Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren: Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption [1 ed.] 9783428515394, 9783428115396

Thomas Groh entwickelt in seiner Arbeit eine Alternative zu der herkömmlichen, auf der Dichotomie zwischen Auslegung und

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Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren: Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption [1 ed.]
 9783428515394, 9783428115396

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Schriften zum Europäischen Recht Band 113

Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption

Von Thomas Groh

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

THOMAS GROH

Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 113

Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren Plädoyer für eine zielorientierte Konzeption

Von Thomas Groh

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität des Saarlandes hat diese Arbeit im Wintersemester 2003/2004 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-11539-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

It is necessary to interpret Article 234, like all other general provisions of Community Law and in particular the provisions of the Treaty, in an evolutionary way. Francis G. Jacobs

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2003 / 2004 von der Rechtsund Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität des Saarlandes als Dissertation angenommen. Für die Drucklegung habe ich sie auf den Stand vom 1. Mai 2004 gebracht. Es ist mir ein Bedürfnis, auch an dieser Stelle denjenigen zu danken, ohne die diese Dissertation nicht zustandegekommen wäre. Vor allen anderen gilt dies für den Präsidenten des Bundesgerichtshofs und ehemaligen Richter am EuGH, Herrn Professor Dr. Günter Hirsch, der die Arbeit als Doktorvater betreut und mich während der gesamten Dauer ihrer Entstehung in einer Weise gefördert hat, die im heutigen Wissenschaftsbetrieb ihresgleichen sucht. Sein Vertrauen in meine fachlichen und persönlichen Fähigkeiten wird mir auch weiterhin Ansporn und Anspruch sein. Für die Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens und dessen zügige Erstellung danke ich Herrn Richter am EGMR Professor Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Georg Ress. Herrn Professor Dr. Ulrich Fastenrath möchte ich für den großzügigen akademischen Freiraum danken, den er mir als wissenschaftlichem Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl gewährt hat und ohne den die Anfertigung einer solchen Arbeit kaum möglich ist. Von einer vergleichbaren Freiheit konnte ich auch während meiner rechtsanwaltlichen Tätigkeit profitieren, wofür ich Herrn Rechtsanwalt Dr. Bernhard Gutterer Dank schulde. Zahlreiche wertvolle Gespräche haben zur Klärung meiner Gedanken und zur Vermeidung von Ungenauigkeiten beigetragen. Stellvertretend für die vielen, die hieran Anteil haben, möchte ich hier Constantin Köster und Jörn Kowalewski erwähnen. Für verbleibende Schwächen oder Fehler der Arbeit trage ich selbstverständlich die alleinige Verantwortung. Auch den Herausgebern der Schriftenreihe, Herrn Professor Dr. Siegfried Magiera und Herrn Professor Dr. Dr. Detlef Merten, danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die „Schriften zum Europäischen Recht“. Meinen Eltern danke ich dafür, mich gelehrt zu haben, über das Bestehende hinauszufragen. Zudem haben sie die Entstehung der Arbeit nachhaltig durch ideelle und finanzielle Unterstützung begleitet. Besonderer Dank gebührt schließlich meiner Frau Elke, die nicht nur großes Verständnis für die mit der Anfertigung dieser Dissertation verbundenen Ein-

8

Vorwort

schränkungen unseres Familienlebens aufgebracht, sondern mich auch in vielerlei Hinsicht von anderweitigen Aufgaben entlastet hat. Durch ihr Dasein und Sosein hat sie mehr Anteil an dem Gelingen dieser Arbeit, als ihr bewußt sein mag. Dresden, im Juli 2004

Thomas Groh

Inhaltsübersicht Einführung

21

§ 1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

§ 2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

A. Von der Untersuchung erfaßte Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

B. Vorausgesetzte Grundbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Teil 1 Entwicklung der zielorientierten Konzeption

27

§ 3 Grundlagen der Befugniszuweisung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

A. Art. 234 Abs. 1 als Befugniszuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

B. Auswirkungen der Befugniszuweisung auf die Befugnisse der nationalen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

§ 4 Kritik der überkommenen Auffassung (Auslegung vs. Anwendung) . . . . . . . . . . . . . .

32

A. ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ als sachwidrige Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

B. Unangemessene Verengung der Befugniszuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

C. Abweichende Praxis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

§ 5 Die zielorientierte Konzeption: Notwendigkeit eines gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

A. Mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgte Ziele . . . . . . . . . .

40

B. Gegen eine Vorlage sprechende gemeinschaftsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . .

61

C. Abwägung: Konturen des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses

70

D. Reichweite des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses . . . . . . . . . . . 118

10

Inhaltsübersicht

Teil 2 Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption in Art. 234 Abs. 1 § 6 Methodologischer Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 120

A. Was heißt ,Bedeutung‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 B. Die Rolle des Interpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 C. Die Richtigkeit der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 D. Fazit: Das Ziel juristischer Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 § 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134

A. Interpretationsargumente im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 B. Interpretationsgrenzen im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 § 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

A. Art. 234 Abs. 1: Kein Verweis auf mitgliedstaatliche Begrifflichkeiten . . . . . . . 185 B. Die Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

Ergebnis und Ausblick

227

§ 9 Zusammenfassendes Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

§ 10 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232

Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

Inhaltsverzeichnis Einführung

21

§ 1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

§ 2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

A. Von der Untersuchung erfaßte Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

B. Vorausgesetzte Grundbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Teil 1 Entwicklung der zielorientierten Konzeption

27

§ 3 Grundlagen der Befugniszuweisung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

A. Art. 234 Abs. 1 als Befugniszuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

I. Befugnis, Zuweisung und Ausübungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

1. Befugnis (Kompetenz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

2. Befugniszuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

3. Befugnisausübungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

II. Identifizierung von Art. 234 Abs. 1 als Befugniszuweisung . . . . . . . . . . . . .

29

B. Auswirkungen der Befugniszuweisung auf die Befugnisse der nationalen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

§ 4 Kritik der überkommenen Auffassung (Auslegung vs. Anwendung) . . . . . . . . . . . . . .

32

A. ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ als sachwidrige Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

B. Unangemessene Verengung der Befugniszuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34

C. Abweichende Praxis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

§ 5 Die zielorientierte Konzeption: Notwendigkeit eines gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

40

A. Mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgte Ziele . . . . . . . . . .

40

I. Die einzelnen Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41

12

Inhaltsverzeichnis 1. Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . .

41

a) Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts . . . . . .

42

(1) Dimensionen des Einheitlichkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . .

42

(2) Begründung des Einheitlichkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

(a) Gemeinschaftsbezogene Begründung: Grundsatz der Rechtsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

(b) Mitgliedstaatsbezogene Begründung: Prinzip der Lastengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

(c) Individualbezogene Begründung: Allgemeiner Gleichheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

b) Beschränkungen des Einheitlichkeitspostulats im EGV . . . . . . . . . .

46

(1) Sonderregelungen: Gemeinschaftsrechtliche Anerkennung nationaler Partikularinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

(2) Gleichberechtigung der Vertragssprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

(3) Prinzip der begrenzten Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

2. Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

3. Schutz individueller Rechtspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

II. Verhältnis der Ziele zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

B. Gegen eine Vorlage sprechende gemeinschaftsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . .

61

I. Funktion der nationalen Gerichte im System des Gemeinschaftsrechts . .

61

II. Notwendigkeit einer Begrenzung der Arbeitslast des EuGH . . . . . . . . . . . . .

65

III. Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . .

68

C. Abwägung: Konturen des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses

70

I. Gebotener Umfang der Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

1. Vorliegen lösungsrelevanter Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . .

73

a) Grundsatz: Orientierung an der lösungsrelevanten Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

(1) Wiederholungsfragen: Übereinstimmung mit einer bereits beantworteten Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

(2) Präzisierungsfragen: „Vertikale“ Anknüpfung an lösungsrelevante Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

(3) Übertragungsfragen: „Horizontale“ Anknüpfung an lösungsrelevante Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

86

b) Ausnahme: Abweichung von lösungsrelevanter Rechtsprechung

92

Inhaltsverzeichnis

13

2. Fehlen lösungsrelevanter Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . .

93

a) Zweifelsfrei zu beantwortende Auslegungsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

b) Relevanz der Auslegungsfrage nur für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

c) Auslegung unverbindlicher Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Ergebnis zur Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts . . 101 II. Gebotener Umfang der Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Besondere Schwierigkeiten der Interpretation des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 a) Vom EuGH hervorgehobene besondere Schwierigkeiten der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 (1) Vergleich der Sprachfassungen des zu interpretierenden Normtextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 (2) Eigenständige Terminologie des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . 107 (3) Zusammenhang, Ziele, gegenwärtiger Stand des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 b) Befassung des EuGH mit der (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 2. Besondere Schwierigkeiten im Hinblick auf das vorlegende Gericht 112 3. Ergebnis zur Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 III. Gebotener Umfang des Schutzes individueller Rechtspositionen . . . . . . . . 113 1. Naheliegende oder erhebliche Rechtsgutsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Befassung des EuGH mit der (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Ergebnis zum Schutz individueller Rechtspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 IV. Auswirkungen des Rangverhältnisses zwischen den Zielen auf das Auslegungsbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 D. Reichweite des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses . . . . . . . . . . . 118

Teil 2 Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption in Art. 234 Abs. 1 § 6 Methodologischer Standpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 120

A. Was heißt ,Bedeutung‘? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 B. Die Rolle des Interpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

14

Inhaltsverzeichnis C. Die Richtigkeit der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 D. Fazit: Das Ziel juristischer Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134

A. Interpretationsargumente im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 I. Argument der konventionellen Bedeutung (Indizargument) . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Material und Struktur des Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 a) Relevante Verwendungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (1) In sachlicher Hinsicht relevante Verwendungsregeln . . . . . . . . . 137 (2) In zeitlicher Hinsicht relevante Verwendungsregeln . . . . . . . . . . 138 (3) In (national)sprachlicher Hinsicht relevante Verwendungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Erfassung konventioneller Bedeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Überzeugungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Grundsätzliche Schwäche der Überzeugungskraft des Indizarguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Weitere Schwächung der Überzeugungskraft durch Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 (1) EGV als Ergebnis einer Staatenkonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 (2) Mehrsprachenauthentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 (3) Dynamik der Gemeinschaftsrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 c) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 II. Argument der gebotenen Zielverwirklichung (Zielargument) . . . . . . . . . . . . 153 1. Material und Struktur des Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Normative Prämisse: Gebot der Verwirklichung eines bestimmten Ziels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (1) Bestimmung des Ziels und Begründung des Gebots seiner Verwirklichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 (a) In Normtexte ausdrücklich aufgenommene Zielvorgaben

153

(b) Fehlen ausdrücklicher Zielvorgaben im Normtext . . . . . . . . 155 (2) Gewichtung verschiedener Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Empirische Prämisse: Eignung zur Zielverwirklichung . . . . . . . . . . . 157 2. Überzeugungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 III. Argument des systematischen Zusammenhangs (Systemargument) . . . . . . 158 1. Material und Struktur des Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Formale Systematik (Stellung innerhalb eines Rechtsaktes) . . . . . . 159

Inhaltsverzeichnis

15

b) Materiale Systematik: Terminologische und inhaltliche Übereinstimmung mit anderen Normtexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (1) Horizontale Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 (2) Vertikale Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 (a) Höherrangige Normtexte als Interpretationsgrenze . . . . . . 163 (b) Rangniedrigere Normtexte als Indiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Überzeugungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 IV. Argument des Rechtsordnungsvergleichs (Vergleichsargument) . . . . . . . . . 165 1. Material und Struktur des Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Überzeugungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 V. Argument des Entstehungszusammenhangs (Entstehungsargument) . . . . . 167 1. Material und Struktur des Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 2. Überzeugungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 B. Interpretationsgrenzen im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 I. Gegenüber dem EGV vorrangiges Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 1. Höherrangiges Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. Sonstiges vorrangiges Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 II. Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 III. Grenzfunktion des Normtextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 1. Unangemessenheit einer sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“

174

a) Prinzipielle Einwände gegen eine sprachlich determinierte „Wortlautgrenze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Unbrauchbarkeit der „Wortlautgrenze“ für die gemeinschaftsrechtliche Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2. Grenzfunktion des Normtextes als normativ bestimmte Normtextbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Gleichmäßigkeit der Rechtsdurchsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 c) Wahrung der Funktionenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 IV. Akzeptanzfähigkeit des Interpretationsergebnisses? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 § 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

A. Art. 234 Abs. 1: Kein Verweis auf mitgliedstaatliche Begrifflichkeiten . . . . . . . 185 B. Die Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 I. Bedeutungshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

16

Inhaltsverzeichnis II. Zutreffen der Bedeutungshypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Begründung mit Hilfe der Interpretationsargumente . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 a) Indizargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (1) ,Auslegung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 (2) ,Vorabentscheidung‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (a) Objektives Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (b) Zwischenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (c) Kooperatives Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (3) ,Frage‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (4) Ergebnis zum Indizargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 b) Zielargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 c) Systemargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (1) Stützung durch Erwägungen des Systemarguments . . . . . . . . . . 198 (a) Erwägungen aus Art. 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (i) Art. 5 Abs. 1 (Grundsatz der begrenzten Ermächtigung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (ii) Art. 5 Abs. 3 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) . . 200 (iii) Art. 5 Abs. 2 (Grundsatz der Subsidiarität)? . . . . . . . . 202 (b) Erwägungen aus Art. 10 Abs. 1 Satz 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 (2) Verteidigung gegen Einwände aus dem Systemargument . . . . . 205 (a) Kein terminologischer Widerspruch zu anderen Normtexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 (b) Inhaltliche Stimmigkeit mit anderen Normtexten . . . . . . . . 206 (i) Art. 234 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 (ii) Art. 220 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (iii) Art. 68 Abs. 2 EGV und Art. 35 Abs. 5, Art. 46 EUV 208 (iv) Art. 104 § 3 VfO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 d) Vergleichsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 (1) Voraussetzungen der Vergleichbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (2) Vergleichbarkeit mit einzelnen Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (a) Vorlageverfahren nach Art. 6 des Benelux-GerichtshofVertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 (b) Vorlageverfahren nach Art. 42 Abs. 3 des Saarvertrages 213 (c) Sonstige Vorlageverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

Inhaltsverzeichnis

17

e) Entstehungsargument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (1) Ursprüngliche Redaktion des Vertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 (2) Spätere Änderungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 f) Ergebnis zur Begründung mit Hilfe der Interpretationsargumente

219

2. Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsgrenzen . . . . . 220 a) Gegenüber dem EGV vorrangiges Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 b) Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 c) Grenzfunktion des Normtextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 d) Ergebnis zur Einhaltung der Interpretationsgrenzen . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Ergebnis: Die Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Ergebnis und Ausblick

227

§ 9 Zusammenfassendes Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

227

§ 10 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232

Résumé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Summary . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256

2 Groh

Abkürzungsverzeichnis a.A. ABGB ABl. [Jahr] C ABl. [Jahr] L Abs. a. E. a. F. Art. BBPS BT-Drucks. bzw. CD CDE CMLR CR d. h. EAGV ebd. EGKSV EGMR EGV EJIL EKMR EMRK etc. EuG EuGH EuGVÜ EuGVVO EUV EWGV EWR f., ff. Fordham Int’l LJ

anderer Ansicht Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (Österreich) Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Serie C Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Serie L Absatz am Ende alte Fassung Artikel Beutler / Bieber / Pipkorn / Streil, Die Europäische Union Bundestags-Drucksache beziehungsweise Cahiers de Droit Cahiers de Droit Européen Common Market Law Review Calliess / Ruffert, Kommentar zu EU- und EG-Vertrag das heißt Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft ebenda Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft European Journal of International Law Europäische Kommission für Menschenrechte Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten et cetera Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstrekkung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen Vertrag über die Europäische Union Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäischer Wirtschaftsraum folgende, mehrere folgende Fordham International Law Journal

Abkürzungsverzeichnis FS GH GRUR Int. GS GSch GTE HessStGH Hrsg. HVG IGH IKEMRK IPBPR i. S. d. i. S. v. i. V. m. JDI JORF LIEI lit. LR MB MSBKU m. w. N. n. F. Nr., Nrn. o. ä. RabelsZ Rn. Riv. Dir. Eur. RL Rs. RTDE SächsGVBl. SEW Slg. SLR SZIER TRIPS u. a. 2*

19

Festschrift Grabitz / Hilf, Kommentar zur Europäischen Union Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, Internationaler Teil Gedächtnisschrift von der Groeben / Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft von der Groeben / Thiesing / Ehlermann, Kommentar zum EU- / EG-Vertrag Hessischer Staatsgerichtshof Herausgeber Honsell / Vogt / Geiser, Kommentar zum Schweizerischen Privatrecht Internationaler Gerichtshof Internationaler Kommentar zur EMRK Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im Sinne der / des im Sinne von in Verbindung mit Journal du Droit International Journal Officiel de la République Française Legal Issues of European Integration Buchstabe Löwe / Rosenberg, Strafprozeßordnung und Gerichtsverfassungsgesetz Moniteur Belge Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz mit weiteren Nachweisen neue Fassung Nummer, Nummern oder ähnliche Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Randnummer, Randnummern Rivista di Diritto Europeo Richtlinie Rechtssache Revue Trimestrielle de Droit Européen Gesetz- und Verordnungsblatt des Freistaates Sachsen Sociaal-economische Wetgeving Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz Statute Law Review Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums und andere; unter anderem

20 UAbs. u. ö. usw. verb. Rs. VfO vgl. VO WVRK ZaöRV z. B. ZfRV ZfV ZHR ZÖR z. T.

Abkürzungsverzeichnis Unterabsatz und öfter und so weiter verbundene Rechtssachen Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vergleiche Verordnung Wiener Konvention über das Recht der Verträge Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Rechtsvergleichung, internationales Privatrecht und Europarecht (Österreich) Zeitschrift für Verwaltung (Österreich) Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Öffentliches Recht (Österreich) zum Teil

Alle übrigen juristischen Abkürzungen werden nach Hildebert Kirchner / Cornelie Butz, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 5. Auflage, Berlin / New York 2003, verwendet.

Einführung § 1 Problemstellung „Ist der Begriff ,Nachthemden‘ im Sinne der Tarifstelle 60.04 B IV b 2 bb des Gemeinsamen Zolltarifs 1985 dahin auszulegen, daß er ausschließlich ,andere‘ Unterkleidung erfaßt, die aufgrund ihrer Beschaffenheit eindeutig dazu bestimmt ist, nur als Nachtkleidung getragen zu werden, oder umfaßt er auch Erzeugnisse, die nach ihrer Aufmachung zwar nicht nur, aber im wesentlichen zum Tragen im Bett bestimmt sind?“1 „Ist Artikel 30 so auszulegen, daß ein Mitgliedstaat unter bestimmten Voraussetzungen Vorschriften erlassen kann, die das Halten – und damit die Einfuhr – aller anderen Bienen außer der Art Apis mellifera mellifera (braune Læsø-Biene) auf eine bestimmte Insel in dem betreffenden Land verbieten, z. B. eine Insel von 114 km2, die zur Hälfte aus Dörfern und kleinen Hafenorten besteht, die für den Fremdenverkehr oder landwirtschaftlich genutzt werden, während die andere Hälfte aus unbestellten Feldern besteht, d. h. aus Wäldern, Heiden, Wiesen, Marschen und eigentlichen Strand- und Dünenflächen, und die am 1. Januar 1997 eine Bevölkerung von 2365 Personen hatte, wobei es sich um eine Insel handelt, auf der die Erwerbsmöglichkeiten im allgemeinen beschränkt sind, die Bienenzucht jedoch aufgrund der besonderen Flora der Insel und des hohen Anteils unbestellter und extensiv genutzter Flächen eine der wenigen Erwerbsmöglichkeiten darstellt?“2 „Genügt es zur Gefahr der Verwechslung wegen Ähnlichkeit des Zeichens mit der Marke und Identität der durch die Marke und das Zeichen erfaßten Waren oder Dienstleistungen, wenn die Marke und das Zeichen jeweils nur aus einer Silbe bestehen, klanglich am Anfang, so auch in der einzigen Vokalkombination am Anfang identisch sind und der – einzige – Endkonsonant der Marke im Zeichen ähnlich (t statt d) in einer Konsonantengruppe aus drei Buchstaben einschließlich s wiederkehrt; konkret: kollidieren die Bezeichnungen Lloyd und Loint’s für Schuhwaren?“3

Solche Vorabentscheidungsfragen, die zum „täglichen Brot“ des EuGH gehören,4 werfen ihrerseits Fragen auf5: Ist die derzeitige Aufgabenverteilung zwischen Vorlagefrage in der Rs. C-338 / 95 – S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6495. Erster Teil der ersten Vorlagefrage in der Rs. C-67 / 97 – Bluhme, Slg. 1998, I-8033. 3 Erste Vorlagefrage in der Rs. C-342 / 97 – Lloyd Schuhfabrik Meyer, Slg. 1999, I-3819. 4 Beispielhaft sei noch hingewiesen auf die Vorlagefragen in den verbundenen Rechtssachen C-106 / 94 und C-139 / 94 – Colin und Dupré, Slg. 1995, I-4759, auf die dritte Vorlagefrage in der Rs. C-423 / 97 – Travel Vac, Slg. 1999, I-2195, sowie auf die dritte Vorlagefrage in der Rs. C-179 / 00 – Weidacher, Slg. 2002, I-501. Vorlagefragen in geradezu absurdem Umfang wurden in der Rs. C-83 / 91 – Meilicke, Slg. 1992, 4871, gestellt. 5 Unter anderem die nach ihrem Zustandekommen. Diesbezüglich sollte man sich keinen Illusionen hingeben. So preisen etwa Bauer / Diller, NZA 1996, 169 (171), das Vorabentscheidungsverfahren als ausgezeichnetes Mittel für den Beklagten an, um Zeit zu gewinnen, und 1 2

22

Einführung

EuGH und nationalen Gerichten im Vorabentscheidungsverfahren dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts noch angemessen? Muß der Gerichtshof wirklich jede Frage nach der Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift beantworten, die ihm von einem nationalen Gericht vorgelegt wird? Sind die Auslegungsbefugnis des EuGH und das Vorlagerecht nationaler Gerichte unbeschränkt? Die vorliegende Arbeit versucht zu zeigen, daß die genannten Fragen zu verneinen sind. Sie beruht auf zwei ebenso selbstverständlichen wie wichtigen Überzeugungen: Erstens ist das Gemeinschaftsrecht die Grundlage einer dynamischen Rechtsordnung, in der dieselben Fragen immer wieder nach neuen Antworten verlangen. Diese sind zweitens nur dann sachgerecht, wenn sie aus der dem Gemeinschaftsrecht eigenen Teleologie heraus gegeben werden. Mit beiden Überzeugungen ist die überkommene Auffassung von der Aufgabenverteilung im Vorabentscheidungsverfahren unvereinbar. Sie basiert nach wie vor auf der in den frühen Vorabentscheidungen des EuGH und der damaligen Literatur entwickelten Dichotomie zwischen ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘. Durch die Fixierung auf diese Dichotomie verstellt sie sich den Blick auf die Ziele, denen die Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren dienen soll. Der überkommenen Auffassung wird hier eine Konzeption entgegengesetzt, die die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH anhand dieser Ziele bestimmt. Sie identifiziert die Ziele und zeigt auf, daß sie mit anderen gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben in einem Spannungsverhältnis stehen. Die Ziele sind daher unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Standes des Gemeinschaftsrechts gegen die anderen Vorgaben abzuwägen. Ergebnis der Abwägung ist die Einführung und inhaltliche Konturierung eines Kriteriums, das zugleich legitimierender Grund und Grenze der Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ist: das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis. Die Entwicklung der zielorientierten Konzeption des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses ist Gegenstand des an die Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes (unten § 2) anschließenden ersten Teils der Arbeit. Dieser beleuchtet kurz die Grundlagen der Befugniszuweisung (§ 3) und zeigt die Einwände gegen die herkömmliche Auffassung auf (§ 4), bevor das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis inhaltlich näher konturiert wird (§ 5). Im zweiten Teil der Arbeit wird darüber hinaus gezeigt, daß die hier entwickelte Konzeption im Wege der Interpretation in Art. 234 Abs. 16 einbezogen werden kann. Dazu wird zunächst der hier vertretene methodologische Standpunkt kurz skizziert im Verfahren um den Bau der Ostseeautobahn drohte das Bundesverwaltungsgericht dem beklagten Land Schleswig-Holstein mit einer Vorlage an den EuGH, sollte das Land nicht in einem bestimmten Punkt von seiner Rechtsauffassung abrücken (vgl. FAZ vom 20. Mai 1998, S. 1). 6 Artikelangaben ohne nähere Bezeichnung beziehen sich auf den EGV. In Zitaten aus Quellen, denen noch die vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages geltende Artikelnumerierung zugrunde liegt, wurde die Numerierung dem heutigen Stand angepaßt.

§ 2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes

23

(§ 6); ferner werden die in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik anzuerkennenden Interpretationsargumente und die in ihr geltenden Interpretationsgrenzen dargestellt, soweit dies für die Interpretation von Art. 234 Abs. 1 erforderlich ist (§ 7). Anschließend wird im einzelnen dargelegt, daß die interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption in Art. 234 Abs. 1 von den überwiegenden Interpretationsargumenten gestützt wird und die Interpretationsgrenzen beachtet (§ 8).

§ 2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die wichtigsten Vorabentscheidungsverfahren, in denen der EuGH zur Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Normtexte7 befugt ist. Sie setzt im übrigen einige Umstände als gegeben voraus, die den Gegenstand der Untersuchung zusätzlich einschränken.

A. Von der Untersuchung erfaßte Vorabentscheidungsverfahren Vorabentscheidungsverfahren im Sinne dieser Untersuchung sind nur solche Verfahren, in denen der EuGH auf das Ersuchen eines nationalen Gerichts hin einen Normtext auslegt,8 wobei die Auslegung der prinzipale Verfahrensgegenstand ist. Mit zunehmender Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union hat sich ein bunter und bisweilen unübersichtlicher Strauß solcher Verfahren angesammelt, die in zahlreichen verschiedenen Rechtsquellen geregelt sind, unterschiedliche Ausgestaltungen erfahren haben und diverse Arten von Normtexten betreffen.9 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf das Verfahren nach Art. 234, weil dieses von allen Vorabentscheidungsverfahren die mit Abstand größte praktische Bedeutung hat. Sie erfaßt damit zugleich das Verfahren nach Art. 68 Abs. 1, das der Sache nach ein nur teilweise modifiziertes Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 ist.10 Dem Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 unterliegen seit kurzem auch einige Regelungen, die bislang in zwischenstaatlichen Übereinkommen geregelt waren, mittlerweile aber aufgrund von Art. 61 lit. c, 67 Abs. 1 vergemeinschaftet worden sind. Zu nennen ist insoweit in erster Linie das weitgehend in die EuGVVO überführte EuGVÜ,11 aber auch das europäische Zustellungs7 Mit dem Ausdruck ,Normtext‘ wird hier die Abfolge von Buchstaben bezeichnet, aus denen eine schriftlich fixierte rechtliche Bestimmung zusammengesetzt ist. 8 Damit wird insbesondere das Verfahren nach Art. 68 Abs. 3 von vornherein nicht von der Untersuchung erfaßt. 9 Vgl. zu den verschiedenen Verfahren ausführlich Gaja, Liber amicorum Slynn, S. 143 ff. 10 Nach Art. 68 Abs. 1 findet Art. 234 auch auf Titel IV des Dritten Teils des EGV Anwendung; dies jedoch mit gewissen Abweichungen.

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übereinkommen12 und das europäische Ehesachenübereinkommen.13 Schließlich können die in dieser Arbeit getroffenen Aussagen auch auf das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 150 EAGV übertragen werden.14 Nicht erfaßt wird von der vorliegenden Untersuchung demgegenüber das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 41 EGKSV,15 das nach dem Außerkrafttreten des EGKSV am 23. Juli 2002 ohnehin obsolet geworden ist. Darüber hinaus werden diejenigen Vorabentscheidungsverfahren nicht behandelt, die der Auslegung anderer als gemeinschaftsrechtlicher Normtexte dienen. Dies gilt nicht nur für das in Art. 35 Abs. 1 bis 3 EUV geregelte, nur unionsrechtliche Normtexte betreffende Vorabentscheidungsverfahren,16 sondern auch für die zahlreichen zwischenstaatlichen Protokolle, durch die dem EuGH Auslegungsbefugnisse zugewiesen werden.17 Die insoweit einschlägigen Rechtsgrundlagen können aufgrund ihres nur 11 Die EuGVVO ist aufgrund Art. 2 des Protokolls (Nr. 5) zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft über die Position Dänemarks (ABl. 1997 C 340 / 101) für Dänemark nicht bindend und dort nicht anwendbar. Für Sachverhalte mit Bezug zu Dänemark gilt daher weiterhin das EuGVÜ (vgl. die 22. Begründungserwägung der EuGVVO). 12 Übereinkommen über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 26. 5. 1997 (ABl. 1997 C 261 / 2); nunmehr VO (EG) 1348 / 2000 des Rates vom 29. 5. 2000 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- und Handelssachen in den Mitgliedstaaten (ABl. 2000 L 160 / 37). – Die Auslegungsbefugnis des EuGH für dieses Übereinkommen ergab sich bisher aus dem Auslegungsprotokoll vom 26. 5. 1997 (ABl. 1997 C 261 / 18). 13 Übereinkommen über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen vom 28. 5. 1998 (ABl. 1998 C 221 / 18); nunmehr VO (EG) 1347 / 2000 des Rates vom 29. 5. 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten (ABl. 2000 L 160 / 19). – Die Auslegungsbefugnis des EuGH für dieses Übereinkommen ergab sich bisher aus dem Auslegungsprotokoll vom 28. 5. 1998 (ABl. 1998 C 221 / 20). 14 Art. 150 EAGV ist mit Art. 234 im wesentlichen wortgleich; beide Verfahren werden zudem in der Verfahrensordnung des EuGH in gleicher Weise behandelt (vgl. Art. 103 § 1 VfO). 15 Nach Art. 41 EGKSV dient dieses Vorabentscheidungsverfahren nur der Überprüfung der Gültigkeit von Beschlüssen der Kommission und des Rates. Der EuGH hat Art. 41 EGKSV jedoch dahingehend interpretiert, daß auch in diesem Verfahren die Auslegung prinzipaler Verfahrensgegenstand sein kann; vgl. Urteil vom 22. 2. 1990, Rs. C-221 / 88 – Busseni, Slg. 1990, I-495, Rn. 8 ff. (I-522 ff.). 16 Ausführlich zu dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 35 EU CR / Brechmann, Art. 35 EUV, Rn. 2 ff.; Schwarze / Böse, Art. 35 EUV, Rn. 2 ff. Das Verfahren ist in der Verfahrensordnung des EuGH eigenständig geregelt; vgl. Art. 109b VfO. 17 Protokoll vom 3. 7. 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. 9. 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof (ABl. 1975 L 204 / 28; aktuelle konsolidierte Fassung in ABl. 1998 C 27 / 28); Erstes Protokoll vom 19. 12. 1988 betreffend die Auslegung des am 19. 6. 1980 in Rom zur Unterzeichnung aufgelegten Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht durch den Gerichtshof der

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zwischenstaatlichen Charakters nicht ohne weiteres in der gleichen Weise interpretiert werden wie Art. 234. Die Reichweite der Untersuchung wird dadurch freilich kaum geschmälert: Das bisher wichtigste Protokoll, nämlich das Auslegungsprotokoll zum EuGVÜ, hat wegen dessen bereits erwähnter Vergemeinschaftung ohnehin nur noch marginale Relevanz, und die übrigen Protokolle haben bisher keine praktische Bedeutung erlangt.

B. Vorausgesetzte Grundbedingungen Der Gegenstand der Untersuchung wird zusätzlich dadurch eingeschränkt, daß einige Grundbedingungen als gegeben vorausgesetzt und daher nicht thematisiert werden. In der Arbeit wird stets davon ausgegangen, daß die vorlegende Institution den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an ein Gericht i. S. v. Art. 234 Abs. 2 und 3 genügt18 und, soweit erforderlich, auch die weiteren für die Vorlageberechtigung notwendigen Anforderungen an die vorlegende Institution erfüllt.19 Darüber hinaus wird hier durchgehend angenommen, daß sich die Frage des vorlegenden Gerichts auf gemeinschaftsrechtliche Normtexte i. S. v. Art. 234 Abs. 1 lit. a bis c bezieht. Zu diesen zählt nicht nur das gesamte geschriebene primäre und sekundäre, sondern auch das ungeschriebene Gemeinschaftsrecht, also insbesondere die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und die allgemeinen Rechtsgrundsätze.20 Als weitere Grundbedingung wird in der vorliegenden Arbeit vorausgeEuropäischen Gemeinschaften (ABl. 1989 L 48 / 1); Zweites Protokoll vom 19. 12. 1988 zur Übertragung bestimmter Zuständigkeiten für die Auslegung des am 19. 6. 1980 in Rom zur Unterzeichnung aufgelegten Übereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht auf den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1989 L 48 / 17); Protokoll Nr. 34 (zum EWR-Abkommen) zur Möglichkeit für Gerichte und Gerichtshöfe der EFTA-Staaten, den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften um Entscheidung über die Auslegung von EWR-Bestimmungen zu ersuchen, die EG-Bestimmungen entsprechen (ABl. 1994 L 1 / 204); Vereinbarung 89 / 695 / EWG vom 15. 12. 1989 über Gemeinschaftspatente (ABl. 1989 L 401 / 1). Vgl. zu den Auslegungsprotokollen für die zahlreichen aufgrund von Art. K.3 EUV a. F. abgeschlossenen intergouvernementalen Übereinkommen im einzelnen Gaja, Liber amicorum Slynn, S. 143 (145). 18 Vgl. zu diesen Anforderungen ausführlich Moitinho de Almeida, GS Schockweiler, S. 463 ff.; ferner CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 11 ff.; Schwarze / Schwarze, Art. 234 EGV, Rn. 25 ff. Im Interesse der Rechtssicherheit plädiert GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 28. 6. 2001, Rs. C-17 / 00 – De Coster, Slg. 2001, I-9447, Rn. 58 ff. (I-9463 ff.), nachdrücklich für eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung zur Gerichtsqualität vorlegender Institutionen. 19 Zu denken ist insoweit vor allem an Art. 68 Abs. 1, nach dem lediglich letztinstanzliche Gerichte den EuGH um eine Vorabentscheidung zu Titel IV des Dritten Teils des EGV ersuchen können; vgl. hierzu auch EuGH, Beschluß vom 22. 3. 2002, Rs. C-24 / 02 – Marseille Fret, Slg. 2002, I-3383, Rn. 14 (I-3390).

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setzt, daß die vom nationalen Gericht vorgelegte Frage auf die Auslegung eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes gerichtet ist. Die Frage muß nicht ausdrücklich als solche formuliert sein; aus der Vorlage muß aber hervorgehen, daß das nationale Gericht um die Klärung der Bedeutung des einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Normtextes nachsucht. Schließlich wird stets davon ausgegangen, daß die erbetene Auslegung für die Entscheidung des bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits erheblich ist, d. h. daß das Ergebnis der Auslegung Auswirkungen auf die von dem vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung hat. Hypothetische Fragen oder solche, die keinen Bezug zum Gegenstand des Ausgangsverfahrens aufweisen, werden daher grundsätzlich nicht erörtert.21

20 Vgl. zu den vorlagefähigen Normtexten statt aller CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 4 ff.; GH / Wohlfahrt, Art. 177 EGV, Rn. 16; Schwarze / Schwarze, Art. 234 EGV, Rn. 7 ff.; unklar im Hinblick auf ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht allerdings Mégret / D. Waelbroeck, Art. 177 EGV, Nrn. 7 – 10. 21 Ausnahmsweise werden derartige Fragen bei der Untersuchung behandelt, inwieweit eine Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts geboten ist; vgl. hierzu unten § 5 A. I. 2.

Teil 1

Entwicklung der zielorientierten Konzeption § 3 Grundlagen der Befugniszuweisung Die Befugnis zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren wird dem EuGH durch Art. 234 Abs. 1 zugewiesen; Art. 234 Abs. 2 und 3 sind demgegenüber nur Befugnisausübungsvoraussetzungen. Die Befugniszuweisung in Art. 234 Abs. 1 entzieht den nationalen Gerichten nicht die ihnen grundsätzlich zustehende Befugnis zur eigenverantwortlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts, sondern behält dem EuGH lediglich die (letztverbindliche) Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren vor.

A. Art. 234 Abs. 1 als Befugniszuweisung I. Befugnis, Zuweisung und Ausübungsvorschriften 1. Befugnis (Kompetenz) Unter Befugnis wird hier die Rechtsmacht verstanden, die einem Organ22 zur Erfüllung der von ihm wahrzunehmenden Aufgaben eingeräumt ist.23 Die Bedeutung des Ausdrucks ,Befugnis‘ entspricht der des Ausdrucks ,Kompetenz‘;24 der Begriff der Befugnis ist mit dem der Kompetenz folglich identisch. Die hier gleichwohl bevorzugte Verwendung des Ausdrucks ,Befugnis‘ erklärt sich aus der Terminologie des EGV, der die den Organen der Gemeinschaft eingeräumte Rechtsmacht in Art. 7 Abs. 1 Satz 2 ebenfalls als Befugnisse bezeichnet, während der Ausdruck ,Kompetenz‘ ausschließlich in anderem Zusammenhang auftaucht.25 22 Gleiches gilt sinngemäß für Organteile und für Verbände. Da es in der vorliegenden Untersuchung jedoch um die Auslegungsbefugnis des EuGH und damit um eine Organbefugnis geht, wird nachfolgend der Einfachheit halber nur von Organen gesprochen, sofern es auf die Unterscheidung nicht ankommt. 23 Ähnlich Stettner, Kompetenzlehre, S. 35 (dort [S. 31 ff.] Überblick über verschiedene Kompetenzverständnisse); vgl. auch Mayer, ZaöRV 2001, 577 (579); Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 236 ff. 24 Ausführlich zur Synonymie von Kompetenz und Befugnis Stettner, Kompetenzlehre, S. 43 ff. (insbesondere 45).

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Teil 1: Entwicklung der zielorientierten Konzeption

Die einem Organ eingeräumte Rechtsmacht wird von diesem regelmäßig durch ein aktives Tun ausgeübt,26 das sich auf ein bestimmtes Bezugssubjekt oder -objekt richtet: So hat etwa ein Parlament die Befugnis, ein Gesetz zu beschließen, eine Polizeibehörde darf die Identität einer Person feststellen und ein Gericht ist befugt, über eine Klage zu entscheiden. 2. Befugniszuweisung Die Inanspruchnahme von Befugnissen bedarf der (vorherigen) Zuweisung.27 Diese hat die doppelte Funktion, eine Befugnis inhaltlich festzulegen und sie einem bestimmten Organ zur Ausübung einzuräumen. Die inhaltliche Festlegung kann dabei in der Regel darauf beschränkt werden, die Handlung, zu deren Vornahme ermächtigt wurde, und das Bezugssubjekt bzw. -objekt anzugeben; diese beiden Elemente sind grundsätzlich hinreichend, um den Inhalt einer zugewiesenen Befugnis in abstrakter Weise vollständig zu beschreiben. Mit der inhaltlichen Bestimmung geht zugleich eine Beschränkung der Befugnis einher: Durch die Angabe von Handlung und Bezugssubjekt bzw. -objekt wird gleichzeitig bestimmt, daß andere Handlungen und andere Bezugssubjekte bzw. -objekte von der eingeräumten Befugnis nicht umfaßt werden. Wird etwa einem Parlament die Befugnis eingeräumt, Gesetze zu beschließen, so ist damit weder die Befugnis zugewiesen, Gesetze zu verkünden (andere Handlung), noch diejenige, kommunale Satzungen zu beschließen (anderes Bezugsobjekt). Jede eingeräumte Befugnis ist daher zugleich eine beschränkte Befugnis.28 Neben diese bereits in der Zuweisung enthaltene inhaltliche Begrenzung einer Befugnis können weitere Inhaltsbeschränkungen in Form sogenannter negativer Befugnisbestimmungen treten, also Regelungen über (allgemeine) Befugnisschranken. Als solche werden in erster Linie die Grundrechte genannt,29 doch lassen sich darüber hinaus sämtliche Bestimmungen, die unabhängig von der Befugniszuweisung zu einer inhaltlichen Befugnisbeschränkung führen, als negative Befugnisbestimmungen auffassen.30 Dies gilt im Gemeinschaftsrecht insbesondere für Art. 5 Abs. 1.31 25 Nach Art. 65 lit. b umfassen die Maßnahmen im Bereich der justitiellen Zusammenarbeit in Zivilsachen auch den Erlaß von Vorschriften zur Vermeidung von Kompetenzkonflikten. 26 Stettner, Kompetenzlehre, spricht ausdrücklich von „Handlungs(voll)macht“ (S. 35, 38 u. ö.) bzw. „Aktionserlaubnis“ (S. 45, Fn. 63; Hervorhebung jeweils nur hier); vgl. ferner GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 6; GTE / Bieber, Art. 4 EGV, Rn. 38. 27 Stettner, Kompetenzlehre, spricht von „befugniseinweisender Norm“ (S. 21 u. ö.). 28 Ebenso Mayer, ZaöRV 2001, 577 (579 f.). 29 Vgl. etwa Hesse, Grundzüge, Rn. 291. 30 Im Ergebnis ähnlich Mayer, ZaöRV 2001, 577 (583 f.). Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 237 f., faßt in diesem Sinne die Grundfreiheiten des EGV als negative Kompetenzen bzw. als Kompetenzsperre für die Mitgliedstaaten auf. 31 Vgl. Mayer, ZaöRV 2001, 577 (584).

§ 3 Grundlagen der Befugniszuweisung

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Mit der Einräumung einer Befugnis werden vielfach Voraussetzungen für ihre Ausübung aufgestellt. Diese beschränken nicht die Befugnis als solche, sondern binden lediglich ihre Wahrnehmung an bestimmte Erfordernisse. Nur dann, wenn diese Voraussetzungen vorliegen, darf das Organ die ihm eingeräumte Befugnis ausüben.32 Das Verhältnis zwischen Ausübungsvoraussetzungen und Befugnisausübung läßt sich daher als das von Tatbestand und Rechtsfolge auffassen.33 Als Beispiel einer Befugniszuweisung mit Befugnisausübungsvoraussetzungen sei Art. 134 Abs. 1 Satz 1 genannt, der der Kommission die Befugnis zur Abgabe einer näher umschriebenen Empfehlung einräumt und dies an die Voraussetzung knüpft, daß Unterschiede zwischen mitgliedstaatlichen handelspolitischen Maßnahmen zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten führen. 3. Befugnisausübungsvorschriften Regelmäßig wird nicht nur die Befugnisausübung schlechthin an bestimmte Voraussetzungen geknüpft, sondern auch ihre Art und Weise bestimmten Vorgaben unterstellt.34 Hierdurch wird das Organ, dem die Befugnis eingeräumt wurde, bei deren Ausübung zusätzlichen Bindungen unterworfen. Im Hinblick auf die hier zu behandelnde Auslegungsbefugnis des EuGH können etwa die Vorgaben der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsmethodik als Befugnisausübungsvorschriften in diesem Sinne angesehen werden: Bei der Wahrnehmung seiner Befugnis, gemeinschaftsrechtliche Normtexte im Vorabentscheidungsverfahren auszulegen, hat der EuGH die Vorgaben der Interpretationsmethodik einzuhalten.35

II. Identifizierung von Art. 234 Abs. 1 als Befugniszuweisung Art. 234 Abs. 1 bestimmt, daß der EuGH im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der in lit. a bis c aufgezählten Rechtsakte entscheidet. Damit weist Art. 234 Abs. 1 dem EuGH die Auslegungsbefugnis im Vorabentscheidungsverfahren zu. Deutlicher noch als in der deutschen Fassung des EGV wird der befugniszuweisende Charakter von Art. 234 Abs. 1 in einigen anderen Sprachfassungen. So bestimmt z. B. die französische Fassung: „La Cour de justice est compétente [ . . . ]“; die englische lautet: „The Court of Justice shall have jurisdiction [ . . . ]“. 32 Eine hiervon zu unterscheidende Frage ist die, ob im Falle des Vorliegens sämtlicher Voraussetzungen eine Pflicht zur Befugnisausübung besteht. Diese Frage ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht von Bedeutung und kann daher offengelassen werden. 33 Vgl. zum Verständnis der Befugnis als Rechtsfolge des Zuweisungstatbestandes auch Mayer, ZaöRV 2001, 577 (582). 34 Mayer, ZaöRV 2001, 577 (585), unterscheidet treffend zwischen dem „Ob“ der Kompetenz und dem „Wie“ der Kompetenzrealisierung. 35 Vgl. zu Normtexten, die Vorgaben für die gemeinschaftsrechtliche Interpretationsmethodik aufstellen, Groh, Methodenrelevante Normtexte, passim.

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Teil 1: Entwicklung der zielorientierten Konzeption

Die spanische Fassung sieht vor: „El Tribunal de Justicia serà competente [ . . . ]“, während die italienische bestimmt: „La Corte di giustizia è competente [ . . . ]“.36 Art. 234 Abs. 1 enthält sämtliche für eine Befugniszuweisung erforderlichen Elemente: Er legt eine Handlung fest, nämlich die Entscheidung, und ordnet dieser ein Bezugsobjekt, die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, zu. Damit ist Art. 234 Abs. 1 für sich genommen ausreichend, um die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren abstrakt und abschließend zu beschreiben.37 Demgegenüber weisen Art. 234 Abs. 2 und 3 dem EuGH keine Auslegungsbefugnis zu, sondern enthalten lediglich die Ausübungsvoraussetzungen der dem EuGH in Abs. 1 zugewiesenen Auslegungsbefugnis.38 Eine nur scheinbare Ausnahme hiervon ist im Hinblick auf den Ausdruck ,derartige Frage‘ in Abs. 2 und 3 zu machen. Dieser Passus bezieht sich inhaltlich auf Abs. 1 und stellt klar, daß sich die dem EuGH zugewiesene Auslegungsbefugnis auf die Entscheidung über Auslegungsfragen beschränkt. Er gehört systematisch daher zu der Befugniszuweisung und ist demnach mittelbar Bestandteil von Art. 234 Abs. 1. Die Zuweisung der Auslegungsbefugnis in Art. 234 Abs. 1 läßt sich daher als Arbeitsgrundlage wie folgt formulieren: Der EuGH entscheidet im Wege der Vorabentscheidung über Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts.

B. Auswirkungen der Befugniszuweisung auf die Befugnisse der nationalen Gerichte Die Zuweisung der Auslegungsbefugnis in Art. 234 Abs. 1 führt zu einer entsprechenden Beschränkung der Befugnisse der nationalen Gerichte im konkreten Ausgangsrechtsstreit. Sie löst aus dem einheitlichen Vorgang der Entscheidung eines Rechtsstreits eine begrenzte Fragestellung heraus und überträgt sie dem EuGH zur Beantwortung. Im Umfang dieser Befugniszuweisung ist das nationale Gericht Hervorhebungen jeweils nur hier. Es erstaunt daher nicht, daß ernsthaft erwogen wurde, Art. 234 Abs. 1 als eigenständige und abschließende Regelung zu begreifen. Abs. 2 und 3 wären nach dieser Sichtweise lediglich Beispiele, so daß auch Vorlagen von anderen Institutionen (z. B. Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten oder Gerichten von Drittstaaten) möglich wären (vgl. hierzu Mok, CMLR 1967 / 68, 458 ff.). – Vgl. zum hinreichenden Charakter der Beschreibung von Befugnissen durch die Angabe von Handlung und Bezugsobjekt oben A. I. 2. 38 Eine andere Frage ist die, inwieweit Art. 234 Abs. 2 und 3 anderen Organen Befugnisse zuweisen. So steht den nationalen Gerichten aufgrund von Art. 234 Abs. 2 die Befugnis zu, die Erheblichkeit der aufgeworfenen Auslegungsfrage für die von ihnen zu erlassende Entscheidung und die Erforderlichkeit einer Vorlage an den EuGH zu beurteilen. Dies ändert jedoch nichts daran, daß Art. 234 Abs. 2 und 3 dem EuGH keine Befugnis zuweisen, sondern lediglich die Voraussetzungen regeln, unter denen dieser seine Auslegungsbefugnis ausüben darf. 36 37

§ 3 Grundlagen der Befugniszuweisung

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an der Ausübung entsprechender Befugnisse gehindert, solange der EuGH mit der Vorlage befaßt ist. Sofern es die Vorlagefrage nicht zurückzieht, darf es die vorgelegte Frage nicht mehr selbst beantworten, sondern muß die Vorabentscheidung des EuGH abwarten und ist an diese gebunden. Jedes der beiden Gerichte leistet somit im Rahmen seiner Befugnisse einen jeweils eigenständigen Beitrag zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits.39 Die Befugniszuweisung in Art. 234 Abs. 1 beschränkt die Befugnisse der nationalen Gerichte jedoch nur in dem Umfang, in dem sie dem EuGH Befugnisse zur Ausübung verleiht. Jenseits dieses Umfangs können die nationalen Gerichte ihre Befugnisse grundsätzlich eigenverantwortlich ausüben und sind hierzu im übrigen in ihrer Funktion als erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte 40 auch verpflichtet.41 Dies gilt zunächst in dem jeweiligen Ausgangsrechtsstreit für die Beurteilung sämtlicher Aspekte, die nicht von der Vorlagefrage erfaßt werden. Es gilt a fortiori für Verfahren vor nationalen Gerichten, aus denen heraus kein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet wird. Außerhalb eines Vorabentscheidungsverfahrens sind nationale Gerichte daher grundsätzlich unbeschränkt zur Interpretation des Gemeinschaftsrechts befugt (und verpflichtet):42 Das Gemeinschaftsrecht ist ebenso „ihr“ Recht wie das nationale Recht des jeweiligen Mitgliedstaates.43 Die Zuweisung der Auslegungsbefugnis in Art. 234 Abs. 1 verleiht dem EuGH demnach kein (allgemeines) Auslegungsmonopol,44 sondern nur ein Auslegungsprivi39 Vgl. insbesondere EuGH, Urteile vom 1. 12. 1965, Rs. 16 / 65 – Schwarze, Slg. 1965, 1151 (1165), vom 4. 12. 1980, Rs. 54 / 80 – Wilner, Slg. 1980, 3673, Rn. 4 (3681), und vom 15. 6. 1995, verb. Rs. C-422 / 93 bis C-424 / 93 – Zabala Erasun u. a., Slg. 1995, I-1567, Rn. 15 (I-1583); GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 4. 12. 2001, Rs. C-208 / 00 – Überseering, Slg. 2002, I-9922, Rn. 67 (I-9941). Beide Gerichte wirken somit an der „Fallösung“ (so Questiaux, Interpretation of Community Law, S. 47 [49]) mit. 40 Vgl. zu dieser Eigenschaft ausführlich unten § 5 B. I. 41 Kovar, Etats Membres et compétence de la Cour, S. 33 (36), stellt daher zutreffend fest, daß die (allgemeine) Befugnis zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts zwischen EuGH und nationalen Gerichten geteilt sei. 42 Nach Vandersanden / Barav, Contentieux Communautaire, S. 269, sind nicht vorlagepflichtige Gerichte daher „maîtresses de la totalité des compétences“ und können somit „sans le concours de la juridiction communautaire exercer la plénitude de la compétence juridictionnelle“. Vgl. auch Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 350. 43 Vgl. hierzu Hirsch, ZRP 2000, 57 (59). 44 Der Mythos eines Monopols des EuGH für die Auslegung von Gemeinschaftsrecht hält sich allerdings hartnäckig; vgl. z. B. Bauer / Diller, NZA 1996, 169 (170); Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 726; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 5 / 77 und 15 / 14; Markwardt, Rolle des EuGH, S. 196 f.; Questiaux, Interpretation of Community Law, S. 47 (48); Streinz / Ehricke, Art. 234 EGV, Rn. 4. Vgl. ferner HessStGH, EuGRZ 1997, 213 (216), nach dessen Ansicht „Art. 234 EG-Vertrag das Monopol zur Entscheidung über die Auslegung des Vertrages [ . . . ] dem Europäischen Gerichtshof übertragen“ hat und dieser allein (!) zuständig für die Beantwortung der Frage nach der Vereinbarkeit (!) einer nationalen Regelung mit europäischem Recht sein soll (vgl. zu dieser Entscheidung Störmer, NJ 1998, 337 ff.). Zumindest mißverständlich auch GA Alber, Schlußanträge vom 29. 6. 2000, Rs. C-446 / 98 – Fazenda Pública, Slg. 2000, I-11439, Rn. 98 (I-11459).

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leg.45 Nur ausnahmsweise, nämlich wenn und soweit eine Vorlagepflicht besteht, wird diese Interpretationsbefugnis der nationalen Gerichte zwingend eingeschränkt. In diesem Fall sind die nationalen Gerichte daran gehindert, eine Interpretation des Gemeinschaftsrechts einer verbindlichen Entscheidung zugrunde zu legen, ohne den EuGH vorher mit der entsprechenden Auslegungsfrage befaßt zu haben.46

§ 4 Kritik der überkommenen Auffassung (Auslegung vs. Anwendung) Die Beschäftigung mit der Reichweite der dem EuGH durch Art. 234 Abs. 1 zugewiesenen Auslegungsbefugnis wird durchgängig von der Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung beherrscht. Seit jeher wird die Befugnis des EuGH darauf beschränkt, das Gemeinschaftsrecht (nur) auszulegen, während dessen Anwendung im Ausgangsrechtsstreit dem vorlegenden Gericht obliege.47 Für diese Abgrenzung der Befugnisse des EuGH und der nationalen Gerichte kann ein Vergleich mit Art. 220 angeführt werden, der – anders als Art. 234 Abs. 1 – von der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts spricht.48 45 Vgl. Kutscher, Thesen, S. I-14; Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 100; kritisch zur Annahme eines Auslegungsmonopols auch Lieber, Vorlagepflicht, S. 82 f. Ein Monopol hat der EuGH allerdings für die letztverbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts (so zu Recht Fennelly, Fordham Int’l LJ 1997, 656 [672 f.]); es wird durch die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte nach Art. 234 Abs. 3 prozedural abgesichert. 46 Nicht aber gehindert werden sie an der Interpretation des Gemeinschaftsrechts überhaupt: Ohne eine vorherige Interpretation der fraglichen Normtexte könnten die betreffenden Gerichte nämlich weder die Einschlägigkeit der Normtexte noch die Frage beurteilen, ob eine aufgeworfene Auslegungsfrage tatsächlich entscheidungserheblich ist; ebenso van Raepenbusch, Droit institutionnel, S. 388; vgl. auch Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 118. 47 Vgl. EuGH, Urteile vom 5. 2. 1963, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (23), und vom 27. 3. 1963, verb. Rs. 28 bis 30 / 62 – da Costa & Schaake NV, Slg. 1963, 63 (81); seitdem ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Urteil vom 18. 10. 1990, verb. Rs. C-297 / 88 und C-197 / 89 – Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Rn. 38 (I-3794). Vgl. ferner GA Roemer, Schlußanträge vom 12. 12. 1962, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 31 (51); GA Lagrange, Schlußanträge vom 25. 6. 1964, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1279 (1282 f.); Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 69 ff.; Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 223 ff.; Bleckmann, Europarecht, Rn. 950; Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 734; Daig, FS Kutscher, S. 79 ff.; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 80; Donner, Interpretation et application, passim; Dumon, Rechtsprechung des Gerichtshofs, S. III / 23 ff.; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 30 f.; Geiger, EUV / EGV, Art. 234 EGV, Rn. 5; Hartley, Foundations, S. 290 f.; Kapteyn / VerLoren van Themaat, Law of the EC, S. 504 ff.; Kutscher, Thesen, S. I-13 ff.; Lieber, Vorlagepflicht, S. 32 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 658; Schwarze / Schwarze, Art. 234 EGV, Rn. 17; Simon, Système juridique, Nr. 574; Vandersanden / Barav, Contentieux Communautaire, S. 300 ff. 48 Vgl. Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, P.II, Rn. 35; GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 42; a.A. Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (361: „The Treaty

§ 4 Kritik der überkommenen Auffassung

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Gleichwohl wird die Beschränkung – um nicht zu sagen: Fixierung – auf das Begriffspaar ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ der Aufgabe des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht49: Sie überträgt Begrifflichkeiten der (allgemeinen) juristischen Methodologie in einen spezifisch verfahrensrechtlichen Kontext, erklärt in methodologisch fragwürdiger Weise einen einzelnen Ausdruck der Befugniszuweisung zum maßgeblichen Abgrenzungskriterium und nimmt nicht zur Kenntnis, daß sich die praktische Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH längst von einer Orientierung an der Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung entfernt hat.

A. ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ als sachwidrige Kriterien Die Begriffe ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ entstammen der (allgemeinen) juristischen Methodologie. Sie bezeichnen in idealtypischer Weise die Vorgänge, die gemeinsam den Rechtsdurchsetzungsprozeß im weiteren Sinne bilden. Ihre Herkunft aus der Methodologie, zu deren Aufgaben alles andere als die Lösung besonderer Probleme spezifischer Gerichtsverfahren zählt, läßt sie als wenig geeignet erscheinen, die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren angemessen zu beschreiben. Dabei spielt weniger eine Rolle, daß sie sich allenfalls theoretisch voneinander trennen lassen.50 Dies ist zwar für die Abgrenzung von Befugnisbereichen mißlich, doch läßt sich der Einsatz gradueller und damit unscharfer Kriterien nicht stets vermeiden; auch die hier vorgeschlagene Konzeption wird im Ergebnis kein in jedem Fall trennscharfes Kriterium liefern. Entscheidend ist jedoch, daß eine Beschränkung der Befugnisabgrenzung auf das [ . . . ] certainly does not contain any reference to a dichotomy between ,interpretation‘ and ,application‘“). Dauses, ebd., stellt zudem auf die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens ab, das auf einer strikten Zuständigkeitstrennung beruhe. Diese ist jedoch nicht Grund, sondern Ergebnis einer Befugnisabgrenzung und sagt daher nichts über deren Maßstab aus. 49 Ansatzweise kritisch auch Ahlt, Verhältnis zwischen nationaler und EuGH-Rechtsprechung, S. 33 (37). Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß die Orientierung an Auslegung und Anwendung auch wegen ihrer schlagworthaften Pauschalisierung nicht überzeugt. Selbstverständlich wendet der EuGH auch im Vorabentscheidungsverfahren Gemeinschaftsrecht an, und zwar wenn er über die Voraussetzungen seiner Zuständigkeit nach Art. 234 und über die Zulässigkeit einer Vorlagefrage befindet. 50 Vgl. etwa GA Roemer, Schlußanträge vom 12. 12. 1962, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 31 (51); GA Lagrange, Schlußanträge vom 25. 6. 1964, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1279 (1282 f.); GA Jacobs, Schlußanträge vom 29. 10. 1998, Rs. C-342 / 97 – Lloyd Schuhfabrik Meyer, Slg. 1999, I-3821, Rn. 9 (I-3823); Ahlt, Verhältnis zwischen nationaler und EuGH-Rechtsprechung, S. 33 (36); Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 82; Dauses, FS Everling, S. 223 (231); Donner, Interprétation et application, S. 14; Kapteyn / VerLoren van Themaat, Law of the EC, S. 506; Kovar, Etats Membres et compétence de la Cour, S. 33 (39); Lieber, Vorlagepflicht, S. 35 f.; Matthies, GS Constantinesco, S. 471 (473); Mégret / D. Waelbroeck, Art. 177 EGV, Nr. 29; Questiaux, Interpretation of Community Law, S. 47 (55); Remien, RabelsZ 2002, 503 (520); Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 71. 3 Groh

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Begriffspaar ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ völlig ausblendet, daß die Auslegungsbefugnis dem EuGH zur Erfüllung spezifischer Aufgaben zugewiesen wurde, die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren also bestimmte Ziele verfolgt, die naturgemäß in Begriffen juristischer Methodologie keinen Niederschlag finden. Dem ließe sich abhelfen, indem man den Ausdrücken ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ für die Befugnisabgrenzung im Vorabentscheidungsverfahren eine spezifische Bedeutung gibt. Eine Sichtung der einschlägigen Literatur zeigt jedoch schnell, daß dies nicht getan wird. Vielmehr werden Auslegung und Anwendung dort ganz im Sinne allgemeiner juristischer Methodologie verstanden, nämlich – cum grano salis – als Ermittlung der Bedeutung, des Inhalts oder der Tragweite einer Vorschrift51 (Auslegung) bzw. als Subsumtion eines Sachverhalts unter eine Rechtsvorschrift52 (Anwendung). Eine maßgeblich durch die Begriffe ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ bestimmte Abgrenzung der Befugnisbereiche im Vorabentscheidungsverfahren wird daher diesem Verfahren und insbesondere der darin vom EuGH wahrzunehmenden Aufgabe nicht gerecht.

B. Unangemessene Verengung der Befugniszuweisung Darüber hinaus führt die Beschränkung der Befugnisabgrenzung auf die Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung zu einer methodologisch fragwürdigen Verengung der Befugniszuweisung in Art. 234 Abs. 1. Ihre erste Schwäche liegt darin, daß sie den Kern der Befugnisabgrenzung auf einen einzelnen Ausdruck der Befugniszuweisung reduziert und die übrigen Tatbestandsmerkmale der Zuweisung insoweit außer acht läßt. Die Reichweite einer Befugniszuweisung kann jedoch nur unter Berücksichtigung sämtlicher Merkmale des Zuweisungstatbestandes bestimmt werden.53 Hinzu kommt, daß entgegen der bei der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte üblichen Gewichtung der Interpretationsargumente die Systematik zum Nachteil teleologischer Erwägungen geradezu verabsolutiert wird.54 Auch dies läßt erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob die 51 Vgl. z. B. Beckmann, Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens, S. 40; Bergerès, Contentieux Communautaire, Nr. 223; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 77; Dumon, Rechtsprechung des Gerichtshofs, S. III / 9; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 30; Geiger, EUV / EGV, Art. 220 EGV, Rn. 11; GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 37; GSch / Gaitanides, Art. 234 EGV, Rn. 30; Lieber, Vorlagepflicht, S. 15; Streinz / Ehricke, Art. 234 EGV, Rn. 11. Differenzierend allerdings Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 101, der der Sache nach auch die Subsumtion zur Auslegung i. S. v. Art. 234 Abs. 1 zählt. 52 Vgl. z. B. Beckmann, Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens, S. 40; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 80; GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 42. 53 Vgl. Kraußer, Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 121. 54 Regelmäßig haben bei der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte teleologische Erwägungen entscheidendes Gewicht; vgl. hierzu näher unten § 7 A. II. 2. – Für eine

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bloße Orientierung an den Begriffen ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ der richtige Weg ist, um die Auslegungsbefugnis des EuGH von den Befugnissen der nationalen Gerichte abzugrenzen.

C. Abweichende Praxis des EuGH Die Fragwürdigkeit einer auf die begriffliche Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung beschränkten Befugnisabgrenzung wird dadurch bestätigt, daß sich die praktische Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH längst von einer bloßen Orientierung an diesen Begrifflichkeiten verabschiedet hat. Zwar stützt der EuGH in zahlreichen Entscheidungen bis in die jüngste Zeit hinein Aussagen über die Befugnisverteilung im Vorabentscheidungsverfahren auf den Gegensatz von Auslegung und Anwendung.55 Bei näherem Hinsehen erweisen sie sich jedoch vielfach als aus der früheren Rechtsprechung übernommene Formulierungen, die dem heutigen Vorgehen des EuGH in der Sache nicht mehr entsprechen.56 Am augenfälligsten wird dies dort, wo der EuGH sogar verbal subsumiert, also die ihm nach herkömmlichem Verständnis verwehrte Anwendung vornimmt. So findet sich beispielsweise in einer Vorabentscheidung folgender Ergebnissatz: „Daher ist seine Klage [gemeint ist die des Klägers im Ausgangsverfahren; T. G.] keine dingliche Klage im Sinne von Artikel 16 Nr. 1 des Übereinkommens, sondern eine persönliche Klage“.57 Ganz ähnlich entschied der EuGH in einem anderen Urteil: „Die im Ausgangsverfahren streitige Auflösungszielorientierte Interpretation von Art. 234 auch Ahlt, Verhältnis zwischen nationaler und EuGH-Rechtsprechung, S. 33 (37); vgl. ferner Jacobs, Studi Capotorti, S. 175 (179 f. und 184 f.). 55 Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 18. 10. 1990, verb. Rs. C-297 / 88 und C-197 / 89 – Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Rn. 38 (I-3794), vom 18. 11. 1999, Rs. C-107 / 98 – Teckal, Slg. 1999, I-8121, Rn. 29 ff. (I-8150 f.), vom 10. 5. 2001, verb. Rs. C-223 / 99 und C-260 / 99 – Agorà und Excelsior, Slg. 2001, I-3605, Rn. 23 f. (I-3636), und vom 15. 1. 2002, Rs. C-179 / 00 – Weidacher, Slg. 2002, I-501, Rn. 38 (I-541). 56 Eingehend hierzu Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 ff.; ebenso Remien, RabelsZ 66 (2002), 503 (520 f.). – Zu welchen bedenklichen praktischen Konsequenzen diese Entwicklung führt, belegt eindrucksvoll der Fall Arsenal Football Club plc vs. Matthew Reed: Ein englisches Gericht hielt die von ihm erbetene Vorabentscheidung des EuGH (Urteil vom 12. 11. 2002, Rs. C-206 / 01 – Arsenal Football Club, Slg. 2002, I-10273) für nicht bindend, weil der EuGH Tatsachen anders festgestellt habe als es selbst und damit seine Zuständigkeit überschritten habe (High Court, Chancery Division, Urteil vom 12. 12. 2002, [2003] 1 All ER 137, Rn. 27 [146]; vgl. hierzu Arnull, CMLR 2003, 753 [765 ff.]; Davies, ELR 2003, 408 [414 ff.]). Das Urteil wurde mittlerweile vom Court of Appeal (Urteil vom 21. 5. 2003, abrufbar im Internet unter ) zwar aufgehoben, seine allgemeinen Aussagen zur Bindungswirkung jedoch ausdrücklich bestätigt (vgl. Rn. 25 ff. der Rechtsmittelentscheidung). 57 EuGH, Urteil vom 17. 5. 1994, Rs. C-294 / 92 – Webb, Slg. 1994, I-1717, Rn. 15 (I-1738). 3*

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klage ist keine Klage, die dingliche Rechte an unbeweglichen Sachen im Sinne des Artikels 16 Nummer 1 des Brüsseler Übereinkommens zum Gegenstand hat, sondern eine persönliche Klage“.58 In einer anderen Rechtssache qualifizierte er die Umstände des Ausgangsrechtsstreits wie folgt: „Der Bereitschaftsdienst, den das medizinische und Pflegepersonal, das in Bereitschaftseinrichtungen, in Teams der medizinischen Grundversorgung und anderen Stellen, in denen Notfälle im Gebiet der Autonomen Gemeinschaft Galizien außerhalb von Krankenhäusern behandelt werden, Dienstleistungen für den Servicio Galego de Saúde erbringt, in Form persönlicher Anwesenheit leistet, ist insgesamt als Arbeitszeit und gegebenenfalls als Überstunden im Sinne der Richtlinie 93 / 104 anzusehen“.59 Nicht ausdrücklich und damit weniger offensichtlich, der Sache nach aber kaum anders, subsumiert der EuGH auch in einigen anderen Urteilen konkrete Umstände des Ausgangsrechtsstreits unter den einschlägigen Normtext. So legt er in der Rechtssache Dias auf mehreren Seiten und unter verschiedenen Gesichtspunkten dar, daß und warum ein Kraftfahrzeug, um dessen Besteuerung im Ausgangsverfahren gestritten wurde, nicht den vom vorlegenden Gericht genannten nationalen (!) Vorschriften unterfalle.60 Bemerkenswert ist insoweit auch die Rechtssache Hermès, in der der EuGH sich zwar bemüht, seine Antwort als Auslegung des einschlägigen Normtextes (Artikel 50 Abs. 6 TRIPS) zu formulieren, der Sache nach jedoch feststellt, daß sofortige einstweilige Maßnahmen i. S. v. Art. 289 ff. der niederländischen ZPO als einstweilige Maßnahmen i. S. v. Art. 50 Abs. 6 TRIPS zu qualifizieren sind.61 Aus diesen Beispielen ließe sich auf den ersten Blick schließen, der EuGH verstünde den Ausdruck ,Auslegung‘ in Art. 234 Abs. 1 in einem weiten Sinne, der auch die Subsumtion unter den ausgelegten Normtext einschließt.62 Auch insoweit genügt jedoch ein kurzer Blick in die einschlägige Rechtsprechung, um das Gegenteil zu beweisen. In zahlreichen Urteilen gibt der EuGH eine recht allgemein gehaltene Antwort und überläßt die Subsumtion den nationalen Gerichten.63 So stellt Beschluß vom 5. 4. 2001, Rs. C-518 / 99 – Gaillard, Slg. 2001, I-2771, Rn. 19 (I-2781). Beschluß vom 3. 7. 2001, Rs. C-241 / 99 – CIG, Slg. 2001, I-5139, Nr. 3 des Tenors. – Vgl. zu weiteren Entscheidungen, in denen der EuGH zumindest subsumtionsähnlich vorgeht, Urteile vom 22. 4. 1999, Rs. C-109 / 98 – CRT France International, Slg. 1999, I-2237, Rn. 21 (I-2274), und vom 18. 5. 2000, Rs. C-107 / 97 – Rombi und Arkopharma, Slg. 2000, I-3367, Rn. 38 f. (I-3407) und Rn. 67 (I-3415). 60 Urteil vom 16. 7. 1992, Rs. C-343 / 90 – Dias, Slg. 1992, I-4673, Rn. 23 ff. (I-4710 ff.). Das Vorgehen des EuGH wird ausdrücklich begrüßt von Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (376). 61 Vgl. Urteil vom 16. 6. 1998, Rs. C-53 / 96 – Hermès, Slg. 1998, I-3603, Rn. 45 (I-3652); der EuGH beschreibt zunächst detailliert die Merkmale der im Ausgangsverfahren streitigen einstweiligen Maßnahme und stellt sodann fest, daß eine solche Maßnahme eine einstweilige Maßnahme i. S. v. Art. 50 TRIPS ist. 62 Ein solches Verständnis der Auslegung i. S. v. Art. 234 Abs. 1 befürwortet Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 99 ff. (insbesondere 102 f.). 63 Sehr kritisch zu dieser Praxis des EuGH Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (367). 58 59

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er beispielsweise in einer ganzen Reihe von Entscheidungen allgemeine Kriterien für die Beurteilung auf, ob ein Betriebsübergang i. S. v. Art. 1 Abs. 1 RL 77 / 18764 vorliegt; die nationalen Gerichte haben anschließend die konkreten Umstände des Ausgangsrechtsstreits im Hinblick auf diese Kriterien zu beurteilen.65 In ähnlicher Weise geht er etwa auch hinsichtlich der Beurteilung eines Verhaltens als irreführend66 oder eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht als hinreichend qualifiziert67 vor. Stiftet bereits dies hinlänglich Verwirrung bei dem Versuch, die praktische Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH mit der begrifflichen Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung zur Deckung zu bringen, so muß eine nähere Analyse einzelner Beurteilungen vollends zur Konfusion führen. Die Zuordnung zahlreicher Beurteilungsvorgänge zu Auslegung bzw. Anwendung ist nämlich alles andere als einheitlich. Beispielsweise prüft der EuGH in einigen Vorabentscheidungen selbst, ob eine mitgliedstaatliche Maßnahme verhältnismäßig ist,68 überläßt die Prüfung dagegen in anderen Fällen dem vorlegenden Gericht.69 Gleiches gilt für die bereits genannten Beurteilungen, ob ein Betriebs64 Richtlinie 77 / 187 des Rates vom 14. Februar 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. 1977 L 61 / 26), inzwischen ersetzt durch Richtlinie 2001 / 23 / EG des Rates vom 12. März 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. 2001 L 82 / 16). 65 Vgl. z. B. Urteile vom 18. 3. 1986, Rs. 24 / 85 – Spijkers / Benedik, Slg. 1986, 1119, Rn. 14 (1129), vom 19. 5. 1992, Rs. C-29 / 91 – Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189, Rn. 25 und 29 (I-3220 f.), vom 11. 3. 1997, Rs. C-13 / 95 – Süzen, Slg. 1997, I-1259, Rn. 22 (I-1276), vom 2. 12. 1999, Rs. C-234 / 98 – Allen u. a., Slg. 1999, I-8643, Rn. 38 (I-8679), und vom 26. 9. 2000, Rs. C-175 / 99 – Mayeur, Slg. 2000, I-7755, Rn. 55 (I-7796). 66 Vgl. z. B. Urteile vom 28. 1. 1999, Rs. C-303 / 97 – Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513, Rn. 36 (I-546 f.) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung, und vom 13. 1. 2000, Rs. C-220 / 98 – Estée Lauder, Slg. 2000, I-117, Rn. 30 f. (I-147). 67 Vgl. z. B. Urteil vom 1. 6. 1999, Rs. C-302 / 97 – Konle, Slg. 1999, I-3099, Rn. 59 (I-3139). 68 Vgl. z. B. Urteile vom 18. 5. 1993, Rs. C-126 / 91 – Yves Rocher, Slg. 1993, I-2361, Rn. 15 ff. (I-2389 f.), vom 6. 6. 2000, Rs. C-281 / 98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rn. 44 (I-4174), vom 3. 10. 2000, Rs. C-58 / 98 – Corsten, Slg. 2000, I-7919, Rn. 39 f. (I-7957), vom 29. 11. 2001, Rs. C-17 / 00 – De Coster, Slg. 2001, I-9445, Rn. 36 ff. (I-9501 f.), vom 21. 3. 2002, Rs. C-451 / 99 – Cura Anlagen, Slg. 2002, I-3193, Rn. 47 (I-3231 f.) und 50 (I-3232), und vom 17. 9. 2002, Rs. C-413 / 99 – Baumbast, Slg. 2002, I-7091, Rn. 93 (I-7168). 69 Vgl. z. B. Urteile vom 31. 3. 1993, Rs. C-19 / 92 – Kraus, Slg. 1993, I-1663, Rn. 41 (I-1699), und vom 1. 2. 2001, Rs. C-108 / 96 – Mac Quen, Slg. 2001, I-837, Rn. 31 ff. (I-868 f.). Vgl. ferner Urteil vom 8. 3. 2001, Rs. C-405 / 98 – Gourmet International Products, Slg. 2001, I-1795, Rn. 33 (I-1827) und 41 (I-1829), wo die Verhältnismäßigkeitsprüfung dem nationalen Gericht überlassen wird, da dieses für die hierzu erforderliche Untersuchung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände besser in der Lage sei als der EuGH (vgl. zur Notwendigkeit, bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit die konkreten Umstände des Einzel-

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übergang vorliegt,70 ein Verhalten irreführend ist71 oder ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht als hinreichend qualifiziert angesehen werden kann.72 Ein ähnliches Beispiel ist die Weigerung des EuGH, einen bestimmten Stoff in ein Verzeichnis gefährlicher Abfälle einzureihen, da er zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht befugt sei,73 während er die strukturell identische Einreihung von Waren in die Kombinierte Nomenklatur in ständiger Rechtsprechung selbst vornimmt.74 Auf der Suche nach einer Erklärung für diese Uneinheitlichkeit wird man in der Rechtsprechung des EuGH fündig, freilich in unerwarteter Hinsicht. In mehreren Urteilen weist der EuGH darauf hin, daß er eine konkrete Beurteilung (nur) deshalb unterläßt, weil ihm die hierfür erforderlichen Sachverhaltsangaben nicht vorliegen.75 Umgekehrt erachtet er sich in manchen Fällen für hinreichend falles zu berücksichtigen, EuGH, Urteil vom 8. 5. 2003, Rs. C-14 / 02 – ATRAL, Slg. 2003, I-4431, Rn. 67 f. (I-4481). Mit entgegengesetzter Argumentation – die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Maßnahme und damit ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht könne nicht von Sachverhaltsfeststellungen der nationalen Gerichte abhängen – prüfte der EuGH in seinem Urteil vom 16. 12. 1992, Rs. C-169 / 91 – B & Q, Slg. 1992, I-6635, Rn. 14 (I-6658), die Verhältnismäßigkeit selbst. 70 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: Urteile vom 5. 5. 1988, verb. Rs. 144 / 87 und 145 / 87 – Berg / Besselsen, Slg. 1988, 2559, Rn. 18 (2583), und vom 14. 4. 1994, Rs. C-392 / 92 – Schmidt, Slg. 1994, I-1311, Rn. 17 und 20 (I-1326 f.); Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das nationale Gericht: Urteile vom 18. 3. 1986, Rs. 24 / 85 – Spijkers / Benedik, Slg. 1986, 1119, Rn. 14 (1129), vom 19. 5. 1992, Rs. C-29 / 91 – Redmond Stichting, Slg. 1992, I-3189, Rn. 25 und 29 (I-3220 f.), vom 11. 3. 1997, Rs. C-13 / 95 – Süzen, Slg. 1997, I-1259, Rn. 22 (I-1276), vom 2. 12. 1999, Rs. C-234 / 98 – Allen u. a., Slg. 1999, I-8643, Rn. 38 (I-8679), und vom 26. 9. 2000, Rs. C-175 / 99 – Mayeur, Slg. 2000, I-7755, Rn. 55 (I-7796). 71 Beispiele für die Prüfung durch den EuGH selbst: Urteile vom 6. 7. 1995, Rs. C-470 / 93 – Mars, Slg. 1995, I-1923, Rn. 21 ff. (I-1943 f.), vom 9. 2. 1999, Rs. C-383 / 97 – van der Laan, Slg. 1999, I-731, Rn. 41 (I-766), und vom 4. 4. 2000, Rs. C-465 / 98 – Darbo, Slg. 2000, I-2297, Rn. 33 (I-2338; anders im selben Urteil, Rn. 20 [I-2333 f.]); Beispiele für die Überantwortung der Prüfung an das vorlegende Gericht: Urteile vom 28. 1. 1999, Rs. C-303 / 97 – Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513, Rn. 36 (I-546 f.) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung, und vom 13. 1. 2000, Rs. C-220 / 98 – Estée Lauder, Slg. 2000, I-117, Rn. 30 f. (I147). 72 Beispiele für die Beurteilung durch den EuGH selbst: Urteile vom 26. 3. 1996, Rs. C-392 / 93 – British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631, Rn. 45 (I-1669), und vom 17. 10. 1996, verb. Rs. C-283 / 94, C-291 / 94 und C-292 / 94 – Denkavit u. a., Slg. 1996, I-5063, Rn. 53 (I-5102); Beispiel für die Überantwortung der Beurteilung an das vorlegende Gericht: Urteil vom 1. 6. 1999, Rs. C-302 / 97 – Konle, Slg. 1999, I-3099, Rn. 59 (I-3139). 73 Vgl. Urteil vom 22. 6. 2000, Rs. C-318 / 98 – Fornasar u. a., Slg. 2000, I-4785, Rn. 32 (I-4824 f.). 74 Vgl. Urteile vom 9. 8. 1994, Rs. C-395 / 93 – Neckermann Versand, Slg. 1994, I-4027 (Einreihung von Schlafanzügen), vom 14. 12. 1995, verb. Rs. C-106 / 94 und C-139 / 94 – Colin und Dupré, Slg. 1995, I-4759 (Einreihung grüner – und roter! – Pulmoll-Pastillen sowie bestimmter tonischer Getränke), vom 20. 11. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6495 (Einreihung von Nachthemden) und vom 7. 3. 2002, Rs. C-259 / 00 – Biochem, Slg. 2002, I-2461 (Einreihung von Immunglobulinkonzentraten aus Kolostralmilch). 75 Besonders deutlich Urteil vom 16. 7. 1998, Rs. C-210 / 96 – Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657, Rn. 33 (I-4692) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung zur Irre-

§ 4 Kritik der überkommenen Auffassung

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unterrichtet, um die konkrete Beurteilung selbst vorzunehmen.76 Der Umfang der dem EuGH vorliegenden Informationen kann aber kaum zum entscheidenden Maßstab dafür erhoben werden, ob ein Vorgehen als Auslegung oder als Anwendung zu qualifizieren ist77 – ganz abgesehen davon, daß der EuGH gerade in der anwendungstypischen Konstellation umfassender Kenntnis der Umstände des Ausgangsrechtsstreits dazu neigt, bestimmte Beurteilungen selbst vorzunehmen, sie also seiner Auslegungsbefugnis zuzurechnen. Unabhängig davon, wie die Ausdrücke ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ verstanden werden – die praktische Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH läßt sich mit ihnen nicht beschreiben, geschweige denn erklären.

