auch heute noch gelegentlich Mathematikvorlesungen würzen können. So soll er, als er sah, dass auf der Straße ein Hund geschlagen wurde, gesagt haben „Hör auf, ihn zu schlagen, denn in ihm ist die Seele eines Freundes. Ich erkenne ihn an der Stimme.“ Ein andermal soll er einen Fluss überquert haben; da stand der Fluss aus seinem Bett auf und grüßte ihn: „Heil dir, Pythagoras!“ (van der Waerden 1956, p. 152). Das würde auch heutzutage die Seele Bologna-geplagter Professoren streicheln.

2.5.3

Inkommensurable Zahlen

Der Ursprung der Beschäftigung mit Zahlen hängt sicher eng mit dem Messen von Strecken zusammen, die dann zu Zahlen abstrahiert wurden. Zur Streckenmessung sind Maßstäbe hilfreich, wie in „Mein Acker ist 117 Stäbe lang“, aber was macht man, wenn der Nachbar sagt „Nein, dein Acker ist nur 24 Stäbe lang“ und es sich herausstellt, dass beide mit unterschiedlich langen Stäben messen? Das ist sicher ein arg vereinfachtes Bild, hilft aber, den Begriff des Messprozesses einzuführen. Was machen wir mit den beiden Nachbarn? Na ja, wir können schreiben 117 = 4 · 24 + 19

44

Sizilien ist dreieckig

und diese Messung kann fortgesetzt werden, bis sie terminiert, insgesamt: 117 = 4 · 24 + 19 24 = 1 · 19 + 5 19 = 3 · 5 + 4 5=1·4+1 4=4·1+0 Wir messen also noch einmal, diesmal nehmen wir aber die fett gedruckte Zahl, also den vorherigen kleineren Maßstab, als den größeren, und den Rest, also die unterstrichene Zahl, als die kleineren Maßstab. Wenn wir die obigen Messungen zusammenfassen wollen, so können wir schreiben 117 = t · 24 mit t =

117 . 24

Das gibt uns eine Möglichkeit der Umrechnung von Maßstäben. Der Messprozess für zwei nicht-negative Zahlen r und s mit s < r besteht also darin, eine natürliche Zahl k 2 {1, 2, 3, . . . } und eine Zahl t mit 0  t < s so zu finden, dass r = k · s + t. Es ist klar, dass hier 0  t < s gefordert werden muss: Für t s könnte man ja sonst (k + 1) · s + (t - 1) schreiben. Man könnte, wenn man bei Maßstäben bleiben wollte, den Maßstab s noch ein weiteres Mal bei r anlegen. Offensichtlich ist auch t < 0 ausgeschlossen. p p Versuchen wir unser Glück mit den Zahlen 1 und 2. Zunächst ist klar, dass 1 < 2, denn wir wissen nach dem Satz des Pythagoras, dass die Länge der rot gezeichneten p Hypotenuse in diesem Dreieck gerade gleich 2 ist, also länger als die Katheten der p p Länge 1 ist. Also: 2 = 1 · 1 + t mit 0  t < 1. Hier ist also nur t = 2 - 1 möglich. Mal sehen. Wir sagen, dass die nicht-negativen Zahlen r und s mit r < s kommensurabel sind, wenn der Messprozess mit seinen Wiederholungen terminiert, also zu einem Ende kommt. In unserem Beispiel von oben sind 117 und 24 kommensurabel, wie wir gesehen haben. Wenn wir also die Zahlen r und s gegeben haben und sie als r = k · s + t mit 0  t < s gefunden haben, so müssen wir den Messprozess für s und t wiederholen, also eine natürliche Zahl k1 und eine Zahl t1 mit 0  t1 < t finden, so dass s = k1 · t + t1 gilt, dann den Prozess für t und t1 wiederholen, bis wir zu einem Ende kommen. Wenn zwei Zahlen kommensurabel sind, so kann man ihr Verhältnis als Bruch darstellen: Das Verhältnis kann man leicht als Seitenverhältnis auffassen, indem man die

Intermezzo: Pythagoras und der Schild des Euphorbos

45

beiden Zahlen als Längen der entsprechenden Seiten auffaßt. Nehmen wir an, die Messprozesse für die Zahlen r und s terminieren im dritten Schritt: r = k1 · s + t1

s = k2 · t1 + t2

t1 = k3 · t2 + 0. Dann erhalten wir durch Einsetzen

s = k2 · (k3 · t2 ) + t2 = (k2 · k3 + 1) · t2

und r = k1 · (k2 · k3 + 1) · t2 + t1

= k1 · (k2 · k3 + 1) · t2 + k3 · t2 = (k1 · k2 · k3 + k1 + k3 ) · t2 ,

daraus ergibt sich r (k1 · k2 · k3 + k1 + k3 ) · t2 k1 · k2 · k3 + k1 + k3 = = . s (k2 · k3 + 1) · t2 k2 · k3 + 1

Es gilt auch umgekehrt, dass ein Bruch p/q aus den kommensurablen Zahlen p und q besteht. Damit sind die Brüche gerade die Seitenverhältnisse kommensurabler Zahlen. Wunderbar. p Aber was ist mit 2 und 1? Wir können diese beiden Zahlen nicht kommensurabel machen. Versuchen wir’s: p p 2 = 1 · 1 + ( 2 - 1), p wie wir gesehen haben. Jetzt müssen wir 1 gegen 2 - 1 messen, also schreiben wir p p p 1 = 1 · ( 2 - 1) + t1 mit t1 = 1 - ( 2 - 1) = 2 - 2. p p p Offensichtlich gilt 2 - 2 0, gilt aber 2 - 2 < 2 - 1? Wir rechnen aus p 2 - 2 = 0, 5857... p 2 - 1 = 0, 4142... Man kann auch ohne Taschenrechner argumentieren: Die Gültigkeit der Gleichung wäre p gleichwertig zu 3 < 2 · 2 (addieren Sie zuerst 1 auf beiden Seiten, dann addieren Sie p p 2), also gleichwertig zu 9 < (2 · 2)2 = 8 (quadrieren Sie die beiden Seiten – das zerstört die Ungleichung nicht, weil beide Seiten positiv sind). Die letzte Ungleichung ist aber falsch.

46

Sizilien ist dreieckig

Also gilt diese Ungleichung als die rechte Seite des Vertrags nicht. Daraus folgt: Wir p p können 2 und 1 nicht gegeneinander messen, also sind 2 und 1 nicht kommensurabel. p Sie erinnern sich vielleicht an den Schulbeweis, dass 2 kein Bruch ist. Dieser klasp sische, wohl auf Euklid zurückgehende Beweis ging so: Falls 2 geschrieben werden p p2 kann als q mit teilerfremden p und q, so kann man 2 als Quotienten von q 2 schreiben, also 2 · q2 = p2 . Aus dieser Darstellung sieht man, dass p2 durch 2 teilbar ist, also muss diese Quadratzahl auch durch 4 teilbar sein. Daher muss p durch 2 teilbar sein. Wir können p = 2 · p1 schreiben. Also p2 = 4 · p21 = 2 · q2 , damit p21 = 2 · q2 . Nach demselben Argument muss q2 durch 4, also q durch 2 teilbar sein. Damit müssen p und q beide durch 2 teilbar sein. Wir hatten aber angenommen, dass beide Zahlen keinen gemeinsamen Teiler haben. Das ist ein Widerspruch, also kann es keine ganzen p Zahlen geben, deren Quotient 2 darstellt. Mir gefällt der Beweis über die Kommensurabilität von Strecken besser. Er entwickelt nämlich, wie wir gleich sehen werden, eine Technik, die auf das Pentagramm angewandt werden kann und ebenfalls zu irritierenden Schlussfolgerungen führte. Aber vorher eine kurze Bemerkung, warum dieses Ergebnis so wichtig ist. Es zeigt ja, dass wir zwar Strecken exakt zeichnerisch darstellen können, ihr Verhältnis aber nicht immer numerisch exakt auszudrücken in der Lage sind, präziser: Wenn wir eine Einheitsstrecke genau zeichnen können, so können wir auch eine Strecke exakt zeichnen, p die nach dem Satz des Pythagoras genau 2 Einheiten lang ist. Wir sind aber, wie wir gesehen haben, nicht in der Lage, diese Strecke numerisch exakt darzustellen. Das zeigt, dass der Slogan der Pythagoräer Alles ist eine Zahl eine empfindliche Delle bekommen hat. Diese Delle ist noch an anderer Stelle verborgen, ironischerweise im regelmäßigen Fünfeck, dem Pentagramm, dem, wir würden heute sagen, Logo der Pythagoräer. Das sehen wir uns jetzt genauer an und orientieren uns ein wenig an (Scriba und Schreiber 2000, 2.1.3, p. 37). Das Fünfeck in Abbildung 2.13 hat die Ecken A, B, C, D und E, die im Uhrzeigersinn miteinander verbunden sind. Die Kanten zwischen den Ecken sind jeweils gleich lang. Jede Ecke ist zudem mit jeder anderen Ecke verbunden, es gibt also fünf Diagonalen, die jeweils ebenfalls gleich lang sind. Die Diagonalen schneiden sich in fünf Punkten ¨, ≠, Æ, Ø, ∞, die wieder ein regelmäßiges Fünfeck aufspannen. Die äußeren Ecken bilden mit den jeweils gegenüberliegenden Ecken des inneren Pentagramms gleichschenklige Dreiecke. Hier haben wir z. B. das gleichschenklige Dreieck 4DØC. Das Dreieck 4¨ØD ist ebenfalls gleichschenklig, weil die Winkel ]بD und ]¨DØ übereinstimmen. Das bedeutet aber auch, dass die Diagonalen im kleinen Fünfeck und

47

Intermezzo: Pythagoras und der Schild des Euphorbos A

¨

E

Æ



B

∞ Ø

D

C

Abb. 2.13 Das Pentagramm, das Symbol der Pythagoräer

die Abstände der inneren Ecken von den entsprechenden äußeren Ecken gleich sind, also stimmt etwa die Länge der Strecke ¨Ø mit der Länge der Strecke ØD überein. Die Länge der Kanten und die Länge der Diagonalen sind nicht kommensurabel. Es sei d0 die Länge der Diagonale im ursprünglichen Fünfeck, d1 die Länge der Diagonale im inneren Fünfeck, d2 die Länge der Diagonale in dessen innerem Fünfeck etc. s0 sei die Kantenlänge im ursprünglichen Fünfeck, s1 die Kantenlänge im inneren Fünfeck, s2 die Kantenlänge in dessen innerem Fünfeck etc. Ich behaupte, dass d0 = s0 + d1 mit d1 < s0 gilt. Die Ungleichung ist offensichtlich. In der Tat: Zerlegen wir die Strecke EB, deren Länge ja gerade d0 ist, in EÆ und ÆB, so sehen wir, dass EÆ und EØ gleich lang sind, andererseits ist AB parallel zu EØ, und gegenüberliegende Winkel in dem Viereck ABØE stimmen überein. Also müssen gegenüberliegende Seiten übereinstimmen, so dass wir s0 als Länge von EØ und damit von EÆ finden. Aus den Vorüberlegungen wissen wir, dass ÆB dieselbe Länge wie d1 hat. Das beweist die obige Darstellung. Es gilt auch s0 = d1 + s1 . Das sieht man jetzt direkt mit den vorhergehenden Überlegungen, denn d1 + s0 ist gerade die Länge der beiden Strecken E¨ und ¨Æ. Zudem gilt s1 < d1 , das ist auch klar.

48

Sizilien ist dreieckig

Keine der Längen verschwindet: Sonst hätten wir ja ein Fünfeck ohne Diagonalen und ohne Seiten, das wäre wie das Lichtenbergsche Messer ohne Klinge, bei dem auch der Griff fehlt. Also kann der Messprozess auf die beschriebene Art beliebig weitergeführt werden, indem man jeweils zu dem inneren Fünfeck übergeht. Der Messprozess kann also nicht terminieren. Wir haben damit ein weiteres Beispiel dafür gefunden, dass zwei Längen nicht kommensurabel sind; die Längen können auf recht einfache Weise konstruiert werden. Es ist anzumerken, dass wir uns hier auf elementare Konstruktionen beschränkt haben, eine vergleichsweise komplexe Operation wie das Wurzelziehen wurde nicht benötigt. Was macht man da? Man kann versuchen, diese Tatsache geheim zu halten, was die Pythagoräer den Gerüchten zufolge eine Zeit lang auch versucht haben. Das hilft aber nichts, denn mit diesen „nicht-darstellbaren“ Zahlen muss man umgehen können, zumal man entsprechende Größen ja sehen kann (Fritz 1945). Ähnlich wie bei der Erweiterung der ganzen Zahlen zu Brüchen versuchen Mathematiker dann, diese „neuen“ Zahlen durch geeignete Konstruktionen in den Griff zu bekommen und herauszufinden, wie man damit rechnen kann. Diese Zahlen sind die reellen Zahlen, mit denen die Mathematiker eine lange Zeit infinitesimal gerechnet haben, bevor sie ein sauberes Fundament dafür finden konnten. Kurze Zeit später brach die Grundlagenkrise der Mathematik aus, aber das ist eine ganz andere Geschichte . . . . Wir sind durch die Diskussion von Pythagoras zu diesen Fragen gekommen; wir kommen auf Seite 331 im Rahmen musikalischer Fragestellungen noch einmal auf ihn und seine Schule zurück. Als Bindeglied zur vorherigen Diskussion boten sich Schilde an, die physisch wie metaphysisch ihren Nutzen zeigen. Der Ausgangspunkt der Diskussion war das dreieckige Symbol für die Insel, das sich auch ganz handfest in der Verwendung von Münzen manifestiert.

2.6

Antike Münzen aus Sizilien

Sehen wir uns die Triqueta in Abbildung 2.1, rechts, noch einmal an. Die Darstellung ist nicht antik, sie stammt von einem Holzschnitt zu einem Buch (Strafforello 1893) zur italienischen Geschichte. Gleichwohl ist sie aussagekräftig, sie hat nämlich die drohende Bösartigkeit der Medusa in positive Eigenschaften gewendet: Zwar sind die Schlangen noch da, die das Haupt der Medusa umringeln, sie sind aber gebändigt durch die Haare, die wie Ähren geflochten, und von Flügeln eingerahmt sind. Das ist die ausführliche Version von Münzen, die der Tyrann Agathokles von Siracusa um -300 prägen ließ. Eine davon ist in Abbildung 2.14 wiedergegeben. Die Züge der Medusa sind eher undeutlich, die Füße laufen in eine Richtung, sie tun dies offenbar schnell.

Antike Münzen aus Sizilien

49

Hill (Hill 1903, p. 152) erläutert, dass Agathokles im Jahre -317 in Siracusa an die

Abb. 2.14 Münzen, Agatokles von Siracusa

Macht kam, und dass er nach einer Expedition nach Afrika etwa -310 begann, diese Münzen zu prägen. Die Nutzung des dreifüßigen Symbols auf Münzen geschieht wohl durch Agathokles zum ersten Mal. Durch die Beobachtung, dass frühere Herrscher über Sizilien dieses Symbol nicht für ihre Münzen verwendet haben, wird die Hypothese von Hill gestützt, dass es sich hier um die Übertragung eines privaten Siegels handelt, zumal das Symbol auch später kaum auf Münzen zu finden ist und erst wieder nach der römischen Eroberung verwendet wird (Hill 1903, p. 153, Tafel XV, Platte 4). Der römische Ex-Konsul Gaius Claudius Marcellus Maior, vermutlich nicht Gaius Claudius Marcellus Minor, wie Hill schreibt (Hill 1903, p. 224), ließ in Sizilien etwa um die Zeit, in der Caesar den Rubikon überschritt, Münzen mit dem dreibeinigen Symbol und der Medusa prägen (Abbildung 2.15), von denen wir nur die Rückseiten zeigen. Dann scheinen die Münzstätten zu schweigen bis, ja bis der Bourbone Ferdinand III. (als Ferdinand IV. König von Neapel {6. Oktober 1759—23. Januar 1799; 13. Juni 1799—30. März 1806; 22. Mai 1815—12. Dezember 1816}, als Ferdinand III. König von Sizilien {1759–1815} und als Ferdinand I. König beider Sizilien {1815/16–1825}) im Jahre 1814 in Palermo eine Goldmünze prägen ließ, die in Abbildung 2.16 dargestellt ist (Sizilien-Katalog 2008, p. 220f). Sie entspricht unserer Zwei-Euro-Münze in Gewicht und Größe fast genau. Die Insel Sizilien war mit Neapel zum Königreich beider Sizilien vereinigt worden, über dessen Niedergang wir aus dem Roman Der Leopard von G. T. di Lampedusa erfahren. Die Zackenkrone des Königs und die Umschrift FERDINAN III P F A SIZILIAE ET HIER

Abb. 2.15 Münzen des Marcellus

50

Sizilien ist dreieckig

REX, wobei P F A für „Pius Felix Augustus“ steht und HIER die Abkürzung für „HIEROSOLYMAE“, also für „Jerusalem“ ist, wird in (Sizilien-Katalog 2008, p. 221) als Rückbezug auf die Antike gedeutet. Die oben angegebenen Regierungszeiten, die sich mit der napoleonischen Herrschaft über Neapel überschneiden, zeigen, dass ein solcher Rückgriff auch den Wunsch nach Stabilität andeuten kann. Aber das ist Spekulation. In unserer Betrachtung zeigt sich bei der Verwendung des Symbols zur Kennzeichnung

Abb. 2.16 Münze Ferdinands III

von Münzen ein zeitlich gedehnter Bogen. Er kann auch dazu dienen, Kontinuitäten zu markieren, oder, wenn man die Medaille dreht, Ansprüche auf Fortsetzungen zu formulieren. Wir werden gleich sehen, dass die Trinakria als Symbol nicht nur für die Flagge von Sizilien taugt, sondern auch für die Isle of Man verwendet wird. Das leitet dazu über, mit Hilfe einer Symmetriebetrachtung ein anderes, sehr ähnliches Symbol zu diskutieren, nämlich die drei Hasen. Hier ist nicht so sehr die zeitliche als die räumliche Ausdehnung und Verbreitung bemerkenswert, wir werden auch eine spirituelle Dimension vermerken können.

