Die DDR - Recht und Justiz als politisches Instrument [1 ed.] 9783428502202, 9783428102204

Das Recht und die Justiz waren im Verständnis der DDR Instrumente der gesellschaftlichen Praxis und insofern ein Mittel

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Die DDR - Recht und Justiz als politisches Instrument [1 ed.]
 9783428502202, 9783428102204

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REINER TIMMERMANN (Hrsg.)

Die DDR- Recht und Justiz als politisches Instrument

Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann

Band 89

Die DDR- Recht und Justiz als politisches Instrument Herausgegeben von

Heiner Timmermann

Duncker & Humblot · Berlin

Dieses Projekt wurde mit Hilfe der ASKO-Europa-Stiftung, Saarbrücken, unterstützt.

Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme

Die DDR- Recht und Justiz als politisches Instrument I Hrsg.: Heiner Timmermann. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V.; Bd. 89) ISBN 3-428-10220-7

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-10220-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 8

Vorwort Im Rechtsverständnis der DDR war das Recht Instrument der gesellschaftlichen Praxis und insofern ein Mittel der bewußten Gesellschaftsgestaltung im Sinne des Sozialismus. Recht ist nicht so sehr ein Mittel zur Sicherung der Ordnung und Gewährleistung der bestehenden Verhältnisse, sondern Mittel zur beständigen Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft. Das sozialistische Recht war ein Mittel des Staates, um die gesellschaftliche Entwicklung zu organisieren. Nach DDR-eigenen Angaben unterscheidet sich das Recht in seinem Wesen, in seiner gesellschaftlichen Gesamtfunktion, in seinem Inhalt und in der Art seiner Verwirklichung vom kapitalistischen Recht. Die sozialistische Rechtsordnung leitete sich vom Marxismus-Leninismus ab und beruhte auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln und "bringt die politische Herrschaft der Arbeiterklasse zum Ausdruck". 1 Seit der Wiedervereinigung sind Rolle und Funktion des Rechts und der Justiz in der DDR Gegenstände zahlreicher Publikationen? Der vorliegende Sammelband faßt die für eine Publikation überarbeiteten Ergebnisse einer Fachkonferenz zusammen, die das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut der Europäischen Akademie Otzenhausen und die Bundeszentrale für politische Bildung durchführten. Für die Kooperation bedanke ich mich bei Frau Dr. Astrid Wokalek. Bei der Auswahl der Themen haben wir uns auch leiten lassen von der Liste der Forschungsdesiderata, die der Bericht der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" vom Mai 1994 nannte. 3 Das Einführungskapitel enthält zur Orientierung einen allgemeinen und zusammenfassenden Vergleich zwischen den Rechtsordnungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, eine Analyse der politischen Steuerung der Justiz in der DDR aus rechtspolitischer Sicht sowie einen umfangreichen und grundsätzliKleines Politisches Wörterbuch, Berlin (Ost), Neuaugabe 1988, S. 813. Vgl. Bericht der Enquete-Kommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", hrsg. vom Deutschen Bundestag 12/7820, 31. 5. 1994, S. 86-103; Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", Band IV: Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat, BadenBaden und Frankfurt am Main 1995; Robert Hettlage/Karl Lenz (Hg.), Deutschland nach der Wende. Eine Zwischenbilanz, München 1995, S. 22-60; Heiner Timmermann (Hg.), Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert- der Fall DDR, Berlin 1996, S. 63 - 132; Falco Werkentin, Recht und Justiz im SED-Staat, Bonn 1998. 3 Siehe Anmerkung 2 "Bericht", S. 103. I

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Vorwort

chen Beitrag zur Transfonnation der Rechtsordnung von den alten in die neuen Bundesländer mit mannigfaltigen Aspekten der politischen Instrumentalisierung des DDR-Rechts. Verfasser sind Historiker, Politikwissenschaftler und Juristen. Im zweiten Kapitel setzen sich Historiker, Politikwissenschaftler, Soziologen und Juristen mit Aspekten des Familien-, Arbeits- und Strafrechts auseinander. Reiner Timmennann

Inhaltsverzeichnis

I. Einführung Heiner 1immermann

Die Rechtsordnungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR . . . . . . . . . . . . . . . .

II

Dieter Strempel

Politische Steuerung der Justiz in der Deutschen Demokratischen Republik . . . . . . . . . .

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Klaus Letzgus

Transformation der Rechtsordnung von den alten in die neuen Bundesländer. Der schwierige Weg zur Rechtseinheit in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Verschiedene Rechtsgebiete 1. Familienrecht

Ute Schneider

Das Familienrecht der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

2. Arbeitsrecht

Lothar Mertens

Funktionen des Arbeitsrechts in der DDR

81

3. Strafrecht

Hubertus Knabe

Strafen ohne Strafrecht. Zum Wandel repressiver Strategien in der Ära Honecker . . . .

91

Inhaltsverzeichnis

8 Henrik Eberle

GULag DDR?- Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges in den 50er und 60er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Annette Weinke

Stasi und Strafrecht: Ein dunkles Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

I. Einführung

Die Rechtsordnungen der Bundesrepublik Deutschland undder DDR Von Heiner Timmermann Üblicherweise wird die deutsche Rechtsgeschichte in vier Abschnitte eingeteilt: - die germanische Zeit (bis etwa 500 n. Ch.), - die fränkische Zeit (500-900), - das Mittelalter (900-1500), - die Neuzeit (ab 1500). "Gegenstand der Rechtsgeschichte sind die politischen und staatlichen Verhältnisse, aber auch die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen der jeweiligen Rechtsordnung und insbesondere jener Zweig der Staatstätigkeit, den wir als Rechtspflege bezeichnen". 1

Im 19. Jahrhundert wurden noch vor der Reichsgründung einige Schritte zur Rechtseinheit in Deutschland getan (Wechselordnung 1848, Handelsgesetzbuch 1861 als Beispiele). Aber erst die Verfassung von 1871 ebnete den Weg für die Vollendung der Rechtseinheit des Deutschen Reiches. Mit der Kapitulation der Wehrmacht im Mai 1945 ging die Rechtsordnung und damit die Rechtseinheit des Deutschen Reiches nicht unter. Erst mit der Umwandlung des politischen, sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems in der Sowjetzone ging die Rechtseinheit verloren. Bis zur Wiedervereinigung galten für die Bundesrepublik Deutschland und die DDR unterschiedliche Rechtsordnungen, die auf der einen Seite geprägt sind von der Idee eines freiheitlichen und sozialen Rechtsstaates und auf der anderen Seite geprägt waren von der Legitimation des politischen Systems der DDR, dem Marxismus-Leninismus.

I. Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland Die Grundlagen der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland sind die in Art. 20 Abs. 3 GG genannten Prinzipien des Rechtsstaates. Die Struktur des Rechtsstaates läßt sich wie folgt darstellen: t Hans Domcke: Die Rechtsordnung, München -Wien 1965, S. 35; vgl.Georg Dahm: Deutsches Recht, Stuttgart 1965, S. 194 ff.; Hans Hattenhauer: Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Deutschen Rechts, Heidelberg - Karlsruhe, 2. Auf!., 1980, passim.

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( 1) Prinzipiell unveränderliche Grundrechte und Grundgesetzartikel, (2) übriges Grundrecht, (3) Landesverfassungsrecht, (4) internationales Recht, (5) zustimmungspflichtige Bundesgesetze, (6) nichtzustimmungspflichtige Bundesgesetze, (7) Verträge und Abkommen zwischen Bund und Ländern, unter den Ländern oder zwischen verschiedenen Staatsorganen, (8) Rechtsverordnungen in Anlehnung an Gesetze, (9) Gewohnheitsrecht. 2 Zwar ist das staatliche Recht nicht die einzige Form der Rechtsordnung, dennoch ist es unentbehrlich für den Kernbestand und die Rechtsverwirklichung. Spezifisches Mittel dieser Ordnung ist das Gesetz. Das Gesetz sieht Regelungen für folgende Hauptgebiete der Rechtsordnung vor: (1) Privatrecht,

(2) Strafrecht, (3) Verfahrensrecht und Recht der Freiwilligen Gerichtsbarkeit, (4) Öffentliches Recht, (5) Sozialrecht, (6) Kirchenrecht. Diese verschiedenen Rechtsgebiete haben die Funktion, die. soziale Ordnung und die möglichst sinnvolle und zweckmäßige Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie die Gewährung der Rechtssicherheit zu garantieren, damit jeder weiß, wie er sich im Rechtsverkehr zu verhalten hat.

1. Funktion des Rechts im demokratischen Staat

Rechtssetzung und Rechtsanwendung bedeuten immer Herrschaftsausübung. Im westlichen Denken unterscheidet man seit Max Weber vor allem drei Herrschaftstypen: - die charismatische Herrschaft, beruhend auf dem Glauben an übernatürliche Fähigkeiten eines Herrschers, - die traditionelle Herrschaft, beruhend auf Sitte und Herkommen, 2 Thomas Ellwein: Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, Opladen, 4. Aufl., 1977, S. 63 f.

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- die rationale Herrschaft, beruhend insbesondere auf rechtlicher (legaler) Ordnung. "Nach Webers Meinung ist die rationale (legale) Herrschaft allein das richtige Legitimierungsmuster für moderne demokratische Staaten . . . . Rationale Herrschaft ist vertraglich gebunden, damit Übergriffe gegenüber den Herrschaftsunterworfenen verhindert, zumindest minimiert werden". 3 Für Inhalte der vertraglichen Gebundenheit gilt im Rechtsstaat des Grundgesetzes der Primat des Rechts, was keinen Vorrang des Rechts im staatlichen Leben bedeutet. "Der Primat des Rechts ist nicht nur Selbstzweck, er beruht zugleich auf dem Gedanken, daß es eine Stärkung des Rechtsstaates und damit des Staates selbst bedeutet, wenn das Recht gegenüber Widerständen behauptet wird". 4 Der Primat des Rechts ist nicht nur als Bindung an Recht als solches zu verstehen, sondern auch als Bindung an bestimmte Inhalte des Rechts (materieller Rechtsstaat), wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit. Formelle Elemente des Rechts schaffen einen äußeren Rahmen der Legalität und haben ganz bestimmte sachliche Auswirkungen. Diese sind: - der Gedanke des gleichen Maßes (gleiche Bindung von Regierten und Regierenden, Minderheit und Mehrheit, Kontrolle der Einhaltung der Bindung durch unabhängige Gerichte), - Unparteilichkeit des Rechts (das Recht steht dem Wechselspiel der politischen und gesellschaftlichen Bestrebungen nicht ohne weiteres offen), es kann sich ggfs. diesem auch hindernd entgegenstellen, - "Verstetigung und Kontinuität" 5 des Rechts (Recht als stabilisierendes und retardierendes Element gegenüber Dynamik des politischen und sozialen Lebens für den Fall des Änderungswunsches des bestehenden Verfassungszustandes, fortdauernder Bestand des Recht in gleicher Weise ist Vorbedingung für den störungsfreien Ablauf des wirtschaftlichen und sozialen Lebens), - Rationalisierung des öffentlichen Gesamtzustandes (Recht als Träger funktioneller Rationalität, Recht erlaubt planmäßige Organisierung staatlichen Handelns, Recht schafft Sicherheit). 6 Die Zusammenhänge zwischen Recht und Demokratie sind elementar für die Ordnungsgrundlagen der Bundesrepublik. Demokratie als Sicherung der Möglichkeit, daß die Minderheit Mehrheit wird, der freien Legitimierung der Regierenden durch die Regierten, der freien politischen Willensbildung, beruht auf den gleichen Grundsätzen wie das Recht in der Bindung an bestimmte Inhalte des Rechts: Men3 Wolfgang Bolz/Rolf Feldner: Deutsch-deutsche Begriffe zur politischen Soziologie, Hannover 1978, S. 42. 4 Ernst Forsthoff (Hg.): Rechtsstaatlichkeil und Sozialstaatlichkeit, Darmstadt 1968, S. 562. s Ebenda, S. 571 f. 6 Ebenda, S.570ff.

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schenwürde, Freiheit und Gleichheit. Hieraus ergibt sich ein Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit und Ergänzung.

2. Grundrechte

Unter Grundrechte versteht das Grundgesetz ein System von Rechten, welche der Personkraft ihrer Natur zustehen. Sie werden häufig als dem Staat vorhergehend gesehen, als nicht von ihm verliehen und daher als nicht von ihm aufbebbar oder einschränkbar. Die Grundrechte gelten einerseits als Abwehrrechte gegen den Staat, zum anderen als vom Staat verliehene zur Bestimmung des Menschen als Bürger, der mit anderen den Staat konstituiert (,jeder" und "Alle Deutschen" oder ,,Menschenrechte" und "Bürgerrechte). Das Grundgesetz enthält im ersten Abschnitt einen Katalog von Grundrechten. Doch auch an anderer Stelle des Grundgesetzes werden Rechte genannt, die den Grundrechten gleichgesetzt werden (Art. 20.4; 33, 38, 101, 104, 104 GG). Die P1azierung dieser Rechte außerhalb des Grundrechtskatalog erfolgte aus systematischen Gründen und hat keinen Einfluß auf ihre Rechtsnatur. Für die Klassifizierung der Grundrechte gibt es mehrere Möglichkeiten durch die Unterscheidung von (1) individuellen, politischen und wirtschaftlichen Grundrechten, (2) Abwehr-, Mitwirkungs- und Anspruchsrechten, (3) Bürger- und Menschenrechten. Der Verfasser benutzt für seine Beschreibung der Grundrechte die erstgenannte Einteilung. Grundlegend für die politische Ordnung der Bundesrepublik ist die in Art. 1 GG zum Ausdruck gebrachte Bindung an einen vorstaatlichen Wert, der mit dem Begriff "Würde des Menschen" umschrieben ist. "Hinter dem Art. 1 GG steht die Auffassung, daß der Staat um der Menschen willen - nicht um einzelner, sondern um aller in ihm lebender willen - da ist. Er steht damit im bewußten Gegensatz zu der totalitären Staatsauffassung des Faschismus und Kommunismus, demzufolge die Menschen um des Staates willen da sind". 7 Man hat Art. 1 GG u. a. auch ,,Norm der Normen" und "Funktion einer grundrechtliehen Generalklausel" genannt".8 Am Anfang der Entwicklung von Grundrechten stand die Forderung nach individueller (persönlicher) Freiheit: Gegen willkürliche Verhaftung und gegen die BeTheodor Eschenburg: Staat und Gesellschaft in Deutschland, München 1965, S. 417. Konrad Löw: Die Grundrechte. Verständnis und Wirklichkeit in beiden deutschen Staaten, München 1977, S. 68; vgl. auch Dieter Hesselberger. Das Grundgesetz. Kommentar für die Politische Bildung, 10. Auf\., Bonn 1996, S. 56 ff. 7

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strafung erst nachträglich zu Vergehen und Verbrechen erklärter Handlungen. Die in den angelsächsischen Dokumenten Magna Charta (1215), Petition of Rights ( 1627), Habeas Corpus Akte (1679) und Bill of Rights (1689) enthaltenen Rechte sind klassische Persönlichkeitsrechte, aus denen sich die übrigen ableiten: Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, Recht der freien Meinungsäußerung, Unverletzlichkeit der Wohnung, Brief-, Post-, Femmeldegeheimnis, Freizügigkeit, Gleichheit vor dem Gesetz, Petitionsrecht, Freiheit der Berufs- und ArbeitsplatzwahL Zu den politischen Freiheiten gehören: Die ungehinderte Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Recht auf Eigentum und seine freie Verfügung. Mit der Emanzipation der Arbeiterbewegung im 19. und 20. Jahrhundert erhielt die gesamte Rechtsordnung soziale Impulse, die bei manchen Staaten zur Aufnahnme von sozialen Grundrechten in ihre Verfassungen ftihrte (z. B. Recht auf Arbeit, Mindestlohn, Mindestrente, Mindestwohnraum). Das Grundgesetz enthält kaum soziale Grundrechte (Ausnahme Art. 9.1.). Dennoch gibt es über die Europäische Sozialcharta, über die Gewerkschaften und politischen Parteien bzw. Flügel der Parteien immer wieder Vorstöße, den Katalog der individuellen, politischen und wirtschaftlichen Grundrechte um einen Katalog der sozialen Grundrechte zu ergänzen. Nur auf dem Papier festgehaltene Grundrechte nützen dem einzelnen so lange nichts, wie dieselben nicht auch garantiert und durchgesetzt werden können. Das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung entscheidet über Verfassungsbeschwerden, wenn gegen eine Grundrechtsverletzung der Rechtsweg ausgeschöpft ist (Ausnahme: z. B. bei Eilbedürftigkeit des Falles wird ohne Ausschöpfung des Rechtsweges entschieden). Dieser Weg wird jedoch nur in seltenen Fällen betreten werden. Das Grundgesetz hat in Art. 19.4 einen einfachen Weg eröffnet: "Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben". Diese Bestimmung ist nicht nur auf Grundrechtsverletzungen beschränkt. Darüberhinaus ist der 9. Abschnitt des Grundgesetzes der dritten Gewalt im Staat, der Judikative, gewidmet. Die Gerichte schützen grundsätzlich jedermann bzw. den Bürger vor Verletzung seiner Freiheit und kontrollieren die Ausübung der Staatsgewalt. Ferner garantieren sie den Rechtsfrieden in der Gesellschaft. Dieser 9. Abschnitt enthält sowohl Organisations- als auch Verfahrensgrundsätze und in den Art. 101, 103 und 104 Grundrechte, die nicht im sogenannten Grundrechtskatalog aufgelistet sind.

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3. Die Rechtspflege "Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut; sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt" (Art. 92 GG Art. 92 und folgende ergänzen Art. 20.2 GG, indem die "besonderen Organe der Rechtsprechung" näher bezeichnet werden).

Mit der ausdrücklichen Erwähnung der Richter gleich zu Anfang dieses Abschnittes betont das Grundgesetz deren besondere persönliche Stellung, die mit derjenigen von Beamten und sonstigen hoheitlich tätigen Personen nicht vergleichbar ist. In der Stellung des Richters wird sichtbar, welch besonderen Wert das Grundgesetz auf eine starke Garantie der rechtsstaatliehen Ordnung legt. Deshalb darf der Richter bei seiner Entscheidung in keiner Weise beeinflußt werden. Er muß unabhängig sein. Art. 97 GG gibt dem Bürger die Garantie, daß sein Fall von einem Richter entschieden wird, der von keiner Instanz eine Weisung annehmen wird. Weder Organe der Exekutive noch der Legislative dürfen und können ihm spezielle oder allgemeine Weisungen erteilen. Die sachliche Weisungsfreiheit (auch sachliche Unabhängigkeit genannt) wird in Art. 97.2 GG ergänzt, wonach der Richter während seiner Amtszeit weder abgesetzt noch versetzt werden kann. Allerdings ist auch der Richter Bindungen unterworfen. Der Wechselbegriff zu Unabhängigkeit heißt Bindung an Recht und Gesetz. Die sachlichen Entscheidungen unterliegen Regeln und Grundsätzen, die überprüfbar sind durch Einlegung von Rechtsmitteln und Rechtsbehelfen. Selbstkontrolle der Gerichte, Erörterung in Wissenschaft und Lehre helfen zusätzlich, potentielle Willkürentscheidungen zu minimalisieren bzw. unmöglich zu machen. Das Grundgesetz hat dem Richter in einem großen Ausmaß Entscheidungsgewalt und Kontrolle übertragen. Da der Richterspruch für alle Staatsorgane verbindlich ist, kann darin zugleich eine große Gefahr liegen. Neben einer möglichen Überlastung und sachlichen Überforderung macht sich der Einfluß der politischen Mächte geltend, "wenn die Justiz - auch im Gewande eines Rechtsstaates - letztlich über Machtfragen entscheidet". 9 Auch könnte Schwerfalligkeit des gerichtlichen Verfahrens und die lange Dauer des Prozesses zu einem Schwund rechtsstaatlieber Sicherung führen. Exzessive Ausnutzung der richterlichen Kontrolle kann auch zu einer Lähmung des Regierungs- und Verwaltungsapparates führen. "Der Rechtsstaat würde steril werden, wenn wir im Staat keine andere Autorität anerkennen als die des Richters. Der Rechtsstaat würde Justiz- oder Richterstaat". 10 Weiterhin wird die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Rechtspflege ferner garantiert durch das Verbot der Entziehung des gesetzlichen Richters nach Art. 101.1.2. GG. Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes und in diesem Zusamenhang in Kombination mit Geschäftsverteilungsplänen der Gerichte sorgen für die Ständigkeit und Gesetzmäßigkeit der Rechtsprechung. 9

Domcke (Anm. I), S. 50.

w Ebenda, S. 50.

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Eine weitere Garantie der Rechtsstaatlichkeil im Rahmen der Rechtspflege ist der Grundsatz des rechtlichen Gehörs. "Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör", bestimmt Art. 103.1 GG. Das bedeutet, daß jeder Beteiligte an einem gerichtlichen Verfahren das Recht erhält, sich zu dem zur Entscheidung anstehenden Sachverhalt zu äußern, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Weitere Garantien einer rechtsstaatliehen Prinzipien entsprechenden Rechtspflege sind: - keine Strafe ohne Gesetz, - niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden, - Rechtsgarantien bei Freiheitsentzug (keine Folterung, polizeiliche Anordnung zur Inhaftierung nur bis zum Ende des Tages nach dem Ergreifen, nur ein Richter kann über Zulässigkeil und Dauer der Freiheitsentziehung entscheiden). Ein umstrittenes Kapital in der rechtsstaatliehen Rechtspflege ist die Dauer der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik. Dieser ist ein schwacher Punkt im bundesdeutschen Rechtsstaatssystem, da Untersuchungshaftzeiten von mehreren Jahren durch kein theoretisches Prinzip des Rechtsstaates zu vertreten sind. Die Höchststrafe ist die lebenslange Freiheitsstrafe. ,,Die Todesstrafe ist abgeschafft", bestimmt Art. 102 GG. Für die Gerichtsverfassung und für das gerichtliche Verfahren gelten folgende allgemeine Grundsätze: - Prozeß, - Einzelrichter und Kollegialgerichte (Spruchkörper, Richterablehnungsmöglichkeit), - Dispositionsgrundsatz ("Wo kein Kläger ist, da kein Richter"), - Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlung, - Grundlagen für Entscheidungen (Verhandlungsgrundsatz, Untersuchungsgrundsatz, Beweismittel und Beweiswürdigung), - Entscheidungen als Abschluß des Verfahrens, - Rechtsmittel und Rechtskraft, - Kosten- und Armenrecht. Organisatorisch ist die Gerichtsbarkeit in der Bundesrepublik in mehrere Gerichtszweige zersplittert. Für die dritte Gewalt im Staate gibt es keine einheitliche Organisation. Wenn man gemeinhin von den fünf Zweigen der Gerichtsbarkeit spricht, so meint man damit die ordentliche, die Arbeits-, Verwaltungs-, Sozialund Finanzgerichtsbarkeit Unter ihnen nimmt die Verfassungsgerichtsbarkeit eine besondere Stellung ein. Außerdem gibt es noch besondere Gerichtsbarkeiren für bestimmte Berufe. Die Organe der Rechtspflege bilden: Richter (ehrenamtliche und Berufsrichter), Rechtspfleger, Staatsanwalt, Rechtsanwalt und Notar. Zum Richter ist im Rahmen 2 Timmermann

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dieses Beitrages das Nötige bereits gesagt. Der Rechtspfleger ist ein selbständiges Organ der Rechtspflege. Schwerpunkte seiner Tätigkeit sind: Richterliche Geschäfte in Grundbuchsachen, Aufgaben beim Vormundschafts- und Nachlaßgericht sowie beim Führen verschiedener Register (Handels- und Vereinsregister); ferner nimmt er an Arbeiten im Mahnverfahren, bei der Zwangsvollstreckung (Zwangsversteigerung) bei der Staatsanwaltschaft teil. Er ist ein Beamter des gehobenen Dienstes und weisungsgebunden. Der Staatsanwalt ist ein Beamter, kein Richter, muß aber die Befähigung zum Richteramt haben. Er ist am Strafverfahren vom Anfang bis zum Ende beteiligt, führt das Ermittlungsverfahren, erhebt die Anklage und "vertritt in der Hauptverhandlung vor Gericht den Strafanspruch der Rechtsgemeinschaft der Bürger", 11 unterstützt das Gericht zur gerechten Urteilsfindung, ist aber völlig selbständig. Er soll belastende und entlastende Argumente ermitteln und vortragen und ist zuständig für die Vollstreckung des Urteils. Im Unterschied zum Richter ist der Staatsanwalt nicht unabhängig, sondern an dienstliche Anordnungen, die rechtmäßig sind, gebunden. Dagegen ist der Beruf des Rechtsanwalts ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, der die Befähigung zum Richteramt erworben haben muß. Er übt einen freien Beruf aus und wird zur Anwaltschaft zugelassen durch die Landesjustizverwaltungen. In Zivilsachen ist er in der Regel bei einem bestimmten Landes- und I oder Oberlandesgericht zugelassen. Für den Bundesgerichtshof und für die anderen oberen Bundesgerichte gelten andere Bestimmungen. In Strafsachen gibt es keine bestimmte Zulassung. Jeder Anwalt und auch jeder Rechtslehrer an Universitäten kann vor jedem Gericht als Verteidiger auftreten. Das Gesetz schreibt vor, daß der Anwalt in bestimmten Fällen ein Mandat ablehnen muß (z. B. Vertretung bzw. Beratung einer anderen Partei in derselben Rechtssache im entgegengesetzten Interesse). Der Rechtsanwalt unterliegt einem Standesrecht und einer Ehrengerichtsbarkeit Er ist Mitglied einer Anwaltskammer, deren Vorstand nicht nur für die Mitglieder beratende Funktionen, sondern in bezug auf die Erfüllung ihrer Pflichten auch kontrollierende Funktionen hat. Auch der Notar ist ein unabhängiges Organ der Rechtspflege, der die Befähigung zum Richteramt haben muß. Er bekleidet ein öffentliches Amt (im Gegensatz zum Rechtsanwalt) und wird von der Landesjustizverwaltung für einen bestimmten Bezirk bestellt und vereidigt. Seine Hauptaufgabe besteht in der Beurkundung von Rechtsfällen aller Art. Er ist somit ein Teil der Rechtssicherheit "Trotz vieler Einwände gegen die Justiz in der Bundesrepublik Deutschland läßt sich ihre Unabhängigkeit nicht bezweifeln. Man hat auch selten ernstlich den Versuch gemacht, sie anzutasten... 12 II Wolfgang Heyde: Die Rechtspflege in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, 2. Aufl., 1970, s. 86. 12 Eilwein (Anm. 2), S. 429.

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II. Die Rechtsordnung der DDR

,,Das sozialistische Recht unterscheidet sich in seinem Wesen, in seiner gesellschaftlichen Gesamtfunktion, in seinem Inhalt und in der Art seiner Verwirklichung vom kapitalistischen Recht ...". 13 Die sozialistische Rechtsordnung der DDR leitete sich aus dem Marxismus-Leninismus ab und beruhte auf dem sozialistischen Eigentum an den Produktionsmitteln und brachte die politische "Herrschaft der Arbeiterklasse zum Ausdruck". 14 Hier kam der Instrumentalcharakter des Rechts und die Führungsrolle der Partei zum Ausdruck, womit der Primat der Politik gegenüber dem Recht ideologisch gerechtfertigt wurde. 15 Thren theoretischen Ansatz fand diese Rechtsauffassung in einem von marxistischer Tradition geprägten Denken, das keine durchgehende Rechtsidee - etwa im naturrechtliehen Sinne - kannte. Dies bedeutete im einzelnen, "daß der kommunistische Rechtsbegriff keinen kontinuierlichen, überzeitlichen Maßstab für Rechtsinhalte" kannte. 16 Der Primat der Politik bedeutete aber nicht, daß das Recht der Willkür von Parteifunktionären ausgeliefert war. Die Verfassung von 1974 ließ einen Trend zur Rechtssicherheit für die Bürger erkennen. Auch wuchs in den 70iger Jahren das Interesse "an der ordnungsstiftenden, stabilisierenden Funktion des Rechts mit der Konsolidierung des politischen Systems"Y Dennoch konnte nicht von einer Entpolitisierung des Rechts gesprochen werden. In letzter Konsequenz erschöpfte sich "die Gesetzgebung der DDR in dem Zweck, den Parteiwillen durch Umsetzung in staatlich nonniertes Recht allgemeinverbindlich zu machen und mit Hilfe der Staatsmacht-speziell der Justiz- durchzusetzen". 18 Die Struktur der Rechtsquellen läßt sich wie folgt darstellen: (1) die Verfassung

(2) Gesetze und Beschlüsse der Volkskammer, (3) Beschlüsse des Staatsrates, (4) Anordnungen des Nationalen Verteidigungsrates, (5) Verordnungen und Beschlüsse des Ministerrates, (6) Anordnungen und Durchführungsbestimmungen der Leiter zentraler Staatsorgane,

Kleines Politisches Wörterbuch, Berlin (Ost), Neuausgabe 1988, S. 813. Ebenda. 1s Georg Brunner: Einführung in das Recht der DDR, München, 2. Aufl., 1979, S. 2. 16 Heinz Rausch/Theo Stammen (Hg.): DDR. Das politische, wirtschaftliche und soziale System, München 5. Aufl., 1981, S. 256. 11 Brunner (Anm. 15), S. 2. 18 Karl Wilhelm Fricke: ,,Recht und Justiz als Herrschaftsinstrumente", in: Eckhard Jesse (Hg.): Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich, Berlin, 4. Aufl., 1985, S. 221. 13 14

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(7) Beschlüsse der örtlichen Volksvertretungen und ihrer Räte, (8) Richtlinien und Beschlüsse des Obersten Gerichts. .,Die Qualität der einzelnen Rechtsquellen steht in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer Rangordnung. Sieht man von der Sonderstellung des Staatsrates ab, so beherrscht die Exekutive die staatliche Rechtsetzung". 19

Die marxistisch-leninistische Rechtslehre ging von der Einheit des sozialistischen Rechtssystems aus, bei dem meist folgende Rechtszweige unterschieden wurden, zu denen das Gesetz Regelungen vorsah: (1) Staatsrecht,

(2) Wirtschaft, (3) Arbeitsrecht,

(4) Zivilrecht, (5) Familienrecht,

(6) Strafrecht. 1. Die Funktion des Rechts im sozialistischen Staat

Im Rechtsverständnis der DDR war das Recht "Instrument der gesellschaftlichen Praxis und insofern ein Mittel der bewußten Gesellschaftsgestaltung im Sinne des Sozialismus". 20 Das sozialistische Recht war ein Instrument des Staates, um die gesellschaftliche Entwicklung zu organisieren. Als Grundlage der sozialistischen Demokratie wurde die Ausübung der ungeteilten Staatsgewalt durch die Volkskammer unter der Führung der SED verstanden. Demzufolge wurde die Gewaltenteilung abgelehnt und Recht und Rechtsprechung als ein Teil der einheitlichen Staatsgewalt betrachtet. Das Recht hatte keine eigenständige Funktion. Es gibt keine klare Gliederung des Ranges, d. h. der normativen Kraft der verschiedenen Rechtsquellen, es gibt keine unabhängigen Justizorgane, welche die Rechtmäßigkeit der Staatsakte überprüfen, es gibt nicht die aus dem bürgerlichen Rechtsstaat bekannte relative Konstanz und Verläßlichkeit der Rechtsnormen. Dem sozialistischen Recht fehlen insofern die für den bürgerlichen Rechtsstaat so wesentlichen Kategorien der Gewißheit und Beständigkeit des Rechts, auch seiner Voraussehbarkeit und BerechenbarkeiL Die Interpretationen von Rechtsnormen ist eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit. Darum ist die oberste politische Instanz des Staates, die Volkskammer, nicht aber ein gerichtliches Organ zur verbindlichen Interpretation der Verfassung und Gesetze berufen. 21 19 Brunner (Anm. 15), S. 14; vgl. Robert Heulage I Karl Lenz (Hg): Deutschland nach der Wende. Eine Zwischenbilanz, München 1995, S. 50 ff. 20 Kurt Sontheimer/Wilhelm Bleek: Die DDR. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Harnburg, 4. Aufl., 1979, S. 120.

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Die Rechtsprechung hatte gemäß § 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes die Aufgabe, das sozialistische Staats- und Rechtsbewußtsein der Bürger zu festigen. Neben dieser Erziehungsfunktion kamen in § 3 GVG noch die Zwangs- und Unterdrückungsfunktion ("Schutzfunktion für die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung") und die wirtschaftlich-organisatorische Funktion wie in Art. 90.2 der DDR-Verfassung (DDRV) zum Ausdruck. Die Orientierung des sozialistischen Rechts an gemeinsamen Interessen der Bürger, die Orientierung an Gemeinsamkeit und Gemeinschaft, verwies es notwendigerweise an die SED, die die gemeinschaftlichen Interessen und Ziele allein erkannte und formulierte. 2. Die Grundrechte

Die sozialistischen Grundrechte wurden aus dem Marxismus-Leninismus abgeleitet. Nach ihm stimmten die persönlichen und gesellschaftlichen Interessen im Sozialismus grundsätzlich überein. Deshalb schlossen die sozialistischen Grundrechte die Verpflichtung zu ihrer aktiven Ausübung ein?2 Sie waren nicht Rechte zum Schutze der individuellen Freiheitssphäre gegenüber dem Staat, sondern sie garantierten dem einzelnen Mitwirkung am Leben des Staates. Daher standen Betätigungsrechte und -pflichten im Vordergrund: - das Recht und die Pflicht zur Arbeit, - das Recht und die Pflicht zur gesellschaftlichen Betätigung, - Das Recht und die Pflicht zur Bildung. Grundrechte und Grundpflichten waren nur auf die sozialistische Gesellschaftsordnung bezogen und nur in ihr wirksam. Eine Betätigung von Grundrechten gegen diese Gesellschaftsordnung konnte es daher nicht geben. Daher konnte der im Abschnitt II der DDRV genannte Grundrechtskatalog keine Freiheiten gewährleisten, deren Ausübung sich evtl. gegen das System gerichtet hätte. Eine verfassungsrechtliche Garantie von Grundrechten konnte es deshalb auch nicht geben. Darum war es auch nicht verwunderlich, daß die Grundrechte in der Praxis der Rechtsanwendung kaum eine Rolle spielten. "Ihre Bedeutung liegt hauptsächlich auf propagandistischem Gebiet"?3 Eine Systematik im Grundrechtskatalog der DDR-Verfassung war schwerlich auszumachen. Der Abschnitt II begann mit allgemeinen Voraussetzungen und Garantien der Grundrechtsausübung. Darauf folgte der Gleichheitsgrundsatz, in dem die Gewissens- und Glaubensfreiheit eingebaut war, verbunden mit Aussagen über die Förderung der Frau und Jugend (Art. 20 DDRV). 21 22 23

Ebenda, S. 122. Vgl. Rausch/Stammen (Anm. 16), S. 24. Brunner (Anm. 15), S. 58.

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Einen besonderen Rang nahmen die Teilhaberechte ein: Wahlen, Mitwirkung am staatlichen und gesellschaftlichen Leben, Rechenschaftspflicht der staatlichen Organe, Willensäußerung mittels der gesellschaftlichen Organisationen, Eingaben, Volksabstimmung. Einen weiteren Bereich bildeten die sozialen und kulturellen Grundrechte: Recht auf Arbeit, auf Freizeit und Erholung, auf Schutz der Gesundheit und der Arbeitskraft, auf Fürsorge im Alter und bei Invalidität, Recht auf Wohnraum, besonderer Schutz ftir Ehe, Familie, Mutterschaft und Kinder sowie sowie Recht auf Bildung, Ausbildung und Teilhabe am kulturellen Leben, Chancengleichheit, Schulgeldund Lernmittelfreiheit. Bei politischen und persönlichen Freiheitsrechten gab es vom Text her eine weitgehende Übereinstimmung mit dem Grundgesetz: Freiheit der Meinungsäußerung, der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie Freiheit der Persönlichkeit, Wahrung des Post- und Fernmeldegeheimnisses, Freizügigkeit innerhalb des Staatsgebietes der DDR, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Gewissens- und Glaubensfreiheit. Alle diese Rechte standen unter dem Verfassungsvorbehalt, der sich in Bestimmungen des Straf-, Strafprozeß-, Polizei-, Unterbringungs- und Sicherheitsrechtes sowie einer Fülle von Verwaltungsvorschriften auswirkte. Grundrechte waren den Anforderungen des Staates untergeordnet. Findet also in der Bundesrepublik der Staat an den Grundrechten seine Grenzen, so fand in der DDR umgekehrt die Inanspruchnahme der Grundrechte an den Zielen des Staates ihre Grenzen. 24 Justizielle Grundrechte waren ähnlich wie in der Bundesrepublik außerhalb des Grundrechtskatalogs geregelt: - keine Strafe ohne Gesetz, - der Grundsatz des gesetzlichen Richters, - das Verbot von Ausnahmegerichten, - das Verbot von rückwirkenden Gesetzen und das Schuldprinzip, - der Anspruch auf rechtliches Gehör und das Recht auf Vetteidigung, - nur Richter und I oder Staatsanwälte konnten über Zulässigkeit und Dauer des Freiheitsentzuges entscheiden. 3. Die sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege

Der Abschnitt IV der DDRV war überschrieben mit "Sozialistische Gesetzlichkeit und Rechtspflege". In Art. 19.1.2 DDRV garantierte die DDR ihren Bürgern die sozialistische Gesetzlichkeit und gewährte Rechtssicherheit "Gesellschaft und 24

Vgl. Kleines Politisches Wörterbuch (Anm. 13), S. 377.

Die Rechtsordnungen

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Staat gewährleisten die Gesetzlichkeit durch die Einbeziehung der Bürger und ihrer Gemeinschaften in die Rechtspflege und in die gesellschaftliche und staatliche Kontrolle über die Einhaltung des sozialistischen Rechts", bestimmte Art. 87 DDRV. Sozialistische Gesetzlichkeit war die ,,Methode der staatlichen Leitung der Gesellschaft mit dem Ziel der ständigen Vervollkommnung des Sozialismus und des Aufbaus des Kommunismus".25 Sie erforderte also mehr als die Bindung des Richters an das Gesetz. "Sie beinhaltet auch die marxistisch-leninistische Erkenntnis, daß jedes Recht seiner Natur nach parteilich und daß daher auch dem sozialistischen Recht Parteilichkeit immanent sei, und zwar Parteilichkeit ftir die Verwirklichung des Sozialismus". 26 Diesem Ziel diente auch die Rechtspflege. 27 Entsprechend den Prinzipien der "Gewaltenkonzentration" und des "demokratischen Zentralismus" unterstand die Rechtspflege dem Ministerium der Justiz, einem Organ des Ministerrates, dem auch die Aufsicht über die Rechtsanwaltshaft und das Notariatswesen oblag. Herausgelöst aus diesem Apparat war die Staatsanwaltschaft, die als Hüter der sozialistischen Gesetzlichkeit bezeichnet wurde und eine unmittelbar der Volkskammer und dem Staatsapparat unterstellte Behörde war. Ausgeübt wurde die Rechtsprechung durch staatliche und Gesellschaftliche Gerichte. Die staatliche allgemeine Gerichtsbarkeit war dreistufig gegliedert und zuständig für Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des Zivil-, Familien-, Arbeits- und Strafrechts. Es gab keine eigenen Gerichtszweige für diese verschiedenen Rechtsgebiete, sondern innerhalb der Gerichtsorganisation Kammern bzw. Senate zur Behandlung von Rechtsfällen aus dem betreffenden Gebiet. Daneben gab es eine besondere staatliche Gerichtsbarkeit: die Militärgerichtsbarkeit, die Patengerichtsbarkeit (als Zivilsenat des Bezirks Leipzig organisiert) und die Staatliche Vertragsgerichtsbarkeit Letztere war direkt dem Ministerrat unterstellt und zuständig für Streitigkeiten auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts. Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit gab es nicht mit der Begründung der Gewalteneinheit. Kein anderes Staatsorgan könne Entscheidungen der Volksvertretung oder ihrer ausführenden Organe nachprüfen oder gar abändern. Dem Bürger blieb gemäß dem Eingabengesetz bei Verwaltungsentscheidungen, mit denen er nicht einverstanden war, die Beschwerde bei dem übergeordneten Verwaltungsorgan.

2S Ackermann I Landfried I Wagner I Wehling: Politik. Ein einführendes Studienbuch, Harnburg 1980, S. 215. 26 Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.): DDR-Handbuch, Köln, 3. Auf!., 1985, S. 1106; Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR und Institut für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (Hg.): Demokratie. Entwicklungsgesetz des sozialistischen Staates, Berlin (Ost), 1981, S. 147 ff. 27 Vgl. Heinrich Toeplitz: Der Bürger und das Gericht, Berlin (Ost), 1978, passim.

Heiner Tirnrnerrnann

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Einen wichtigen Zweig der Rechtspflege bildeten die Gesellschaftlichen Gerichte mit den betrieblichen Konfliktkommissionen sowie den territorialen und produktionsgenossenschaftliehen Schiedskommissionen. Die ausschließlich mit juristischen Laien auf Vorschlag der Nationalen Front gewählten Spruchkörper waren zuständig für Vergehen, Verfehlungen und Ordnungswidrigkeiten des Straf-, Zivil- und Arbeitsrechts. Die Gesellschaftlichen Gerichte spielten eine erhebliche Rolle. Es gab zuletzt ca. 25.000 Konfliktkommissionen mit über 200.000 und ca. 5.000 Schiedskommissionen mit ca. 50.000 Mitgliedern. 40% aller Strafsachen wurden diesen Gerichten übergeben, 15.000 zivilrechtliche Fälle wurden durchschnittlich im Jahr geregelt. Die richterliche Unabhängigkeit war zwar in Art. 96.1 DDRV formuliert, sie war allerdings nicht gewährleistet. Richter waren absetz- und versetzbar. Von einer sachlichen Unabhängigkeit konnte wegen des Führungsanspruchs der SED nicht die Rede sein. Hinzu kam noch die Leitungskompetenz des übergeordneten Gerichts. Dennoch gab es entsprechende Auswahlkriterien für eine Kontinuität der Richterschaft Entsprechend der sozialistischen Rechtsauffassung konnte der Gehorsam gegenüber der SED nie im Widerspruch zur Unabhängigkeit des Richters stehen. Die Staatsanwaltschaft war eine zentralisierte Behörde und wachte über die "Strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit" (Art. 97 DDRV). Ihre Aufgaben gliederten sich in vier Bereiche: Ermittlungsverfahren, Gerichtsverfahren, Strafvollzug und Wiedereingliederung, Allgemeine Gesetzlichkeitsaufsicht Die Staatsanwälte gehörten sämtlich der SED an und mußten nach Persönlichkeit und Tätigkeit Gewähr dafür bieten, daß sie ihre Funktion gemäß den Grundsätzen der Verfassung ausübten, sich vorbehaltlos für den Sozialismus einsetzten und der Arbeiter- und Bauernmachttreu ergeben waren(§ l3 Staatsanwaltschaftsgesetz). Die Anwälte waren ein Organ der Rechtspflege, deren "Aufgabe in der Verwirklichung der sozialistischen Gesetzlichkeit besteht".28 In diesem Rahmen konnte die in Anwaltskollegien und Einzelanwälte gegliederte Anwaltschaft die Interessen ihrer Mandanten wahrnehmen. Seit der Kollektivierung der Anwaltschaft im Jahre 1953 gab es keine Neuzulassung von Einzelanwälten. In allen Bezirken der DDR waren die Anwälte in Kollegien zusammengefaßt mit dem Justizministerium als Kontrollinstanz. Durch zusätzliche Kontrollmöglichkeiten von Mitgliedern des Vorstandes der Kollegien und einer Revisionskommission war das Anwaltsgeheimnis praktisch beseitigt. Das Staatliche Notariat war zuständig für Beurkundungen und Beglaubigungen, Nachlaß-, Vormundschafts- und Pflegeangelegenheiten und dem Justizministerium unterstellt. Es gab auch noch Einzelnotare, die Beurkundungen und Beglaubigungen vornehmen durften. Da seit 1952 keine Neuzulassungen mehr vorgenommen wurden, starb dieser Stand fast aus. 28

Brunner (Anrn. 15), S. 67; vgl. Kleines Politisches Wörterbuch (Anrn. 13), S. 817 f.

Die Rechtsordnungen

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Der Rechtsschutz, ein elementares Anliegen der Rechtspflege, unterschied sich zum Teil erheblich von dem in der Bundesrepublik. Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren hatte der Verdächtige weder Anspruch auf Anhörung durch die Staatsanwaltschaft noch auf Vernehmung durch die ermittelnde Behörde, um möglicherweise entlastende Angaben zu machen. Beim Anklageverfahren waren die Gerichte nicht verpflichtet, dem Angeklagten eine vollständige Anklageschrift zuzustellen. In Fällen der Staatssicherheitsgefährdung wurde der Angeklagte erst unmittelbar vor Eröffnung des Hauptverfahrens über die Anklage informiert. Der Grundsatz der prozessualen Gleichheit im Strafverfahren wurde durchlöchert und war teilweise sogar aufgehoben. 4. Vergleich

Ein Vergleich der Rechtsordnungen weist trotz formaler Ähnlichkeiten, die bis zu Textgleichheit in der Verfassung bzw. im Grundgesetz reichen, erhebliche Unterschiede auf. Der Primat des Rechts steht der Primat der Politik gegenüber, die Idee eines freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates der Rechtsordnung des Marxismus-Leninismus. In der Rechtsordnung des Grundgesetzes haben die Grundrechte vorstaatliche Bezüge. Sie stehen dem Menschen auf Grund seiner Natur zu, gelten als Abwehrrechte gegen den Staat und andererseits als vom Staat verliehene Rechte zur Bestimmung des Menschen als Bürger. Hauptfunktionen sozialistischer Grundrechte lagen in der angenommenen Einheit von individuellen und kollektiven Interessen und in der Einheit zwischen Recht und Pflicht. Wahrend in der Bundesrepublik der Grundrechtsschutz als Rechtsschutz gewährleistet wird, gab es in der DDR kein individuelles Recht auf Verfassungsbeschwerde oder eine Verfassungsgerichtsbarkeit Im Strafrecht war der Schutz der verdächtigen Personen bzw. des Angeklagten in der DDR durch das Schwinden des prozessualen Gleichheitsprinzips und durch die zusätzliche Beschränkung der Anwälte erheblich schwächer als in der Bundesrepublik. Einer fast einheitlichen Organisation des Rechtswesens in der DDR steht die Zersplitterung der Organisation in der Bundesrepublik gegenüber, wofür es keinen Grund mehr gibt.

Politische Steuerung der Justiz in der Deutschen Demokratischen Republik Von Dieter Strempel I.

Bereits vor der friedlichen Revolution wurde die Entwicklung des repressiven Systems der Justiz der DDR aufmerksam verfolgt. Bediente die .SED sich doch des politischen Strafrechts in umfangreichem Maße, um den Bestand des Staates zu sichern. Geschätzt wird, daß eine fünfstellige Zahl von Menschen allein wegen staatsfeindlicher Hetze und Staatsverleumdung verurteilt worden sind. Aber auch das System der Rechtspflege als Ganzes, dem die Aufgabe der Regelung alltäglicher Konflikte zukam, gelangte in den Blick westdeutscher Forschung. Für die Beschäftigung mit dem Recht der DDR war stets ein für westdeutsche Beobachter ungewöhnliches Maß von lntransparenz kennzeichnend. Manches wurde veröffentlicht - so auch eine Vielzahl von Urteilen zum politischen Strafrecht -, anderes verblieb in Schubladen und Panzerschränken. Dies gilt nicht nur für die in stalinistischer Manier geführten Geheimprozesse. So entschloß sich - um nur ein Beispiel zu nennen -das Oberste Gericht der DDR im Jahre 1978, die Entscheidungssammlung in Strafsachen einzustellen. Die Herausgabe der Sammlung erschien zu teuer, man empfand die kritische Lektüre im Westen als lästig und hatte für sich effektivere Mittel der Kommunikation gefunden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Recht und der Justiz der DDR war also auf lückenhafte Quellen verwiesen. Die Aufarbeitung dessen, was in der DDR tatsächlich geschehen ist, ist schon aus diesem Grunde eine zeitgeschichtliche Herausforderung. Einen besonderen Anreiz für die Forschung stellt sie deshalb dar, weil der Gesetzgeber sich entschlossen hat, die Archivbestände des Staats- und Parteiapparates -einschließlich der Bestände des Ministeriums für Staatssicherheit - der Öffentlichkeit zugänglich zu machen und auf die üblicherweise geltende Frist von 30 Jahren -gerechnet von der Entstehung des jeweiligen Aktenbestandes an - weitgehend zu verzichten. Nun dürfen wir nicht erwarten, daß in kurzer Zeit die kilometerlangen Aktenbestände sich uns in Gänze erschließen. Es müssen Schwerpunkte gesetzt werden, um einzelne Schneisen in das Dickicht der schriftlichen Überlieferung zu schlagen. Trotzdem bleibt es beeindruckend, was in den wenigen Jahren seit dem Untergang der DDR zu Tage gefördert wurde. Bemerkenswert ist, daß auch im Lichte neuer Forschungsergebnisse sich die Literatur aus der Zeit vor der friedlichen Revolution als erstaunlich zuverlässig er-

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Dieter Strempel

weist, obwohl sie sich "nur" stützen konnte auf die kritische Analyse des mit spitzen Fingern zur Veröffentlichung freigegebenen Materials, vereinzelt in den Westen gelangter Informationen und die Berichte von Zeitzeugen. Eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen und Berichte Betroffener finden sich in Buchpublikationen und Aufsätzen, aber auch in den Anhörungen und Vorträgen der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung des SED-Unrechts, die sich im Sommer 1993 mit dem Recht und der Justiz beschäftigt hat.

II.

Um den Prozeß der Aufarbeitung der Justiz der DDR zu fOrdern, hat das Bundesjustizministerium im Jahre 1992 einen Forschungsauftrag vergeben, der sich mit dem System der Justizsteuerung in der DDR befassen soll. Dazu liegt der an der Freien Universität Berlin unter Leitung von Prof. Hubert Rottleuthner gefertigte Bericht vor. Im folgenden möchte ich auf Ergebnisse dieses Projekts am Beispiel einzelner Befunde eingehen, die sich vor allem mit internen Vorgängen innerhalb des Justizapparates befassen. Die Autoren des Forschungsprojekts - sie stammen aus Ost- und Westdeutschland - haben, ergänzt durch Interviews, Materialien des Zentralen Parteiarchivs der SED und des Bundesarchivs Potsdarn, insbesondere die Bestände des Verwaltungsarchivs des Ministeriums der Justiz, der Deutschen Justizverwaltung 1945-48, des Obersten Gerichts und der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, ausgewertet. Bei der Einschätzung der Reichweite der Untersuchung muß berücksichtigt werden, daß Teile der Bestände zum Zeitpunkt des Abschlusses der Untersuchung noch nicht erschlossen waren. Dies gilt z. B. für die Akten der Abteilung für Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED nach 1971. Manche Aktenbestände sind nur lückenhaft vorhanden. So fehlen etwa die Bestände der ZK-Abteilung ftir Staats- und Rechtsfragen aus der Zeit des Prager Frühlings, die in anderen Abteilungen - etwa der Abteilung Sicherheit - durchaus vorhanden sind. Auf andere Akten konnte wegen staatsanwaltlieber Ermittlungen nicht zurückgegriffen werden. Neuere Forschungen werden mit einer vertieften Auswertung an den vorhandenen und neu aufgefundenen Beständen genauso ansetzen können wie an Akten aus Bezirks- und Kreisgerichten und den nur Zug um Zug zugänglichen Materialien des Ministeriums für Staatssicherheit.

III.

Der Ausdruck "Steuerung" der Justiz, der mehreren Beiträgen als Leitbegriff dient, ist der politikwissenschaftlichen Forschung entlehnt. Auch hier wird der Begriff der Steuerung im Zusammenhang mit dem Recht verwendet. Er dient der Analyse der Entstehung von Gesetzen und ihrer Wirksamkeit. Es wird u. a. gefragt, in welchem Maße der Gesetzgeber durch seine Tätigkeit soziale Verhältnisse be-

Politische Steuerung der Justiz

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einflussen, steuern kann. Zwischen dem Erlaß eines Gesetzes und seiner Anwendung in der Praxis steht als kontrollierende Instanz die unabhängige Rechtsprechung, deren ureigenste Sache die Anwendung und Interpretation des Rechts im Konfliktfall ist. Die auf Marx zurückgehende Tradition hat dies seit dem 19. Jahrhundert als eine Form der bürgerlichen Ideologie begriffen, die die Einflüsse der sozialen und ökonomischen Verhältnisse leugnet. Der Einfluß sozialer und ökonomischer Tatbestände auf das Recht und den urteilenden Richter ist ein Tatbestand, den auch Nicht-Marxisten heute anerkennen. Dies rechtfertigt nicht, die Entscheidungsfreiheit des Richters, seine Unabhängigkeit aufzugeben, die mit dazu beitragen soll, ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Formen staatlicher Gewalt herzustellen. Für die Anhänger der SED in der nach dem Kriege errichteten sowjetischen Besatzungszone war gerade dies aber eine Selbstverständlichkeit. Sowenig konkrete rechtspolitische Vorstellungen die "Gruppe Ulbricht" hatte, als sie, Ende April 1945 aus Moskau kommend, in Bruchmühle unweit von Berlin eintraf, so selbstverständlich scheint es ihren Angehörigen doch gewesen zu sein, daß sie auch die Justiz "in ihre Hand bekommen" müßten. Sehr deutlich wird dies in den Debatten der 3. Tagung des Ausschusses für Rechtsfragen beim Zentralsekretariat der SED am 3. und 4. Januar 1948. Der damalige Vizepräsident der Deutschen Justizverwaltung und spätere Generalstaatsanwalt der DDR, Ernst Melsheimer, bis 1945 immerhin Richter am Kammergericht in Berlin, äußerte sich wie folgt: "Man soll beherzigen, daß es ein alter revolutionärer und demokratischer Grundsatz ist, daß man einen Staat dann umwandelt, wenn man zwei Dinge in der Hand hat: Die Polizei und die Justiz. Die Polizei hat man in der Hand, die Justiz noch nicht. Daß wir sie in die Hand bekommen, sollte unser Ziel sein."

Differenzierter äußerte sich auf derselben Tagung eine andere Teilnehmerin: Hilde Neumann, Emigrantin in der Zeit des Nationalsozialismus, Mitglied des rechtspolitischen Beirats der SED, später Präsident des Landgerichts Berlin: ,,Es ist selbstverständlich, daß ebenso wie die Wirtschaft auch die Justiz und Rechtsprechung durchaus einer Volkskontrolle bedarf, einer Kontrolle von unten, einer Kontrolle durch die breite demokratische Bevölkerung unserer Länder. Wie anders kann diese Kontrolle organisiert, wie anders kann sie eingeleitet und geführt werden als durch unsere Partei? Man darf es sich aber nicht zu einfach machen, man darf es nicht zu schematisch durchführen. Es darf nicht darin bestehen, daß in einzelnen Fällen, die schon angelaufen sind, ein Genosse der Parteileitung einen bestimmten Genossen Staatsanwalt und Richter zu sich bittet und ihm eine Instruktion für den Einzelfall gibt. Das ist nicht angängig, und das brauchte auch gar nicht notwendig zu werden, wenn die Verbindung und Zusammenarbeit laufend so eng ist, wie wir sie zu gestalten wünschen. Dann werden sich solche Dinge in vielen Dingen vermeiden lassen und viele Notwendigkeiten von Hinweisen im Einzelfall überhaupt erst gar nicht entstehen. Notwendig ist es also, daß die Parteileitung, insbesondere die Landesvorstände sich mit der Rechtsprechung in ihren Ländern ausgesprochen vertraut machen. Sie müssen einen engen Kontakt herstellen zu den Volksrichtern und

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Dieter Strempel Volksstaatsanwälten ( ... ) und müssen sie darauf hinweisen, den Kontakt mit der Partei aufzunehmen. Sie müssen mit ihnen solche Verbindung halten, daß sie durch sie über alle neuen Fragen der Rechtsprechung, über etwa auftretende Gefahren, über schlechte Linien, die sich anbahnen, sofort unterrichtet werden. Dann kann sich die Partei in geeigneter Weise einschalten durch Besprechungen, Funktionärsversammlungen, durch Sitzungen, die anberaumt werden, um eine solche Frage zu diskutieren, oder evtl. durch eine gewisse Pressekampagne, wo das tunlieh ist."

Die Avantgarderolle der Partei, die eine homogene, nicht mehr von Interessengegensätzen gekennzeichnete demokratische Bevölkerung vertritt, begründet die Ermächtigung, sich als umfassende Kontrollinstanz zu etablieren. Die .,bürgerliche Form" der Justiz soll zwar nicht gänzlich ausgehebelt werden. Verbindliche Weisungen für den Einzelfall sollen unterbleiben. Der Einfluß soll vielmehr über Personen gesteuert werden: der enge Kontakt bereits im Vorfeld, Diskussionen, Versammlungen, zur Not Pressekampagnen sollen die richtige Entscheidung herbeifUhren. Die Entscheidungskompetenz des Richters soll zwar beibehalten werden, aber es erscheint als selbstverständlich, daß sie sich nur bewähren kann, indem die Ergebnisse der richterlichen Entscheidungen mit den Vorstellungen der Partei zur Deckung kommen. Unklar bleibt, was geschieht, wenn dies nicht der Fall ist. Dieses Verständnis des Verhältnisses von Partei und Justiz- gerade auch mit den zum Ausdruck kommenden Ambivalenzen - kennzeichnet, wie die Autoren der Studie zeigen, das justizpolitische Konzept der SED und die von ihr errichteten Institutionen zur Beeinflussung der Justiz der DDR. Die Entscheidungskompetenz des Richters wurde im Ergebnis von einer solchen Vielzahl steuernder und korrigierender Instanzen umlagert, daß sie inhaltlich ausgehöhlt wurde. Der Frage, was von der auch in der Verfassung der DDR verankerten richterlichen Unabhängigkeit übrig bleibt, kommt kaum noch eine praktische Bedeutung zu. Die richterliche Unabhängigkeit wird zum .,machttechnischen Residuum" (Rottleuthner).

IV.

