Die Diktatur der Philanthropen: Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken 9783035602487, 9783764363857

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Die Diktatur der Philanthropen: Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken
 9783035602487, 9783764363857

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Planung utopischer Gemeinschaften
1. Was ist an einer Idealstadt ideal?
2. Aktualität und Geschichte utopischen Denkens
3. Soziale Kontrolle und geometrischer Stadtgrundriß
4. Licht und Schatten in der „Città del Sole”
5. Von der Idealstadt zum funktionalen Siedlungsmodell
6. Charles Fouriers Neue Liebeswelt
II. Die Utopie wird praktisch
7. Die Versachlichung des Utopischen
8. Postliberale Planung und utopischer Pragmatismus
9. Der Roman sozialistischer Reformpolitik
10. Tony Garniers „Cité industrielle"
11. Utopie als Kriegserklärung
12. Plädoyer für eine demokratische Planungskultur
Anmerkungen
Bibliographie
Bildquellen
Bauwelt Fundamente

Citation preview

Bauwelt Fundamente 110

Herausgegeben von Ulrich Conrads und Peter Neitzke Beirat: Gerd Albers Hansmartin Bruckmann Lucius Burckhardt Gerhard Fehl Herbert Hübner Thomas Sieverts

Gerd de Bruyn Die Diktatur der Philanthropen Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken

3 vieweg

Der Umschlag zeigt vorn das Modell der Trabantenstadt „Lu Jia Zui" von Richard Rogers; auf der Rückseite ist eine symbolische Darstellung der „garantistischen" Stadt eines Schülers von Fourier abgebildet.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme de Bruyn, Gerd: Die Diktatur der Philanthropen: Entwicklung der Stadtplanung aus dem utopischen Denken/ Gerd de Bruyn. - Braunschweig; Wiesbaden: Vieweg, 1996 (Bauwelt-Fundamente; 110) ISBN 3-528-06110-3 NE: GT

Mit der Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn) veröffentlicht Gekürzte Fassung der derTH Darmstadt vorgelegten Dissertation (D 17) Alle Rechte vorbehalten © Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH, Braunschweig/Wiesbaden, 1996 Der Verlag Vieweg ist ein Unternehmen der Bertelsmann Fachinformation GmbH. Umschlagentwurf: Helmut Lortz Satz: ITS Text und Satz GmbH, Herford Druck und buchbinderische Verarbeitung: Langelüddecke, Braunschweig Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany

ISBN 3-528-06110-3

ISSN 0522-5094

Inhalt

Einleitung

7

I. Planung utopischer Gemeinschaften 1. Was ist an einer Idealstadt ideal? Revolutionsarchitektur

17 24

2. Aktualität und Geschichte utopischen Denkens Der Intellektuelle und die Utopie

34 48

3. Soziale Kontrolle und geometrischer Stadtgrundriß Die Utopie des Thomas Morus

52 61

4. Licht und Schatten in der „Città del Sole" Campanellas Verbot der Intimität

71 74

5. Von der Idealstadt zum funktionalen Siedlungsmodell Etienne Cabet: Reise nach Ikarien

85 88

6. Charles Fouriers Neue Liebeswelt Sexualität in Utopia Das Phalansterium

103 109 116

II. Die Utopie wird praktisch 7. Die Versachlichung des Utopischen Alltag und Sektierertum Die Utopie des Friedrich Engels Marx und die Ernüchterung

133 137 147 151

8. Postliberale Planung und utopischer Pragmatismus Die Gartenstadt Die lineare Stadt

160 171 175 5

9. Der Roman sozialistischer Reformpolitik Emile Zola: „Travail"

182 187

10. Tony Garniers „Cité industrielle" Reform von oben Rationalisierung der Planung Die Herrschafi der Uhren

203 206 211 226

11. Utopie als Kriegserklärung Le Corbusier Die Charta von Athen Warschau

233 234 243 251

12. Plädoyer für eine demokratische Planungskultur

259

Max Frischs „neue Utopie"

263

Anmerkungen

275

Bibliographie

298

Bildquellen

315

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Einleitung

D i e vorliegende Arbeit ist konzipiert als ein Beitrag zur Geistesgeschichte der modernen Stadtplanung. Im Z e n t r u m meiner Argumentation steht die historische Entwicklung derjenigen Inhalte, Wert- und Zielvorstellungen planerischen D e n k e n s und Handelns, die sämtlich in die M o d e r n e eingegangen sind und von ihr aufgezehrt werden. Ihren Auftakt erlebte diese Entwicklung in der Renaissance. D a m a l s wurde der Entwurf neuer Städte und Gesellschaftsordnungen nicht voneinander getrennt, sondern als eine „Wissenschaft" begriffen, die sich aus der Fülle der Erkenntnisse zusammensetzte, die einzelnen humanistischen Gelehrten und universell gebildeten Architekten zu G e b o t e standen. D o c h wuchs und gedieh das m o d e r n e okzidentale Planungswissen nicht nur auf d e m breiten F u n d a m e n t humanistischer Bildung, es war außerdem das Produkt jenes kritisch-utopischen Denkens, das a u f der Schwelle zur bürgerlichen Gesellschaft den intellektuellen Aufstand gegen eine Welt zunehmender sozialer Kälte probte und sich d e m Entwurf „glücklicher G e m e i n s c h a f t e n " widmete. Mit d e m Versuch, die sozialen Beziehungen der Menschen neu zu ordnen, bildeten die Planungsideen der H u m a n i s t e n eine Vorstufe der Soziologie, der es von Anbeginn an u m die rationale G e staltung gesellschaftlicher Entwicklung ging. Entsprechend ist die Geistesgeschichte der Stadtplanung zugleich eine Geschichte des utopischen und des frühen soziologischen Denkens. Ein kritisch gegen die herrschenden Lebensverhältnisse gewendetes, zu phantasievollen Bildern eines gerechteren Daseins konkretisiertes, sozialphilosophisch fundiertes Wissen stand an der W i e g e einer Disziplin, in der sich über Jahrhunderte hinweg die Sphären des Sozialen und Räumlichen in einer Art miteinander verschränkten, die k a u m mehr etwas mit dem heute vorherrschenden pragmatischen Verständnis von Stadt- und Regionalplanung gemein hat. In der zweiten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts begannen einzelne Vertreter der mit städtebaulichen Fragen befaßten Berufszweige, solche Inhalte aus der S t a d t p l a n u n g zu eliminieren, die deren fachwissenschaftlicher Q u a l i f i z i e r u n g im Wege standen. Mit Hilfe dieses R a u b b a u s wurde der Städtebau allmählich zu einem eigenständigen Fachgebiet, das sich von Architektur, Ingenieur-

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wesen, Denkmalpflege, Sozial- und Gesundheitspolitik unterscheiden ließ. Der imposante Wissenshorizont, der einst das Planen umfing, konnte freilich nur um den Preis seiner gesellschaftskritischen, soziologischen und utopischen Aspekte zu einer an Hochschulen lehrbaren, auf die Aufgabenstellungen der staatlichen und kommunalen Bauverwaltungen zurechtgestutzten Fachdisziplin instrumentalisiert werden. Zu dieser Entwicklung trug eine den Praxiszwängen bereitwillig nachgebende, ihr eigenes Reflexions- und Theoriebedürfnis geringschätzende Berufsauffassung bei, die gern auf die „Zumutung" verzichtete, in städtebaulichen Maßnahmen die Veränderung der sozialen Verhältnisse mitdenken zu müssen. Dieser Umstand und die Tatsache, daß die wissenschaftlichen Vertreter der Stadtplanung von Anfang an wenig Interesse daran zeigten, die intellektuellen Traditionen ihres Lehrgebietes wachzuhalten, brachten es mit sich, daß im heutigen Fach Städtebau historisches Bewußtsein und geistesgeschichtliches Räsonnement als reiner Luxus gelten. Vom überflüssigen Ballast kritisch-reflexiven Denkens wollte man eine aufstrebende Wissenschaft, in der sich künstlerische Ambitionen mit großem Realitätssinn paaren sollten, so rasch wie möglich befreien. 1 Dies fiel um so leichter, als es auch außerhalb der Disziplin kaum nennenswerte Versuche gab, eine Geistesgeschichte der modernen Planung zu entwerfen. Wohl könnte das große Vorbild einer solchen Arbeit, die sich schwerpunktmäßig mit der Entwicklung sozialräumlicher Utopien zu beschäftigen hätte, Ernst Bloch heißen, würden nicht die sozialen und architektonischen Träume, die in „Das Prinzip Hoffnung" (1959) zum Thema gemacht werden, von einem rigiden interpretatorischen Schematismus beherrscht, der eher das starre Weltbild des Autors enthüllt, als die Gegenstände seiner Untersuchung zu erhellen. Bloch orientierte sein eigenes Denken dicht am Utopischen und versuchte schließlich, beides vor dem Verdacht des Autoritären zu retten, indem er mit der Unterscheidung von Freiheits- und Ordnungsutopien ignorierte, daß letztlich alles Planen Ausdruck eines Herrschaftswillens ist, der in den Utopien allenfalls maskiert auftritt. Der Hoffnungsphilosoph, der die Moskauer Prozesse als Aufbruch in eine schönere Zukunft gefeiert hatte, war durch die eigene, bis in die fünfziger Jahre hinein geltende Option für den Stalinismus viel zu sehr mit Blindheit geschlagen, um zwischen Freiheit und Ordnung differenzieren zu können. Er war dazu so wenig in der Lage wie Thomas Morus, Campanella und die vielen Utopisten nach ihnen, die keine freiheitlichen, sondern von Hunger und Not befreite Gesellschaften entwerfen wollten, denen sie ein von Grund auf neues soziales und städtebauliches Gewand auf den Leib zu schneidern trachteten. Nicht so sehr sollten bestehende Ordnungszwänge gelockert, als 8

vielmehr die als chaotisch empfundenen Lebensverhältnisse in eine neue, nach strengen Vernunftsregeln konstruierte Form gegossen werden. Doch wie bei der Betrachtung eines minuziös von Menschenaufläufen und Kampfgetiimmel erzählenden Gemäldes die völlige Abwesenheit von Bewegung, Lärm und Stimmen nur um so deutlicher auffällt, so erfriert alles Lebendige gerade in solchen Ordnungsvorstellungen, die ein möglichst detailliert gestaltetes, konkretes Abbild der neuen Gesellschaft und der neuen Stadt geben wollten. Daß sich das „glückliche Leben" mit Hilfe eines konkreten Bildes einfangen und wiedergeben läßt, ist der Mythos, in den das utopische Denken sich stets aufs Neue verstrickt, wenn es uns die Welt, die verändert werden soll, als bereits veränderte vor Augen führen möchte. Der Logos des utopischen Denkens beweist sich bei der Konstruktion dieser Bilder, beim Entwurf idealer Staaten und Städte, die in einzelnen Aspekten oft erstaunliche Vernunft beweisen, im Ganzen hingegen, als Darstellungen vollständiger, in sich geschlossener Welten, irrational sind. Geht auch das Glücksversprechen der Utopien in der ausgemalten Totalität „besserer Welten" unter und verkehrt sich dort in sein Gegenteil, arbeiten andererseits die zum Scheitern verurteilten Versuche, das menschliche Zusammenleben in seiner Gesamtheit neu zu ordnen, ehrgeizig dem Experiment zu, den Traum von sozialer Gerechtigkeit in die Alltagspraxis zu überführen. Das in seiner Totalität und seinem Detailreichtum falsche Abbild des Utopischen bildet eine unersetzliche, gleichwohl stark einsturzgefährdete Brücke, die utopische Theorie und Praxis miteinander verbindet. Allein fragmentiert bleiben sich die in Bildern konkretisierten Menschheitsträume treu, wenn der Blick auf sie fällt wie auf die Bruchstücke eines zerstörten Freskogemäldes, dessen blasse Farben auf verwitterter Wand aufleuchten. Doch als Fragmente, in denen das Utopische anzuschauen ist, setzen sie ja das „falsche" Ganze ausfabulierter Sozialutopien und durchgestalteter Idealstädte notwendig voraus. Sprechen die Utopien zu uns von einzelnen Ideen, Innovationen und Reformen, durch die sich mehr Solidarität, Gerechtigkeit und größere Toleranz in Glaubensfragen etc. herstellen ließe, so vernehmen wir oft genug die Stimme der humanen Vernunft. Sie verbirgt sich überdies noch hinter so manchen aberwitzigen Vorstellungen über wissenschaftliche, technische und medizinische Fortschritte, mit denen die Utopisten sich der Lächerlichkeit preisgaben und dennoch oft genug recht behielten. In scheinbar konsistenten Systemen zusammengeschlossen, laufen aber die Gedanken der Utopisten am Ende immer wieder nur auf höheren Unsinn und tiefgreifende Zwänge hinaus. Letzterer wird man gewahr, wenn einem die gesamte mathematisch9

regelhafte und lebensfeindliche Ordnungsstruktur sozialräumlicher Utopien in den Blick gerät. D o c h springt den Leser das Zwanghafte oft genug auch in einzelnen Reformvorschlägen an, lugt fratzenhaft durch die Löcher des durch lange Jahrhunderte verschlissenen Mantels christlicher Nächstenliebe, den die U t o p i e n sich umgeworfen haben, und mischt sich in Gestalt drakonischer Strafen für leichte Vergehen oder in Form strenger Reglements für intime Lebensvollzüge zwischen all das Gutgemeinte. D i e Schwarz-WeißZ e i c h n u n g in Blochs Text spricht eine ähnlich gewalttätige und zugleich verstellte Sprache, wie sie den Utopisten seit jeher geläufig ist. Größte Vorsicht ist d a r u m gegenüber Autoren am Platz, die verdächtig sind, wie der böse Wolf im Märchen Kreide gefressen zu haben, damit die Menschen hinter lockenden Versprechungen nicht die wahre Absicht der Texte, ihre E n t m ü n digung, gewahren. D i e vorliegende Arbeit, die den Versuch einer nüchternen Kritik utopischen Planens unternimmt, gliedert sich in zwei Teile, die unter dem Titel „ P l a n u n g utopischer G e m e i n s c h a f t e n " und „ D i e Utopie wird praktisch" je sechs Kapitel aufweisen. In ihnen wird ein historischer Bogen von den Idealstadtentwürfen der H u m a n i s t e n bis hin zu den stadtutopischen Vorstellungen unseres Jahrhunderts gespannt. D i e genannten Titel machen auf die beiden Eigenschaften sozialräumlicher U t o p i e n aufmerksam, die seit ihrem ersten Auftreten nachweisbar sind, indessen mit unterschiedlicher Gewichtung. Im Z e n t r u m desjenigen utopischen Denkens, das sich im L a u f e meiner Argumentation als das „alte" herausstellt, dominiert die Planung utopischer Gemeinschaften bzw. der Versuch, das menschliche Glücksverlangen in sozialphilosophisch ausfabulierten sowie städtebaulich und architektonisch durchgestalteten Lebensverhältnissen zur Anschauung zu bringen. Im Kern solcher Initiativen hingegen, die das Praktischwerden der Utopien befördern, keimt ganz allmählich der G e d a n k e , die im Bild idealer Gemeinschaften und idealer Städte erstarrten Visionen einer gerechten Welt in Gestalt flexibler Planungsprozesse zu verflüssigen, mit denen Spielräume für nicht prognostizierbare Entwicklungen eröffnet und zuguterletzt die bevormundeten Opfer der alten Utopien zu den selbstbewußten Subjekten künftiger Planungen emanzipiert werden sollen. D a s alte utopische Denken schuf die Diktatur der Philanthropen, die seit Jahrhunderten zur schier uneinnehmbaren Festung wurde; das neue utopische Denken läuft hiergegen erst seit wenigen Jahrzehnten S t u r m , und es läßt sich noch lange nicht absehen, wer in dieser Auseinandersetzung obsiegen, wer unterliegen wird. D i e beiden ersten Kapitel lassen sich als Einleitungen in zentrale Motive des utopischen D e n k e n s lesen, dessen architektonische Ergebnisse im ersten