2.7

Hasen und all das

Zum Abschluss unserer Dreiecksgeschichte kehren wir noch einmal zur Flagge der Region Sizilien in Abbildung 2.2 zurück.

2.7.1

Flaggen

Es stellt sich heraus, dass es verblüffende Ähnlichkeiten mit der hier abgebildeten Flagge der Isle of Man gibt, auch wenn der ährengeschmückte Kopf der Medusa fehlt. Man fragt sich nach dem Grund dafür. Wie so oft findet man keine gesicherten Auskünfte darüber, so dass wir uns Spekulationen ansehen sollten. Hill vermutet in seinem Buch über antike Münzen in Sizilien im Hinblick auf das Symbol

Hasen und all das

51

der Triscele „This symbol . . . is generally supposed to be the emblem of the threecornered island, Trinacria, – very much as it became in later days the emblem of the Isle of Man which faces towards the three countries, England, Scotland and Ireland“ (Hill 1903, p. 152f). Als Symbol der Insel dient also die Tatsache, dass sie an drei andere Länder grenzt. Ob das aber mit dem Selbstbewusstsein ihrer Einwohner verträglich ist, zumal die Insel im Vereinigten Königreich einen speziellen Status hat? Eine andere Version findet sich bei Clara Serretta in ihrem Buch (Serretta 2015), das allgemeine Informationen, Schnurren und Schwänke zu Sizilien zum Inhalt hat. Sie berichtet, dass ursprünglich die Flagge der Isle of Man ein Schiff dargestellt hat, als Symbol der skandinavischen Könige, die ja die britischen Inseln vor der Eroberung durch Wilhelm in Jahre 1066 ziemlich regelmäßig mehr oder minder friedlich besucht hatten. Die Normannen haben Sizilien im Jahre 1072 erobert, und zwischen 1266 und 1286 war Alexander III. von Schottland König der Insel, der nun wiederum mit der Schwester der Königin von Sizilien verheiratet war. Auf diesem Wege wurde das skandinavische Königsschiff durch das Symbol für Sizilien verdrängt (Serretta 2015, p. 266). Im Jahre 1282 wurde die Triscele in Sizilien wohl zum ersten Mal für politische und nicht nur für repräsentative Zwecke genutzt, als nämlich am Ostermontag in der Sizilianischen Vesper in einigen Städten in Sizilien, unter andere Palermo und Corleone, ein Aufstand gegen die damaligen Herrscher losbrach (G. Verdi erzählt uns in seiner gleichnamigen Oper die Vorgeschichte). Der Aufstand war erfolgreich und sicherte Sizilien einen gewissen Grad an Selbständigkeit. Eine der sichtbaren Wirkungen bestand darin, dass der König die Triscele 1296 zur offiziellen Flagge Siziliens erklärte, was sie dann auch bis 1816 blieb. Nach dem Fall des Faschismus wurde sie im Jahre 1944 das Symbol für die sizilianische Unabhängigkeitsbewegung, und, wie wir gesehen haben, im Jahre 2000 wieder zur offiziellen Flagge der Region Siziliens erklärt. Nicht nur Bücher haben ihr Schicksal, auch Symbole.

2.7.2

Der Hasen und der Löffel drei . . .

Unser Symbol, das auch von anderen als Wappen benutzt wird, ist Mitglied einer Familie von Symbolen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie drei über einen zentralen Punkt verbundene symmetrische Komponenten haben. Mathematisch ausgedrückt: Dreht man die Figur um 1200 um ihr Zentrum, so ändert sich die Figur nicht (noch formaler: die Dreiergruppe Z/3 stellt ihre Symmetriegruppe dar). Daraus lässt sich eine Vielzahl von Symbolen ableiten. Sie sind fast alle seit der Antike zumindest im Orient und im Fernen Osten bekannt und wurden in einer beträchtlichen Bandbreite

52

Sizilien ist dreieckig

von Zwecken benutzt, die sich zum großen Teil auch in der heutigen Esoterikszene wiederfinden lassen. Eines der populärsten scheint das Drei-Hasen-Symbol zu sein, das drei kreisförmig angeordnete Hasen zeigt, deren jeder zwei Ohren hat, die insgesamt aber nur über drei Ohren verfügen. Der Vers, den man sich auf dieses Phänomen macht, lautet Der Hasen und der Löffel drei, und doch hat jeder Hase zwei. In Deutschland ist das DreiHasen-Fenster in Paderborn vielleicht das bekannteste: Es ist in einem der Innenhöfe des Doms zu Paderborn zu besichtigen, siehe Abbildung 2.17.

Abb. 2.17 Das Drei-Hasen-Fenster im Dom zu Paderborn

Die Stadt Paderborn hat dieses Symbol offenbar so lieb gewonnen, dass sie es in allen möglichen Zusammenhängen verwendet: Es ist schwer, in Paderborn den drei Hasen zu entkommen (die Universität hat dem bislang widerstanden). Das Symbol taugt auch als Wappen: Bischof Dr. Scheele, 1979–2003 Bischof der Diözese Würzburg, hatte die drei Hasen in seinem Wappen, wohl unter dem Einfluss der Zeit, in der er Weihbischof im Erzbistum Paderborn war. Das Symbol soll Einheit und Dreiheit als Symbol der Dreifaltigkeit, des zentralen Glaubensgeheimnisses der katholischen Kirche und der gesamten Christenheit repräsentieren. Wir sehen hier, wie ein altes, weitverbreitetes Symbol mit Bedeutung aufgeladen wird. Durch seine Symmetrien ist es einprägsam, was einmal seine Verbreitung befördert, zum anderen aber sicherstellt, dass die intendierte Bedeutung nicht verloren geht. In manchen Gegenden von England heißt dieses Symbol tinners’ rabbits, Kaninchen der Zinnarbeiter; es ist insbesondere in der Grafschaft Devon, die zwischen Plymouth und Exeter liegt, verbreitet. Die Zinnarbeiter, die in der frühen Neuzeit als eigenwillige Genossen mit einer eigenen Interessenvertretung und eigenen Gesetzen galten, hatten sich das Symbol offenbar als ihr Zeichen ausgesucht, ergänzt durch einen ebenfalls tinners’ rabbit genannten Tanz, den man sich unter YouTube ansehen kann, wenn man das möchte. Im fünfzehnten Jahrhundert wurden viele Kirchen in der Grafschaft mit diesem Symbol versehen, die Zählungen schwanken zwischen vierzehn und neunundzwanzig,

Hasen und all das

53

mit einem Schwerpunkt in der Gegend um Dartmoor. Die regionale Andenkenindustrie hat sich dort ebenfalls des Symbols bemächtigt, Esoteriker und Lokalhistoriker versuchen, der Geschichte und der Bedeutung der tinners’ rabbits nachzugehen.

2.7.3

Der jüdische Friedhof in Satanov

Der suchende Blick muss sich nicht nur nach Westen, er kann sich auch nach Osten richten; dort finden sich die drei Hasen als Symbol überraschenderweise auf einem jüdischen Friedhof in Satanov (oder Sataniv), einer Stadt mit einer früh etablierten jüdischen Einwohnerschaft. Die Stadt liegt im Westen der heutigen Ukraine, sie gehörte in der Vergangenheit meist zu Polen oder zum zaristischen Russland und war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs Teil der heute vergessenen Region Podolien, also Teil der Grenzregion zwischen den Imperien Russland und Österreich-Ungarn. Die Stadt und die dortigen Juden lebten von vielfältigen Geschäften und Gewerben, auch, durch die Grenzlage, vom Schmuggel. Durch den Wohlstand und den regional üblichen Antisemitismus kam es häufiger zu Pogromen, wohl hauptsächlich durch Kosaken. Der deutsche Rassenwahn löschte im Jahr 1941 die gesamte jüdische Bevölkerung aus. In seiner Geschichte der Juden wehrt sich S. Schama gegen das Anatevka-Bild des armen, jüdischen Shtetl in Polen (Schama 2017, p. 428f): If one puts together the extravagant cemetery, with its festival of carved stone, and the grandiose fortress synagogue on the hill, as well as records of a lively market (thirteen Jewish store-holders shared a building covered by a shingled roof), it becomes obvious that Satanow, like countless comparable towns in Jewish eastern Europe, scarcely resembled the one-cow mudhole conjured by Anatevka, the Fiddler’s shtetl. But then Tevye the milkman and Anatevka with its ’small mud huts’ . . . was the picturesque fiction of Sholem Aleichem, composed at the end of the nineteenth century.

Abb. 2.18 Grabstein aus Satanov (westliche Ukraine)

54

Sizilien ist dreieckig

Der Friedhof ist deshalb bemerkenswert, weil er, wie Schama schreibt, eine große Zahl von Grabsteinen hat, die mit dem Symbol der drei Hasen geschmückt sind (Abbildung 2.18). Der Friedhof wurde mit der Stadt im Zweiten Weltkrieg zerstört, er konnte nach dem Fall der UdSSR durch den Einsatz einzelner Idealisten wieder aufgebaut werden. Die Seite https://trois-lievres.skyrock.com/12.html enthält übrigens weitere Beispiele für die Verwendung des Symbols in jüdischen Kultstätten. Dieses Symbol ist nach der Analyse von B. Khaimovich in jüdischen Kultstätten in etwa vierzig Orten in Osteuropa zu finden (Khaimovich 2011). Es kommt häufig im Zusammenhang mit dem Motiv der drei ineinander verschränkten Fische vor, entweder in Kombination damit oder als dessen Substitution. Die Interpretation als Symbol für die Dreifaltigkeit, die im christlichen Kontext gegeben sein mag, ist in diesem Zusammenhang sicher nicht anwendbar. Einige jüdische Interpretationen sehen darin das Symbol für das Fließen der Zeit, denn die Hasen jagen einander, oder als Repräsentation von drei der vier antiken Grundelemente Erde, Luft, Feuer und Wasser. In einzelnen Fällen, so argumentiert B. Khaimovich, ist die Verwendung des Symbols auf den Grabsteinen an den Sterbemonat gebunden (den Monat Adar, den letzten Monat des jüdischen religiösen Kalenders, der als Metapher für die Erlösung betrachtet wird). In einigen Fällen kommt er auf Grund der Analyse der Vornamen der Verstorbenen in Relation zu den Vornamen ihrer Väter und Vorväter zu der Hypothese, dass es sich um eine visuelle Darstellung des traditionellen Grabspruchs der Juden handelt. Dieser Grabspruch spricht von dem Wunsch, die Seele des Verstorbenen möge wohlbehalten im Bündel der Unsterblichkeit bei Gott ruhen, er ist ist aus 1. Samuel 25, Vers 29 abgeleitet, auf den (Khaimovich 2011, p. 164–166) verweist. Sie lautet (Luther-Übersetzung, kursiv von mir): „Und wenn sich ein Mensch erheben wird, dich zu verfolgen, und nach deiner Seele steht, so wird die Seele meines Herrn eingebunden sein im Bündlein der Lebendigen bei dem HERRN, deinem Gott; aber die Seele deiner Feinde wird geschleudert werden mit der Schleuder.“ Die Herkunft des Symbols bleibt jedoch ungeklärt. Schama argumentiert, dass es ein Beleg für die Weltläufigkeit der Bevölkerung in und um Satanov ist, denn es gab durch den Handel Kontakte in die umgebenden Regionen und auch Anschluss an die großen Handelsstraßen, die den Orient mit dem Okzident verbinden (Schama 2017, p. 428f).

2.7.4

Die Mogao-Höhlen in Dunhuang

Sehen wir weiter nach Osten, so finden wir dieses Symbol in den Mogao-Höhlen in Dunhuang, an der alten Seidenstraße auf dem Weg von Xi’an nach Taschkent. Dort wird es in einigen Höhlen seit etwa dem Jahre 250 verwendet. Eine Abbildung zeigt eine Variante etwa aus der Mitte des neunten Jahrhunderts, die unter http://chinesepuzzles. org/dev/wp-content/uploads/2016/06/Mogao-139-l.jpg angesehen werden kann. Auch hier ist die Herkunft nicht klar, manche Höhlenforscher halten es für möglich, dass das

Rückblick

55

Symbol aus dem Westen kommt und in China adaptiert wurde, als Wunsch nach Ruhe und Frieden.

2.8

Rückblick

Wir haben bei der Jagd auf unser Symbol eine weite Reise gemacht, haben die Reisen des Odysseus auf Sizilien verfolgt, haben gesehen, dass das Symbol sich vielleicht zurückverfolgen lässt zur Verwendung auf Schilden spartanischer Krieger. Wir haben durch Seelenwanderung gesehen, dass es Bezüge zu Pythagoras gibt, und einen Schlenker zur Darstellung kommensurabler Zahlen gemacht, der uns gezeigt hat, dass Alles ist Zahl, der zentrale Satz der Pythagoräer, vielleicht weiter interpretiert werden muss als ursprünglich gedacht. Mit barer Münze haben wir schließlich durch eine Symmetriebetrachtung Vorkommen und spirituellen Charakter eines verwandten Symbols diskutiert. Die Dreiecksgestalt Siziliens hat sich als ziemlich ergiebig gezeigt.

2.9

Anhang: Programmcode

Das Pentagramm in Abbildung 2.13 wurde mit tikz gezeichnet, einem Makro-Paket für LATEX zum Zeichnen von Diagrammen etc. Die Zeichnung erfordert die Konstruktion des Pentagramms, also die Berechnung der Koordinaten der Eckpunkte, und der Koordinaten für Schnittpunkte der Diagonalen. Die Idee besteht einfach darin, einen Kreis herzunehmen und auf diesem Kreis im Abstand von 3600 /5 = 720 Markierungen anzubringen. Bei der Konstruktion der Schnittpunkte für die Diagonalen konstruiert man die entsprechenden Geradengleichungen und berechnet die Schnittpunkte. Mit der Hand ist das ziemlich unzuverlässig, mit den gängigen numerischen Verfahren umständlich. Das Python-Skript löst das Problem und hat die bemerkenswerte Besonderheit, dass die Schnittpunkte als Lösung eines symbolischen Gleichungssystems berechnet werden. Hierzu wird das Python-Paket sympy eingebunden, Einzelheiten können in (Doberkat 2018, Kap. 10) nachgelesen werden. import math pi = math.pi; sin = math.sin; cos = math.cos import string buchst = string.ascii_uppercase w = 2*pi/5

56

Sizilien ist dreieckig

math ist das Mathematik-Paket, sin, cos, pi sind dort definiert und sollten bekannt sein. Das string-Paket manipuliert Zeichenketten und enthält eine Zeichenkette mit allen Großbuchstaben, die als Namen für die Ecken benutzt werden. namen = {buchst[i]:(cos(pi/2 - i*w), sin(pi/2 - i*w)) for i in range(5)} Wir konstruieren das Lexikon namen, so dass z. B. namen[’A’] = (0.0, 1.0) die oberste Ecke ist; die Einträge namen[’B’], ..., namen[’E’] speichern die Koordinaten der anderen Ecken im Uhrzeigersinn. Die Ecken werden als LATEX-Makros abgespeichert, deren Erzeugung wir hier aber nicht sehen. from sympy import * x, y = symbols(’x y’) Das Paket sympy zur Symbolmanipulation wird importiert, gleichzeitig werden die Namen x, y als symbolische Namen eingeführt, deren externe Darstellung ihren Buchstaben entsprechen. def schnitt(a, b, p, q): Qab = (a[0] - b[0])/(a[1]-b[1]) Qpq = (p[0] - q[0])/(p[1]-q[1]) return solve([Qab - (x-a[0])/(y-a[1]), Qpq-(x-p[0])/(y-p[1])], x, y) Das ist die Methode zur Berechnung der Schnittpunkte für die Geraden, die durch die Punkte a, b bzw. p, q gegeben sind. Die Berechnung soll als Lösung einer symbolischen Gleichung (was den Reiz des Zugangs ausmacht) erfolgen. Der Punkt a hat die Komponenten (= Koordinaten) a[0] und a[1], analog bei den anderen Punkten; ich schreibe jetzt a = ha0 , a1 i, analog für b, p, q. Die Methode berechnet zunächst die Steigungen der beiden Geraden, also a0 - b0 a1 - b1 p0 - q0 = p1 - q1

Qa,b = Qp,q und löst dann die Gleichung Qa,b -

x - a0 x - p0 = Qp,q y - a1 y - p1

nach x, y. Das Resultat, also der Rückgabewert der Methode solve, ist ein Lexikon, das entweder leer ist, wenn keine Lösung existiert, oder das Einträge für die Schlüssel x und y hat, das sind dann die Lösungen, die weiter verarbeitet werden können. In unserem Fall dienen sie dazu, die Punkte ¨ . . . ∞ definieren. Damit umgehen wir die direkte numerische Rechnung, die sicher durch Rundungsfehler ungenau wird (das Paket sympy arbeitet intern mit höherer Genauigkeit).