Die Steuerung der Justiz war sowohl durch politische Selbststeuerung der Beteiligten als auch durch Eingriffe der Partei und höherer Instanzen geprägt. Politische Selbststeuerung meint den Tatbestand, daß die beteiligten Justizfunktionäre, die ihre Ämter als SED-Mitglieder inne hatten, sich die Forderung der Partei zu eigen machten, die Anton Plenikowski, der damalige Leiter der Abteilung .,Staatliche Verwaltung" im ZK der SED, der späteren Abteilung für Staats- und Rechtsfragen, bereits im Januar 1952 auf einer zentralen Parteiaktivtagung vor Justizfunktionären deutlich artikuliert hatte: ,,Die Organe der Justiz sind Teile des Staatsapparates, und deshalb gelten alle Anweisungen, Maßnahmen und Beschlüsse der Partei, die sich auf den Staatsapparat beziehen, unmittelbar auch für die Genossen im Parteiapparat".

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Welche Folgen die Etablierung dieses Grundsatzes innerhalb der Organisation der Justiz hatte, macht Wolfgang Behlert, heute Professor an der Fachhochschule in Jena, in seiner Analyse der Tätigkeit der Generalstaatsanwaltschaft deutlich. Er zeigt, wie die Unterstellung einer gemeinsamen ideologischen Überzeugung innerhalb des Apparates für den Einzelnen in Entscheidungssituationen zu der Autosuggestion führte, daß man genau jenes Ziel schon von Anfang an immer verfolgt habe, das von vorgesetzter Stelle oder aus den Kreisen der Partei einem gerade vorgegeben wurde. Für den herrschenden Diskussionsstil kennzeichnend waren offensichtlich weniger autoritäre Entscheidungen als Diskussionen im Interesse der "gemeinsamen Sache", wobei die sozial Mächtigeren natürlich in Wirklichkeit vorgaben, welcher übereinstimmender Meinung zum Schluß alle waren. Diese Situation erzeugte aus sich heraus eine Atmosphäre vorauseilenden Gehorsams, in der jeder sich fragte, ob sein Handeln der "gemeinsamen Sache" auch angemessen sei, oder ob sein Handeln durch "ideologische Unklarheit", ,,Fehler" oder "Zurückweichen vor dem politischen Gegner" gekennzeichnet sei. Dies hatte für das Verhalten innerhalb des Apparates - viele Insider dürften dies schon vor dem Ende der DDR gesehen haben - durchaus nicht gewollte Konsequenzen: Es führte nicht nur zur permanenten Selbstdisziplinierung, sondern auch zu immensen Unsicherheiten in Form von ständigem Rückversichern, Entscheidungsunlust und völlig überzogener Härte gegenüber dem vermeintlichen oder tatsächlichen Gegner.

V. Diese Form der Verpflichtung auf politische Ziele konnte nicht genügen. Bis in die sechziger Jahre hinein entstand ein umfassendes System der Steuerung der Justiz durch Staat und Partei. Dieses bezog sich auf die verschiedensten Bereiche. Es umfaßte die Zulassung zum Studium wie die Ausbildung an den Universitäten und Kaderschmieden, bezog sich auf das Lehrpersonal wie die Lehrinhalte, machte sich die Rekrutierung der Richterschaft und der Staatsanwaltschaft, den Einsatz des Personals und die Wahlen zum Richteramt zum Gegenstand, betraf die Organisation der Gerichte wie den direkten Einfluß auf einzelne Entscheidungen. Die Reichweite des Einflusses ist nach den Erkenntnissen der Studie prinzipiell unbegrenzt. Letztlich erweist sich kein Bereich als eingriffsfest Nicht nur das politische Strafrecht oder die Arbeitsrechtsverfahren von gekündigten Ausreisewilligen konnten der politischen Steuerung unterworfen werden. Die "Janusköpfigkeit" des sozialistischen Rechts (Klaus Westen) konnte sich an jedem einzelnen Fall zeigen, an dem ein politischer Funktionär einen Aspekt entdeckte, der entweder unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes, den Interessen des Staates oder auch nur der Prolegierung von Parteifunktionären bedeutsam erschien. Freilich sollten wir uns davor hüten, den totalitären Anspruch der SED mit der Wirklichkeit des Lebens in der DDR zu verwechseln und von einer vollständigen Politisierung des Rechts auszugehen. Schon die Fülle der von der Justiz der DDR

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Dieter Strempel

zu bearbeitenden Fälle steht dem entgegen. Wie weit die Instrumentalisierung der Justiz sich in den alltäglichen Rechtsfallen auswirkte, ist eine offene Frage.

VI. Den Beginn der umfassenden Kontrolle wichtiger gerichtlicher Entscheidungen markiert - gerade auf Grund der in diesem Fall passierten Pannen - der Fall der Werdauer Oberschüler im Oktober 1951. Schon davor waren- z. B. in den Waldheimer Prozessen durch eine ad hoc installierte Arbeitsgruppe - einzelne Fälle und Fallkomplexe direkt beeinflußt worden. Im folgenden beziehe ich mich auf Ausführungen des stellvertretenden Leiters der Berliner Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, Falco Werkentin, in dem Forschungsbericht 19 Schüler der Oberschule in Werdau - sechs von ihnen unter 18 Jahren - hatten sich zu einer Widerstandsgruppe zusammengetan und Flugblätter gegen die mit Einheitslisten manipulierten Wahlen zur Volkskammer im Oktober 1950 und ein im Januar 1951 gegen den Oberschüler Hermann Joseph Flade verhängtes Todesurteil verteilt. Im Mai 195 I wurden zwei Mitglieder der Gruppe bei einer Flugblattaktion verhaftet, weitere Verhaftungen folgten. Über den Prozeß, in dem das Landgericht Zwickau in der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober die Urteile verkündete - sie lagen zwischen zwei und 15 Jahren Zuchthaus - war aufgrund einer Anweisung des MfS weder die Landesleitung der SED Sachsen noch das ZK oder das Justizministerium informiert worden. DDR-Ministerpräsident Grotewohl erfuhr am 3. Oktober aus dem Westberliner Tagesspiegel von dem Prozeß. Mit Recht befürchtete er eine schlechte Presse in der Bundesrepublik und versuchte die Durchführung zu verhindern. Noch am selben Tage entsandte Justizminister Fechner seinen Hauptabteilungsleiter Böhme nach Zwickau. Der traf dort jedoch erst ein, als die Urteile bereits verkündet waren. Als Reaktion auf diese ,,Panne" wurde die Oberhoheit der Partei über die Justiz und das Ministerium für Staatssicherheit wiederhergestellt. Fortan mußten alle Urteile, in denen Freiheitsstrafen von mehr als zehn Jahren vorgesehen waren, einer Kommission vorgelegt werden, deren genaue Zusammensetzung wir auch heute noch nicht kennen. Als wahrscheinlich gilt, daß sie aus Spitzenvertretern der zuständigen ZK-Abteilung, des Ministeriums für Staatssicherheit und den obersten Justizorganen (Generalstaatsanwaltschaft, Ministerium der Justiz und Oberstes Gericht) bestand.

VII. Eine berechenbare Struktur hat die Kontrolle über die Justiz nach Rottleuthner in den fünfzigerJahrennoch nicht. Ich zitiere: "Die fünfziger Jahre, genauer wohl die Zeit bis 1963, d. h. bis zum Rechtspflegeerlaß, wird man als die wilden Jahre der Justizsteuerung ansehen dürfen. Alle möglichen staat-

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Iichen Instanzen und Parteiorgane versuchen Einfluß auf die Rechtsprechung zu nehmen. Das OG wie das MdJ wollen anleiten; das MdJ über seine Justizverwaltungsstellen, das OG über den Instanzenzug. Das MdJ hat die Kaderpolitik fest in der Hand. Entlassungen, Versetzungen und andere Disziplinierungen werden verfugt. Anfang der fünfziger Jahre hatten bereits Parteiüberprüfungen auch der Richter stattgefunden, Der ,Neue Kurs' in der Justiz nach dem 17. Juni 1953 mit dem Einsatz von Justizinstrukteuren macht die Abhängigkeit der Justiz, speziell ihrer Strafpraxis, von opportunistischen Vorgaben der politischen Stellen (d. h. von Partei und Staat) deutlich und stellt hohe Anforderungen an die Anpassungsbereitschaft der Justizkader. Die ZK-Abteilung Staatliche Verwaltung (dann Staats- und Rechtsfragen) greift direkt in Einzelfälle ein, formiert Brigadeeinsätze mit den Rechtspflegeorganen und Parteistellen. Sie macht dem Politbüro Vorlagen, das sich regelmäßig mit Einzelfällen befaßt. Bezirks- und Kreisleitungen mischen mit. Manchmal befaßt sich sogar das ZK-Pienum mit justizrelevanten Fragen. Klagen über Mängel in der Anleitung der Justiz sind häufig".

Erst ab 1963 wurde eine Struktur etabliert, die Eingriffe in Einzelfälle allmählich überflüssig werden läßt. Die Verschmelzung von Partei und Staat wird zur Selbstverständlichkeit. Das Ministerium der Justiz und das Oberste Gericht sind in dieses System genauso eingebunden wie die ZK-Abteilung für Staats- und Rechtsfragen und das Ministerium für Staatssicherheit als offizielles Untersuchungsorgan in Strafsachen, das seine Ermittlungsergebnisse an die Staatsanwaltschaft weiterleitet. -Die Studien belegen dies im Einzelnen.

VIII. Zwei Institutionen, die für die soziale Kontrolle der Justiz im Alltag bedeutsam waren, verdienen hervorgehoben zu werden. Eine zentrale Stellung nahm die Rolle des Gerichtsdirektors ein. Er bestimmte die Geschäftsverteilung, auch indem er einzelne Verfahren an sich zog oder bestimmten Richtern zuteilte. Strafverfahren gingen zuerst über seinen Tisch. Grenzsachen wurden üblicherweise vom stellvertretenden Direktor bearbeitet. Jeden Montag morgen mußten sich die Richter beim Direktor zum Rapport einfinden. Es wurde nicht nur der Terminstand besprochen, auch einzelne brisante Verfahren wurden behandelt. Verfahren von besonderer politischer Bedeutung wurden in Wochenmeldungen zusammengefaßt, die an die höhere Instanz weitergeleitet wurden. Der Gerichtsdirektor selbst wurde über Leiterberatungen und Direktorentagungen mit der Partei, der staatlichen Verwaltung, dem Ministerium der Staatssicherheit und höheren Instanzen verbunden. Ein solches System der Einbindung ist mit der Stellung eines unabhängigen Richters nicht verträglich. Ein Fund der Forscher aus einem anonymen, undatierten Papier - vermutlich aus dem Jahre 1963 von einem Mitarbeiter des ZK verfaßt spricht dies aus: "Wird die Unabhängigkeit des Richters nicht dadurch beeinträchtigt, wenn der Direktor des Gerichts dem einzelnen Richter Hinweise für seine Arbeit gibt? Steht das Recht der Rechtsmittelsenate, Weisungen zu geben, nicht im Gegensatz zur Unabhängigkeit? Unab3 Timmermann

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Dieter Strempel hängigkeit bedeutet doch auch keine ideologische Unterordnung unter die Staatsanwaltschaft".

Eine weitere Einrichtung erweist sich als Mittel, die Kontrolle des alltäglichen Verhaltens sicherzustellen: die Grundorganisationen der SED, in denen die Parteimitglieder in den Gerichten zusammengefaßt waren. Die SED reklamierte für sich die umfassende Sorge um ordnungsbezogene Tugenden in der Gesellschaft und im Staat. Sie nahm für sich in Anspruch, in allen Lebensbereichen für Sicherheit und Ordnung, Disziplin, Sauberkeit und Ehrlichkeit zu sorgen. Die Auswertung der Protokolle der Grundorganisationen der SED beim Obersten Gericht und bei der Generalstaatsanwaltschaft für die Jahre 1963 bis 1967 macht deutlich, wie dicht das Netz sozialer Kontrolle durch die Einbindung in Kommunikationszusammenhänge war. Organisatorische Fragen werden genauso erörtert wie Fragen der Sexualmoral der Mitglieder, Alkoholmißbrauch oder Ladendiebstähle. Diese Beispiele mögen deutlich machen, wie groß der soziale Druck auch innerhalb der Justiz war.

IX.

Gleichwohl überforderte das Bedürfnis, politische und juristische Gesichtspunkte zur Deckung zu bringen und so die vermeintlich einzig "richtige" Entscheidung zu treffen, immer wieder die Orientierungsfähigkeit der Beteiligten. Ein zugegeben besonders krasses Beispiel stellt der Fall des Rechtsanwalts Schmidt dar, über den Falco Werkentin berichtet: Schmidt wurde Ende 1955 vom Bezirksgericht Erfurt wegen Verleitung zur Republikflucht zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt. Das Oberste Gericht lehnte die Berufung zwar ab, doch in der Tauwetterperiode nach dem XX. Parteitag in der Sowjetunion stellte sein Anwalt einen erneuten Antrag auf Überprüfung, der erfolgreich war. Schmidt wurde im Oktober 1956 aus der Haft entlassen, sein Fall vor dem Bezirksgericht Leipzig erneut verhandelt. Die neue Hauptverhandlung erfolgte vom 15. bis 23. Februar 1957, wenige Tage nachdem das Politbüro aufgrund des ,,konterrevolutionären Putsches" in Ungarn einen erneuten Kurswechsel vorgenommen hatte. Die beteiligte Staatsanwältin - offensichtlich verunsichert über die derzeit ,,richtige" Linie - schrieb noch vor der Urteilsverkündung ftir den Generalstaatsanwalt einen Bericht über den bisherigen Verlauf der Verhandlung, in dem es u. a. hieß: ,,Am ersten Tag merkte ich, daß das Verfahren eine ganz andere Wendung annahm, als ich vermutete, da ich überzeugt war, wenigstens einen Teil der Schuld aller Angeklagten festzustellen. Ich informierte deshalb außer Berlin den Behördenleiter von Leipzig, meinen Parteisekretär und bat MfS Leipzig, einen Mitarbeiter als objektiven Zuhörer zu schicken. Gen. Tr. (die die Verhandlung führende Richterin) sagte außerdem Gen. Wi. - staatliche Organe und unser Instrukteur - von der Bezirksleitung Bescheid. An allen vier Tagen ließ sich niemand wenigstens 5 Minuten blicken".

Politische Steuerung der Justiz

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Die Verhandlung endete mit einem Freispruch. Es stellte sich heraus, daß das MfS einen Phantomzeugen erfunden und weitere vier Belastungszeugen unter Druck gesetzt hatte. Doch nunmehr befaßte sich das Politbüro mit dem Fall und setzte eine Untersuchungskommission ein, bestehend aus der Justizministerin Hilde Benjamin, dem Generalstaatsanwalt Melsheimer und Erich Mielke. Der Leiter des Sektors Justiz der Abteilung ftir Staats- und Rechtsfragen im ZK der SED, der spätere Generalstaatsanwalt Josef Streit, reiste zur Sitzung der Grundorganisation des Bezirksgerichts Leipzig (damals Betriebsparteigruppe genannt). Werkentin schließt seine Ausführungen zu diesem Fall: "Streit hatte sich von der Sitzung der BPO des Bezirksgerichts Leipzig mit dem Ratschlag verabschiedet: ,Man geht, wenn man sich nicht klar über etwas ist, zur Partei'. Doch das Problem der Leipziger Staatsanwältin und der Richterin lag ja gerade darin, daß sie im vorauseilenden Gehorsam die Partei um Beratung gebeten, die Genossen jedoch - offensichtlich selbst unsicher über die aktuelle Linie - sich dem verweigert hatten. So konnten selbst die parteitreuesten Genossen Richter, die ,Anleitung' völlig akzeptierend und darum bittend, gleichwohl in Konflikte mit den zentralen Gremien der Partei geraten".

X. Diese wenigen Befunde können den Gehalt der umfangreichen Studie nur andeuten. Sie erschließt unter systematischen Gesichtspunkten die Struktur und Mechanismen des Systems der Justizsteuerung (Hubert Rottleuthner), stellt die Leitungsinstrumente des Obersten Gerichts dar (Andreas Gänge!) und untersucht die Stellung der Generalstaatsanwaltschaft (Wolfgang Behlert) wie die Steuerungsund Eingriffspraxis des zentralen Parteiapparates im Bereich des politischen Strafrechts (Falco Werkentin). Unter historischen Gesichtspunkten stellt sich die rechtliche Entwicklung der Gerichtsverfassung (Andrea Klemm), der Leitungsfunktionen des Obersten Gerichts und des Ministeriums der Justiz (Andreas Gänge! und Wemer Künzel) von 1949 bis in die 70er und 80er Jahre dar. Die Entwicklung in den 40er und 50er Jahren -Bausteine ftir die Etablierung des Systems der Justizsteuerung - werden anhand von Beiträgen deutlich, die sich mit der Entwicklung der Volksrichterausbildung (Andrea Feth), der Deutschen Justizverwaltung und der Kollektivierung der Rechtsanwaltschaft (Thomas Lorenz) befassen. Weitere Themen ergänzen diese Studien. -Ein umfangreicher Aktenbestand wird so der öffentlichen Diskussion erschlossen. Es bleibt zu hoffen, daß die - auch kontroverse wissenschaftliche Diskussion darüber das Verständnis fördert, was in der ehemaligen DDR geschehen ist. Das ist für uns alle - im Osten wie im Westen - von Bedeutung. Denn ein gemeinsames Rechtsbewußtsein, das auf einem Konsens über bestimmte Regeln und Verfahrensweisen beruht, ist ein notwendiger Bestandteil unserer politischen Kultur. Diese können wir nur gemeinsam gestalten, wenn wir wissen, woher wir kommen.

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XI. Zum Schluß noch ein Hinweis: Die Ergebnisse des Forschungsprojekts über die politische Steuerung der Justiz in der Deutschen Demokratischen Republik wurden einer breiteren Öffentlichkeit im Rahmen der von mir mit einer Arbeitsgruppe und einem Beirat konzipierten Wanderausstellung des Bundesministeriums der Justiz ,,Im Namen des Volkes?- Über die Justiz im Staat der SED" in visualisierter Form nahegebracht (Teil 7 'Institutionen und Steuerung'). Die Ausstellung wurde am 24. Juni 1994 von der damaligen Bundesministerin der Justiz Leutheusser-Schnarrenberger im Foyer des Landgerichts Berlin in der Littenstraße eröffnet und war bisher in weiteren Orten der Bundesrepublik Deutschland zu sehen (Braunschweig, Magdeburg, Karlsruhe, Trier, Dresden, Leipzig, Neubrandenburg, Greifswald, Schwerin, Bonn, Lübeck, Potsdam, Frankfurt a. Main, Jena).

Literaturverzeichnis Bundesministerium der Justiz (Hg.): Im Namen des Volkes? - Über die Justiz im Staat der SED, 3 Bände (Katalog, Dokumentenband, Wissenschaftlicher Begleitband), Leipzig 1994. Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12.Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Band IV (Recht, Justiz und Polizei im SED-Staat), Baden-Baden 1995. Rennig, Christophi Strempel, Dieter (Hg.): Justiz im Umbruch, Rechtstat- sächliche Studien zum Aufbau der Rechtspflege in den neuen Bundesländern, Reihe ,Rechtstatsachenforschung' des Bundesministeriums der Justiz, Köln 1997. Rottleuthner, Hubert (Hg.): Steuerung der Justiz in der DDR, Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte. Reihe ,Rechtstatsachenforschung' des Bundesministeriums der Justiz, Köln 1994.

Transformation der Rechtsordnung von den alten in die neuen Bundesländer Der schwierige Weg zur Rechtseinheit in Deutschland Von Klaus Letzgus

I. Einleitung Die Kurzfassung des Themas ..Transformation der Rechtsordnung von den alten in die neuen Bundesländer" könnte mißverständlich sein, da sie nicht in vollem Umfang die Vielschichtigkeit des Prozesses zur Vereinheitlichung des Rechts in Deutschland wiedergibt. Es geht nämlich nicht schlicht um die Übernahme von Recht aus den alten Bundesländern, auch nicht generell um die Transformation von partikularem Recht und einem "Überstülpen" spezifisch westdeutscher Rechtsvorstellungen auf die neuen Bundesländer. 1 Es geht vielmehr in erster Linie um die Wiederbelebung deutscher Rechtstraditionen in dem Teil Deutschlands, der durch die Kriegsfolgen und das sowjetische Besatzungsregime über vierzig Jahre in Unfreiheit gehalten wurde. Im Zuge der Errichtung der sowjetischen Besatzungszone und der späteren Gründung der DDR im Jahr 1949 ist im früheren Mitteldeutschland nicht nur die einstmals bürgerlich geprägte Rechtsordnung weitgehend beseitigt, sondern damit einhergehend auch ein völlig anderes Rechtsverständnis geschaffen worden. Die Rechte des Einzelnen verloren zunehmend ihre Bedeutung gegenüber dem übergeordneten Willen und dem Interesse der herrschenden Arbeiterklasse, das allein durch deren Avantgarde, die kommunistische Partei, verbindlich formuliert wurde. Da es nach diesem Dogma Interessengegensätze zwischen dem kommunistischen Staat und dem Individuum schlechterdings nicht geben konnte, hatte zum Beispiel das Verwaltungsrecht, dessen Wurzeln in Deutschland bereits im preußischen Allgemeinen Landrecht liegen, in der DDR keine Chance, sich wie in Westdeutschland weiterzuentwickeln. Es verkümmerte vielmehr zur Bedeutungslosigkeit. Mit dem Aufbau einer Verwaltungsgerichtsbarkeit wurde erst in den letzten Jahren, als die DDR sich bereits im moribunden Zustand befand, begonnen.2 Vgl. zur Frage des "Überstülpens" Roellecke, NJW 1991, 625 ff., 661. Zur Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern vgl. Stelkens, DtZ 1991, 7 ff. I

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Aber auch das bürgerliche Recht mit seiner betont individuellen Ausrichtung paßte nicht in das Bild der kommunistischen Gesellschaftsordnung und wurde deshalb einer weitgehenden Revision unterzogen. So wurde das Bürgerliche Gesetzbuch vom 18. 08. 1896 (BGB), das einst im Deutschen Reich die Rechtseinheit hergestellt hatte, im Jahre 1976 insgesamt durch das Zivilgesetzbuch (ZGB) ersetzt, nachdem zuvor im Jahre 1965 durch das Vertragsgesetz und 1966 durch das Familiengesetzbuch bereits Teile des BGB ausgegliedert worden waren. Die zentral verwaltete Kommandowirtschaft ließ keine Vertragsfreiheit zu, die diesen Namen verdient hätte. Das Privateigentum wurde gegenüber dem sozialistischen Eigentum erheblich benachteiligt, wobei Privateigentum an Produktionsmitteln grundsätzlich verboten war. Im Verfassungsrecht mußten erst recht völlig neue Wege gegangen werden. Die Diktatur des Proletariats hatte zwangsläufig eine faktische Einparteienherrschaft zur Folge und setzte insoweit die totalitären Strukturen des nationalsozialistischen Regimes fort. Die Meinungsäußerungsfreiheit sowie die Informations- und Pressefreiheit waren nicht mehr gewährleistet. Versammlungs-, Vereinigungs- und Berufsfreiheit waren ganz erheblich eingeschränkt. 3 Mit der rechtsstaatlich-freiheitlichen Verfassungstradition Deutschlands bestand somit keinerlei Gemeinsamkeit mehr. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die heute zum Teil abgeschlossene Transformation von in Westdeutschland geltenden Gesetzen bzw. die Übertragung von Rechtsprinzipien nicht Züge eines einseitigen "Westimports" trägt, wie dies immer wieder behauptet wird. Die sog. Transformation bedeutet im wesentlichen nichts anderes, als die Wiederherstellung der Rechtseinheit auf der Basis von deutschen Rechtstraditionen, die teilweise in Jahrhunderten gewachsen waren.

II. Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer am 18. März 1990 wurde mit dem Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der erste herausragende Schritt zur Rechtsvereinheitlichung untemommen.4 Bereits dieser am 18. Mai 1990 unterzeichnete Staatsvertrag, dem der Bundestag und die Volkskammer am 21. Juni 1990 zustimmten und der am 1. Juli 1990 in Kraft trat, enthielt verpflichtende Aussagen zu grundlegenden Prinzipien einer freiheitlich-demokratischen Staatsordnung, so vor allem

Auf diese Ausgangslage weist Kinkel, NJW 1991, 340 f. besonders deutlich hin. Zur Entstehung des Staatsvertrages und den dazu geführten Verhandlungen sehr anschaulich Schmidt-Bleibtreu, in Stern/ Schmidt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur Deutschen Einheit, Band 1: Der Staatsvertrag (im folgenden "Der Staatsvertrag" zitiert) S. 47 ff. 3 4

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- das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip, - die Vertrags-, Gewerbe-, Niederlassungs-, Berufs- und Koalitionsfreiheit, - das Privateigentum. Art. 2 Abs. 2 des Staatsvertrages sieht ausdrücklich vor, daß entgegenstehende Vorschriften der Verfassung der DDR über die Grundlagen ihrer bisherigen sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung nicht mehr anzuwenden sind. Ausgehend von diesen Grundsätzen waren es im wesentlichen die Art. 3 und 4 des Staatsvertrages, welche die erste Phase zur Rechtsvereinheitlichung einleiteten. Dabei konzentrierten sich diese Regelungen auf die Rechtsgebiete, welche die Grundlage für das Wahrungssystem der D-Mark sowie für die vom Gedanken der sozialen Marktwirtschaft geprägte Wirtschafts- und Sozialordnung bilden. 1. So verpflichtete Art. 3 die damalige DDR zur Übernahme unter anderem folgender Gesetze, die in der Anlage li zum Staatsvertrag aufgeführt sind: a) zur Wahrungsunion: 5 - Gesetz über deutsche Bundesbank, - Gesetz über das Kreditwesen, - Hypothekenbankgesetz, - Gesetz über Bausparkassen, - Versicherungsaufsichtsgesetz. b) zur Wirtschaftsunion: - 1. bis 3. Buch des HGB, also die Bestimmungen, die das Recht der Kaufleute, der Handelsfirmen, der Personengesellschaften und der Handelsbücher betreffen, - §§ 705 ff. BGB über die Gesellschaft bürgerlichen Rechts,

- Aktiengesetz und GmbH-Gesetz, - AGB-Gesetz und Gesetz über den Widerruf von Haustürgeschäften, - Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. c) zur Sozialunion: - Mitbestimmungsgesetz, - Betriebsverfassungsgesetz, - Kündigungsschutzgesetz. 2. Da eine Rechtsvereinheitlichung sich verständlicherweise nicht auf die Übernahme von Rechtsvorschriften beschränken kann, sondern gleichzeitig die Aufhe-

s Zur Währungsunion sehr eingehend und detaillien Haferkamp, DtZ 1991, 201 ff., der zu Recht darauf hinweist, daß die Einmaligkeit gerade dieser Währungsunion darin besteht, die Geld- und Winschaftsverfassung eines Staates komplett durch eine Geld- und Winschaftsverfassung eines anderen Staates zu ersetzen, ohne daß zwischen diesen beiden Staaten die geringsten Gemeinsamkeiten bestanden hätten.

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bung bzw. Modifizierung entgegenstehenden Rechts bedingt, enthält Art. 4 des Staatsvertrages die Verpflichtung zur Aufhebung bzw. zur Änderung von bisherigem Recht der DDR. Im einzelnen ist dies in der Anlage III zum Vertrag näher bezeichnet, und zwar wiederum aufgeteilt nach den drei tragenden Elementen des Staatsvertrages: - Im Bereich der Währungsunion geht es ausschließlich um die frühere Staatsbank der DDR sowie um währungs- und devisenrechtliche Bestimmungen. - Auf dem Gebiet der Wirtschaftsunion wurden folgende Gesetze aufgehoben bzw. modifiziert: - das Gesetz über den Außenhandel, - gesetzliche Bestimmungen zu landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, - gewisse Änderungen des Zivilgesetzbuches, soweit dieses mit dem Grundsatz des Privateigentums nicht vereinbar war, - die Anpassung des Wechsel- und Scheckgesetzes, - gesetzliche Bestimmungen zur Gründung und Tätigkeit privater Unternehmen sowie über Unternehmensbeteiligungen, - eine Änderung und Ergänzung des Strafgesetzbuches, insbesondere die Streichung spezifisch sozialistischer Wertbegriffe, wie z. B. "die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung", - eine Änderung des Gerichtsverfassungsrechts zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit und Durchsetzung des Grundsatzes der Gewaltenteilung, - Änderungen des Zivilprozeßrechts, soweit bisher die Privatautonomie beeinträchtigt wurde, - die Beseitigung der Tätigkeit von gesellschaftlichen Anklägern und gesellschaftlichen Verteidigern im Strafverfahren sowie gleichzeitige Verbesserung der Rechte des Beschuldigten, - die Einführung eines gerichtlichen Rechtsschutzes in verwaltungsrechtlichen, aber auch in sozial- und steuerrechtliehen Angelegenhe~ten, - freier Zugang zum Beruf des Rechtsanwalts. Im Bereich der Sozialunion ging es vor allem um eine Anpassung des Arbeitsgesetzbuches der DDR an die soziale Marktwirtschaft. Dabei soll jedoch nicht verschwiegen werden, daß es sich beim Arbeitsgesetzbuch der DDR - wenn man von den ideologiebedingten Regelungen absieht - um eine durchaus moderne Kodifikation handelte. Die Bundesrepublik hatte es trotzzahlreicher Versuche in 30 Jahren nicht geschafft, das Arbeitsrecht zu kodifizieren. Nicht einmal die vom Einigungsvertrag in Art. 30 geforderte Kodifikation des Arbeitsvertragsrechts konnte bisher erreicht werden. 3. Ferner wurde die DDR nach Art. 4 Abs. 1 des Staatsvertrages verpflichtet, die in Anlage IV aufgeführten Rechtsvorschriften selbständig zu erlassen, d. h. durch

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die Volkskammer zu verabschieden, wie z. B. im Bereich der Wirtschaftsunion ein Gesetz über die Niederlassungsfreiheit für auswärtige Personen oder im Bereich der Sozialunion ein Arbeitsförderungs- und ein Sozialhilfegesetz. Um ein schnelles Zusammenwachsen der beiden Volkswirtschaften zu ermöglichen, wurde die DDR für die Bereiche des Staatshaushalts und der Finanzen zur Übernahme des Haushaltsgrundsätzegesetzes sowie des in Westdeutschland gültigen Steuerrechts verpflichtet. Art. 4 Abs. 3 des Vertrages regelt schließlich die Übermittlung personen-bezogener Daten, und zwar vor dem Hintergrund, daß in der DDR Datenschutzregelungen überhaupt nicht bestanden und es daher einer Vereinbarung über die insoweit notwendigen, in Anlage VII aufgeführten Grundsätze bedurfte. 4. Nach alledem kann wohl die Feststellung getroffen werden, daß bereits der Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion einen umfassenden Katalog in Form einer sog. Positivliste zur Rechtstransformation enthielt. Diese Tatsache ist von großer Tragweite, weil schon durch diese Maßnahme keineswegs nur bloße rechtstechnische Schritte zur Herstellung der Währungsunion eingeleitet, sondern grundlegende Rechtsprinzipien in das damalige DDR-Recht übernommen wurden, die gewachsenen deutschen Rechtstraditionen entspringen. Ein ganz herausragendes Prinzip bildet dabei die Privatautonomie, die Inhalt und Struktur des bürgerlichen Rechts, einschließlich des Verfahrensrechts, maßgeblich bestimmt. Aufgrund der Transformation zahlreicher konkreter Rechtsvorschriften im Wege einer sog. Vorsorgegesetzgebung waren damit bereits am 18. Mai 1990 die Weichen zur Rekonstituierung einer bürgerlichen und freiheitlichen Rechtsordnung im östlichen Teil Deutschlands gestellt. 6 Überkommene Strukturen der DDR-Staats- und Wirtschaftsordnung, gekennzeichnet durch Einparteienherrschaft, Zentralismus und Planwirtschaft, wurden durch den Staatsvertrag endgültig aufgebrochen.

111. Der Einigungsvertrag Im Mittelpunkt der Rechtstransformation steht freilich der Einigungsvertrag, der sowohl umfassende Voraussetzungen zur unmittelbaren .Gesetzesübernahme, als auch vielfältige Vorgaben zur Herstellung der Rechtseinheit in Deutschland enthält. Die als Ergebnis der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 gebildete Regierung de Maiziere setzte - insbesondere aber nicht ausschließlich auf der Grundlage des eben dargestellten Staatsvertrages -in der vom SED-Regime befreiten DDR eine intensive Gesetzgebungstätigkeit nach westdeutschem Vorbild in Gang, und zwar auch durch unveränderte Inkraftsetzung westdeutscher Regelungen. Aus die6 Stern, Staatsvertrag (Fn. 4), S. 45 spricht insoweit von einem "abgestuften Vereinheitlichungsprozeß" des Vertrages.

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sem Grund stieß der Einigungsvertrag auf unterschiedliche Schichten von DDRRecht, die der Rechtsangleichung bedurften: Einmal das sog. Altrecht aus der Zeit vor der "friedlichen Revolution" des Jahres 1989, ein Begriff, den die Verfassung des Freistaates Sachsen sogar in ihre Präambel aufgenommen und ihm damit verfassungspolitische Bedeutung verliehen hat; zum anderen das Recht des Übergangs, wobei auch hier zwischen mehreren Entwicklungsphasen zu differenzieren ist. Die erste Zäsur bildet zweifellos die Volkskammerwahl am 18. März 1990, die zweite das Inkrafttreten der Währungsunion am 01. Juli 1990 und die dritte Zäsur schließlich der Abschluß des Einigungsvertrages am 31. August 1990. Wir haben noch die bewegten Zeiten im Frühjahr und Sommer 1990 mit einer sich geradezu überstürzenden Gesetzgebungstätigkeit im Osten, aber auch im Westen Deutschlands in Erinnerung. 1. Bedeutung des Art. 23 GG a.F. für die Wiedervereinigung und den Abschluß des Einigungsvertrages

Eine herausragende Funktion des Einigungsvertrages stellt zweifellos die Umsetzung des früheren Art. 23 GG dar. Der Einigungsvertrag selbst verkörpert zunächst schlicht die Erklärung des Beitritts der damaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland. Art. 23 GG bestimmte den früheren Geltungsbereich des Grundgesetzes und enthielt die Vorgabe, daß es "in anderen Teilen Deutschlands nach deren Beitritt in Kraft zu setzen ist". Insoweit hätte es lediglich einer bloßen einseitigen staatsrechtlichen Willenserklärung bedurft. Allerdings ergibt sich aus Art. 23 Satz 2 GG a.F. die bemerkenswerte Rechtsfolge, daß das Grundgesetz einerseits zwar nicht automatisch mit Beitritt eines anderen Teils Deutschlands im sog. Beitrittsgebiet in Kraft tritt, andeFerseits es aber danach dort in Kraft gesetzt werden muß. So war schon nach dieser Regelung für das Verfassungsrecht - unabhängig vom Beitritt selbst - ein weiterer Transformationsakt erforderlich.7 Dieser Umstand erklärt sich daraus, daß die Verfassungsgesetzgebung eigentlich dem pouvoir constituant obliegt und nur bedingt durch den pouvoir constitue ausgeübt werden kann. In der Verfassungsliteratur war daher umstritten, ob diese "Verfassungsrechtstransformation" überhaupt durch Gesetz erfolgen kann. Als historisches Vorbild wurde dabei das Saarland herangezogen. Einschlägig war damals das Gesetz über die Eingliederung des Saarlandes vom 23. Dezember 1956. Dies war der erste und bis dato einzige Anwendungsfall des Art. 23 GG. Während es sich damals aber um ein "einseitiges Gesetz" handelte, war die Situation jetzt insoweit neu und anders, als der Beitritt in einen umfassenden Vertrag eingebettet werden sollte. 7 Vgl. zu den verfassungsrechtlichen Folgen des Beitritts Stern, in Stern/Schmidt-Bleibtreu, Verträge und Rechtsakte zur deutschen Einheit, Band II Der Einigungsvertrag (im folgenden ,,Einigungsvertrag" zitiert), S. 29 f.

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Dies ist deshalb umso bemerkenswerter, als die Abgabe der Beitrittserklärung der Volkskammer vom 23. August 1990 unmittelbar zur Folge hatte, daß die DDR mit Wirkung vom 03. Oktober 1990 Teil der Bundesrepublik Deutschland wurde. Damit einhergehend hatte sich die DDR notwendigerweise ihrer Staatsgewalt zugunsten der Staatsgewalt der Bundesrepublik Deutschland begeben. Es hätte folglich jetzt allein in der Hand der Bundesrepublik Deutschland liegen können, für das Gebiet der ehemaligen DDR - entsprechend der Kompetenzordnung des Grundgesetzes - einseitig im Bereich der Gesetzgebung tätig zu werden. Art. 23 a.F. GG stand in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Art. 146 GG8 der die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung für ganz Deutschland vorsah. Hieraus wird deutlich, daß dem Art. 23 a.F. GG eher die Vorstellung des Beitritts einzelner deutscher Länder zugrundelag, als die Wiedervereinigung aller Teile Deutschlands. Gleichwohl ist der Weg des Art. 23 GG beschritten worden, da er praktikabler und weniger zeitaufwendig erschien und politisch wegen des - auch außenpolitisch - engen zeitlichen Rahmens im Grunde genommen gar keine andere Wahl bestand. Auch wenn der Beitritt selbst aufgrund eines Beschlusses der Volkskammer zunächst einen einseitigen Akt darstellte, enthielt andererseits das Gebot der Inkraftsetzung in Art. 23 Satz 2 GG einen durchaus weiten Ermessensspielraum, der die Herstellung der Rechtseinheit auf unterschiedliche inhaltliche und zeitliche Weise eröffnete. Dabei konnte freilich eine schlichte Ausdehnung des Geltungsbereiches des gesamten Rechts der Bundesrepublik Deutschland auf die sich neu konstituierenden Länder schon deshalb nicht in Betracht kommen, weil durch eine solche einschneidende Maßnahme die politischen, wirtschaftlichen, sozialen, aber auch psychologischen Folgen für das Rechtsbewußtsein und für die Lebenssituation der Bevölkerung der ehemaligen DDR unvorhersehbar und letztlich auch verletzend gewesen wäre. Zur deutschen Rechtsgeschichte gehört eben auch ein in über 40 Jahren gewachsenes Recht der DDR. Dies ließ und läßt sich nicht mit einem Federstrich beseitigen. Recht ist auf die Akzeptanz der Rechtsunterworfenen, auf den gesellschaftlichen Konsens angewiesen. Bei einer Transformation der Rechtsordnung von den alten in die neuen Bundesländer durften daher Rechtsverständnis, Denkgewohnheiten und Alltagsleben unserer, durch 40jähriges DDR-Recht mehr oder weniger geprägten Mitbürger nicht außer Acht bleiben. · Zwei wesentliche, für die Rechtstransformation bedeutsame Faktoren kennzeichnen die völlig anders gelagerte Situation im Vergleich zur Wiedervereinigung des Saarlandes.9 8 Vgl. dazu im einzelnen Stern, Staatsvertrag a. a. 0. (Fn. 4), S. 26 ff.; Eckart Klein, NJW 1990; 1065 ff. (1070); Starck, JZ 1990, 349 ff.; Häberle, JZ 1990,358 ff. 9 So auch Stern, Staatsvertrag a. a. 0 . (Fn. 4), S. 4, der darauf hinweist, daß nicht nur die Eingliederung des Saarlandes, sondern auch die Vereinigungsakte von 1870 /1871 sowie die Vorgänge von 1948/1949 wesentlich unkomplizierter waren.

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Einmal war Deutschland 45 Jahre geteilt im Vergleich zu einer nur 12jährigen Abtrennung des Saarlandes. Zum anderen hat sich in jenem Zeitraum in Westdeutschland, aber auch im Saarland die bürgerliche Rechtsordnung, wenn auch unter Einfluß von Rechtsprinzipien aus dem anglo-amerikanischen und romanischen Rechtskreis, fortentwickelt, während in der SBZ und späteren DDR ein durch den Kommunismus und das sowjetische Vorbild strukturiertes Rechtssystem entstand, das sich immer mehr von gemeinsamen deutschen Rechtstraditionen verabschiedete. Diese grundlegend andersartige Situation schloß einen Rückgriff auf historische Vorbilder aus, sei es das Saarland oder gar den Beitritt der süddeutschen Länder zum Norddeutschen Bund anläßlich der Reichsgründung im Jahre 1871. Dieser für die rechtspolitische Ausgangslage im Jahre 1990 ausschlaggebende historische Hintergrund erklärt die Entscheidung der Bundesregierung und der Regierung DDR für den Abschluß des Einigungsvertrages.

2. Systematik und Inhalt des Einigungsvertrages

a) Zur grundsätzlichen Systematik Der Einigungsvertrag, der in seinem Kern zugleich den Charakter eines Verfassungsvertrages beinhaltet, enthält in Art. 3 zunächst die vollständige Transformation der Verfassungsordnung des Grundgesetzes. Daneben enthält er aber auch für sämtliche Bereiche des sonstigen öffentlichen Rechts, des Strafrechts und des Zivilrechts Regelungen zur Rechtsanpassung. Die mit dem Einigungsvertrag umgesetzte Vertragsidee vermochte durch ihre BündeJung mehrere Funktionen zu erfüllen. Zunächst diente der Vertrag der Umsetzung des Art. 23 a.F. GG sowie der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands. Damit einhergehend schaffte er aber auch die Voraussetzungen für eine Rechtseinheit, die für einen Bundesstaat lebensnotwendig ist. Der Vertrag führte nicht nur zu der sich aus Art. 23 Satz 2 GG a.F. erforderlichen Umsetzung des Verfassungsrechts, sondern er erfaßte die gesamte Rechtsordnung, wobei gerade der Vertragscharakter auch der beigetretenen DDR genügend Raum zur Mitgestaltung überließ und somit schon bei der Wiedergeburt der deutschen Einheit dem foderativen Gedanken Rechnung getragen werden konnte. Zu den grundsätzlichen Vorfragen bei der Abfassung des Einigungsvertrages gehörte die Problematik, auf welche Art und Weise die Rechtsvereinheitlichung herbeigeführt werden sollte. Dabei boten sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten an: 10 - Spezielle Aufzählung der sofort in Kraft zu setzenden Gesetze im Vertrag bei partieller Fortgeltung des bisherigen DDR-Rechts (sog. Positivliste).

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Vgl. Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag a. a. 0. (Fn. 7), S. 67.

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- Aufnahme einer Generalklausel des Inhalts, daß sich grundsätzlich das gesamte Bundesrecht auf das Beitrittsgebiet erstreckt mit Ausnahmeregelungen nur für die Bereiche, in denen eine sofortige Geltung des Bundesrechts noch nicht möglich war (sog. Negativliste). Während zunächst die sog. Positivliste entsprechend der Regelung im Staatsvertrag zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im Vordergrund stand und insbesondere von Wolfgang Schäuble vertreten wurde, hatte sich dann Anfang August 1990 - offenbar auch auf Wunsch des damaligen DDR-Ministerpräsidenten de Maiziere - die von Klaus Kinkel favorisierte generalklauselartige Lösung endgültig durchgesetzt. 11 Das Modell der sog. Positivliste hätte zur Folge geführt, daß der künftige gesamtdeutsche Gesetzgeber zahlreiche weitere Maßnahmen zur Rechtsangleichung hätte treffen müssen. Ferner stand zu befürchten, daß eine singulare Rechtsangleichung dazu ausgenützt werden könnte, einzelne Gesetzesvorhaben grundsätzlich in Frage zu stellen oder mit Reformüberlegungen zu befrachten. 12 Diese Situation hätte möglicherweise den Prozeß der Rechtsvereinheitlichung nicht unerheblich erschwert. Andererseits hätte sich aber auch die Chance geboten, in der Tat das eine oder andere seit vielen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland geltende Gesetz auf den Prüfstand zu stellen, - ein Thema, das unter dem Schlagwort der Deregulierung in jüngster Zeit brennende Aktualität erlangt hat. Die Herstellung der deutschen Einheit hätte sicherlich in dem ein oder anderen Bereich Chancen zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung geboten, wobei beispielsweise nur an die seit Jahren diskutierte Einführung der Dreistufigkeit in der ordentlichen Gerichtsbarkeit erinnert werden darf. In jedem Fall hätte man aber bei der Rechtstransformation gezielter auf die speziellen Verhältnisse und Anforderungen der ehemaligen DDR abstellen können und sollen. Bestes Beispiel hierfür ist die - von einer wichtigen Ausnahme allerdings abgesehen - im wesentlichen uneingeschränkte Übernahme des Baugesetzbuches, das sich mit seinen strengen planungsrechtlichen Bestimmungen und aufwendigen Verfahrensregelungen zur Bauleitplanung in den ersten Jahren des Wiederaufbaus oftmals als Investitionshemmnis erwies. 13 Bei der generalklauselartigen Lösung ist immerhin das Bemühen der Väter des Einigungsvertrages festzustellen, durch zahlreiche Detailregelungen den sich aus dem abrupten Wechsel vom sozialistischen Gesellschaftssystem auf die völlig entgegengesetzte bürgerliche Gesellschafts- und Rechtsordnung ergebenden Schwierigkeiten und notwendigen Übergangslösungen Rechnung zu tragen. Gerade diese Vgl. Kinkel, NJW 1991,341. Für gleichzeitige Reformen z. B. Drobnig, DtZ 1990, 116 f. 13 Zur Planung und zum Baugenehmigungsverfahren im Beitrittsgebiet vgl. Leder I Scholtisseck, DtZ 1991, 116 f. II

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Vielfalt von Sondervorschriften vermittelt jedoch trotz der Generalklausel zunächst ein weitgehend unklares Bild über den Inhalt des Einigungsvertrages. Ein Blick auf die grundlegenden Strukturen der Rechtsangleichung im Einigungsvertrag ist daher unumgänglich. Hierbei stehen die Art. 8 und 9 des Vertrages im Mittelpunkt. b) Die Generalklausel des Art. 8 EV

Art. 8 enthält die eigentliche Generalklausel, wonach mit dem Wirksamwerden des Beitritts arn 3. Oktober 1990 grundsätzlich das gesamte Bundesrecht in den fünf neuen Ländern und dem Ostteil der Hauptstadt Berlin in Kraft getreten ist. Dadurch wurde gewissermaßen auf einen Schlag mit der Wiedervereinigung bereits eine weitgehende Rechtseinheit in Deutschland hergestellt. Diese Generalklausel ist im übrigen nicht die einzige Bestimmung des Einigungsvertrages, die Bundesrecht in das Beitrittsgebiet transformiert. Der Vertrag enthält darüber hinaus zu bestimmten Gebieten, die schon von ihrer Struktur und von ihrer Zielsetzung her einer gesonderten Regelung bedurften, spezielle Vorschriften, wie z. B. zum öffentlichen Dienst, für den Art. 20 die Übernahme des Beamten- und des Soldatenrechts vorschreibt. 14 Der in der Generalklausel des Art. 8 normierte Grundsatz der Überleitung des Bundesrechts erfährt jedoch zahlreiche Ausnahmen. Ausgenommen ist selbstverständlich zunächst das Bundesrecht, das nur auf bestimmte Länder oder Landesteile beschränkt ist. Von entscheidender Bedeutung ist aber der Katalog der Ausnahmen und Anpassungsregeln, die in Anlage I zum Einigungsvertrag aufgeführt sind und die ihrerseits selbst den Umfang eines größeren Gesetzeswerkes einnehmen. Diese Anlage ist gegliedert in einen einleitenden Abschnitt mit dem Titel Vorbemerkungen und in 19 Kapitel entsprechend den Geschäftsbereichen der Bundesministerien. Dabei ist fast jedes Kapitel wiederum in Sachgebiete aufgeteilt, die sich ihrerseits in bis zu vier Abschnitte gliedern. 15 Die Vorbemerkungen erläutern die Bedeutung dieser Abschnitte. All dies verdeutlicht die Komplexität der Anlage I mit einem äußerst kornplizierten Geflecht von Regeln, Ausnahmen und Maßgaben. Voraussetzung hierfür war eine umfassende Prüfung und Sichtung des gesamten Bundesrechts sowie des gesamten Rechts der DDR. 16 aa) Abschnitt I des jeweiligen Kapitels enthält diejenigen Rechtsvorschriften, die von dem Inkrafttreten des Bundesrechts ausgenommen sind. Beispielhaft sei dies an dem in Kapital Ill geregelten Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz im Sachgebiet über die Rechtspflege aufgezeigt. Danach sind u. a. die VerVgl. zur Einführung des Beamtenrechts Battis, Neue Justiz 1991, 89 ff. Kloepfer/Kröger, DVBI. 1991, 1032. 16 Eine Aufzählung der wesentlichen Sachgebiete, die überprüft werden mußten, bringt Schmidt-Bieibtreu, Einigungsvertrag a. a. 0. (Fn. 7), S. 68. 14

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gleichs- und Konkursordnung vom Inkrafttreten als Bundesrecht in der ehemaligen DDR ausgeschlossen. Das bisherige Insolvenzrecht der DDR sollte weitergelten, wobei dieses freilich bereits durch die DDR-Verordnung über die Gesamtvollstrekkung vom 6. Juni 1990 an die Bedürfnisse der sozialen Marktwirtschaft angepaßt worden war. Daß im Zuge der Wahrungsunion sowie im Rahmen des Einigungsvertrages dieser Weg gegangen worden ist, erklärt sich aus der strafferen Fassung und einfacheren Handhabung des DDR-Insolvenzrechts, das mit den notwendigen Modifikationen marktwirtschaftliehen Anforderungen vorerst genügte. Die Rechtseinheit auch auf diesem Gebiet ist zum Bestandteil der inzwischen verabschiedeten Gesamtreform des Insolvenzrechts geworden, die am I. Januar 1999 in Kraft trat. 17 Ebenfalls nicht transformiert wurden die Bundesrechtsanwaltsordnung und die Bundesnotarordnung, da auch hier grundlegende Reformen bevorstanden. Maßgeblich für diese Entscheidung im Einigungsvertrag war u. a. aber auch die Tatsache, daß die DDR-Volkskammer beabsichtigte, ein neues Rechtsanwaltsgesetz auf den Weg zu bringen, das dann noch Ende September 1990, also nach Abschluß des Einigungsvertrages, aber vor Herstellung der deutschen Einheit, von der Volkskammer verabschiedet wurde. Erwähnenswert ist ferner, daß im Strafgesetzbuch die Regelungen zur Abtreibung nicht in die Rechtstransformation Eingang fanden 18 • An diesem Beispiel wird deutlich, daß ganz bewußt auch auf das Rechtsempfinden der DDR-Bevölkerung Rücksicht genommen werden mußte und auch wurde. Das Vertrauen in die neue Rechtsordnung wäre geschwächt worden, wenn in den Augen der hier Rechtsunterworfenen ihr "fortschrittliches Recht" durch ein strengeres Recht ersetzt worden wäre. Bekanntermaßen ist dann durch die im Jahre 1993 ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsrecht eine Vereinheitlichung herbeigeführt worden, und zwar durch Aufzählung verschiedener Kriterien, die bis zu der inzwischen erfolgten Neufassung einer gesamtdeutschen gesetzlichen Regelung zur Schwangerschaftsunterbrechung zu beachten waren. 19 bb) Im Abschnitt II des jeweiligen Sachgebietes der Anlage I werden die Rechtsvorschriften aufgeführt, die aufgehoben, geändert oder ergänzt wurden. So sind z. B. im Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft (Kapitel XVI) im Sachgebiet A über die Hochschulen zum Hochschulrahmengesetz Übergangsregelungen für die Dauer von fünf Jahren u. a. für den Hochschulzugang und die Hochschulzulassung eingefügt worden, um auch auf diesem Gebiet eine möglichst rasche Angleichung in beiden Teilen Deutschlands zu erreichen. 17 Insolvenzordnung vom 05. 10. 1994 (BGBI. I, 2866) sowie das Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung vom 05. 10. 1994 (BGBI. I, 2911), welche die über 120 Jahre alte Konkursordnung, die Vergleichsordnung sowie die im Beitrittsgebiet geltende Gesamtvollstrekkungsordnung ablösen. 18 Vgl. zur Problematik Reis, NJW 1991,662 ff. 19 Art. 8 des Gesetzes vom 21. 08. 1995 (BGBI. I, S. 1050).

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Ein gutes Beispiel stellt ferner die Modifizierung bzw. Ergänzung und Änderung des BGB durch Einführung eines sechsten Abschnitts in das EGBGB dar. Den fünf Büchern des BGB folgend wird hier in den Art. 231 bis 235 EGBGB das Übergangsrecht geregelt. 20 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang z. B. das Übergangsrecht zu den Wohnraummietverhältnissen in § 2 des Art. 232, zum ehelichen Güterrecht in § 4 des Art. 234 oder schließlich zur Frage, nach welchem Recht ein vor dem Beitritt errichtetes Testament beurteilt wird, wenn der Erblasser erst nach dem Beitritt stirbt in Art. 235 EGBGB. cc) Im Abschnitt lli des jeweiligen Sachgebietes geht es darum, daß das Inkrafttreten der dort genannten Rechtsvorschriften mit bestimmten Maßgaben sowohl inhaltlicher als auch zeitlicher Art verbunden ist. Als Beispiel hierfür sei das im 19. Kapitel des Einigungsvertrages behandelte Recht der im öffentlichen Dienst stehenden Personen genannt. Im Abschnitt III Nr. 2 wird für eine Übergangszeit die Geltung des Beamtenrechtsrahmengesetzes mit der den neuen Ländern auferlegten Verpflichtungen in Kraft gesetzt, bis zum 31. Dezember 1992 ein eigenes Landesbeamtenrecht zu schaffen. In diesem Fall handelt es sich sowohl um eine zeitliche als auch um eine inhaltliche Maßgabe. Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung, daß die erst noch zu konstituierenden Länder eine gewisse Zeit brauchten, neben dem ohnehin schon schwierigen Verwaltungsaufbau auch noch die notwendigen beamtenrechtlichen Regelungen auf den Weg zu bringen. Gleichzeitig wird aber an der kurzen Frist deutlich, daß es - wie immer man im Einzelfall dazu stehen mag - zu den politischen Zielen gehörte, möglichst zügig das Berufsbeamtentum in den neuen Ländern einzuführen. Ausschlaggebend hierfür dürfte das Bestreben nach einer Wiederherstellung rechtsstaatliehen Verwaltungshandeins gewesen sein, für welches das Berufsbeamtenturn eine wichtige Funktion einnimmt. Als weiteres wichtiges Beispiel kann die befristete Fortgeltung der Kassationsvorschriften der DDR-Strafprozeßordnung (§§ 311-327) zur Abwicklung des noch im September 1990 von der Volkskammer verabschiedeten Rehabilitierungsgesetzes erwähnt werden, wodurch die Position des Verurteilten, der selbst einen Antrag auf Kassation stellen kann, wesentlich verbessert wurde.21 dd) Während es im Abschnitt II um die Modifizierung des übergeleiteten Bundesrechts geht, stellt sich der Abschnitt III als modifizierte Überleitung des Bundesrechts dar. Auf den ersten Blick erscheint es nur schwer nachvollziehbar, weshalb insoweit differenziert worden ist, zumal nicht immer eindeutig festgestellt werden kann, ob es sich hier um eine Änderung oder um eine bloße Maßgabe handelt. Die Schwierigkeit dieser Unterscheidung verdeutlicht zum Beispiel die beim Geschäftsbereich des Bundesbauministers in Kap. XIV unter Abschnitt II Nr. 1 be20 Eingehend zum Anwendungsbereich der Art. 230 bis 235 EGBGB Mansel, DtZ 1991, 124 ff. 21 Vgl. Anlage I, Kap. III, Sachgeb. A, Nr. 14 h EV.

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stimmte Ergänzung des Baugesetzbuches durch eine bis zum 31. 12. 1997 gültige Übergangsregelung (§ 246 a BauGB). In dieser heißt es u. a., daß die Vorschrift des § 55 der DDR-Bauplanungs- und Zulassungsverordnung über den Vorhabenund Erschließungsplan mit folgenden ,,Maßgaben" anzuwenden ist: Die Gemeinden können abweichend von den bauplanungsrechtlichen Bestimmungen des BauGB die Zulässigkeit eines Bauvorhabens durch Satzung bestimmen, d. h. durch den sog. Vorhaben- und Erschließungsplan. Die Übernahme dieser DDR-Besonderheit sollte dem Bedürfnis Rechnung tragen, daß für dringende Investitionen im Wohnungsbau sowie bei der Ansiedlung von Gewerbebetrieben ein planungsrechtlich vereinfachtes Verfahren unter Mitwirkung des Investors geboten war. Auf den ersten Blick erscheint diese Regelung schon aufgrund des dort verwandten Begriffs der Maßgabe lediglich wie eine modifizierte Überleitung von Bundesrecht, da nur für einen begrenzten Zeitraum das Bundesrecht in der ehemaligen DDR modifiziert zur Geltung kommen soll. Tatsächlich ist es aber so, daß durch diese Regelung die planungsrechtlichen Bestimmungen in ihrem sachlichen Gehalt eine wesentliche Änderung erfahren, d. h. berührt ist die Gesetzessubstanz als solche. Deshalb ist jene Regelung auch zutreffend in Abschnitt II aufgenommen. Bei dieser Betrachtung wird deutlich, daß die in Abschnitt II geregelte Aufhebung, Änderung oder Ergänzung von Rechtsvorschriften deren normative Substanz erfaßt, wohingegen die in Abschnitt III bestimmte Inkraftsetzung mit Maßgaben die normative Substanz der übergeleiteten Normen nicht antastet, sondern die jeweilige konkrete Vorgabe - sei es zeitlich oder inhaltlich - wie eine Nebenbestimmung zur formal unangetasteten Norm hinzutritt. 22 So wird z. B. in Ziffer 26, Abschnitt III des Sachgebietes Rechtspflege die Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte mit der Maßgabe in Kraft gesetzt, daß sich die Gebühren bei der Tätigkeit von Rechtsanwälten, die ihre Kanzlei im Beitrittsgebiet eingerichtet haben, um 20% ermäßigen. Diese Gebührenreduzierung gilt im übrigen auch dann, wenn ein Rechtsanwalt mit Kanzleisitz in den alten Bundesländern im Auftrag eines in den neuen Bundesländern wohnenden Bürgers vor Gerichten oder Behörden im Beitrittsgebiet tätig wird? 3

c) Änderungen des Einigungsvertrages

Da der Einigungsvertrag bei der Transformation von Bundesrecht von ganz bestimmten Gesetzesfassungen ausgeht, stellt sich die Frage, wie sich spätere Gesetzesänderungen auf den Inhalt des Einigungsvertrages auswirken. So könnte das Inkraftsetzen einer bestimmten Fassung zur Folge haben, daß die Änderungskompe22

So zu Recht Kloepfer I Kröger DVBI. 1991, I 032.