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u n d sozialphilosophische Verlautbarungen im zweiten Kapitel T h e m a sind. Von der Unwirtlichkeit schlüsselfertig geplanter Trabantenstädte u n d Großwohnanlagen ausgehend, werden gezielte Streifzüge in die Geschichte der Idealstadt- u n d Idealstaatplanung u n t e r n o m m e n . Sie sollen verdeutlichen, daß die Utopisten ihr spezielles Glück darin fanden, die Harmonie der Gemeinschaften, die sie konstruierten, mit strengen Reglements zu stören. Wohl stehen diesen herrliche Versprechungen gegenüber: nur wenige Stunden Arbeit am Tag, sexuelle Freuden, eine robuste Gesundheit und verlängerte Lebenszeit und was dergleichen Dinge mehr sind, indes wurde dies alles in Unkenntnis des dazu erforderlichen Niveaus der Produktivkräfte formuliert. Man glaubte, es genüge das erlösende Wort der Mächtigen der Welt, und die utopischen Wunschträume würden wahr werden. Den starken Arm zu suchen, der durchsetzt, was das utopische Denken befiehlt, war allerdings eine trostlose, zuweilen gar selbstmörderische Angelegenheit. 2 Trotz der Rückschläge, die sie hinnehmen mußten, fühlten sich die utopischen Sozialisten der Erfüllung ihrer Träume nahe. Entsprechend statteten sie ihre Z u k u n f t s p r o g r a m m e mit genauen Handlungsanweisungen aus, die sich ebenso auf architektonische wie auf soziale Fragen bezogen. Cabet schilderte mit Ikara die erste bis in die Wohnungseinrichtungen hinein detailliert entworfene Industriemetropole, die sich bei näherem Hinschauen als eine überdimensionierte Gartenstadt entpuppt. Fourier konzentrierte sich statt dessen auf die Konzeption einer multifunktionalen Gemeinschaftsarchitektur, in der die Abschaffung der Stadt in dem Maße beschlossen ist, indem das Phalanstère selbst schon eine kleine Stadt imitiert. Der antistädtische, zivilisationsfeindliche Zug des utopischen Denkens, den Fourier selbst auf die Spitze trieb, schien ihn gleichwohl als ein großes Problem zu beschäftigen und ebenso die Tatsache, daß die Utopien die Forderung des Einzelnen nach Selbstbes t i m m u n g stets unterdrücken halfen und einen Begriff von sozialer Solidarität und räumlicher Umwelt entwickelten, der den Mitgliedern utopischer Gemeinschaften „das große Opfer der individuellen Bewegungsfreiheit" (Plessner 1972 S. 53) abverlangt. Campanella hatte dieses Problem auf höchst erschreckende Weise gelöst, indem er seinen Sonnenstadtbürgern die unterscheidenden Körpermerkmale und Charaktereigenschaften genetisch austreiben und zum Ersatz die „Civitas" zur Individualität verbürgenden „Signoria" verklären wollte. Fourier verspürte demgegenüber wenig Lust dazu, solidarisches Handeln in Art der „Widerspenstigen Z ä h m u n g " durchzusetzen. Leichtfertig setzte er individuelles mit solidarischem H a n d e l n gleich, sofern beides sich im Rahmen jenes komplexen Handlungssystems verwirkliche, das er aus der „harmonischen Gravitation" 11

sämtlicher menschlicher Neigungen und Eigenarten abgeleitet hatte. Mit der Architektur der „neuen Liebeswelt", die das Ordnungsstreben der Utopisten auf den Gipfel der Absurdität führte und von dort einen faszinierenden Blick aufs Panorama der Moderne freigab, schließt der erste Teil einer Arbeit, die vom Mißlingen utopischer Planungen und von der grandiosen Selbstüberschätzung ihrer Urheber erzählt. Utopien wollten von Anfang an praktisch werden, doch gelang es ihnen nicht. Weder war mit aufgeschlossenen Monarchen, noch mit Pariser Bankiers die Welt zu verändern. Als sich jedoch in Städten wie Manchester und Lyon die neue Klasse des Industrieproletariats formierte und das utopische Denken in den Sog der Arbeiterbewegung geriet, eröffneten sich Chancen seiner Realisierung. Zuvor hatten schon einige der nach Nordamerika ausgewanderten protestantischen Sekten vereinzelt die Probe auf die Gütergemeinschaft gemacht und, wie Engels beschreibt, großen materiellen Gewinn davongetragen. Im siebten Kapitel ist hiervon die Rede u n d davon, daß im Marxschen Denken sich eine bedeutsame Korrektur des Planungswillens der utopischen Sozialisten anbahnte. Von nun an sind diese und ihre Vorläufer als die Protagonisten des alten utopischen Denkens charakterisierbar. Z u m neuen Motiv utopischer Reflexion entwickelte sich die Forderung, daß die unterdrückte Menschheit selbst über sich zu bestimmen habe. Marx erklärte, erst m ü ß t e n die O p f e r sozialpaternalistischer Bevormundung sich zu den Akteuren einer radikalen Umwälzung der herrschenden Lebensverhältnisse emanzipieren, damit die Utopie einer gerechten Welt Wirklichkeit werden könne. Konzentrierte das alte utopische Denken sich auf die Aufgabe, was alles auf der Welt verbessert werden m u ß und wie, widmete sich das neue utopische Denken primär der Frage, wer diese Veränderung herbeizuführen imstande ist u n d wann. Durch die Erfolge der Arbeiterbewegung beeindruckt, wollten die Verfasser sozialräumlicher Utopien ihre Ideen nicht länger nur aufgeschlossenen Mäzenen feilbieten, sondern begannen Verbündete auch unter den führenden Arbeiterfunktionären zu suchen. Zola hat in seinem Roman „Travail" (1901) diese Suche in Form eines Klassenkompromisses beschrieben, bei dem ein Vertreter des Kapitals, der technischen Intelligenz und der kommunistisch gesinnten Arbeiterschaft sich zum gemeinsamen Handeln zusammenfinden. Die als Fortsetzungsroman konzipierte Erzählung Zolas, in der die planvolle Entwicklung der neuen Industriestadt „Beauclair" als ein von den Ideen Fouriers inspiriertes Reformprojekt geschildert wird, ist T h e m a des neunten Kapitels. Liest sich auch „Travail" stellenweise wie ein in kitschige Farben getauchter Liebesroman, kann man darin ebensogut ein etwas allzu dick 12

geratenes H a n d b u c h für anarchosyndikalistische Selbsthilfeprojekte sehen. Im ganzen gesehen bildet freilich der emanzipatorische G e d a n k e der Siedler-Selbsthilfe erst nur den zurückhaltenden Basso continuo zur Festouvertüre jenes Planerehrgeizes, der die Hauptperson des R o m a n s charakterisiert. An deren bewundernswertem Tatendrang orientiert sich Zolas Erzählkunst weit mehr als am selbstbestimmten Handeln der Arbeiter Beauclairs. Mit den Ausführungen zu Tony Garnier schließt sich der Kreis einer Argumentation, die gleich im ersten Kapitel mit dessen „ C i t é industrielle" eine entscheidende Wegmarke der Genese moderner Stadtplanung präsentiert. D u r c h Garniers Planung erlebte die Diktatur der Philanthropen in der M o derne ihren ersten städtebaulichen H ö h e p u n k t . Nicht der freiwillige Schulterschluß zwischen utopischen Sozialisten, reformfreudigen Unternehmern und aufbegehrenden Arbeitern hatte, wie Zola dies wünschte, das Praktischwerden der U t o p i e im großen Maßstab ermöglicht, sondern die Z u s a m m e n arbeit des sozialistischen Bürgermeisters von Lyon mit einem politisch gleichgesinnten Architekten von großer visionärer Begabung. Es blieb nicht bei diesem Einzelfall, den die Kooperation von Edouard Herriot und Tony G a r nier beschreibt, doch gilt es festzuhalten, daß die Planungspraxis der „roten K o m m u n e n " nichts daran änderte, daß die Masse der Stadtbevölkerung weiterhin Objekt dressierender Verwaltungsakte blieb. Was sich unter sozialdemokratischer Politik veränderte, das war die großzügigere und planmäßigere Versorgung der Städte mit Arbeiterwohnungen, Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, öffentlichen Verkehrsmitteln und Grünanlagen. Eine um diese Funktionen angereicherte, nach den Rationalitätskriterien der industriellen Produktion durchstrukturierte Planung fand in der „ C i t é industrielle" ihre bis dahin anschaulichste und umfassendste Darstellung. W i e sehr von hier aus, vom Ideal der zonierten, funktional entmischten und durchgrünten Stadt, Signale für die moderne Planung ausgegangen sind, legt das vorletzte Kapitel dar, in dessen Mittelpunkt die „ C h a r t a von A t h e n " steht. Es wird zu erklären versucht, daß es einen inneren Z u s a m m e n h a n g gab zwischen der in der modernen Stadtplanung sedimentierten Zivilisationsfeindschaft utopischen D e n k e n s und der Generalprobe, die das Dritte Reich und der von ihm angezettelte Weltkrieg auf den Untergang des A b e n d landes machten. Mit der Vernichtung der Kulturzeugnisse der Vergangenheit sah die M o d e r n e ihre Stunde g e k o m m e n : D i e B o m b e n hatten Tabula rasa gemacht mit der alten Stadt, hatten sie ausradiert wie zuvor schon die zeichnenden Utopisten. In der H o f f n u n g auf die N e u e Stadt, die wie ein Phönix aus der Asche entstehen sollte, verwischte sich die Trennlinie zwischen denjenigen Planern, die zu den Kriegstätern, und denen, die zu den Kriegsopfern 13

zählten. Als jedoch die ersten Ergebnisse einer hastig vollzogenen Wiederaufbauarbeit zu besichtigen waren, setzte mit der Kritik an verpaßten Chancen zugleich auch eine Diskussion über die Demokratisierung der Planung ein, die erstmals in den zwanziger Jahren auf breiterer Ebene geführt worden war. Z u m wortgewaltigsten Verfechter radikaler Planungsdemokratie schwang sich der Architekt und Schriftsteller Max Frisch auf. In ihm fand das neue utopische Denken, der Kampf gegen Planerhochmut und autoritärer Philanthropie, einen engagierten Anwalt. Die aktualisierende Erinnerung an Frischs Bemühungen beendet den Versuch, trotz einer die engen Fachgrenzen des Städtebaus überschreitenden Darstellung nicht nur Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler anzusprechen, sondern ebenso praxisorientierte Stadtplaner, die ihren Aufgaben selbstkritisch nachgehen. Ihr gegen eingefahrene Denkgewohnheiten aufbegehrendes H a n deln soll mit brauchbaren Argumenten untermauert werden. Immerhin k ä m p f t ja der „kritische Planer" gegen zwei Fronten, gegen eine innere und eine äußere. Letztere wird von all denen gebildet, die städtebauliche Planungsprobleme stets in spektakuläre Bauprogramme umzudeuten suchen u n d insgesamt die Stadt mit einer grandiosen Architekturaufgabe verwechseln, die gesellschaftstheoretische Reflexionen oder Beteiligungswünsche von seiten der Bürgerschaft als äußerst hinderlich ansieht. Die andere Abwehrfront gegen ein kritisches Planungsverständnis erstarkt in den ambitionierten Planern selbst mit jeder Niederlage, die sie im Kampf um nicht marktgängige Projekte u n d experimentierfreudige Planungsprozesse in einer Zeit einstecken müssen, in der die öffentliche H a n d rapide an Geld und Einfluß verliert. Mit dem Trend einer ,Architekturisierung" des Städtebaus und mit den leeren Stadtkassen schwindet auch die innere Bereitschaft der Planer, sich auf Dauer einer vom Druck der Verhältnisse diktierten Planungspraxis zu widersetzen. Parallel hierzu wächst die Gefahr, daß das alte utopische Denken in Gestalt neuer Großplanungen in einer Weise Fuß faßt, bei der die gesellschaftskritische Motivation, von der ein Garnier noch ganz erfüllt war, völlig in den Hintergrund gerät. Auf den nächsten Seiten wird hiervon die Rede sein und deutlich werden, was die aktuellen Beweggründe waren, die zu dieser Arbeit führten.

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I. Planung utopischer Gemeinschaften

Richard Rogers' Plan der Trabantenstadt „Lu Jia Zui" (unten; siehe auch Umschlag) weist verblüffende Ähnlichkeit mit Ebenezer Howards Diagramm der vernetzten Gartenstädte (rechts) auf

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1. Was ist an einer Idealstadt ideal?

Der englische Architekt Richard Rogers hat in einem Interview, das im März 1993 abgedruckt wurde, den spektakulären Auftrag, eine neue, Shanghai benachbarte Trabantenstadt für 500.000 Einwohner zu planen, mit den lapidaren Worten kommentiert: „Uns erwartet eine phantastische Aufgabe." (Rogers 1993 S. 182) Natürlich ist man angesichts eines solch gigantischen Bauvorhabens durchaus interessiert zu erfahren, was denn dieser zweifellos herausragende Entwerfer unter „phantastisch" versteht. Müßte ein verantwortungsvoller Planer nicht eher erschrecken vor dieser unglaublichen Zumutung, in einem Stück einen kompletten Stadtgrundriß für eine halbe Million Menschen zu entwerfen, die zudem noch einer anderen Kultur angehören, und müßte er darum nicht besser von einer eher unlösbaren, von vornherein falsch gestellten Planungsaufgabe sprechen? Rogers wurde von solchen handlungshemmenden Skrupeln offensichtlich nicht geplagt, statt dessen legte er einen städtebaulichen Entwurf vor, der mit seiner strengen formalen Durchbildung das Leben in „Lu Jia Zui", so lautet der Name der neuen Stadt, dereinst deutlich prägen könnte. Vorgesehen ist für den künftigen Trabanten Shanghais ein kreisrunder Grundriß, dessen Zentrum von einem großen Park gebildet wird. Beide Elemente legen den Vergleich mit Ebenezer Howards Gartenstadtkonzept recht nahe. Doch handelt es sich bei den wenigen Zeichnungen, die der ehemalige Parlamentsstenograph seinem Buch „Garden Cities of Tomorrow" beisteuerte, keineswegs um prototypische Idealstadtentwürfe, sondern ausdrücklich um „diagrams only", (vgl. Howard 1968 S. 60/61) Diese sollten nur ganz allgemeine Aussagen über die Gliederung der Gartenstadt treffen, über funktionale Zuordnungen, Standortbestimmungen und Infrastrukturen. Gleichwohl scheinen die Planer von Letchworth, der ersten realisierten englischen Gartenstadt, von der Kreisform des Howardschen Diagramms beeinflußt worden zu sein, (vgl. Posener 1968 S. 39) Nahmen sie dennoch auf die gegebene Topographie Rücksicht, ist hiervon im Entwurf für „Lu Jia Zui" nichts zu spüren. Hier setzt sich das formale Interesse des Architekten rücksichtslos durch; und dies, obwohl doch Rogers, der sich selbst einen Sozialisten nennt, mit seiner 17

städtebaulichen Konzeption auch eine soziale Vision verbinden wollte. Hinter dem Entwurf der chinesischen Stadt stehe, wie er in merkwürdiger Opposition zu seiner Faszination für blühende Wirtschaftsstandorte behauptet, „die Idee einer Gesellschaft, in der es nicht vorrangig um kapitalistische Interessen, um die dominierende Rolle des Geldes geht." 3 (Rogers 1993 S. 185) Dies zeige sich in der Vermeidung jeder Ghettoisierung, wovor die zukünftigen Bewohner durch eine gleichmäßige Verteilung verschieden hoher Bebauung, durch die O p t i m i e r u n g des Nahverkehrssystems und die Zentralisierung des Urbanen Freizeitraumes bewahrt werden sollen. Das „utopische" M o m e n t in der Planung für „Lu Jia Zui" besteht in der Illusion einer weitgehend sozial befriedeten kapitalistischen Gesellschaft, die der destruktiven Macht des Geldes optimistisch zu widerstehen vermag. In der neuen chinesischen Stadt sollen keine gesellschaftlichen G r u p p e n ausgrenzbar sein oder sich selbst absondern dürfen. Dies setzt freilich eine kollektive Solidarität voraus, die der Städtebauer mit seinem Entwurf nicht real erzwingen, sondern allenfalls bildhaft umschreiben kann. Rogers wählte d a r u m als formales Äquivalent für seine Idee einer einträchtig lebenden Stadtgemeinschaft einen zur idealen Kreissymmetrie vereinheitlichten Stadtgrundriß. Es ist zu vermuten, daß er genau dies, die Stiftung einer symbolischen Korrespondenz von Städtebau und Gesellschaftsmodell, neben der verführerischen Tatsache, daß die neue Stadt in großartigen Dimensionen realisiert werden soll, für das eigentlich Phantastische seiner Entwurfsaufgabe gehalten hat. Wie aber werden die Menschen leben in einer solchen Stadt, die keine geschichtlichen Spuren aufweist, keine kollektiven Erfahrungen in sich birgt, die nicht zu einer bestimmten Größe, Wirtschaftskraft u n d Bevölkerungszahl über Jahrzehnte hinweg reifen darf, sondern in verhältnismäßig kurzer Zeit schlüsselfertig auf die grüne Wiese gestellt werden soll? Hinweise hierauf finden wir leicht in den vielen New Towns, Trabantenstädten u n d Großsiedlungen, die in Europa insbesondere in den sechziger und siebziger Jahren entstanden. Suchen wir die Antwort allerdings in einer ähnlich großen Stadt wie „Lu Jia Zui", in der die von Rogers intendierte Versöhnung von Sozialutopie u n d städtebaulichem Planungsmodell vor vielen Jahren schon angestrebt wurde, so führt uns die Spur nach Brasilia. Auch Brasilia ist in vielerlei Hinsicht eine „synthetische Stadt". Dies beweist allein schon der O r t ihrer Gründung: ein damals noch völlig unbesiedeltes Gebiet, das laut Vilém Flusser, dem brasilianischen Philosophen, aus dem riesigen südamerikanischen Staat nach dem Motto herausgedeutet wurde: „Man finde die geometrische Mitte des Landes. Man mache sie zum geo18

politischen Z e n t r u m . Und man verachte dabei alle wirtschaftlichen, sozialen, ethnologischen u n d politischen Nebenumstände." (Flusser 1993 S. 87) H i n ter dieser geradezu „planetarischen Kühnheit" stand eine gewaltige Vision: Politiker und Planer hofften, die großen sozialen und kulturellen Unterschiede der brasilianischen Gesellschaft - den Gegensatz zwischen dem verarmten Nordosten u n d dem wohlhabenden Südosten - in der neuen, für 600.000 Einwohner entworfenen Stadt paradigmatisch ausgleichen zu können. Von hier aus sollte für das gesamte Land eine moderne nationale Identität gew o n n e n werden und ein neuer wirtschaftlicher Impuls ausgehen. Ganz ähnlich, wie dies für „Lu Jia Zui" geplant ist, sollte auch in Brasilia die Stadtgemeinde einen möglichst einheitlichen, vollständig integrierten sozialen Körper bilden. Oscar Niemeyer, der für Brasilia alle wichtigen öffentlichen Gebäude - u.a. den Obersten Gerichtshof, den Präsidentenpalast, die Ministerien sowie den „Platz der Drei Gewalten" - entwarf, hat in diesem Sinn das serielle Schema des Stadtplans hervorgehoben als eines, „das soziale Unterschiede vermeidet und eine würdige Lebensweise ermöglicht." (Niemeyer 1982 S. 38) Außerdem betont er in seinen Erfahrungsberichten zur Entstehungsgeschichte von Brasilia, daß schon die Erbauer der Stadt, die ihre ersten Siedler waren, „wie eine große Familie ohne Vorurteile und Unterschiede" zu leben versuchten, (vgl. Niemeyer 1982 S. 55) In hohem M a ß e stilisiert wirkt der Stadtgrundriß Brasilias, der sich nur oberflächlich auf topologische Gegebenheiten bezieht u n d überhaupt nicht auf spezifisch wirtschaftliche und funktionale Bedürfnisse. Er wurde 1957 von Lucio Costa in Art eines windschnittigen Flugzeugs als eine Allegorie des Fortschritts konzipiert. Der „Flugzeugrumpf' wird in diesem Plan von einer monumentalen Achse gebildet, gesäumt von den Bauten der Ministerien u n d betont durch den „Platz der drei Gewalten" mit dem Präsidentenpalast, dem Obersten Gerichtshof und der Nationalversammlung. Die „Tragflächen" wiederum reihen in strenger Rasterstruktur Hochhäuser und W o h n b a u t e n aneinander. Der Schnittpunkt beider Achsen ist dem Verkehr gewidmet: hier befindet sich der mehrgeschossige Busbahnhof, um den sich das Geschäfts- und Kulturzentrum Brasilias gruppiert. Dieses Planungskonzept schien in seiner funktionalen Aufteilung, in seiner den Fortschritt symbolisierenden Gestalt und bestückt mit Niemeyers expressiven Architekturentwürfen derart dem Bild zu entsprechen, das sich die verantwortlichen Politiker von der neuen brasilianischen Gesellschaft machen wollten, daß die im Bau befindliche Stadt schon 1960 offiziell zum neuen Sitz der Regierung erklärt wurde.