D. Fazit Die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren kann nicht durch eine nähere Definition des Ausdrucks ,Auslegung‘ in Art. 234 Abs. 1 und seine Abgrenzung zur ,Anwendung‘ sachgerecht bestimmt werden. Erforderlich ist vielmehr eine Verabschiedung von bloßen Begrifflichkeiten und eine Besinnung auf die mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele. Nur so kann eine der Funktion dieses Verfahrens angemessene Aufgabenverteilung zwischen EuGH und nationalen Gerichten vorgenommen werden. Dabei ist nicht auszuschließen, daß der EuGH im Hinblick auf diese Funktion teilweise gezwungen ist, das zu tun, was herkömmlicherweise als Anwendung bezeichnet wird.78 Genausowenig kann allerdings ausführung; vgl. ferner Urteile vom 26. 11. 1996, Rs. C-313 / 94 – Graffione, Slg. 1996, I-6039, Rn. 25 (I-6059), und vom 12. 5. 1998, Rs. C-85 / 96 – Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rn. 34 (I-2720) und 45 (I-2722). 76 Besonders deutlich Urteil vom 16. 7. 1998, Rs. C-210 / 96 – Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657, Rn. 30 (I-4691) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung zur Irreführung; vgl. ferner Urteile vom 16. 12. 1992, Rs. C-169 / 91 – B & Q, Slg. 1992, I-6635, Rn. 13 f. (I-6658), vom 26. 3. 1996, Rs. C-392 / 93 – British Telecommunications, Slg. 1996, I-1631, Rn. 41 (I-1668), vom 17. 10. 1996, verb. Rs. C-283 / 94, C-291 / 94 und C-292 / 94 – Denkavit u. a., Slg. 1996, I-5063, Rn. 49 (I-5101), vom 4. 4. 2000, Rs. C-465 / 98 – Darbo, Slg. 2000, I-2297, Rn. 21 (I-2334), und vom 28. 6. 2001, Rs. C-118 / 00 – Larsy, Slg. 2001, I-5063, Rn. 40 (I-5100). 77 Kritisch insoweit auch GA Fennelly, Schlußanträge vom 16. 9. 1999, Rs. C-220 / 98 – Estée Lauder, Slg. 2000, I-119, Rn. 31 (I-133). Anders jedoch EuGH, Urteil vom 6. 4. 1962, Rs. 13 / 61 – de Geus / Bosch und van Rijn, Slg. 1962, 97 (115): Die Subsumtion des im Ausgangsverfahren streitigen Exportverbots unter Art. 81 Abs. 1 sei keine Auslegung, da ihm nicht der Text des gesamten Vertrages vorliege, in dem das Exportverbot enthalten sei, so daß weitere Ermittlungen erforderlich würden. Vgl. hierzu Donner, Interprétation et application, S. 1 f. 78 Dezidiert in diese Richtung Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (369 und 379), der das Interesse an der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts als hinreichende Rechtfertigung für eine vollumfängliche Würdigung des Ausgangsrechtsstreits durch den EuGH ansieht. Dessen

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Teil 1: Entwicklung der zielorientierten Konzeption

geschlossen werden, daß er mit Rücksicht auf diese Funktion gehalten ist, in bestimmtem Umfang das zu lassen, was üblicherweise als Auslegung qualifiziert wird.79

§ 5 Die zielorientierte Konzeption: Notwendigkeit eines gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses Mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren werden mehrere Ziele verfolgt. Diese stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis zu einigen dem Gemeinschaftsrecht immanenten Vorgaben, das im Wege einer Abwägung aufzulösen ist. Soweit sich in dieser Abwägung die Ziele durchsetzen können, ist ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis anzuerkennen, das den legitimierenden Grund und gleichzeitig die Grenze der Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren bildet.

A. Mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgte Ziele Weder Art. 234 selbst oder die sonstigen Bestimmungen über den EuGH einschließlich dessen Satzung und Verfahrensordnung, noch die Präambel des EGV oder die Aufgaben- und Tätigkeitskataloge in Art. 2 bis 4 enthalten eine ausdrückliche Festlegung über die Ziele, die mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgt werden. Als Ziele in diesem Sinne sind demnach nur solche anzuerkennen, von denen in begründeter Weise behauptet werden kann, daß sie durch die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verwirklicht werden sollen. Dieser Anforderung genügen drei Ziele: die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts, die Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts sowie der Schutz individueller Rechtspositionen.80

Befugnis finde lediglich in dem Verbot der Beurteilung strittiger Tatsachen bzw. Auslegungen des nationalen Rechts eine Grenze. Vgl. hierzu – freilich erheblich zurückhaltender – auch Rodríguez Iglesias, NJW 2000, 1889 (1890 f.). 79 Zur Notwendigkeit einer flexiblen Abgrenzung der Befugnisse, allerdings noch auf der Grundlage der Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung, Donner, Interprétation et application, S. 21 f. 80 Ebenso Burgi, DVBl. 1995, 772 (777).

§ 5 Gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis

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I. Die einzelnen Ziele 1. Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts Ein erstes Ziel, das durch die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verwirklicht werden soll, ist die Sicherstellung der einheitlichen Interpretation81 des Gemeinschaftsrechts und damit die Wahrung der Einheitlichkeit dieses Rechts.82 Es liegt auf der Hand, daß das Vorabentscheidungsverfahren hierzu hervorragend geeignet ist: Durch die Zentralisierung der letztverbindlichen Interpretation des Gemeinschaftsrechts beim EuGH wird der Gefahr divergierender Verständnisse eines Normtextes, die mit allen in verschiedenen Rechtsordnungen geltenden Regelungen und insbesondere zwischenstaatlichen Verträgen verbunden ist,83 wirksam vorgebeugt. Besondere Bedeutung kommt hierbei der in Art. 234 Abs. 3 geregelten Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte zu.84 Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren sichert demnach den Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts prozedural ab. 81 Da unter Interpretation im Gemeinschaftsrecht auch das in der deutschen Methodik als Rechtsfortbildung bezeichnete Vorgehen zu verstehen ist (vgl. dazu näher unten § 7 B. III. 1. b)), ist die Ermöglichung der Fortbildung des Rechts nicht als eigenständiges, mit dem Vorabentscheidungsverfahren zu verwirklichendes Ziel anzuerkennen (im Ergebnis ebenso Pache / Knauff, NVwZ 2004, 16 [18 mit Fn. 29]; anders jedoch Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 17 f.; ebenso GSch / Gaitanides, Art. 234 EGV, Rn. 11; Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann (Hrsg.), Handbuch Rechtsschutz, § 10, Rn. 7; Streinz / Ehricke, Art. 234 EGV, Rn. 7). 82 Vgl. bereits EuGH, Urteil vom 6. 4. 1962, Rs. 13 / 61 – Bosch, Slg. 1962, 97 (111); aus der insoweit unübersehbaren späteren Rechtsprechung z. B. EuGH, Urteile vom 20. 9. 1990, Rs. C-192 / 89 – Sevince, Slg. 1990, I-3461, Rn. 11 (I-3501), vom 4. 11. 1997, Rs. C-337 / 95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Rn. 23 (I-6043), und vom 4. 6. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839, Rn. 14 (I-4885). Vgl. ferner Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 46; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 15 ff.; Geiger, EUV / EGV, Art. 234 EGV, Rn. 1; GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 10 ff.; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 43 / 48; Joliet, Riv. Dir. Eur. 1991, 591 (594 f.); Koenig / Pechstein / Sander, EU- / EG-Prozeßrecht, Rn. 755; Lenz / Borchardt, EGV, Art. 234, Rn. 1; Lieber, Vorlagepflicht, S. 4 ff.; Stotz, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch Umweltschutz, § 45, Rn. 186 f.; Rodríguez Iglesias, NJW 2000, 1889; Simon, Système juridique, Nr. 543; Vandersanden / Barav, Contentieux communautaire, S. 268. 83 Vgl. Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 44 f., und GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 4, die als Beispiele das GATT, das Abkommen über das Einheitliche Wechselgesetz und das Abkommen über das Einheitliche Scheckgesetz nennen; ferner Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 176. 84 Vgl. EuGH, Urteile vom 27. 10. 1982, verb. Rs. 35 und 36 / 82 – Morson und Jhanjan, Slg. 1982, 3723, Rn. 8 (3734), vom 4. 11. 1997, Rs. C-337 / 95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Rn. 25 (I-6044), und vom 4. 6. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I4839, Rn. 14 (I-4885); GA Capotorti, Schlußanträge vom 13. 7. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3432, Rn. 8 (3439 f.); ebenso Lieber, Vorlagepflicht, S. 9.

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a) Der Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts Dieser Grundsatz ist eine der tragenden Säulen des Gemeinschaftsrechts85 und als solche von schlechterdings existentieller Bedeutung für die Gemeinschaftsrechtsordnung.86 Er wird hier in einem normativen Sinne und damit als Forderung bzw. Postulat verstanden: Einheitlichkeit ist demnach ein Zielzustand, dessen Verwirklichung geboten ist.87 (1) Dimensionen des Einheitlichkeitsgrundsatzes Der durch den Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts gebotene Zielzustand erstreckt sich auf drei Dimensionen88: auf eine räumliche, eine zeitliche und eine materielle bzw. sachliche.89 Demnach soll das Gemeinschaftsrecht in der gesamten Gemeinschaft gleichzeitig und in der gleichen Weise gelten. Hinsichtlich jeder dieser drei Dimensionen kann die Durchsetzung90 des Gemeinschaftsrechts hinter dem gebotenen Zielzustand zurückbleiben, so insbesondere durch die unterschiedliche Durchsetzung eines gemeinschaftsrechtlichen Rechtsaktes in den einzelnen Mitgliedstaaten,91 durch zeitliche Divergenzen bei seinem 85 Der EuGH bezeichnet dementsprechend die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts als „grundlegendes Erfordernis“; vgl. etwa Urteile vom 27. 3. 1980, Rs. 61 / 79 – Amministrazione delle Finanze dello Stato / Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 18 (1224), und verb. Rs. 66, 127 und 128 / 79 – Amministrazione delle Finanze dello Stato / Salumi, Slg. 1980, 1237, Rn. 11 (1261), sowie vom 2. 2. 1988, Rs. 309 / 85 – Barra / Belgien, Slg. 1988, 355, Rn. 13 (375). 86 So Hirsch, ZRP 2000, 57 (59); ebenso Dyrberg, ELR 2001, 291 (295). – In auffälligem Kontrast zu der enormen Bedeutung des Einheitlichkeitsgrundsatzes steht der Umfang der wissenschaftlichen Auseinandersetzung damit, was unter der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts im einzelnen zu verstehen ist: Bis heute fehlt – soweit ersichtlich – nicht nur in der deutschsprachigen Literatur eine eingehende Untersuchung, die sich diesem Thema widmet. Erste Schritte in diese Richtung geht allerdings Nettesheim, GS Grabitz, S. 447 ff. 87 Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten der rechtstheoretischen Einordnung und des Verständnisses des Grundsatzes der Einheitlichkeit Nettesheim, GS Grabitz, S. 447 (463 f.). Das hier vertretene Verständnis entspricht der zweiten von Nettesheim dargestellten normativen Einordnungsmöglichkeit des Einheitlichkeitsgrundsatzes. – Die Einordnung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts als zu erreichender Zielzustand sagt über den konkreten Inhalt dieses Zustandes, also das Maß der zu erreichenden Einheitlichkeit, noch nichts aus; vgl. hierzu näher unten C. I. 88 Vgl. hierzu Hatje, Europäische Rechtseinheit, S. 7 (9 f.); Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung, S. 36 ff. Mit z. T. etwas anderer Perspektive tauchen die drei Dimensionen des Einheitlichkeitspostulats auch auf bei Isak, Gedanke der Rechtseinheit, S. 73 ff. 89 Praktisch lassen sich diese drei Dimensionen freilich kaum trennen: In jeder zeitlichen und räumlichen Divergenz bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts liegt zwangsläufig auch eine sachliche Abweichung. 90 Unter Durchsetzung wird hier der gesamte Vorgang der Rechtsverwirklichung verstanden, wie ihn die herkömmliche Methodologie mit den Begriffen ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ beschreibt.

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In- bzw. Außerkrafttreten oder durch seine ungleichmäßige Durchsetzung in rechtlich und tatsächlich vergleichbaren Situationen. Aufgrund des Einheitlichkeitspostulats sind derartige Diskrepanzen grundsätzlich zu vermeiden. Allerdings ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß eine völlige Identität des Gemeinschaftsrechts in der gesamten Gemeinschaft schon wegen der mit jeder Rechtsdurchsetzung verbundenen (wenngleich geringfügigen) Bedeutungsverschiebungen92 von vornherein illusorisch ist.93 (2) Begründung des Einheitlichkeitsgrundsatzes Die Forderung nach Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts bedarf einer Begründung. Diese läßt sich auf drei Gesichtspunkte stützen, deren Ansatzpunkte die Gemeinschaft selbst, das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander und die Rechtsstellung der vom Gemeinschaftsrecht betroffenen einzelnen sind. (a) Gemeinschaftsbezogene Begründung: Grundsatz der Rechtsgemeinschaft Das Einheitlichkeitspostulat läßt sich zunächst, ansetzend an der Gemeinschaft selbst, mit dem Grundsatz der Rechtsgemeinschaft94 rechtfertigen. Die Gemeinschaft basiert auf dem Recht; dieses hat sie hervorgebracht und trägt wesentlich zu ihrem Zusammenhalt bei. Eine uneinheitliche Geltung oder auch nur uneinheitliche Durchsetzung dieses Rechts ließe seine Gemeinschaftlichkeit verlorengehen: Es wäre dann zwar ein förmlich in einer Rechtsordnung verklammertes, aber nicht mehr allen Mitgliedstaaten gemeinsames Recht, also bestenfalls ein lediglich partiell gemeinschaftliches. Dies hat der EuGH im Hinblick auf abweichende mitgliedstaatliche Vorschriften bereits in einem seiner ersten grundlegenden Urteile hervorgehoben: „Aus alledem folgt, daß dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, 91 Dies ist der nächstliegende und sicherlich häufigste Fall; möglich ist freilich auch eine unterschiedliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts innerhalb eines Mitgliedstaates. Auch diese stellt natürlich eine Beeinträchtigung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts dar; ebenso Bebr, CMLR 1983, 439 (469). 92 Diese sind auf die strukturelle Unschärfe semantischer Konventionen zurückzuführen; vgl. hierzu näher unten § 6 A. 93 Zuleeg, JZ 1994, 1 (6), spricht im Zusammenhang mit der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts von dessen (nur) „gleichförmiger“ Anwendung. Vgl. auch Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung, S. 35 ([nur] idealtypisch gleiche Auslegung und Anwendung in allen Mitgliedstaaten). 94 Vgl. zum Inhalt des Grundsatzes der Rechtsgemeinschaft Hallstein, Europäische Gemeinschaft, S. 33 ff. (Gemeinschaft als Schöpfung des Rechts, Rechtsquelle und Rechtsordnung); Zuleeg, NJW 1994, 545 (546 ff.: Grundrechte, allgemeine Rechtsgrundsätze, Rechtsschutz). Vgl. ferner Darmon, CDE 1995, 577 (578).

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wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll“.95 Die uneinheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts führt demnach nicht nur dazu, daß dieses Recht kein gemeinschaftliches mehr wäre, sondern hat auch die Erschütterung der Grundfesten der Gemeinschaft zur Folge. Die Begründung des Einheitlichkeitspostulats aus dem Grundsatz der Rechtsgemeinschaft heraus setzt allerdings ein bestimmtes (regelmäßig idealtypisches) Bild dieser Gemeinschaft voraus. Sie ist demnach abhängig von der jeweiligen Vorstellung von Einheitlichkeit, die mit diesem Bild verbunden ist. Daher trägt sie die Forderung nach Einheitlichkeit auch nur in dem Maße, in dem diese als notwendige Voraussetzung einer Rechtsgemeinschaft angesehen wird.96 (b) Mitgliedstaatsbezogene Begründung: Prinzip der Lastengleichheit Zur Begründung der Forderung nach einheitlicher Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts kann auch das Prinzip der Lastengleichheit zwischen den Mitgliedstaaten herangezogen werden.97 In der Tat birgt eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschiedene Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts die Gefahr, daß einige Mitgliedstaaten gegenüber anderen benachteiligt werden. So könnte etwa ein Mitgliedstaat, der entgegen einer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung keine Nichtvermarktungsprämien zahlt, auf Kosten der anderen Mitgliedstaaten von der durch das Nichtvermarktungsprogramm herbeigeführten Stabilisierung des betroffenen Marktes profitieren.98 Ein solches Verhalten widerspräche dem Grundsatz, daß dem Genuß der aus dem Gemeinschaftsrecht fließenden Rechte das Tragen der von ihm auferlegten Verpflichtungen korrespondiert. Stört ein Staat zur Durchsetzung nationaler Interessen einseitig dieses mit der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft verbundene Gleichgewicht zwischen Vorteilen und Lasten, wird die Gleichheit der Mitgliedstaaten in Frage gestellt.99 Allerdings hat dieser Gesichtspunkt gegenüber der gemeinschaftsbezogenen Begründung lediglich untergeordnete Bedeutung, da bei weitem nicht alle Divergen95 EuGH, Urteil vom 20. 2. 1964, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1251 (1270; Hervorhebung nur hier). Vgl. ferner Hirsch, NVwZ 1998, 907 (909); Hirsch, MDR 1999, 1 (2). 96 So setzt etwa nach Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung, S. 35, die Funktionsfähigkeit der EG als Rechtsgemeinschaft (nur) voraus, „daß ihr Recht – wenigstens idealtypisch – in allen Mitgliedstaaten gleich ausgelegt und angewendet wird.“ Vgl. auch Schwarze / Hatje, Art. 10 EGV, Rn. 8 („wenn ihr Recht grundsätzlich in allen Mitgliedstaaten einheitlich gilt und angewendet wird“). 97 Vgl. hierzu vor allem Hatje, Europäische Rechtseinheit, S. 7; Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung, S. 36; Schwarze / Hatje, Art. 10 EGV, Rn. 9. 98 So hatte sich Italien Anfang der 70er Jahre geweigert, gemeinschaftsrechtlich vorgesehene Nichtvermarktungsprämien für Milch einzuführen. Noch vor Abschluß des deshalb eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens hatte sich der Milchmarkt wieder stabilisiert; vgl. EuGH, Urteil vom 7. 2. 1973, Rs. 39 / 72 – Kommission / Italien, Slg. 1973, 101. 99 Vgl. EuGH (vorige Fn.), Rn. 24 (115).

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zen in der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts auch zu einem (spürbaren) Unterschied in den Belastungen der Mitgliedstaaten führen. Wesentlich häufiger dürfte der Fall „mitgliedstaatlich neutraler“ Divergenzen sein, die sich jedoch unmittelbar auf die Rechtspositionen einzelner auswirken. (c) Individualbezogene Begründung: Allgemeiner Gleichheitsgrundsatz Dementsprechend ist zur Begründung der Forderung nach Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts auch ein individualbezogener Gesichtspunkt heranzuziehen, nämlich der allgemeine Gleichheitsgrundsatz.100 Nach diesem dürfen vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, soweit eine Differenzierung nicht objektiv gerechtfertigt ist.101 Daraus folgt, daß alle vom Gemeinschaftsrecht Betroffenen grundsätzlich in gleicher Weise zu behandeln sind, wenn sie sich in vergleichbaren Situationen befinden, daß also an vergleichbare Situationen die gleichen Rechtsfolgen geknüpft werden.102 Das Gemeinschaftsrecht ist also in der gesamten Gemeinschaft in gleicher Weise durchzusetzen. Dies heißt im vorliegenden Zusammenhang insbesondere, daß sich Unterschiede in der Beurteilung vergleichbarer Sachverhalte nicht daraus ergeben dürfen, wer diese Beurteilung vornimmt: Die Entscheidung über vergleichbare Sachverhalte soll etwa von einem Gericht in Schweden mit demselben Ergebnis getroffen werden wie von einem Gericht in Griechenland oder Irland. Grundsätzlich unzulässig erscheint demnach eine je nach Mitgliedstaat unterschiedliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts. Gleiches gilt jedoch auch innerhalb eines Mitgliedstaates; auch dort kann eine von Gericht zu Gericht variierende Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz problematisch erscheinen. Gleichheitserwägungen stehen jedoch in bezug auf die richterliche Tätigkeit in einem Spannungsverhältnis zu dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit. Diese besteht zwar nur im Rahmen der richterlichen Bindung an den Normtext. Gleichwohl gewährleistet diese Bindung nicht, daß gerichtliche Entscheidungen über vergleichbare Sachverhalte tatsächlich von allen Gerichten stets in gleicher Weise gefällt werden.103 Der Blick in einen Kommentar gleich welchen Rechtsge100 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Gleichheitserwägungen und der Forderung nach Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts insbesondere Nettesheim, GS Grabitz, S. 447 (448 ff.); vgl. ferner Hallstein, Europäische Gemeinschaft, S. 33; Hatje, Europäische Rechtseinheit, S. 7; Hatje, Gemeinschaftsrechtliche Steuerung, S. 36. 101 EuGH, Urteile vom 5. 3. 1980, Rs. 265 / 78 – Ferweda / Produktschap voor Vee en Vlees, Slg. 1980, 617, Rn. 7 (628), und vom 16. 10. 1980, Rs. 147 / 79 – Hochstrass / Gerichtshof, Slg. 1980, 3005, Rn. 7 (3019). 102 Nettesheim, GS Grabitz, S. 447 (449 f.), weist zutreffend darauf hin, daß dies auch im Hinblick auf verfahrensrechtliche Situationen gilt. 103 Vgl. zur Situation im deutschen Recht BVerfGE 87, 273 (278 f.), wonach die Rechtspflege wegen Art. 97 GG „konstitutionell uneinheitlich“ ist; ebenso BVerfG, Beschluß vom 5. 6. 2002 (2 BvR 888 / 01), Rn. 4 (im Internet abrufbar unter ).

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biets läßt unmittelbar erkennen, daß selbst innerhalb ein und desselben Staates nicht unerhebliche Divergenzen in der Durchsetzung von Rechtsvorschriften bestehen.104 Zu deren Verhinderung werden vielfach, wenn überhaupt, lediglich Mechanismen auf der Ebene der obersten Gerichte einer Rechtsordnung bereitgestellt.105 Der Verzicht auf die Ausdehnung solcher Mechanismen auch auf unterinstanzliche Gerichte zeigt, daß abweichende Entscheidungen auf dieser Ebene auch im Hinblick auf Gleichheitserwägungen als akzeptabel erachtet werden. Es ist kein Grund ersichtlich, warum der einzelne auf der Ebene der Gemeinschaft ein höheres Maß an gerichtlicher Gleichbehandlung soll verlangen können als auf mitgliedstaatlicher Ebene. Dies wird dadurch bestätigt, daß auch im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nur die letztinstanzlichen nationalen Gerichte zur Vorlage an den EuGH verpflichtet sind, obgleich lediglich eine sämtliche Gerichte treffende Vorlagepflicht die weitestgehende Gleichheit zwischen allen vom Gemeinschaftsrecht Betroffenen gewährleisten könnte. Demnach stützt der allgemeine Gleichheitsgrundsatz als individualbezogener Gesichtspunkt die Begründung der Forderung nach Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts nur in eingeschränktem Umfang.106

b) Beschränkungen des Einheitlichkeitspostulats im EGV Die begrenzte Tragfähigkeit der Begründungsansätze für das Einheitlichkeitspostulat deutet bereits darauf hin, daß dieses nicht als Maximalforderung zu verstehen ist. In der Tat ist der Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts bereits im EGV und damit unabhängig von seiner prozeduralen Absicherung im Vorabentscheidungsverfahren Beschränkungen unterworfen. Diese haben unmittelbare Auswirkungen auf die gebotene Reichweite des mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziels der Einheitlichkeitswahrung, da dieses Verfahren keine Vereinheitlichung des Gemeinschaftsrechts über den von dem Einheitlichkeitsgrundsatz geforderten Umfang hinaus bezweckt. Sie können als Ausdruck einer Abwägung aufgefaßt werden, in der anderen Grundsätzen oder Interessen ein (freilich begrenzter) Vorrang vor dem Einheitlichkeitspostulat eingeräumt wird. Vorrangige Grundsätze bzw. Interessen in diesem Sinne sind gemeinschaftlich anerkannte nationale Partikularinteressen, der Grundsatz der Gleichheit der Mitgliedstaaten, soweit er in der Sprachenregelung zum Ausdruck kommt, und der Grundsatz der begrenzten Ermächtigung. 104 So beispielsweise in Deutschland im Hinblick auf die Fragen, ob vor der Stellung eines Antrags auf Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 VwGO dieser Rechtsbehelf eingelegt worden sein muß (vgl. Kopp / Schenke, VwGO, § 80, Rn. 139 mit Fn 245), und ob vorher ein Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80 Abs. 4 VwGO zu stellen ist (ebd., Rn. 138 mit Fn. 244). 105 Vgl. zu derartigen Mechanismen näher unten § 8 B. II. 1. d) (2) (c). 106 Vgl. zur beschränkten Tragfähigkeit von Gleichheitserwägungen im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 306 ff.

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(1) Sonderregelungen: Gemeinschaftsrechtliche Anerkennung nationaler Partikularinteressen Das Gemeinschaftsrecht enthält zahlreiche ausdrückliche Sonder- bzw. Ausnahmevorschriften, die seine einheitliche Geltung beeinträchtigen. Diese Sonderregelungen gehen in den meisten Fällen auf nationale Partikularinteressen zurück und bringen somit einen begrenzten Vorrang dieser Interessen vor dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zum Ausdruck. Begrenzt ist dieser Vorrang deshalb, weil er nur solche nationalen Partikularinteressen erfaßt, auf deren Anerkennung als vorrangig sich sämtliche Mitgliedstaaten verständigen.107 Markantestes Beispiel für Divergenzen in der Geltung des Gemeinschaftsrechts aufgrund von Sonderregelungen dürften Formen sachlich oder zeitlich differenzierter Integration sein, wie sie den Mitgliedstaaten vor allem in Form der verstärkten Zusammenarbeit (Art. 11 und 11a EGV i. V. m. Art. 27a ff., 40 ff. und 43 ff. EUV), aber beispielsweise auch nach Art. 15 (Ausnahmeregelungen für die Errichtung des Binnenmarkts) und Art. 168 Abs. 1 i. V. m. 172 Abs. 2 Satz 2 (Zusatzprogramme einzelner Mitgliedstaaten im Bereich Forschung und technologische Entwicklung) zur Verfügung stehen. Zudem enthalten insbesondere in neuerer Zeit die Vertragsprotokolle zahlreiche weitere Beispiele für Regelungen, die eine uneinheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts in den verschiedenen Mitgliedstaaten bewirken. So haben sich etwa das Vereinigte Königreich und Dänemark vorbehalten, nicht an der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion teilzunehmen.108 Das Vereinigte Königreich und Irland sind abweichend von Art. 14 befugt, bestimmte Personenkontrollen an ihren Grenzen mit anderen Mitgliedstaaten durchzuführen.109 Das Vereinigte Königreich, Irland und Dänemark beteiligen sich grundsätzlich nicht an der Annahme von Maßnahmen durch den Rat, die nach Titel IV des Dritten Teils des EGV (Visa, Asyl etc.) vorgeschlagen werden; weder diese Maßnahmen noch ihre Auslegung durch den EuGH sind für die genannten Mitgliedstaaten verbindlich.110 107 Zwar sind die Mitgliedstaaten nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet, die Gemeinschaft bei der Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu unterstützen und sämtliche sie beeinträchtigenden Handlungen zu unterlassen (vgl. etwa CR / Kahl, Art. 10 EGV, Rn. 45; Schwarze / Hatje, Art. 10 EGV, Rn. 16). Eine solche Bindung der Mitgliedstaaten an den Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts besteht jedoch bei der Setzung primären Gemeinschaftsrechts nicht. 108 Protokoll (Nr. 25) zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland (ABl. 1992 C 191 / 1 [87]); Protokoll (Nr. 26) zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft über einige Bestimmungen betreffend Dänemark (ABl. 1992 C 191 / 1 [89]). 109 Protokoll (Nr. 3) zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft über die Anwendung bestimmter Aspekte des Artikels 7a des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf das Vereinigte Königreich und auf Irland (ABl. 1997 C 340 / 1 [97]). 110 Protokoll (Nr. 4) zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft über die Position des Vereinigten Königreichs und

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Die Einbeziehung von Sonder- bzw. Ausnahmeregelungen in den Vertrag führt zu Divergenzen auf der Normtextebene. Damit wird der Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts bereits am Ausgangspunkt der Rechtsdurchsetzung relativiert. (2) Gleichberechtigung der Vertragssprachen Nach Art. 314 sind die bisherigen zwölf Vertragssprachen111 gleichermaßen verbindlich; durch Art. 61 Abs. 2 der Beitrittsakte 2003112 wird die gleiche Verbindlichkeit auf die neun Sprachen der neuen Mitgliedstaaten 113 erstreckt. Damit sind alle 21 Vertragssprachen gleichermaßen verbindlich.114 Die strikte Gleichberechtigung aller Sprachen führt zwangsläufig zu Bedeutungsverschiebungen, da alle sprachlichen Versionen mit Ausnahme der Sprachfassung(en) des Entwurfs eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes trotz ihrer rechtlich gleichen Verbindlichkeit sprachlich gesehen (nur) Übersetzungen sind.115 Bedeutungsverschiebungen in diesem Sinne sind nicht etwa Übersetzungsdivergenzen oder gar -fehler, die sich Irlands (ABl. 1997 C 340 / 1 [99]); Protokoll (Nr. 5) zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft über die Position Dänemarks (ABl. 1997 C 340 / 1 [101]). 111 Bisherige Vertragssprachen sind die deutsche, französische, italienische und niederländische sowie die dänische, englische, finnische, griechische, irische, portugiesische, schwedische und spanische Sprache (vgl. Art. 314). 112 Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäischen Union begründenden Verträge (ABl. 2003 L 236 / 33). 113 Dies sind die estnische, lettische, litauische, maltesische, polnische, slowakische, slowenische, tschechische und ungarische Sprache (vgl. Art. 61 Abs. 2 der Beitrittsakte 2003). 114 Gleiches gilt für die 20 Amtssprachen; vgl. Art. 290 EGV i. V. m. Art. 1 und 4 der VO Nr. 1 des Rates vom 15. 4. 1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. 1958 Nr. 17 / 385) in der Fassung der Beitrittsakte 2003 (Anhang II, Kapitel 22, Nr. 1 a) [ABl. 2003 L 236 / 33 (791)]). Amtssprachen sind alle Vertragssprachen mit Ausnahme des Irischen (Malta konnte sich trotz des Umstandes, daß dort Englisch zweite nationale Amtssprache ist, nicht zu einer vergleichbaren Lösung durchringen; die – vorhersehbaren – praktischen Probleme des Beharrens auf dem Amtssprachenstatus des Maltesischen finden in der VO 930 / 2004 vom 1. 5. 2004 über eine befristete Ausnahmeregelung für die Abfassung von Rechtsakten der Organe der Europäischen Union in maltesischer Sprache ihren Niederschlag). Ein quasi-amtssprachlicher Status kommt einigen österreichischen Ausdrücken zu; vgl. Protokoll Nr. 10 zur Beitrittsakte 1994 über die Verwendung spezifisch österreichischer Ausdrücke der deutschen Sprache im Rahmen der Europäischen Union (ABl. 1994 C 241 / 21 [370]). – Allerdings kann in Verfahren vor Gemeinschaftsinstitutionen aus Praktikabilitätsgründen eine Beschränkung auf bestimmte Amtssprachen zulässig sein; vgl. EuG, Urteil vom 12. 7. 2001, Rs. T-120 / 99 – Kik / HABM, Slg. 2001, II-2235, Rn. 62 f. (II-2261), bestätigt durch EuGH, Urteil vom 9. 9. 2003, Rs. C-361 / 01 P – Kik / HABM, Slg. 2003, I-8283. 115 Zutreffend Braselmann, EuR 1992, 55 (58).

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bei jedem Übersetzungsvorgang einschleichen können,116 sondern unvermeidliche, auch mit jeder korrekten Übersetzung verbundene Übertragungsverschiebungen, die aus den Unterschieden in der Sprachstruktur und dem spezifischen (z. B. kulturellen) Umfeld jeder Sprache resultieren: Eine bedeutungsidentische Übersetzung in eine andere Sprache ist nicht möglich.117 Daher sollte auch die Leistungsfähigkeit einer autonomen gemeinschaftsrechtlichen Terminologie – trotz ihrer unbestrittenen Notwendigkeit – nicht überschätzt werden.118 Die Bedeutungsidentität läßt sich auch nicht etwa nachträglich im Wege der vereinheitlichenden Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren herstellen, da die Urteile des EuGH – mit Ausnahme ihrer französischen Sprachfassung – selbst übersetzte Texte sind.119 Eine völlige Identität der Bedeutung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen in allen Mitgliedstaaten ist im übrigen aus Gründen der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten auch gar nicht wünschenswert. Die übersetzungsbedingten Bedeutungsverschiebungen haben nämlich eine außerordentlich wichtige „Schnittstellenfunktion“: Da das spezifische Sprachumfeld bei rechtlichen Bestimmungen in erster Linie von dem jeweiligen Rechtssystem mit seinen jeweils eigenen Begrifflichkeiten gebildet wird, ermöglichen erst die durch dieses Umfeld der Sprache verursachten Bedeutungsverschiebungen eine weitgehend bruchlose und damit effektive Einfügung gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen in das Gesamtsystem der jeweiligen nationalen Rechts116 Im Hinblick auf solche Übersetzungsdivergenzen oder gar -fehler ist der EuGH seit jeher und zu Recht davon ausgegangen, daß sie durch Auslegung aufgelöst werden müssen; vgl. grundlegend Urteile vom 5. 12. 1967, Rs. 19 / 67 – Van der Vecht, Slg. 1967, 461 (473), und vom 11. 12. 1969, Rs. 29 / 69 – Stauder / Ulm, Slg. 1969, 419, Rn. 3 (425); aus neuerer Zeit EuGH, Urteil vom 17. 12. 1998, Rs. C-236 / 97 – Codan, Slg. 1998, I-8679, Rn. 25 (I-8697; dazu Luttermann, EuZW 1999, 401). 117 Ebenso Edward, Liber Amicorum Slynn, S. 119 (131); ferner Fennelly, Fordham Int’l LJ 1997, 656 (660 f.); Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 20 ff.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 112 ff.; Weisflog, Rechtsvergleichung und juristische Übersetzung, S. 47 ff. Es ist in der Tat kaum anzunehmen, daß spezifisch auf eine bestimmte Rechtsordnung zugeschnittene Ausdrücke wie z. B. ,drittgerichtete Amtspflicht‘, ,recours pour excès de pouvoir‘ oder ,precedent‘ ohne Bedeutungsverschiebungen in eine andere Sprache übersetzt werden können. 118 Zu optimistisch wohl Kühling / Lieth, EuR 2003, 371 (383 ff.), die davon ausgehen, daß bei der Verwendung einer einheitlichen Terminologie „die gleichen Inhalte“ kommuniziert werden können. Selbst wenn man die Dogmatik des Gemeinschaftsrechts mit Kühling / Lieth als „Meta-Sprache“ ansieht, steht auch diese vor dem Problem der Übersetzbarkeit, da auch dogmatische Strukturen und die sie beschreibenden Begriffe des sprachlichen Ausdrucks bedürfen. 119 Zutreffend daher GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 52, der darauf hinweist, daß jedes Urteil des EuGH mit neun (die Bearbeitung Nettesheims stammt von 1994) leicht verschiedenen Entscheidungsinhalten ergeht. An diesem Befund ändert auch ein Verweis auf Art. 31 VfO nichts, aufgrund dessen nur die Sprachfassung des Urteils in der Verfahrenssprache verbindlich ist: Die Wirkungen von Vorabentscheidungen des EuGH sind nicht auf den Mitgliedstaat beschränkt, dessen Sprache Verfahrenssprache war. Sollen sie nicht ins Leere laufen, müssen die Urteile auch in den anderen Mitgliedstaaten verständlich gemacht, also in die anderen Sprachen übersetzt werden.

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ordnung. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß das Gemeinschaftsrecht dem nationalen Recht unterzuordnen wäre. Solange seine Durchsetzung aber im Rahmen des nationalen Verfahrens- und Prozeßrechts erfolgt, muß es innerhalb der einzelnen nationalen Rechtsordnungen verständlich sein. Hierfür sind die übersetzungsbedingten Bedeutungsverschiebungen und die mit ihnen verbundene (begrenzte) Flexibilität eine unabdingbare Voraussetzung: Ohne sie stünden die jeweiligen nationalen Rechtssysteme dem Gemeinschaftsrecht nicht nur verständnis-, sondern im wahrsten Sinne des Wortes auch sprachlos gegenüber. Durch die in Art. 314 EGV verankerte Gleichberechtigung der Vertragssprachen wird demnach der Grundlage dieser Gleichberechtigung, nämlich der Gleichheit aller Mitgliedstaaten,120 ein Vorrang gegenüber dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts eingeräumt. Dieser wirkt sich auf der Ebene der Normtextbedeutung aus. (3) Prinzip der begrenzten Ermächtigung Schließlich ist die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts auch nachrangig gegenüber der in Art. 5 Abs. 1 niedergelegten Begrenztheit des Aufgaben- und Befugnisbereichs der Gemeinschaft. Eine der wichtigsten Konsequenzen dieser Begrenztheit ist der Umstand, daß die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts nach wie vor weitgehend in den Händen der nationalen Institutionen liegt und demnach grundsätzlich nach den Vorschriften des jeweiligen nationalen Verfahrens- und Prozeßrechts erfolgt.121 Da der EuGH zu dessen Auslegung nicht befugt ist, läßt sich auch hier das Auftreten von Divergenzen nicht vermeiden. Diese können zwar dadurch verringert werden, daß dem nationalen Recht, soweit es der Durchsetzung gemeinschaftsrechtlich begründeter Ansprüche dient, bestimmte Vorgaben gemacht werden.122 Derartige Beschränkungen der mitgliedstaatlichen „Verfahrens120 Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen Gleichberechtigung der Vertragssprachen und Gleichheit der Mitgliedstaaten Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 218. 121 Die Auswirkungen dieses Umstandes werden treffend umschrieben von GA Tesauro, Schlußanträge vom 28. 11. 1995, verb. Rs. C-46 / 93 und C-48 / 93 – Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1066, Rn. 50 (I-1096): Unterschiede in den mitgliedstaatlichen Verfahrensregelungen haben zur Folge, daß gemeinschaftsrechtliche Rechtspositionen nur „in gleichartiger – wenn auch nicht eigentlich in einheitlicher – Weise“ gewährt werden können; vgl. auch GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 6. 1995, verb. Rs. C-430 / 93 und C-431 / 93 – van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4707, Rn. 45 (I-4721). 122 Nationale Verfahrensvorschriften, auf deren Grundlage gemeinschaftsrechtliche Ansprüche durchgesetzt werden sollen, dürfen die Durchsetzung solcher Ansprüche nicht ungünstigeren Bedingungen unterwerfen als die Durchsetzung vergleichbarer, auf nationales Recht gestützter Ansprüche (Diskriminierungsverbot); sie dürfen die Durchsetzung zudem nicht praktisch unmöglich machen (Effektivitätsgebot). Vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 9. 2. 1999, Rs. C-343 / 96 – Dilexport, Slg. 1999, I-579, Rn. 25 ff. (I-611 f.) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung, vom 8. 3. 2001, verb. Rs. C-397 / 98 und C-410 / 98 – Metallgesellschaft u. a., Slg. 2001, I-1727, Rn. 85 (I-1785 f.), und vom 18. 6. 2002, Rs. C-92 / 00 – HI, Slg. 2002, I-5553, Rn. 67 (I-5599).

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autonomie“ haben jedoch keine vollständige Angleichung der Voraussetzungen und Grenzen zur Folge, unter bzw. in denen gemeinschaftsrechtlich begründete Ansprüche geltend gemacht werden können.123 Zudem sind die Unterschiede der Verfahrensvorschriften an sich zwar auf das Recht der jeweiligen Mitgliedstaaten beschränkt; ihre Auswirkungen betreffen jedoch die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts unmittelbar, wie das Beispiel unterschiedlicher Ausschluß- oder Verjährungsfristen zeigt: Derselbe gemeinschaftsrechtliche Anspruch kann nach Ablauf einer bestimmten Zeit in einigen Mitgliedstaaten noch geltend gemacht werden, in anderen jedoch nicht mehr. Die Vorrangigkeit der Begrenztheit des Aufgaben- und Befugnisbereichs der Gemeinschaft wirkt sich auf der Ebene der verfahrensmäßigen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts aus; sie kann erhebliche Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zur Folge haben.124

c) Fazit Durch die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren wird der Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts prozedural abgesichert. Dieser ist jedoch unabhängig von seiner Absicherung im Vorabentscheidungsverfahren bereits durch den EGV erheblichen Einschränkungen unterworfen, die sich auf der Normtextebene, der Bedeutungsebene und der Durchsetzungsebene manifestieren. Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgt das Ziel der Einheitlichkeitswahrung von vornherein lediglich in diesem eingeschränkten Umfang.

2. Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts Ein zweites Ziel, von dem in begründeter Weise angenommen werden kann, daß es durch die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verwirklicht werden soll, ist die Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts.125 Bei der Entscheidung eines Rechts123 Heß, RabelsZ 2002, 470 (474 f.), bezeichnet Nichtdiskriminierung und Effektivität treffend als „grobmaschige Maßstäbe“. 124 Vgl. Nettesheim, GS Grabitz, S. 447 (459, um Fn. 34). 125 Vgl. zu diesem Ziel etwa EuGH, Urteil vom 27. 6. 1991, Rs. C-348 / 89 – Mecanarte, Slg. 1991, I-3277, Rn. 43 (I-3312 f.); demnach „gibt Artikel 234 dem innerstaatlichen Gericht ein Mittel zur Bewältigung von Schwierigkeiten, die das Erfordernis, dem Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten volle Wirkung zu verschaffen, mit sich bringen könnte“; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 21. 4. 1988, Rs. 338 / 85 – Pardini / Ministero del commercio con l’estero, Slg. 1988, 2041, Rn. 9 (2074). Die Unterstützung kommt auch in dem Bestreben des EuGH zum Ausdruck, dem vorlegenden Gericht eine „nützliche

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streits haben nationale Gerichte etwa einschlägiges Gemeinschaftsrecht in gleicher Weise heranzuziehen wie nationales Recht.126 Sie können daher bei ihrer Tätigkeit mit Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts konfrontiert werden, die sie selbst unter Umständen nur schwer oder überhaupt nicht lösen können. Da etwaige bei der Durchsetzung des einschlägigen Rechts auftretende Schwierigkeiten die Entscheidung eines Rechtsstreits nicht verhindern dürfen, ist in einer derartigen Situation dafür zu sorgen, daß die aufgeworfenen Fragen zutreffend beantwortet werden können. Zu diesem Zweck gibt eine Vorabentscheidung des EuGH den nationalen Gerichten alle Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand, die ihnen bei der Beurteilung der Wirkungen gemeinschaftsrechtlicher Normtexte dienlich sein können.127 Die nationalen Gerichte werden so in die Lage versetzt, die aufgetretenen Schwierigkeiten zu überwinden und das Gemeinschaftsrecht auf der Grundlage seiner zutreffenden Bedeutung wirksam durchzusetzen.128 Das Ziel der Unterstützung nationaler Gerichte unterliegt jedoch zwei immanenten Grenzen. Zum einen ist eine Unterstützung bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts dort nicht möglich, wo dieses im Ausgangsrechtsstreit nicht (mehr) durchgesetzt werden kann, weil eine Einbeziehung der Vorabentscheidung in die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht (mehr) in Betracht kommt.129 Dies gilt etwa dann, wenn das vorlegende Gericht bei Erlaß der Vorabentscheidung nicht mehr mit dem Rechtsstreit befaßt ist,130 etwa weil dieser zwischenzeitlich Antwort“ zu geben; vgl. etwa EuGH, Urteile vom 10. 3. 1981, verb. Rs. 36 und 71 / 80 – Irish Creamery Milk Suppliers Association / Irland, Slg. 1981, 735, Rn. 6 (748), und vom 3. 3. 1994, Rs. C-316 / 93 – Vaneetveld, Slg. 1994, I-763, Rn. 13 (I-783 f.). – In der Literatur wird die Unterstützung der nationalen Gerichte erstaunlicherweise kaum als eigenständiges Ziel des Vorabentscheidungsverfahrens anerkannt. Ausnahmen sind Boulouis / Darmon, Contentieux communautaire, Nr. 80; Lieber, Vorlagepflicht, S. 10; Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann (Hrsg.), Handbuch Rechtsschutz, § 10, Rn. 6; Ress, FS Jahr, S. 339 (340). 126 Vgl. insbesondere EuGH, Urteil vom 11. 5. 2000, Rs. C-38 / 98 – Renault, Slg. 2000, I-2973, Rn. 32 (I-3021 f.); ferner z. B. EuGH, Urteil vom 9. 3. 1978, Rs. 106 / 77 – Staatliche Finanzverwaltung / Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 21 und 24 (644 f.), Beschluß vom 13. 7. 1990, Rs. C-2 / 88 Imm – Zwartveld u. a., Slg. 1990, I-3365, Rn. 18 (I-3372), und Urteil vom 14. 12. 1995, Rs. C-312 / 93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12 (I-4620 f.). 127 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 18. 4. 1989, Rs. 128 / 88 – Di Felice / INASTI, Slg. 1989, 923, Rn. 7 (939). 128 Vgl. EuGH, Urteil vom 16. 1. 1974, Rs. 166 / 73 – Rheinmühlen / Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1974, 33, Rn. 2 (38). 129 Vgl. EuGH, Urteil vom 21. 4. 1988, Rs. 338 / 85 – Pardini / Ministero del commercio con l’estero, Slg. 1988, 2041, Rn. 9 (2074), wonach den nationalen Gerichten die Befugnis zur Anrufung des EuGH „nur zu dem Zweck zu[steht], sie in die Lage zu versetzen, die bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof entwikkelten gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkte zu entscheiden“; ebenso EuGH, Urteil vom 13. 4. 2000, Rs. C-176 / 96 – Lehtonen und Castors Braine, Slg. 2000, I-2681, Rn. 19 (I-2724). Zur Unzuständigkeit des EuGH in diesen Fällen Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (370 ff.); zur Notwendigkeit eines in Fällen der oben beschriebenen Art fehlenden „europarechtlichen Gesamtzusammenhangs“ Ress, FS Jahr, S. 339 (346).

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beendet wurde131 oder weil ein gegen den Vorlagebeschluß eingelegter Rechtsbehelf Erfolg hatte.132 Systematisch hierher gehören auch diejenigen Fälle, in denen die gestellten Fragen keinerlei Zusammenhang mit dem Ausgangsrechtsstreit aufweisen oder hypothetischer Natur sind, so daß die Vorabentscheidung im Ausgangsrechtsstreit nicht verwertbar ist und daher auch nicht zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts beitragen kann.133 Zum anderen ergibt sich eine immanente Grenze der Unterstützung nationaler Gerichte daraus, daß sie Schwierigkeiten überwinden soll, die von den nationalen Gerichten nicht selbst aus dem Wege geräumt werden können. Hierin erschöpft sich die Unterstützung. Geht die Antwort des EuGH darüber hinaus – etwa weil der EuGH die Vorlagefrage ohne ersichtlichen Grund präzisiert134 –, ist sie daher nicht mehr durch das Ziel der Unterstützung nationaler Gerichte gedeckt.135 Das Ziel der Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts wird in erster Linie durch das Vorlagerecht nationaler Gerichte nach Art. 234 Abs. 2 verwirklicht.136 Zwar können auch letztinstanzliche Gerichte durch eine Vorabentscheidung bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts unterstützt werden. Diese Gerichte sind jedoch aufgrund von Art. 234 130 Erst recht gehören hierher die Fälle, in denen sich der Ausgangsrechtsstreit bereits vor Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens erledigt hat; vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 21. 4. 1988, Rs. 338 / 85 – Pardini / Ministero del commercio con l’estero, Slg. 1988, 2041, Rn. 11 (2075). 131 Unter welchen Voraussetzungen ein Rechtsstreit beendet und das nationale Gericht daher nicht mehr mit ihm befaßt ist, bestimmt sich grundsätzlich nach nationalem Recht; vgl. EuGH, Urteil vom 26. 2. 1992, Rs. C-3 / 90 – Bernini, Slg. 1992, I-1071, Rn. 10 (I-1103). Zu Ausnahmen EuGH, Urteile vom 15. 6. 1995, verb. Rs. C-422 / 93 bis C-424 / 93 – Zabala Erasun u. a., Slg. 1995, I-1567, Rn. 30 (I-1586), und vom 12. 3. 1998, Rs. C-314 / 98 – Djabali, Slg. 1998, I-1149, Rn. 21 (I-1163). 132 Vgl. EuGH, Beschluß vom 16. 6. 1970, Rs. 31 / 68 – Chanel / Cepepha, Slg. 1970, 404 (405). 133 Vgl. EuGH, Urteile vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 18 (3062 f.), und vom 16. 7. 1992, Rs. C-343 / 90 – Dias, Slg. 1992, I-4673, Rn. 17 (I-4709), sowie Rs. C-83 / 91 – Meilicke, Slg. 1992, I-4871, Rn. 25 (I-4933). – Der Zusammenhang zwischen beiden Fallgruppen wird besonders deutlich im Urteil des EuGH vom 15. 6. 1995, verb. Rs. C-422 / 93 bis C-424 / 93 – Zabala Erasun u. a., Slg. 1995, I-1567, Rn. 25 und 29 (I-1585 f.): Hier verneinte der EuGH seine Zuständigkeit u. a. mit der Begründung, er sei nicht für die Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen zuständig, nachdem sich der Ausgangsrechtsstreit wegen eines Anerkenntnisses des Beklagten erledigt hatte. 134 Vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 10. 5. 2001, Rs. C-288 / 99 – vauDe Sport, Slg. 2001, I-3683, Rn. 10 f. (I-3724 f.). 135 Anders ist dies im Falle der Erweiterung der Vorlagefrage, wenn ein vorlegendes Gericht einen relevanten Aspekt ersichtlich übersehen hat; vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 7. 9. 1999, Rs. C-61 / 98 – De Haan, Slg. 1999, I-5003, Rn. 28 (I-5039). Hier liegt eine effizientere Unterstützung darin, den übersehenen Aspekt gleich in die Antwort des EuGH einzubeziehen, da anderenfalls eine erneute Vorlage unumgänglich würde. 136 In diese Richtung auch GA Capotorti, Schlußanträge vom 13. 7. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3432, Rn. 8 (3439 f.).

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Teil 1: Entwicklung der zielorientierten Konzeption

Abs. 3 unabhängig davon zu einer Vorlage verpflichtet, ob sie tatsächlich der Unterstützung durch den EuGH bedürfen.137 Daher ist die idealtypische Situation der Unterstützung nationaler Gerichte die Vorlage eines Gerichts, das sich Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts gegenübersieht und aus diesem Grund in Ausübung seines Vorlagerechts nach Art. 234 Abs. 2 den EuGH um die Auslegung eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes ersucht.

3. Schutz individueller Rechtspositionen Schließlich kann auch von dem Ziel des Schutzes individueller Rechtspositionen in begründeter Weise behauptet werden, daß es durch die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verwirklicht werden soll. Dies mag auf den ersten Blick überraschend erscheinen, da die individualrechtsschützende Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens teilweise allein mit dessen Gültigkeitsvariante in Verbindung gebracht wird.138 Eine solche Sichtweise liegt insofern nahe, als in der Tat in erster Linie dieser Variante die Funktion zukommt, bestehende Rechtsschutzlücken bei der gerichtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte zu kompensieren139: Ist ein einzelner durch eine Maßnahme der Gemeinschaft nicht unmittelbar und individuell betroffen, so daß er nach Art. 230 Abs. 4 mangels Klagebefugnis keine Nichtigkeitsklage gegen die Maßnahme erheben kann, ermöglicht das Vorabentscheidungsverfahren in seiner Gültigkeitsvariante eine gerichtliche Kontrolle der fraglichen Maßnahme durch den EuGH.140 An dieser für den Schutz individueller Rechte wichtigen Kompensa137 Die (subjektive) Einschätzung des vorlegenden Gerichts hinsichtlich seiner Unterstützungsbedürftigkeit spielt nach bisheriger Rechtsprechung für die Vorlagepflicht keine Rolle; vgl. EuGH, Urteil vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 16 ff. (3430); GA Tizzano, Schlußanträge vom 21. 2. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4841, Rn. 62 f. (I-4863). 138 Vgl. etwa Koenig / Pechstein / Sander, EU- / EG-Prozeßrecht, Rn. 757; Schwarze / Schwarze, Art. 234 EGV, Rn. 4; Stotz, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch Umweltschutz, § 45, Rn. 188; Streinz / Ehricke, Art. 234 EGV, Rn. 6. 139 Vgl. EuGH, Urteil vom 23. 4. 1986, Rs. 294 / 83 – Les Verts, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (1365). Zur Bedeutung der Gültigkeitskontrolle im Vorabentscheidungsverfahren für den Individualrechtsschutz bereits GA Roemer, Schlußanträge vom 16. 12. 1963, verb. Rs. 73 und 74 / 63 – Internationale Crediet- en Handelsvereniging „Rotterdam“ u. a., Slg. 1964, 33 (47 f.). Zu den Grenzen der Kompensationsfunktion GA Jacobs, Schlußanträge vom 21. 3. 2002, Rs. C-50 / 00 P – Unión de Pequeños Agricultores / Rat, Slg. 2002, I-6681, Rn. 36 ff. (I-6691 ff.), der wegen dieser Grenzen für eine Lockerung des Kriteriums der individuellen Betroffenheit in Art. 230 Abs. 4 plädiert; ebenso EuG, Urteil vom 3. 5. 2002, Rs. T-177 / 01 – Jégo-Quéré / Kommission, Slg. 2002, II-2365, Rn. 43 ff. (II-2381 ff.). Der EuGH lehnt dies jedoch nach wie vor kategorisch ab; vgl. Urteile vom 25. 7. 2002, Rs. C-50 / 00 P – Unión de Pequeños Agricultores / Rat, Slg. 2002, I-6677, und vom 1. 4. 2004, Rs. C-263 / 02 P – Kommission / Jégo-Quéré, EuZW 2004, 343. 140 Folgerichtig schließt der EuGH diese Kompensationsmöglichkeit aus, wenn der einzelne klagebefugt war, aber die in Art. 230 Abs. 5 vorgesehene Klagefrist versäumt hat; vgl.

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tionsfunktion hat die Auslegungsvariante des Vorabentscheidungsverfahrens allerdings keinen Anteil. Gleichwohl wird auch mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren der Zweck verfolgt, individuelle Rechtspositionen zu schützen,141 sofern man den Begriff des Individualrechtsschutzes nicht auf die gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit des Gemeinschaftshandelns (und nötigenfalls die Nichtigerklärung rechtswidriger Maßnahmen) verengt. Dies wird in den Fällen besonders deutlich, in denen im Vorabentscheidungsverfahren Rechtspositionen durch Auslegung überhaupt erst begründet oder später erweitert werden; zu denken ist hier insbesondere an die Entwicklung eines individuellen Haftungsanspruchs für die staatliche Verletzung von Gemeinschaftsrecht.142 Ebenfalls individualschützende Wirkung haben ersichtlich diejenigen Auslegungsentscheidungen des EuGH, in denen notwendige Voraussetzungen für die Geltendmachung gemeinschaftsrechtlicher Ansprüche geschaffen werden. Paradebeispiele hierfür sind die Anerkennung der Möglichkeit unmittelbarer Anwendbarkeit gemeinschaftsrechtlicher Normtexte,143 die Schaffung der Möglichkeit unmittelbarer Wirkung von Richtlinien144 und die Entwicklung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts,145 der im Falle entgegenstehenden nationalen Rechts die Berufung auf unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht überhaupt erst zu einem effektiven Mittel der Durchsetzung von Ansprüchen macht. Aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts kommt Auslegungsentscheidungen des EuGH auch insofern individualrechtsschützende Funktion zu, als sie einem vorlegenden Gericht als Grundlage dazu dienen können, gemeinschaftsrechtswidriges nationales Recht außer Anwendung zu lassen.146 Die AusleUrteil vom 9. 3. 1994, Rs. C-188 / 92 – TWD Textilwerke Deggendorf, Slg. 1994, I-833. Die Präklusionswirkung dieser Frist kann nach Ansicht des EuGH auch die Unanwendbarkeitseinrede nach Art. 241 ausschließen; vgl. Urteil vom 15. 2. 2001, Rs. C-239 / 99 – Nachi Europe, Slg. 2001, I-1197. 141 Vgl. CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 1; Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, P.II, Rn. 9a; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 18 ff.; GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 16; GSch / Gaitanides, Art. 234 EGV, Rn. 12; Heß, ZZP 1995, 59 (64 ff.); Joliet, Riv. Dir. Eur. 1991, 591 (596 ff.); Lenz / Borchardt, EGV, Art. 234, Rn. 2. 142 Grundlegend EuGH, Urteil vom 19. 11. 1991, verb. Rs. C-6 / 90 und C-9 / 90 – Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357; vgl. ferner EuGH, Urteile vom 5. 3. 1996, verb. Rs. C-46 / 93 und C-48 / 93 – Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029, und vom 4. 7. 2000, Rs. C-424 / 97 – Haim [II], Slg. 2000, I-5123. 143 Grundlegend EuGH, Urteil vom 5. 2. 1963, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 6. 6. 2000, Rs. C-281 / 98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139. 144 Grundlegend EuGH, Urteil vom 4. 12. 1974, Rs. 41 / 74 – van Duyn / Home Office, Slg. 1974, 1337; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 19. 1. 1982, Rs. 8 / 81 – Becker / Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53. 145 Grundlegend EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1251; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 9. 3. 1978, Rs. 106 / 77 – Staatliche Finanzverwaltung / Simmenthal, Slg. 1978, 629. 146 Das Recht und die Pflicht nationaler Gerichte, gemeinschaftsrechtswidriges nationales Recht unangewendet zu lassen, folgt bereits unmittelbar aus dem Vorrang des Gemeinschafts-

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gung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren kann zudem insoweit individuelle Rechtspositionen schützen, als belastende gemeinschaftsrechtliche Normtexte restriktiv ausgelegt werden. Die individualrechtsschützende Funktion der Auslegungsvariante des Vorabentscheidungsverfahrens ist allerdings nicht auf die genannten Konstellationen beschränkt, in denen sie sich in einer für den einzelnen günstigen Entscheidung auswirkt: Der Schutz individueller Rechtspositionen umfaßt auch die Gewährleistung einer (im Rahmen des Möglichen) richtigen147 Entscheidung, soweit diese Rechte einzelner betrifft. Schon indem jede Vorabentscheidung des EuGH, die Auswirkungen auf gemeinschaftsrechtlich eingeräumte individuelle Rechtspositionen hat, in verbindlicher Weise und mit erhöhter Richtigkeitsgewähr148 zur Klärung des Inhalts, der Reichweite und der Durchsetzungsvoraussetzungen dieser Rechte beiträgt, kommt ihr daher eine individualrechtsschützende Wirkung zu.149

II. Verhältnis der Ziele zueinander Die vorgenannten Ziele stehen untereinander in einem Rangverhältnis. Dieses besteht allerdings nicht in abstrakter Weise zwischen den Zielen als solchen und gilt daher nicht für das Gemeinschaftsrecht schlechthin, sondern betrifft nur das Verhältnis der Ziele zueinander im Hinblick auf ihre Verwirklichung im Vorabentscheidungsverfahren. An erster Stelle steht dabei die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts, gefolgt von der Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung dieses Rechts und von dem Schutz individueller Rechtspositionen.150 Die Vorrangrechts. Eine Vorabentscheidung des EuGH, aus der sich die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des nationalen Rechts ableiten läßt, kann dem nationalen Gericht jedoch die Nichtanwendung des nationalen Rechts (wenigstens psychologisch) erleichtern (vgl. hierzu Dyrberg, ELR 2001, 291 [296]; Voß, EuR 1986, 95 [105]). – Soweit Vorabentscheidungen die Durchsetzung gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Rechts verhindern, haben sie die Funktion einer (freilich in mehrfacher Hinsicht eingeschränkten) „Vertragsverletzungsklage des Privatmannes“ (so Pescatore, BayVBl 1987, 68 [70]; ähnlich Bergerès, Contentieux communautaire, Nr. 218; Dauses, FS Everling, S. 223 [226]; Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, P.II, Rn. 9a; Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 20; GSch / Gaitanides, Art. 234 EGV, Rn. 12; Lenz / Borchardt, EGV, Art. 234, Rn. 2). 147 Vgl. zu der hier vertretenen Auffassung von Richtigkeit näher unten § 6 C. 148 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, daß jede einzelne Entscheidung des EuGH eine Richtigkeitsgarantie bietet. Für die Beantwortung gemeinschaftsrechtlicher Fragen verfügt der EuGH jedoch im Vergleich zu sämtlichen Gerichten der Mitgliedstaaten über die besten Ausgangsbedingungen, um eine richtige Entscheidung treffen zu können. 149 Vgl. hierzu Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 202. 150 Anders mag die Gewichtung im Bereich der Gültigkeitsvariante des Vorabentscheidungsverfahrens sein. Dort läßt sich die Befugnis der nationalen Gerichte, unter bestimmten Voraussetzungen die Vollziehung eines auf eine gemeinschaftsrechtliche Verordnung gestützten nationalen Verwaltungsakts vorläufig auszusetzen (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 21. 2.

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stellung der Einheitlichkeitswahrung ergibt sich schon bei nur oberflächlicher Betrachtungsweise daraus, daß sowohl in Literatur als auch Rechtsprechung stets auf die besondere Bedeutung und das erhebliche Gewicht dieses Ziels hingewiesen wird. Regelmäßig wird es als das wichtigste bzw. primäre Ziel bezeichnet,151 vielfach auch schlicht als einziges Ziel genannt.152 Die Unterstützung der nationalen Gerichte wird demgegenüber als Mittel zum Zweck aufgefaßt, die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu wahren.153 Der Schutz individueller Rechtspositionen schließlich wird zwar in der Literatur häufig als Ziel oder Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens genannt, vielfach jedoch nur als zweites Ziel neben der Wahrung der Einheitlichkeit 154 und teilweise auch nur auf die Gültigkeitsvariante beschränkt.155 Der EuGH hat den Individualrechtsschutz, soweit ersichtlich, erst in 1991, verb. Rs. C-143 / 88 und C-92 / 89 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest, Slg. 1991, I-415) durchaus dahingehend interpretieren, daß insoweit Rechtsschutzerwägungen dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts vorgehen (ähnlich Schermers, CMLR 1992, 133 [137]; ihm folgend GA Léger, Schlußanträge vom 20. 6. 1995, Rs. C-5 / 94 – Hedley Lomas, Slg. 1996, I-2556, Rn. 62 [I-2570 f.]). 151 So etwa GA van Gerven, Schlußanträge vom 22. 11. 1990, Rs. C-312 / 89 – Conforama u. a., Slg. 1991, I-1007, Rn. 7 (I-1012); GA Tizzano, Schlußanträge vom 21. 2. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4841, Rn. 56 (I-4860 f.); Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 200; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 48; Donner, Interprétation et application, S. 21; Heß, ZZP 1995, 59 (63); Kapteyn / VerLoren van Themaat, Law of the EC, S. 503; Lieber, Vorlagepflicht, S. 9; Markwardt, Rolle des EuGH, S. 230; Middeke, in: Rengeling / Middeke / Gellermann (Hrsg.), Handbuch Rechtsschutz, § 10, Rn. 6; Rodríguez Iglesias, NJW 2000, 1889 (1894); Schermers, CMLR 1992, 133 (138); Schwarze / Schwarze, Art. 234 EGV, Rn. 2; Vandersanden, Mélanges Waelbroeck, S. 619 (627); Vandersanden / Barav, Contentieux communautaire, S. 268. Vgl. ferner EuGH, Zukunft des Gerichtssystems, S. 10 f.; Beschluß 88 / 591 / EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 24. 10. 1988 zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1988 L 319 / 1). 152 Vgl. etwa EuGH, Urteile vom 27. 10. 1982, verb. Rs. 35 und 36 / 82 – Morson und Jhanjan, Slg. 1982, 3723, Rn. 8 (3734), und vom 4. 11. 1997, Rs. C-337 / 95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Rn. 23 (I-6043); Ahlt, Verhältnis zwischen nationaler und EuGH-Rechtsprechung, S. 33 (37); Bleckmann, Europarecht, Rn. 916; Jacobs, Studi Capotorti, S. 175 (179 f.); Oppermann, Europarecht, Rn. 651; Simon, Système juridique, Nr. 543. 153 Vgl. EuGH, Urteil vom 27. 6. 1991, Rs. C-348 / 89 – Mecanarte, Slg. 1991, I-3277, Rn. 43 (I-3312 f.): „Durch die dem Gerichtshof in Artikel 234 eingeräumten Befugnisse soll im wesentlichen eine einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die innerstaatlichen Gerichte sichergestellt werden. Zu diesem Zweck gibt Artikel 234 dem innerstaatlichen Gericht ein Mittel zur Bewältigung der Schwierigkeiten, die das Erfordernis, dem Gemeinschaftsrecht im Rahmen der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten volle Wirkung zu verschaffen, mit sich bringen könnte“ (Hervorhebungen nur hier). 154 Vgl. bereits die in Fn. 151 aufgeführten Nachweise; ferner insbesondere Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 747; Lieber, Vorlagepflicht, S. 24; Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 264. Heß, RabelsZ 2002, 470 (472), konstatiert insoweit zutreffend eine Verstärkung der objektiven Prozeßzwecke. – Gleiches Gewicht messen jedoch augenscheinlich Pache / Knauff, NVwZ 2004, 16 (18), und Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 357, der Wahrung der Einheitlichkeit und dem Schutz individueller Rechtspositionen bei. 155 So etwa Koenig / Pechstein / Sander, EU- / EG-Prozeßrecht, Rn. 757; Schwarze / Schwarze, Art. 234 EGV, Rn. 4.

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einer Entscheidung aus dem Jahre 2003 (und zwar nur bezogen auf die Vorlagepflicht) ausdrücklich als mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgtes Ziel anerkannt.156 Neben diesem eher vordergründigen Gesichtspunkt ist für das Zielverhältnis im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens von Bedeutung, daß der EuGH Zweifel an seiner Zuständigkeit bzw. deren Reichweite regelmäßig unter Verweis auf die Notwendigkeit der Einheitlichkeitswahrung ausräumt.157 Mit dieser Argumentation nimmt der EuGH beispielsweise seine Zuständigkeit in Anspruch, Gemeinschaftsrecht in Fällen auszulegen, in denen dieses lediglich aufgrund einer freien Entscheidung eines Mitgliedstaats158 oder gar nur aufgrund einer vertraglichen Vereinbarung Privater159 anwendbar ist. Auch die Erstreckung seiner Auslegungsbefugnis auf bestimmte Vorschriften gemischter Abkommen, die teilweise in die Vertragsschlußkompetenz der Mitgliedstaaten fallen, begründet der EuGH mit dem Hinweis auf die notwendige Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts.160 Aus demselben Grund hat er in einer neueren Entscheidung die Vorlage eines dänischen Gerichts zum EuGVÜ für zulässig erachtet, obwohl dieses Gericht in der abschließenden Aufzählung der vorlageberechtigten Gerichte in Art. 2 des Auslegungsprotokolls zum EuGVÜ nicht aufgeführt ist.161 In ähnlicher Weise zieht der EuGH das Ziel der Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts heran, um die Reichweite seiner Zuständigkeit im Vorabentscheidungsverfahren zu begründen. Beispielhaft sei auf einige Entscheidungen verwie156 EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003, Rs. C-224 / 01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239, Rn. 35 (I-10306). Zuvor hatte er lediglich in seinem Urteil vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 19 (3063) en passant auf die Interessen der Parteien des Ausgangsrechtsstreits abgestellt. Deutlicher GA Capotorti, Schlußanträge vom 5. 5. 1977, Rs. 107 / 76 – Hoffmann-La Roche / Centrafarm, Slg. 1977, 974 (980). – Nach Matthies, GS Constantinesco, S. 471 (474), ist jedoch die großzügige Haltung des EuGH gegenüber vorlegenden Gerichten auch durch Erwägungen des Individualrechtsschutzes motiviert. 157 Vgl. hierzu auch Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (358 f.); ferner von Danwitz, JZ 1999, 198. 158 Urteil vom 18. 10. 1990, verb. Rs. C-297 / 88 und C-197 / 89 – Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Rn. 37; seitdem ständige Rechtsprechung, vgl. etwa Urteile vom 17. 7. 1997, Rs. C-28 / 95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161, Rn. 25 (I-4200), und Rs. C-130 / 95 – Giloy, Slg. 1997, I-4291, Rn. 21 (I-4302). Die Mehrheit der Generalanwälte lehnt diese Rechtsprechung hartnäckig ab; vgl. bereits GA Darmon, Schlußanträge vom 3. 7. 1990, verb. Rs. C-297 / 88 und C-197 / 89 – Dzodzi, I-3778, Rn. 8 ff. (I-3779 ff.); zuletzt GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 26. 9. 2000, Rs. C-1 / 99 – Kofisa Italia, Slg. 2001, I-210, Rn. 22 ff. und 28 ff. (I-216 ff.), und GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 11. 2001, Rs. C-306 / 99 – BIAO, Slg. 2003, I-5, Rn. 40 ff. (I-16 ff.). 159 Urteil vom 25. 6. 1992, Rs. C-88 / 91 – Federconsorzi, Slg. 1992, I-4035, Rn. 7 (I-4064). 160 Urteile vom 16. 6. 1998, Rs. C-53 / 96 – Hermès, Slg. 1998, I-3603, Rn. 32 (I-3648), und vom 14. 12. 2000, verb. Rs. C-300 / 98 und C-392 / 98 – Dior u. a., Slg. 2000, I-11307, Rn. 35 (I-11358); vgl. zu beiden Entscheidungen Groh / Wündisch, GRUR Int. 2001, 497. 161 Urteil vom 5. 2. 2004, Rs. C-18 / 02 – DFDS Torline, Rn. 14 ff. (noch nicht in der Slg. veröffentlicht).