Inzwischen ist durch Rechtsverordnung des Bundesjustizministers vom 15. 04. 1996 (BGBI. I, 604) - eine Möglichkeit, die der Einigungsvertrag ausdrücklich vorsieht - die Ermäßigung der Gebühren mit Wirkung zum 0 I. 07. 1996 auf 10% reduziert worden. 23

4 Ttmmermann

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tenz des nunmehr gesamtdeutschen Bundesgesetzgebers insoweit gewissen Beschränkungen unterliegt, da anderenfalls der Einigungsvertrag einen anderen als den gewollten Sinn bekäme. Zum anderen könnte dies aber auch zur Folge haben, daß Änderungen von Rechtsvorschriften, die nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages erfolgen, nicht automatisch im Beitrittsgebiet gelten. Beide Rechtsfolgen kämen indes nur dann in Betracht, wenn sich aus der jeweils konkreten Bestimmung des Einigungsvertrages ergeben würde, daß mit der Bezugnahme auf eine bestimmte Fassung einer Rechtsvorschrift eine dauerhafte Festlegung verbunden sein sollte. Derartige Fälle dürften aber nur in eng begrenzten Ausnahmen denkbar sein. Man wird deshalb davon ausgehen können und müssen, daß der Einigungsvertrag künftigen Änderungen von Bundesgesetzen nicht entgegenstehe4, zumal es keinen Sinn machen würde, wenn die Wiederherstellung der Rechtseinheit mit weitgehenden Restriktipnen für den Gesetzgeber verbunden wäre, die im übrigen unter dem Gesichtspunkt des Demokratieprinzips auch verfassungsrechtlich höchst problematisch wären. In diesem Zusammenhang ist Art. 45 Abs. 2 des Einigungsvertrages von Bedeutung. Er bestimmt ausdrücklich, daß dieser Vertrag nach Wirksamwerden des Beitritts als Bundesrecht geltendes Recht bleibt. Damit ist klargestellt, daß durch den Vertrag geschaffenes Bundesrecht durch den Bundesgesetzgeber jederzeit geändert werden kann und im übrigen auch bereits mehrfach geändert worden ist. Allerdings hat der Gesetzgeber die im Vertrag vorgesehenen Regelungen zu beachten, durch die besondere Rechte entweder auf Dauer garantiert werden oder durch die im Interesse einer schrittweisen Anpassung der unterschiedlichen Verhältnisse besondere Fristen vereinbart worden sind?5 So wird z. B. die Bundesrepublik Deutschland in Art. 41 Abs. 3 des Vertrages völkerrechtlich verpflichtet, keine Rechtsvorschriften zu erlassen, die der von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der DDR abgegebenen Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 1990 zur Regelung offener Vermögensfragen widersprechen. Es handelt sich hier insbesondere um die bekannte Streitfrage der Enteignungen von Grundbesitz in der Zeit zwischen 1945 und 1949, deren Verfassungsmäßigkeit das Bundesverfassungsgericht inzwischen bereits zweimal bestätigt hat.

d) Überleitung von Verwaltungsvorschriften Wenn es um Rechtstransformationen geht, wird wie selbstverständlich von der ausschließlichen Überleitung von Gesetzes ausgegangen. So könnte auf den ersten Blick auch Art. 8 des Einigungsvertrages zu verstehen sein. Andererseits zwingt 24

25

So auch Kloepfer/Kröger, DVBI. 1991, 1033. Schmidt-Bleibtreu, Einigungsvertrag a. a. 0. (Fn. 7), S. 180.

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der dort verwandte Begriff des "Bundesrechts" zu der Frage, ob hiervon auch sonstiges Recht erfaßt wird, das sich außerhalb von demokratisch legitimierten Rechtsnormen in Verwaltungsvorschriften verkörpert. Für eine derart umfassende Überleitung könnte das Interesse an einem reibungslosen Normenvollzug sprechen, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, daß die Behörden in den neuen Ländern erst noch aufgebaut werden mußten und die Anwendung des "neuen Rechts" zu Schwierigkeiten führen könnte. Indes ergibt sich aus dem weiteren Inhalt des Einigungsvertrages, daß die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften nicht als Teil des Bundesrechts durch Art. 8 des Vertrages im Beitrittsgebiet in Kraft gesetzt werden sollten. Dies zeigt sich u. a. daran, daß die Anlage I allein bei Gesetzen Modifizierungen vorsieht. Verwaltungsvorschriften werden in diesem Zusammenhang überhaupt nicht erwähnt, obwohl gerade sie wegen ihrer über die Abstraktheit eines Gesetzes hinausgehenden Detailliertheit sicherlich häufig einer Modifizierung bedurft hätten. 26 Zwar ist in der Anlage I zum Sachgebiet Bürgerliches Recht (Abschnitt III Nr. 4 und 5) von der Fortgeltung grundbuchrechtlicher Verfügungen die Rede, weshalb z. B. auch die aus dem Jahre 1935 stammende Allgemeine Verfügung über die Errichtung und Führung des Grundbuchs erfaßt ist. Tatsächlich handelt es sich hierbei jedoch um eine Rechtsverordnung, mithin um ein Gesetz im materiellen Sinne.27 Gleiches gilt für die nach dem Einigungsvertrag fortgeltenden Anordnungen des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit (Anlage I, Kap. VIII, Sachgeb. E, Abschn. III Nr. 7 EV), die autonomes Satzungsrecht darstellen und damit unter die Kategorie der Rechtsnormen fallen.28 e) Fortgeltung von DDR-Recht nach Art. 9 EV

Nach der Systematik des Einigungsvertrages bestand für die Weitergeltung von Recht der ehemaligen DDR zunächst nur soweit Raum, als es sich einmal nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes um Landesrecht handelte und zum anderen sich durch nicht transformiertes Bundesrecht Lücken ergaben. Die einschlägige Regelung hierzu enthält Art. 9 des Einigungsvertrages. Um dabei keinen Bruch mit der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung entstehen zu lassen, wurde diese pauschale Geltung allerdings insoweit eingeschränkt, als das Grundgesetz, aber auch das sonstige transformierte Bundesrecht und die unmittelbar geltenden EG-Vorschriften dem Recht der DDR entgegenstanden.

26 27

28

Vgl. Kloepfer/Kröger,DVBI. 1991,1033. So zu Recht Horber I Demharter, Grundbuchordnung, § II Anm. 23 b. So die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, BSGE 35, 164 f.

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aa) Im Bereich der ausschließlichen Landesgesetzgebung erschien nach Art. 9 Abs. 1 EV eine generalklauselartige Regelung sinnvoll, weil sich die Länder erst nach dem Zeitpunkt des Beitritts rekonstituieren konnten und mußten. Das bestehende Vakuum im Bereich der Landesgesetzgebung mußte also ausgefüllt werden. Dabei war freilich wegen der grundgesetzliehen Kompetenzordnung eine umfassende Transformation von Landesrecht nicht möglich, so daß insoweit nur die generalklauselartige Regelung über die grundsätzliche Fortgeltung von DDRRecht übrig blieb. 29 bb) Demgegenüber konnten im Bereich der ausschließlichen Bundesgesetzgebung allein Gründe des gleitenden Übergangs von einer zur anderen Rechtsordnung die vorübergehende Weitergeltung von DDR-Recht sinnvoll erscheinen lassen. Die Vater des Einigungsvertrages haben deshalb die Weitergeltung von DDRRecht, soweit es sich nach der Kompetenzordnung nicht um Landesrecht handelt, nicht generell, sondern im Wege einer Art Positiv-Liste nur bezogen auf einzelne Rechtsnormen geregelt, die nach Art. 9 Abs. 2 des Vertrages in Anlage II konkret aufgeführt sind. Dabei handelt es sich allerdings nicht ausschließlich um Recht, für das nach dem Grundgesetz eine Zuständigkeit des Bundes gegeben wäre, sondern auch um "eigentliches Landesrecht", soweit dieses zur Rekonstituierung der Länder bereits vorab durch die Volkskammer geschaffen worden war. So sind z. B. in der Anlage II das Länderwahlgesetz vom 22. Juli 199030 sowie die Kommunalverfassung vom 17. Mai 199031 aufgeführt, die beide zunächst in den fünf neuen Bundesländern in Kraft blieben. Voraussetzung ist auch in diesen Fällen, daß das Recht mit dem Grundgesetz übereinstimmt. Allerdings sind die geltungsrelativierenden Modifizierungen zu beachten, die das Grundgesetz selbst insbesondere durch die in Art. 4 des Einigungsvertrages erfolgte Einfügung des Art. 143 I Abs. 1 GG erfahren hat. Diese Bestimmung stellt eine spezifisch beitrittsbezogene Verfassungsbestimmung dar, um ftir eine Übergangszeit eine gewisse allmähliche Anpassung an die freiheitlich-demokratische Staatsordnung zu ermöglichen. Die Verfassungsnorm erlaubt, soweit infolge der unterschiedlichen Verhältnisse eine völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung im Beitrittsgebiet nicht sofort realisiert werden konnte, bis Ende 1992, für bestimmte Bereiche sogar bis Ende 1995, von Bestimmungen des Grundgesetzes abzuweichen. Allerdings durften solche Abweichungen nicht gegen den Wesensgehalt eines Grundrechts nach Art. 19 Abs. 2 GG verstoßen, und sie mußten mit den in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten elementaren Verfassungsgrundsätzen vereinbar sein.32 29 Zur schwierigen Unterscheidung zwischen Art. 9 Abs. I Satz I und Satz 2 EV im Zusammenhang mit der Kompetenzordnung des Grundgesetzes sehr eingehend und überzeugend Kloepfer I Kröger DVBI. 1991, I 035 ff. 30 Kap. II, Sachgeb. A, Abschn. I. 31 Kap. II, Sachgeb. B, Abschn. I. 32 Zur grundsätzlichen Problematik des Art. 143 GG vgl. Stern, Einigungsvertrag a. a. 0. (Fn. 7), S. 41 f.; v. Mangoldt/Kiein/v. Campenhausen, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, 3. Auflage, Art. 143 Rn. 21 ff.

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Anlage II des Einigungsvertrages ist vergleichbar der Anlage I gegliedert in einen einleitenden als "Vorbemerkung" bezeichneten Abschnitt sowie in 19 Kapitel, die ihrerseits wiederum in Sachgebiete aufgeteilt sein können. Dabei enthalten die jeweiligen Kapitel auch hier vergleichbare Abschnitte und zwar in Abschnitt I die uneingeschränkte Fortgeltung von DDR-Recht, in Abschnitt II Aufhebung, Änderungen oder Ergänzungen von DDR-Recht und im Abschnitt m wiederum Maßgaben für das Fortbestehen bestimmten DDR-Rechts. Hierzu gehören beispielsweise die bereits erwähnte Gesamtvollstreckungsordnung vom 6. Juni 1990 oder das Rechtsanwaltsgesetz vom 13. September 1990. cc) Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Regelung des Art. 9 Abs. 3 Einigungsvertrag (i.V.m. Abs. 6 der Vorbemerkungen zur Anlage II EV), nach der nach der Unterzeichnung des Vertragesam 31. August 1990 erlassenes DDR-Recht dann in Kraft bleiben soll, wenn hierüber zwischen den Vertragsparteien eine besondere Vereinbarung getroffen wird. Bedeutsam ist diese Vorschrift deshalb, weil noch in der Schlußphase der Volkskammer im September 1990 im Hinblick auf eine zügige Realisierung der Rechtseinheit und wegen notwendiger Übergangsregelungen eine emsige Gesetzgebungstätigkeit einsetzte. Die Regierung der DDR trat deshalb noch im September 1990 an die Bundesregierung mit der Bitte heran, eine größere Zahl von Gesetzen, Verordnungen sowie von Anwendungs- und Durchführungsbestimmungen aufgrund des Art. 9 Abs. 3 des Vertrages über den 3. Oktober hinaus gelten zu lassen. Dies ist dann durch eine besondere staatsrechtliche Vereinbarung vom 18.September 1990, also fast drei Wochen nach Abschluß des Einigungsvertrages, geschehen.33 Hierzu gehört z. B. das Rehabilitierungsgesetz vom 6. September 1990 oder das bereits erwähnte Rechtsanwaltsgesetz vom 13. September 1990.

f) Definition des .,Rechtsbegrijfs" Hinsichtlich der Transformation der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland einerseits und der Weitergeltung von DDR-Recht andererseits ist schließlich noch die unterschiedliche Definition des Begriffs ,,Recht" bemerkenswert. Während in der Regel bei einem Vertrags- oder Gesetzeswerk wie selbstverständlich von der Einheit der Rechtssprache ausgegangen werden kann, wird hier im Einigungsvertrag beim elementaren Begriff des Rechts ein unterschiedliches Verständnis zugrundegelegt, das sich aus den strukturell unterschiedlichen Rechtsordnungen ergibt. Während sich Art. 8 des Vertrages auf Recht im Sinne unserer herkömmlichen Begriffsbildung bezieht, liegt der Regelung des Art. 9 Abs. 2 des Einigungsvertrages die Begriffsbildung der Rechtsordnung der DDR zugrunde, 34 33

Zu dieser Vereinbarung vgl. Schmidt-B1eibtreu, Einigungsvertrag a. a. 0. (Fn. 7), S. 83.

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K1oepfer I Kröger, DVBI. 1991, 1037.

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was insbesondere die Aufnahme von Anordnungen des Ministerrats der ehemaligen DDR deutlich macht, wie z. B. die sog. Ausländeranordnung vom 28. Juni 1979 (GBI. I S. 154).35

g) Geltendmachung von Rechten aus dem Einigungsvertrag Von Bedeutung ist die Frage, wer und wie Rechte aus dem Einigungsvertrag geltend gemacht werden können. 36 Die mit dem Vertrag auf den Weg gebrachte Rechtstransformation enthält vielfaltige Sonderbestimmungen für das Gebiet der ehemaligen DDR, wie z. B. die schon erwähnte befristete Ergänzung des Bauplanungsrechts bis zum 31. Dezember 1997. Aus solchen Regelungen können sich Rechtspositionen ergeben, deren Bestand z. B. dann berührt sein könnte, wenn durch Änderungen entsprechender Bundesgesetze - etwa des BauGB - jene Sondervorschriften unterlaufen würden, also z. B. die Befristung für den Vorhabenund Erschließungsplan verkürzt würde. In Anbetracht der Tatsache, daß die DDR mit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 untergegangen ist, stellt sich die Frage, wer solche Rechte überhaupt prozessual geltend machen kann. Auch dies hatten die Vater des Einigungsvertrages in Betracht gezogen. So bestimmt Art. 44 EV, daß Rechte aus dem Vertrag zugunsten der DDR nach Wirksamwerden des Beitritts von jedem der neuen Länder geltend gemacht werden können. Diese Regelung entspricht der Vorstellung, daß bei solchen Rechtsstreitigkeiten das untergegangene Land fiktiv als fortbestehend anzusehen ist und die nachfolgenden Gebietskörperschaften in einer Art Prozeßstandschaft auftreten. Dies hatte im übrigen das Bundesverfassungsgericht in einem Rechtsstreit entschieden, den die Stadt Coburg in den 60er Jahren gegen den Freistaat Bayern wegen verletzter Rechte aus dem 1920 abgeschlossenen Staatsvertrag über die Vereinigung Coburgs mit Bayern führte. 37 Diese Entscheidung dürfte für eine mögliche Anwendung des Art. 44 des Einigungsvertrages, die bisher allerdings noch nicht stattgefunden hat, auch heute noch von aktueller Bedeutung sein, zumal in Art. 44 keine Aussage über den Rechtsweg getroffen wurde. 38 Auf Cler Grundlage der Begründung der Bundesverfassungsgerichtsentscheidung müßte auch bei Rechtsstreitigkeiten aus dem Einigungsvertrag in der Regel von einem sog. Zwischenländerstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 EG auszugehen sein.

In Anlage II, Kap. II, Sachgeb. B, Abschn. III Nr. 2 EV. Eingehend zur Frage der Rechtswahrung des Einigungsvertrages vor dem Bundesverfassungsgericht Heiko Wagner, Der Einigungsvertrag nach dem Beitritt, S. 267 ff. 37 BVerfGE 22, 221 ff. 38 In der Begründung zu Art. 44 EV wird allerdings ausgeführt, daß die jeweilige Gerichtszuständigkeit von dem im Einzelfall geltend gemachten Recht abhängen soll. 3S

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IV. Landesgesetzgebung Neben dem Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion sowie dem Einigungsvertrag darf die Gesetzgebung nach der Wiedervereinigung in den neuen Ländern selbst nicht vergessen werden, die sich erhebliche Verdienste bei der Rechtsvereinheitlichung erworben haben, obwohl es sich dabei um keine Transformation im eigentlichen Sinne handelt. Schon kurz nach Konstituierung der neuen Länder setzte insbesondere in vier Bereichen eine rege Gesetzgebungstätigkeit ein. 1. Ein erstes Gebiet betrifft das im Einigungsvertrag als Landesrecht transformierte Bundesrecht Beispielhaft sei hier die Bundesdisziplinarordnung genannt, die im Einigungsvertrag ohne zeitliche Begrenzung ftir die neuen Länder in Kraft gesetzt worden ist. Nach dieser im 19. Kapitel 39 getroffenen Regelung gilt die Bundesdisziplinarordnung so lange quasi als Landesrecht, wie das jeweilige Bundesland keine eigene Disziplinarordnung geschaffen hat. Anders als beim Beamtenrecht im statusrechtlichen Sinne ist hier keine Frist bestimmt, binnen derer die neuen Länder handeln müssen. Die erste Zeit der Gesetzgebung war in den neuen Ländern dadurch gekennzeichnet, daß in vielen Bereichen die Gesetzgebung anderer Bundesländer mehr oder weniger kopiert wurde, wobei in der Regel die Gesetze des jeweiligen Partnerlandes als Vorlage dienten, so für Mecklenburg-Vorpommern vor allem Schleswig-Holstein, für Sachsen der Freistaat Bayern oder für Brandenburg NordrheinWestfalen. Heute besteht jedoch verständlicher Weise nicht mehr die gleiche Bereitschaft, nahezu uneingeschränkt auf westdeutsche Vorbilder zurückzugreifen. In den neuen Ländern ist vielmehr der Wille gewachsen, eigene Wege zu gehen und reformerische Ansätze auch unter dem Gesichtspunkt der Deregulierung zu verwirklichen. Dies hatte sich z. B. Mecklenburg-Vorpommern bereits bei der Verabschiedung der Landesbauordnung im Jahr 1994 gezeigt, die mittlerweile bundesweit mit die fortschrittlichsten Regelungen ftir den Bau von Einfamilienhäusern enthält. Reformerische Überlegungen treten nicht zuletzt im Hinblick auf eine Modernisierung des öffentlichen Dienstes auch bei der zur Diskussion stehenden eigenen Landesdisziplinarordnung deutlich in den Vordergrund. 2. Ein weiterer Bereich betrifft das nach Art. 9 Abs. 1 EV als Landesrecht fortgeltende DDR-Recht, das sukzessive durch eigene Gesetzgebung ersetzt wird. a) Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang das Wahlrecht, das inzwischen in allen neuen Ländern durch eigene Gesetze neu geregelt worden ist, sowie der Bereich der Kommunalverfassung, wo zwischenzeitlich ebenfalls eigene Landesgesetze geschaffen wurden, welche die von der Volkskammer verabschiedete Kommunalverfassung der DDR vom 17. Mai 1990 ablösten. 39

Sachgeb. A, Abschn. III Nr. lO der An!. I.

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Ein Beispiel für die Notwendigkeit, bisheriges nach wie vor geltendes echtes DDR-Altrecht - auch wegen der Grundrechtsproblematik - durch eigenes Landesrecht zu ersetzen, stellt das Sammlungsrecht dar. So galt in Mecklenburg-Vorpommern bis vor kurzem immer noch die DDR-Sammlungs- und Lotterieverordnung aus dem Jahre 1965, die wegen ihrer strikten Genehmigungsvorbehalte mit dem sich aus Art. 2 Abs. 1 GG ergebenden Grundrecht der freien karitativen Betätigung kollidierte. Inzwischen wurde ein neues Sammlungsgesetz verabschiedet, das lediglich noch einen präventiven Erlaubnisvorbehalt sowie einwandfreie rechtsstaatliehe Verfahrensbestimmungen entsprechend den Sammlungsgesetzen der westdeutschen Bundesländer enthält. b) Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die Bereinigung des als Landesrecht fortgeltenden Rechts der DDR. Es geht hierbei um eine Aussonderung solchen Rechts, das entweder durch eigenes Landesrecht mittlerweile abgelöst worden ist oder das sich als unvereinbar mit dem Grundgesetz herausgestellt hat. Wegen des Umfangs und der Komplexität dieser Aufgabe haben sich die neuen Länder auf eine Art Arbeitsteilung nach Sachgebieten verständigt. Die Überprüfung dieser Gesetzesmaterien steht kurz vor dem Abschluß. Es ist geplant, sämtliche Einzelvorschriften, Anordnungen und Verordnungen in einem sog. Rechtsbereinigungsgesetz zusammenzufassen, so daß dann auch Rechtsklarheit über die aufgehobenen und die nach wie vor bestehenden DDR-Normen besteht. 3. Von Bedeutung ist ferner das originär entstandene Landesrecht. Die Rechtstransformation durch Art. 8 und 9 des Einigungsvertrages hat verständlicherweise nicht zu einer vollständigen Ausfüllung der Iandesrechtlichen Kompetenzen geführt. So sind z. B. im Rundfunkbereich zwar nach Art. 36 EV der frühere "Rundfunk der DDR" und der "Deutsche Fernsehfunk" bis zum 31. Dezember 1991 als gemeinschaftliche staatsunabhängige Einrichtung der neuen Länder fortgeführt worden, jedoch hat es im übrigen keinerlei rechtliche Grundlagen gegeben, aufgrund derer sich ein privates Rundfunkwesen und neue öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten hätten entwickeln können. Hier mußten die neuen Länder erst noch gesetzgeberisch initiativ werden, wobei es darum ging, der in Art. ·5 Abs. 1 GG verbürgten Rundfunkfreiheit möglichst zügig Geltung zu verschaffen. Ein längeres Abwarten in der Gesetzgebung wäre in diesem Bereich verfassungsrechtlich problematisch gewesen, da mit Herausbildung der dualen Rundfunkordnung Art. 5 Abs. 1 GG ein gesetzgeberisches Handeln sowohl für den öffentlich-rechtlichen als auch für den privaten Rundfunk verlangte. So wurde z. B. in Mecklenburg-Vorpommern bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1991 ein eigenes Landesrundfunkgesetz verabschiedet, das die vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Strukturen konsequent umgesetzt hat. 4. Nicht zuletzt ist aber auch die Verfassungsgebung zu beachten. Alle fünf neuen Länder haben sich in den Jahren 1992 bis 1994 eigene Verfassungen gegeben, die sich zwar einerseits an westdeutsche Vorbilder anlehnen, andererseits teilweise

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aber auch die Ideen aus der friedlichen Revolution und der unmittelbaren Nachwendezeil zum Ausdruck bringen. Deshalb sind in diesen Verfassungen mehr als in den Verfassungen westdeutscher Länder Programmsätze und soziale Grundrechte enthalten. Da solche Staatszielbestimmungen und sozialen Grundrechte keine normative Bindung zur Folge haben und mitunter polemisch auch als "Katalog von Wunschbarkeiten" bezeichnet werden, sind diese Verfassungen der neuen Länder zum Teil auf erhebliche Kritik in der Verfassungsliteratur gestoßen. So wird z. B. in Art. 17 Abs. 1 der Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern im Rahmen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ein hoher Beschäftigungsstand zugesichert, und nach Art. 17 Abs. 3 dieser Verfassung wirken Land, Gemeinden und Kreise darauf hin, daß jedem Bürger angemessener Wohnraum zu sozial tragbaren Bedingungen zur Verfügung steht.

V. Rechtspflege Bei der Wiederherstellung der Rechtseinheit kommt nicht zuletzt der Rechtspflege eine herausragende Bedeutung zu. Während die reine Rechtstransformation heute weitgehend abgeschlossen ist, füllt die Rechtspflege nach wie vor eine wichtige Funktion in dem noch nicht beendeten Einigungsprozeß aus. Deshalb darf auch sie unter dem Aspekt der Rechtseinheit in Deutschland nicht außer acht gelassen werden. Da im SED-Regime die Rechtsprechung, die Staatsanwaltschaft und die Rechtsanwälte dem absoluten Primat der Staatspartei als Vollstreckeein des Willens der herrschenden Arbeiter- und Bauernklasse untergeordnet waren, mußte mit der Wiedervereinigung eine rechtsstaatliche und dem Individuum dienende Rechtspflege eingeführt werden. Dabei hatte die dienende Funktion des Rechtspflegerechts, wie insbesondere das Gerichtsverfassungsgesetz und die Prozeßordnungen, nahezu zwingend zur Folge, das mit dem materiellen Recht korrespondierende Verfahrensrecht auf die neuen Länder zu übertragen. So galten sofort mit der Wiedervereinigung fast uneingeschränkt - von Übergangsvorschriften und einigen DDR-spezifischen Besonderheiten im Strafprozeß abgesehen- die großen Verfahrensordnungen der ZPO, StPO, VwGO, FGO, SGG, ArbGG und FGG auch im östlichen Teil Deutschlands, obwohl zunächst noch die bisherigen Strukturen der DDR-Justiz mit den Kreis- und Bezirksgerichten fortbestanden. Die organisatorischen Strukturen, aber auch die personellen und materiellen Ressourcen erwiesen sich dabei als in diesem Umfang unerwartet defizitär, zumal eine größere Zahl der Richter und Staatsanwälte wegen politischer Verstrikkung mit dem SED-Regime nicht übernommen werden konnte. Die Zahl der übernommenen Richter war aber nicht nur relativ gering, sondern von wesentlicher Bedeutung war die teilweise noch heute spürbare Tatsache, daß der Diplomjurist der DDR von einem deutlich anderen Rechtsverständnis geprägt war und sich des-

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halb mit der juristisch-analytischen Aufarbeitung eines Rechtsstreits oftmals schwer tat. VI. Schlußbemerkung Die staatliche Vereinigung nach mehr als 40 Jahren Trennung entpuppte sich als ein Rechtsvorgang von exzeptionellem Ausmaß, für den es kein Vorbild in der Welt gibt; er ist absolut singulär. Angesichts der rechtlichen, ökonomischen und sozialen Auseinanderentwicklung der beiden Teile Deutschlands gab es praktisch keinen Bereich, der nicht in die rechtliche Neuordnung einzubeziehen war. Insgesamt gesehen kann die Herstellung der Rechtseinheit bereits im Jahre 1998 als weitestgehend abgeschlossen beurteilt werden. Eine der ganz großen, wenn nicht die größte, Herausforderung der deutschen Rechtsgeschichte ist damit erfolgreich bestanden. Die daran beteiligten Juristen aus Ost und West können zu Recht stolz darauf sein. Gleichwohl darf dieser Erfolg nicht darüber hinwegtäuschen, daß neben der normativen Gesetzgebungstätigkeit insbesondere für die Pflege und Weiterentwicklung des Rechtsbewußtseins in den neuen Ländern noch viel getan werden muß. Den juristischen Fakultäten in den neuen Bundesländern kommt dabei eine ganz besondere Verantwortung bei der Ausbildung der jungen Juristen zu. Neben der Darstellung der rechtswissenschaftliehen Dogmatik und der Gesetzestechnik sollten verstärkt auch die Grundlagen unserer Rechtsordnung sowie der gefährlichen Folgen ihrer Perversion vermittelt werden. Rechtstransformation und Rechtseinheit sind erst dann wirklich beendet, wenn das für die Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR zum Teil neue Recht auch mit Leben gefüllt und von der Akzeptanz der hier lebenden Bevölkerung getragen wird.

II. Verschiedene Rechtsgebiete 1. Familienrecht

Das Familienrecht der DDR Von Ute Schneider Am I. Juli I 998 trat in der Bundesrepublik das Kindschaftsreformgesetz in Kraft, das endgültig das "nichteheliche Kind" abschaffte. Mit der Ersetzung durch "Kind, dessen Eltern nicht miteinander verheiratet sind" im Familienrecht und einem gemeinsamen Sorgerecht nimmt der Gesetzgeber Diskussionen auf, die beinahe so alt sind wie das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) selbst. Schon hinter dem Begriff des "nichtehelichen Kindes" mit all seinen juristischen Implikationen verbarg sich ein Reformschub und damit ein Aspekt deutscher Nachkriegsgeschichte, der wenigen vertraut und vielfach vergessen wird. Die beiden deutschen Staaten gingen hier jeweils ganz unterschiedliche Wege und knüpften doch an Verrechtlichungs- und Verwissenschaftlichungstendenzen an, die schon lange vor dem 19. Jahrhundert die Familie zum Gegenstand hatten. 1 Ihren Niederschlag fanden sie dann im BGB, das zum 1. Januar 1900 in Kraft trat. Kodifiziert wurde die Familie damals im vierten Buch des BGB als ein in ihrem äußeren Status vor Individualrechten geschützter Raum. Jedoch mit den schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts vehementer werdenden Gleichberechtigungspostulaten kam der juristische Familienbegriff in einen Widerspruch, der spätestens seit der Weimarer Republik immer wieder zu heftiger Kritik am Familienrecht führte. Nach 1945 hat die DDR in einem langen Prozeß das Familienrecht aus dem BGB gelöst und versucht, die Verbindung von Individualrechten und Familie neu zu regeln und zu kodifizieren. Dieser Kodifikationsprozeß und das Familienrecht im Zeitraum von 1945 bis I 966 stellen den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen dar, die Ausschnitte eines umfangreicheren Projekts vorstellen und zudem als ein Versuch anzusehen sind, Zeitgeschichte als Gesellschaftsgeschichte zu begreifen.2

I Zu den vielfältigen Disziplinierungs- und Regulierungsversuchen siehe A. Burguiere u. a., Geschichte der Familie, Band 3, Neuzeit, Frankfurt 1997. W.H. Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sociai-Politik. Band 3, Die Familie, Stuttgart 1854. 2 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptioneHe Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in Geschichte und Gese11schaft 22, 1996, S. 165-193; Thilo Ramm, Rechtszeitgeschichte- eine neue Disziplin?, in JUS 7/98, S. 587 -593; Joachim Rückert, Eine Reise in die Zeitgeschichte, in KritV 4. 1997, s. 327-338.

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Aus diesem Grund soll in einem ersten Teil kurz der juristische Familienbegriff nachgezeichnet werden. Es folgt ein Überblick über die Entwicklung des BGB bis in die Nachkriegszeit, um anschließend den Kodifikationsprozeß des Familiengesetzbuches (FGB) detaillierter darzustellen. Beide, der Prozeß und der Kodex, bilden den Ausgangspunkt für Forschungslinien, die, da die Familie auch in der DDR die Basiseinheit der Gesellschaft blieb, Einblicke in verschiedene Bereiche von Politik und Gesellschaft und ihre Wechselwirkungen in der sich konstituierenden DDR ermöglichen. 3 I. Die Familie im Recht ,,Die Ehe steht als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation unter dem besonderen Schutz der Verfassung. Sie beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. Die Reinerhaltung, Gesundung und soziale Förderung der Familie ist Aufgabe des Staats und der Gemeinden. Kinderreiche Familien haben Anspruch auf ausgleichende Fürsorge. Die Mutterschaft hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge des Staats."4

Seit der Weimarer Republik hat die Familie Verfassungsrang erlangt. Sie gilt als grundlegender Baustein der Gesellschaft und bedarf eines besonderen Schutzes. Die Verbindung von Familie mit Ehe und Kindern, die alle drei deutschen Verfassungen seither ziehen, verweist auf Konstanten der Definition dessen, was eine Familie ist. Die in den deutschen Verfassungen juristisch gefaßte "Reinerhaltung" der Familie so wie auch das "natürliche" Erziehungsrecht und in der DDR schließlich auch die Pflicht dazu sicherten und sichern der Familie zugleich ein außerordentliches Maß an Privatheit und den Schutz vor äußeren Eingriffen. Individualrechte jenseits der Gleichberechtigung und dem gesetzlichen Status von nichtehelichen {"unehelichen") Kindem - für die Bundesrepublik im Grundgesetz nur angekündigt und erst 1969 erlassen - werden den Familienmitgliedern verfassungsmäßig nicht zuerkannt. Hier wird auch juristisch ein Familienbegriff tradiert, der in seinem Verständnis ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist.5 Einen ernsthaften Anlauf zur Reform des Familienrechtes unternahmen die Nationalsozialisten. In einem ersten Schritt änderten sie 1938 gesetzlich die Eheschließung und die Ehescheidung, der der Durchsetzung rassischer und gesundheitspolitischer Vorstellungen und nicht individualrechtlicher Prinzipien diente. Auch tasteten sie das Eltern-Kind Verhältnis nicht an.6 Im Zusammenhang mit dem geplanten Volksgesetzbuch, das 3 Richard Bessel/Ralph Jessen (Hg.), Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S. 13-14. 4 Verfassung des Deutschen Reichs vom II. 8. 1919, Art. 119, in Rudolf Schuster (Hg.): Deutsche Verfassungen, München 14 1981, S. 120. s Dieter Schwab, "Familie" in Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2, Stuttgart 1975, S. 253-301. 6 Gesetz zur Vereinheitlichung des Rechts der Eheschließung und der Ehescheidung im Lande Österreich und im übrigen Reichsgebiet vom 6. Juli 1938, in Werner Schubert (Hg.},

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vor allem eine Auflösung des BGB in Einzelgesetzbücher vorsah, legten sie bis 1944 verschiedene Entwürfe zum Ehe- und Familienrecht vor, die aber letztlich nicht in Kraft traten. Formal erfuhr das Familienrecht eine Aufwertung, da es nach dem ersten Buch über den "Volksgenossen" an die zweite Stelle rückte. Inhaltlich ging es um die Fragen der Ehescheidung, des Erbrechtes und des Rechtes der nichtehelichen Kinder, also die Fragen, die schon seit dem Inkraftttreten des BGB immer wieder zur Debatte standen. Hier läßt sich einerseits sicherlich eine Kontinuitätslinie von den Kritikern zu den am Volksgesetzbuch und den Ehegesetzen beteiligten Juristen ziehen, andererseits flossen aber gerade inhaltlich und auch im Hinblick auf die intendierte Funktion nationalsozialistische Vorstellungen ein, die in der Auslegung und Rechtsprechung zur Etablierung des Systems geeignet waren.7 Wie schon verstärkt seit der Weimarer Republik flankierte auch im Nationalsozialismus eine Vielzahl sozialpolitischer Maßnahmen, vor allem pronatalistischer Natur, die juristischen Kodifikationsbestrebungen. 8 Die wirtschaftliche und politische Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit brachte schließlich die vielfach geforderten rechtlichen Veränderungen. Die demographische Situation der weiblichen Bevölkerung, deren Anteil in der SBZ 1946 bei 57,49% lag, die Lage zehnlausender elternloser Kinder und die ungewollten Schwangerschaften vieler Frauen zwangen den Alliierten Kontrollrat, die einzelnen Länder und den SMAD zum raschen Handeln. Das Ehegesetz von 1938 wurde von seinen spezifisch nationalsozialistischen Vorschriften bereinigt und im Gesetz Nr. 16 des Kontrollrates vom 20. Februar 1946 (EheG) neu verkündet. Zudem liberalisierten die Alliierten einzelne Paragraphen des BGB zum Adoptionsrecht und, wie von vielen Frauen gefordert, vor allem den § 218 des Strafgesetzbuches. 9 Im August 1946 setzte die SMAD dann die gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit unabhängig vom Geschlecht durch, und 1947 verankerten die Länder der SBZ den uneingeschränkten Gleichberechtigungsgrundsatz in ihren Verfassungen. Diesen Das Familien- und Erbrecht unter dem Nationalsozialismus. Ausgewählte Quellen, Paderbom 1993, S. 120 - 287. 7 Thilo Ramm, Das nationalsozialistische Familien· und Jugendrecht, Heidelberg 1984; Schubert, das Familien- und Erbrecht, S. XXII - XXIII, in Wemer Schubert u. a., Akademie für Deutsches Recht 1933-1945. Protokolle der Ausschüsse, Band 111, 1, Volksgesetzbuch. Teilentwürfe, Arbeitsberichte und sonstige Materialien, hg. von W. Schubert, Berlin 1988. K Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986; Claudia Koonz, Mütter im Vaterland, Harnburg 1994. 9 lrene Gerlach Familie und staatliches Handeln, Opladen 1996, S. 108- 121; Heinz Mohnhaupt I Hans-Andreas Schönfeldt, Normdurchsetzung in Osteuropäischen Nachtkriegsgesellschaften. Band 1, Sowjetische Besatzungszone in Deutschland-Deutsche Demokratische Republik (1945- 1960), Frankfurt 1997, S 125- 129; Kirsten Poutrus, Von den Massenvergewaltigungen zum Mutterschutzgesetz. Abtreibungspolitik und Abtreibungspraxis in Ostdeutschland, 1945-1950, in: Bessel/ Jessen (Hg.), Grenzen, S. 170-198; Heike Trappe, Emanzipation oder Zwang? Ber1in 1995, S. 47; Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO), Rechtkommision des DFD, Sitzungen 1946/47, Bundesvorstandssitzung des DFD am 21./22. 7. 1948.

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deklarierte dann auch die Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 und hob zugleich alle entgegenstehenden Gesetze auf. II. Der KodifikationsprozeH Durch diese gesetzlichen Maßnahmen und insbesondere das entnazifizierte Ehegesetz, das vor allem hinsichtlich der Scheidung und der Stellung der Frau in den etablierten Bahnen geblieben war und wegen seiner gesellschaftspolitischen Brisanz in der späteren Bundesrepublik und auch in Österreich vorerst nicht angetastet wurde, waren jedoch im Bereich der Anwendung und Auslegung viele Rechtsunsicherheiten und Lücken entstanden, die die einzelnen Justizministerien durch Anweisungen und Neufassung der familienrechtlichen Bestimmungen zu regeln suchten. 10 Bereits seit 1946 bereiteten auch die Rechtskommission der Frauenausschüsse und nach seiner Gründung im März 1947 der Demokratische Frauenbund Deutschlands (DFD) Änderungsentwürfe zum Familienrecht vor. 11 Die Lücken im Recht griff auch die Deutsche Justizverwaltung auf, die mittels einer schnellen einheitlichen Gesetzesänderung vor allem die weitere Zersplitterung in Landesgesetze und die damit verbundene "Gefahr sehr widersprechender Entscheidungen" verhindem wollte. Schon 1947 trat eine Kommission zusammen, die 1949 dem Volksrat einen Entwurf vorlegen konnte. In diesem "ist im Interesse einer besseren Orientierung die Paragraphierung des BGB, soweit wie möglich beibehalten, zumal z. Zt. noch nicht zu übersehen ist, ob die neue Gesetzgebung in das BGB eingearbeitet oder durch Erlaß eines besonderen Familienrechtgesetzes vor sich gehen wird" 12 • Als Rätin in der Justizverwaltung, Mitwirkende in der Kommission und 1o Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1VA 387, BI. 104 ff.; DP 1 VA 413,BI.. 21; DP 1 VA 8030, Bl.35. 11 In Österreich galt ebenfalls das bereinigte Ehegesetz von 1938 weiter. Ganz parallel zu den beiden späteren deutschen Staaten begann auch dort nach 1945 im Zuge des Refamiliarisierungsdiskurses eine Debatte über das Familienrecht, die auch in Österreich ähnliche Konfliktlinien zwischen den verschiedenen Interessengruppen aufwies wie in der späteren DDR, sich jedoch inhaltlich von dieser unterschied, als in der DDR das Geschlechterverhältnis bald nicht mehr explizit auf der Tagesordnung stand, da es mit der gesetzlichen Gleichberechtigung vorerst als geregelt betrachtet wurde. Maria Mesner, "Die Neugestaltung des Ehe- und Familienrechts. Re-Definitionspotentiale im Geschlechterverhältnis der Aufbauzeit", in: Zeitgeschichte, 5/6, 1977, S. 186-203; Ramm, Familienrecht S. 32. Zur Rechtsauslegung siehe SAPMO, Rechtskommission des DFD, Sitzungen 1946 I 41, Bundesvorstandssitzung des DFD am 21. I 22. 7. 1948; Bundesvorstand des Demokratischen Frauenbundes Deutschlands (Hg.): Geschichte des DFD, Leipzig 1989, S. 45 ff.; Eva Douma, Die Entwicklung des Familiengesetzbuches der DDR 1945-1966: Frauen und Familienpolitik im Spannungsfeld zwischen theoretischer Grundlage und realexistenter wirtschaftlicher Situation, in Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 1994, S. 592-620; Karl-Heinz Eberhardt, Die Bedeutung der Volksratverfassung vom 7. Oktober 1949 für die Entwicklung des Familienrechts der DDR, in Th. Ramm/ A. Grandke (Hg.), Deutsche Wiedervereinigung, Köln 1995, S. 183 - 223. 12 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1 VA 8002, BI. 76-85. Die Frage eines Normativaktes in Form einer Sonderregelung des Familienrechtes war umstritten,

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Mitglied des DFD unterbreitete Hilde Benjamin im Jahr 1949 zusätzlich der Öffentlichkeit als Beitrag zur Verfassungsdiskussion die einzelnen Vorschläge und regte ausdrücklich zu einer "demokratischen Aussprache" vor der endgültigen Ausgestaltung an 13 • Der Volksrat diskutierte die Vorschläge, verabschiedete sie jedoch nicht und beschloß lediglich Richtlinien zur Gestaltung eines neuen Familienrechtes. Auch unter den Juristen wurden die Vorschläge intensiv und kontrovers diskutiert, da die herrschende Gesetzeslage, wie die Diskussionen deutlich zeigen, den Richtern einen breiten Entscheidungsspielraum einräumte. In diesem Sinne wies der Landgerichtspräsident aus Halle darauf hin, daß "die Verfassung praktisch gehandhabt werden müsse. Bei strikter Anwendung der Verfassung komme man mit der Ordnung der Dinge selbst in Konflikt. Demgemäß müsse auf den Einzelfall abgestellt werden: ,Es seien im wesentlichen die bisherigen Bestimmungen anzuwenden, wenn nicht besondere Benachteiligungen des Mannes oder der Frau festzustellen seien. Also müsse vorläufig mit den alten Bestimmungen ausgekommen werden, soweit nicht gröbliche Verletzungen des Gleichberechtigungsgrundsatzes einträten' " 14 • Diese individuellen Auslegungen brachten aber in der Praxis große Probleme mit sich, da sie den Individuen nicht die nötige Rechtssicherheit gewährten. Deutlich wurde dies vor allem bei den Ehescheidungen aber auch in der Vielzahl von Prozessen, in denen die aus dem Krieg zurückgekommenen Ehemänner die Ehelichkeit der in ihrer Abwesenheit geborenen Kinder anfochten, und die die Gerichte nach 1945 zu entscheiden hatten. 15 Im Justizministerium zeigte man sich noch im Januar 1950 optimistisch, bald zu einem Abschluß zu kommen und erklärte nachdrücklich, daß der "Weg einer nur für die Zwischenzeit bestimmten Verordnung oder auch nur eine Rundverfügung aus verfassungsrechtlichen und politischen Gründen nicht in Frage kommt" 16. Genau diesen Weg schlug dann aber die Regierung ein und regelte im September 1950 die wichtigsten Fragen der Gleichberechtigung in Ehe und Familie im "Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau" 17 . vorherrschende Meinung war aber, daß es sich um ein Sonderrecht handle. Die Vorstellung eines eigenen Gesetzbuches etablierte sich letztlich wohl Ende der 40er Jahre, nachdem das Familienrecht gezielt in Angriff genommen worden war. Der stellvertretende Justizminister Ranke betonte in einer Rede vor dem Präsidium des Nationalrates der Nationalen Front am 24. 3. 1965 noch einmal ausdrücklich, daß das "Familienrecht aus dem Bereich des Bürgerlichen Gesetzbuches, das noch bis zum Erlaß des neuen ZGB in Kraft ist, herausgenommen wird, und es wird auch nicht Bestandteil des kommenden Zivilgesetzbuches sein. Es wird ein in sich geschlossenes besonderes Gesetz darstellen". Bundesarchiv Lichterfelde, Justizministerium, DP I VA 1926. 13 Hilde Benjamin, Vorschläge zum neuen deutschen Familienrecht, Berlin 1949, S. 7. 14 Bundesarchiv Lichterfelde, Justizministerium, DP 1 VA 8002. IS Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz DP 1 VA 8030. 16 Hans Nathan teilte am 6. 2. 1950 dem Innenministerium mit, daß in vier bis sechs Wochen mit der Fertigstellung des Familienrechtes zu rechnen sei. Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1 VA 8038, BI. 13 , 27. 5 Timmennann

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Dieses Gesetz beseitigte vor allem organisatorische Schwierigkeiten der weiblichen Erwerbstätigkeit und forderte das Justizministerium ausdrücklich auf, noch im selben Jahr einen neuen Entwurf vorzulegen. Im Justizministerium ging der Kodifikationsprozeß kontinuierlich weiter, lediglich die öffentliche Beteiligung mußte nach Meinung der Kommissionsmitglieder aus "außenpolitischen Rücksichten" zurückgestellt werden, da ein demonstratives Zerreißen der deutschen Rechtseinheit im Zusammenhang mit der Stalinnote und den Diskussionen um einen bundesdeutschen EVG-Beitritt nicht opportun erschien. 18 Zwar erinnerte im Jahr 1952 der Ministerrat erneut das Justizministerium an die notwendige Reform des Familienrechtes, die öffentliche Debatte verzögerte sich jedoch, da eine Besprechung des Entwurfs mit den Sowjets noch bevorstand. Diese fand dann im April 1953 statt, aber die innenpolitischen Ereignisse im Juni 1953 und die personellen Konsequenzen im Justizministerium schoben die Vorlage des Entwurfs wiederum hinaus. 19 Als Folge der innenpolitischen Ereignisse und im Zuge des ,,Neuen Kurses" verlangsamte die SED nach dem Tode Stalins das Transformationstempo der Gesellschaft, auch weil sie erkennen mußte, daß gesellschaftspolitische Umwälzungen notwendigerweise mit einer Veränderung des Bewußtseins der Bevölkerung einhergehen müssen. Im Zusammenhang mit dieser Politik scheint es kaum mehr verwunderlich, daß die Familienrechtskommission bereits Anfang 1954 ihren Entwurf der Öffentlichkeit vorlegte, bot sich doch gerade bei diesem Themenkomplex die Gelegenheit, gesellschaftspolitische Veränderungen auf dem Wege der Diskussion zu propagieren und popularisieren. Schließlich beinhaltete gerade die Neukodifikation des Familienrechts eine Neubewertung der Stellung von Frau und Familie vor allem im Scheidungsrecht und den damit verbundenen Unterhaltsfragen, da sich das Zerrüttungsprinzip durchgesetzt und Unterhaltsansprüche, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nach einer Scheidung keinem der Partner zustehen sollten. Die Frauen wurden somit zur Erwerbstätigkeit verpflichtet, eine dringende Notwendigkeit vor dem Hintergrund der angestrebten Wirtschaftsziele und der demographischen Situation in der DDR?0 Dieser Gesetzesentwurf wurde ein halbes Jahr lang mit hohem personellem und finanziellem Aufwand in einer Vielzahl von Betrieben, Organisationen wie dem FDGB und DFD, aber auch Wohngruppen etc. in bemerkenswerter Offenheit diskutiert und verschwand dann sehr zum Bedauern des 17 Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau vom 27. 9. 50 (MKSch), GBI. S. 1037. 18 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP I, VA 135, DP I SE 1842. Der Hinweis auf die Gründe findet sich auf einer Rededispositon und wurde in der endgültigen Fassung gestrichen. Hermann Weber, Die DDR 1945- 1986, München 1988, S. 25 - 32. 19 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP I, VA 7893, BI. 532-540. Bericht über die Besprechung mit den Genossen Koroboff [handschriftlich verbessert in Korobow] und Kuschinski über den Entwurf des Familiengesetzbuches am 22. 4. 1953. 20 Entwurf eines Familiengesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik, in Neue Justiz 1953/54, S. 377-416.

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DFD und der beteiligten Juristen aus der öffentlichen Wahrnehmung. "Von der Ausarbeitung eines neuen Familiengesetzbuches ist zwar früher viel gesprochen worden, aber jetzt hört man sehr wenig davon. Ich würde auch die Popularisierung bestimmter Vorschläge für sehr nützlich halten". 21 Stattdessen traten verschiedene Einzelgesetze wie die Eheverordnung von 1955 in Kraft, die die weiterhin bestehenden Diskrepanzen neu regelten. Im Justizministerium und der Abteilung "Staat und Recht" in der SED blieb die Neufassung jedoch ein zentrales Anliegen, das aber immer wieder außen- und innenpolitischen Rücksichten und Kursänderungen unterworfen werden mußte. 22 Zu einem grundlegenden Kurswechsel, der vor allem die Rechtswissenschaft betraf, kam es im Jahre 1958. Im Anschluß an das 35. Plenum des ZK der SED fand Anfang April in der ,,Deutschen Akademie für Staat und Recht Walter Ulbricht" in Potsdam-Babelsberg eine Konferenz statt, die vornehmlich der Disziplinierung der Rechtswissenschaftler und Durchsetzung parteioffizieller Rechtsvorstellungen galt. 23 In diesem Zusammenhang wurde auch der Anfang März vorgelegte Entwurf einer Neubeurteilung unterzogen und dabei nicht nur der vorgesehenen Gütertrennung vorgeworfen, im "Widerspruch zur sozialistischen Ehe" zu stehen. Nach Ansicht seiner Kritiker sei er .,auf die kleinbürgerliche Ehemoral (orientiert) und verkennt somit die ideologisch-erzieherische Funktion unseres Familienrechts". 24 Von Bedeutung für das Familienrecht war Babelsberg insofern, als hier der Zusammenhang von Recht und Moral expliziert, und die gesellschaftlichen Leitlinien für den Kodex neu gesteckt wurden. Im Hinblick auf die kritisierten Punkte kam es zu erneuten Diskussionen in der Kommission und anschließenden Korrekturen im Entwurf. Da der Korpus an sich bestehen blieb, plante das Ministerium bereits für das Frühjahr 1961 eine erneute Verbreitung, Diskussion und Popularisierung des Gesetzestextes?5 Wiederum waren es innenpolitische Gründe, nämlich die Entwicklung des innerdeutschen Verhältnisses mit dem Mauerbau, die diese Pläne verhinderten. Ende 1964 konnte dann ein weiterer Entwurf, der keine Rücksichten mehr auf den innerdeutschen Rechtszusammenhang nehmen mußte, dem Leiter der "Abteilung Staats- und Rechtsfragen des ZK der SED", Klaus Sorgenicht, und somit dem "ho21 SAPMO DY 31/263, BI. 7, Protokoll der 18. Präsidiumssitzung des DFD vom 30. 1. 1964. Douma, Entwicklung, S. 607. 22 SAPMO DY 30/IV 2/13/46,99 und 106. Ab 1959 wurden wieder verstärkt die Beratungen innerhalb einer Koromission aufgenommen. 23 Jörn Eckert, Die Babelsherger Konferenz - Legende und Wirklichkeit, in Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Band IV, S. 69-89; Karl A. Mollnau, Rechtstheoretische Grundlagen des ZGB, in Jörn Eckert I Hans Hattenhauer (Hg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975, Goldbach 1995, S. 23-30. 24 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1 VA 8150, BI. 350- 354b. Da der Durchschlag nicht abgezeichnet ist, konnte der Autor bisher nicht ermittelt werden. Möglicherweise handelt es sich um Kar! Polak, den führenden Rechtstheoretiker der SED. 2s Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1 VA 8150, BI. 47-48.

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hen Haus" vorgelegt werden. Zugleich erhielten ihn die Vorstände gesellschaftlicher Organisationen, die noch zahlreiche Änderungswünsche diskutierten und formulierten, während das Politbüro insbesondere eine Kürzung des Entwurfs forderte.26 Im April 1965 stellte das Justizministerium den überarbeiteten Entwurf der Öffentlichkeit vor. Die Diskussion sollte von April bis Juni 1965 wieder in Betrieben und Organisationen geftihrt werden, aber aufgrund der bisher gemachten Erfahrungen wesentlich gezielter und organisierter als noch 1954.27 Dieser Entwurf wurde schließlich unter Berücksichtigung von 230 Änderungswünschen verabschiedet und trat am I. April 1966 in Kraft. Nach einer Empfehlung des Ministeriums des Innern sollte das FGB in der Folgezeit anläßlich der Trauungszeremonie an alle Paare übergeben werden, ein Beschluß der in Praxis häufig am Papiermangel scheiterte. 28 Neben dem Arbeitsrecht entfernte sich damit die DDR in einem weiteren Rechtsgebiet nicht nur von der Bundesrepublik, sondern verabschiedete sich zugleich von den Rechtstraditionen des BGB. Das Familienrecht wurde als "Grundgesetz der Familie" aus dem BGB gelöst, um zu verdeutlichen, daß es sich in diesem Rechtsbereich nicht um eine Ware I Geld Beziehung handle, wie es durch die Plazierung zwischen das Sachen- und Erbrecht im BGB behandelt werde29. Als "Handbuch ftir die Familie" sollte es grundlegende Bedeutung für die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander und im Verhältnis zum Staat erlangen30. Das Familiengesetzbuch markiert damit einen Rechtsbereich zwischen Individuum und Familie und dem Staat, der Einblicke in Individual- und Herrschaftsbeziehungen ebenso wie in Prozesse der Verrechtlichung und Verwissenschaftlichung in der Frühphase der DDR ermöglicht. In diesem Zusammenhang sollen im folgenden vier verschiedene Aspekte kurz skizziert werden.

1. Roße und Funktion des Rechts in der DDR

Im Gegensatz zur Bundesrepublik waren in der DDR Recht und Verfassung nicht die normative Struktur mit oberstem Gültigkeitsanspruch. Darüber gab es immer, wenn auch häufig undiskutiert - die marxistische Geschichtstheorie.

26 SAPMO DY 31/357, Antwortschreiben an den Minister der Justiz, Frau Dr. H. Benjamin, zum Entwurf des Familiengesetzbuches der DDR vom 10. II. 1964, BI. 169- 175; Gespräch mit Justiz-rat Karl-Heinz Eberhardt am 8. 8. 1997 in Berlin. 27 SAPMO DY 31/360, BI. 35. ,,Der Ministerrat betont dabei, dass Sorge dafür zu tragen sei, dass die Diskussion nicht nur eine Angelegenheit der Frauen, sondern Anliegen aller Bürger wird". 28 SAPMO DY 31/1067, BI. 74. 29 Douma, Entwicklung, 592-620. JO SAPMO DY 31/1075, BI. 31.

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Vor diesem Hintergrund wurde das BGB als Kodifikation des Privatrechts, basierend auf Vertrag und Eigentum, heftig als bürgerliche Verschleierung der zugrundeliegenden Ökonomie kritisiert. Durch die rasche Enteignung in der DDR und die Aufhebung des Privateigentums wurde das bürgerliche Recht dann seines ökonomischen Kerns entkleidet. Dies veränderte zugleich die Arbeitsbeziehungen und erlaubte eine Aufgliederung des Rechts in verschiedene Zweige (Arbeitsrecht, Familienrecht, Zivilgesetzbuch). Mit dem zunehmenden Abbau des bürgerlichen Rechtsstaates und dem Aufbau des Sozialismus änderte sich auch die Funktion des Rechts. Einen Wendepunkt in diesem Prozeß stellte die bereits erwähnte Babelsherger Konferenz 1958 dar. Hier trafen zwei Rechtsvorstellungen aufeinander, von der die eine, die Auflösung der Rechtsstrukturen und eine instrumentalistische Rechtskonzeption (vom Ich zum Wir) vertrat, während die andere die Gewährung individueller Rechte als stabilisierendes Element ansah, somit ein eher regulatorisches Rechtskonzept vertrat (Klein aber Mein)? 1 In Babelsberg setzte sich die erste Richtung, vertreten von Kar! Polak, durch. Das Recht bekam eine Erziehungsfunktion, verlor endgültig seine Bedeutung als eigener Systembereich und diffundierte in Politik und Gesellschaft. 32 Gegen diese Neudefinition und den Funktionswandel des Rechts zum "sozialistischen Recht" befand sich der Entwurf des FGB nach Meinung seiner Kritiker in Babelsberg noch ganz in bürgerlichen Bahnen des Rechtsverständnisses. Kam diese Kritik von Seiten der Rechtstheoretiker und dem Politbüro, so stellt sich die Frage, inwieweit die mit der Rechtsschöpfung befaßten Kommissionsmitglieder diesen Vorwurf aufnahmen und in die Grundkonzeption des FGB einfließen ließen oder der Absicherung individueller Rechte Vorrang einräumten, deren Mangel seit der Entstehung des BGB beklagt wurde. In diesen Fragen schieden sich wohl tatsächlich die Geister zwischen den Juristen der Theorie und Wissenschaft und denjenigen, die mit der ,,Praxis" und der Aufgabe der Gesetzesschöpfung vertraut waren. Das Problem durchaus berücksichtigend, ist "im Ergebnis festgelegt worden, dass der Entwurf im wesentlichen unverändert dem Politbüro vorgelegt werden soll. Vorher sollen in den Bestimmungen der §§ I bis 4 die Grundsätze eingearbeitet werden, die über das Wesen der sozialistischen Ehe und Familie und die sozialistische Erziehung auf dem V. Parteitag entwickelt worden sind". 33 Die Präambel (Grundsätze) des Familiengesetzbuches wurde in dieser Fassung und allen späteren jeweils den politischen Erforder31 Gerhard Dilcher, Vom Bürgerlichen Gesetzbuch zu den ,.Rechtszweigen". Sozialistische Modemisierung oder Entdifferenzierung des Rechts?, in ders. (Hg.), Rechtserfahrung DDR, Berlin 1997, S. 93 ff.; Karl Molnau, Rechtstheoretische Grundlagen des ZGB in EckertiHattenhauer, Zivilgesetzbuch, S. 25. 32 Gerhard Dilcher, Politische Ideologie und Rechtstheorie, Rechtspolitik und Rechtswissen-schaft, in Dilcher, Rechtserfahrung, S. 10 ff.; M. Rainer Lepsius, Die Institutionenordnung als Rahmenbedingung der Sozialgeschichte der DDR, in Hartmut Kaelblel Jürgen Kokka I Hartmut Zwahr I, Sozialgeschichte der DDR, S. 17 - 30. 33 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1 SE 3004, BI. 57 ff.