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Es wurde die Frage gestellt, wie es sich denn in einer solchen Stadt leben läßt, u n d Vilém Flusser, der das heroische M o m e n t an der Planung Brasilias durchaus bewundert, antwortet: „Übermenschlich menschenverachtend ist diese Stadt." (Flusser 1993 S. 85) Haben Intellektuelle in der Vergangenheit oft genug mit dubiosen Gesellschaftsmodellen die Menschheit neu erschaffen wollen, sei ihm der Gedanke an eine „Gesellschaft der Versuchskaninchen" höchst suspekt. U n d offenbar ebenso den Bewohnern Brasilias, die sich durch die Ästhetik ihrer Stadt, welche die abstrakt-utopische Forderung nach dem „neuen Menschen" zu symbolisieren trachtet, in ihren konkreten Bedürfnissen mißverstanden u n d überfordert fühlen. Flusser beschrieb bereits 1970 das Resultat dieses Auseinanderklaffens von planerischem Anspruch und gelebter Wirklichkeit recht plastisch mit Blick auf die schon erwähnte M o n u m e n talachse, die zusammen mit dem „Platz der Drei Gewalten" den öffentlichen Raum von Brasilia repräsentiert: „Vor dem prophetischen Auge erscheint diese Achse voll tobender Menschen des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts oder voll von Marsbewohnern (riesenhaften goldenen Ameisen). Vorläufig ist sie jedoch menschenleer." (Flusser 1993 S. 92) Wo aber findet denn das bunte südländische Treiben statt, wenn es erst gar nicht den Versuch u n t e r n o m m e n hat, an Brasilias monumentaler Inszenierung des öffentlichen Lebens teilzunehmen? In welchen Bezirken sucht es statt dessen Schutz und Aufnahme? Flusser spricht in diesem Z u s a m m e n h a n g von einer anderen, „unvorhergesehenen Stadt", die sich in der Nähe Brasilias spontan gebildet hat: eine „Freie Stadt (Cidade Livre), ein Wildwest mit Händlern und Trödlern, Bordellen und Tanzlokalen, Holzhütten u n d Erdstraßen, Elend und Krankheit und Tanz und Gesang, mit Kirchen und Negerzauber. (...) Es ist eine Menschenstadt, und es ist kein weiteres Wort über sie zu verlieren." (Flusser 1993 S. 86) Offensichtlich sind die dort wild siedelnden Menschen von einer Planungspraxis in die Flucht geschlagen worden, die glaubte, von den besten Absichten geleitet zu sein. Doch die rigide Unterscheidung in eine Wohnstadt, in die Arbeitsstadt der Ministerien, in die Hauptverkehrszonen mit dem Geschäfts- und Kulturzentrum wie insgesamt der Versuch, das Leben vorzuplanen und in eine ästhetische O r d n u n g zu zwingen - dies alles m u ß t e notwendig die Komplexität und Verschränktheit städtischer Funktionszusammenhänge völlig aufsprengen und zerstören. Nachzulesen ist die Brasilia zugrundeliegende Rezeptur - die Entflechtung der vier H a u p t f u n k t i o n e n der Stadt: Wohnen, Arbeiten, Freizeit u n d Verkehr - in der „Charta von Athen", deren Grundsätze lange vor ihrem Erscheinen von Le Corbusier in Südamerika propagiert werden konnten, nachdem er 1936 für drei Wochen in Rio de Janeiro als Berater für den Entwurf 21

des Erziehungsministeriums mit Lucio C o s t a und Oscar Niemeyer in enge Berührung g e k o m m e n war. 4 Viele der Lehrsätze freilich, mit denen Le C o r busier den Städtebau des 20. Jahrhunderts so sehr prägen sollte, konnten auch damals schon auf eine eigene Tradition zurückblicken, und der Meister selbst, der sich ein Leben lang wie ein „Raubtier" b e n o m m e n und die historische und zeitgenössische Architekturtheorie ohne Hinweis auf die Urheber verschlungen und zu Eigenem umgearbeitet hatte, (vgl. C o r b o z 1988 S. 8 ff.) kam deshalb nicht umhin, das eine oder andere Vorbild der modernen B e w e g u n g gelegentlich beim N a m e n zu nennen. A u f diese Weise erfuhr denn auch das interessierte Publikum von Tony Garnier, (vgl. Le Corbusier 1 9 8 2 S. 52) dem stillen Architekten aus Lyon, der 1 9 1 7 unter dem schlichten Titel „ U n e Cité Industrielle" in über 160 Zeichnungen eine m o d e r n e Stadtutopie veröffentlicht hatte, die für die Eingeweihten z u m Urbild des fortschrittlichen Städtebaus werden sollte. Fragen wir nach den Beweggründen, die zu diesem ungewöhnlichen Projekt einer minutiös durchgeplanten sozialistischen Stadt geführt haben, so m u ß an das politische K l i m a erinnert werden, das in Garniers Heimatstadt vorherrschte. Lyon war seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein Z e n t r u m der französischen Arbeiterbewegung. Hier erschienen die ersten Artikel des utopischen Sozialisten Charles Fourier, dessen gesellschaftsumwälzende Vorstellungen wiederum Émile Zolas R o m a n „Travail" inspirierten, der v o m A u f b a u einer R e f o r m s i e d l u n g berichtet, die als das literarische Vorbild der „ C i t é industrielle" angesehen werden kann. Immerhin hat Garnier Zolas R o m a n in seiner Idealstadt ein unübersehbares D e n k m a l gesetzt: Zitate aus d e m Buch bilden z u s a m m e n mit Illustrationen aus dem sozialistischen Alltag den Friess c h m u c k am Portikus seines gigantischen Versammlungssaalgebäudes. Zweifellos resultiert die N ä h e der Sozialutopie Zolas zur Stadtvision Garniers aus ähnlichen politischen Zielsetzungen. Entsprechend zeigen sich Romancier und Architekt a m Entstehen von Siedlungsgemeinschaften interessiert, die a u f sozialisiertem G r u n d und Boden wachsen und durch solidarische Kooperationsformen und fortschrittliche Produktionstechniken größte Effizienz beweisen sollen. A u f den ersten Blick scheinen Garniers Rationalisierungsmaßnahmen, seine L ö s u n g e n zur Energiegewinnung, zur modernen Organisation der Produktionsabläufe und der städtischen Infrastruktur den eigentlich visionären C h a rakter der „ C i t é industrielle" auszumachen. Bei näherer Betrachtung wird indessen o f f e n k u n d i g , daß viele seiner Vorschläge schon damals praktiziert wurden. Wirklich neu ist an seiner Musterstadt der Versuch einer architektonischen Synthese der, soweit er sehen konnte, fortgeschrittensten Positionen

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in Technik u n d Ästhetik. Dieser vordergründig technischen Utopie steht in der idealen Industriestadt die soziale Utopie eines Gemeinwesens gegenüber, das sich jedoch nicht in allen Aspekten mit architektonischen M i t t e l n ausdrücken ließ. So konnte Garnier beispielsweise die Sozialisierung des Privateigentums an Grund und Boden allein „negativ", durch den konsequenten Verzicht auf trennende Elemente, wie M a u e r n und Zäune, ins Bild bringen. Im Unterschied hierzu bot die Beschwörung des solidarischen Stadtkollektivs in Gestalt der Gemeinschaftseinrichtungen der Darstellung einen viel größeren Spielraum. Insgesamt offeriert Garnier den 3 5 . 0 0 0 Einwohnern seiner Stadt überreichlich Möglichkeiten, in großen Gruppen zu diskutieren und sich gemeinsam zu bilden. M a n möchte d a r u m Julius Posener z u s t i m m e n , der für eine Kleinstadt wie die „Cité" das anspruchsvolle Angebot an Versammlungssälen und Bildungsstätten für übertrieben hält und beklagt, daß sich n i e m a n d in der Industriestadt eines eigenen Gartens erfreut, (vgl. Posener 1989 S. 8) Aber es mangelt ja nicht allein an Haus- und Schrebergärten in dieser sonst von Bäumen und Grünanlagen nur so überquellenden Stadt, es fehlen in Garniers Planung auch alle anderen halbprivaten und halböffentlichen Zwischenräume, die sich die Bewohnerschaft spontan und weitgehend unbeobachtet aneignen könnte. Einzig der Eingangsbereich der W o h n häuser markiert eine schmale Grenzzone zwischen der Intimsphäre des W o h nens u n d d e m öffentlichen R a u m . Verläßt man diese, so steht man schon draußen auf einem Terrain, das allen und n i e m a n d e m gehört. Keine Höfe, lauschigen Plätze und versteckten Wege gestalten so etwas wie einen gestaffelten Ü b e r g a n g aus dem Schutz bekannter R ä u m e in die Öffentlichkeit der Stadt. U n d es gibt in der C i t é auch nicht die eigene Welt der Cafés, Kneipen und Bistros. Ins Bild gebracht wird die Vision einer verabsolutierten Öffentlichkeit, welche die Bedürfnisse des Individuums nach Privatheit geringschätzt, durch die M o n o t o n i e des gleichmäßigen Straßennetzes, das die „Cité" in ihrer Gesamtheit charakterisiert. Garnier hat diese „Herrschaft des Rasters" aus der streng linearen A n o r d n u n g der Montagehallen im Industriekomplex seiner Stadt abgeleitet und umstandslos auf den Gesamtplan der „Cité industrielle" übertragen. P l a n u n g wird derart zu einem die Stadtgestalt rationalisierenden Vorgang, der sich in Analogie zu den industriellen Prozessen zu entfalten sucht. Nun ist aber ein W o h n q u a r t i e r keine Fabrik - die Formalisierung des Grundrisses der „Cité" m u ß d a r u m wie die Rasterplanung für Brasilia eher als ein S y m b o l des Fortschritts als eine infrastrukturelle N o t w e n d i g k e i t verstanden werden.

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Die drei Beispiele „Lu Jia Zui", Brasilia u n d „Cité industrielle" deuten an, was unter einer modernen Idealstadt zu verstehen ist: Sie wird offenbar stets in dem W u n s c h entworfen, für eine utopische Gesellschaft ein adäquates städtebauliches Gefäß zu finden, das unverkennbar ästhetisierenden C h a r a k t e r trägt. Der Formalisierungszwang visionärer Planungen betrifft dabei nicht nur die Konzeption des Stadtgrundrisses, sondern ebenfalls solche Aspekte, die - wie die Idee der Freiheit, des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit, der Solidarität etc. - sich einer funktional differenzierten architektonischen Interpretation entziehen, und zwar in dem M a ß e , wie sie abstrakt bleiben und mit ihnen kein konkretes gesellschaftliches H a n d e l n assoziiert werden k a n n . Die spektakulärsten Beispiele dieser Suche nach den S y m b o l f o r m e n einer utopischen Praxis, die nur im großen und ganzen imaginiert, nicht aber im einzelnen schon vergegenwärtigt werden kann, bot weit vor unserer Zeit die „Französische Revolutionsarchitektur".

Revolutionsarchitektur Insbesondere Claude-Nicolas Ledoux hat uns eine ganze Reihe von IdeenArchitekturen hinterlassen, die um so sakraler a n m u t e n , desto weniger ihnen eine konkrete architektonische Funktion abzulesen ist. Ledoux zeichnete nach 1 7 9 5 mehrere Haustypologien für die zum Oval ergänzte Idealstadt C h a u x , die in seinen Gedanken weiterwuchs, nachdem sie bereits 1778 bei Arc-et-Senans in der Form eines Halbkreises errichtet worden war. Bei diesen Typologien handelt es sich um den Versuch, eine „moralische Läuterungsarchitektur" (Kruft 1989 S. 123) ins Bild zu setzen, die eher unfreiwillig von den Ideen der „Großen Revolution" inspiriert war, 5 dafür u m so freim ü t i g e r den Idealen der Freimaurerei huldigte. Die Logen gaben d e m utopischen Denken der damaligen Zeit reiche Nahrung, u n d ein von ihnen beeinflußter Architekt wie Ledoux konnte d a r u m auf „ihre Rituale und die S y m b o l e der Bruderschaft zurückgreifen, um andere institutionelle u n d soziale Projekte daraus abzuleiten." (Vidier 1988 S. 133) So weisen seine institutionellen Neuschöpfungen beispielhaft ein „Panaréthéon" (Tempel aller Tugenden) auf, das „Oikéma" (Haus der Freuden) und „Pacifere" (Haus des Friedens) sowie den „Temple de Memoire", der vom H e l d e n t u m derjenigen Frauen erzählt, die als Erzieherinnen und M ü t t e r moralisch auf die J u g e n d eingewirkt haben. Zwar sollen m a n c h e dieser Entwürfe mit ihrem scheinbar so funktionsgerechten Repertoire räumlicher A n o r d n u n g e n auf bestimmte rituelle Zwecke

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Claude-Nicolas Ledoux: Perspektivische Ansicht der Idealstadt „Chaux", 1780-84

anspielen, indessen bleibt offen, welche das sein könnten. Im G r u n d e handelt es sich hierbei u m Ausdrucksformen a u t o n o m e r Architektur: um eine R a u m kunst ohne Funktion, um eine höchst artifiziell vorgetragene architektonische N e g a t i o n baulicher Zwecke. D e n n die Ideen, die da zu Stein werden sollen, radieren mit den Institutionen der alten Gesellschaft nicht nur deren spezifisches Wirken, sondern jegliches institutionelle Handeln aus. Sie besetzen die hierdurch gewonnenen Leerräume mit einer Art Bühnenarchitektur, die durch ägyptisierendes Pathos, viel Weihrauch und Budenzauber darüber hinwegtäuschen soll, daß nunmehr alle gesellschaftliche Praxis in der U t o p i e einer befriedeten Welt mumifiziert ist. Entsprechend werden Gerichtsgebäude und G e f ä n g n i s durchs menschenleere „Pacifere", die Kirche durchs gottlose „Panaréthéon" und das Theater durch die abstrakten Freuden des „Oikerna" ersetzt. D e r neue Mensch, der in C h a u x in „Rousseauscher Heiterkeit" und aller U n s c h u l d eine äußerst inhumane Arbeit bereitwillig verrichten soll, 6 wird sich als von N a t u r aus „ g u t " entpuppen, so hoffte Ledoux und folgerte, daß eine G e m e i n s c h a f t der Friedfertigen wenig Bedarf an jenen Institutionen hat, die den Menschen in seinem wahren Charakter verkannt haben und ihn eben d a r u m nach ihrem eigenen Bild verunstalten mußten. D i e erste ideale Industriestadt der Architekturgeschichte verzichtete d a r u m a u f G e richtsgebäude und Vollzugsanstalt, was nichts Geringeres bedeutet, als daß die neue Gesellschaft insgesamt v o m Ballast der Justiz, von der Rechtsbürokratie mit ihren Beamten, Advokaten, Polizisten und Gefängniswächtern befreit gedacht wurde. All dies ersetzte Ledoux in zivilisationskritischer Absicht durch die Konzeption des „Pacifere", durch das begehbare D e n k m a l eines gesellschaftlichen Friedens, welcher der aktiven Rechtspflege nicht länger bedarf. Vergleicht man diesen „Friedenstempel" mit dem E n t w u r f für den Justizpalast in Aix, den Ledoux zwischen 1779 und 1785 anfertigte, so fällt auf, daß es sich beide M a l e um einen K u b u s handelt, bekrönt von einer Laterne, die im einen Fall schlicht, im anderen als „Tempietto" ausgeführt ist. D e r Unterschied beider G e b ä u d e liegt darin, daß der Q u a d e r des Justizpalastes, der den großen Gerichtssaal birgt, von mächtigen Vorbauten umschlossen ist, in denen die komplexe räumliche Organisation des nach K a m m e r n geschiedenen Rechtswesens Platz finden sollte, während der Phantasiebau des „Pacifere", in d e m es nichts mehr zu verhandeln gibt, nurmehr den K u b u s selbst aufweist, der „nackt und bloß" auf einem hohen Podest thront. In seinem Innern herrschen Andacht und Stille eines M u s e u m s vor, doch gibt es hier nicht mehr zu sehen als einen quadratischen leeren R a u m . Er reicht

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Claude-Nicolas Ledoux: Hauptansicht des Justizpalastes in Aix

Claude-Nicolas Ledoux: D e r Friedenstempel in der Idealstadt „Chaux'