57

Anhang: Programmcode

 ‫ﺍﻷﺭﺍﺑﻳﺳﻙ‬ Der Teufel mit den drei goldenen Haaren ist ein bekanntes Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm. Ein armer, mit einer Glückshaut geborener und so als Glückskind ausgezeichneter Bursche wird eher aus Versehen mit der Tochter eines ziemlich gierigen Königs verheiratet. Der König fordert zur Genehmigung der Ehe jedoch die drei goldenen Haare des Teufels. Auf dem Weg zur Hölle begegnen dem jungen Mann nun aber drei scheinbar unlösbare Probleme.Teufels Großmutter hilft ihm dabei, einen Weg zu ihrer Lösung zu finden: Sie reißt dem Teufel jeweils eines seiner goldenen Haare aus, gibt bei dessen Aufwachen vor, von einem der Probleme geträumt zu haben, und erfährt so dessen Lösung, das sie mit dem Haar an den jungen Mann weitergibt. Er löst die Probleme dann auf seinem Weg zur Königstochter. Schließlich macht er sich trickreich die Gier des Königs zunutze, um ihn als Fährmann weiter zu beschäftigen, so dass der glücklichen Ehe nichts im Wege steht: „Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.“ Aber nein, so endet das Märchen nicht, vielmehr: „Der König mußte von nun an fahren zur Strafe für seine Sünden. ‚Fährt er wohl noch?‘‚Was denn? Es wird ihm niemand das Ruder abgenommen haben‘“ (Grimm 1940, p. 123).

3 Dreiteilung des Winkels

Übersicht 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Origami . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zirkel und Lineal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Näherungen und andere Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übrigens, auch die Kubikwurzel aus zwei ist faltbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachtrag: Ein visueller Beweis des Ähnlichkeitssatzes von Euklid . . . . . . . .

59 61 64 77 83 85

Das Problem der Dreiteilung eines beliebigen Winkels wurde im klassischen Griechenland beschrieben und immer wieder vergeblich zu lösen versucht. Gegeben ist ein beliebiger Winkel, gesucht wird eine Konstruktion, die ihn nur mit Zirkel und Lineal in drei gleiche Teile teilt. Es sind also als Hilfsmittel lediglich ein Lineal zum Zeichnen von Geraden und ein Zirkel zum Zeichnen von Kreisen mit beliebigem Radius zugelassen. Gesucht ist eine exakte Lösung, nicht nur eine Näherungslösung. Wir sehen uns das Problem an, zeigen, dass es mit Origami gelöst werden kann und diskutieren dann die algebraische Seite des Problems, die uns dann zeigt, dass es keine allgemeine Lösung gibt. Die Ansätze von Archimedes, Hippias und von Albrecht Dürer werden ebenfalls vorgestellt. Für die letzte Lösung können wir eine Fehleranalyse durchführen, die zeigt, dass der Fehler bemerkenswert gering ist. Schließlich zeigen wir (als Sahnehäubchen, p sozusagen), dass auch 3 2 durch Origami berechnet werden kann, so dass das klassische Delische Problem der Würfelverdopplung eine papierne Lösung besitzt.

3.1

Das Problem

Der Ursprung des Problems der Drittelung eines Winkels ist unklar und möglicherweise bei der Berechnung von Sehnentafeln für astronomische Zwecke entstanden, vgl. (Scriba und Schreiber 2000, p. 44) und (Alten et al. 2003, p. 52). Zur Lösung wurde eine Kurve mit dem Namen Quadratrix konstruiert, Archimedes gab eine Konstruktion mit Zirkel und Lineal an, allerdings verwendet er das Lineal auch für Bewegungen. Albrecht Dürer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 E. Doberkat, Die Drei, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58788-1_3

60

Dreiteilung des Winkels

hat sich ebenfalls mit dem Problem befasst und gibt eine Näherungslösung an, die wir diskutieren und analysieren. Wir wollen zunächst angeben, was die Bedingung eine Konstruktion, die einen Winkel nur mit Zirkel und Lineal in drei gleiche Teile teilt genauer bedeutet. Hierbei müssen wir unsere Hilfsmittel bezeichnen. Für einen Zirkel ist das eindeutig, die deutsche Bezeichnung für ein Gerät, mit dem man lediglich Linien zeichnen kann, ohne sie abzumessen, ist Richtscheid. Diese veraltete Bezeichnung wird nicht mehr verwendet, statt dessen hat sich Lineal für beide Varianten eingebürgert. Im Englischen kann man zwischen ruler und straightedge unterscheiden. Wir verwenden das Wort Lineal also im Sinne von Richtscheid. Das werden wir in Abschnitt 3.3 auf Seite 64 weiter präzisieren. Die mathematische Analyse wird uns dann in algebraische Gefilde führen. Es wird sich herausstellen, dass wir uns mit Lösungen der Gleichung 8x3 - 6x - 1 = 0 befassen müssen. Das bedeutet, dass wir die Nullstellen eines Polynoms dritten Grades bestimmen müssen, was uns zu Körpererweiterungen und schließlich zur Lösung führen wird. Wir wollen auch kurz die Konstruktionen von Archimedes, von Dürer und der Quadratrix von Hippias vorführen und überlegen, warum sie nicht zielführend sind, wenn wir unsere Anforderungen zugrunde legen. Mit denselben Hilfsmitteln kann gezeigt werden, dass das Delische Problem der Würfelverdopplung ebenfalls nicht mit Zirkel und Lineal lösbar ist. Wir diskutieren das Problem ebenfalls kurz. Bevor wir uns an die Arbeit machen, zeigen wir, wie sich das Problem mit Origami lösen lässt. Es gibt uns Anlass, kurz über das Thema Ähnliche Dreiecke nachzudenken und an eine elementare Tatsache aus der (Schul-)Geometrie zu erinnern: Zwei Dreiecke werden ähnlich genannt, wenn sie in den entsprechenden Winkeln übereinstimmen. Dann stimmen die Seitenverhältnisse entsprechender Seiten überein (Ähnlichkeitssatz von Euklid). In diesem Beispiel sind die Dreiecke 4OAB und 4OA 0 B 0 ähnlich, denn der Winkel ]AOB bei O des ersten Dreiecks stimmt mit dem Winkel ]A 0 OB 0 bei O überein, und die Winkel ]OAB und ]OA 0 B 0 bei A bzw. A 0 sind rechte Winkel. Weil die Winkelsumme in einem Dreieck 1800 beträgt, stimmen die Winkel ]OBA und ]OB 0 A 0 bei B bzw. B 0 überein. Aus der Ähnlichkeit folgt dann, dass für die Längen gilt | OA | | OA 0 | = . | AB | | A 0B 0 |

61

Origami B B0

A0

O

A

Ein elementarer visueller Beweis des Ähnlichkeitssatzes findet sich im Abschnitt 3.6 als Nachtrag zu diesem Kapitel.

3.2

Origami

Ein Winkel, der kleiner als ein rechter ist, kann durch Origami in drei gleiche Teile zerlegt werden. Dies dient auch der Vorbereitung zur Lösung des Delischen Problems in Abschnitt 3.5 durch Faltung. Um dem Leser einen ersten Eindruck von dieser – vielleicht eher ungewohnten – Technik zu geben, führen wir zunächst eine leichtere Konstruktion durch und teilen eine Strecke in genau drei Teile. Wir folgen hier und p bei der Diskussion der konstruktiven Bestimmung von 3 2 mit Origami dem Kap. 7 in Th. Hulls wunderbarem Buch (Hull 2013). Hull verweist für die Winkeldrittelung auf eine japanische Originalarbeit von Hisashi Abe und für die kubische Gleichung auf eine Arbeit von P. Messer, die aber beide nicht zugänglich sind. Jetzt geht’s los Wir nehmen ein quadratisches Blatt Papier der Länge 1, teilen es durch eine Gerade exakt in der Mitte und zeichnen die Diagonale AC. F halbiere AB. Der Punkt E, der CD halbiert, wird mit B verbunden; der Schnittpunkt mit der Diagonalen sei P; wir fällen das Lot von P auf AB, der Fußpunkt sei Q. D

E

C

P

A

F

Q

B

62

Dreiteilung des Winkels

Analyse Wir behaupten, dass die Strecke PB die Strecke AB drittelt. Sei zum Beweis x so bestimmt, dass der Punkt P die Koordinaten hx, xi hat. Also hat auch PQ die Länge x. Die Dreiecke 4FBE und 4QBP sind ähnlich, also gilt | EF | | BF | = , | PQ | | BQ | also

1 1/2 = , x 1-x

daraus folgt, wie gewünscht, x=

2 . 3

Jetzt wird’s ernst Das war eine Vorübung zur Erweiterung der Fingerfertigkeit. Jetzt geht’s um die Drittelung eines Winkels ' mit 0  '  900 . Wir halbieren und vierteln zunächst ein quadratisches Stück Papier horizontal, so dass das linke Bild entsteht: L2

p2

L1 '

p1 '

Als Nächstes falten wir eine Linie, die gleichzeitig die Punkte p1 auf die Gerade L1 und p2 auf L2 bringt (rechts). Die Strecke L3 ist die Verlängerung des Bildes von L1 unter dieser Transformation. Es sei x der Schnittpunkt von L3 mit L1 , mit C bezeichnen wir das Bild von p1 unter der Faltung. Es ergibt sich also das rechte Bild unten. L3

L2

L3

L1 x

C

Tut’s das? Zunächst zeigen wir, dass der Punkt p1 auf der Geraden L3 liegt. Wir führen in die Abbildung unten einige Hilfspunkte ein. Zunächst Q, der auf dem Schnittpunkt von L1 mit der Senkrechten zur Grundlinie durch p1 liegt, zudem R und S, wie

63

Origami

in der Zeichnung links. Da L1 parallel zur Grundlinie verläuft, ist der Winkel ]SxR gleich dem Winkel ]Qxp1 ; das bedeutet aber, dass p1 auf L3 liegt. Die Hilfspunkte Q, R und S haben ihre Arbeit getan, also vergessen wir sie wieder. Wir zeichnen A, B und C wie in der rechten Zeichnung. A ist das Bild von p2 unter der Faltung, C das Bild von p1 , und B ist der Schnittpunkt von L3 mit der Strecke AC. Zudem sei D der Fußpunkt des Lots von C auf die Grundlinie. S L2

L3

L2

L3

A B Q

x

L1

R

L1 C

p1

D

Es ergibt sich 1. Die Strecken AB, BC und CD sind gleich lang. Das folgt unmittelbar aus der Konstruktion. 2. p1 B steht senkrecht auf AC. 3. Die Dreiecke 4p1 DC und 4p1 CB sind kongruent, denn beide sind rechtwinklig und haben eine gemeinsame Hypotenuse. Die rechtwinkligen Dreiecke 4p1 CB und 4p1 BA sind ebenfalls kongruent. L2

A B C p1

L1

D

Daraus finden wir aber nun ]Ap1 B = ]Bp1 C = ]Cp1 D =

' . 3

Der vorgegebene Winkel wurde durch eine Papierfaltung gedrittelt, wohlgemerkt, ohne Längen abzumessen oder gar mit einer Schere zu arbeiten. Die entscheidende Operation

64

Dreiteilung des Winkels

war die zielgerichtete Transformation der Punkte p1 und p2 . Wir werden eine ähnliche Vorgehensweise bei der Lösung des Archimedes kennenlernen.

3.3

Zirkel und Lineal

Wir haben durch diesen Origami-Ansatz gezeigt, dass eine konstruktive Lösung des Problems möglich ist. Wir wollen uns nun der klassischen Variante zuwenden, in der gefordert wird, einen Winkel allein mit Zirkel und Lineal zu dritteln. Aber was heisst das genauer? Wir beschreiben dazu die Arbeitsweise von Zirkel und Lineal näher und sehen uns dann an, was wir mit diesen Hilfsmitteln algebraisch erreichen können. Zirkel Mit einem Zirkel können wir einen Kreis mit einem gegebenen Radius um einen gegebenen Mittelpunkt zeichnen. Lineal Mit einem Lineal können wir gegebene Strecken zeichnen, jedoch keine Strecken abmessen. Mit Zirkel und Lineal können wir Strecken übertragen (und so auch eine Strecke willkürlich als Einheitsstrecke auszeichnen). Damit sind die Arbeitsmittel beschrieben. Wenn wir zusätzlich Strecken abmessen können, ändert sich das Problem; Archimedes hat hierzu eine Lösung angegeben. Wir beschränken uns auf die vorgegebenen Operationen (auf diese Weise wirken wir vielleicht wie ein Ringer, dem eine Hand hinter dem Rücken festgebunden ist und der nun sehen soll, wie gut er mit einem Arm kämpfen kann) und beschreiben zunächst, was wir mit diesen Hilfsmitteln erreichen können, welche Operationen wir also als konstruierbar erkennen können. Addition Gegeben sind zwei Größen a und b, dann können wir a + b berechnen. a+b O

A a

B b

Mit a = | OA | und b = | AB | gilt offensichtlich a + b = | OB |. Subtraktion Ganz ähnlich kann a - b für a > b berechnet werden: a-b O

B a

A b

65

Zirkel und Lineal Mit a = | OA | und b = | BA | gilt offensichtlich a - b = | OB |.

Multiplikation Zur Multiplikation von a und b tragen wir a auf der Strecke OA und b auf der Strecke OB ab; die Strecken bilden einen spitzen Winkel; wir benötigen die Einheitsstrecke 1 = | OE |: P B

b

O

E 1

A

a

Wir ziehen die Parallele zu EB durch A und definieren P als Schnittpunkt mit der Geraden durch OB. Dann gilt a·b = | OP |. Das liegt daran, dass die Dreiecke 4OEB und 4OAP ähnlich sind, denn entsprechende Winkel stimmen überein. Also gilt b | OB | | OP | | OP | = = = , 1 | OE | | OA | a woraus die Behauptung folgt. Division: Zur Berechnung von a/b mit b 6= 0 setzen wir b = | OB | und zeichnen die Strecke | OE | als Einheitsstrecke wie in der Skizze ein; zudem setzen wir a = | OA |. Wir konstruieren die Parallele zu AB durch E und definieren Q als ihren Schnittpunkt mit OA. A

a

O

Q

E 1

B

b

Die Dreiecke 4OAB und 4OEQ sind wieder ähnlich, also gilt: a | OA | | OQ | = = . b | OB | | OE |

Quadratwurzel Bislang haben wir nur das Lineal benutzt (und den Zirkel, um Strecken p zu übertragen), jetzt soll die Quadratwurzel x aus einer positiven Zahl berechnet werden. Hierzu tragen wir auf einer Geraden die Punkte OA = x und AB = 1

66

Dreiteilung des Winkels ab. Um den Mittelpunkt der Strecke OB schlagen wir einen Kreis mit dem Radius 12 (x + 1) und konstruieren das Lot auf OB, dessen Schnittpunkt mit dem Kreis wir C nennen. C

O

A x

B 1

Dann ist ]OCB ein rechter Winkel, also gilt nach elementarer Rechnung ]COA = ]ACB, weil die Dreiecke 4OAC und 4CAB rechtwinklig sind. Also sind diese Dreiecke ähnlich, so dass wir erhalten x | OA | | AC | | AC | = = = = | AC | , | AC | | AC | | AB | 1 also | AC |=

p

x.