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sen, in denen er vom nationalen Gericht nicht gestellte Fragen beantwortet,162 obwohl er ein Überschreiten des von der Vorlagefrage gezogenen Rahmens nach wie vor grundsätzlich ablehnt.163 Mit der Unterstützung der nationalen Gerichte rechtfertigt der EuGH auch die Ausdehnung der Auslegungsbefugnis auf Fälle, in denen das Gemeinschaftsrecht wegen des rein internen Charakters des Ausgangsrechtsstreits in diesem offensichtlich nicht anwendbar ist.164 Umgekehrt gibt es, soweit ersichtlich, keine Entscheidung, in der der EuGH im Zusammenhang mit der Prüfung seiner Zuständigkeit die Frage des Individualrechtsschutzes ausdrücklich aufgeworfen, geschweige denn seine Zuständigkeit auf die Notwendigkeit des Schutzes individueller Rechte gestützt hätte.165 Folgerichtig hielt es der EuGH im Vorfeld der Verhandlungen über den Vertrag von Nizza im Hinblick auf die Übertragung von Vorabentscheidungszuständigkeiten auf das EuG für ausreichend, dessen Vorabentscheidungen (nur) zur Wahrung der Einheitlichkeit und Kohärenz des Gemeinschaftsrechts überprüfen zu können. Eine Überprüfung im Individualinteresse wurde vom EuGH insoweit nicht einmal erwogen.166 Hinzu kommt, daß die Parteien des Ausgangsrechtsstreits keinen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf Vorlage an den EuGH haben167 und auch keinen Einfluß 162 Vgl. Urteile vom 7. 3. 1996, verb. Rs. C-171 / 94 und C-172 / 94 – Merckx und Neuhuys, Slg. 1996, I-1253, Rn. 15 (I-1272 f.), und vom 7. 9. 1999, Rs. C-61 / 98 – De Haan, Slg. 1999, I-5003, Rn. 28 (I-5039; hierzu Bode / Ehle, EWS 2001, 55); ferner GA Saggio, Schlußanträge vom 16. 12. 1999, verb. Rs. C-240 / 98 bis C-244 / 98 – Océano Grupo Editorial und Salvat Editores, Slg. 2000, I-4943, Rn. 16 (I-4947 f.; kritisch zur Überschreitung der Vorlagefrage durch den EuGH in dieser Rechtssache Borges, NJW 2001, 2061 [2062]). 163 Vgl. Urteile vom 7. 11. 2000, Rs. C-312 / 98 – Warsteiner Brauerei, Slg. 2000, I-9187, Rn. 38 f. (I-9229), vom 20. 9. 2001, Rs. C-184 / 99 – Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 15 ff. (I-6238), und vom 11. 10. 2001, verb. Rs. C-95 / 99 bis C-98 / 99 und C-180 / 99 – Khalil u. a., Slg. 2001, I-7413, Rn. 28 (I-7451). 164 Vgl. Urteile vom 5. 12. 2000, Rs. C-448 / 98 – Guimont, Slg. 2000, I-10663, Rn. 18 ff., insbesondere 22 f. (I-10687 f.; gegen eine Zuständigkeit des EuGH GA Saggio, Schlußanträge vom 9. 3. 2000 in dieser Rechtssache, Slg. 2000, I-10665, Rn. 8 [I-10670]), und vom 5. 3. 2002, verb. Rs. C-515 / 99, C-519 / 99 bis C-524 / 99 und C-526 / 99 bis C-540 / 99 – Reisch u. a., Slg. 2002, I-2157, Rn. 24 ff. (I-2202 f.). – Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem Wunsch, das vorlegende Gericht zu unterstützen, und dem extensiven Verständnis der Auslegungsbefugnis auch Darmon, CDE 1995, 577 (583). 165 Eine großzügige Beurteilung der Zulässigkeit einer Vorlage aus Gründen des Individualrechtsschutzes hatte GA Tesauro in seinen Schlußanträgen vom 15. 5. 1997, Rs. C-54 / 96 – Dorsch Consult, Slg. 1997, I-4963, Rn. 39 f. (I-4978 f.) erörtert, aber abgelehnt. Der EuGH ging in seinem Urteil auf diese Frage nicht ein, weil er die Zulässigkeit bereits aus anderen Gründen bejahte, so daß sich die Frage für ihn nicht mehr stellte. 166 Vgl. EuGH, Beitrag der Gemeinschaftsgerichte, S. 5. Die mittlerweile in Kraft getretene Neuregelung (Art. 225 Abs. 3 n. F.) entspricht insoweit dem Vorschlag des EuGH; sie sieht eine Überprüfung von Vorabentscheidungen des EuG durch den EuGH nur unter engen Voraussetzungen und ausschließlich im Interesse der Einheitlichkeit und Kohärenz des Gemeinschaftsrechts vor. 167 Vgl. EuGH, Urteil vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 9 (3428). Ein solcher Anspruch läßt sich de lege lata nicht aus

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auf Inhalt und Umfang der Vorlagefrage nehmen können.168 Der Schutz ihrer individuellen Rechtspositionen im Vorabentscheidungsverfahren hängt daher davon ab, daß das nationale Gericht ein solches Verfahren überhaupt einleitet.169 Dies wiederum setzt voraus, daß das Gericht die Auslegung eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes für fraglich hält. Es liegt nahe, daß bei dieser Beurteilung Gesichtspunkte des Individualrechtsschutzes nicht die maßgebliche Rolle spielen.170 Bei letztinstanzlichen Gerichten kommt es insoweit auf die Frage des Individualrechtsschutzes ohnehin nicht an, da die Vorlagepflicht ganz unabhängig davon eingreift, ob ein (besonderes) Rechtsschutzinteresse der Parteien des Ausgangsrechtsstreits vorliegt oder nicht.171 Aber auch im Hinblick auf die übrigen Gerichte ist anzunehmen, daß die Entscheidung über die Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens nicht in erster Linie anhand von Überlegungen des Individualrechtsschutzes getroffen wird, sondern danach, ob das nationale Gericht zur Überwindung der aufgetretenen Interpretationsschwierigkeit der Unterstützung des EuGH bedarf.172 Damit erweist sich das Vorabentscheidungsverfahren als ein für die ParArt. 234 Abs. 3 herleiten (in diese Richtung aber Koenig / Pechstein / Sander, EU- / EG-Prozeßrecht, Rn. 789; ebenso Allkemper, Rechtsschutz des einzelnen, S. 172 f., und Allkemper, EWS 1994, 253 [258], allerdings nur bezogen auf die Gültigkeitsvariante). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der neueren Rechtsprechung des EuGH, nach der ein Mitgliedstaat einem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch ausgesetzt sein kann, wenn ein letztinstanzliches Gericht dieses Staates unter Mißachtung seiner Vorlagepflicht das Gemeinschaftsrecht unzutreffend auslegt (EuGH, Urteil vom 30. 9. 2003, Rs. C-224 / 01 – Köbler, Slg. 2003, I-10239). Damit wird dem geschädigten Einzelnen gerade kein Anspruch auf Vorlage, sondern lediglich ein Sekundäranspruch auf Ersatz des erlittenen Schadens eingeräumt, der zudem aus der Verletzung des materiellen Rechts, nicht aber aus derjenigen der Vorlagepflicht abgeleitet wird. Ein Vorlageanspruch der Parteien des Ausgangsrechtsstreits folgt auch nicht aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK (vgl. hierzu näher unten § 8 B. II. 2. a)). Als Sanktionsmöglichkeit kommt auf gemeinschaftsrechtlicher Ebene theoretisch zwar das Vertragsverletzungsverfahren in Betracht; da es jedoch in Fällen wie den hier interessierenden im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit problematisch ist, wurde in der Praxis bisher noch kein solches Verfahren durchgeführt (vgl. dazu Meier, EuZW 1991, 11). – Sofern in mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen das Recht auf den gesetzlichen Richter verbürgt ist, kann ein Vorlageanspruch allerdings aus diesem Recht folgen (vgl. zur Stellung des EuGH als gesetzlicher Richter i. S. v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG BVerfGE 75, 223 [234 ff.] – Kloppenburg; zuletzt BVerfG, NJW 2001, 1267 [dazu Lindner, BayVBl 2001, 342], und NJW 2002, 1486 [1487]). 168 Vgl. EuGH, Urteile vom 16. 9. 1999, Rs. C-435 / 97 – WWF u. a., Slg. 1999, I-5613, Rn. 29 (I-5649), und vom 4. 4. 2000, Rs. C-465 / 98 – Darbo, Slg. 2000, I-2297, Rn. 18 f. (I-2333). 169 Vgl. hierzu auch Duvigneau, LIEI 1998, 61 (66). 170 Der Gedanke des Individualrechtsschutzes spielt beispielsweise bei der Darstellung der Gründe für eine Vorlage bei Voß, EuR 1986, 95 (103 ff.), überhaupt keine Rolle. 171 Deutlich wird dies in Ausgangsverfahren, die nicht dem Individualrechtsschutz dienen; zu denken ist etwa an die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (zu deren ausschließlich objektiv-rechtlicher Ausgestaltung etwa MSBKU / Rozek, BVerfGG, § 76, Rn. 5). Wird in diesem Verfahren eine entscheidungserhebliche Frage nach der Auslegung eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes aufgeworfen, ist das BVerfG trotz der objektivrechtlichen Ausgestaltung des Normenkontrollverfahrens zur Vorlage an den EuGH verpflichtet (entsprechend für den Fall einer Gültigkeitsfrage MSBKU / Rozek, ebd., Rn. 70).

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teien des Ausgangsrechtsstreits nicht gezielt einsetzbares Instrument zum Schutz individueller Rechte, das maßgeblich aus anderen Gründen durchgeführt wird, dabei aber auch dem Schutz individueller Rechte dient.

B. Gegen eine Vorlage sprechende gemeinschaftsrechtliche Vorgaben Die mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele stehen in einem Spannungsverhältnis zu gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, die jeweils gegen die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens sprechen. Diese sind die Funktion der nationalen Gerichte im System des Gemeinschaftsrechts, die zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege erforderliche Begrenzung der Arbeitslast des EuGH und das Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer. I. Funktion der nationalen Gerichte im System des Gemeinschaftsrechts Die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens steht zunächst in einem Spannungsverhältnis zu der Funktion der nationalen Gerichte im System des Gemeinschaftsrechts. Aufgrund des weitgehend dezentralen Vollzugs des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten obliegt die gerichtliche Vollzugskontrolle, sieht man von dem Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 226, 227 ab, den nationalen Gerichten.173 Diese haben die gemeinschaftsrechtlichen Fragen, die im Rahmen der von ihnen zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten aufgeworfen werden, grundsätzlich selbständig und in eigener Verantwortung zu lösen.174 Sie sind somit – funktional gesehen – Gemeinschaftsgerichte erster Instanz.175 In dieser Eigen172 Es ist einzuräumen, daß diese Einschätzung auf einer Vermutung basiert, die nur durch eine empirische Untersuchung erhärtet werden könnte. Eine solche würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen. 173 Vgl. CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 1; Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, P.II, Rn. 9b; Hatje, Europäische Rechtseinheit, S. 21; Lenz / Borchardt, EGV, Art. 234, Rn. 1; Zuleeg, JZ 1994, 1 (2). 174 Besonders deutlich GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 6. 1995, verb. Rs. C-430 / 93 und C-431 / 93 – van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4707, Rn. 19 (I-4713): „Nach dem durch den Vertrag geschaffenen System vertraut das Gemeinschaftsrecht für seine Durchsetzung auf die nationalen Gerichte“; ähnlich Burgi, DVBl. 1995, 772 (778); kritisch allerdings Vandersanden, Mélanges Waelbroeck, S. 619 (641). – Dies gilt freilich nicht für die Beurteilung der Gültigkeit gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte; vgl. GA Jacobs, Schlußanträge vom 21. 3. 2002, Rs. C-50 / 00 P – Unión de Pequeños Agricultores / Rat, Slg. 2002, I-6681, Rn. 41 (I-6693); Boulouis, Mélanges Teitgen, S. 23 (26). 175 So ausdrücklich die französische und englische Fassung des Urteils des EuG vom 10. 7. 1990, Rs. T-51 / 89 – Tetra Pak / Kommission, Slg. 1990, II-309, Rn. 42 (II-364): „juge

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schaft sind sie dazu berufen, das Gemeinschaftsrecht, soweit es einschlägig ist, in jedem in ihre Zuständigkeit fallenden Verfahren wie ihr nationales Recht in eigener Verantwortung durchzusetzen und die den einzelnen vom Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte effektiv zu schützen.176 Die Aufgabenverteilung im Vorabentscheidungsverfahren bleibt davon nicht unberührt.177 Dieses Verfahren ist lediglich als Zwischenverfahren des vor dem nationalen Gericht anhängigen Ausgangsrechtsstreits konzipiert. Es ist darauf beschränkt, die auf das Gemeinschaftsrecht bezogene Problematik zu lösen, von der die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits abhängt. Die alleinige Verantwortung für diese Entscheidung hat jedoch nach ständiger Rechtsprechung des EuGH das vorlegende Gericht zu tragen.178 Die herausragende Bedeutung der nationalen Gerichte für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts179 wird noch dadurch unterstrichen, daß der EuGH zahlreiche Hindernisse aus dem Weg geräumt hat, die den nationalen Gerichten die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts erschweren könnten. Beispielsweise darf die Entcommunautaire de droit commun“ bzw. „community courts of general jurisdiction“; weniger deutlich ist die deutsche Fassung: „Gericht, das normalerweise für die Anwendung des Gemeinschaftsrechts zuständig ist“. Vgl. auch GA Saggio, Schlußanträge vom 16. 12. 1999, verb. Rs. C-240 / 98 bis C-244 / 98 – Océano Grupo Editorial und Salvat Editores, Slg. 2000, I-4943, Rn. 37 (I-4960 f.); GA Jacobs, Schlußanträge vom 21. 3. 2002, Rs. C-50 / 00 P – Unión de Pequeños Agricultores / Rat, Slg. 2002, I-6681, Rn. 41 (I-6693). Besonders dezidiert Schermers, CMLR 1992, 133 (135 f.); vgl. ferner Barav, Mélanges Boulouis, S. 1 ff.; Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 43; Hirsch, NVwZ 1998, 907 (910); Kovar, Etats Membres et compétence de la Cour, S. 33 (34); Pache / Knauff, NVwZ 2004, 16 (17); Ress, FS Jahr, S. 339 (347); Temple Lang, ELR 1997, 3; Vesterdorf, ELR 2003, 303 (317). 176 Vgl. insbesondere EuGH, Urteil vom 11. 5. 2000, Rs. C-38 / 98 – Renault, Slg. 2000, I-2973, Rn. 32 (I-3021 f.); vgl. ferner z. B. EuGH, Beschluß vom 13. 7. 1990, Rs. C-2 / 88 Imm – Zwartveld u. a., Slg. 1990, I-3365, Rn. 18 (I-3372), und Urteil vom 14. 12. 1995, Rs. C-312 / 93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12 (I-4620 f.); GA Tesauro, Schlußanträge vom 17. 5. 1990, Rs. C-213 / 89 – Factortame u. a., Slg. 1990, I-2450, Rn. 15 (I-2455). Nach dem Bericht der Reflexionsgruppe, EuGRZ 2001, 523 (526), ist dies ein „wesentliche[r] Grundsatz“; vgl. auch den Ergänzenden Beitrag der Kommission, S. 5. 177 GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 5. 1995, verb. Rs. C-430 / 93 und C-431 / 93 – Van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4707, Rn. 30 (I-4716 f.), geht zutreffend davon aus, daß die Befassung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens die Ausnahme ist. 178 Vgl. etwa Urteile vom 28. 6. 1984, Rs. 180 / 83 – Moser / Land Baden-Württemberg, Slg. 1984, 2539, Rn. 6 (2545), vom 8. 11. 1990, Rs. C-231 / 89 – Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003, Rn. 19 (I-4017), vom 11. 7. 1996, Rs. C-44 / 95 – Royal Society for the Protection of Birds, Slg. 1996, I-3805, Rn. 34 (I-3854), und vom 6. 6. 2000, Rs. C-281 / 98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rn. 18 (I-4169). – GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 4. 12. 2001, Rs. C-208 / 00 – Überseering, Slg. 2002, I-9922, Rn. 67 (I-9941), kennzeichnet die Aufgabe des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren treffend als bloße „Mitarbeit des Gemeinschaftsgerichts an der Lösung des vorgetragenen Problems“ (Hervorhebung nur hier). 179 Vgl. zu dieser Temple Lang, ELR 1997, 3 (4): „It is the fact that national courts apply Community law [ . . . ] that makes the Community legal system effective [ . . . ]. It is not only the rule of law which makes the Community acceptable, it is the rule of national courts. Their importance must not be minimised or underestimated.“

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scheidung des nationalen Gerichts, eine nationale Rechtsvorschrift wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts unangewendet zu lassen, nicht von einer vorherigen Vorlage an ein übergeordnetes innerstaatliches Gericht abhängig gemacht werden.180 Nationale Vorschriften, die den Erlaß bestimmter einstweiliger Maßnahmen verbieten, können das Gericht nicht am Erlaß solcher Maßnahmen hindern, sofern diese zur Durchsetzung gemeinschaftsrechtlich bestimmter Rechtszustände erforderlich sind.181 Schließlich muß dem nationalen Gericht jedenfalls in gewissen Grenzen die Möglichkeit bleiben, von Amts wegen die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsakts mit dem Gemeinschaftsrecht zu prüfen.182 Die Erfüllung der somit den nationalen Gerichten zufallenden Aufgabe, das Gemeinschaftsrecht in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen durchzusetzen und die von ihm verliehenen individuellen Rechtspositionen zu schützen, setzt die grundsätzliche fachliche Beherrschung dieses Rechts durch die nationalen Gerichte voraus. Dies zu verlangen ist jedoch eine Selbstverständlichkeit183: curia novit legem.184 Auch wenn insoweit zweifellos noch Defizite bestehen,185 ist nicht zu 180 EuGH, Urteil vom 9. 3. 1978, Rs. 106 / 77 – Staatliche Finanzverwaltung / Simmenthal, Slg. 1978, 629. 181 EuGH, Urteil vom 19. 6. 1990, Rs. C-213 / 89 – Factortame u. a., Slg. 1990, I-2433; die Entscheidung betraf das nach englischem Recht bestehende Verbot, einstweilige Maßnahmen gegen die Krone zu erlassen. Zu dieser Entscheidung im Hinblick auf die Funktion der nationalen Gerichte im System des Gemeinschaftsrechts Barav, Mélanges Boulouis, S. 1 (15 f.). 182 EuGH, Urteil vom 14. 12. 1995, Rs. C-312 / 93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599; die Entscheidung betraf eine im belgischen Recht vorgesehen Ausschlußfrist für Einwendungen, die im Ausgangsrechtsstreit bereits abgelaufen war. 183 Dies übrigens auch im Hinblick darauf, daß von Rechtsanwälten die eingehende Kenntnis rechtlicher Vorschriften und neuester höchstrichterlicher Rechtsprechung verlangt wird, was auch für das Gemeinschaftsrecht gilt (vgl. Borgmann / Haug, Anwaltshaftung, S. 99 ff.). Es wäre grotesk, von Gerichten geringere Rechtskenntnisse zu verlangen als von Rechtsanwälten. 184 So auch Zuleeg, JZ 1994, 1 (2). – Ausbildungsdefizite oder Probleme der Zugänglichkeit des Gemeinschaftsrechts können etwaige Mängel der Beherrschung des Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte nicht rechtfertigen: Da die Aufgabe der nationalen Gerichte, das Gemeinschaftsrecht durchzusetzen, aus der mitgliedstaatlichen Mitwirkungspflicht nach Art. 10 folgt (vgl. EuGH, Urteil vom 14. 12. 1995, Rs. C-312 / 93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12 [S. I-4620 f.] m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung), sind die Mitgliedstaaten erst recht zur Schaffung der zur Erfüllung dieser Aufgabe erforderlichen Voraussetzungen verpflichtet (vgl. hierzu auch Bericht der Reflexionsgruppe, EuGRZ 2001, 523 [527]). 185 So etwa an einem deutschen OLG (!): „Also geht der Richter in die Bibliothek. Indes, was findet er da? Er findet eine ,Einführung in das Recht der Europäischen Gemeinschaft‘ von 1975, ein Studienbuch ,Europarecht‘ von 1991, ferner eine Handvoll Monographien aus den sechziger und siebziger Jahren, dann noch zwei Kommentare zum EG-Vertrag. Auf seine entsprechende Frage zeigt ihm die Verwalterin an versteckter Stelle noch eine Sammlung der Entscheidungen des EuGH. [ . . . ] Und das Amtsblatt der EG? Ja, man bezog es von 1991 bis 1996. Dann wurde der Bezug abgebrochen“ (Kochs, Probleme deutscher Richter, S. 212 f.). Für die Behebung derartiger Defizite sind aber die Mitgliedstaaten verantwortlich. Diese Verantwortung läßt sich nicht durch vermehrte Vorlagen auf den EuGH abwälzen.

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übersehen, daß sich die Situation seit der Zeit, in der der EuGH die grundlegenden Weichenstellungen für die Aufgabenverteilung im Vorabentscheidungsverfahren vorgenommen hat, entschieden gewandelt hat. Das Gemeinschaftsrecht hat sich von einem „Orchideenfach“ für Außenseiter zu einem Pflichtfach in der universitären Ausbildung entwickelt. Praktiker können Kenntnisse auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts in zahlreichen Lehrgängen und Fortbildungsseminaren erwerben und vertiefen.186 Insgesamt hat der Umfang der Kenntnis und der praktischen Vertrautheit mit dem Gemeinschaftsrecht in den Mitgliedstaaten erheblich zugenommen,187 so daß die nationalen Gerichte ihrer Aufgabe heute wesentlich besser gewachsen sind als vor zehn, 20 oder gar 30 Jahren. Sie sind daher immer stärker in der Lage, dem in sie gesetzten Vertrauen gerecht zu werden – in der Tat ist die starke Einbindung der nationalen Gerichte in die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts und die Kontrolle seines Vollzugs nichts anderes als Ausdruck eines weitreichenden Vertrauens der Gemeinschaftsrechtsordnung in die nationalen Gerichte.188 Dieses Vertrauen würde von Seiten der Gemeinschaft konterkariert, wenn die eigenverantwortliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte mehr als objektiv erforderlich beschränkt würde.189 Es würde umgekehrt von den nationalen Gerichten enttäuscht, wenn diese ihre Verantwortung bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts ohne hinreichenden Grund auf den EuGH abwälzten.190 Die Rechtsprechung des EuGH zeigt, daß dieser sich des Spannungsverhältnisses zwischen den mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen und der Funktion der nationalen Gerichte im System des Gemeinschaftsrechts sehr wohl bewußt ist. Er erkennt an, daß die Funktion der nationalen Gerichte in einem gewissen Umfang Vorrang vor den Zielen 186 Beispielhaft sei auf die umfangreichen Fortbildungsveranstaltungen der Europäischen Rechtsakademie (Programmübersicht im Internet abrufbar unter ) und der Deutschen Richterakademie (Programmübersicht im Internet abrufbar unter ) hingewiesen. 187 Schermers, CMLR 1992, 133 (135 f.), kommt zu dem Schluß, daß „national courts have taken up their role as Community courts. [ . . . ] This is the real backbone of Community Law.“ Vgl. auch Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 227 f. Äußerst skeptisch demgegenüber CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 20, der selbst die Strukturprinzipien des Gemeinschaftsrechts als noch nicht hinreichend im Bewußtsein der nationalrechtlich gebildeten europäischen Juristen verankert sieht. 188 Vgl. vor allem GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 6. 1995, verb. Rs. C-430 / 93 und C-431 / 93 – van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4707, Rn. 19 (I-4713); ferner Burgi, DVBl. 1995, 772 (778); in diese Richtung auch Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 250 f. 189 Unter diesem Gesichtspunkt kritisiert Boulouis, Mélanges Teitgen, S. 23 (31), die sehr liberale Haltung des EuGH gegenüber nationalen Gerichten, da sie diese zwar zu Vorlagen ermuntere, aber gleichzeitig dazu (ver)führe, auf eigene Anstrengungen zur selbständigen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu verzichten. 190 Zu dem insoweit zu wahrenden Gleichgewicht EuGH, Urteil vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 20 (3063); vgl. ferner Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 222 f.

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beanspruchen kann. Dies wird dort deutlich, wo er die Bedeutung des einschlägigen Normtextes mit einigen Kriterien beschreibt und die übrigen Beurteilungen dem vorlegenden Gericht überantwortet. Solche Beurteilungen erschöpfen sich nicht etwa in reinen Tatsachenfeststellungen, sondern eröffnen dem vorlegenden Gericht einen mitunter erheblichen normativen Spielraum. So überläßt der EuGH den Gerichten der Mitgliedstaaten vielfach etwa die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit mitgliedstaatlicher Maßnahmen,191 hin und wieder auch diejenige der Gleichwertigkeit von Verfahren zur Durchsetzung nationaler Ansprüche einerseits und gemeinschaftsrechtlicher Ansprüche andererseits,192 der Schwere eines mitgliedstaatlichen Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht193 und der Erheblichkeit von Umweltauswirkungen.194 Dies führt nicht nur dazu, daß nationale Gerichte die entsprechenden Beurteilungen uneinheitlich vornehmen können,195 sondern auch dazu, daß sie möglicherweise nicht in dem Umfang unterstützt werden, in dem sie dies subjektiv für erforderlich halten.

II. Notwendigkeit einer Begrenzung der Arbeitslast des EuGH Gegen die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens spricht zudem die Notwendigkeit, die Arbeitslast des EuGH auf ein Maß zu begrenzen, das eine funktionsfähige Rechtspflege noch ermöglicht.196 Die Anzahl der vom EuGH zu entscheidenden Rechtssachen verzeichnet seit jeher einen kontinuierlichen An191 Etwa in den Urteilen vom 4. 10. 1991, Rs. C-367 / 89 – Richardt und „Les Accessoires Scientifiques“, Slg. 1991, I-4621, Rn. 25 (I-4652), vom 8. 3. 2001, Rs. C-405 / 98 – Gourmet International Products, Slg. 2001, I-1795, Rn. 33 (I-1827) und 41 (I-1829), und vom 25. 10. 2001, verb. Rs. C-49 / 98, C-50 / 98, C-52 / 98 bis C-54 / 98 und C-68 / 98 bis C-71 / 98 – Finalarte u. a., Slg. 2001, I-7831, Rn. 49 (I-7903). 192 Implizit EuGH, Urteil vom 18. 6. 2002, Rs. C-92 / 00 – HI, Slg. 2002, I-5553, Rn. 67 (I-5599). 193 So etwa im Urteil vom 1. 6. 1999, Rs. C-302 / 97 – Konle, Slg. 1999, I-3099, Rn. 57 ff. (I-3139). 194 So etwa im Urteil vom 16. 9. 1999, Rs. C-435 / 97 – WWF u. a., Slg. 1999, I-5613, Rn. 48 (I-5654). 195 Daher sehr kritisch zu dieser Praxis des EuGH Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (367). 196 Der Zusammenhang zwischen der Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH und seiner Arbeitsbelastung klingt an bei GA Jacobs, Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 15 (I-6501); vgl. auch GA Gulmann, Schlußanträge vom 29. 9. 1993, Rs. C-315 / 92 – Verband Sozialer Wettbewerb [„Clinique“], Slg. 1994, I319, Rn. 9 (I-322); GA Tizzano, Schlußanträge vom 21. 2. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4841, Rn. 56 (I-4860 f.). – Streinz / Huber, Art. 220 EGV, Rn. 3, vermutet offensichtlich hinter der Arbeitsüberlastung des EuGH planvolles Vorgehen: Der EuGH habe „zunächst selbst für seine Überlastung gesorgt und damit die Rechtfertigung für den Ausbau des unionalen Gerichtssystems auf Kosten der Mitgliedstaaten geschaffen.“ Zu den wirklichen Ursachen und praktischen Konsequenzen der Arbeitsüberlastung des EuGH Edward, Liber Amicorum Slynn, S. 136 ff.

5 Groh

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stieg. Wurden 1970 nur 80 neue Rechtssachen anhängig gemacht, waren es 1980 schon 279; 1990 betrug die Zahl der neuen Rechtssachen 384 und im Jahre 2000 bereits 503.197 In ähnlicher Weise nahm die Anzahl der anhängigen, aber noch nicht abgeschlossenen Verfahren zu; sie kletterte von 319 im Jahre 1980 über 558 im Jahre 1990 bis auf 803 im Jahre 2000.198 Zwar ist die Zahl der Richter zwischen 1970 und 2000 durch den Beitritt neuer Mitgliedstaaten von sechs auf 15 und damit auf das Zweieinhalbfache angestiegen, so daß die Arbeitslast auf erheblich mehr Schultern verteilt werden kann. Der Anstieg der zu bewältigenden Verfahren war jedoch erheblich stärker. War 1970 statistisch gesehen jeder Richter in etwa 13 Verfahren Berichterstatter, entfielen im Jahre 2000 bereits über 33 Verfahren auf jeden Richter. Dies hat zwangsläufig zur Folge, daß die einzelnen Verfahren nicht mehr so gründlich aufbereitet und die in ihnen aufgeworfenen gemeinschaftsrechtlichen Fragestellungen nicht mehr so umfassend durchdacht werden können wie in früheren Zeiten.199 Eine weitere Entwicklung in diese Richtung wird unweigerlich zum Kollaps der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit führen.200 Soll die Rechtspflege in der Gemeinschaft statt dessen auch künftig das bislang gehaltene hohe Niveau nicht unterschreiten, ist eine Entlastung des EuGH unausweichlich. Die insoweit bisher verfolgte Strategie, das Gericht erster Instanz zu schaffen und ihm immer weitere Zuständigkeiten zu übertragen, hat der unbefriedigenden Situation allerdings nicht nachhaltig abgeholfen. Zwar konnte hierdurch die Funktionsfähigkeit des EuGH vorübergehend gesichert werden, doch wurde das stetige Anwachsen seiner Arbeitslast nicht gestoppt, sondern lediglich verzögert. Daher ist auch nicht damit zu rechnen, daß die durch den Vertrag von Nizza erstmals ermöglichte Übertragung von Vorabentscheidungszuständigkeiten auf das EuG eine dauerhafte Entlastung des EuGH zur Folge haben wird.201 197 Überblick über die Tätigkeit 1970, S. 12; Überblick über die Tätigkeit 1980, S. 8 (hinzu kamen 16 besondere Verfahren [vgl. ebd., S. 10]); Überblick über die Tätigkeit 1990, S. 108 (hinzu kamen 17 besondere Verfahren [vgl. ebd.]); Jahresbericht 2000, S. 253 (hinzu kamen 5 besondere Verfahren [vgl. ebd., S. 266; dort ist die Zahl der „normalen“ neuen Rechtssachen abweichend mit 502 angegeben]). 198 Überblick über die Tätigkeit 1980, S. 8 (von den dort angegebenen 1421 Rechtssachen gehören 1112 zu zehn Verfahrensgruppen; sie werden daher hier nur als zehn Rechtssachen gewertet); Überblick über die Tätigkeit 1990, S. 103 (die angegebene Zahl ist lediglich die Nettozahl, d. h. die unter Berücksichtigung von Verfahrensverbindungen ermittelte Anzahl anhängiger Rechtssachen; die Bruttozahl betrug 583 [vgl. ebd.]); Jahresbericht 2000, S. 253 (die Bruttozahl betrug 873 [vgl. ebd.]). – Für 1970 sind keine Angaben verfügbar. 199 So auch EuGH, Zukunft des Gerichtssystems, S. 24 f.; Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 224. 200 Die Kommission sieht die Gemeinschaftsgerichte in ihrem Ergänzenden Beitrag (S. 3) an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit; im Bericht der Reflexionsgruppe ist von einer schweren Krise des gegenwärtigen Gerichtssystems die Rede (EuGRZ 2001, 523 [524]). In diese Richtung auch Hirsch, ZRP 2000, 57 (60). 201 Ebenso Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 224 f.; für die Situation vor Nizza Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 193; optimistischer CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 1.

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Das Spannungsverhältnis zwischen den mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen und der Arbeitslast des EuGH hat auch im EGV seinen Niederschlag gefunden. So bewirkt die Beschränkung der Vorlagepflicht auf letztinstanzliche Gerichte i. S. v. Art. 234 Abs. 3, die an die Stelle der in den ersten Entwürfen des EWGV für sämtliche Gerichte vorgesehenen Vorlagepflicht getreten ist,202 eine erhebliche Entlastung des EuGH.203 Gleichzeitig wird damit jedoch die Möglichkeit nicht unerheblicher Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit eröffnet, da in Verfahren, die nicht bis in die letzte Instanz betrieben werden, divergierende Entscheidungen nationaler Gerichte rechtskräftig und damit endgültig204 werden können. Zudem werden auch Gesichtspunkte des Individualrechtsschutzes tangiert, da die Parteien des Ausgangsrechtsstreits je nach der Vorlagebereitschaft unterinstanzlicher Gerichte gezwungen sein können, das Verfahren bis in die letzte Instanz zu betreiben, bevor sie von dem im Vorabentscheidungsverfahren gewährten Rechtsschutz profitieren können.205 Besonders deutlich wird das Spannungsverhältnis auch an Art. 68 Abs. 1, der vor allem zur Begrenzung der Arbeitslast des EuGH206 das Vorlagerecht im Bereich des Titels IV des Dritten Teils des EGV auf letztinstanzliche Gerichte beschränkt,207 was ebenfalls erhebliche Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit zur Folge haben kann.208

Vgl. näher zur Entstehungsgeschichte von Art. 234 unten § 8 B. II. 1. e) (1). Vgl. zur Vermeidung einer Überlastung des EuGH durch die Beschränkung der Vorlagepflicht auf bestimmte Gerichte Bergerès, Contentieux communautaire, Nr. 221; Vandersanden / Barav, Contentieux communautaire, S. 280. – Für die Beschränkung der Vorlagepflicht spricht freilich auch, daß es geradezu absurd wäre, auch in einem mehrinstanzlichen Verfahren jedes (!) Gericht zu einer Vorlage zu verpflichten. Daß sie gleichwohl nicht nur dieser Absurdität geschuldet ist, zeigt ein Vergleich mit einer denkbaren Alternative: Man hätte alle erstinstanzlichen Gerichte der Vorlagepflicht unterwerfen (und die nachfolgend mit der Sache befaßten Gerichte an die Vorabentscheidung des EuGH binden) können. Diese Lösung würde sowohl die Einheitlichkeit als auch den Schutz individueller Rechtspositionen in höherem Maße verwirklichen als die jetzige, wäre aber mit einem erheblichen Zuwachs der Arbeitslast des EuGH verbunden. 204 Außerordentliche Rechtsbehelfe wie die Wiederaufnahme des Verfahrens, mit denen auch rechtskräftige Entscheidungen angefochten werden können, haben im vorliegenden Zusammenhang keine praktische Relevanz. 205 Diese Fälle wären in ihren Auswirkungen mit denen einer Beschränkung des Vorlagerechts auf letztinstanzliche Gerichte vergleichbar. Eine solche Beschränkung wird aber gerade wegen ihrer Folgen für den Individualrechtsschutz kritisch beurteilt; vgl. EuGH, Zukunft des Gerichtssystems, S. 25 f.; Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 198. 206 Vgl. hierzu Dörr / Mager, AöR 2000, 386 (390 und 401 f.); Schwarze / Wiedmann, Art. 68 EGV, Rn. 4. 207 Die Beschränkung gilt zunächst nur zeitlich befristet; vgl. Art. 67 Abs. 2 Spiegelstrich 2 a. E. 208 Vgl. zu diesen Dörr / Mager, AöR 2000, 386 (391 f.). 202 203

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III. Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer Schließlich kann die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens mit dem Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer in Konflikt geraten.209 Dieses Gebot folgt für natürliche Personen und sonstige private Parteien aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz, wie es etwa in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK verankert ist, der nach Art. 6 Abs. 2 EUV von der Union und damit auch von der Gemeinschaft zu achten ist.210 Zwar ist nach der Rechtsprechung des EGMR die durch ein Vorabentscheidungsverfahren verursachte Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits (noch) nicht in die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer einzubeziehen,211 so daß sie als solche auch nicht zu einer Verletzung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer führen kann.212 Dies bedeutet jedoch nicht, daß die durch eine Vorlage an den EuGH hervorgerufene Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits unterhalb der Schwelle der Rechtsverletzung unbeachtlich wäre. Vielmehr erreicht die durch ein Vorabentscheidungsverfahren verursachte Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits mittlerweile ein Ausmaß, das nicht mehr ohne weiteres gerechtfertigt werden kann.213 Insoweit schlägt sich erwartungsgemäß die zunehmende Arbeitsüberlastung des EuGH in einer erheblichen Zunahme der Verfahrensdauer nieder. Benötigte der EuGH für die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens 1980 durchschnittlich nur 9 Monate und 1990 noch 17,4 Monate, waren es im Jahre 2000 bereits 21,6 Monate; 45 Verfahren dau209 Diesem Gebot entspricht regelmäßig ein Interesse der Parteien des Ausgangsrechtsstreits an dessen zügiger Beendigung. Ausnahmen bestätigen freilich auch hier die Regel: So preisen etwa Bauer / Diller, NZA 1996, 169 (170), das Vorabentscheidungsverfahren als vorzügliches taktisches Mittel zur Prozeßverzögerung an. 210 Vgl. zu dem aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz folgenden Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer EuGH, Urteil vom 17. 12. 1998, Rs. C-185 / 95 P – Baustahlgewebe / Kommission, Slg. 1998, I-8417, Rn. 21 (I-8496) und 26 ff. (I-8498 ff.); vgl. zu dieser Entscheidung Schlette, EuGRZ 1999, 369 ff. 211 Vgl. EGMR, Urteil vom 26. 2. 1998, Pafitis u. a. / Griechenland, Recueil des Arrêts et Décisions 1998-I, 436, Rn. 95 (459). Zur Nichteinbeziehung der über zweieinhalbjährigen Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens in die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer führte der EGMR aus: „Même si ce délai peut à première vue paraître relativement long, en tenir compte porterait atteinte au système institué par l’article 234 du traité CEE et au but poursuivi en substance par cet article.“ 212 A. A. Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 195, unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 1. 7. 1997, Pammel / Deutschland, Recueil des Arrêts et Décisions 1997-IV, 1096 (dieses Urteil betraf jedoch eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zur konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG); ähnlich Heß, ZZP 1995, 59 (102 ff.). 213 Die derzeitige Verfahrensdauer wird fast einhellig als unzumutbar, wenigstens aber als problematisch angesehen; vgl. Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 192 ff.; CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 1; Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 222 f.; Pache / Knauff, NVwZ 2004, 16; Bericht der Reflexionsgruppe, EuGRZ 2001, 523 (525). Zurückhaltender allerdings Edward, Liber Amicorum Slynn, S. 119, Fn. 1. – Schon vor Jahren wurde die Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits als unzumutbar angesehen; vgl. etwa Voß, EuR 1986, 95 (104), im Hinblick auf die damals nur einjährige Verfahrensdauer.

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erten sogar länger als zwei Jahre.214 Neben dem individualbezogenen Begründungsansatz spricht für eine Verkürzung der Verfahrensdauer auch die Gefahr, daß nationale Gerichte die mit einer Vorlage verbundene erhebliche Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits zum Anlaß nehmen können, von einer sachlich wünschenswerten Vorlage Abstand zu nehmen.215 Das Spannungsverhältnis zwischen den mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen und dem Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer wird z. B. in den Urteilen des EuGH zum Entfall der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte in summarischen Verfahren deutlich. In diesen Entscheidungen bringt der EuGH das Einheitlichkeitspostulat mit dem Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer zum Ausgleich, wobei er letzterem einen beschränkten Vorrang einräumt: Indem er die Vorlagepflicht schon entfallen läßt, wenn lediglich die Möglichkeit der Einleitung eines Hauptsachverfahrens besteht, in dessen Rahmen die gemeinschafts rechtlichen Fragen später durch eine Vorlage an den EuGH geklärt werden können,216 nimmt er Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit in all den Fällen hin, in denen von dieser Möglichkeit tatsächlich kein Gebrauch gemacht wird.217

214 Überblick über die Tätigkeit 1980, S. 8; Überblick über die Tätigkeit 1990, S. 104; Jahresbericht 2000, S. 261 f. (für 1970 sind keine Angaben verfügbar). Die genannten Zeiten können sich durch die Übermittlung der Vorlagefrage und der Verfahrensunterlagen sowie den Wiederaufruf des Verfahrens vor dem vorlegenden Gericht nach Erlaß der Vorabentscheidung noch verlängern; vgl. Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungen, S. 222 f. – Die lange Verfahrensdauer ist auch auf die Ausgestaltung des Verfahrens zurückzuführen; vgl. Edward, Liber Amicorum Slynn, S. 125 f. Bemerkenswert ist im übrigen, daß allein die in mehreren Stadien des Verfahrens erforderlichen Übersetzungen mittlerweile etwa sieben Monate dauern (Edward, ebd.), also fast so lang, wie vor 20 Jahren noch das gesamte Vorabentscheidungsverfahren. 215 Zu dieser Gefahr Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 224; Streinz / Ehricke, Art. 234 EGV, Rn 8. 216 Vgl. Urteile vom 24. 5. 1977, Rs. 107 / 76 – Hoffmann-La Roche / Centrafarm, Slg. 1977, 957, Rn. 5 (972), und vom 27. 10. 1982, verb. Rs. 35 und 36 / 82 – Morson und Jhanjan / Niederländischer Staat, Slg. 1982, 3723, Rn. 8 (3734). – Mißverständlich ist insoweit das Urteil vom 4. 11. 1997, Rs. C-337 / 95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Rn. 31 (I-6045), in dem der EuGH trotz summarischen Ausgangsverfahrens die Vorlagepflicht grundsätzlich bejaht. Dies läßt sich damit erklären, daß unabhängig vom konkreten Verfahren die Möglichkeit einer Vorlagepflicht des Benelux-Gerichtshofes hervorgehoben werden sollte; vgl. hierzu auch die Schlußanträge GA Jacobs‘ vom 29. 4. 1997 in dieser Rechtssache, Slg. 1997, I-6015, Rn. 23 ff. (I-6022). 217 Schon die Einleitung eines Hauptsacheverfahrens ist in einigen für das Gemeinschaftsrecht wichtigen Bereichen alles andere als die Regel. So werden etwa in den Niederlanden einstweilige Maßnahmen zum Schutz von Rechten des geistigen Eigentums von den Parteien im allgemeinen als endgültig hingenommen; vgl. EuGH, Urteil vom 16. 6. 1998, Rs. C-53 / 96 – Hermès, Slg. 1998, I-3603, Rn. 34 (I-3649). Daher fordert Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 245, insoweit eine differenzierte Beurteilung.

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C. Abwägung: Konturen des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses Das Spannungsverhältnis zwischen den mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen einerseits und den gegen eine Vorlage sprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben andererseits218 ist im Wege einer Abwägung aufzulösen. Durch diese wird für jedes Ziel bestimmt, inwieweit es Vorrang vor den gegen eine Vorlage sprechenden Vorgaben beanspruchen kann. Soweit dies der Fall ist, ist die Verwirklichung des jeweiligen Ziels durch die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren geboten und daher ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis anzuerkennen.219 Dieses bestimmt die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren in zweifacher, nämlich positiver und negativer Hinsicht und erweist sich so als legitimierender Grund und gleichzeitig als Grenze dieser Befugnis. Die Auslegungsbefugnis des EuGH ist daher zu bejahen, wenn und soweit dies objektiv erforderlich ist, um ein mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgtes Ziel im gemeinschaftsrechtlich gebotenen Umfang zu verwirklichen. Ist dies nicht der Fall, ist der EuGH demgegenüber nicht zur Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren befugt; er ist also – prozeßrechtlich formuliert – unzuständig. Insoweit bleibt es bei dem Regelfall der uneingeschränkten Berechtigung (und Verpflichtung) der nationalen Gerichte, das Gemeinschaftsrecht zu interpretieren.220 218 Vgl. hierzu auch Ress, FS Jahr, S. 339, der das bei Vorlageverfahren auftretende Spannungsverhältnis zwischen Überlastung des iudex ad quem mit unsinnigen, überflüssigen oder rein abstrakten gutachtenartigen Fragen auf der einen und Ingerenz in den Ablauf der Rechtsfindung des iudex a quo durch Nichtbeantwortung, Scheinbeantwortung oder Uminterpretation des Streitstoffes auf der anderen Seite aufzeigt. Im Rahmen der hier vorgeschlagenen Konzeption wird dieser Konflikt vor allem durch die Unterstützung der nationalen Gerichte einerseits und die Notwendigkeit einer Begrenzung der Arbeitslast des EuGH andererseits markiert. Ress weist der Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage die entscheidende Steuerungsfunktion für die Auflösung des Spannungsverhältnisses zu; diese Aufgabe übernimmt bei der hier entwickelten Konzeption das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis. 219 Vgl. hierzu auch GA Jacobs, Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 50 (I-6512 f.), nach dessen Ansicht diejenigen Vorabentscheidungsersuchen dem Zweck von Artikel 234 am besten entsprechen, bei denen eine echte Notwendigkeit („a genuine need“) einer einheitlichen Anwendung innerhalb der Gemeinschaft besteht; ebenso Jacobs, Studi Capotorti, S. 175 (184). Im Gegensatz zu der hier vertretenen Konzeption beschränkt Jacobs seine Beurteilung lediglich auf eines der mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele. Zudem wendet er sich dagegen, Vorlageersuchen zurückzuweisen, bei denen keine Notwendigkeit einer einheitlichen Anwendung besteht (ebd., S. 179), während das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis hier als notwendige Voraussetzung der Auslegungsbefugnis des EuGH angesehen wird. – Bemerkenswert ist auch der Vorschlag von Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, insbesondere S. 232, das Vorlagerecht nationaler Gerichte ausdrücklich vom Vorliegen zu kodifizierender Zulässigkeitsvoraussetzungen abhängig zu machen.

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Das Ergebnis der vorzunehmenden Abwägung ist nicht starr und endgültig fixiert, sondern hängt von dem jeweils aktuellen Gewicht der Abwägungselemente ab. Entscheidend ist demnach, inwieweit den einzelnen mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts Vorrang vor den gegen eine Vorlage sprechenden Vorgaben einzuräumen ist.

I. Gebotener Umfang der Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts Setzt man die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren in einen Bezug zu den gegen eine Vorlage sprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, so ist zunächst die herausragende Bedeutung des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts hervorzuheben.221 Das große Gewicht, das diesem Grundsatz zweifellos zukommt, hat allerdings nicht zur Folge, daß ihm in der Abwägung a priori Vorrang vor den gegen eine Vorlage sprechenden Vorgaben zukäme.222 Vielmehr ist zu berücksichtigen, daß diese Vorgaben gegenüber der Zeit, in der der EuGH die grundlegenden interpretatorischen Weichenstellungen für die Aufgabenverteilung im Vorabentscheidungsverfahren vorgenommen hat, erheblich an Gewicht gewonnen haben. So finden sich die nationalen Gerichte zunehmend in ihre Funktion als erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte hinein und nehmen die ihnen übertragene Verantwortung mehr und mehr wahr.223 Der Verzicht auf eine Vorlage kann daher nicht mehr automatisch mit einer unbedingt zu vermeidenden Beeinträchtigung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts gleichgesetzt werden. Hinzu kommt, daß der EuGH aufgrund des stetigen Zuwachses der von ihm zu erledigenden Rechtssachen mittlerweile an die Grenzen seiner Funktionsfähigkeit stößt,224 so daß auch die Notwendigkeit einer Begrenzung der Arbeitslast des EuGH in den letzten Jahren erheblich an Gewicht gewonnen hat. Auch dies läßt darauf schließen, daß nicht mehr jede denkbare Beeinträchtigung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens rechtfertigen kann. Dies gilt umso mehr, als mit der Zunahme der Arbeitsbelastung des EuGH eine erhebliche Verlängerung der Ver220 Vgl. zur Verpflichtung der nationalen Gerichte, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt selbst zu interpretieren, wenn ihr Vorabentscheidungsersuchen aus prozessualen Gründen zurückgewiesen wurde, Pietrek, Verbindlichkeit, S. 96. 221 Vgl. hierzu bereits oben A. I. 1. a). 222 Klar Dyrberg, ELR 2001, 291 (296): „The fact that uniform application is a legitimate concern does not bring an answer to the question as to which degree of uniformity one should aim at.“ A. A. augenscheinlich Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (369 und 379), der aus dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts eine fast schrankenlose Auslegungsbefugnis des EuGH ableitet. 223 Vgl. hierzu bereits oben B. I. 224 Zum kontinuierlichen Anstieg der Arbeitslast des EuGH bereits oben B. II.

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fahrensdauer einhergeht.225 Die hierdurch verursachte Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits vor den nationalen Gerichten ist den Parteien des Ausgangsrechtsstreits schon an sich kaum mehr zumutbar; sie ist jedenfalls dann nicht mehr hinzunehmen, wenn sie lediglich dazu dient, unerhebliche Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu verhindern. Zusammengenommen erhalten die gegen eine Vorlage sprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts ein so starkes Gewicht, daß sie das Ziel, die Einheitlichkeit dieses Rechts zu wahren, insoweit verdrängen, als mit einer Vorlage lediglich geringfügige Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit vermieden werden.226 Insoweit besteht demnach kein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit. Demgegenüber kann sich das Ziel der Wahrung der Einheitlichkeit in den Fällen durchsetzen, in denen die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens mehr als nur geringfügige Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit verhindert. Die Beurteilung, wann potentielle Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit als in diesem Sinne geringfügig anzusehen sind, kann nicht pauschal vorgenommen werden. Allerdings lassen sich Fallgruppen bilden, für die eine solche Beurteilung jeweils möglich ist. Auszugehen ist dabei primär von der Gefahr des Auftretens divergierender gerichtlicher Entscheidungen. Insoweit macht es einen erheblichen Unterschied, ob zu einer aufgeworfenen Auslegungsfrage bereits lösungsrelevante Rechtsprechung vorliegt oder nicht. Als lösungsrelevant wird eine Entscheidung hier dann bezeichnet, wenn ihr Tenor oder ihre tragenden Gründe für die Beantwortung der aufgeworfenen Frage verwertbar sind. Die Verwertbarkeit setzt nicht voraus, daß die Aussagen der bereits ergangenen Entscheidung auf die nunmehr aufgeworfene Frage „genau passen“; sie müssen aber wenigstens Rückschlüsse auf deren Beantwortung ermöglichen. Neben dem (Nicht-)Vorliegen lösungsrelevanter Rechtsprechung spielt für die Beurteilung der Geringfügigkeit auch eine Rolle, welche Auswirkungen potentielle Divergenzen auf die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts haben können. So ziehen etwa dauerhafte Divergenzen im Hinblick auf Grundsätze des Gemeinschaftsrechts die Einheitlichkeit erheblich stärker in Mitleidenschaft als beispielsweise eine vorübergehende Abweichung im Verständnis einer befristet geltenden Durchführungsverordnung im Bereich des Agrarmarkts. Soweit erforderlich, werden daher auch die Auswirkungen möglicher Divergenzen auf die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts bei der Fallgruppenbildung berücksichtigt. Zur Entwicklung der Verfahrensdauer bereits oben B. III. Daß Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit, die lediglich geringfügige Auswirkungen haben, durchaus hingenommen werden können, klingt an im Urteil des EuGH vom 15. 7. 1993, Rs. C-34 / 92 – GruSa Fleisch, Slg. 1993, I-4147, Rn. 15 (I-4173), wo der EuGH einen Ausdruck als Verweis auf die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Begriffe auffaßt und dies u. a. mit der Erwägung begründet, hiervon seien nur 4% der Rindfleischproduktion in den Mitgliedstaaten betroffen. 225 226

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1. Vorliegen lösungsrelevanter Rechtsprechung des EuGH a) Grundsatz: Orientierung an der lösungsrelevanten Rechtsprechung Sofern im Hinblick auf die aufgeworfene Frage bereits lösungsrelevante Rechtsprechung des EuGH vorliegt, wird sich ein nationales Gericht in aller Regel an der bestehenden lösungsrelevanten Rechtsprechung des EuGH orientieren. In diesem Fall ist das Ausmaß möglicher Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts danach zu beurteilen, in welchem Verhältnis die aufgeworfene Auslegungsfrage zu der lösungsrelevanten Rechtsprechung steht. Insoweit kann zwischen Wiederholungs-, Präzisierungs- und Übertragungsfragen unterschieden werden. (1) Wiederholungsfragen: Übereinstimmung mit einer bereits beantworteten Frage Eine vor einem nationalen Gericht aufgeworfene Auslegungsfrage und eine vom EuGH bereits beantwortete Frage stimmen überein, wenn sie unter im wesentlichen gleichen Umständen und im Hinblick auf denselben gemeinschaftsrechtlichen Normtext dasselbe Auslegungsproblem aufwerfen.227 Zu den diesbezüglich relevanten Umständen gehört grundsätzlich auch das Rechtssystem des jeweiligen Mitgliedstaates, aus dem heraus das nationale Gericht seine Frage stellt.228 So können etwa Fragen nach der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit eines nationalen Verbots, an Sonntagen Arbeitnehmer zu beschäftigen, nur dann als identisch angesehen werden, wenn die nationalen Verbote inhaltsgleich sind.229 Gleiches gilt z. B. für Fragen nach der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit eines nationalen Sonntagsverkaufsverbots.230 227 Für die Beurteilung der Übereinstimmung ist nicht die Formulierung, sondern der Inhalt der Fragen maßgeblich; vgl. hierzu auch EuGH, Beschluß vom 7. 7. 1998, verb. Rs. C-405 / 96 bis C-408 / 96 – Béton Express u. a., Slg. 1998, I-4253, Rn. 8, 9 und 13 (I-4257 ff.), und Urteil vom 11. 4. 2000, verb. Rs. C-51 / 96 und C-191 / 97 – Deliège, Slg. 2000, I-2549, Rn. 39 (I-2612). 228 Vgl. zur Einbeziehung des jeweiligen nationalen Rechtssystems in die Beurteilung der Übereinstimmung von Vorlagefragen auch Schima, Wirkung von Auslegungsentscheidungen, S. 280 (294). – Auf eine Berücksichtigung nationaler Regelungen kann allerdings verzichtet werden, wenn die aufgeworfene Frage ohne Rücksicht auf sie beantwortet werden kann, wie etwa eine Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit oder dem Zeitpunkt des Inkrafttretens eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes. 229 Vgl. zu insoweit bestehenden Unterschieden EuGH, Urteile vom 28. 2. 1991, Rs. C-312 / 89 – Conforama u. a., Slg. 1991, I-997, Rn. 2 (I-1023; französische Bestimmung über grundsätzliches Beschäftigungsverbot von Arbeitnehmern an Sonntagen), und Rs. C-332 / 89 – Marchandise u. a., Slg. 1991, I-1027, Rn. 2 (I-1038; belgische Bestimmung über grundsätzliches Beschäftigungsverbot von Arbeitnehmern an Sonntagen nach 12 Uhr). Beide Regelungen werden ausführlich dargestellt bei GA van Gerven, Schlußanträge vom 22. 11. 1990, Rs. C-312 / 89 – Conforama u. a. und C-332 / 89 – Marchandise u. a., Slg. 1991, I-1007, Rn. 2 f. (I-1007 f.).

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Als Beispiel übereinstimmender Fragen seien die Rechtssachen van der Veldt231 und Bellamy und English Shop Wholesale232 genannt. In beiden Rechtssachen wollten belgische Gerichte wissen, ob Art. 28 einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der das Inverkehrbringen von Brot mit einem höheren Salzgehalt in der Trockenmasse als 2% verboten ist, und ob die Regelung bejahendenfalls nach Art. 30 gerechtfertigt sein kann. Der EuGH entschied diese Fragen in dem früheren Urteil dahingehend, daß derartige Regelungen von Art. 28 erfaßt und nicht nach Art. 30 gerechtfertigt seien;233 in dem späteren Urteil verwies er schlicht auf seine frühere Entscheidung und übernahm seine dort gegebene Antwort.234 Soweit eine aufgeworfene Frage mit einer bereits vom EuGH beantworteten übereinstimmt, kann das nationale Gericht schlicht die bereits vorhandene Antwort des EuGH übernehmen und so den Ausgangsrechtsstreit entscheiden.235 Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts sind somit ausgeschlossen; der Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts ist also von vornherein nicht berührt. Die gegen eine Vorlage sprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben kommen daher in vollem Umfang zum Zuge. Dies gilt im übrigen schon dann, wenn eine Antwort des EuGH zwar noch nicht vorliegt, ein Vorabentscheidungsverfahren zu der entsprechenden Frage aber bereits anhängig ist: Auch hier ist die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts von vornherein nicht berührt, wenn das später vorlegende nationale Gericht den Ausgangsrechtsstreit bis zum Erlaß der Vorabentscheidung des EuGH aussetzt und diese dann seiner Entscheidung zugrunde legt.236 Dieser Einschätzung entspricht die Praxis des EuGH, das 230 Vgl. zu insoweit bestehenden Unterschieden Sitzungsbericht in der Rechtssache C-145 / 88 – Torfaen Borough Council / B & Q plc, Slg. 1989, I-3852, Abschnitt I 2 (I-3852; britische Regelung über grundsätzliches Sonntagsöffnungsverbot von Geschäften mit begrenzten Ausnahmen hinsichtlich bestimmter Waren); GA van Gerven, Schlußanträge vom 23. 3. 1994, verb. Rs. C-69 / 93 und C-258 / 93 – Punto Casa und PPV, Slg. 1994, I-2357, Rn. 2 f. (I-2357 f.; italienische Regelung über grundsätzliches Sonntagsöffnungsverbot von Geschäften mit zahlreichen Ausnahmemöglichkeiten hinsichtlich bestimmter Waren, Regionen und Jahreszeiten). 231 EuGH, Urteil vom 14. 7. 1994, Rs. C-17 / 93 – van der Veldt, Slg. 1994, I-3537. 232 EuGH, Urteil vom 5. 4. 2001, Rs. C-123 / 00 – Bellamy und English Shop Wholesale, Slg. 2001, I-2795. 233 Urteil vom 14. 7. 1994, Rs. C-17 / 93 – van der Veldt, Slg. 1994, I-3537, Rn. 12 (I-3559) und 21 (I-3561). 234 Urteil vom 5. 4. 2001, Rs. C-123 / 00 – Bellamy und English Shop Wholesale, Slg. 2001, I-2795, Rn. 11 f. (I-2814 f.). 235 Dies gilt nach der Rechtsprechung des EuGH auch dann, wenn das nationale Gericht ein letztinstanzliches i. S. v. Art. 234 Abs. 3 ist; vgl. Urteile vom 27. 3. 1963, verb. Rs. 28 bis 30 / 62 – da Costa & Schaake NV u. a., Slg. 1963, 63 (81), und vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 13 (3429). 236 Nationale Gerichte setzen daher zunehmend bei ihnen anhängige Verfahren ohne eine Vorlage an den EuGH aus, sofern zu der aufgeworfenen Auslegungsfrage bereits ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet wurde (vgl. etwa LG Bonn, EuZW 1996, 159; VGH Baden-Württemberg, DÖV 2002, 35; kritisch zu dieser Praxis Heß, ZZP 1995, 59 [95 f.]; kri-

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Verfahren über ein Vorabentscheidungsersuchen zunächst auszusetzen, wenn er bereits durch eine andere Vorlage mit derselben Frage befaßt ist, und die Antwort sodann beiden nationalen Gerichten zu übermitteln.237 (2) Präzisierungsfragen: „Vertikale“ Anknüpfung an lösungsrelevante Rechtsprechung Präzisierungsfragen sind dadurch gekennzeichnet, daß sie „vertikal“ an lösungsrelevante Rechtsprechung anknüpfen, also auf deren weitere Vertiefung zielen. Eine solche vertikale Anknüpfung liegt vor, wenn der Tenor der sachnächsten lösungsrelevanten Entscheidung238 grundsätzlich eine Antwort auf die aufgeworfene Auslegungsfrage gibt, die Antwort dem vorlegenden Gericht jedoch im Hinblick auf den von ihm zu entscheidenden Ausgangsrechtsstreit nicht präzise genug erscheint. Der EuGH wird also um eine weitere, detailliertere Auslegung einer bereits vorgenommenen Auslegung gebeten. Wie im Falle übereinstimmender Fragen bezieht sich die aufgeworfene Frage auf denselben Normtext wie die lösungsrelevante Entscheidung; sie wird auch unter wenigstens ähnlichen Umständen gestellt. Allerdings weicht sie inhaltlich in gewissem Umfang von der in der lösungsrelevanten Entscheidung beantworteten Frage ab. Die Judikatur des EuGH hält zahlreiche Beispiele vertikaler Anknüpfung an lösungsrelevante Rechtsprechung bereit. Zu nennen ist etwa die Rechtsprechung zur Frage des Vorliegens eines Betriebsübergangs i. S. v. Art. 1 Abs. 1 RL 77 / 187.239 Bereits 1986 hatte der EuGH entschieden, daß sich der Begriff ,Übergang tisch zur abweichenden Haltung österreichischer Gerichte Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 39). Das gleiche Vorgehen empfiehlt sich, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage Gegenstand eines bereits beim EuGH anhängigen Verfahrens anderer Art, z. B. eines Vertragsverletzungsverfahrens, ist; ebenso BVerwG, NVwZ 2001, 319. 237 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 20. 6. 1996, verb. Rs. C-418 / 93 u. a. – Semeraro Casa Uno u. a., Slg. 1996, I-2975, Rn. 16 (I-3005 f.). Die Aussetzung des Verfahrens und die Übermittlung der Antwort an das Ausgangsgericht ist ein deutliches Zeichen dafür, daß der EuGH die weitere Behandlung der Frage im Hinblick auf die Einheitlichkeit für nicht mehr erforderlich erachtet. Gleichwohl verbindet er mit der Übermittlung stets die Anfrage an das nationale Gericht, ob es gleichwohl an der Vorlage festhalte. Hiermit trägt er dem Ziel der Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts Rechnung. 238 Auf den Tenor (statt auf die Gründe) ist abzustellen, um Präzisierungsfragen möglichst trennscharf von Übertragungsfragen abgrenzen zu können; diese zeichnen sich dementsprechend dadurch aus, daß sie nicht vom Tenor der sachnächsten lösungsrelevanten Entscheidung, aber von deren Gründen erfaßt werden. – Handelt es sich bei der lösungsrelevanten Entscheidung nicht um eine Vorabentscheidung, kann selbstverständlich nicht auf deren Tenor abgestellt werden. Statt dessen sind die unmittelbar die aufgeworfene Frage betreffenden tragenden Gründe der Entscheidung heranzuziehen. Die vertikale Anknüpfung an eine andere Entscheidung als eine Vorabentscheidung dürfte allerdings selten vorkommen. 239 Richtlinie 77 / 187 des Rates vom 14. 2. 1977 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Wahrung der Ansprüche der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen (ABl. 1977 L 61 / 26), inzwischen ersetzt durch Richtlinie 2001 / 23 / EG des Rates vom 12. 3. 2001 zur Angleichung der Rechtsvorschriften

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von Unternehmen, Betrieben oder Betriebsteilen auf einen anderen Inhaber‘ auf den Fall beziehe, daß die betreffende Einheit ihre Identität bewahre.240 Ob nach dieser Definition im Ausgangsrechtsstreit ein Betriebsübergang vorliege, habe das nationale Gericht selbst zu beurteilen.241 Dabei seien sämtliche den betreffenden Vorgang kennzeichnenden Tatsachen zu berücksichtigen; zahlreiche dieser Tatsachen führte der EuGH in seinem Urteil ausführlich an.242 Diese Vorgaben hielten mehrere nationale Gerichte für nicht präzise genug, so daß der EuGH in der Folgezeit unter anderem gefragt wurde, ob ein Übergang i. S. v. Art. 1 Abs. 1 RL 77 / 187 auch dann vorliege, wenn ein Unternehmer durch Vertrag einem anderen Unternehmer die Verantwortung für die Bewirtschaftung einer zuvor von ihm selbst geleiteten innerbetrieblichen Dienstleistungseinrichtung gegen Entgelt übertrage,243 wenn Reinigungsaufgaben eines Betriebes vertraglich auf eine Fremdfirma übertragen würden,244 wenn ein Unternehmen einem Fremdunternehmen das Auftragsverhältnis kündige, um dieses dann einem anderen Fremdunternehmen zu übertragen,245 wenn der Träger eines Krankenhauses den von ihm mit einem Reinigungsunternehmen geschlossenen Dienstleistungsvertrag kündige und aufgrund einer Neuausschreibung mit einem anderen Reinigungsunternehmen einen neuen Dienstleistungsvertrag über die Erledigung der Reinigungsaufgaben im Krankenhaus abschließe,246 wenn ein Unternehmen, das ein anderes Unternehmen mit der Reinigung seiner Räumlichkeiten oder eines Teils derselben beauftragt habe, beschließe, den Vertrag mit diesem Unternehmen zu kündigen und fortan selbst für die Durchführung der fraglichen Arbeiten zu sorgen,247 wenn eine öffentliche Einrichtung, die ein erstes Unternehmen mit ihrem Haushilfedienst für Personen in einer Notlage oder mit der Bewachung bestimmter eigener Räumlichkeiten betraut habe, beschließe, zum Ablauf oder nach Kündigung des Vertrages mit diesem Unternehmen ein zweites Unternehmen mit der betreffenden Dienstleistung zu beaufder Mitgliedstaaten über die Wahrung von Ansprüchen der Arbeitnehmer beim Übergang von Unternehmen, Betrieben oder Unternehmens- oder Betriebsteilen (ABl. 2001 L 82 / 16). 240 Urteil vom 18. 3. 1986, Rs. 24 / 85 – Spijkers / Benedik, Slg. 1986, 1119, erster Satz des Tenors (1130). 241 Ebd., Rn. 14 (1129). 242 Ebd., Rn. 13 (1128 f.). 243 Vgl. EuGH, Urteil vom 12. 11. 1992, Rs. C-209 / 91 – Watson Rask und Christensen, Slg. 1992, I-5755, Rn. 12 (I-5777). Die obige Formulierung ist leicht gekürzt. 244 Vgl. EuGH, Urteil vom 14. 4. 1994, Rs. C-392 / 92 – Schmidt, Slg. 1994, I-1311, Rn. 6 (I-1324). 245 Vgl. EuGH, Urteil vom 11. 3. 1997, Rs. C-13 / 95 – Süzen, Slg. 1997, I-1259, Rn. 6 (I-1271 f.). 246 Vgl. BAGE 82, 308 (309), Vorlagefrage 7. Die Vorlage wurde nach Erlaß der Vorabentscheidung des EuGH in der Rs. Süzen (vorige Fn.) zurückgezogen; vgl. BAG, EuZW 1997, 638. 247 Vgl. EuGH, Urteil vom 10. 12. 1998, verb. Rs. C-127 / 96, C-229 / 96 und C-74 / 97 – Hernández Vidal u. a., Slg. 1998, I-8179, Rn. 20 (I-8230). Die obige Formulierung ist die vom EuGH bereits leicht abstrahierte. Die ursprüngliche Fassung der Vorlagefragen ist detaillierter; vgl. ebd., Rn. 14 (I-8228) und 19 (I-8229).

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tragen,248 wenn ein Auftraggeber, der die Reinigung seiner Geschäftsräume vertraglich einem ersten Unternehmer anvertraut habe, der die Ausführung dieses Auftrags einem Subunternehmer übertragen habe, diesen Vertrag beende und zur Durchführung dieser Arbeiten einen neuen Vertrag mit einem zweiten Unternehmer schließe, sofern dieser Vorgang nicht mit einem Übergang materieller oder immaterieller Betriebsmittel von dem ersten Unternehmer oder dem Subunternehmer auf den zweiten Unternehmer verbunden sei, und der Subunternehmer nahezu allen Arbeitnehmern gekündigt habe, jedoch nach wie vor bestehe und seinen Gesellschaftszweck verfolge, während der zweite Unternehmer aufgrund eines Tarifvertrags einen Teil des vom Subunternehmer gekündigten Personals übernehme,249 oder wenn ein Krankenhausträger, der bisher ein Großküchenunternehmen mit der Versorgung der Patienten und des Krankenhauspersonals mit Speisen und Getränken zu einem auf den Verköstigungstag pro Person bezogenen Preis beauftragt und ihm dazu Wasser und Energie sowie seine Wirtschaftsräume (Betriebsküche) samt dem erforderlichen Inventar zur Verfügung gestellt habe, nach Aufkündigung dieses Vertrages diese Aufgaben und die bisher diesem ersten Großküchenunternehmen zur Verfügung gestellten Betriebsmittel einem anderen Großküchenunternehmen übertrage, ohne daß dieses zweite Großküchenunternehmen die vom ersten Großküchenunternehmen selbst eingebrachten Betriebsmittel – Personal, Warenlager, Kalkulations-, Menü-, Diät-, Rezept- oder Erfahrungsunterlagen – übernehme.250 Ein weiteres Beispiel vertikaler Anknüpfung betrifft die Auslegung des Ausdrucks ,Abgaben mit Gebührencharakter‘ in Art. 12 Abs. 1 lit. e RL 69 / 335.251 Durch diese Richtlinie wurde eine gemeinschaftsweit einheitliche Besteuerung von Kapitalgesellschaften eingeführt. Nach Art. 10 RL 69 / 335 ist es den Mitgliedstaaten verboten, bestimmte Tatbestände anderen Abgaben als der Gesellschaftsteuer zu unterwerfen. Von diesem Verbot macht Art. 12 Abs. 1 lit. e RL 69 / 335 eine Ausnahme für Abgaben mit Gebührencharakter. Nach einer Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 1993 können hierunter Abgaben fallen, die als Gegenleistung für im Allgemeininteresse gesetzlich vorgeschriebene Vorgänge, wie etwa die Eintragung von Kapitalgesellschaften, erhoben werden; die Höhe dieser Abgaben muß 248 Vgl. EuGH, Urteil vom 10. 12. 1998, verb. Rs. C-173 / 96 und C-247 / 96 – Hidalgo u. a., Slg. 1998, I-8237, Rn. 19 (I-8247 f.). Die obige Formulierung ist die vom EuGH bereits deutlich abstrahierte. Die ursprüngliche Fassung der Vorlagefragen ist noch erheblich detaillierter; vgl. ebd., Rn. 11 (I-8245) und 18 (I-8247). 249 Vgl. EuGH, Urteil vom 24. 1. 2002, Rs. C-51 / 00 – Temco Service Industries, Slg. 2002, I-969. 250 Vgl. EuGH, Urteil vom 20. 11. 2003, Rs. C-340 / 01 – Abler u. a., EWS 2003, 581, Rn. 26. – Bereits die Zunahme des Umfangs der jeweiligen Vorlagefragen macht deutlich, daß sie sich auf immer detailliertere Umstände beziehen. 251 Richtlinie 69 / 335 / EWG des Rates vom 17. 7. 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. 1969 L 249 / 25) in der Fassung der Richtlinie 85 / 303 / EWG des Rates vom 10. 6. 1985 zur Änderung der Richtlinie 69 / 335 / EWG (ABl. 1985 L 156 / 23).

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nach den – gegebenenfalls pauschal zu ermittelnden – Kosten des Vorgangs berechnet werden.252 Wenig später legte ein dänisches Gericht, dem das vorangegangene Urteil des EuGH bekannt war, äußerst detaillierte Fragen vor, die unter anderem den Ausdruck ,Abgaben mit Gebührencharakter‘ und den Zusammenhang zwischen den Abgaben und den Kosten betrafen.253 Der EuGH entschied, daß die bei der Eintragung von Aktiengesellschaften und Gesellschaften mit beschränkter Haftung und bei der Erhöhung des Kapitals dieser Gesellschaften erhobenen Abgaben, um Gebührencharakter zu haben, allein auf der Grundlage der Kosten der betreffenden Förmlichkeiten berechnet werden müßten, wobei in diese Beträge auch die Kosten unbedeutenderer gebührenfreier Vorgänge eingehen dürften. Für die Bemessung dieser Beträge könne ein Mitgliedstaat sämtliche Kosten berücksichtigen, die mit den Eintragungen zusammenhingen, einschließlich des auf diese Vorgänge entfallenden Teils der allgemeinen Kosten. Zudem könne ein Mitgliedstaat pauschale Abgaben vorsehen und deren Höhe zeitlich unbegrenzt festsetzen, wenn er sich in regelmäßigen Abständen vergewissere, daß diese Beträge nicht die durchschnittlichen Kosten der betreffenden Vorgänge überstiegen.254 Ein Jahr später fragte ein portugiesisches Gericht unter anderem, ob nach Art. 10 RL 69 / 335 grundsätzlich verbotene Gebühren der Ausnahme in Art. 12 Abs. 1 lit. e RL 69 / 355 (auch dann) unterfielen, wenn der Betrag dieser Gebühren die tatsächlichen Kosten der konkret erbrachten Dienstleistung offenkundig und in unverhältnismäßiger Weise übersteige.255 Diese Frage betraf Gebühren für die notarielle Beurkundung bestimmter gesellschaftsrechtlicher Maßnahmen. Der EuGH entschied erwartungsgemäß, daß eine für die notarielle Beurkundung dieser Maßnahmen erhobene Abgabe, wie die im Ausgangsverfahren streitigen Gebühren, die ohne Obergrenze proportional zu dem gezeichneten Nennkapital stiegen, keine Abgabe mit Gebührencharakter darstelle.256 Im gleichen Urteil entschied er zudem, daß die Gebühren für die notarielle Beurkundung eines unter die Richtlinie 69 / 335 fallenden Rechtsgeschäfts in einem Rechtssystem, in dem der Notar Beamter sei und ein Teil dieser Gebühren dem Staat für die Finanzierung seiner Aufgaben zufließe, als Steuer im Sinne der Richtlinie anzusehen seien.257 Unter Hinweis auf dieses Urteil legte sodann ein deutsches Gericht die Frage vor, ob die Gebühren für Beurkundungen und Beglaubigungen der Notare im Landesdienst des Landes Baden-Württemberg im Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe bei Vorgängen, auf die sich Art. 4 Abs. 3 RL 69 / 335 beziehe, vom Verbot des Artikels 10 RL 69 / 335 derart erfaßt würden, daß 252 Urteil vom 20. 4. 1993, verb. Rs. C-71 / 91 und C-178 / 91 – Ponente Carni und Cispadana Costruzioni, Slg. 1993, I-1915, Nr. 2 des Tenors (I-1961). 253 Vgl. EuGH, Urteil vom 2. 12. 1997, Rs. C-188 / 95 – Fantask u. a., Slg. 1997, I-6783. Allein die vier Vorlagefragen, die sich auf die Auslegung des Ausdrucks ,Abgaben mit Gebührencharakter‘ beziehen, füllen in der Sammlung zwei Seiten. 254 Ebd., Nr. 1 des Tenors (I-6841). 255 Vgl. EuGH, Urteil vom 29. 9. 1999, Rs. C-56 / 98 – Modelo [I], Slg. 1999, I-6427, Rn. 16, Vorlagefrage 4 (I-6457 f.). 256 Ebd., Nr. 3 des Tenors (I-6465). 257 Ebd., Nr. 1 des Tenors (I-6464).

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sie nur nach den konkreten Aufwendungen der Notare für die jeweilige Dienstleistung erhoben werden dürften.258 Der EuGH entschied hinsichtlich der Qualifizierung der Gebühren als Steuern fast wortgleich wie in seiner vorangegangenen Entscheidung.259 Zur zulässigen Höhe der Gebühren führte er erwartungsgemäß aus, daß der Umstand allein, daß die für die notarielle Beurkundung eines Vertrages über die Gründung einer Kapitalgesellschaft erhobenen Gebühren, die proportional zu dem gezeichneten Nennkapital stiegen, eine Obergrenze nicht übersteigen dürften, diese Gebühren nicht zu Abgaben mit Gebührencharakter im Sinne der Richtlinie 69 / 335 mache, wenn diese Obergrenze nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den Kosten der Leistung stehe, die mit diesen Gebühren abgegolten werde.260 Ein drittes Beispiel vertikaler Anknüpfung an lösungsrelevante Rechtsprechung betrifft ebenfalls die Richtlinie 69 / 335. Ein italienisches Gericht hatte Zweifel an der Vereinbarkeit der im italienischen Recht vorgesehenen Besteuerung des Nettovermögens einer Gesellschaft mit Art. 10 RL 69 / 335. Da zum Nettovermögen auch das gezeichnete Kapital gehöre, das nach der Richtlinie 69 / 335 der Gesellschaftsteuer unterliege, stelle die Besteuerung des Nettovermögens insoweit eine nach Art. 10 RL 69 / 335 verbotene Erhebung sonstiger Abgaben dar. Der EuGH entschied daraufhin, daß es die Richtlinie 69 / 335 nicht verbiete, von Kapitalgesellschaften eine Steuer wie die Steuer auf das Nettovermögen der Unternehmen zu erheben.261 Obwohl sich der EuGH in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich mit der Einbeziehung des Gesellschaftskapitals in das Nettovermögen der Gesellschaften befaßt hatte,262 bat später ein anderes italienisches Gericht um eine Präzisierung gerade in diesem Punkt.263 In Fällen vertikaler Anknüpfung an lösungsrelevante Entscheidungen stellt sich die Frage, wann die vom EuGH gegebenen Antworten eine hinreichende Auslegungsintensität erreicht haben, also so präzise sind, daß nationale Gerichte die bei 258 Vgl. EuGH, Beschluß vom 21. 3. 2002, Rs. C-264 / 00 – Gründerzentrum, Slg. 2002, I3333, Rn. 23 (I-3346). – Bereits vorher hatte ein weiteres portugiesisches Gericht erneut detailliert nach der zulässigen Höhe der Abgaben gefragt; vgl. EuGH, Urteil vom 21. 6. 2001, Rs. C-206 / 99 – SONAE, Slg. 2001, I-4679, Rn. 19 (I-4704 ff.). 259 Ebd. (Gründerzentrum), Nr. 1 des Tenors. 260 Ebd., Nr. 3 des Tenors. – Es bedarf keiner großen Phantasie, um vorauszusehen, daß künftige Vorlagefragen auf eine nähere Definition des Ausdrucks ,angemessenes Verhältnis‘ gerichtet sein werden. 261 Tenor des Urteils vom 27. 10. 1998, Rs. C-4 / 97 – Nonwoven, Slg. 1998, I-6469 (I-6489). 262 Vgl. ebd., Rn. 10 (I- 6485) und 22 (I-6488). 263 Vgl. EuGH, Beschluß vom 15. 3. 2001, verb. Rs. C-279 / 99 u. a. – Petrolvilla & Bortolotti u. a., Slg. 2001, I-2339. Das Gericht hatte sich die Ansicht der Parteien zu eigen gemacht, daß die Antwort des EuGH in seinem vorangegangenen Urteil auf eine allgemeine Frage gegeben worden sei und daher hinsichtlich der Einbeziehung des Gesellschaftskapitals in die Besteuerungsgrundlage näherer Erläuterungen bedürfe. Der EuGH behandelte die Vorlage konsequenterweise im vereinfachten Beschlußverfahren nach Art. 104 § 3 VfO.