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als das Sinnbild einer von Rechtshändeln befreiten Welt völlig aus; denn laut Ledoux ist „die Form des Kubus das Symbol für die Gerechtigkeit, man stellt sie dar auf einem quadratischen Sockel, von wo aus sie das Unrecht bestraft und die Tugenden belohnt." (vgl. Vidier 1988 S. 138) An den Außenwänden sind die wenigen Rechtsgrundsätze der utopischen Gemeinschaft von Chaux in Stein gemeißelt, während an den vier Ecken des Podestes ewige Fackeln qualmen. In der Moderne eroberten die architektonischen Visionen bedeutungsgeladener Leere ihren Platz ebenso in den sogenannten „Sandalenfilmen" Hollywoods wie in den Selbstinszenierungen diktatorischer M a c h t a n m a ß u n g , die, seit es den Film gibt, ihre Ikonen aus dem Kino zu beziehen pflegen. Bleiben soziale Ideen anmaßend und abstrakt, gerät ihr architektonisches Gefäß zwangsläufig zum Hohlkörper. So im Fall des von Ledoux konzipierten Friedhofs von Chaux, einer Anlage mit Katakomben-Charakter, deren Mitte ein gewaltiger Kugelsaal bildet. Diese monumentale architektonische Geste symbolisiert den Versammlungsort der toten Seelen - nach dem Wort des Architekten: „ein Bild vom Nichts", (vgl. Vidier 1988 S. 141) Der Geometrisierung des Idealstadtgrundrisses entspricht in der Architektur der Versuch, die Vielfalt traditioneller Haustypologien durch einige wenige, zu Bauwerken mutierte, geometrische G r u n d f o r m e n zu ersetzen. Wie die alte Gesellschaft sich vom Ballast „überflüssiger" sozialer Institutionen befreien sollte, so wollte man die alte Architektur von der Autorität der traditionellen Baukunst emanzipieren. Im Fall der sozialen wie der räumlichen Planung handelte es sich um strengste Katharsis, die auf die Wurzeln gesellschaftlicher O r d n u n g bzw. des architektonischen Ausdrucks zielte. Sichtbar wird auf diese Weise jedoch nur die Abstraktheit pathetischer Ideen u n d das Pathos abstrakter Formen. Auf dem Gebiet des Städtebaus liegt der Sachverhalt allerdings etwas anders. Zwar wird die Ästhetisierungsstendenz utopischen Planens nirgends deutlicher als in den Entwürfen idealer Stadtgrundrisse, doch erschöpften sich die Stadtutopien hierin keineswegs. Schon die Idealstadtentwürfe der Renaissance stellten nachdrücklich die Frage, wie denn das Funktionieren einer Stadt überhaupt zu denken sei. War die Reduktion des Architektonischen auf pure Geometrie, die in der Revolutionsarchitektur begann u n d in der Moderne ihre Fortsetzung fand, zuallererst vom Gedanken der Kreierung neuer Symbolformen getragen u n d somit Ausdruck eines vorwiegend ästhetischen Programms, so rührte die Formalisierung utopischer Stadtgrundrisse von Ordnungsabsichten her, die ihre Begründung nicht allein aus künstlerischen, sondern ebenso aus funktionalen Überlegungen zogen. 28

Idealstadtplanungen sind stets Bestandteil umfassender sozialräumlicher Rationalisierungsprozesse gewesen, die sich in der Vergangenheit insbesondere dann durchsetzen konnten, wenn Festungsbauingenieuren die Aufgabe gestellt war, die Verteidigung neuer Städte an den jeweilig fortgeschrittensten Stand des „Kanonendonners" anzupassen. Entwürfe von umfänglich befestigten Musterstädten bildeten die Reaktion kreativer Planer auf dieses fortifikatorische Problem, wobei immer zweierlei zur Geltung kam: die Entwicklung strategischer Ideen, die sich im brisanten Spannungsfeld von Artillerietechnik u n d Festungsbauwesen formierten, sowie deren ästhetische Reflexion. Es war „l'urbanistica militare", die Abspaltung des militärischen vom zivilen Städtebau, welche es erforderlich machte, vom Geist der Geometrie diktierte Zentralanlagen zu konzipieren. In den im Zeitalter des Absolutismus errichteten Planstädten kam so jene instrumentelle Vernunft zum Tragen, die sich schon in den frühen Stadtutopien - dort freilich verschränkt mit sozialreformerischen Zielsetzungen - durch Reißbrettübungen zum T h e m a „Festungsbau" schulte. Uber die Modernisierung der Wehrtechnik, die sich im Symmetriezwang idealer Stadtgrundrisse niederschlug, geriet so die Idealstadt der Renaissance zum Vorläufer der barocken Festungsstadt. Im Industriezeitalter war es dann die Rationalisierung der Produktionstechnik, die in der Utopie eines Tony Garnier ihr formales Äquivalent fand und von dort aus die Entwicklung der modernen Stadtplanung bestimmte. Die strategischen Überlegungen, die von Idealstadtplanern angestellt wurden, waren stets auch Symptome des Scheiterns: Ausdruck ihrer Kapitulation vor der Komplexität des Städtischen. Stadtutopien sind Produkte einer grundsätzlichen Überforderung, die darin besteht, das Bild eines kompletten Siedlungszusammenhangs aus der Gedankenwelt eines einzigen Menschen entspringen zu lassen. D a ß dies unmöglich ist, vergaß sich leicht bei der Funktionalisierung der Stadt, wenn einzelne Planungsgesichtspunkte, wie beispielsweise die Fortifikation, als pars pro toto aus der Gesamtheit städtischer Aufgaben isoliert u n d dem Gesichtspunkt der Effizienz unterstellt wurden. Die Ästhetisierung des Stadtgrundrisses folgte dieser Logik, indem sie der Priorisierung ausgewählter Stadtfunktionen „idealen" Ausdruck verlieh. Die Idealisierung „übergeordneter" Gesichtspunkte war Ausdruck einer sich gegen die Lebensfülle der alten Städte formierenden Planungsrationalität, war Auftakt der gnadenlosen Negation urbaner Komplexität durch den ordnenden Verstand. Die Suche nach der „idealen" Stadt, die die Qualitäten gewachsener Strukturen verkennt, war u n d ist ein Gewaltakt, beseelt von reinen Machtgelüsten u n d zugleich vom aufrichtigen Wunsch, die bestehenden Lebensverhältnisse von G r u n d auf zu verbessern.

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Die Schöpfer Utopias gingen freilich selbst davon aus, daß ihren Planungen eine altruistische und keine egoistisch anmaßende Haltung zugrundeliege. Sie schienen außerdem davon überzeugt, daß ihr architektonischer Formalismus und Vorschläge zur Rationalisierung bestimmter städtischer Funktionen eine unverbrüchliche Einheit mit sozialen Ideen bildeten. War das eine wünschbar, m u ß t e dies auch für das andere gelten. Hinzu kam die Überzeugung: Nichts von der Idealstadt u n d der Idealgesellschaft sollte einer unbestimmten Z u k u n f t vorbehalten bleiben, sämtliche Vorstellungen, die architektonischen und die sozialen, waren auf Verwirklichung hin angelegt. Der Anspruch auf Realisierbarkeit versperrt die Möglichkeit, leichthin zwischen gebauter und ungebauter Idealstadt zu unterscheiden, als handele es sich im einen Fall stets um den Verrat der Utopie, im anderen dagegen u m den Versuch, ihr unbedingte Treue zu halten. Entwürfe, die mit ambitionierten ästhetischen Mitteln und fortschrittlichen städtebaulichen Konzepten Daseinsformen gestalten wollen, die allem Anschein nach quer zur herrschenden Realität stehen, diese kritisieren u n d mit neuen Vorstellungen von H u m a n i t ä t , Gerechtigkeit, kulturellem u n d technischem Fortschritt konfrontieren, sind, gebaut oder nicht gebaut, Ausdruck utopischen Planens. Geben sich auch Utopien stets den Anschein des Realisierbaren, deuten sie doch zugleich sehnsüchtig auf einen O r t außerhalb unseres Erfahrungsraums, auf einen weltfremden, künstlich konstruierten Raum, geschaffen unter den „Laborbedingungen" eines Verstandes, der von einem starken, oft phantasievollen und zumeist herrschsüchtigen Veränderungswillen angetrieben wird. D e n n o c h bietet selbst die radikale, in vielen ihrer sozialpolitischen Forderungen gerechtfertigte Stadtutopie selten mehr als eine architektonisch interessante, gleichwohl abstrakte Anatomie eines Gemeindekörpers, der bis auf die der Planerphantasie entspringende, völlig unzureichende Projektion solidarischen Handelns skelettiert wurde. Diesem dürren Gerippe aus M u t maßungen, moralischen Appellen und Verhaltensanweisungen aber paßt sich die starre Gestalt der Idealstadt wie eine Totenmaske an. Tony Garnier hat in seinen späteren Schaffensjahren nicht wenige Skizzen und Zeichnungen zum T h e m a Friedhof und Kriegerdenkmal angefertigt u n d das T h e m a Stadtutopie in die gespenstische Vision einer an Böcklin gemahnenden „Toteninsel" einmünden lassen. Es scheint so, als ob die traditionsreiche soziologische Fragestellung nach dem Verhältnis von Individuum u n d Gesellschaft in den utopischen Stadtkonzeptionen eine einleuchtende und desillusionierende Antwort erführe. Zumindest dann, wenn die Rationalisierungsbetrebungen der Idealstadtplaner auf Tendenzen der sozialen Uniformierung und Kontrolle hin befragt werden. 31

Angesichts der geringen B e d e u t u n g selbstbestimmter H a n d l u n g s r ä u m e ( „ C i t é industrielle"), angesichts der pathetischen Inszenierung des öffentlichen Raumes (Brasilia) und eines abstrakten Gemeinschaftskultes (Chaux) bietet sich die T h e s e an, daß die Architekten ihre eigene schöpferische Individualität im E n t w u r f von Lebensgemeinschaften und Lebensräumen behaupteten, die keinen Platz lassen für die Selbstbestimmung des Subjekts. Träumten j a bereits die frühen utopischen R o m a n e jener humanistisch gebildeten Elite, in deren Selbstbewußtsein sich der moderne Individualismus erstmalig bemerkbar machte, von einer Gesellschaft, in der der Einzelne sein A u t o n o miestreben freiwillig a u f dem Altar solidarischen Gemeinsinns opfert. Einen überzeugenden G r u n d hierfür m a g m a n darin sehen, daß nirgends anders sich die Persönlichkeit der Schöpfer utopischer Welten unverkennbarer abzuheben vermochte als vor dem Hintergrund gleichgesichtiger Kollektive. D a s scheinbar so selbstlose Engagement der Sozialutopisten und Idealstadtplaner für eine bessere Welt und den „neuen M e n s c h e n " mutet daher in solcher Perspektive wie eine durchtriebene „narzißtische" Selbstbehauptungsstrategie an. In der Stadtutopie wird die konkrete N o t , „ideale" Lebensumstände mit anderen Menschen teilen zu müssen, in die abstrakte Tugend einer solidarischen Gemeinschaft umgebildet, in der niemand benachteiligt werden soll, aber auch keiner aus der Masse der Bürger herausstechen darf. D a s „Gleichheitsdiktat", welches der Planer in seiner Idealstadt aufrichtet, tarnt sich mit der realitätsfernen Vision eines in seinen Bedürfnissen restlos übereinstimmenden Kollektivs. Im Anspruch a u f eine umfassende, jegliche Lebensvollzüge determinierende sozialräumliche Planung wird diese T a r n u n g j e d o c h löchrig: D a s Szepter der Planungshoheit, das der Architekt über seiner Stadt z u m angeblichen Wohle der Bürgerschaft schwingt, ist immer auch A u s d r u c k seines egoistischen Alleinherrschaftsanspruchs, der sich in gebauten Idealstädten mit der faktischen Macht konkreter Stadtherren und Stadtgründer gemein zu machen wußte. Was also ist an einer Idealstadt ideal? Nicht, daß sie ideale Lebensbedingungen für ihre fiktiven oder konkreten Bewohner bereitstellt, sondern daß sie ideale Planungsbedingungen für die Architekten offeriert! Selbst die vielen Einschränkungen und Veränderungswünsche, die das Entwerfen einer Planstadt von Seiten des Bauherrn erleiden muß, werden j a durch die erhebende Aussicht, daß ein solch kostspieliges „Kunstwerk" realisiert werden soll, mehr als aufgehoben. D i e Freude hierüber bleibt freilich höchst einseitig, da mit einer Idealstadt k a u m Vorstellungen lebensvollen Gemeinschaftsglücks befördert werden. Statt dessen bietet sie puritanisch a n m u t e n d e Bilder eines u n i f o r m e n Siedlungskollektivs, das durch ausgreifende Erziehungsprogramme

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u n d strenge Reglementierungen der Lebensführung diszipliniert werden soll. Andererseits mischten sich in den Paternalismus der Sozialutopisten u n d Idealstadtplaner stets auch vernünftige, h u m a n e Vorschläge, mit denen so manche gesellschaftlichen Mißstände zu überwinden gewesen wären und in späterer Zeit auch wirklich behoben wurden. Man m u ß darum die lange Reihe sozialräumlicher Planungen in Utopia durchaus auch als Symbole eines Veränderungswillens begreifen, dem unsere Zivilisationsgeschichte bedeutende Impulse zu verdanken hat.

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2. Aktualität und Geschichte utopischen Denkens

N a c h d e m der „Club of Rome" 1993 zur Feier seines 25. Geburtstags sich in Hannover über die Z u k u n f t Europas Gedanken gemacht hatte, k o n n t e man der Presse entnehmen, die „Weisheit der Weisen" sei von Ratlosigkeit geprägt. An diesem Eindruck vermochte offensichtlich die Tatsache nichts zu ändern, daß unter der A n k ü n d i g u n g eines „Szenarios" von dem Italiener Orio Giarini eine „klassische" Gesellschaftsutopie zum Besten gegeben worden war, die im Jahre 2 0 1 8 angesiedelt ist: „In Giarinis schöner neuer Arbeitsund Sozial-Weit herrscht ,Vollbeschäftigung' durch Teilzeitarbeit. Des Italieners ,neuer Mensch' leistet im Jahr 2 0 1 8 eine ,Grundarbeit' von vier Stunden am Tag. Er erhält dafür ein Basis-Einkommen zur Finanzierung seiner Grundbedürfnisse. Zur ,Grundarbeit' ist der Mensch des 21. Jahrhunderts von 18 bis 7 0 Jahren verpflichtet. Wer sie nicht leisten will, verliert ganz oder teilweise seine sozialen Staatsbürgerrechte." (Kols 1993 S. 3) D a ß es sich hierbei um traditionell utopisches Gedankengut handelt, zeigt der Vergleich mit den seit T h o m a s M o r u s i m m e r wieder erhobenen „Standardforderungen" zur radikalen Veränderung von Gesellschaften, die sich christlich nennen und dem Teufel ins H a n d w e r k pfuschen. M o r u s selbst geht in seinem R o m a n „Utopia" ( 1 5 1 6 ) von einem sechsstündigen Arbeitstag für alle aus. Er hält ihn für ausreichend zur Reproduktion seiner „Schlaraffen", die den Rest der verbleibenden Zeit persönlichen Studien, öffentlichen Bildungsveranstaltungen u n d geselligem Zusammensein w i d m e n sollen. N i e m a n d darf jedoch auf der Insel der Seligen faulenzen! Dafür sorgen spezielle Aufpasser u n d strenge M a ß r e g e l n , welche das unerlaubte Fernbleiben von der Arbeitsstelle u n d die Landstreicherei verhindern sollen. Entsprechend zieht M o r u s die ernüchternde Bilanz: „es ist unmöglich, sich um die Arbeit zu drücken, und es gibt keinen Vorwand für den M ü ß i g g a n g ; nirgends ist eine W e i n s t u b e zu entdecken, nirgends eine Bierkneipe, nirgends ein Frauenhaus, eine Gelegenheit zur Ausschweifung, ein Versteck, ein stiller W i n k e l - u n m i t t e l b a r vor aller Augen m u ß das Leben sich abspielen, sei es in der gewohnten Arbeit, sei es in ehrbarer Erholung." ( M o r u s 1981 S. 98/99) Das Utopia des frühen 16. Jahrhunderts hat es gar nicht nötig, mit dem Entzug der

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Bürgerrechte zu drohen, um die M e n s c h e n zur Ableistung ihrer „ G r u n d a r b e i t " zu bewegen, da von vornherein keine einzige Gelegenheit zur .Ausschweifung" geboten wird. In Campanellas R o m a n „Città del Sole" ( 1 6 0 2 ) ist schon wie bei Giarini die Rede von einem V i e r - S t u n d e n - T a g , der, obwohl sich im Vergleich zur „ U t o p i a " an den Produktionsbedingungen nichts Wesentliches geändert hat, dazu ausreichen soll, sämtliche Bürger mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Hierunter wird i m m e r h i n , wie schon bei M o r u s , keineswegs ein Dasein am R a n d e des E x i s t e n z m i n i m u m s verstanden. W o h l fordern die vor der

industriellen

Revolution

verfaßten

Utopiekonzeptionen

Konsumein-

schränkungen, um ihr wirtschaftspolitisches Ziel einer gerechten Verteilung der gesellschaftlichen G ü t e r realisierbar erscheinen zu lassen, zum Trost schildern sie aber ein kulturell reichhaltiges Leben, das erfüllt ist von