Damit ist klargestellt, was wir mit Zirkel und Lineal berechnen können. Nehmen wir als Ausgangspunkt die Zahlen 0 und 1, die jeweils durch einen Punkt und eine willkürlich festgesetzte Einheitsstrecke gegeben sind, so können wir auf diese Weise konstruieren: 1. die natürlichen Zahlen N = {0, 1, 2, . . . } durch wiederholte Addition der Einheitsstrecke zur Strecke der Länge 0 (also zu einem Punkt), 2. die ganzen Zahlen Z = {. . . , -2, -1 - 0, 1, 2, . . . } durch Subtraktion aus den natürlichen Zahlen, 3. die rationalen Zahlen Q = {p/q | p, q 2 Z, q 6= 0} durch die Division aus den ganzen Zahlen, 4. Wurzeln aus rationalen Zahlen. Die Frage erhebt sich, ob wir alle reellen Zahlen auf diese Weise konstruieren können, etwa auch die bekannte Kreiszahl ⇡ oder die Eulersche Zahl e, die als Basis für den natürlichen Logarithmus so außerordentlich nützlich ist. Beide gehören jedoch zu den nicht konstruierbaren transzendenten Zahlen. Die Beweise hierfür liegen aber weit jenseits dessen, was wir uns hier vorgenommen haben.

67

Zirkel und Lineal

3.3.1

Konstruierbare Zahlen

Sei B die Menge der konstruierbaren Zahlen, die von {0, 1} ausgehen. Dann ist B ✓ R ein Körper, der in den rellen Zahlen R enthalten ist. Zur Erinnerung: Eine Teilmenge F ✓ R heißt ein Körper, wenn F bezüglich der Addition eine Gruppe bildet (man kann also in F addieren und subtrahieren, zudem ist 0 2 F das neutrale Element bezüglich der Addition), F \ {0} ist eine Gruppe bezüglich der Multiplikation, also ist 1 2 F das neutrale Element bezüglich der Multiplikation, und man findet zu jedem a 2 F mit a 6= 0 ein Element a-1 2 F mit aa-1 = a-1 a = 1. a-1 wird das zu a inverse Element genannt. Addition und Multiplikation werden wie in den reellen Zahlen ausgeführt. Beispiele sind etwa: Die Menge Q der rationalen Zahlen, also alle Brüche: a c ad + cb + = b d bd a c ac a c · = , sofern 6= 0 6= b d bd b d a -1 b a = , sofern 6= 0. b a b Da man ja die Multiplikation in Q \ {0} stattfindet, muss man darauf achten, dass das Resultat der Multiplikation von Null verschieden ist. Aber das ist klar. Es ist auch klar, dass mit a/b auch die Inverse b/a von Null verschieden ist. p p Die Menge {a + b 2 | a, b 2 Q}. Diese Menge wird mit Q[ 2] bezeichnet (die Bezeichnung wird gleich näher erläutert). Sehen wir uns zum Beweis die Operationen an: p p p Addition Sind a + b 2, c + d 2 2 Q[ 2], so ist auch p p p p (a + b 2) + (c + d 2) = (a + c) + (b + d) 2 2 Q[ 2].

Multiplikation Es gilt p p p (a + b 2)(c + d 2) = (ac + 2bd) + (ad + bc) 2. p -1 Inverse Wir wollen a + b 2 berechnen, wenn a 6= 0 oder b 6= 0. Für a = 0 oder b = 0 sind die Inversen einfach berechnet, daher nehmen wir an, dass a 6= 0 und b 6= 0 gilt. Zur Berechnung setzen wir p a+b 2

-1

p =x+y 2

68

Dreiteilung des Winkels mit den Unbekannten x und y und berechnen aus der Gleichung für die Multiplikation ax + 2by = 1 und ay + bx = 0. Also x=-

ay a2 y und (einsetzen) + 2by = 1. b b

Daraus ergibt sich y=

2b2

b a und x = - 2 2 -a 2b - a2

durch Einsetzen. Da a, b 2 Q, kann der Nenner 2b2 - a2 der beiden Brüche nicht Null werden. Nehmen wir das Gegenteil an: 2b2 - a2 = 0 bedeutet p p 2b2 = a2 , also a2 /b2 = 2, daher a/b = 2 oder a/b = - 2. Beides ist, wie wir auf Seite 45 gesehen haben, für rationale a, b nicht möglich und führt so zu einem Widerspruch. p p Damit haben wir gezeigt, dass zu jedem Element a + b 2 2 Q[ 2] \ {0} ein inverses Element existiert und dass gilt p a+b 2

-1

=-

2b2

p a b + 2 2. 2 2 -a 2b - a

p Also ist Q[ 2] ein Körper. Man überlegt sich übrigens leicht, dass das der kleinste p Körper ist, der sowohl Q als auch 2 enthält. Das sieht man so ein: Jeder Körper p p F mit F ◆ Q [ { 2} muss alle Elemente der Form a + b 2 enthalten, also gilt p p dann auch Q[ 2] ✓ F. Andererseits ist Q[ 2] selbst ein Körper. Also muss es sich p p p wegen Q ✓ Q[ 2] und 2 2 Q[ 2] um den kleinsten Körper mit der beschriebenen Eigenschaft handeln. p Verweilen wir kurz bei Q[ 2]. Jedes Element x 2 Q ist konstruierbar. Die Wurzel aus einer positiven konstruierbaren Zahl ist auch wieder konstruierbar. Also folgt aus den p Körpereigenschaften, dass jedes Element aus Q[ 2] konstruierbar ist, denn es kann p ja dargestellt werden als Summe a + b 2 mit konstruierbaren Komponenten, und die Summe konstruierbarer Zahlen ist wieder konstruierbar, wie wir gesehen haben. p Das sind aber noch nicht alle konstruierbaren Zahlen, denn wir können in Q[ 2] nicht aus jeder positiven Zahl die Quadratwurzel ziehen. Nehmen wir nämlich an, dass wir p das könnten, so müsste für beliebiges a + b 2 mit a, b 0 gelten q p p a+b 2=x+y 2 für rationale Zahlen x, y, die wir finden müssen. Mal sehen. Durch Ausmultiplizieren erhalten wir p p a + b 2 = (x2 + 2y2 ) + 2xy 2, also a = x2 + 2y2 und b = 2xy.

69

Zirkel und Lineal

p Probieren wir unser Glück mit a = 0, b = 1. Das können wir tun, weil wir ja a + b 2 p p beliebig gewählt haben. Also gilt nun a + b 2 = 2, und wir sehen durch Einsetzen in die obigen Gleichungen, dass x2 + 2y2 = 0 und 2xy = 1 gelten müsste, also

1 2 gelten müsste. Das ist aber in Q nicht möglich, denn x4 0 und - 12 < 0. Dieser Widerspruch zeigt, dass wir in unserem Körper keine Wurzeln ziehen können, ob mit, p ob ohne Betäubung. Das bedeutet aber, dass wir, wie behauptet, durch Q[ 2] noch nicht alle konstruierbaren Zahlen ausgeschöpft haben. x4 = -

3.3.2

Erweiterungskörper

Wir wollen zu einer Charakterisierung der konstruierbaren Zahlen kommen. Dazu benötigen wir den Begriff des Erweiterungskörpers, dem wir im Grunde exemplarisch p schon mit Q[ 2] begegnet sind. Allgemeiner geht das so: Es sei F ✓ R ein Körper und p p x 2 F eine positive Zahl, für die x nicht in F liegt, also x 62 F. Dann wird p p F[ x] := {a + b x | a, b 2 F} mit den Operationen p p p (a + b x) + (c + d x) := (a + c) + (b + d) x p p p (a + b x)(c + d x) := ac + bdx + (ad + bc) x der zu F und x gehörende Erweiterungskörper genannt. Vorher einen kurzen Kommentar zur Notation, den die Leserin sicherlich schon erwartet. Das Zeichen := wird in der Mathematik meist für Gleichheit per definitionem benutzt. Die Notation, die aus ALGOL 60, der Mutter fast aller Programmiersprachen, stammt, soll vom Gleichheitszeichen = unterscheiden, das verwendet wird, um Gleichheit als Aussage auszudrücken. Abweichend davon werden heutigen Programmiersprachen wie Java oder Python die Symbole = für die Zuweisung und == für den Test auf Gleichheit verwendet. Weiter im Text. p Ein offensichtliches Beispiel für einen Erweiterungskörper ist Q[ 2]: Wir wissen, dass p Q ✓ R ein Körper ist, und dass 2 62 Q. Daher haben wir die obige Konstruktion schon für diesen Spezialfall durchgeführt. Übrigens können wir diese Erweiterung auch p für den Fall durchführen, dass x 2 F, also für den Fall, dass uns die Wurzel nicht aus p F herausführt. Aber da in diesem Fall für jedes a, b 2 F auch a + b x 2 F gilt, bringt uns das nichts Neues.

70

Dreiteilung des Winkels

Wir haben, wenn wir die Argumente von oben genauer analysieren, eigentlich schon gezeigt, dass die Körpereigenschaften durch diese Erweiterung erhalten bleiben, also: p Ist F ein Körper, so ist der Erweiterungskörper F[ x] ebenfalls ein Körper. Die kritische Operation ist hier offensichtlich die Bildung der Inversen, die wir für den p p allgemeinen Fall betrachten wollen. Nehmen wir also a + b x 2 F[ x] \ {0} her und berechnen die Inverse. Hierbei ist wieder der Fall a = 0 oder b = 0 offensichtlich, so dass wir a 6= 0 6= b annehmen können. Wenn wir wie oben mit einem Gleichungssystem arbeiten, so erhalten wir schließlich p a+b x

-1

=-

p a b + 2 x. xb2 - a2 xb - a2

p Da x 62 F vorausgesetzt ist, kann der Nenner der beiden Brüche nicht Null werden, und da F ein Körper ist, wissen wir, dass -

xb2

a b 2 F und 2F 2 2 -a xb - a2 -1

gelten (denn mit x, a, b 2 F gilt auch xb2 - a2 2 F, also xb2 - a2 2 F, und damit -1 -1 auch -a xb2 - a2 2 F, analog b xb2 - a2 2 F). Daraus folgt, dass die Inverse p p p eines von Null verschiedenen Elements in F[ x] wieder in F[ x] ist, also ist F[ x] wirklich ein Körper. Wir benötigen die folgende einfache, aber trotzdem bemerkenswerte Eigenschaft im p Erweiterungskörper F[ x]: p (‡) Falls für a, b 2 F gilt a + b x = 0, so folgt a = b = 0. Nehmen wir an, dass die Konklusion falsch ist. Sicherlich kann in diesem Fall nicht a 6= 0 und b = 0 gelten, und analog ist auch a = 0 und b 6= 0 hier nicht möglich. Also muss dann a 6= 0 und b 6= 0 gelten, so dass wir p

x=-

a b

erhalten. Das ist aber ein Widerspruch, denn wir hatten bei der Konstruktion des p p Erweiterungskörpers F[ x] vorausgesetzt, dass x 62 F gilt. Andererseits sind aber a, b 2 F, also auch - a b 2 F, weil F ja als Körper vorausgesetzt war, daher als abgeschlossen unter der Division. Damit ist unsere kleine Behauptung bewiesen. p Jetzt können wir natürlich mit dieser Konstruktion spielen. Wir dass 5 62 Q, p wissen, p p p p und überlegen uns, dass zwar 3 p - 5 2 Q[ 5] gilt, aber 3 - 5 62 Q[ 5]. Das p p liegt daran, dass die Gleichung 3 - 5 = x + y 5 keine Lösung x, y 2 Q hat: Das zeigt man mit den Methoden, die wir oben schon verwendet haben, so dass der

71

Zirkel und Lineal

Unterhaltungswert der Diskussion durch eine Lösung nicht steigt. Also können wir zum p ⇥p p ⇤ Beispiel Q[ 5] 3 - 5 bilden und einen Körper erhalten mit p p ⇥p p ⇤ Q ✓ Q[ 5] ✓ Q[ 5] 3 - 5 ✓ R. p Weil jedes Element von Q konstruierbar ist und dies auch für 5 gilt, ist auch jedes p p p Element von Q[ 5] konstruierbar. Weil mit 5 auch 3 - 5 konstruierbar ist, ist auch p p p ⇥p p ⇤ 3 - 5 konstruierbar, also sind alle Elemente von Q[ 5] 3 - 5 konstruierbar. Wir verlassen also die Menge der konstruierbaren Zahlen durch diese Körpererweiterungen nicht. Wir können also durch Hinzunahme eines Elements, dessen Wurzel nicht im gegenwärtigen Erweiterungskörper liegt, einen nagelneuen Erweiterungskörper bauen. Durch Wiederholung erhalten wir einen Turm, der aber fest im Reich der konstruierbaren Zahlen verankert ist, wie Abbildung 3.1 zeigt. R ... ... p p p Q[ v1 ][ v2 ][ v3 ] p p Q[ v1 ][ v2 ] p Q[ v1 ] Q Abb. 3.1 Der Turm der Körpererweiterungen

Die konstruierbaren Zahlen liegen also in dem Diagramm im roten Bereich, und es gibt eine Lücke zur Oberkante, die durch R, also durch die Menge aller reellen Zahlen, markiert ist. Diese Lücke bleibt nicht leer, wie wir gleich sehen werden, denn es gibt nur abzählbar viele konstruierbare Zahlen (das zeigen wir gleich auf Seite 73), aber es gibt bekanntlich überabzählbar viele reelle Zahlen. Das diskutieren wir ausführlich im Abschnitt 4.3.3. Wir konstruieren den Turm so, dass gilt p v1 2 Q, v1 2 6 Q, p p p v2 2 Q[ v1 ], v2 2 6 Q[ v1 ], p p p p p v3 2 Q[ v1 ][ v2 ], v3 2 6 Q[ v1 ][ v2 ], etc.

72

Dreiteilung des Winkels

Das sehen wir uns jetzt genauer zur Lösung unseres Problems an.

3.3.3

Des Rätsels Lösung

Es stellt sich heraus, dass sich alle konstruierbaren Zahlen auf diese Weise darstellen lassen, es gilt nämlich: Eine reelle Zahl x ist genau dann konstruierbar, wenn es eine endliche Folge von Zahlen v1 , . . . , vn gibt mit v1 2 Q, p v2 2 Q[ v1 ], ...

p p p vn 2 Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ vn-1 ],

p p p so dass x 2 Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ vn ].

Zum einen ist jede solche Zahl konstruierbar. Wir wissen ja, dass alle rationalen Zahlen p konstruierbar sind, also sind auch alle Zahlen in Q[ v1 ] konstruierbar, also auch alle p p Zahlen der Form a + b v2 mit a, b, v2 2 Q[ v1 ]. Die Zahlen dieser Gestalt sind aber p p genau die Zahlen in Q[ v1 ][ v2 ]. Auf diese Art kann man weiter argumentieren und p p p kommt dazu, dass alle Zahlen in Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ vn ] konstruierbar sind. Wir erhalten also p p p Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ vn ] ✓ B für jede so beschriebene Folge von Zahlen v1 , . . . , vn . Wie sieht es mit der Umkehrung aus? Nehmen wir an, die Umkehrung ist falsch: Es gibt also eine konstruierbare Zahl x 2 B, die in keinem Erweiterungskörper enthalten ist, für die wir also kein endliches Türmchen bauen können. Es gibt zur konstruierbaren Zahl x also eine Folge von Operationen mit Zirkel und Lineal, mit der wir die Zahl x aus {0, 1} herstellen können. Sei T1 , . . . , Tk die kürzeste Folge dieser Operationen, die das tut: Es mag mehrere solcher Folgen geben, die x konstruieren, und wir picken uns die kürzeste heraus. Dann kann nicht k = 1 gelten; in diesem Fall hätten wir x nämlich durch eine einzige Operation aus {0, 1} erzeugt, also liegt x in diesem Fall in Q, im Widerspruch zur Annahme. Damit gilt k > 1, und, weil k minimal gewählt wurde, muss die Folge T1 , . . . , Tk-1 konstruierbare Zahlen aus einem der Erweiterungskörper p p p Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ v` ] liefern. Wir sehen uns die Operationen genauer an, die die letzte Operation Tk ausmachen: Tk ist eine Addition, Subtraktion, Multiplikation oder Division, die auf konstruierbare Zahlen aus einem Erweiterungskörper angewendet wird. Dann ist das Ergebnis p p p x aber ein Element des Erweiterungskörpers Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ v` ].

73

Zirkel und Lineal

p p p Tk berechnet die Wurzel aus einem Element von Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ v` ]. Dann liegt p p p p das Ergebnis x aber in Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ v` ][ v`+1 ] für eine geeignete Zahl v`+1 p p p p p p mit v`+1 2 Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ v` ], falls es nicht schon in Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ v` ] selbst liegt. In jedem Fall ergibt sich also ein Widerspruch zur Annahme. Damit ist bewiesen, dass jede konstruierbar Zahl in einem der Erweiterungskörper liegt. Dieses Ergebnis wird uns helfen, die Nicht-Konstruierbarkeit der Würfelverdopplung nachzuweisen. Es hat übrigens noch eine weitere, bemerkenswerte Konsequenz: Es gibt nur abzählbar viele konstruierbare Zahlen. Man kann die Menge B der konstruierbaren Zahlen ja nach dem obigen Resultat aufschreiben als [ p p p B = {Q[ v0 ][ v1 ] . . . [ vn ] | n 2 N, v1 , . . . , vn 2 Q mit v0 > 0, . . . , vn > 0}.