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ihnen anhängigen Rechtsstreite eigenverantwortlich lösen können, ohne dabei die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts mehr als nur geringfügig zu beeinträchtigen. Die Qualifizierung einer Auslegungsfrage als Präzisierungsfrage kann als solche die Geringfügigkeit ersichtlich nicht gewährleisten, da lösungsrelevante Rechtsprechung in ihrer Präzisionstiefe und damit ihrer Steuerungswirkung für nationale Gerichte erheblich variieren kann. Dies sei an drei Vorabentscheidungen illustriert. In der Rechtssache Francovich u. a. stellte der EuGH fest: „Ein Mitgliedstaat hat die Schäden zu ersetzen, die dem einzelnen dadurch entstehen, daß die Richtlinie 80 / 987 / EWG nicht umgesetzt worden ist“.264 Detaillierter ist die Entscheidung in der Rechtssache Alcan Deutschland, nach der eine nationale Behörde zur Rücknahme der Bewilligung einer gemeinschaftswidrigen Beihilfe auch dann verpflichtet ist, „wenn sie die nach nationalem Recht im Interesse der Rechtssicherheit dafür bestehende Ausschlußfrist hat verstreichen lassen“ bzw. „wenn dies nach nationalem Recht wegen Wegfalls der Bereicherung mangels Bösgläubigkeit des Beihilfeempfängers ausgeschlossen ist“.265 Noch sehr viel mehr an den Umständen des Ausgangsrechtsstreits orientiert ist folgende Auslegung von Art. 50 TRIPS in der Rechtssache Hermès: „Eine Maßnahme, die bezweckt, angebliche Verletzungen eines Markenrechts abzustellen, und die im Rahmen eines Verfahrens erlassen wird, das folgende Merkmale aufweist: – die Maßnahme wird im innerstaatlichen Recht als ,sofortige einstweilige Maßnahme‘ bezeichnet; ihr Erlaß muß aus Gründen der Dringlichkeit erforderlich sein; die gegnerische Partei wird geladen und, wenn sie erscheint, gehört; der Richter des vorläufigen Rechtsschutzes erläßt nach Sachprüfung eine schriftliche, mit Gründen versehene Entscheidung; diese Entscheidung kann mit der Berufung angefochten werden; und obwohl die Parteien die Möglichkeit haben, anschließend ein Verfahren zur Hauptsache einzuleiten, behandeln sie diese Entscheidung im allgemeinen als endgültig – ist eine einstweilige Maßnahme im Sinne des Artikels 50 [ . . . ]“.266 Es bedarf daher einer weiteren Voraussetzung, die gewährleistet, daß der Verzicht auf eine Vorlage im Falle von Präzisierungsfragen allenfalls zu geringfügigen Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit führt. Die bloße Möglichkeit weiterer Präzisierung der lösungsrelevanten Rechtsprechung ist hierfür offensichtlich ungeeignet: Jede noch so detaillierte und an den Besonderheiten des Ausgangsrechtsstreits orientierte Antwort des EuGH läßt (jedenfalls theoretisch) noch Raum für weitere 264 Vgl. EuGH, Urteil vom 19. 11. 1991, verb. Rs. C-6 / 90 und C-9 / 90 – Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Nr. 2 des Tenors (I-5418). Die Allgemeinheit dieser Aussage wird durch die drei Anspruchsvoraussetzungen, die in drei knappen Sätzen aufgezählt werden (Rn. 40 [I-5415]), kaum reduziert. 265 Vgl. EuGH, Urteil vom 20. 3. 1997, Rs. C-24 / 95 – Alcan Deutschland, Slg. 1997, I-1591, Rn. 38 (I-1619) und 54 (I-1623). 266 Vgl. EuGH, Urteil vom 16. 6. 1998, Rs. C-53 / 96 – Hermès, Slg. 1998, I-3603, Rn. 45 (I-3652). Mit dieser Aussage wird freilich weniger die Bedeutung des Ausdrucks ,einstweilige Maßnahme‘ in Art. 50 TRIPS bestimmt als vielmehr einzelfallbezogen entschieden, daß das in Art. 289 ff. der niederländischen ZPO vorgesehene Verfahren zum Erlaß sofortiger einstweiliger Maßnahmen in den Anwendungsbereich von Art. 50 TRIPS fällt.

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Fragen.267 Wenn der EuGH etwa entscheidet, daß ein Gericht eine bestimmte Maßnahme nur auf Antrag hin ergreifen kann,268 könnte weiter gefragt werden, ob der Antrag schriftlich gestellt werden muß, welche Anforderungen im einzelnen an die Einhaltung der Schriftform zu stellen sind, ob Abschriften (mit oder ohne Anlagen?) beizufügen sind etc. Statt dessen erscheint es sachgerecht, von einer hinreichenden Auslegungsintensität der lösungsrelevanten Rechtsprechung auszugehen, wenn ihre weitere Präzisierung dazu führte, daß sich die Antwort des EuGH deutlich mehr an den Umständen des Ausgangsrechtsstreits als an dem auszulegenden Normtext selbst orientierte und daher aufgrund ihrer Spezifizität nicht mehr für eine erhebliche Anzahl anderer Rechtsstreite vor nationalen Gerichten verwertbar wäre.269 Die Rechtsprechung des EuGH bietet insoweit einen formalen Ansatzpunkt. Überall dort, wo er eine Beurteilung ausdrücklich als Sache oder Aufgabe des nationalen Gerichts bezeichnet, läßt er erkennen, daß seine Rechtsprechung nunmehr eine hinreichende Auslegungsintensität erreicht hat und damit ihre weitere Präzisierung zur Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts nicht mehr erforderlich ist.270 Insoweit besteht demnach kein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis.271 Über diesen formalen Ansatzpunkt hinaus ist eine hinreichende Auslegungsintensität aber auch in allen anderen Fällen anzunehmen, in denen eine weitere Orientierung an den Umständen des Ausgangsrechtsstreits dazu führte, daß die Vorabentscheidung aufgrund ihrer Ausrichtung auf die Besonderheiten des konkreten Rechtsstreits ihre Steuerungswirkung für eine erhebliche Anzahl anderer Rechtsstreite verlöre.272 Insoweit fällt dem EuGH die verantwortungsvolle Auf267 Vgl. insbesondere GA Jacobs, Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 – S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 16 (I-6501); Jacobs, Studi Capotorti, S. 175 (177). 268 So etwa EuGH, Urteil vom 13. 9. 2001, Rs. C-89 / 99 – Schieving-Nijstad, Slg. 2001, I-5851, Rn. 61 (I-5894) im Hinblick auf Art. 50 Abs. 6 TRIPS; vgl. dazu Groh, EuZW 2001, 662. 269 In diese Richtung auch GA Jacobs, Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 – S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 50 (I-6512 f.); vgl. ferner Markwardt, Rolle des EuGH, S. 205 f. 270 Anders ist dies in den Fällen, in denen eine weitere Präzisierung mangels entsprechender Angaben im Vorlagebeschluß unterblieb. Diese Fälle stellen jedoch im vorliegenden Zusammenhang die Ausnahme dar. 271 Soweit das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis auch nicht im Hinblick auf die Unterstützung der nationalen Gerichte oder den Schutz individueller Rechtspositionen zu bejahen ist, ist daher die Vorlage mangels Auslegungsbefugnis des EuGH zurückzuweisen. Hieran ändert auch die Möglichkeit einer abstrahierenden Umformulierung der Frage nichts, da diese zwar eine weitere Präzisierung der Rechtsprechung verhinderte, sich aber in der inhaltsgleichen Wiederholung einer bereits gegebenen Antwort erschöpfte. Dies ist mit der Situation einer Wiederholungsfrage (vgl. zu dieser bereits oben C. I. 1. a) (1)) vergleichbar, so daß hierfür ebenfalls kein Auslegungsbedürfnis besteht. 272 In der Tat kann durch eine zu große Orientierung der Vorabentscheidung an den Umständen des Ausgangsrechtsstreits bei nationalen Gerichten die (freilich irrige) Vorstellung hervorgerufen werden, die vom EuGH vorgenommene Auslegung sei für ihre Entschei-

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gabe zu, auf eine Begrenzung der Einzelfallorientierung von Vorlagefragen hinzuwirken.273 Diese Aufgabe erfüllt der EuGH, der sich vielfach an die Detailliertheit der Vorlagefrage gebunden zu fühlen scheint,274 bedauerlicherwiese nicht immer.275 Teilweise beantwortet er Vorlagefragen, die in geradezu grotesker Weise an den konkreten Umständen des Ausgangsrechtsstreits orientiert sind, in ebenso detaillierter Weise. Antworten wie diejenigen in den Rechtssachen Uelzena276 oder Darbo277 sind außer für das vorlegende Gericht für kein einziges anderes nationales Gericht jemals hilfreich. Besonders problematisch ist es, wenn der EuGH eine ohnehin schon sehr detaillierte Vorlagefrage ohne ersichtlichen Grund mit weiteren Details anreichert.278 dung irrelevant; vgl. beispielhaft den Sachverhalt in BVerfG, EuZW 1997, 575 (576; Abweichung von der Rechtsprechung des EuGH u. a. mit der Begründung, dessen Rechtsprechung betreffe lediglich einen bestimmten Einzelfall). 273 Everling, Rechtsanwendungs- und Auslegungsgrundsätze, S. 51 (58), ermuntert nationale Gerichte demgegenüber, Auslegungsfragen möglichst fallbezogen und konkret zu stellen. 274 Vgl. hierzu Jacobs, Studi Capotorti, S. 175 (181); ferner Markwardt, Rolle des EuGH, S. 215; Schima, Wirkung von Auslegungsentscheidungen, S. 280 (312). 275 Zu begrüßen ist daher die z. B. in dem Urteil vom 15. 1. 2002, Rs. C-179 / 00 – Weidacher, Slg. 2002, I-501, Rn. 39 (I-541) vorgenommene Verallgemeinerung einer in absurder Weise detaillierten Vorlagefrage (ebd., Rn. 14, Vorlagefrage 3). 276 Urteil vom 11. 8. 1995, Rs. C-12 / 94 – Uelzena Milchwerke, Slg. 1995, I-2397. In dieser Rechtssache ging es um die Beihilfefähigkeit von Butter, die zu backfertigen Mürbeteigstangen verarbeitet wurde. Diese wiesen u. a. einen Mehlgehalt von 46% auf. Für die Beihilfefähigkeit nach einer bestimmten gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift ist dieser Mehlgehalt irrelevant, was der EuGH auch ausdrücklich feststellt. Gleichwohl bezieht er ihn in seine Antwort ein (ebd., Nr. 1 des Tenors [I-2418]). 277 Urteil vom 4. 4. 2000, Rs. C-465 / 98 – Darbo, Slg. 2000, I-2297. In dieser Rechtssache ging es um die Frage, ob die Vermarktung einer Erdbeerkonfitüre als „naturrein“ angesichts ihrer konkreten Zusammensetzung geeignet ist, den Verbraucher irrezuführen. Die Antwort des EuGH: „[Die einschlägige Vorschrift] steht nicht der Angabe „naturrein“ für eine Erdbeerkonfitüre entgegen, die das Geliermittel Pektin sowie Spuren oder Rückstände von Blei, Cadmium und Pestiziden in folgenden Mengen enthält: 0,01 mg / kg Blei, 0,008 mg / kg Cadmium, 0,016 mg / kg Procymidon und 0,005 mg / kg Vinclozolin“ (ebd., Tenor [I-2339]). Welchen Nutzen hat diese Antwort für ein Gericht, das den irreführenden Charakter der Bezeichnung „naturrein“ für eine Erdbeerkonfitüre mit einem Cadmiumgehalt von 0,009 mg / kg oder einer Kirschkonfitüre zu beurteilen hat? 278 Vgl. z. B. Urteil vom 11. 8. 1995, Rs. C-12 / 94 – Uelzena Milchwerke, Slg. 1995, I-2397. Das vorlegende Gericht hatte u. a. um die Auslegung einer Vorschrift ersucht, nach der die Beihilfefähigkeit von zu Teig verarbeiteter Butter u. a. voraussetzt, daß diese einen Mehlgehalt von 51% aufweist. Die Frage war darauf gerichtet, ob auch zu Teig verarbeitete Butter mit einem Mehlgehalt von weniger als 51% beihilfefähig sei. Da die Mürbeteigstangen, um deren Beihilfefähigkeit es im Ausgangsrechtsstreit ging, einen Mehlgehalt von 46% aufwiesen, kann man bereits an der Sinnhaftigkeit der vom nationalen Gericht gestellten Frage zweifeln. Bedenklicher ist freilich, daß der EuGH in seiner Antwort nicht auf den Grenzwert von 51% abstellt, sondern entscheidet, daß zu Backmürbeteigstangen verarbeitete Butter, die u. a. einen Mehlanteil von 46% enthält, nicht beihilfefähig ist (ebd., Nr. 2 des Tenors [I-2419]). Eine ebenfalls unnötige Präzisierung der Vorlagefrage findet sich im Urteil vom 10. 5. 2001, Rs. C-288 / 99 – vauDe Sport, Slg. 2001, I-3683, Rn. 10 f. (I-3724 f.).

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Das hier vorgeschlagene Kriterium zur Beurteilung hinreichender Auslegungsintensität der lösungsrelevanten Rechtsprechung trägt dem Ziel der Einheitlichkeitswahrung dadurch Rechnung, daß es eine erhebliche Präzision der lösungsrelevanten Rechtsprechung und damit eine beachtliche Steuerungswirkung für die Entscheidungen nationaler Gerichte ermöglicht. Gleichzeitig berücksichtigt es aber, daß bereits im Hinblick auf dieses Ziel selbst einer stets weiter fortschreitenden Präzisierung der Rechtsprechung Grenzen zu ziehen sind.279 Die Zunahme der Detailtiefe von Vorabentscheidungen vergrößert nämlich zwangsläufig in erheblichem Maße den Umfang der lösungsrelevanten Rechtsprechung, weil sie ein selbstverstärkender Effekt ist: Die zunehmende Einzelfallorientierung fordert die nationalen Gerichte zu weiteren, noch detaillierteren Auslegungsfragen geradezu heraus, und zwar genau deswegen, weil die vom EuGH vorgenommene Auslegung aufgrund ihrer hohen Präzision nicht mehr „genau“ auf den vom nationalen Gericht zu entscheidenden Rechtsstreit „paßt“. Eine zu sehr ins Detail gehende Auslegung fördert somit in erheblichem Maße die Unübersichtlichkeit der Rechtsprechung und schadet der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts im Ergebnis mehr, als sie ihr dient.280 Auf diese Gefahr hat insbesondere GA Jacobs nachhaltig aufmerksam gemacht. Er schlug vor, der EuGH solle in Bereichen, in denen bereits eine gefestigte Rechtsprechung besteht, auf eine weitere Präzisierung seiner Rechtsprechung verzichten, da „eine noch filigranere Rechtsprechung wahrscheinlich zu weniger, nicht zu mehr Rechtssicherheit führen“ werde. Statt dessen solle der EuGH „feststellen, daß er seine Aufgabe einheitlicher Auslegung im wesentlichen erfüllt und er die wesentlichen Grundsätze und Regeln für die Auslegung so genau festgestellt hat, daß die nationalen Gerichte die Fragen selbst beantworten können“.281 In einer 279 Diesen kann, soweit die aufgeworfene Frage den Bereich des Strafrechts betrifft, nicht entgegengehalten werden, sie mißachteten den Bestimmtheitsgrundsatz (vgl. zu diesem Grundsatz im Zusammenhang mit einem nationalen Gesetz zur Umsetzung einer Richtlinie EGMR, Urteil vom 15. 11. 1996, Cantoni / Frankreich, Recueil des Arrêts et Décisions 1996V, 1614; dazu Winkler, EuGRZ 1999, 181 ff.). Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt lediglich, daß die Bedeutung eines Normtextes bestimmbar ist, legt aber nicht fest, wer diese Bedeutung hinreichend präzise bestimmt. Läßt eine Vorabentscheidung des EuGH dem nationalen Gericht einen Beurteilungsspielraum, so ist dieser vom nationalen Gericht unter Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes auszufüllen. 280 Vgl. hierzu auch Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 227; Markwardt, Rolle des EuGH, S. 214; Mégret / D. Waelbroeck, Art. 177 EGV, Nr. 29; van Raepenbusch, Droit institutionnel, S. 400. 281 GA Jacobs, Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 21 (I-6503); Jacobs, Studi Capotorti, S. 175 (180 und 187); zustimmend Ahlt, Verhältnis zwischen nationaler und EuGH-Rechtsprechung, S. 33 (41 f.); Lenz / Borchardt, EGV, Art. 234, Rn. 11; in diese Richtung auch Stotz, in: Rengeling (Hrsg.), Handbuch Umweltrecht, § 45, Rn. 214; kritisch jedoch GA Tizzano, Schlußanträge vom 21. 2. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4841, Rn. 70 (I-4866). – Das von GA Jacobs verlangte Vorliegen einer gefestigten Rechtsprechung wird auch nach dem hier vorgeschlagenen Maßstab in aller Regel anzunehmen sein, da sich die Frage hinreichender Präzision kaum stellen wird, wenn die lösungsrelevante Rechtsprechung lediglich vereinzelte Entscheidungen umfaßt oder offensichtlich erst den Anfang einer längeren Entwicklung darstellt.

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markenrechtlichen Rechtssache wies er darauf hin, daß der EuGH „zur einheitlichen Anwendung der Richtlinie und zur Rechtssicherheit effektiver dadurch beitragen [kann], daß er die allgemeinen Kriterien und insbesondere den Maßstab für die Beurteilung der Verwechslungsgefahr eindeutig festlegt, als durch den Erlaß von Entscheidungen, die zu sehr auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls eingehen“.282 Im gleichen Sinne hob er hervor, „daß die vorrangige Aufgabe des Gerichtshofs in Vorabentscheidungsverfahren nicht darin besteht, konkrete Fälle auf der Grundlage eines eng umrissenen Sachverhalts zu entscheiden oder ein Problem des nationalen Gerichts in einem bestimmten Fall zu lösen, sondern darin, eindeutig und schlüssig für jedermann in der Gemeinschaft festzustellen, wie das Recht zutreffend zu verstehen ist, und Entscheidungen von allgemeiner Tragweite zu treffen.“283 Der hier vorgeschlagene Maßstab zur Beurteilung einer hinreichenden Auslegungsintensität der lösungsrelevanten Rechtsprechung trägt darüber hinaus auch den gegen eine Vorlage sprechenden Vorgaben angemessen Rechnung. Dies gilt zunächst im Hinblick auf die nationalen Gerichte, die in ihrer Funktion als Gemeinschaftsgerichte erster Instanz die Verantwortung für die von ihnen zu treffende Entscheidung zu tragen haben, weil nur sie über die volle und unmittelbare Kenntnis der Umstände des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits verfügen.284 Diese Verantwortung wird jedoch in Frage gestellt, wenn sich Vorabentscheidungen zunehmend an den einzelnen Umständen des Ausgangsrechtsstreit orientieren und so mehr und mehr die Züge einer Entscheidung in der Sache selbst annehmen, so daß die Entscheidung des nationalen Gerichts im Ausgangsrechtsstreit abschließend determiniert wird.285 Eine durch die Vorgaben einer anderen Institution weitgehend oder gar vollständig festgelegte gerichtliche Entscheidung kann aber kaum 282 GA Jacobs, Schlußanträge vom 29. 10. 1998, Rs. C-342 / 97 – Lloyd Schuhfabrik Meyer, Slg. 1999, I-3821, Rn. 13 (I-3824). GA Jacobs begründete dies unter anderem mit dem Hinweis, daß sich aus der Richtlinie relativ wenige rechtliche Kriterien ableiten ließen und diese zudem auf eine fast unbeschränkte Anzahl von Sachverhalten anwendbar seien. Unabhängig von diesen besonderen Voraussetzungen bringt jedoch eine weitgehende Präzisierung stets die Gefahr der Unübersichtlichkeit der Rechtsprechung mit sich. 283 GA Jacobs, Schlußanträge vom 21. 3. 2002, Rs. C-136 / 00 – Danner, Slg. 2002, I-8150, Rn. 38 (I-8158 f.). – Vgl. zu weiteren Warnungen vor einer zu großen Orientierung an den detaillierten Umständen des konkreten Ausgangsrechtsstreits auch GA van Gerven, Schlußanträge vom 22. 11. 1990, Rs. C-312 / 89 – Conforama u. a., Slg. 1990, I-1007, Rn. 7 (I-1012); GA Gulmann, Schlußanträge vom 29. 9. 1993, Rs. C-315 / 92 – Verband Sozialer Wettbewerb [„Clinique“], Slg. 1994, I-319, Rn. 9 (I-321 f.), und GA Fennelly, Schlußanträge vom 16. 9. 1999, Rs. C-220 / 98 – Estée Lauder, Slg. 2000, I-119, Rn. 31 (I-133). 284 Vgl. hierzu z. B. EuGH, Urteile vom 28. 6. 1984, Rs. 180 / 83 – Moser / Land BadenWürttemberg, Slg. 1984, 2539, Rn. 6 (2545), vom 9. 2. 1995, Rs. C-412 / 93 – Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179, Rn. 10 (I-214), vom 22. 6. 2000, Rs. C-425 / 98 – Marca Mode, Slg. 2000, I-4861, Rn. 21 (I-4889 f.), und vom 14. 9. 2000, Rs. C-369 / 98 – Fisher, Slg. 2000, I-6751, Rn. 38 (I-6789). 285 Dezidiert für eine solche Determinierung Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (369 und 379).

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als eigenverantwortlich bezeichnet werden.286 Die hier vorgeschlagene Begrenzung der Auslegungsintensität von Vorabentscheidungen reduziert zudem die Arbeitslast des EuGH, indem sie der selbstverstärkenden Tendenz zunehmender Präzisierung und dem daraus folgenden erheblichen Anstieg weiterer, noch detaillierterer Auslegungsfragen Einhalt gebietet. Nur am Rande sei bemerkt, daß eine Entschlackung der Tätigkeit des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren von einzelfallbezogenen Detailfragen auch seiner Funktion als Verfassungsgericht287 der Gemeinschaft entspricht.288 Derartigen Gerichten obliegt es, die „großen Linien“ der Rechtsprechung zu zeichnen und deren grundlegende Weichenstellungen vorzunehmen.289 Sie haben die Aufgabe, Probleme von grundsätzlicher Bedeutung zu lösen,290 nicht aber Fragen zu klären, die nur Auswirkungen auf vereinzelte Fälle haben können.291 Schließlich wird auch das Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer hinreichend berücksichtigt. Den Parteien des Ausgangsrechtsstreits kann es nämlich nicht zugemutet werden, die mit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens verbundene Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits hinnehmen zu müssen, wenn die vom EuGH vorgenommene Auslegung zur Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts kaum beiträgt oder dieser sogar abträglich ist. Für die Beantwortung von Präzisierungsfragen besteht somit im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts kein Auslegungsbedürfnis, wenn ihre Beantwortung wegen zu starker Orientierung an den konkreten Umständen des 286 Kritisch daher zu einer weitgehenden Orientierung der Vorabentscheidung an den Umständen des Ausgangsrechtsstreits Boulouis, Mélanges Teitgen, S. 23 (30); vgl. auch Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 227. 287 So etwa CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 2; Hirsch, MDR 1999, 1 (2); Schwarze / Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 10. – Es besteht hier kein Anlaß, der müßigen Debatte um die Verfassungsqualität des EGV eine weitere Stellungnahme hinzuzufügen. Im vorliegenden Zusammenhang genügt der Hinweis, daß der EuGH den EGV als Verfassungsurkunde der Gemeinschaft bezeichnet; vgl. EuGH, Urteil vom 23. 4. 1986, Rs. 294 / 83 – Les Verts / Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (1365), und Gutachten 1 / 91 vom 14. 12. 1992 – EWR [I], Slg. 1991, I-6079, Rn. 21 (I-6102). – Ähnlich im übrigen auch BVerfGE 22, 293 (296). 288 In diese Richtung auch Vesterdorf, ELR 2003, 303 (314). 289 Pescatore, Schutz der Grundrechte, S. 64 (69), wies bereits vor 25 Jahren darauf hin, daß der EuGH mit mehr als genug Vorabentscheidungsersuchen konfrontiert sei, diese jedoch meist rechtstechnische Probleme von untergeordneter Bedeutung beträfen. 290 In diese Richtung auch Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 227. Entsprechend plädiert Heß, ZZP 1995, 59 (84 ff.), und RabelsZ 2002, 470 (493 ff.), für eine Beschränkung (immerhin) der Vorlagepflicht auf Fragen von grundsätzlicher Bedeutung. 291 Anders kann dies bei Verfahren sein, die gerade der Durchsetzung bestimmter Rechtspositionen im Einzelfall dienen (bemerkenswerterweise ist ein Paradebeispiel solcher Verfahren, nämlich die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG ebenfalls Beschränkungen im objektiven Interesse unterworfen; vgl. insbesondere § 93a Abs. 2 Nr. 1 BVerfGG und dazu MSBKU / Graßhof, BVerfGG, § 93a, Rn. 60 ff., insbesondere 62). Das Vorabentscheidungsverfahren ist jedoch jedenfalls in seiner Auslegungsvariante kein solches Verfahren.

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Ausgangsrechtsstreits nicht mehr für eine erhebliche Anzahl anderer Rechtsstreite verwertbar wäre. (3) Übertragungsfragen: „Horizontale“ Anknüpfung an lösungsrelevante Rechtsprechung Übertragungsfragen sind Auslegungsfragen, die „horizontal“ an lösungsrelevante Rechtsprechung anknüpfen. Sie unterscheiden sich einerseits von Präzisierungsfragen dadurch, daß sie nicht vom Tenor der sachnächsten lösungsrelevanten Entscheidung erfaßt werden.292 Gegenüber der Situation des Fehlens lösungsrelevanter Rechtsprechung zeichnen sie sich andererseits dadurch aus, daß die lösungsrelevante Rechtsprechung Aussagen enthält, die für die Beantwortung der aufgeworfenen Frage verwertbar sind.293 Die Verwertung dieser Aussagen erfordert jedoch die Beurteilung, ob ihr horizontaler Transfer auf das vom nationalen Gericht zu beurteilende Geschehen möglich ist, die ratio(nes) decidendi294 der lösungsrelevanten Rechtsprechung also auf dieses Geschehen übertragen werden kann (können). Die so umgrenzte Fallgruppe umfaßt eine ganz erhebliche Bandbreite von Fällen, da der Umfang des bei der horizontalen Anknüpfung jeweils erforderlichen Transfers sehr stark variieren kann, wie die nachfolgenden Beispiele illustrieren. Ist etwa eine nationale Regelung, nach der das Inverkehrbringen von Brot mit einem Feuchtigkeitsgehalt von mehr als 34%, einem Ascheanteil von weniger als 1,4% oder mit Kleie als Zutat verboten ist, im Hinblick auf ihre Eigenschaft als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung i. S. v. Art. 28 und ihre etwaige Rechtfertigung aus Gründen des Gesundheitsschutzes nach Art. 30 zu beurteilen,295 dann wird horizontal an bestehende Rechtsprechung angeknüpft, wenn die vom EuGH bereits vorgenommene Beurteilung eines nationalen Verbots, Brot mit einem Salzgehalt von mehr als 2% in den Verkehr zu bringen,296 für die Beantwortung der nunmehr aufgeworfenen Frage herangezogen Vgl. zur Abgrenzungsfunktion des Tenors bereits oben Fn. 238. Die bereits vorhandene Rechtsprechung kann daher als (nur) mittelbar lösungsrelevant bezeichnet werden. 294 Nachfolgend wird der Einfachheit halber nur von einer (einzigen) ratio decidendi der lösungsrelevanten Rechtsprechung gesprochen. – Arnull, Interpretation and Precedent, S. 115 (126), weist zutreffend darauf hin, daß wegen des Fehlens einer strikten Bindungswirkung der Entscheidungen des EuGH die Unterscheidung zwischen ratio und dictum im Gemeinschaftsrecht gegenüber der common-law-Methodik erheblich an Gewicht verliert. Der vorliegende Zusammenhang zeigt allerdings, daß sie gleichwohl auch im Gemeinschaftsrecht nicht irrelevant ist. 295 Vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 13. 3. 1997, Rs. C-358 / 95 – Morellato, Slg. 1997, I-1431. 296 Vgl. Urteil vom 14. 7. 1994, Rs. C-17 / 93 – van der Veldt, Slg. 1994, I-3537. Dieselbe (belgische) Regelung war wenige Jahre später völlig überflüssigerweise Gegenstand einer erneuten Vorlage; vgl. Urteil vom 5. 4. 2001, Rs. C-123 / 00 – Bellamy und English Shop Wholesale, Slg. 2001, I-2795. 292 293

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wird. Gleiches gilt für die Übertragung dieser Beurteilung auf nationale Vorschriften, die Anforderungen an die Zusammensetzung anderer Lebensmittel als Brot aufstellen.297 Eine horizontale Anknüpfung liegt auch vor, wenn eine Entscheidung des EuGH, nach der ein nationales Verbot des Inverkehrbringens von anderen Essigarten als Weinessig298 nicht aus Gründen des Verbraucherschutzes zu rechtfertigen ist, weil dieser auch durch eine entsprechende Etikettierung des Essigs gewährleistet werden kann, auf eine nationale Regelung übertragen wird, nach der aus Gründen des Verbraucherschutzes nur Nudeln in den Verkehr gebracht werden dürfen, die ausschließlich aus Hartweizen hergestellt werden.299 Hat der EuGH bereits entschieden, daß es für die Einreihung eines Kleidungsstücks in die Kombinierte Nomenklatur auf dessen objektive Merkmale ankommt und es für die Einreihung als Schlafanzug nicht erforderlich ist, daß das Kleidungsstück ausschließlich zum Tragen im Bett bestimmt ist,300 so wird hieran horizontal angeknüpft, wenn die später aufgeworfene Frage, ob Kleidungsstücke nur dann als Nachthemden eingereiht werden können, wenn sie ausschließlich zum Tragen im Bett bestimmt sind,301 in entsprechender Weise beantwortet wird. Stellt der EuGH fest, daß das vollständige Unterlassen mitgliedstaatlicher Maßnahmen zur Umsetzung einer Richtlinie einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht darstellt, der hinreichend qualifiziert ist, um einen gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruch zu begründen,302 kann hieran horizontal angeknüpft werden, um die Frage zu beantworten, ob auch die nur unvollständige Umsetzung einer Richtlinie als hinreichend qualifizierter Verstoß angesehen werden kann.303 Ebenfalls ein horizontaler Transfer liegt vor, wenn Aussagen einer früheren Entscheidung, nach der eine bestimmte Vorschrift einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie unmittelbar anwendbar ist, da sie inhaltlich als unbedingt und hin297 Vgl. zu derartigen Fällen EuGH, Urteile vom 26. 6. 1980, Rs. 788 / 79 – Gilli und Andres, Slg. 1980, 2071, insbesondere Rn. 7 (2078; italienisches Verbot des Inverkehrbringens anderer Essigarten als Weinessig), und vom 4. 6. 1992, verb. Rs. C-13 / 91 und C-113 / 91 – Debus, Slg. 1992, I-3617, insbesondere Rn. 24 f. (I-3643 f.; italienische Regelung über Maximalgehalt von Schwefeldioxyd in Bier). 298 Vgl. hierzu Urteil vom 9. 12. 1981, Rs. 193 / 80 – Kommission / Italien, Slg. 1981, 3019, Rn. 23 i. V. m. 27 (3035 f.). 299 Vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 14. 7. 1988, Rs. 407 / 85 – 3 Glocken / USL CentroSud, Slg. 1988, 4233, Rn. 16 (4280), und Rs. 90 / 86 – Strafverfahren gegen Zoni, Slg. 1988, 4285, Rn. 16 (4305). 300 So EuGH, Urteil vom 9. 8. 1994, Rs. C-395 / 93 – Neckermann Versand, Slg. 1993, I-4027, insbesondere Rn. 9 (I-4038). 301 Vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 20. 11. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6495, insbesondere Rn. 14 f. (I-6523 f.). GA Jacobs plädierte in seinen Schlußanträgen in dieser Rechtssache (ebd., I-6497 ff.) in brillanter Weise für eine Zurückhaltung des Gerichtshofs bei der Beantwortung derartiger Fragen. 302 So Urteil vom 8. 10. 1996, verb. Rs. C-178 / 94, C-179 / 94, C-188 / 94, C-189 / 94 und C-190 / 94 – Dillenkofer u. a., Slg. 1996, I-4845, Nr. 1 des Tenors. 303 Vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 15. 6. 1999, Rs. C-140 / 97 – Rechberger u. a., Slg. 1999, I-3499, Nr. 3 des Tenors.

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reichend genau erscheint,304 zur Beantwortung der Frage herangezogen werden, ob eine andere Richtlinienbestimmung ebenfalls unmittelbar anwendbar ist.305 Ein weiteres Beispiel ist die Übernahme von Aussagen über den Maßstab, der an die Beurteilung des irreführenden Charakters einer Werbung i. S. v. Art. 2 Nr. 2 der Richtlinie 84 / 450306 oder einer Etikettierung von Lebensmitteln i. S. v. Art. 2 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 79 / 112307 anzulegen ist,308 für die Beurteilung des irreführenden Charakters einer Angabe zur Verkaufsförderung auf Eierpackungen i. S. v. Art. 10 Abs. 2 lit. e der Verordnung 1907 / 90,309 einer Angabe auf dem Etikett von Schaumwein i. S. v. Art. 13 der Verordnung 2333 / 92310 oder einer Bezeichnung kosmetischer Produkte i. S. v. Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 76 / 768.311 Ferner wird horizontal an lösungsrelevante Rechtsprechung angeknüpft, wenn Aussagen des EuGH über die Rechtfertigung nationaler sprachlicher Anforderungen an die Angaben auf eingeführten Erzeugnissen aus Gründen des Verbraucher304 Vgl. aus der unübersehbaren Rechtsprechung hierzu z. B. EuGH, Urteile vom 19. 1. 1982, Rs. 8 / 81 – Becker / Finanzamt Münster-Innenstadt, Slg. 1982, 53 (zu Art. 13 Teil B lit. d Nr. 1 der RL 77 / 388 [ABl. 1977 L 145 / 1]), und vom 26. 2. 1986, Rs. 152 / 84 – Marshall / Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, 723, Rn. 52 ff. (749 f.; zu Art. 5 Abs. 1 der RL 76 / 207 [ABl. 1976 L 39 / 40]). 305 Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 20. 9. 1988, Rs. 31 / 87 – Beentjes / Niederländischer Staat, Slg. 1988, 4635, Rn. 40 ff. (4662 f.; zu Art. 20, 26 und 29 der RL 71 / 305 [ABl. 1971 L 185 / 5]), und vom 24. 9. 1989, Rs. C-76 / 97 – Tögel, Slg. 1998, I-5357, Rn. 42 ff. (I-5404 f.; zu verschiedenen Bestimmungen der RL 92 / 50 [ABl. 1992 L 209 / 1]). 306 Richtlinie 84 / 450 / EWG des Rates vom 10. 9. 1984 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung (ABl. 1984 L 250 / 17). 307 Richtlinie 79 / 112 / EWG des Rates vom 18. 12. 1978 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von für den Endverbraucher bestimmten Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. 1979 L 33 / 1); inzwischen aufgehoben durch Richtlinie 2000 / 13 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. 3. 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. 2000 L 109 / 29). 308 Vgl. im Hinblick auf Werbung EuGH, Urteil vom 16. 1. 1992, Rs. C-373 / 90 – X, Slg. 1992, I-131, Rn. 15 (I-150); im Hinblick auf die Etikettierung von Lebensmitteln EuGH, Urteile vom 12. 12. 1990, Rs. C-241 / 89 – SARPP, Slg. 1990, I-4695, Rn. 18 (I-4720 f.), und vom 9. 2. 1999, Rs. C-383 / 97 – van der Laan, Slg. 1999, I-731, Rn. 40 ff. (I-766). 309 Verordnung (EWG) Nr. 1907 / 90 des Rates vom 26. 6. 1990 über bestimmte Vermarktungsnormen für Eier (ABl. 1990 L 173 / 5). 310 Verordnung (EWG) Nr. 2333 / 92 des Rates vom 13. 7. 1992 zur Festlegung der Grundregeln für die Bezeichnung und Aufmachung von Schaumwein und Schaumwein mit zugesetzter Kohlensäure (ABl. 1992 L 231 / 9). 311 Richtlinie 76 / 768 / EWG des Rates vom 27. 7. 1976 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über kosmetische Mittel (ABl. 1976 L 262 / 169). – Vgl. zur oben im Text angesprochenen Übernahme von Aussagen EuGH, Urteile vom 16. 7. 1998, Rs. C-210 / 96 – Gut Springenheide und Tusky, Slg. 1998, I-4657, insbesondere Rn. 27 – 31 (I-4690 f.), vom 28. 1. 1999, Rs. C-303 / 97 – Sektkellerei Kessler, Slg. 1999, I-513, Rn. 36 (I546 f.), vom 13. 1. 2000, Rs. C-220 / 98 – Estée Lauder, Slg. 2000, I-117, Rn. 28 (I-146), und vom 4. 4. 2000, Rs. C-465 / 98 – Darbo, Slg. 2000, I-2297, Rn. 20 (I-2333 f.).

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schutzes312 auf die Rechtfertigung nationaler sprachlicher Anforderungen an die obligatorischen Warnhinweise auf dem Behältnis und der Verpackung kosmetischer Mittel aus Gründen der Volksgesundheit313 übertragen werden. In die hier behandelte Fallgruppe gehört auch die Übertragung der wettbewerbsrechtlichen Beurteilung des Betriebs öffentlicher Fernmeldeanlagen als Unternehmenstätigkeit314 auf die Frage, ob dieser Betrieb auch unter sozialrechtlichen Gesichtspunkten als Unternehmenstätigkeit anzusehen ist.315 Einen Grenzfall zwischen der horizontalen Anknüpfung an lösungsrelevante Rechtsprechung einerseits und dem Fehlen solcher Rechtsprechung andererseits stellt schließlich die Übertragung von Aussagen des EuGH zu einer Grundfreiheit auf eine andere Grundfreiheit dar.316 In allen genannten Fällen steht das nationale Gericht vor der Frage, ob die in der lösungsrelevanten Rechtsprechung des EuGH enthaltenen Aussagen auf das von ihm zu beurteilende Geschehen übertragbar sind.317 Diese Frage ist zu bejahen, wenn das zu beurteilende Geschehen mit den der lösungsrelevanten Rechtsprechung zugrunde liegenden Sachverhalten so weit vergleichbar ist, daß ein horizontaler Transfer, also die Übertragung der ratio decidendi vorhandener Entscheidungen auf die von dem nationalen Gericht zu lösende Problematik, gerechtfertigt ist.318 Mit einer derartigen Vergleichbarkeitsprüfung sind die Gerichte sämtlicher Rechtsordnungen vertraut. Für vom common law geprägte Rechtsordnungen versteht sich dies von selbst. Aber auch in Rechtssystemen, die auf kodifiziertem Recht basieren, ist der Fallvergleich ein übliches Mittel der Entscheidungsfindung.319 Die Unterschiede zwischen beiden Denkweisen sind im vorliegenden Zusammenhang nicht von Bedeutung: Stets wird die Vergleichbarkeit danach beur312 Vgl. hierzu Urteil vom 3. 6. 1999, Rs. C-33 / 97 – Colim, Slg. 1999, I-3175, Rn. 40 ff. (I-3215 f.). 313 Vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 13. 9. 2001, Rs. C-169 / 99 – Schwarzkopf, Slg. 2001, I-5901 Rn. 40 (I-5939). 314 Vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 20. 3. 1985, Rs. 41 / 83 – Italien / Kommission, Slg. 1985, 873, Rn. 18 (885). 315 Vgl. EuGH, Urteil vom 14. 9. 2000, Rs. C-343 / 98 – Collino und Chiappero, Slg. 2000, I-6659, Rn. 33 (I-6702 f.). 316 Vgl. zu einem solchen Fall EuGH, Urteil vom 10. 5. 1995, Rs. C-384 / 93 – Alpine Investments, Slg. 1995, I-1141, Rn. 33 (I-1176 f.; Vorschlag einiger Verfahrensbeteiligter, die Rechtsprechung zum Ausschluß von Verkaufsmodalitäten aus dem Anwendungsbereich von Art. 28 [vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 24. 11. 1993, verb. Rs. C-267 / 91 und C-268 / 91 – Keck und Mithouard, Slg. 1993, I-6097] auf die Dienstleistungsfreiheit zu übertragen). 317 In seltenen Fällen wird diese Frage vom EuGH gewissermaßen vorsorglich beantwortet, indem er in einer Entscheidung auf deren Übertragbarkeit auf andere Normtexte bzw. Sachverhaltskonstellationen hinweist; vgl. etwa Urteil vom 20. 3. 2003, Rs. C-291 / 00 – LTJ Diffusion, Slg. 2002, I-2799, Rn. 43 (I-2831). 318 Die Rolle des Sachverhalts bei der Bestimmung der ratio decidendi betonen Cross / Harris, Precedent, S. 43 ff.; Langenbucher, Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, S. 78 ff. 319 Vgl. zum Falldenken im Zusammenhang mit Gesetzesrecht Vogel, Methodik, S. 143 ff.; zum Umgang mit Richterrecht ebd., S. 160 ff.

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teilt, ob die betreffenden Sachverhalte in den rechtlich erheblichen Aspekten übereinstimmen.320 Dabei kommt vor allem den mit dem zu interpretierenden Normtext (bzw. in richterrechtlich geprägten Rechtsordnungen: mit der in der gerichtlichen Entscheidung enthaltenen Regel) verfolgten Ziele besondere Bedeutung zu.321 Die Technik der Vergleichbarkeitsprüfung als solche ist den nationalen Gerichten demnach durchaus vertraut. Ihre Aufgabe bei der Beantwortung von Übertragungsfragen besteht darin, diese Technik auf gemeinschaftsrechtliche Normtexte und auf Entscheidungen des EuGH anzuwenden, also insbesondere die mit diesen verfolgten Ziele als Vergleichsmaßstab herauszuarbeiten und anhand dieses Maßstabs das zu beurteilende Geschehen mit den der lösungsrelevanten Rechtsprechung zugrunde liegenden Sachverhalten zu vergleichen. Diese Aufgabe wird ihnen erheblich erleichtert, wenn der EuGH die grundlegenden Erwägungen seiner Rechtsprechung deutlich herausstellt.322 Gleichwohl liegt auf der Hand, daß die aufgezeigte Bandbreite horizontal an lösungsrelevante Rechtsprechung anknüpfender Fragen offensichtlich in einem erheblichen Umfang auch Fälle erfaßt, in denen die selbständige Beantwortung der aufgeworfenen Frage durch die nationalen Gerichte eine erhebliche Rechtsprechungsdivergenz in der Gemeinschaft verursachen kann. Daher sind anhand zusätzlicher Kriterien diejenigen Fragen einzugrenzen, deren Beantwortung auch im Falle des Verzichts auf eine Vorlage allenfalls zu geringfügigen Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts führt. Diese zusätzlichen Kriterien setzen an dem zu interpretierenden Normtext, der lösungsrelevanten Rechtsprechung und der vorzunehmenden Vergleichbarkeitsprüfung an. Im Hinblick auf den zu interpretierenden Normtext ist zu fordern, daß die aufgeworfene Frage und die lösungsrelevante Rechtsprechung denselben Normtext323 oder zumindest inhaltlich 320 Daher wird auch die Übertragung gerichtlicher Entscheidungsbegründungen auf ähnliche Sachverhalte teilweise als Analogie bezeichnet; vgl. EuGH, Urteil vom 18. 6. 2002, Rs. C-92 / 00 – HI, Slg. 2002, I-5553, Rn. 67 (I-5599); Cross / Harris, Precedent, S. 192; Langenbucher, Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, S. 94 f.; ferner Zippelius, JZ 1999, 112 (116). 321 Vgl. zu den Gesichtspunkten, die für den Fallvergleich im Hinblick auf Richterrecht maßgeblich sind, Cross / Harris, Precedent, S. 192 ff.; Langenbucher, Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, S. 93 ff.; Vogel, Methodik, S. 165 f.; zu den für die Vergleichbarkeit im Rahmen der Analogie erheblichen Gesichtspunkten Bydlinski, Methodenlehre, S. 475 f.; Kramer, Methodenlehre, S. 148 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 381 f. 322 So etwa EuGH, Urteil vom 13. 9. 2001, Rs. C-89 / 99 – Schieving-Nijstad, Slg. 2001, I-5851, Rn. 28 ff. (I-5886 ff.; dazu Groh, EuZW 2001, 662); ferner Urteile vom 15. 6. 2000, verb. Rs. C-418 / 97 und C-419 / 97 – ARCO Chemie Nederland u. a., Slg. 2000, I-4475, Rn. 34 ff. (I-4529 f.), und vom 23. 4. 2002, Rs. C-143 / 00 – Boehringer Ingelheim, Slg. 2002, I-3759, Rn. 10 ff. (I-3772 ff.). 323 So in den beispielhaft genannten Fällen, in denen Art. 28 und 30 im Hinblick auf nationale Regelungen über das Verbot von Zusatzstoffen in Lebensmitteln ausgelegt wurden. – Bei Normtexten, die in tabellarischer Weise verwaltungstypische Festlegungen enthalten, ist dieses Kriterium großzügig zu handhaben. Dies gilt insbesondere für den Gemeinsamen Zolltarif bzw. die Kombinierte Nomenklatur.

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übereinstimmende Normtexte betreffen. Eine inhaltliche Übereinstimmung liegt insbesondere vor, wenn ein Normtext durch eine inhaltlich gleiche Nachfolgeregelung ersetzt wurde.324 Sie ist jedoch auch anzunehmen, wenn sich die lösungsrelevante Rechtsprechung und die aufgeworfene Auslegungsfrage zwar auf denselben Ausdruck beziehen, dieser aber in verschiedenen Rechtsakten enthalten ist; hier ist allerdings zusätzlich zu fordern, daß beide Rechtsakte denselben Sachbereich betreffen und vergleichbare Zielsetzungen verfolgen.325 Hinsichtlich der lösungsrelevanten Rechtsprechung ist als zusätzliches Kriterium zu verlangen, daß sie gefestigt ist. Dies gewährleistet zum einen, daß die Wahrscheinlichkeit einer Rechtsprechungsänderung sehr gering ist und das nationale Gericht daher die in den lösungsrelevanten Entscheidungen enthaltenen Aussagen als verläßlichen Maßstab für die Beantwortung der bei ihm aufgeworfenen Frage heranziehen kann. Zum anderen ist mit der Festigung der Rechtsprechung eine gewisse Ausdifferenzierung verbunden. Die Rechtsprechung enthält somit präzisere Vorgaben als der zu interpretierende Normtext,326 was die Gefahr abweichender Beurteilungen reduziert.327 An die für die Beurteilung der Übertragbarkeit der ratio decidendi erforderliche Vergleichbarkeitsprüfung ist schließlich die zusätzliche Anforderung zu stellen, daß sie zu einem nicht ernsthaft zu bezweifelnden Ergebnis führt.328 Dies schließt die Annahme einer lediglich geringfügigen Beeinträchtigung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts in Fällen aus, in denen die Übertragbarkeit der ratio decidendi der lösungsrelevanten Rechtsprechung auf das zu beurteilende Geschehen mit guten Gründen auch abgelehnt werden könnte. 324 Beispielhaft sei verwiesen auf die Ersetzung der RL 77 / 187 durch die RL 2001 / 23 (Fundstellen oben Fn. 239) oder die der RL 79 / 112 durch die RL 2000 / 13 (Fundstellen oben Fn. 307). Soweit dabei die einzelnen Vorschriften in der Nachfolgeregelung gegenüber der ursprünglichen Regelung nicht geändert wurden, liegt inhaltliche Übereinstimmung vor. 325 Diese Voraussetzung ist z. B. erfüllt, wenn verschiedene verbraucherschützende Vorschriften den Ausdruck ,Irreführung‘ enthalten (vgl. z. B. Art. 2 Abs. 1 lit. a der RL 79 / 112 [ABl. 1979 L 33 / 1], Art. 10 Abs. 2 lit. e der VO 1907 / 90 [ABl. 1990 L 173 / 5] und Art. 13 der VO 2333 / 92 [ABl. 1992 L 231 / 9]), nicht aber dann, wenn Art. 81 Abs. 1 als wettbewerbsrechtliche Regelung und Art 1 Abs. 1 der RL 77 / 187 (ABl. 1977 L 61 / 26) als sozialpolitische Vorschrift den Ausdruck ,Unternehmen‘ verwenden. 326 Vgl. hierzu Langenbucher, Entwicklung und Auslegung von Richterrecht, S. 81. Sie bezeichnet die ratio decidendi einer Rechtsprechungsreihe daher als verallgemeinerungsfähige Regel mittlerer Abstraktionshöhe. 327 Dies gilt allerdings nur bis zu einem bestimmten Grad an Detailliertheit; eine zu sehr einzelfallorientierte Rechtsprechung führt im Gegenteil wieder zu größerer Rechtsunsicherheit. Vgl. zu dieser Gefahr bereits oben C. I. 1. a) (2). 328 Ein nicht ernsthaft bezweifelbares Ergebnis kann auch dann vorliegen, wenn das zu beurteilende Geschehen im Hinblick auf die mit dem zu interpretierenden Normtext verfolgten Ziele unzweifelhaft nicht mit den Sachverhalten zu vergleichen ist, die der lösungsrelevanten Rechtsprechung zugrunde liegen. In einem solchen Fall ist jedoch ein Umkehrschluß nicht stets zulässig, da die Verneinung der Übertragbarkeit der ratio decidendi nicht zwingend bedeutet, daß das Geschehen anders zu beurteilen ist. Ist ein Umkehrschluß nicht zulässig und kommt auch die Übertragung der rationes decidendi anderer Entscheidungen nicht in Betracht, ist vom Fehlen lösungsrelevanter Rechtsprechung auszugehen.

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Für die Beantwortung von Übertragungsfragen besteht daher im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts kein Auslegungsbedürfnis, wenn eine gefestigte Rechtsprechung zu dem zu interpretierenden oder einem inhaltlich mit diesem übereinstimmenden Normtext besteht, deren ratio decidendi in nicht ernsthaft zu bezweifelnder Weise auf das vom nationalen Gericht zu beurteilende Geschehen übertragen werden kann.

b) Ausnahme: Abweichung von lösungsrelevanter Rechtsprechung Will ein nationales Gericht von lösungsrelevanter Rechtsprechung des EuGH abweichen, beeinträchtigt der Verzicht auf eine Vorlage die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zwingend. Die Beeinträchtigung wiegt in diesem Fall besonders schwer, weil die durch die lösungsrelevante Rechtsprechung bereits abgesicherte Einheitlichkeit wieder in Frage gestellt wird. Zudem führt eine Abweichung ohne vorherige Vorlage an den EuGH zu einer Konfrontation der nationalen Gerichtsbarkeit mit dem EuGH, die das gerade für den Erfolg des Vorabentscheidungsverfahrens notwendige gegenseitige Vertrauen unterminiert.329 Sie ist daher insoweit die denkbar gravierendste Beeinträchtigung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts.330 Dementsprechend kommt dem Ziel der Einheitlichkeitswahrung hier besonders großes Gewicht zu, so daß es sich gegen die Vorgaben, die gegen eine Vorlage sprechen, vollumfänglich durchsetzen kann. Im Falle des beabsichtigten Abweichens von lösungsrelevanter Rechtsprechung des EuGH besteht daher stets ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis.

329 Die dem gegenseitigen Vertrauen angemessene Vorgehensweise ist in diesem Fall eine Vorlage an den EuGH: Es steht den nationalen Gerichten jederzeit frei, den EuGH erneut mit einer Vorlagefrage zu befassen und ihn dabei auf etwaige Bedenken gegen seine bisherige Rechtsprechung aufmerksam zu machen; vgl. etwa EuGH, Urteil vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 15 (3430). Zu Beispielen für ein solches Vorgehen EuGH, Urteile vom 17. 10. 1990, Rs. C-10 / 89 – HAG GF, Slg. 1990, I-3711, insbesondere Rn. 10 (I-3757), vom 21. 11. 1991, Rs. C-269 / 90 – Technische Universität München, Slg. 1991, I-5469, insbesondere Rn. 9 (I-5498), und vom 25. 10. 2001, Rs. C-189 / 00 – Ruhr, Slg. 2001, I-8225. 330 Daher spricht viel dafür, auch für unterinstanzliche Gerichte eine Vorlagepflicht anzunehmen, wenn sie von der Rechtsprechung des EuGH abweichen wollen. Vgl. zu dieser kontrovers diskutierten Frage CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 34; Joliet, Riv. Dir. Eur. 1991, 591 (606 f.); Schima, Wirkungen von Auslegungsentscheidungen, S. 280 (306 ff.); Schwarze / Schwarze, Art. 234 EGV, Rn. 66. – Für Gerichte im Vereinigten Königreich besteht eine solche Vorlagepflicht aufgrund nationalen Rechts (section 3 [1] des European Communities Act 1972); vgl. Arnull, Interpretation and Precedent, S. 115 (136); Hartley, Foundations, S. 292.

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2. Fehlen lösungsrelevanter Rechtsprechung des EuGH Sofern das nationale Gericht mit einer Auslegungsfrage konfrontiert ist, zu der keine im obigen Sinne lösungsrelevante Rechtsprechung des EuGH vorliegt, führt der Verzicht auf eine Vorlage an den EuGH gleichwohl unter bestimmten Voraussetzungen nur zu geringfügigen Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts. Dies ist der Fall, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage unter bestimmten Voraussetzungen zweifelsfrei zu beantworten ist, wenn sie lediglich für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite relevant ist oder wenn sie sich auf unverbindliche Handlungsformen bezieht.

a) Zweifelsfrei zu beantwortende Auslegungsfrage Eine aufgeworfene Auslegungsfrage ist nicht schon dann zweifelsfrei zu beantworten, wenn die Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes semantisch „eindeutig“ oder „klar“ ist. Dies folgt schon daraus, daß es eine abstrakte sprachliche Eindeutigkeit grundsätzlich nicht gibt.331 Voraussetzung der Annahme einer zweifelsfrei zu gebenden Antwort ist daher die Berücksichtigung sämtlicher relevanter Kontexte, zu denen bei der juristischen Interpretation grundsätzlich auch der Geschehenskontext gehört.332 Die Zweifelsfreiheit kann daher nur im Hinblick auf das jeweils zu beurteilende Geschehen festgestellt werden. Nichts anderes verbirgt sich hinter der Aussage des EuGH, die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts könne derart offenkundig sein, daß keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibe333: Durch das Abstellen auf die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts, also dessen Wirkungen in einem konkreten Sachverhalt, macht der EuGH deutlich, daß sich die Beurteilung der Offenkundigkeit bzw. Zweifelsfreiheit nicht auf eine vom zu beurteilenden Geschehen abstrahierende Normtextinterpretation beschränken kann. Zudem hält er für die Annahme der Offenkundigkeit richtiger Anwendung des Gemeinschaftsrechts unter anderem eine Auslegung des Normtextes in seinem Zusammenhang und im Lichte der Ziele des Gemeinschaftsrechts für erforderlich, läßt also den bloßen Rückgriff auf die gewöhnliche Bedeutung des Normtextes gerade nicht ausreichen.334 331 Vgl. ausführlich zur prinzipiellen Unschärfe semantischer Konventionen und der damit zusammenhängenden Kontextabhängigkeit von Bedeutung unten § 6 A. 332 Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Interpretation Grundlage einer verbindlichen Entscheidung ist; vgl. hierzu näher unten § 6 A. 333 Urteil vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 16 (3430). 334 EuGH (vorige Fn.), Rn. 20 (3430). Dies übersieht Hahn, ZfRV 2003, 163 (165), nach dessen Ansicht der EuGH die Maxime in claris non fit interpretatio (im Sinne eines Verbots weiterer Interpretation im Falle der sprachlichen Eindeutigkeit des Normtextes) anerkannt hat. – Zur Kritik dieser Maxime ausführlich unten § 7 A. I. 2. a.

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Die vom EuGH insoweit im einzelnen gestellten Anforderungen sind allerdings äußerst streng. Ein innerstaatliches Gericht darf demnach die Offenkundigkeit der richtigen Anwendung des Gemeinschaftsrechts nur dann annehmen, wenn nach seiner Überzeugung auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH selbst die gleiche Gewißheit bestünde.335 Dabei sind die Eigenheiten des Gemeinschaftsrechts und die besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung zu berücksichtigen, die der EuGH in drei Kriterien faßt336: Zunächst ist der Mehrsprachenauthentizität gemeinschaftsrechtlicher Normtexte Rechnung zu tragen; dies macht einen Vergleich sämtlicher Sprachfassungen erforderlich. Sodann ist die Autonomie der gemeinschaftsrechtlichen Terminologie zu beachten: Rechtsbegriffe im Gemeinschaftsrecht und in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen haben nicht unbedingt den gleichen Gehalt. Schließlich ist jeder gemeinschaftsrechtliche Normtext in seinem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Anwendung des betreffenden Normtextes auszulegen. Bereits die erste vom EuGH aufgestellte Voraussetzung – die Überzeugung des nationalen Gerichts, daß sowohl für den EuGH selbst als auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten die gleiche Gewißheit der Offenkundigkeit bestünde – ist von vornherein unerfüllbar. Es besteht allerdings heute noch weniger als vor 20 Jahren Anlaß, die einschlägige Rechtsprechung des EuGH dahingehend zu verstehen, daß auch in Fällen des Fehlens lösungsrelevanter Rechtsprechung Ausnahmen von der Vorlagepflicht kategorisch ausgeschlossen werden sollten.337 Bei der Entwicklung einer praktisch handhabbaren Lösung kann die genannte Voraussetzung daher nicht aufrechterhalten werden.338 Erwartungsgemäß scheitert die Annahme der Offenkundigkeit bzw. Zweifelsfreiheit in der Praxis zudem an der Erfüllung der (vermeintlichen) Forderung nach einem Vergleich sämtlicher Sprachfassungen. Versteht man diese Forderung wörtlich, kann kein nationales Gericht die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts jemals für offenkundig halten.339 Für diese faktische Marginalisierung des Offenkundigkeitskriteriums besteht jedoch kein Anlaß. GA Jacobs hat überzeugend dargelegt, daß der Hinweis des EuGH auf die Notwendigkeit des Vergleichs Ebd., Rn. 16 (3430). Ebd., Rn. 17 ff. (3430). 337 In diese Richtung allerdings Lieber, Vorlagepflicht, S. 115; ähnlich Bebr, CMLR 1983, 439 (466 und 470 f.); Vandersanden, Mélanges Waelbroeck, S. 619 (638). 338 Von den nationalen Gerichten wird sie ohnehin nicht beachtet. Dies allein ist zwar kein hinreichender Grund, auf sie zu verzichten, aber zumindest ein Indiz für ihre Unerfüllbarkeit, da die Gerichte der Mitgliedstaaten kaum unter den Generalverdacht der Renitenz gestellt werden können. 339 Ebenso Ahlt, Verhältnis zwischen nationaler und EuGH-Rechtsprechung, S. 33 (37), und Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 326; in diese Richtung auch Ehricke, Bindungswirkung, S. 17; Hartley, Foundations, S. 284; Heß, ZZP 1995, 59 (81); Markwardt, Rolle des EuGH, S. 226. 335 336

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sämtlicher Sprachfassungen nicht als strikte Forderung an die nationalen Gerichte, sondern als Warnung vor einer zu wörtlichen Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufzufassen ist.340 Gleichwohl kann gerade im Falle des Fehlens lösungsrelevanter Rechtsprechung auf einen Sprachfassungsvergleich nicht völlig verzichtet werden, da ansonsten Divergenzen zwischen den einzelnen sprachlichen Fassungen des zu interpretierenden Normtextes überhaupt nicht erkannt werden könnten. Soll die Forderung nach einem Vergleich mehrerer Sprachfassungen des zu interpretierenden Normtextes aufrechterhalten werden, ohne an die nationalen Gerichte von vornherein unerfüllbare Anforderungen zu stellen, bietet es sich an, als Voraussetzung für die Annahme einer zweifelsfrei zu gebenden Antwort den Vergleich der Sprachfassung in der Arbeitssprache des nationalen Gerichts mit zwei anderen Sprachfassungen zu verlangen, die zwei andere Rechtskreise341 repräsentieren.342 Soweit dieser Vergleich eine Divergenz zwischen den Sprachfassungen ergibt, ist die Antwort auf die aufgeworfene Auslegungsfrage nicht mehr zweifelsfrei zu geben.343 Weichen die verglichenen Sprachfassungen demgegenüber nicht erkennbar voneinander ab, folgt aus diesem Umstand allein noch nicht, daß die aufgeworfene Frage zweifelsfrei beantwortet werden könnte. Vielmehr ist darüber hinaus zu fordern, daß die vom nationalen Gericht angenommene Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes im Hinblick auf das konkret zu beurteilende Geschehen sowohl vom relevanten Sprachgebrauch344 getragen wird als auch durch Erwägungen der Systematik und insbesondere des mit dem Normtext verfolgten Ziels gestützt werden kann. Ist dies der Fall, sprechen neben dem Sprachgebrauch die in der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsmethodik gewichtigsten Argumente für die angenommene Bedeutung, die somit von anderen Interpretationsargumenten nicht mehr in Frage gestellt werden kann.345 Demnach ist eine Ausle340 Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 65 (I-6516 f.); Jacobs, Studi Capotorti, S. 175 (189); ähnlich GA Tizzano, Schlußanträge vom 21. 2. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4841, Rn. 75 (I-4868 f.). 341 Buck, Auslegungsmethoden, S. 90 f., unterscheidet zwischen dem mitteleuropäischen, dem romanischen und dem angelsächsischen Rechtskreis; auch der skandinavische Raum dürfte jedoch einen eigenständigen Rechtskreis bilden. Vgl. zu anderen Differenzierungen Buck, ebd. 342 Deutsche Gerichte ziehen, sofern sie einen Sprachfassungsvergleich vornehmen, häufig die französische und englische Fassung heran; vgl. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 329. Insoweit – nicht jedoch im Hinblick auf die Häufigkeit eines Sprachfassungsvergleichs (vgl. zu dieser Schübel-Pfister, ebd., S. 327 ff.) – entspricht die Praxis demnach teilweise schon jetzt den obengenannten Anforderungen. 343 Ebenso z. B. Armbrüster, EuZW 1990, 246 (247). Gleiches gilt selbstverständlich dann, wenn das Gericht von einer Partei des Ausgangsrechtsstreits einen glaubhaften Hinweis darauf erhält, daß eine nicht in den Sprachfassungsvergleich einbezogene sprachliche Version von den verglichenen Fassungen abweicht. – Im Fall von Divergenzen zwischen verschiedenen Sprachfassungen ist das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis auch unter dem Gesichtspunkt der Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu bejahen; vgl. unten C. II. 1. a) (1). 344 Näher zum relevanten Sprachgebrauch unten § 7 A. I. 1. a).

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gungsfrage zweifelsfrei zu beantworten, wenn insgesamt drei vom nationalen Gericht verglichene Sprachfassungen des zu interpretierenden Normtextes, die drei verschiedene Rechtskreise repräsentieren, untereinander nicht erkennbar divergieren und wenn die angenommene Normtextbedeutung im Hinblick auf das zu beurteilende Geschehen sowohl durch den relevanten Sprachgebrauch als auch von Erwägungen der Systematik und des mit dem Normtext verfolgten Ziels gestützt wird. Diese Anforderungen an die Zweifelsfreiheit der zu gebenden Antwort tragen der Funktion der nationalen Gerichte als erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte insoweit Rechnung, als sie von diesen nichts Unmögliches verlangen und daher die Annahme einer zweifelsfreien Antwort nicht von vornherein ausschließen. Die grundsätzliche Befugnis der nationalen Gerichte zur Interpretation des Gemeinschaftsrechts, die sich gerade für zweifelsfrei zu gebende Antworten aufdrängt, wird also weitgehend gewahrt. Zudem wird verhindert, daß der EuGH mit Auslegungsfragen befaßt wird, die ohne ernstlichen Zweifel beantwortet werden können, wodurch auch das Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer hinreichend berücksichtigt wird. Gleichzeitig wird die Verwirklichung des Ziels der Einheitlichkeitswahrung dadurch gewährleistet, daß an den Sprachfassungsvergleich relativ hohe Anforderungen gestellt werden. Der Vergleich dreier Sprachfassungen, die drei unterschiedliche Rechtskreise repräsentieren, ist ein verhältnismäßig effektives Divergenzfindungsraster, das die Gefahr des Übersehens von Abweichungen zwischen den Sprachfassungen erheblich reduziert. Etwaige gleichwohl übersehene Divergenzen bleiben in aller Regel nicht auf Dauer unentdeckt, da verschiedene Gerichte, insbesondere solche verschiedener Mitgliedstaaten, nicht stets dieselben Fassungen miteinander vergleichen werden.346 Hierdurch hervorgerufene Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts sind demnach nur temporärer Natur und dürften in ihrem Ausmaß nicht über die Auswirkungen hinausgehen, die beispielsweise die vom EuGH anerkannte Ausnahme von der Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte in summarischen Verfahren347 auf

345 Ausführlich zu den in der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsmethodik anzuerkennenden Argumenten und ihrer jeweiligen Überzeugungskraft unten § 7 A. 346 Daher schlägt im Ergebnis der denkbare Einwand gegen die hier aufgestellten Anforderungen nicht durch, diese machten die Auslegungsbefugnis des EuGH von dem zufälligen Umstand abhängig, welche Sprachfassungen im konkreten Fall miteinander verglichen würden: Divergieren die drei von einem nationalen Gericht verglichenen Sprachfassungen untereinander nicht (und liegen auch die sonstigen Anforderungen an die Zweifelsfreiheit vor), folgt daraus zwar die Verneinung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses (im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts) für diese konkrete Situation. Deckt ein anderes nationales Gericht aufgrund eines Vergleichs anderer sprachlicher Versionen eine zwischen diesen bestehende Divergenz auf, liegt insoweit das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis selbstverständlich vor. 347 Vgl. hierzu Urteile vom 24. 5. 1977, Rs. 107 / 76 – Hoffmann-La Roche / Centrafarm, Slg. 1977, 957, und vom 27. 10. 1982, verb. Rs. 35 und 36 / 82 – Morson und Jhanjan / Niederländischer Staat, Slg. 1982, 3723.

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die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts hat.348 Hinzu kommt, daß die Auswirkungen etwa übersehener Divergenzen durch die besondere Betonung der auf die Systematik und die Teleologie gestützten Interpretationsargumente zusätzlich reduziert werden, da gerade diesen beiden Argumenten im Falle voneinander abweichender Sprachfassungen die Schlüsselrolle für die Bedeutungsbestimmung zukommt.349 Schließlich ist es aufgrund der Forderung, daß die Interpretationsargumente gerade im Hinblick auf das im Ausgangsrechtsstreit zu beurteilende Geschehen übereinstimmen müssen, sehr unwahrscheinlich, daß andere Gerichte dieselbe Frage in vergleichbaren Fällen deutlich anders beantworten. Die gleichwohl auftretenden Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts können daher wegen der geringen Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens und ihrer regelmäßig nur vorübergehenden Natur grundsätzlich als nur geringfügig angesehen werden. Ausnahmsweise sind sie jedoch erheblich, wenn sie Bestimmungen des EGV350 betreffen und – was hier per definitionem der Fall ist – noch keinerlei lösungsrelevante Rechtsprechung des EuGH vorhanden ist, die bereits gewisse Vorgaben für das Verständnis des zu interpretierenden Normtextes enthält: Der EGV ist die Verfassungsurkunde der Gemeinschaft351 und bildet deren Fundament. Divergenzen in der Interpretation seiner Bestimmungen sind für die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts vor allem deshalb besonders gefährlich, weil sie auf dieses Recht in seiner Gesamtheit ausstrahlen und somit zwangsläufig ein erhebliches Ausmaß erreichen. Ist eine Auslegungsfrage im dargestellten Sinne zweifelsfrei zu beantworten, besteht demnach im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts kein Auslegungsbedürfnis, sofern die aufgeworfene Frage nicht den EGV betrifft. b) Relevanz der Auslegungsfrage nur für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite Die Relevanz einer Auslegungsfrage nur für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite kann geschehens- oder normtextbedingt sein. 348 Indem der EuGH die bloße Möglichkeit der anschließenden Durchführung eines Hauptsacheverfahrens für den Entfall der Vorlagepflicht ausreichen läßt, nimmt er hin, daß in Rechtsgebieten, in denen diese Möglichkeit grundsätzlich nicht genutzt wird, zahlreiche divergierende Entscheidungen in Rechtskraft erwachsen; vgl. hierzu bereits oben B. III. 349 EuGH, Urteile vom 7. 12. 1995, Rs. C-449 / 93 – Rockfon, Slg. 1995, I-4291, Rn. 28 (I-4317), vom 24. 10. 1996, Rs. C-72 / 95 – Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, I-5403, Rn. 28 (I-5443), und vom 17. 12. 1998, Rs. C-236 / 97 – Codan, Slg. 1998, I-8679, Rn. 25 (I-8697); zur letzten Entscheidung Luttermann, EuZW 1999, 401. 350 Das ungeschriebene Primärrecht spielt im obigen Zusammenhang keine Rolle, da es vom EuGH entwickelt wurde, so daß zu ihm notwendigerweise lösungsrelevante Rechtsprechung vorhanden ist. 351 Vgl. zur Eigenschaft des EGV als Verfassungsurkunde der Gemeinschaft EuGH, Urteil vom 23. 4. 1986, Rs. 294 / 83 – Les Verts / Parlament, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (1365), und Gutachten 1 / 91 vom 14. 12. 1992 – EWR [I], Slg. 1991, I-6079, Rn. 21 (I-6102). – Ähnlich auch BVerfGE 22, 293 (296).

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Geschehensbedingt hat eine Auslegungsfrage eine in diesem Sinne beschränkte Relevanz, wenn dem Ausgangsrechtsstreit ein einzigartiger, singulärer Sachverhalt zugrunde liegt, dessen Wiederholung völlig unwahrscheinlich ist.352 Das erneute Auftreten einer vergleichbaren Situation kann in solchen Fällen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden,353 so daß es bereits an der Bedingung der Möglichkeit etwaiger Divergenzen fehlt, nämlich an der wiederholten Beurteilung vergleichbarer Sachverhalte. Beispielhaft sei auf den der Rechtssache Bluhme zugrunde liegenden Sachverhalt verwiesen.354 Das vorlegende Gericht stand vor der Frage, inwieweit das räumlich eng begrenzte Verbot des Haltens von Bienen, die nicht zu einer bestimmten Art gehören, mit Art. 28 und 30 vereinbar ist. Die Frage betraf eine dänische Regelung, aufgrund derer auf der lediglich 114 km2 großen Insel Læsø das Halten und damit auch die Einfuhr von Bienen einer anderen Art als apis mellifera mellifera (braune Læsø-Biene) verboten war, um Kreuzungen mit eingeführten Bienen anderer Arten und damit letztlich das Aussterben der braunen Læsø-Biene zu verhindern. Unabhängig davon, ob diese Art überhaupt noch in anderen Mitgliedstaaten vorkommt, ist es jedenfalls extrem unwahrscheinlich, daß auf anderen Inseln355 ebenfalls reinrassige Vorkommen der braunen Læsø-Biene existieren und zu deren Schutz eine vergleichbare Regelung wie die dänische erlassen wurde. Die vom EuGH gegebene Antwort, daß eine nationale Regelung, wonach auf einer Insel wie Læsø keine anderen Bienen als solche der Unterart der braunen Læsø-Biene gehalten werden dürfen, zwar eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung i. S. v. Art. 28, diese aber gerechtfertigt sei, hat daher über den Ausgangsrechtsstreit hinaus keine Relevanz.356 Sie ist somit unter dem Gesichtspunkt der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts bedeutungslos. Ein weiteres Beispiel einer nur einen vereinzelten Sachverhalt betreffenden Entscheidung ist die Rechtssache Clinique.357 In ihr be352 GA Jacobs, Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 50 (I-6512), weist zutreffend darauf hin, daß es gewöhnlich offensichtlich sein wird, ob eine Frage allgemeine, über den konkreten Fall hinausgehende Bedeutung hat. Kritisch hierzu jedoch Vandersanden, Mélanges Boulouis, S. 619 (636 f.). 353 Selbstverständlich kann niemals mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden, daß sich selbst höchst unwahrscheinliche Geschehensabläufe wiederholen. Diese bloß hypothetische Möglichkeit reicht jedoch nicht aus, um das Vorliegen des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses zu bejahen. 354 Vgl. EuGH, Urteil vom 3. 12. 1998, Rs. C-67 / 97 – Bluhme, Slg. 1998, I-8033. Im vorliegenden Zusammenhang kommt es lediglich auf den Sachverhalt in dieser Rechtssache an; dessen rechtliche Beurteilung hätte wohl auch aus früherer Rechtsprechung des EuGH abgeleitet werden können, so daß die in diesem Fall aufgeworfene Frage insoweit als Übertragungsfrage anzusehen ist. 355 Auf dem Festland ist eine räumliche Abgrenzung gegenüber anderen Bienenarten kaum möglich und daher ein reinrassiges Vorkommen seltener Arten praktisch ausgeschlossen. 356 Anders hätte dies möglicherweise dann sein können, wenn der EuGH eine erheblich allgemeinere Antwort gegeben hätte, die dann allerdings weit über die – ohnehin in absurder Weise detaillierte – Vorlagefrage hinausgegangen wäre. 357 Urteil vom 2. 2. 1994, Rs. C-315 / 92 – Verband Sozialer Wettbewerb [„Clinique“], Slg. 1994, I-317.