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nissen angepaßt und insbesondere die Verbindung von Recht und Moral und die erzieherische Aufgabe des Familienrechts, entsprechend den Forderungen, aufgenommen. Ähnlich verfuhr die Kommission nach dem XXII. Parteitag der KPdSU (1961 ), der sich ausführlich mit Fragen der sozialistischen Moral und Erziehung befaßt hatte und die Mitglieder veranlaßte, den Entwurf und die Grundsätze erneut auf ihre Kompatibilität zu prüfen und Verbesserungsvorschläge aufzunehmen. 34 Daneben gab es aber nach Babelsberg Kritik auch an den substantiellen Teilen des Entwurfs, vor allem in der Frage einer ehelichen Gütertrennung oder Gütergemeinschaft. In diesem Punkt teilte sich die Kommission entlang der Generationenlinie. Die älteren Mitglieder sprachen sich eindeutig für die Gütertrennung aus, während die jüngeren wie auch die Babelsherger Kritiker darin eine "Konservierung kleinbürgerlicher, rückständiger Ideologie in den Familienverhältnissen" sahen. 35 Keineswegs ordneten sich die Befürworter einer Gütertrennung den ideologischen Vorgaben unter, sondern beschlossen, in einer wissenschaftlich und methodisch fundierten Umfrage die ehelichen Vermögensverhältnisse der DDR zu erfassen. Zusätzlich wurden die gerichtlichen Vermögensauseinandersetzungen geschiedener Ehegatten ausgewertet. Hier stießen die Juristen selbst an die Grenzen des Verwissenschaftlichungsprozesses, da es in der DDR trotz der umfangreichen Bemühungen um die Familie keine etablierte Familiensoziologie gab, und es somit an ,,Methoden zur Beobachtung und Lenkung des ,,normal" verlaufenden Familienlebens" fehlte.36 Das Ergebnis ihrer Untersuchungen und damit ein Abbild der Realität flossen in das FGB ein, das letztlich ganz im Sinne der jüngeren Generation die Gütergemeinschaft als Norm setzte.37

34 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz DP l VA 1925. In diesem Sinne äußerte sich auch das Kommissionsmitglied Karl-Heinz Eberhardt, nach dessen Meinung sich die Juristen den substantiellen Teilen widmeten, während die Präambel den Politikern zugestanden wurde. Gespräch am 8. 8. 1997 in Berlin. Zur Bedeutung der Präambel, die vor allem auch Lenin ihr zumaß, siehe Reiner Arlt I Gerhard Stiller, Entwicklung der sozialistischen rechtsordnung in der DDR, Berlin (Ost) 1973, S. 287, Anm. 132. 3s Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz DP l VA 8150, BI. 352. 36 Archiv der Universität Potsdam, Außenstelle Babelsberg, 6476, Material zu einigen Fragen der Familie in der DDR, ausgearbeitet von Dr. habil. Anita Grandke und Dr. Herta Kuhrig (Deutsche Akademie der Wissenschaften, Forschungsgruppe "Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft") und Wolfgang Weise (wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ministerium der Justiz), o.D. (ca. 1965). Den Mangel einer Familiensoziologie betonte auch Hilde Benjamin in ihrer Begründung des Familiengesetzbuches vor der Volkskammer am 20. 12. 1965, abgedruckt in: Ein glückliches Familienleben - Anliegen des Familiengesetzbuches der DDR, Berlin l%5, S. 13- 35, dazu S. 14. 37 Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. 12. 65, §§ 1316; Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz DP l VA 6454, Umfrage zur Gestaltung der vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Ehegatten und Ergebnisse der Umfrage des Ministeriums der Justiz zum ehelichen Güterrecht. Gerlach, Familie,S. ll2; A. Grandke, Familienrecht in Uwe-Jens Heuer (Hg.), Die Rechtsordnung der DDR, Baden-Baden l995,S. l73-210,hierS. l97.

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Neben diesen inhaltlichen Aspekten ist die Phase der Kodifikation des Familienrechtes gekennzeichnet durch eine Umstrukturierung der gesamten Justiz. Dieser äußerst komplexe Vorgang hatte ebenfalls Auswirkungen auf das Familienrecht und die entsprechende Prozeßordnung. Generell ging es um Fragen des Zugangs zur Justiz, die Funktion und Aufgaben der Gerichte und schließlich die stärkere Beteiligung von Laien am Rechtsfindungs- und Rechtsschöpfungsprozeß. 38 Bereits im Jahre 1948 erleichterte die Justizverwaltung in der SBZ "weiten Kreisen der Bevölkerung den Zugang zur Gerichtsbarkeit", indem sie die familienrechtlichen Streitigkeiten den Amtsgerichten übertrug und damit zugleich die Landgerichte entlastete. In den folgenden zehn Jahren und verstärkt nach Babelsberg änderte sich mit dieser Umstrukturierung und den neuen Gesetzen auch die Funktion der Gerichte. Sie hatten in Zusammenarbeit mit den örtlichen Organen nun auch in Familienstreitigkeiten und Scheidungsprozessen eine "moralisch-erzieherische" Aufgabe zu erfüllen und "den Bürgern (in öffentlicher Verhandlung) das Wesen und de(n) Inhalt des neuen sozialistischen Familienrechts und die Wege zur Überwindung von Widersprüchen" aufzuzeigen. Diese Erziehungsfunktion der Gerichte erwies sich bis zu dem Ende der DDR als problematisch, da sie Privatheil und Konflikthaftigkeit von Familienbeziehungen negierte. Daß das Problem in der Frühphase durchaus gesehen wurde, zeigt eine Äußerung Hilde Benjamins in einer Kommissionssitzung im Dezember 1952, in der sie "ihre Angst vor dieser Machtfülle des Rates des Kreises" bekundete. "Ich erblicke darin ein bißeben Polizeistaat". Auch die Bevölkerung betrachtete die Privatheil der Ehe und Familie als ein Refugium, das es zu verteidigen galt. In einer Mischung moralischer und politischer Argumente zogen einzelne immer wieder die Grenzen der Herrschaft und Durchdringung.39 Ein integraler Bestandteil des Rechtschöpfungsprozesses war die von Anfang an geforderte Beteiligung von Laien. "Unsere neuen Gesetze sollen nicht am grünen Tisch entstehen, vielmehr erfordert es eine wahre Demokratie, daß die Gesetze in engstem Zusammenhang mit den breiten Massen des Volkes und insbesondere mit 38 Die Literatur zu dieser Umstrukturierung ist inzwischen sehr umfangreich, bisher ist aber noch eine Konzentration auf den Bereich des Strafrechts zu verzeichnen. Siehe hierzu allgemein auch Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED Diktatur in Deutschland", hrsg. vom Deutschen Bundestag. Bd. IV, Frankfurt 1995; Heike Amos, Justizverwaltung in der SBZ/DDR, Köln 1996; Uwe-Jens Heuer, Die Rechtsordnung der DDR, Baden-Baden 1995; Hermann Wentker (Hg.), Volksrichter in der SBZ/DDR 1945 bis 1952, München 1997. 39 Als Beispiel sei der unveröffentlichte Brief einer Leserio aus dem Jahr 1964 genannt. " .. . Haben sich die Genossen schon einmal überlegt, ob es auch richtig ist, sich in die intimsten Angelegenheiten zweier Menschen zu mischen? . .. Oder haben Eheleute die Pflicht, zu Parteiversammlungen Rechenschaft über ihr Eheleben abzulegen?". Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz DP 1 VA 6454; DP 1 VA 387; DP 1 VA 1925; DP 1 VA 6483; DP I VA 6911. Herbert Wolf, Diskussionsbeitrag, in Materialien der Enquete-Kommission, Bd. IV, S. 45-46. Wolf betont in seinem Beitrag, daß das normative Recht nicht der Konfliktaustragung, sondern der Konfliktvorbeugung dienen sollte. Gerade diesen Aspekt betonten die Juristen der DDR immer wieder im Zusammenhang mit dem FGB.

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denjenigen Teilen der Bevölkerung, die durch ein Gesetz besonders betroffen werden, entstehen". 40 Formal und inhaltlich handelte es sich hierbei um eine Abkehr von Prozessen der Verrechtlichung im Sinne von Justizialisierung, die aber auch als Übernahme sowjetischer Kulturpolitik mit ausgeprägt pädagogischen Intentionen betrachtet werden können. Bereits Lenin hatte die Bedeutung der öffentlicher Diskussionen betont, und der Entwurf des sowjetischen Familiengesetzbuches wurde 1926 unter Stalin ausgiebig von der Bevölkerung erörtert.41 Soweit bisher ersichtlich, war die Beteiligung der Bevölkerung am Familiengesetzbuch nicht umstritten, während in anderen Bereichen die Diskussionen weniger ausgiebig und öffentlich geführt wurden. Der Gegenstand hatte vermeintlich nicht die gesellschaftspolitische Brisanz wie etwa das Strafrecht, und zudem versprach man sich von den Veranstaltungen, "nicht nur die Meinung der Bevölkerung dazu [zu] hören, sondern daß auch diese Aussprachen mit dazu beitragen, die Meinungsbildung zu forcieren". 42 Drei Formen von "Volksjustiz", im Sinne von aktiver Beteiligung, prägten den Kodifikationsprozeß des Familienrechtes. Einmal diskutierte die Öffentlichkeit, in der ersten Phase bemerkenswert breit und offen, in der zweiten Phase viel bürokratischer und reglementierter die Entwürfe. Die einzelnen Vorschläge wurden im Ministerium sorgfältig gesammelt, beantwortet, diskutiert und teilweise auch auf Lochkarten erlaßt. Zweitens wurden nach Babelsberg dann auch verstärkt andere gesellschaftliche Gruppen in den eigentlichen Kodifikationsprozeß der Kommission eingebunden. Schließlich wurden die Entwürfe mit ausgewählten Arbeitern "auf eine leicht verständliche Sprache überarbeitet", ein nicht immer konfliktfreier Vorgang, da ihm bestimmte Grenzen gesetzt waren und zwar dort, "wo es sich um ausschließlich abstrakt juristische Formulierungen handelt. Die im Entwurf verwandten juristischen Begriffe, wie z. B. Rechtsgeschäft, Rechtskraft, Verbindlichkeiten, einseitiges Rechtsgeschäft, Willenserklärung, Zwangsversteigerung, fruchtlose Pfändung, Handlungsfähigkeit, sind den Arbeitern nicht verständlich". 43 Diese Diskrepanz zwischen juristischer Terminologie und einer einfachen Sprache war auch immer wieder Gegenstand der Auseinandersetzungen zwischen dem Justizministerium und dem Politbüro. Die Juristen vertraten. das Konzept der Verständlichkeit, verweigerten sich jedoch allen Versuchen nicht professioneller Vereinfachung. Noch der letzte Entwurf kam im November 1964 aus dem Politbüro 40 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP I VA 8002, BI. 102. Arlt/Stiller, Entwicklung, S. 125 ff. weisen darauf hin, daß in der sowjetischen rechtswis-senschaftlichen Literatur die Notwendigkeit einer Beteiligung der Bevölkerung an der Rechtsschöpfung umstritten sei. S. N. Bratus (Hg.), Sowjetisches Zivilrecht, Band II, Berlin 1953, S. 440; Gunther Teubner, Verrechtlichung- Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege, in Friedrich Kübler (Hg.): Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, Frankfurt 1985, S. 289-344. SAPMO DY 31/1019, BI. 3a, BI. 36. 42 42 SAPMO DY 31/265, BI. 204. 43 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1 SE 3004, BI. 9-17. Diese Schwie-rigkeiten betonte auch Linda Ansorg in einem Gespräch am 31. 7. 1996. 40 41

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zur Überarbeitung und zur Kürzung zurück, da nach Meinung der Politiker ein volksnahes Gesetzbuch sprachlich für jeden verständlich und nicht mehr als einhundert Paragraphen enthalten durfte. Diese Vorgabe erreichte die Kommission nicht ganz, allerdings überschritt sie sie nur um exakt zehn Prozent.44 Versuchte die DDR durch die Kodifikation und die Ausdifferenzierung der Rechtsbereiche die Herrschaft in die Gesellschaft auszudehnen und durch die Integration der Laien auf allen Ebenen der Justiz einer zunehmenden Verrechtlichung und von politischer Seite auch einer Professionalisierung zu entkommen, so waren es doch immer wieder die Juristen im Ministerium und der Kommission, die ihre Professionalität gegen die fehlende Kompetenz der Laien auf inhaltlicher, formaler und sprachlicher Ebene betonten. Ihre Rolle und Funktion aber auch ihre Rekrutierungsmechanismen und ihr Selbstverständnis und damit die Frage nach der Elitenbildung verdienen im Zusammenhang von Verwissenschaftlichung und Verrechtlichung eine besondere Aufmerksamkeit. Dabei sollte keineswegs übersehen werden, daß die Einzelpersonen zwar zum Teil großen Einfluß hatten, daß es sich aber im wesentlichen um eine oder mehrere Gruppen handelte, die auch im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten professionelle Interessenpolitik betrieben. 2. Rolle und Funktion der Juristen

Wie andere Widerstandsgruppen hatten auch die Kommunisten im Exil bereits eine Umstrukturierung der Justiz geplant. Trotzdem stand eine Justizpolitik nach 1945 nicht im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit, da Wirtschaft und Bildung Vorrang hatten, es aber auch unter den Kommunisten und Sozialdemokraten wenige Juristen gab45 • Somit aktivierte man ältere Juristen wie den über 80jährigen Eugen Schiffer, der Justizminister wurde, eine Funktion, die er in der Weimarer Republik schon inne gehabt hatte. Hinzu kam eine Gruppe jüngerer Volljuristen, die um 1900 geboren, in der Weimarer Republik studiert hatten und zum Teil tätig gewesen waren, und im Nationalsozialismus aus rassischen und/ oder politischen Gründen in die Emigration gegangen waren oder "überwintert" hatten. Zu dieser Gruppe von Juristen gehörten u. a. Hans Nathan, einer der intellektuellen Köpfe, Hilde Benjamin, der etwas jüngere Heinrich Toeplitz und auch der spätere Generalstaatsanwalt Ernst Melsheimer, der allerdings als einer der wenigen seine 1933 begonnene Karriere bruchlos fortsetzen konnte. 44 Andrea Fleth, Hilde Benjamin- eine Biographie, Berlin 1997, S. 151 f.; Gespräch mit Anita Grandke am 26. 6. 1997, die die Konflikte zwischen Führung und H. Benjamin erwähnte und bemerkte, daß eine Verständlichkeit nicht immer in der gewünschten Form möglich war. Im gleichen Sinne äußerte sich Karl-Heinz Eberhardt am 8. 8. 1997. Der erste öffentlich diskutierte Entwurf eines Fmailiengesetzbuches aus dem Jahre 1954 enthielt demgegenüber noch 135 Paragraphen. 45 Amos, Justizverwaltung, S. 5.

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Diese Juristen, die sich untereinander vor 1945 meist nicht kannten, hatten ihren spezifischen juristischen Habitus in der Weimarer Republik erworben und waren nicht zuletzt auch durch die Diskussionen dieser Zeit geprägt. Sie alle kamen nach dem Krieg schnell in zentrale Positionen in der Deutschen Justizverwaltung, dem späteren Ministerium und der Universität. Auch wenn es in einzelnen Karrieren Brüche gab, so bestimmten sie die juristischen Diskussionen und entwarfen die verschiedenen Gesetzestexte. Diese relativ homogene Gruppe von deutschen Einheitsjuristen wurde ab Mitte der 1950er Jahre erweitert um den neuen Juristentypus der DDR. Einige dieser jüngeren Generationen hatten zwar noch vor 1933 mit dem Studium begonnen wie die Familienrechtlerin Linda Ansorg, andere wie Anita Grandke, später die prominenteste Familienrechtlerin der DDR, hatten ihr Studium unter den neuen politischen Bedingungen absolviert. 46 Bei einer Betrachtung dieser Gruppe stellt sich die Frage, wie der Elitenwechsel oder besser "Elitenkooptation" funktionierte, ob die verschiedenen Selbstbilder und Vorstellungen von Recht der Volljuristen und Neujuristen miteinander harmonierten, verschmolzen oder eine Gruppe die andere absorbierte. Auch zu den Netzwerken, dem Wissenschaftsbezug der verschiedenen Generationen, der Gebundenheit an die Bevölkerung und dem Einfluß Weimarer und I oder nationalsozialistischer Traditionen, immer im Hinblick auf das Selbstverständnis der Juristen und ihre Funktion, vermag ich bisher wenig zu sagen. Ebensowenig zur alles überwölbenden Frage nach dem Einfluß der Eliten, in diesem Fall der Juristen, auf den Prozeß einerseits der Ausdifferenzierung des BGB und andererseits der Entdifferenzierung des Rechts und nicht zuletzt nach den von ihnen vertretenen gesellschaftlichen Familienleitbildern. 3. Familienleitbilder und Familienrealität

Nach Marx und Engels verliert die Familie im Sozialismus zunehmend an Bedeutung und wird durch die Gesellschaft ersetzt. In der Sowjetunion hatte man aber bereits in den 20er Jahren die Erfahrung gemacht, daß die vielfältigen Grundfunktionen der Familie nötig und nicht von der Gesellschaft und ihren Institutionen übernommen werden konnten. ,,Die Familie ist als kleinste Zelle unserer Gesellschaft von so ungeheurer Bedeutung, weil sich hier nicht nur die künftige Generation in den Grundlagen und den Charaktereigenschaften entwickelt, sondern weil von der Familie auch die stärksten Impulse ausgehen für die Entwicklung der Ehegatten selbst".47

46 47

Gespräch mit Anita Grandke am 26. 6. 1997. SAPMO DY 31/1019, BI. 3.

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Bei einer solchen Definition stellt sich die Frage nach der sozialistischen Familie, der Verknüpfung von Familie und Gesellschaft, den Familienleitbildern und dem Verhältnis von Freiheit und Modeme, d. h. bedeuteten die Veränderungen des positiven Rechts und die Verknüpfungen von Recht und Moral eine Einschränkung der Freiheit.48 Welche Vorstellungen flossen in das Familienleitbild ein, und wie veränderte es sich? Welchen Einfluß hatten schließlich die regulativen Eingriffe ins Sozialsystem, die durch die Aufhebung individueller Rechte, wie beispielsweise das Unterhaltsrecht im Fall der Scheidung, nötig wurden. Von nicht geringem Einfluß auf die Vorstellungen waren die demographischen und wirtschaftlichen Probleme der DDR durch einen hohen Frauenanteil und die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zumindest bis zum Mauerbau, die sich im Familienrecht in einer Mischung von Pronatalismus und Wirtschaftspolitik widerspiegeln49 • Geht es auf dieser Ebene um die Familienleitbilder der politischen und juristischen Eliten, so muß auf der anderen Seite die Frage nach den Familienleitbildern der Bevölkerung gestellt werden, die in den Diskussionsbeiträgen der ersten Phase deutlich zum Ausdruck kamen. Die normative Wirkung der diskutierten Entwürfe läßt sich schließlich an den Beiträgen in der zweiten Verbreitungskampagne erkennen. ,,Das Streben, das Leben in der Familie nach den Normen des Familiengesetzbuches zu gestalten, unterstützt demzufolge den Prozeß der weiteren Ausprägung der sozialistischen Lebensweise"50. Die Realität entsprach aber nicht ganz diesem Wunschbild. In der zweiten Diskussionsphase offenbarte sich nämlich, daß "das sozialistische Bewußtsein im Betrieb mit dem Leben zu Haus nicht Schritt halten kann". Deutlich weniger allerdings als in der ersten Phase wurde die Doppelrolle in Frage gestellt. 51 Hier zeigte sich auch die Grenze zwischen Partizipationsversprechungen und lntegrationsleistungen, die durch verstärkte regulative Eingriffe beseitigt werden sollte. In der Bevölkerung prägten sie das Bild einer Familienpolitik als Mütterglück, spöttisch Muttipolitik genannt, und von Ute Gerhard als "patriarchalischer Staatssozialismus" bezeichnet.52 Die Differenz konnte auch nach Etablierung einer Familiensoziologie - von Hilde Benjamin noch 1966 gefordert - nicht behoben werden, sie führte aber die Ten48 Rainer Schröder, Das ZGB der DDR von 76 verglichen mit dem Entwurf des Volksgesetz-buches der Nationalsozialisten von 1942, in: Eckert/Hattenhauer (Hg.), Zivilgesetzbuch, S. 31-71. 49 Mehlan, K.-H.: Die Familienplanung aus gesellschaftlicher Sicht, in: Das deutsche Gesund-heitswesen 16/1964, S. 740-746, zitiert nach SAPMO DY 31/1078, BI. 192a. so SAPMO DY 31/1075, BI. 98. ~~ SAPMO DY 31/265, BI. 208. ~2 Ute Gerhard, Die staatlich institutionalisierte ,,Lösung" der Frauenfrage. Zur Geschichte der Geschlechterverhältnisse in der DDR, in: Kaelble u. a., Sozialgeschichte, S. 383 -404; Ulrike Helwerth I Gislinde Schwarz, Von Muttis und Emanzen. Feministinnen in Ost- und Westdeutschland, Frankfurt 1995, S. 114.

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denzen zur Verwissenschaftlichung der Familie über den behandelten Zeitraum hinaus weiter. Nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht hatte sich seit Jahrhunderten auch immer die Kirche mit der Familie befaßt. Die Säkularisierung der Alltagswelt wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit zwar kurzfristig unterbrochen, im Zuge des 17. Juni begann aber in der DDR die systematische Ausschaltung der Kirchen aus dem öffentlichen Leben. 53 In diese Phase fiel auch die Diskussion des ersten Entwurfes, der bei Christen auf heftige Ablehnung stieß. Vermißten die einen im Gesetzentwurf die "Grundprinzipien christlicher Weltanschauung", so befürchteten andere den zunehmenden Einfluß des Staates auf die Familie, vor allem die Jugendlichen durch die Jugendweihe, und die katholische Kirche lehnte die Ehescheidung generell ab. 54 Die Kritik in kirchlichen Veranstaltungen war so heftig, daß Pfarrer zur ,,Absetzung der ausgelösten Diskussion" rieten und andere zu einem Wahlboykott aufriefen. Die Haltung der Kirche im Hinblick auf Familie und Familienpolitik, die sicherlich einer weiteren Differenzierung bedarf, wird deutlich an einem Schreiben eines anonymen Denunzianten, der dem Justizministerium mitteilte, daß "in der überfüllten Nikolaikirche der Generalsuperintendent Krummacher über das Familiengesetz sprach. Ware Adenauer darunter gewesen, er hätte sich von ganzem Herzen gefreut. Wie ist so etwas möglich". 55 Die von der Kirche durchgeführten Veranstaltungen wurden dann auch von Genossen des Ministeriums für Staatssicherheit überwacht, die sich teilweise selbst in die Diskussion einschalteten. Die kirchlichen Eingaben waren auch in der ersten Diskussionsphase die einzigen, die Benjamin an Mielke und das im Oktober 1950 gegründete Ministerium für Staatssicherheit weiterleitete.56 Mit diesem Hinweis auf die Staatssicherheit ist zugleich ein vierter Komplex angesprochen, der Fragen nach der Etablierung von Herrschaft und der inneren Staatsbildung in der DDR im Zuge der FGB Diskussion nachgehen soll. 4. Die DDR- eine sozialistische Nation?

Im Zusammenhang mit der Etablierung von Herrschaft wird für die DDR immer die Frage nach dem sowjetischen Einfluß, der Sowjetisierung, gestellt. Hier scheint es wichtig, die verschiedenen Ebenen voneinander zu trennen. Das sowjetische Familienrecht in der Fassung von 1944 war auch als eigener Rechtszweig des Zivilrechtes kodifiziert worden. Auch hier stand der Schutz von Ehe und Familie an 53 Friedrich Wilhelm Graf, Eine Ordnungsmacht eigener Art. Theologie und Kirchenpolitik im DDR-Protestantismus, in Kaelble u. a., Sozialgeschichte, S. 295-321; H.Weber, DDR,

s. 37.

Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1 VA 243. Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP 1 VA 243, Bl. 59. 56 Bundesarchiv Lichterfe1de, Ministerium der Justiz, DP 1 VA 243, DP 1 VA 7889, Bl.181. 54 55

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erster Stelle, im Gegensatz zur DDR war jedoch etwa das Scheidungsrecht äußerst restriktiv. Für die separate Kodifikation mag das sowjetische Vorbild von Einfluß gewesen sein, in den Inhalten scheint die DDR eigene Wege gegangen zu sein, die vielmehr der Situation und Notwendigkeiten eines Industriestaates entsprachen. Auch erfolgte die Kodifikation im Vergleich zu den anderen sozialistischen Ländern relativ spät. Nicht zuletzt sprechen schließlich die juristischen Traditionen ftir einen eigenen Weg, zumal die Juristen der ersten Generation anfänglich mit sowjetischem Familienrecht nicht vertraut waren, und Benjamin auch später immer wieder die Unkenntnis kritisierte. 57 Schließlich blieb im Familienrecht der Einfluß Karl Polaks, einer der wenigen Juristen, der im sowjetischen Exil gewesen war und der führende Rechtsdogmatiker der DDR wurde, gering, obwohl er bis zu seinem Tod 1963 in der Kommission saß.58 So weit bisher untersucht, war in den Eingaben der Bevölkerung der sowjetische Einfluß kein Thema, vielmehr schimmerten vor allem in der ersten Diskussionsphase immer wieder nationalsozialistische und völkische Vorstellungen, Politik und Gerüchte in vielen Stellungnahmen durch. Die Frage nach der Sowjetisierung kann jedoch umfassend nur bei gleichzeitigem Blick in den Westen beantwortet werden. Generell läßt sich sagen, daß das Ostberliner Justizministerium die Entwicklungen "drüben" sehr genau beobachtete, und die Diskussionen über die Gleichberechtigung 1957 in der Bundesrepublik gaben dem FGB einen neuen Schub. Ostdeutsche Versuche, die Entwürfe auf höchster Ebene zu diskutieren, blieben von Bonn unbeantwortet. Ebenso scheiterten geplante deutsch-deutsche Juristenkonferenzen an den vielen Absagen aus der Bundesrepublik. Umgekehrt wurde in der Bundesrepublik der Entwurf und die Diskussionen zwar zur Kenntnis genommen, Aufregung verursachten sie aber nur in kirchlichen und juristischen Kreisen, die die Ehe und die deutsche Rechtseinheit gefahrdet sahen. Vor allem der "Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen" beobachtete die Entwicklung sehr genau; hier wurden aber kaum die Leistungen als vielmehr die Steuerung der Justiz und der Autonomieverlust des Rechts bemerkt. In zentralen Aspekten, wie der Gleichberechtigung und der Stellung der Kinder, ist die Bundesrepublik letztlich nur viel langsamer einen sehr ähnlichen Weg gegangen, weshalb trotz der Entstehung eines eigenen Rechtszweiges das FGB nicht im "kontradiktorischen Gegensatz" zum Westen stand, wie Gerhard Dilcher unlängst feststellte.59 Es bleibt die Frage, ob das Familienrecht zur inneren Staatsbildung der DDR beigetragen hat. Die Diskussionen verbreiteten sicherlich die als sozialistisch propagierten Normen und Vorstellungen hinsichtlich der Gleichberechtigung und vers1 Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP I VA 7889. ss So entschied sich die Kommission nach der Babelsherger Kritik nur für eine Änderung der Präambel. Gespräch mit Anita Grandke am 26. 6. 1997. S9 Dilcher, Gesetzbuch, S. 104.

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ankerten die Bedeutung von Familie und Kindem im Bewußtsein der Bevölkerung. Hohe Scheidungsraten und die immer wieder konstatierte Doppelbelastung der Frauen sprechen jedoch gegen eine Etablierung der im FGB kodifizierten Normen, nicht zuletzt auch wegen der geringen Bereitschaft des Staates, die Kindererziehung als Aufgabe beider Geschlechter zu betrachten. Die Intimität der Ehe und Familie wurde verkannt, und somit blieb sie in der DDR ein Bereich, der sich stärker den Einflüssen der Herrschaft und Ideologie entzog, als mit dem FGB intendiert war. Die vielen Stimmen ehemaliger DDR-Bürger, die nach der Wende den Verlust von Familie und Familiensinn beklagen, zeigen, daß die gelebte Familie trotz aller juristischen Veränderungen viel stärkere Gemeinsamkeiten mit einem bürgerlichen Familienbild aufweist, als das FGB und die flankierende Politik vermuten läßt. Damit erfüllten sich die Prognosen Gustav Heinemanns, der 1954 an Otto Grotewohl appellierte, die gemeinsamen Rechtstraditionen zu wahren, da die eingeleitete Veränderung .,in besonders starkem Maße in die persönlichsten Verhältnisse nahezu aller Menschen in der Deutschen Demokratischen Republik eingreifen würde und sie grundlegend von den Ordnungsgrundsätzen des Familienrechtes entfernen, die bisher in Deutschland gegolten haben und in seinem westlichen Teil fortgeführt werden"60, nur zum Teil.

60

Bundesarchiv Lichterfelde, Ministerium der Justiz, DP I VA 243, BI. 21-22.

2. Arbeitsrecht

Funktionen des Arbeitsrechts in der DDR Von Lothar Mertens Im Rahmen dieses Beitrages sollen nicht einzelne Gesetze oder Anordnungen des DDR-Arbeitsrechts juristisch untersucht werden. Vielmehr geht es darum, die politische Bedeutung des Arbeitsrechts in der DDR und insbesondere seine Instrumentalisierung für den Unterdrückungsapparat der SED-Führung aufzuzeigen. Denn jenseits der Legalität vortäuschenden DDR-Verfassung gab es eine ideologische Zielsetzung des Paragraphenwerkes, welche durch die politische Steuerung der Justiz mittels Anleitungen und Direktiven gekennzeichnet war. Bereits in der ersten DDR-Verfassung von 1949 wurde den Bürgern ein Recht auf Arbeit zugesichert, wodurch ein ideologischer Kontrapunkt zur Situation in der "kapitalistischen" Bundesrepublik gebildet wurde. Der Artikel 15 der DDR-Verfassung von 1949 bestimmte u. a.: " ... Das Recht auf Arbeit wird verbürgt. Der Staat sichert durch Wirtschaftslenkung jedem Bürger Arbeit und Lebensunterhalt." Zugleich jedoch wurde durch die ebenfalls genannte Wirtschaftslenkung das Instrumentarium zur Verwirklichung dieses Anspruchs gleichfalls gesetzlich verankert. Der Verfassungstext ging davon aus, daß der im Entstehen befindliche sozialistische Staat durch die direktiven Maßnahmen der staatlichen Planwirtschaft grundsätzlich in der Lage sei, alle Bürger in angemessener Form zu beschäftigen, wobei die angemessene Form hinsichtlich Ausbildung, Qualifikation und Entlohnung nicht näher präzisiert wurde. Ein großer Teil der als "Werktätige" bezeichneten Arbeiter in den DDR-Kombinaten wurde unter ihrer Qualifikation beschäftigt. Zugleich jedoch bestand staatlicherseits die Möglichkeit, die Aufnahme einer bestimmten Arbeit durch die administrative Zwangseinweisung in ein Arbeitsverhältnis zu erzwingen. Juristische Grundlage dafür war eine Verordnung vom Juni 1948. 1 Diese restriktive Zuweisungsmöglichkeit galt bis zum Herbst 1954. In der Aufhebungsverordnung wurde der neue Grundsatz festgelegt: ,,Der Bedarf an Arbeitskräften wird ausschließlich durch Werbung auf freiwilliger Grundlage gedeckt."2 Auch die DDR-Verfassung im Wortlaut von 1968 beinhaltete, nun im Artikel 24, ein Recht auf Arbeit. Der entsprechende Passus bestimmte: I Verordnung über die Sicherung und den Schutz der Rechte bei Einweisungen von Arbeitskräften vom 2. Juni 1948. In: Zentrales Verordnungsblatt 1948, S. 255. 2 Verordnung über die Aufhebung der Verordnung über die Sicherung und den Schutz der Rechte bei Einweisungen von Arbeitskräften vom 30. Sep. 54. In: Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 87, 14. Okt. 1954, S. 828. 6 Timmermann

Lotbar Mertens

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Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht auf Arbeit. Er hat das Recht auf einen Arbeitsplatz und dessen freie Wahl entsprechend denn gesellschaftlichen Erfordernissen und der persönlichen Qualifikation. ...". "(1)

"(2) Gesellschaftlich nützliche Tätigkeit ist eine ehrenvolle Pflicht für jeden arbeitsfähi-

gen Bürger. Das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit bilden eine Einheit."

Das Recht auf Arbeit war damit zugleich auch eine Pflicht zur Arbeit, die insbesondere bei politisch mißliebigen Personen schnell zu strafrechtlichen Konsequenzen führen konnte, z. B. zur Bestrafung als Arbeitsscheu (§ 249 StGB). Unverändert war die juristische Gummifomel von den "gesellschaftlichen Erfordernissen" enthalten, die quasi jede Anweisung an den Einzelnen als staatlich notwendig dekretieren konnte. Im Paragraphen 249 Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten hieß es: "(l) Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung

und Sicherheit beeinträchtigt, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft."

Wie der bekannte westdeutsche Strafrechtsprofessor Friedrich-Christian Schroeder zurecht betont, ist der Tatbestand der Arbeitsscheu bewußt unpräzise gefaßt, wodurch die DDR-Gerichte selbst bestimmen konnten, was eine "geregelte Arbeit" war. Zum Beispiel wurden künstlerische oder schriftstellerische Tätigkeiten nur selten als "geregelt" anerkannt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an die juristische Notwendigkeit vieler Oppositioneller, denen eine Anstellung in den Staatsbetrieben verweigert wurde, eine Tätigkeit als Heizer oder Gärtner in einer Kirchengemeinde aufzunehmen, um so der drohenden Anklage als "arbeitsscheu" zu entgehen. Ebenso gewollt unscharf und damit der Interpretationsvielfalt der Staatsanwaltschaften ausgeliefert waren die Angeklagten bei der Definition der ,,Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung". Denn diese wäre in der Regel nur gegeben gewesen, wenn der Angeklagte beispielsweise andere Bürger ebenfalls zum Müßiggang angestift hätte, oder aber Werktätige sich explizit über den angeblichen "Faulenzer" beschwert hätten.3 Das gesetzlich verankerte Recht auf Arbeit hatte auch direkte Auswirkungen auf das Kündigungsrecht durch das Kombinat. Das Kündigungsrecht des Betriebes wurde durch diese Festlegung formal eingeschränkt und erschwert. Jede ordentliche Kündigung bedurfte eigentlich der Zustimmung durch die Betriebsgewerkschaftsleitung. Wenn diese verweigert wurde, konnte das Kombinat bei der nächst höheren gewerkschaftlichen Instanz Einspruch einlegen. Verweigerte auch diese ihre Zustimmung, so war die Kündigung endgültig abgelehnt. Soweit der formale Instanzenweg, wie er im Arbeitsgesetzbuch der DDR festgehalten war.4 In realiter 3 Siehe ausführlich Schroeder, Friedrich-Christian: Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR. Opladen 1983, S. 97 ff. 4 Arbeitsgesetzbuch der DDR vom 16. Juni 1977, §57.

Funktionen des Arbeitsrechts in der DDR

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sah die ganze Angelegenheit jedoch wesentlich differenzierter aus. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) in der DDR war keine freie, politisch unabhängige Arbeitnehmerorganisation im klassischen Sinne. Der FDGB war lediglich ein Transmissionsriemen der SED bei der Umsetzung ihrer politischen Entscheidungen in den DDR-Betrieben.5 Die mannigfaltige Verquickung zwischen den Funktionsträgem ließ keine freie, unabhängige Gewerkschaftstätigkeit zu. Erinnert sei hier nur an die Aussage des langjährigen FDGB-Vorsitzenden und SED-Politbüromitgliedes Harry Tisch, der im Rückblick seine Hauptaufgabe beim FDGB in der Durchsetzung der SED-Parteibeschlüsse sah. 6 Wenn in der Praxis eine betriebliche Kündigung anstand, wurde im Hintergrund zwischen Betriebsleitung und Gewerkschaftssekretär alles notwendige einvernehmlich im Sinne der "Arbeiterklasse" in die Wege geleitet. Daher verwundert es nicht, daß es für die Werktätigen kaum Möglichkeiten zur erfolgreichen Klage gegen Kündigungen gab, da alles im vorhinein längst im Hintergrund geklärt worden war. In der Regel wurde stattdessen ein Aufhebungsvertrag über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses geschlossen. Im Aufhebungsvertrag wurde zumeist eine Übergangszeit vereinbart, während dieser Frist wurde dem "Werktätigen" vom Kombinat noch eine materielle Unterstützung oder eine Freistellung von der Tatigkeit zur Suche einer neuen Beschäftigung gewährt. Das Recht auf Arbeit und die staatlichen Lenkungsmaßnahmen bedingten zugleich eine Einschränkung der freien ArbeitsplatzwahL Denn für den Staat als planenden und dirigierenden Arbeitgeber stand die allgemeine gesellschaftliche Notwendigkeit der wirtschaftlichen Schwerpunktentwicklung im Vordergrund, während die individuellen Bedürfnisse der "Werktätigen" allenfalls nachrangige Bedeutung hatten. Diese Sachzwänge, welche die freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl erheblich einschränkten, zeigte sich beispielsweise beim Hochschulstudium ganz deutlich. Die unerwünschte Feminisierung des Lehrer- oder Arztberufes führte in den 1980er Jahren zu einer massiven Studienfachlenkung der Studenten in der DDR, welche insbesondere für Frauen oftmals nur die ungeliebten technischen Fächer als einzige Zugangsmöglichkeit zum Hochschulstudium offen Iieß.7 Arbeitsrechtliche Vorschriften bedingten u.a auch einen Zwang zur Nacht- und Mehrschichtarbeit (Arbeitsgesetzbuch § 91 ). Eine betriebliche Disziplinargewalt über die "Werktätigen" wurde durch die Konfliktkommissionen ausgeübt. Der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) fiel u. a. die Funktion zu, die Werktätigen im Sinne der SED politisch-ideologisch zu erziehen, an den Planaufgaben zur Siehes Wolle, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 1989. Berlin 1998, S. 112. 6 Petersen, Bärbel: .,Tisch ist und bleibt ein freier Mann". Berliner Landgericht verurteilt den früheren FOGS-Vorsitzenden wegen Untreue zu 18 Monaten Haft. In: Die Tageszeitung [TAZ], Nr. 3424,7. 6. 1991, Berlin, S. 4. 7 Siehe ausflihrlich: Mertens, Lothar: Studentinnen in der DDR. Erst gefördert - dann vom Staat benachteiligt. In: Hochschule Ost, 5. Jg. (1996), H. 3, Leipzig, S. 102-113. 6•

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rung der Produktion mitzuwirken oder, beispielsweise gemeinsam mit dem Betriebsleiter, Betriebskollektivverträge über die Schichtprämien abzuschließen. 8 Dem sozialistischen Arbeitsgesetzbuch war eine Mitbestimmung, wie diese im bundesdeutschen Betriebsverfassungsgesetz garantiert wird, vollkommen fremd. Auch ein Streikrecht existierte nach der Verfassung von 1968, die nach den Prinzipien der Interessenidentität und des demokratischen Zentralismus strukturiert war, nicht mehr; Arbeitskampf war mit der sozialistischen Staatsideologie unvereinbar. Denn wer sollte auch streiken wollen, wenn doch vorgeblich dem Volk alles gehörte. Bereits im Herbst 1953 wurde die primär volkswirtschaftliche Zielrichtung der ideologisch so beharrlich propagierten Gleichberechtigung der Frau in der sozialistischen Gesellschaft deutlich. In ihrem kommentierenden Bericht zur ,,Rechtsprechung des Obersten Gerichts auf dem Gebiete des Familienrechts" betonten die zwei Mitglieder dieser höchsten Instanz im Hinblick auf ein Unterhaltspflichtsurteil, die Entscheidung stelle den Grundsatz auf, daß in der DDR "auch jede Frau die Arbeitskraft dem Aufbau, der Erfüllung des Wirtschaftsplanes zur Verfügung zu stellen hat. Jeder Mensch muß deshalb auch einen Beruf ausüben und sich gegebenenfalls eine Berufsausbildung erwerben. Die Gleichberechtigung im Wirtschaftsleben gibt auch der Frau die Möglichkeit dazu." Zur Anordnung der Mehrschichtarbeit beispielsweise bedurfte es daher "keines besonderen Einverständnisses des Werktätigen mehr"; er hatte bereits "dies generell mit dem Abschluß des Arbeitsvertrags erklärt" (Meinhard I Pätzold 1962, S. 421). Folglich bestand ein Recht- bis auf die amtlich bestimmten Ausnahmefalle gern. § 70 und § 243 AGB Mehrschichtarbeit zu verweigern, im Prinzip nicht. Mehrschichtarbeit unter sozialistischen Bedingungen, etwa durch Fluktuation, ausweichen zu wollen, war nur sehr schwer zu realisieren. Ein Arbeitsplatzwechsel aus diesem Grunde wurde "gesellschaftlich abgelehnt", denn es galt, "gegen die Fluktuation anzukämpfen" da sie den Produktionsprozeß hemmte. 9 Arbeitskräftebewegungen wurden nur dann als erwünscht gefördert, wenn die Wanderung der Werktätigen den Zielen der Planbehörde entsprach, da es in 40 Jahren DDR einen permanenten Arbeitskräftemangel gab. Da die Teilnahme an der Mehrschichtarbeit zudem als Ausdruck des erreichten Standes des "sozialistischen Bewußtseins" gewertet wurde, war es für den Werktätigen schwer, einen Arbeitsplatz mit Mehrschichtrhythmus abzulehnen. Ein solches Vergehen konnte als mangelnde Einstellung zur Arbeit, schlimmstenfalls als Arbeitsscheu(§ 249 StGB) ausgelegt werden. Die Mehrschichtarbeit in den DDR-Kombinaten nahm kontinuierlich zu.10 Die Mehrschichtarbeit in den sozialistischen Kombinaten hatte dabei drei Funktionen 8 Mertens, Lothar: Arbeitshaltung und Wertorientierung in DDR-Kombinaten. In: Arbeit und Sozialpolitik, 44. Jg. (1990), H. 3, Baden-Baden, S. 104-105. 9 Stollberg, Rudhard: Arbeitssoziologie. Berlin (Ost) 1978, S. 184 f. 1o Mertens, Lothar: Schicht- und Nachtarbeit in der DDR. In: Arbeit und Sozialpolitik, 42. Jg. (1988), H. 3, Baden-Baden, S. 97 - 98.

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zu erfüllen: Erstens als Produktionsfunktion (Sicherung und Erweiterung der Produktion); zweitens als Erziehungsfunktion (Erziehung sozialistischer, d. h. der SED treuergebener Staatsbürger); und schließlich drittens als Kontrollfunktion (Einbindung des "Staatsvolkes" in ein streng kontrolliertes und organisiertes Regime). Von diesen drei Funktionsprinzipien sozialistischer Parteiherrschaft waren die Arbeits- und Freizeitbedingungen geprägt. Das Freizeitverhalten der im Mehrschichtensystem tätigen Arbeiter war zumeist nur noch rezeptiv als Zuschauer, kaum noch aktiv. 11 Häufiger Straftatbestand im Arbeitsrecht war der Verstoß gegen die Verpflichtung, sich durch hohe Arbeitsdisziplin und gute Arbeitsleistungen zu bewähren. Mit der Strafandrohung des § 249 StGB hatten die DDR-Behörden ein Mittel zur Hand, den einzelnen zu jeder beliebigen Arbeit zu zwingen. Das Recht auf Arbeit und die gleichzeitige Pflicht zur Arbeit bildeten in der DDR eine dialektische und politische Einheit. Gemeinsam sollten sie dazu beitragen, einen "neuen sozialistischen Menschen" zu schaffen, wie ihn die kommunistische Ideologie fortwährend propagierte. Im offiziellen Verfassungskommentar 12 zur DDR-Verfassung von 1968 heißt es: ,,Die Arbeit ist nicht mehr als ein Mittel zur Gewinnung des Lebensunterhalts. Sie verwandelt sich von einer Last zu einer Sache der Ehre, zu einer inneren Befriedigung durch die Möglichkeit schöpferischer Entfaltung aller Fähigkeiten. Sie wird in wachsendem Maße zu einem selbstverständlichen Bedürfnis der Menschen." Ob Arbeit in der DDR wirklich zum "Bedürfnis" wurde, oder nur materielle Notwendigkeit blieb, sei dahin gestellt. Zu konstatieren ist jedoch, daß die Sicherheit des Arbeitsplatzes bei der breiten Masse der Werktätigen in der DDR eine gewisse "Beamtenmentalität" gefördert hat, nach dem Leitmotiv: "Warum soll ich mich anstrengen, mir kann doch eh' nichts passieren". Oder wie es der DDRVolksmund ausdrückte. ,,Die tun so, als ob sie uns bezahlen würden, wir tun so so, als ob wir arbeiten würden." Dieses offenkundige Anzeichen dafür, daß noch nicht der gesellschaftlich erwünschte Bewußtseinsstand bei der Erziehung zur Arbeit erreicht war, belegt auch die DDR-Kriminalstatistik. Insbesondere der Diebstahl zulasten des "sozialistischen Eigentums" verriet dabei eine nur gering ausgeprägte Anerkennung der Parteimaxime. Für die Jahre 1964-1970 war in der Kriminalstatistik unter den "Straftaten gegen das sozialistische Eigentum" neben dem Diebstahl und Betrug auch noch eine Kategorie "Vorsätzliche Beschädigung sozialistischen Eigentums" ausgewiesen, 13 " Voigt, Dieter: Schichtarbeit und Sozialsystern. Zur Darstellung, Entwicklung und Bewertung der Arbeitszeitorganisationen in den beiden Teilen Deutschlands. Bochurn 1986., s. 77. 12 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Dokumente, Kommentar, Bd. 2. Berlin-Ost 1969, S. 67. 13 Ebd., Nr. 8781; Generalstaatsanwalt der DDR: Hauptergebnisse der Kriminalstatistik des Jahres 1970 der Deutschen Demokratischen Republik, vorn 31. März 1971, BI. 6 u. BI. 60 (VVS).

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Lothar Mertens

Straftaten gegen das sozialistische Eigentum 1964-198914 Jahr

alle Delikte gesamt

darunter Diebstahl abs.

darunter Betrug abs.

1964

33.259

28.008

2.861

1965

30.131

25.450

2.682

1966

29.349

24.561

2.621

1967

29.107

24.139

3.020

1968

24.723

20.516

2.923

1969

25.810

21.698

3.012

1970

27.521

23.240

3.135

1971

32.716

27.849

3.709

1972

35.938

29.448

4.281

1973

31.695

26.325

3.710

1974

31.244

25.222

4.037

1975

29.575

24.444

3.995

1976

3l.S25

25.808

4.313

1977

30.375

23.778

5.246

1978

32.310

25.214

5.473

1979

31.581

24.314

5.717

1980

31.190

24.059

5.526

1981

29.467

22.264

5.607

1982

28.703

21.629

5.645

1983

29.987

22.134

6.341

1984

29.486

21.206

6.747 6.546

1985

28.889

20.885

1986

28.385

20.290

6.643

1987

28.520

20.504

6.508

1988

27.928

20.233

5.961

1989

24.617

17.466

5.652

wobei über die Hälfte der Täter zum Zeitpunkt der Strafpunkt unter Alkohol stand und wohl aufgrund der enthemmenden Wirkung des Alkohols seine Frustation über den sozialistischen Staat durch Demolierung von dessen Eigentum kundtat. Das Arbeitsrecht der DDR wurde geprägt von dem in der Verfassung festgeschriebenen Grundsatz vom Volkseigentum der Produktionsmittel. Damit besaßen - zumindest theoretisch - alle DDR-Bürger einen kleinen Anteil am Volksvermögen, auch wenn sich die reale Verfügungsgewalt ausschließlich in den Händen des SEn-Parteiapparates befand. Doch viele DDR-Bürger wollten sich nicht mit der Vorenthaltung ihres Besitzes abfinden und versuchten daher auf zumeist nicht Je14

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, DPI/VA; Best. Min. d. Justiz, Nr. 8781, 8782.

Funktionen des Arbeitsrechts in der DDR

87

gale Weise, sich ihren Anteil am Volkseigentum zu sichern. Berufen konnten sie sich dabei sogar auf einen der ideologischen Gründungsväter der DDR. Denn Friedrich Engels hatte bereits im Jahre 1845 die These vertreten: "Die Verbrechen gegen das Eigentum fallen von selbst da weg, wo jeder erhält, was er zur Befriedigung seiner natürlichen und geistigen Triebe bedarf." 15 Angesichts der realen Diebstahlsentwicklung bedeutete dies im Urnkehrschluß, daß wohl noch nicht jeder DDR-Bürger im "real entwickelten Sozialismus" all das erhielt, was er nach eigener Auffassung zu seiner Bedürfnisbefriedigung benötigte und so seine "Triebe" weiter auf ungesetzlichem Wege durch Diebstahl "befriedigte". Wie alltäglich und wie "normal" dieses Verhalten jedoch geworden war, belegten die häufigen Karikaturen in den DDR-Tageszeitungen, in denen das Problem behandelt wurde.

1s Engels, Friedrich: Zwei Reden in Elberfeld [1). In: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 2. Berlin -Ost 1962, S. 536-548, hier S. 542.

3. Strafrecht

Strafen ohne Strafrecht Zum Wandel repressiver Strategien in der Ära Honecker Von Hubertus Knabe

I. Vorbemerkung In der Diskussion über die Diktatur der SED in Ostdeutschland ist wiederholt in Anschlag gebracht worden, daß diese sich von der der Nationalsozialisten insbesondere im geringeren Grad des ausgeübten Terrors gegenüber der Gesellschaft unterschieden habe. Unter Hinweis auf die offensichtlichen Unterschiede zwischen beiden Herrschaftssystemen beim Einsatz von physischer Gewalt gegenüber Andersdenkenden wird der Schluß gezogen, daß die DDR zumindest in den siebziger und achtziger Jahren nicht mehr als totalitäre Gesellschaft beschrieben werden könne, da ihr das für diese konstitutive Merkmal des unmittelbaren Terrors gefehlt habe. Während die NS-Diktatur "Berge von Leichen" hinterlassen haben, so die pointierte Zuspitzung dieser Auffassung, habe die DDR lediglich "Berge von Karteikarten" hinterlassen. Tatsächlich sind jedoch die Formen politischer Verfolgung in der DDR bislang nur unzureichend untersucht worden. Eine Darstellung des Gesamtsystems gesellschaftlicher Gleichschaltung steht bis heute aus. Lediglich zu Teilbereichen, insbesondere zum Terror der Nachkriegsjahre und zur politischen Justiz, liegen umfassendere Studien vor. 1 Schon bei oberflächlicher Betrachtung kann freilich konstatiert werden, daß die Herrschaft der SED, die mehr als 40 Jahre lang gegenüber einer mehrheitlich ablehnenden Bevölkerung behauptet werden konnte, auf einem anderem System der Unterdrückung basierte als das der Nationalsozialisten. Neben den kompensatorischen Aspekten einer schließlich nicht mehr zu finanzierenden Sozialpolitik und I Vgl. u. a. Kar) Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945- 1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1979; Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlinl995; Eberhard Wendel, Ulbricht als Richter und Henker - Stalinistische Justiz im Parteiauftrag. Zeugnisse deutscher Geschichte, Berlin 1996; Rudi Beckert, Die erste und die letzte Instanz. Schau- und Geheimprozesse vor dem Obersten Gericht der DDR, Goldbach 1995; Johannes Raschka, ,,Für kleine Delikte ist kein Platz in der Kriminalitätsstatistik". Zur Zahl der politischen Häftlinge während der Amtszeit Honeckers, Berichte und Studien Nr. 11, hrsg. vom Hannah-Arendt-lnstitut für Totalitarismusforschung, Dresden 1997.

92

Hubertus Knabe

den Integrationsangeboten einer vorgeblich antifaschistischen und Befreiung verheißenden sozialistischen Ideologie entwickelte die DDR-Führung insbesondere auf dem Gebiet der unmittelbaren Machtsicherung ein komplexes Instrumentarium der Überwachung und Verfolgung, das in seinen hypertrophen Dimensionen in der Geschichte seinesgleichen sucht. In der Amtszeit von Erich Honecker als Generalsekretär der SED wurden diese Mechanismen struktureller Repression systematisch ausgebaut und mit geradezu wissenschaftlicher Perfektion verfeinert. Ziel war es, politische Kritik schon im Vorfeld zu erkennen und nach Möglichkeit so zu neutralisieren, daß eine strafrechtliche Verfolgung gar nicht mehr erst erforderlich wurde. Aufgabe dieses Beitrages ist es, diesen Wandel repressiver Strategien nachzuzeichnen und das System der "lautlosen" Unterdrückung näher zu analysieren. Dazu sollen zunächst die Gründe für den Wandel der Herrschaftstechniken und die strategischen Überlegungen der für ihre K~nzipierung und Durchführung Verantwortlichen skizziert werden (II). Sodann werden die wichtigsten nicht-strafrechtlichen Formen der Verfolgung, speziell des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), systematisch dargestellt (Ill), um anschließend ihre Anwendung in der Praxis anhand verschiedener MfS-interner Analysen der eigenen "operativen Arbeit" zu veranschaulichen (IV).

II. Herrschaftstechnische Überlegungen in der Ära Honecker Die Tatsache, daß politischer Protest gegen die SED-Herrschaft in den siebziger und achtziger Jahren nicht zwangsläufig zur Inhaftierung oder gar zur Tötung oder Deportierung führte, sondern zunehmend andere, weniger sichtbare Formen der Verfolgung angewandt wurden, war nicht durch ein politisches Konzept allmählicher Demokratisierung verursacht, wie es am Ende der achtziger Jahre in einigen anderen sozialistischen Staaten teilweise der Fall war. Stattdessen waren dafür in erster Linie innen- und außenpolitische Zwangslagen ausschlaggebend, denen sich die SED-Führung mit veränderten Strategien anzupassen suchte. Die Ära Honecker war geprägt durch das Streben der SED-Führung nach internationaler Anerkennung - ohne deswegen Abstriche am Machtmonopol der Parteiführung vorzunehmen. Ging es dabei anfangs vor allem um die Stabilisierung der Eigenstaatlichkeit der DDR, machten bald auch starke wirtschaftliche Gründe die Integration der DDR in die internationale Staatengemeinschaft und in die globale Arbeitsteilung erforderlich. Die Ergebnisse des KSZE-Prozesses banden die DDR dabei in wachsendem Maße an völkerrechtliche Vereinbarungen, die sie nicht mehr einfach ignorieren konnte. Die angespannte wirtschaftliche Situation der DDR zwang die SED insbesondere zur verstärkten Rücksichtnahme auf die Bundesrepublik und die dortige öffentliche Meinung. Mit dem Machtantritt von Michail Gorbatschow wuchs auch im eigenen Lager der Druck, das häßliche Gesicht der poststalinistischen Diktatur durch die Fassade eines zivilisierten europäischen Staates

Strafen ohne Strafrecht

93

zu ersetzen. Wie stark der externe Zwang zur ,,Mäßigung" am Ende war, wird beispielhaft deutlich in den wiederholten Verhandlungen im Politbüro Ende der achtziger Jahre über die Wiener KSZE-Konferenz zum Thema Menschenrechte und über die Implementierung ihrer Ergebnisse in die DDR? Eng damit zusammen hängen auch die inneren Gründe für den Wandel der Repressionsstrategien unter Honecker. Seine Amtszeit war geprägt durch den Versuch, eine Art "aufgeklärte" Diktatur zu schaffen - die nicht nur auf Gewalt, sondern auch auf partieller Zustimmung beruhen sollte, die die Mechanismen der Konfliktaustragung durch Verrechtlichung berechenbarer machen sollte, die gesellschaftliche Großgruppen durch korporativistische Elemente der Machtausübung stärker in das Herrschaftsgefüge einbeziehen sollte, die die einzige staatsfreie Großorganisation - die Kirchen - in den Gesellschaftsaufbau integrieren und bestimmte Ventile schaffen sollte für die zunehmenden Bestrebungen gesellschaftlicher Teilgruppen, sich relativ selbständig und unkontrolliert auszudrücken. Dieses Konzept der "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" kollidierte mit den alten, "groben" Formen der Verfolgung - auch wenn zu keinem Zeitpunkt daran gedacht war, das Machtmonopol der SED, und sei es nur teilweise, aus der Hand zu geben. Im Gegenteil: Differenzierung und Verrechtlichung, Verfeinerung und Mäßigung der kommunistischen Diktatur machten neue Formen der Herrschaftssicherung unumgänglich. Die "lautlose" Durchherrschung der Gesellschaft, in die alle Teile des Systems miteinbezogen waren und politischen Widerspruch bereits im Keim oder - wie Erich Mielke in seinen Reden immer wieder beschwor - schon "vorbeugend" erstickten, war die Antwort auf die neuen Bedingungen und muß heute als das eigentliche Spezifikum der SED-Diktatur erscheinen. Die strategische Bedeutung, die den "weichen" Formen der Verfolgung in der Ära Honecker zukam, läßt sich insbesondere anband der Arbeit des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nachzeichnen, das seit den frühen siebziger Jahren seine Bemühungen umfassend verstärkte, mißliebiges Verhalten ohne Anwendung 2 Vgl. Protokoll Nr. 49 der Politbürositzung am 8. 12. 1987, Tagesordnungspunkt 15: Direktive für das weitere Auftreten der DDR-Delegation in der Redaktionsphase des Wiener Folge-Treffens der Teilnehmerstaaten der KSZE für die Bereiche Menschenrechte und humanitäre Fragen. In der als Anlage beigefügten Direktive wird darauf hingewiesen, daß sich die DDR, zusammen mit Rumänien, aufgrund der vom Politbüro vorgegebenen Verhandlungslinie in Wien zunehmend isoliere und die Gefahr bestehe, daß sie "allein den Konsens verweigern müßte". Aus diesem Grunde werden Vorschläge für zusätzliche Zugeständnisse wie z. B. Reiseerleichterungen gemacht, die vom Politbüro auch akzeptiert wurden. Ähnlich auch das Protokoll der Sitzung des Sekretariates des Zentralkomitees der SED am 16. 3. 1988, Tagesordnungspunkt 3: Zum gegenwärtigen Stand der Arbeit des Wiener KSZE-Folgetreffens im Menschenrechts- und humanitären Bereich. Ein weiteres Mal befaßte sich das Politbüro am 3. und am 7. I. 1989 mit der schwierigen Situation der DDR-Verhandlungsdelegation auf der Wiener KSZE-Konferenz, und am 6. 6. 1989 beschloß es eine Erweiterung der Aufgaben des DDR-Komitees für Menschenrechte, "um die wirkungsvolle politisch-offensive Darstellung der Verwirklichung der Menschenrechte in der DDR zu erhöhen"; SAPMO-BuArch Bin DY 30 J IV 2/2 2251 , DY 30 J IV 2/3/4232, DY 30 J IV 2/2/2309, DY 30 J IV 2/2/2310, DY 30 J IV 213/4405.