Lesen,

L e r n e n , D i s p u t a t i o n e n , Spazierengehen und Gesellschaftsspielen, (vgl. C a m panella 1 9 8 8 S. 3 6 ) Trotz dieses Umstands, der uns wie ein L o b der vita contemplativa a n m u t e t , finden wir in Campanellas Erzählung die m o d e r n e Leistungsgesellschaft vorweggenommen. M ü ß i g g a n g wird gegeißelt, und der Hinweis a u f den V i e r - S t u n d e n - T a g scheint b l o ß ein S y m b o l für die ö k o n o mische Effektivität eines „rational" organisierten Gemeinwesens zu sein, das schon die Wirtschaftsethik des Merkantilismus ausbrütet. Es fehlt darum auch hier der Aspekt der Arbeitsüberwachung nicht, der in der „ S o n n e n s t a d t " dazu führt, daß selbst Krüppel in den Produktionsprozeß eingespannt werden. D i e Aufsicht führen hier j e d o c h nicht mehr die würdigen „Sygrophanten", die a u f Morus' glücklicher Insel in offen patriarchalicher Absicht regieren, vielmehr finden wir bei Campanella ein ausgeklügeltes Spitzelsystem vor, das nach dem M o t t o funktioniert: „Alle werden gut regiert, und die S p i o n e melden dem Staat alles". ( C a m p . 1 9 8 8 S. 3 8 ) D e r Hinweis, daß in der „Città del Sole" die Handwerksmeister das R i c h teramt innehaben und ein jeder Bürger nur von den Vorgesetzten seiner Z u n f t abgeurteilt werden kann, macht darauf aufmerksam, daß C a m p a n e l l a offenbar der Ansicht war, abweichendes Verhalten sei zuallererst in der B e rufssphäre zu gewärtigen. Möglicherweise ahnte er, daß eine deutliche H e r absetzung der Arbeitszeit allein nicht dazu ausreichen würde, dem damaligen M e n s c h e n , der ein eher geruhsames Werkeln unter den Bedingungen extensiver Beschäftigungszeiten gewohnt war, zu einer spürbaren Intensivierung seiner Arbeitsleistung zu überreden. D i e Strafen, welche die Z u n f t m e i s t e r der „ S o n n e n s t a d t " verhängen dürfen, lassen darum an D e u t l i c h k e i t nichts zu wünschen übrig: „Verbannung, Auspeitschung, öffentliche B e s c h i m p f u n g , Entzug der gemeinsamen Mahlzeiten, Verbot des Kirchgangs oder der U n -

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terhaltung mit Frauen." ( C a m p . 1988 S. 59) M i t der drohenden Verbannung ist schon die Konsequenz aus eben jener Aberkennung der Bürgerrechte angedeutet, die ein Orio Giarini heute für die arbeitsscheuen Subjekte des Jahres 2 0 1 8 bereit hält. Nicht anders als sein L a n d s m a n n im „ C l u b o f R o m e " wollte annähernd vierhundert Jahre zuvor C a m p a n e l l a eine bessere Welt durch eine radikale Rationalisierung der Beschäftigungszeit und eine gerechte, gleichmäßige Verteilung von Arbeit und Lebensmitteln erreichen. Produktion, Distribution und K o n s u m sollten in der utopischen Wirtschaftsordnung so organisiert werden, daß daraus ein bescheidener Wohlstand für alle resultiert und ein harmonisches Kooperieren der gesellschaftlichen Kräfte an die Stelle jenes marktwirtschaftlichen Konkurrenzkampfes tritt, der in der Renaissance die zunftmäßig geregelte Stadtwirtschaftpolitik des Mittelalters verdrängt hatte. Im Rückblick erscheint es so, als habe sich, trotz erheblicher gesellschaftlicher Veränderungen, nur wenig an diesem Konsens der ersten Utopieentwürfe geändert. Soviel ist zumindest sicher: Vorbei ist die große Zeit der technisch-naturwissenschaftlichen Visionen, die nicht länger die gerechte Verteilung des Mangels erwogen, sondern von einem grenzenlosen Wachstum der Produktivkräfte und d e m unerschöpflichen Reichtum natürlicher Ressourcen überzeugt waren. Statt dessen gehört die Forderung nach K o n s u m verzicht z u m integralen Bestandteil der ökologisch skeptischen Z u k u n f t s p r o gnosen unseres ausgehenden Jahrhunderts. 7 Wer aber Konsumverzicht predigt, um damit die Ausbeutung von Menschen und N a t u r zu b e k ä m p f e n , steht genauso wie die frühen Utopien vor d e m Problem, eine Definition jener Grenze vorzunehmen, die anzeigt, wo lebensnotwendige Bedürfnisse enden und überflüssiger Luxus beginnt. Schon Piaton sah sich vor die A u f g a b e gestellt, die Konstruktion der antiken Polis mit dem Modell einer staatsphilosophisch orientierten Bedürfnis-Hierarchie zu verbinden. D i e Frage nach d e m Subjekt der S t a d t g r ü n d u n g beantwortete er in seiner „Politeia" mit einer Aufzählung jener Berufsgruppen, die sich mit der Herstellung von N a h r u n g , W o h n r a u m und Kleidung befassen u n d ihre Produkte zur gegenseitigen Versorgung untereinander austauschen müssen. D e n G r u n d dafür, daß es überhaupt zur Städtebildung k o m m e n muß, sah Piaton in der Arbeitsteilung. Statt die elementare Schutzfunktion der Städte herauszustreichen, betonte er: D i e Sicherstellung der G r u n d b e d ü r f n i s s e habe dazu geführt, daß Bauern, Baumeister, Weber und Schuster sowie sämtliche Handwerker, die diesen Berufen zuarbeiten, sich z u s a m m e n f a n d e n , u m den Kern der antiken Stadtbevölkerung und zugleich die Konstitution der „kleinen" Polis zu bilden. Hinzu kamen noch die Tagelöhner, die heimischen

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Krämer und die zwischen den Städten Handel treibenden Kaufleute, (vgl. Piaton 1958 S. 107 ff.) Das Romantische an der Utopie der „kleinen Polis" liegt darin, daß nicht Herrschaftsansprüche als Ursache für die Entstehung antiker Stadtgesellschaften angenommen werden, sondern allein die Lebensnotwendigkeit kollektiver Bedürfnisbefriedigung. Tatsächlich ist die Entpolitisierung der Gesellschaft im Bild einer friedlich wirtschaftenden, sich selbst genügenden Solidargemeinschaft das Urmotiv utopischen Denkens. Was aber treiben die Menschen in einem für die „Grundbedürfnisse" sorgenden Gemeinwesen? Piaton spekuliert: Sie „werden Getreide u n d Wein ziehen, Kleider u n d Schuhe machen und Häuser bauen, dabei im Sommer oft unbeschuht u n d ziemlich entblößt arbeiten, im Winter aber hinlänglich bekleidet u n d beschuht. U n d nähren werden sie sich, indem sie aus der Gerste Graupen bereiten und aus dem Weizen Mehl und dies kneten u n d backen und so die schönsten Kuchen und Brot auf Rohr und reinen Baumblättern vorlegen." Immerhin ist zudem von mäßigem Weingenuß u n d sogar von Nachtisch die Rede: von Feigen, Hülsenfrüchten, Beeren u n d gerösteten Kastanien. Das ganze ist jedenfalls, so hoffte der antike Philosoph, mehr als ausreichend, um fröhlich zu sein (,Froh zu sein bedarf es wenig..."), die Götter zu lieben u n d Spaß am Sex zu haben. Zumindest werden die Bürger der „kleinen Polis", vom Alkohol leicht beschwingt, „sehr vergnüglich einander beiwohnen, ohne über ihr Vermögen hinaus Kinder zu erzeugen aus Furcht vor A r m u t oder Krieg." (Piaton 1958 S. 109) Eine Stadt, in der auf diese beschaulich-bescheidene Weise gelebt wird, n e n n t Piaton eine „gesunde"; ihr stellt er die „aufgeschwemmte" Polis gegenüber, in der die Bürger über umfangreichen Hausrat u n d Polstermöbel verfügen, an Tischen speisen, von Salben, Räucherwerk, süßem Backwerk u n d auch von Freudenmädchen Gebrauch machen. In eine solche Stadt strömt eine U n m e n g e Volks, das keiner „notwendigen" Tätigkeit mehr nachgeht: Maler, Rhapsoden, Dichter, Tänzer und eine große Dienerschar, (vgl. Piaton 1958 S. 110) Hier herrschen die Begehrlichkeiten über die Menschen u n d nicht umgekehrt. An späterer Stelle unterscheidet darum Piaton nochmals in begrifflicher Strenge zwischen notwendigen Begierden, die entweder nützlich sind oder vom Menschen konstitutionell nicht unterdrückt werden können, und unnötigen Gelüsten, welche uns körperlichen u n d seelichen Schaden zufügen, denen wir aber entsagen können, falls uns eine entsprechende Erziehung dazu befähigt. Als ein Beispiel notwendiger Lust führt Piaton an: „soviel als Gesundheit und Leibesstärke erfordern" zu essen, während als u n n ü t z eine „auf ausländische Leckereien u n d dergleichen gehende Begierde" angesehen wird. (Piaton 1958 S. 259)

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Die Kriterien für die gesunde und für die zur üppigen Stadt aufgeschwemmte Polis entwickelt in der „Politeia" der Ich-Erzähler Sokrates. Ihm selbst - dem ein durch Sport, Diätkost und einfaches Leben abgehärteter Körper nachgesagt wird - erscheint selbstverständlich die an den notwendigen Bedürfnissen orientierte K o m m u n e die einzig richtige, eben asketische Lebensform zu garantieren. Für seinen Gesprächspartner Glaukon indessen sind die auf dem Boden zubereiteten Brote, Hülsenfrüchte und Kastanien nichts anderes als ein jämmerlicher Schweinefraß, (vgl. Piaton 1958 S. 109) Der PiatonLeser T h o m a s Morus stand darum nahezu 2000 Jahre nach diesem aufschlußreichen Dialog als Verfasser der „Utopia" vor dem Problem, dem Einwand Glaukons wie auch den veränderten Lebensbedürfnissen gerecht zu werden, ohne dabei die Grundforderung nach Konsumverzicht verraten zu müssen. In seinen „gesunden" Städten speist man darum mit Vorliebe in geräumigen Hallen, wo eine „ausgesuchte und reichliche Mahlzeit" aufgetragen wird. (Morus 1981 S. 94) Selbstverständlich wird an Tischen nach festgelegter Sitzordnung getafelt; außerdem heißt es in bewußtem Gegensatz zu Piaton, der Räucherwerk und Süßigkeiten für unnötigen Luxus erachtete: „An keinem Abendessen fehlt Musik; der Nachtisch wartet mit allen möglichen Leckereien auf; Räucherwerk wird entzündet, Parfüm gesprengt, überhaupt alles getan, was die Gäste angenehm anregen könnte. Sie haben nämlich für derlei eine starke Neigung und meinen, keine Art von Lustbarkeit, aus der nicht Nachteil erwächst, sei unzulässig." (Morus 1981 S. 97) Der lebenskluge Lordkanzler des frauenmordenden Heinrich VIII., der mit seiner sinnenfrohen Schilderung eines Abendessens auf Utopia den frugalen Rahmen des antiken Symposions bewußt sprengt, hat Piatons Rede von den notwendigen Begierden in den menschenfreundlicheren Begriff der „ehrbaren Lust" übersetzt, welche über die zweckdienlichen Genüsse hinaus auch solche erlaubt, die zwar nicht nützlich, dafür aber um so angenehmer sind, ohne indessen Seele und Leib Schaden zuzufügen. Die ehrbare Lust, erklärt er, erwachse von selbst aus den Anweisungen, mit welchen sich die N a t u r in der menschlichen Vernunft unmittelbar zum Ausdruck bringt, indem sie uns treibe, „ein Leben möglichst frei von Beschwerde u n d reich an Behagen zu führen u n d auch allen anderen dazu behilflich zu sein, entsprechend der Gemeinsamkeit unserer Natur." (Morus 1981 S. 111) Wir werden diese Denkfigur bei Charles Fourier wiederfinden. Sie besagt, daß die Utopie eines solidarischen und zugleich freudvollen Zusammenlebens keineswegs von der Bereitschaft jedes Einzelnen zur Disziplinierung seiner egoistischen Triebregungen abhängt, vielmehr umgekehrt von der Klugheit, auf seine innere Natur zu hören, die „allen Wesen, die sie durch einheitliche Gestaltung

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zu einer G r u p p e z u s a m m e n f a ß t " , in gleicher Weise wohlgesinnt ist. (vgl. M o r u s 1981 S. 113) Bei diesen ersten Schritten a u f dem Gebiet der Sozialpsychologie ist natürlich der Wunsch, daß sich eine absolut harmonische Sozialordnung im Prinzip als realisierbar erweise, Vater des Gedankens gewesen: hieran hindere uns nur die Unvernunft. Allein sie locke die Individuen mit falschen, Zwietracht säenden Bedürfnissen. M o r u s zählt hierzu die „Sucht nach eitlen, sinnlosen Ehren", nach Besitzhäufung, nach Glücksspiel und Jagdfreuden. Im Unterschied hierzu sieht er echtes Vergnügen in den Freuden geistiger Erkenntnis, in der „Rückschau auf ein gut verbrachtes Leben", aber durchaus auch in körperlichen Wonnegefühlen, „wenn man den D a r m entleert oder ein Kind zeugt oder einen juckenden Körperteil reibt oder kratzt." (Morus 1981 S . 119) Als höchstes G u t wird die Gesundheit angesehen, die nach Ansicht der Utopier den größten „leiblichen G e n u ß " bereite. M o r u s wollte mit diesem Bekenntnis deutlich machen, daß er der Autorität Piatons, der die gesunde Lebensweise z u m Hauptkriterium notwendiger Begierden erklärt hatte, gerne Folge leiste. D o c h dürfe dabei nicht bezweifelt werden, daß es der Vernunft widerstreitet, sich zu „kasteien, nur um eines hohlen Scheinbildes der Tugend willen." (Morus 1981 S. 124) Beim Philanthropen M o r u s klingt so in der Tyrannei der Askese, welche die gerechte Verteilung des Mangels verlangt, wie von fern die Melodie eines sittlich geläuterten Discount-Schlaraffenlandes an. Soviel war jedenfalls dem Lordkanzler gewiß: D a m i t Lebensgemeinschaften harmonisch sind, m u ß es ihnen erlaubt sein, naturnotwendige Verrichtungen in Freuden verwandeln zu dürfen. Der platonische „Schweinefraß" mutierte d a r u m in U t o p i a zu einem musikbegleiteten Essen mit „allen m ö g lichen Leckereien". D e r rebellische D o m i n i k a n e r m ö n c h C a m p a n e l l a machte noch kein Jahrhundert nach M o r u s dessen Versuche einer Liberalisierung der platonischen Bedürfnis-Hierarchie wieder zunichte. Zwar scheinen sich die Bewohner seiner Sonnenstadt ausgiebig des Speiseplans der Natur zu bedienen, der sie unter anderem mit Butter, H o n i g , Käse und Datteln versorgt, jedoch „genießen sie nach medizinischer Vorschrift: Einmal essen sie Fleisch, einmal Fisch und einmal G e m ü s e . " ( C a m p . 1988 S. 53) Hiernach beginnt der Kreis der Gerichte, die von Ärzten zusammengestellt werden, von neuem. D e m 2 7 Jahre bei Wasser und Brot eingekerkerten C a m p a n e l l a mußte selbstverständlich das Los seiner Sonnenstadtbürger, denen er den G e n u ß einer gesunden Wasser-Wein-Mischung gestattete, herrlich dünken. Hatte man ihm alle Genüsse versagt, sollten auch seine Traumgeschöpfe nicht über die Stränge schlagen dürfen. D i e den Sonnenstadtbürgern zugemutete Enthaltsamkeit

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begründete der pfiffige Mönch mit der Prognose: Sie werden dafür „mindestens hundert Jahre alt, höchstens hundertsiebzig oder ganz selten auch zweihundert." (Camp. 1988 S. 54) Hatte aber schon des gestrengen Piatons antike Diät dem Bürger der gesunden Polis unverdünnten Wein gegönnt, müssen wir vermuten, daß Campanellas Speisekarte nicht erst bei den von Morus verwöhnten Utopiern auf einigen Widerwillen gestoßen wäre. Die Unterscheidung von richtigen und falschen Begierden, die das Diktat des Konsumverzichts mit sich bringt, suchten die älteren Utopie-Entwürfe in A n l e h n u n g an Piaton zivilisationskritisch zu fundieren: Als richtig galten ihnen die von der Natur vorgegebenen, als falsch die von einer entfremdeten Gesellschaft den Individuen aufgepfropften Bedürfnisse. Gefragt war d a r u m eine Pädagogik, welche Vernunft beweist, indem sie auf die Stimme der N a t u r hört u n d diese gegen den Zivilisationsprozeß stark zu machen sucht. Indessen - jeder utopische Lebensreformer hörte dabei etwas anderes u n d sah sich d a r u m gezwungen, die wahren und die falschen Bedürfnisse immer wieder neu zu interpretieren. Auf diese Weise sickerte in ein Problem, das doch einer objektiv-medizinischen Lösung zugeführt werden sollte, jener Subjektivismus hinein, von dem größte Gefahr für die „prästabilierte Harmonie" Utopiens ausging. Die subjektive Bedürfnisinterpretation u n d die aus ihr resultierende Didaktik der ethischen Lebensführung traten so an die Stelle der ursprünglich wirtschaftspolitischen Frage nach einer gerechten Verteilung der gesellschaftlichen Güter zur Bekämpfung der Armut. Mochte auch der Utopist im Gefühl seiner moralischen Überlegenheit nur allzu leicht der Täuschung erliegen, allein schon durch den Verzicht der materiell Privilegierten auf Luxus ließe sich ein bescheidener Wohlstand für alle durchsetzen, glaubten hieran zu allerletzt seine im Reichtum schwelgenden Zeitgenossen. Selbstverständlich wollten die von der naturgegebenen Notwendigkeit eines Verbots ihrer „ungesunden" Begierden nichts wissen. Es ist leider so: „In den über zwei Jahrtausenden seit Piaton haben die Menschen zwar den pythagoräischen Lehrsatz, nicht aber die Lektion ihrer ,falschen' Bedürfnisse gelernt." (Ritzmann 1989 S. 45) D a ß die Menschen ihre Selbstverwirklichung eher in unermüdlicher Arbeit statt in kontemplativen Beschäftigungen suchen sollen, davon geben die Utopisten, die uns doch aus der Rastlosigkeit konkurrierenden Verhaltens erlösen wollen, unfreiwillig Kunde. Wenige Ideen widmen sie in der Regel der Muße, dafür finden sich um so ausführlichere Schilderungen der Arbeitswelt, der Aus- und Weiterbildung, der Körperertüchtigung und des Kriegshandwerks. Bei Campanella gerät gar die Sexualität zu einer astrologisch angeleiteten Pflichtübung, u n d selbst beim Hedonisten Fourier steht die