Die Menge der rationalen Zahlen ist abzählbar, alle endlichen Folgen positiver rationap p ler Zahlen sind abzählbar. Ist F ein abzählbarer Körper, so ist F[ x] = {a+b x | a, b 2 F} eine abzählbare Menge. Insgesamt bilden wir also bei der Darstellung von B eine abzählbare Vereinigung jeweils abzählbarer Mengen. Das ist wieder eine abzählbare Menge. Die reellen Zahlen sind bekanntlich überabzählbar (siehe Seite 102 im Abschnitt 4.3.3), also gibt es viel, viel mehr nicht-konstruierbare als konstruierbare Zahlen. Eine Anmerkung für Puristen: Das Argument erfordert das Auswahlaxiom (vgl. Seite 107); die Aussage gilt wohl nicht, wenn auf dieses Axiom verzichtet wird (Jech 1973). Mit Fragen zur Abzählbarkeit beschäftigen wir uns übrigens kurz in Abschnitt 4.3.1. Wir werden im Folgenden häufiger von Ketten von Erweiterungskörpern p p p p p p Q ✓ Q[ v1 ] ✓ Q[ v1 ][ v2 ] ✓ · · · ✓ Q[ v1 ][ v2 ] . . . [ vn ] sprechen. Da die Elemente, mit deren Hilfe die Erweiterung gebildet wird, in der Regel nicht von spezifischem Interesse sind, schreiben wir einen Erweiterungskörper einfach als Fn auf und reservieren F0 für Q. Eine weitere, nicht uninteressante Konsequenz aus dieser Darstellung der konstruierbaren Zahlen besteht darin, dass die dritte Wurzel aus einer rationalen Zahl nicht notwendig konstruierbar ist: p 3 2 62 B. Der Beweis dieser Behauptung ist eine ganz gute Vorübung für den Beweis der Nichtp Konstruierbarkeit. Nehmen wir also an, dass 3 2 2 B, also gibt es eine Kette von p Erweiterungskörpern F0 ✓ · · · ✓ Fk-1 ✓ Fk mit 3 2 2 Fk . Der Index k wird wieder minimal gewählt, so dass wir die früheste Körpererweiterung betrachten, in der das

74

Dreiteilung des Winkels

p Element liegt. Insbesondere ist klar, dass 3 2 nicht rational sein kann, also k > 0, und p dass 3 2 nicht in Fk-1 liegt. Wir können daher für ein geeignetes w schreiben x := für p, q 2 Fk-1 und

p

p 3

p 2=p+q w

(3.1)

w 62 Fk-1 ; x ist Lösung der Gleichung x3 - 2 = 0.

Setzen wir die Darstellung aus Gleichung (3.1) ein, so erhalten wir nach dem gefeierten Lehrsatz von Binomi (vgl. Seite 41) p x3 - 2 = a(p, q) + b(p, q) w, a(p, q) := p3 + 3pq2 w - 2, b(p, q) := 3p2 q + q3 . Da x3 - 2 = 0, folgern wir nach der Beobachtung (‡) auf Seite 70, dass a(p, q) = b(p, q) = 0. Auf der anderen Seite sehen wir durch die Substitution von q durch -q, dass a(p, q) = a(p, -q), b(p, q) = -b(p, -q), p woraus wir folgern, dass y := p - q w ebenfalls eine Lösung der Gleichung ist: p y3 - 2 = (p - q w)3

p = (p3 + 3pq2 w - 2) - (3p2 q + q3 ) w p = a(p, q) - b(p, q) w = 0.

Nun gilt aber x 6= y, denn aus der Annahme x = y folgt, dass x - y = 0, also p 2q w = 0, also q = 0, woraus x = p 2 Fk-1 folgen würde. Das hatten wir aber gerade p ausgeschlossen. Damit haben wir zwei unterschiedliche reelle Werte für 3 2. Das kann aber nicht sein, da es nur eine einzige reelle Zahl gibt, deren Kubikwurzel gleich 2 p ist. Damit haben wir gezeigt, dass 3 2 nicht mit Zirkel und Lineal konstruiert werden kann. Wir sind jetzt fast so weit, dass wir uns an das Problem der Winkeldrittelung heranwagen können. Es wird noch ein einfacher Hilfssatz benötigt, der im Grunde mit der Technik zu den Überlegungen aus dem vorigen Paragraphen bewiesen werden kann. Wir benötigen hierzu Informationen über eine Gleichung dritten Grades, sagen wir, x3 + ax2 + bx + c = 0.

75

Zirkel und Lineal

Zunächst wissen wir durch den Fundamentalsatz der Algebra, dass wir das Polynom in seine Nullstellen zerlegen können: x3 + ax2 + bx + c = (x - x1 )(x - x2 )(x - x3 ). Multiplizieren wir die letzte Darstellung aus und vergleichen Koeffizienten, so erhalten wir a = -(x1 + x2 + x3 ). (3.2) Der angekündigte Satz lautet nun: Hat eine Gleichung x3 + ax2 + bx + c = 0 dritten Grades mit a, b, c 2 Q keine rationale Lösung, so ist keine ihrer Lösungen konstruierbar. Angenommen, wir finden eine konstruierbare Lösung dieser Gleichung, dann liegt sie in einer Kette F0 ✓ F1 ✓ · · · ✓ Fn von Körpererweiterungen, ausgehend von F0 = Q. Wir wählen n so, dass es minimal für alle Lösungen ist, und wissen nach Voraussetzung, dass n > 0, denn sonst hätten wir ja eine rationale Lösung. Die Lösung z kann dargestellt p p werden als z = p + q w mit p, q 2 Fk-1 , aber w 62 Fk-1 . Expansion der Gleichung z3 + az2 + bz + c ergibt mit ein bisschen einfacher Rechnung p z3 + az2 + bz + c = t(p, q) + s(p, q) w, wobei t(p, q) := p3 + 3pq2 + ap2 + aw + bp + c, s(p, q) := 3p2 q + q3 + 2pqa + bq. p Aus t(p, q) + s(p, q) w = 0 folgern wir wie oben mit der Beobachtung (‡) auf Seite 70, dass t(p, q) = s(p, q) = 0. Die Inspektion der Werte zeigt, dass t(p, -q) = t(p, q) s(p, -q) = -s(p, q). p Daraus folgt, dass auch y := p - q w eine Lösung unserer Gleichung ist. Wir können jetzt aus der Gleichung (3.2) die dritte Lösung r berechnen: r = -a - z - y = -a - 2p. Nun gilt a 2 Q und p 2 Fn-1 . Daraus folgt aber, dass die Gleichung bereits eine Lösung in Fn-1 hat, im Widerspruch zur Annahme.

76

Dreiteilung des Winkels

Jetzt sind wir in der Lage, unser Problem der Winkeldrittelung zu betrachten. Es reicht hierfür offenbar, einen Winkel 0  '  900 zu finden, dessen Drittelung nicht mit Zirkel und Lineal möglich ist. Wir lösen diese Aufgabe mit Winkelfunktionen. Wenn wir zeigen, dass der Cosinus von '/3 nicht konstruierbar ist, sind wir fertig. Erinnern Sie sich – der Cosinus cos ' eines Winkels ' im Einheitskreis ist gerade die Länge der Ankathete in dem Dreieck.

1

'

sin '

cos '

Es gilt bekanntlich cos ' = 4 cos3 (

' ' ) - 3 cos( ) 3 3

(3.3)

nach den Additionstheoremen für die Winkelfunktionen. Setzen wir ' := 600 , so gilt cos ' = 1/2, und setzen wir z := cos('/3) in Gleichung (3.3), so müssen wir die Gleichung 8z3 - 6z - 1 = 0 (3.4) lösen. Um zu zeigen, dass die Gleichung (3.4) keine konstruierbare Lösung besitzt, ist es nach dem gerade bewiesenen Satz ausreichend nachzuweisen, dass keine rationale Lösung existiert. Auf geht’s Nehmen wir an, es gibt eine rationale Lösung für diese Gleichung, dann führen wir diese Annahme jetzt zum Widerspruch. Zur Vereinfachung substituieren wir v := 2z, so dass wir als neue Gleichung erhalten v3 - 3v = 1.

(3.5)

Sei also sr mit teilerfremden ganzen Zahlen r und s eine rationale Lösung von (3.5), dann erhält man durch Einsetzen r3 3r = 1, s3 s also durch Ausmultiplizieren und Umstellen die beiden äquivalenten Gleichungen s3 = r(r2 - 3s2 ), r3 = s2 (s + 3r).

Näherungen und andere Alternativen

77

Das sehen wir uns jetzt an: r ist ein Teiler von s (obere Gleichung) und s ein Teiler von r (untere Gleichung). Also s = `1 · r und r = `2 · s für geeignete Zahlen `1 , `2 . Einsetzen zeigt s = `1 · `2 · s, also `1 · `2 = 1. Daher r = s oder r = -s. Das ist aber nur möglich, wenn r, s 2 {-1, 1}, denn r und s sollten ja teilerfremd sein. Setzen wir diese Werte jedoch in die Gleichung (3.5) ein, so sehen wir, dass beide keine Lösung darstellen. Das ist ein Widerspruch; wir haben also gezeigt, dass die Gleichung (3.5), damit auch unsere Ausgangsgleichung, keine rationale Lösung hat. Damit existiert auch keine konstruierbare Lösung, so dass wir gezeigt haben, dass der Winkel ' = 600 nicht mit Zirkel und Lineal gedrittelt werden kann. Was haben wir geschafft? Wir haben eine kleine Reise gemacht, haben uns überlegt, was es für eine Zahl heißt, mit Zirkel und Lineal konstruierbar zu sein. Daraus haben wir algebraische Schlußfolgerungen gezogen, indem wir zuerst die rationalen Zahlen als Körper konstruiert haben, dann gesehen haben, dass wir diesen Körper erweitern mussten, und dann sogar iterativ weitere Körpererweiterungen durchzuführen gezwungen waren. Daraus konnten wir dann eine algebraisch präzise Charakterisierung konstruierbarer Zahlen gewinnen und zeigen, dass der Winkel von 600 nicht gedrittelt werden kann, indem wir nachgewiesen haben, dass cos 300 nicht konstruierbar ist. Nun könnte man einwenden, dass ja der Cosinus eines Winkels analytisch durch eine komplizierte Taylor-Reihe dargestellt wird, so dass es kein Wunder ist, dass hier Komplikationen auftreten. Aber das ist in diesem Fall nicht so, weil wir cos 300 als Ankathete eines rechtwinkligen Dreiecks mit Hypotenuse 1 schreiben können, und wir haben gezeigt, dass dieser Quotient nicht konstruierbar ist. p Quasi nebenbei haben wir auch nachgewiesen, dass 3 2 nicht konstruierbar ist. Dieser Nachweis diente zur Demonstration einer hilfreichen Technik zur Lösung von Gleichungen. Wir werden die Aussage in Abschnitt 3.5 noch einmal aufnehmen, wenn wir zeigen, dass diese Zahl durch Faltungen mit Hilfe von Origami dargestellt werden kann. Damit eröffnen wir die Galerie der Alternativen, mit der wir aufzeigen, dass es andere Wege als den beschriebenen gibt, die gewünschte Konstruktion der Drittelung eines Winkels durchzuführen.

3.4

Näherungen und andere Alternativen

Wir beginnen mit der von Archimedes vorgeschlagenen Konstruktion, die Zirkel und Lineal verwendet, aber den Bereich der zulässigen Operationen erweitert. Dann nehmen wir uns die Quadratrix des Hippias vor, mit der die Drittelung eines Winkels aus der Drittelung einer entsprechenden Strecke gewonnen wird, und schließlich geben wir

78

Dreiteilung des Winkels

eine von A. Dürer stammende Näherungslösung an, deren Fehler wir abschließend analysieren. Als Ergänzung zeigen wir zum Abschluss, wie sich die nicht-konstruierbare p Zahl 3 2 durch eine Faltung berechnen lässt.

3.4.1

Die Lösung von Archimedes

Wir tragen den Winkel ↵ am Einheitskreis um den Punkt O ab, der Schnittpunkt des Strahls mit dem Einheitskreis sei mit C bezeichnet. Auf dem Lineal wird die Einheitsstrecke mit den Endpunkten A und B markiert. B wird an den Halbkreis gehalten, und das Lineal wird nun so verschoben, dass A auf der durch OE gegebenen Gerade liegt. Verbindet man A mit C, so gilt ]OAB =

↵ . 3 C

B

↵ O

A

E

Man bemerkt zunächst, dass ]OBC = ]OCB, weil das Dreieck 4OBC gleichschenklig ist; mit dem gleichen Argument erhält man ]BAO = ]BOA. Aus ]ABO + ]OBC = 1800 = ]ABO + 2]BAO erhält man ]OBC = 2]BAO, woraus mit 2]OBC = 1800 - ]BOC = ↵ + ]OAB folgt 4]OAB = ]OAB + ↵, daraus ergibt sich die Behauptung. Es ist offensichtlich, dass es sich hier nicht um eine Lösung des Problems im geforderten klassischen Sinn handelt. Das liegt daran, dass das Lineal nicht nur zum Ziehen von Verbindungslinien verwendet wird, sondern dass mit dem Lineal und dem Zirkel auch eine Orientierung vorgenommen wird. Das ist vergleichbar mit der Origami-Lösung, für die wir ja auch Punkte so verschieben mussten, „bis es passte“. Archimedes war freilich neben seinen anderen Tätigkeiten auch ein praktisch orientierter Ingenieur, dem es nicht nur auf theoretische Konstruktionen, sondern auch auf rasch umsetzbare Lösungen ankam.

79

Näherungen und andere Alternativen

3.4.2

Die Quadratrix des Hippias

Gut zweihundert Jahre vor Archimedes kam der griechische Philosoph Hippias um die Mitte des fünften vorchristlichen Jahrhunderts auf die Idee, dass man die Dreiteilung einer Strecke auf die Dreiteilung eines Winkels übertragen kann. Das Werkzeug hierzu ist die Quadratrix (Abbildung 3.2), die jetzt diskutiert werden soll. y-Achse B

R

C

P

y

↵ x

O

A

x-Achse

Abb. 3.2 Quadratrix des Hippias

Wir lassen die Linie BC, bei y = 1 beginnend, gegen die x-Achse wandern, gleichzeitig und mit derselben Geschwindigkeit läuft der Punkt R auf dem Einheitskreis von ⇡/2 nach 0. Der Punkt R startet seine Wanderschaft also ebenfalls im Punkt B = h0, 1i und beendet sie im Punkt A = h1, 0i. Die Quadratrix ist der Ort aller Schnittpunkte der Geraden OR mit der sich bewegenden Geraden CB. Ist P := hx, yi also ein Punkt auf der Quadratrix, der aus dem Punkt R = hsin ↵, cos ↵i gewonnen ist, so gilt offensichtlich tan ↵ =

y ⇡y und ↵ = . x 2

Daraus ergibt sich {hx, yi | x = y cot(

⇡y ), 0 < y  1} 2

als Ort für die Punkte auf der Kurve (für y = 0 müsste der Grenzwert berechnet werden, weil cot 0 nicht definiert ist). Wollen wir den Winkel ↵ dritteln, so berechnen wir den zu ↵ gehörenden Punkt B mit den Koordinaten hx, yi auf der Quadratrix. Der zu y/3 gehörende Punkt T = hx 0 , y/3i auf der Quadratrix zeigt dann nach Konstruktion den Winkel ↵/3 an, vgl. Abbildung 3.3.

80

Dreiteilung des Winkels y-Achse

P

y

T

y/3 ↵ O

↵/3

x

x-Achse

Abb. 3.3 Winkeldrittelung mit der Quadratrix des Hippias

Die Quadratrix kann auch zur Lösung eines der anderen klassischen Probleme der Geometrie, nämlich der Quadratur des Kreises, verwendet werden.