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Hubertus Knabe

des Strafrechtes negativ zu sanktionieren. In einem Lehrmaterial der MfS-Hochschule war 1972 erstmals von neuen "Bedingungen des Klassenkampfes" die Rede, die eine strafrechtliche Bekämpfung der "feindlichen Angriffe" erschwerten, so daß andere Vorgehensweisen notwendig würden. 3 Die 1976 erlassene "Richtlinie Nr. l I 16 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV)" regelte dann im Detail, wie "vor allem vorbeugend ein Wirksamwerden feindlichnegativer Kräfte zu unterbinden, das Eintreten möglicher Schäden, Gefahren oder anderer schwerwiegender Folgen feindlich-negativer Handlungen zu verhindem und damit ein wesentlicher Beitrag zur kontinuierlichen Durchsetzung der Politik der Partei- und Staatsführung zu leisten "sei.4 Der "Abschluß" eines Vorgangs d. h. die Form der schließliehen Sanktionierung - habe stets den politischen Interessen der DDR zu dienen und den größten sicherheitspolitischen Nutzen zu erbringen. Daß dafür die "lautlosen" Formen der Repression oftmals besser geeignet seien, wurde in analytischen Ausarbeitungen des MfS immer wieder betont. Unumwunden hieß es beispielsweise im Lehrmaterial der Sektion politisch-operative Spezialdisziplin an der Juristischen Hochschule (JHS) des MfS: ,,Aus politischen Gründen ist es oft nicht zweckmäßig und gesellschaftlich nützlich, auf verschiedene Straftaten mit Maßnahmen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu reagieren, obwohl dafür die gemäß dem Strafrecht erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind. ( ... ) Feindlich tätige Personen, die einen ideologisch zersetzenden Einfluß auf Bürger der DDR ausübten, sind- zur Untätigkeit gezwungen und in Freiheit befindlich- weit weniger gefährlich als inhaftierte ,Märthyrer'. ( .. . )Unter den genannten Bedingungen müssen geeignete nichtstrafrechtliche Maßnahmen zur Anwendung gelangen, die eine rechtzeitige und wirksame Verhinderung feindlicher Tätigkeit gewährleisten (Hervorhebungen im Original)."5

Denselben Grundsatz, nur wesentlich schlichter, formulierte auch Erich Mielke, als er 1985 in einer Rede sagte: "Ihr wißt, daß wir aus politischen, aber auch aus operativen Gründen nicht alle Feinde sofort festnehmen, obwohl dazu die rein rechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Wir kennen diese Feinde, haben sie unter Kontrolle und wissen, was sie vorhaben. Im Interesse der 3 Ministerium für Staatssicherheit (MfS), Juristische Hochschule (JHS) Potsdam, Lehrmaterial zum Thema: Anforderungen und Wege für eine konzentrierte, offensive, rationelle und gesellschaftlich wirksame Vorgangsbearbeitung, Teil XIII, GVS JHS 252172/XIII, Potsdam 1972, S. 3 ff. 4 Richtlinie Nr. I I 76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge (OV), GVS MfS o008- I00 I 76, abgedruckt in: David Gill I Ulrich Schröter, Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums, Berlin 1991, hier S. 349. s MfS, JHS Potsdam, Lehrmaterial zum Thema: Anforderungen und Wege für eine konzentrierte, offensive, rationelle und gesellschaftlich wirksame Vorgangsbearbeitung, II. Kapitel, GVS JHS 001-11178, Potsdam 1977, S. 10 ff.; wortgleich übernommen auch in: JHS Potsdam I Juristische Fachschule Potsdam (Hgg.), Hochschuldirektstudium I Fachschulstudium Rechtswissenschaft, Lehrstuhl I, Studienmaterial, Teil III, VVS JHS oOO I - 190 I 85 I III, Potsdam 1986, S. 68 f.

Strafen ohne Strafrecht

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Durchsetzung der offensiven Politik der Partei wird der Zeitpunkt bestimmt, der politisch am zweckmäßigsten ist, um zuzuschlagen." 6

Ende der achtziger Jahre erlangten die unsichtbaren Repressalien in den strategischen Überlegungen der Staatssicherheit sogar "das Primat vor strafrechtlichen und anderen restriktiven Maßnahmen", weil man "das gewachsene Erfordernis (sah), die Entstehung und das Wirksamwerden feindlich-negativer Personenzusammenschlüsse noch wirkungsvoller vorbeugend zu verhindern". 7 Das MfS leiste "durch diese ,lautlose' Form der Bekämpfung von feindlich-negativen Aktivitäten im Sinne politischer Untergrundtätigkeit einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung der Dialogpolitik unserer Partei sowie zur Stärkung des internationalen Ansehens der DDR." Dieses Vorgehen sei aufgrund veränderter Lagebedingungen zu einem "politischen Erfordernis" geworden und ziele darauf ab, "durch verschiedene operative Maßnahmen eine subtile Einflußnahme auf die Psyche der operativ bearbeiteten Personen in der Weise vorzunehmen, daß deren operativ relevante, handlungsmotivierende Einstellungen und Überzeugungen allmählich im Interesse der operativen Einflußnahme verändert werden." 8 111. Formen nicht-strafrechtlicher Verfolgung in der DDR

Zuständig für die Absicherung der SED-Herrschaft nach Innen war in erster Linie das Ministerium für Staatssicherheit, obgleich auch die anderen von der Partei kontrollierten Institutionen mehr oder weniger intensiv eingebunden waren in das System politischer Disziplinierung. Durch die Erhaltung und Zugänglichmachung eines erheblichen Teils der MfS-internen Unterlagen besteht heute die Möglichkeit, die kommunistischen Verfolgungsstrategien im Nachhinein detailliert zu rekonstruieren. Auf normativer Ebene finden sich ausführliche Anweisungen sowie umfangreiche Schulungsmaterialien, in denen Ziele, Metboden und erwartete Wirkungen der politischen Repression ausführlich beschrieben werden. 9 Das prakti6 Schlußwort von Erich Mielke auf der Delegiertenkonferenz der SED-arundorganisation IX im MfS am 27. II. 1985, zitiert nach: Frank Ehrhardtl Rolf Kleine I Günter Stark I Günter Thiemig I Brigitte Wagner, Die politisch-operative Bearbeitung von feindlich-negativen Personenzusammenschlüssen, die im Sinne politischer Untergrundtätigkeit wirken, in Operativen Vorgängen, VVS JHS 0001-231/89, Potsdam 1989, S. 210. 7 JHS Potsdam (Hg.), Hochschuldirektstudium Rechtswissenschaft, Studienmaterial "Die politisch-operative Bearbeitung von feindlich-negativen Personenzusammenschlüssen, die im Sinne poilitischer Untergrundtätigkeit wirken, in Operativen Vorgängen, VVS JHS oOOI91189, Potsdam 1989, S. 228 f.; in ähnlicher Formulierung: Frank EhrhardtiRolf Kleine/ Günter Stark I Günter Thiemig I Brigitte Wagner, Die politisch-operative Bearbeitung, a. a. 0. (Anm. 6), S. 269. 8 BVfS Erfurt, Abt. XX, Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung im Rahmen der operativen Bearbeitung feindlich-negativer Personenzusammenschlüsse, VVS-024, BVfS Eft Nr. 30/89, dokumentiert in: Bürgerkomitee des Landes Thüringen e.V., Agonie und Auflösung des MfS. Streiflichter aus dem Bezirk Erfurt, Suhl o.J. (1996), S. 56 f.

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Hubertus Knabe

sehe Vorgehen geht vor allem aus den operativen Vorgängen selbst sowie aus Analysen und Auswertungen der Juristischen Hochschule oder der Ministeriumsspitze hervor.

Terminus technicus bei den nicht-strafrechtlichen Verfolgungsformen ist in erster Linie der- eigentlich aus der Biologie stammende- Begriff der ,,zersetzung", der seit Anfang der siebziger Jahre einen zentralen Stellenwert in den Strategien des MfS bekam. Zuvor spielte er bereits bei der Verfolgung von "feindlichen" Stellen und Personen im Westen eine Rolle, über die das MfS keine staatliche Sanktionsgewalt hatte. 10 Als operativer Begriff geheimdienstlicher Arbeit wurde er aber schon in den zwanziger Jahren verwendet, als der Nachrichtendienst der KPD einen eigenen "Zersetzungsapparat" aufbaute, der in der Weimarer Republik die bewaffneten Verbände infiltrieren und kampfunfähig machen sollte. 11 Dem MfS-"Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit" zufolge bedeutete "operative Zersetzung", mit verschiedenen politisch-operativen Aktivitäten auf feindlich-negative Personen, insbesondere auf ihre feindlich-negativen Einstellungen und Überzeugungen Einfluß zu nehmen, so daß "diese erschüttert oder allmählich verändert werden bzw. Widersprüche sowie Differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften hervorgerufen, ausgenutzt oder verstärkt werden". 12 Was sich dahinter verbarg, wurde in der Richtlinie I I 76 ausführlich geregelt, in der insgesamt sieben "bewährte anzuwendende Formen der Zersetzung" und fünf "bewährte Mittel und Methoden" beschrieben werden - von der "systematischen Diskreditierung des öffentlichen Rufes" über die "systematische Organisierung beruflicher ~nd gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen" bis hin zur "Vorladung von Personen zu staatlichen Dienststellen oder gesellschaftlichen Organisationen mit glaubhafter oder unglaubhafter Begründung"; für die Durchführung sollten vorrangig zuverlässige und bewährte Inoffizielle Mitarbeiter (IM) eingesetzt werden. Darüber hinaus werden in der Richtlinie noch andere Bearbeitungsmethoden wie das "Herausbrechen von Personen aus feindlichen Y Von diesen Verfolgungsbestimmungen, Schulungsmaterialien und "wissenschaftlichen" Analysen des MfS ist bislang leider nur ein Bruchteil veröffentlicht; vgl. Richtlinie Nr. 1176, a. a. 0. (Anm. 4); Richtlinie Nr. l/81 über die Operative Personenkontrolle (OPK), GVS MfS o008- 14/82; Dienstanweisung Nr. 3/85 zur politisch-operativen Kontrolle und Auswertung von Postsendungen durch die Abteilung M, GVS MfS o008 -10/85, beide in: Gill/ Schröter, a. a. 0 . (Anm. 4), S. 322 ff. und S. 403 ff.; Dienstanweisung Nr. 2/85 zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit, VVS MfS o008 - 6/85, auszugweise in: Karl Wilhelm Fricke, MfS intern. Macht, Strukturen, Auflösung der DDR-Staatssicherheit, Köln 1991, S. 146 ff.; BVfS Erfurt, Abt. XX, Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung, a. a. 0. (Anm. 8). IO Ebenda, S. 12 f. Vgl. auch: Hubertus Knabe, Die Stasi als Problem des Westens. Zur Tätigkeit des MfS im "Operationsgebiet", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/1997, 5. 12. 1997. II Vgl. Bernd Kaufmannet al., Der Nachrichtendienst der KPD 1919-1937, Berlin 1993. 12 Siegfried Suckut (Hg.), Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur "politisch-operativen Arbeit", Berlin 1996, S. 422.

Strafen ohne Strafrecht

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Gruppen", die "Arbeit mit operativen Legenden und operativen Kombinationen" sowie die ,,Einbeziehung von Kräften anderer Staats- und wirtschaftsleitender Organe" festgeschrieben. 13 Im Lehrmaterial der MfS-Hochschule werden diese Verfolgungsinstrumente auf rund 50 Seiten konkretisiert und mit Beispielen unterlegt. Zur Methode "beruflicher Mißerfolg" heißt es etwa u. a.: ,,Die Wirkung beruht darauf, daß ein Verdächtiger, der über längere Zeit und mit einer bestimmten Intensität berufliche oder gesellschaftliche Mißerfolge erlebt, psychisch stark belastet und beeinflußt wird. Das kann schließlich zur Erschütterung oder zum Verlust des Selbstvertrauens führen. Damit wird der Betreffende vor allem mit sich selbst beschäftigt und muß nach Wegen suchen, seine persönlichen Schwierigkeiten zu überwinden. Die Lösung der für ihn so bedeutsamen Konfliktsituationen läßt zumeist keine Zeit für staatsfeindliche Handlungen bzw. der Verdächtige verfügt nicht über die dafür notwendige ,psychische Kraft'." In eine ähnliche Richtung zielt die Methode "Vorladung", zu der u. a. ausgeführt wird: "Eine solche Vorladung muß so angelegt werden, daß sie bei der betreffenden Person Zweifel und gründliches Nachdenken über das Warum, Wozu und ähnliche Fragen bewirkt. Das Ziel besteht darin, Unsicherheit zu erzeugen, Verwirrung, Unglaubwürdigkeit usw. hervorzurufen. Mit der betreffenden Person können z. B. Gespräche geführt werden, deren Inhalt nichts mit den im Operativen Vorgang zu klärenden Verdachtsgründen zu tun hat oder die scheinbar völlig abwegig sind bzw. seltsam und unmotiviert anmuten. Bei einer Wiedergabe dieser Unterredung gegenüber der Gruppe bzw. einzelnen Mitgliedern wird das häufig mit Mißtrauen und Zweifel aufgenommen und- wie beabsichtigt- die Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit erheblich in Frage stellen." 14 Ähnliche Handlungsanweisungen finden sich auch zu den übrigen Formen und Methoden der Zersetzung. In der Praxis waren die Mitarbeiter des MfS jedoch dazu angehalten, ,jeglichen Schematismus zu vermeiden und einen originellen, der Situation angepaßten Weg auszuarbeiten". 15 Eine schablonenhafte, formale Vorgehensweise sei nicht statthaft, denn "die Entwicklung und Organisierung von personen- und sachverhaltsbezogenen Zersetzungsmaßnahmen muß als ein schöpferischer Prozeß angesehen werden" . 16 Wie dies im einzelnen aussah, geht in der Regel aus den operativen Akten hervor, die jedoch - nicht zuletzt aus Gründen des Opferschutzes - wissenschaftlich bislang nicht systematisch ausgewertet wurden. Die verschiedenen Publikationen der Betroffenen 17 und die analytischen Arbeiten der MfS-Hochschule Richtlinie Nr. 1176, a. a. 0. (Anm. 4), S. 381 ff. JHS Potsdam I Juristische Fachschule Potsdam, Studienmaterial, a. a. 0 . (Anm. 5), S. 88 und S. 90; wortgleich auch in der Ausgabe von 1977: MfS, JHS Potsdam, Lehrmaterial, a. a. 0. (Anm. 5), S. 23 und S. 30. 15 Ebenda, S. 22. 16 BVfS Erfurt, Abt. XX, Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung, a. a. 0. (Anm. 8), S. 65. 17 V gl. u. a.: Michael Beleites, Untergrund. Ein Konflikt mit der Stasi in der Uran-Provinz, Berlin 1992; Jürgen Fuchs, Bearbeiten, dirigieren, zuspitzen. Die ,)eisen" Methoden des 13

14

7 Timmermann

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Hubertus Knabe

vermitteln allerdings bereits jetzt einen vielsagenden Einblick in die tatsächlich angewandten Methoden. Zu den "weichen" Formen der Verfolgung im Zuge bewußter Zersetzungsstrategien zählten danach insbesondere: - die systematische, in der Regel unsichtbare, manchmal aber auch demonstrative Überwachung und Bespitzelung der Betroffenen durch hauptamtliche und Inoffizielle Mitarbeiter sowie durch Abhörmaßnahmen und Postkontrolle, um Ansatzpunkte für das eigentliche Vorgehen zu finden bzw. um die Betroffenen einzuschüchtern; - die gezielte Gewährung von Vergünstigungen wie West-Reisen, Urlaubsplätze, Auszeichnungen, Möglichkeiten des beruflichen Aufstieg, Zuteilung einer großzügigen Wohnung etc., um den Betreffenden zu korrumpieren oder zu kompromittieren; - die systematische Unterbindung von Kontakten, insbesondere zwischen Ost und West, durch Ein- oder Ausreiseverbote, Zurückhaltung oder Beschlagnahme von Postsendungen, Störung von Telefongesprächen, Unterbrechung von "Verbindungslinien" etc.; - die organisierte Erzeugung von beruflichen, politischen und persönlichen Mißerfolgen, um die Betroffenen zu verunsichern, zu entmutigen und ihr Selbstvertrauen zu untergraben; - die gezielte Zurückdrängung und Zerstörung von "feindlich-negativen" Überzeugungen und Aktivitäten durch massierten IM-Einsatz, Demontage von Vorbildpersonen und Weltbildern, Entpolitisierung und "Theologisierung" von kirchlichen Gruppen, Verhinderung von gemeinsamen Stellungnahmen, Bindung durch andere Arbeiten, Angebote zur gesellschaftlichen Mitarbeit, Forcierung von Übersiedlungswünschen etc.; - die zielstrebige Förderung und Eskalierung von Mißtrauen, Differenzen, Desorganisation sowie Konflikten aller Art, vor allem über Inoffizielle Mitarbeiter MfS, in: Klaus Behnke I Jürgen Fuchs (Hg.), Zersetzung der Seele. Psychologie und Psychatrie im Dienste der Stasi, Harnburg 1995, S. 44 ff.; ders.: Landschaften der Lüge, Teil I-V, in: Der Spiegel, Nr. 4111991-5111991 ; ders.: Politisch-operatives Zusammenwirken und aktive Maßnahmen, in: Analysen und Berichte Nr. 311993, hrsg vom Bundesbeauftragten flir die Stasi-Unterlagen (BStU), Berlin 1993, S. 13 ff.; ders: Unter Nutzung der Angst. Die "leise" Form des Terrors - Zersetzungsmaßnahmen des MfS, BF informiert 211994, hrsg. vom BStU, Berlin 1994; Rainer Kunze, Deckname ,,Lyrik". Eine Dokumentation, FrankfurtiMain 1990; Hans Joachim Schädlich (Hg.), Aktenkundig, Berlin 1992; Stasi-Akte "Verräter". Bürgerrechtler Templin: Dokumente der Verfolgung, Spiegel-Spezial Nr. 111993; Wolfgang Templin I Sigrun Wemer I Frank Ebert, Der Umgang des Staates mit oppositionellem und widerständigem Verhalten, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland", hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden und Frankfurt am Main 1995, Band VII,2, S. 1654 ff.; Vera Wollenberger, Virus der Heuchler. Innenansicht aus Stasi-Akten, Berlin 1992.

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und Partner des "politisch-operativen Zusammenwirkens" (POZW), um Kräfte zu absorbieren, politisch unerwünschte Aktivitäten einzuschränken, Gruppen zu spalten (,,Bildung von Kontergruppen"), eine Tendenz zur Beschäftigung "mit sich selbst" auszulösen, Lähmungen oder Resignation zu verursachen; - die gezielte Komprimittierung und Isolierung der Betroffenen durch Anspielungen, Gerüchte, Desinformationen, Täuschungen und andere Formen der Einflußnahme auf seine Umgebung - zentriert um Unterstellungen wie berufliches Versagen, Homosexualität, "unmoralische" Lebensweise, pornographische Interessen, Ehebruch, Geldgier, Alkoholismus, kriminelle Handlungen, Charakterschwächen, Kontakte zu rechtsextremen Kreisen, "unsaubere" Vergangenheit, Verbindungen zu westlichen Geheimdiensten oder - bezeichnend genug und besonders häufig- Spitzeltätigkeit für das MfS; 18 - Formen des Psychoterrors wie anonyme oder pseudonyme Briefe, regelmäßige (nächtliche) Telefonanrufe, Drohungen und Beschimpfungen, Zerstörung von Liebes- oder Familienbeziehungen durch Organisierung von Mißtrauen, Konflikten und Entfremdung, Vortäuschen außerehelicher Verhältnisse, massenhafte Aufgabe fiktiver, z.T. diskreditierender Annoncen und Bestellungen, "Erzeugung hysterischer und anderer depressiver Verhaltensweisen bei Personen, die psychisch relativ leicht zu beeinflussen sind"; 19 - Disziplinierung durch Maßnahmen von "Partnern des operativen Zusammenwirkens" und der Kirchen wie Vorladungen zu Vorgesetzten, Leitern von Bildungseinrichtungen (Schulen, Universitäten), zu Leitungsgremien von SED, FDJ, anderen Parteien oder Massenorganisationen, zu ,,Aussprachen" mit den Behörden, namentlich der ,,Linie" Kirchenfragen, negative Sanktionen im Ausbildungsbereich, im Beruf oder in Reisefragen (Nichtzulassung zur Erweiterten Oberschule oder zum Studium, Relegierung oder Exmatrikulation, Verhinderung des beruflichen Aufstiegs, Publikationsverbot, Berufsverbot, Ablehnung von Reiseanträgen), gezielte Einberufung zum Wehrdienst oder zu Reserveübungen, Ausschluß aus Parteien oder Massenorganisationen; - Disziplinierung durch repressive Maßnahmen unterhalb der Ebene strafrechtli:. eher Verurteilungen wie Ermittlungen der Polizei oder des MfS, Hausdurchsuchungen, Zuführungen, Vernehmungen, Beschlagnahmungen, Einziehung des Fahrzeuges, Ausbürgerungen, Aufenthaltsbeschränkungen (Hausarrest, BerlinVerbot u.ä.), Arbeitsplatzbindung, Zuweisung weit entfernter Arbeitsplätze, Befragungen durch Zoll- oder Steuerorgane, Aussprachen bei den Abteilungen Inneres, gezielte Kriminalisierung, Verhängung von Ordnungsstrafen, Ausstellung eines behelfsmäßigen Personalausweises (PM 12) oder Entzug des Führerscheins, (angedrohter) Entzug des Erziehungsrechtes für die eigenen Kinder, ge18 Vgl. auch: Bemd Eisenfeld, Gerüchteküche DDR- Die Desinformationspolitik des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Werkstatt Geschichte 15 (1996), S. 41 ff. 19 BVfS Erfurt, Abt. XX, Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung, a. a. 0. (Anm. 8), S. 63.

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zielte Einschüchterung durch strafrechtliche Maßnahmen gegen andere Personen etc.; gezielte Kriminalisierung der Betroffenen wegen vordergründig unpolitischer "Delikte" wie Zoll- oder Steuervergehen, Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch "asoziales Verhalten" (§ 249 StGB), Verführung Minderjähriger etc.; Einschüchterung oder womöglich Ausschaltung der Betroffenen durch sogenannte "spezielle", "offensive" oder "aktive" Maßnahmen wie vorsätzliche Beschädigungen am Fahrzeug, Inszenierung krimineller Handlungen (Raub, Einbruch, Überfall) falsche ärztliche Behandlung, körperliche Gewalt, Vergiftung von Lebensmitteln, Förderung von Suizidbereitschaft sowie u.U. auch Tötungsversuche - wenngleich derartige Zersetzungsmaßnahmen aus den Akten nur selten belegt werden können. 20 Diese - keineswegs vollständige - Auflistung macht deutlich, wie vielfältig die gezielt eingesetzten "lautlosen" Formen der Verfolgung waren und wie wirksam sie insbesondere durch ihre strategische Kombination werden konnten; zu Recht sprach das MfS deshalb von einer "Vielschichtigkeit und praktischen Unbegrenztheit operativer Zersetzungsmethoden". 21 Ihre Auswirkungen wurden in der Regel durch Inoffizielle Mitarbeiter sorgfältig registriert und in Sachstands-, Monatsoder Kontrollberichten festgehalten. Waren die Maßnahmen in den Augen des MfS erfolgreich, konnte der Vorgang zum Abschluß kommen - waren sie es nicht, wurden weitere Eingriffe festgelegt und deren Ausführung kontrolliert. Im Extremfall konnte es dann später in der Vorgangsakte heißen:

20 Ehemalige DDR-Bürgerrechtler haben wiederholt von "Vorfällen" dieser Art berichtet, in den operativen Akten aber keine schriftlichen Zeugnisse darüber gefunden. Im Fall von Rainer Eppelmann und Ralf Hirsch fanden sich Hinweise auf weitgehende Zersetzungspläne der zuständigen Bezirksverwaltung ftir Staatssicherheit Berlin, die später eine Maßregelung nach sich zogen. Danach bestanden "Gedankengänge", Hirsch "in einer strengen Winternacht Alkohol einzuflößen, daß er erfriert" und "weitere Vorstellungen an Zersetzungsmaßnahmen" wie ,,Anbohren der Bremsleitung von Autos, in Paketen enthaltenen Flaschen was reinmischen". Die Operation "Rache" sah vor, Hirsch "wird brutal zusammengeschlagen". In einem internen Überprüfungsbericht hieß es dazu resümierend, die MfS-Mitarbeiter Hasse und Kappis hätten ,Jn einer nicht mehr Zahl von Fällen in schwerwiegender Form" die Festlegungen eindeutig bestimmbaren der Richtlinie 1/76 über Zersetzungsmaßnahmen verletzt. Grundsätzlich sollten die Maßnahmen nämlich so beschaffen sein, daß das MfS nicht selber strafrechtlich relevanter Handlungen beschuldigt werden konnte. BStU, ZA, MfS ZAIG 13748, Blatt 70 und 72; ZAIG 2, Bericht über wesentliche Ergebnisse der Überprüfung in der Abteilung XX der BV Berlin vom 05. 01. 1989, BStU, BF, Ordner IM "Czerny", S. 8; vgl. Der Spiegel Nr. 52/1990, S. 44; Sonja Süß, Subtilere Formen der Repression in der späteren DDR - Strategien der Zersetzung des MfS gegen ,,feindlich-negative" Gruppen und Personen. Studie im Auftrag der Enquete-Kommission, Berlin o.J. (1997), (unveröffentlichtes Manuskript), S. 54 ff. 21 BVfS Erfurt, Abt. XX, Die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung, a. a. 0. (Anm. 8), S. 60.

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,,Die im Berichtszeitraum weiter angestiegene Zahl der Suizidversuche und -absichten ist als Ausdruck einer Tendenz der Ausweglosigkeit, Labilität, Resignation sowie nicht bewältigter persönlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Konflikte unter einem Teil des operativ interessierenden Personenkreises zu werten."22

IV. Praktische Vorgehensweisen des MfS Der systematische Einsatz der geschilderten Formen politischer Verfolgung unter Vermeidung strafprozessualer Maßnahmen wird besonders plastisch in den Diplomarbeiten und Dissertationen von MfS-Mitarbeitem, in denen diese ihre praktischen Erfahrungen auf diesem Gebiet ausgewertet und verallgemeinert haben, um damit, wie es hieß, einen "Beitrag zur Qualifizierung der politisch-operativen Arbeit" zu leisten. 23 Diese Arbeiten konzentrieren sich auf die Bereiche Kirche, Kul22 BStU, Ast. Gera, AOP 449/84, OV "Qualle", zitiert nach: Jürgen Fuchs, Politisch-operatives Zusammenwirken und aktive Maßnahmen, in: Analysen und Berichte Nr. 3/1993, hrsg. vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU), Berlin 1993, S. 24. 23 Gustav Moldt, Der Einsatz von politisch-operativen Zersetzungsmaßnahmen gegen politische Untergrundtätigkeit am Beispiel der evangelischen Studentengemeinde Güstrow, VVS JHS 360/77, Potsdam 1977, BI. 4. Vgl. ferner: Uwe Breitreiter, Der Einsatz politischoperativer Zersetzungsarbeiten gegen Erscheinungen des politischen Untergrundes reaktionärer klerikaler Kräfte im Prozeß der Vorgangsbearbeitung, VVS JHS 301/77, Potsdam 1977 (Diplomarbeit); Jürgen Fiedler, Erfahrungen beim Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Kräften zur Realisierung wirksamer Zurückdrängungs- und Zersetzungsmaßnahmen gegen feindliche bzw. negative Personenkreise aus dem kirchlichen Bereich am Beispiel sogenannter Friedenskreise, VVS JHS 204/86, Potsdam 1986 (Abschlußarbeit im postgradualen Studium); Gunter Heydel, Die Aufgaben des Leiters einer Kreisdienststelle bei der Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung in der Bearbeitung operativer Vorgänge auf dem Gebiet der Bekämpfung konterrevolutionärer Kräfte unter Kirchenkreisen, VVS JHS 309/79, Potsdam 1979; Hartmut Kullik, Zur Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung in der operativen Vorgangsbearbeitung zur Einschränkung-und Verhinderung feindlicher Aktivitäten in den Kirchen der DDR, VVS JHS 279/78, Potsdam 1978; Peter Mörstedt, Die Notwendigkeit und die Formen der Einbeziehung staatlicher und gesellschaftlicher Kräfte in die vorbeugende Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung von Erscheinungsformen der politischen Untergrundtätigkeit und in die Realisierung operativer Zersetzungsmaßnahmen, VVS JHS 351/86, Potsdam 1986; Frank Stötzer, Die Anwendung spezifischer Zersetzungsmaßnahmen im Rahmen der Bearbeitung von Operativen Vorgängen zur Bekämpfung feindlichnegativer Erscheinungen unter jugendlichen Personenkreisen im Verantwortungsbereich einer Kreisdienststelle, VVS JHS 332/83, Potsdam 1983; Joachim Tischendorf, Der Einsatz von politisch-operativen Zersetzungsmaßnahmen im Rahmen der operativen Vorgangsbearbeitung gegen Erscheinungen des politischen Untergrunds im Verantwortungsbereich der Linie XX/7, GVS JHS 74176, Potsdam 1976; Rainer Wagner, Der erfolgreiche Abschluß von OV durch Maßnahmen der Zersetzung gegen feindlich-negative Gruppen I Gruppierungen, welche im Sinne der politischen Untergrundtätigkeit aktiv wurden- untersucht am OV ,Jnspirator" der KD Weimar, VVS JHS 285/86, Potsdam 1986; Günter Ziegenbalg, Die Durchführung von Maßnahmen der Zersetzung gegen eine Konzentration von feindlich-negativen Personen, im Zusammenhang mit der rechtswidrigen Antragstellung auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR, VVS JHS 344178, Potsdam 1978 (Diplomarbeiten); Erich Falz/Fritz Meyer, Klaus Herzog/Gunter Liebewirtb/Horst Sachse/Hans-Georg Schulze/

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tur, Ausreiseantragsteller, Jugend und unabhängige politische Gruppen, womit zugleich die vorrangigen Zielgruppen von Zersetzungsmaßnahmen in der DDR benannt sind. Namentlich die Kirchen, zu denen die meisten dieser Arbeiten verfaßt wurden, galten als ein Feld, auf dem "die Anwendung von langfristig geplanten Maßnahmen der Zersetzung unabdingbare Voraussetzung" sei für die Unterstützung der Politik von Partei und Regierung24 - ihnen gegenüber hatten das MfS bei seinem Vorgehen frühzeitig politische Rücksichten zu beachten. Drei dieser Arbeiten sollen im folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Als einer der ersten hat 1976 der damalige Mitarbeiter der für Kultur zuständigen Hauptabteilung XX/7, Hauptmann Joachim Tischendorf, Erkenntnisse aus der Anwendung von "Zersetzungsmaßnahmen ( .. . ) gegen Erscheinungen des politischen Untergrundes" in seinem Bereich verallgemeinert. 25 Die Notwendigkeit derartiger Maßnahmen begründete er einerseits mit den besonderen Einfluß- und Arbeitsmöglichkeiten von Künstlern und Schriftstellern, andererseits mit der Verantwortung des MfS, "daß die Politik unserer Partei auf außenpolitischem Gebiet vollkommen ungestört durchgeführt werden kann". Es dürfte dem Gegner nämlich auf keinen Fall gelingen, aus der Bekämpfung solcher potentiellen Feinde wie Biermann oder Havemann politisches Kapital zu schlagen.26 Unabhängig vom Einsatz dieser Maßnahmen müßten aber trotzdem weiterhin strafprozessual verwertbare Beweise erhoben werden, damit mit deren Hilfe "beispielsweise in einer veränderten politischen Situation (Spannungs- oder Krisensituation) bei bestehender Notwendigkeit jederzeit auch zu strafrechtlichen Sanktionen gegen die bearbeiteten Personen gegriffen werden" könne.27 Grundlage des Vorgehens müsse ein auf gründlicher Analyse des Vorgangsmaterials basierender "Plan der Zersetzung" sein, für dessen Aufstellung und Durchführung dem jeweiligen Leiter besondere Verantwortung zukomme. Dabei komme es besonders auf die Herausarbeitung der politischen, moralischen und persönlichen Hans-Dieter Tronicke I Reinhard Grimmer I Gerhard ScherfI Uwe Kästen, Die Qualifizierung der politisch-operativen Arbeit des MfS zur vorbeugenden Verhinderung und Bekämpfung der gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR gerichteten politischen Untergrundtätigkeit, VVS JHS 001-200179, Potsdam 1979; Hans-Dieter TroilickeiWolfgang Weißleder I Gerhard Steiniger I Klaus Stirzell Frank Ehrhardt, Grundorientierungen für die politischoperative Arbeit des MfS zur Aufdeckung, vorbeugenden Verhinderung und Bekämpfung der Versuche des Feindes zum Mißbrauch der Kirchen für die lnspirierung und Organisierung politischer Untergrundtätigkeit und die Schaffung einer antisozialistischen "inneren Opposition" in der DDR, VVS JHS 001-241183, Potsdam 1983; Udo Sievers, Das politisch-operative Zusammenwirken der Diensteinheiten des MfS mit anderen staatlichen Organen, Wirtschaftsorganen und gesellschaftlichen Organisationen bei der Vorbeugung, Aufdeckung und Bekämpfung von Versuchen des Gegners, in der DDR eine politische Untergrundtätigkeit zu inspirieren und zu organisieren (Dissertationen). 24 Kullik (Anm. 23), S. 20. 25 Tischendorf (Anm. 23). 26 Ebenda, BI. 15. 27 Ebenda, BI. 19.

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Widersprüche zwischen den Beteiligten sowie weiterer Ansatzpunkte wie kompromittierendes Material und "empfindlichste Stellen" an. ,,Das verlangt eine gründliche, bis ins Detail gehende Kenntnis der bearbeiteten Person, besonders eben ihrer psychologischen Beschaffenheit."28 Aus dieser Analyse sei sodann die Zielstellung der Maßnahmen abzuleiten, die in der "endgültigen Liquidierung der staatsfeindlichen Tatigkeit", in ihrer "langfristigen Paralysierung", in der Veranlassung "zur Passivität" - etwa aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen - oder im ,,Nachweis anderer strafrechtlich relevanter Handlungen" bestehen könnten. Dabei käme es besonders auf die "Fixierung realer Teil- oder Etappenziele" an. Anschließend müsse eine Einschätzung der vorhandenen bzw. zu schaffenden Kräfte und Mittel vorgenommen werden, namentlich in Bezug auf die Qualifikation und Erfahrung der operativen MfS-Mitarbeiter sowie auf die zur Verfügung stehenden Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) als "Hauptmittel" ftir die Umsetzung. ,,Dabei ist davon auszugehen, daß ftir die direkte Führung der Zersetzungsmaßnahmen in der politisch-operativen Arbeit erfahrene und zuverlässige IM benötigt werden, die politische Zusammenhänge zu erkennen in der Lage sind und die geplanten Maßnahmen unter schöpferischer Mitarbeit in hoher Qualität durchsetzen können. " 29 Ferner komme es auf eine enge Koordinierung der Maßnahmen mit anderen beteiligten Diensteinheiten des MfS an, wozu eine gemeinsame Beratung der Ziele, die ständige Konsultation mit den "unterstützenden" Diensteinheiten (z. B. Postund Telefonkontrolle) sowie "auch Abstimmungen mit den Bruderorganen" erforderlich seien. Schließlich müsse man sich Klarheit darüber verschaffen, wie die staatlichen Stellen und gesellschaftlichen Organisationen die Zersetzungsmaßnahmen unterstützen könnten, wobei den ,,IM in Schlüsselpositionen", d. h. Kulturfunktionäre, die inoffiziell ftir das MfS tätig waren, infolge ihrer Entscheidungsbefugnisse eine besondere Rolle zufiele. Ziel der Zersetzungsmaßnahmen sei es, die objektiv vorhandenen "Widersprüche und Differenzen so zu verstärken und das kompromittierende Material so einzusetzen, daß die bearbeiteten Personen außerstande sind, ihre feindlichen Absichten und Pläne zu verwirklichen." 30 Als ,,Auftakt" der Maßnahmen sollten zunächst "Testmaßnahmen zur Überprüfung der Reaktionen" durchgeführt werden, weil diese vielfach trotz gründlicher Kenntnis der Persönlichkeit anfangs noch unklar seien. "Beispielsweise ist es wichtig zu wissen, wie die bearbeiteten Personen in psychologischen Drucksituationen reagieren, wie sich diese Drucksituationen auf deren Schaffenskraft und Leistungsfähigkeit auswirken, mit wem sie sich in solchen Situationen beraten, ob sie durch andere Personen leichter beeinflußbar oder ansprechbar sind, ob sie vor ihrem eigentlichen feindlichen Verhalten kapitulieren, ob sie in solchen Situationen dem Alkoholleichter zugeneigt sind oder Ablenkung 28

29

30

Ebenda, BI. 30. Ebenda, BI. 36. Ebenda, BI. 46.

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auf sexuellem Gebiet suchen." Allerdings würden auch die Testmaßnahmen noch keine absolute Gewißheit geben, .,daß die betreffenden Personen später genau nach unseren Vorstellungen reagieren". 31 Im einzelnen sollten dann Maßnahmen zur politisch-ideologischen Zersetzung, zur Untergrabung des Vertauensverhältnisses der Personen untereinander, zur Hervorrufung psychologischer Drucksituationen sowie zur laufenden Kontrolle der Personen und· der angewandten Zersetzungsmaßnahmen im Plan Berücksichtigung finden. Dafür macht Tischendorf eine Fülle praktischer Vorschläge - von der .,Schaffung von Widersprüchen über das Ziel bestehender feindlicher Konzeptionen", d. h. von der Schürung politischer Differenzen, bis zur .,Herbeiführung nervenaufreibender kleiner Zwischenfalle" wie Beschädigung des PKW's oder des Wochendhauses sowie häufige Ahndung von Ordnungswidrigkeiten (Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, falsches Parken). Garantie für den Erfolg sei letztlich .,die möglichst genaue Übereinstimmung der konstruierten Fakten mit bestimmten Erwartungen, Wünschen oder auch Befürchtungen der bearbeiteten Personen." 32 In ähnlicher Weise wertete 1978 Hartmut Kullik, langgedienter Major der ftir die Kirchen zuständigen Hauptabteilung XX/ 4, die Anwendung von Maßnahmen der Zersetzung in seinem Arbeitsgebiet aus. 33 Auch für den Bereich der Kirchen geht er davon aus, daß Maßnahmen der Zersetzung als Abschluß von OperativVorgängen immer mehr an Bedeutung gewönnen, .,um das sich weiter positiv entwickelnde Verhältnis Staat-Kirche nicht durch unnötige strafprozessuale Maßnahmen zu stören". 34 Erstrangige Bedeutung ftir einen Erfolg habe dabei immer die Erarbeitung eines Planes der anzuwendenden Maßnahmen, der so konkret und dynamisch wie nur möglich sein müsse, so daß bei notwendigen Korrekturen und Ergänzungen keine generellen Veränderungen erforderlich würden. ,,Nicht die Menge der Maßnahmen, sondern ihre Qualität und die zu erwartende Wirksamkeit sind die entscheidenden Kriterien für die Qualität eines Operativplanes." 35 Dabei werde die Bedeutung der politisch-operativen Analyse teilweise noch unterschätzt, was zur Folge habe, daß nicht alle zur Verfugung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft würden. In den von Kullik ausgewerteten Operativ-Vorgängen sei zielgerichtet nach Widerspruchsbereichen und Ansatzpunkten gesucht worden, u.' a. nach Schwierigkeiten und Konflikten im Beruf und in der Familie, nach charakterlichen Schwächen, nach Hinweisen zu Straftaten der allgemeinen Kriminalität, nach Spannungen und Differenzen in der Gruppe oder nach einer Nichtbefolgung von kirchlichen Anordnungen und Verhaltensweisen etc. Durch Zersetzungsmaßnahmen sei es gelungen, innerhalb mehrerer staatsfeindlicher Gruppen eine Verunsicherung zu erzeugen, 31

Ebenda, BI. 49 f.

32

Ebenda, BI. 61. Kullik (Anm. 23). Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 23.

33 34 3~

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die u. a. durch große Ratlosigkeit, gegenseitiges Mißtrauen und Angst vor weiteren Maßnahmen des MfS gekennzeichnet gewesen sei; die bestehenden negativen Gruppierungen seien zerschlagen worden. Im Bereich der Kirchen gebe es dabei eine Vielzahl von Möglichkeiten, über staatliche Organe Einfluß auf kirchliche Amtsträger zu nehmen und Zersetzungsmaßnahmen in der vom MfS gewünschten Richtung günstig zu beeinflussen, etwa bei offiziellen Gesprächen mit Kirchenverantwortlichen, bei Befragungen zu Problemen der Nichteinhaltung von Bestimmungen oder bei persönlichen Problemen der kirchlichen Amtsträger. Gute Erfahrungen seien damit gemacht worden, dem jeweiligen staatlichen Organ vorher eine schriftlich ausgearbeitete "Argumentationsgrundlage" zur Verfügung zu stellen. "Hauptkräfte" in der operativen Vorgangsbearbeitung seien die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM), deren Instruierung auf die etappenweise festgelegten Maßnahmen und aufgeschlüsselten Aufgaben zugeschnitten sein müsse. "Positiv wirkte sich bei der Gestaltung der Auftragsetteilung der IM in den genannten OperativVorgängen die schöpferische Beratung mit dem IM auf der Grundlage der für ihn erarbeiteten Vorgaben und Einsatzkonzeptionen aus." 36 Die besten Ergebnisse würden dann erreicht, wenn solche IM, die Funktionen in der Kirche bekleideten, in die Beratung für sie gangbarer Wege zielgerichtet einbezogen würden. Kullik wertet auch die Erfahrungen mit "Kompromaten" aus - eine Wortschöpfung des MfS für Erpressungs- und Kompromittierungsmaterial, mit dem Personen bloßgestellt, isoliert oder unter Druck gesetzt werden sollten. 37 Im Kirchenbereich hätten sich dafür insbesondere solche Materialien als geeignet erwiesen, in denen die frühere Zugehörigkeit zu faschistischen Organisationen wie SS oder NSDAP, die Aufbewahrung entsprechender Orden, Ehrenzeichen und Bildmaterials, aber auch frühere kriminelle Delikte, Verletzungen bestehender Rechtsnormen oder abnorme Veranlagungen nachgewiesen worden seien.

,;z. B. wurde im November 1977 ein überprüfter und zuverlässiger IM beauftragt, die bei seinem Onkel (traditionsreiche Pfarrerfamilie) vorhandenen Bilderalben nach einer [ ... ] bearbeiteten Person durchzusehen. [ . . . ] Beim Treff im Januar 1978 konnte der IM tatsächlich unter Wahrung der Konspiration dem Mitarbeiter des MfS ein Bild übergeben, das die [ . .. ] bearbeitete Person in entsprechender Pose und in Uniform der faschistischen Wehrmacht zeigt." 38 In einem anderen Fall sei es gelungen, .,auf der Grundlage eines in Erfahrung gebrachten illegalen Waffenbesitzes [ein altes Gewehr vom Großvater, das auf dem Dachboden aufbewahrt wurde - H.K.] [ ... ] eine aktiv tätige Untergrundgruppierung, die mittels Verbreitung antisozialistischer Schriften bereits Verbindungen in andere sozialistische Länder hergestellt hatte, zu zerschlagen und alle Mitglieder dieser Gruppierung so zu verunsichern, daß sie ihre gegenseitigen Kontakte abbrachen und das sie belastende Material selbst vemichteten". 39 36 37

38

Ebenda, S. 37. Vgl. Das Wörterbuch der Staatssicherheit, a.a.O. (Anm. 12), S. 213 f. Kullik (Anm. 23), S. 45.

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Schließlich gibt Kullik auch praktische Empfehlungen für die Form der Verbreitung von .,Kompromaten", insbesondere bei Briefen und Telefonanrufen - etwa die Verwendung von Briefpapier, Stempeln, gebräuchlichen Ausdrücken oder Spitznamen aus dem zu zersetzenden Personenkreis oder die Simulierung einer bestimmten Geräuschkulisse bei anonymen Anrufen (Kirchenlieder, Unterhaltung über kirchliche Themen). Da die .,operativen Möglichkeiten" bei weitem nicht im vollen Umfang genutzt würden, sollten die Vorgesetzten .,stärker als bisher durch eine gute Anleitung und konkrete Unterstützung der operativen Mitarbeiter auch hierbei ihrer Verantwortung gerecht werden". 40 Ein drittes Beispiel ist die Diplomarbeit von Frank Stötzer, Major in der MfSKreisdienststelle Aue, über Zersetzungsmaßnahmen gegen ,jugendliche Personenkreise" im Ort.41 Aus der breiten Palette der verschiedensten Formen, Mittel und Methoden hebt Stötzer zunächst die Bekämpfung von Einflußpersonen durch systematische Diskreditierung hervor. Er berichtet etwa, wie ein Lehrer, der Kontakt hielt zu kritischen Jugendlichen in einem Jugendclub, mit einem Ermittlungsverfahren nach§ 106 StGB (Staatsfeindliche Hetze) überzogen wurde, weil er ftir die Jugendlichen .,Hetzliteratur" vervielfältigt hatte. Die Gruppe wurde dann .,zersetzt", indem .,im Rahmen von Vernehmungen und Vorbeugungsgesprächen gezielte Maßnahmen zur Diskreditierung der Einflußperson" realisiert wurden: der in Westdeutschland lebende Schwiegervater des Mannes sei angeblich ein in der CSSR in Abwesenheit verurteilter Kriegsverbrecher. In einem anderen Fall wurde gegen den ,,Mentor" eines Kreises von Jugendlichen ein Ermittlungsverfahren mit Haft eingeleitet, nachdem er .,Hetzmaterialien" aus der CSSR in die DDR bringen wollte; der Kontakt zu einer Bekannten in West-Berlin, von der die Materialien stammten, wurde durch verschiedene Maßnahmen (Reiseverbot für ausgewählte Gruppenmitglieder, Fahndung nach dem Postverkehr) gezielt unterbrochen . .,Darüber hinaus wurde durch Zeugenvernehmungen, Vorbeugungsgespräche, Scheinkontaktierungen, Aussprachen durch die Abteilung Inneres beim Rat des Kreises sowie durch aktive Einflußnahme des in der Gruppierung vorhandenen IM derbearbeitete Personenkreis dermaßen verunsichert, daß die Gruppierung zerfiel."42 In einem zweiten Abschnitt hebt der Autor die Bedeutung des Einsatzes von IM hervor- einerseits solcher, die überörtlich einsetzbar seien und zielgerichtet in eine Gruppe eingeführt würden, andererseits solcher, die aus einer bestehenden Gruppierung .,herausgebrochen" worden seien. Was den ersten Typus anbetrifft, seien z. B. Mitarbeiter kultureller Einrichtungen, Laienkünstler, Discothekenunterhalter" oder auch extmatrikulierte Studenten und abgelehnte Studienbewerber .,besonders erfolgreich"; so hätte man etwa einen 24jährigen IM .,zufällig" während des Besuchs einer Kunstausstellung mit den bearbeiteten Personen zusammengeführt, de39 40 41 42

Ebenda, S. 48. Ebenda, S. 50. Stötzer (Anm. 23). Ebenda, S. 25 und S. 27.

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ren Vertrauen er dann erlangt hätte. Beim zweiten Typus seien "natürlich die Berücksichtigung aller Risikofaktoren, umfangreiche Kenntnisse über die Persönlichkeit des Heraus[zu]brechenden sowie seiner Stellung und Rolle innerhalb der Gruppierung" Voraussetzung. So sei beispielsweise ein Jugendlicher "unter Anwendung des zu dem Kandidaten erarbeiteten kompromittierenden Materials ( ... ) für eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS geworben" worden, nachdem mehrere Versuche von anderen IM, vertrauliche Beziehungen herzustellen, gescheitert waren.43 Erfolge bei der Verhinderung "feindlich-negativer Handlungen" seien dann erreicht worden, wenn es dem IM gelungen sei, maßgeblich auf die Jugendlichen Einfluß zu nehmen. So habe beispielsweise eine Gruppe ihren eigenen ,,Friedensaufrur•, für den sie in der DDR Unterschriften sammeln wollte, wieder vernichtet, nachdem der IM Bedenken über dessen Wirksamkeit geäußert und auf die möglichen strafrechtlichen Folgen hingewiesen habe. Die Bedeutung der Inoffiziellen Mitarbeiter wird auch bei der Erörterung von "weiteren" Zersetzungsmaßnahmen betont, die "stets nur im Zusammenhang mit dem zielgerichteten und aufgabenbezogenen IM-Einsatz erfolgreich angewandt" worden seien. Durch die IM seien nicht nur die notwendigen Informationen erarbeitet worden, sondern auch die Reaktionen der bearbeiteten Personen auf die durchgeführten Maßnahmen abgeschöpft und die Wirksamkeit der angewandten Mittel vertieft worden. Als Beispiel schildert Major Stötzer, wie das MfS einen Einbruch bei einem Jugendlichen fingiert habe, der selbstgefertigte Gedichte und Kurzgeschichten in der Bundesrepublik veröffentlichen wollte. In der Folgezeit schürte man dann gezielt - durch einen IM und bei Vernehmungen durch die Kriminalpolizei- gegenseitige Verdächtigungen zwischen dem Jugendlichen und seinem Freundeskreis, denn nur ganz wenige hatten von seiner vorübergehenden Abwesenheit gewußt. Die Gruppe zerfiel darüber, und der Betroffene nahm von weiteren Aktivitäten Abstand. Mit ähnlichen Beispielen illustriert der MfS-Mitarbeiter die Wirkung von "offiziellen Vorbeugungsgesprächen" sowie die Notwendigkeit des "operativen Zusammenwirkens" mit anderen gesellschaftlichen und staatlichen Kräften. Auf diese Weise sei etwa eine geplante Flugblattaktion zum 1. Mai verhindert und der Einfluß einer "negativ-dekadenten Gruppierung" an einer Betriebsschule erfolgreich zurückgedrängt worden. Notwendig sei auch eine weitere ,,Bearbeitung ausgewählter jugendlicher Einzelpersonen nach der erfolgten Zersetzung von jugendlichen Gruppierungen", damit diese nicht erneut aktiv würden.44 Als wirksame Maßnahmen zur "Isolierung" hätten sich z. B. die Unterhaltung von "Scheinkontakten" durch die Sicherheitsorgane, die differenzierte Nutzung gesetzlicher Beauflagungsmöglichkeiten (Arbeitsplatzbindung, Aufenthaltsbeschränkungen, Umgangsverbote) sowie die "gesellschaftliche Auswertung" unmoralischer Verhaltensweisen im Arbeits- und Freizeitbereich erwiesen. 43 44

Ebenda, S. 30 f. Ebenda, S. 44.

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Auch in den übrigen Arbeiten der Juristischen Hochschule zum Einsatz von "Zersetzungsmaßnahmen" werden die "unsichtbaren" Formen der Verfolgung in ähnlicher Ausftihrlichkeit beschrieben sowie anband von praktischen Erfahrungen illustriert und präzisiert. Allen Autoren gemeinsam ist die Betonung des ,,Planmäßigen" beim Vorgehen des MfS und die Bedeutung, die den Inoffiziellen Mitarbeitern bei der Umsetzung zugemessen wird. Darüber hinaus wird immer wieder hervorgehoben, daß die Maßnahmen nicht isoliert betrieben werden sollten, sondern unter Inanspruchnahme des ganzen Spektrums der im Parteistaat zur Verfügung stehenden Mittel und Methoden. In den achtziger Jahren verfeinern sich die Analysen zusehends, indem einzelne Aufgabenstellungen bei der "lautlosen" Bekämpfung von Andersdenkenden- z. B. die Arbeit der Ermittlungsorgane, der Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern oder das Zusammenwirken mit staatlichen und gesellschaftlichen Kräften - als eigenes Thema in allen Einzelheiten beleuchtet werden.

V. Fazit Politische Verfolgung wurde vom Ministeriums für Staatssicherheit in den siebzigerund achtziger Jahren mit zunehmend "feineren" Waffen als in den Jahrzehnten zuvor betrieben. Um die Anwendung des politischen Strafrechtes zu vermeiden, sollten nach Möglichkeit weniger sichtbare, indirekte Disziplinierungsmaßnahmen zum Einsatz kommen. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS sowie die sogenannten "Partner des operativen Zusammenwirkens", zu denen nicht nur das Ministerium für Inneres oder der Rat des Kreises zählten, sondern auch Universitätsleitungen, Betriebsleitungen, Wohnungsverwaltungen, Sparkassenfilialen oder behandelnde Ärzte. Obwohl die Fäden der nichtstrafrechtlichen Verfolgung beim MfS zusammenliefen, hielt es sich bei der Durchführung zumeist im Hintergrund. Ziel der geheimpolizeilich angeleiteten Repression war es, die betroffene Person zunächst in umfassender Weise transparent zu machen, um sie dann in erster Linie psychisch zu beeinflussen und zu steuern. Je nach Reaktion des Betroffenen auf die eingeleiteten Maßnahmen, konnte das Ergebnis am Ende sowohl die ,,Rückgewinnung", als auch die "Lähmung" oder die Inhaftierung der "Unbelehrbaren" sein. Aus der Perspektive vergleichender Diktaturforschung stellt der strategisch geplante, umfassend organisierte und intensiv kontrollierte Einsatz nicht-strafrechtlicher Formen der Verfolgung eine neue Qualität der Herrschaftssicherung dar. Ermöglicht wurde diese vor allem durch den direkten Zugriff des kommunistischen Parteiapparates und seiner Geheimpolizei auf alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen mit Ausnahme der Kirchen und durch einen kontinuierlichen Ausbau des Spitzel- und Überwachungssystems. Die DDR unterschied sich damit in ihrer Spätphase mehr und mehr von anderen, "klassischen" Diktaturen, in denen politische Unterordnung vor allem durch unmittelbare Gewaltanwen-

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dung erzwungen wird. Sie stellte gleichsam eine Diktatur höherer Ordnung dar, die mit einem ausdifferenzierten System sozialtechnischer Steuerungsinstrumente die Menschen zur Unterordnung und zum reibungslosen Funktionieren bewegen wollte.

GULag DDR?- Ökonomische Aspekte des Strafvollzuges in den SOer und 60er Jahren Von Henrik Eberle Alexander Solchenizyn hat wie kein anderer das Bild vom Strafvollzug in den kommunistischen Ländern geprägt. Sein Buch, bescheiden als Versuch einer künstlerischen Bewältigung apostrophiert, gab die noch heute gültigen Bewertungsmaßstäbe für das Gefangnissystem der Sowjetunion und ihrer Satelliten vor. 1 Solchenizyn stellte fest, daß die zuständigen "Organe" meist über "keine fundierte Motivierung für die Auswahl der zu Verhaftenden" verfugten und "einzig und allein die Sollziffern" zu erreichen hätten. Solchenizyn konstatierte "allgemeine Schuldlosigkeit" und meinte polemisch, die Justiz sei nichts weiter als ,,ritueller Federschmuck" gewesen, der in Stoßzeiten auch noch abgefallen sei? Die DDR folgte beim Strafvollzug in groben Zügen dem sowjetischen Vorbild. Es gab auch in der DDR Tausende von Häftlingen, die nach den Prinzipien des Rechtsstaates als unschuldig gelten müssen. Insgesamt galt dies wohl für etwa ein Drittel der Gefangenen der DDR. Nach dem Bau der Berliner Mauer, als sich die Zahl der Gefangenen von 23 000 auf 41.800 erhöhte3 , waren die Gesetze der DDR in der Tat nicht mehr als ,,ritueller Federschmuck". Die bisherige Forschung ging daher immer vom Verhältnis von Politik und Justiz oder Politik und Strafvollzug aus.4 Falco Werkentin formulierte bissig: "Die Geschichte der Spruchpraxis bei Verkehrsdelikten in der Ära Ulbricht mögen andere schreiben.''5 Diese Trennung Alexander Solchenizyn, Der Archipel GULag, Reinbek bei Harnburg 1994. Ebenda, S. 22 f. Auf den § 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches geht Solchenizyn S. 66 ff. ein. J Falco Werkentin, Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht - Vom bekennenden Terror zur verdeckten Repression, Berlin 1997, S. 379 f. 4 Kari-Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR, Köln 1979; Gerhard Finn unter Mitarbeit von Karl Wilhelm Fricke, Politischer Strafvollzug in der DDR, Köln 1981 . s Werkentin, S. II. Diese Aufforderung wurde von POS-nahen Wissenschaftlern und Publizisten wörtlich genommen. Ingo Wagner etwa formulierte: ,,Jedoch war die DDR kein Unrechtsstaat. Daß ihre Rechtsordnung manchen heutigen gesamtdeutschen rechtsstaatliehen Maßstäben nicht entsprach, hat sie mit den meisten Staaten dieser Welt gemein." Und setzt fort: "Die überwiegende Zahl von Urteilen der Gerichte der ehemaligen DDR hält durchaus internationalem Standard an Rechtsstaatlichkeil stand. Das betrifft insbesondere das Zivil-, Familien- und Arbeitsrecht, ja selbst das Strafrecht. Die Ausnahmejustiz (Waldheimer Prozesse) war nicht die Regel. Die Kriminalisierung von Personen, die ihre verfassungsmäßig garantierten Grundrechte wahrnahmen, war nicht das Typische der DDR-Rechtsordnung." I

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wird jedoch nicht allen Aspekten des Themas ,,DDR-Strafvollzug" gerecht. Wie Memoiren ehemaliger Häftlinge bezeugen, wurden Kriminelle und politische Häftlinge gleichermaßen Repressionen ausgesetzt. 6 Eine auf Archivalien beruhende Gesamtdarstellung zum DDR-Strafvollzug fehlt, Tobias Wunschik und Michael Buddrus bearbeiteten die dringlichsten Fragen.7 Andere Untersuchungen beschrieben einzelne Strafvollzugseinrichtungen und bezogen die Zeit der DDR ein. 8 In einem Aufsatz über die Strafvollzugseinrichtung (StVE) Torgau thematisierte Roland Brauckmann die Erzeugung von politischen Gefangenen als ,,Planziel" und wies auf den Nutzen hin, den die DDR u. a. aus dem Häftlingsfreikauf hatte. Den Strafvollzug charakterisierte Brauckmann generell als ,,Industriezweig" und bescheinigte dem Repressionsapparat, dafür zu sorgen, "daß weiterhin genügend DDR-Bürger in den Strafvollzug eingeliefert wurden."9 Doch obwohl der Strafvollzug in der DDR durchaus die Züge einer prosperierenden Industrie trug, erreichte er nie die Dimension wie in der Sowjetunion. Dort waren nach neueren Forschungsergebnissen zeitweilig bis zu 5,5 Millionen Menschen inhaftiert. 10 Das entsprach etwas mehr als 3% der Bevölkerung. In der DDR waren durchschnittlich etwa 30 000 Menschen inhaftiert. Der höchste Stand wurde mit 60 000 Häftlingen unmittelbar vor dem 17. Juni 1953 erreicht. Das entsprach einem Prozentsatz von 0,35%. Durch die häufigen Amnestien schwankte die Zahl

Vgl. Ingo Wagner, Die DDR- Ein "Unrechtsstaat"? In: Lotbar Bisky, Uwe-Jens Heuer, Michael Schurnano (Hrsg.), "Unrechtsstaat"?- Politische Justiz und die Aufarbeitung der DDRVergangenheit, Harnburg 1994, S. 143 und 172. Hier sei nur auf die §§ 106 - Staatsfeindliche Hetze und 249 - Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten verwiesen. Vgl. Strafgesetzbuch der Deutschen Demo-kratischen Republik, Berlin (Ost) 1988. 6 Vgl. u. a. Mattbias Bath, Gefangen und freigetauscht - 1197 Tage als Fluchthelfer in DDR-Haft, München und Wien 1981; Erich Loest, Durch die Erde ein Riß, Künzelsau und Leipzig 1989. Einen Überblick über die Memoirenliteratur gab ein Gutachten der EnqueteKommission: Jörg Bernhard Bilke, Unerwünschte Erinnerungen- Gefängnisliteratur 1945/ 49 bis 1989. In: Materialien der Enquete-Kommission ,,Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Band III/2, Baden-Baden 1995, S. 767 ff. 7 Tobias Wunschik, Der Strafvollzug als Aufgabe der Deutschen Volkspolizei in den fünfziger Jahren. In: Archiv für Polizeigeschichte, 3 I 1997 S. 74 ff. Michael Buddrus, ,Jm Allgemeinen ohne besondere Vorkommnisse" - Dokumente zur Situation des Strafvollzugs der DDR nach der Auflösung der sowjetischen Internierungslager 1949-1951. In: Deutschlandarchiv I 11996 S. 10 ff. 8 Norbert Haase, Brigitte Oleschinski (Hrsg.), Das Torgau-Tabu- Wehrmachtsstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug, Leipzig 1993; Claudia von Gelieu, Frauen in HaftGefängnis Barnimstraße- Eine Justizgeschichte, Berlin 1995. 9 Roland Brauckmann, Planziel: Politische Gefangene. Zur Kriminalisierung der Opposition durch die Strafjustiz der DDR. In: Haase/Oleschinski, S. 227. to Diese vergleichsweise niedrigen Zahlen nennt Dimitri Wolkogonow. Die gesamte Diskussion ist nachgezeichnet in: Ralf Stettner, ,,Archipel GULag": Stalins Zwangslager- Terrorinstrument und Wirtschaftsgigant, Paderborn 1996, S. 382 ff.