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Betonung eines lustvollen Lebens im Dienste der Leistungsmotivation. U t o pien spekulieren in allem auf Effizienz und wollen entsprechend taugliche Rezepte für ein gewinnbringendes gemeinwirtschaftliches Handeln entwickeln. Wohl verstehen sie sich zugleich als Anleitungen, wie die „Plackerei" der geknechteten Schichten durch „Kulturarbeit" abzulösen wäre, warten aber kaum schon mit ausdifferenzierten Programmen für eine expansive Freizeitgestaltung auf. Die „disponible Zeit", dieser Schwerpunkt utopischer H o f f n u n g , blieb, bis auf wenige bukolische Szenen, das unbeschriebene Blatt der frühen Utopien. Diesen schien der Gedanke bedeutsam genug, eine Gesellschaft zu entwerfen, welche das Unglück in Gestalt von Hunger, Einsamkeit, Krankheit u n d f r ü h e m Tod abzuwehren imstande ist. Utopische Phantasie entzündet sich an der Beseitigung von Mißständen. Versucht sie dagegen dem Mythos des „ s u m m u m b o n u m " (Ernst Bloch) auf die Spur zu k o m m e n , m u ß der Philosoph zu raunen beginnen; u n d auch der Literat darf sich vor Sentimentalitäten nicht länger fürchten. Erstaunlicherweise ist jedoch der Zusamm e n h a n g von Kitsch und Utopie kaum je reflektiert worden, obwohl sich hierzu in utopieskeptischen Beiträgen mancherlei Hinweise finden. Sozialutopien und Idealstadtplanungen tragen, kaum anders als Courths-MahlerRomane, stets auch Züge des Idyllischen. Diese machen sich entweder unmittelbar in den Schilderungen behaglicher Tafelfreuden und sittsamer H o c h zeitsgesellschaften bemerkbar, oder verbergen sich in den Bildern eines harmonischen u n d gänzlich störungsfreien sozialen Mikrokosmos. In einer geisteswissenschaftlichen Miniatur des Themas läßt sich das Verhältnis von Utopie u n d Idylle, der Kampf zwischen visionären u n d regressiven W ü n schen, recht anschaulich am Phänomen des Modelleisenbahnbaus darstellen. Dieser gewann große Anhängerschaft just zu der Zeit, als der N i m b u s industriellen Fortschritts vom Schienenverkehr auf den motorisierten Individualverkehr überging. Umgekehrt begann n u n in der Privatsphäre des H o b bykellers ein Spiel mit öffentlichen Verkehrsmitteln, das „die Beschwörung eines möglichen (oder erwünschten) Lebens inmitten der Technik" zum Inhalt hatte. 8 Auffallend war von Anfang an, daß mit Hilfe der heimischen Steckdose nicht ausschließlich Elektrozüge, sondern vor allem alte Tenderlokomotiven in Bewegung gesetzt wurden, daß also das „Leben inmitten der Technik" mit der antiquierten Technik von Dampfmaschinen zur Darstellung kam. U n d auch seit dem Siegeseinzug moderner ICE-Anlagen in deutsche W o h nungen gilt: Die Zuggeneration der neuesten Hochgeschwindigkeitstechnik durcheilt idyllische Hügellandschaften, durchsetzt von einer tendenziell denkmalgeschützten Architektur. Mit dem utopischen Denken teilt der Modell41

e i s e n b a h n e r die I n t e n t i o n , in zugleich guter Absicht u n d u n g e b r o c h e n e r Selbstherrlichkeit eine kleine k o n f l i k t b e r e i n i g t e , in sich abgeschlossene „Scheibenwelt nach p t o l e m ä i s c h e m M u s t e r " (Spinnen 1 9 9 3 S. 8) zu s c h a f f e n . Vergleichbar ist a u ß e r d e m der Versuch, eine m i t der m o d e r n e n T e c h n i k ästhetisch v e r s ö h n t e U m w e l t zu imaginieren, die insgesamt v o r m o d e r n e n C h a r a k t e r trägt. Solche Versöhnungsabsicht b e t r a c h t e t sich selbst als d u r c h u n d d u r c h g e l u n g e n , w e n n n u r die geringsten A n d e u t u n g e n der a b s t o ß e n d e n A s p e k t e der I n d u s t r i a l i s i e r u n g - Gewerbegebiete, Tagebau, zerstörte N a t u r , M ü l l h a l d e n etc. - restlos aus den b a r o c k e n M i n i a t u r l a n d s c h a f t e n getilgt sind. Was also in diesen M o d e l l b a u - U t o p i e n in E i n k l a n g gebracht wird, ist n i c h t die Welt der I n d u s t r i e m i t d e m Landschaftszauber wirtschaftlicher U n t e r e n t w i c k l u n g , s o n d e r n die M a s c h i n e n t ä t i g k e i t als Allegorie u n a u f h ö r lichen Fortschritts u n d ein hiervon völlig u n b e e i n d r u c k t e s Leben im S c h o ß folkloristischer T r a d i t i o n e n . S o z i a l u t o p i e n u n d I d e a l s t a d t e n t w ü r f e k ö n n e n als eine intellektuelle W e i c h e n s t e l l u n g v e r s t a n d e n w e r d e n , m i t deren H i l f e die L o k o m o t i v e Fortschritt in die Vergangenheit umgeleitet w e r d e n soll. Sie k o p p e l n sämtliche W a g o n s ab, die m i t Zivilisationsgütern beladen sind u n d f ü r den chaotischen, desorie n t i e r e n d e n , e n t f r e m d e t e n C h a r a k t e r der jeweils h e r r s c h e n d e n L e b e n s o r d n u n g e n v e r a n t w o r t l i c h g e m a c h t w e r d e n . Viele U t o p i e n v e r k ö r p e r n selbst d a n n , w e n n in i h n e n n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h - t e c h n i s c h e Aspekte eine w i c h t i g e Rolle spielen, die A n s t r e n g u n g , die eigene Zeit z u g u n s t e n einer v e r h e i ß u n g s vollen Z u k u n f t zu ü b e r s p r i n g e n , u m letztlich d o c h in der g o l d e n e n Vergang e n h e i t zu l a n d e n . Tatsächlich ist das geschichtsphilosophische M o t i v der W i e d e r k e h r einer vergangenen, d u r c h fehlgeleitete Zivilisationsprozesse verd r ä n g t e n S o z i a l o r d n u n g , die einfacher s t r u k t u r i e r t u n d allein deshalb s c h o n gerechter a n m u t e t als m o d e r n e Gesellschaften, bereits in den f r ü h e n U t o p i e n nachweisbar. Soziologische „Simplifizierung" h e i ß t die M e t h o d e , die dazu f ü h r t , d a ß die a u s f a b u l i e r t e n „glücklichen G e m e i n s c h a f t e n " n i c h t n u r wegen der b e g r e n z t e n Phantasie der Erzähler stets wesentlich leichtere O r i e n t i e r u n g e n e r m ö g l i c h e n als die soziale Realität. D a s G l ü c k der M e n s c h e n wird in der K o n s t r u k t i o n einer S o l i d a r g e m e i n s c h a f t gesucht, die den W i d e r s p r u c h v o n Kapital u n d Arbeit, der schon die Welt des T h o m a s M o r u s prägte, sowie die existierende gesellschaftliche K o m p l e x i t ä t ü b e r w i n d e n soll. E n t s p r e c h e n d weist der u t o p i s c h e Staat n u r m e h r eine ü b e r s c h a u b a r e A n z a h l ausdifferenzierter H a n d l u n g s s p h ä r e n auf u n d will allein s c h o n d a d u r c h soziale H a r m o n i e garantieren. D i e Strategie systematischer K o m p l e x i t ä t s r e d u z i e r u n g beweist sich seit P i a t o n v o r n e h m l i c h am Beispiel der Rechtssphäre. In der „Politeia" w i r d die Verselbständigung weniger Rechts-

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grundsätze zu einem undurchdringlichen Netz juristischer Spitzfindigkeiten gegeißelt und dagegen gehalten, „wieviel schöner und vortrefflicher es ist, sich sein Leben so einzurichten, daß man keines gähnenden Richters bedarf." (Piaton 1958 S. 137) T h o m a s Morus hat dieses Motiv aufgenommen u n d betont, daß man in Utopia Advokaten verachtet, nur wenige Gesetze benötigt und bei ihrer Auslegung „die simpelste für die richtigste" hält. (Morus 1981 S. 138) In der Sonnenstadt Campanellas werden Strafprozesse erst gar nicht mehr protokolliert und Urteile von den Richtern spontan gefällt. Psychologisch und nicht etwa juristisch kompliziert wird es immer nur dann, wenn Delinquenten von ihrem Todesurteil überzeugt werden sollen, damit die Gesellschaft ihr Strafbedürfnis ohne Skrupel ausleben kann. (vgl. C a m p . 1988 S. 60) Solche zum Teil höchst kuriosen Ideen resultieren nicht zuletzt aus dem Umstand, daß in sämtlichen utopischen Erzählungen zwei miteinander eng verschlungene u n d dennoch höchst gegensätzliche Motive am Werk sind. Z u m einen soll mit konkreten Reformvorschlägen der Anschein problemloser Praktikabilität erweckt, andererseits das Reich ungeschmälerten Wünschens voll ausgeschritten werden. Verblüffend ist immer wieder der beherzte Pragmatismus der Utopisten, der die gesellschaftlichen Probleme wie Dinge des täglichen Gebrauchs ergreift und sie nicht selten in phantastische Trugbilder verwandelt, so daß vernünftige Ideen und absurde Vorschläge stets ineinander umschlagen müssen. Das eigentlich Utopische der Utopien scheint sich darum nicht allein in ihrer säkularisierten Heilserwartung auszusprechen, sondern ebenfalls in dem zum Scheitern verurteilten Versuch, das „glückliche Leben" höchstselbst aus der Projektion eines reformierten Alltagsgeschehens anschaulich hervortreten zu lassen. An den Utopien m u ß man vor allem dieses Scheitern bewundern können, um sie zu verstehen. Bewundernswert sind überdies erstaunlich weitblickende Einsichten. Hierzu gehört, daß schon Morus eine Vorstellung davon hatte, weshalb das H u m a nitätsideal utopischer Gemeinschaften mit den real stattfindenden Modernisierungsprozessen nicht Schritt halten kann. Im Vergleich der englischen Gesellschaft mit der fiktiven Realität Utopias arbeitete er den in der abendländischen Kultur angelegten Grundkonflikt zwischen naturwissenschaftlichtechnischer Rationalität und moralischem Bewußtsein heraus. Kurzerhand erklärte er die konsequente Orientierung des sozialen Handelns an wertrationalen Kriterien zur Eigenschaft der Utopier. Sie messen der naturwissenschaftlichen Forschung wenig Bedeutung bei, zeigen aber die Fähigkeit, nützliche Entdeckungen anderer Völker zu adaptieren, sofern sie hiervon Kunde b e k o m m e n . Die „technische Zivilisation" wiederum, der Morus sich zuge-

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hörig wußte, orientiert ihr Handeln primär an zweckrationalen Erwägungen u n d sucht sich darum aus den Fesseln moralischer Bevormundung zu befreien. Aus diesem G r u n d sind die Europäer den Utopiern an Erfindungsgabe zwar weit überlegen, jedoch kaum in der Lage, deren Vorsprung in Sachen H u manität und Gerechtigkeit anzuerkennen, sobald sie davon erfahren. Entsprechend heißt es: „während sie (die Utopier) nach der einen Begegnung mit unserer Welt sofort alle brauchbaren Erfindungen sich angeeignet haben, wird es vermutlich lange dauern, bis wir auch nur das Geringste a n n e h m e n , das bei ihnen besser geregelt ist als bei uns." (Morus 1981 S. 68) Die gegen die Instrumentalisierung der Vernunft gerichteten Appelle der humanistischen Staatsromane sind genau darin visionär, daß sie Gesellschaften darzustellen versuchen, deren Kultur sich primär am Stand des sozialethischen Verhaltens ihrer Mitglieder bemißt. Die damit einhergehende Intention ist so antimodern wie legitim. Antimodern deshalb, weil die Vision der konsequenten Suspendierung des strategischen durch das normative Handeln eine Welt beschreibt, die sich gegen alles ausspricht, was im Okzident M o t o r gesellschaftlichen Fortschritts ist; und legitim, weil es natürlich gestattet ist, Lebensverhältnisse in Frage zu stellen, die durch jene Modernisierungstendenzen, die schon zu Lebzeiten des Lordkanzlers Morus spürbar wurden, allmählich ihrer gemeinschaftlichen Wertorientierungen beraubt werden. Morus experimentierte darum mit dem Entwurf einer Kultur, die erst gar nicht Gefahr laufen kann, in die Bahnen des abendländischen Zivilisationsprozesses einzumünden. Beim Entwurf dieser Vision einer anderen Kultur k o n n t e er freilich nicht schon auf ethnologische Forschungen zurückgreifen - seine Konstruktion einer „autre monde" m u ß t e er den damals herrschenden Lebensverhältnissen als etwas entreißen, das diesen selbst als Möglichkeit oder aber als Antithese innewohnte. Dennoch machte Morus es sich selbst u n d seiner Leserschaft nicht einfach, die Verwandschaft der Kulturen zu erkennen. So unterstellte er der englischen Gesellschaft, sie sei kaum dazu in der Lage und Willens, die Errungenschaften der „anderen Kultur" aufzugreifen. D a ß sie es dennoch einst vermöge, dies ist seinem eigenen Verstände nach die eigentliche Vision der „Utopia". Indessen fallen Utopien der galoppierenden Moderne nicht nur in die Zügel, sie gehören ebenfalls zum festen Begleitprogramm gesellschaftlicher Rationalisierung. Deutlich wird dies immer dann, wenn der Rückzug in die soziale Idylle mit neuesten stadtplanerischen und bautechnischen Errungenschaften, mit modernen Maschinen u n d einer vorbildlichen medizinischen Versorgung versüßt wird. D a ß solche Innovationen, die in der Realität erst vereinzelt auftreten, in den Utopien „zusammengetrommelt" und zu einer in sich stim-

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mig erscheinenden Welt gebündelt werden, stellt die Modernität des utopischen Denkens zumindest auf technischem Gebiet unter Beweis. Recht besehen führte das utopische Denken von Anfang an eine gespaltene Existenz, ein Leben mit zwei O p t i o n e n , deren eine mit dem gesellschaftlichen Fortschritt haderte, während die andere sich den technischen Entwicklungen ergab. In die Z u k u n f t wies zudem der emanzipatorische Anspruch utopischer Planung: daß der Mensch prinzipiell dazu befähigt ist, seine Geschicke in die eigenen H ä n d e zu nehmen. Utopien sind angewandte Planungen im Reich der Fiktion. So antiquiert diese dem Inhalt nach auch ausfallen mögen, modern ist an ihnen allemal das Ansinnen, die Welt nach Maßgabe der Vernunft neu zu gestalten. Die in Utopien zum Zuge k o m m e n d e n Wünsche nach einer N e u p l a n u n g der Welt verstanden es zumeist, sich das harmlose Antlitz friedlicher Ref o r m p r o g r a m m e zu geben. H a t auch utopisches Denken objektiv gesehen eine „wirklichkeitstranszendente Orientierung", die bestehende Seinsordnungen sprengt, (vgl. M a n n h e i m 1985 S. 169) waren dennoch die Utopisten - mit Ausnahme der religiösen Eiferer, für die alle Kompromisse des Teufels sind — fest davon überzeugt, daß die meisten der von ihnen intendierten sozialen Umwälzungen in Gestalt von Reformen gewaltfrei durchgesetzt werden könnten. Fourier, der in seinem Zorn gegen die herrschenden Zustände oft genug Gift und Galle spuckte, war nicht gerade ein Friedensengel, doch lehnte er Gewalt innerlich ab (vgl. Ramm 1955 S. 381) und haßte selbstverständlich die Französische Revolution, die ihn zum Besitzlosen gestempelt hatte. Tatsächlich durchkreuzen sich im utopischen Denken zwei Ambitionen: eine eher friedfertige, welche sich absichtlich blind stellt gegenüber der revolutionären Sprengkraft von Ideen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse völlig auf den Kopf stellen; und ein unbewußt aggressiver Impuls, der es genießt, die bestehende Welt wenigstens im Reich der Phantasie in die Luft zu sprengen und durch eine neue zu ersetzen - als wollten sich die Utopisten auf diese Weise an ihrem selbstauferlegten Pazifismus rächen... Neben allem friedfertigen Pragmatismus auf der einen u n d radikalen Veränderungswünschen auf der anderen Seite ist auch in denjenigen Utopien, die von keinem chiliastischen Eifer beflügelt werden, ein Rest von Heilsgewißheit verborgen. Er tritt in der Vorstellung zutage, daß mit der Verwirklichung vollendeter gesellschaftlicher H a r m o n i e das geschichtliche Sein der Menschen selber historisch würde. Für Utopien ist sozialer Konstruktivismus nicht nur Selbstzweck, sondern ebenso Mittel zur Erreichung eines gesellschaftlichen Zustands, der in letzter Konsequenz das Ende aller menschlichen Bemühungen u m Fortentwicklung bedeutet und also ewig währen soll. Einzig

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Fourier hat die geschichtslose Epoche gesellschaftlichen Glücks in Perioden gegliedert und zeitlich beschränkt sehen wollen, freilich ohne einen präzisen G r u n d - außer dem der biologischen Erschöpfung - hierfür angeben zu können. Der heilsgeschichtliche Aspekt der Utopien verspricht das Paradies auf Erden und damit, ob zeitlich befristet oder nicht, einen sozialen Zustand der vollkommenen Ruhe und Stabilität. In solcher Sehnsucht waltet ein deutlich antimodernes Ressentiment: Die für den Einzelnen unberechenbar erscheinende und sich zum Teil auf seine Existenz zerstörerisch auswirkende Veränderungsdynamik des modernen Lebens soll endlich gesellschaftlichem Stillstand weichen. Die Erde darf sich von n u n an nicht mehr drehen. Im Wunsch nach dem Ende aller Bewegung und Entwicklung spricht sich zugleich ein ohnmächtiger Protest gegen das biologische Schicksal des Menschen aus, ein sterbliches Wesen zu sein. Alle Utopien beschwören darum einen fulminanten Fortschritt der Medizin und Ernährungsweisen, um eine deutliche Heraufsetzung der Lebenszeit versprechen zu können. Fourier, der sich bei Voraussagen immer sehr präzise gerierte, errechnete in diesem Z u s a m m e n hang: „Die Kraft und die Langlebigkeit werden verschieden rasch während sechzehn Generationen zunehmen. D a n n wird das ,volle' Alter hundertvierundvierzig Jahre betragen, u n d die Kraft wird dem angemessen sein." (Fourier 1966 S. 118) Das im Bild des ewigen Friedens stillgestellte Leben der „glücklichen Gemeinschaften" erinnert an einen Dornrösschenschlaf. Zwar will Utopia ein immerwährender H o r t der Freude sein, bevölkert von fröhlichen Menschen, indessen kann der Schleier der Melancholie, den ein auf das Ende der Geschichte spekulierender Verstand über die Idylle der Seligen ausbreitet, nicht geleugnet werden. Sicherlich lebt es sich im Zeitalter der Harmonie länger u n d gesünder, jedoch ohne Wagnis und Temperament, als sei ganz Utopia ein Sanatorium, ein „Zauberberg" eben, auf dem achtzig, hundert, ja h u n dertzwanzig Jahre alte Menschen eine schlafwandlerische Existenz führen. W i e an den Fäden weiser Schonung gezogen, bewegen sie sich, ohne anzuecken u n d ohne miteinander in Streit zu geraten. Solche Ereignislosigkeit wird aber nicht nur Körper und Seele lähmen, auch der Verstand soll ja mit der Konzeption u n d Verwirklichung des Utopischen seinen Höhe- und E n d p u n k t finden. Fourier wollte mit seiner „Theorie der vier Bewegungen" das ganze System der westlichen Wissenschaften, diese „Büchse der Pandora", hinwegfegen u n d an seiner Stelle „einen Plan höchster Weisheit enthüllen." (Fourier 1966 S. 139) Damit, daß „höchste Weisheit" in die Welt tritt, findet endlich auch das intellektuelle Grübeln seine Ruhe. Wem aber konnte daran gelegen sein außer den rastlosen Schöpfern utopischer Traumwelten selbst?