3.4.3

Die Näherungslösung von Albrecht Dürer

Während die bisherigen Dreiteilungen exakt waren, hat Albrecht Dürer eine interessante Näherungslösung vorgeschlagen (Dürer 1525/1983, p. 19), die wir diskutieren und analysieren wollen. Die Zeichnung dazu ist Abbildung 3.4. Gegeben sei ein Winkel '. Wir konstruieren zu ' einen Kreissektor mit dem Radius 1, Mittelpunkt O und Endpunkten A und B. Also ergibt sich ein Kreisbogen von A nach B. Die Sehne AB wird gedrittelt, wir erhalten drei Teilstrecken AC, CD und DB, die alle gleichlang sind. Auf der Sehne AB errichten wir das Lot in Punkt C, der Schnittpunkt mit dem Kreisbogen wird C1 genannt, analog errichten wir auf der Sehne das Lot in D und benennen den Schnittpunkt mit dem Kreisbogen als D1 . Dadurch entstehen drei Sehnen (AC1 , C1 D1 und D1 B), das arithmetische Mittel dieser drei Sehnen wird als Sehne des Bogendrittels genommen. Das ist jedoch keine exakte Dreiteilung. Zur Fehlerberechnung legen wir den Koordinatenursprung in den Punkt O = h0, 0i, so dass die Punkte A = hxA , yA i und B = hxA , -yA i symmetrisch zur x-Achse liegen. Der Winkel möge ' = ]AOB hal-

81

Näherungen und andere Alternativen

A

= '/2 = ]AOE

C

C1

O

E

' = ]AOB

D1

D

B Abb. 3.4 Näherungslösung nach Albrecht Dürer

bieren. Die Länge s 0 der Sehne, die zur Berechnung der Drittelung herangezogen wird, ist nach Definition 1 s 0 = | AC1 | + | C1 D1 | + | D1 B | 3 1 = 2 | AC1 | + | C1 D1 | . 3 Wir berechnen zunächst s 0 . Es gilt nach Konstruktion hxA , yA i = hcos , sin i, hxC , yC i = hcos ,

1 sin i. 3

Weiterhin sehen wir, dass 2 sin , 3 2 1 s 0 = |AC1 | + sin 3 3

|C1 D1 | =

,

so dass wir die Länge |AC1 | berechnen müssen. Das ist die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks, so dass wir schreiben können |AC1 |2 = |AC|2 + |CC1 |2 mit 2 sin , 3 |CC1 | = xC1 - xC . |AC| =

82

Dreiteilung des Winkels

Man erhält xC1 durch den Schnitt des Einheitskreises x2 + y2 = 1 und der achsenparallelen Geraden y = 13 sin (nach Konstruktion des Punktes C), daraus ergibt sich q 1 xC1 = 9 - sin2 . 3 Mit dem Satz des Pythagoras erhält man | C1 D |2 = (yC1 - yD )2 + (xC1 - xD )2 , so dass man durch Einsetzen der berechneten Werte und durch Vereinfachungen r q 10 2 xC1 - xC = 2 sin 9 - 10 sin2 + sin4 9 3 erhält. Es gilt also

| CC1 | = xC1 - xC r 2 | AC1 | = 2 - sin2 3

-

2 3

q 9 - sin2

+ sin4 .

Der Wert der Sehne zum genauen Bogendrittel ist s=

2 ' sin , 3 6

wie sich aus dem Satz des Pythagoras aus | CC1 | und | AC | ergibt. Ist ↵ die Näherungslösung für '/3, so erhält man ↵ s 0 = 2 sin( ). 2 Löst man das nach ↵ auf und setzt den gefundenen Wert für s 0 von oben ein, so erhält man den formidablen Ausdruck r q 3 · 2 - 23 sin2 ('/2) - 23 · 9 - sin2 ('/2) + sin4 ('/2) + sin('/2) ↵ = 2 arcsin 9 für den angenäherten Wert ↵. Vergleicht man für einige Winkel den wahren mit dem approximativen Wert (Vogel 1931, p. 152), so zeigt sich, dass die Approximation verblüffend genau ist: '

s

s0

s - s0

0

0

0

60

0,34730

90

'/3



'/3 - ↵

0

0

0

0

0,34729

0,00001

20

19 59’ 59“

1“

0,51764

0,51756

0,00008

30

29 59’ 42“

18“

120

0,68404

0,68351

0,00053

40

39 58’ 04“

1’ 56“

180

1,00000

0,99202

0,00798

60

59 28’ 22“

31’ 38“

83

Übrigens, auch die Kubikwurzel aus zwei ist faltbar

3.5

Übrigens, auch die Kubikwurzel aus zwei ist faltbar

p Wir haben auf Seite 73 gesehen, dass 3 2 nicht konstruierbar ist. Es stellt sich jedoch heraus, dass diese Zahl durch eine Faltung erzeugt werden kann. In einer Vorüberlegung wurde auf Seite 61 gezeigt, dass eine Strecke durch Faltung gedrittelt werden kann. Das nutzen wir jetzt zur Angabe einer Konstruktion für die p Faltung von 3 2. Diese Aufgabe ist als das Delische Problem bekannt. X

E

D

A

E

A

|XA| |AO|

p2 O

p1 Abb. 3.5 Konstruktion von

p 3

=

p 3

2

C

2 durch Papierfaltung

Wir dritteln zunächst das quadratische Blatt mit der oben beschriebenen Technik, siehe Abbildung 3.5. Die Punkte p1 und p2 werden markiert. Es wird hilfreich sein, sich daran zu erinnern, dass der Abstand zwischen diesen Punkten gerade ein Drittel der Seitenlänge ist. Dann wird das Blatt so gefaltet, dass p1 auf der Geraden durch O und X liegt und p2 auf der Geraden, die das zweite Drittel markiert. p Wir behaupten, dass dadurch die Strecke OX im Verhältnis 3 2 : 1 geteilt wird. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass | OA | = 1; wir setzen d := | OC |, x := | AX | . Weil wir mit einem quadratischen Blatt begonnen haben, gilt offensichtlich | AC | = x + 1 - d, daraus erhalten wir mit dem Satz des Pythagoras für das Dreieck 4AOC durch eine einfache Rechnung, dass d=

x2 + 2x 2(x + 1)

gilt. Für die Länge | AD | gilt | AD | = x - (x + 1)/3 = (2x - 1)/3.

84

Dreiteilung des Winkels

Wir behaupten, dass die Dreiecke 4AOC und 4ADE ähnlich sind. Da beide rechtwinklig sind, folgt diese Behauptung aus ]DAE = ]OAC. Zudem gilt | AE | = (x + 1)/3 nach Konstruktion. Wegen der Ähnlichkeit ist das Verhältnis entsprechender Seiten gleich, wir erhalten also | OC | | AD | = . | AC | | AE | Eingesetzt ergibt sich

also

d (2x + 1)/3 = , x+1-d (x + 1)/3 x2 + 2x 2x - 1 = , x2 + 2x + 2 x+1

daraus folgt x3 + 3x2 + 2x = 2x3 + 3x2 + 2x - 2, also x3 = 2. Es handelt sich hierbei um eine Lösung für das Delische Problem. Hier wurde – nach einer Lesart – den Einwohnern der Insel Delos die Aufgabe gestellt, das Volumen des würfelförmigen Altars für den Gott Apollo zu verdoppeln, um eine Pestepidemie zu bekämpfen. Sie mussten also die Gleichung y3 = 2x3 lösen. Hier ist x die Kantenlänge des vorhandenen Altars. Das erfordert offensichtlich p die Berechnung von 3 2. Kurze Anmerkungen zur verwendeten Literatur Die algebraischen Überlegungen zur Winkeldrittelung folgen (Courant und Robbins 2010, Kap. III) mit gelegentlichen Anleihen zu Körpererweiterungen bei (Hungerford 1974) und bei (Brenner 2009) zum Thema der Konstruierbarkeit. Einen Überblick über viele Lösungsversuche des Problems, eine Diskussion der Quadratrix des Hippias und weiterer, ähnlicher Ansätze findet man bei (Dudley 1987) und im Internet in der Nähe von Verschwörungstheorien. Die Darstellung der Näherungslösung nach Dürer folgt im Wesentlichen (Vogel 1931, Nr. 10, 11), von hier stammt auch die vergleichende Tabelle, eine ähnliche Analyse findet sich bei (Günther 1886, § 6). In (Vogel 1931) findet sich auch eine Liste vieler anderer Näherungslösungen, zum Teil auch mit einer Abschätzung ihrer Güte. Lopez-Real (LopezReal 2004) diskutiert eine vereinfachte Approximation nach dem Vorschlag von Dürer, ebenfalls mit einer kurzen Fehleranalyse. Scriba und Schreiber (Scriba und Schreiber 2000, 5.3) sowie Hughes (Hughes 2012) beschreiben die Approximation im Kontext anderer geometrischer Arbeiten von Dürer und stellen Verbindungen zu den Arbeiten von Luca Pacioli (Ciocci 2009) und Piero della Francesca (Panofsky 1995) her, vgl. hierzu auch Abschnitt 7.5.2.

85

Nachtrag: Ein visueller Beweis des Ähnlichkeitssatzes von Euklid

3.6

Nachtrag: Ein visueller Beweis des Ähnlichkeitssatzes von Euklid

Bekanntlich werden Dreiecke ähnlich genannt, wenn sie in drei Winkeln übereinstimmen; da die Winkelsumme 180o beträgt, reicht die Überprüfung zweier Winkel aus, vgl. Seite 60. Wir wollen zeigen, dass bei ähnlichen Dreiecken die Verhältnisse entsprechender Seiten übereinstimmen. Hierbei folgen wir im wesentlichen der attraktiven graphischen Darstellung in (Byrne 2017, Book VI). Erste Hilfsaussage Gegeben ist das Dreieck 4ACB, D sei ein Punkt zwischen B und C. Dann stehen die Flächen von 4ADB und 4ACB im selben Verhältnis wie die Längen der Seiten BD und BC. Gegeben sind also diese Dreiecke: A

h

B

D

C

Es wird behauptet, dass sich die Grundseiten der Dreiecke zueinander wie ihre Flächen verhalten. A

A verhält sich zu

B

C

B

C

B

D

B

D

wie zu

86

Dreiteilung des Winkels

Beweis der ersten Hilfsaussage Es bezeichne | XYZ | die Fläche des Dreiecks 4XYZ. Die Fläche eines Dreiecks ist das Produkt der halben Höhe mit der entsprechenden Grundseite, also h | BD |, 2 h | ACB | = | BC | . 2

| ADB | =

Eingesetzt ergibt sich das behauptete Verhältnis: | ACB | = | ADB |

h 2 h 2

| BC | | BD |

=

| BC | | BD |

Zweite Hilfsaussage Gegeben ist ein Dreieck 4ABC, die Parallele zur Grundseite BC schneidet die Seite AB im Punkt D, so dass D im Inneren der Seite liegt, und die Seite AC im Punkt E, der dann ebenfalls im Inneren der Seite liegt. A

E

D

C

B

Es wird behauptet, dass Verhältnisse der Seiten des eingeschlossenen Winkels bei A in beiden Dreiecken übereinstimmen. E

A

verhält sich zu

C

zu

A

A

wie A

D

Es muss also gezeigt werden

B

| AE | | AD | = . | AC | | AB |

Beweis der zweiten Hilfsaussage Wir verbinden die Punkte B mit E und C mit D: A

E C

D B

87

Nachtrag: Ein visueller Beweis des Ähnlichkeitssatzes von Euklid Aus der ersten Hilfsaussage wissen wir, dass E

sich verhält zu

A

C

A

wie A A zu E

E

D

D C

Wir bemerken, dass gilt A

A

E

D

=

E

D

C

B

und wieder mit der ersten Hilfsaussage, dass A A sich verhält zu E

E

D

D B

wie A

D

zu

A

B

Das beweist die Behauptung. Der analytische Beweis ist übrigens kürzer, macht aber visuell nicht so viel her, ist also weniger anschaulich. Hier ist er: Es gilt nach der ersten Hilfsaussage | AE | | ADE | (†) | ADE | | AD | = = = . | AC | | ADC | | ABE | | AB | In der Gleichung (†) haben wir benutzt, dass die Dreiecke 4ABE und 4ADC dieselbe Fläche haben.

88

Dreiteilung des Winkels

Jetzt sind wir in der Lage, den Ähnlichkeitssatz des Euklid zu formulieren und zu beweisen. Ähnlichkeitssatz des Euklid Es seien zwei ähnliche Dreiecke gegeben. Dann stimmen die Verhältnisse entsprechender Seiten überein. Das bedeutet für die beiden gegebenen Dreiecke also, dass zum Beispiel gilt | XZ | | AB | | ZY | = = . | XY | | AC | | BC | Das macht auch den Ausdruck entsprechende Seiten deutlich. B Z

X

Y

A

C

Beweis des Ähnlichkeitssatzes von Euklid Wir konzentrieren uns auf die Winkel ]ZXY = ]BAC und zeigen, dass | XZ | | AB | = | XY | | AC | gilt. Wir können annehmen, dass die Seiten der Dreiecke nicht übereinstimmen (dann wären alle Seitenverhältnisse gleich 1) und dass, wie in unserer Zeichnung, die Seite XZ kürzer ist als die Seite AB. Wir schieben das kleinere Dreieck nun so (in unserem Bild nach rechts), dass die Punkte X und A übereinstimmen: B Z

A, X

Y

C

Weil die Dreiecke ähnlich sind, stimmen die Winkel bei Y und bei C bzw. die Winkel bei Z und bei B überein, also sind die Seiten ZY und BC parallel. Dann wissen wir aber aus der zweiten Hilfsaussage, dass | XY | | XZ | = | AC | | AB | gilt, und daraus folgt durch Umordnen | XZ | | AB | = , | XY | | AC |

Nachtrag: Ein visueller Beweis des Ähnlichkeitssatzes von Euklid

89

das ist gerade unsere Behauptung. Die anderen Aussagen beweist man genauso. Wenn man sich beispielsweise auf die Winkel ]AZY = ]ABC konzentriert, so schiebt man das kleinere Dreieck so, dass die Punkte Z und B übereinstimmen: Z

X A

Y C

Dann kann man völlig analog argumentieren.

 ‫ﺍﻷﺭﺍﺑﻳﺳﻙ‬ Die Dreigroschenoper, ein Schauspiel von Bertold Brecht mit der Musik von Kurt Weill, wurde am 31. August 1928 in Berlin uraufgeführt. Der Name hat wohl keinen Bezug zum Inhalt. Brecht hat die Oper so genannt, weil der Eintrittspreis niedrig war (drei Groschen; ein Groschen ist eine alte Bezeichnung für zehn Pfennig, zehn Groschen sind eine Mark), damit sie auch Bettlern zugänglich sein könne. Das Stück beschreibt den Kampf zweier Verbrecherbanden im Londoner Stadtteil Soho und soll allegorisch aufgefasst werden. Der herausragende Erfolg der Oper beruht wohl auf Songs wie „Ja, der Haifisch, der hat Zähne“ (die Moritat von Mackie Messer). Die Oper wurde 1933 von den Nationalsozialisten verboten.

4 Die Dreiermenge von Georg Cantor

Übersicht 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Konstruktion der Dreiermenge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unendlich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zurück zur Cantor-Menge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . *Ein Blick hinter die Kulissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Galerie einfacher Fraktale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 93 97 108 114 121

Wir befassen uns in diesem Abschnitt mit der Cantor’schen Dreiermenge und ihren verblüffenden, zum Teil verwirrenden Eigenschaften. Wir nehmen das zum Anlass, uns einige Gedanken über unendliche Mengen zu machen, die wir am Beispiel von Hilberts Hotel illustrieren. Die Dreiermenge ist selbstähnlich; wir analysieren diesen Begriff und führen einige andere selbstähnliche Mengen ein, die wir mit Turtle-Graphiken erläutern.

4.1

Einleitung

Die Cantor-Menge wurde von Georg Cantor (1845–1918) im Jahre 1883 in einer Arbeit über trigonometrische Reihen definiert, in einer Fußnote, in der eine spezielle Eigenschaft durch ein Beispiel illustriert werden sollte. Eine sehr ähnliche Menge war bereits früher, nämlich in einer Arbeit aus dem Jahre 1875, von dem englischen Mathematiker Henry John Stephen Smith definiert worden, Vito Volterra, ein junger italienischer Mathematiker, hat in einer wenig beachteten mathematischen Zeitschrift im Jahre 1881 eine ähnliche Konstruktion vorgeschlagen. Volterra wurde später einer der prominentesten italienischen Vertreter des Fachs. Diese beiden Vorschläge wurden jedoch nicht beachtet, erst als Georg Cantor, ein Mathematiker von großem Gewicht, seine Konstruktionen vorstellte, fanden sie Interesse und wurden näher untersucht. Hierbei wurden erstaunliche Eigenschaften zu Tage gefördert. Im Zeitalter der Fraktale und der © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 E. Doberkat, Die Drei, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58788-1_4

92

Die Dreiermenge von Georg Cantor

selbstähnlichen Mengen hat die Cantor-Menge dann weitere Prominenz erlangt, auch wenn sie unter Topologen und Maßtheoretikern schon immer als begehrtes Untersuchungsobjekt und als beliebte Quelle von Gegenbeispielen herangezogen wurde. Georg Cantor wird allgemein als der Vater der Mengenlehre betrachtet; er war Professor für Mathematik an der Universität zu Halle, nachdem er in Berlin unter solchen prominenten Mathematikern wie Weierstraß, Kronecker und Kummer studiert hatte. Seine Arbeiten gingen von Überlegungen zu trigonometrischen Reihen aus, hierbei stellte sich schnell die Frage, ob man entscheiden kann, dass zwei solche Reihen zum gleichen Grenzwert konvergieren. Das gab Anlass zu Überlegungen, unendliche Mengen einzuführen, deren Existenz, Ausprägungen und Eigenschaften seit Aristoteles unter Theologen, Philosophen und Mathematikern heftig umstritten waren. Diese Arbeiten brachten Cantor zu der Überzeugung, dass es mehr als eine Art von Unendlichkeit geben müsse, und auch, dass man den Begriff des Unendlichen stärker differenzieren müsse, als das bislang der Fall gewesen war. Wir werden unten ein wenig auf diese Diskussionen eingehen, auch wenn es hier nur darum geht, zwei Sorten unendlich großer Mengen anzusehen. Das Schicksal hat es nicht besonders gut mit Georg Cantor gemeint. Nachdem er in das Wespennest unendlicher Mengen gestochen hatte, mit dem sich schon solche prominenten Mathematiker wie Leibniz oder Gauß herumgeschlagen hatten, wurden seine Arbeiten in der mathematischen Gemeinschaft seiner Zeit gelegentlich auf das Heftigste und auch kränkend kritisiert, insbesondere von seinem akademischen Lehrer L. Kronecker. Dies hatte wohl unmittelbar Folgen für den Gesundheitszustand von Cantor, der sich zeitweilig von der Mathematik abwandte und neben philosophischen und theologischen Studien auch Werke über Shakespeare und die Frage nach der Autorschaft seiner Werke verfasste. Gleichwohl wurden die von ihm erkannten Methoden und Probleme von einem herausragenden Logiker wie Gottlob Frege und von anderen prominenten Mathematikern überaus ernst genommen und weiterverbreitet, so dass, wie man nach einem Wort David Hilberts sagt, Mathematiker gegenwärtig in dem Paradies der Mengenlehre arbeiten, das uns Cantor geschaffen hat. Eine kurze zusammenfassende Darstellung und Einschätzung findet sich bei M. Davis (Davis 2000, Kap. 4). Im folgenden werden wir uns mit der Konstruktion der Cantor-Menge befassen, ein wenig den mathematischen Hintergrund dazu ausleuchten und dem Phänomen der Selbstähnlichkeit auf die Spur zu kommen versuchen. Zum Schluss präsentieren wir eine kleine Galerie selbstähnlicher Mengen, die wir mit der Turtle-Graphik auch zeichnerisch illustrieren können.