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faßte sich der EuGH mit der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit einer nationalen Maßnahme, die die Einfuhr und den Vertrieb kosmetischer Produkte unter der Bezeichnung „Clinique“ mit der Begründung verbot, die Verbraucher könnten durch diese Bezeichnung irregeführt werden, da sie eine medizinische Wirkung suggeriere. Der EuGH entschied, daß das Gemeinschaftsrecht einer nationalen Maßnahme entgegenstehe, die die Einfuhr und den Vertrieb eines als kosmetisches Mittel eingestuften und aufgemachten Erzeugnisses mit der Begründung verbiete, daß dieses Erzeugnis die Bezeichnung „Clinique“ trage. Da die entsprechenden Erzeugnisse in den anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig und offensichtlich ohne Irreführung der Verbraucher vertrieben wurden, worauf das nationale Gericht bereits in seiner Vorlagefrage hingewiesen hatte,358 beschränkt sich auch in diesem Fall die Relevanz der Vorabentscheidung nur auf den Ausgangsrechtsstreit.359 Eine normtextbedingte Relevanz der Auslegungsfrage nur für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite liegt vor, wenn die Frage einen Normtext betrifft, der in aller Regel nur einmal Gegenstand eines Ausgangsrechtsstreits werden kann. Als ein solcher Normtext kommt vor allem die Entscheidung i. S. v. Art. 249 Abs. 4 in Betracht. Entscheidungen regeln zwar nicht unter allen Umständen nur einzelne Sachverhalte, sondern können auch abstrakte oder generelle Inhalte haben.360 Sofern sie jedoch lediglich einen einzelnen Sachverhalt und nur eine einzelne (natürliche oder privatrechtliche juristische) Person betreffen,361 ist ihre Auslegung grundsätzlich nur für einen einzigen Ausgangsrechtsstreit relevant. Dies gilt insbesondere für Entscheidungen nach Art. 88 Abs. 2, mit denen die Kommission eine einem einzelnen Unternehmen gewährte Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt362: Hier spielt die Auslegung der Entscheidung, sofern diese Ebd., Rn. 21 (I-337). Auch GA Gulmann wies in seinen Schlußanträgen vom 29. 9. 1993 in dieser Rechtssache, Slg. 1994, I-319, Rn. 9 (I-321 f.), kritisch darauf hin, daß es in ihr lediglich um die Anwendung nationaler Vorschriften auf einen einzelnen Rechtsfall gehe. 360 Vgl. nur Schwarze / Biervert, Art. 249 EGV, Rn. 32, im Hinblick auf Entscheidungen, die an alle Mitgliedstaaten gerichtet sind. Solche Entscheidungen können z. B. die Einführung eines Antidumpingzolls vorsehen (vgl. zur Auslegung einer solchen Entscheidung EuGH, Urteil vom 16. 10. 1997, Rs. C-177 / 96 – Banque Indosuez u. a., Slg. 1997, I-5659) oder die zollrechtlich bedeutsame Beurteilung der Wissenschaftlichkeit eines Gegenstandes vornehmen (vgl. zur Auslegung einer solchen Entscheidung EuGH, Urteil vom 2. 5. 1985, Rs. 81 / 84 – Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt eV / HZA Stuttgart-West, Slg. 1985, 1277; bemerkenswerterweise wurde in diesem Verfahren auch darüber gestritten, ob sich die Entscheidung lediglich auf einen singulären Sachverhalt bezog). Daneben können auch an einen einzelnen Mitgliedstaat gerichtete Entscheidungen einen generellen Inhalt haben, so etwa Entscheidungen über die Vereinbarkeit nationaler Beihilfen für eine Vielzahl von Unternehmen (vgl. zur Auslegung einer solchen Entscheidung EuGH, Urteil vom 24. 2. 1994, Rs. C-100 / 92 – Fonderia A., Slg. 1994, I-561). 361 Sofern diese Voraussetzungen vorliegen, kann – ausnahmsweise – auch von einem anderen Rechtsakt als einer Entscheidung i. S. v. Art. 249 Abs. 4 angenommen werden, daß seine Auslegung nur einmalig relevant ist. 362 Vgl. etwa die Entscheidung 86 / 60 / EWG (ABl. 1986 L 72 / 30; Beihilfe für das Aluminiumwerk der Alcan Deutschland GmbH in Ludwigshafen). 358 359

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nicht ohnehin von dem betroffenen Unternehmen nach Art. 230 Abs. 4 vor dem EuG angefochten wird, nur in dem nationalen Rechtsstreit über die Rückforderung der Beihilfe eine Rolle. Voraussichtlich nur einmalige Relevanz hat ferner die Auslegung von Normtexten, die bereits seit längerer Zeit außer Kraft getreten sind.363 Ist eine Auslegungsfrage im dargelegten Sinne nur für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite relevant, sind Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts höchst unwahrscheinlich. Ereignen sich wider Erwarten später weitere vergleichbare Fälle oder ergehen inhaltsgleiche Normtexte, besteht immer noch die Möglichkeit, im Rahmen eines dann anhängigen Ausgangsrechtsstreits den EuGH um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.364 Die in diesem Fall möglichen Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts sind so vereinzelt und damit von so geringem Gewicht, daß das Ziel der Einheitlichkeitswahrung keinen Vorrang vor den gegen eine Vorlage sprechenden Vorgaben beanspruchen kann.365 Ist die Auslegungsfrage nur für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite relevant, liegt demnach im Hinblick auf die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts kein Auslegungsbedürfnis vor. c) Auslegung unverbindlicher Handlungen Art. 249 Abs. 5 sieht ausdrücklich zwei unverbindliche Handlungsformen – Empfehlungen und Stellungnahmen – vor. Diesen sind im vorliegenden Zusammenhang diejenigen nicht in Art. 249 aufgeführten Handlungsformen der Gemeinschaft366 gleichzustellen, die ebenfalls keine Verbindlichkeit beanspruchen.367 Alle diese Handlungen zielen von vornherein nicht auf eine strikte und effektive Vereinheitlichung. Aufgrund ihrer Unverbindlichkeit kann nicht erwartet werden, daß die in ihnen zum Ausdruck kommenden Vorschläge bzw. sonstigen Äußerungen gemeinschaftsweit einheitlich befolgt oder umgesetzt werden. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß die Unverbindlichkeit nicht etwa mit rechtlicher Bedeutungslosigkeit gleichzusetzen ist.368 Wird insoweit ihre Bedeutung als Prozeß363 Dies gilt jedenfalls dann, wenn seit dem Außerkrafttreten eine Zeitspanne verstrichen ist, in der üblicherweise Verfahren wie der betreffende Ausgangsrechtsstreit rechtskräftig (nicht notwendig letztinstanzlich) beendet werden. 364 Vgl. Ahlt, Verhältnis zwischen nationaler und EuGH-Rechtsprechung, S. 33 (41). 365 In diese Richtung auch Ahlt (vorige Fn.), der die Auslegungsbefugnis des EuGH hiervon jedoch unberührt läßt. Vgl. auch Hirsch, DStZ 1998, 489 (494); ferner Heß, ZZP 1995, 59 (84 ff.), und RabelsZ 2002, 470 (494 ff.), der (allerdings nur) die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 auf Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung beschränken will. 366 Zu den in Art. 249 nicht aufgeführten Handlungsformen CR / Ruffert, Art. 249 EGV, Rn. 121 ff.; Schwarze / Biervert, Art. 249 EGV, Rn. 5. 367 Beispiele bei CR / Ruffert, Art. 249 EGV, Rn. 125. 368 Vgl. CR / Ruffert, Art. 249 EGV, Rn. 119; Lenz / Hetmeier, EGV, Art. 249, Rn. 19; Schwarze / Biervert, Art. 249 EGV, Rn. 37; Streinz / Schroeder, Art. 249 EGV, Rn. 139.

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voraussetzung hervorgehoben,369 bezieht sich dies auf Direktverfahren vor den Gemeinschaftsgerichten 370 und spielt daher im Vorabentscheidungsverfahren keine Rolle. Auch die Pflicht nationaler Gerichte, Empfehlungen bei der Entscheidung von Rechtsstreiten zu berücksichtigen,371 ist hier irrelevant, da sie lediglich die Beachtlichkeit der Empfehlungen überhaupt, nicht aber die Einheitlichkeit ihres Verständnisses voraussetzt. Divergierende Interpretationen unverbindlicher Handlungen beeinträchtigen die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts daher von vornherein nicht. Somit spielt der materielle Umfang möglicher Divergenzen hier keine Rolle; auch diametral entgegengesetzte Interpretationen einer unverbindlichen Handlung stellen demnach allenfalls geringfügige Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit dar. Soweit sich die Auslegungsfrage auf unverbindliche Handlungen bezieht, liegt daher im Hinblick auf das Ziel der Einheitlichkeitswahrung kein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis vor.

3. Ergebnis zur Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts Dem mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziel, die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu wahren, kann nur insoweit Vorrang vor den gegen eine Vorlage sprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben eingeräumt werden, als der Verzicht auf eine Vorlage an den EuGH zu allenfalls geringfügigen Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts führt. Ist bereits lösungsrelevante Rechtsprechung vorhanden, an der sich das nationale Gericht orientiert, sind Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit in diesem Sinne geringfügig, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage mit einer vom EuGH bereits beantworteten übereinstimmt, wenn sie lediglich auf die weitere Präzisierung der lösungsrelevanten Rechtsprechung gerichtet ist und ihre Beantwortung aufgrund zu starker Orientierung an den konkreten Umständen des Ausgangsrechtsstreits nicht mehr für eine erhebliche Anzahl anderer Rechtsstreite verwertEtwaige politisch-psychologische Wirkungen unverbindlicher Handlungen (vgl. zu diesen Schwarze / Biervert, Art. 249 EGV, Rn. 37) gewährleisten ihre gemeinschaftsweit einheitliche Befolgung jedoch nicht hinreichend und können daher einen Vorrang des Ziels der Einheitlichkeitswahrung nicht rechtfertigen. 369 So etwa CR / Ruffert (vorige Fn.). 370 (Mit Gründen versehene) Stellungnahmen der Kommission sind z. B. nach Art. 226 Abs. 1, 227 Abs. 3 und 228 Abs. 2 UAbs. 1 Voraussetzung für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens bzw. eines Verfahrens zur Zwangsgeldverhängung. 371 Vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 13. 12. 1989, Rs. C-322 / 88 – Grimaldi / Fonds des maladies professionnelles, Slg. 1989, I-4407, Rn. 18 (I-4421), und vom 21. 1. 1993, Rs. C-188 / 91 – Deutsche Shell AG, Slg. 1993, I-363, Rn. 18 (I-388).

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bar wäre oder wenn sie sich auf einen Normtext bezieht, zu dem bereits gefestigte Rechtsprechung des EuGH vorliegt, deren ratio decidendi in nicht ernsthaft zu bezweifelnder Weise auf das vom nationalen Gericht zu beurteilende Geschehen übertragen werden kann. Liegt lösungsrelevante Rechtsprechung des EuGH noch nicht vor, sind Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit gleichwohl geringfügig, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage einen sekundärrechtlichen Normtext betrifft und zweifelsfrei zu beantworten ist, wenn sie nur für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite relevant ist oder wenn sie unverbindliche Handlungen betrifft. In allen anderen Fällen führt der Verzicht auf eine Vorlage an den EuGH zu mehr als nur geringfügigen Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts, so daß das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis zu bejahen ist.

II. Gebotener Umfang der Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts Das mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgte Ziel der Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts steht insbesondere in einem Spannungsverhältnis zu deren Funktion im System des Gemeinschaftsrechts. Aufgrund dieser Funktion sind die nationalen Gerichte verpflichtet, in den von ihnen zu entscheidenden Rechtssachen das Gemeinschaftsrecht, soweit es einschlägig ist, in gleichem Maße durchzusetzen wie ihr nationales Recht. Daher wird von den nationalen Gerichten verlangt – und muß von ihnen verlangt werden können372 –, daß sie die mit der Durchsetzung jeder Art von Recht verbundenen Probleme, etwa die Ermittlung der Umstände des zu beurteilenden Geschehens und die Bestimmung der einschlägigen Normtexte sowie, ggf unter Rückgriff auf bereits vorhandene Rechtsprechung, grundsätzlich auch deren Interpretation, eigenverantwortlich lösen können.373 Hierfür spricht auch das Bedürfnis nach einer Begrenzung der Arbeitslast des EuGH. War es diesem in früheren Zeiten ohne weiteres möglich, in sehr entgegenkommender Weise auch völlig banale Auslegungsfragen zu beantworten und damit dem vorlegenden Gericht jede nur erdenkliche Hilfe an die Hand zu geben, so ginge hierdurch in der gegenwärtigen Situation zu viel kostbare Zeit verloren, die dringend für die Bearbeitung wichtiger Rechtssachen von allgemeiner Bedeutung benötigt wird.374 Schließlich ist auch zu berücksichtigen, Vgl. hierzu bereits oben B. I. GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 5. 1995, verb. Rs. C-430 / 93 und C-431 / 93 – Van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4707, Rn. 30 (I-4716 f.), geht daher zutreffend davon aus, daß die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens ein Ausnahmefall sei. 374 Nicht nur aus diesem Grund ist es erstaunlich, daß der EuGH ohne Not Fragen zur Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Normtexte annimmt, die wegen des rein internen Charakters des Ausgangsrechtsstreits in diesem ersichtlich nicht zur Anwendung gelangen kön372 373

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daß die durch ein Vorabentscheidungsverfahren verursachte erhebliche Verzögerung des Ausgangsrechtsstreits dessen Parteien gegenüber gerechtfertigt werden muß – was im Falle völlig unproblematischer Auslegungsfragen kaum gelingen dürfte. In ihrer Gesamtheit haben die gegen eine Vorlage sprechenden Gesichtspunkte mittlerweile ein so großes Gewicht erlangt, daß sie Vorrang vor den mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen insoweit beanspruchen können, als die aufgeworfene Auslegungsfrage keine besonderen Schwierigkeiten aufwirft.375 Treten jedoch derartige Schwierigkeiten auf, setzt sich das Ziel der Unterstützung der nationalen Gerichte durch, so daß diesen die Möglichkeit zu geben ist, den EuGH um die Beantwortung der aufgeworfenen Auslegungsfrage zu ersuchen. Das Vorliegen besonderer Schwierigkeiten ist nach objektiv zu bestimmenden Kriterien zu beurteilen. Die subjektive Einschätzung eines nationalen Gerichts kann hierfür schon deshalb nicht ausschlaggebend sein, weil dessen Vorstellungen über die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH für diesen nicht maßgeblich sein können.376 Besondere Schwierigkeiten in diesem Sinne können sowohl im Hinblick auf die Interpretation des Gemeinschaftsrechts als auch in bezug auf das vorlegende Gericht bestehen.

1. Besondere Schwierigkeiten der Interpretation des Gemeinschaftsrechts Geeignete Ansatzpunkte für die Anerkennung besonderer Schwierigkeiten der Interpretation des Gemeinschaftsrechts sind zunächst die vom EuGH ausdrücklich als „besondere[ . . . ] Schwierigkeiten seiner [lies: des Gemeinschaftsrechts; T. G.] Auslegung“377 bezeichneten Umstände. Daneben stellt jedoch auch die (Weiter-)Entnen; vgl. z. B. Urteil vom 5. 12. 2000, Rs. C-448 / 98 – Guimont, Slg. 2000, I-10663, Rn. 18 ff., insbesondere 22 f. (I-10687 f.; gegen eine Zuständigkeit des EuGH GA Saggio, Schlußanträge vom 9. 3. 2000 in dieser Rechtssache, Slg. 2000, I-10665, Rn. 8 [I-10670]). 375 In diese Richtung auch die Kommission in ihrem Ergänzenden Beitrag, S. 5; vgl. ferner Bericht der Reflexionsgruppe, EuGRZ 2001, 523 (526), wonach eine Vorlage nur bei Fragen von hinreichender Bedeutung für das Gemeinschaftsrecht erfolgen sollte, deren Beantwortung zudem Raum für vernünftigen Zweifel läßt. 376 Ebenso von Bogdandy, CMLR 1999, 663 (667); Groh / Wündisch, GRUR Int. 2001, 497 (499 f.). – Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Umstand, daß nach Art. 234 Abs. 2 die (subjektive) Beurteilung der Erforderlichkeit durch das nationale Gericht maßgeblich ist. Zum einen erhebt Art. 234 Abs. 2 – anders als Abs. 1 – die subjektive Einschätzung ausdrücklich zu einer Voraussetzung der Vorlage. Zum anderen geht es um verschiedene Bezugspunkte der Erforderlichkeit (Zielverwirklichung einerseits, Erlaß des Urteils im Ausgangsrechtsstreit andererseits). Selbst wenn die Bezugspunkte dieselben wären, läge in der Aufstellung objektiver Kriterien lediglich die Bestimmung der gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung des Ausdrucks ,erforderlich‘ in Art. 234 Abs. 2, zu der der EuGH zweifellos befugt ist (vgl. näher zu möglichen Einwänden aus Art. 234 Abs. 2 gegen die hier entwickelte Konzeption unten § 8 B. II. 1. c) (2) (b) (i)).

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wicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze bzw. von Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts die nationalen Gerichte vor besondere Interpretationsschwierigkeiten.

a) Vom EuGH hervorgehobene besondere Schwierigkeiten der Interpretation Der EuGH hält drei Gesichtspunkte der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte für besonders schwierig, nämlich erstens die Notwendigkeit eines Vergleichs der verschiedenen Sprachfassungen, zweitens die Eigenständigkeit der Terminologie des Gemeinschaftsrechts und drittens das Erfordernis, den betreffenden Normtext in seinem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands zur Zeit der Durchsetzung des betreffenden Normtextes zu interpretieren. Damit wird die Handhabung der gewichtigsten gemeinschaftsrechtlich zulässigen Interpretationsargumente insgesamt als besondere Schwierigkeit bezeichnet: Der erste vom EuGH angeführte Gesichtspunkt betrifft den relevanten Sprachgebrauch, der zweite zwar den gesamten Interpretationsvorgang,378 in dem jedoch insbesondere auf die Systematik und die Teleologie gestützte Erwägungen besonderes Gewicht haben,379 und der dritte ausdrücklich die letztgenannten Erwägungen. Die vom EuGH hervorgehobenen besonderen Schwierigkeiten treten demnach bei jeder Interpretation des Gemeinschaftsrechts auf und sind daher, soll die Funktion der nationalen Gerichte als erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte nicht völlig konterkariert werden, nicht pauschal als besondere Schwierigkeiten im hier vertretenen Sinne anzuerkennen. Vielmehr ist für jeden der genannten Gesichtspunkte zu untersuchen, inwieweit er tatsächlich eine besondere Schwierigkeit darstellt, zu deren Überwindung es gemeinschaftsrechtlich geboten ist, den nationalen Gerichten die Inanspruchnahme des EuGH zu ermöglichen. Bevor dies im einzelnen geschieht, ist darauf hinzuweisen, daß in einigen Fällen des Vorliegens lösungsrelevanter Rechtsprechung besondere Schwierigkeiten von vornherein ausgeschlossen werden können. Dies gilt ausnahmslos für Wiederholungsfragen; ist die Frage bereits beantwortet, bleibt ersichtlich kein Raum für die 377 EuGH, Urteil vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 17 (3430). 378 Der Hinweis des EuGH auf die eigenständige Terminologie des Gemeinschaftsrechts zielt offensichtlich nicht auf den für die grammatische Interpretation relevanten Sprachgebrauch, da die autonome Terminologie das Ergebnis, nicht aber der Ausgangspunkt der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte ist. GA Jacobs, Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 – S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 65 (I-6517), sieht darüber hinaus auch den Hinweis auf die Notwendigkeit eines Vergleichs sämtlicher Sprachfassungen (nur) als Betonung des besonderen Gewichts von Teleologie und Systematik und als Warnung vor einer allzu wörtlichen Interpretation des Gemeinschaftsrechts an. 379 Vgl. zu dem großen Gewicht dieser Erwägungen in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik ausführlich unten § 7 A. II. 2. und A. III. 2.

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Annahme einer besonderen Schwierigkeit. Gleiches gilt auch für Übertragungsfragen, soweit bereits eine gefestigte Rechtsprechung besteht, deren ratio decidendi in nicht ernsthaft bezweifelbarer Weise auf das vom nationalen Gericht zu beurteilende Geschehen übertragen werden kann. Hier steht die offenkundige Übertragbarkeit der ratio decidendi der Annahme einer besonderen Schwierigkeit entgegen. (1) Vergleich der Sprachfassungen des zu interpretierenden Normtextes Der Vergleich mehrerer Sprachfassungen erscheint auf den ersten Blick als besondere Schwierigkeit: Mit Ausnahme von Belgien, wo sämtliche auf nationaler Ebene geltenden Normtexte in französischer und niederländischer Sprache gleichermaßen verbindlich sind,380 enthalten die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten grundsätzlich nur einsprachig verbindliche Normtexte.381 Es ist daher für die weit überwiegende Zahl der nationalen Gerichte ungewohnt, einen Vergleich mehrerer Sprachfassungen des zu interpretierenden Normtextes vorzunehmen. Dies allein kann jedoch schwerlich ausreichen, um eine besondere Schwierigkeit zu begründen, denn anderenfalls stellte jede Interpretation eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes per se eine besondere Schwierigkeit dar, wodurch dieses Kriterium völlig funktionslos würde. Vielmehr sollte von nationalen Richtern heute verlangt werden können, daß sie, nötigenfalls unter Zuhilfenahme von Fachwörterbüchern zur Klärung fachsprachlicher Ausdrücke, gemeinschaftsrechtliche Normtexte in bis zu zwei Fremdsprachen382 im wesentlichen verstehen und auf erkennbare Divergenzen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen hin überprüfen können. Eine besondere Schwierigkeit ist allerdings dann gegeben, wenn der Sprachfassungsvergleich ergibt, daß zwischen den verschiedenen sprachlichen Versionen erkennbare Divergenzen bestehen.383 Zwar läßt sich der Rechtsprechung des EuGH Art. 1er der Loi relative à l’emploi des langues en matière législative, à la présentation, à la publication et à l’entrée en vigueur des textes légaux et réglementaires (MB 1961, S. 5171). Die belgische Verfassung ist nach ihrem Art. 189 zudem in Deutsch festgelegt. Dies liegt daran, daß Belgien auch eine deutschsprachige Gemeinschaft umfaßt; vgl. Art. 2 der Verfassung Belgiens (im Internet abrufbar unter ). 381 Ausnahmen können in Staaten auftreten, in denen regionale Minderheiten leben. So wurde etwa das Gesetz über die Rechte der Sorben im Freistaat Sachsen vom 31. 3. 1999 (SächsGVBl. 1999, 161) nach seinem § 16 in deutscher und obersorbischer Sprache verkündet. 382 Vgl. zum grundsätzlich notwendigen Vergleich der Fassung des zu interpretierenden Normtextes in der Arbeitssprache des nationalen Gerichts mit einer fremdsprachigen Fassung, die einen anderen Rechtskreis repräsentiert, ausführlich unten § 7 A. I. 1. a) (3); zu den erhöhten Anforderungen an den Sprachfassungsvergleich bei der Annahme einer offenkundig zu gebenden Antwort bereits oben C. I. 2. a). 383 In diese Richtung auch CR / Cremer, Art. 53 EUV, Rn. 6. Die Frage, ob etwaige Divergenzen zwischen vom nationalen Gericht nicht in den Vergleich einbezogenen Sprachfassungen bestehen, ist an dieser Stelle irrelevant; sie betrifft lediglich die Frage, in welchem Maß die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts geboten ist. Vgl. hierzu bereits oben C. I. 2. a). 380

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das in einem solchen Fall gebotene Vorgehen klar entnehmen: Divergenzen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen sind durch eine Interpretation anhand der Systematik und der mit der Durchsetzung des Normtextes verfolgten Ziele zu überwinden.384 Dieses Vorgehen stellt jedoch höhere Anforderungen an die nationalen Gerichte als der bloße Vergleich der Sprachfassungen. Die besondere Schwierigkeit liegt dabei weniger in der Einbeziehung von auf die Systematik und die Teleologie gestützten Erwägungen in die Interpretation; diese gehört gewissermaßen zum täglichen Brot jedes Richters in der Gemeinschaft.385 Sie liegt statt dessen in der Notwendigkeit, gegebenenfalls eine Bedeutung zu bestimmen, die mit der Fassung des Normtextes in der Arbeitssprache des nationalen Gerichts ersichtlich nicht vereinbar ist. Hierin sind nationale Gerichte ungeübt (und müssen dies aufgrund der in zahlreichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen verfassungsrechtlich ausdrücklich verankerten Bindung des Richters an das Gesetz386 auch sein). Hinzu kommt, daß in einem solchen Fall im weiteren Verlauf der Entscheidung des Rechtsstreits nur noch auf fremdsprachige Normtexte zurückgegriffen werden kann, soweit die arbeitssprachliche Fassung von den anderen Sprachfassungen verdrängt wird. Dies stellt höhere Anforderungen an die nationalen Gerichte als der bloße Sprachfassungsvergleich, der lediglich als „Divergenzfindungsraster“ fungiert. Abgesehen von diesen Schwierigkeiten sollte auch das psychologische Moment nicht unterschätzt werden, das in derartigen Situationen (noch) eine gewichtige Rolle spielt: Die Entscheidung „gegen die eigene Sprachfassung“ fällt zweifellos schwerer als ihre „Verteidigung“ gegen andere sprachliche Versionen.387 384 EuGH, Urteile vom 7. 12. 1995, Rs. C-449 / 93 – Rockfon, Slg. 1995, I-4291, Rn. 28 (I-4317), vom 24. 10. 1996, Rs. C-72 / 95 – Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, I-5403, Rn. 28 (I-5443), und vom 17. 12. 1998, Rs. C-236 / 97 – Codan, Slg. 1998, I-8679, Rn. 25 (I-8697; hierzu Luttermann, EuZW 1999, 401). 385 Zu den besonderen Schwierigkeiten, die aber auch dabei auftreten können, unten C. II. 1. a) (3). 386 Vgl. Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG; ferner z. B. Art. 64 Satz 1 der dänischen Verfassung, Art. 87 Abs. 2 der griechischen Verfassung, Art. 35.2 der irischen Verfassung, Art. 206 der portugiesischen Verfassung und Art. 117 Abs. 1 der spanischen Verfassung (sämtliche Verfassungen sind in englischer Sprache im Internet abrufbar unter ). – Die in Deutschland herrschende Auffassung von der Reichweite der Normtextbindung, wie sie insbesondere in dem Konzept der „Wortlautgrenze“ zum Ausdruck kommt, ist eine spezifisch deutsche Vorstellung und kann nicht auf andere Rechtsordnungen übertragen werden (vgl. hierzu näher unten § 7 B. III. 1. b)). Gleichwohl ist davon auszugehen, daß jede Rechtsordnung über methodologische Instrumente verfügt, um die von ihr geforderte Normtextbindung zu gewährleisten. Unabhängig von der Ausgestaltung dieser Instrumente im einzelnen besteht stets die Möglichkeit, daß Bedeutungsdivergenzen zwischen mehreren sprachlichen Fassungen zu einer Interpretation nötigen, die der in einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung angeordneten Normtextbindung nicht (oder nicht völlig) genügt. 387 Der Gedanke einer Entscheidung „gegen“ eine Sprachfassung oder der „Verteidigung“ gegen andere Fassungen ist aus Sicht des Gemeinschaftsrechts zwar völlig unangebracht, dürfte aber – leider! – nach wie vor wenigstens im Unterbewußten noch häufig wirksam sein.

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Eine besondere Schwierigkeit und damit ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis im Hinblick auf die Unterstützung der nationalen Gerichte liegt daher vor, wenn der von einem nationalen Gericht angestellte Sprachfassungsvergleich erkennbare Abweichungen zwischen den verglichenen sprachlichen Versionen des zu interpretierenden Normtextes aufdeckt. (2) Eigenständige Terminologie des Gemeinschaftsrechts Die in gemeinschaftsrechtlichen Normtexten enthaltenen Ausdrücke haben aufgrund der Notwendigkeit ihrer einheitlichen Interpretation grundsätzlich eine autonome, d. h. eigenständig gemeinschaftsrechtliche Bedeutung.388 Diese stimmt nicht notwendig mit der Bedeutung überein, die denselben Ausdrücken im relevanten Sprachgebrauch der Mitgliedstaaten beigelegt wird. Hinzu kommt, daß im Gemeinschaftsrecht z. T. auch neue Begrifflichkeiten eingeführt werden, die im Recht zahlreicher oder gar aller Mitgliedstaaten keine Entsprechung haben; beispielhaft seien die Ausdrücke ,Vorabentscheidungsverfahren‘ und ,Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung‘ genannt. Es liegt auf der Hand, daß die Interpretation von Ausdrücken, die im jeweiligen nationalen Recht nicht vorhanden sind, nationale Gerichte vor erhebliche Schwierigkeiten stellt. Hinsichtlich dieser Ausdrücke existiert in den nationalen Rechtsordnungen jedenfalls im Bereich rechtlicher Fachtermini ein „Bedeutungsvakuum“, so daß kaum ein Ausgangspunkt für die Bedeutungsbestimmung besteht. Sofern der Ausdruck in der allgemeinen Umgangssprache verwendet wird, ist ein Rückgriff auf die ihm dort beigelegte Bedeutung in aller Regel wenig hilfreich, da eine ausdifferenzierte Rechtsordnung wie die des Gemeinschaftsrechts auf die Bildung spezifisch juristischer Bedeutungen grundsätzlich nicht verzichten kann. Der relevante Sprachgebrauch ist in derartigen Fällen kein brauchbarer „Wegweiser“; die Indizfunktion des Normtextes fällt also völlig aus und das nationale Gericht muß die Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes ausschließlich unter Rückgriff auf die übrigen Interpretationsargumente bestimmen.389 Gleiches gilt cum grano salis, wenn ein nationales Gericht auf einen Ausdruck stößt, der in seiner eigenen Rechtsordnung zwar vorkommt, aber im gemeinschaftsrechtlichen Kontext ersichtlich mit einer anderen Bedeutung verwendet wird als in der nationalen Rechtsordnung.390 Auch in diesem Fall verfügt das nationale Gericht, da es die von dem in der eigenen Rechtsordnung vorherrschenden Sprachgebrauch indiVgl. hierzu näher unten § 7 A. I. 1. a) (1). Vgl. zur Indizfunktion des Normtextes näher unten § 7 A. I.; speziell zu seiner Eigenschaft als „Wegweiser“ für die zutreffende Bedeutung unten Fn. 442. 390 Beispielsweise dann, wenn die Heranziehung der in der nationalen Rechtsordnung mit dem betreffenden Ausdruck assoziierten Bedeutung zu einem offensichtlich sinnwidrigen Ergebnis führt. In diesem Fall kommt die bereits angesprochene Schwierigkeit hinzu, eine mit der eigenen Sprachfassung ersichtlich nicht zu vereinbarende Bedeutung bestimmen zu müssen; vgl. zu dieser Schwierigkeit bereits oben C. II. 1. a) (1). 388 389

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zierte Bedeutung nicht heranziehen kann, über keinen „Wegweiser“, der ihm einen brauchbaren Ansatzpunkt für die Interpretation liefern könnte. In der Praxis werden die beschriebenen Fälle allerdings sehr selten vorkommen. Der weitaus größte Teil der in gemeinschaftsrechtlichen Normtexten verwendeten Ausdrücke dürfte auch in den nationalen Rechtsordnungen vorkommen und dort keine ersichtlich andere(n) Bedeutung(en) haben als im gemeinschaftsrechtlichen Kontext. Für den Regelfall kann daher angenommen werden, daß Ausdrücke im Gemeinschaftsrecht zwar mit einer etwas anderen Bedeutung verwendet werden als im nationalen Recht, der in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten jeweils vorherrschende Sprachgebrauch aber gleichwohl brauchbare Arbeitshypothesen für die Interpretation auch des gemeinschaftsrechtlichen Normtextes liefern kann,391 die freilich stets unter dem Vorbehalt der Bestätigung durch andere Interpretationsargumente stehen. Eine besondere Schwierigkeit ist daher anzuerkennen, wenn ein in einem gemeinschaftsrechtlichen Normtext verwendeter Ausdruck im nationalen Recht nicht existiert oder zwar existiert, aber im Gemeinschaftsrecht ersichtlich mit einer anderen Bedeutung verwendet wird. (3) Zusammenhang, Ziele, gegenwärtiger Stand des Gemeinschaftsrechts Sowohl die Forderung nach der Berücksichtigung des Zusammenhangs des zu interpretierenden Normtextes als auch die Notwendigkeit, die mit diesem verfolgten Ziele zu beachten, gehören zu dem methodologischen Instrumentarium, das grundsätzlich von sämtlichen nationalen Gerichten zur Interpretation von Normtexten herangezogen wird392 und ihnen daher durch ständigen Umgang vertraut ist. Zwar kommt den auf die Systematik und auf die Teleologie gestützten Interpretationsargumenten im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung eine erheblich stärkere Überzeugungskraft zu als üblicherweise in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten,393 doch dürfte dies mittlerweile sämtlichen nationalen Gerichten geläufig sein, so daß hieraus allein keine besondere Schwierigkeit hergeleitet werden kann. Auch der Umstand, daß beide Argumente wegen der ausdrücklichen Verankerung von Zielen in dem Vertragstext vielfach nicht klar voneinander getrennt werden können, sondern einander überschneiden oder in Teilbereichen zu einer Mischform verschmelzen können,394 stellt nationale Gerichte nicht vor besondere 391 Mehr als Arbeitshypothesen sind die vom relevanten Sprachgebrauch indizierten Bedeutungen ohnehin nicht; vgl. hierzu näher unten § 7 A. I. 2. a). 392 Vgl. allgemein zur Vergleichbarkeit der einzelnen Interpretationsargumente mit den in nationalen Methodiken gebräuchlichen BBPS / Epiney, Rn. 527 f.; CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 11 (speziell zur Systematik: Rn. 13); Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 13; vgl. ferner Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 270 f. 393 Vgl. CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 11; Schwarze / Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 27. 394 Vgl. GH / von Bogdandy, Art. 2 EGV, Rn. 14; Kutscher, Thesen, I-42 f.

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Schwierigkeiten. Eher ist im Gegenteil davon auszugehen, daß insoweit eine Vereinfachung der Interpretation stattfindet, da ausdrücklich in den Normtext aufgenommene Zielvorgaben eine Interpretationsbegründung erleichtern können.395 Besondere Schwierigkeiten liegen daher hinsichtlich der auf die Systematik und die Teleologie gestützten Interpretationsargumente nur dann vor, wenn deren Einsatz Anforderungen an das nationale Gericht stellt, die gerade aus dem gemeinschaftsrechtlichen Charakter des zu interpretierenden Normtextes resultieren und die deutlich über die bei der Interpretation sonstiger Normtexte zu erfüllenden hinausgehen. Dies ist etwa im Hinblick auf die Systematik der Fall, wenn die Interpretation eine besonders komplexe, in den Mitgliedstaaten nicht in vergleichbarer Weise vorhandene und daher gerade für nationale Gerichte unüberschaubare Regelungsmaterie wie etwa die Agrarmarktordnungen396 betrifft oder der einschlägige Rechtsakt in sich widersprüchlich ist. Eine besondere Schwierigkeit hinsichtlich der Teleologie liegt vor allem dann vor, wenn der zu interpretierende Normtext zahlreiche gegenläufige Ziele betrifft, deren Abwägung untereinander eine außerordentliche Komplexität aufweist. Als weitere besondere Schwierigkeit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts nennt der EuGH die Notwendigkeit, den Entwicklungsstand des Gemeinschaftsrechts zur Zeit der Anwendung des zu interpretierenden Normtextes zu berücksichtigen. Damit wird die dynamische Struktur des Gemeinschaftsrechts hervorgehoben, die sich zunächst dahingehend auswirkt, daß auf die Teleologie gestützten Erwägungen besonderes Gewicht zukommt. Dies allein ist jedoch – wie soeben gezeigt – nicht als besondere Schwierigkeit zu qualifizieren. Ein zweiter mit der Dynamik des Gemeinschaftsrechts verbundener Aspekt ist die vergleichsweise hohe Geschwindigkeit seiner Entwicklung. Die Menge der zum geltenden Recht jeweils neu hinzukommenden Normtexte ist im Vergleich zu nationalen Rechtsordnungen immens, wie ein einfacher Vergleich des Jahresumfangs des EG-Amtsblatts mit dem des Bundesgesetzblatts oder der entsprechenden Publikationsorgane anderer Mitgliedstaaten verdeutlicht. Zudem muß, nicht zuletzt aufgrund der in letzter Zeit häufigen Vertragsänderungen, die Grenze zwischen den bereits vom Gemeinschaftsrecht geregelten und den noch dem nationalen Recht unterstehenden Bereichen immer wieder neu bestimmt werden. Nationale Gerichte stehen daher wesentlich häufiger als in ihrer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung vor der Frage, inwieweit der Regelungsbereich älterer Rechtsvorschriften sich zwischenzeitlich gewandelt, die Bedeutung der in ihnen verwendeten Ausdrücke sich verschoben und einschlägige Rechtsprechung des EuGH älteren Datums ihre Aussagekraft für die aktuelle Situation eingebüßt haben kann.397 Die Beantwortung solcher Fragen kann kaum aus einer auf einen spezifischen Sachbereich oder gar einen konkreten Vgl. hierzu näher unten § 7 A. II. 1. a) (1) (a). Vgl. zu deren Komplexität als Grund für eine Vorlage Voß, EuR 1986, 95 (104). 397 Vgl. als Beispiel für die Vergewisserung eines nationalen Gerichts, ob eine ältere Rechtsprechung des EuGH (im konkreten Fall aus dem Jahre 1976) nach wie vor unverändert fortgelten soll, EuGH, Urteil vom 25. 10. 2001, Rs. C-189 / 00 – Ruhr, Slg. 2001, I-8225. 395 396

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Teil 1: Entwicklung der zielorientierten Konzeption

Ausgangsrechtsstreit beschränkten Perspektive angemessen gelingen; sie setzt vielmehr einen umfassenden Überblick über die gesamte Gemeinschaftsrechtsordnung voraus. Besondere Schwierigkeiten liegen daher vor, wenn der Einsatz der auf die Systematik oder die Teleologie gestützten Interpretationsargumente gerade wegen des gemeinschaftsrechtlichen Charakters des zu interpretierenden Normtextes Probleme aufwirft, die mit der Interpretation nationaler Normtexte regelmäßig nicht verbunden sind, oder wenn die Interpretation aufgrund der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit des Gemeinschaftsrechts mit erhöhten Unsicherheiten behaftet ist.

b) Befassung des EuGH mit der (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen Die bisher dargelegten besonderen Schwierigkeiten sind solche der Interpretation des geschrieben Gemeinschaftsrechts. Auch bei dem Umgang mit ungeschriebenem Gemeinschaftsrecht, nämlich mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, können nationale Gerichte allerdings auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, die sie (in aller Regel) nicht eigenverantwortlich überwinden können. Diese bestehen in der Entwicklung, also der Schaffung, und in der Weiterentwicklung, d. h. der weiteren, über unbedeutende Konkretisierungen hinausgehenden Ausgestaltung,398 der genannten Grundsätze.399 Allgemeine Rechtsgrundsätze sind rechtliche Grundentscheidungen oder Institute, die den Rechtsordnungen (fast) aller Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Beispielhaft seien genannt die Grundrechte sowie die Grundsätze der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit.400 Ihre Entwicklung, die unter Rückgriff auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten im Wege wertender Rechtsvergleichung vorzunehmen ist,401 erfordert nicht nur einen Vergleich sämtlicher mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen, sondern zu398 Vgl. als Beispiel einer Weiterentwicklung etwa EuGH, Urteil vom 5. 3. 1996, verb. Rs. C-46 / 93 und C-48 / 93 – Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029 (ausdrückliche Ausdehnung der Haftung der Mitgliedstaaten auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht, die nicht in der fehlerhaften Umsetzung einer Richtlinie bestehen). 399 Zur Einordnung der (Weiter-)Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze und von Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts als Interpretation Zuleeg, JZ 1994, 1 (3); vgl. auch EuGH, Urteil vom 5. 3. 1996, verb. Rs. C-46 / 93 und C-48 / 93 – Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029, Rn. 24 f. (I-1143). 400 Vgl. zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 34 ff.; Schwarze / Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 16. 401 Vgl. zum wertenden Element der vom EuGH vorgenommenen Rechtsvergleichung, die darauf zielt, die für die spezifischen Anforderungen des Gemeinschaftsrechts jeweils angemessene Lösung zu erarbeiten, Kutscher, Thesen, I-30. Zur Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 29; Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 33 (im Hinblick auf die Gemeinschaftsgrundrechte).

§ 5 Gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis

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dem die Berücksichtigung der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts, aufgrund derer meist nur eine modifizierte Übernahme mitgliedstaatlicher Problemlösungen in die Gemeinschaftsrechtsordnung möglich ist. Schon der zweite Teil dieser Aufgabe dürfte die praktischen Möglichkeiten nationaler Gerichte übersteigen; gewiß gilt dies aber für den ersten Teil: Kein einzelnes Gericht eines Mitgliedstaates wird in der Lage sein, die Regelungen sämtlicher mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen miteinander zu vergleichen.402 Grundsätze des Gemeinschaftsrechts sind rechtliche Grundentscheidungen oder Institute, die aus der Grundstruktur und den wichtigsten Zielbestimmungen des Gemeinschaftsrechts abgeleitet werden.403 Beispielhaft seien genannt die Möglichkeit unmittelbarer Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts,404 sein Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten,405 seine Einheitlichkeit 406 und die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden einzelner, die durch eine vom Mitgliedstaat verursachte Verletzung des Gemeinschaftsrechts verursacht werden.407 Im Gegensatz zu der (Weiter-)Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze, bei der jedenfalls häufig auf geschriebene Regelungen in den einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zurückgegriffen werden kann, bieten sich für die (Weiter-)Entwicklung von Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts in aller Regel keine unmittelbar verwendbaren Anhaltspunkte im geschriebenen Recht. Bereits dies stellt für die nationalen Gerichte eine besondere Schwierigkeit dar, die sie kaum ohne die Unterstützung des EuGH überwinden können. Wird in dem von einem nationalen Gericht zu entscheidenden Rechtsstreit die Frage nach der (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen aufgeworfen, liegt demnach eine besondere Schwierigkeit vor. 402 Diese Einschränkung ist allerdings „nur“ praktischer Natur: Die grundsätzliche Befugnis auch nationaler Gerichte zur Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze folgt aus deren allgemeiner Befugnis zur Interpretation des Gemeinschaftsrechts; vgl. Zuleeg, JZ 1994, 1 (3). 403 Der EuGH stützt sich bei der Schaffung der Grundsätze des Gemeinschaftsrechts regelmäßig auf dessen „Geist“ (so etwa Urteile vom 15. 7. 1964, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1251 [1269 f.]) oder sein „Wesen“ (so etwa Urteil vom 19. 11. 1991, verb. Rs. C-6 / 90 und C-9 / 90 – Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Rn. 35 [I-5414]); vgl. auch Schwarze / Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 15. 404 Grundlegend EuGH, Urteil vom 5. 2. 1963, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (24 f.). 405 Grundlegend EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964, Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1251 (1269 f.). 406 Der EuGH bezeichnet die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts als „grundlegendes Erfordernis“; vgl. etwa Urteile vom 27. 3. 1980, Rs. 61 / 79 – Amministrazione delle Finanze dello Stato / Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 18 (1224), und verb. Rs. 66, 127 und 128 / 79 – Amministrazione delle Finanze dello Stato / Salumi, Slg. 1980, 1237, Rn. 11 (1261); ferner Urteil vom 2. 2. 1988, Rs. 309 / 85 – Barra / Belgien, Slg. 1988, 355, Rn. 13 (375). – Zur Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts als Grundsatz des Gemeinschaftsrechts CR / Wegener, Art. 220, Rn. 28. 407 Grundlegend EuGH, Urteil vom 19. 11. 1991, verb. Rs. C-6 / 90 und C-9 / 90 – Francovich u. a., Slg. 1991, I-5357, Rn. 28 ff. (I-5413 f.), insbesondere Rn. 35 und 37 (I-5414 f.).

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Teil 1: Entwicklung der zielorientierten Konzeption

2. Besondere Schwierigkeiten im Hinblick auf das vorlegende Gericht Besondere Schwierigkeiten können ihre Ursache auch in dem vorlegenden Gericht selbst haben, sofern dieses aus in ihm selbst liegenden Gründen daran gehindert ist, seiner Funktion als erstinstanzliches Gemeinschaftsgericht vollständig gerecht zu werden. Dies gilt freilich nicht für solche Gründe, die im Verantwortungsbereich des jeweiligen Gerichts liegen; für deren Beseitigung hat dieses vielmehr aufgrund seiner Verpflichtung zur eigenverantwortlichen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts selbst zu sorgen. Ein außerhalb des Verantwortungsbereichs des nationalen Gerichts liegender Grund liegt etwa vor, wenn dieses Gericht kurz nach dem Beitritt seines Staates zur Gemeinschaft mit Fragen nach der Interpretation des Gemeinschaftsrechts konfrontiert wird. In einer Übergangsphase nach dem Beitritt müssen sich die Gerichte der beigetretenen Staaten mit dem Gemeinschaftsrecht und seiner Wirkungsweise in der Praxis erst vertraut machen können; zudem werden sich aufgrund der in jeder Rechtsordnung vorhandenen Besonderheiten neuartige Fragen der gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit verschiedenster nationaler Vorschriften stellen, die nicht ohne weiteres durch eine Orientierung an der bisherigen Rechtsprechung des EuGH beantwortet werden können. Solange die hieraus resultierenden Unsicherheiten fortdauern, stehen die betreffenden nationalen Gerichte daher vor besonderen Schwierigkeiten.408

3. Ergebnis zur Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts Die Verwirklichung des Ziels, nationale Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu unterstützen, ist nur insoweit geboten, als nationale Gerichte mit besonderen Schwierigkeiten bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts konfrontiert sind. Besondere Schwierigkeiten in diesem Sinne sind anzuerkennen, wenn Divergenzen zwischen den vom nationalen Gericht zu vergleichenden Sprachfassungen bestehen oder wenn ein in einem gemeinschaftsrechtlichen Normtext verwendeter Ausdruck im nationalen Recht nicht existiert bzw. ersichtlich mit einer anderen Bedeutung verwendet wird. Ferner liegen besondere Schwierigkeiten vor, wenn der Einsatz der auf die Systematik und die Teleologie gestützten Interpretationsargumente gerade wegen des gemeinschaftsrechtlichen Charakters des zu interpretierenden Normtextes erhöhte Anforderungen an die nationalen Gerichte stellt oder wenn die Interpretation wegen der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit des Gemeinschaftsrechts mit größeren Unsicherheiten behaftet ist. Darüber hinaus stellt die (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen die nationalen Gerichte vor besondere Schwierigkeiten. Schließlich sind in einer Übergangszeit nach dem Beitritt neuer Staaten zur Gemeinschaft auch deren Ge408

In diese Richtung auch Heß, RabelsZ 2002, 470 (483).

§ 5 Gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis

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richte bei der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert.

III. Gebotener Umfang des Schutzes individueller Rechtspositionen Das mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgte Ziel, individuelle Rechtspositionen zu schützen, steht zunächst in einem Spannungsverhältnis zu der Funktion der nationalen Gerichte als erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte. Aus dieser Funktion folgt nach ständiger Rechtsprechung des EuGH die primäre Verantwortung der nationalen Gerichte für den effektiven Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen individuellen Rechtspositionen.409 Demgegenüber ist der EuGH selbst nur ausnahmsweise zum Schutz dieser Rechtspositionen im Vorabentscheidungsverfahren berufen.410 Daneben kann der Schutz individueller Rechtspositionen im Vorabentscheidungsverfahren auch mit der Notwendigkeit einer Begrenzung der Arbeitslast des EuGH in Konflikt geraten. Zwar können bloße Erwägungen der Arbeitsreduzierung als solche Beeinträchtigungen des gebotenen Rechtsschutzes nicht rechtfertigen. Allerdings ist die Begrenzung der Arbeitslast des EuGH nicht Selbstzweck, sondern mittlerweile unabdingbar zur Aufrechterhaltung einer funktionierenden Rechtspflege, ohne die die Möglichkeit des Schutzes individueller Rechte von vornherein nicht besteht. Auch die Notwendigkeit einer Begrenzung der Arbeitslast des EuGH hat daher zur Folge, daß dieser nicht in jedem Fall individuellen Rechtsschutz gewährleisten kann, in dem die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens theoretisch möglich wäre. Schließlich kann der Schutz individueller Rechtspositionen im Vorabentscheidungsverfahren auch mit dem Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer konfligieren. Dies mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als geradezu selbstverständ409 Vgl. zu dieser Aufgabe der nationalen Gerichte etwa Urteile vom 9. 3. 1978, Rs. 106 / 77 – Staatliche Finanzverwaltung / Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 21 (644), vom 7. 7. 1981, Rs. 158 / 80 – Rewe / HZA Kiel, Slg. 1981, 1805, Rn. 44 (1838), vom 14. 12. 1995, Rs. C-312 / 93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12 (I-4620 f.), und vom 20. 9. 2001, Rs. C-453 / 99 – Courage und Crehan, Slg. 2001, I-6297, Rn. 25 (I-6323); vgl. ferner GA Gulmann, Schlußanträge vom 16. 2. 1993, Rs. C-289 / 91 – Kuhn, Slg. 1993, I-4446, Rn. 16 f. (I-4452 f.); GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 5. 1995, verb. Rs. C-430 / 93 und C-431 / 93 – Van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4707, Rn. 29 (I-4716); GA Léger, Schlußanträge vom 20. 6. 1995, Rs. C-5 / 94 – Hedley Lomas, Slg. 1996, I-2556, Rn. 54 (I-2568). 410 So ausdrücklich GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 5. 1995, verb. Rs. C-430 / 93 und C-431 / 93 – Van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4707, Rn. 30 (I-4716 f.): „Dem liegt die Prämisse zugrunde, daß Rechtsstaaten ihre nationale Rechtsordnung in der Weise organisieren, daß die ordnungsgemäße Anwendung des Rechts und ein angemessener Rechtsschutz für ihre Bürger gewährleistet werden. Aus diesem Grund wird der Gerichtshof nur ausnahmsweise einzugreifen haben, um sicherzustellen, daß dem Gemeinschaftsrecht Wirkung verliehen wird“ (Hervorhebung nur hier).

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lich: Für den Schutz eines Rechts kann eine schnelle Entscheidung auf nationaler Ebene effektiver sein als die Einschaltung des EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens.411 Dies wird vor allem dann der Fall sein, wenn der Streitgegenstand im Ausgangsrechtsstreit für die Parteien nur von geringer Bedeutung ist. Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts ist daher davon auszugehen, daß dem Ziel des Schutzes individueller Rechtspositionen nur insoweit Vorrang vor den gegen eine Vorlage sprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben einzuräumen ist, als die Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens zu einem erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität führen kann. Es liegt auf der Hand, daß die mit dem Vorabentscheidungsverfahren als solchem verbundenen Vorteile für den Schutz individueller Rechte, insbesondere die hohe Richtigkeitsgewähr und die gemeinschaftsweite Verbindlichkeit von Vorabentscheidungen, nicht ohne weiteres ausreichen, um einen erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität anzunehmen. Anderenfalls verdrängte das Ziel des Schutzes individueller Rechtspositionen stets die gegen eine Vorlage sprechenden Vorgaben, was insbesondere auf eine völlige Entwertung der Funktion nationaler Gerichte als Gemeinschaftsgerichte erster Instanz hinausliefe. Die Annahme eines erheblichen Zuwachses an Rechtsschutzqualität durch das Vorabentscheidungsverfahren ist daher an zusätzliche Voraussetzungen zu knüpfen. Als solche sind zum einen die naheliegende Möglichkeit einer Rechtsgutsverletzung oder deren erhebliches Ausmaß anzuerkennen. Zum anderen ist ein erheblicher Zuwachs an Rechtsschutzqualität auch dann anzuerkennen, wenn sich die aufgeworfene Auslegungsfrage auf die (Weiter-) Entwicklung von Rechtsgrundsätzen bezieht, die individuelle Rechtspositionen betreffen.

1. Naheliegende oder erhebliche Rechtsgutsverletzung Für den einzelnen, um dessen individuelle Rechtsposition im Ausgangsverfahren gestritten wird, hat eine Vorabentscheidung des EuGH unter Rechtsschutzgesichtspunkten den Vorteil erhöhter Richtigkeitsgewähr.412 Die grundsätzliche Überantwortung des Schutzes individueller Rechtspositionen an die nationalen Gerichte impliziert, daß es dieser erhöhten Richtigkeitsgewähr in der Regel nicht bedarf, um effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Geht man jedoch davon aus, daß die Anforderungen an die Rechtsschutzqualität mit der Wahrscheinlichkeit des Eintritts etwaiger Rechtsverletzungen zunehmen, ist eine erhöhte Richtigkeitsge411 Vgl. hierzu (am Beispiel der Vorlagepflicht in summarischen Verfahren) Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 243. 412 Vgl. hierzu bereits oben A. I. 3. Neben der erhöhten Richtigkeitsgewähr kann unter Rechtsschutzgesichtspunkten von Vorteil sein, daß Vorabentscheidungen – anders als Entscheidungen nationaler Gerichte – eine gemeinschaftsweite Wirkung entfalten (vgl. hierzu sogleich C. III. 2.). Dieser Vorteil kommt jedoch nicht den am Ausgangsverfahren beteiligten Parteien zu, sondern ausschließlich Dritten.

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währ der Entscheidung dort geboten, wo die Möglichkeit unzutreffender Interpretation besonders naheliegt. Dies ist der Fall, wenn die nationalen Gerichte mit besonderen Schwierigkeiten bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts konfrontiert sind. Das Gewicht der Richtigkeitsgewähr steigt jedoch auch mit dem Ausmaß und der Nachhaltigkeit möglicher Rechtsgutsverletzungen, die durch eine unzutreffende Interpretation verursacht werden können. Daher ist eine erhöhte Richtigkeitsgewähr auch dann erforderlich, wenn die Interpretation zu einer schweren und irreparablen Verletzung hochwertiger Rechtsgüter führen kann. Mit der Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens ist demnach ein erheblicher Zuwachs an Rechtsschutzqualität verbunden, wenn die Interpretation des einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Normtextes das nationale Gericht vor besondere Schwierigkeiten stellt oder wenn die Beantwortung der aufgeworfenen Auslegungsfrage im Ausgangsrechtsstreit zu einer schweren und irreparablen Verletzung hochwertiger Rechtsgüter führen kann.

2. Befassung des EuGH mit der (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen Ein weiterer Vorteil von Vorabentscheidungen des EuGH liegt unter Rechtsschutzgesichtspunkten darin, daß sie eine weitergehende Wirkung entfalten als Entscheidungen nationaler Gerichte. Deren Wirkung beschränkt sich vielfach auf ein lokales oder regionales Gebiet und erstreckt sich bestenfalls auf das Territorium eines Mitgliedstaats.413 Demgegenüber kommt Vorabentscheidungen des EuGH zur Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Normtexte eine gemeinschaftsweite, zumindest faktische Bindungswirkung zu.414 Aufgrund dieser kann im Regelfall davon ausgegangen werden, daß sowohl Behörden als auch Gerichte der Mitgliedstaaten der Vorabentscheidung des EuGH folgen. Die gemeinschaftsweit einheitliche Entscheidungswirkung ist unter Rechtsschutzgesichtspunkten zwar vorteilhaft, doch ist sie in der Regel zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht erforderlich, wie die grundsätzliche Überantwortung des Schutzes individuel413 Darüber hinaus können Gerichtsentscheidungen auch im Rahmen der vergleichenden Interpretation gewisse Wirkungen haben; diese sind jedoch im vorliegenden Zusammenhang nicht ausschlaggebend. – Eine Ausnahme bilden Entscheidungen des Benelux-Gerichtshofs, der aus Sicht des Gemeinschaftsrechts als nationales Gericht anzusehen ist (vgl. implizit EuGH, Urteil vom 4. 11. 1997, Rs. C-337 / 95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Rn. 20 ff. [I-6043]); seine Entscheidungen wirken in Belgien, Luxemburg und den Niederlanden. 414 Auslegungsentscheidungen binden unmittelbar nur das vorlegende Gericht und – soweit vorhanden – die nachfolgend mit dem Ausgangsrechtsstreit befaßten (Rechtsmittel-) Gerichte; vgl. CR / Wegener, Art. 234 EGV, Rn. 32; Schwarze / Schwarze, Art. 234 EGV, Rn. 63. Darüber hinaus kommt ihnen jedoch insofern eine tatsächliche Bindungswirkung zu, als nationale Gerichte in aller Regel nicht von Entscheidungen des EuGH abweichen, ohne die betreffende Frage erneut vorzulegen; vgl. näher Schwarze / Schwarze, ebd., Rn. 66 m. w. N.

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ler Rechte an die nationalen Gerichte zeigt. Ein besonderes Bedürfnis für die gemeinschaftsweite Wirkung einer Entscheidung besteht jedoch dann, wenn mit dieser Entscheidung allgemeine Rechtsgrundsätze oder Grundsätze des Gemeinschaftsrechts (weiter)entwickelt werden, die individuelle Rechtspositionen betreffen.415 Zwar dürfen auch nationale Gerichte solche Grundsätze entwickeln.416 Anders als bei geschriebenem Recht kann hier jedoch nicht unmittelbar auf einen Normtext zurückgegriffen werden, um das Bestehen und den Umfang individueller Rechtspositionen zu bestimmen, so daß deren effektive Durchsetzung in ganz erheblicher Weise von ihrer gemeinschaftsweit einheitlichen Gestaltung durch den EuGH abhängig ist. Ein Vorabentscheidungsverfahren bietet somit auch dann einen erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität, wenn die vor dem nationalen Gericht aufgeworfene Auslegungsfrage die (Weiter-)Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze oder von Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts betrifft.

3. Ergebnis zum Schutz individueller Rechtspositionen Dem mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziel, individuelle Rechtspositionen zu schützen, ist Vorrang vor den gegen eine Vorlage sprechenden Vorgaben einzuräumen, soweit mit der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens ein erheblicher Zuwachs an Rechtsschutzqualität verbunden ist. Dies ist der Fall, wenn aufgrund besonderer Schwierigkeiten die Möglichkeit einer unzutreffenden Interpretation besonders naheliegt oder wenn die Beantwortung der aufgeworfenen Auslegungsfrage im Ausgangsrechtsstreit zu einer schweren und irreparablen Verletzung hochwertiger Rechtsgüter führen kann. Ein erheblicher Zuwachs an Rechtsschutzqualität ist ferner zu bejahen, wenn sich die aufgeworfene Frage auf die (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen bezieht, die individuelle Rechtspositionen betreffen.

IV. Auswirkungen des Rangverhältnisses zwischen den Zielen auf das Auslegungsbedürfnis Die Beurteilung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses kann von dem Rangverhältnis zwischen den mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen nicht unberührt bleiben.417 Insoweit sind drei Konstellationen zu unterscheiden. 415 In diesem Sinne hebt Zuleeg, JZ 1994, 1 (3), den Vorteil der Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Schadensersatzanspruchs für staatliche Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht durch den EuGH statt durch ein nationales Gericht hervor. 416 Vgl. Zuleeg (vorige Fn.). 417 Vgl. zum Rangverhältnis zwischen den Zielen ausführlich oben A. II.

§ 5 Gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis

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Soweit die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens zur Verwirklichung eines höherrangigen Zieles beiträgt, ist das Auslegungsbedürfnis ohne weiteres zu bejahen, ohne daß es noch darauf ankäme, ob rangniedrigere Ziele ebenfalls verwirklicht werden. Daher ist das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis stets vorrangig im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen. Nur wenn es insoweit nicht vorliegt, stellt sich die Frage, ob es im Hinblick auf die Unterstützung der nationalen Gerichte zu bejahen ist. Erst wenn und soweit auch dies nicht der Fall ist, kann untersucht werden, ob ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis aus Gründen des Schutzes individueller Rechtspositionen besteht. Aufgrund dieser aus dem Rangverhältnis der Ziele abgeleiteten Prüfungsfolge kommt dem Schutz individueller Rechtspositionen nur in den seltenen Fällen eine eigenständige Bedeutung für die Begründung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses zu, in denen die Beantwortung der aufgeworfenen Auslegungsfrage zu einer schweren und irreparablen Verletzung hochwertiger Rechtsgüter führen kann. Zwar ist das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis im Hinblick auf den Individualrechtsschutz auch dann zu bejahen, wenn wegen besonderer Schwierigkeiten bei der Interpretation eine Rechtsgutsverletzung besonders naheliegt oder wenn die aufgeworfene Frage die (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen betrifft, die für individuelle Rechtspositionen von Bedeutung sind. In beiden Fällen liegt das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis jedoch bereits im Hinblick auf die Unterstützung nationaler Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts vor.418 Die zweite Konstellation betrifft Fälle, in denen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren nicht zur Verwirklichung eines höherrangigen Zieles beiträgt, dafür aber ein rangniedrigeres Ziel verwirklicht. Aus dessen niedrigerem Rang folgt, wie sich aus den vorstehenden Ausführungen bereits ergibt, nicht etwa die Verneinung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses. Dieses liegt vielmehr nur dann nicht vor, wenn die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren keines der Ziele verwirklicht. Die dritte Konstellation, in der die Rangordnung der Ziele für die Beurteilung des Auslegungsbedürfnisses eine Rolle spielt, ist der Konflikt zwischen den Zielen innerhalb eines Vorabentscheidungsverfahrens. In diesem Fall trägt das Verfahren zwar grundsätzlich zur Verwirklichung beider Ziele bei, doch stehen diese untereinander in einem Spannungsverhältnis. In Zielkonflikten dieser Art setzt sich das jeweils höherrangige Ziel durch, so daß das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis im Hinblick auf ein rangniedrigeres Ziel nur insoweit zu bejahen ist, als die Verwirklichung des höherrangigen Ziels nicht beeinträchtigt wird. Eine derartige Sperrwirkung entfaltet das Ziel der Einheitlichkeitswahrung insoweit, als eine 418 Vgl. zur Begründung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses hinsichtlich der Unterstützung nationaler Gerichte wegen besonderer Schwierigkeiten bei der Interpretation oben C. II. 1. a) und im Falle von Fragen, die die (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen betreffen, oben C. II. 1. b).

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Teil 1: Entwicklung der zielorientierten Konzeption

zu starke Ausdifferenzierung der Rechtsprechung die Einheitlichkeit eher gefährdete als sicherte.419 Insbesondere bei Präzisierungsfragen ist daher das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis trotz etwaiger besonderer Schwierigkeiten bei der Interpretation oder eines mit einer Vorlage an den EuGH verbundenen erheblichen Rechtsschutzzuwachses zu verneinen, soweit die einschlägige Rechtsprechung bereits hinreichend detailliert ist.

D. Reichweite des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses Als Ergebnis der Abwägung zwischen den mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen einerseits und den gegen eine Vorlage sprechenden Vorgaben andererseits ergibt sich damit die nachfolgend beschriebene Reichweite des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses. Zu bejahen ist ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis zunächst im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts, wenn der Verzicht auf eine Vorlage an den EuGH zu mehr als nur geringfügigen Beeinträchtigungen dieser Einheitlichkeit führt. Liegt bereits lösungsrelevante Rechtsprechung des EuGH vor, an der sich das nationale Gericht orientiert, ist von Geringfügigkeit in diesem Sinne auszugehen, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage (1) mit einer bereits beantworteten übereinstimmt, wenn sie (2) auf die weitere Präzisierung der lösungsrelevanten Rechtsprechung gerichtet ist, ihre Beantwortung aber wegen zu starker Orientierung an den konkreten Umständen des Ausgangsrechtsstreits nicht mehr für eine erhebliche Anzahl anderer Rechtsstreite verwertbar wäre, oder wenn sie (3) einen Normtext betrifft, zu dem bereits gefestigte Rechtsprechung des EuGH besteht, deren ratio decidendi in nicht ernsthaft zu bezweifelnder Weise auf das im Ausgangsrechtsstreit zu beurteilende Geschehen übertragen werden kann. Fehlt demgegenüber lösungsrelevante Rechtsprechung des EuGH, sind etwaige Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit nur geringfügig, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage (1) einen sekundärrechtlichen Normtext betrifft und zweifelsfrei zu beantworten ist, wenn sie (2) lediglich für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite relevant ist oder wenn sie sich (3) auf unverbindliche Handlungen bezieht. Liegt das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis nicht schon im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts vor, so ist es gleichwohl hinsichtlich der Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich zu bejahen, sofern diese Gerichte bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts vor besonderen Schwierigkeiten stehen. 419 Vgl. zu der aus dem Ziel der Einheitlichkeitswahrung selbst folgenden Begrenzung der Rechtsprechungspräzisierung bereits oben C. I. 1. a) (2).

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Solche liegen von vornherein nicht vor, wenn es sich bei der aufgeworfenen Auslegungsfrage um eine Wiederholungsfrage handelt oder wenn im Falle einer Übertragungsfrage die ratio decidendi der lösungsrelevanten Rechtsprechung in nicht ernsthaft zu bezweifelnder Weise auf das vom nationalen Gericht zu beurteilende Geschehen übertragen werden kann. Sie sind jedoch anzuerkennen, wenn (1) die vom nationalen Gericht zu vergleichenden Sprachfassungen des zu interpretierenden Normtextes untereinander erkennbar divergieren, wenn (2) der zu interpretierende Normtext einen Ausdruck enthält, der im nationalen Recht nicht existiert oder mit einer ersichtlich anderen Bedeutung verwendet wird, wenn (3) der Einsatz der auf die Teleologie und die Systematik gestützten Interpretationsargumente gerade wegen der Zugehörigkeit des zu interpretierenden Normtextes zum Gemeinschaftsrecht erhöhte Anforderungen an die nationalen Gerichte stellt bzw. die Interpretation wegen der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit des Gemeinschaftsrechts mit größeren Unsicherheiten verbunden ist, wenn (4) die aufgeworfene Auslegungsfrage die (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen betrifft oder wenn (5) in einer Übergangszeit nach dem Beitritt neuer Staaten zur Gemeinschaft deren Gerichte gemeinschaftsrechtliche Normtexte zu interpretieren haben. Trotz des Vorliegens besonderer Schwierigkeiten bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts ist ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis allerdings zu verneinen, wenn eine weitere Ausdifferenzierung der Rechtsprechung die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts eher beeinträchtigte als sicherte. Liegt das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis auch nicht aus Gründen der Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts vor, ist es im Hinblick auf den Schutz individueller Rechtspositionen zu bejahen, wenn eine Vorlage an den EuGH zu einem erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität führt. Dies ist der Fall, wenn die Beantwortung der aufgeworfenen Auslegungsfrage im Ausgangsrechtsstreit zu einer schweren und irreparablen Verletzung hochwertiger Rechtsgüter führen kann. Auch hier ist das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis jedoch trotz des mit einer Vorlage an den EuGH verbundenen erheblichen Zuwachses an Rechtsschutzqualität zu verneinen, wenn eine weitere Ausdifferenzierung der Rechtsprechung die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts eher beeinträchtigte als sicherte.

Teil 2

Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption in Art. 234 Abs. 1 § 6 Methodologischer Standpunkt Die interpretative Einbeziehung der hier entwickelten zielorientierten Konzeption in Art. 234 Abs. 1 ist mit den Mitteln der im Gemeinschaftsrecht zulässigen Interpretationsmethodik vorzunehmen. Bevor auf diese näher eingegangen wird,420 sind die Grundlinien des hier vertretenen methodologischen Standpunktes zu skizzieren.421 Zunächst ist in begrifflicher Hinsicht hervorzuheben, daß in dieser Arbeit der Ausdruck ,Interpretation‘ grundsätzlich dem Ausdruck ,Auslegung‘ vorgezogen wird. Mit letzterem wird hier ausschließlich die interpretative Tätigkeit des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren bezeichnet.422 Die grundsätzliche Bevorzugung des Ausdrucks ,Interpretation‘ dient nicht nur dazu, allgemeine Aussagen über Interpretation klar von spezifischen Aussagen über das Vorabentscheidungsverfahren zu trennen, sondern ist auch eine Absage an die Vorstellung, die Bedeutung einer rechtlichen Regelung sei in dieser bereits enthalten und müsse nur noch aus dem Text „(her)ausgelegt“ werden. Damit sind bereits zwei wichtige Aspekte des hier vertretenen methodologischen Standpunktes angesprochen, nämlich die Frage, was unter dem Ausdruck ,Bedeutung‘ zu verstehen ist, und die Rolle des Interpreten bei der Interpretation. Beide Aspekte können nicht ohne Rücksicht auf Erkenntnisse über die Wirkungsweise von Sprache behandelt werden: Recht bedarf zu seiner Setzung und Durchsetzung der Sprache, ist also existentiell auf sie angewiesen.423 Dieser ZusammenDazu unten § 7. Der hier vertretene Standpunkt ist stark durch Grundaussagen der von Friedrich Müller entwickelten Methodik (vgl. zu deren Grundlagen Müller / Christensen, Methodik I, zu ihrer Ausprägung im Gemeinschaftsrecht Müller / Christensen, Methodik II) beeinflußt, die für das Gemeinschaftsrecht teilweise schon von GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 43 ff., rezipiert worden ist. 422 Sofern nachfolgend auf Quellen verwiesen wird, in denen von ,Auslegung‘ die Rede ist, wird dieser Ausdruck jedoch in der Regel beibehalten. 423 Anschaulich Aarnio, FS Krawietz, S. 643: „A judge is a prisoner of language“; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 150: „Es gibt kein Recht außerhalb der Sprache“; vgl. auch Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 219; Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 117; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 39 f. 420 421

§ 6 Methodologischer Standpunkt

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hang ist zu eng und für das Verständnis des Interpretationsvorgangs zu wichtig, als daß juristische Interpretationsmethodik von gesicherten sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen über grundlegende Voraussetzungen des „Funktionierens“ von Sprache abstrahieren oder sich gar eine eigene, aber sprachwissenschaftlich unhaltbare Sprachtheorie zurechtlegen könnte. Juristische Methodik kann sich daher insoweit der Rezeption sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht (mehr) entziehen.424 Für juristische Interpretation ist daneben noch ein dritter Aspekt prägend: Sie muß in einem noch näher zu erörternden Sinne richtig sein.

A. Was heißt ,Bedeutung‘? Wird die Frage nach der ,Bedeutung‘425 im Hinblick auf sprachliche Äußerungen aufgeworfen, so weist sie zunächst in den Bereich der Semiotik, also der Lehre von Zeichen: Wörter (Ausdrücke) und Wortkombinationen (Texte) sind nichts anderes als – sprachliche – Zeichen.426 Ein Zeichen ist etwas, das für etwas anderes steht, also etwas anderes repräsentiert.427 Durch seine Verwendung kann demnach auf etwas außerhalb des Zeichens Liegendes, ein Referenzobjekt,428 verwiesen werden.429 Dies setzt allerdings voraus, daß vorher festgelegt wurde, wofür das Zeichen stehen soll. Der Inhalt dieser Festlegung kann als Bedeutung des Zeichens aufgefaßt werden. Diese ist zu unterscheiden von der (äußeren) Form des Zeichens, etwa einer mathematischen Formel oder einem Verkehrsschild etc.,430 und darf auch nicht mit einem (konkreten) Referenzobjekt oder dem Verweis auf ein solches verwechselt werden.431 Vielmehr vermittelt sie zwischen der Zeichenform einerseits und der Gesamtheit der Referenz424 Über die angesprochenen gesicherten Erkenntnisse grundlegender Voraussetzungen der Wirkungsweise von Sprache hinaus sind sprachwissenschaftliche Theorien für die juristische Arbeit freilich von nur begrenztem Interesse, worauf insbesondere Wank, Begriffsbildung, S. 16 und 30, zutreffend hinweist. 425 Vgl. zur „Bedeutung der Bedeutung“ Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 127 ff.; Wank, Begriffsbildung, S. 9 ff. 426 Kleinere sprachliche Zeichen als Wörter, insbesondere Morpheme, sind im vorliegenden Zusammenhang nicht relevant. 427 Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 17 f.; Pelz, Linguistik, S. 39. 428 Dieses kann ein konkreter Gegenstand, aber auch ein Abstraktum, eine Regel etc. sein. 429 Es wird hier bewußt die Formulierung vermieden, das Zeichen verweise auf etwas: Nicht das Zeichen als solches verweist auf etwas, sondern derjenige, der das Zeichen verwendet. Vgl. hierzu Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 25; Pelz, Linguistik, S. 242 f. 430 Vgl. zur Unterscheidung und zum Zusammenhang zwischen Zeicheninhalt (Bedeutung) und Zeichenform (Ausdruck) Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 30 ff.; Pelz, Linguistik, S. 43 ff. 431 Vgl. zur Unterscheidung zwischen der Bedeutung eines Zeichens und dem von ihm Bezeichneten Brekle, Semantik, S. 54 ff.; Gross, Linguistik, S. 110; Pelz, Linguistik, S. 182 ff.; vgl. ferner Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 26 f.

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objekte andererseits, die durch die Verwendung des Zeichens bezeichnet werden können.432 Wichtig ist, daß die (erstmalige) Festlegung, wofür ein Zeichen stehen soll, willkürlich ist. Es gibt also keinen natürlichen oder sonst notwendigen Zusammenhang zwischen einem Zeichen und seiner Bedeutung: Diese ergibt sich nicht unmittelbar aus dem Zeichen selbst.433 Besonders deutlich ist dies etwa bei Formelsprachen, wie sie in der Mathematik bzw. Chemie verwendet werden, oder bei Notierungen in der Musik. Wegen der Willkürlichkeit des Zusammenhangs zwischen Zeichenform und Zeicheninhalt ist ein Zeichen allerdings nur dann brauchbar, wenn die Zuordnung zwischen beiden grundsätzlich stabil bleibt.434 Die erforderliche Stabilität wird durch die Konventionalisierung der Zuordnung erreicht. Diese erlangt demnach die Qualität einer Regel, was meist durch (stillschweigende) Vereinbarung geschieht, aber auch im Wege verbindlicher Anordnung erfolgen kann. Da sie den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Zeichenform und Zeicheninhalt beschreibt, kann sie als ,semantische Konvention‘ bezeichnet werden.435 Neben der Semantik als der Lehre von der Bedeutung von Zeichen enthält die Semiotik zwei weitere Teildisziplinen, die sich aus zwei prägenden Eigenschaften von Zeichen ergeben. Zunächst sind Zeichen zumeist Teile eines Systems. Es bedarf daher der Klärung des Zusammenhangs zwischen verschiedenen Zeichen eines Zeichensystems und der Festlegung der Regeln, nach denen Zeichen miteinander kombiniert werden können. Dies leistet die Syntaktik.436 Die zweite prägende Eigenschaft von Zeichen ist ihre kommunikative Funktion: Sie dienen dazu, Kommunikation zu ermöglichen. Mit dieser Funktion, insbesondere mit der Einbettung der Zeichenverwendung in Kommunikationssituationen, beschäftigt sich die Pragmatik.437 Die vorstehend skizzierten allgemeinen Aussagen über die Semiotik gelten grundsätzlich auch für die in natürlichen Sprachen verwendeten Zeichen und Zeichenkombinationen, also Wörter und Texte. Zwischen diesen und ihrer Bedeutung 432 Vgl. zu dem aus den drei genannten Elementen – Zeichenform (Ausdruck), Bedeutung (Begriff) und Referenzobjekt (repräsentierte Entitäten) – gebildeten semiotischen Dreieck Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 128 ff.; Pelz, Linguistik, S. 45; Wank, Begriffsbildung, S. 10 f. (dort bezeichnet als ,semantisches Dreieck‘). Eine Variante unter Einbeziehung des Zeichnbenutzers findet sich bei Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 31. 433 Gross, Linguistik, S. 28; Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 33. – Einen Grenzfall stellen sogenannte Ikone (icons) dar. Dies sind Zeichen, die das von ihnen Bezeichnete (z. B. optisch oder phonetisch) abbilden, etwa Piktogramme. Vgl. zu Ikonen Brekle, Semantik, S. 38 f.; Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 31 f. 434 Vgl. hierzu Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 33 f.; Pelz, Linguistik, S. 40. 435 Näher zum Begriff. der semantischen Regel Brekle, Semantik, S. 30 ff. 436 Brekle, Semantik, S. 23; Gross, Linguistik, S. 31; Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 40. 437 Brekle, Semantik, S. 23 f.; Gross, Linguistik, S. 31; Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 41 f. Die Abgrenzung zwischen Semantik, Syntaktik und Pragmatik ist im einzelnen freilich nicht sehr klar; vgl. hierzu (hinsichtlich Semantik und Pragmatik) Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 151 ff.