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sehr stark. In den achtziger Jahren stieg die Zahl wieder überdurchschnittlich an. 1981 waren 41 000 Menschen inhaftiert. 11 Für die Beschreibung des Strafvollzuges bietet sich folgende Chronologie an. In den Jahren von 1945 bis 1950 unterstanden die deutschen Gefängnisse der Justiz. Nach der Übernahme durch die Volkspolizei folgte von 1950 bis 1959 eine Phase der Expansion. Die Jahre von 1960 bis 1971 waren geprägt von vorsichtigen Reformen, einer zunehmenden Versachlichung. Unter den zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten der DDR hatte spätestens ab 1977 auch der Strafvollzug zu leiden. Diese Jahre müssen als Niedergangsepoche beschrieben werden, das mühsam errichtete Theoriegebäude der "Umerziehung" machte einer reinen Verwahrund Bestrafungsmentalität Platz. Als Konstanten des DDR-Strafvollzuges gelten, ganz seiner eigentlichen Funktion als Repressionsinstrument entsprechend, Willkür und häufige Menschenrechtsverletzungen. Hier stechen die 50er und die 80er Jahre besonders hervor. In den 60er und 70er Jahren muß es, das belegt die Memoirenliteratur, sachlicher und korrekter zugegangen sein. Wirklich einklagbare Rechte hat es allerdings, trotz aller gesetzlichen Regelungen und der schriftlich formulierten Hausordnungen nie gegeben, nicht einmal ftir Häftlinge aus Westdeutschland. 12 Der folgende Text beruht auf Archivalien aus dem Staatsarchiv Leipzig, dem Landesarchiv Merseburg, dem Bundesarchiv Potsdam (jetzt Berlin) sowie der Stiftung der ehemaligen Parteien und Massenorganisationen der DDR. Obwohl viele Akten zu einzeln Strafvollzugsanstalten (SVA) ausgewertet wurden, trägt er fragmentarischen Charakter. Ziel ist es, die Verknüpfung von Strafvollzug und Produktion in den ftinfziger und sechziger Jahren zu beschreiben. In einem kurzen Ausblick werden Aspekte des Strafvollzuges in der Ära Honecker berührt. Eine volkswirtschaftliche Analyse war auf Grund des unzureichenden statistischen Materials nicht möglich. In den, ohnehin meist nur bis 1974 erschlossenen Archivbeständen der Volkspolizei, sind die Berichte der stellvertretenden SVA-Leiter für Ökonomie nicht nach dem Provenienzprinzip abgelegt. In der ersten Zeit nach der Übernahme des Strafvollzuges durch die Polizei scheinen Statistiken gar nicht angefertigt worden zu sein. II In Westdeutschland gab es bei der vierfachen Bevölkerungszahl etwas weniger Häftlinge. 1996 saßen 49000 Menschen in ganz Deutschland im Gefängnis, das entspricht etwa 0,06%. Der Prozentsatz der Inhaftierten war also in der DDR etwa 5 mal höher als heute im vereinten Deutschland. 12 Vgl. Mattbias Bath, Gefangen und freigetauscht- 1197 Tage als Fluchthelfer in DDRHaft, München und Wien 1981. Bilke würdigt Baths Bericht in einem Beitrag für die Enquetekommission des Bundestages und betont sein .,beachtliches Erinnerungsvermögen". Bilke, a. a. 0. , S. 810. In dem sachlichen und knapp gehaltenen Buch von Bath wird deutlich, daß er als Gefangener aus dem Westen zwar bemüht korrekt behandelt wurde, jedoch nicht um Arreste herumkam und keine akzeptable medizinische Betreuung erhielt.

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Auch andere wichtige Probleme sind in den bisher erschlossenen Akten nicht thematisiert. So ist die Zahl der Opfer des Strafvollzuges nicht bekannt. In den SOer Jahren waren Krankheiten und Arbeitsunfalle mit Todesfolge nicht selten. Doch auch in den 80er Jahren starben Häftlinge beim Einsatz in der Industrie. Ein Fall einer tödlichen Quecksilbervergiftung im Chemiekombinat Bitterfeld wurde erst 1997 offenbarY Die Kaderakten der Leiter der SVA werden nach wie vor in den Polizeipräsidien aufbewahrt und sind, etwa in Leipzig, nicht ftir die Forschung zugänglich. Da so keine Beförderungen nachzuvollziehen sind, ist es unmöglich, einzuschätzen, inwieweit die planmäßige Erfiillung ökonomischer Aufgaben Karrieresprünge begünstigte. Auch Beurteilungen der Offiziere, die katastrophale Zustände durch Unfähigkeit verursacht und Menschenrechtsverletzungen billigend in Kauf genommen haben, sind nicht zu erhalten. Daß die Weigerung der Behörden, Personalunterlagen zugänglich zu machen, gesetzlich gedeckt ist, tröstet nur unwesentlich. 14 I. Strafvollzug und Wirtschaft 1945 bis 1959

Bereits unmittelbar nach 1945 gingen die Justizverwaltungen der Länder und die Deutsche Zentralverwaltung für Justiz daran, den Strafvollzug neu zu ordnen. Der Leiter der Zentralverwaltung ftir Justiz, Wemer Gentz, plädierte ftir einen "humanen Strafvollzug". 15 In allen Landtagen war der Strafvollzug Gegenstand von ausgiebigen Debatten. Es wurde wieder das Ziel der Erziehung des Gefangenen betont. Die Erziehung der Strafgefangenen konnte in der damaligen Auffassung nur durch Arbeit erfolgen. So formuliert der Bericht über die Hochwasserschäden in Thüringen 1947, daß die "anfallenden Begradigungs- und Regulierungsarbeiten", geeignete Gelegenheit böten, "die freie Beschäftigung straffällig gewordener Personen praktisch zu erproben.'.I 6 Die idealistische Zielstellung einer "freien Beschäftigung" scheiterte in erster Linie an der Haltung der Besatzungsmacht, die flächendeckend Haftlager installiert bzw. Konzentrationslager übernommen hatte. Einige wurden vom MWD betrieben und firmierten als "Schweigelager", d. h. Angehörige erfuhren vom Verbleib der Gefangenen nichts. Andere, wie das 1947 ge13 Am 12. April 1980 starb ein Häftling in der Universitätsklinik Leipzig an einer im CKB erlittenen Quecksilbervergiftung. Er war nach § 213 StGB (Ungesetzlicher Grenzübertritt) verurteilt worden. Das blieb nicht der einzige Todesfall in Bitterfeld. Vgl. Hans-Joachim Plötze, Das Chemiedreieck im Bezirk Halle aus der Sicht des MfS, Sachbeitrag 4 der Landesbeauftragten fiir die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR SachsenAnhalt, Magdeburg 1997, S. 56 ff. Plötze bestätigt an Hand der MfS-Akten die westdeutschen Zeitungsberichte aus dem Jahr 1983. 14 Die Verkürzung der Sperrfristen für Akten der SED-Diktatur wird auf personenbezogene Akten nicht angewandt. 1s Vgl. Wunschik, S. 77. 16 Thüringer Landtag, Landtagsdrucksache Nr. 81/1947, Bericht über die Hochwasserschäden im Lande Thüringen.

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gründete Haftarbeitslager Volkstedt, unterstanden als Teil von SAG-Betrieben der SMAD. Dort wurden die Gefangenen im Mansfelder Kupferbergbau bei lebensgefahrliehen Tätigkeiten eingesetzt, wie ein SED-Inforrnationsbericht vorn Februar 1949 registriert. 17 Doch auch deutschen Politikern ließ die hohe Kriminalität hartes Durchgreifen notwendig erschienen. Nicht Erziehung, sondern Verwahrung stand daher im Mittelpunkt des Strafvollzugs. Trotzdem wurde die Erziehung der ,,Besserungsfähigen durch gerneinsame produktive Arbeit" im Strafvollzug zum Grundsatz der Verfassung vorn 7. Oktober 1949 erhoben. 18 Mit der Übernahme des Strafvollzuges durch das Ministerium des Inneren 1950 19 wurden andere Gedanken als jene der Nachkriegsdebatte favorisiert. Ganz klar wurde die Bedeutung des Strafvollzuges als Herrschaftsinstrument herausgestellt. Der Verfassungsgrundsatz blieb ein reines Postulat. Gerhard Finn stellte fest: ,,Für geraume Zeit trat damals der Erziehungsgedanke im Strafvollzug gegenüber dem Unterdrückungsgedanken weit in den Hinter-grund." 20 Diese vor 1989 aus westdeutscher Sicht getroffene Einschätzung teilte auch die Politische Verwaltung der Deutschen Volkspolizei. Ein internes Papier stellte 1959 fest, es sei in erster Linie darauf angekommen, "Rechtsbrecher zu isolieren und ihren schädlichen Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung bei der Schaffung der Grundlagen des Sozialismus unmöglich zu machen." Dabei sei die "strenge Isolierung" einzige Aufgabe gewesen. Immerhin habe man in jenen Jahren mit der Verwirklichung des Grundsatzes "Erziehung ... durch gemeinsame produktive Arbeit" "begonnen".21 Neuere Detailstudien bestätigen ebenfalls die Radikalisierung im Strafvollzug beim Wechsel von der Justiz zur Polizei. In Berlin forderten Volkspolizisten anläßtich der Übernahme des Strafvollzuges, daß mit "Humanitätsduselei" und "Versöhnlertum" Schluß sein müsse. Die ,,repressive Wirkung" wurde eindeutig als wünschenswert charakterisiert. 22 Als Gesamtkonzept für den Strafvollzug forrnu17 BA Berlin (SAPMO) DY30/IV215/217, Blatt 13. Brief der SED-KL EislebeniMansfelder Seekreis an den Parteivorstand der SED, Abteilung Organisation vom 26. 2. 49: " ... wir fahren vor Ort. Im schon verzeichneten Gesenke treffen wir auf eine neu angelegte Kameradschaft bestehend aus Strafgefangenen, die zum Arbeitseinsatz im Mansfeld-Kupferbergbau tätig sind. Wir sprechen den Drittelführer an und fragen nach dem Arbeitswillen der Gefangenen. Sie ist vorhanden, lautete die Antwort, aber es fehlt uns allen an dem Gezähe. Die Leute haben weder Schippe noch Fäustel und nun sollen wir den zu Bruch gegangenen Streb wieder aufrichten. Wir müßten auf Grund der Kompaßziehung mit dem Aufräumen der Bruchstelle beginnen. Aber ohne Schippe und Fäustel? Was wird getan? Wir behelfen uns und arbeiten eben dort weiter, wo nicht der Bruch ist, lautet die Antwort. Ich setze hinzu: Und vergrößern damit die Gefahr des weiteren Zusammenbruchs nicht wahr? Der Häuer bejaht.". 18 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Artikel 137, in: Verfassungen deutscher Länder und Staaten, Berlin (Ost) 1989, S. 491. 19 Vgl. Wunschik, S. 74. 20 Finn, S. 20. 21 BA DO I 11/148, Blatt 330. 22 Von Ge1ieu, Frauen in Haft, S. 210.

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lierte die Hauptabteilung X des Mdi, Vorläufer der Verwaltung Strafvollzug: "Errichtung von Straflagern, die in der Nähe größerer Arbeitsobjekte liegen.'m Ein Bericht der Hauptabteilung Strafvollzug im Mdi vom Herbst 1951 belegt, daß die anvisierten Ziele zügig angegangen wurden. In den Werkstätten der Gefängnisse wurden bereits 6000 Häftlinge beschäftigt, deutlich mehr als vorher. Die Schneiderwerkstätten nahmen "den Charakter einer reinen industriellen Fertigung" an und wurden vom Ministerium für Leichtindustrie mit Aufträgen bedacht. Auch das Möbelwerk der SVA Waldheim und die Kartonagenfabrik der SVA Untermaßfeld waren mehr als nur Werkstätten des Strafvollzuges. In Untermaßfeld lief die Produktion von Schuhen an, in Brandenburg wurden Schlösser gefertigt. Bereits 5000 Gefangene waren in Haftlagern oder in der Landwirtschaft eingesetzt. Bei Aue wurde Uran gefördert, auch das Lager für den Gleisbau in Erlabrunn diente der SAG Wismut. In Zwickau und Oelsnitz wurden Lager an den Steinkohlenschächten betrieben. Die Kapazität des HAL Volkstedt für den Kupferbergbau im Mansfelder Revier wurde auf 850 Häftlinge erhöht. 24 In der Stahlindustrie kam keines der sozialistischen Großprojekte ohne ein Haftarbeitslager aus. Sie bestanden im Eisenhüttenkombinat Ost, in der Maximilianshütte Unterwellenborn und im Stahlwerk Brandenburg. Auch die Talsperre in Cranzahl-Sosa war nicht nur FDJ-Objekt, sondern auch Einsatzort für Häftlinge. 25 Jenseits des großen, zentral gesteuerten Einsatzes von Häftlingen waren die Jahre nach 1950 von einem wilden Wuchern von Arbeitskommandos und Lagern gekennzeichnet. Es ist schwer, diesen Einsatz von Strafgefangenen nachzuzeichnen. Die Entscheidung über Arbeitseinsätze "vor Ort" wurden mündlich vereinbart. Sofern es sich nicht um größere Kontingente handelte, wurde auch nur höchst selten abgerechnet. Organisatorisch waren derartige Lager als "Standkommandos" größeren Strafvollzugseinrichtungen zugeordnet. Die StVA Leipzig hatte 1955 zwei Standkommandos. Die Gefangenen des Kommandos Regis-Breitingen waren im Braunkohlenbergbau, die in Röcknitz in einem Steinbruch beschäftigt. Dem Standkommando Röcknitz waren sieben Außenkommandos und ein Gleisbaukommando zugeordnet.26 Das Spektrum der Einsatzmöglichkeiten für Häftlinge war breit. Im Bezirk Dresden wurden unter anderem die Objekte Flughafen Klotzsehe (500 Häftlinge), Kernreaktor Rossendorf (250 Häftlinge), Autobahn Bautzen (200 Häftlinge) so gebaut.27 Im Bezirk Leipzig arbeiteten Gefangene beim Bau des Flachglaskombinates Torgau.28 Häftlinge bauten Transformatorenhäuschen, arbeiteten auf Werften, 23 24

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Buddrus, S. 15. LAM SED BL Halle IV /2/12/1899. Buddrus, S. 26 ff. StAL BDVP 24/82, Stellenpläne. BA DO 1 ll/1584, Blatt 160 f. Ebenda, Blatt 262 ff..

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förderten Kupfer, Kali und Braunkohle und ernteten Zuckerrüben. Die für die Zukkerrübenkampagne 1961 fehlenden 5000 Arbeitskräfte wurden jedoch nicht allein aus Strafgefangenen rekrutiert. Betriebe stellten weniger wichtige Arbeiter und Angestellte im Rahmen der "sozialistischen Hilfeleistung" ab. Trotzdem waren allein im Bezirk Halle, in dem nur auf nicht sehr großen Gebieten bei Bernburg und Zeitz Zuckerrüben angebaut wurden, immerhin 170 Häftlinge im Einsatz.29 In der Strafvollzugsanstalt Waldheim fertigten Gefangene im Auftrag des VEB Sitzmöbel- und Klappstuhlwerke Polstermöbel und Klappstühle. 30 Ganz selbstverständlich war der Einsatz von Häftlingen für Bauten der GSSD. Genaue Angaben über die Häftlingsarbeit für die sowjetischen Truppen in Deutschland dürften jedoch kaum noch zu ermitteln sein. In den Akten der BDVP Leipzig etwa ist stets nur von einem "so wichtigen Bauobjekt ... im Interesse des Warschauer Vertrages" die Rede. 31 Auch in der Landwirtschaft waren Häftlinge beschäftigt. Ab 1946 betrieb die Frauenhaftanstalt Bamimstraße in Berlin ein Außenkommando für Gemüseanbau.32 Auch in Mecklenburg-Vorpommern waren es vorwiegend Frauen, die auf Volkseigenen Gütern (VEG) eingesetzt waren. Es scheint sich dabei in den ersten Nachkriegsjahren um Vereinbarungen zwischen Gütern und SVA über den Einsatz sehr kleiner Kommandos gehandelt zu haben. Erst im Januar 1955 wurde der Häftlingseinsatz institutionalisiert. In einer Besprechung von Volkspolizei (Vertreter der BDVP und der StVA Neustrelitz), Wirtschaftsleitern mehrerer Güter, Mitarbeitern der SED-Bezirksleitung und des Rates des Bezirkes Neubrandenburg wurden Einzelheiten der Umstrukturierung zu Großkommandos beraten. Die Güter sollten vor allem endlich "den Anweisungen entsprechende Unterkunft" schaffen. Die Häftlinge sollten fortan in Großen Luckow (Kreis Teterow), Tützpatz (Kreis Altentreptow), Borken (Kreis Pasewalk) und Ferdinandshof (Kreis Ueckermünde) konzentriert werden. Die Kommandos auf den Gütern Basepohl, Klockow und Walkenhof seien bis Ende März 1955 aufzulösen. Bei der Diskussion um den ,,rationellsten Einsatz der Strafgefangenen" stellte sich dann aber heraus, daß einige Güter den Einsatz von Häftlingen ablehnten, andere wiederum betrachten sie als "Belastung". Die Güter, deren Kommandos aufgelöst werden sollten, erklärten jedoch, daß die Lage "ohne Einsatz von Strafgefangenen äußerst angespannt" sei. Der Betriebsleiter des VEG Walkendorf erklärte, daß er die Aufgaben künftig nicht mehr lösen könne. Der Vertreter der BDVP Neubrandenburg, VP-Rat Drefin, hielt als Abschluß der Debatte fest, daß es "vorerst auf jeden Fall bei der Errichtung der 4 Großkommandos bleibt." Der Vertreter der Vereinigung der Volkseigenen Güter bat, einen Antrag "bezüglich der Erweiterung auf 8 Großkommandos" an die HVDVP weiterzuleiten. Auch ein Kernproblem des Häftlingseinsatzes wur29 30 31 32

Ebenda, Blatt 295. Ebenda, Blatt 67 ff. StAL BDVP24/316, Blatt 123. Von Gelieu, S. 205.

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de noch angesprochen, wie das Protokoll belegt. Die Zahlungen der Güter gingen bisher nur sehr unregelmäßig ein, künftig werde die VP Verzugszinsen berechnen. 33 Doch auch die Schaffung von Großkommandos erwies sich als nicht problemlos. Einige der Güter waren mit der vergleichsweise hohen Zahl von Häftlingen überfordert. Die unzureichenden baulichen Voraussetzungen gewährleisteten weder Sicherheit noch ein Mindestmaß an Hygiene. Die Zustände im Standkommando Borken (organisatorisch der UHA Prenzlau zugeordnee4 ) waren derart, daß sich der Leiter der Hauptverwaltung der VP, Generalmajor Hans-Hugo Winkelmann, an den Chef der VP in Neubrandenburg wenden mußte. Ein Instrukteur der Verwaltung Strafvollzug hatte festgestellt, daß in Borken "die primitivsten Voraussetzungen eines ordnungsgemäßen Strafvollzugs fehlen." Weder Fenster noch Türen der Verwahrräume seien gesichert, monierte der Brief. Die Küche für die Gefangenen liege direkt neben den Ställen, ein defektes Abflußrohr des im ersten Stock befindlichen Abortes tue das übrige. Weitere Aborte ohne Wasserspülung stünden direkt vor dem Küchenfenster. Der VP-Vertragsarzt in Pasewalk habe schon mehrfach gegen diese Zustände protestiert, geändert habe sich nichts. Darüber hinaus seien die Arbeitsplätze der Gefangenen so abgelegen, daß eine sichere Bewachung nicht möglich sei. Winkelmann forderte ultimativ, "schnellstens Verhältnisse zu schaffen, die eine ordnungsgemäße Dienstdurchführung und Sicherheit gewährleisten." Anderenfalls könne ein "Weiterbestehen des Standkommandos nicht mehr vertreten werden."35 Die folgenden Fallbeispiele zeigen gut dokumentierte Details des Häftlingseinsatzes: - Im Kaliwerk Volkenroda bei Menteroda in Thüringen begann 1955 die Beschäftigung von Häftlingen. Bereits 1956 arbeiteten 150 Strafgefangene, 19.5% der Gcsamtbelegschaft, im Werk. Für diese hatte man eigens das Haftarbeitslager Pöthen errichtet und der SVA Gräfentonna unterstellt. Zum Jahresende kündigte die SVA den Vertrag mit dem Kaliwerk, da nur noch wenige Häftlinge mit kurzen Haftzeiten zur Verfügung stünden. Werkdirektor Echtermeyer wandte sich daraufhin an Innenminister Karl Maron und bat ihn, auch Gefangene mit einer Haftdauer von 4 bis 5 Jahren für die Arbeit unter Tage freizugeben. Bei einer Vertragskündigung schrieb Echtermeyer, "sehen wir im Augenblick keine Möglichkeit zur betriebsplanmäßigen und somit zur ordnungsgemäßen Weiterführung des Betriebes unserer Grubenanlagen." Der volkswirtschaftliche Schaden sei erheblich, formulierte ein weiterer Brief an das Innemninisterium. 33 000 Tonnen Kalisalz könnten nicht gefördert werden. Dadurch entstünde ein Verlust von 6 Millionen Mark. Außerdem habe das Kaliwerk gerade 100.000 Mark in neue Sicherheitsanlagen investiert. Maron entschied mit einer RandbeBA Berlin 001-11/1584 Blatt 39 ff. In den Untersuchungshaftanstalten wurden auch zu kurzen Strafen Verurteilte untergebracht. Js BA DO I 1111477, Blatt 175. 33

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merkung, die er mit rotem Buntstift auf Echtenneyers Brief kritzelte: "Sollte man machen." 36 Ein Kontrollbericht über die Zustände im Gefängnis Torgau vom 1. September 1955 schätzte folgendes ein: ,,Die Arbeitsweise der Abteilung AKE (Arbeitskräfteeinsatz- d.A.) zeigt ganz deutlich, daß man nur die Erfüllung des gestellten Solls sah, dabei aber die Sicherheit und den Erziehungsfaktor gänzlich außer acht ließ." 37 Kommandos wurden eingerichtet, ohne daß Arbeitskarten ausgestellt wurden, eine Abrechnung existierte nicht. Einige Strafgefangene waren seit drei Jahren ohne Bezahlung und Registrierung im Einsatz. Bäckerei, Küche und Seidenraupenkommandoarbeiteten 15 Stunden am Tag. Die Landwirtschaftskommandos versorgten Schweine innerhalb und außerhalb der Anstalt. Im Schrottkommando existierte keine Buchführung über die anfallenden Edelmetalle. Gold, Silber, Platin und Wolfram wurden, ohne sie zu wiegen, beim Referat Finanzen abgegeben. Die Strafgefangenen wurden nicht nach der Schwere der Arbeit, sondern willkürlich mit Essen versorgt. Die Kontrollgruppe legte auch die ersten Maßnahmen zur Verbesserung der Zustände fest. Die Arbeitskartei und die Verwaltung des Häftlingseigengeldes sollte in ordnungsgemäßen Zustand gebracht werden. In den Werkstätten und Kommandos wurden Arbeitsschutzbelehrungen durchgeführt. Die Arbeitszeiten seien so zu organisieren, "daß die 48-Stundenwoche gewährleistet ist."38 - Eine systematische Kontrolle des Häftlingseinsatzes durch die Volkspolizei existierte in den ersten Jahren nicht. Überprüfungsberichte finden sich daher selten in den Akten der HVDVP. Im HAL Volkstedt (Bezirk Halle/Kupferbergbau) machte sich jedoch durch die Korruption des Leiters für den Arbeitskräfteeinsatz im April 1954 eine Überprüfung notwendig. 39 Eine Abrechnung bzw. Überprüfung der ökonomischen Kennziffern des Lagers fehlt in dem Bericht. Offenbar war der rationelle Häftlingseinsatz eine Sache des Betriebes, nicht der Polizei. So listet der Bericht allgemeine Mißstände auf, erwähnt aber auch einen Punkt, der sich in anderen Akten nicht findet. In Volkstedt hatte es offenbar eine "Gefangenenselbstverwaltung" gegeben. Der Bericht mokiert, daß diese in einer Form praktiziert werde, "die die Sicherheit bereits in Frage stellt" .40 Es sei zur Gepflogenheit geworden, daß die Funktionshäftlinge (Lagerältester, Stubenälteste usw.) Besprechungen durchführten, ohne daß diese von VP-Angehörigen überwacht würden. Eine Zensur der Lagerzeitung erfolge nur in seltenen Fällen. Noch bedenklicher erschien den Kontrolleuren, daß die Karteikarten zur Registrierung der geleisteten Arbeit von Häftlingen geführt wurden. Sie könnten so "eventuell Arbeitsschichten verschleiern oder einsetzen."41 Die GefangenenBA DO I 11/1584, Blatt 136 f. und 162 f. BA Berlin (SAPMO) DY30/IV2/12/97, Blatt 14. 38 Ebenda, Blatt 16. 39 Er handelte mit Bier, Spirituosen und Zigaretten. Außerdem ließ er von Häftlingen größere Reparaturen an seinem Privat-Pkw durchführen. 40 BA DO 1 11/225 Blatt 34. 36

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Selbstverwaltung wurde unverzüglich beseitigt, der Arbeitseinsatz wurde fortan von Volkspolizisten registriert. - In der Strafvollzugsanstalt Bautzen begann mit Beginn des Jahres 1959 eine besondere Arbeitsgruppe ihre Tätigkeit. Einige Häftlinge übersetzten Fachbücher und technische Dokumentationen des Flugwesens und des Flugzeugbaus aus dem Russischen. Andere fertigten technische Zeichnungen von Kanonen, Panzerminen und Abwehrgeräten an. Kartographen erstellten detaillierte Karten Westdeutschlands. Der Leiter der Verwaltung Strafvollzug, Oberst Alfred Schönherr, nahm daran Anstoß, da über 90% dieser Häftlinge wegen "Staatsgefährdender Delikte (Artikel 6, Spionage, Agententätigkeit, Hetze u. ähnl.) verurteilt wurden". Das könne "schon aus Gründen der Sicherheit nicht mehr länger vertreten werden". Ein Teil der Häftlinge habe "Westverbindungen" und es gäbe "keinerlei Garantie, daß die Strafgefangenen nach ihrer Haftentlassung nicht republikflüchtig werden." 42 Daher kündigte Schönherr diese mit den Dienststellen der NVA abgeschlossenen Verträge zum 30. Juni 1960. Das forderte den Protest des stellvertretenden Verteidigungsministers Heinz Keßler heraus. Schönherr und Keßler fanden einen Kompromiß, über dessen Einzelheiten nichts bekannt ist.43 Abgesehen von derartigen Sonderfällen, weist die Beschäftigung der Häftlinge eine Reihe von Gemeinsamkeiten aus. Fast immer waren es schwere oder monotone Tätigkeiten, nicht selten war der Arbeitseinsatz mit Gefährdungen für die Gesundheit verbunden. Kennzeichnend für die Produktion in Haftarbeitslagern war, daß die Normen fast immer erfüllt wurden. Etwa 40% der Häftlinge erreichten 1955 mehr als 120% Normerfüllung.44 Der sozialistische Wettbewerb, in den fünfziger Jahren oft ohnehin stark von administrativen Vorgaben geprägt, nahm in den Gefängnissen und Haftarbeitslagern erschreckende Züge an. In ,,Betriebskollektivverträgen" wurden Kennziffern vorgegeben, die dann in einen "Wettbewerb Mann gegen Mann" mündeten. Auch die Häftlinge kämpften um Titel wie "Bester Häuer des Lagers" oder ,,Bester Holzschlepper des Lagers". 45 Ab etwa 1955 wurden den Gefangenen die Produktionsauflagen und damit die Ziele der einzelnen Brigaden bekanntgegeben.46 Da sich der sozialistische Wettbewerb nicht nur auf ökonomische VQrgaben, sondern auch auf politische Ziele erstreckte, waren im Regelfall die Politstellvertreter der SVA verantwortlich. Auf Aktivkonferenzen, initiiert durch die Parteisekretäre, stimmten sie sich untereinander ab und suchten nach immer effektiveren Formen des Wettbewerbs.47 41 Eine Stichprobenkontrolle in der Abrechnung des Betriebes ergab "Differenzen", auf die aber nicht weiter eingegangen wurde. Ebenda, Blatt 35. 42 BA Berlin (SAPMO) DY30/IV2/12/97, Blatt 166. 43 Ebenda. 44 BA DO I 1111584, Blatt 58. 4S So im HAL Zwickau (Steinkohlenförderung) 1955. Ebenda, Blatt 120. 46 StAL BDVP 24/316.

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Bei einem großen Teil der Häftlinge, besonders den politischen Gefangenen, schürte diese ideologische Verbrämung der verschärften Ausbeutung den Haß auf das SED-Regime. Eine zweite Konfliktebene entstand. Viele dieser Gefangenen waren im Gegensatz zum Wachpersonal gut ausgebildet und nicht selten hochqualifiziert.48 Der Prozentsatz der VP-Angehörigen, die nicht die 8. Klasse abgeschlossen hatten lag noch am Ende der 50er Jahre im Norden bei etwa 30%. Im Süden hatten zwischen 8 und 15% diesen ersten Schulabschluß nicht. Bei den Offizieren lag diese Zahl zwischen 1,4 und 12,7%. Obwohl keine Zahlen für das Gefängnispersonal vorliegen, scheint es - das belegen Alphabetisierungskurse - in diesem Zweig der VP sehr viele minderqualifizierte Wachtmeister gegeben zu haben.49 Auch die fehlende Motivation des Personals dürfte die Lage der Häftlinge nicht erleichtert haben. Der Einsatz in den Haftarbeitslagern bedeutete für die Wachmannschaften unregelmäßigen Dienst und Einschränkungen des Komforts. Daher wurde für sie, zuerst im HAL Schwarze Pumpe, eine "Sonderregelung" getroffen. Über die Höhe dieser zusätzlichen Entlohnung findet sich jedoch keine Angabe. 50 Trotzdem mußte für den Dienst in den Lagern geworben werden. Auch Verpflichtungen im Rahmen von Wettbewerben oder Aufgeboten, zeitweilig Dienst in den HAL zu versehen, waren häufig. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß die schlechten und gesundheitsgefahrdenden Arbeitsbedingungen zu psychischen Belastungen beim Personal führten. Im HAL Schkeuditz wurde Wachpersonal entfernt, als Begründung Alkoholismus angegeben. Diskussionen der Lagerleitung belegen jedoch, daß diese Entlassungen aus dem Dienst keineswegs den nicht seltenen Exzessen zuzuordnen waren. Es scheint vielmehr so, als hätten einige Polizisten die zunehmenden Fälle von Hautkrankheiten und Krätze bei den Häftlingen nicht mehr mitansehen können.51 Interne Einschätzungen thematisieren jedoch allein die Erfolge des Häftlingseinsatzes. So konnte im April 1956 der Leiter der Verwaltung Strafvollzug, Chefinspekteur August Mayer, dem Leiter der Finanzverwaltung des Ministeriums des Innern mitteilen, daß die Einnahmen aus der Produktion 1955 gegenüber dem Jahr 1951 einen Stand von 865% erreicht hatten. Der Staatszuschuß für den Strafvollzug sank im gleichen Zeitraum von 88% auf ca. 43,5%. Es genüge nun nicht mehr, meinte Mayer, allein die Erhöhung der Einnahmen aus der Produktion in den Vordergrund zu stellen. Jetzt ginge es um die Senkung der Ausgaben, "d. h. die Verwirklichung des Prinzips der strengsten Sparsamkeit." .Zu diesem Zweck gab 47 Protokoll über die Aktivkonferenz des Bezirkes Leipzig in der SVA Leipzig 15. 2. 1956, StAL BDVP 24/316, Blatt 189 ff. 48 Dieser Fakt findet sich häufig in der Memoirenliteratur. Das Ausmaß von Repression gegen Intellektuelle ist aber nur schwer einzuschätzen. 49 Derartige statistische Angaben dürfen nicht überbewertet werden. In der Folge von Krieg und Vertreibung war der Abschluß der 8. Klasse nicht Voraussetzung für eine qualifizierte Berufsausbildung. BA 00 I 11/209. so BA Berlin (SAPMO) DY30 I IV2/12/97 Blatt 112. Vgl. auch Wunschik, S. 84. Si Diese Krankheiten wurden durch den Zementstaub verursacht. StAL, BDVP 24/332.

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Mayer Sollziffern für die Senkung des Staatszuschusses vor. Außerdem plante er, das Betriebsergebnis der einzelnen Strafvollzugsanstalten, nach Sachkonten aufgeschlüsselt, in den Quartalsberichten zu erheben. Obwohl dieses Vorhaben wegen des hohen Arbeitsaufwandes erst einmal zurückgestellt wurde, verstärkte sich der Kostendruck in den Gefängnissen und Lagern. 5 2 Auch die angestrebte Vollbeschäftigung der Häftlinge war spätestens 1959 erreicht. Am Jahresende 1958 arbeiteten 71,3% der Häftlinge. Eine Erhöhung schien nicht mehr möglich. Doch am Ende des Jahres 1959 arbeiteten 86,4% aller arbeitsfähigen Strafgefangenen. Als Ursachen dafür benannte ein interner Bericht der Verwaltung Strafvollzug die "hohe Auslastung der vorhandenen Kapazitäten", die "Schaffung weiterer neuer Arbeitsmöglichkeiten" und "Sondereinsätze" zur "Beseitigung von Schwerpunkten in der Landwirtschaft und im Bauwesen".53 11. Organisatorische Fragen des Häftlingseinsatzes Die Voraussetzungen für den Häftlingseinsatz scheinen auf sehr unterschiedliche Weise zustandegekommen sein. Die unüblichste Art und Weise war die Anforderung von Häftlingen durch örtliche LPG oder VEG, denen Strafvollzugsanstalten als "Patenbetrieb" zugeteilt waren. So war die SVA Waldheim Patenbetrieb derbenachbarten LPG Knobelsdorf. Normalerweise ordnete die SVA Waldheim ein Kommando Häftlinge zum Kartoffellesen ab. Aufgrund der schlechten Arbeitskräftelage forderte die LPG jedoch 1966 ein zusätzliches Kommando zur Pflege der Rüben an.5 4 Der gängige Weg war die Meldung eines Mangels an Arbeitskräften an den Volkswirtschaftrat oder die Staatliche Plankommission, verbunden mit der Anfrage, ob ein Einsatz von Häftlingen in Erwägung gezogen werden könnte. Die eigentlichen Verhandlungen führten dann Vertreter der Betriebe und ihrer übergeordneten Vereinigungen (VVB) mit der Hauptabteilung Strafvollzug im Ministerium des Innern.55 In den Jahren der verstärkten Aufrüstung waren es vor allem die Bau52 BA DO I 1111584, Blatt 140 f. Im allgemeinen wurden bei der Erstellung von Plänen für die Produktion im Strafvollzug hohe, aber realistische Ziele gesetzt. Der eigentliche Druck auf die Strafvollzugsanstalten resultierte aus der ständigen Korrektur der Vorgaben nach oben und aus dem Wettbewerb zur Übererfüllung dieser Planvorgaben. So wurde das Einnahmesoll der SVA Leipzig allein 1959 zweimal heraufgesetzt. Die Anstalt unter Führung des überaus ehrgeizigen Majors Gerhard Pellmann erfüllte den Plan mit 113,8%. StAL BDVP 24/316, Blatt 123. Pellmann wurde rasch zum Oberstleutnant befördert und leitete ab 1964 die SVA Waldheim, die größte Strafvollzugseinrichtung im Süden der DDR. Seine Kriegsgefangenschaft im Westen war dabei ebenso wenig hinderlich wie seine Westverwandschaft, an die er jedoch "keine Bindung" hatte. Entscheidend war, daß er mit dem Besuch der Hauptschule der DVP in Babelsberg einen qualifizierten Abschluß für die höhere Laufbahn vorweisen konnte. StAL, BDVP 24/1/968. 53 BA DOl 11/1477, S. 8. 54 StAL, BDVP 24/1/966, Blatt 50 f.

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betriebe, die im Auftrag des Ministeriums für Nationale Verteidigung arbeiteten, die nach Häftlingen verlangten. In den 50er Jahren wurden derartige Anfragen positiv beschieden. So wurden die Militärflugplätze Würschnitz, Merseburg, Preschen und das Versorgungslager bei Frankfurt I Oder durch Häftlinge erbaut.56 1961 konnte das Verlangen der Bau-Union-Süd nach 300 Häftlingen noch problemlos realisiert werden. Der Betrieb stockte seine Forderung jedoch um weitere 300 Gefangene auf. Das veranlaßte die Verwaltung Strafvollzug zu einem schwachen Protest. ,,Zu ihrer Information teile ich Ihnen mit", schrieb man an Verteidigungsminister Hoffmann, "daß für den vorgesehenen Zweck 195 VP-Angehörige benötigt werden". Erst nach der Garantie ftir eine Unterbringung der Wachmannschaften, sehe sich die Verwaltung Strafvollzug in der Lage, "endgültig zu entscheiden." 57 Doch nicht immer lag die Initiative bei den Industriebetrieben. Häufig war es ein reibungsloses Zusammenwirken von Strafvollzug und Industrie, das zur Einrichtung von Haftarbeitslagern führte. Sehr gut dokumentiert ist die Entstehung des Lagers beim VEB Kaliwerk Rossleben. An der Beratung zur Errichtung des HAL nahmen Vertreter des Werkes und Vertreter der Bezirksverwaltung Strafvollzug Halle teil. Die Polizisten formulierten die Vorgaben zur Sicherung des Lagers, die eigentliche Projektierung übernahm die Bauabteilung des Werkes. 58 Das Lager wurde im Juni 1956 in Betrieb genommen. Der Ausbau des Lagers und die Steigerung der Produktion sollten, so VP-Oberrat Ziemann, "Zu gleicher Zeit" in Angriff genommen werden. Das Protokoll der Arbeitsberatung zur Eröffnung des Lagers weist aus, daß Einrichtungsgegenstände für die Gefangenen fehlten und nur "Kaltverpflegung" gesichert sei. Ein Teilnehmer an der Beratung formulierte: "Ich kann das Lager bald gar nicht übernehmen. In Berlin haben sie extra gesagt, daß wir kein Lager abnehmen dürfen, wenn es nicht in Ordnung ist. In dem Lager ist alles provisorisch ... Der Betrieb muß sich kümmern, daß so schnell wie möglich Ordnung geschafft wird."59 Die Kapazität des Lagers erhöhte sich schnell auf 225 Häftlinge und blieb auf diesem Stand. Sämtliche Häftlinge waren unter Tage eingesetzt. Durch Massenentlassungen und Amnestien verursachte Einbußen in der Produktion wurden in den Folgejahren immer wieder durch Hochleistungsschichten aufgeholt. Der Krankenstand des Lagers war trotzdem mit 2,5% vergleichsweise niedrig, da ausschließlich junge Männer mit einer hohen Tauglichkeitsstufe in Rossleben inhaftiert waren. 1958 erwirtschaftete das Lager Einnahmen von 875 000 Mark, 1959 waren es 1,14 Millionen Mark.60 ~~ Dieser Weg wurde in einem Schreiben des Ministeriums für Bauwesen an den Innenminister noch einmal rekapituliert, als es 1962 um den Einsatz von Häftlingen beim Bau der Talsperren Ohra und Wendefurt und am Pumpspeicherwerk Hohenwarte ging. BA 00 1 11/ 1584, Blatt 272 f. S6 Ebenda, Blatt 262 ff. ~7 Ebenda, Blatt 261. ~s LAM BDVP Halle 19/718 Blatt 2. ~9 Ebenda, Blatt 6 ff.

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Auch in der Braunkohlenindustrie funktionierte das Zusammenspiel von örtlicher Verwaltung, Strafvollzug und Industrie. Das HAL Bitterfeld wurde 1961 auf Veranlassung der VVB Braunkohle errichtet. Trägerbetrieb war der VEB BKW Bitterfeld, der mit der Bezirksdirektion der VP einen Vertrag über die Beschickung des Lagers abschloß. 61 Ein besonderes Problem war die Beschäftigung weiblicher Häftlinge. Bei Beschäftigung in der Landwirtschaft kam es immer wieder zu Verschwisterungsszenen zwischen freien Arbeiterinnen und Gefangenen. In Altenburg akquirierte schließlich die Abteilung Wirtschaft der Kreisleitung der SED Heimarbeit für die örtliche SVA. Ein wirklicher ökonomischer Effekt ergab sich jedoch nicht. Die Anstalt ftihrte 1959 nur etwa 150.000 Mark ab. Im Jahr 1960 kündigten verschiedene Betriebe die Verträge mit der SVA Altenburg, so daß kein nennenswerter Betrag erwirtschaftet wurde. Die SVA Altenburg konzentrierte sich künftig auf den Einsatz männlicher Gefangener im Braunkohlenbergbau (HAL/ AEK Regis) und im Maschinenbau. 62 Im Berliner Frauengefängnis Bamimstraße gestaltete sich der Einsatz der Häftlinge in der Produktion erfolgreicher. Die Landwirtschaftskommandos wurden bereitsamAnfang der fünfzigerJahredurch Industriekommandos und Arbeiten in der Haftanstalt abgelöst. Insbesondere profitierten das Elektroapparatewerk Treptow, das Glühlampenwerk NARVA und die Brauereien Leninallee und Bärenquell vom Häftlingseinsatz. Die Gefängnisnäherei wurde vom VEB Fortschritt neu ausgestattet, die Anstaltswäschei arbeitete vor allem für die Polizei. Für den geplanten Neubau einer SVA für Frauen wurde der Häftlingseinsatz in einer Großwäscherei von Anbeginn einkalkuliert. Die neue SVA in Berlin-Köpenik wurde 1973 bezogen. Statt der vorgesehenen Kapazität von 364 Gefangenen war sie mit 510 Personen belegt, die im 3-Schicht-Rhythmus in der Wascherei des VEB REWATEX eingesetzt wurden.63 Wie stark die SED in das System des Häftlingseinsatzes eingebunden war, zeigt ein Briefwechsel zwischen ZK, der Bezirksleitung Kari-Marx-Stadt und der VVB Baumwolle aus dem Jahr 1960. Der Sonderbeauftragte der Leitung der Staatlichen Plankommission für die 3- und 4 Zylinder Baumwollspinnereien, Schmidt, konstatierte für mehrere Spinnereien "ungenügende Kapazitätsauslastung durch das Fehlen von Arbeitskräften". Mit "einem bedeutenden Erfolg in der Werbung freier Arbeitskräfte" rechne er nicht, schrieb er am 23. August 1960 an die Bezirksleitung der SED.64 Besonders in dem VEB Feinspinnerei Erzgebirge mit den Hauptwerken in Gelenau und Venusberg fehlten Arbeitskräfte. Ein Befehl des Ministeriums des Inneren hatte festgelegt, Strafgefangene konzentriert in einem Betrieb einzusetzen. Ebenda, Blatt 193. BA DO 1 11/1584, Blatt 298. 62 Der genaue Zeitpunkt der Auflösung des Frauengefängnisses war nicht zu ermitteln. StAL BDVP 24/315. 63 Von Gelieu, S. 222 ff. 64 BA Berlin DY30/IV2112197, Blatt 169. 60 61

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Daher würde vom zuständigen Haftarbeitslager Himmelmühle vorrangig die Flachsspinnerei Wiesenbad mit Häftlingen beschickt. Die modern ausgestatteten Betriebe in Venusberg und Gelenau produzierten jedoch höherwertige Game, und außerdem sei die Bereitstellung von freien Arbeitskräften für Wiesenbad weniger problematisch. Schmidt habe sich bereits an die zuständigen Abteilungen des Mdl gewandt. Diese lehnten eine Änderung der Befehle aber mit dem Hinweis auf eine Konzeption des ZK der SED zum Häftlingseinsatz ab. Schmidt formulierte für die Bezirksleitung noch einmal die seiner Meinung nach ökonomischste Variante des Einsatzes von Häftlingen in den Spinnereien. Es müsse eine "weitere Konzentration weiblicher Strafgefangener, die in der Lage sind, in den Spinnereien zu arbeiten" erfolgen. Die Baumwollspinnerei müßte beim Häftlingseinsatz den Vorrang genießen. Zu diesem Zweck würde in Venusberg ein Gebäude ausschließlich für diesen Zweck umgebaut. Die erwünschte Kapazität für Gelenau (zwei Kommandos) seien 100 Häftlinge, in Venusberg sollten 200 Frauen eingesetzt werden. Bei einer vollen, 3-schichtigen Auslastung seien allerdings 360 Häftlinge erforderlich. Außerdem wies Schmidt daraufhin, daß die Befehle des Mdl einen "höchstens 2schichtigen" Einsatz vorsahen. Das sei jedoch "bei der Lage in den Baumwollspinnereien, die 3-schichtig arbeiten, nicht vertretbar". Abschließend formulierte er, daß diese Maßnahmen ,,keinen vorübergehenden Charakter tragen" könnten, da "ein Mangel an Arbeitskräften auch in Zukunft besteht."65 Die Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt befürwortete den Einsatz von Häftlingen in beiden Betrieben und bat das ZK um baldigen Bescheid, "auch telefonisch". Die Sicherheitsabteilung des ZK stimmte zu.66 111. Veränderungen im Strafvollzug 1959 bis 1971 Auf den Beratungen der höheren Offiziere des Strafvollzuges wurden nicht nur organisatorische, sondern auch prinzipielle Fragen erörtert. Einigkeit herrschte darüber, daß die starke Zersplitterung der Kräfte nachteilig sei. Daher versuchte man (etwa ab 1956) Kräfte zu bündeln und Ad-hoc-Einsätze der Häftlinge zu reduzieren. Die Auflösung kleiner Kommandos führte zu einer Konzentration der Häftlinge, ohne daß dahinter die Idee zu einer Reform gestanden hätte. Die Erfahrungen des Haftarbeitslagers Rossleben bewirkten jedoch ein allmähliches Umdenken. Dadurch, daß die Gefangenen mit freien Bergmännern zusammenarbeiteten und in den Produktionsprozeß verantwortlich mit einberogen worden waren, erhöhten sich die ökonomischen Ergebnisse ganz beachtlich. Parallel dazu begann 1958 die "Erziehung" der Häftlinge in individuellen Gesprächen. Das Personal wurde darauf von der Bezirksbehörde der VP mit "Sonderfachschulungen" vorbereitet. 67 6S 66 67

Ebenda, Blatt 171 f. Ebenda, Blatt 168. LAM, BDVP 191718, S. 80.

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Diese positiven Erfahrungen wurden durch die Aussagen Walter Ulbrichts auf dem V. Parteitag der SED für den gesamten Strafvollzug verbindlich. Ulbricht meinte, es entspräche dem "Humanismus", Rechtsverletzer, gegen die ein Strafzwang angewendet werden müsse, nicht mit Rache zu verfolgen. Sie müßten künftig umerzogen werden.68 Durch die darauf folgenden Diskussionen wurden "negative Erscheinungen der Vergangenheit", so formuliert es ein internes Papier der Politischen Verwaltung der HVDVP vom Juni 1961, "immer mehr überwunden". Zu den negativen Erscheinungen zählte das Papier "Versöhnlertum", "Paktieren mit Strafgefangenen" und "Überspitzungen". Wie üblich in derartigen Berichten wurde die positive Tendenz an Beispielen belegt. Im Haftarbeitslager Schwarze Pumpe machte das Papier eine gute Zusammenarbeit zwischen Leitung und Personal aus. Es herrsche "solch eine Atmosphäre, daß die Genossen Wachtmeister nicht sagen, die Fragen der Ordnung und Sicherheit sind eine Angelegenheit der Leitung, sondern sie setzen sich selbst aktiv mit dem Zustand der Sicherheit des Objektes und des ökonomischen Nutzens der Gefangenenarbeit auseinander."69 In Gräfentonna wurde durch bessere medizinische Betreuung der Krankenstand gesenkt, eine rationellere Ausnutzung der Arbeitszeit brachte einen ökonomischen Nutzen von 65 200 Mark.70 Das Papier listete auch negative Beispiele auf, die sich jedoch weniger auf ungenügende Planerfüllung, sondern meist auf den politisch-moralischen Zustand des Personals bezogen.11 Die wichtigste Folge der neuen Linie war die Verabschiedung der Thesen zu Grundfragen des Strafvollzuges 1959. Sie gaben zwar keine komplette Richtungsänderung vor, stellten jedoch einiges klar: ,,Die gemeinsame produktive Arbeit ist das Kernstück der Erziehung. Es besteht Arbeitspflicht Die Arbeit der Strafgefangenen ist keine Strafe, sondern das wichtigste Mittel flir ihre Umerziehung. Sie offenbart erst dann ihre große erzieherische Eigenschaft, wenn sie mit den anderen Erziehungsmethoden, vornehmlich mit der politisch-kulturellen Erziehungsarbeit verbunden ist." Die Hauptorientierung solle dabei jedoch "auf die Erzielhung zu einer disziplinierten Einstellung zur Arbeit, auf ... die Erhöhung der Arbeitsproduktivität" gerichtet werden.12 68 Hier zitiert nach dem Bericht über den Einsatz der Gruppe Haftaufsicht im Bezirk Halle, BA DO l ll/1477, S. 56. 69 BA DO I 11/148 Blatt 428. 10 Ebenda, Blatt 429. 71 Vor Schmutz starrende Unterkünfte wurden ebenso angeprangert wie .,schöne Frauen" aus westlichen Illustrierten über Betten in den Spindtüren. Das rasante Ansteigen von Disziplinarstrafen (im HAL Schacksdorf wurden 77,2% der jungen Genossen bestraft, im HAL Seese waren es 46,7%) muß dabei als Indiz für die Instabilität der DDR-Gesellschaft vor dem Bau der Berliner Mauer gelten. 72 BA Berlin (SAPMO) DY30/IV2/12/97, Blatt 162. Die Weitergabe dieser Richtlinien in die SVA ist dokumentiert. So hoffte man in Waldheim auf einer Erhöhung der Arbeitsproduktivität durch Produktionsberatungen und politisch-kulturelle Erziehung. StAL BDVP 24.11960 Blatt 104.

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Eine wichtige Voraussetzung für den erfolgreichen Erziehungsprozeß sah die Verwaltung in der Differenzierung der Häftlinge. Es seien künftig zwei Gruppen von Häftlingen zu bilden. Die weniger schweren Fälle seien für die Lager, schwerere für die Gefangnisse klassischen Typs vorgesehen. Im einzelnen listete das Papier für die Unterbringung in Haftarbeitslagern folgende Kategorien (gültig für männliche und weibliche Gefangene) auf: - alle erstmalig bestraften Gefangnisverurteilten bis zu drei Jahren Strafmaß, - alle erstbestraften Zuchthausverurteilten bis zu zwei Jahren Strafmaß, - mit Gefangnis bestrafte (bis zu zwei Vorstrafen), - Zuchthausverurteilte bis zu drei Jahren Strafmaß (bis zu zwei Vorstrafen). 73 Um die neue Linie zu erläutern, fand im Mai 1959 eine Reihe von Arbeitsberatungen der Verwaltung Strafvollzug mit ihren untergeordneten Dienststellenleitern und den Werkleitern der Betriebe, in denen Gefangene beschäftigt waren, statt. Bei der Steigerung der Arbeitsproduktivität orientierte die Verwaltung Strafvollzug auf die stärkere Motivation der Gefangenen. Diesem Ziel sollten regelmäßige Arbeitsbesprechungen mit den Gefangenen, Schulungen, Qualifizierungslehrgänge, sachlich begründete Arbeitsnormen, die Entfaltung des Neuererwesens und die Einhaltung der Arbeitsschutzanordnungen dienen. Verbunden mit einer "systematischeren Arbeit auf den Gebiete der Produktionspropaganda" sollte so die ,,Erziehungsarbeit" verbessert werden. 74 In den meisten Haftarbeitslagern sind positive Rückkopplungseffekte auf die Erhöhung der Produktion belegt. Das Haftarbeitslager Röcknitz steht jedoch exemplarisch ftir das Scheitern des Differenzierungsmodells. Bei den ersten Überlegungen im Februar 1958 wurde beschlossen, in einem "Haftarbeitslager mit schwerer Arbeit", möglichst einem Steinbruch, "nur Vorbestrafte mit mehr als 3 Vorstrafen unterzubringen". 75 Ausgesucht wurde das Haftarbeitslager Röcknitz,76 das mit dem VEB Quarz-Porphyr-Werk Collmen-Böhlitz zusammenarbeitete. 76 Ab 1959 wurde ein sogenanntes "strenges Regime" durchgesetzt. 77 Die radikale Verschärfung der Haftbedingungen in Röcknitz führte zu einer Gefangenenmeuterei mit 50 bis 60 Gefangenen.78 Auch die ökonomischen Kennziffern des Lagers entsprachen nicht den Erwartungen. Trotz größter Härte, verbunden mit einem ausgeklügelten System von Strafen, arbeitete das Haftarbeitslager nie rentabel. Zwar weist die Abrechnung des sozialistischen Wettbewerbs der einzelnen Kommandos deutliche Übererfüllung der Pläne aus, die Endabrechnung belegt jedoch für 1959 ein Manko von etwa 550 000 Mark.79 Die Verwaltung Strafvollzug beschloß, das Lager aufBA DO I 11/1477, Blatt 52. BA DO I 11/1477, Blatt 12 f. 1s BA DO I 11/1584, S. 222. 76 Vertragspartner der BDVP war die VVB Naturstein Dresden. StAL BDVP 24/330. 77 BA DO 1 11/1477, S. 9. 78 Ebenda, S. 28. 73 74

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zugeben. Der Betrieb war dadurch gezwungen, Technik statt der Häftlinge einzusetzen. Zum Jahresende 1960 wurde das Lager aufgelöst. 80 Die Betonung neuer Methoden traf sich mit ohnehin notwendigen Umstrukturierungen im Strafvollzug. So wurde etwa das HAL in Zwickau geschlossen und der Einsatz der Gefangenen in den Schächten im Lugau-Oelsnitzer Revier erweitert.81 Die Richtlinie für die Umstrukturierung des Strafvollzuges gab ein Papier der Verwaltung Strafvollzug vor, das von der SED bestätigt und vom Ministerium des Innem beschlossen wurde. Vorgesehen war der ,,Ausbau von HAL, insbesondere in der Baustoffgrundindustrie (Ziegeleien, Steinbrüche, Kalkwerke usw.), die eine längere Perspektive (25-30 Jahre) haben". Die Kommandos von Gefangenen im "gesamten Hoch- und Tiefbau sowie der Landwirtschaft" sollten allmählich abgezogen werden. 82 In hartnäckigen Verhandlungen mit dem Ministerium für Bauwesen erreichte die Verwaltung Strafvollzug eine Reduzierung der Arbeitskommandos und der Zahl der auf Baustellen Beschäftigten Gefangenen. Trotz dieser Überlegungen zur Reduzierung des Häftlingseinsatzes im Bauwesen wurden keineswegs sofort alle derartigen Projekte storniert. So wurde das HAL Schkeuditz ausschließlich zur Errichtung der Rollbahn für den Flughafen Halle-Leipzig betrieben. Träger des Lagers war der VEB Bauunion Süd, es existierte vom Juli 1959 bis Ende 1960.83 Für den Bau der Sprungschanze in Oberhof wurde 1961 ein eigenes Standkommando geschaffen.84 Die Beauftragten des Strafvollzuges akquirierten im Gegenzug, "geeignetere" Arbeiten für die StVE, die größere Sicherheit und größere Einflußnahme auf die Gefangenen gewährleisten sollten. 85 Insgesamt schätzte die Verwaltung Strafvoll79 Einnahmen von 725 000 Mark standen Ausgaben von 1,3 Millionen gegenüber. StAL BDVP241330, Blatt llOb. 80 In der Weisung des Chefs der BDVP liest sich das freilich anders. Oberst Hoppe ordnete die Schließung an, da sich mit der ,,Einführung der Technisierung und Mechanisierung ... ein weiterer Einsatz von Strafgefangenen" erübrige. StAL, BDVP Leipzig 24103, Blatt 149. Aus den Akten des Haftarbeitslagers geht jedoch die korrekte Reihenfolge hervor. Für den Leiter des HAL, Helmut Popp bedeutete die Schließung des Lagers einen Karriereknick, erst 1972 taucht er wieder in verantwortlicher Position auf. Popp, geboren 1925 war 1946 der KPD beigetreten und seit 1947 Angehöriger der Volkspolizei. 81 BA 00 I 11/1477, S. 9. Das Zwickauer Gefängnis sollte, so sah es ein Entwurf der Verwaltung Strafvollzug von 1959 vor, an die Stadt Zwickau abgegeben werden. Tatsächlich diente das verfallene Schloß bis zum Ende der DDR als Untersuchungsgefängnis und für Häftlinge, die auf Transporte zu anderen Orten warteten. Es wurde erst nach 1990 abgerissen. Vgl. BA Berlin (SAPMO) DY30/IV2/12/97, Blatt II I. Für die Schächte in Zwickau war das Ende ohnehin absehbar. Das Lugau-Oelsnitzer Revier versprach hingegen noch für weitere Jahre akzeptable Abbaumöglichkeiten. 82 BA Berlin (SAPMO) DY30/IV21 12/97, Blatt 110. 83 StAL BDVP Leipzig 24 I 332. 84 BA DO I 11/1584, Blatt 261 ff. und 272 f. 85 So wurden ab 1959 in Waldheim Elektromotore gefertigt und in Bautzen Bauteile Radio- und Funkgeräte montiert. BA 00 I 11 I 1471, S. 13.