93

Die Konstruktion der Dreiermenge

4.2

Die Konstruktion der Dreiermenge

Die Cantor’sche Dreiermenge wird aus dem Einheitsintervall [0, 1] konstruiert. Das sind alle reellen Zahlen, die zwischen 0 und 1 unter Einschluss dieser Grenzen liegen. Die Konstruktion geht so vor sich, dass man, bei [0, 1] beginnend, wiederholt aus Intervallen das mittlere Drittel entfernt und sich dann ansieht, was übrig bleibt. Aber langsam. Wir beginnen mit dem Einheitsintervall: 0

1

Daraus entfernen wir das mittlere Drittel. 0

1 3

1

2 3

Aus den überlebenden Intervallen entfernen wir wieder das mittlere Drittel. 0

1 9

2 9

1 3

2 3

7 9

8 9

1

So machen wir weiter, nach fünf Schritten erhalten wir das folgende Bild:

Dieses Vorgehen wird wiederholt, die Cantor-Menge C ist dann die Menge aller Punkte, die übrig bleiben. Es ist klar, warum diese Menge Dreiermenge genannt wird, entsteht sie doch durch wiederholte Entfernung des mittleren Drittels. Die zeichnerische Darstellung wird ziemlich unübersichtlich, zumal ihre Genauigkeit recht bald am Ende ist. Also versuchen wir, die Sache formal in den Griff zu bekommen. Wir definieren für ein Intervall, sagen wir, [a, b], den Dreierschnitt D([a, b]) als die Menge, die übrig bleibt, wenn man das mittlere Drittel wegschneidet, also als ⇤ 2a + b a + 2b ⇥ , 3 3 ⇥ 2a + b ⇤ ⇥ a + 2b ⇤ = a, [ ,b . 3 3

D [a, b] := [a, b] \

Wir lassen die Randpunkte in der Menge. Bei mehreren Intervallen behandeln wir jedes Intervall separat und vereinigen die Ergebnisse, also D [a1 , b1 ] [ · · · [ [an , bn ] := D [a1 , b1 ] [ · · · [ D [an , bn ] .

94

Die Dreiermenge von Georg Cantor

Das ergibt dann für die ersten Schritte 1 2 D [0, 1] = [0, ] [ [ , 1] 3 3 und weiter 1 2 1 2 D [0, ] [ [ , 1] = D [0, ] [ D [ , 1] 3 3 3 3 1 2 1 2 7 8 = [0, ] [ [ , ] [ [ , ] [ [ , 1]. 9 9 3 3 9 9 Wir iterieren diesen Vorgang, dazu schreiben wir die Mengen systematisch auf, die entstehen, indem wir C0 := [0, 1] setzen. Das ist unser Ausgangspunkt. Haben wir die Menge Cn bereits konstruiert, so setzen wir Cn+1 := D(Cn ), wenden unseren schneidigen Operator D also auf die Menge Cn an. Wir erhalten so in den ersten Schritten: C0 = [0, 1],

1 2 C1 = D(C0 ) = [0, ] [ [ , 1], 3 3 1 2 1 2 7 8 C2 = D(C1 ) = [0, ] [ [ , ] [ [ , ] [ [ , 1], 9 9 3 3 9 9 1 2 1 2 7 8 1 2 19 20 7 8 25 26 C3 = D(C2 ) = [0, ] [ [ , ] [ [ , ] [ [ , ] [ [ , ] [ [ , ] [ [ , ] [ [ , 1] 27 27 9 9 27 27 3 3 27 27 9 9 27 27 C4 = D(C3 ) = . . . Unsere Menge C besteht dann aus allen Elementen, die allen Säuberungen entkommen sind, die also bei keiner der Schnitt-Operationen entfernt wurden. Formal schreiben wir das als 1 \ C := Cn . n=0

Wenn wir uns das obige Bild ansehen, das die entstandene Menge nach fünf Schritten zeigt, so stellt sich ja schon die Frage, ob wir hier nicht einen umständlichen Weg gefunden haben, die leere Menge zu beschreiben – enthält die Menge C denn eigentlich überhaupt noch Elemente? Die Leserin wird sich sagen, dass es natürlich Elemente geben muss, denn sonst wäre dieses Kapitel irgendwie sinnlos. Weniger taktisch gesinnte Gemüter überlegen sich, dass es einige Elemente gibt, die bestimmt nicht entfernt werden können, weil sie von der Entfernungsregel nie betroffen sind. Dazu gehören sicher die Elemente 0 und 1, so dass wir erleichtert C = 6 ; konstatieren können. Mit derselben Argumentation sehen wir, dass die Endpunkte der Intervalle, mit denen wir hantieren, nie entfernt werden. Es gibt unendlich viele Intervalle in diesem Spiel, also enthält C unendlich viele Elemente. Wir werden sehen, dass es noch andere Elemente in C gibt, die sich einigermaßen handlich charakterisieren lassen.

95

Die Konstruktion der Dreiermenge

Aber bevor wir das tun, machen wir uns mit einer anderen Eigenschaft von C vertraut. Nehmen wir an, wir haben einen Schützen, der von Punkt A aus auf die Linie [0, 1] schießt: A

0

1

Sicher ist die Wahrscheinlichkeit gleich 1, dass er ins Blaue trifft, und 0, dass er etwas Rotes trifft, denn diese Farbe ist hier noch nicht vertreten. Jetzt nehmen wir das mittlere Drittel heraus und färben es rot: A

0

1

Die Wahrscheinlichkeit, ins Blaue zu treffen, ist jetzt auf 1 - 13 gesunken, dafür liegt die Wahrscheinlichkeit, ins Rote zu treffen, jetzt bei 13 . Im nächsten Schritt wenden wir unseren Schnitt-Operator noch einmal an: A

0

1

Die Wahrscheinlichkeit, ins Blaue zu treffen, ist jetzt auf 1 - 13 - 29 gesunken, die, etwas Rotes zu treffen, auf 13 + 29 gestiegen. Da wir entweder ins Rote oder ins Blaue treffen können, reicht es, eine der beiden Wahrscheinlichkeiten auszurechnen, die andere ergibt sich dann komplementär. Bleiben wir bei Rot: Im dritten Schritt dritteln wir die vier

96

Die Dreiermenge von Georg Cantor

verbleibenden Restintervalle und nehmen aus jedem dieser Intervalle eins der Länge 1 27 heraus, was für die Wahrscheinlichkeit, Rot zu treffen, ergibt 1 2 4 19 + + = ⇡ 0, 703. 3 9 27 27 Nach dem fünften Schritt erhalten wir schon 1 2 4 8 16 211 + + + + = ⇡ 0, 8683. 3 9 27 81 243 243 Die Wahrscheinlichkeit, etwas Rotes zu treffen, steigt und steigt, je mehr Intervalle wir herausschneiden; umgekehrt fällt die Wahrscheinlichkeit für unseren Schützen, etwas Blaues zu treffen. Wie sieht’s allgemein aus? Die Wahrscheinlichkeit, in Schritt n etwas Rotes zu treffen, ist nach diesen Überlegungen 1 2 4 8 16 2n-1 1 2 4 2n-1 + + + + + . . . n = 1 + + + · · · + n-1 . 3 9 27 81 243 3 3 3 9 3 Wir rechnen allgemein sn := 1 + q + q2 + · · · + qn aus und setzen dann q = gilt offenbar

2 3

ein. Es

sn+1 = sn + qn+1 qsn = q + q2 + q3 + · · · + qn+1 = sn+1 - 1. Das führt zu den Gleichungen sn + qn+1 = qsn + 1 sn - qsn = 1 - qn+1 sn (1 - q) = 1 - qn+1 1 - qn+1 1-q 1 = (1 - qn+1 ). 1-q

sn =

Für unsere Wahrscheinlichkeit, im Schritt n etwas Rotes zu treffen, ergibt sich damit 1 2 4 2n-1 1 1 2 2 · 1 + + + · · · + n-1 = · 1 - ( )n = 1 - ( )n , 3 3 9 3 3 1 - 23 3 3 denn

1 1 · 3 1-

2 3

=

1 1 1 3 · = · = 1. 3 13 3 1

Wenn wir n immer größer werden lassen (also gegen unendlich gehen lassen, symbolisch n ! 1), so wird der Unterschied dieser Wahrscheinlichkeit zu 1 immer geringer. Wir sehen also: Die Wahrscheinlichkeit, im Intervall [0, 1] etwas Rotes zu treffen, wenn wir auf die fertig konstruierte Cantor-Menge zielen, ist 1. Weil aber die Cantor-Menge gerade die blauen Elemente ausmacht, folgt daraus, dass wir nur mit Wahrscheinlichkeit 0 ein Element der Cantor-Menge erlegen werden.

Unendlich?

97

Das hat die interessante Konsequenz, dass C kein offenes Intervall enthält. Denn würde ein offenes Intervall ]a, b[ in den Grenzen, sagen wir, a und b mit a < b in C enthalten sein, so wäre die Wahrscheinlichkeit, ein Element im Intervall zu treffen, höchstens die Wahrscheinlichkeit, überhaupt ein Element von C zu treffen. Andererseits ist b - a > 0 die Länge des Intervalls. Das ist ein Widerspruch. Also kann C kein echtes Intervall enthalten. Wir werden zeigen, dass es so viele Punkte in C wie im Ausgangsintervall [0, 1] gibt. Dazu machen wir jetzt einen kleinen Ausflug in die Unendlichkeit.

4.3

Unendlich?

Wie stellt ein Kellner fest, ob er ebenso viele Messer wie Gabeln hat? Er kann sie natürlich zählen, aber nehmen wir an, er hat keine Lust dazu. Der einfachste Weg besteht offenbar darin, neben jedes Messer eine Gabel zu legen. Hat jedes Messer seine Gabel, und jede Gabel ihr Messer, so gibt es ebenso viele Messer wie Gabeln. Fein. Man hört, dass Schäfer ganz ähnlich vorgehen: Wenn die Schafe morgens auf die Weide gehen, müssen sie durch ein Tor gehen, der Schäfer legt für jedes Schaf ein Steinchen in einen anfangs leeren Korb. Wenn die Schafe abends zurückkommen, werden sie wieder durch das Tor getrieben, und die Schäferin nimmt für jedes Schaf ein Steinchen aus dem Korb. Offensichtlich muss der Korb leer sein, damit man sicher sein kann, alle Schafe beisammen zu haben. Man muss ihre Anzahl also nicht kennen. Der Trick besteht darin, eine Zuordnung zwischen Messern und Gabeln so zu finden, dass jedem Messer eine und nur eine Gabel zugeordnet wird und dass keine Gabel übrig bleibt, dass also wirklich auch jede Gabel ein Messer findet. Analog bei der Zuordnung zwischen Steinen und Schafen. Eine solche Zuordnung heißt bijektiv. Mit einem Haufen Socken kann man übrigens genau dieselbe Überlegung durchführen, sofern man rechte und linke Socken unterscheiden kann, denn man zählt wohl Socken vor dem Zusammenlegen nicht.

4.3.1

Unendliches Zählen

Das klappt bei endlichen Kollektionen; wir haben aber gesehen, dass unser Ausgangspunkt, die Cantor-Menge C, sicher keine endliche Menge ist. Versuchen wir denselben Zuordnungstrick bei unendlichen Mengen und fangen klein an (bekanntlich haben auch Zwerge klein angefangen). Damit wir einen festen Punkt haben, auf den wir uns be-

98

Die Dreiermenge von Georg Cantor

ziehen können, sozusagen als Boden unter den Füßen, nehmen wir zuerst und zur Illustration die natürlichen Zahlen N = {1, 2, 3, . . . }. Hier können wir bei manchen Mengen eine solche bijektive Zuordnung konstruieren, zum Beispiel die geraden Zahlen. Das geht so: 2

4

6

8

10

12

14

16

18

20

22

24

26

...

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

...

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Wir ordnen also jeder geraden Zahl gerade ihre Hälfte zu. Offensichtlich wird jede Zahl oben genau einer anderen Zahl unten zugeordnet, und jede Zahl unten enthält auch einen Partner oben. Diese Abzählung der geraden Zahlen geht übrigens auf Leibniz zurück; er schloss daraus, dass der Euklidische Grundsatz „Das Ganze muss größer sein als seine Teile“ hier nicht zutreffen kann. Die Abzählung zeigt, dass wir genauso viele gerade Zahlen haben wie natürliche. Wenn Ihnen dieser Satz ziemlich steil erscheint: Ist er auch, weil wir hier den Begriff genauso viele gerade eingeschmuggelt haben. Wir sagen, dass eine Menge A genauso viele Elemente wie eine Menge B enthält, wenn wir eine bijektive Zuordnung zwischen beiden finden können. Man sagt dann auch, dass A und B gleichmächtig sind. Eine Menge, die genau so viele Elemente wie die Menge N der natürlichen Zahlen entält, wird abzählbar unendlich genannt. Es ist klar, dass eine solche Menge unendlich viele Elemente enthält; die natürlichen Zahlen dienen zum Abzählen, darauf deutet das Attribut abzählbar hin. Jetzt haben wir ein neues Spielzeug. Mal sehen, was wir damit anfangen können. Wir können die ganzen Zahlen Z = {. . . , -3, -2, -1, 0, 1, 2, 3, . . . } abzählen 1

-1

2

-2

3

-3

4

-4

5

-5

6

-6

7

...

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

11

l

12

l

13

...

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Oops, die Null fehlt! Wir schieben die obere Reihe um eine Position nach rechts und fügen die Null ein: 0

1

-1

2

-2

3

-3

4

-4

5

-5

6

-6

...

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

...

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Dann stimmt’s. Das zeigt, dass wir die Abzählung durch Schiebetricks manipulieren können.

99

Unendlich?

4.3.2

Hilberts Hotel

Wie flexibel wir sein können, zeigt die Geschichte von Hilberts Hotel, das in Göttingen stand. Der große deutsche Mathematiker David Hilbert (1862–1943) hat einige Jahrzehnte lang in Göttingen gelehrt und gearbeitet. Es wird kolportiert, das Hilbert-Hotel hätte dazu gedient, seine Gäste unterzubringen, als Göttingen durch seine Arbeiten die Welthauptstadt der Mathematik, und der vornehme Speisesaal unter Kollegen als Hilbert-Raum bekannt war. Seit der Bologna-Reform ist das Hotel nicht mehr im Stadtplan verzeichnet. Eine kurze Geschichte der Geschichte von Hilberts Hotel findet sich in (Kragh 2014), das dort irritierenderweise als Paradoxon gekennzeichnet wird. Aber jetzt zu den Eigenschaften des Hotels. Es hat unendliche viele Räume, und eines Tages ist es voll belegt, sagen wir mit Reisegesellschaft A = {a1 , a2 , . . . }: a1

a2

a3

a4

a5

a6

a7

a8

a9

a10

a11

a12

a13

...

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

12

l

...