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Der Intellektuelle und die Utopie Träger des utopischen Denkens ist stets der Intellektuelle, behauptet Wolfgang Lepenies in seinen 1991 gehaltenen Vorlesungen über den „Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa". Ihn charakterisiert er als einen „Reisenden durch die Zeit", der zuweilen Lust verspürt, „nicht immer nur Reisender, sondern vielleicht auch einmal Zugführer zu sein oder zumindest dem Zugführer zu sagen, wohin die Reise gehen soll." (Lepenies 1992 S. 13/14) D a n n aber würde die Fahrt wirklich gefährlich; die eigentliche Bestimmung des Intellektuellen sei es nämlich, an der Welt zu leiden und daran, daß er sich dazu verurteilt fühlt, über die Geschicke der Menschen bloß nachzudenken, statt tatkräftig in sie einzugreifen. Wegen dieser ihm auferlegten H a n d l u n g s h e m m u n g aber neige der Intellektuelle zur Schwermut. Für diese fragwürdige Selbstdefinition der denkenden Z u n f t kann man in Albrecht Dürers Kupferstich „Die Melancholie" (1514) einen anschaulichen Beleg sehen. Abgebildet ist dort ein Engel als Poeta laureatus, der in traurig sinnierender Pose seinen Kopf gestützt hält, der offensichtlich bis zum Rand gefüllt ist mit dem Wissen der Artes liberales et mechanicae - symbolisiert durch die ihn umgebenden Gerätschaften. Sein Blick schweift sehnsüchtig ab, in die Ferne vermutlich, die im Hintergrund des Bildes durch den Strahlenkranz der aufgehenden Sonne hell erleuchtet wird. Ausgerechnet mitten in diesem Meer der Strahlen, diesem hoffnungsfrohen Zukunftshorizont utopischer Reflexion, breitet ein Nachttier seine fledermausähnlichen Flügel aus, auf denen Dürer durch das Wort „Melencolia" mitleidlos auf die Schattenseite der Gelehrtenexistenz aufmerksam macht. O h n e auf dieses Bild Bezug zu nehmen, charakterisiert Lepenies den Intellektuellen gleichermaßen als „konstitutionellen Melancholiker, der sich die Flucht in die Utopie offenhält", (Lepenies 1992 S. 15) wobei er den Begriff der Melancholie in seiner kulturgeschichtlichen, nicht in seiner psychoanalytischen Bedeutung gebraucht. 9 K o m m t allein der Intellektuelle als autorisierter Träger des utopischen D e n kens in Betracht — eines utopischen Denkens, wie es in den christlichen Reformationsprogrammen und in den humanistischen Staatsromanen greifbare Gestalt gewann - , so impliziert dies doch, daß es vor einem Eberlin von Günzburg u n d einem T h o m a s Morus gar keine „echten" Intellektuellen gegeben hat. Zumindest keine, die gedankenverloren und phantasievoll genug waren, um von der Droge Utopie abhängig zu werden. Ferdinand Seibt, der in seinem Buch „Utopica. Modelle totaler Sozialplanung" (1972) lange vor Lepenies einen konstitutiven Z u s a m m e n h a n g zwischen der Geburt des Intellektuellen und der klassischen Utopiekonzeption sah, beschreibt die all-

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mähliche Entstehung des weltlichen Gelehrtenstandes im Zusammenhang mit der Entwicklung der europäischen Stadt. Seit dem 12. Jahrhundert begann sich dort ein Weltklerus außerhalb der mönchischen Klausur, die allein ein „Leben mit Büchern" gewährte, durch den Ausbau des Pfarrwesens zu etablieren. Dieser Weltklerus nahm Kontakt mit der Laiengesellschaft auf, um sie belehren und lenken zu können. Einmal mit dem Reich des „Geistes" in Berührung gebracht, bemühten sich jedoch die privilegierten städtischen Laienkreise bald selbst um ein „intellektuelles" Profil. Im Verlauf dieses Prozesses, bei dem die Auseinandersetzungen zwischen Klerus und Laien ständig zunahmen, suchte schließlich auch die ungelehrte Stadtbevölkerung, zu einer eigenen geistigen Identität zu gelangen. Das utopische Denken aber sproß bald schon auf beiden Böden: Auf dem der städtischen Intelligenz, wo es eine literarische Existenz führte und sich in rationalen Spekulationen übte, und auf dem Nährboden plebejischer Sehnsüchte, die sich von Fall zu Fall zu einem von chiliastischen Wunschbildern erfüllten revolutionären Aktivismus steigern konnten. Indessen handelte es sich beide Male um einen Säkularisierungsprozeß, der seinen Ursprung in der klösterlichen Daseinsform hatte. Die Mönchsaskese wurde auf der Schwelle zur Neuzeit im ethischen Rigorismus der klassischen Utopien und religiösen Erneuerungsbewegungen der moralisch verkommenen Kirche als eine „Zukunftsvision aus ferner Vergangenheit" entgegengehalten, (vgl. Seibt 1 9 7 2 S. 2 3 9 ff.) Es wäre jedoch falsch zu glauben, daß die aufrührerischen religiösen Vorstellungen des einfachen Volkes und das utopische Denken der Intellektuellen sich allein gegen die Kirche zur Wehr setzten. Sie attackierten mindestens ebenso engagiert die etablierte Gesellschaft des mittelalterlichen Stadtbürgertums. Der aufblühende Bürgerstand war es nicht, mit dessen Emanzipationswillen und politischem Machtzuwachs das utopische Denken Schritt halten wollte. Im Gegenteil, vermutete es doch in den ständischen Privilegien, in den Privatisierungswünschen und im egoistischen Wirtschaftshandeln des ökonomisch erstarkenden Stadtbürgertums seinen eigentlichen Widerpart. Damit, daß Seibt die Utopie als spezifisches Produkt eines Denkens bezeichnet, „bei dem Grundelemente des bürgerlichen Daseins aufgelöst werden", wird deutlich, daß sich die christliche Gelehrtenrepublik des Mittelalters erst in Abgrenzung gegenüber dem jungen Stadtbürgertum, der neuen Trägerschicht gesellschaftlichen Fortschritts, in einen „modernen", stadtsässigen Intellektuellenstand zu verwandeln vermochte, (vgl. Seibt 1 9 7 2 S. 2 4 7 ) So einleuchtend dies auch klingen mag: Die Eingrenzung des Intellektuellenbegriffs auf eine städtische Schicht, die weder weit vor der Zeit des Humanismus noch außerhalb der Grenzen Europas nachzuweisen ist, kann nur

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dann überzeugen, wenn die okzidentale Stadt des Mittelalters in der Geschichte ein absolut einmaliges und unverwechselbares Phänomen darstellt. Städte hat es auch in viel früherer Zeit und in anderen Kulturen gegeben - weshalb aber keine Utopien fabulierenden Intellektuellen? Zur Lösung dieser Frage trägt Max Webers „Stadtessay" bei, 1 0 in dem nachgewiesen wird, daß allein mit der Stadtentwicklung des christlichen Europas die Entstehung eines Bürgerstandes einherging, der ökonomisch stark genug war, um sich gegen die ursprünglichen Stadtherren, die feudalen und kirchlichen Gewalten, zu behaupten und deren Herrschaft mit Hilfe des Plebs zu usurpieren. Dieses allein im Okzident zur Macht gekommene Stadtbürgertum war zahlreich genug, daß sich aus ihm eine Schicht herauszulösen vermochte, die ihm sozial zugehörte und zugleich in kritischer Distanz gegenübertrat. Innerhalb der spätmittelalterlichen Gesellschaft waren die Intellektuellen diejenigen, die ihre Existenz der Befreiung des Stadtbürgertums aus den feudalen Fesseln zu verdanken hatten und sich dennoch weigerten, ihre geistigen Kapazitäten für die ideologische Propaganda der neuen Herren aufzubrauchen. Versteht man den Intellektuellen als genuines Sozialisationsprodukt einer Emanzipationsbewegung, die mit der mittelalterlichen Stadtautonomie in die Geschichte trat, dann in dem spezifischen Sinne, daß er die bürgerliche Freiheitsvorstellung auf alle sozialen Schichten zu erweitern suchte. T h o m a s Morus und seine Anhänger wollten dafür einstehen, daß jedes Gesellschaftsmitglied die materielle und geistige Ausstattung erfährt, die es dazu befähigt, im Schutzraum des bürgerlichen Freiheitsversprechens - das in dem Ausspruch „Stadtluft macht frei" kulminierte - nicht nur in abstracto, sondern konkret, u n d dies heißt: mit Würde, leben zu können. Die klassischen Utopien kleideten diese Forderung in Erzählformen ein, die höchst Erstaunliches, ja kaum Glaubhaftes zu berichten wußten. D e n n o c h beanspruchten sie größte Authentizität u n d suchten mit minutiösen Schilderungen den Beweis dafür anzutreten, daß soziale Gerechtigkeit realisierbar ist, obgleich die hierzu notwendigen Schritte (Besitzlosigkeit, Abschaffung des Luxus produzierenden Gewerbes etc.) die Mehrzahl derjenigen Zeitgenossen, die lesen konnten, gewaltig vor den Kopf stoßen m u ß t e n . Z u den Merkwürdigkeiten utopischen Fabulierens gehörte überdies der Versuch, dem gesellschaftspolitischen und ökonomischen Modell der mittelalterlichen Stadt, die Marktort war, mit einer Aktualisierung gemeinwirtschaftlicher Lebensformen zu widersprechen, die ihr Vorbild in der Exklusivität der klösterlichen Lebenswelt hatten. Auf diese Weise verschmolz die zukunftsweisende Forderung nach sozialer Gerechtigkeit mit einer rückwärtsgewandten Zivilisationskritik.

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G l e i c h w o h l ist zu bezweifeln, o b m a n schon den f r ü h e n U t o p i e n das Etikett des K u l t u r p e s s i m i s m u s a n h e f t e n darf. Paßt dies auch bestens zu Lepenies' M e l a n c h o l i e v e r d a c h t , darf d o c h nicht unterschlagen w e r d e n , d a ß sowohl M o r u s , der e i n f l u ß r e i c h e Politiker u n d spätere Märtyrer, wie auch C a m p a nella, der gescheiterte Volksaufwiegler u n d Rebell, alles a n d e r e als h a n d l u n g s g e h e m m t e Intellektuelle waren. D e r eine w u r d e schließlich von seinem K ö n i g h i n g e r i c h t e t , der a n d e r e von der Kirche zu fast lebenslanger K e r k e r h a f t verurteilt, u m nicht wieder aktiv in die Politik eingreifen zu k ö n n e n . D a s U t o p i s c h e , das in späterer Zeit zu einem S c h i m p f w o r t v e r k ü m m e r t e , welches alle n ü c h t e r n e n Geister u n d an ihrem M a c h t e r h a l t h ö c h s t interessierte Kreise im M u n d e f ü h r t e n , u m ihre Kritiker als naive Weltverbesserer u n d P h a n t a s t e n bloßzustellen, ist f ü r die H u m a n i s t e n keineswegs schon A u s d r u c k eines m e lancholischen Zeitvertreibs gewesen. Seibt urteilt d a r u m ganz trefflich: „Stets das M i ß v e r h ä l t n i s ihrer intellektuellen Potenz u n d ihrer politischen O h n m a c h t vor A u g e n , s u c h t e n i m m e r wieder einzelne aus dieser G r u p p e , ihre Ü b e r l e g e n h e i t wenigstens e i n e m K o n z e p t von einer besseren Welt anzuvert r a u e n , u m sich dabei (...) als die besseren R e g e n t e n , w e n n n i c h t gar als die besseren D e m i u r g e n zu erweisen." (Seibt 1972 S. 2 4 8 )

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3. Soziale Kontrolle und geometrischer Stadtgrundriß

Seit der „ U t o p i a " des T h o m a s M o r u s trifft der Leser utopischer R o m a n e nicht nur a u f minutiöse Schilderungen neuer Formen gesellschaftlichen Lebens, sondern auch a u f recht genaue Darstellungen ganzer Stadtanlagen und einzelner Bauten. Literarische Stadt- und Architekturutopien sind die konkreten Schauplätze solcher H a n d l u n g e n , die der Sehnsucht nach einer „besseren" Welt R a u m geben wollen. Ideal mutet an diesen in der Phantasie errichteten Städten und G e b ä u d e n an, daß sie sich k o m p r o m i ß l o s der G e sellschaft, die in den Texten lebendig wird, anzuschmiegen scheinen. U n d umgekehrt: Waren doch erst mit der Beschreibung des „idealen" Grundrisses solcher Städte wesentliche Ordnungsvorstellungen zu veranschaulichen, die mit den Gesellschaftsentwürfen von M o r u s , Campanella, Andreae und anderen Autoren einhergingen. D i e stadtplanerische Rationalität, die in der Geometrisierung der Idealstadtanlagen sichtbaren Ausdruck erlangte, schien in besonderem M a ß dazu geeignet, die Macht einer Vernunft zu symbolisieren, welche über die als C h a o s e m p f u n d e n e reale Lebensordnung triumphieren sollte. Konsequentester Ausdruck dieser Vernunft ist in den U t o p i e n weniger die A u s m a l u n g des Paradieses als vielmehr der Vollzug sozialer und stadtplanerischer Gesetzgebung gewesen. D i e neuen Moral- und Wirtschaftsgesetze der „glücklichen G e m e i n s c h a f t e n " hatten altes gesellschaftliches Unrecht auszuräumen, und regelgerechte Stadtgrundrisse sollten die vermeintliche U n o r d n u n g der mittelalterlichen Stadt überwinden helfen. D i e humanistischen Idealstadtkonzeptionen sind anschauliche D e m o n s t r a tionen neuer Vorstellungen über das Z u s a m m e n l e b e n der Menschen und das Funktionieren der Gesellschaft. D e r Traum v o m guten Leben, eingekleidet ins Bild einer „ C i t t à del Sole", scheint insbesondere in wirtschaftlichen Krisenund Umbruchsituationen virulent zu sein. D a s alte Gesellschaftsgebäude zeigt sich voller Risse, und das Unbehagen an den sozialen Zuständen verwandelt sich in die Konstruktion einer Welt, in der alle Interessengegensätze friedvoll beigelegt sind. Was dabei die alternativen Gesellschaftsmodelle über lange Zeiträume hinweg einte, war das Fehlen eines historischen Bewußtseins. G e r a d e dieser Mangel aber versetzte die visionären Geschichtenerzähler in