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besteht daher ebenfalls kein natürlicher Zusammenhang.438 Im Hinblick auf die insoweit einschlägigen semantischen Konventionen sind jedoch einige Präzisierungen und Modifikationen erforderlich. Semantische Konventionen im Bereich natürlicher Sprachen bilden sich durch den tatsächlichen Gebrauch sprachlicher Zeichen heraus.439 Sie weisen zwar eine gewisse Stabilität auf, sind aber sowohl in zeitlicher Hinsicht Änderungen unterworfen als auch inhaltlich nicht starr und abschließend definiert.440 Im Gegensatz zu formalisierten Sprachen sind sie daher nicht eindeutig. Während etwa in der mathematischen Formelsprache das Zeichen ,+‘ eindeutig als Anweisung zur Addition verstanden wird, rufen die Wörter ,Straße‘, ,Papierkorb‘ oder ,Verletzung‘ lediglich bestimmte Assoziationen wach, die die Bedeutung dieser Wörter weder klar definieren noch trennscharf zu den Bedeutungen anderer Wörter abgrenzen.441 Die Bedeutung eines Wortes läßt sich daher nicht allein aufgrund semantischer Konventionen bestimmen; diese liefern vielmehr nur „Bedeutungsrohlinge“, die der weiteren Ergänzung bedürfen.442 Voraussetzung dieser Ergänzung ist die Einbeziehung der Kontexte, in denen ein sprachliches Zeichen verwendet wird.443 Hier ist zunächst an den sprachlichen Kontext zu denken, etwa an ein Wort in einem Satz, der seinerseits Bestandteil eines Textes ist. Der thematische Zusammenhang des Textes kann bei der Bestimmung der Bedeutung eines Wortes ebensowenig unberücksichtigt bleiben wie seine syntaktische Struktur. Darüber hinaus stehen sprachliche Zeichen aber auch stets in dem Kontext einer Kommunikationssituation. Eine solche Situation ist durch zahlreiche Aspekte gekennzeichnet, die ebenfalls Einfluß auf die Bedeutung der in ihr verwendeten sprachlichen Zeichen haben.444 So macht es etwa einen Unterschied, ob die Kommunikation mündlich oder schriftlich, ob sie unter Anwesenden oder Abwesenden und ob sie zeitgleich oder zeitverschoben stattfindet. Von besonderem Gewicht für die Kommunikationssituation sind die an ihr Beteiligten: Da jede Person über einen individuellen Wissens- und Erfahrungshorizont verfügt, der

438 Vgl. Gast, Rhetorik, Rn. 148; Griller, FS Rill, S. 543 (550), der die gegenteilige Auffassung als unkritischen Regelplatonismus charakterisiert; Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 159; Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 117. 439 Nach Wittgenstein gilt daher in der Mehrzahl der Fälle für die Bedeutung: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Philosophische Untersuchungen, § 43). 440 Vgl. Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 35. 441 Vgl. zur Notwendigkeit dieser Unschärfe für das Funktionieren von Sprache Fastenrath, EJIL 1993, 305 (311); Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 167; Röhl, Rechtslehre, S. 20. 442 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 85, vergleicht (sprachliche) Regeln treffend mit Wegweisern: „Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. [ . . . ] Zeigt er, in welche Richtung ich gehen soll, wenn ich an ihm vorbei bin; ob der Straße nach, oder dem Feldweg, oder querfeldein?“ Vgl. ferner Aarnio, FS Krawietz, S. 643 (644). 443 Zum notwendigen Zusammenhang von Semantik, Syntaktik und Pragmatik im Kommunikationsprozeß auch Brekle, Semantik, S. 27. 444 Zur „vereindeutigenden“ Funktion der Pragmatik Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 168; ferner Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 172.

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auch ihre Assoziationen bei der Verwendung sprachlicher Zeichen mitprägt,445 können zwei verschiedene Personen die Bedeutung solcher Zeichen nie identisch bestimmen.446 Im Hinblick auf die kommunikative Funktion sprachlicher Zeichen folgt hieraus, daß diese keine Vehikel zur unveränderten Übertragung einer bestimmten Bedeutung sein können.447 Der Urheber einer Äußerung, etwa der Autor eines Textes, kann ihre Bedeutung somit nicht abschließend determinieren. Festlegen kann er nur das Äußerliche, den Text selbst.448 Indem er diesen äußert, also gewissermaßen „in den Raum stellt“, gibt er ihn der Rezeption durch andere Personen preis. Für diese hat der Text aber nicht dieselbe Bedeutung wie für seinen Urheber, da ihr Verständnis der einschlägigen semantischen Konventionen nicht mit dem des Urhebers identisch ist und auch die jeweilige Einschätzung der bedeutungsrelevanten Kontexte nicht völlig übereinstimmt. Die Rezeption ist demnach kein Vorgang, bei dem die Bedeutung des Textes unverändert erfaßt wird, sondern sie ist ein interpretatives Geschehen, das stets mit einer gewissen Bedeutungsverschiebung verbunden ist.449 Daher kann eine semantische Konvention auch nicht mehrmals identisch befolgt werden. Vielmehr hat jede Regelbefolgung (nur) analogischen Charakter;450 mit ihr ist stets zumindest die Möglichkeit einer Regeländerung verbunden.451 Diese ist freilich zumeist nur geringfügig, da anderenfalls die kommunikative Funktion sprachlicher Zeichen verlorenginge: Wenn ein Zeichen alles bedeuten kann, wird Verständigung unmöglich.452 Die Reichweite semanti445 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 155; ähnlich Zippelius, Methodenlehre, S. 46. Daher sind Annahmen über Aussageabsichten dessen, der etwas äußert, aus linguistischer Sicht lediglich Unterstellungen; vgl. Busse, Recht als Text, S. 34. 446 Ebenso Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 174. 447 Vgl. hierzu auch Fastenrath, EJIL 1993, 305 (312); Gross, Linguistik, S. 23 f. – Daher macht es auch keinen Sinn, nach den „wahren Absichten“ des Urhebers der Äußerung zu forschen, weil diese sich dem Text nicht entnehmen lassen. Gleichwohl faßt Fennelly, Fordham Int’l LJ 1997, S. 656 (657), Interpretation als eine derartige Suche auf; ebenso Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 13. 448 Vgl. auch Griller, FS Rill, S. 543 (559 f.). 449 In diesem Sinne kann gesagt werden: Die Bedeutung eines Zeichens ist das, als was das Zeichen verstanden wird. 450 Vgl. Busse, Recht als Text, S. 33 f.; Christensen, Gesetzesbindung, S. 193 f. 451 Vgl. Christensen, Gesetzesbindung, S. 198; GH / Nettesheim, EGV, Art. 4, Rn. 48; Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 184; ferner Röhl, Rechtslehre, S. 32 f. Zur Abweichung von Regeln im Verlauf des regelgeleiteten Handelns auch Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 83: „Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ,make up the rules as we go along‘? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along.“ 452 Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 191, warnen zu Recht davor, von dem Fehlen einer trennscharfen Begrenzung semantischer Konventionen auf inhaltliche Beliebigkeit zu schließen: Sprachliche Unschärfe ist nicht mit Gehaltlosigkeit gleichzusetzen. Vgl. auch Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 88: „Verstehen wir aber nur, was ,unexakt‘ bedeutet! Denn es bedeutet nun nicht ,unbrauchbar‘.“ Kritisch zur These einer grenzen- und damit letztlich regellosen Sprache Griller, FS Rill, S. 543 (552 ff.); ferner Gast, Rhetorik, Rn. 141. Wank, Begriffsbildung, S. 27, Fn. 71, bemerkt insoweit treffend: „Allein daß man diese These aufgrund der schriftlichen Darlegung verstehen kann, spricht gegen sie.“

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scher Konventionen ist demnach nicht beliebig; eindeutige Verstöße gegen sie können durchaus festgestellt werden.453 Dies ändert jedoch nichts an ihrer prinzipiellen Unschärfe. Deren Folgen und die damit zusammenhängenden Auswirkungen des Verwendungskontextes auf die Bedeutung sprachlicher Zeichen lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß letztere nur relativ auf den jeweiligen Kontext und damit situativ eine konkrete Bedeutung haben können. Sprachliche Zeichen sind daher erst in ihrer konkreten Verwendung Sinn-voll. Für die Bedeutung von Normtexten, also der Abfolge von Buchstaben, aus denen eine schriftlich fixierte rechtliche Bestimmung zusammengesetzt ist,454 folgt daraus, daß semantische Konventionen zwar eine Annäherung an sie ermöglichen.455 Diese Annäherung führt aber ohne Berücksichtigung der relevanten Kontexte lediglich zu einem „Bedeutungsrohling“, der für die juristische Tätigkeit grundsätzlich unzureichend ist.456 Für die praktische juristische Tätigkeit ist dies offensichtlich: Sie ist stets entscheidungsorientiert; Entscheidungen setzen aber Eindeutigkeit voraus. Diese ist in den Fällen, in denen eine juristische Entscheidung zu fällen ist, nicht lediglich aufgrund semantischer Konventionen zu erzielen. Daher bedarf es der Einbeziehung von Kontexten,457 also etwa des thematischen Zusammenhangs der Normtexte und der äußeren Situation, in der sie erlassen wurden.458 Zu den Kontex453 Vgl. GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 70; insoweit zutreffend auch Larenz, Methodenlehre, S. 322, Fn 19a; vgl. ferner Wank, Begriffsbildung, S. 32. 454 Anschaulich Gast, Rhetorik, Rn. 140, der von geringen Mengen Druckerschwärze spricht, die in Mustern auf einem Stück Papier angeordnet sind. – In linguistischer Terminologie handelt es sich bei dem Normtext um ein Textformular (Zeichenkette); die Bedeutung des Normtextes wäre als Text (sinnerfülltes Interpretationsergebnis) zu bezeichnen; vgl. Busse, Recht als Text, S. 32. 455 Semantische Konventionen können daher erste Anhaltspunkte (Arbeitshypothesen) für die Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes liefern. Hierzu näher unten § 7 A. I. 2. a). 456 Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 35, sprechen insoweit treffend von „vorläufige[r] Semantik“. Dezidiert gegen eine Beschränkung der Bedeutungsbestimmung auf semantische Konventionen auch Busse, Recht als Text, S. 35; Rill, ZfV 1985, 577 (583); vgl. ferner Cross / Harris, Precedent, S. 198; Röhl, Rechtslehre, S. 18 f.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 161 ff.; Wank, Begriffsbildung, S. 33. – Die Unzulänglichkeit einer nur semantisch abgestützten Bedeutungsbestimmung wird noch verstärkt durch die von Juristen so gern praktizierte Wortsemantik. Diese wird zwar dadurch nahegelegt, daß die Entscheidung eines juristischen Problems oft (scheinbar) von dem Verständnis nur eines einzelnen Ausdrucks abhängt. Allerdings sollte das durchaus zu begrüßende Bemühen um eine präzise Lokalisierung des Problems nicht zu der Illusion führen, das Wort löse den Fall: Genauso wenig, wie ein Lexikon die Welt begreifbar machen kann, reichen semantische Konventionen aus, um Lebenssachverhalte zu beurteilen. 457 Hier wird bewußt nicht von der Einbeziehung der Kontexte gesprochen, da diese nicht endlich und damit nicht insgesamt handhabbar sind (vgl. hierzu Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 180). Unter realen Bedingungen juristischen Handelns kann es daher immer nur darum gehen, die für die Interpretation relevanten Kontexte in den Interpretationsvorgang einzubeziehen. 458 Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 174, spricht insoweit von der „Normsituation“, mit der er das geistige und politische Umfeld der Rechtsanwendung bezeichnet.

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ten gehört auch der Interpretationskontext, also die konkrete Situation, in der Normtexte interpretiert werden. Es ist eine Illusion zu glauben, das Interpretationsergebnis wäre davon unabhängig, wer wann wo die Interpretation vornimmt.459 Schließlich gehören als Spezifika juristischer Interpretation auch das zu beurteilende Geschehen und die in ihm aufgeworfene juristische Problematik zu den zu berücksichtigenden Kontexten460: Normtexte sind nicht „an sich“ problematisch, sondern immer nur im Hinblick auf ein bestimmtes Geschehen und eine bestimmte Rechtsfrage. Ihre Bedeutung wird erst durch einen bestimmten Sachverhalt oder ein bestimmtes Rechtsproblem in Frage gestellt.461 Daher können Normtexte im Rahmen einer Entscheidung nicht sinnvoll „an sich“ interpretiert werden, sondern nur im Hinblick auf das zu beurteilende Geschehen und die aufgeworfene Rechtsfrage.462 Doch auch juristische Tätigkeit, die nicht auf den Erlaß einer Entscheidung gerichtet ist, etwa die dogmatische Tätigkeit der Rechtswissenschaft, kann sich mit einem Rückgriff auf semantische Konventionen nicht begnügen. Auch sie untersucht Normtexte nicht „an sich“, sondern im Hinblick auf eine jeweils spezifische Fragestellung, die für die zu bestimmende Normtextbedeutung relevant ist; diese Fragestellung entscheidet darüber, inwieweit konkrete Geschehensabläufe in die Interpretation einzubeziehen sind.463 Die juristische Bedeutung von Normtexten ist daher keine abstrakte, lediglich aus semantischen Konventionen gewonnene. Sie kann nur unter Berücksichtigung der relevanten Kontexte und insbesondere im Hinblick auf die aufgeworfene Rechtsfrage sowie – sofern sie als Grundlage einer Entscheidung dient – das zu 459 Vgl. Busse, Recht als Text, S. 33; Hirsch, DStZ 1998, 489 (495); ebenso, aber die Bedeutung des subjektiven Einflusses relativierend, Hassold, FS Larenz, S. 211 (216). – Demgegenüber erachtet es Larenz, Methodenlehre, S. 313 und 367, als für die Auslegung kennzeichnend, daß der Auslegende nur den Text selbst zum Sprechen bringen will, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen; reichlich idealistisch auch Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 116. – Es kann nur als erstaunlich bezeichnet werden, daß sich bei vielen Juristen nach wie vor die Fiktion einer von der jeweiligen „Anwendung“ unberührten Normtextbedeutung hält (zu dieser Fiktion und ihrer Unhaltbarkeit Hesse, Grundzüge, Rn. 53 ff.; ferner Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 172, Fn. 678). Sogar in den als objektiv geltenden Naturwissenschaften ist spätestens seit den Arbeiten Heisenbergs (Stichwort: Unschärferelation) die Beeinflussung des Geschehens schon durch die bloße Beobachtung Allgemeingut. 460 Implizit ebenso Wank, Begriffsbildung, S. 14 f. 461 Vgl. Esser, Interpretation im Recht, S. 278 (281), der auf den Einfluß hinweist, „den jeder faktische Fall im Prozeß auf das Verständnis der Norm ausübt, weil er diese in einer neuen Auslegungsbedürftigkeit zeigt. Insofern können wir sagen: jede Norm wird erst aus dem Sachverhalt bedeutungsvoll.“ Vgl. ferner Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 258. 462 Ebenso Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 259: „Der Normtext muß nicht ,an sich‘ verstanden werden, sondern so, daß er [ . . . ] die Fragestellung des Rechtsfalls beantworten kann“; a.A. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 70. 463 So wird etwa in dieser Arbeit Art. 234 Abs. 1 im Hinblick auf die Frage untersucht, wie die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren zu bestimmen und von den Befugnissen der nationalen Gerichte abzugrenzen ist. Aus dieser Fragestellung ergibt sich, daß z. B. konkrete Umstände einzelner Ausgangsrechtsstreite vor nationalen Gerichten im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle spielen.

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beurteilende Geschehen bestimmt werden. Daher ist sie stets situativ und damit relativ.464 Juristische Tätigkeit kann somit grundsätzlich nicht von einer fixierten Normtextbedeutung ausgehen, sondern muß diese immer wieder neu bestimmen.

B. Die Rolle des Interpreten Die Notwendigkeit einer immer wieder neuen Bestimmung der Normtextbedeutung lenkt den Blick auf die Rolle des Interpreten.465 Dieser ist es, der die Bedeutungsbestimmung vornimmt; mehr noch: Er konstituiert im Interpretationsvorgang überhaupt erst die juristische Bedeutung von Normtexten.466 Dies folgt zunächst daraus, daß die Normtextgeber nicht einmal ansatzweise die Kontexte überblicken können, die für die Normtextbedeutung relevant sind.467 Sie können daher nur Normtexte, nicht aber deren Bedeutung fixieren.468 Dementsprechend kann aus Normtexten auch keine Bedeutung „(her)ausgelegt“ werden,469 weil sie sich nicht schon in ihnen befindet. Interpretation ist daher kein deduktiver Vorgang. Sie kann nicht auf den (konkreten) Nachvollzug von bereits (abstrakt) Vorvollzogenem beschränkt werden,470 ist also nicht bloßes Nachdenken eines 464 Ebenso Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 173; GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 48. – Zu den hieraus folgenden Konsequenzen für das Normverständnis Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 31 f. 465 Vgl. zu dieser Rolle auch Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 282 ff. 466 Christensen, Gesetzesbindung, S. 72; Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 256 u. ö.; kritisch jedoch Griller, FS Rill, S. 543 (563). – Zu den Auswirkungen dieses Umstandes auf das Postulat der richterlichen Bindung an den Normtext auch Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 248 (259 ff.). 467 Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 f., weist in diesem Sinne zutreffend darauf hin, daß Interpretation niemals nur rekonstruktiv sein kann, weil sie eine Frage beantwortet, auf die das Gesetz die Antwort nicht geben konnte, da es den zu entscheidenden Fall noch nicht gab. – Selbst wenn sämtliche Kontexte überblickt werden könnten, verlöre die Interpretation nicht ihr aktives und kreatives Moment: Die Bedeutung „ergibt“ sich nicht aus Text und Kontext, sondern ist stets mehr als deren Summe (vgl. hierzu auch Esser, Interpretation im Recht, S. 278 [290]). Bemerkenswerterweise wird von sprachwissenschaftlicher Seite nicht nur das methodische Vorgehen (Interpretation), sondern auch das ungesteuerte „Innewerden“ einer Bedeutung (Verstehen) als aktives Verhalten angesehen; vgl. Busse, Recht als Text, S. 32 m. w. N.; Linke / Nussbaumer / Portmann, Linguistik, S. 354 f. 468 Dies gilt auch für Legaldefinitionen, die nichts anderes als verbindliche Einführungen semantischer Konventionen sind. Durch sie wird ein Ausdruck zwar definiert; die Definition ist aber selbst eine Abfolge sprachlicher Zeichen, die ihrerseits semantischen Konventionen unterliegen. Das Problem wird also nicht gelöst, sondern lediglich verschoben. 469 In diese Richtung aber Larenz, Methodenlehre, S. 313, der Auslegung als „Darlegung des in dem Text beschlossenen, aber noch gleichsam verhüllten Sinnes“ charakterisiert (Hervorhebung nur hier); ähnlich Coing, Rechtsphilosophie, S. 261; Hintersteininger, ZÖR 1998, 239 (256 f.) 470 Hesse, Grundzüge, Rn. 56; Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 248 f.; ebenso Zippelius, Methodenlehre, S. 49, der dies jedoch auf die Wahl zwischen mehreren vom Text zuge-

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Vorgedachten,471 nicht Bedeutungsfindung, sondern Bedeutungsproduktion oder -zuschreibung.472 Dem Interpreten fällt somit eine aktive, schöpferische Rolle zu, die nicht auf einen nach der „eigentlichen“ Interpretation etwa noch verbleibenden Wertungsspielraum beschränkt ist.473 Dies gilt umso mehr, als juristische Interpretation nicht vor der Frage steht, was gemeint ist, sondern vor der Frage, was zu tun ist.474 Sofern sie sich nicht in akademischen Glasperlenspielen erschöpft, hat sie stets erhebliche Konsequenzen für die außersprachliche Realität. Solche Konsequenzen, insbesondere die verbindliche Anordnung von Rechtsfolgen in einem konkreten Rechtsstreit, ergeben sich nicht aus semantischen Konventionen, sondern aus einer Entscheidung. Die Verantwortung für diese Entscheidung kann nicht auf die Normtextgeber abgewälzt werden. Sie ist vom Interpreten zu tragen, denn er allein trifft die Entscheidung.475 Dies bedeutet freilich nicht, daß der Interpret den Normtexten eine beliebige Bedeutung zuschreiben könnte. Die Auswirkungen juristischer Interpretation auf die außersprachliche Realität gehen weit über das hinaus, was „nur“ sprachliche Interpretation bewirken kann. Juristische Interpretation ist daher nur als gebundene akzeptabel. Die Verantwortung des Interpreten erstreckt sich deshalb auch auf seine Verpflichtung, dem Normtext eine richtige (zutreffende) Bedeutung beizulegen.

lassenen Bedeutungen beschränken will. Wie hier auch GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 44, der zwar insoweit von Vertragsfortbildung spricht, diese allerdings schon bei jeder Vertragsanwendung annimmt (ebd., Rn. 46). Vgl. ferner Rill, ZfV 1985, 461 (468, Fn. 27). 471 Radbruch, Recueil d’études Gény, S. 217 (218). 472 Vgl. Aarnio, FS Krawietz, S. 643 (645): „The judge forms the decision – he creates justice instead of finding it. The decisions are not hidden away like a secret treasure behind the words of law.“ Vgl. ferner Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 94 („ascription of meaning to a text“); Röttgen, Argumentation, S. 160. 473 Sie ist auch nicht beschränkt auf die in der deutschen Methodik als Rechtsfortbildung bezeichnete Tätigkeit. Deren schöpferischer Charakter ist allerdings auch verfassungsgerichtlich ausdrücklich anerkannt; vgl. BVerfGE 34, 269 (287 f.). 474 Vgl. Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (410); in diese Richtung auch Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 261; ähnlich Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 157 ff.; Wank, Begriffsbildung, S. 16. Ausgehend von diesen spezifischen Aspekten juristischer Tätigkeit schlägt Busse, Recht als Text, S. 39 f., vor, neben dem ,Verstehen‘ und der ,Interpretation‘ von Texten eine weitere Kategorie des Umgangs mit Texten, nämlich die ,Arbeit mit Texten‘ zu bilden. Demgegenüber gerät Ansätzen, die juristische Interpretation vor allem als Teil eines Kommunikationsprozesses (zwischen Rechtsetzer und Rechtsanwender) auffassen und daher versuchen, die zulässige Interpretationsmethodik aus allgemeinen Kommunikationsregeln abzuleiten, die Eigenständigkeit juristischer Interpretation allzu leicht aus dem Blick, wie etwa der Versuch zeigt, die verfassungskonforme Interpretation mit der „allgemeinen Kommunikationsregel, derzufolge ein ungehöriges Verhalten grundsätzlich nicht unterstellt werden darf“, zu begründen (so Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 30). 475 Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 288; in diese Richtung auch Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (411).

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C. Die Richtigkeit der Interpretation Richtigkeit kann in diesem Zusammenhang allerdings nicht in einem absoluten Sinne verstanden werden. Sie ist weder mit Unveränderbarkeit noch mit (objektiver) Wahrheit gleichzusetzen. 476 Einen derartigen Anspruch könnte juristische Interpretation schon wegen der subjektiven Einflüsse und Wertungen, denen sie stets ausgesetzt ist, nicht einlösen.477 Erreichbar und notwendig ist aber die intersubjektive Vermittelbarkeit der Interpretation. Diese setzt eine rational strukturierte Begründung voraus, die eine kritische Auseinandersetzung mit der vorgenommenen Interpretation ermöglicht.478 Da die Bedeutung nicht aus dem Normtext deduziert werden kann, sondern im Interpretationsprozeß erst konstituiert werden muß, kann die Begründung nicht darauf gerichtet sein, die Ableitung des Interpretationsergebnisses aus dem Normtext nachzuweisen. Sie muß vielmehr die Zurechenbarkeit der Bedeutung zum Normtext und damit ihre Vereinbarkeit mit ihm belegen.479 Gelingt dies in hinreichendem Maße, kann die Interpretation als richtig bezeichnet werden. An die Interpretationsbegründung sind hierfür sowohl argumentbezogene als auch ergebnisbezogene Vorgaben zu stellen.480 Erstere regeln primär die Zulässigkeit der Verwendung von Argumenten. Argumente in diesem Sinne sind insbesondere die herkömmlicherweise als Auslegungsmethoden,481 -kriterien482 -regeln483 oder -elemente484 bezeichneten Gesichtspunkte. Sie haben nach dem hier vertretenen methodologischen Standpunkt vor allem die Aufgabe, das Interpretationsergebnis zu rechtfertigen,485 dienen also nicht in erster Linie dessen Ermittlung.486 476 Zur Unterscheidung der für juristische Entscheidungen zu fordernden Richtigkeit und (objektiver) Wahrheit Larenz, Methodenlehre, S. 314 f.; BVerfGE 82, 30 (38 f.); vgl. ferner Häfelin / Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Rn. 73. 477 Kritisch zu einem solchen Anspruch auch Hesse, Grundzüge, Rn. 76; Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 269. 478 Zu der eine Kontrolle ermöglichenden und damit die Macht des Interpreten begrenzenden Funktion einer Begründung Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 347; vgl. auch Röttgen, Argumentation, S. 12 ff. 479 Vgl. Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 534. 480 Ebenso Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 248 (257). 481 Dies dürfte die gebräuchlichste Bezeichnung sein; vgl. etwa Anweiler, Auslegungsmethoden, passim; Bredimas, Methods of interpretation, passim; Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 268 ff.; Buck, Auslegungsmethoden, passim; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, passim. 482 So Larenz, Methodenlehre, S. 320. 483 So Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 166 ff. 484 So Hassold, FS Larenz, S. 211 (221); dort (S. 212) auch sonstige Bezeichnungen. 485 Der Ausdruck ,Rechtfertigung‘ wird hier synonym mit dem Ausdruck ,Begründung‘ verwendet; vgl. zu dieser Gleichsetzung Alexy, Argumentation, S. 54, Fn. 3; implizit ebenso Larenz, Methodenlehre, S. 293; Zippelius, Methodenlehre, S. 48. 486 Auch ein intuitiv zustandegekommenes Interpretationsergebnis kann richtig sein, wenn es sich in einer Weise begründen läßt, die den oben dargestellten Anforderungen genügt;

9 Groh

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

Dabei führen sie zu einer Rationalisierung der Begründung im doppelten Wortsinne: Sie vereinfachen die Erstellung der Begründung durch die Bereitstellung eines anerkannten Instrumentariums eingeübter, allgemein anerkannter und somit standardisierter Begründungselemente,487 die der Interpret nicht immer wieder neu er-, sondern lediglich abarbeiten muß; gleichzeitig führt ihre Verwendung durch die damit verbundene Strukturierung der Begründung, die deren Nachvollziehbarkeit und damit Überprüfbarkeit erhöht, zu einem Rationalitätszuwachs.488 Ihre Abarbeitung ermöglicht zudem die Abstützung des Interpretationsergebnisses sowohl im Hinblick auf semantische Konventionen, bei denen die Interpretation ihren Ausgang nimmt, als auch in bezug auf die zu berücksichtigenden Kontexte, etwa den sachlichen und systematischen Zusammenhang des Normtextes, die historischen Umstände zum Zeitpunkt seines Erlasses oder die mit seiner Durchsetzung verfolgten Ziele.489 Aufgrund ihrer Funktion werden die genannten Argumente hier als Interpretationsargumente bezeichnet.490 Neben der Zulässigkeit von Interpretationsargumenten regeln argumentbezogene Vorgaben auch das relative Gewicht der Argumente in der Interpretationsbegründung, also ihre jeweilige Überzeugungskraft. Diese ist dann maßgeblich, wenn (wie im Regelfall) nicht alle Argumente für dieselbe Bedeutungshypothese491 sprechen und daher ein argumentativer Konflikt auftritt; in diesem Fall sind die Argumente gegeneinander abzuwägen. Sofern keine Vorgaben für die Überzeugungskraft der Argumente existieren, stehen diese nicht in einer starren Rangordnung, sondern bilden ein anders Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 220, und Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 123, die aus Gründen der Methodenehrlichkeit die Übereinstimmung von Entscheidungsfindung und -begründung verlangen. – Vgl. zur grundsätzlichen Unabhängigkeit des Findungs-(Entdeckungs-) und des Begründungszusammenhangs Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 114 ff.; ferner Buchwald, ARSP 1993, 16 (21), der die Interpretationsargumente allerdings augenscheinlich als Instrumente der Entscheidungsfindung ansieht und daher aufgrund der Unabhängigkeit des Findungs- und Begründungszusammenhangs eine eigenständige, über die Interpretationsargumente hinausgehende Begründung des mit ihrer Hilfe gefundenen Ergebnisses verlangt. 487 Coing, Rechtsphilosophie, S. 273, spricht insoweit von der „Anwendung bewährter Standardgesichtspunkte“. Vgl. auch Buchwald, ARSP 1993, 16 (46), der die canones der Interpretation als Anleitung für die Suche nach Argumenten ansieht. 488 Vgl. zur rationalitätsstiftenden Funktion der Interpretationsargumente Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 74 f.; Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 166; Hassold, FS Larenz, S. 211 (212 f.); Zippelius, JZ 1999, 112 ff.; ferner Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 154 f. 489 Vgl. zur kontexterschließenden Funktion der Interpretationsargumente Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 173; Griller, FS Rill, S. 543 (560); Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 347, und Methodik II, S. 203 f. 490 Als Argumente werden die sogenannten Auslegungsmethoden auch aufgefaßt von Alexy, Argumentation, insbesondere S. 288 ff.; Gast, Rhetorik, Rn. 172; GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 47 ff.; Zippelius, Methodenlehre, S. 48 ff.; Zippelius, JZ 1999, 112 (115); ähnlich auch Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 179. 491 Als Bedeutungshypothese wird hier jede angenommene Bedeutung bezeichnet, für die wenigstens ein Interpretationsargument spricht, deren Annahme also nicht von vornherein völlig unplausibel ist.

§ 6 Methodologischer Standpunkt

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bewegliches System, in dem die Überzeugungskraft eines Arguments je nach Ergiebigkeit des Argumentationsmaterials und den sonstigen Umständen variieren kann.492 Gegenüber argumentbezogenen Vorgaben zeichnen sich ergebnisbezogene Vorgaben dadurch aus, daß sie die Zulässigkeit bestimmter Interpretationsergebnisse als solcher betreffen. Sie sind notwendige Ergänzung der argumentbezogenen Vorgaben, da selbst die korrekte Verwendung der Interpretationsargumente keineswegs die Gewähr für die inhaltliche Richtigkeit des Interpretationsergebnisses bieten kann: Interpretationsargumente sind Kunstregeln ohne „rechtliches Gewissen“, mit denen vielfach (fast) jedes Ergebnis begründbar ist.493 Aus den mit Hilfe der Interpretationsargumente begründbaren Ergebnissen sind daher diejenigen auszuscheiden, die aus rechtlichen Gründen nicht als zulässig anerkannt werden können. Ergebnisbezogene Vorgaben werden daher hier als (inhaltliche) Interpretationsgrenzen aufgefaßt.494 Der Umfang der an die Interpretationsbegründung zu stellenden Anforderungen läßt sich nur im Rahmen der jeweiligen Rechtsordnung näher bestimmen, deren Normtexte interpretiert werden.495 Eine Methodik, die über die Ebene allgemeiner Grundlagen hinausgelangen will, kann daher nur rechtsordnungsspezifisch konzipiert werden.496 Dies folgt schon daraus, daß (nicht nur juristische) Methodik lediglich dann hilfreich ist, wenn sie ihrem Gegenstand angemessen ist,497 dieser Gegenstand im Falle juristischer Methodik aber von Rechtsordnung zu Rechtsord492 Vgl. hierzu Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 270; Buchwald, ARSP 1993, 16 (45); Daig, FS Zweigert, S. 395 (405); Dumon, Rechtsprechung des Gerichtshofs, S. III / 87; Gast, Rhetorik, Rn. 49. Zur Sichtweise von Richtern des EuGH auch Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 402. 493 Vgl. hierzu exemplarisch Gast, Rhetorik, Rn. 155 ff.; ferner Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 248 (262 f.); Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (410). 494 Abweichend hiervon können ergebnisbezogene Vorgaben auch als zwingende (stets überzeugende) Argumente bezeichnet werden. Die Abweichung ist allerdings lediglich eine terminologische, da die betreffenden Vorgaben unabhängig von ihrer Bezeichnung eine herausgehobene, interpretationsbegrenzende Funktion haben. 495 Eine Einordnung der Auslegungsmethoden (nur) als Unterfall der allgemeinen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik lehnt auch Hahn, ZfRV 2003, 163 (166), ab. Anders augenscheinlich Bydlinski, Methodenlehre, S. 369 ff. (insbesondere 370 ff.), der methodologische Anforderungen auf einen unmittelbar aus der „Rechtsidee“ abgeleiteten Rechtsbegriff stützen will (kritisch hierzu Rill, ZfV 1985, 577 [580 ff.]); vgl. ferner Hintersteininger, ZÖR 1998, 239 (260), nach deren Ansicht die Interpretationsgrundsätze den „Strukturen der Erkenntnis“ entsprechen. Auch Esser, Interpretation im Recht, S. 278 (290), bescheinigt den Kunstregeln der Auslegung weithin universale Geltung. 496 Ebenso Griller, FS Rill, S. 543 (561 f.); Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 289; vgl. auch Buck, Auslegungsmethoden, S. 28 f.; Hoffmann-Becking, Normaufbau und Methode, S. 157; in diese Richtung auch Kühling / Lieth, EuR 2003, 371 (für Argumentationsverbote bzw. Restriktionen). 497 Vgl. Griller, FS Rill, S. 543; zum notwendigen Zusammenhang zwischen Interpretationsmethodik und konkreter Rechtsordnung auch Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 163; Mertens de Wilmars, CDE 1986, 5 (6).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

nung unterschiedlich ausgestaltet ist. Erwartungsgemäß ist daher beispielsweise die juristische Methodik des Gemeinschaftsrechts nicht mit derjenigen des Völkerrechts oder den Methodiken der Mitgliedstaaten identisch,498 und auch diese weisen untereinander durchaus Unterschiede auf.499 Die nähere Ausgestaltung der an die Interpretationsbegründung zu stellenden Anforderungen hat an explizit oder zumindest implizit normierten methodologischen Vorgaben anzusetzen. Solche finden sich in verschiedenen Rechtsordnungen sowohl hinsichtlich der Interpretationsargumente als auch der Interpretationsgrenzen. So schreiben etwa Art. 31 Abs. 1 WVRK500 und Art. 3 Abs. 1 des spanischen Código civil501 die Verwendung bestimmter Argumente vor; Art. 288 Abs. 2 EGV setzt die rechtsvergleichende Argumentation immerhin voraus.502 Umgekehrt verbieten § 6 des österreichischen ABGB503 und Art. 12 des italienischen Codice civile504 den Einsatz anderer als gesetzlich zugelassener Argumente. Im Vereinigten Königreich wurde sogar ein eigenes Interpretationsgesetz erlassen.505 Anhaltspunkte für die Gewichtung von Interpretationsargumenten lassen beispielsweise die Vorschriften über die Verfahren zur Erzeugung von Normtexten und deren Veröffentlichung erkennen; sie unterstreichen die besondere Rolle förmlich fixierter und publizierter Normtexte, denen ein besonderes Gewicht der unmittelbar auf diese gestützten Argumente entspricht.506 Interpretationsgrenzen ergeben sich beispielsweise in gestuften Rechts498 Vgl. etwa zur unterschiedlichen Gewichtung der Interpretationsargumente in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik und in nationalen Methodiken CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 11; Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 13; Oppermann, Europarecht, Rn. 578; Schwarze / Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 27. 499 Vgl. etwa Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 42 ff. 500 Er lautet: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes zu interpretieren.“ 501 Er lautet: „Las normas se interpretarán según el sentido proprio de las palabras, en relación con el contexto, los antecedentes históricos y legislativos, y la realidad social del tiempo en que han de ser aplicadas, atendiendo fundamentalmente al espíritu o finalidad de aquéllas“ (deutsche Übersetzung bei Peuster, Spanisches Zivilgesetzbuch, S. 28). 502 Ausführlich zu den Normtexten, die Anforderungen an die Ausgestaltung der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsmethodik stellen, Groh, Methodenrelevante Normtexte, passim. 503 Er lautet: „Einem Gesetze darf in der Anwendung kein anderer Verstand beigelegt werden, als welcher aus der eigentümlichen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhange und aus der klaren Absicht des Gesetzgebers hervorleuchtet“ (im Internet abrufbar unter ). 504 Er lautet: „Nell’applicare la legge non si può ad essa attribuire altro senso che quello fatto palese dal significato proprio delle parole secondo la connessione di esse, e dalla intenzione del legislatore [ . . . ]“ (deutsche Übersetzung bei Bauer / Eccher / König / Kreuzer / Zanon, Italienisches Zivilgesetzbuch, S. 45). 505 Interpretation Act 1978, Law Reports 1978, part I (Public General Acts), c. 30 (S. 691 ff.). 506 Vgl. hierzu Griller, FS Rill, S. 543 (561 f.); Rill, ZfV 1985, 577 (583); ähnlich Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 304.

§ 6 Methodologischer Standpunkt

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ordnungen aus dem Vorrang höherrangiger Normtexte; mit diesen muß die einem rangniedrigeren Normtext zugeschriebene Bedeutung vereinbar sein. Auch Vorschriften über die richterliche Bindung an den Normtext507 und die inhaltliche Bindung des Interpreten an die Interpretation eines Dritten508 geben Interpretationsgrenzen vor. Im Gemeinschaftsrecht wirkt Art. 307 interpretationsbegrenzend,509 während Art. 314 zwar selbst keine Interpretationsgrenze darstellt, aber die Ausgestaltung der Grenzfunktion des Normtextes beeinflußt.510 Soweit eine Rechtsordnung keine Normtexte mit (zumindest impliziten) argument- oder ergebnisbezogenen Vorgaben enthält, ist davon auszugehen, daß die in ihr tatsächlich praktizierte Methodik als zulässig anerkannt ist. Auf der Grundlage des Vorstehenden können die Voraussetzungen für die Annahme einer hinreichenden Begründung und damit einer zutreffenden Interpretation wie folgt angegeben werden: Richtig ist eine Interpretation dann, wenn in intersubjektiv vermittelbarer Weise dargelegt werden kann, daß die überwiegenden in der jeweiligen Rechtsordnung zulässigen Interpretationsargumente für die dem Normtext zugeschriebene Bedeutung sprechen und diese zudem die in der betreffenden Rechtsordnung geltenden Grenzen zulässiger Interpretation einhält.511 Das Überwiegen von Argumenten und damit auch die Richtigkeit juristischer Interpretation ist stets vorläufig.512 Diese hat sich in der kritischen Auseinandersetzung zu bewähren und kann sich im Nachhinein auch als unzutreffend erweisen. Es gibt daher nicht „die“ richtige Lösung, sondern nur „eine“ richtige Lösung (von potentiell mehreren).

507 Auch deren Reichweite ist nicht übernatürlich vorgegeben, sondern in jeder Rechtsordnung anhand der dort geltenden Normtexte (z. B. Art. 20 III und 97 GG) zu bestimmen. Ebenso BVerfGE 65, 182 (191); 82, 6 (11 f.); Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 160. Anders Bydlinski, Lex-lata-Grenze, S. 27 (40 f.), der verfassungsrechtliche Vorgaben insoweit lediglich als plausibilitätsstiftende Erwägungen ansieht. 508 So sind nach Art. 6 EWR-Abkommen die mit Bestimmungen des EGV identischen Bestimmungen des EWR-Abkommens im Einklang mit den einschlägigen Entscheidungen des EuGH auszulegen. – Section 3 (1) des britischen European Communities Act 1972 bestimmt: „[ . . . ] any question as to the meaning or effect of any of the Treaties, or as to the validity, meaning or effect of any Community instrument, shall be treated as a question of law (and, if not referred to the European Court, be for determination as such in accordance with the principles laid down by and any relevant decision of the European Court).“ 509 Vgl. hierzu näher unten § 7 B. I. 2. 510 Vgl. hierzu näher unten § 7 B. III. 1. b). 511 Vgl. zu den Voraussetzungen für die Annahme der Richtigkeit GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 47; Hassold, FS Larenz, S. 211 (213); Hesse, Grundzüge, Rn. 51; Larenz, Methodenlehre, S. 204; Zippelius, Methodenlehre, S. 48; BVerfGE 82, 30 (38 f.). 512 Vgl. hierzu auch Buchwald, ARSP 1993, 16 (41 f.).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

D. Fazit: Das Ziel juristischer Interpretation Der hier vertretene methodologische Standpunkt läßt sich als Beschreibung des Ziels juristischer Interpretation wie folgt zusammenfassen: Das Ziel juristischer Interpretation ist es, die im Hinblick auf die aufgeworfene Rechtsfrage513 zutreffende Bedeutung von Normtexten514 zu bestimmen und dies mit Hilfe der in der betreffenden Rechtsordnung zulässigen Interpretationsargumente im Rahmen der in dieser Rechtsordnung geltenden Grenzen zulässiger Interpretation intersubjektiv vermittelbar zu begründen.

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht Bei der interpretativen Einbeziehung der im ersten Teil dieser Arbeit entwickelten zielorientierten Konzeption in Art. 234 Abs. 1 sind die nach dem hier vertretenen methodologischen Standpunkt in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik als zulässig anzuerkennenden Interpretationsargumente heranzuziehen und die in ihr gezogenen Interpretationsgrenzen zu beachten. Diese werden, soweit für die Interpretation von Art. 234 Abs. 1 erforderlich,515 nachfolgend dargestellt.516 Die Darstellung konzentriert sich auf die Anforderungen, die an die Verwendung der Interpretationsargumente und an die Anerkennung von Interpretationsgrenzen im Gemeinschaftsrecht zu stellen sind. 513 Sofern die Interpretation als Grundlage einer verbindlichen Entscheidung dienen soll, ist sie zudem im Hinblick auf das zu beurteilende Geschehen vorzunehmen (vgl. hierzu bereits oben A.). 514 Die Menge der Normtexte, deren Bedeutung bei der Interpretation zu bestimmen ist, kann im Extremfall sämtliche Normtexte einer Rechtsordnung umfassen, wenn nämlich ein ungeschriebener Rechtssatz formuliert wird. Dieses in der deutschen Methodenlehre als Rechtsfortbildung bezeichnete Vorgehen ist im Gemeinschaftsrecht zur Interpretation zu rechnen; vgl. hierzu näher unten § 7 B. III. 1. b). 515 Keine Rolle spielen hier somit spezifische Gesichtspunkte der Interpretation von Sekundärrecht (vgl. zu dieser Millett, SLR 1989, 163 ff.). Ebenfalls verzichtet werden kann auf die Darstellung formaler Schlüsse wie z. B. des argumentum a fortiori oder des argumentum e contrario, da diese bei der Interpretation von Art. 234 Abs. 1 keine nennenswerte Rolle spielen werden (vgl. zum Einsatz formaler Schlüsse bei der Interpretation von Gemeinschaftsrecht Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 243 ff.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 159 ff.; Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 361 ff.). 516 Grundlegend insoweit Müller / Christensen, Methodik II, passim; eine hervorragende Analyse auf der Grundlage neuerer methodologischer Ansätze findet sich ferner bei GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 43 ff. Monographische Darstellungen der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsmethodik bieten Anweiler, Auslegungsmethoden, insbesondere S. 141 ff.; Buck, Auslegungsmethoden, insbesondere S. 143 ff.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, insbesondere S. 192 ff. – Aus der älteren Literatur sind hervorzuheben Kutscher, Thesen, insbesondere S. I-13 ff., und Zuleeg, EuR 1969, 97 ff.

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht

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A. Interpretationsargumente im Gemeinschaftsrecht In der gemeinschaftsrechtlichen Methodik sind fünf517 Interpretationsargumente zu unterscheiden.518 Sie stützen sich (1) auf die konventionelle Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes, (2) das mit diesem verfolgte Ziel, (3) seine systematischen Bezüge, (4) Parallelvorschriften anderer Rechtsordnungen und (5) den Entstehungszusammenhang des zu interpretierenden Normtextes.519 Die einzelnen Interpretationsargumente werden hier als Indizargument, Zielargument, Systemargument, Vergleichsargument und Entstehungsargument bezeichnet.520 Sie werden nachfolgend im Hinblick auf ihr Argumentationsmaterial und ihre Struktur sowie auf ihre Überzeugungskraft521 in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik analysiert. Dabei wird der Einfachheit halber jeweils nur auf die positive Ausprägung des jeweiligen Arguments eingegangen, also auf diejenige, die für eine Bedeu517 Sowohl Anzahl als auch Terminologie und Systematisierung der Interpretationsargumente variieren von Autor zu Autor. Während beispielsweise GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 47, lediglich drei Typen von Argumenten (Wortlaut, Wille des Vertragsgebers und Zielverwirklichung; ebenso Degan, RTDE 1966, 189 [195 ff.]; ähnlich Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 233 f.) aufzählt, verzeichnet Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 141 ff., insgesamt zehn unterschiedliche Argumentationstypen (grammatische, systematische, primärrechtskonforme, sekundärrechtskonforme, teleologische, dynamische, historische, völkerrechtskonforme, an der nachfolgenden Praxis der Mitgliedstaaten orientierte und rechtsvergleichende Interpretation). Vgl. zu weiteren Systematisierungen Buck, Auslegungsmethoden, S. 143 ff.; Dumon, Rechtsprechung des Gerichtshofs, S. III / 83 ff.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 192 ff.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 47 ff. 518 Die Behauptung der Unterscheidbarkeit impliziert nicht die Möglichkeit trennscharfer Abgrenzung im Einzelfall (gegen eine solche auch Griller, FS Rill, S. 543 [560]). Die Herausarbeitung der Struktur der einzelnen Argumente ist gleichwohl notwendig, da sie die Voraussetzungen aufstellt, unter denen Gesichtspunkte in den Interpretationsvorgang einbezogen werden können. Ob dies bei der konkreten Interpretation über das eine oder das andere Argument erfolgt, ist irrelevant, sofern nur das Argument als solches methodologisch korrekt verwendet wird. Insofern ist Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 270, zuzustimmen, die die canones als „varying approaches“ bezeichnen. 519 Die gemeinschaftsrechtliche Methodik unterscheidet sich von mitgliedstaatlichen Methodiken somit weniger hinsichtlich der zulässigen Argumente, sondern eher wegen deren Überzeugungskraft (ebenso BBPS / Epiney, Rn. 527 f.; CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 11; Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 13; Oppermann, Europarecht, Rn. 578; Schwarze / Schwarze, Art. 220 EGV, Rn. 27; ähnlich Möllers, Rolle des Rechts, S. 56; vgl. ferner Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 270 f.). In der weiteren Darstellung werden daher auch Nachweise aus der mitgliedstaatlichen Literatur angegeben, soweit die entsprechenden Aussagen auf die gemeinschaftsrechtliche Methodik übertragbar sind. 520 Die übliche adjektivische Bezeichnungsweise (z. B. teleologisches, systematisches oder historisches Argument) wird hier nicht verwendet, da sie suggeriert, sie kennzeichne Eigenschaften des jeweiligen Arguments selbst, dieses sei also teleologisch, systematisch, historisch etc. 521 Eine starre Rangfolge sämtlicher Interpretationsargumente kann wegen des grundsätzlich nur relativen Charakters ihrer Überzeugungskraft nicht aufgestellt werden (vgl. zur Relativität der Überzeugungskraft bereits oben § 6 C.). Allerdings lassen sich gewisse Tendenzen in der Überzeugungskraft der einzelnen Interpretationsargumente feststellen.

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

tungshypothese522 angeführt werden kann: Die jeweilige negative Ausprägung ist lediglich eine spiegelbildliche Umkehrung der positiven und bedarf daher keiner eigenständigen Behandlung.523

I. Argument der konventionellen Bedeutung (Indizargument) Ausgangspunkt des Interpretationsprozesses ist der Rückgriff auf die Bedeutung, die dem zu interpretierenden Normtext nach semantischen Konventionen (Verwendungsregeln) zukommt. Dementsprechend verweist das Argument der konventionellen Bedeutungen, oft auch als „grammatische Auslegung“ oder „Wort(laut)auslegung“ bezeichnet, zur Begründung einer Bedeutungshypothese auf diese semantischen Konventionen. Das Argument der konventionellen Bedeutungen wird hier abkürzend als Indizargument bezeichnet. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, daß der Normtext für die Interpretation eine doppelte Funktion hat, nämlich eine (bedeutungs)indizierende und eine (interpretations)begrenzende.524 Das Indizargument bezieht sich ausschließlich auf die erste dieser Funktionen. Auf die begrenzende Funktion des Normtextes wird freilich bei der Erörterung der Interpretationsgrenzen zurückzukommen sein.525

1. Material und Struktur des Arguments Das Indizargument begründet eine Bedeutungshypothese damit, daß sie mit semantischen Konventionen übereinstimme. Zu klären ist insofern, welche Verwendungsregeln für die Interpretation relevant sind und wie sie erfaßt werden können.

Vgl. zum Begriff der Bedeutungshypothese bereits oben Fn. 491. Aufgrund des spiegelbildlichen Verhältnisses zwischen beiden Ausprägungen sind sowohl Argumentationsmaterial als auch (abstrakte) Überzeugungskraft beider Ausprägungen identisch. Zudem dürfte sich jedes negativ verwendete Argument (hinsichtlich einer anderen Bedeutungshypothese) auch als positiv verwendetes auffassen lassen. 524 Die Bezeichnung der beiden Funktionen ist angelehnt an Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 308 ff., die von Indizwirkung und Grenzwirkung des Wortlauts sprechen. – Die Mehrzahl der Methodenlehren des deutschen Rechts legen beiden Funktionen des Normtextes a priori dieselbe Reichweite bei, sehen also die nach semantischen Konventionen mit dem zu interpretierenden Text verbundenen Bedeutungen als die überhaupt mit ihm verbindbaren an; vgl. statt vieler Larenz, Methodenlehre, S. 324; Zippelius, Methodenlehre, S. 45; für Österreich ebenso Bydlinski, Methodenlehre, S. 441. Vgl. zur Kritik dieser Auffassung unten A. I. 2. a). 525 Vgl. unten B. III. 522 523

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht

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a) Relevante Verwendungsregeln Soll das Indizargument einen hilfreichen Beitrag zur Interpretation eines Normtextes leisten, können nicht sämtliche Bedeutungen, die aufgrund irgendeiner Verwendungsregel mit dem Normtext assoziierbar sind, als Argumentationsmaterial dienen. Vielmehr ist unter den zahlreichen in Frage kommenden semantischen Konventionen in sachlicher und zeitlicher Hinsicht eine Auswahl zu treffen. In der gemeinschaftsrechtlichen Methodik ist darüber hinaus zu bestimmen, welchen mitgliedstaatlichen Sprachen die heranzuziehenden Verwendungsregeln zu entnehmen sind. (1) In sachlicher Hinsicht relevante Verwendungsregeln In sachlicher Hinsicht sind grundsätzlich speziellere Verwendungsregeln allgemeineren vorzuziehen.526 Sofern im Hinblick auf den zu interpretierenden Normtext ein spezifisch juristischer Sprachgebrauch existiert, sind daher dessen Verwendungsregeln relevant.527 Dies gilt insbesondere für Legaldefinitionen,528 die nichts anderes sind als von den Normtextgebern ausdrücklich eingeführte Verwendungsregeln. Existiert kein spezifisch juristischer Sprachgebrauch, ist auf den allgemeinen Gebrauch der Umgangssprache zurückzugreifen.529 In aller Regel wird sich jedoch der Gebrauch einer spezifisch juristischen – nämlich gemeinschaftsrechtlichen – Fachsprache nachweisen lassen: Das Gemeinschaftsrecht bedient sich in erheblichem Umfang autonomer Begrifflichkeiten, so daß den entsprechenden Wörtern eine spezifisch gemeinschaftsrechtliche Bedeutung beizulegen ist.530 Beispiel526 Ebenso Gast, Rhetorik, Rn. 148, und Larenz, Methodenlehre, S. 320. – Demgegenüber plädiert Bydlinski, Methodenlehre, S. 438 ff., für eine Orientierung am Sprachgebrauch des Normadressaten. Buck, Auslegungsmethoden, S. 152, geht von einem Gleichrang allgemeiner und spezieller Verwendungsregeln aus. Für einen Vorrang des allgemeinen Sprachgebrauchs GA Tizzano, Schlußanträge vom 8. 5. 2001, Rs. C-133 / 00 – Bowden u. a., Slg. 2001, I-7033, Rn. 29 f. (I-7041 f.). 527 Vielfach variiert der juristische Sprachgebrauch von Teilrechtsgebiet zu Teilrechtgebiet; vgl. hierzu Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 170, mit einem Beispiel aus dem deutschen Recht. – Wank, Begriffsbildung, S. 30, hält mit der Anerkennung der Tatsache, daß es eine juristische Wortbedeutung gibt und diese der natürlichen Wortbedeutung vorgeht, die Wortlautargumentation für entwertet. Damit wird das Indizargument allerdings ohne Not auf die Heranziehung der „natürlichen“ Wortbedeutung beschränkt. Sieht man demgegenüber auch juristische Verwendungsregeln als relevant an, wird das Indizargument nicht entwertet, sondern kann durch „Aufklärung über die Semantik fachsprachlicher Termini der Juristensprache“ (so Busse, Recht als Text, S. 22, der diesem Vorgehen allerdings kritisch gegenübersteht) zur Bestimmung der Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes beitragen. 528 Vgl. EuGH, Urteil vom 11. 7. 1985, Rs. 105 / 84 – Foreningen af Arbejdsledere i Danmark / Danmols Inventar, Slg. 1985, 2639, Rn. 23 (2652). 529 So etwa EuGH, Urteil vom 14. 5. 1985, Rs. 139 / 84 – Van Dijk’s Boekhuis / Staatssecretaris van Financiën, Slg. 1985, 1405, Rn. 20 (1418). 530 Vgl. hierzu bereits Degan, RTDE 1966, 189 (200 f.); ferner Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 208. – Entgegen GH / Pernice / Mayer, Art. 220 EGV, Rn. 42,

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

haft sei auf die Begriffe des Arbeitnehmers in Art. 39 Abs. 1 bis 3531 und des Gerichts in Art. 234 Abs. 2 und 3532 hingewiesen. (2) In zeitlicher Hinsicht relevante Verwendungsregeln In zeitlicher Hinsicht können die bei der Setzung des zu interpretierenden Normtextes oder die bei seiner Interpretation bzw. zum Zeitpunkt des zu beurteilenden Geschehens vorherrschenden Verwendungsregeln für die Ermittlung der indizierten Bedeutungen relevant sein. Da es im Rahmen des Indizarguments lediglich darum geht, Anhaltspunkte für die zutreffende Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes zu gewinnen, ist keine der genannten Verwendungsregeln von vornherein als irrelevant anzusehen.533 (3) In (national)sprachlicher Hinsicht relevante Verwendungsregeln Der EGV ist in allen 21 Vertragssprachen gleichermaßen verbindlich.534 Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH erfordert die Interpretation einer Vertragsbestimmung daher zunächst einen Vergleich sämtlicher Sprachfassungen.535 sind jedoch nicht alle vom Gemeinschaftsrecht verwendeten Begriffe im obigen Sinne autonom; vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 18. 1. 1984, Rs. 327 / 82 – Ekro / Produktschap voor Vee en Vlees, Slg. 1984, 107, Rn. 11 ff. (119 f.), und vom 15. 7. 1993, Rs. C-34 / 92 – GruSa Fleisch, Slg. 1993, I-4147, Rn. 13 (I-4172). – Dederichs, EuR 2004, 345 (351), hält aufgrund einer umfangreichen Inhaltsanalyse von EuGH-Urteilen die Bildung autonomer Begriffe des Gemeinschaftsrechts für die Ausnahme. Dies stützt sie darauf, daß der EuGH nur in wenigen Urteilen den Grundsatz der autonomen Interpretation erwähnt. Dabei wird jedoch verkannt, daß die Existenz autonomer Begriffe nicht voraussetzt, daß der EuGH sie ausdrücklich als solche bezeichnet. 531 Vgl. EuGH, Urteile vom 26. 2. 1992, Rs. C-357 / 89 – Raulin, Slg. 1992, I-1027, Rn. 10 (I-1059), vom 14. 12. 1995, Rs. C-444 / 93 – Megner und Scheffel, Slg. 1995, I-4741, Rn. 20 (I-4752 f.), und vom 13. 4. 2000, Rs. C-176 / 96 – Lehtonen und Castors Braine, Slg. 2000, I-2681, Rn. 45 (I-2731 f.). 532 Vgl. ausführlich zur gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung dieses Ausdrucks Moitinho de Almeida, Mélanges Schockweiler, S. 463 ff., mit zahlreichen Nachweisen aus der jüngeren Rechtsprechung. 533 Wegen der dynamischen Struktur des Gemeinschaftsrechts (vgl. zu dieser unten A. I. 2. b) (3)) kommt späteren Verwendungsregeln allerdings eine erheblich stärkere Indizwirkung und damit eine stärkere Überzeugungskraft zu. Gleichwohl meint Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 49 f., in der Rechtsprechung des EuGH einen Vorrang des ursprünglichen Sprachgebrauchs erkennen zu können. 534 Vgl. hierzu bereits oben § 5 A. I. 1. b) (2). 535 So bereits EuGH, Urteile vom 5. 12. 1967, Rs. 19 / 67 – van der Vecht, Slg. 1967, 461 (473), und vom 12. 11. 1969, Rs. 29 / 69 – Stauder, Slg. 1969, 419, Rn. 3 (425); seitdem ständige Rechtsprechung. Vgl. aus neuerer Zeit EuGH, Urteil vom 17. 12. 1998, Rs. C-236 / 97 – Codan, Slg. 1998, I-8679, Rn. 25 (I-8697; dazu Luttermann, EuZW 1999, 401); vgl. ferner EuGH, Urteil vom 20. 11. 2001, Rs. C-268 / 99 – Jany u. a., Slg. 2001, I-8615, Rn. 47 (I-8678 f.). – Demgegenüber will Ophüls, FS Müller-Armack, S. 279 (284), im Zweifel vorrangig auf die Sprachfassung des Entwurfs des EGV zurückgreifen.

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht

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Bei der Frage, welche Verwendungsregel in nationalsprachlicher Hinsicht als relevant anzusehen ist, ist jedoch richtigerweise zwischen der Interpretation des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH einerseits und durch nationale Gerichte andererseits zu differenzieren. Der EuGH hat bei der Interpretation eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes grundsätzlich sämtliche Sprachfassungen zu berücksichtigen.536 Er verfügt über die entsprechenden Ressourcen, da ihm je ein Richter aus jedem Mitgliedstaat angehört und die Richter selbstverständlich nicht nur die französische Fassung des Vertrages, sondern auch die in ihrer jeweiligen Muttersprache abgefaßte Version als Arbeitsgrundlage heranziehen.537 Ein tatsächlicher Vergleich sämtlicher Sprachfassungen ist somit grundsätzlich gewährleistet.538 Anders ist die Situation bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte. Diese sind als funktionale Gemeinschaftsgerichte erster Instanz zur Interpretation des Gemeinschaftrechts grundsätzlich nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, sofern ihnen diese Befugnis nicht aufgrund von Art. 234 Abs. 3 durch die Pflicht zur Vorlage an den EuGH entzogen ist.539 Die Erfüllung der Interpretationspflicht ist nationalen Gerichte jedoch faktisch völlig unmöglich, wenn auch von ihnen ein Vergleich sämtlicher Sprachfassungen verlangt wird.540 Dies liegt weniger an der fehlenden Verfügbarkeit einschlägiger Quellen541 als vielmehr daran, daß die wenigsten nationalen Richter in der Lage sein dürften, den Vertrag in mehr als drei Sprachfassungen zu verstehen.542 Andererseits ist zu berücksichtigen, daß die Heranziehung lediglich einer einzigen Sprachfassung die Gefahr birgt, daß Bedeutungsdivergenzen zwischen den einzelnen sprachlichen 536 Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 220 f., verlangt dies nur im Fall der Mehrdeutigkeit von Ausdrücken bzw. der Zweifelhaftigkeit eines Auslegungsergebnisses. 537 Ausschließliche Arbeitssprache des EuGH ist zwar Französisch; kabinettsintern wird aber auch auf der Grundlage der jeweiligen nationalen Sprachfassung gearbeitet. 538 Vgl. zur parallelen Frage der Gewährleistung ständiger Rechtsvergleichung aufgrund der Mischung der Spruchkörper des EuGH Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 28. 539 Vgl. zu den (begrenzten) Auswirkungen der Befugniszuweisung in Art. 234 Abs. 1 auf die Interpretationsbefugnis der nationalen Gerichte bereits oben § 3 B. 540 Daher versteht GA Jacobs, Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497, Rn. 65 (I-6517), den Hinweis des EuGH auf die Notwendigkeit eines Vergleichs sämtlicher Sprachfassungen lediglich als Warnung vor einer zu wörtlichen Auslegung; ähnlich GA Tizzano, Schlußanträge vom 21. 2. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4841, Rn. 75 (I-4868 f.). – Gleichwohl für einen umfassenden Sprachfassungsvergleich Hoffmann-Becking, Normaufbau und Methode, S. 300; Kutscher, Thesen, S. I-18. 541 Die geltenden Rechtsakte der Union und die Urteile der Gemeinschaftsgerichte sind in sämtlichen Sprachfassungen kostenlos im Internet abrufbar (). Verfügen nationale Gerichte nicht über einen Zugang zum Internet, so ist dies ein Versäumnis des jeweiligen Mitgliedstaates, das dieser aufgrund von Art. 10 Abs. 1 Satz 1 abzustellen hat. Eine Vorlage des betreffenden Gerichts an den EuGH ist hierfür ein denkbar ungeeignetes Mittel, da dieser das Versäumnis nicht zu verantworten hat. 542 Vgl. Ahlt, Verhältnis zwischen nationaler und EuGH-Rechtsprechung, S. 33 (37); ferner Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 234 f.

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Versionen übersehen werden und dem zu interpretierenden Normtext dadurch eine unzutreffende Bedeutung beigelegt wird. Dies kann in vielen Fällen vermieden werden, wenn zusätzlich zur Sprachfassung in der Arbeitssprache des nationalen Gerichts eine andere sprachliche Version des zu interpretierenden Normtextes herangezogen wird, die einen anderen Rechtskreis repräsentiert.543 Bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts durch nationale Gerichte sind daher in nationalsprachlicher Hinsicht die Verwendungsregeln lediglich zweier Sprachen relevant, nämlich die der Arbeitssprache des jeweiligen Richters sowie einer Sprache eines anderen Rechtskreises.544

b) Erfassung konventioneller Bedeutungen Die Erfassung der Bedeutungen, die dem zu interpretierenden Normtext nach den relevanten Verwendungsregeln beigelegt werden, kann durch die Heranziehung entsprechender juristischer Literatur und im Falle nichtjuristischer Ausdrücke durch Nachschlagen in Wörterbüchern oder Lexika geschehen.545 Allerdings ist auch der unmittelbare sprachliche Zusammenhang, insbesondere der jeweilige Satz, zu berücksichtigen, in dem einzelne Ausdrücke eingebunden sind. Oft lassen sich aufgrund solcher syntaktischer Zusammenhänge546 bereits bestimmte Bedeu543 In diese Richtung auch Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 139 f. Die Entscheidung darüber, welche zweite Sprachfassung jeweils heranzuziehen ist, liegt im Ermessen des nationalen Gerichts. – Vgl. zu verschiedenen Rechtskreisen bereits oben Fn. 341. 544 Millett, SLR 1989, 163 (164), hebt zutreffend hervor, daß „the literal meaning of a [ . . . ] text in one language cannot be relied on as a conclusive guide to its meaning.“ Hintersteininger, ZÖR 1998, 239 (251), hält demgegenüber den Rückgriff auf eine zweite Sprachfassung nur bei begründeten Zweifeln für erforderlich. Dies entspricht der Praxis österreichischer Gerichte bei der Interpretation völkerrechtlicher Verträge (vgl. zu dieser Seidl-Hohenveldern / Stein, Völkerrecht, Rn. 370), ist jedoch insoweit zirkulär, als begründete Zweifel vielfach erst durch Divergenzen zwischen Sprachfassungen entstehen. – Vgl. zu den erhöhten Anforderungen an den Sprachfassungsvergleich bei der Annahme einer zweifelsfreien Antwort auf eine Auslegungsfrage oben § 5 C. I. 2. a). 545 In der Praxis verlassen sich Juristen meist auf ihr persönliches Sprachwissen, das freilich in den seltensten Fällen repräsentativ ist. Zu Recht kritisch hierzu Busse, Recht als Text, S. 21; Wank, Begriffsbildung, S. 21 f. Für unbedenklich halten die (ausdrückliche) Berufung auf die eigene Sprachkompetenz Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 190 f., und Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 40. – Ein sehr pragmatisches Vorgehen eines kanadischen Richters zitiert Beaupré, Bilingual Legislation, S. 56: „My brother Jessup, whose knowledge and grasp of the French language is much greater than mine, has pointed out to me that both ,engagements‘ and ,passifs‘ are commercial synonyms for the English word ,liabilities‘. In his view, if a connotation of criminal liability had been intended the French synonym would have been the word ,responsabilités‘.“ 546 Diese sollten nicht mit den aufgrund juristischer Systematik hergestellten Zusammenhängen (vgl. zu diesen unten A. III. 1.) verwechselt werden. Letztere werden gleichwohl hin und wieder als Teil der grammatischen Interpretation aufgefaßt; vgl. etwa GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 47; Rill, ZfV 1985, 461 (467); für das belgische Recht ebenso Dijon, Méthodologie, §§ 125 ff.

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tungen mit hinreichender Sicherheit als nicht einschlägig ausscheiden.547 Insgesamt ist die Erfassung der nach den relevanten semantischen Konventionen mit dem zu interpretierenden Normtext assoziierten Bedeutungen kein rechtlicher, sondern ein nur auf (allenfalls fach)sprachliche Gegebenheiten zielender Vorgang.548

2. Überzeugungskraft Das Indizargument bildet den Ausgangspunkt der Interpretation und wird daher sehr häufig verwendet.549 In einem auffälligen Kontrast zu dieser häufigen Verwendung steht seine schwache Überzeugungskraft.

a) Grundsätzliche Schwäche der Überzeugungskraft des Indizarguments Das Indizargument allein kann eine Bedeutungsbestimmung von vornherein nicht hinreichend begründen, sondern ist stets auf die Stützung durch andere Argumente angewiesen. Dies folgt schon daraus, daß die in seinem Rahmen in den Interpretationsvorgang eingebrachten konventionellen Bedeutungen lediglich unverbindliche Arbeitshypothesen (Indizien) für die zutreffende Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes sind.550 Die Bestimmung der zutreffenden Bedeutung kann nämlich, wie bereits dargelegt,551 nicht allein durch eine Untersuchung semantischer Verwendungsregeln erfolgen, sondern erfordert auch die Einbeziehung der relevanten Kontexte, die im Rahmen des Indizarguments gerade nicht erfolgt. Für die Vorläu547 Dies gilt insbesondere für Homonyme. So läßt sich der Ausdruck ,Rat‘ in Art. 95 Abs. 1 Satz 1 offensichtlich nicht als Empfehlung oder Ratschlag verstehen; in Art. 218 Abs. 1 wird demgegenüber der Ausdruck ,Rat(e)‘ mit zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. 548 Einige Autoren zählen die Heranziehung semantischer Konventionen daher nicht zur „eigentlichen“ Interpretation; vgl. z. B. Larenz, Methodenlehre, S. 324 (Begrenzung der eigentlichen Auslegung durch den Wortlaut), und Zippelius, Methodenlehre, S. 41 ff., der zwischen (sprachlicher) Konstruktion der verbalen Ausgangsbasis einerseits und (rechtlicher) Argumentation zur Bestimmung der zutreffenden Bedeutung andererseits unterscheidet. 549 Vgl. hierzu Buck, Auslegungsmethoden, S. 169; ebenso Dederichs, EuR 2004, 345 (349 f.), die hieraus folgert, daß das Indizargument für die gemeinschaftsrechtliche Methodik von zentraler Bedeutung sei. Dies ist zwar für die Vrwendungshäufigkeit dieses Arguments zutreffend, sagt jedoch zunächst nichts über seine Überzeugungskraft aus. 550 Ebenso Zuleeg, EuR 1969, 97 (100); ähnlich Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 367, und Wank, Begriffsbildung, S. 22. – Zuleeg, ebd. (99), charakterisiert Interpretation zutreffend als dialektischen Prozeß, in dem Bedeutungshypothesen aufgestellt, aber – bei entsprechenden Anhaltspunkten – aufgrund anderer Interpretationsargumente auch wieder verworfen werden (können); in diesem Sinne auch BVerfGE 82, 30 (38 f.). 551 Vgl. oben § 6 A.

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figkeit der durch semantische Konventionen indizierten Bedeutungen spricht zudem, daß im Ergebnis nur eine von ihnen die zutreffende sein kann. Hinzu kommt, daß (bestehende) semantische Konventionen nur einen Teil denkbarer Bedeutungen abdecken. Zwischen den mit dem zu interpretierenden Normtext aufgrund semantischer Konventionen assoziierten und den mit ihm in methodisch begründbarer Weise assoziierbaren Bedeutungen besteht daher keine notwendige Identität. Im Wege der Interpretation sind somit auch Bedeutungen bestimmbar, die zwar nach den relevanten Verwendungsregeln bislang nicht mit dem Normtext assoziiert, aber gleichwohl in begründeter Weise mit ihm vereinbar sind.552 Der Rückgriff auf semantische Konventionen kann demnach die zutreffende Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes nicht endgültig präjudizieren.553 Die hinreichende Rechtfertigung einer Bedeutungsbestimmung bedarf vielmehr jedenfalls bei einer wissenschaftlichen Interpretation554 stets der Heranziehung weiterer Interpretationsargumente.555 Eine Ausnahme hiervon wird vielfach unter Hinweis auf die vor allem im französischen Recht und im Völkerrecht vertretene Maxime in claris non fit interpretatio556 postuliert.557 Diese Maxime räumt dem auf die semantischen Konventionen 552 Ebenso GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 50 (Möglichkeit der Einführung neuer Verwendungsregeln durch den EuGH); vgl. ferner Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 34 f. – Indizfunktion und Grenzfunktion des Normtextes haben daher nicht notwendig dieselbe Reichweite. Allerdings führt die begrenzende Funktion präjudizieller Entscheidungen, die den juristischen Sprachgebrauch in erster Linie prägen (vgl. hierzu näher unten B. III. 2. a)), im Ergebnis zu einer Annäherung beider Funktionen. 553 Vgl. Christensen, Gesetzesbindung, S. 288; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 34 f. – Vgl. auch Bernhardt, Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 79, der die Berücksichtigung einer „anderen als der mit Hilfe des üblichen Sprachgebrauchs aus dem Text gewonnenen, aber mit ihm noch zu vereinbarenden Auffassung“ empfiehlt (Hervorhebung im Original). 554 In der Praxis scheidet die (umfassende) Berücksichtigung mehrerer Interpretationsargumente meist schon wegen Zeitmangels aus. Zudem sind Entscheidungsbegründungen – ebenfalls aus Praktikabilitätsgründen – häufig enthymematisch, führen also nicht sämtliche Argumente auf, die bei der Interpretation eine Rolle gespielt haben. 555 Auch der EuGH fordert in zahlreichen Urteilen die Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts, sondern auch des Zusammenhangs und der Ziele; vgl. Urteile vom 13. 3. 1997, Rs. C-131 / 95 – Huijbrechts, Slg. 1997, I-1409, Rn. 16 (I-1424), vom 19. 3. 1998, Rs. C-1 / 96 – Compassion in World Farming, Slg. 1998, I-1251, Rn. 49 (I-1297), und vom 18. 11. 1999, Rs. C-151 / 98 P – Pharos / Kommission, Slg. 1999, I-8157, Rn. 19 (I-8188), jeweils m. w. N.; zurückhaltender jedoch Urteile vom 19. 11. 1998, Rs. C-210 / 97 – Akman, Slg. 1998, I-7519, Rn. 32 (I-7547), und vom 28. 10. 1999, Rs. C-6 / 98 – ARD, Slg. 1999, I-7599, Rn. 26 (I-7632), in denen die weiteren Argumente erst nach der Feststellung der Mehrdeutigkeit angeführt werden. – Griller, FS Rill, S. 543 (560), und Zuleeg, EuR 1969, 97 (99 f.), verlangen grundsätzlich die Berücksichtigung sämtlicher Interpretationsargumente. Sowohl das Vergleichs- als auch das Entstehungsargument haben jedoch eine so geringe Überzeugungskraft, daß sie sich nicht gegen die anderen Argumente durchsetzen können (vgl. näher unten A. IV. 2. und A. V. 2.). Sprechen diese allesamt für dieselbe Bedeutungshypothese, ist daher die Einbeziehung des Vergleichs- und des Entstehungsarguments in den Interpretationsprozeß nicht mehr geboten.

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gestützten Interpretationsargument im Falle eindeutiger Verwendungsregeln, also eines „klaren Wortlauts“, eine so starke Überzeugungskraft ein, daß die Heranziehung weiterer Argumente entbehrlich oder gar unzulässig558 sei. Diese Ausnahme ist jedoch abzulehnen.559 Aufgrund der Kontextabhängigkeit von Bedeutungen ist die von der in claris-Maxime vorausgesetzte Eindeutigkeit keine Eigenschaft des Normtextes an sich, sondern kann allenfalls aus dem Zusammenspiel von Normtext und relevanten Kontexten erwachsen.560 Mit der Berücksichtigung relevanter Kontexte ist jedoch bereits das Feld des Indizarguments verlassen, da die Kontexte in erster Linie durch die anderen Interpretationsargumente in den Interpretationsvorgang einbezogen werden.561 Damit erweist sich die Feststellung der Klarheit 556 Die für den Bereich des Gemeinschaftsrechts insoweit häufig verwendete Bezeichnung acte clair wird hier bewußt vermieden, weil sie aufgrund ihrer Herkunft aus dem französischen Verwaltungsprozeßrecht und ihrer dortigen spezifischen Funktion zu sehr mit Bedeutungsgehalten belastet ist, die für das Vorabentscheidungsverfahren nicht sachgerecht sind. Vgl. hierzu GA Capotorti, Schlußanträge vom 13. 7. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3432, Rn. 4 (3436); Bebr, CMLR 1983, 439 (455); Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 248; Lieber, Vorlagepflicht, S. 102 ff.; Markwardt, Rolle des EuGH, S. 221 f.; Mégret / D. Waelbroeck, Art. 177 EGV, Nr. 21. 557 Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 199, hält diese Maxime für in der Rechtstheorie allgemein anerkannt (vgl. aber die zahlreichen ablehnenden Stellungnahmen unten Fn. 562). Vgl. zu ihrer Stellung im Völkerrecht IGH, Reports 1950, 4 (8); ferner Arbour, Droit International Public, S. 96; Buck, Auslegungsmethoden, S. 161; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 157 ff. Auch im deutschen Recht wird gelegentlich unter Verweis auf den eindeutigen Wortlaut eine weitere Interpretation des Normtextes abgelehnt; vgl. z. B. BVerfGE 78, 350 (357). – Zu historisch bedingten Unterschieden zwischen der Stellung der in claris-Maxime im deutschen Recht einerseits und im französischen Recht andererseits Hahn, ZfRV 2003, 163 ff. 558 Nach dieser stärkeren Variante der in claris-Maxime ist das Indizargument im Falle klarer Normtextbedeutung zwingend, wirkt also unmittelbar als Interpretationsgrenze. 559 Der EuGH verfolgt insoweit keine einheitliche Linie. Teils beläßt er es bei dem Hinweis auf den klaren Wortlaut (vgl. etwa Urteil vom 9. 3. 1978, Rs. 79 / 77 – Kühlhaus Zentrum / HZA Hamburg-Harburg, Slg. 1978, 611, Rn. 6 [619]; in diese Richtung auch GA Tizzano, Schlußanträge vom 8. 5. 2001, Rs. C-133 / 00 – Bowden u. a., Slg. 2001, I-7033, Rn. 29 f. [I-7041 f.]), teils führt er trotz „klaren Wortlauts“ weitere Interpretationsargumente an (vgl. z. B. Urteile vom 3. 12. 1998, Rs. C-233 / 97 – KappAhl, Slg. 1998, I-8069, Rn. 19 f. [I-8091], und vom 17. 12. 1998, Rs. C-250 / 97 – Lauge u. a., Slg. 1998, I-8737, Rn. 18 f. [I-8757 f.]), die die (angeblich) klare Bedeutung durchaus auch wieder in Frage stellen können (so Urteil vom 23. 3. 2000, Rs. C-208 / 98 – Berliner Kindl Brauerei, Slg. 2000, I-1741, Rn. 18 [I-1772]; ausdrücklich erwogen auch im Urteil vom 11. 7. 1985 in der Rechtssache 107 / 84 – Kommission / Deutschland, Slg. 1985, 2655, Rn. 12 [2667]). Überwiegend wird der Rechtsprechung des EuGH eine Absage an die in claris-Maxime entnommen; vgl. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 162 f.; Buck, Auslegungsmethoden, S. 163 ff.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 192 ff.; widersprüchlich Bleckmann / Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, B.I, Rn. 7 und 9. – Vgl. zur Situation in der frühen Rechtsprechung Degan, RTDE 1966, 189 (197 ff.); Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 358 f. 560 Vgl. zur Kontextabhängigkeit der (angeblichen) Eindeutigkeit einer Bedeutung Christensen, Gesetzesbindung, S. 78; van de Kerchove, La doctrine du sens clair, S. 13 (19 ff.). 561 Aus diesem Grund lehnt auch Griller, FS Rill, S. 543 (560), die in claris-Maxime ab. – Vgl. zur kontexterschließenden Funktion der Interpretationsargumente bereits oben § 6 C.