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zug ein, daß trotz einer positiven Entwicklung ,.verschiedene Verwaltungs- und Parteidienststellen den Strafvollzug nur als Arbeitskräftereservoir zur Erfüllung ökonomischer Aufgaben betrachten." Um mit dieser ,.falschen Praxis Schluß zu machen" wurde die Sicherheitsabteilung des ZK der SED gebeten, ,.ihrerseits die notwendigen Maßnahmen einzuleiten". 86 Aus der Initiative der Parteistellen resultierte dann auch eine Reihe von Anordnungen, der Befehl 1 I 62 des Ministers des Inneren schrieb dann die ,,Einheit zwischen Sicherheit, Ökonomie und kulturpolitischer Erziehung" fest. 87 Im Zuge dieser Intensivierung kam es auch zu Kompetenzstreitigkeiten mit dem Ministerium für Staatssicherheit. Am 15. Mai 1961 protestierte der amtierende Leiter der Verwaltung Strafvollzug der VP, Wemer Jauch, bei Generalmajor Winkelmann, dem Leiter der HVDVP. Unter den "Bedingungen der unnormalen Belegung der Strafvollzugsanstalten" sei die Überstellung von Häftlingen an das MfS ,.eine große Hilfe" gewesen. Heute aber, so Jauch, sei dies ,.anders, da sich der Gefangenenstand wesentlich verringert hat." Die Anforderungen des MfS nach neuen Arbeitskräften sei nur unter größten Schwierigkeiten zu erfüllen. ,.Wiederholt war die Verwaltung Strafvollzug in den letzten Monaten gezwungen, Strafgefangene, die von den Mitarbeitern der volkseigenen Betriebe geschult und fachlich ausgebildet wurden, aus dem Produktionsprozeß dieser Betriebe herauszulösen und sie an die Organe des MfS zu überstellen." Insgesamt sei im laufenden Jahr schon ein Verlust von 6,5 Millionen Mark entstanden. Jauch erklärte kategorisch: ,,Bis zur Regelung der offenstehenden Fragen werden Arbeitskräfte dem MfS nicht mehr zur Verfugung gestellt, es sei denn, der Minister des Inneren verfügt generell den Arbeitseinsatz auch ohne Bezahlung."88 Wenige Wochen später wurde Jauch wieder durch Alfred Schönherr, einen Offizier im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit ersetzt. Schönherr erstickte derartige Überlegungen rasch, beförderte aber Überlegungen zur Veränderung des Strafvollzuges. Auch räumte er dem Arbeitseinsatz der Häftlinge nicht mehr absolute Priorität ein. 89 Die Amnestie von 1960 stellte Strafvollzug und Industrie vor Probleme, verband sich aber schließlich auf das glücklichste mit den anstehenden Umstrukturierungen. Von den 16800 vertraglich gebundenen Gefangenen in den Produktionsbetrieben waren Anfang November 13400 tatsächlich in Betrieben eingesetzt. Von diesen wurden bis zum 30. November 7600 entlassen. 5800 verblieben in den Produktionsbetrieben. Die Staatliche Plankommission legte daher 22 Schwerpunktbetriebe fest, in denen Häftlinge vorrangig eingesetzt werden sollten. Diese Betriebe hatten ein Arbeitskräftesoll von 8100. Da aus diesen Betrieben etwa 4000 Entlassungen durchgeführt wurden, gruppierte die Verwaltung Strafvollzug die verblieBA DO 1 1111477, S. 13f. Zit. nach dem ProtokolJ der Abteilungsleiterbesprechung der StVA Waldheim vom 22. 3. 62, StAL, BDVP Leipzig 24/1/964, Blatt 11. 88 BA DOl 11/1584, Blatt 275 ff. 89 V gl. Wunschik, S. 83. 86 87

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benen Häftlinge um. So konnte in den meisten dieser Betriebe die Planerfüllung gewährleistet werden. 90 Schwierigkeiten in der Planerfüllung entstanden im Mansfelder Kupferbergbau, im Ziegelwerk Zehdenik, im Chemiewerk Schwarze Pumpe und auf der Großbaustelle im Braunkohlenwerk Regis-Breitingen. Für den Kupferbergbau, die Steinkohlen-schächte im Oelsnitzer Revier und den Kalibergbau erwarteten die Planer langfristige Auswirkungen, da hier nur Häftlinge mit einer körperlichen Mindesttauglichkeit eingesetzt werden konnten. 91 Insgesamt jedoch beförderte die Amnestie von 1960 den Umstrukturierungsprozeß im Strafvollzug. Die Amnestie von 1964 hatte vor Ort den gegenteiligen Effekt. In der SVA Waldheim im November 1964 bei Zuarbeiten für Werkzeug und Textilmaschinenbau nur eine 75%ige Planerfüllung zur Folge. Bei Elektromotoren war man sogar nur bei 42%. "Gegenwärtig ist es so", formuliert ein Bericht, "daß die von der Amnestie am meisten betroffenen Betriebe sonntags arbeiten, um den Planverlust aufzuholen." 92 Ein Instrukteurseinsatz in Waldheim stellte trotz großer Anstrengungen mangelnde Fortschritte bei der ,,Differenzierung" der Gefangenen und schwere Mängel in der Organisation der Anstalt fest. Die Instrukteure machten "Routine und Schematismus" aus und "selbst gute Genossen" hätten sich angewöhnt, "sich nicht mehr für die Entwicklung der Anstalt verantwortlich zu fühlen." 93 Ähnlich zwiespältig wie in Waldheim fiel das Ergebnis für die gesamte Republik aus. In einem Bericht der Abteilung für Sicherheitsfragen des ZK der SED für die Sekretäre des ZK wurde 1966 eine Zwischenbilanz des Umstrukturierungsprozesses gezogen. Noch immer konstatierten die Berichterstatter "übermäßig zersplitterte Beschäftigungsarten im Strafvollzug". Diese seien schrittweise zu beseitigen, um zum "perspektivisch geplanten und gesicherten komplexen Einsatz Strafgefangener an volkswirtschaftlich wichtigen Schwerpunkten bzw. wichtigen ökonomischen Vorhaben" zu kommen. Obwohl der Arbeitseinsatz an Schwerpunkten der Volkswirtschaft dazu beigetragen habe, wichtige ökonomische Aufgaben zu lösen, entspräche das "Gesamtergebnis ... nicht den gewachsenen staatlichen und gesellschaftlichen Erfordernissen und den gegebenen Möglichkeiten." Der Einsatz werde zu wenig von der "volkswirtschaftlichen Effektivität", son!iem vorwiegend vom Produktionsprofil der Anstalten und der Betriebe der Umgebung geprägt. Gefangene wurden 1966 in zehn verschiedenen Bereichen der Volkswirtschaft, insgesamt in ca. 100 Betrieben eingesetzt. Eine Ursache für die hohe •.zersplitterung" waren die unzureichenden baulichen Gegebenheiten ebenso wie die hohen Qualitätsanforderungen der Industrie. Die Betriebsteile in den Vollzugseinrichtungen würden BA Berlin (SAPMO) DY30/IV2/12197, Blatt 252. Ebenda, Blatt 253. 92 StAL, BDVP Leipzig 24/1/969, Blatt 187. 93 Ein Leutnant brachte aus der Sicht des Personals auf den Punkt: ,,Es geht nicht weiter vorwärts, weil 50 bis 60% unserer Genossen bekloppt sind." StAL, BDVP Leipzig 24/1/ 965, Blatt 81. 90

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vielfach mit ,,komplizierten und schlecht bezahlten Sortimenten beauflagt." Das schmälerte jedoch nicht nur die Effektivität dieser Betriebe, sondern auch den Lohn der Gefangenen. Diese Einschätzung widerspiegelt jedoch nur den geringen Ausbildungsstand der Häftlinge. Die Motorenproduktion in Bautzen konnte nur unter großem Verschleiß an Material und Werkzeug aufrecht erhalten werden. Etwa die Hälfte der Häftling erfüllte ihre Norm unter 100%.94 Während in vielen Strafvollzugseinrichtungen "Qualifizierung" ein leeres Versprechen blieb, nahm die Ausbildung der Gefangenen in Waldheim konkrete Formen an. Der Leiter der SVA stellte im Januar 1966 bei einer Besprechung mit den Beauftragten der Arbeitseinsatzbetriebe fest, daß die "notwendige Erwachsenenqualifizierung" im ,,Endergebnis" zu "höherer Arbeitsproduktivität", "Verbesserung der Qualität der Produktionsergebnisse" sowie der "Zurückdrängung der Rückfallkriminalität" führe. Aus diesem Grunde wurde eine Qualifizierung in drei Stufen eingeführt, die von Mitarbeitern der Einsatzbetriebe zu leiten war. Für Häftlinge, die nur das 6. Schuljahr abgeschlossen hatten, wurden Kurse für das 7. und 8. Schuljahr abgehalten.95 Um Qualitätsstandards in der Produktion zu sichern, wurden künftig auch Schlüsselstellungen (z. B. Brigadier) nach Qualifikation und persönlich Eignung besetzt. Die fatalen Folgen zeigten sich rasch. Ein großer Teil ehemaliger SEnMitglieder und Angehörige der bewaffneten Organe gelangte in Schlüsselpositionen. Häftlinge, die wegen staatsgefährdender Delikte verurteilt worden waren, mußten sich nun nicht mehr prinzipiell Kriminellen unterordnen. Der Anteil der politischen Gefangenen unter den Funktionshäftlingen erhöhte sich in Waldheim in einigen Betriebsteilen auf über 80%. Das Personal zog die Notbremse. Zuerst wurden alle Häftlinge, die aus Westdeutschland oder Westberlin stammten, von Funktionen entfernt, "weil sie durch eine uns feindliche Gesellschaftsordnung erzogen wurden."96 Das am 12. Januar 1968 verabschiedete neue Strafgesetzbuch gab erstmalig einen gesetzlichen Rahmen für den Strafvollzug vor. Es blieb bei der Arbeitszeit von 48 Stunden in der Woche, Verlängerungen waren "zur Überwindung von Schwerpunkten" möglich. In den StVE wurden neue ,,Arbeitsordnungen" verabschiedet, die Weisungs- und Kontrollbefugnisse und die Prinzipien des Arbeitseinsatzes fest~ legten. 97 Jenseits der üblichen Rabulistik ("größere Verantwortung und Verpflichtung") waren diese Neukodifizierungen Anlaß, wirtschaftliche Abläufe zu optimieren. In der StVA Waldheim etwa, formulierte der Leiter Oberstleutnant Pellmann, ginge es nicht nur um die "Veränderung der Struktur schlechthin", sondern um ein "völlig neues Denken". Gegen "alte und überlebte Methoden" sei anzugehen, das ,,Neue" sei "überall zu fördern". Für den Arbeitseinsatz bedeutete das vor allem eine Konzentration auf die Hauptbetriebe. Die ,,kleineren, unbedeutenden" Korn94

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BA Berlin (SAPMO) DY30/IVA21121124. StAL BDVP 24.1/964, Blatt 21 f. StAL BDVP 24.1/968, Blatt 364. StAL BDVP 24.1/959 Blatt 135 ff.

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mandos sollten, meinte Pellmann, "ganz aus dem Objekt verschwinden". 98 Mehr als die Hälfte der Strafgefangenen arbeitete für 13 Kleinbetriebe I Arbeitskommandos. Insgesamt erwirtschafteten 1043 Strafgefangene 4,1 Millionen Mark. 99 In der Folgezeit sank der Einsatz von Strafgefangenen in Kommandos geringfügig. Der Prozentsatz der in den metallverarbeitenden Betrieben der Anstalt beschäftigten erhöhte sich leicht auf über 50%. 100 Trotzdem wurden noch 12 Arbeitskommandos mit 400 Gefangenen betrieben - nur sechs waren ursprünglich vorgesehen. 101 Deutlich erhöhten sich jedoch die Abführungen an den Staatshaushalt, wie der Jahresbericht 1974 deutlich macht (in Millionen Mark) 102 : !968

!969

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!97!

!972

Steigerung

Einnahmen

4,72

4,94

6,!5

6,35

7,22

+53%

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Darüber hinaus war die Strafrechtsreform von 1969 Anlaß, in der StVA Waldheim die Produktionspropaganda neu zu gestalten. Ganz im Sinne des Gesetzes trug sie fortan "nicht schlechthin ökonomischen Charakter'', wie eine Bilanz zu Ehren des 20. Jahrestages der Staatsgründung formuliert, sondern: "Die Prinzipien der Erziehung stellen das Primäre dar." 103 Das Beispiel Waldheim belegt die Schwierigkeiten, die "vor Ort" mit der geplanten Veränderung der ökonomischen Grundsätze einhergingen. Der Ad-hocEinsatz der Strafgefangenen wurde als Prinzip abgelehnt, trotzdem wurden statt der geschlossenen Arbeitskommandos neue eingerichtet. Hinzu kam die zunehmende ideologische Ermüdung. Der zögerliche Reformprozeß dauert schon fast zehn Jahre und noch immer standen gleichartige Probleme auf der Tagesordnung. Die Formel vom ,,Neuen" hatte sich abgenutzt, aber durchaus zu einer Versachlichung im Strafvollzug beigetragen.

StAL BDVP 24.1/964 Blatt 161. StAL BDVP 24.1/962 Blatt 125 f. 1oo Drei große Betriebe ließen 1970 in der StVA Waldheim fertigen: Döbelner Beschläge und Metallwerke (DBM), Spindelfabrik Hartha, Elektromotorenwerk Hartha. Indirekt profitierte auch die Sowjetunion, da die Spindelfabrik für den SV-Export arbeitete. Vgl. SIAL BDVP 24.1/962 Blatt 195. 1o1 StAL BDVP 24.1/962 Blatt 223. 102 Angaben gerundet. StAL BDVP 24.1/970 Blatt 188. 103 StAL BDVP 24.1/962 Blatt 146. 98

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IV. Arbeitserziehung Sehr bald nach dem Bau der Berliner Mauer, am 24. August 1961, erließ der Ministerrat der DDR eine Verordnung über "Aufenthaltsbeschränkung". Laut dieser Verordnung konnte durch ein Gericht auch ,,Arbeitserziehung", also unbefristete Verbringung in ein Arbeitslager, angeordnet werden. Angestrebtes Ziel war die zwangsweise Integration des unteren Randes der Gesellschaft. Vor allem "Asozialität" und Prostitution sollten bekämpft werden, aber auch ,,Individualismus und Schmarotzertum" dienten als Urteilsbegründung. 104 Da die Initiative bei den örtlichen Räten der Städte und Gemeinden lag, entledigten sich diese sehr schnell der Bürger, die sie als "Problem" empfanden. Die Hals über Kopf eingerichteten Lager füllten sich so schnell, daß Justizminister und Generalstaatsanwalt die Gerichte darauf hinweisen mußten, daß diese Verordnung kein ,,Allheilmittel gegenüber all den Personen ist, die bisher beispielsweise durch Rowdytum, Trinkerei, Arbeitsbummelei negativ in Erscheinung getreten sind." 105 Diese Anleitung beschrieb noch einmal den Personenkreis ("parasitäre Elemente, notorische Spekulanten u. a. asoziale Elemente") und wies die Gerichte darauf hin, daß nur diese Personen zu verurteilen seien, die "mit keinen anderen erzieherischen Maßnahmen zu einem geregelten arbeitsamen Leben zu erziehen sind." Mit Beispielen machten Justizminister und Generalstaatsanwalt deutlich, wer zu verurteilen war und wer nicht. Es sei falsch, bei Bürgern Arbeitserziehung anzuordnen, "die nicht voll arbeitsfahig sind". Richtig hingegen war die Verurteilung von Bernd H. aus Königs Wusterhausen, "weil er eine typische arbeitsscheue Person ist." Vor allen sollten die Gerichte "in guter Zusammenarbeit mit der örtlichen Staatsmacht und getragen vom Willen der Bevölkerung" gegen die Personen vorgehen, "die durch ihr Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedrohen oder als typisch asoziale Elemente ein Hemmnis für die gesellschaftliche Entwicklung sind." 106 Einen Tag nach dem Erlaß der Verordnung formulierte die Verwaltung Strafvollzug im Ministerium des Ionern "Grundsätze für den Vollzug der Arbeitserziehungshaft oder der Arbeitserziehung". Die Häftlinge sollten in eigens eingerichtete Lagern eingewiesen werden. Wo dies nicht garantiert werden könne, sei die Trennung von Strafgefangenen am Arbeitsplatz und in der Unterkunft einzuhalten. Der Arbeitseinsatz sollte nach folgenden Grundsätzen organisiert werden: "besonders hohe Arbeitsleistungen, besonders hohe Arbeitsintensität, besonders hohe Arbeitsdisziplin." Die Arbeitszeit wurde auf 10 Stunden täglich festgelegt. 107 Außerdem wurde beschlossen, daß die Arbeitspflichtigen "mitgebrachte Gegenstände", außer Radiogeräten, "im persönlichen Besitz" behalten dürften. Die Schußwaffe sei nur BA 00 I 11/1580, Blatt 12. Anleitung Nr. 2/61 zur Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung vom 24. 8. 1961 (GBI. II, S. 55). In: BA DO I 11/1580, Blatt 22. 106 Ebenda Blatt 23. 1o1 BA 00 I 11/1580, Blatt 114 f. 104

10s

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zur Brechung von Widerstand anzuwenden, nicht aber bei Entweichungen oder Entweichungsversuchen. 108 Die Musterordnung für ein Arbeitskommando, verfaßt im November 1961, gab den Inhaftierten in einer "Schlußbemerkung" die Grundsätze der Haft bekannt: "Von Ihrem Gesamtverhalten und von Ihrer Einflußnahme auf andere Arbeitspflichtige wird es abhängen, wie sich Ihr Leben im Arbeitskommando gestalten wird und zu welchem Zeitpunkt Sie zur Entlassung kommen. Insbesondere werden von Ihnen erwartet: ausgezeichnete Arbeitsleistungen, eine hohe Arbeitsdisziplin und damit verbunden das Erbringen des Beweises, daß Sie gewillt sind, ein pflichtbewußter Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik zu werden." 109 Die 1961 geschaffenen Arbeitserziehungskommandos hatten eine Kapazität von 1044 Plätzen, davon waren 220 für Frauen und 35 ftir Jugendliche vorgesehen. Die tatsächliche Stärke dieser Kommandos betrug am Jahresende 1195. Insbesondere das Lager in Quedlinburg war mit 200 Personen, überwiegend Frauen, zu 100% überbelegt. 110 Die angestrebte Erziehung durch Arbeit wurde durch verschiedene Faktoren konterkariert. Das Personal verfügte zwar über Erfahrung im Strafvollzug, war jedoch nicht in der Lage, auf die sozial Auffälligen anders als mit Härte zu reagieren. Die hohe Zahl neuer weiblicher Häftlinge machte eine Aufstockung des Personalbestandes erforderlich. Die neueingestellten Frauen wurden in vierwöchigen Lehrgängen in der StVA Berlin II geschult. 111 Hinzu kam, daß ein erheblicher Teil des Personals durchaus keine "Vorbildfunktion" erfüllte. Entpflichtungen waren häufig, neuen Leitern bescheinigten Untersuchungsberichte, den gestellten Aufgaben ,,nicht gewachsen" zu sein. Eine VP-Meisterin im Arbeitserziehungskommando (AEK) PolBen randalierte in betrunkenem Zustand im Ort und, so formuliert eine interne Mitteilung, "zersetzt durch ihr unmoralisches Verhalten die gesamte Einheit".112 Auch die mangelhafte Ausstattung der Lager war anfangs - 1962 - keinesfalls dazu angetan, positiv auf die Verurteilten einzuwirken. In PolBen fehlten Betten und Tische. In Mildenberg funktionierte weder die Trinkwasserversorgung noch die Kläranlage. In Berndshof war die Bekleidung der Häftlinge defekt, Eßbestecke fehlten gänzlich, Löffel waren nur für die Hälfte der Gefangenen vorhanden. Ein Bericht des Innenministeriums über die Lage in den Arbeitserziehungskommandos zeigte, daß auch die Bereitstellung von Arbeit nicht gewährleistet war. Durch die Überbelegung waren 60 Häftlinge in Berndshof nicht im Einsatz. In anderen Lagern waren Arbeitsleistungen und -ergebnisse mangelhaft, da es Ebenda, Blatt 127. Ebenda, Blatt 21. 11o Arbeitserziehungskommandos existierten in Mildenberg (Sollkapazität 300 Personen, tatsächliche Belegung 350), Hemdshof (300 /280), Regis (200 /230), Hohenleuben (24/35), Polßen (120/100), Quedlinburg (100/200). BA DO l ll/1580, Blatt 149. 111 Ebenda, Blatt 141. 112 Sie wurde zum Ende des Quartals aus der VP entpflichtet. Ebenda, Blatt 143 ff. 1os

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Schwierigkeiten gab, die Häftlinge in "den Arbeitsprozeß einzureihen." 113 Die Willkür, die bei Entlassungen vorherrschend war, tat ein übriges. Am 19. Januar 1962 wurde Günther G. wegen "Arbeitsbummelei und unregelmäßigem Lebenswandel" zu Arbeitserziehung verurteilt. Das Gericht teilte ihm mit, daß er bei guter Führung nach 3 bis 4 Monaten entlassen würde. Nach wenigen Wochen wurde G. als Brigadier eingesetzt, seine Arbeitsleistung als "vorbildlich" beurteilt. Die Leitung des Lagers beantragte daher die Entlassung G.s. Die Staatsanwaltschaft meinte jedoch, daß etwa 9 Monate Mindestaufenthaltsdauer angebracht seien. 114 In den Folgejahren wurden viele Ansätze unternommen, um die Arbeitserziehung besser zu gestalten. Am effektivsten schien die organisatorische Zuordnung zu größeren SVA zu sein, die Erfahrungen mit dem Häftlingseinsatz außerhalb der Anstalt hatten. Die Einrichtung eines neuen Standkommandos in Wülknitz bei Riesa zeigt das, seltene, Interesse der Industrie an den leicht verfügbaren Arbeitskräften. Die Gleisbaubetriebe der Reichsbahn Dresden forderten Arbeitskräfte zur Demontage von Bahnschwellen an. Im Stahlwerk Riesa arbeite bereits ein größeres Kontingent von Häftlingen aus der SVA Waldheim, flir das große Transportkosten anfielen. Daher beschloß die SVA die Einrichtung eines neuen Standkommandos, zumal beide Betriebe die Umfunktionierung eines ausgedienten Barackenlagers finanzierten. Die Bewachung des Lagers wurde von der Transportpolizei und dem Betriebsschutz des Stahlwerkes übernommen. 115 Insgesamt jedoch blieb die Arbeitserziehung ein Feld für Experimente. Weder in der Organisation, noch bei den zugewiesenen Arbeiten stellte sich Kontinuität ein. Auch die rasante Ausweitung der Arbeitserziehung mit dem Machtantritt Erich Honeckers führte nicht zur Etablierung eines eigenen Zweiges innerhalb des Strafvollzuges. 1974 wurde die Arbeitserziehung auf Grund internationalen Druckes formal abgeschafft. Die Kriminalisierung des unteren Randes der Gesellschaft blieb bestehen. Insbesondere der§ 249 des Strafgesetzbuches der DDR bot hinreichend viele Möglichkeiten, ,,Prostitution", ,,Arbeitsscheu", insgesamt "asoziale Lebensweise", zu bestrafen. 116 Intern wurde die "Arbeitserziehung" weitergeführt. 1974, auf dem höchsten Stand, waren 8938 Personen zum Zweck der Arbeitserziehung inhaftiert. 1977 waren es noch, oder wieder, 5634. 117 Bei der Einführung der Arbeitserziehung hatten weder Betriebe noch die VVB und die Plankommission Initiative gezeigt. Aus ihrer Sicht war das ganze UnterBA Berlin (SAPMO) DY30/IV212.028/1. BA 00 1 1111580 Blatt 171. llS StAL BDVP 24.1/959, Blatt 10. 116 Das Strafgesetzbuch wurde 1968 verabschiedet und 1974 neu gefaßt. Der § 249 blieb bis zu Ende der DDR bestehen. 117 BA Berlin (SAPMO) DY30/IV2/2.039/218, Blatt 13. Diese Angaben aus einem Papier der SED stehen im Widerspruch zu Werkentin, der die internen Statistiken der staatlichen Organe wiedergibt. Nach Werkentin waren es 1974 12147 Personen; 1976, im letzten Jahr jener Statistik 8441. Vgl. Werkentin, S. 378 f. 113

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fangen problematisch, da viele der zugeführten Arbeitskräfte aus ihrer Sicht unbrauchbar waren. Entgegen den gesetzlichen Vorgaben waren auch arbeitsunfähige und gestörte Personen in die Lager verbracht worden. Trotzdem galten die Arbeitspflichtigen als ,.normale" Arbeitskraft und waren entsprechend zu entlohnen. Der Lohn schwankte 1962 zwischen 262 und 480 Mark. 118 Als Haftkosten wurden den Arbeitspflichtigen 184,50 Mark in Rechnung gestellt. Etwa 30,- Mark blieben ihnen als Taschengeld, der Rest wurde zurückgestellt oder ging an die Familien. Trotz der hohen Abführung an das Ministerium des Ionern wurden die Kosten nicht gedeckt. 119 Auch die Einsatzbetriebe, Volkseigene Güter, Ziegeleien und Textilbetriebe waren aus volkswirt-schaftlicher Sicht eher nebensächlich. Allein das Arbeitskommando in Regis, das vorwiegend Gleisbauarbeiten im Braunkohlentagebau erbrachte, war wirklich von Bedeutung. Der Einsatz von ,,Asozialen" oder ,.Arbeitsscheuen" im Braunkohlenbergbau, ganz gleich ob unter der Bezeichnung Arbeitserziehung oder in Form einer Strafhaft, blieb bis zum Ende der DDR bestehen. V. Ausblick: Der Arbeitseinsatz von Häftlingen in der Ära Bonecker Die Ära Honecker wurde nicht ohne Grund als ,.heile Welt der Diktatur" beschrieben. 120 Ein wichtiger Bestandteil dieser Gaukelei war die Illusion von der Resistenz der Gesellschaft gegen Kriminalität. Die Statistik der Inhaftierten besagt anderes. Die Zahl der Häftlinge lag durchgängig über der der 60er Jahre. Unmittelbar nach dem Machtantritt Honeckers wurde die Justiz gegen den unteren Rand der Gesellschaft aktiv. Die Zahl der zu Arbeitserziehung Verurteilten erreichte 1974 den höchsten Stand. Mehr als 12000 Menschen waren betroffen. Doch auch die Zahl der Strafgefangenen lag, außer in den Jahren der Amnestien 1979 und 1987, über dem Durchschnitt der 60er Jahre. 121 Um den Anschein der heilen Welt aufrecht zu erhalten, wurden die Strafvollzugseinrichtungen systematisch aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit verdrängt. Die Zahl der Haftarbeitslager sank. 1974 wurden sie zu eigenständigen Strafvollzugseinrichtungen, b~sonders bei den Kohletagebauen, ausgebaut. Ad-hoc-Einsätze im Bauwesen oder der Landwirtschaft wurden fast vollständig gemieden. In den StVE wurden erhebliche Investitionen getätigt, um die rationelle Auslastung der Arbeitskräfte trotzdem zu gewährleisten. 118 Sozialversicherungs- und Rentenbeiträge wurden pauschalisiert an den Staatshaushalt abgeführt. 119 Die gültige Regelung sah vor: Verpflegung 1,50 Mark; Werkküchenessen 0,80 Mark; Unterkunft 0,85 Mark, Anteil für Bewachung 2,15 Mark; kulturelle Betreuung 0,85 Mark. Kostendeckend wären 12 bis 15 Mark für Bewachung gewesen. Ebenda, Blatt 155. 12o Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur- Alltag und Herrschaft in der DDR 1971 1989, Berlin I Bonn 1998. 121 Vgl. Werkentin, S. 378.

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Im März 1977 nahm das Politbüro der SED die übliche Bilanz des Strafvollzuges entgegen. Der Einsatz aller arbeitsfahigen Strafgefangenen sei gesichert, stellte der von Innenministerium und ZK-Abteilung für Staats- und Rechtsfragen gemeinsam verfaßte Bericht fest. Im Mittelpunkt des Strafvollzuges stünde die Erziehung durch Arbeit. 122 Nach dieser prinzipiell positiven Beurteilung zeigte der Bericht auf den folgenden Seiten erhebliche Versäumnisse auf. "Erzieherische Potenzen, wie die Einbeziehung der Strafgefangenen in den Wettbewerb und die Neuererbewegung, sowie ... Qualifizierungsmaßnahmen" würden ,,noch zu wenig" genutzt. Erschwerend für ,,Maßnahmen der staatsbürgerlichen Erziehung und Bildung" wirke sich der Schichtbetrieb für etwa 50% der Häftlinge aus. Von den 22.130 im Arbeitseinsatz befindlichen Gefangenen arbeiteten 16 600 mehrschichtig, was in den produzierenden Bereichen einem Satz von 75% entsprach. Innerhalb der Einrichtungen des Strafvollzuges waren 11380 Häftlinge, außerhalb 10750 eingesetzt. Dieses Verhältnis wurde kritisch bewertet: .,Die Sicherung des Außenarbeitseinsatzes Strafgefangener ist teilweise mit erheblichem Aufwand verbunden. Erschwerend wirken sich lange Transportwege zu den Arbeitseinsatzorten aus (in Einzelfallen bis zu 70km)." 123 Trotzdem wurde die 1979er Amnestie nicht wie 1960 zu einer Umstrukturierung genutzt. Zu wichtig war der Einsatz von Häftlingen geworden. Die Frage der Erziehung wog nicht schwer genug, um Veränderungen zu veranlassen. Es ging allein um die rationellere Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte. Da die untergeordneten Hierarchien vorhersehen konnten, daß 1980 wieder mehr Häftlinge in den Gefangnissen und Lagern sitzen würden als vor der Amnestie, wurden Pläne zur wirtschaftlich erträglichen Realisierung der Amnestie erarbeitet. Im Bezirk Leipzig konzipierte die SED-Bezirksleitung zusammen mit der VVB Braunkohle die Entlassung in mehreren Etappen bis zum Jahresende. Von 759 in den Braunkohlenbetrieben des Bezirkes Leipzigs tätigen Häftlingen verblieben 301. Diese wurden im BKK Espenhain konzentriert. Im Ergebnis der Amnestie konstatierte der Abteilungsleiter der Bezirksleitung ,,Nichterfüllung der notwendigen Aufgaben in der Gleisstabilisierung", "Verzögerungen der Gleisrückprozesse", fehlende Kapazitäten bei der Wartung der Anlagen und ,,Nichtgewährleistung der vollen Produktionsfahigkeit in der ,Tüte' Brikettfabrik Phönix (Export)." Außerdem erwartete er Schwierigkeiten beim Winterbetrieb und in Schlechtwetterperioden. 124 In der Werkzeugmaschinenfabrik Altenburg sorgten Sonderschichten, Arbeitszeitverlagerungen und Sortimentsveränderungen für die Reduzierung der Produktionsausfalle in Folge der Amnestie. Der Betrieb büßte trotzdem etwas mehr als eine Million Mark ein. 125 In der Bilanz der 80er Jahre, 1987 verfaßt von Staatsanwaltschaft und Innenministerium, findet sich keine Einschätzung über Erfolg oder Mißerfolg der Erzie122 123 124 12s

BA Berlin (SAPMO) DY30/IV2/2.039/218 Blatt 5. Ebenda, Blatt 14. StAL SED-BL Leipzig IV I D-2/6/01/397, Blatt 39 f. StAL SED-BL Leipzig IV /D-2/6/389, Blatt 79 f.

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hung im Strafvollzug mehr. Das Papier aus den Akten des Politbüromitgliedes Egon Krenz besagt lediglich, daß "im Mittelpunkt des Vollzuges der Strafen mit Freiheitsentzug die Erziehung durch gesellschaftlich nützliche Arbeit unter den allgemeinen technologischen Bedingungen einer entwickelten Industrieproduktion gewährleistet wird." Daß in diesem Papier erstmals in einem internen Bericht der Zwang zur Arbeit als "Verwirklichung des Rechts auf Arbeit" stilisiert wurde, muß wohl als um sich greifender Zynismus gewertet werden. 126 In den Anlagen zu diesem Bericht findet sich auch eine der letzten für die SED erhobenen Statistiken. Für den Stichtag 20. 6. 1987 schlüsselt sie den Einsatz Gefangener nach zuständigen Ministerien auf: 127 Ministerium

Zahl der eingesetzten Häftlinge

Kohle I Energie

1539

Erzbergbau, Metallurgie, Kali

1135

Chemische Industrie

982

Elektrotechnik I Elektronik

2860

Schwermaschinen- und Anlagenbau Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau

1067 316

Allgemeiner Maschinen-Landmaschinen- und Fahrzeugbau

2071

Bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie

756 774

örtliche Versorgungswirtschaft

617

Bauwesen

272

Leichtindustrie

Verkehrswesen

164

Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft

126

Diese Aufstellung belegt den Wandel, der sich in den 70er und 80er Jahren vollzog. In den nach 1945 ,,klassischen" Bereichen des Häftlingseinsatzes Bau, Verkehr, Landwirtschaft arbeiteten nur noch 4,4% der Gefangenen. Der größte Anteil (27,2%) entfiel auf den Maschinen- und Anlagenbau, die El~ktrotechnik folgte mit 22,6%. In Bergbau, Metallurgie und Energiewirtschaft waren 21,1% beschäftigt. Die Chemische Industrie beschäftigte 7,7%, der Prozentsatz der in Leicht-, Lebensmittel- und örtlich geleiteter Industrie entsprach mit 16.9% etwa dem üblichen Frauenanteil unter den Gefangenen. Der Arbeitseinsatz blieb weiterhin integraler Bestandteil wichtiger Objekte der Volkswirtschaft. Zu den durch Ministerratsbeschlüsse als vordringlich eingestuften Vorhaben zählten die Erhöhung der Produktion von Kinderschuhen in den StVE Bützow und Halle und die Produktion von Erntemaschinen in Bützow, Bautzen I 126 121

BA BerliEEn (SAPMO) DY30/IV2/2.039/192 Blatt 79. Ebenda, Blatt 108.

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und Torgau. Ebenfalls auf Beschluß des Ministerrates wurde Braunkohle in den StVE Schwarze Pumpe, Bitterfeld, Regis und Raßnitz abgebaut. Das Programm zur Instandsetzung und zum Neubau in den Seewerften wurde mit Häftlingen aus den StVE Stralsund, Warnemünde und Bützow realisiert. Der VEB Metallwaren Naumburg beschäftigte zu 80% Häftlinge, im Getriebewerk Brandenburg waren es 40%, im Holzverarbeitungswerk Burg 50%. Diese Gefangenen arbeiten innerhalb der Strafvollzugseinrichtungen in Teilbetrieben dieser Werke. Insgesamt arbeiteten innerhalb der StVE im Juni 1987 etwa 15 000 Häftlinge, außerhalb knapp 10 000. Eine lakonische Feststellung des Berichtes verrät einiges über den Charakter der Betriebe in den Anstalten: "In den Innenarbeitsbereichen sind die Arbeitsplätze und Grundmittel ausschließlich durch Strafgefangene nutzbar. Werktätige bilden zur Auslastung der innen installierten Grundmittel kein Äquivalent für Strafgefangene."l28

VI. Fazit Bei der Untersuchung des sowjetischen GULag stellte Stettner fest, daß in der Forschung umstritten ist, ob durch das GULag-System Gewinne erwirtschaftet wurden. Eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung entspricht jedoch nicht der Bedeutung, die das Lagersystem beim Aufbau der Sowjetunion hatte. Der GULag wurde an den neuralgischen Punkten der Wirtschaftsplanung, etwa bei der Kolonisierung des Landes und bei den Großbauten des Kommunismus, eingesetzt. In bestimmten Rohstoffbranchen stellten die Zwangsarbeitslager einen großen Teil der Arbeitskräfte.129 Für die DDR muß zumindest der zweite Aspekt gelten. Gerade im Bergbau war der Einsatz von Häftlingen einkalkuliert. Doch auch bei der Verwirklichung sozialistischer Großbauobjekte wurden Gefangene eingesetzt. Daher ist Gerhard Finn zuzustimmen, der 1981 formulierte, daß die Häftlingsarbeit "volkswirtschaftlich" ein "Gewinn" sei. 13 Finns Feststellung von einer ,,Profitquelle" für das Ministerium des Innern ist jedoch zu relativieren. Der größte Teil der Einnahmen des Strafvollzuges war der einbehaltene Anteil von 75% des Bruttolohnes der Häftlinge. Hinzu kamen Sozialversicherungsanteile und Zuschüsse aus den Kultur- und Sozialfonds der Betriebe. 1964 wurden so 56,1 Millionen Mark eingenommen. Dem standen 93,2 Millionen Mark gegenüber an Ausgaben. Das Ministerium des Innern schoß also 37,1 Millionen Mark bzw. 1794.- Mark je Häftling zu. 131 Die Dekkungsquote scheint auch später nie über zwei Drittel hinausgekommen zu sein.

°

Ebenda, Blatt 92. Stettner, S. 340 ff. no Finn, S. 22. 131 BA Berlin DY30/IVA2/12/124. 128

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Der volkswirtschaftliche Nutzen war ebenfalls begrenzt. Für die Jahre 1958 und 1959 weist eine Zuarbeit zum Jahresbericht der Verwaltung Strafvollzug Angaben zur Bruttoproduktion je Häftling aus. Für 1958 bringt dieser Bericht 2.145 Mark monatlich in Ansatz. Bei 29656 Häftlingen ergibt sich eine theoretische Gesamtsumme von 763,3 Millionen Mark. Da die Beschäftigung jedoch bei 71,3% lag, dürfte die Zahl von 544,2 Millionen Mark realistisch sein. Für 1959 sind bei sinkenden Häftlingszahlen und einer erhöhten Pro-Kopf-Produktion von 2.567 Mark insgesamt theoretisch 819,3 Millionen Mark anzunehmen. Bei einer Beschäftigungsquote von 84,3% ergibt dies real677,3 Millionen Mark. 132 Das offizielle gesellschaftliche Gesamtprodukt betrug 1958 115 Milliarden Mark, 1959 waren es 128 Milliarden Mark. 133 Der Anteil der Häftlingsarbeit lag also etwa bei 0,5% de Bruttoproduktes. In den siebzigerund achtziger Jahren bestand der ökonomische Wert des Strafvollzuges dagegen vor allem in der strategischen Arbeitskräftereserve. Über die gesamte Zeit der Existenz der DDR war die repressive Funktion des Strafvollzuges bestimmend. Die Wandlung des Strafvollzuges zu einem Instrument der Erziehung blieb Fragment. Die Reformen in der DDR-Gesellschaft der sechziger Jahre hinterließen auch im Strafvollzug wenige Spuren. Das sowjetische GULag-System prägte auch die DDR, eine Emanzipation vom Vorbild blieb aus.

132 133

BA 00 1 11/1477, S. 14 f. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin 1960, S. 176.

Stasi und Strafrecht: Ein dunkles Kapitel Von Annette Weinlee Als die vom Bundesjustizministerium geförderte und von Rezensenten fast einhellig gelobte rechtstatsächliche Untersuchung zur politischen "Steuerung der Justiz in der DDR" erschien, wurde die Rolle der Staatssicherheit darin noch so gut wie vollständig ausgeblendet. Der Herausgeber der Studie, der Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner, rechtfertigte damals die Zurückhaltung vor allem mit der "medienwirksamen Aufbereitung der Stasi-Problematik" und betonte zudem den gesetzförmigen Charakter des MfS-eigenen Untersuchungsorgans, der für politisch bedeutsame Verfahren zuständigen Hauptabteilung IX (HA IX). 1 Inzwischen ist jedoch das historische Interesse an dieser Thematik gestiegen, und wo noch zuvor geschichtspolitisch begründete Vorbehalte galten - hier sei stellvertretend nur das Stichwort vom "DDR-Unrechtsstaat?" erwähnt2 -, hat sich die Optik in den letzten Jahren verschärft. So fand etwa im November 1997 eine große Fachkonferenz in den Räumen der "Gauck-Behörde" statt, die sich ausschließlich mit dem Rechtsverständnis des MfS, seiner Doppelrolle als Geheimpolizei und strafrechtlichem Untersuchungsorgan, den Überwachungs- und Kontrollfunktionen innerhalb der Justiz und nicht zuletzt seiner Einflußnahme auf bestimmte Bereiche der Recht-sprechung auseinandersetzte. 3 Dabei wurde deutlich, daß die Stasi in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Justizkaderpolitik eine weitaus bedeutendere Rolle spielte, als bis dahin vom Mainstream der Forschung angenommen worden war.4

I Hubert Rottleuthner, Zur Steuerung der Justiz in der DDR, in: ders. (Hg.), Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994, S9 ff.; hier: S. 37 f. 2 Zur der Debatte siehe den Beitrag von Peter Schneider, Rechtsstaat und Unrechtsstaat, in: Kritische Vierteljahresschrift flir Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1 ( 1996), S. 5 ff. 3 Der Tagungsband "Staatssicherheit und politische Justiz", hrsg. von Clemens Vollnhals und Roger Engelmann, erschien 1998 im Berliner Christoph Links-Verlag. 4 Auf die engen Zusanunenhänge zwischen Staatssicherheit und Justiz hatte allerdings Kar! Wilhelm Pricke als intimer Kenner der Materie in seinen älteren Arbeiten immer wieder verwiesen; als Standardwerk gilt daher inuner noch: Die DDR-Staatssicherheit. Entwicklung, Strukturen, Aktionsfelder, Köln 1989 (3. ergänzte Auflage) sowie ders., Mts intern. Macht, Strukturen, Auflösung der DDR-Staatssicherhheit. Analyse und Dokumentation, Köln 1991.

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Annette Weinke

I. Historische Bezüge der "Partnerschaft

von Sicherheits- und Justizorganen"

Zum Verständnis der diversen Stasi-Aktivitäten mit Justizbezug ist es nützlich, sich die historischen Zusammenhänge bei der MfS-Gründung am 8. Februar 1950 in Erinnerung zu rufen. Zum damaligen Zeitpunkt bestimmten vor allem zwei Hauptintentionen die Justizpolitik der SED: Zum einen ging es ihr um einen erfolgreichen Abschluß des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozesses, der zu ganz wesentlichen Teilen auch mit dem Instrument der Strafjustiz und auf der Grundlage teilweise drakonischer Strafgesetze durchgesetzt wurde. Zum anderen waren seit 1948 umfassende Parteisäuberungen innerhalb der SED und den Blockparteien angelaufen, bei denen dem ,,Ministerium für Staatssicherheit" laut Parteibeschluß vom August 1950 die Aufgabe des staatlichen Untersuchungsorgans zugesprochen wurde, während die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) für die Überprüfung der parteilichen Ebene zuständig war. 5 MfSStaatssekretär Erich Mielke6 , während des Krieges zeitweise selbst in der Westemigration, übernahm seinerzeit persönlich die Verantwortung für "Einheit und Reinheit der Partei" und die "Entlarvung von Parteifeinden". Typisch für die Arbeitsweise der zuständigen Exekutivorgane war, daß sie sich in einer rechtlichen Grauzone bewegten, ihre Kompetenzen untereinander nicht abgegrenzt waren und sie über einen weiten Spielraum an verschiedenen Repressivmaßnahmen verfügten, der im übrigen für jede Form der politischen Verfolgung konstitutiv ist. Im Gegensatz zu späteren Perioden der DDR-Geschichte arbeitete das MfS-eigene Untersuchungsorgan damals noch unter enger Anleitung der sowjetischen Untersuchungsführer aus der Kontrollkommission. Immer wieder kam es vor, daß Häftlinge nach längerer Untersuchungshaft beim MfS - in der Regel wurde der formelle Haftbefehl erst nach mehrmonatiger Inhaftierung eingeholt - zu weiteren Vernehmungen an die Sowjets übergeben wurde; einzelne Häftlinge wurden auch mehrmals hin- und rückverlegt. 7 Bis heute gibt es allerdings kaum Erkenntnisse darüber, welchen Einfluß die Sowjets auf die Auswahl der Opfer oder die Vernehmungsstrategie ausgeübt haben, da hierzu bislang keine Quellen aus russischen Ars Zu den kommunistischen Säuberungen liegt seit neuesten vor: Hermann Weber I Ulrich Mählert (Hg.), Terror. Stalinistische Parteisäuberungen 1936- 1954, Paderbom 1998; zum Einsatz der Strafjustiz siehe auch Weinke, Die lnstrumentalisierung von Staatssicherheit und Justiz für die Zwecke der innerparteilichen Säuberungen 1949-1954, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die DDR-Politik und Ideologie als Instrument. Berlin 1999, S. 507-521. 6 Wilfriede Otto, Zur Biographie von Erich Mielke. Legende und Wirklichkeit (hefte zur ddr-geschichte, Bd. 23), Berlin 1994. 7 Vgl. dazu Weinke, Der Justizfall Kurt Müller und seine Bedeutung für die kommunistische Parteisäuberungswelle im geteilten Deutschland, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4 (1997), S. 293 ff.; Hans-Eberhard Zahn, Haftbedingungen und Geständnisproduktion in den Untersuchungshaftanstalten des MfS - Psychologische Aspekte und biographische Veranschaulichung (Schriftenreihe des Berliner Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Bd. 5), Ber1in 1997.

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chiven zur Verfügung stehen. Die menschenverachtende Praxis, die sich an den traditionellen Arbeitsmethoden des NKWD orientierte, dürfte jedoch mittlerweile allgemein bekannt sein.8 In erster Linie kam es den Untersuchungsführern darauf an, mit den einschlägigen Mitteln physischer und psychischer Gewalt ,.Geständnisse" zu erarbeiten und die Opfer dazu zu bringen, möglichst viele andere Parteigenossen zu denunzieren. Obwohl die Parteisäuberungsverfahren nur in etwa einem Dutzend von Fällen nach vorheriger Festlegung durch die Partei mit gerichtlichen Verurteilungen endeten - so kam es kurz nach Stalins Tod in der DDR zu einer Welle von Geheimprozessen gegen hochrangige Funktionäre der SED und der Blockparteien - und die meisten Häftlinge nach z.T. melujähriger Haftzeit ohne Anklage und Gerichtsurteil freigelassen wurden, hatten die Parteisäuberungsverfahren dennoch langfristig prägende Konsequenzen für das Verhältnis zwischen MfS und Justiz: Zum ersten waren diese Verfahren der extremste Ausdruck eines Justizsystems, das auf programmatischer Willkür beruhte: Täter und Opfer waren in gewissem Sinne austauschbar. Die Spielregeln des scheinlegalen Procedere waren nur der SED-Parteispitze bekannt. In der Regel stellten noch nicht einmal die Opfer, geschweige denn die beteiligten, handverlesenen Justizfunktionäre die Autorität der SED als höchste juristische Instanz in Frage. Insofern festigten diese Verfahren die Indienstnahme von Recht und Justiz zur Durchsetzung politischer Herrschaft. Sie verstärkten die ohnehin vorhandene Tendenz, in ,.Rechtsfragen" Orientierung bei der Partei zu suchen. Zum zweiten bezog die Staatssicherheit aus diesen Verfahren einen wesentlichen Fundus ihres Herrschaftswissens. Den beiden hauptverantwortlichen MfS-Mitarbeitern, Erich Mielke und Alfred Scholz, der langjährige Leiter der HA IX, ermöglichte nicht zuletzt ihre Tätigkeit bei den Säuberungen eine jahrzehntelange, ungebrochene Parteikarriere. Die während dieser Verfahren gesammelten personenbezogenen Daten wurden auch später immer wieder eingesetzt, um kritische bzw. rivalisierende Parteigenossen mundtot zu machen. Symptomatisch für die langfristige Verquickung geheimdienstlicher und justizieller Aufgabenbereiche innerhalb der Behörde war, daß konspirativ gewonne Informationen für Strafverfahren jederzeit ,.offizialisiert" werden konnten, andererseits aber auch Ermittlungsverfahren und die damit verbundenen strafprozessualen Möglichkeiten für ,.politisch-operative" Zwecke eingesetzt wurden.9 Insofern verfügte die Untersuchungss Vgl. dazu Fricke, Akten-Einsicht. Rekonstruktion einer politischen Verfolgung, Berlin 1995 sowie seit neuestem ders./ Roger Engelmann, Konzentrierte Schläge. Staatssicherheitsaktionen und politische Prozesse in der DDR 1953- 1956, Berlin 1998. 9 Herbert Reinke, Staatssicherheit und Justiz, in: Im Namen des Volkes? Über die Justiz im SED-Staat. Wissenschaftlicher Begleitband zur Ausstellung des Bundesministeriums der Justiz, Leipzig 1994, S. 239 ff., hier: S. 241; wie aus einer internen Statistik der ZAIG aus dem Jahr 1978 hervorgeht, bildeten in etwa einem Drittel aller Ermittlungsverfahren operativ gewonnene Informationen den Ausgangspunkt für die Einleitung des Verfahrens (BStU, ZA, ZAIG 13913).

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abteilung des MfS, wie Clemens Vollnhals herausgestellt hat, über ein "enormes Manipulationspotential" mit stark strafpräjudizierender Wirkung. 10 Die Stasi bestimmte nicht nur die einzelnen Etappen des Untersuchungsvorgangs, sondern auch die bei den Vernehmungen anzuwendende Taktik. In den MfS-"Schlußberichten" und in Einzelfällen auch in sogenannten "Prozeßvorschlägen" legte die Stasi gegenüber der Justiz ihre Vorstellungen über den Ausgang eines bestimmten Verfahrens fest. 11 Drittens ist hervorzuheben, daß die in Jubiläumsschriften und Festreden immer wieder lauthals beschworene "Partnerschaft zwischen Justiz- und Sicherheitsorganen" das Ergebnis eines jahrzehntelangen Kompetenzgerangels zwischen Staatssicherheit, Staatsanwaltschaften und Gerichten gewesen ist, wobei die Dominanz der Stasi allerdings nie gefährdet war. So kam es z. B. im Zuge der Parteisäuberungen und im Gefolge des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 von seiten der Justiz zu harscher Kritik an den Ermittlungsmethoden der Stasi. Auch in der Folgezeit erhob vor allem die Staatsanwaltschaft alle paar Jahre erneut die Forderung, die Kompetenzen der Stasi zu begrenzen. Praktische Konsequenzen ergaben sich daraus kaum. Die unerwünschten Reibereien und Kompetenzstreitigkeiten veranlaSten die Staatssicherheit langfristig dazu, die IM-Arbeit innerhalb der Justiz und an den rechtswissenschaftliehen Fakultäten der Universitäten zu verstärken und zudem eigene Juristen auszubilden.

II. Institutionelle Entwicklung und Grundlagen der Ermittlungsarbeit Bis in die achtziger Jahre blieb § 20 des Volkspolizeigesetzes vom 11. Juni 1968 die einzige veröffentlichte Rechtsvorschrift zur Regelung der Befugnisse des MfS. 12 Laut § 88 StPO I DDR i.d.F. vom 12. Januar 1968 war das MfS-eigene Untersuchungsorgan, die Hauptabteilung oder Linie IX, neben denen des Mdl und der Zollverwaltung zuständig für die Ermittlung in Strafsachen. Die HA IX, seit Gründung des Ministeriums immer unmittelbar zum Geschäftsbereich des Ministers gehörend, bearbeitete alle politischen Strafsachen. Darunter fielen nicht nur die einschlägigen Straftatbestände gegen die staatliche und öffentliche Ordnung, sondern auch alle als "politisch bedeutsam" erachteten Delikte. Wie aus dem geheimen "Statut des Staatssekretariats für Staatssicherheit" vom Jahre 1953 hervorgeht, IO Clemens Vollnhals, "Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens" - ein trübes Paar, in: Das Parlament Nr. 25-26 vom 12./19. Juni 1998, S. 16. II Auch Vollnhals geht davon aus, daß Staatsanwälten und Gerichten die Einsicht in MfSVernehmungsprotokolle verwehrt war. Dies war offensichtlich nicht immer der Fall, denn die Kritik aus Reihen der Justiz zielte z.T. ausdrücklich auf "schlampig" geführte Vernehmungen des SfS I MfS ab. Es ist davon auszugehen, daß unausbleibliche Pannen immer wieder zur Durchbrechung der hohen Konspirationsauflagen führten. 12 Pricke, Die DDR-Staatssicherheit, S. 14.

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hatte das SfS/MfS grundsätzlich das Recht, "Verhaftungen von feindlichen Spionen, Agenten und Diversanten vorzunehmen, wenn aufgrund erworbener Unterlagen für die feindliche Tätigkeit der begründete Verdacht vorliegt oder Beweise für die feindliche Tätigkeit vorhanden sind". Es gehörte zu seinen Aufgaben, "alle erforderlichen Untersuchungen bis zum Schlußbericht an die Organe der Justiz zu führen". 13 Formell war zwar auch das MfS-Untersuchungsorgan der staatsanwaltschaftlichen Aufsicht unterworfen. Nach Einschätzung von Fricke hatte diese Festlegung jedoch zu keinem Zeitpunkt irgendeine praktische Bedeutung. 14 Im Oktober 1958 wurden sodann - zwecks "Erhöhung der Schlagkraft der Organe des MfS" - per Ministerbefehl 333/58 vom 3. Oktober 1958 die beiden bis dahin bestehenden MfS-Untersuchungsabteilungen HA IX und die Abteilung 119 zusammengelegt. 15 Daß damit jedoch auch in der Folgezeit keineswegs eine Beschränkung strafprozessualer Funktionen auf die HA IX verbunden war, geht aus folgendem Absatz hervor: ,,Die Entscheidung über Festnahmen, die sich aus der operativen Arbeit der Hauptabteilung I ergeben und die Berechtigung zur Bestätigung der entsprechenden Haftbeschlüsse verbleibt beim Leiter der Hauptabteilung I. Die Rechte und Pflichten des Leiters der Hauptabteilung IX in der Führung der Untersuchungsvorgänge gelten im gleichen Maße flir die Linie I."

Über die personelle Besetzung der erweiterten HA IX geht aus diesen Akten nichts hervor. Anband des hier zitierten Dokumentes wird deutlich, daß es innerhalb des MfS keine klaren Kompetenzabgrenzungen gab und daß die später strafprozessual vorgeschriebene Trennung von nachrichtendienstlicher und ermittelnder Tätigkeit zu keinem Zeitpunkt strukturell festgelegt war. Diese MfS-interne Besonderheit spiegelt sich im übrigen auch im Ministerbefehl 181/59 vom 13. Mai 1959 wider, der die Zuständigkeiten der HA VIII neu festgelegt. Diese hatte Ermittlungen innerhalb der DDR sowie offizielle und konspirative Festnahmen durchzuführen. 16 Mitte der sechziger Jahre fand an der Spitze der HA IX ein personeller Wechsel statt: Mit Befehl K 474/65 wurde zum 1. Juli 1965 Oberst Walter Heinitz zum Leiter HA IX ernannt. 17 Nachdem sie etwa zwei Jahre lang inoffiziell gearbeitet hatte, nahm am 1. Februar 1968 die Unterabteilung IX /11 offiziell ihre Tätigkeit auf, die mit dem Ministerbefehl 39/67 vom 23. Dezember 1967 gebildet worden war. Aufgabe dieser Abteilung war, alle Unterlagen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 systematisch zu erfassen, auszuwerten und für die Strafverfolgung von NS- und Kriegsverbrecher bzw. im propagandistischen Einsatz gegen den We13 Geheimes Statut des Staatssekretariats für Staatssicherheit, undatiert, ca. September 1953 (SAPMO-BArch J IV 2/202/62). 14 Fricke, Die DDR-Staatssicherheit, S. 49. ~~ Ministerbefehl Nr. 333/58 vom 3. 10. 1958 betr. Umstrukturierung und personelle Verstärkung der HA IX. 16 Ministerbefehl Nr. 181/59 vom 13. 5. 1959 betr. Umstrukturierung der HA VIII. 17 Mitteilung Ludwig an Leiter BV betr. personelle Verändeungen in der Leitung von HA VII, HA XX und HA IX vom 12. 7. 1965.