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die Lage, ihre utopischen Vorstellungswelten in überaus konkrete Schilderungen städtischen Lebens einmünden zu lassen. Von Piatons „Politeia" bis zur Schwelle der französischen Revolution herrschte im utopischen Denken der Versuch vor, die Kritik an den bestehenden O r d nungen „positiv" zu formulieren. Das, was die Autoren im einzelnen als gesellschaftlichen Mißstand angeprangerten, wurde sogleich durch neue Ideen, durch die Schaffung neuer Institutionen, Gesetze und Verhaltensnormen ersetzt. Man dachte in konkreten Alternativen und berücksichtigte kaum schon den historischen Wandel, dessen fragwürdige Resultate die sozialutopische Kritik herausforderten. Keine prognostizierbare und gar politisch manipulierbare Z u k u n f t , worauf die Gesellschaft zusteuert, geriet schon in den Blick, es gab nur ein radikales Entweder-Oder von Fiktion u n d Wirklichkeit in der alles beherrschenden Gegenwart. Die fìktionalen Welten aber - eingekleidet in Reiseschilderungen, die nicht unwahrscheinlicher klangen als die Erlebnisse Marco Polos - trugen sämtlich die provokante Behauptung in sich: Der Traum vom gerechteren Dasein, von dem die Pfaffen behaupteten, er sei nicht von dieser Welt, kann sogleich überall wahrgemacht werden, wenn die Menschen, insbesondere die einflußreichen unter ihnen, nur wollen. U n d natürlich hat auch die Tatsache, daß in der Renaissance so manch eine Idealstadt aus dem Gefängnis literarischer Erzählungen und gezeichneter Darstellungen ausbrach u n d gebaut wurde, im Konkretismus des frühen utopischen Denkens ihren G r u n d . Der Verdacht, daß es im Wesen der Utopie liegt, „daß sie aufhört Utopie zu sein, wenn sie sich als realisierbar erweist", (Kruft 1989 S. 9) ist zugleich eine moderne u n d eine an der Wiege unserer Zivilisation stehende, im alttestamentarischen Bilderverbot verankerte Einsicht. Daneben entstand ein Denken und Handeln, das sich von den Fesseln kirchlicher Dogmen befreien u n d in der Suche nach neuen moralischen Regeln des Zusammenlebens einer vorurteilslosen, alltagspraktischen Sicht auf das irdische Dasein Bahn brechen wollte. Utopisches Denken heißt in der Renaissance nicht Weltflucht und Weltüberhöhung, vielmehr sollte ja die Erforschung des Ideals sozialer Verhältnisse und ästhetischer Proportionen gerade Einblicke in die wahre N a t u r der Menschen u n d der sie umgebenden Dinge eröffnen helfen. Die Humanisten empfanden darum den Versuch, Städte zu entwerfen, die gebaut werden u n d dennoch von Utopia künden sollen, keineswegs als paradox. Das Utopische war für sie nicht in solchen Sphären am besten aufgehoben, an die menschliche Vorstellungskraft grundsätzlich nicht heranreicht, sondern im Gegenteil unmittelbarer Ausdruck eines Denkens, das der Realität kritisch 53

gegenübersteht und zugleich erfinderisch genug ist, um sich den Entwurf neuer Welten zuzutrauen. Utopien deuteten in der Renaissance auf eine Realität, die sich die menschliche Vernunfttätigkeit zu erobern getraute. Dem folgte das architektonische Vorstellungsvermögen auf dem Fuße. Hanno-Walter Krufts Vorbehalt, daß Idealstädte unsichtbar bleiben müssen, „um völlig .ideal' und ,wahr' zu sein", (Kruft 1989 S. 15) ist darum aus Sicht des weltzugewandten Erkenntnisinteresses der Humanisten, das in den naturkundlichen Forschungen Agrícolas einen H ö h e p u n k t erlebte, fehl am Platz. Einem Denken, das spitzfindiger Scholastik entfliehen und sozialpolitisch wirksam werden wollte, kann man nicht auf die Schliche k o m m e n , indem man ihm philosophische Kurzsichtigkeit vorwirft. Natürlich scheitern stets Versuche einer kompromißlosen Verwirklichung des Utopischen, u n d auch die realisierte Idealstadt kündet weit eher von der Ruhmsucht eines mächtigen Bauherrn, als daß in ihr schon eine bessere Welt bemerkbar würde. Möglicherweise wird jedoch das utopische Denken durch sein permanentes Scheitern in der Praxis weniger beschädigt als im Versuch, es vor jeder befleckenden Annäherung an die Wirklichkeit zu bewahren. Wächst doch mit dem Verbot des Praktischwerdens der Utopie bloß die Gefahr, daß ein mit geisterhaften Vermutungen erfülltes H o f f e n auf ein „Zeitalter sozialer Harmonie" schon bei der geringsten Ber ü h r u n g mit den konkreten Bedürfnissen der Menschen wie eine Seifenblase zerplatzt. Von Anfang an beäugten die Mächtigen der Welt mit Argwohn den Konkretismus der Utopisten, ihren Freigeist, der Predigten religiöser Toleranz u n d Ideen zur Reform des Strafrechts auslöste. Freilich, solange durch die utopische Literatur kein konkreter Aufruhr zu erwarten war, da diejenigen, die man hätte fürchten müssen, nicht lesen konnten, vermochten auch machiavellistische Fürsten u n d Kardinäle sich an phantastischen Begebenheiten u n d Argumentationen, die einen gewissen intellektuellen Kitzel versprachen, zu delektieren. Und noch etwas anderes bescherte ihnen G e n u ß : die Aussicht, den eigenen Anspruch auf humanistische Bildung in der G r ü n d u n g einer neuen, nach idealen Proportionen konstruierten Stadt ruhmvoll manifestieren zu können. D a ß sie hierbei auf Konzepte angewiesen waren, die sich als ästhetische Transformationen utopischer Gesellschaftsentwürfe verstehen mochten, nahmen sie dabei gern in Kauf, wohl wissend, daß ideale Grundrißoperationen leichter den gegebenen Lebensverhältnissen anzupassen sind, als daß sie deren Veränderung von sich aus schon herbeiführen könnten. Für die These, daß Idealstadtentwürfe in konstitutivem Z u s a m m e n h a n g mit sozialutopischen Ideen stehen und nicht einfach nur ästhetische D e m o n -

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strationen eines besonderen Proportionensinns darstellen, spricht die Tatsache, daß Schilderungen regulär geplanter Städte integrierter Bestandteil der ersten Staatsromane sind. U n d ebenso, daß die Geschichte der literarischen Utopie und die Entwicklung der Architekturtheorie und Idealstadtplanung in der frühen Neuzeit nahezu parallel und sich gegenseitig befruchtend verliefen. In der Renaissance wurde das an der biblischen Schilderung des „heiligen Jerusalems" orientierte Stadtideal des Mittelalters, das sich in allegorischen Darstellungen aussprach, durch den Wunsch abgelöst, die Vorstellung von einer idealen Stadt derart zu präzisieren, daß sie konkret planbar u n d realisierbar sei. Einen Auftakt dieser Bemühung findet sich in Albertis zwischen 1443 u n d 1452 geschriebenen „Zehn Bücher(n) über die Baukunst", in denen sich funktionale und lebenspraktische Ansätze mit dem Ziel verbinden, daß in der idealen Stadt die Bewohner ein friedliches u n d möglichst sorgenloses Dasein fristen können. Das eigentlich Neue an Albertis Betrachtungsweise liegt jedoch darin, die Stadt als „Kunstwerk" entdeckt zu haben. Alle Planung stand fortan im Banne dieses ästhetischen Anspruchs, den Alberti selbst noch nicht ins Bild gebracht hatte. Einen ersten Versuch in dieser Richtung lieferte Antonio di Pietro Averlino, genannt Filarete. Er schrieb als Mailänder Hofarchitekt seinen „Trattato dell' Architetura" (1460-64) in der Form eines Romans nieder. Im Dialog zwischen einem humanistisch gebildeten Erzieher aus der Toscana (hinter dem sich Filarete höchstselbst verbirgt), seinem Patron Francesco Sforza u n d dessen Sohn beschreibt der Autor die Anlage der Planstadt Sforzinda u n d der Hafenstadt Plusiopolis. Als loyaler Höfling, für den die herrschende Sozialordnung naturgegeben war, versuchte sich Filarete noch nicht an der Beschreibung einer neuen, der Herrschaftsordnung seiner Zeit widersprechenden Gesellschaft. Immerhin stellte er bereits differenzierte Überlegungen über die Lebensweisen der arbeitenden Klassen und die Ausführung ihrer Wohnhäuser an. Interessant ist aber vor allem, daß Filarete mit der eingehenden Schilderung des städtischen Lebens und der detaillierten Betrachtung von Einzelgebäuden und Plätzen sich immer weiter von der geometrisch strengen Radialanlage seines in Ansätzen schon funktional zonierten Idealplans entfernte, (vgl. H a r t m a n n 1980 S. 439/40) Die Verknüpfung des Planstadtgedankens mit einer Sozialutopie wagte auf der Schwelle zur Neuzeit als erster T h o m a s Morus. Sein Roman „Utopia" entstand rund 60 Jahre nach der von Alberti u n d Filarete vorgenommenen architekturtheoretischen Fundierung rationaler Stadtplanung sowie nach der tatsächlichen Grundsteinlegung zur Errichtung der ersten gebauten Idealstadt. Die Rede ist von Pienza (1459), das sich der Humanistenpapst Pius II.

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erbauen ließ, dem als Berater für die ersten Planungsentscheidungen Alberti zur Seite gestanden haben dürfte, (vgl. Kruft 1989 S. 22) Im Gegensatz zu dieser realen Idealstadtgründung und vielen anderen, die noch folgen sollten und die allesamt von mächtigen Landesherren in die Wege geleitet wurden, steht die Bemühung der Humanisten (sieht man von Morus einmal ab), sozialutopisches Gedankengut durch Schilderungen idealer Stadtgesellschaften, nicht aber idealer Territorialstaaten zu veranschaulichen. Ausgerechnet in einer Zeit, in der die Städte, die unter den Bedingungen des Kaiserreiches einflußreich und weitgehend autark gewesen waren, ihre politische Unabhängigkeit verloren und in größere Staatengebilde eingingen, erzählten die Utopisten mit Vorliebe vom Glück einer von Stadtmauern eng umschlossenen Gemeinschaft. Auf diese Weise gab das utopische Denken bereits in den ersten literarischen Verlautbarungen seinen restaurativen Charakter preis, (vgl. Holl 1990 S. 15 ff.) Die gleichen Intellektuellenzirkel, die, wie von Ferdinand Seibt zu erfahren war, im späten Mittelalter das kritische Denken in Opposition zu den patrizialen Privilegien auszubilden begannen, haben in einer Epoche, in der die Städte um ihre wenigen verbliebenen Privilegien kämpfen mußten, Kritik an der landesherrlichen Obrigkeit geübt und Partei für die verblühende „bürgerliche" Stadtkultur ergriffen. Gleichwohl spricht vieles dafür, daß die sozialutopisch engagierten Humanisten bei ihrem Plädoyer für die ideale Stadtgesellschaft weniger an die vergangene Pracht und Herrlichkeit von Brügge, Antwerpen oder Venedig dachten als vielmehr an die Verfassung der antiken Polis. An der Polis dürfte die Humanisten nicht nur der verfassungspolitische Aspekt interessiert haben, sondern ebenfalls und mehr noch der Umstand, daß es in der Antike Bestrebungen gegeben hatte, soziale und städtebauliche Ordnungen aufeinander zu beziehen. Schon aus der Zeit des klassischen Griechenlands ist der Versuch nachweisbar, die Gründung einer neuen Koloniestadt in Süditalien mit einem optimalen Verfassungsentwurf zu koppeln. Die Stadt Thurioi wurde 443 v. Chr. erbaut, um den Nachkommen der Bewohner des zerstörten Sybaris eine neue Heimstatt zu geben. Zuvor hatte man auf Betreiben des Perikles den Versuch gemacht, die versprengten Bürger der zerstörten Polis, die unter Anstiftung eines größenwahnsinnigen Tyrannen ihren eigenen Untergang heraufbeschworen hatten, in einer neuen Stadtgründung anzusiedeln — was aber mißlang. Wahrscheinlich empfanden es die Politiker Athens wegen der tragischen Geschicke dieser gescheiterten Bürgerschaft für höchst angebracht, der neuen Stadt eine besonders gut durchdachte demokratische Verfassung mitzugeben. Als deren mögliche Autoren werden unterschiedliche Namen wie Protagoras und Herodot genannt, 57

während als Urheber des architektonischen Plans der neuen Stadt in der „Magna Graecia" Hippodamos von Milet in Frage k o m m t . Sollte H i p p o d a m o s tatsächlich der Entwerfer der neuen Stadt gewesen sein, so k ö n n t e auch deren Verfassung aus seiner Feder stammen, behauptete doch Aristoteles in seiner „Politik", daß mit dem berühmten Bürger aus Milet ein Planer in die Geschichte trat, der sich nicht nur als Architekt Gedanken um einen intelligenten Stadtgrundriß machte, sondern als Philosoph zugleich am Entwurf der besten Staatsform interessiert war. (vgl. Holl 1990 S. 9) Wie auch immer: Thurioi war als ideale Stadt für eine demokratisch zu festigende Bürgerschaft konzipiert, wobei denn die „hippodamische O r d n u n g " das demokratische Ideal der „Isonomia", des Ausgleichs gesellschaftlicher Kräfte, zur Darstellung bringen sollte, (vgl. Kruft 1989 S. 12) Die Rationalisierung der Planung wurde von den Griechen als die städtebauliche Entsprechung eines für vernünftig erachteten Verfassungsentwurfs angesehen. Aristoteles verstand speziell das Planungsmodell eines sich horizontal über die Ebene gleichmäßig ausbreitenden Rasters als genuin demokratisch, und ging davon aus, daß demgegenüber eine autoritäre Staatsform städtebaulich gesehen eine vertikale Tendenz aufweise, (vgl. Holl 1990 S. 10) Als seien sie hierüber bestens unterrichtet gewesen, traten auch Morus u n d Campanella in ihren Utopieentwürfen in der Personalunion von Stadtplaner u n d Staatsphilosoph in Erscheinung, und mehr noch: Während die der angeblichen „Freiheitsutopie" des T h o m a s Morus quadratisch auf den Leib geschneiderte Stadt dem hippodamischen Primat der egalisierenden Horizontale entspricht, ist der städtebauliche Charakter der Sonnenstadt Campanellas, die laut Bloch eine „Sternendiktatur" in ihren trutzigen Mauerringen birgt, dementsprechend vertikal ausgerichtet. Nicht nur die Literaten Morus und Campanella, sondern ebenfalls die Idealstädte entwerfenden Architekten ihrer Zeit waren daran interessiert, den antiken Z u s a m m e n h a n g von Staats- und Stadtplanung wieder aufleben zu lassen. Wohl kann auch die Geschichte der mittelalterlichen Stadt auf unterschiedliche Verfassungen verweisen, jedoch kaum schon auf Beispiele rationaler Raumplanung. Im Gegenteil, die Stadtsilhouetten, die sich dem Auge weitgereister Humanisten wie Erasmus von Rotterdam (der die „Utopia" seines Freundes Morus redigiert hatte) bereits von Ferne darboten, standen dafür ein, daß die O r d n u n g der mittelalterlichen Stadt nach völlig anderen Prinzipien funktionierte als die Idealstadtplanungen in Antike und Renaissance. Was bei Annäherung an eine fast kreisrunde Stadt wie Nördlingen erkannt werden konnte, war keine nachvollziehbare Ordnungsgestalt, sondern eine dichtgedrängte, chaotisch anmutende Anzahl wichtiger Bauwerke wie

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Stadtburg, Schloß, D o m , Kirchen, Klöster u n d Amtsgebäude aller Art, die sich durch große oder kleinere, wuchtige oder schlanke, runde oder eckige Turme und hohe Dächer über die Stadtmauern hinweg bemerkbar machten. Die mittelalterliche Stadt konstituierte derart eine „Bedeutungsordnung", die nicht nur durch die Würde einzelner Bauwerke, sondern ebenfalls durch Fragen der Abgrenzung, der Topographie, durch (kirchen)geschichtliche Begebenheiten, alte Grund- und Marktrechte etc. vorgegeben war. Die nach unterschiedlichen Bedeutungen definierten „ausgewählten Orte", die bebaut waren oder als Plätze und Friedhöfe fungierten, addierten sich auf engstem u m m a u e r t e m Raum zur mittelalterlichen Stadt, wobei die Wegeverbindungen zwischen ihnen städtebauliches Beiwerk blieben. Jedenfalls wurde die bereits in den D o m b a u h ü t t e n nach rationalen Kriterien praktizierte Vermessungskunst ganz offensichtlich nicht bei der Anlage einer von Trampelpfaden, engsten Straßen und Gäßchen kreuz und quer durchzogenen Stadt des Mittelalters zu Rate gezogen. Als die Bedeutungen, welche die O r d n u n g der mittelalterlichen Stadt begründeten, angezweifelt und anderen Ansprüchen, die an das urbane Leben gestellt wurden, weichen m u ß t e n , sah man in den alten Städten keine Planungsvernunft mehr am Werk, sondern nurmehr Willkür und Zufall. Für den Architekturtheoretiker Alberti und den Sozialutopisten Morus hatte die von Seuchen und Feuersbrünsten immer wieder heimgesuchte, viel zu eng bebaute, schlecht belichtete und durchlüftete mittelalterliche Stadt ihr Uberlebensrecht verloren. An die Stelle der Priorität des einzelnen Bauwerks setzten sie d a r u m - ähnlich wie Hippodamos von Milet und die Planer der großen römischen Militärlager — die städtebauliche Dominanz eines dem Verkehr u n d der Belüftung der Städte dienenden Straßenraums. Doch hatte dieser neben seinen neuen Funktionen auch eine symbolische Bedeutung zu erfüllen. Das Raster der Straßen und die regelmäßige A n o r d n u n g der Plätze und Bauwerke waren nicht nur Ergebnis moderner Verkehrsplanung, sie sollten ebenso dem Repräsentationsbedürfnis eines auf rationalen Grundsätzen aufruhenden Staatswesens dienen. Sah der mittelalterliche Baumeister im Nebeneinander mehrerer Häuser den Reiz des Ensembles u n d die Chance zur Stiftung eines unverwechselbaren Ortes im Kontinuum des Städtischen, ging es n u n m e h r darum, die Orientierung in der Stadt durch gerade Linien, rechte Winkel u n d geometrische Grundrisse zu gewährleisten. Der neue formale Ordnungssinn schien gegenüber der alten „erzählerischen" Bedeutungso r d n u n g ein vernünftigeres Verfahren darzustellen. Die gezeichneten Stadtpläne legten immer weniger Wert auf die Standorte bedeutender Bauwerke u n d hoben nun die strenge Geometrie regelmäßiger Straßennetze hervor.

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