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und der angeblich daraus folgenden Entbehrlichkeit bzw. Unzulässigkeit einer (weiteren) Interpretation ihrerseits schon als Ergebnis einer wenigstens rudimentären Interpretation und die in claris-Maxime somit als zirkulär.562 Selbst wenn man diesen Selbstwiderspruch außer acht läßt, bleibt die in claris-Maxime eine Fiktion. Sie übersieht, daß grundsätzlich jedes andere Interpretationsargument die angebliche Eindeutigkeit einer Verwendungsregel und der (nur) aus dieser abgeleiteten Normtextbedeutung wieder in Frage stellen kann.563 Behauptet man die Eindeutigkeit der Normtextbedeutung, ohne andere Interpretationsargumente herangezogen zu haben, fingiert man daher entweder deren Unergiebigkeit für die Bedeutungsbestimmung oder man unterstellt, sie stützten die angeblich klare Bedeutung des Normtextes.564 Entscheidend gegen die in claris-Maxime spricht jedoch, daß es einen juristisch klaren Wortlaut, dessen Bestimmung sich mit dem Rückgriff auf sprachliche Konventionen begnügt, schon deshalb nicht geben kann, weil Sprache und Recht unterschiedliche Funktionen haben. Während Sprache Kommunikation im weitesten Sinne ermöglichen soll, hat Recht in erster Linie eine gestaltende und ordnende Aufgabe.565 Dementsprechend hat der Umgang mit Texten im Recht nicht die Frage „Was ist gemeint?“ zu beantworten,566 sondern die Frage „Was ist zu tun?“.567 Die Auswirkungen juristischer Tätigkeit in der außersprachlichen Realität gehen weit über die Folgen einer unverbindlich bleibenden allgemeinen Kommunikation hinaus.568 Juristische Tätigkeit unterliegt daher einer erheblich größeren 562 Ebenso Esser, Interpretation im Recht, S. 278 (285 f.); Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 70; Heß, ZZP 1995, 59 (80); van de Kerchove, La doctrine du sens clair, S. 13 (37); Lieber, Vorlagepflicht, S. 108; Markwardt, Rolle des EuGH, S. 219; Mégret / D. Waelbroeck, Art. 177 EGV, Nr. 21; Simma / Ress, CVN, Auslegung, Rn. 18; vgl. auch GA Capotorti, Schlußanträge vom 13. 7. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3432, Rn. 4 (3436); Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 258; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 68. Treffend Aarnio, FS Krawietz, S. 643: „How could the wording solve the problem when the wording itself is the problem?“ 563 Vgl. das unfreiwillige Beispiel bei Bydlinski, Methodenlehre, S. 438, der den Begriff ,Kind‘ hinsichtlich leiblicher Abkömmlinge ersten Grades für „ganz eindeutig“, hinsichtlich der Neffen und Nichten aber für „gewiß nicht“ erfüllt hält. Diese Einschätzung ist freilich im Hinblick auf § 21 Abs. 2 Satz 1 ABGB unhaltbar: Nach dieser Vorschrift sind alle Personen, die das siebte Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Kinder. 564 So auch Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (410); Zuleeg, EuR 1969, 97 (100). 565 Ausführlich zu den Funktionen des Rechts Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 72 ff. 566 Gegen eine Erforschung des „tatsächlich Gemeinten“ auch Rill, ZfV 1985, 461 (465 f.). 567 So Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (410); in diese Richtung auch Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 261; ähnlich Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 157 ff.; Wank, Begriffsbildung, S. 16. 568 Vgl. Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 15. – Gleichwohl faßt Rill, ZfV 1985, 461 (466 f.), Rechtsetzung und Rechtsanwendung als Kommunikationsprozeß auf und wendet auf diesen allgemeine Kommunikationsregeln an; so auch Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 23 ff. (insbesondere 29 ff.). Vgl. hierzu bereits oben Fn. 474.

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Begründungslast als bloße Kommunikation, der sie sich nicht durch einen Rekurs auf rein sprachliche Argumente entledigen und so ihre spezifisch juristische Verantwortung auf die Sprachwissenschaft abwälzen kann.569

b) Weitere Schwächung der Überzeugungskraft durch Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts Über das ohnehin zu konstatierende geringe Gewicht des Indizarguments hinaus wird dessen Überzeugungskraft in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik aufgrund besonderer Eigenschaften des Gemeinschaftsrechts zusätzlich geschwächt. (1) EGV als Ergebnis einer Staatenkonferenz Keine Rolle spielt diesbezüglich allerdings der Umstand, daß der EGV und die Verträge zu seiner Änderung im Rahmen von Staatenkonferenzen abgeschlossen wurden.570 Bei derartigen Konferenzen tendieren die Teilnehmer zwar dazu, nicht stets ihre tatsächlich verfolgten Ziele offenzulegen, sondern die Verhandlungen an taktischen oder strategischen Erwägungen auszurichten und in der Wortwahl des Vertragstextes Kompromisse zu akzeptieren, sofern dies zur Durchsetzung ihrer tatsächlich verfolgten Ziele beiträgt. Normtexte, die das Ergebnis internationaler Konferenzen sind, sind daher häufig nicht in erster Linie nach Kriterien sprachlicher Präzision, sondern – eher im Gegenteil – im Hinblick auf ihre Eignung abgefaßt, sachliche Differenzen zu überdecken, so daß sie zahlreiche mehrdeutige Ausdrücke enthalten.571 Eine weitreichende Kompromißbildung bei dem Abfassen von Normtexten ist freilich kein Spezifikum von Staatenkonferenzen. Zumindest in Staaten, deren Rechtsordnung das Verhältniswahlrecht vorsieht, kommen Mehrheiten regelmäßig nur durch Koalitionen zustande. Die koalitionsintern erzielten Kompromisse müssen oft im parlamentarischen Gesetzgebungsprozeß zusätzlich mit der Opposition abgestimmt werden.572 Vergleichbare Kompromisse sind auch dort notwendig, wo 569 Vgl. Busse, Recht als Text, S. 34; für die Bestimmung der „Wortlautgrenze“ ebenso Christensen, Gesetzesbindung, S. 79. – Vgl. zur spezifischen Entscheidungsverantwortung des Richters aufgrund der Verbindlichkeit und zwangsweisen Durchsetzbarkeit des Urteils Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (411). 570 A. A. insbesondere Ophüls, Einleitung, S. 177; vgl. auch BBPS / Epiney, Rn. 530; Mertens de Wilmars, CDE 1986, 5 (14); Ophüls, FS Müller-Armack, S. 279 (287). 571 Vgl. hierzu Seidl-Hohenveldern / Stein, Völkerrecht, Rn. 340; Zuleeg, EuR 1969, 97 (101). Vgl. ferner im Hinblick auf das Sekundärrecht auch CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 11, und Lenz / Borchardt, Art. 220 EGV, Rn. 14. 572 So etwa in der Bundesrepublik Deutschland, wenn in Bundestag und Bundesrat unterschiedliche politische Kräfte über die jeweilige Mehrheit verfügen und Gesetzesentwürfe an den Vermittlungsausschuß verwiesen werden; vgl. hierzu Art. 77 Abs. 2 GG.

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Verfassungen nur mit großen Mehrheiten geändert werden können.573 Bereits dies spricht gegen die These, die geringe Überzeugungskraft des Indizarguments in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik ließe sich mit der Verhandlungstaktik bei Staatenkonferenzen erklären. Hinzu kommt, daß gerade das Abstellen auf das Vorgehen bei Staatenkonferenzen einen Vergleich mit der Interpretation völkerrechtlicher Verträge geradezu herausfordert. Auch diese sind Ergebnisse von Staatenkonferenzen, auf denen in gleicher Weise Kompromisse bei der Wortwahl eingegangen werden. Gleichwohl kommt dem Rückgriff auf semantische Konventionen („Wortlautauslegung“) im Völkerrecht nach wie vor erhebliches Gewicht zu, da der Vertragstext als Ausdruck des maßgeblich zu berücksichtigenden Willens der Vertragsparteien aufgefaßt wird.574 (2) Mehrsprachenauthentizität Die Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts wird vielfach undifferenziert als Grund für die schwache Überzeugungskraft des Rückgriffs auf semantische Konventionen angeführt.575 Dabei wird freilich übersehen, daß die mehrsprachige Verbindlichkeit eines Normtextes auch zu einer Stärkung der Überzeugungskraft führen kann, da die Heranziehung anderer Sprachfassungen vor allem syntaktische, aber auch semantische576 Unsicherheiten einer einzelnen Sprachfassung reduzieren oder sogar beseitigen und damit die Indizwirkung des Normtextes präzisieren kann.577 573 So etwa in der Bundesrepublik Deutschland (Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates; vgl. Art. 79 Abs. 2 GG). Vergleichbare Erschwerungen für Verfassungsänderungen finden sich auch in anderen Mitgliedstaaten; beispielhaft sei auf Art. 89 Abs. 3 Satz 1 der französischen, Art. 137 Abs. 4 der niederländischen und Art. 167 Abs. 1 Satz 1 der spanischen Verfassung hingewiesen (sämtliche Verfassungstexte sind in englischer Sprache im Internet abrufbar unter ). 574 Vgl. hierzu IGH, Reports 1950, 4 (8); 1994, 6 (22); Bernhardt, Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 66; Brownlie, Principles, S. 632; Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 724; vgl. ferner Degan, RTDE 1966, 189 (197 f.). – Eine Ausnahme gilt insoweit allerdings für die Gründungsverträge internationaler Organisationen; vgl. hierzu unten A. I. 2. b) (3). 575 So etwa von Bergerès, Contentieux communautaire, Nr. 60; GTE / Zuleeg, Art. 1 EGV, Rn. 35; Lenz / Borchardt, Art. 220 EGV, Rn. 14; Millett, SLR 1989, 163 (164 f.); Möllers, Rolle des Rechts, S. 56; Oppermann, Europarecht, Rn. 580; in diese Richtung auch BBPS / Epiney, Rn. 530. – Demgegenüber hebt Buck, Auslegungsmethoden, S. 154, hervor, daß die Mehrsprachenauthentizität den Spielraum des EuGH im Interpretationsvorgang erweitern könne; ebenso Hoffmann-Becking, Normaufbau und Methode, S. 297 ff. – Vgl. zu den Auswirkungen der Mehrsprachenauthentizität auf die Interpretation des Gemeinschaftsrechts auch GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 51 f. 576 Bei der Behebung semantischer Unsicherheiten besteht allerdings die Gefahr, aufgrund unterschwelliger juristischer (Vor-)Wertungen eine bestimmte Bedeutung den von anderen Sprachfassungen nahegelegten Bedeutungen vorzuziehen (vgl. hierzu Hintersteininger, ZÖR 1998, 239 [255, Fn. 58]).

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Eine deutliche Schwächung der Überzeugungskraft des Indizarguments tritt demgegenüber ein, wenn zwischen mehreren Sprachfassungen erhebliche Bedeutungsdivergenzen auftreten. In diesem Fall wird die Indizwirkung des Normtextes diffus,578 da sie unterschiedliche Bedeutungen indiziert.579 Bedeutungsdivergenzen können vorwiegend sprachlich oder vorwiegend rechtlich bedingt sein.580 Im ersteren Fall resultieren sie vor allem aus Übersetzungsfehlern,581 die zwar immer wieder vorkommen, deren Häufigkeit allerdings, gemessen an der Fülle der zu übersetzenden Dokumente, verschwindend gering ist.582 Rechtlich bedingte, erhebliche Bedeutungsdivergenzen zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten können durch die unterschiedliche Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hervorgerufen werden. Auch solche Divergenzen sind eine Folge der Mehrsprachenauthentizität, sofern man diese nicht nur auf nationale Sprachen, sondern auch auf juristische Fachterminologien bezieht, wie sie im Rahmen des Indizarguments in erster Linie heranzuziehen sind.583 Der spezifisch juristische Sprachgebrauch in den einzelnen Mitgliedstaaten ist von deren jeweiliger Rechtsordnung geprägt, so daß derselbe Ausdruck in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich verwendet werden kann.584 Beispielhaft seien die Ausdrücke ,Öffentliche Verwaltung‘ und ,Nennbetrag‘,585 aber auch ,juristische Person‘586 und ,Inter577 Vgl. hierzu Pescatore, CD 1984, 990 (1008). Beispielhaft sei für die Behebung einer syntaktischen Unsicherheit EuGH, Urteil vom 17. 9. 1997, Rs. C-83 / 96 – Dega, Slg. 1997, I5001, Rn. 13 (I-5014) genannt; weitere Beispiele mit Nachweisen aus der Rechtsprechung finden sich bei Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 59 ff. (semantische Unsicherheiten) und S. 72 ff. (syntaktische Unsicherheiten). 578 Vgl. GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 50. – Um im Bild semantischer Konventionen als Wegweiser (oben Fn. 442) zu bleiben: Im Falle deutlicher Divergenzen zwischen den Verwendungsregeln verschiedener Sprachfassungen deuten diese in unterschiedliche Richtungen, so daß bereits unklar ist, in welche Richtung der Interpret zunächst gehen soll. 579 Insofern läßt sich diese Konstellation mit dem Auftreten mehrdeutiger Ausdrücke vergleichen. 580 Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 57 ff., unterscheidet insoweit zwischen Divergenzen im Text (S. 59 ff.) und Divergenzen im Denken (S. 81 ff.); ebenso Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 106 f. 581 Art. 314 ordnet zwar die Gleichberechtigung sämtlicher Vertragssprachen an, kann aber nichts daran ändern, daß entstehungsgeschichtlich gesehen alle Fassungen mit Ausnahme derjenigen der Entwurfssprache nur Übersetzungen sind (hierzu Braselmann, EuR 1992, 55 [58]). Ophüls, FS Müller-Armack, S. 279 (284), plädiert daher für eine an der jeweiligen Entwurfsfassung orientierte Auslegung. 582 Ebenso Millett, SLR 1989, 163 (175); in diesem Sinne auch Degan, RTDE 1966, 189 (199). Entsprechend selten spielen derartige Divergenzen in der Rechtsprechung des EuGH eine Rolle; vgl. Dederichs, EuR 2004, 345 (352 f.). Demgegenüber geht Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 104, von einer hohen Dunkelziffer von Divergenzen zwischen den Sprachfassungen aus. 583 Vgl. zur Vorrangigkeit des spezifisch juristischen vor dem allgemeinen Sprachgebrauch bereits oben A. I. 1. a) (1). 584 Vgl. hierzu etwa Armbrüster, EuZW 1990, 246; Buck, Auslegungsmethoden, S. 152 f.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 113 f.

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pretation‘587 genannt.588 Die hiermit verbundenen Divergenzen werden jedoch durch die Herausbildung gemeinschaftsrechtlicher Begriffe, also durch eine die Normtexte selbst unberührt lassende „Vergemeinschaftung“ der Bedeutungen,589 zunehmend zurückgedrängt: Die Bedeutung der in gemeinschaftsrechtlichen Normtexten enthaltenen Ausdrücke ist grundsätzlich abstrahierend von den Bedeutungen zu bestimmen, die in den einzelnen Mitgliedstaaten mit entsprechenden Ausdrücken assoziiert werden.590 Dies reduziert die Gefahr eines von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat divergierenden Verständnisses dieser Ausdrücke nicht unerheblich. Gleichwohl kann auch im Hinblick auf gemeinschaftsrechtliche Begriffe nicht ausgeschlossen werden, daß sie in den einzelnen Mitgliedstaaten deutlich divergierend rezipiert werden.591 Soweit dies der Fall ist, schwächt die Mehrsprachenauthentizität in der Tat die Überzeugungskraft des Indizarguments. In den Fällen jedoch, in denen keine erheblichen Bedeutungsdivergenzen zwischen den einzelnen Sprachfassungen bestehen,592 bleibt die Überzeugungskraft des Indizarguments von der Mehrsprachenauthentizität weitgehend unberührt. Zwar kann es keine bedeutungsidentischen Sprachfassungen geben: Jede Nationalsprache ist in erheblicher Weise auch durch geschichtliche und kulturelle Faktoren geprägt, die eine unveränderte „Bedeutungsübertragung“ in eine andere Sprache 585 Vgl. dazu Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 82 ff., mit Darstellung und sprachwissenschaftlicher Diskussion der diesbezüglichen Rechtsprechung. 586 EuGH, Urteil vom 28. 10. 1982, Rs. 135 / 81 – Groupement des Agences de Voyage / Kommission, Slg. 1982, 3799, Rn. 11 (3808). 587 Vgl. zum unterschiedlichen Verständnis des Ausdrucks ,Interpretation‘ in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen näher unten B. III. 1. b), insbesondere um Fn. 746. 588 Weitere Beispiele bei Armbrüster, EuZW 1990, 246. 589 Nur diese können vereinheitlicht werden, wenn Divergenzen zwischen Sprachfassungen auftreten. Die Vereinheitlichung ist also stets das Ergebnis einer Interpretation, niemals ihr Ausgangspunkt. Daher kann die Frage, inwieweit divergierende Sprachfassungen eine einheitliche Bedeutungsbestimmung zulassen, nicht im Rahmen des Indizarguments, sondern nur im Zusammenhang mit den Interpretationsgrenzen beantwortet werden (vgl. zur Grenzfunktion des Normtextes als Interpretationsgrenze näher unten B. III.). – Vgl. zur Vereinheitlichung von Bedeutungen durch Interpretation EuGH, Urteile vom 24. 10. 1996, Rs. C-72 / 95 – Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, I-5403, Rn. 28 (I-5443), und vom 27. 3. 1990, Rs. C-372 / 88 – Cricket St Thomas, Slg. 1990, I-1345, Rn. 18 f. (I-1376) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung; vgl. ferner Loehr, Mehrsprachigkeitsprobleme, S. 150 f. 590 Vgl. zur Autonomie der gemeinschaftsrechtlichen Terminologie bereits oben A. I. 1. a) (1). – Die Abstraktion von den mitgliedstaatlichen Verständnissen verhindert auch eine Bevorzugung einer einzelnen Sprachfassung und gewährleistet so die Gleichberechtigung sämtlicher Sprachfassungen; vgl. Hintersteininger, ZÖR 1998, 239 (251, Fn. 41). 591 Dies zeigt Halbhuber, CMLR 2001, 1385 ff., am Beispiel des Gesellschaftsrechts. – Vgl. zu den sprachbedingten Grenzen der Leistungsfähigkeit einer autonomen Terminologie für die Herstellung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts bereits oben § 5 A. I. 1. b) (2) um Fn. 118. 592 Als Beispiele mögen Art. 221 Abs. 1 (Zusammensetzung des Gerichtshofs aus 15 Richtern) und 225 Abs. 1 Satz 2 (Ausschluß der Zuständigkeit des EuG für Vorabentscheidungsverfahren) dienen.

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unmöglich machen.593 Die hierdurch bewirkte Unschärfe der indizierten Bedeutung(en) hat jedoch keine andere Qualität als die ohnehin mit der Befolgung sprachlicher Konventionen verbundene,594 resultiert also aus Abweichungen in Nuancen, nicht aber aus Divergenzen, die die Indizfunktion des Normtextes nennenswert streuen könnten. Dies wird auch daran deutlich, daß die Überzeugungskraft des Indizarguments in anderen Rechtsordnungen, deren Normtexte mehrsprachig verbindlich sind, nicht merklich geschwächt ist. Zu denken ist etwa an das Völkerrecht, in dem die Mehrsprachenauthentizität die fast ausnahmslose Regel ist.595 Gleichwohl ist die Überzeugungskraft des Indizarguments im Völkerrecht erheblich stärker als im Gemeinschaftsrecht. 596 Sie erfährt nach Art. 33 Abs. 4 WVRK lediglich im Falle tatsächlich festgestellter Bedeutungsdivergenzen eine Relativierung;597 dies zudem nur insoweit, als die Divergenzen nicht durch die allgemeine Interpretationsregel598 und die Heranziehung der ergänzenden Interpretationsmittel599 ausgeräumt werden können. Mehrsprachig verbindliche Normtexte existieren auch in einigen nationalen Rechtsordnungen. So sind etwa in Belgien sämtliche auf nationaler Ebene geltenden Normtexte sowohl in französischer als auch in niederländischer Sprache gleichermaßen verbindlich.600 In der Schweiz sind Deutsch, Französisch und Italienisch Amtssprachen des Bundes;601 alle drei Vgl. hierzu bereits oben § 5 A. I. 1. b) (2). Vgl. zur Unschärfe sprachlicher Konventionen näher oben § 6 A. 595 Viele völkerrechtliche Vertragswerke werden in fünf Sprachen – englisch, französisch, russisch, chinesisch und spanisch – abgefaßt; vgl. etwa Art. 111 der UN-Charta (BGBl. 1973 II, 431) und Art. 85 WVRK (BGBl. 1985 II, 927). In neuerer Zeit ist daneben vielfach auch die arabische Sprachfassung authentisch; vgl. etwa Art. 128 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (BGBl. 2000 II, 1394) und Art. 21 des Wiener Übereinkommens über den Schutz der Ozonschicht (BGBl. 1988 II, 902). Sogar in sieben Sprachen verbindlich ist die Danziger Konvention über die Fischerei und den Schutz der lebenden Ressourcen in der Ostsee und den Belten (BGBl. 1976 II, 1564). – Unzutreffend daher Braselmann, EuR 1992, 55 (73 f.), die es als bewährte Verfahrensweise des Völkerrechts bezeichnet, einer Urversion amtliche Übersetzungen beizufügen, und sodann (ebd., Fn. 54) bedauert, daß es in besonderen Fällen zwei Urtexte, nämlich in englischer und französischer Sprache, gebe. 596 Vgl. hierzu bereits oben A. I. 2. b) (1). Eine Ausnahme gilt insoweit allerdings für die Gründungsverträge internationaler Organisationen; vgl. hierzu näher unten A. I. 2. b) (3). 597 Die tatsächliche Feststellung von Bedeutungsdivergenzen mag durch Art. 33 Abs. 3 WVRK umgangen werden können; nach dieser Vorschrift wird vermutet, daß die Ausdrücke eines Vertrages in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben. Damit würden Divergenzen freilich nicht beseitigt, sondern nur verdeckt. Dies allein kann die unterschiedliche Überzeugungskraft des Indizarguments im Gemeinschaftsrecht und im Völkerrecht nicht erklären. 598 Art. 31 WVRK. Dessen erster Absatz lautet: „Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.“ 599 Nach Art. 32 WVRK sind dies insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses. 600 Vgl. bereits oben Fn. 380. 601 Art. 116 Abs. 4 Satz 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft (abrufbar im Internet unter ). 593 594

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Fassungen sämtlicher Gesetze sind in gleicher Weise maßgeblich.602 In Kanada sind Gesetze in französischer und englischer Sprache gleichermaßen verbindlich.603 In den genannten Rechtsordnungen wird die Mehrsprachenauthentizität im Hinblick auf den Interpretationsvorgang nur dann als problematisch erachtet, wenn die Sprachfassungen voneinander abweichen und daher eine Überbrückung von Divergenzen erforderlich wird.604 Für die übrigen Fälle ist nicht ersichtlich, daß die Überzeugungskraft des Rückgriffs auf konventionelle Bedeutungen als besonders schwach erachtet würde. Die Mehrsprachenauthentizität gemeinschaftsrechtlicher Normtexte schwächt daher zwar die Überzeugungskraft des Indizarguments insoweit, als zwischen den einzelnen Sprachfassungen erhebliche Bedeutungsdivergenzen bestehen. Ist dies jedoch – wie meist – nicht der Fall, bleibt die Überzeugungskraft von der Mehrsprachenauthentizität weitgehend unberührt und kann in einigen Fällen sogar noch gestärkt werden. (3) Dynamik der Gemeinschaftsrechtsordnung Da sowohl Konferenzdiplomatie als auch Mehrsprachenauthentizität in anderen Rechtsordnungen nicht dazu führen, daß die Überzeugungskraft des Indizarguments in nennenswertem Maße geschwächt wird, kann das geringe Gewicht des Indizarguments in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik nur durch einen spezifisch in der Gemeinschaftsrechtsordnung wurzelnden Grund erklärt werden. Dieser liegt in der dynamischen Struktur des Gemeinschaftsrechts.605 Die Gemeinschaft ist keine statische Organisation, sondern – wie sich insbesondere aus der Präambel und den Zielbestimmungen des EGV ergibt – auf die Verwirklichung bestimmter Ziele und insbesondere auf einen immer engeren Zusammenschluß der Völker der Mitgliedstaaten ausgerichtet.606 Anders als zahlreiche Verträge des 602 Art. 9 Abs. 1 des Publikationsgesetzes (abrufbar im Internet unter ). 603 Section 18 Para 1 des Constitution Act 1982 (abrufbar im Internet unter ). 604 Vgl. für Belgien Dijon, Méthodologie, S. 38 ff.; für die Schweiz Aubert, Bundesstaatsrecht der Schweiz, Einleitung zu Nrn. 292 – 303, der grundsätzlich für einen weitgehenden Vorrang des Wortlauts eintritt, sowie Häfelin / Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Rn. 79 f., mit Hinweis auf die große Bedeutung der grammatikalischen Auslegung in der Praxis des Bundesgerichts; für Kanada Beaupré, Bilingual Legislation, S. 53 ff., und Hogg, Constitutional Law of Canada, S. 1201 f. 605 Vgl. zum Zusammenhang zwischen dynamischer Struktur des Gemeinschaftsrechts und Interpretationsmethodik Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 67; Bredimas, Methods of Interpretation, S. 152; Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 724; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 5 / 71 ff.; Röttgen, Argumentation, S. 57 ff.; Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 413. – Zur Dynamik des Unions- und damit auch des Gemeinschaftsrechts CR / Calliess, Art. 1 EUV, Rn. 6 ff.; Schwarze / Stumpf, Art. 1 EUV, Rn. 18 ff. 606 So die erste Erwägung der Präambel des EGV, die bereits in der ursprünglichen Fassung enthalten war und seitdem unverändert geblieben ist. Auch Art. 1 EEA und die erste

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„klassischen“ Völkerrechts bezweckt damit der EGV nicht nur die rechtliche Regelung eines Zustandes, sondern die Einleitung und Durchführung eines Prozesses,607 ist also nicht bloßes Koordinations-, sondern Integrationsrecht. Der vom EGV ins Auge gefaßte Integrationsprozeß ist ohne eine dynamische Entwicklung der Gemeinschaft nicht möglich. Der EGV, auf dessen Grundlage sich diese Entwicklung vollzieht, bleibt seinerseits von der Dynamik des Integrationsprozesses nicht unberührt. Er muß auch der fortentwickelten Gemeinschaft noch als Grundlage von Lösungen dienen können, die dem jeweiligen Entwicklungsstand der Gemeinschaft entsprechen.608 Die Dynamik der Integration strahlt so auf ihre rechtliche Grundlage aus, die infolgedessen ihrerseits eine dynamische Struktur gewinnt.609 Rechtsentwicklung und Anpassung des Rechts an neue Gegebenheiten sind hier mehr als in jeder anderen Rechtsordnung nicht nur Reaktionen auf die Wandlung der gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten, sondern programmatischer Auftrag. Die nicht nur der Gemeinschaft selbst, sondern auch dem Gemeinschaftsrecht eigene Dynamik ist einer der bedeutendsten Aspekte dieses Rechts, der es von vielen anderen Rechtsordnungen abhebt und spezifisch charakterisiert.610 Damit schließt die vom EuGH nach Art. 220 bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichernde Wahrung des Rechts auch die Wahrung von dessen Dynamik ein.611 Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die dabei heranzuziehende Methodik612: In einer dynamisch ausgestalteten Rechtsordnung kann Interpretation noch weniger als sonst nur die Funktion des Nachvollzugs von durch den Normtext (angeblich) bereits Vorvollzogenem haben, sondern weist ihrerseits einen dynamischen Aspekt auf. Dies bedeutet nicht, daß der EuGH deswegen verpflichtet wäre, stets neue, vollkommen andere Normtextbedeutungen anzunehmen. Wohl aber muß ihm in den Grenzen gemeinschaftsrechtlich zulässiger Interpretation die Möglichkeit hierzu eröffnet werden, wenn ein statisches Normtextverständnis dem jeweils gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht mehr entspricht. Ein verhältnismäßig statisches Normtextverständnis wird jedoch gerade durch das Indizargument begünstigt,613 da es aufgrund seines Rückgriffs auf beund die dreizehnte Erwägung der Präambel des EUV enthalten deutliche Bekenntnisse zur fortschreitenden Integration. 607 Zuleeg, EuR 1969, 97 (102), beschreibt diese Entwicklung als rasche Stufenfolge. 608 Eine Voraussetzung hierfür ist der Verzicht auf allzu detaillierte Regelungen; vgl. hierzu, auch im Zusammenhang mit der Überzeugungskraft des Indizarguments, Kutscher, Thesen, S. I-9 f.; Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 415 f. 609 In diese Richtung auch Röttgen, Argumentation, S. 61. 610 Dies bedeutet umgekehrt: Je näher die Gemeinschaft ihrem Zielzustand kommt, desto weniger ist ihre Integrationsdynamik ein charakteristisches Merkmal ihrer Rechtsordnung, das von herausragender Bedeutung für die Interpretation des Gemeinschaftsrechts ist. 611 In diese Richtung auch Hoffmann-Becking, Normaufbau und Methode, S. 346 f. 612 Ebenso Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 238 f.; Kutscher, Thesen, S. I-41 f. 613 Ebenso BBPS / Epiney, Rn. 531. – Wank, Begriffsbildung, S. 14, weist zutreffend darauf hin, daß das bloße Abstellen auf den vorhandenen Sprachgebrauch nicht den für juristische Tätigkeit charakteristischen Transfereffekt erlaube, da es ungeeignet sei, einen Schluß

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reits vorhandene semantische Konventionen ausschließlich reproduzierenden Charakter hat.614 „Neue“ Bedeutungen können im Rahmen des Indizarguments nur in dem Umfang in den Interpretationsvorgang einbezogen werden, in dem sie sich bereits im relevanten Sprachgebrauch etabliert haben – und sind damit gerade nicht mehr neu. Auch die Berücksichtigung geänderter tatsächlicher Bedingungen ist nur insoweit möglich, als diese bereits zu einer entsprechenden Anpassung des relevanten Sprachgebrauchs geführt haben. Die Ursächlichkeit der Dynamik des Gemeinschaftsrechts für die schwache Überzeugungskraft des Indizarguments in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik wird dadurch bestätigt, daß auch im Völkerrecht zielgerichtete Übereinkommen, insbesondere die Satzungen internationaler Organisationen, zunehmend einer dynamischen Interpretation unterzogen werden,615 bei der das Indizargument immer mehr in den Hintergrund tritt.616

c) Fazit Aufgrund der sowohl grundsätzlichen als auch zum Teil durch die Mehrsprachenauthentizität, insbesondere aber durch die Dynamik des Gemeinschaftsrechts verursachten Schwäche der Überzeugungskraft des Indizarguments verlieren die durch semantische Konventionen indizierten Bedeutungen erheblich an argumentativem Gewicht. Keinen Einfluß auf die Überzeugungskraft des Indizarguments hat demgegenüber der Umstand, daß der EGV das Ergebnis internationaler Staatenkonferenzen ist.

von bisherigen Verwendungen auf Verwendungen in anders gelagerten Sachverhalten zu ziehen. Die spezifisch juristische Transferleistung besteht in der Tat nicht darin, auf mögliche Änderungen semantischer Konventionen zu warten und sie dann zu rezipieren, auch nicht in den letztlich zufälligen Bedeutungsverschiebungen im Rahmen einer Regelbefolgung, sondern in der methodisch abgestützten, begründeten Bestimmung derjenigen (juristischen) Bedeutung, die dem Normtext im Hinblick auf den anders gelagerten Sachverhalt beizulegen ist. 614 Wank, Begriffsbildung, S. 33, bezeichnet dies als „retrospektiv“. – Schulte-Nölke, Amtssprachen, S. 143 (156 f.), betont in diesem Zusammenhang die Vorteile, die die Mehrsprachenauthentizität für die Anpassung der Rechtslage an die dynamische Entwicklung des Gemeinschaftsrechts hat. 615 Vgl. bereits Bernhardt, Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 43; aus der neueren Literatur Seidl-Hohenveldern / Stein, Völkerrecht, Rn. 352 ff.; Shaw, International Law, S. 658 f.; Simma / Ress, CVN, Auslegung, Rn. 19 ff. – Der EGMR spricht in ständiger Rechtsprechung von der EMRK als einem „instrument vivant qui doit être interprété à la lumière des conditions actuelles“; vgl. z. B. EGMR, Recueil des Arrêts et Décisions 1999-I, 305, Rn. 39 (322) m. w. N. – Matthews. 616 In diese Richtung auch Degan, RTDE 1966, 189 (222).

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II. Argument der gebotenen Zielverwirklichung (Zielargument) 1. Material und Struktur des Arguments Das Zielargument führt für eine Bedeutungshypothese ins Feld, daß das ihr entsprechende Verständnis des Normtextes (am besten) geeignet sei, ein bestimmtes Ziel zu verwirklichen.617 Es basiert auf einer normativen und einer empirischen Prämisse.618

a) Normative Prämisse: Gebot der Verwirklichung eines bestimmten Ziels Die (meist nur implizit vorgebrachte) normative Prämisse des Zielarguments besagt, daß die Verwirklichung eines bestimmten Ziels geboten sei.619 Dieses Ziel ist zu benennen und das Gebot seiner Verwirklichung zu begründen. Ist die gleichzeitige Verwirklichung mehrerer Ziele geboten, sind diese zudem untereinander zu gewichten. (1) Bestimmung des Ziels und Begründung des Gebots seiner Verwirklichung Bei der Suche nach Zielen ist davon auszugehen, daß diese stets auf menschliche Setzungen zurückzuführen sind. Kein Gegenstand hat an sich einen Zweck oder ein Ziel, sondern erhält ein solches erst durch die Einbindung in ein Mittel-ZweckVerhältnis. Auch Normtexte haben als solche kein Ziel;620 allerdings können mit ihrem Erlaß oder ihrer Durchsetzung Ziele verfolgt werden. Die Bestimmung dieser Ziele und die Begründung des Gebots ihrer Verwirklichung unterliegen je nach Ausgangslage unterschiedlichen Anforderungen. (a) In Normtexte ausdrücklich aufgenommene Zielvorgaben Die Bestimmung eines Ziels ist dort besonders einfach, wo in einen Normtext ausdrücklich Zielvorgaben aufgenommen wurden.621 Die Zielvorgabe muß nicht 617 Nachfolgend wird zur Vereinfachung grundsätzlich davon ausgegangen, daß lediglich ein Normtextverständnis zur Zielverwirklichung geeignet ist. 618 Vgl. näher Alexy, Argumentation, S. 296 ff.; ähnlich auch GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 55. 619 Dabei kommen von vornherein nur solche Ziele in Betracht, die einen wenigstens minimalen sachlichen Bezug zu dem zu interpretierenden Normtext aufweisen. Dieser wird nachfolgend als gegeben vorausgesetzt. 620 Vgl. Koch / Rüßmann, Begründungslehre, S. 169 f. Erst recht haben Normtexte keinen Willen (so aber Zuleeg, EuR 1969, 97 [102]; in diese Richtung auch Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 13).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

in dem zu interpretierenden Normtext selbst enthalten sein; es reicht aus, daß sie Bestandteil eines anderen Normtextes ist.622 Beispielhaft sei auf Art. 2 verwiesen, der die Aufgaben der Gemeinschaft in Form eines Mittel-Zweck-Verhältnisses beschreibt.623 Auch die Präambel enthält ausdrückliche Zielbestimmungen, die bei der Interpretation des Vertragstextes zu berücksichtigen sind.624 Schließlich können Zielvorgaben auch durch zielgerichtete Formulierungen wie etwa „um . . . zu“ (so z. B. in Art. 14 Abs. 1) oder „derart, daß . . .“ (so z. B. in Art. 31 Abs. 1) in den Normtext aufgenommen werden. Die Aufnahme einer Zielvorgabe in den zu interpretierenden Normtext selbst oder in einen anderen Normtext entbindet den Interpreten freilich nicht davon, Inhalt und Reichweite der Zielvorgabe im Wege der Interpretation zu bestimmen. Diese Interpretation ist im Rahmen des Zielarguments allerdings nur ein Hilfsmittel und wird daher hier als sekundäre Interpretation bezeichnet. Sie kann in der Regel auf die Erfassung der insoweit relevanten semantischen Konventionen beschränkt, also allein mit dem Indizargument begründet werden.625 Dies rechtfertigt sich dadurch, daß die Zielvorgaben nicht auf konkrete Einzelfälle ausgerichtet sind, so daß ihr Inhalt und ihre Reichweite in erheblich geringerem Umfang kontextabhängig sind als die Bedeutung des primär zu interpretierenden Normtextes.626 Zudem führte eine umfassende Interpretation auch der nur sekundär zu interpretierenden Normtexte zu einem unendlichen Interpretationsprozeß, da auch die systematischen Bezüge dieser Normtexte zu anderen Normtexten sowie deren Bezüge zu weiteren Normtexten etc. berücksichtigt werden müßten. Schließlich steht der Beschränkung auf das Indizargument auch des621 Auch in diesem Fall sind die betreffenden Ziele nicht solche des Normtextes in dem Sinne, daß dieser Ziele verfolgen könnte. Gleichwohl wird vielfach mißverständlich von den Zwecken des Normtextes gesprochen; vgl. etwa CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 14; Larenz, Methodenlehre, S. 329. 622 In diesem Fall berühren Ziel- und Systemargument einander. Vgl. zu dem insbesondere im Gemeinschaftsrecht engen Zusammenhang zwischen beiden Argumenten Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 200; BBPS / Epiney, Rn. 538; Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 250 f.; Bergerès, Contentieux communautaire, Nr. 61; Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 725; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 297 ff.; Kutscher, Thesen, S. I-42 f. – Esser, Interpretation im Recht, S. 278 (285), hält Ziel- und Systemerwägungen ohnehin für dasselbe; lediglich die jeweils in den Vordergrund gerückten Aspekte unterschieden sich. – Die Abgrenzung beider Argumente wird hier eher formal danach vorgenommen, ob in den anderen Normtext eine Zielvorgabe aufgenommen wurde oder nicht. Im ersteren Fall wird die Bezugnahme auf den anderen Normtext im Rahmen des Zielarguments, anderenfalls im Rahmen des Systemarguments thematisiert. 623 Vgl. zu einem Mittel-Zweck-Verhältnis zwischen den in Art. 2 genannten Zielen und den Bestimmungen des EGV über den freien Verkehr und den Wettbewerb EuGH, Gutachten 1 / 91 vom 14. 12. 1991 – EWR [I], Slg. 1991, I-6079, Rn. 17 f. (I-6102). 624 Vgl. Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 343; GTE / Zuleeg, Präambel des EGV, Rn. 2; Millett, SLR 1989, 163 (171). 625 Diese Beschränkung ist nicht Ausdruck einer Verpflichtung, sondern einer Entlastung. Eine weitergehende Begründung ist daher zwar entbehrlich, nicht aber unzulässig. 626 Vgl. zur Kontextabhängigkeit von Bedeutung und zur kontexterschließenden Funktion der Interpretationsargumente bereits oben § 6 A.

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sen statisches Element nicht entgegen, da dieses durch die betreffende Zielvorgabe, in der die dynamische Struktur des Gemeinschaftsrechts zum Ausdruck kommt, überlagert wird. Durch die Aufnahme einer Zielvorgabe in einen Normtext wird diese Bestandteil des geltenden Rechts. Die Verwirklichung des betreffenden Ziels wird damit zu einer Forderung, an die der Interpret gebunden ist. Gleichzeitig wird er allerdings auch davon entlastet, das Gebot der Verwirklichung dieses Ziels näher zu begründen: Dies geschieht bereits durch die Aufnahme der Zielvorgabe in den Normtext.627 Die normative Prämisse des Zielarguments erschöpft sich in diesem Fall somit darin, das zu verwirklichende Ziel in einem Normtext zu identifizieren und seinen Inhalt und seine Reichweite im Wege sekundärer Interpretation zu bestimmen. (b) Fehlen ausdrücklicher Zielvorgaben in Normtexten Enthält weder der zu interpretierende noch ein anderer Normtext eine ausdrückliche Zielvorgabe, könnte an die Heranziehung von Sekundärtexten wie etwa Verhandlungsprotokollen und Entwurfsbegründungen gedacht werden. Entsprechende Dokumente, die sich auf den EGV beziehen, wurden jedoch bewußt nicht veröffentlicht und spielen daher bei der Interpretation des EGV keine Rolle.628 Damit steht der Interpret im Falle des Fehlens ausdrücklicher Zielvorgaben in Normtexten vor der Aufgabe, selbst die Ziele zu bestimmen, deren Verwirklichung geboten ist.629 Dies wird dadurch erschwert, daß ihm mit dem Normtext lediglich das Mittel bekannt ist, von dem er auf das damit verfolgte Ziel schließen muß. Er hat daher zu prüfen, zur Verwirklichung welcher Ziele der Erlaß oder die Durchsetzung des Normtextes eingesetzt werden konnten bzw. können. Aus den so beVgl. insoweit auch GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 56. Denkbar wäre allenfalls ein Rückgriff auf die Materialien der Zustimmungsgesetze der einzelnen Mitgliedstaaten. Diese stellen allerdings lediglich einseitige Äußerungen einzelner Vertragsparteien dar. Der EuGH greift heute, anders als vereinzelt zu Beginn seiner Tätigkeit (vgl. z. B. Urteil vom 13. 7. 1961, verb. Rs. 2 und 3 / 60 – Niederrheinische Bergwerks-Aktiengesellschaft, Slg. 1961, 281 [311]), nicht mehr auf mitgliedstaatliche Ratifizierungsgesetze zurück, um eine Bedeutungsbestimmung ergänzend zu begründen; vgl. hierzu Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 251 f.; Kutscher, Thesen, S. I-22; Zuleeg, EuR 1969, 97 (102). – Nur am Rande sei darauf hingewiesen, daß die Aufnahme von Zielvorstellungen in sekundäre Texte dem Interpreten zwar Hinweise auf zu verwirklichende Ziele geben, ihn aber nicht von der Begründung entlasten kann, daß bzw. warum die Verwirklichung dieser Ziele geboten ist. Anders als der Normtext selbst sind sekundäre Texte kein geltendes Recht und daher für den Interpreten nicht verbindlich. Dies gilt auch dann, wenn man in ihnen den „Willen des Normgebers“ (zu dieser Argumentationsfigur zu Recht kritisch Esser, Interpretation im Recht, S. 278 [283 f.]; Hesse, Grundzüge, Rn. 56) verkörpert sieht: Bloße Willensbekundungen, auch solche eines (noch dazu meist unzutreffend personifizierten) Normgebers, sind keine verbindlichen Anordnungen. 629 In diese Richtung auch Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 80. 627 628

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

stimmten Zielen sind dann diejenigen auszuwählen, deren Verwirklichung geboten ist. Dabei ist der Interpret selbstverständlich nicht befugt, individuelle Wunschvorstellungen in den Rang verbindlicher Ziele zu erheben. Vielmehr kann die Verwirklichung eines Ziels nur dann als geboten erachtet werden, wenn dieses Gebot dem Normtext in intersubjektiv vermittelbarer, rational begründbarer Weise zurechenbar ist.630 Die hieraus resultierende Verpflichtung zur Rechtfertigung der Zielsetzung durch den Interpreten erlangt ein besonderes Gewicht, wenn das Zielargument bei der Interpretation einer Befugniszuweisung eingesetzt wird. In diesem Fall hat sie nämlich die Einhaltung des in Art. 5 Abs. 1 verankerten Grundsatzes begrenzter Ermächtigung zu gewährleisten, nach dem die Gemeinschaft (nur) innerhalb der Grenzen der ihr im EGV zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig wird.631 (2) Gewichtung verschiedener Ziele Die bisher behandelte Grundkonstellation, daß die Verwirklichung eines bestimmten Ziels geboten ist, wird regelmäßig dadurch kompliziert, daß gleichzeitig die Verwirklichung mehrerer Ziele geboten ist, die einander zumindest teilweise widersprechen. In diesem Fall sind die Ziele untereinander zu gewichten.632 Je konkreter ein Ziel gefaßt ist, desto größeres Gewicht kommt ihm in der Abwägung zu; gleiches gilt sinngemäß für unmittelbar zu verwirklichende Ziele, also solche, deren Verwirklichung nicht des stufenweisen Durchlaufens mehrerer Zwischenzustände bedarf. Schließlich ist auch den ausdrücklich in den Normtext aufgenommenen Zielen ein größeres Gewicht beizulegen als den vom Interpreten bestimmten.633 Die Gewichtung mehrerer Ziele untereinander muß nicht dazu führen, daß sich nur ein Ziel durchsetzt.634 Meist besteht die Möglichkeit, im Sinne praktischer Konkordanz zur Verwirklichung mehrerer Ziele beizutragen, indem auf die vollumfängliche Verwirklichung einiger Ziele verzichtet wird. Kommt jedoch einem Ziel ausnahmsweise so großes Gewicht zu, daß seine Verwirklichung ohne Rücksicht auf die mit ihm konfligierenden Ziele geboten ist, werden diese als Folge der Zielgewichtung verdrängt.

630 Ebenso GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 47; zu den Anforderungen an die Bestimmung zu verwirklichender Ziele durch den Interpreten auch Alexy, Argumentation, S. 296 ff. 631 Vgl. näher zu den Auswirkungen des Grundsatzes begrenzter Ermächtigung auf die Interpretation von Befugniszuweisungen unten § 8 B. II. 1. c) (1) (a) (i). 632 Vgl. hierzu GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 59 und 67, der die Abwägung widerstreitender Ziele jedoch in die allgemeine Abwägung gegenläufiger Interpretationsargumente einbezieht. 633 Für das deutsche Recht weitergehend Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 793, der die Zielsetzungen des historischen Normsetzers in den Rang einer Interpretationsgrenze erhebt. 634 Vgl. hierzu GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 66 f.

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht

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b) Empirische Prämisse: Eignung zur Zielverwirklichung Die zweite Prämisse des Zielarguments betrifft die Eignung der Bedeutungshypothese zur gebotenen Zielverwirklichung. Sie besagt, daß der Erlaß bzw. die Durchsetzung des im Sinne der Bedeutungshypothese verstandenen Normtextes das Ziel verwirklicht oder hierzu wenigstens beiträgt. Dies ist durch den Rückgriff auf entsprechendes Erfahrungswissen zu begründen, soweit solches vorhanden ist. Anderenfalls bleibt nur, begründete Annahmen über die Eignung der Bedeutungshypothese zur gebotenen Zielverwirklichung aufzustellen. Sofern die Bedeutungshypothese nicht die einzige ist, die die Verwirklichung des Zieles ermöglicht, ist zusätzlich zu begründen, warum sie anderen Bedeutungshypothesen vorzuziehen ist. Dabei können insbesondere Effizienz- und Verhältnismäßigkeitserwägungen eine Rolle spielen.

2. Überzeugungskraft Das Zielargument hat bei der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte regelmäßig eine sehr starke Überzeugungskraft. Seine starke Stellung resultiert zunächst daraus, daß der EGV insbesondere in der Präambel und in Art. 2 ausdrückliche, breit angelegte Zielbestimmungen enthält, zu deren Verwirklichung die Gemeinschaft einen fortschreitenden Entwicklungsprozeß durchlaufen muß.635 Das Zielargument entspricht daher dem dezidiert dynamischen Charakter der Gemeinschaft in besonderem Maße.636 Darüber hinaus ist das große Gewicht des Zielarguments in nicht unbeträchtlichem Umfang auf die relative Schwäche des Indiz-, des Vergleichs- und des Entstehungsarguments637 zurückzuführen638: Ein Interpretationsargument kann sich unabhängig von seiner eigenen Überzeugungskraft um so eher gegen andere Argumente durchsetzen, je geringer deren Überzeugungskraft ist. Für das Zielargument bedeutet dies, daß es regelmäßig stärkeres Gewicht als das Indiz-, das Vergleichs- und das Entstehungsargument hat.639 635 Vgl. zum Zusammenhang zwischen ausdrücklichen Zielvorgaben und der Überzeugungskraft des Zielarguments Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 252; Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 425. 636 Ebenso Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 381 ff.; Kutscher, Thesen, S. I-49; Mertens de Wilmars, CDE 1986, 5 (16 f.); Millett, SLR 1989, 163 (173); Oppermann, Europarecht, Rn. 582; ähnlich BBPS / Epiney, Rn. 536; Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1181). 637 Vgl. zur Überzeugungskraft des Indizarguments näher oben A. I. 2., zu der des Vergleichsarguments unten A. IV. 2. und zu der des Entstehungsarguments unten A. V. 2. 638 Ebenso CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 14; Schulte-Nölke, Amtssprachen, S. 143 (159). 639 Besonders deutlich EuG, Urteil vom 30. 11. 1993, Rs. T-15 / 93 – Vienne / Parlament, Slg. 1993, II-1327, Rn. 28 (II-1340); hiernach darf die Auslegung nicht zu Ergebnissen führen, die der Zweckbestimmung der ausgelegten Vorschrift widersprechen; ebenso Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 407; ähnlich Bleckmann, NJW 1982, 1177 (1178); Grundmann,

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

Der starken Überzeugungskraft des Zielarguments entspricht seine verhältnismäßig häufige Verwendung: Es dürfte kaum eine wichtige Entscheidung des EuGH geben, in der eine Bedeutungsbestimmung nicht wenigstens auch mit dem Zielargument begründet wird.640 Oft markiert das Zielargument zudem – allein oder in Verbindung mit dem Systemargument – den zentralen Begründungsschritt der Entscheidungen des EuGH.641

III. Argument des systematischen Zusammenhangs (Systemargument)642 1. Material und Struktur des Arguments Das auf den systematischen Zusammenhang gestützte Argument basiert auf der Vermutung, daß die Schöpfer von Rechtsakten643 darauf bedacht sind, diese in sich sachlich geordnet und kohärent zu gestalten und sie außerdem widerspruchsfrei in die bestehende Gesamtrechtsordnung einzufügen.644 Auf der Grundlage dieser

Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 367. – Simon, Système juridique, Nr. 301, hebt die Beweglichkeit der Interpretationsmethodik des EuGH hervor und teilt daher nicht die Annahme einer bevorzugten Stellung des Zielarguments (ähnlich Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 401 f.). Simon räumt allerdings ein, daß der EuGH stark auf den Argumentationstopos des effet utile zurückgreift. Da dieser ebenfalls zielorientiert ist, greift der Einwand Simons im Ergebnis nicht durch. 640 Ebenso Buck, Auslegungsmethoden, S. 221; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 364. Demgegenüber meint Brownlie, Principles, S. 637 f., die Rechtsprechung des EuGH zeige keine besondere Vorliebe für einen „teleological approach“. Skeptisch auch Dederichs, EuR 2004, 345 (354 f.), die aufgrund einer umfangreichen Inhaltsanalyse von EuGH-Entscheidungen zu dem Ergebnis kommt, daß der EuGH nur in etwa der Hälfte seiner Entscheidungen aus dem Jahre 1999 das Zielargument verwendet. 641 Vgl. BBPS / Epiney, Rn. 528. – Kritisch zu dieser Einschätzung Müller / Christensen, Methodik II, S. 43 f. 642 Auf den systematischen Zusammenhang gestützte Erwägungen werden z. T. auch als Unterfall der grammatischen Interpretation angesehen; vgl. etwa GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 47; Rill, ZfV 1985, 461 (467); ebenso für das belgische Recht Dijon, Méthodologie, §§ 125 ff. 643 Unter Rechtsakt wird hier eine in sich abgeschlossene, zusammenhängende Menge von Normtexten verstanden, also beispielsweise der EGV, eine Verordnung oder eine Richtlinie. 644 Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 75, spricht insoweit von Ordnungsvorstellungen, die dem Rechtsetzer als von ihm gewollt zugesonnen werden. Vgl. zur Vermutung systemorientierten Handelns der Schöpfer von Rechtsakten ferner Bleckmann / Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, B.I, Rn. 31 ff. – In welchem Umfang angesichts der zunehmenden Komplexität des Rechts, die eine auch nur annähernde Übersicht über das Gesamtsystem praktisch unmöglich macht, ein systemkohärentes Handeln noch ohne weiteres vermutet werden kann, erscheint diskussionswürdig, bedürfte allerdings einer separaten Untersuchung.

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht

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Vermutung wird die Rechtsordnung als (möglichst) kohärentes Gesamtsystem aufgefaßt. Dabei kann zwischen formaler und materialer Systematik unterschieden werden; jedem der beiden Aspekte entspricht ein Argumentationsmuster des Systemarguments.

a) Formale Systematik (Stellung innerhalb eines Rechtsaktes) Als formale Systematik wird hier die äußerlich erkennbare Ordnung eines Rechtsaktes bezeichnet.645 Sie ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, daß innerhalb des Rechtsaktes sachlich zusammenhängende Normtexte zu Abschnitten zusammengefaßt werden, deren Sachbereich in der Regel durch Abschnittsüberschriften bezeichnet wird. Aufgrund der formalen Systematik können Rückschlüsse auf die Reichweite des Regelungsbereichs eines Normtextes oder der anzuordnenden Rechtsfolge gezogen werden.646 So spricht etwa die Überschrift ,Grundsätze‘ vor Art. 1 bis 16 dafür, daß die in diesem Abschnitt zusammengefaßten Normtexte Aussagen für den EGV insgesamt enthalten. In Verbindung mit dem Grundsatz lex specialis derogat legi generali kann aus der Stellung eines Normtextes in einem Kapitel mit allgemeinen Normtexten gefolgert werden, daß dieser hinter einen solchen zurücktritt, der zu einem Abschnitt mit spezielleren Normtexten gehört. Das erste Argumentationsmuster des Systemarguments zieht derartige Erwägungen heran, um eine Bedeutungshypothese unter Hinweis auf die Stellung des Normtextes innerhalb eines Rechtsaktes zu begründen.647

b) Materiale Systematik: Terminologische und inhaltliche Übereinstimmung mit anderen Normtexten Das zweite Argumentationsmuster des Systemarguments stellt den zu interpretierenden Normtext terminologisch und inhaltlich in Beziehung zu anderen Normtexten.648 Es basiert auf den Vermutungen, daß identische Ausdrücke innerhalb ei645 Zuleeg, EuR 1969, 97 (102), bezeichnet diese Ausprägung des Systemarguments als „systematische Auslegungsmethode, wie sie gewöhnlich verstanden wird“. 646 Vgl. z. B. Buck, Auslegungsmethoden, S. 178 ff. 647 Vgl. beispielhaft EuGH, Urteile vom 22. 9. 1988, Rs. 187 / 87 – Saarland u. a. / Minister für Industrie u. a., Slg. 1988, 5013, Rn. 11 f. (5040 f.), und vom 12. 12. 1995, Rs. C-469 / 93 – Chiquita Italia, Slg. 1995, I-4533, Rn. 61 (I-4573). – Hintersteininger, ZÖR 1998, 239 (254), beschränkt das Systemargument augenscheinlich auf Gesichtspunkte der formalen Systematik, wodurch solche der materialen Systematik ohne ersichtlichen Grund unberücksichtigt bleiben. 648 Teilweise wird anhand der räumlichen Entfernung zwischen beiden Normtexten zwischen engem und weitem Zusammenhang unterschieden (vgl. etwa Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 300 ff.; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 73; zu einem anderen Verständnis der Unterscheidung Bredimas, Methods of Interpretation, S. 158 f.: „context latu sensu“ als Bezugnahme auf Argumentationsmaterial außerhalb des zu interpre-

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

ner (Teil-)Rechtsordnung dieselbe Bedeutung haben649 und daß Normtexte nicht mit anderen Normtexten in Konflikt geraten. Dementsprechend begründet es eine Bedeutungshypothese damit, daß sie terminologisch und inhaltlich mit der Bedeutung anderer Normtexte übereinstimme oder dieser zumindest nicht widerspreche. Ein Widerspruch in terminologischer Hinsicht liegt vor, wenn derselbe Ausdruck in verschiedenen Normtexten mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet wird. Ein inhaltlicher Widerspruch besteht, wenn der zu interpretierende Normtext im Hinblick auf Voraussetzungen oder Rechtsfolgen mit einem anderen Normtext nicht in Einklang steht. Mit dem Auftreten solcher Widersprüche wird die eingangs angesprochene Vermutung systematischer Rechtsetzung widerlegt. Damit wächst dem Interpreten die Aufgabe zu, die durch die Widersprüche gestörte Systematik durch eine systemgerechte Interpretation zu beseitigen650: Systematik ist für die Interpretation nicht nur Vorgabe, sondern auch Aufgabe. Bei der Verwendung des auf die materiale Systematik gestützten Argumentationsmusters ist die Bedeutung derjenigen Normtexte zu bestimmen, zu denen der zu interpretierende Normtext in Beziehung gesetzt wird.651 Da diese Bedeutungsbestimmung im Rahmen der eigentlichen Interpretation lediglich ein Hilfsmittel ist, wird sie hier – wie bereits im Rahmen des Zielarguments652 – als sekundäre Interpretation bezeichnet. Zu ihrer Begründung reicht auch hier grundsätzlich die Verwendung des Indizarguments aus: Systematische Zusammenhänge zwischen mehreren Normtexten abstrahieren von konkreten Einzelfällen und sind daher kaum kontextabhängig. Zudem führte eine umfassende Interpretation des sekundär zu interpretierenden Normtextes zu einem unendlichen Interpretationsprozeß.653 tierenden Rechtsaktes). Für die Struktur des Systemarguments ist diese Unterscheidung jedoch irrelevant und wird daher hier nicht getroffen. 649 Vgl. Bleckmann / Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, B.I, Rn. 29; Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 78. – Die genannte Vermutung ist freilich keine spezifisch juristische; vielmehr verlangt schon die Logik die Konsistenz einer innerhalb eines Systems verwendeten Terminologie. System in diesem Sinne ist nicht notwendig die gesamte Rechtsordnung, sondern kann auch ein sachlich abgrenzbares Rechtsgebiet sein (vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 15. 10. 1992, Rs. C-162 / 91 – Tenuta il Bosco, Slg. 1992, I-5279, Rn. 19 [I-5296], und vom 12. 5. 1998, Rs. C-85 / 96 – Martínez Sala, Slg. 1998, I-2691, Rn. 31 [I-2719]). 650 Vgl. Lenz / Borchardt, Art. 220 EGV, Rn. 21; dezidiert in diese Richtung auch Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 775 f.: „Wenn aber die Einheit nicht existiert, kann sie nur vom Rechtsanwender im Sinne einer harmonisierenden, die Normwidersprüche auflösenden Interpretation hergestellt werden. Die ,Einheit‘ der Verfassung, einzelner Gesetze oder der Rechtsordnung sind also nicht reale Gegebenheiten, sondern Interpretationsprodukte. Die Rechtsanwender, die Gerichte, entscheiden, was sie als Einheit verstehen.“ – Nach Röttgen, Argumentation, S. 165, wäre der Verzicht auf die Überbrückung des Widerspruchs als Rechtsverweigerung anzusehen. 651 Zutreffend Buchwald, ARSP 1993, 16 (44). Bleckmann / Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, B.I, Rn. 28, sprechen insoweit von der „Lösung mehrerer Gleichungen mit zahlreichen Unbekannten“. 652 Vgl. hierzu oben A. II. 1. a) (1) (a).

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Aufgrund des Stufenbaus der Gemeinschaftsrechtsordnung ist der zu interpretierende Normtext sowohl horizontal mit Normtexten desselben Ranges als auch vertikal mit Normtexten einer anderen Rangstufe in Beziehung zu setzen.654 (1) Horizontale Systematik Bei der Interpretation eines Normtextes des EGV sind wegen des Grundsatzes der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung zunächst die Vorschriften des EAGV als Normtexte gleichen Ranges anzusehen.655 Auch dem EUV kommt der gleiche Rang zu wie dem EGV.656 Er ist entstehungsgeschichtlich gesehen ebenso wie der EGV ein von den Mitgliedstaaten abgeschlossener völkerrechtlicher Vertrag. Eine Hierarchisierung solcher Verträge ist dem Völkerrecht weitgehend fremd.657 Sie folgt hier auch nicht daraus, daß der EGV durch den EUV geändert wurde, da eine solche Änderung nach dem lex posterior-Grundsatz ohne weiteres auch bei gleichrangigen Verträgen möglich ist.658 Hinzu kommt, daß beide Verträge nach Art. 48 EUV demselben Änderungsverfahren unterworfen sind, was für Normtexte unterschiedlichen Ranges zumindest überraschend wäre. Schließlich läßt sich eine Überordnung des EUV über den EGV auch nicht daraus ableiten, daß die Gemeinschaft in bestimmtem Umfang an den EUV gebunden ist;659 hiermit allein ist nichts über dessen Rang ausgesagt. 653 Vgl. hierzu bereits oben A. II. 1. a) (1) (a); ferner Buchwald, ARSP 1993, 16 (44). – Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 366 f., fordern eine vollständige Konkretisierung auch der nur sekundär zu interpretierenden Normtexte. Die hierdurch entstehende Problematik des unendlichen Vergleichs wird von ihnen allerdings nicht erörtert. 654 Diese Unterscheidung treffen auch Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 283; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 295 f.; Millett, SLR 1989, 163 (169); SchübelPfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 129. 655 Vgl. EuGH, Urteil vom 22. 2. 1990, Rs. C-221 / 88 – Busseni, Slg. 1990, I-495, Rn. 10 ff., insbesondere 16 (I-523 f.). Diese Entscheidung bezog sich zwar auf den EGKSV; kann aber auf den EAGV übertragen werden. Der EGKSV selbst kann im Rahmen des Systemarguments seit seinem Außerkrafttreten am 23. 7. 2002 nicht mehr als gleichrangiger Normtext berücksichtigt werden. Vgl. zur Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung ferner Bengoetxea, Legal Reasoning, S. 242; GTE / Zuleeg, Art. 1 EGV, Rn. 37; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 316 ff.; Zuleeg, EuR 1969, 97 (102 f.). 656 Eine Überordnung der Titel I, VII und VIII des EUV über das Recht der Gemeinschaften und die Titel II bis VI des EUV befürwortet jedoch CR / Wichard, Art. 1 EGV, Rn. 23. 657 Vgl. Heintzen, EuR 1994, 35 (36); Seidl-Hohenverldern / Stein, Völkerrecht, Rn. 523; anders Kimminich / Hobe, Völkerrecht, S. 171, im Hinblick auf ius cogens, zu dem der EUV freilich keinesfalls zählt. 658 Vgl. hierzu Pechstein / Koenig, Europäische Union, Rn. 107, die auch die Frage erörtern, inwieweit die Eigenständigkeit der Gemeinschaften als internationalen Organisationen einer solchen Vertragsänderung entgegenstehen könnte (ebd., Rn. 107 ff.). 659 Vgl. zur Reichweite dieser Bindung im einzelnen Pechstein / Koenig, Europäische Union, Rn. 116 f.; insbesondere zur Bindung an das in Art. 1 Abs. 3 Satz 2 und Art. 3 EUV niedergelegte Kohärenzgebot Schwarze / Stumpf, Art. 3 EUV, Rn. 3; CR / Blanke, Art. 3 EUV, Rn. 14 ff.

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Schließlich stehen auch die ungeschriebenen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und die allgemeinen Rechtsgrundsätze auf der gleichen Rangstufe wie der EGV.660 Insbesondere die vom EuGH in Anlehnung an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten entwickelten Gemeinschaftsgrundrechte sind damit dem EGV gleichrangig.661 Der EuGH sieht die Grundrechte folgerichtig als Rechtmäßigkeitsmaßstab für Organhandlungen an,662 berücksichtigt sie jedoch bei der Auslegung des EGV lediglich im Rahmen der horizontalen Systematik.663 Steht die Bedeutung eines in diesem Sinne gleichrangigen Normtextes in terminologischem oder inhaltlichem Widerspruch zu einer Bedeutungshypothese des zu interpretierenden Normtextes, ist zu prüfen, ob der Widerspruch durch eine Konfliktlösungsregel beseitigt werden kann, die einem der betreffenden Normtexte Vorrang einräumt; zu denken ist etwa an den Grundsatz lex specialis derogat legi generali.664 Ist dies nicht der Fall, ist derjenigen Bedeutungshypothese der Vorzug zu geben, die beiden Normtexten möglichst weitgehend Rechnung trägt und sie so zu einem Ausgleich bringt.

660 Vgl. CR / Ruffert, Art. 249 EGV, Rn. 3; Ress, ZEuS 1999, 471, spricht insoweit von „nebenrangig“. 661 Vgl. CR / Ruffert, Art. 249 EGV, Rn. 3; Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 38. Speziell zum Verhältnis der Grundrechte zu den Grundfreiheiten des EGV CR / Kingreen, Art. 6 EUV, Rn. 78 ff.; hierzu auch GA Jacobs, Schlußanträge vom 11. 7. 2002, Rs. C-112 / 00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5662, Rn. 101 ff. (I-5686 f.). Mittlerweile läßt sich die Gleichrangigkeit auch darauf stützen, daß nach Art. 6 Abs. 2 EUV die Union (und damit auch die Gemeinschaft) die Grundrechte achtet, wie sie sich u. a. aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. – Vgl. zur besonderen Stellung der EMRK unten B. I. 2. 662 Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 27. 1. 1994, Rs. C-98 / 91 – Herbrink, Slg. 1994, I-223, Rn. 9 (I-252 f.), und vom 5. 6. 1997, Rs. C-105 / 94 – Celestini, Slg. 1997, I-2971, Rn. 32 (I-3012), jeweils m. w. N. 663 Vgl. EuGH, Urteil vom 18. 6. 1991, Rs. C-260 / 89 – ERT, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 f. (I-2964); die Bestimmungen des EGV sind demnach „im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze“ auszulegen und „unter Berücksichtigung aller Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen“ (Hervorhebung jeweils nur hier). Beide Formulierungen deuten eher auf ein systematisch gleichrangiges Verhältnis als auf eine Überordnung der Grundrechte über den EGV hin. Demgegenüber fordert GA Jacobs, Schlußanträge vom 21. 3. 2002, Rs. C-50 / 00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6681, Rn. 37 (I-6692), daß „the fourth paragraph of Article 230 EC must be interpreted in such a way that it complies with the principle of effective judicial protection“ (Hervorhebung nur hier). 664 Vgl. EuGH, Urteil vom 12. 12. 1995, Rs. C-469 / 93 – Chiquita Italia, Slg. 1995, I-4533, Rn. 61 (I-4573). Demgegenüber ist der Grundsatz lex posterior derogat legi priori im Gemeinschaftsrecht nicht ohne weiteres anwendbar; vgl. hierzu auch BVerfG, NJW 2001, 1267 (Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter durch das Bundesverwaltungsgericht [BVerwGE 108, 289], da dieses einen Widerspruch zwischen zwei sekundärrechtlichen Bestimmungen nach dem lex posterior-Grundsatz aufgelöst hatte, ohne den EuGH zuvor um eine Vorabentscheidung zu ersuchen).

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(2) Vertikale Systematik Im Hinblick auf die vertikale Systematik sind sowohl die Auswirkungen höherrangiger als auch diejenigen rangniedrigerer Vorschriften auf den zu interpretierenden Normtext zu berücksichtigen. (a) Höherrangige Normtexte als Interpretationsgrenze Höherrangige Normtexte bilden für die Bedeutung von Normtexten niedrigeren Ranges einen Maßstab, da diese den höherrangigen Normtexten nicht widersprechen dürfen.665 Tritt ein derartiger Widerspruch auf, ist die dem höherrangigen Normtext widersprechende Bedeutungshypothese zwingend aus der Menge zulässiger Bedeutungen auszuscheiden, was deutlich macht, daß höherrangige Normtexte eine Grenze der Interpretation rangniedrigerer Normtexte bilden.666 Die Auswirkungen höherrangiger Normtexte auf rangniedrigere sind daher erst bei der Darstellung der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsgrenzen zu erörtern.667 (b) Rangniedrigere Normtexte als Indiz Eine Bedeutungshypothese kann auch dadurch begründet werden, daß sie terminologisch und inhaltlich mit der Bedeutung eines rangniedrigeren Normtextes übereinstimme.668 Dies wird üblicherweise mit der Konkretisierungsprärogative des Gesetzgebers und dem dieser entsprechenden Gebot richterlicher Zurückhaltung des EuGH begründet.669 Es ist allerdings höchst zweifelhaft, ob eine dem deutschen Verfassungerecht entstammende Konzeption670 unverändert in das Gemeinschaftsrecht und damit in eine Rechtsordnung übertragen werden kann, die 665 Ebenso Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 332 f. Vgl. aus der Rechtsprechung exemplarisch EuGH, Urteil vom 13. 12. 1983, Rs. 218 / 82 – Kommission / Rat, Slg. 1983, 4063, Rn. 15 (4075). 666 Ebenso GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 71. Vgl. ferner Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 334 f., der dem höherrangigen Recht zusätzlich eine systematischteleologisch motivierte Optimierungswirkung im Hinblick auf das rangniedrigere Recht beimißt; ebenso Buck, Auslegungsmethoden, S. 187. – Allgemein zur Eigenart der Konforminterpretation (am Beispiel der verfassungskonformen Interpretation einfachen Gesetzesrechts) Müller / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, S. 152 f. 667 Vgl. unten B. I. 1. 668 Vgl. zur Interpretation des Primärrechts unter Berücksichtigung des Sekundärrechts Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 195 ff.; Buck, Auslegungsmethoden, S. 190 f.; GH / Pernice / Mayer, Art. 220 EGV, Rn. 51 f.; Hintersteininger, ZÖR 1998, 239 (254 f., Fn. 57). 669 So GH / Pernice / Mayer, Art. 220 EGV, Rn. 52; ebenso Buck, Auslegungsmethoden, S. 190, mit unzutreffendem Verweis auf EuGH, Urteil vom 6. 4. 1962, Rs. 13 / 61 – de Geus / Bosch u. a., Slg. 1962, 97 (112 f.). 670 Vgl. zur gesetzeskonformen Interpretation deutschen Verfassungsrechts Hesse, Grundzüge, Rn. 85.

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

eine vergleichbare Trennung der Gewalten (noch) nicht kennt.671 Darüber hinaus suggeriert der Ausdruck ,sekundärrechtskonforme Interpretation‘,672 die rangniedrigeren Normtexte seien ohne weitere Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht der Interpretation zugrunde zu legen,673 und stellt so die Rangordnung zwischen Primär- und Sekundärrecht auf den Kopf.674 Für die hier vorzunehmende Interpretation von Art. 234 Abs. 1 kommt hinzu, daß als sekundärrechtlicher „Interpretationsmaßstab“ allenfalls die Verfahrensordnung des EuGH in Betracht zu ziehen ist,675 da andere abgeleitete Rechtsakte keinen relevanten Bezug zum Vorabentscheidungsverfahren aufweisen und somit für die Interpretation von Art. 234 Abs. 1 bedeutungslos sind. Die Verfahrensordnung wird jedoch nach Art. 223 Abs. 6 Satz 1 vom EuGH selbst erlassen,676 so daß sich gerade für sie die These vom Konkretisierungsprimat des Gesetzgebers nicht aufrechterhalten läßt. Gleichwohl sind rangniedrigere Normtexte für die Interpretation höherrangiger Normtexte nicht irrelevant, da auch sie durchaus erste Anhaltspunkte, also Arbeitshypothesen, für die zutreffende Bedeutung des zu interpretierenden Normtextes liefern können. Damit entspricht ihre Funktion derjenigen semantischer Konventionen im Rahmen des Indizarguments: Sie sind (nur) Indizien für die zutreffende Bedeutung, nicht aber deren Maßstab677. Ihre Indizwirkung steht dabei unter dem Vorbehalt ihrer Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht, aber auch gegen sie sprechender Interpretationsargumente von größerem Gewicht.

671 Ebenfalls kritisch zur Anlegung deutscher Maßstäbe an das Gemeinschaftsrecht im Hinblick auf die Gewaltenteilung Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 329 f. 672 Von Konforminterpretation sprechen in diesem Zusammenhang etwa Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 195 ff.; Buck, Auslegungsmethoden, S. 190. 673 Differenzierend allerdings Buck, Auslegungsmethoden, S. 190 a. E., der der Anwendbarkeit der sekundärrechtskonformen Auslegung wegen des Vorrangs des Primärrechts und des Gebotes der primärrechtskonformen Auslegung enge Grenzen gezogen sieht. – Hintersteininger, ZÖR 1998, 239 (254 f., Fn. 57 [255]), will die sekundärrechtskonforme Interpretation (nur) dort zulassen, wo der Vertrag einen legislativen Gestaltungsspielraum einräumt. 674 Ebenso Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 197 f.; kritisch auch Dumon, Rechtsprechung des Gerichtshofs, S. III / 110 f.; Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 337 f. Auch der EuGH lehnt eine das Rangverhältnis zwischen Primär- und Sekundärrecht beeinträchtigende Konforminterpretation ab; vgl. Urteile vom 19. 11. 1998, Rs. C-66 / 96 – Høj Pedersen u. a., Slg. 1998, I-7327, Rn. 29 (I-7369), und vom 26. 6. 2001, Rs. C-381 / 99 – Brunnhofer, Slg. 2001, I-4961, Rn. 29 (I-4988). – Vgl. für das deutsche Verfassungsrecht auch Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 365, die sich gegen eine Grundrechtsinterpretation nach Maßstäben „von Gnaden der einfachen Gesetze“ wenden. 675 Kein Sekundärrecht ist demgegenüber die Satzung des EuGH; sie wurde als Vertragsprotokoll verabschiedet (in der aktuellen Fassung als Protokoll zum Vertrag von Nizza [ABl. 2001 C 80 / 53]) und ist daher nach Art. 311 Bestandteil des Vertrages. 676 Nach Art. 223 Abs. 6 Satz 2 bedarf die Verfahrensordnung zwar der Genehmigung des Rates, die mit qualifizierter Mehrheit zu erteilen ist. Dies ändert jedoch nichts daran, daß der EuGH selbst sie abfaßt und erläßt. 677 Ähnlich Müller / Christensen, Methodik II, S. 336 f.

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2. Überzeugungskraft Das Systemargument hat in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik eine verhältnismäßig starke Überzeugungskraft. Dem entspricht seine häufige Verwendung durch den EuGH.678 Eine gewisse Schwächung der Überzeugungskraft liegt allerdings darin, daß die Gemeinschaftsrechtsordnung noch weniger als eine von Kodifikationen geprägte staatliche Rechtsordnung ein in sich abgeschlossenes System von Normtexten bildet.679 Ohne nennenswerte Auswirkungen auf die Überzeugungskraft des Systemarguments ist demgegenüber der Umstand, daß die Verträge in wesentlichen Teilen von Wirtschaftsfachleuten entworfen wurden,680 die naturgemäß nicht in erster Linie Gesichtspunkte juristischer Systematik im Auge hatten.681 Diese kommt primär in der formalen Systematik zum Ausdruck, während die Forderung nach inhaltlicher Widerspruchsfreiheit und erst recht diejenige nach einer einheitlichen Terminologie keine spezifisch juristischen Postulate sind. Hinsichtlich des auf die materiale Systematik gestützten Argumentationsmusters ist zu berücksichtigen, daß seine Überzeugungskraft im jeweils konkreten Interpretationsprozeß auch von dem sachlichen Abstand zwischen primär und sekundär zu interpretierenden Normtexten beeinflußt wird; es erlangt mit zunehmender Intensität des Zusammenhangs zwischen beiden Normtexten mehr Gewicht.682

IV. Argument des Rechtsordnungsvergleichs (Vergleichsargument) 1. Material und Struktur des Arguments Das Vergleichsargument führt zur Begründung einer Bedeutungshypothese an, daß vergleichbaren Vorschriften in anderen Rechtsordnungen eine der Bedeu678 Vgl. hierzu Bleckmann / Pieper, in: Dauses (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, B.I, Rn. 30; Buck, Auslegungsmethoden, S. 201. 679 Vgl. Ophüls, FS Müller-Armack, S. 279 (287); Wolf, Auslegungsgrundsätze, S. 193. Anders Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 725, der von der „strengen Systematik“ des Vertrages spricht. – Vgl. zur Situation im Sekundärrecht Schulte-Nölke, Amtssprachen, S. 143 (158), der der europäischen Rechtsetzung einen nur sehr beschränkten Vollständigkeits- und Systemanspruch bescheinigt. 680 Vgl. Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 338; Wolf, Auslegungsgrundsätze, S. 193. – Zum Zeitdruck bei den Vertragsverhandlungen, der eine Systematisierung zusätzlich erschwerte, Grundmann, ebd.; Hoffmann-Becking, Normaufbau und Methode, S. 304. 681 Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 339, leitet aus der fehlenden Sorgfalt bei der Abfassung des EGV sogar die Forderung nach verstärkter Verwendung des Systemarguments ab. 682 Ebenso Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 96.