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

13

Dann kommt eine zweite Reisegesellschaft B = {b1 , b2 , . . . } an, auch sie unendlich groß, und will untergebracht werden. Was tun? Die neuen Gäste können schlecht am Ende der Reihe untergebracht werden, weil die Reihe von Zimmern kein Ende hat. Also lassen wir die bisherigen Gäste umziehen: Gast ak hat bislang Zimmer Nr. k bewohnt und zieht nach Zimmer 2k um. Dadurch werden die Zimmer 1, 3, 5, . . . frei und können mit den neuen Gästen belegt werden: b1

a1

b2

a2

b3

a3

b4

a4

b5

a5

b6

a6

b7

...

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

l

...

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

Obgleich unser Hotel also voll belegt ist, kann es doch noch eine unendliche Anzahl von neuen Gästen aufnehmen. Nehmen wir an, wir haben unendlich viele Hilbert-Hotels, sagen wir, Hk für k 2 N. Jedes dieser Hotels hat unendlich viele Zimmer. Sicherungsarbeiten für die Brutmöglichkeiten der quadrierten Feldmaus erfordern aber jetzt den Abriss aller Hotels H2 , H3 , . . . , nur H1 bleibt stehen. Die Gäste der anderen Hotels müssen also evakuiert werden. Wir können – Überraschung! – alle Gäste in H1 unterbringen, und das geht so: Wir schreiben uns zuallererst die Zimmer in den einzelnen Hotels als Paare auf, also ist h3, 4i im Hotel H3 das Zimmer 4, und h163, 889i das Zimmer 889 im Hotel H163 . Damit haben wir das Schema aus Abbildung 4.1. Dadurch erhalten wir einen Überblick über alle Zimmer in allen Hotels. Wir müssen jetzt jedem Zimmer aus jedem Hotel ein Zimmer in unserem stehen gebliebenen

100

Die Dreiermenge von Georg Cantor

h1, 1i

h1, 2i

h1, 3i

h1, 4i

h1, 5i

h1, 6i

...

h2, 1i

h2, 2i

h2, 3i

h2, 4i

h2, 5i

h2, 6i

...

h3, 1i

h3, 2i

h3, 3i

h3, 4i

h3, 5i

h3, 6i

...

h4, 1i

h4, 2i

h4, 3i

h4, 4i

h4, 5i

h4, 6i

...

h5, 1i

h5, 2i

h5, 3i

h5, 4i

h5, 5i

h5, 6i

...

.. .

.. .

.. .

.. .

.. .

.. .

...

Abb. 4.1 Schema für Hilberts Hotel

Hilbert-Hotel zuweisen. Zimmer h1, 1i bekommt Zimmer 1, die Zimmer h1, 2i, h2, 2i und h2, 1i jeweils die Zimmer 2, 3, 4, und dann laufen wir die Quadrate auf die folgende Weise ab: h1, 1i h2, 1i o

h1, 2i ✏ h2, 2i

h3, 1i o

h3, 2i o

h1, 3i ✏ h2, 3i ✏ h3, 3i

h4, 1i o

h4, 2i o

h4, 3i o

h1, 4i ✏ h2, 4i ✏ h3, 4i ✏ h4, 4i

h5, 1i o

h5, 2i o

h5, 3i o

h5, 4i o

h1, 5i ✏ h2, 5i ✏ h3, 5i ✏ h4, 5i ✏ h5, 5i

.. .

.. .

.. .

.. .

.. .

h1, 6i

...

h2, 6i

...

h3, 6i

...

h4, 6i

...

h5, 6i

...

.. .

...

Nehmen wir die ersten drei Hotels H1 , H2 und H3 ; zuerst überlegen wir uns für jedes dieser Hotels, in welchem Zimmer wir die Gäste aus dem jeweiligen Zimmer 3 unterbringen, und dann diskutieren wir für das Hotel H3 die Zimmer 2 und 1 (Zimmer 3 ist ja schon evakuiert). Im nächsten Schritt betrachten wir für die ersten vier Hotels H1 , H2 , H3 und H4 jeweils das Zimmer 4 und danach im Hotel H4 die Zimmer 3, 2 und 1 (Zimmer 4 ist dort ja schon leer). Wenn wir also im fünften Schritt sind, so haben wir 42 = 16 Zimmer evakuiert, zu Beginn des sechsten Schritts 52 = 25 Zimmer und so weiter. Jeder Gast kann sich also ausrechnen, in welches Zimmer er kommt. Der Gast im Zimmer 27 des Hotels H34 , dem wir aus Verwaltungsgründen das Paar h34, 27i zugeordnet haben, kommt zum Beispiel in das Zimmer 332 + 34 + (34 - 27) = 1.130. Das ist so, weil das Zimmer im Quadrat 34 liegt, vor dessen Evakuierung also bereits 332 Zimmer zugewiesen wurden; dann werden die Zimmer h34, 1i bis h34, 34i evakuiert, dann die Zimmer h34, 33i bis h34, 28i, und schließlich h34, 27i. Umgekehrt kommt das Paar in Zimmer 34 des Hotels H27 , das wir mit h27, 34i verwalten, in das Zimmer 332 + 27 = 1.116: Wir sind im Quadrat zu 34 in der Spalte h1, 34i, . . . , h34, 34i, haben

101

Unendlich?

also 332 Zimmer belegt und ziehen dann mit dem Zimmer h1, 34i in Zimmer 332 + 1, h2, 34i in Zimmer 332 + 2, usw. schließlich bringen wir diese Gäste aus h27, 34i im Zimmer 1.116 unter. Vielleicht ist das ja die Prinzensuite. Man kann sich sogar eine Formel dafür überlegen: Zimmer j im Hotel Hk hat die Verwaltungsnummer hk, ji, dann kommt der Gast in diesem Zimmer in den Raum (j - 1)2 + k = j2 - 2 · j + k + 1, falls k  j, und in den Raum (k - 1)2 + k + (k - j) = k2 - j, falls k < j ist. Wieso das so ist, kann der Leser nach diesen Vorbereitungen schnell selbst herausfinden. Hilberts Hotel zeigt, dass abzählbar unendlich ganz schön groß ist. Genauer: Haben wir eine abzählbare Familie von Mengen (wie unsere abzählbare Menge von Hotels), die alle abzählbar unendlich sind (in jedes Hotel passen abzählbar unendlich viele Gäste), so ist die Vereinigung dieser Mengen auch wieder abzählbar unendlich (es passen alle Gäste in ein einziges Hotel). Nach dem Abzählschema für Hotels können wir übrigens zeigen, dass alle rationalen Zahlen, also alle Brüche, ebenfalls abzählbar sind. Wenn wir eine rationale Zahl haben, sagen wir, r, so können wir ja p r= q schreiben, wobei p und q keine gemeinsamen Teiler haben (die könnten wir kürzen). Wir bedienen dann unser Hotel-Schema, indem wir r an die Stelle hp, qi schreiben, und – voila! – wir haben ein Schema zur Abzählung aller rationalen Zahlen gefunden. Es gibt aber noch, das sei am Rande angemerkt, einen viel eleganteren Weg: Wenn wir p und q als Dezimalzahl schreiben, so können wir p/q als Zahl zur Basis 11 schreiben, indem wir zunächst die Ziffern von p, dann den Bruchstrich, dann die Ziffern von q aufschreiben. Der Bruchstrich repräsentiert dann die Zahl 10 zur Basis 11. Nehmen wir als Beispiel 2/3, das wir zur Verdeutlichung als Zahl zur Basis 11 schreiben, indem wir einen Index 11 anhängen, so: (2/3)11 . Diese Zahl entspricht der Dezimalzahl (2/3)11 = 2 ⇥ 112 + 10 ⇥ 111 + 3 ⇥ 110 = 355. Wir bilden also diesen Bruch auf die Zahl mit der Dezimaldarstellung 355 ab. Da die Umwandlung zwischen Zahlensystemen eindeutig ist, haben wir damit eine Abzählung gefunden.

4.3.3

War’s das schon?

Haben wir damit den unendlichen Himmel mathematisch in den Griff bekommen, indem wir alles mit dem Maßstab der natürlichen Zahlen messen? Ach, eher nicht; wie gesagt, auch Zwerge haben klein angefangen. So können wir zum Beispiel die reellen Zahlen zwischen 0 und 1 nicht abzählen. Erinnern Sie sich: Die reellen Zahlen sind

102

Die Dreiermenge von Georg Cantor

nicht nur die Brüche, sondern alle Zahlen, die eine unendlich lange Dezimaldarstellung haben, also als 0, c1 c2 c3 c4 . . . mit dezimalen Ziffern c1 , c2 , . . . geschrieben werden können. Cantor hat gezeigt, dass das nicht geht, und das Argument ist so elegant (und wird so häufig verwendet), dass wir es diskutieren. Es zeigt gleichzeitig den Beweis durch Widerspruch als eine beliebte Beweistechnik. Mal sehen. Nehmen wir an, die Menge [0, 1] aller reellen Zahlen zwischen 0 und 1 ist abzählbar; wir stellen diese Zahlen als Dezimalzahlen dar, dann finden wir eine Abzählung 1 2 3

0, c1,1 c1,2 c1,3 c1,4 . . .

(= C1 )

$

0, c2,1 c2,2 c2,3 c2,4 . . .

(= C2 )

0, c3,1 c3,2 c3,3 c3,4 . . .

(= C3 )

$

0, cn,1 cn,2 cn,3 cn,4 . . .

(= Cn )

$ $

... n

... Jede Zahl zwischen 0 und 1 müsste also ihren Platz finden. Gut. Um zum Widerspruch zu kommen, müssten wir eine Zahl finden, die zwar in [0, 1] liegt, die aber nicht in diesem Schema auftauchen kann. Hier hatte Cantor die Idee, sich die Diagonale genau anzusehen, also die Ziffern aus der Diagonalen herzunehmen, ein wenig zu manipulieren und die entstehende Zahl zu untersuchen. Das Schema von oben mit hervorgehobenen Diagonalziffern sieht so aus: 1 2 3

$

$

$

0, c1,1 c1,2 c1,3 c1,4 . . .

(= C1 )

0, c2,1 c2,2 c2,3 c2,4 . . .

(= C2 )

0, c3,1 c3,2 c3,3 c3,4 . . .

(= C3 )

0, cn,1 cn,2 cn,3 cn,4 . . . cn,n . . .

(= Cn )

... n

$

... Daraus konstruieren wir eine Zahl d = 0, d1 d2 d3 . . . Hierbei setzen wir für i 2 N

8 0 ist, also x 2 x-r, x+r ✓ a, b . Ein Intervall der Form ]a, 1] mit a < 1 ist auch offen, man kann aber im Punkt 1 nicht noch nach rechts ein wenig wackeln, weil man sonst die Grundmenge verlassen würde (das wäre so, als ob man in der Scheibenwelt über den Rand der Scheibe springen wollte). Die leere Menge ist offen, denn die Forderung ist leer erfüllt, die Gesamtmenge [0, 1] ist offen, weil wir alles nur relativ zu [0, 1] betrachten, der Durchschnitt endlich vieler offener Mengen ist offen (man konstruiere halt das kleinste Intervall unter den Kandidaten), und die Vereinigung offener Mengen ist offen. Eine Menge, deren Komplement offen ist, heißt abgeschlossen. So ist etwa ein Intervall [a, b], das die Grenzen mit einbezieht, abgeschlossen: Das Komplement [0, 1] \ [a, b] ist gerade [0, a[ [ ]b, 1], und das ist offen in [0, 1]. Die Vereinigung endlich vieler abgeschlossener Mengen F1 , . . . , Fk ist abgeschlossen. Wir sehen uns zum Beweis das Komplement an: [0, 1] \ F1 [ · · · [ Fk = [0, 1] \ F1 \ · · · \ [0, 1] \ Fk , und das ist eine offene Menge, weil der Durchschnitt endlich vieler offener Mengen wieder offen ist; also ist F1 [ · · · [ Fk das Komplement einer offenen Menge, also abgeschlossen. Ganz analog zeigt man mit dem Komplement-Trick, dass der Durchschnitt beliebig vieler abgeschlossener Mengen wieder abgeschlossen ist. Zum Beispiel sind also die Mengen Cn , die wir oben konstruiert haben, abgeschlossen und als Durchschnitt abgeschlossener Mengen wieder abgeschlossen. Damit gilt:

115

*Ein Blick hinter die Kulissen Die Cantor-Menge C ist abgeschlossen.

Wenn wir uns die fraktale Konstruktion von oben (nennen wir sie halt so, klingt bedeutend) noch einmal unter diesem Gesichtspunkt ansehen, so haben wir doch gefunden, dass T (Cn ) = Cn+1 gilt und dass wir die Fixpunktgleichung T (C) = C gefunden haben. Man kann zeigen, dass T abgeschlossene Mengen in abgeschlossene Mengen abbildet, wobei man sich nicht auf solche Mengen beschränken muss, die während der Konstruktion der Cantor-Menge entstehen. Also müssten wir uns mit der Struktur der abgeschlossenen nicht-leeren Mengen befassen, um dem Geheimnis dieser FixpunktKonstruktion auf die Spur zu kommen. Das tun wir jetzt, und um eine griffige Formulierung bei der Hand zu haben, schreiben wir: F := {A ✓ [0, 1] | A ist abgeschlossen und A 6= ;} (der Buchstabe F deutet auf das französische fermé und wird traditionell für abgeschlossene Mengen verwendet). Es erweist sich als nützlich, die leere Menge ; auszuschließen, weil T (;) = ;, was uns nicht besonders weiterhilft. Wir haben damit T :F !F

und was weiter? Na ja, wir müssen jetzt eine passende Struktur für F finden, mit der wir die Fixpunktgleichung erklären können. Dazu überlegen wir uns, dass sich die Mengen Cn der Menge C immer weiter annähern, und zwar in einem anschaulichen Sinne: C1 ◆ C2 ◆ · · · ◆ Cn ◆ Cn+1 ◆ · · · ◆ C. Hier hilft es, wenn man den Begriff der Annäherung präzisiert. Dazu beschreiben wir, wann zwei abgeschlossene Mengen nahe beieinanderliegen. Zuerst schreiben wir dazu den Abstand eines Punktes von einer abgeschlossenen Menge auf, dann rühren wir ein wenig in dem entstehenden Gebräu, um zum Ziel zu kommen. Für den Punkt x 2 [0, 1] und die abgeschlossene Menge A 2 F ist der Abstand x??A der kleinste Abstand, den x von einem Element von A haben kann, also x??A := min | x - y | y2A

So haben wir zum Beispiel 1 ⇥ 1⇤ 1 1 1 1 1 ?? 0, = min -y|0y = - = . 3 4 3 4 3 4 12

Man überlegt sich jetzt, dass x??A = 0 genau dann gilt, wenn x 2 A: Weil nämlich x 2 A an der Minimum-Bildung teilnimmt, folgt, dass x??A für x 2 A den Wert 0 haben muss. Gilt andererseits x??A = 0, so findet man y 2 A mit | x - y | = 0, dann muss x = y sein.

116

Die Dreiermenge von Georg Cantor

Wenn wir eine zweite abgeschlossene Menge B 2 F hinzunehmen, so kommt B der Menge A ziemlich nahe, wenn die Abstände b??A klein sind, während das Element b die Menge B durchläuft. Umgekehrt ist B weit weg von der Menge A, wenn die Abstände b??A für alle b 2 B groß sind. Wir haben damit B in Relation zu A betrachtet, aber das gilt natürlich auch umgekehrt, wenn man sich das Verhältnis von A zu B ansieht. Abstände sind halt symmetrisch. Das haben wir im Sinn, wenn wir die Entfernung der Mengen A und B modellieren durch A??B := max max a??B, max b??A . a2A

b2B

Das sieht schon arg technisch aus, deshalb nehmen wir die Formel noch einmal kurz auseinander: – Der Wert maxa2A a??B gibt den größten Abstand eines Elements von A zur Menge B an, analog für maxb2B b??A, – Wir nehmen den größeren dieser beiden maximalen Abstände, das ist gerade A??B. Na gut, jetzt wissen wir, wie man den Abstand zweier abgeschlossener Teilmengen von [0, 1] berechnet. Und weil es gerade heftig regnet (im Ruhrgebiet sagen wir: „Es plästert“), berechnen wir zur Erholung und Erbauung den Abstand X??Y der Mengen mit X1

X2

z }| { z }| { ⇥1 1⇤ ⇥7 8⇤ X := , [ , , 4 2 9 9 ⇥1 2⇤ Y := , . 3 3

Die folgende Zeichnung hilft bei der Rechnung: X1 1 4

X2 1 2

7 9

8 9

Y 1 3

2 3

Wir berechnen y??X1 und y??X2 für zunächst festgehaltenes y 2 Y (weil gilt y??X = min {y??X1 , y??X2 }, können wir uns das Leben ein wenig einfacher machen): 8

> : Fn-2 + Fn-1 , falls n 2.

5.3.1

Ein Python-Skript

Ein Python-Skript, mit dem man die Zahlen rekursiv berechnet, lässt sich wie folgt formulieren: def fib(a, b, n): if n