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sten nutzbar zu machen. 18 Wahrend der siebzigerund achtziger Jahre entstanden insgesamt 12 Referate, die für die Bearbeitung einzelner Deliktgruppen wie Spionage und Landesverrat, ,,Republikflucht" und "staatsfeindlicher Menschenhandel", Verbrechen gegen die Volkswirtschaft, Handlungen des politischen Untergrunds, Militärstraftaten, NS- und Kriegsverbrechen, "politisch-operativ bedeutsame Vorkommnisse" (Havarien, Brände) sowie die Zusammenarbeit mit den Untersuchungsorganen in den sozialistischen Nachbarländern zuständig waren. Die HA IX/5 ermittelte z. B. bei Straftaten durch MfS-Mitarbeiter. Innerhalb der Behörde kam es 1973 erneut zu einem Personalaustausch an der Spitze der Abteilung. Der langjährige Leiter HA IX Heinitz wurde in den Ruhestand versetzt, sein Nachfolger wurde Oberst Dr. Rolf Fister, der später zum Generalmajor befördert wurde. Seine Stellvertreter waren Oberst Karli Coburger (1966- 84), Oberst Ewald Pyka (1970- 88) und ab Mai 1975 Oberstleutnant Herbert Pätzel, der aber im Februar 1979 im Zuge der Affaire um die "Spionagegruppe Bad Salzungen" seines Postens enthoben und für die HA VII als "Oibe" eingesetzt wurde. Fisters 1. Stellvertreter war zuletzt Oberst Dr. Achim Kopf, die anderen beiden Stellvertreterposten waren mit Oberst Dr. Manfred Eschberger und Oberst Jürgen Lebmann besetzt. Der Mitarbeiterstab der Linie IX lag Ende 1989 bei 484 Personen in der Zentrale und weiteren 1215 Mitarbeitern in den Bezirksverwaltungen. Enge Arbeitsbeziehungen bestanden traditionell zu den K1-Kommissariaten der Volkspolizei und der Arbeitsrichtung II (Untersuchung) bei der Kriminalpolizei, aber auch zu den oberen Justizorganen bestanden gute Verbindungen. Als Vertrauensleute des MfS galten beispielsweise der langjährige MdJ-Staatssekretär Dr. Herbert Kern, der stellvertretende Generalstaatsanwalt Dr. Karl-Heinrich Borchert und beim Obersten Gericht die Präsidenten Dr. Heinrich Toeplitz, Dr. Günter Sarge sowie der Vorsitzende des OG-Militärkollegiums Alfred Hartmann, der zeitweise sogar als "Offizier im besonderen Einsatz" geführt wurde. 19 111. Schwerpunkte der Ermittlungen Laut MfS-interner Justizstatistiken führte das MfS zwischen 1952 und 1988 rund 89.000 strafrechtliche Ermittlungsverfahren durch, darunter Verfahren wegen Hochverrat und Spionage, Republikflucht, öffentliche Herabwürdigung etc. 20 Im Jahr 1988 konzentrierten sich die Ermittlungen zu 85% auf die einschlägigen Delikte gegen die staatliche und öffentliche Ordnung einschließlich Republikflucht. 21 Aber auch für die Vorermittlungen wegen NS- und Kriegsverbrechen war die HA 18 Dagmar Unverhau, Das "NS-Archiv" des Ministeriums für Staatssicherheit. Stationen einer Entwicklung, Münster 1998. 19 Clemens Vollnhals, Nomenklatur und Kaderpolitik. Staatssicherheit und die .,Sicherung" der DDR-Justiz, in: DA 2 (1998), S. 221 ff., hier: S. 237. 20 Vollnhals, Partner des politisch-operativen Zusarnmenwirkens. 21 Reinke, Staatssicherheit und Justiz, S. 242.

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IX bzw. deren Unterabteilungen 10 und ll zuständig. Ohne daß damit etwas über den jeweiligen Informationsstand der in MfS-Verfahren beteiligten Justizmitarbeiter ausgesagt werden soll, läßt sich feststellen, daß die Stasi zwar in den von ihr bearbeiteten Verfahren der eigentliche Herr des Verfahrens war, sie letzlieh aber auch auf die Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit der kooperierenden Justizfunktionäre angewiesen war. Die Stasi entschied nicht nur, ob ein Verfahren einzuleiten war, sondern auch, wie es ablaufen und was das Ergebnis sein sollte. Besonders im Laufe der achtziger Jahre tendierte sie zunehmend dazu, bei der Kosten-NutzenAnalyse für oder gegen ein förmliches Strafverfahren für letzteres zu votieren. Zu erwartende Proteste aus dem westlichen Ausland oder auch ein möglicher Prestigeverlust für die Partei- und Staatselite waren schon immer schwerwiegende Gründe, die aus Sicht des MfS gegen ein Strafverfahren sprachen, später kamen dann vor allem Sicherheitsbedenken bei der Handhabung der Ausreiseantragstellerproblematik dazu. So sah das MfS-Untersuchungsorgan in Absprache mit der HA XX/I beispielsweise im Jahre 1967 davon ab, gegen den Berliner Thomas Brasch, Sohn des DDR-Kulturministers und damals Student der Filmwissenschaft, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, obwohl er von der HA XX/I als "chronischer Unruhestifter" ausgemacht worden war. Der Sachbearbeiter der HA XX /I, Oberleutnant Puls, bezog sich in seinem Ermittlungsvermerk auf die Informationen der GI's ,,lose'', "Strohbach" und ,,DetlefWurz" und formulierte abschließend: ,,B. wurde von der Abt.XX/1 der Verwaltung Groß Berlin wegen Verbrechen gemäߧ 19 StEG bearbeitet. Nach Auskunft waren die Tatbestandsmerkmale erfüllt. Von der Einleitung eines EV wurde mit Rücksicht auf die Funktion des Vaters abgesehen. " 22

Im Oktober 1968 kam es aber dann doch noch zu einer Gerichtsverhandlung gegen Brasch. Er wurde vom Stadtgericht Berlin am 28. Oktober 1968 unter dem Vorsitz von Oberrichterin Gerda Klabuhn gemeinsam mit den Angeklagten Florian und Frank Havemann u. a. zu 2,3 Jahren Freiheitsstrafe wegen "staatsfeindlicher Hetze" nach § I 06 StGB verurteilt, weil die Gruppe in Flugblättern gegen die Mobilisierung der NVA-Truppen im August 1968 protestiert hatte. Diese Flugblätter enthielten u. a. Losungen wie "Stalin lebt", "Von deutschem Boden soll nie wieder Krieg ausgehen" sowie "Schluß mit dem feigen Überfall". Strafmaß und Strafzumessungsgrundlage waren zuvor zwischen dem MfS und dem Generalstaatsanwalt (GStA/DDR) mündlich abgesprochen worden. Aus einem undatierten Vermerk des GStA-Vertreters Windisch geht hervor, daß am 19. September 1968 eine Besprechung zwischen den Staatsanwälten Borchert, Windisch und und dem HA IXVertreter Coburger über dieses und andere Strafverfahren im Zusammenhang mit der militärischen Niederschlagung des "Prager Frühlings" stattgefunden hatte. Es wurde u. a. festgelegt, daß der vom MfS gefertigte Entwurf der Anklageschrift mitsamt der Strafvorschläge an die Staatsanwaltschaft zu schicken seien. 23 22 Vermerk Oberstleutnant Puls (HA XX /1) vom 22. 7. 1968 betr. Operativvorgang Brasch (BStU, ZA, XV 2239/68). 23 Vermerk Windisch, o.D. (BStU, ZA, XV 2239/68).

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Der Schriftsteller Jürgen Fuchs hat in seinem jüngsten Buch ,,Magdalena" richtig darauf hingewiesen, daß internationaler Bekanntheitsgrad oder einflußreiche Verwandte tatsächlich in nur wenigen Fällen Schutz vor Verhaftung geboten haben, während in der Mehrzahl der Fälle gerade das Fehlen dieser Merkmale eine erhöhte Gefährdung der Opfer bedeutet hat. Fuchs tritt damit vor allem der Auffassung der Erfurter Staatsanwaltschaft entgegen, die Anfang der neunziger Jahre die Ermittlungen im Fall Matthias Domaschk aufgenommen hatte. Domaschk, seit Anfang der siebziger Jahre Mitglied der Jungen Gemeinde (JG) in Jena mit Verbindungen zur Charta 77, soll- so lautete jedenfalls der Obduktionsbefund eines in Stasi-Diensten stehenden Polizeiarztes -durch Selbstmord in MfS-Untersuchungshaft umgekommen sein, was seine Witwe bis heute energisch bestreitet.24 Die Staatsanwaltschaft hatte seinerzeit das Verfahren u. a. mit der Begründung eingestellt, es sei unwahrscheinlich, daß Domaschk ein Opfer der MfS-Vemehmer geworden sei, weil er innerhalb der Oppositionsszene Jenas eine eher untergeordnete Rolle gespielt habe und somit die staatlichen Stellen kein "begründetes Interesse" an seiner Tötung gehabt haben könnten. 25 Hier handelt es sich zweifellos um eine Fehlperzeption der mit Regierungskriminalität befaßten Strafverfolgungsbehörden, die zusammen mit den Beweismittelschwierigkeiten dazu beigetragen hat, daß die Justizverbrechen des MfS-Untersuchungsorgans strafrechtlich im großen und ganzen ungesühnt geblieben sind. Trotzdem ist festzuhalten, daß dem MfS in der Spätphase der DDR ein ganzes Repertoire an justiziellen und nichtjustiziellen Verfolgungsmaßnahmen zur Verfügung stand und auf förmliche Ermittlungsverfahren und Inhaftierung oftmals nur noch als ultima ratio zurückgegriffen wurde. In vielen Fällen war die justizförmige Abwicklung eines Verfahrens aus Sicht des MfS kontraproduktiv, weil dies zur öffentlichen Solidarisierung führen konnte. 26 Es gab aber auch handfeste materielle Gründe, die für die Kriminalisierung bestimmter Gruppen und Personen sprach. Besonders im Zusammenhang mit der justizförmigen Kampagne gegen Ausreiseantragsteller bürgerte sich Ende der siebziger Jahre die Praxis ein, die Verurteilten gegen gewinnbringende Devisen freikaufen zu lassen. Einen Gesamtüberblick über die zahlenmäßige Entwicklung des Antragstellerwesens bieten die von Bemd Eisenfeld vorgelegten Statistiken, die sich auf das statistische Material der 1976 gegründeten "Zentralen Koordinierungsgruppe" beim MfS gründen. 27 Das MfS regi24 Siehe dazu Renale Ellmenreich, Mattbias Domaschk. Die Geschichte eines politischen Verbrechens und die Schwierigkeiten, dasselbe aufzuklären (Schriftenreihe des Landesbeauftragten des Freistaates Thüringen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Reihe C), Erfurt 1996. 2S Fuchs, Magdalena, S. 355. 26 Thomas Klein/Wilfriede Otto/Peter Grieder, Visionen. Repression und Opposition in der SED (1949-1989), Teil 1, Frankfurt/0. 1996; Siegfried Reiprich, Der verhinderte Dialog. Meine politische Exmatrikulation. Eine Dokumentation (Schriftenreihe des Robert-Havemann-Archivs 3), Berlin 1996. 27 Bernd Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe (ZKG): Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung, in: Anatomie der Staatssicherheit I MfS-Handbuch, Bd.III. l7, Berlin 1995,

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strierte erstmals im Jahre 1976 - als unmittelbare Folge der Menschenrechtsklauseln in der KSZE-Schlußakte von Helsinki -einen sprunghaften Anstieg von Ausreise willigen. 28 Zwischen 1977 bis 1983 lagen die Zahlen der Erstantragsteller bei etwa 10.000 Personen jährlich, um dann im Jahre 1984 explosionsartig auf 57.600 anzusteigen. In den folgenden Jahren betrug die Durchschnittsziffer etwa 30.000 Personen jährlich. Aus den Statistiken des GStA geht ferner hervor, daß in der DDR während der Jahre 1980 bis 1988 rund 18.000 Menschen wegen .,ungesetzlichen Grenzübertritts " auf der Grundlage des § 213 StOB verurteilt worden sind. 29 Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß die SED-Führung im Jahre 1987 die Lage im Lande mit einer restriktiven Genehmigungspraxis bewußt anheizen wollte, um durch höhere Häftlingszahlen das Freikaufgeschäft anzukurbeln. 30 So wies die MfS-Spitze Anfang 1987 die Bezirksverwaltungen konkret an, vermehrt Personen wegen vermeintlicher Straftaten im Zusammenhang mit Übersiedlungsgesuchen festnehmen zu lassen. Der Leiter der Zentralen Koordinierungsgruppe, Generalmajor Niebling, erläuterte im Spätsommer 1987 die Hintergründe der aktuellen justizpolitischen Linie: ,,Der Genosse Minister hat am 12. 2. 1987 vor den Leitern der Bezirksverwaltungen, der Stellvertretende Minister, Genosse Generalleutnant Neiber, hat am 18. 6. 1987 in seinen Ausführungen zur Frage der Entlassung von Strafgefangenen in die BRD eindeutig Stellung genommen und konkrete Aufgaben gestellt. Heute noch einmal im Klartext folgendes: Angesichts der generellen niedrigen Übersiedlungszahlen (die Quote war zuvor von der Parteiführung auf dem niedrigen Niveau festgelegt worden, A.W.)- im Verhältnis zu 1986 sind es 70% weniger- erhöht sich zwangsläufig die Notwendigkeit der Entlassung von Strafgefangenen in die BRD. Es geht um die Devisen für unsere Republik, die wir schnell und in möglichst großer Höhe benötigen. Das bedarf wohl sicher keiner weiteren Begründung." 31

Die Durchführung eines justizförmigen Verfahrens wurde vor allem in denjenigen Fällen als probates Druckmittel angesehen, in denen sich vom exemplarischen Abstrafen einer Einzelperson abschreckende Wirkung auf eine größere Gruppe versprochen wurde oder um den Betroffenen zur Ausreise oder - dies galt aber wohl nur in Ausnahmefcillen - zur IM-Tätigkeit zu zwingen. 32 Karl-Wilhelm S. 50; zur zahlenmäßigen Dimension des Ausreisewesens vgl. auch Hartmut Wendt, Die deutsch-deutschen Wanderungen. Bilanz einer 40jährigen Geschichte von Flucht und Ausreise, in: DA 24 (1991), S. 386 ff. 28 Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 22. 29 Werkentin, Die Reichweite politischer Justiz, , in: Im Namen des Volkes?, S. 179 ff., hier: S. 187. 30 Das Freikaufgeschäft wurde über die Dienststelle .,Kommerzielle Koordinierung (KoKo)" abgwickelt. 31 Zitiert aus der Anklageschrift der Berliner Staatsanwaltschaft 11 zum Verfahren 28 JS 10/94, BI. 82 f. 32 Siehe dazu auch den Bericht zum Fall des Physikers Günter Fritzsch in: Jürgen Aretz/ Wolfgang Stock, Die vergessenen Opfer der DDR. 13 erschütternde Berichte mit OriginalStasi-Akten, Bergisch Gladbach 1997, S. 66 ff.

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Fricke hat in seinen früheren Untersuchungen darauf hingewiesen, daß Personen, die wegen Staatsverbrechen in Untersuchungshaft saßen, des öfteren vom MfS zur ,,IM"-Tätigkeit aufgefordert worden seien und ihnen dafür im Gegenzug Straffreiheit in Aussicht gestellt wurde. Er selbst hat zwei Fälle dokumentiert, in denen die bloße Ablehnung dieses Ansinnens dazu führte, daß gegen die Angeklagten zusätzlich der Vorwurf der Spionage erhoben wurde und das Gericht diesen Anklagepunkt auch übernommen hat. 33 Fricke weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß es speziell bei den Spionageverfahren eine besonders enge Kooperation zwischen der HA IX und der HVA gegeben habe. So seien in den Geheimprozessen wegen Spionage -entgegen der Bestimmungen der StPO -ehemalige "Kundschafter" der HVA nach ihrer Rückkehr von der "unsichtbaren Front" vor DDR-Gerichten als Belastungszeugen aufgetreten. 34 Der Berliner Strafrechtler Klaus Marxen stellte vor einiger Zeit die These auf, daß sich die Politisierung des DDR-Rechtswesens am besten anband derjenigen Fälle nachweisen und veranschaulichen läßt, bei denen aufgrund politisch motivierter Vorbehalte von einer Strafverfolgung Abstand genommen wurde. Das folgende Fallbeispiel aus den frühen achtziger Jahren ist m.E. geeignet, diese These zu untermauern. Günter W. und Ursula W., zwei hochrangige Mitarbeiter der HA XVITI beim MfS, veruntreuten im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit als Kontrolleure von MfS-eigenen Scheinfirmen jahrelang hohe Geldbeträge und Sachwerte. Der entstandene Verlust wurde insgesamt auf etwa 6 Millionen Mark geschätzt. 3s Das MfS wurde schließlich auf die Täter aufmerksam, stellte einen Teil der Beute sicher und leitete ein Vorermittlungsverfahren ein. Die Untersuchungen wurden von der HA Kader und Schulung (HA KuSch) und der HA IXI5 übernommen. Auch nach Sicherstellung der Beute verweigerten die mutmaßlichen Täter ein Geständnis und blieben bei ihrer Einlassung, sie hätten die Schmucksachen nur vorübergehend beiseitegeschafft. Bereits im Februar 1981 hatte das MfS den tatsächlichen Sachverhalt jedoch vollständig ausermittelt Die HA IX I 5 erarbeitete am 12. Februar 1981 einen Zwischenbericht, in dem eine Reihe von Gründen dargelegt wurde, die aus Sicht des MfS gegen die Einleitung eines fOrmliehen Ermittlungsverfahrens sprachen. Wörtlich hieß es darin, aus "politisch-operativen Gründen auf die Einleitung von strafrechtlichen Maßnahmen gegen W. und W. zu verzichten". Aus dem Bericht ergibt sich des weiteren, daß die Täter nach Einschätzung des MfS-Untersuchungsorgans nach § 162 StGB I DDR (Verbrechen zum Nachteil sozialistischen Eigentums) - dieser Straftatbestand enthielt eine Strafandrohung von bis zu 10 Jahren Haft - hätten verurteilt werden müssen. Als strafmildernd erachtete die HA IXI5 aber die Tatsache, daß die Untersuchungen keine Hinweise dafür erbracht hätten, daß die Beschuldigten "aus Feindschaft gegen die DDR" gehandelt hätten: ,,Eine solche Motivation Pricke, DDR-Staatssicherheit, S. 136. Ebd. 3~ Die im folgenden Text zitierten Dokumente sind entnommen dem Verfahren 28/2 Js 285/91 bei der Berliner Staatsanwaltschaft II. 33 34

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weisen beide bei starker emotionaler Reaktion entschieden zurück". In einem undatierten Papier ohne Verfasserangabe, das in den Ermittlungsakten der HA IX abgelegt wurde, wurden ferner folgende Gründe für die Nichteinleitung des Verfahrens angeführt: "Trotz ... mehrerer rechtlicher Abschlußvarianten sind die einzelnen Komplexe so miteinander verflochten, daß einem größeren Personenkreis bekannt würde: [1.] -die Existenz der Firma Industrievertretung als Scheinfirma des MfS; [2. daß]- in dieser Firma ca. 15 Jahre keinerlei Kontrolle stattgefunden hat, was wesentlich begünstigte, daß die Straftaten einen derartigen Umfang annehmen konnten; [3. daß] - ca 20 Mill. Mark über einen längeren Zeitraum aus der Verfügungsgewalt des MfS verschwinden können, ohne daß das auffallt. Allein dieser Fakt würde bei der MStA (sie wäre zuständig) und beim Militärgericht völliges Unverständnis auslösen und den dem MfS nicht gut Gesonnenen Zündstoff liefern ... Außenstehende Personen wie Haftrichter, Staatsanwalt, Verteidiger, Richter einschließlich Schöffen, Protokollantin, ev. das Rechtsmittelgericht würden von den Straftaten in einem nur bedingt einzuengenden Umfang Kenntnis erhalten. Eine Garantie, daß Wu. nicht zu unangenehmen Komplexen Stellung nimmt, kann niemand geben."

Und bezüglich der äußeren Umstände der möglichen Gerichtsverhandlung heißt es: .Jm Ermittlungsverfahren ist Wu. nicht rechtlos. Zumindest wird er [1.] - von seinem Recht der Verteidigung Gebrauch machen und das dann aus einer offenen Kontrastellung zum MfS; [2.]- ihn entlastende Umstände vortragen, die untersucht werden müssen, Ursachen, Aufklärung begünstigender Umstände als Gesetzesauftrag an die Untersuchungen etc., [3.] - von seinem Recht, Beweisanträge zu stellen, Gebrauch machen. Jeder Antrag kann uns erneut in eine Zwickmühle führen und andere Genossen in unangenehme Situationen bringen, - unabhängig vom Ermittlungsverfahren kann Wu. von seinem Recht Gebrauch machen, sich an leitende Funktionäre (Generalstaatsanwalt bis hin zum Generalsekretär) schriftlich zu wenden, z. B. in Form einer Eingabe."

In einem von HA IX und HA XVIll gemeinsam abgefaßten Papier "Vorschläge für Entscheidungen zu den Mitarbeitern Oberstleutnant W. und Oberleutnant W." vom 16. März 1981 wurden sodann die später durchgeführten Maßnahmen - diese waren zuvor mit den Leitern der Hauptabteilungen IX, XVIll und dem Minister abgestimmt worden - festgelegt. Anstelle einer strafrechtlichen Verfolgung wurde das Duo aus der Hauptstadt nach Dresden versetzt, wo der ranghöhere W., der sich besonders uneinsichtig gezeigt hatte, als "Oibe" eingesetzt wurde. Beide Täter erhielten die Auflage, über die zurückliegenden Vorgänge strengstes Stillschweigen zu wahren und bestimmte Orte und Kontakte zu Bekannten strengstens zu meiden. Jedoch fand das MfS alsbald durch Überwachungsmaßnahmen heraus, daß es insbesondere W. nicht nur weiterhin an Schuldbewußtsein und Reue fehlen ließ, sondern daß dieser zudem mit dem Gedanken spielte, seine Dienstbehörde unter Druck zu setzen. Er hatte den Plan gefaßt, dem MfS mit der Veröffentlichung seines Falls im bundesdeutschen Nachrichtenmagazin "Spiegel" zu drohen, um eine Rückversetzung auf den früheren lukrativeren Posten zu erreichen. Im Bericht der HA XVIII heißt es dazu:

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,,Entgegen den erteilten Befehlen, die Verbindung zu leitenden Funktionären des Staatsapparates abzubrechen, versuchten die W /W- nach Absprache miteinander- nachweisbar Verbindung mit dem Minister der Finanzen, Genossen Dr. Schmieder, dem Staatssekretär Gen. Dr. Möbis und dem Staatssekretär Prof. Domagk aufzunehmen. ( . . . ) Das Verhalten des Gen. Wu. ist davon gekennzeichnet, daß er sich mit seiner neuen Aufgabe als Sicherheitsbeauftragter im Kombinat Polstermöbel in Dresden in keiner Weise identifiziert. " 36

Daraufhin wurden W. und W. im September erneut festgenommen und am 3. Dezember 1981 vom Militärkollegium des OG in der Besetzung Nagel, Knoche und Henkenstein nach 158 Abs. 1, 162 Abs. 1 und 257 StGB/DDR zu 15 bzw. 8 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Als Verteidiger war RA Wolffeingesetzt worden. Wie aus Anklage- und Urteilsschrift hervorgeht, erhielten offenbar sowohl GStA wie das Militärkollegium am Obersten Gericht (OG) über die Vorgänge bis Dezember 1981 Kenntnis. So wird in den Prozeßdokumenten zwar auf das Fehlverhalten von W. und W. nach ihrer ersten Festnahme eingegangen, über die Hintergründe derzeitweiligen Strafverschonung wird jedoch nichts gesagt. Der Fall läßt sich insofern verallgemeinern, als daß faktisch die Strafverfolgung in all jenen Fällen unterblieb, die sich nachteilig für das Ansehen des MfS ausgewirkt hätten. Andererseits belegt er auch, daß selbst im Bereich strafbarer Handlungen durch MfS-Angehörige die Abläufe auf informellem Wege abgestimmt wurden. Es gab auch hier keine Stringenz und Verläßlichkeit bei einmal getroffenen Entscheidungen, denn das Privileg der Nichtverfolgung führte grundsätzlich zur Erpreßbarkeit der staatlichen Organe und konnte daher jederzeit als Bumerang auf sie zurückschlagen. Auch bei der Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechern behielt sich das MfS die Entscheidung vor, ob gegen bestimmte Personen strafrechtlich vorgegangen werden sollte oder sie nur unter "operativer" Beobachtung bleiben sollten. Aus einem undatierten Richtlinienpapier der HA IX/ 11 zur Bearbeitung von NS- und Kriegsverbrechen geht hervor, daß die Justizpolitik in diesem Bereich zwei Hauptziele verfolgte: Einmal wollte man das internationale Prestige der DDR durch derartige Verfahren erhöhen, zum zweiten sollte durch die flächendeckende Kontrolle von verdächtigen NS-Tätern und Mitwissern ein Beitrag zur inneren Sicherheit der DDR geleistet werden. 37 Dies bedeutete in der Praxis, daß in der Regel nur diejenigen NS-Täter vor Gericht gestellt wurden, bei denen das MfS den Fall zuvor wasserdicht ausermittelt hatte und die zuvor bereits festgelegte Verurteilung auch nach internationalen Rechtsmaßstäben als vertretbar erschien. Wie die Stasi explizit formulierte, hatte die Hauptstoßwirkung der in der DDR bearbeiteten NS-Verfahren vor allem der "Entlarvung des Klassengegners als Aggressionsherd in Europa" zu dienen. 38 Dementsprechend kam es darauf an, die Ermittlungsergebnisse "taktisch klug auszuwerten".39 In den Fällen, in denen es laut Entscheidung der HA IX I 11 Bericht der HA XVIII vom 11. 5. 1981. Lektion über Rechtsfragen, Strafpolitik, Aufgabenstellung und Erfahrungen bei der Bearbeitung von Nazi- und Kriegsverbrechen, o.D., o.V., ca 1967 (BStU HA IX, 823). 38 Ebd., S. 45. 39 Ebd., S. 43. 36 37

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nicht zu einem förmlichen Ermittlungsverfahren kam, läßt sich nicht immer ohne weiteres unterscheiden, ob objektive Verfolgungshindernisse oder vorsätzliche Strafvereitelung seitens des Ermittlungsorgans vorlagen. So hatte die "operative" Beobachtung verdächtiger Personen mit NS-Vergangenheit stets zwei Seiten: Diese Methoden waren zwar rechtsstaatswidrig, aber gerade bei der schwierigen Materie der NS-Verbrechensaufklärung auch ungemein effizient. Der Stasi gingen nicht nur viele Tatverdächtige ins Netz, sondern darüber hinaus auch Nachbarn, Verwandte und Freunde, die trotz vorliegender Verdachtsmomente keine Anzeige erhoben hatten. Das MfS verfügte daher über eine zentrale Personendatei, in der sowohl Täter, Tatverdächtige, Zeugen und Mitwisser sorgfaltig über Jahre hinweg gespeichert wurden. Diese Informationen konnten jederzeit abgerufen und als Druckmittel gegen die Betroffenen eingesetzt werden. Es läßt sich somit festhalten, daß auch bei den Ermittlungen in NS-Sachen grundsätzlich "politisch-operative" Gesichtspunkte im Vordergrund standen und deshalb vielfach von einer Strafverfolgung Abstand genommen wurde, ohne daß der Staatsanwaltschaft die Hintergründe mitgeteilt wurden. So stieß die HA IX/11 beispielsweise im Jahre 1966 durch ein Rechtshilfeersuchen der polnischen Hauptkommission auf zwei DDR-Bürger, die in den dringenden Verdacht geraten waren, sich als ehemalige Mitglieder des "Selbstschutzes" an der Ermordung von polnischen Bewohnern der Stadt Rypin beteiligt zu haben40. Obwohl die Identität eines der Verdächtigen zweifelsfrei geklärt und er durch polnische Zeugenaussagen schwer belastet worden war, versuchte das MfS-Ermittlungsorgan nicht etwa als erstes, den Sachverhalt selbst aufzuklären, sondern erforschte stattdessen zwei Jahre lang die "politische, berufliche und militärische" Laufbahn des Betroffenen vor 1945 und sein "politisch-gesellschaftliches" Gesamtverhalten nach dem Krieg. Dieses wie viele andere, ähnlich gelagerte Verfahren wurde schließlich, nachdem die Stasi die Ermittlungen jahrelang verschleppt hatte, laut Weisung der HA IX/11 wegen angeblich unzureichender Beweislage, faktisch aber wohl aus innen- und außenpolitischen Gründen eingestellt. In einem anderen Fall aus dem Jahr 1964, in dem die GStA/DDR ebenfalls auf einen in der DDR lebenden mutmaßlichen Kriegsverbrecher durch ein Rechtshilfeersuchen der Ludwigsburger Zentralen Ermittlungsstelle aufmerksam geworden war, entschied die Stasi nachweislich, das Verfahren gegenüber der Staatsanwaltschaft "tot laufen" zu lassen.41

IV. Untersuchungsführer und Richter in einem: Vemetzungen von Staatspartei, Staatssicherheit und Justiz Neben der Ermittlungsarbeit lag eine der weiteren justizrelevanten Hauptaufgaben des MfS darin, die ideologische Linientreue der Justizfunktionäre durch den Einsatz geheimer Informanten zu kontrollieren. Für den Bereich der Justizüberwa40 41

BStU, ZA, HA IX, RHE Nr. 285/1-2. BStU, ZA, HA IX, RHE-West Nr. 306.

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chung war die Unterabteilung I bei der HA XX zuständig. Der Einsatz von "GI's" und "IM's" war neben der Kaderpolitik eines der effizientesten Mittel zur Erreichung eines hohen Grades von Konformität. Disziplinarische Maßnahmen wurden dadurch immer seltener, wenn nicht gar völlig überflüssig. Auf dem Wege der informellen Überwachung konnte jede Regung zur Abweichung und zum Dissenz sofort registriert und gezielt bekämpft werden. Friedrich Feistkorn, seit 1954 Richter am 1. OG-Strafsenat, wurde im September 1958 von der HA V /1/ I des MfS als informeller Mitarbeiter angeworben. Er war zunächst als einfacher GI, ab Juni 1959 als Gffi (Geheimer Hauptinformator) registriert und wurde im August I962 "aufgrund besonderer Umstände, die nicht in der Person des IM liegen", wieder zum GI herabgestuft.42 Im Januar I963 brach das MfS die inoffizielle Zusammenarbeit ab. Am I 0. September 1958 unterbreitete Unterleutnant Roseher seinem Abteilungsleiter Kienberg den Vorschlag zur Anwerbung des 00-Richters. Zur Begründung hieß es, mehrere inoffizielle Mitarbeiter seien aus dem OG ausgeschieden, wodurch die Notwendigkeit bestehe, diese durch einen qualifizierten Richter zu ersetzen. Von seiten des MfS wurde es als besonders wichtig angesehen, einen geheimen Informanten im I . Strafsenat zu haben. Roseher hielt Feistkorn für einen geeigneten Kandidaten, weil er - wie es heißt den Zielen der Partei stets verbunden gewesen sei und auch in der Krisenzeit nach dem XX. KPdSU-Parteitag keine liberalistischen Tendenzen gezeigt habe. Feistkorn habe sich "ohne Zögern" bereit gezeigt, sich außerhalb des Gerichts zu einem Treff mit den MfS-Beamten zu verabreden.43 Wenige Tage später kam es zur ersten Unterredung. Diese führte zu einer Verpflichtungserklärung, die Feistkorn bereitwillig unterschrieb: ,,Dem Kandidaten war aufgrund seiner strafrechtlichen Tatigkeit im Verfahren (Verfahren des MfS) bereits einiges über unsere Aufgaben und Tatigkeit bekannt, so daß er gleich einwilligte, sich außerhalb des OG mit dem Mitarbeiter zu treffen . .. Das Prinzip, über alle Dinge, die ihm in der Zusammenarbeit mit dem MfS bekannt werden, zu schweigen, sah er aufgrund seiner gesamten bisherigen Tlitigkeit als eine Selbstverständlichkeit an, da ihm aus den Prozessen bekannt ist, daß die Erfolge des MfS nur bei strengster Wahrung der Konspiration möglich gewesen sind."44

Wie aus einem Anfang 1962 verfaßten Perspektivplan zuin GHI "Fred" hervorgeht, erfüllte Feistkorn die Erwartungen des MfS zur vollsten Zufriedenheit. An ihm wurde besonders geschätzt, daß er auch von sich aus auftretende Rechtsprobleme an das MfS herantrug und durch seine guten Verbindungen zu den Richtern der übrigen Strafsenate zur Klärung ideologischer Unklarheiten beitrug. Zu seinen Aufgabenfeldern zählte "ständiges Auseinandersetzen mit polit-ideologischen Fra42 Dem widerspricht, daß Feistkorn laut eines Abschlußvermerks der HA V /I/ I auch im Januar 1963 als GHI geführt wurde. 43 AlM-Vorgang zum GI ,,Fred" (BStU, ZA, AlM 2763/63) und zum IMK/KW ,,Eichhorn" (BStU, ZA, AlM 8260/91). 44 Vermerk Unterleutnant Roseher (HA V /1 II) vom 23. 9. 1958.

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gen, da die Atmosphäre des OG oftmals zu Versöhnlertum" tendiere, die "operative" Absicherung der Strafsenate des OG, später die des Militärsenats-Feistkorn sollte im September I Oktober 1962 zum Richter am obersten Militärstrafsenat ernannt werden - sowie die ,,Berichterstattung und Analysierung bestimmter Probleme der Rechtsprechung an den Bezirksgerichten". Die insgesamt positive Einschätzung erfuhr lediglich dadurch eine gewisse Einschränkung, daß Feistkorn wenige Monate vor dem Mauerbau in einer Unterredung mit dem MfS äußerte, die Urteile des 1. Strafsenats sollten den Verteidigern ausgehändigt werden, da die westlichen Dienststellen mit den Urteilstexten ohnehin nicht viel anfangen könnten. Angesichts der bewußt breit angelegten Aufgabenbeschreibung des Glß ,,Fred" kann es nicht verwundern, daß dessen Berichte an das MfS ein Sammelsurium von dienstlichen und privaten Informationen über seine Kollegen darstellten. Diese betrafen sowohl die allgemeine politische Haltung einzelner Genossen wie auch ihr Verhalten in Bezug auf bestimmte Verfahren. So berichtete er beispielsweise, daß sich Richter Jahn nur unzureichend auf anstehende Verhandlungen vorbereite und dehalb im Verfahren gegen den Abweichler Prof. Kurt Vieweg die meiste Zeit "geschwommen" habe.45 Demgegenüber kreidete er dem Arbeitsrichter Rudelt an, daß dieser lediglich den OG-Präsidenten Toeplitz zu seiner Hochzeit eingeladen habe, womit er wohl einer Aussprache vor der Parteiversammlung habe ausweichen wollen.46 Aufschlußreich sind auch Feistkorns Ausführungen zum Verhältnis zwischen OG, MdJ und Partei und dem Entscheidungsprozeß bei politisch problematischen Verfahren. So schildert er beispielsweise das Verhalten des OG-Kollegen Rothschild, der von der behördeneigenen Parteigrundorganisation (GO) wegen einer Entscheidung kritisiert worden war und daraufhin antwortete: "Was ihr (die Partei) sagt, interessiert mich nicht, dann spreche ich eben mit dem Präsidenten (CDU)."47 Demgegenüber kritisiert Feistkorn den "drückebergerischen" Kollegen Gey, der immerzu einer eigenen Entscheidung ausweiche und stattdessen stets die Linie der Partei, d. h. die Meinung des Kollektivs, vertrete. Er berichtet, daß das MdJ aufgrund der latenten Kompetenzstreitigkeiten mehrmals in laufende Strafverfahren eingegriffen und entsprechende Anleitungsdirektiven des OG ohne Rücksprache außer Kraft gesetzt habe. An anderer Stelle kritisiert Feistkorn den Gen. Mühlberger, Vorsitzender des 1. Strafsenats, der bei jeder Entscheidung und Auseinandersetzung die Rückendeckung durch den Sektor, dem für das OG zuständigen Mitarbeiter bei der ZK-Abteilung "Staats- und Rechtsfragen", suche. Feistkorn hebt mehrmals hervor, daß aufgrund der unübersehbaren Führungsschwäche des OG-Vize Jahn der OG-Richter Mühtherger die politische Instruktion der Genossen übernommen habe: "Als Gruppenleiter nimmt der Gen. Mühtherger öfter die Vorsitzenden der Strafsenate zusammen und konkretisiert die Beschlüsse der Partei für das 00."48 •s Treffbericht 29. 2. 1960. 46 Treffbericht vom 19. 4. 1962. 47 Treffbericht vom 30. 9. 1960. 48 Treffbericht vom 24. 11. 1961.

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Auch über laufende Verfahren unterrichtete Feistkorn das MfS. So informierte er das MfS, daß Heinrich Toeplitz und dessen Stellvertreter Walter Ziegler eine Kassation beabsichtigen, der eine ,,rechtlich falsche Konzeption" zugrunde liege. Ziegler habe ihm erklärt, daß er angesicht des zu erwartenden Widerstandes gegen die Kassation das Politbüro oder den Verteidigungsrat anrufen werde. 49 Feistkorn gab Empfehlungen zur personellen Besetzung der 1. Strafsenate, was belegt, daß das MfS hier entscheidend mitzureden hatte. Besondere scharfe Kritik übte er an einem Richter, der zu Beginn seiner Dienstzeit gegenüber dem Kollegen Reinwarth geäußert hatte, daß er ausschließlich Zivilsachen bearbeiten wolle. Feistkorn charakterisierte diesen Richter als "total verspießert" und bezweifelte die fachlichen Qualifikation des Kollegen. Aus dem Bericht geht hervor, daß Richter Erler dann tatsächlich nur noch mit Zivilsachen betraut wurde. Ein weiterer inoffizieller Mitarbeiter am OG war der Richter Johannes Schreiter, der erst Ende 1961 an das OG berufen wurde und bereits kurze Zeit später vom MfS angeworben wurde. Seit Anfang 1962 fertigte er für das MfS unter dem Decknamen ,,Manfred" Berichte an. 50 Sehreiter war vor allem deswegen ausgewählt worden, weil er bereits vor seiner Berufung an das OG eng mit dem MfS zusammengarheilet hatte und die von dort gegebenen Hinweise "stets beachtet" hatte. Als Sehreiters einzige berufliche Fehlleistung sah das MfS an, daß er in einem Spionageverfahren auf Freispruch entschieden hatte, weil der Angeklagte gute Arbeitsleistungen gebracht hatte. Er wurde im Jahre 1969 zur Umregistrierung zum IMS (Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit) vorgeschlagen und arbeitete bis Ende 1982 mit dem MfS zusammen. Das MfS attestierte ihm in seinem Abschlußbericht hohe Einsatzbereitschaft und Initiative: ,,Im Laufe der 20jährigen Zusammenarbeit bewies der IM seine Treue zum MfS. Eine Dekonspiration konnte nicht festgestellt werden." In seinen Berichten an die "Firma" nahm Sehreiter regelmäßig Stellung gegen sogenannte "aufweichlerische" Kollegen und kritisierte die Tendenz zu einer "überparteilichen Rechtsprechung", die auch entlastende Momente berücksichtigte. Auch Besuche in Westberlin oder das Fehlen an gemeinsamen Festveranstaltungen wurden peinlich genau registriert und gemeldet. Sogar die Garderobe wurde in Augenschein genommen: "Über den Richter Gey berichtete der GI, daß Gey am 1. 5. 1962 wieder unangenehm auffiel, weil er zur Kampfgruppenkleidung braune Halbschuhe trug und behauptete, daß er Stiefel nicht tragen könne und keine schwarze Schuhe besitze:·si Eine langjährige zuverlässige Informantin war auch Gerda Klabuhn, Richterin am 1. Strafsenat des Berliner Stadtgerichts.52 Ihrer Neigung zum Klatsch kam entgegen, daß das MfS die Absicherung der kadermäßigen Situation an den Gerichten als einen der wichtigsten Aufgabenbereiche der ,,Linie Justiz" ansah. Klabuhns Treffbericht 19. 4. 1962. AlM-Vorgang zum IM/GM ,,Manfred"(BStU, ZA, AlM 16905/82). ~~ Treffbericht vom 12. 6. 1962. s2 AlM-Vorgang zum GMSIIMS ,,Richter" (BStU, ZA, AlM 2957/84).

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Motivation zur konspirativen Zusammenarbeit war offensichtlich neben ihrem Drang zu beruflicher Profliierung vor allem dadurch begründet, daß sie als alleinerziehende Mutter dreier Kinder erhebliche Erziehungsprobleme hatte und das MfS in dieser Hinsicht regelmäßig um Unterstützung bat. Klabuhn wurde im Jahre 1971 zunächst als GMS (Gesellschaftlicher Mitarbeiter Sicherheit) angeworben und im September 1979 zum IMS umregistriert. Als Begründung für ihre Werbung ftihrte die Abt. XX/1 an, Klabuhn habe einen festen Klassenstandpunkt und vertrete stets die Interessen des MfS. In der internen Beurteilung des MfS aus dem Jahre 1979 wird sie als einsatzbereite, zuverlässige und ehrliche Informantin eingeschätzt, die infolge ihrer beruflichen Tatigkeit am 1. Strafsenat jahrelange Kontakte zur HA IX und zur Abt.IX des MfS hatte. Als einziges Defizit sah das MfS die Tatsache an, daß Klabuhn in politischen Fragen zu "überspitzten, radikalen" Positionen neige und daher für den operativen Einsatz, d. h. die suggestive Beeinflussung ihrer Kollegen, nicht ohne weiteres geeignet sei. Ihre Hauptaufgabe lag in der Folgezeit in der Absicherung der Ier-Senate des Stadtgerichts. Anläßlich ihrer Urnregistrierung wurde ihr im September 1979 von MfS-Leutnant Wittstock erklärt, daß künftig in beiderseitigem Interesse nach streng konspirativen Richtlinien zusammengearbeitet und sie daher nur noch in "dringenden Fällen" angelaufen werde. Klabuhn äußerte sich in der Folgezeit freimütig zu den verschiedensten justizpolitischen Fragen und kommentierte vor allem die politisch-ideologische Haltung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten. Interessant sind auch ihre Bemerkungen zur Auswirkung aktueller justizpolitischer Maßnahmen der Partei. So beschwerte sie sich Ende Oktober 1974 anläßlich der allgemeinen Amnestie zum Jahrestag der DDR-Gründung, daß sie sich angesichts fehlender Verfahren langweile und deshalb kurzfristig an das StBG Köpenick gewechselt habe, um dort Scheidungssachen zu bearbeiten. Wie sie darlegt, habe der 1. Senat alle laufenden Verfahren wegen politischer Straftaten eingestellt. Außerdem hätten die Richter erregte Debatten geführt, weil ihnen die im Amnestiebeschluß veröffentlichte Formulierung über politsche Delikte nicht gefallen habe. Klabuhn wies das MfS auch daraufhin, daß die beengten Räumlichkeiten des Stadtgerichtes den Geheimhaltungsauflagen des MfS abträglich sei: ,,Der GMS meint, daß es nicht angenehm ist, wenn er eine Akte vom MfS auf dem Tisch hat und irgendein Bürger steht plötzlich am Schreibtisch". 53

Insgesamt ließ Klabuhn an kaum einem Justizfunktionär ein gutes Haar. Im Mittelpunkt ihrer Kritik standen stets ihre Vorgesetzen Dr. Hugot und Dr. Nehmer, denen sie Prestigesucht und Führungsschwäche bescheinigte. Über Dr. Hugot meinte sie im Jahre 1975: "Gen. H. hat sich wiederholt gegen engere Kontakte seitens der Oberrichter und Richter des StG zur HA IX und zur Abt. IX des MfS ausgesprochen. Er hat die Befürchtung, diese Kontakte könnten zu eng werden und das MfS könnte Internes in Erfahrung bringen, wor-

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Treffbericht vom 19. 2. 1974.

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aus ihm Konsequenzen erwachsen. In dieser Beziehung ist er sich auch einig mit seinen Stellvertretern Probst und Riede!. " 54

Ihrem Kollegen Wetzenstein-Ollenschläger, Richter am landesweit bekannten MfS-Stadtbezirksgericht in Berlin-Lichtenberg, attestierte sie, kein fundiertes marxistisch-leninistisches Wissen zu haben und deshalb falsche politisch-ideologische Meinungen zu vertreten. 55 Außerdem habe er Differenzen mit der SED-Kreisleitung, was seiner Karriere aber offensichtlich keinen Abruch tat. Staatsanwältin Benser von der Ia-Abteilung des GStA/Berlin hielt sie für weder persönlich noch fachlich geeignet, da sie während der Verfahren oft "sehr lange überlegen" müsse. 56 Aufschlußreich ist auch ihre Einschätzung zum Auftreten einzelner Rechtsanwälte. So war ihr aufgefallen, daß RA Creuzburg, der zuvor niemals Strafsachen bearbeitet habe, nun verstärkt in Strafsachen auftrete. Klabuhn vermutete, daß sein Engagement ftir die Angeklagten - von denen er vielfach als Wahlverteidiger benannt werde - darauf zurückzuführen sei, daß er vom Westberliner Senat Aufträge erhalte. Zur Person von RA Gregor Gysi berichtete Klabuhn im Jahre 1974: ,,RAG. soll nach Meinung des GMS nicht bei allen Strafsachen zu gebrauchen sein. Besonders bei Staatsverbrechen sei RA G. nicht richtig geeignet, da er gewisse liberale Tendenzen aufweist. " 51

Einige Monate später relativierte der GMS seine Einschätzung etwas: ,,RA G. ist ein hochintelligenter Mensch, . .. Es besteht die Gefahr, daß ihm wegen seiner Intelligenz hofiert wird ... RAG. ließ bisher keine Zweifel aufkommen über seine politische Zuverlässigkeit. Er wendet sein Wissen in richtiger Richtung an und guckt sich bei Prozessen auch vorher genau an, mit welchen Richtern er es zu tun hat. Er ist ein gewissenhafter Anwalt. Er ist in der Lage von heute auf morgen Aufgaben zu übernehmen und sie zu realisieren. Er ist ein guter Jurist, aber kein Geschäftemacher: So setzt er sich als Pflichtverteidiger für seine Mandanten ebenso ein wie er es tun würde als Wahlverteidiger."ss

Die Zusammenarbeit mit dem IMS ,,Richter" endete Anfang 1984, da das MfS bei Klabuhn einen starken Verfall in physischer und psychischer Hinsicht festzustellen meinte. Außerdem - so lautete die Begründung - befinde sich der IMS in einer Position, welche kaum "inoffizielle Arbeit an operativ-interessanten Personen" zulasse. 59 54 Treffbericht vom 16. 4. 1975; aus einem Vermerk von Oberst Schwanitz geht hervor, daß das MfS im Juli 1976 plante, mit Dr. Hugot eine längere Aussprache- eventuell zur aktuellen strafrechtlichen Kampagne gegen die Kulturopposition - zu führen. Dieses Vorhaben wurde vorübergehend aufgegeben, da die Gefahr bestand, daß die Quelle dekonspiriert werden könnte (Vermerk HA XX/1 vom 10. 7. 1976). ss Treffbericht vom 9. 10. 1974. S6 Ebd. 57 Treffbericht vom 30. 8. 1974. 58 Treffbericht vom 16. 4. 1975.

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Grundsätzlich war eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Geheimnisträger unter den DDR-Justizfunktionären ihre "politisch-operative" Zuverlässigkeit, d. h. ihre Befähigung zu absoluter Verschwiegenheit über die konspirative Zusammenarbeit mit dem MfS und anderen Staatsorganen. So attestierte beispielsweise die HA I beim MfNV dem Militärrichter Dr. Günter Sarge im Jahre 1977 in Bezug auf "p.o. bedeutsame Verhaltensweisen": ,,Ein besonders gutes Verhältnis besteht seitens des Gen. Sarge zum Untersuchungsorgan des MfS. Häufig finden vor Verhandlungen über Staatsverbrechen, deren Vorsitz Generalmajor Dr. Sarge selbst übernahm, Absprachen mit den Genossen des Untersuchungsorgans statt. Die getroffenen Vereinbarungen werden durch Gen. Sarge stets eingehalten."60

Es läßt sich heute nur in Umrissen bemessen, welchen Einfluß die personellen und strukturellen Verflechtungen zwischen Stasi und Justiz auf die Abläufe in der "Wende"-Zeit genommen haben. Besonders die noch zu DDR-Zeiten eingeleiteten Ansätze zu einer juristischen Vergangenheitsaufarbeitung scheint das MfS in seinem Sinne gesteuert zu haben. Sowohl innerhalb der Volkskammer, den Gerichten und Staatsanwaltschaften wie auch im Justizministerium und sogar im wichtigsten Transformationsgremium, dem Zentralen Runden Tisch, hatte die Stasi ihre Informanten positioniert. So war nicht nur der Vorsitzende des Volkskammer-Untersuchungsausschusses zur Aufklärung von "Amtsmißbrauch und Korruption", der CDU-Abgeordnete Heinrich Toeplitz, ein Vertrauensmann des MfS, auch der Mitte Januar abgelöste OG-Präsident Günther Sarge fiel in diese Kategorie. Sowohl Justizminister Heusinger wie auch sein Nachfolger, der seit Januar 1990 amtierende Kurt Wünsche waren langjährige geheime Mitarbeiter des MfS. MdJ-Staatssekretär Siegfried Wittenbeck, bis 1990 zuständig für Strafrechtsfragen und Rehabilitierungen, wurde noch 1987 vom MfS für seine langjährige Kooperation gelobt. MdJHauptabteilungsleiter Wolfgang Peiler, einer der Hauptverhandlungsführer in den Gesprächen mit dem BMJ über die deutsche Rechtseinheit, hatte zuvor das MfS in Form offizieller Kontakte bei seiner operativen Arbeit durch "hohe Einsatzbereitschaft" unterstützt.61 Außerdem war es dem MfS auch gelungen, mit Wolfgang Schnur und Günter Waldmann zwei langjährige Informanten am Runden Tisch unterzubringen. Die beiden wurden zu Vorsitzenden der Arbeitsgruppe gewählt, die für Strafrechts- und Rehabilitierungsfragen zuständig war. In dieser Funktion gelang es Schnur beispielsweise, darauf hinzuwirken, daß die besonders vom Neuen Forum geforderte personelle Erneuerung des Justizdienstes zu DDR-Zeiten nicht mehr stattfinden konnte.

Vermerk HA XX /1 vom 22. 2. 1984. Zitiert nach Vollnhals, Nomenklatur und Kaderpolitik, S. 234 f., Anm. 71. 6t Siehe dazu Weinke, Die Rolle der DDR-Justiz während der Regierungszeit Modrows (Beitrag zum Bericht an die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Regierungszeit Modrow), unveröfftl. Ms (Berlin 1998) 60 S. sowie Vollnhals, Nomenklatur und Kaderpolitik. 59

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V. Schlußbetrachtung

Nicht erst seit der dramatischen Abwicklungswelle im Zeichen des deutschdeutschen Vereinigungsprozesses, sondern schon mit Beginn der "friedlichen Revolution" hatten sich die Justizjuristen der DDR als Berufsstand nahezu geschlossen auf die selbstberuhigende Ausrede verlegt, ihnen sei über die jahrzehntelang währende, enge Zusammenarbeit zwischen Justiz- und Sicherheitsorganen bei der Verfolgung politischer Gegner im Grunde nichts näheres bekannt gewesen. 62 Die Dokumente sprechen jedoch eine andere Sprache. So spiegeln sie zunächst die vielfältigen Formen des "politisch-operativen" Zusammenwirkens zwischen Stasi und Justiz wider. Im Bereich der politischen Strafjustiz arbeiteten MfS-Untersuchungsorgan und die zuständigen Justizfunktionäre notwendigerweise schon aus dem Grunde immer enger zusammen, um die propagandistische Fiktion vom "sozialistischen Rechtsstaat" nicht zu gefährden. Die MfS-Untersuchungsftihrer konnten, teilweise auf Grund vorheriger Absprachen zwischen Honecker und Mielke, ein Verfahren dadurch präjudizieren, indem sie jenseits der geltenden Rechtslage nach den Gesichtspunkten des politisch-ideologischen Kampfes über die Offizialisierung von Operativvorgängen zu förmlichen Ermittlungsverfahren und von konspirativ gewonnenen Informationen zu gerichtsverwertbaren Ermittlungsergebnissen entscheiden konnten. Sie bestimmten im voraus den Kreis der zu überwachenden oder festzunehmenden Personen, legten den Vernehmungplan und sogar den Prozeßverlauf einschließlich Berichterstattung fest, wählten die zuständigen Juristen aus und einigten sich mit diesen über Strafmaß und Strafvollstreckung. Den Justizorganen kam somit in den vom MfS bearbeiteten Verfahren nur eine ausfUhrende Statistenrolle zu, die sie in der Regel anstandslos ausfüllten. Darüber hinaus bestanden aber nicht nur im Bereich der politischen Strafjustiz enge Kontakte, sondern diese gab es auch in allen anderen Rechtsprechungsgebieten, die für die Sicherheitsinteressen der SED von Bedeutung waren. Dazu zählte seit Mitte der siebzigerJahrevor allem die Rechtsprechung in Arbeitsrechtssachen, die gemäß geheimer Absprachen zwischen der Parteileitung und den Sicherheits- und Justizorganen de facto ein Berufsverbot für die Gruppe der Ausreiseantragsteller bedeutete. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die hier und anderenorts dokumentierten Fälle in ihrer Gesamtheit die tragende Rolle der Staatssicherheit bei der Durchsetzung des ,,Primats der Politik" in der DDR-Rechtspflege belegen. Wie Vollnhals es kürzlich formulierte, verkörperte somit das MfS den politischen Willen, den die Justizorgane gemäß ihrer Zuständigkeit nur umzusetzen hatten. 63 Laut einer Defi62 Ausfuhrlieh dazu Weinke, Die DDR-Justiz im Jahr der "Wende". Zur Transformation der DDR-Juristen. von "Tätern" zu "Opfern", in: Deutschland-Archiv 1 (1997), S. 41 ff.; auch Rottleuthner übernahm für seine große Studie seinerzeit auch ungeprüft die Aussagen ehemaliger DDR-Richter, von den Abstimmungen zwischen MfS, SED und Staatsanwaltschaften in Bezug auf Einzelverfahren nichts erfahren zu haben: Diese Einlassung trifft jedenfalls für die mit politischen Verfahren beauftragten Richter per se nicht zu und konnte inzwischen durch quellengestützte Forschung in zahlreichen Einzelfällen widerlegt werden. 63 Vollnhals, Partner des politisch-operativen Zusammenwirkens.

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nition des Rechtshistorikers Joachim Pereis erfüllt der Maßnahmestaat im Bereich des Justizsystems vor allem zwei Funktionen: Er bedient sich je nach Lage der Dinge technisch-juristischer Instrumentarien, oder aber er geht über die vorhandenen Normen hinweg. 64 Gemäß dieser Beschreibung wäre also die Linie IX der Staatssicherheit der eigentliche maßnahmestaatliche Motor im Getriebe des DDRJustizsystem gewesen. Aber nicht nur in der Rechtspflege, sondern auch bei der Anleitung und Kontrolle der Justizorgane spielte die HA IX eine dominierende Rolle. Auf den turnusmäßig statttindenen Beratungen der Leiter der oberen Justizorgane war regelmäßig ein MfS-Vertreter zugegen; keines der aus diesen Sitzungen hervorgegangenen Anleitungsdokumente - dies waren vor allem "Orientierungen" und "Standpunkte" zur Auslegung bestimmter Rechtsfragen- dürfte ohne Zustimmung des MfS entstanden sein. Daneben dürfte dem MfS auch bei den fortlaufenden Verschärfungen des politischen Strafrechts seit 1979 eine maßgebliche Bedeutung zukommen; die bislang vorliegenden Dokumente lassen jedenfalls diese Vermutung zu. Schließlich und endlich übte das MfS aber nicht nur Einfluß auf die Justiz aus, sondern steuerte diese auch zu einem quantitativ nicht zu bestimmenden Maß von innen heraus. Alle Kaderentscheidungen im Bereich der politischen Strafjustiz, dies gilt auch besonders für die Militärjustiz, mußten zuvor vom MfS genehmigt werden. Als zusätzliches Steuerungs- und Kontrollinstrument verfügte die Stasi in allen Rängen der Zivil- und Militärjustiz über geheime Informanten, die jedes Anzeichen von politisch-ideologischer Unzuverlässigkeit, geistiger Unabhängigkeit, fehlender Konformität oder auch fachlicher Unsicherheit peinlich genau registrierten und weiterleiteten. War angesichts der schwierigen Beweismittelsituation und restriktiven höchstrichterlichen Rechtsprechung schon die Strafverfolgung von einem DDR-Juristen zum Scheitern verurteilt, so sollte dies erst recht für die Vernehmungsführer und Hauptabteilungsleiter der Linie IX gelten. Zwar läßt sich anband der vorliegenden Justizstatistiken nicht ermitteln, wie viele MfS-Mitarbeiter insgesamt wegen Beteiligung an Justizverbrechen verurteilt wurden, jedoch dürfte ihre Zahl aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr als eine Handvoll betragen.65 Angesichts der fehlgeschlagenen juristischen Ahndung von DDR-Justizverbrechen erscheint es deshalb um so wichtiger, daß die historische Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels endlich vorankommt.

64 Joachim Perels, Der Nürnberger Juristenprozeß im Kontext der Nachkriegsgeschichte, in: Kritische Justiz 31 (1998), Heft I; S. 84 ff., hier: S. 91. M Laut einer Statiktik der Berliner Staatsanwalt II vom März 1998 gab es bis dahin 56 Anklagen gegen insgesamt 78 ehemalige hauptamtliche MfS-Mitarbeiter, davon endeten 14 Verfahren mit einer rechtskräftigen Verurteilung. II Timmermann

Autorenverzeichnis Henrik Eberle

Universität Halle

Dt Hubertus Knabe

Gauck-Behörde, Berlin

Prof. Dt Klaus Letzgus

Staatssekretär a.d., Rechtsanwalt, München

PD Dr. Dt Lothar Mertens

Universität Bochum

Dr. Ute Schneider

TH Darmstadt

Prof. Dt Dieter Strempel

Universität Marburg und Bonn

Prof. Dr. Dt Heiner Timmermann

Sozialwissenschaftliches Forschungs-Institut der Europäischen Akademie Otzenhausen, Universität Jena

Annette Weinke

Staatsanwaltschaft ll, Berlin

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