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tungshypothese entsprechende Bedeutung beigelegt werde.683 Seine Verwendung setzt neben der inhaltlichen Übereinstimmung684 der verglichenen Normtexte voraus, daß die in den betreffenden Rechtsordnungen mit dem Erlaß oder mit der Durchsetzung der Normtexte verfolgten Ziele nicht erheblich voneinander abweichen.685 Aufgrund der Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung, die beide Gemeinschaften umfaßt,686 können Regelungen des EAGV im Rahmen des Vergleichsarguments nicht als Beispielsvorschriften einer anderen Rechtsordnung herangezogen werden.687 Gleiches dürfte für Normtexte des EUV gelten. Als Vergleichsregelungen verbleiben somit Normtexte des Rechts der Mitgliedstaaten 688 und solche des Völkerrechts.689

683 Die Rechtsvergleichung spielt vor allem bei der Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze durch den EuGH eine wichtige Rolle; vgl. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 284; Rodríguez Iglesias, NJW 1999, 1 (6 ff.). Da die vorliegende Arbeit jedoch die Interpretation geschriebenen Rechts betrifft, wird die Rechtsvergleichung hier nur insoweit behandelt, als sie hierfür relevant ist. Vgl. zu der Bedeutung der Rechtsvergleichung bei der Interpretation geschriebenen Rechts Lenaerts, RTDE 2001, 487 (515 ff.). 684 Für den inhaltlichen Vergleich bedarf es – wie bereits im Rahmen des Ziel- und des Systemarguments – einer sekundären Interpretation des vergleichsweise herangezogenen Normtextes, die grundsätzlich unter Rückgriff auf das Indizargument hinreichend begründet werden kann (vgl. zur sekundären Interpretation bereits oben A. II. 1. a) (1) (a) und A. III. 1. b)). 685 In diese Richtung auch Daig, FS Zweigert, S. 395 (399 f.); Pietrek, Verbindlichkeit, S. 26. – Vgl. zu den Bedeutungsdivergenzen zwischen wortgleichen Normtexten in verschiedenen Rechtsordnungen mit unterschiedlichen Zielsetzungen EuGH, Gutachten 1 / 91 vom 14. 12. 1991 – EWR [I], Slg. 1991, I-6079, Rn. 14 (I-6101); Urteil vom 12. 12. 1995, Rs. C-469 / 93 – Chiquita Italia, Slg. 1995, I-4533, Rn. 52 (I-4571). – Vgl. zu den Prämissen des Vergleichsarguments auch Alexy, Argumentation, S. 294 f. (mit Verweis auf das strukturell identische Argument historischer Vorläufer). 686 Vgl. zur Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung bereits oben Fn. 655. 687 Vgl. Zuleeg, EuR 1969, 97 (102 f.). 688 Vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 16. 5. 1982, Rs. 155 / 79 – AM & S / Kommission, Slg. 1982, 1575, Rn. 19 ff. (1610 f.), zur Vertraulichkeit des Schriftverkehrs zwischen Rechtsanwalt und Mandant; GA Lagrange, Schlußanträge vom 11. 11. 1954, Rs. 3 / 54 – ASSIDER, Slg. 1954 – 1955, 153 (156), zum Begriff des Ermessensmißbrauchs. Nicht auf einen mitgliedstaatlichen Normtext, wohl aber auf die Entscheidung eines nationalen Gerichts (nämlich des Bundesverfassungsgerichts), verweist der EuGH in seinem Urteil vom 1. 2. 2001, Rs. C-108 / 96 – Mac Quen u. a., Slg. 2001, I-837, Rn. 36 (I-869). – Hin und wieder weisen Verfahrensbeteiligte auch auf die Rechtslage in Drittstaaten hin, um ihre Ansichten zu stützen; vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 2. 4. 1998, Rs. C-321 / 95 P – Greenpeace Council / Kommission, Slg. 1998, I-1651, Rn. 20 (I-1712); GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 27. 6. 1996, Rs. C-333 / 94 P – Tetra Pak / Kommission, Slg. 1998, I-5954, Rn. 77 (I-5983). 689 Vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 14. 7. 1988, Rs. 298 / 87 – Smanor, Slg. 1988, 4489, Rn. 21 ff. (4512 f.).

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2. Überzeugungskraft Die Überzeugungskraft des Vergleichsarguments wird erheblich dadurch geschwächt, daß es sich auf innerhalb der Rechtsordnung des Interpreten nicht geltende Normtexte bezieht. Da derartige Interpretationsargumente grundsätzlich hinter solchen zurücktreten, die sich auf in der Rechtsordnung des Interpreten aktuell geltende Normtexte stützen,690 können Erwägungen des Indiz-, des Ziel- und des Systemarguments regelmäßig nicht mit Hilfe des Vergleichsarguments entkräftet werden. Diese Schwäche nimmt noch dadurch zu, daß die Gemeinschaften nach wie vor die weltweit einzigen supranationalen Organisationen sind, die auf eine weitgehende Integration der Rechtsordnungen ihrer Mitgliedstaaten ausgerichtet sind. Es ist daher nicht einfach, Vergleichsrechtsordnungen zu finden, deren jeweils zu vergleichende Elemente weitgehend denjenigen der Gemeinschaften entsprechen. Damit wird das Vergleichsargument für die gemeinschaftsrechtliche Interpretationsmethodik allerdings nicht völlig unbrauchbar: Es gibt durchaus Bereiche, in denen die Besonderheiten der Gemeinschaftsrechtsordnung für die Interpretation allenfalls von untergeordneter Bedeutung sind. Dies gilt insbesondere dort, wo sich die Gemeinschaften gegenüber einzelnen Personen in einer einem Staat vergleichbaren Weise verhalten.691

V. Argument des Entstehungszusammenhangs (Entstehungsargument) 1. Material und Struktur des Arguments Das Entstehungsargument zieht zur Begründung einer Bedeutungshypothese eine im Rechtsetzungsverfahren vorgenommene Änderung692 im Entwurf des zu interpretierenden Normtextes oder eine spätere Modifikation des Normtextes heran.693 Es geht davon aus, daß die Textänderung vorgenommen wurde, um die 690 Vgl. zur grundsätzlich stärkeren Überzeugungskraft von Interpretationsargumenten, die sich auf geltende Normtexte stützen, bereits oben § 6 C. 691 Es ist daher kein Zufall, daß die einzige ausdrückliche Erwähnung der rechtsvergleichenden Interpretation im EGV (Art. 288 Abs. 2) die außervertragliche Haftung und damit einen Bereich betrifft, in dem die Gemeinschaft aus Sicht eines einzelnen in gleicher Weise handelt wie ein Staat: Für den einzelnen macht es keinen Unterschied, ob er durch einen Staat oder eine supranationale Organisation deliktisch geschädigt wird. 692 Der Einfachheit halber wird hier davon ausgegangen, daß der untersuchte Normtext bzw. sein Entwurf lediglich einmal geändert wurde. 693 Vgl. zur Berücksichtigung einer Änderung des zu interpretierenden Normtextes bei der Interpretation EuGH, Urteil vom 14. 7. 1988, Rs. 103 / 85 – Stahlwerke Peine-Salzgitter / Kommission, Slg. 1988, I-4131, Rn. 22 f. (I-4152). – Irrelevant für das Entstehungsargument sind die historischen Gegebenheiten zur Zeit der Entstehung des Vertrages, da ihre Berücksichtigung mit der dynamischen Struktur der Gemeinschaft nicht zu vereinbaren wäre; vgl. in

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Bedeutung des Normtextes in einem bestimmten Sinn zu ändern, und behauptet, daß die Bedeutungshypothese diesem Sinn am besten entspricht.694 In vergleichbarer Weise kann eine Bedeutungshypothese auch mit der Ablehnung eines Änderungsvorschlags begründet werden. Anders als die Protokolle der Vertragsverhandlungen, die bewußt nicht veröffentlicht wurden,695 sind die verschiedenen Entwürfe des Vertrages in öffentlich zugänglicher Weise dokumentiert696 und können daher dem Entstehungsargument als zulässiger Ansatzpunkt dienen.

2. Überzeugungskraft Das Entstehungsargument spielt in der Praxis des EuGH bei der Interpretation des Primärrechts keine Rolle.697 Seine Überzeugungskraft ist in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik aber auch aus anderen Gründen sehr gering.698 In erster Linie ist hierfür der Umstand verantwortlich, daß sich das Entstehungsargument – wie auch das Vergleichsargument – auf Texte bezieht, die nicht zu den geltenden Normtexten in der Rechtsordnung des Interpreten zählen. Bereits dies führt dazu, daß sich das Entstehungsargument nicht gegen solche Interpretationsargumente durchsetzen kann, die sich auf aktuell geltende Normtexte beziehen.699 Soweit sich das Entstehungsargument auf Änderungen in den Entwürfen des Normtextes stützt, kommt hinzu, daß es auf bereits abgeschlossene Gegebenheiten abstellt, die noch vor die Setzung des Normtextes zurückreichen. Damit kann es nur Anhaltspunkte dafür liefern, wie der Normtext ursprünglich verstanden wurde oder jedenfalls verstanden werden konnte. Wie das Indizargument tendiert es daher zu einem verhältnismäßig statischen, der dynamischen Struktur der

diese Richtung auch GA Jacobs, Schlußanträge vom 21. 3. 2002, Rs. C-50 / 00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6681, Rn. 77 (I-6703 f.); ferner Buck, Auslegungsmethoden, S. 146 f.; Everling, Rechtsanwendungs- und Auslegungsgrundsätze, S. 51 (53 f.); GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 53; Kutscher, Thesen, S. I-22; a.A. Ophüls, FS Müller-Armack, S. 279 (286). 694 Vgl. zu den Prämissen des Entstehungsarguments ausführlich Alexy, Argumentation, S. 291 ff. 695 Vgl. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 247 f.; Kutscher, Thesen, S. I-22. – Ausführlich zum weitgehenden Fehlen vorbereitender Arbeiten und zur Unergiebigkeit der wenigen vorhandenen Dokumente Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 241 ff. 696 Neri / Sperl, Traité CEE / Travaux préparatoires. 697 Ähnlich Dederichs, EuR 2004, 345 (358); Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 142. 698 Vgl. zur geringen Überzeugungskraft des Entstehungsarguments Kutscher, Thesen, S. I-22 f.; Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 400 f. 699 Vgl. zur grundsätzlich stärkeren Überzeugungskraft von Interpretationsargumenten, die sich auf geltende Normtexte stützen, bereits oben § 6 C.

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Gemeinschaft nicht hinreichend Rechnung tragenden Verständnis des zu interpretierenden Normtextes.700

B. Interpretationsgrenzen im Gemeinschaftsrecht Die Gemeinschaftsrechtsordnung kann, wie jede andere Rechtsordnung auch, nicht alles methodisch Mögliche als rechtlich zulässig anerkennen.701 Der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte sind daher zwingende inhaltliche Grenzen gezogen.702 Diese ergeben sich aus Rechtsvorschriften, die gegenüber dem EGV Vorrang genießen, aus den Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV und aus der Grenzfunktion des Normtextes. Keine eigenständige interpretationsbegrenzende Wirkung hat demgegenüber die Akzeptanzfähigkeit des Interpretationsergebnisses. I. Gegenüber dem EGV vorrangiges Recht 1. Höherrangiges Recht? Aus dem Stufenbau der Gemeinschaftsrechtsordnung folgt, daß diese ein Interpretationsergebnis nur dann als zulässig anerkennen kann, wenn es nicht in Widerspruch zu höherrangigen Normtexten steht. Als höherrangig in diesem Sinne werden hier lediglich formal höherrangige Normtexte anerkannt, also solche, die von ihrem äußeren Rang her auf einer höheren Stufe stehen als der zu interpretierende Normtext.703 Dies dient nicht nur der klaren Identifizierbarkeit solcher Normtexte, sondern berücksichtigt darüber hinaus, daß materiale Hierarchisierungen formal gleichrangiger Normtexte,704 etwa 700 Ebenso Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 255 f. – Vgl. zur entsprechenden Tendenz des Indizarguments bereits oben A. I. 2. b) (3). 701 Vgl. oben § 6 C. 702 Vgl. zu diesen Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 401 ff.; GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 69 ff. Taraschka, Kompetenzen der EG, S. 49 ff., sieht auch die Grundsätze der begrenzten Ermächtigung und der Verhältnismäßigkeit als Interpretationsgrenzen an. – Da der hier vertretene Interpretationsbegriff auch das in der deutschen Rechtsordnung als Rechtsfortbildung bezeichnete Vorgehen umfaßt (vgl. hierzu näher unten B. III. 1. b)), sind auch dessen Grenzen hier relevant; vgl. zu diesen Borchardt, GS Grabitz, S. 37 ff.; DänzerVanotti, FS Everling, S. 205 (216 ff.); Everling, JZ 2000, 225 ff.; Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 23 ff. 703 Vgl. zu dieser Rangordnung nach der rechtlichen Bedingtheit, also nach der Anzahl der Ableitungsschritte aus dem in der jeweiligen Rechtsordnung ranghöchsten Normtext, der seinerseits nicht mehr von einem anderen Normtext abgeleitet werden kann, Schilling, Rang und Geltung, S. 163 ff. 704 Vgl. zu solchen Hierarchisierungen im Primärrecht, die insbesondere im Nachgang zu dem Gutachten 1 / 91 des EuGH vom 14. 12. 1991 – EWR [I], Slg. 1991, I-6079, unternom-

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die besondere Hervorhebung grundlegender Bestimmungen, der Sache nach nichts anderes sind als Gewichtungen, denen im Rahmen des Systemarguments durch die Zuerkennung einer erhöhten (aber nicht zwingenden) Überzeugungskraft hinreichend Rechnung getragen werden kann705. Damit scheiden höherrangige Normtexte als Grenze der Interpretation des EGV aus, da diesem keine anderen Normtexte formal übergeordnet sind. Für den EUV sowie die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts und allgemeinen Rechtsgrundsätze wurde dies bereits gezeigt.706 Auch Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, und zwar auch solchen der jeweiligen Verfassung, kommt kein formal höherer Rang zu als dem EGV.707 Gleiches gilt grundsätzlich für völkerrechtliche Rechtsquellen. Hinsichtlich der von der Gemeinschaft abgeschlossenen Abkommen folgt dies bereits aus Art. 300 Abs. 6 Satz 2,708 wonach solche Abkommen im Falle ihrer Unvereinbarkeit mit dem EGV nur in Kraft treten können, wenn dieser zuvor geändert wurde. Gleiches gilt für allgemeine Regeln des Völkerrechts, sofern sie nicht zum ius cogens zu zählen sind;709 die letztgenannte Ausnahme ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht relevant. 2. Sonstiges vorrangiges Recht Eine Rechtsordnung kann auch Normtexten, die formal denselben Rang einnehmen wie der zu interpretierende Normtext oder gar auf einer niedrigeren Rangstufe stehen, inhaltlichen Vorrang einräumen. Dies hat die Gemeinschaft mit Art. 307 Abs. 1 für Übereinkünfte getan, die die Mitgliedstaaten vor dem 1. Januar 1958 bzw. vor dem jeweiligen Beitrittszeitpunkt men wurden, Constantinesco, Liber Amicorum Slynn, S. 79, Gaudin, RTDE 1999, 1 ff.; Heintzen, EuR 1994, 35 ff.; Hofmann, Normenhierarchien, S. 80 ff.; ausführlich nunmehr von Arnauld, EuR 2003, 191 ff. 705 Kritisch zu dieser Einschätzung jedoch von Arnauld, EuR 2003, 191 (201 f.), der die Höherrangigkeit von Grundsätzen gegenüber ihren Konkretisierungen aus normfunktionalen Gründen für notwendig hält und so zur Möglichkeit primärrechtswidrigen Primärrechts gelangt. Ausdrücklich ebenso Pache / Knauff, NVwZ 2004, 14 (20 f.: Nichtigkeit von Art. 68 Abs. 1 wegen Verstoßes gegen elementare gemeinschaftsrechtliche Verfassungsgrundsätze). 706 Vgl. oben A. III. 1. b) (1). 707 Vgl. EuGH, Urteil vom 17. 12. 1970, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1970, 1125, Rn. 3 (1135). A. A. Schilling, Rang und Geltung, S. 181 ff. (insbesondere 185 ff.), der das Gemeinschaftsrecht nach seiner rechtlichen Bedingtheit unterhalb des Verfassungsrechts ansiedeln und seinen Vorrang von Vorgaben des Grundgesetzes abhängig machen will (ebd., S. 426 f.). Auch die sechste Kammer des höchsten griechischen Verwaltungsgerichts ordnet in einer Entscheidung aus dem Jahre 1997 das Gemeinschaftsrecht als unterhalb des Verfassungsrechts stehend ein; vgl. Maganaris, ELR 1998, 179 (181 f.). 708 Ebenso CR / Schmalenbach, Art. 300 EGV, Rn. 77; Schwarze / Krück, Art. 300 EGV, Rn. 51. 709 Vgl. CR / Ukrow, Art. 281 EGV, Rn. 25; Schwarze / Krück, Art. 281 EGV, Rn. 20.

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mit Drittstaaten abgeschlossen haben;710 derartige „Altverträge“ werden durch den EGV nicht berührt. Die Mitgliedstaaten dürfen daher nicht durch eine bestimmte Interpretation des EGV dazu gezwungen werden, gegen Verpflichtungen aus Altverträgen zu verstoßen.711 Dies läßt sich dadurch erreichen, daß den betroffenen Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben wird, sich gegenüber einer solchen Interpretation des EGV gewissermaßen einredeweise auf Art. 307 Abs. 1 in Verbindung mit dem einschlägigen Altvertrag zu berufen.712 In diesem Fall stellen die Bestimmungen des Altvertrages allerdings keine Interpretationsgrenze dar, da ein mit ihnen konfligierendes Interpretationsergebnis nicht als solches unzulässig wird, der EuGH also nicht verpflichtet wäre, den EGV nach Maßgabe des Altvertrages zu interpretieren. Vielmehr wird der Konflikt erst auf der Durchsetzungsebene gelöst, auf der sich der betroffene Mitgliedstaat der Durchsetzung der vom EuGH interpretierten Vorschrift des EGV widersetzen kann.713 Die Konfliktlösung (erst) auf der Durchsetzungsebene ist plausibel, wenn man bedenkt, daß jeder einzelne Mitgliedstaat durch unzählige bi- und multilaterale Altverträge gegenüber Drittstaaten verpflichtet ist. Müßte die Gemeinschaft bei der Ausübung ihrer Befugnisse alle diese Verträge beachten, wäre sie völlig gelähmt; auch könnte ein Altvertrag eines einzelnen Mitgliedstaates sie daran hindern, mit Wirkung für alle anderen Mitgliedstaaten eine Regelung zu erlassen. Die Plausibilität der nachgelagerten Konfliktlösung trägt jedoch nicht mehr, wenn sämtliche Mitgliedstaaten oder jedenfalls ihre ganz überwiegende Mehrheit durch denselben Altvertrag gebunden sind. Es wäre absurd, gemeinschaftliche Befugnisse so auszuüben, daß sich sämtliche oder fast alle Mitgliedstaaten anschließend der getroffenen Maßnahme unter Verweis auf Art. 307 Abs. 1 widersetzen könnten. In diesem Fall spricht daher viel dafür, die Gemeinschaft für verpflichtet zu halten, ihre Befugnisse von vornherein entsprechend den Vorgaben des entsprechenden Altvertrages auszuüben. Auch der EuGH hat anerkannt, daß Art. 307 Abs. 1 seinen Zweck verfehlte, wenn er nicht auch eine Pflicht der Gemeinschaftsorgane begründete, die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung von Pflichten aus Altverträgen nicht zu behindern.714 Dies bedeutet für den EuGH selbst, daß er verpflichtet ist, den EGV in Konformität zu einem völker710 Vgl. zum Vorrang dieser Übereinkünfte vor dem EGV CR / Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 6; GH / Vedder, Art. 234 EGV, Rn. 5. 711 Allerdings trifft sie nach Art. 307 Abs. 2 die Pflicht, im Falle der Unvereinbarkeit eines Altvertrages mit dem EGV alle geeigneten Mittel anzuwenden, um die Unvereinbarkeit zu beheben; vgl. hierzu näher CR / Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 9 ff.; GTE / Petersmann, Art. 234 EGV, Rn. 8 f.; Schwarze / Krück, Art. 307 EGV, Rn. 8 ff. 712 Vgl. GTE / Petersmann, Art. 234 EGV, Rn. 12; ihm folgend GH / Vedder, Art. 234 EGV, Rn. 5; in diese Richtung auch EuGH, Urteil vom 4. 7. 2000, Rs. C-84 / 98 – Kommission / Portugal, Slg. 2000, I-5215, Rn. 59 (I-5237). 713 Insbesondere für die Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft wird in diesem Sinne überwiegend vertreten, daß Art. 307 ihr gegenüber keine Sperrwirkung entfalte; vgl. CR / Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 15; GH / Vedder, Art. 234 EGV, Rn. 5; GTE / Petersmann, Art. 234 EGV, Rn. 12; Streinz / Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 21; Voss, SZIER 1996, 161 (166). 714 EuGH, Urteil vom 14. 10. 1980, Rs. 812 / 79 – Burgoa, Slg. 1980, 2787, Rn. 9 (2803).

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rechtlichen Übereinkommen zu interpretieren, wenn dieses für sämtliche oder fast alle Mitgliedstaaten ein Altvertrag i. S. v. Art. 307 Abs. 1 ist.715 Unter dieser Voraussetzung besteht demnach bei der Interpretation des EGV eine aus Art. 307 Abs. 1 folgende gemeinschaftsrechtliche Bindung des EuGH an den Inhalt des von (fast) allen Mitgliedstaaten abgeschlossenen Altvertrages.716 Dieser erlangt damit die Eigenschaft einer Interpretationsgrenze. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist dies insbesondere im Hinblick auf die EMRK von Bedeutung.717 Diese wurde von den Gründungsmitgliedern der EWG vor dem 1. Januar 1958 und von allen anderen Mitgliedstaaten vor ihrem jeweiligen Beitritt abgeschlossen; lediglich Frankreich ist der EMRK später, nämlich erst 1974, beigetreten.718 Damit ist die EMRK für sämtliche Mitgliedstaaten mit Ausnahme Frankreichs ein Altvertrag i. S. v. Art. 307 Abs. 1.719 Der EuGH ist daher gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, bei der Interpretation des EGV die EMRK als Interpretationsgrenze einzuhalten, den EGV also EMRK-konform zu interpretieren.720 Dabei hat er die EMRK mit dem vom EGMR konkretisierten Inhalt zugrunde zu legen.721 715 In diese Richtung auch CR / Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 15. GH / Vedder, Art. 234 EGV, Rn. 11, scheint demgegenüber eine völkerrechtsfreundliche Interpretation lediglich als Möglichkeit (nicht als Pflicht) anzusehen. 716 Für sämtliche Altverträge ebenso Voss, SZIER 1996, 161 (186), der jedoch nicht erkennbar zwischen gemeinschaftsrechtlicher und völkerrechtlicher Bindung unterscheidet. Gegen eine (gemeinschaftsrechtliche) Bindung der Gemeinschaft augenscheinlich Schwarze / Krück, Art. 307 EGV, Rn. 16. – Eine (unmittelbare) völkerrechtliche Bindung der Gemeinschaft folgt aus Art. 307 Abs. 1 freilich nicht und wird auch ganz überwiegend abgelehnt; vgl. CR / Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 17; GH / Vedder, Art. 234 EGV, Rn. 12 a. E.; GTE / Petersmann, Art. 234 EGV, Rn. 13. 717 Streinz / Kokott, Art. 307 EGV, Rn. 3, lehnt eine Anwendung von Art. 307 Abs. 1 auf die EMRK mit dem Argument ab, der Inhalt der EMRK gelte aufgrund der Rechtsprechung des EuGH bzw. wegen Art. 6 Abs. 2 EUV im Gemeinschaftsrecht ohnehin. Dabei übersieht sie jedoch, daß der Inhalt der EMRK nur über die Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze in das Gemeinschaftsrecht einbezogen ist, die vom EuGH im Wege der wertenden Rechtsvergleichung gewonnen werden. Diese ist vielfach mit einer „Anpassung“ an die Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts verbunden, so daß eine strikte Bindung der Gemeinschaft an den konkreten Inhalt der EMRK auf diese Weise – anders als nach der hier vertretenen Lösung – nicht gewährleistet ist. Vgl. zu den daraus resultierenden Problemen Ress, FS Winkler, S. 897 (917 ff.); Beispiele für divergierende Entscheidungen des EuGH einerseits und des EGMR andererseits weist Bultrini, ZEuS 1998, 493 (496 mit Fn. 15), nach. 718 Vgl. BGBl. 2003 II, Fundstellennachweis B, S. 344. 719 Die Möglichkeit dritter Staaten, aus der EMRK Rechte gegen einen der Mitgliedstaaten herzuleiten, ergibt sich aus der in Art. 33 EMRK vorgesehenen Staatenbeschwerde. – Die Anwendbarkeit von Art. 307 Abs. 1 wird nicht etwa dadurch ausgeschlossen, daß die materiell-rechtlichen Bestimmungen der EMRK in der Rechtsprechung des EuGH mittlerweile (weitgehend) rezipiert sind; vgl. zutreffend CR / Schmalenbach, Art. 307 EGV, Rn. 3. 720 Vgl. zu einer völkerrechtlich begründeten mittelbaren Bindung der EG an den materiellen Gehalt der EMRK Ress, FS Winkler, S. 897 (919 ff.); Ress, ZEuS 1999, 471 (474 ff.); ihm folgend Bultrini, ZEuS 1998, 493 (498 f.); in diese Richtung auch schon Pescatore, Schutz der Grundrechte, S. 64 (71); Bernhardt, EuR 1983, 199 (214).

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Im Gegensatz zu Altverträgen i. S. v. Art. 307 Abs. 1 können mitgliedstaatliche Vorschriften einschließlich der jeweiligen Verfassungen keinen Vorrang vor dem EGV beanspruchen.722 Mitgliedstaatliches Recht hat daher im Konfliktfall hinter dem Gemeinschaftsrecht und insbesondere dem EGV zurückzutreten, da letzterem ein grundsätzlich unbeschränkter Anwendungsvorrang zukommt. Dies folgt nicht nur aus der Notwendigkeit der einheitlichen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten, sondern auch daraus, daß der EGV keine Art. 307 vergleichbare Regelung für das Recht der Mitgliedstaaten enthält. Als Interpretationsgrenzen aufgrund ihres Vorrangs vor dem EGV sind somit nur solche völkerrechtlichen Übereinkommen anzuerkennen, die für (fast) alle Mitgliedstaaten Altverträge i. S. v. Art. 307 Abs. 1 sind; dies gilt namentlich für die EMRK. III. Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV Die Interpretation des EGV wird ferner durch die in dessen Integrationsprogramm enthaltenen Vorgaben begrenzt.723 Dieses ist vorgezeichnet durch die Zielbestimmungen des EGV und durch die prägenden Strukturen der Gemeinschaft,724 insbesondere ihre Supranationalität, ihre Integrationsdynamik und – als deren Korrektiv – die vertragliche Begrenzung ihres Aufgaben- und Befugnisbereichs.725 721 A. A. Sudre, Droits de l’homme, Nr. 71 bis. – Der EuGH geht zwar nicht von einer gemeinschaftsrechtlichen Bindung an den Inhalt der EMRK im hier vertretenen Sinne aus, orientiert sich aber in seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten zunehmend an Entscheidungen des EGMR; vgl. etwa Urteile vom 26. 6. 1997, Rs. C-368 / 95 – Familiapress, Slg. 1997, I-3689, Rn. 26 (I-3717), vom 28. 3. 2000, Rs. C-7 / 98 – Krombach, Slg. 2000, I-1935, Rn. 39 (I-1969), und vom 6. 3. 2001, Rs. C-274 / 99 P – Connolly / Kommission, Slg. 2001, I-1611, Rn. 39 ff. (I-1675 ff.). Zu gleichwohl bestehenden Divergenzen zwischen der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe Bultrini, ZEuS 1998, 493 (496, Fn. 15); Duvigneau, LIEI 1998, 61 (82); Ress, FS Winkler, S. 897 (915, Fn. 83 und 84). 722 Vgl. EuGH, Urteil vom 17. 12. 1970, Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft / Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide, Slg. 1970, 1125, Rn. 3 (1135). Sofern Verfassungs- und sonstige Rechtsgrundsätze den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, können sie jedoch vom EuGH als allgemeine Rechtsgrundsätze anerkannt und im Rahmen des Systemarguments in den Interpretationsvorgang einbezogen werden; vgl. hierzu bereits oben A. III. 1. b) (1) und Zuleeg, EuR 1969, 97 (106 f.). – Eine andere Frage ist, inwieweit verfassungsrechtliche Vorgaben eines Mitgliedstaats herangezogen werden können, um Beschränkungen von Grundfreiheiten zu rechtfertigen; vgl. hierzu GA Jacobs, Schlußanträge vom 11. 7. 2002, Rs. C-112 / 00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5662, Rn. 88 ff. (I-5684 ff.). 723 Ebenso Borchardt, GS Grabitz, S. 29 (32); Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 25. Kritisch aber Everling, JZ 2000, 217 (226), der den Inhalt des Integrationsprogramms für unklar hält. Im Ergebnis stimmen jedoch beide Autoren im wesentlichen überein, da die Prinzipien und Zielsetzungen des EGV, die Borchardt als Inhalt des Integrationsprogramms ansieht, von Everling unmittelbar herangezogen werden. 724 Vgl. Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 25. 725 Das Prinzip begrenzter Ermächtigung erweist sich so als wichtiges Steuerungs- und Bändigungselement der Integrationsdynamik.

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

Eine Bedeutungsbestimmung, die den Zielsetzungen des EGV zuwiderläuft oder mit den Grundstrukturen des EGV nicht in Einklang zu bringen ist, kann von der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht als zulässig anerkannt werden. Der hierdurch abgesteckte Rahmen ist freilich verhältnismäßig weit. Er ist nur die äußerste Grenze zulässiger Interpretation, deren Überschreitung eine Bedeutungsbestimmung nicht nur gemeinschaftsrechtswidrig, sondern schlechthin gemeinschaftswidrig werden läßt.

III. Grenzfunktion des Normtextes Es bedarf daher einer weiteren Grenzziehung, die den Bereich des methodisch Möglichen auf das innerhalb des Gemeinschaftsrechts Zulässige einschränkt. Diese Aufgabe erfüllt die Grenzfunktion des Normtextes. Deren Reichweite ist freilich nicht anhand einer nach sprachlichen Kriterien bestimmten „Wortlautgrenze“ festzusetzen, sondern normativ im Hinblick auf die mit der Anerkennung der Grenzfunktion des Normtextes verfolgten Ziele zu bestimmen.

1. Unangemessenheit einer sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“ In der deutschen Methodik besteht überwiegend die Vorstellung, der „Wortlaut“ (gemeint sind offensichtlich die im Hinblick auf den Normtext relevanten semantischen Konventionen) bilde die äußerste Grenze der Auslegung. Eine darüber hinausgehende Bedeutungsbestimmung verlasse den Bereich der Auslegung und stelle eine Fortbildung des Rechts dar.726 Die Vorstellung einer sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“ ist jedoch nicht nur prinzipiellen Einwänden ausgesetzt, sondern zudem für die gemeinschaftsrechtliche Methodik unbrauchbar.

a) Prinzipielle Einwände gegen eine sprachlich determinierte „Wortlautgrenze“ Gegen das Konzept einer anhand sprachlicher Kriterien bestimmten „Wortlautgrenze“ spricht entscheidend, daß es eine solche Grenze nicht gibt. Weder semantische Konventionen noch die durch sie mit einem Ausdruck assoziierten Vorstellungsinhalte sind von einer empirisch feststellbaren, durch die Sprache vorgegebe726 Vgl. etwa Larenz, Methodenlehre, S. 314 f.; Zippelius, Methodenlehre, S. 47; für Österreich ebenso Bydlinski, Methodenlehre, S. 441. – Demgegenüber wird die Vorstellung einer „Wortlautgrenze“ als Kriterium der Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung in der Schweiz eher kritisch beurteilt; vgl. HVG / Mayer-Maly, ZGB, Art. 1, Rn. 4 und 16, nach dem bei korrekten Auslegungsschritten auch ein den Wortlaut überschreitendes Auslegungsresultat richtig sein kann, da nicht der Wortlaut, sondern die Auslegung die Möglichkeiten abstecke, unter denen das zutreffende Ergebnis zu wählen sei.

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nen Grenze umgeben.727 Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Verwendungsregeln nicht starr fixiert, sondern prinzipiell unscharf und zudem ständiger Veränderung unterworfen sind.728 Denkbar wäre somit allenfalls, eindeutig gegen relevante Verwendungsregeln verstoßende Bedeutungsbestimmungen als unzulässig anzusehen.729 Damit wird das Abgrenzungsproblem freilich nicht gelöst, sondern nur auf die Frage verschoben, wo die Grenze der Eindeutigkeit verläuft, wann also (schon) ein eindeutiger Verstoß vorliegt und wann (noch) nicht. Unabhängig davon ist die Begrenzung zulässiger Interpretation anhand sprachlicher Kriterien einem weiteren grundsätzlichen Einwand ausgesetzt, der bereits im Zusammenhang mit der Überzeugungskraft des Indizarguments angesprochen wurde.730 Dieser beruht auf den unterschiedlichen Funktionen und Wirkungen von Sprache und Recht, aufgrund derer juristische Entscheidungen einer erheblich strengeren Begründungslast genügen müssen als „nur“ sprachliche Kommunikation. Eine unbesehene Übernahme (vermeintlicher) sprachlicher Grenzen in den Bereich juristischer Tätigkeit kann diesen strengeren Anforderungen nicht genügen. Die faktische Erhebung sprachlicher Konventionen zu Rechtsregeln, die für den Interpreten verbindlich die Reichweite zulässiger Interpretation fixieren,731 ist daher eine unzulässige Abschiebung der spezifisch juristischen Entscheidungsverantwortung auf die Sprachwissenschaft (genauer: auf die Vorstellung der Juristen von Sprachwissenschaft).732 727 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 69: „Wir kennen die Grenzen nicht, weil keine gezogen sind. Wie gesagt, wir können – für einen besonderen Zweck – eine Grenze ziehen. Machen wir dadurch den Begriff erst brauchbar? Durchaus nicht! es sei denn, für diesen besonderen Zweck“ (Hervorhebungen nur hier). Der besondere Zweck im vorliegenden Zusammenhang ist derjenige, der mit der Anerkennung der Grenzfunktion des Normtextes verfolgt wird. – Gegen die Vorstellung sprachlich vorgegebener Bedeutungsgrenzen auch Busse, Recht als Text, S. 33 f.; Christensen, Gesetzesbindung, insbesondere S. 68 ff.; Griller, FS Rill, S. 543 (560 f.); Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 532 ff.; Wank, Begriffsbildung, S. 30. 728 Vgl. oben § 6 A. 729 So etwa GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 70; für die deutsche Rechtsordnung ebenso Larenz, Methodenlehre, S. 322. – Vgl. zur grundsätzlichen Möglichkeit, eindeutige Verstöße gegen sprachliche Konventionen festzustellen, bereits oben § 6 A. 730 Vgl. oben A. I. 2. a). 731 Anschaulich Christensen, Gesetzesbindung, S. 77: „Die Regeln der Sprache werden [ . . . ] als Rechtsregeln behandelt [ . . . ], und wer ihre Grenzen überschreitet, handelt rechtswidrig. Es gibt also ein Sprachgesetzbuch [ . . . ]“. Gegen eine rechtliche Verbindlichkeit sprachlicher Konventionen auch Fastenrath, EJIL 1993, 305 (315). 732 Kritisch zu einer solchen Abschiebung der spezifisch juristischen Verantwortung auf die Sprachwissenschaft auch Busse, Recht als Text, S. 34. – Ein derartiges Vorgehen ist nicht mit der Situation vergleichbar, in der ein Richter – notgedrungen – fehlendes Sachwissen durch ein Sachverständigengutachten kompensiert. Gerade bei sprachlichen Problemen ziehen Juristen regelmäßig keine Sachverständigen hinzu, sondern verlassen sich eher auf ihr eigenes Sprachgefühl (vgl. hierzu bereits oben Fn. 545). Der Verweis auf angebliche sprachliche Grenzen geht somit nicht auf überlegenes Fachwissen eines Experten zurück, sondern entspringt den subjektiven Vorstellungen, die sich der Interpret von diesen Grenzen macht.

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b) Unbrauchbarkeit der „Wortlautgrenze“ für die gemeinschaftsrechtliche Methodik In der gemeinschaftsrechtlichen Methodik ist das Konzept der sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“ zudem unbrauchbar, da es an spezifischen Eigenschaften des Gemeinschaftsrechts vorbeigeht.733 Dies gilt zunächst für die Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts. Der Umstand, daß der EGV in 21 Sprachen gleichermaßen verbindlich ist, läßt die Vorstellung einer gemeinschaftsweit einheitlichen „Wortlautgrenze“ als Illusion erscheinen.734 Offensichtlich ist dies im Falle deutlicher Divergenzen zwischen den verschiedenen Sprachfassungen; hier ist schon aufgrund der Textabweichung eine nur sprachlich determinierte einheitliche Grenzziehung unmöglich. Aber auch bei einer äußeren Übereinstimmung der Sprachfassungen kann eine einheitliche „Wortlautgrenze“ nicht bestimmt werden, da auch (scheinbar) identischen Ausdrücken in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Bedeutungen beigelegt werden.735 Vor der Aufgabe, diese Unterschiede im Sinne einer einheitlichen Grenzziehung zu überbrücken, müssen sprachliche Kriterien notwendigerweise kapitulieren, weil sie dem jeweiligen (nationalen) Sprachsystem immanent sind.736 Schon die – immerhin denkbare – Entscheidung für eine Minimal- oder eine Maximallösung, also für die Grenzziehung anhand der allen Sprachfassungen gemeinsamen „Schnittmenge“ möglicher Bedeutungen737 oder anhand der „Summe“ dieser Bedeutungen,738 kann mit sprachlichen Erwägungen allein nicht ansatzweise Anders als bei der Heranziehung eines Sachverständigen, dessen Ausführungen der Richter unter rechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen hat, entfällt zudem beim Verweis auf die „Wortlautgrenze“ jede juristische Würdigung. 733 Gleichwohl geht GTE / Zuleeg, Art. 1 EGV, Rn. 35, von einer „Wortlautgrenze“ auch im Gemeinschaftsrecht aus. – Grundmann, Auslegung des Gemeinschaftsrechts, S. 213 ff., deutet die Rechtsprechung des EuGH als grundsätzliche Anerkennung einer „Wortlautgrenze“. Im Widerspruch dazu stellt er jedoch selbst fest, ein mit der Wortlautauslegung gefundenes Ergebnis stehe ständig unter dem „Damoklesschwert“ der Stimmigkeit mit der verfolgten Zielsetzung und bilde lediglich eine „auf recht schwachen Füßen stehende“ praesumptio iuris (ebd., S. 367). 734 Ebenso Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 404; Hoffmann-Becking, Normaufbau und Methode, S. 297 f.; Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 408. Vgl. auch Schulte-Nölke, Amtssprachen, S. 143 (157). 735 Vgl. hierzu bereits oben § 5 A. I. 1. b) (2). 736 Daher sind die Probleme, die Sprachwissenschaftler bei der Beschreibung und Analyse der Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts haben (vgl. zu diesen etwa Braselmann, EuR 1992, 55 ff.), alles andere als erstaunlich. – Pescatore, CD 1984, 990 (996 ff.), führt einige Entscheidungen des EuGH an, in denen dieser sprachliche Divergenzen (vorgeblich) auf einer rein sprachlichen Ebene überbrückt hat. Freilich dürften auch dort letztlich teleologische Motive den Ausschlag gegeben haben, die allerdings nicht in die Entscheidungsbegründung aufgenommen wurden. 737 In diese Richtung offensichtlich CR / Wichard, Art. 290 EGV, Rn. 13. 738 Für letzteres augenscheinlich Schulte-Nölke, Amtssprachen, S. 143 (157 f.).

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begründet werden.739 Die Unmöglichkeit einer nur anhand sprachlicher Kriterien vorgenommenen Festlegung einer einheitlichen „Wortlautgrenze“ (und – a fortiori – einer bestimmten Bedeutung)740 im Gemeinschaftsrecht hat im übrigen eine rechtliche Dimension: Im Zusammenwirken mit dem Grundsatz der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts741 rechtfertigt die Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts die Entwicklung einer Methodik, die auch eindeutige Verstöße gegen einzelsprachliche Verwendungsregeln als zulässig erachten muß, wenn dies erforderlich ist, um die Bedeutung eines Normtextes gemeinschaftsweit einheitlich bestimmen zu können.742 Die Konzeption einer sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“ ist für die gemeinschaftsrechtliche Methodik darüber hinaus auch deshalb unbrauchbar, weil sie der Lückenhaftigkeit und der Dynamik des Gemeinschaftsrechts nicht angemessen ist. Aufgrund dieser gemeinschaftsrechtlichen Charakteristika steht der Interpret gemeinschaftsrechtlicher Normtexte in einem erheblich höheren Maße vor der Aufgabe, gestaltend und entwickelnd tätig zu werden, als dies bei der Interpretation nationaler Normtexte der Fall ist. Die Orientierung an sprachlichen Konventionen begünstigt jedoch ein hierfür nicht geeignetes, statisches Verständnis des zu interpretierenden Normtextes.743 Daher wird die Konzeption der „Wortlautgrenze“ und damit auch die auf ihr aufbauende Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung dem Gemeinschaftsrecht nicht gerecht.744 Eine dieser Rechtsordnung 739 Derartige „Lösungen“ hätten im übrigen die absurde Konsequenz, daß ein und dieselbe Bedeutungsbestimmung im Hinblick auf eine Sprachfassung Auslegung, im Hinblick auf eine andere jedoch gleichzeitig Rechtsfortbildung wäre. 740 Vgl. zur Unmöglichkeit, angesichts sprachlicher Divergenzen die Bedeutung eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes nur anhand sprachlicher Kriterien zu bestimmen, Pescatore, CD 1984, 990 (1000). 741 Vgl. zu diesem bereits ausführlich oben § 5 A. I. 1. a). 742 Die Notwendigkeit, im Interesse der Einheitlichkeit Abstriche an der Bestimmtheit gemeinschaftsrechtlicher Normtexte hinzunehmen, erkennt auch GTE / Weber, Art. 248 EGV, Rn. 16. Hiermit sind freilich nicht unproblematische Auswirkungen auf die Rechtssicherheit verbunden, denen sich der EuGH jedoch durchaus bewußt ist; vgl. EuGH, Urteil vom 3. 3. 1977, Rs. 80 / 76 – Kerry Milk / Minister für Landwirtschaft und Fischereiwesen, Slg. 1977, 425, Rn. 11 f. (435); vgl. ferner Urteil vom 24. 10. 1996, Rs. C-72 / 95 – Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, I-5403, Rn. 25 (I-5442). Kritisch insoweit CR / Wichard, Art. 290, Rn. 13, der die Grenze der autonomen Begriffsbildung schon dann erreicht sieht, wenn sich das Auslegungsergebnis mit (nur) einer der Sprachfassungen nicht vereinbaren läßt; zurückhaltender auch Müller / Christensen, Methodik II, S. 43 f.; vgl. ferner Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 322 ff., die das Vertrauen des Normtextadressaten auf seine eigene Sprachfassung betont. – Vgl. andererseits zu den Chancen, die sich aus der von der Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts erzwungenen Verabschiedung der Vorstellung einer sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“ ergeben, Buerstedde / Christensen / Sokolowski, Leaving Babel, passim. 743 Vgl. hierzu bereits oben A. I. 2. b) (3). 744 Ebenso Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 35 ff. (insbesondere 38); vgl. ferner Daig, FS Zweigert, S. 395 (402); anders jedoch augenscheinlich GA Alber, Schlußanträge vom 6. 6. 2000, Rs. C-434 / 98 P – Rat / Busacca u. a., Slg. 2000, I-8579, Rn. 26 (I-8584 f.).

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und ihren Spezifika adäquate Methodik muß demnach von einem einheitlichen Interpretationsbegriff ausgehen, der auch die im deutschen Recht als Rechtsfortbildung bezeichnete Tätigkeit umfaßt.745 Nur am Rande sei erwähnt, daß die Methodiken zahlreicher Mitgliedstaaten auf diesem Interpretationsverständnis beruhen.746 Es ist kein Grund ersichtlich, warum gerade Besonderheiten der deutschen Methodik für diejenige des Gemeinschaftsrechts prägend sein sollten.747 2. Grenzfunktion des Normtextes als normativ bestimmte Normtextbindung Die Unbrauchbarkeit der Konzeption einer rein sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“ für die gemeinschaftsrechtliche Methodik heißt freilich nicht, daß dem Normtext im Gemeinschaftsrecht keinerlei interpretationsbegrenzende 745 Auch der EuGH geht von einem einheitlichen Interpretationsverständnis in diesem Sinne aus; vgl. die Zurückweisung eines von der deutschen Regierung vorgetragenen Einwandes in seinem Urteil vom 5. 3. 1996, verb. Rs. C-46 / 93 und C-48 / 93 – Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029, Rn. 24 ff. (I-1143 f.). Den Ausdruck ,Rechtsfortbildung‘ hat er bislang nur einmal verwendet; dies jedoch nur zur Wiedergabe eines Parteivorbringens (Beschluß vom 8. 10. 1998 in der Rechtssache C-228 / 97 P – Kuchlenz-Winter / Kommission, Slg. 1998, I-6047, Rn. 28 [I-6055]). – Für ein einheitliches Interpretationsverständnis auch Möllers, Rolle des Rechts, S. 57; ferner Geiger, EUV / EGV, Art. 220 EGV, Rn. 14; v. Raepenbusch, Droit institutionnel, S. 311. 746 Vgl. Baldus / Becker, ZEuP 1997, 874 (883) m. w. N.; Becker / Dietrich, NJW 2000, 2798; Grabau, Gesetzes- und Vertragsinterpretation, S. 95. Dies gilt insbesondere für die stark vom römischen Recht beeinflußten Rechtsordnungen, da die Römer nicht zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung trennten; vgl. Grabau, ebd.; Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 606 ff. Vgl. zur Situation in Frankreich Buck, Auslegungsmethoden, S. 102; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, S. 125; Vogenauer, ebd., S. 289 f.; ferner Troper / Grzegorczyk / Gardies, Statutory Interpretation in France, S. 177. § 12 des italienischen Zivilgesetzbuchs (Text bei Bauer / Eccher / König / Kreuzer / Zanon, Italienisches Zivilgesetzbuch, S. 44 f.) trägt die Überschrift „Interpretazione della legge“, regelt in Abs. 2 aber die Analogie. Im skandinavischen Raum wird die Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zwar in der Theorie getroffen, von der Praxis aber allenfalls rhetorisch übernommen; vgl. Aarnio, Statutory Interpretation in Finland, S. 132; Peczenik / Bergholz, Statutory Interpretation in Sweden, S. 314. Zu England und der dortigen historischen Entwicklung Vogenauer, ebd., S. 736 f., 869 ff., und 1134 ff.; zu Großbritannien Bankowski / MacCormick, Statutory Interpretation in the United Kingdom, S. 362 f. und 373 f. – Bemerkenswerterweise erkennen auch Vertreter der herkömmlichen deutschen Methodenlehre die grundsätzliche Gleichartigkeit von Auslegung und Rechtsfortbildung an; vgl. Hassold, FS Larenz, S. 211 (220 f.); Larenz, Methodenlehre, S. 366 f.; ferner Daig, FS Zweigert, S. 395 (401 f.). 747 So aber Dänzer-Vanotti, FS Everling, S. 205 (220), der nur (!) die von deutschen Gerichten praktizierte Auffassung zur Lückenfeststellung für imstande hält, die Kompetenzen der gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgeber hinreichend zu wahren; ähnlich für den Urteilsstil des EuGH Ehricke, Bindungswirkung, S. 53. – Zu Recht kritisch zur voreiligen Übertragung nationaler methodologischer Standards auf das Gemeinschaftsrecht BVerfG, NJW 2001, 1267 (1268); vgl. ferner BBPS / Epiney, Rn. 520; Schulte-Nölke, Amtssprachen, S. 143 (151, Fn. 49); Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 329 f.; implizit auch Hirsch, DStZ 1998, 489 (495).

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Wirkung zukäme. Maßstab für deren Reichweite kann nach dem Gesagten aber nicht das sprachlich Mögliche sein, sondern nur das rechtlich Zulässige.748 Es geht also um eine normative Grenzziehung, die im Hinblick auf die Aufgabe der Grenzfunktion des Normtextes, nämlich die Gewährleistung der richterlichen Bindung an den Normtext,749 vorzunehmen ist. Diese Bindung besteht, auch wenn der EGV dies – anders als zahlreiche mitgliedstaatliche Verfassungen750 – nicht ausdrücklich vorsieht, selbstverständlich auch im Gemeinschaftsrecht. Sie ist rechtlicher Natur: Richter sind nicht durch die Sprache,751 sondern durch das Recht gebunden. Die richterliche Bindung an den Normtext hat dreierlei zu gewährleisten: die Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen, eine gleichmäßige Rechtsdurchsetzung und eine adäquate Aufgabenteilung zwischen rechtsetzenden und rechtsprechenden Institutionen.

a) Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen Aus Gründen der Rechtssicherheit752 müssen gerichtliche Entscheidungen absehbar sein. Absehbarkeit kann dabei nicht heißen, daß jede Entscheidung in allen Einzelheiten vorhersehbar ist: Inhalt und Ergebnis einer solchen Entscheidung lassen sich weder durch den Normtext noch durch methodologische Anforderungen abschließend determinieren.753 Gerade in problematischen Fällen lassen sich vielfach auch gegenteilige Ergebnisse überzeugend begründen.754 Diese Möglichkeit 748 Ebenso Christensen, Gesetzesbindung, S. 286 ff.; Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 205; Wank, Begriffsbildung, S. 30; vgl. auch Müller / Christensen, Methodik I, Rn. 505 ff., insbesondere 516. Zur Praxis der interpretationsbegrenzenden Funktion des Normtextes in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik Müller / Christensen, Methodik II, S. 399 ff. 749 Auch andere zum Erlaß verbindlicher Entscheidungen Befugte sind an den Normtext gebunden. Für die vorliegende Arbeit kommt es jedoch lediglich auf die richterliche Bindung an. 750 So etwa Art. 20 Abs. 3 und 97 Abs. 1 GG; ferner z. B. Art. 64 Satz 1 der dänischen Verfassung, Art. 87 Abs. 2 der griechischen Verfassung, Art. 35.2 der irischen Verfassung, Art. 206 der portugiesischen Verfassung und Art. 117 Abs. 1 der spanischen Verfassung (sämtliche Verfassungen sind in englischer Sprache im Internet abrufbar unter ). 751 Diese Bindung durch die Sprache ist von der – notwendigen – Bindung des Richters und des Rechts an die Sprache (als Kommunikationsmittel) zu unterscheiden; vgl. zu dieser oben § 6, vor A. (bei Fn. 423). 752 Das Gebot der Rechtssicherheit ist im Gemeinschaftsrecht als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt, hat allerdings einen spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Gehalt; vgl. CR / Wegener, Art. 220 EGV, Rn. 34. 753 Vgl. Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 382 f.; speziell zur begrenzten Steuerungsfähigkeit methodologischer Vorgaben Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 248 (262 f.); Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (410); ferner BVerfGE 82, 30 (38 f.). 754 Vgl. beispielhaft Gast, Rhetorik, Rn. 155 ff.; ferner Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (410).

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wird jedoch in der Praxis erheblich eingeschränkt durch die Orientierung an Präjudizien, denen damit entscheidende Bedeutung für die Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen zukommt.755 In der Tat läßt sich der wesentliche Inhalt gerichtlicher Entscheidungen auch im Gemeinschaftsrecht mit recht großer Sicherheit abschätzen, sofern man mit der Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte weitgehend vertraut ist.756 Die Absehbarkeit des wesentlichen Entscheidungsinhalts setzt jedoch voraus, daß Präjudizien tatsächlich befolgt werden. Dies läßt sich erreichen, wenn sie als verbindlich angesehen werden. Eine strikte Verbindlichkeit ist hierzu nicht erforderlich und stünde darüber hinaus der gerade im Gemeinschaftsrecht in besonderer Weise erforderlichen Rechtsentwicklung im Wege.757 Für die hinreichende Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen genügt es, Präjudizien als präsumtiv verbindlich anzusehen. Präsumtive Verbindlichkeit bedeutet, daß Präjudizien in der Regel zu folgen ist, daß eine Abweichung aber möglich bleibt, wenn Gründe von erheblichem Gewicht für sie sprechen, die die Gründe für ein Festhalten an der früheren Rechtsprechung deutlich überwiegen.758 Soweit Präjudizien hiernach verbindlich sind, stellen sie an den Interpreten eine zweifache Anforderung, durch die eine kontinuierliche Fortschreibung der Rechtsprechung gewährleistet wird.759 Zunächst unterliegt der Interpret einem Anknüpfungsgebot, das ihn verpflichtet, sich an einschlägigen Präjudizien zu orientieren und ihnen zu folgen.760 Darüber hinaus hat er auch ein Widerspruchsverbot zu beachten, das ihm im Falle des Fehlens unmittelbar einschlägiger Präjudizien verbietet, einen Normtext so zu interpretieren, daß hieraus ein Widerspruch zu bisherigen Entscheidungen entsteht. Die Annahme präsumtiver Verbindlichkeit von Präjudizien gewährleistet so nicht nur die grundsätzliche Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen, sondern sichert darüber hinaus auch die Kohärenz der Rechtsprechung. Zudem ermöglicht sie eine bruchlose 755 Vgl. zu dieser Funktion von Präjudizien ausführlich Kriele, Rechtsgewinnung, S. 259 f.; ferner GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 65. – Daher setzt die Interpretation in der Praxis in den seltensten Fällen unmittelbar am „nackten“ Normtext an, sondern bezieht von vornherein einschlägige Gerichtsentscheidungen mit ein; vgl. Esser, Interpretation im Recht, S. 278 (288); Kriele, ebd., S. 243. Dem entspricht die Heranziehung spezieller juristischer (also regelmäßig gerichtlich definierter) Verwendungsregeln im Rahmen des Indizarguments (vgl. hierzu oben A. I. 1. a) (1)). Ihre eigentliche Bedeutung erlangen die Interpretationsargumente demnach in den Fällen erstmaliger Interpretation eines Normtextes und der Abweichung von Präjudizien. 756 In diese Richtung auch GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 45. 757 Ebenso Arnull, Interpretation and Precedent, S. 115 (126). 758 Vgl. zum Begriff der präsumtiven Verbindlichkeit ausführlich Kriele, Rechtsgewinnung, S. 243 ff.; zu ihren Funktionen ebd., S. 258 ff. Zur Möglichkeit der Abweichung von Präjudizien im Gemeinschaftsrecht GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 65; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 189 ff.; vgl. ferner Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 82. 759 Vgl. zur interpretationsbegrenzenden Funktion einer kontinuierlichen Rechtsprechungsentwicklung Esser, Interpretation im Recht, S. 278. 760 In diese Richtung auch Kriele, Besonderheiten juristischer Hermeneutik, S. 409 (412).

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht

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Rechtsprechungsentwicklung, die die Akzeptanz der Entscheidungen bei Betroffenen und sonstigen Interessierten fördert.761 Für die Grenzfunktion des Normtextes hat sie eine zweifache Konsequenz: Interpretationsbegrenzend ist nicht nur der zu interpretierende Normtext, sondern die Gesamtheit der geltenden Normtexte. Grenzfunktion kommt diesen aber nicht als solchen zu, sondern nur in ihrer Eigenschaft als bereits juristisch bearbeitete, nämlich in präjudiziellen gerichtlichen Entscheidungen interpretierte Normtexte.762 Bezogen auf das Gemeinschaftsrecht hat die Annahme einer präsumtiven Verbindlichkeit von Präjudizien zur Folge, daß sich der EuGH bei der Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Normtexte grundsätzlich an seinen bisherigen Entscheidungen – nur diese kommen für ihn als Präjudizien in Betracht – orientieren muß.763 Ein Blick auf die Praxis des EuGH zeigt, daß dieser seine früheren Entscheidungen der Sache nach als präsumtiv verbindlich ansieht.764 Zwar lehnt er zu Recht eine strikte (Selbst-)Bindung an Vorentscheidungen ab, doch knüpft er in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle unmittelbar an frühere Entscheidungen an.765 Die Abweichung von diesen ist dagegen die seltene Ausnahme,766 zu deren Rechtfertigung der EuGH regelmäßig besonders gewichtige Gründe anführt.767 Im Hinblick auf die Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen kann daher das Gemeinschaftsrecht nur solche Interpretationsergebnisse als zulässig anerkennen, 761 Vgl. hierzu Everling, JZ 2000, 217 (227). Allgemein zur Bedeutung der Orientierung an Präjudizien für die Kontinuität der Rechtsprechungsentwicklung Kriele, Rechtsgewinnung, S. 263 f.; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 190 f. 762 Ebenso Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 248 (266 f.). 763 Ebenso Ehricke, Bindungswirkung, S. 51 f. 764 Ebenso Möllers, Rolle des Rechts, S. 70; vgl. ferner Vogenauer, Auslegung von Gesetzen, S. 427 ff. 765 Vgl. Arnull, Interpretation and Precedent, S. 115 (125 f.); Hartley, Foundations, S. 75; Rodríguez Iglesias, NJW 2000, 1889 (1891); ferner Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung, S. 189 f.; zurückhaltender Schima, Wirkungen von Auslegungsentscheidungen, S. 280 (295 f.). 766 Beispielhaft seien genannt die Änderung der Rechtsprechung zur Klagebefugnis des Europäischen Parlaments (Urteil vom 22. 5. 1990, Rs. C-70 / 88 – Parlament / Rat, Slg. 1990, I-2041; anders noch Urteil vom 27. 9. 1988 in der Rechtssache 302 / 87 – Parlament / Rat, Slg. 1988, 5615) und zum Verhältnis von Warenverkehrsfreiheit und Reichweite des Rechts aus einem Warenzeichen (Urteil vom 17. 10. 1990, Rs. C-10 / 89 – HAG GF, Slg. 1990, I-3711; anders noch Urteil vom 3. 7. 1974, Rs. 192 / 73 – Van Zuylen / Hag, Slg. 1974, 731). Vgl. ferner die Änderung der Definition des Ausdrucks ,Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen‘ in Art. 28 (Urteil vom 24. 11. 1993, verb. Rs. C-267 / 91 und C-268 / 91 – Keck und Mithouard, Slg. 1993, 6097). 767 Vgl. EuGH, Urteile vom 22. 5. 1990, Rs. C-70 / 88 – Parlament / Rat, Slg. 1990, I-2041, Rn. 16 ff. (I-2072 f.), vom 17. 10. 1990, Rs. 10 / 89 – HAG GF, Slg. 1990, I-3711, Rn. 10 ff. (I-3757 ff.), und vom 24. 11. 1993, verb. Rs. C-267 / 91 und C-268 / 91 – Keck und Mithouard, Slg. 1993, 6097, Rn. 14 ff. (I-6131). Besonders klar in diese Richtung auch GA Jacobs, Schlußanträge vom 21. 3. 2002, Rs. C-50 / 00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6681, Rn. 82 ff. (6705 ff.); ferner EuG, Urteil vom 3. 5. 2002, Rs. T-177 / 01 – Jégo-Quéré / Kommission, Slg. 2002, II-2365, Rn. 38 ff. (II-2380 ff.).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

die die bisherige Rechtsprechung kontinuierlich fortschreiben, sofern nicht ausnahmsweise Gründe von erheblichem Gewicht für eine Abweichung von früheren Entscheidungen vorliegen.768

b) Gleichmäßigkeit der Rechtsdurchsetzung Die Forderung nach Gleichmäßigkeit der Rechtsdurchsetzung ist Bestandteil des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes, der ein Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts darstellt. Dieser verlangt, daß gleiche Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden, es sei denn, daß eine Differenzierung objektiv gerechtfertigt ist.769 Für gerichtliche Entscheidungen hat dies zur Folge, daß sich die Beurteilung eines Sachverhalts im Hinblick auf eine bestimmte Rechtsfrage grundsätzlich an früheren Beurteilungen vergleichbarer Sachverhalte im Hinblick auf vergleichbare Rechtsfragen zu orientieren hat. Somit kommt früheren gerichtlichen Entscheidungen auch für das Gebot gleichmäßiger Rechtsdurchsetzung präjudizielle Wirkung zu. Diese wurden bereits im Hinblick auf die Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen als Interpretationsgrenze anerkannt, so daß das Gebot gleichmäßiger Rechtsdurchsetzung keine eigenständige interpretationsbeschränkende Wirkung entfaltet.770 c) Wahrung der Funktionenteilung Auf organisationsrechtlicher Ebene hat die richterliche Bindung an den Normtext bei der Interpretation des primären Gemeinschaftsrechts die Aufgabe, die Funktionenteilung771 zwischen den zur (formellen) Vertragsänderung772 befugten 768 Man mag – gerade aus deutscher Sicht – die hier vertretene Begrenzung juristischer Interpretation im Gemeinschaftsrecht für unzureichend halten. Allerdings sollte man sich hinsichtlich anderer Schranken richterlicher Interpretation (etwa der „Wortlautgrenze“ oder des Erfordernisses einer „planwidrigen Regelungslücke“ als Voraussetzung einer Analogie) keinen Illusionen hingeben: Soll die Unabhängigkeit der Justiz nicht aufgegeben werden, kann die Einhaltung der richterlichen Bindung nur durch Richter beurteilt werden. Das heißt im Klartext: Der Gebundene bindet sich selbst (vgl. hierzu insbesondere Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation, S. 248 [259 f.]). Erst angesichts dessen läßt sich die Bedeutung des Ausdrucks ,Persönlichkeiten‘ in Art. 223 Abs. 1 zutreffend erfassen. 769 Vgl. EuGH, Urteile vom 13. 7. 2000, Rs. C-36 / 99 – Idéal tourisme, Slg. 2000, I-6049, Rn. 35 (I-6073), und vom 7. 11. 2000, Rs. C-168 / 98 – Luxemburg / Parlament und Rat, Slg. 2000, I-9131, Rn. 23 (I-9170 f.). 770 Zum Zusammenhang zwischen Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen und Gleichbehandlung auch Aarnio, FS Krawietz, S. 643 (650): „[A] legal decision must be predictable. In other words, all adjudication must implement the principle of formal equality.“ (Hervorhebung im Original). 771 Der Begriff der Funktionenteilung (statt Gewaltenteilung) wird hier deshalb verwendet, weil die Funktionen nicht von Organen desselben Verbandes wahrgenommen werden, so daß nicht von einer Gewaltenteilung im klassischen Sinne gesprochen werden kann.

§ 7 Interpretationsargumente und -grenzen im Gemeinschaftsrecht

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Mitgliedstaaten einerseits und dem EuGH andererseits zu wahren, der nach Art. 234 Abs. 1 zur autoritativen Auslegung773 des EGV befugt ist.774 Diese Funktionenteilung verbietet dem EuGH, bei der Interpretation des EGV die den Mitgliedstaaten zukommende Funktion zu usurpieren.775 Die Einhaltung dieses Verbots ist gewährleistet, wenn der EuGH bei der Interpretation gemeinschaftsrechtlicher Normtexte die Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV beachtet und darüber hinaus die Entwicklung seiner Rechtsprechung absehbar gestaltet. Damit ist zwar nicht ausgeschlossen, daß sich die Interpretation des EGV inhaltlich im Laufe der Zeit von ursprünglichen Vorstellungen durchaus auch in erheblichem Umfang entfernen kann. Dies ist aber der dynamischen Konzeption des Gemeinschaftsrechts geschuldet und kann nicht als ein Ausbrechen des EuGH aus der ihm vertraglich zugewiesenen Auslegungsbefugnis verstanden werden. Vielmehr schließt seine Funktion von vornherein auch die Wahrung der gemeinschaftsrechtlichen Dynamik ein.776 Der Wahrung der Funktionenteilung kommt daher gegenüber der Einhaltung der Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV und der Notwendigkeit, gerichtliche Entscheidungen in absehbarer Weise zu fällen, keine eigenständige Bedeutung als Interpretationsgrenze zu.

IV. Akzeptanzfähigkeit des Interpretationsergebnisses? Die Akzeptanzfähigkeit des Ergebnisses einer vom EuGH vorgenommenen Interpretation und damit auch der darauf aufbauenden Entscheidung ist für die Wir772 Diese unterliegt dem in Art. 48 EUV geregelten Vertragsänderungsverfahren; vgl. CR / Cremer, Art. 48 EUV, Rn. 1; Schwarze / Herrnfeld, Art. 48 EUV, Rn. 1. 773 Vgl. zum Begriff der autoritativen Auslegung (Interpretation) und zu seiner Abgrenzung von der authentischen Auslegung (Interpretation) Fastenrath, Lücken im Völkerrecht, S. 194 ff. 774 Vgl. zur Beachtung der Funktionenteilung zwischen EuGH und Mitgliedstaaten als Interpretationsgrenze Anweiler, Auslegungsmethoden, S. 414 ff.; Borchardt, GS Grabitz, S. 29 (31 ff.); Dänzer-Vanotti, FS Everling, S. 205 (207 f.); Everling, JZ 2000, 217 (225). 775 Dieses Verbot erkennt der EuGH ausdrücklich an. So verweigert er in seinem Urteil vom 25. 7. 2002 in der Rs. C-50 / 00 P – Unión de Pequeños Agricultores, Slg. 2002, I-6677, Rn. 44 f. (I-6735 f.), unter Verweis auf Art. 48 EUV eine Interpretation von Art. 230 Abs. 4, die (nach seiner Ansicht) zum Wegfall der dort für Individualklagen gegen Verordnungen vorgesehenen Voraussetzung der individuellen Betroffenheit des Klägers führen würde; ebenso EuGH, Urteil vom 1. 4. 2004, Rs. C-263 / 02 P – Kommission / Jégo-Quéré, EuZW 2004, 343. Vgl. zu diesem Spannungsfeld auch Hirsch, MDR 1999, 1 (3). – Die Beachtung der Funktionenteilung ist freilich keine Einbahnstraße. Sie verbietet daher auch den Mitgliedstaaten und ihren Organen, die Funktion des EuGH zu usurpieren. Insoweit ist es höchst bedenklich, wenn das Bundesverfassungsgericht dem EuGH in seinem Maastricht-Urteil eine verbindliche Bedienungsanleitung für die Art und Weise der Vertragsinterpretation vorgeben will (vgl. BVerfGE 89, 155 [210]). 776 Vgl. hierzu bereits oben A. I. 2. b) (3).

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kung der Rechtsprechung des EuGH von großer Bedeutung.777 Gleichwohl ist sie nicht als Interpretationsgrenze im hier vertretenen Sinne anzuerkennen.778 Dies folgt bereits daraus, daß die Forderung nach Akzeptanzfähigkeit keine rechtliche Voraussetzung der Zulässigkeit eines bestimmten Interpretationsergebnisses ist. Es ist zweifellos ein Gebot praktischer Vernunft, Entscheidungen zu vermeiden, die letztlich wirkungslos bleiben. Ein rechtliches Verbot derartiger Entscheidungen gerade wegen ihres konkreten Inhaltes folgt daraus jedoch nicht. Hinzu kommt, daß die im Zusammenhang mit der Akzeptanzfähigkeit von Entscheidungen des EuGH diskutierten Gesichtspunkte teilweise bereits im Rahmen anderer Interpretationsgrenzen hinreichend berücksichtigt werden können und, soweit dies nicht der Fall ist, durch einzelne Interpretationsargumente in den Interpretationsvorgang einzubeziehen sind. So wird etwa die richterliche Bindung an das Recht779 schon durch die Beachtung der Grenzfunktion des Normtextes sichergestellt.780 Auch die Beachtung grundlegender, den Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsauffassungen, wie sie etwa im Rechtsstaatsprinzip oder dem Sozialstaatsprinzip zum Ausdruck kommen,781 ist bereits auf andere Weise gewährleistet. Derartige Rechtsauffassungen dürften sämtlich die Eigenschaft allgemeiner Rechtsgrundsätze haben. Schon bei deren Anerkennung durch den EuGH ist aufgrund des hierbei angewendeten Vorgehens der wertenden Rechtsvergleichung sichergestellt, daß sich ihr Inhalt nicht beliebig weit von dem Grundkonsens mitgliedstaatlicher Rechtsordnungen entfernt. Als allgemeine Rechtsgrundsätze sind derartige gemeinsame Rechtsauffassungen im Rahmen des Systemarguments in den Interpretationsvorgang einzubeziehen,782 wobei ihrer besonderen Bedeutung durch eine entsprechende Gewichtung783 angemessen Rechnung getragen werden kann. Schließlich wird auch die Berücksichtigung der Entscheidungsfolgen, die ebenfalls für die Akzeptanzfähigkeit von Bedeutung sind,784 schon anderweitig sichergestellt, nämlich im Rahmen des Zielarguments. 777 Vgl. Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 34 ff.; Borchardt, GS Grabitz, S. 29 (39 f.); Everling, JZ 2000, 217 (227); Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 26; teilweise kritisch zur Forderung nach Akzeptanzfähigkeit Dänzer-Vanotti, FS Everling, S. 205 (209). 778 Zu den Anforderungen an Interpretationsgrenzen nach dem hier vertretenen Verständnis bereits oben § 6 C. 779 Vgl. zu dieser als Voraussetzung der Akzeptanzfähigkeit der Entscheidungen des EuGH Borchardt, GS Grabitz, S. 29 (39); Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 26. 780 Vgl. zur interpretationsbegrenzenden Wirkung des Normtextes oben B. III. 781 Vgl. zu der Beachtung dieser und ähnlicher Grundsätze als Voraussetzung der Akzeptanzfähigkeit Borchardt, GS Grabitz, S. 29 (39 f.). 782 Vgl. hierzu bereits oben A. III. 1. b) (1). 783 Die stärkere Gewichtung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes führt nicht etwa dazu, daß dieser ohne weiteres größeres Gewicht als sämtliche anderen Interpretationsargumente erlangt; in diesem Falle hätte er – als zwingendes Argument – in der Tat die Funktion einer Interpretationsgrenze (als quasi-zwingend sieht allerdings GH / Nettesheim, Art. 4 EGV, Rn. 60, einige vom EuGH entwickelte Grundsätze an). Zwingende Argumente lassen sich aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen schon deshalb nicht ableiten, weil diese regelmäßig abwägungsfähig sind.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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V. Ergebnis Das Gemeinschaftsrecht kann nur solche Bedeutungsbestimmungen als zulässig anerkennen, die (wenigstens fast) allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Verpflichtungen aus Übereinkommen i. S. v. Art. 307, namentlich der EMRK, nicht widersprechen, die die Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV beachten und die die bisherige Rechtsprechung kontinuierlich fortschreiben, sofern nicht ausnahmsweise Gründe von erheblichem Gewicht für eine Abweichung von früheren Entscheidungen vorliegen.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1 Die interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption in Art. 234 Abs. 1 hat wie jede Interpretation im Gemeinschaftsrecht in zwei Schritten zu erfolgen785: Zunächst ist zu entscheiden, ob die in Art. 234 Abs. 1 enthaltenen Ausdrücke lediglich auf die in den Mitgliedstaaten vorherrschenden Begrifflichkeiten verweisen. Anschließend ist auf der Grundlage der zielorientierten Konzeption eine Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 zu formulieren und daraufhin zu untersuchen, ob sie anhand der in § 7 dargestellten gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsmethodik begründet werden kann.

A. Art. 234 Abs. 1: Kein Verweis auf mitgliedstaatliche Begrifflichkeiten Da die hier vorgeschlagene Konzeption ausschließlich anhand gemeinschaftsrechtlicher Gesichtspunkte entwickelt wurde, setzt ihre interpretative Einbeziehung in die Befugniszuweisung voraus, daß die in Art. 234 Abs. 1 enthaltenen Ausdrücke nicht lediglich auf mitgliedstaatliche Begrifflichkeiten verweisen, sondern ihnen eine spezifisch gemeinschaftsrechtliche Bedeutung zukommt. Gegen die Annahme eines Verweises auf mitgliedstaatliche Begrifflichkeiten spricht bereits der Umstand, daß die Bedeutung gemeinschaftsrechtlicher Normtexte grundsätzlich autonom gemeinschaftsrechtlich zu bestimmen ist, sofern der Vgl. hierzu Borchardt, GS Grabitz, S. 29 (42). Besonders deutlich wird dieses zweistufige Vorgehen in dem Urteil des EuGH vom 16. 1. 1997, Rs. C-273 / 95 – Buratti, Slg. 1997, I-213, Rn. 24 ff. (I-233 ff.); vgl. auch EuGH, Urteil vom 14. 5. 1985, Rs. 139 / 84 – Van Dijk’s Boekhuis / Staatssecretaris van Financiën, Slg. 1985, 1405, Rn. 16 (1417). – Ergibt die Prüfung auf der ersten Stufe, daß der zu interpretierende Normtext auf die mitgliedstaatlichen Begrifflichkeiten verweist, fällt die Aufgabe der inhaltlichen Bedeutungsbestimmung auf die Ebene der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zurück und ist mittels der dort jeweils zulässigen Methodik zu erfüllen. 784 785

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zu interpretierende Normtext nicht ausdrücklich auf nationale Bestimmungen verweist.786 Zwar kann ausnahmsweise auch ein stillschweigender Verweis auf mitgliedstaatliche Begrifflichkeiten in Betracht kommen, doch müssen hierfür entsprechende Anhaltspunkte vorliegen,787 die bei Art. 234 Abs. 1 nicht ersichtlich sind. Vielmehr ist die Bedeutung von Ausdrücken, die für ein von einem Gemeinschaftsorgan durchgeführtes gemeinschaftsrechtliches Verfahren maßgeblich sind, im Hinblick auf gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkte und nach gemeinschaftsrechtlichen Bedürfnissen zu bestimmen. Würde dies den nationalen Rechtsordnungen überlassen, könnten diese den Anwendungsbereich gemeinschaftsrechtlicher Verfahren eigenmächtig festlegen, wobei gemeinschaftsrechtliche Interessen zweifellos nicht in erster Linie berücksichtigt würden. Gerade für das Vorabentscheidungsverfahren ist eine Orientierung an spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben jedoch unerläßlich. Dies gilt umso mehr, als dieses Verfahren in seiner konkreten Ausgestaltung ein besonderes Verfahren eigener Art ist.788 Zwar wurde die Entscheidung, ein Vorlageverfahren zum EuGH in den EGV aufzunehmen, von verschiedenen Vorlageverfahren des nationalen wie des internationalen Rechts inspiriert;789 hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang insbesondere auf die Auslegungsvorlage in Art. 100 Abs. 3 GG, den renvoi préjudiciel des französischen Rechts790 und die in Art. 42 des Saarvertrages791 geregelte Vorlage zum deutschfranzösischen Gemischten Gerichtshof. Keines dieser Verfahren kann jedoch als derart prägend angesehen werden, daß (ohnehin nur partielle) Übereinstimmungen in terminologischer oder verfahrenstechnischer Hinsicht es erlaubten, die im nationalen Rahmen mit den jeweiligen Ausdrücken assoziierten Verständnisse ohne weiteres auf das Vorabentscheidungsverfahren zu übertragen.792 Es ist daher kein Zufall, daß auch andere für dieses Verfahren bedeutsame Ausdrücke eine spezifisch gemeinschaftsrechtliche Bedeutung haben.793 786 Vgl. EuGH, Urteile vom 14. 1. 1982, Rs. 64 / 81 – Corman / HZA Gronau, Slg. 1982, 13, Rn. 8 (24), vom 28. 3. 1996, Rs. C-468 / 93 – Gemeente Emmen, Slg. 1996, I-1721, Rn. 20 (I-1756), und vom 2. 4. 1998, Rs C-296 / 95 – EMU Tabac u. a., Slg. 1998, I-1605, Rn. 30 (I-1643). 787 Vgl. EuGH, Urteile vom 18. 1. 1984, Rs. 327 / 82 – Ekro / Produktschap voor Vee en Vlees, Slg. 1984, 107, Rn. 14 (119 f.), und vom 15. 7. 1993, Rs. C-34 / 92 – GruSa Fleisch, Slg. 1993, I-4147, Rn. 13 (I-4172). 788 Vgl. statt vieler Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 178. 789 Vgl. zu diesen Verfahren Beckmann, Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens, S. 7 ff.; Lieber, Vorlagepflicht, S. 25 ff.; Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 23 ff. 790 Vgl. zu diesem Braibant / Stirn, Droit administratif, S. 463 ff.; Chapus, Droit administratif général, Nrn. 966 ff. 791 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die Regelung der Saarfrage vom 27. 10. 1956 (BGBl. 1956 II, 1589). 792 Vgl. Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 16 f., für die Lückenfüllung im Bereich des EGKSV; dasselbe gilt ohne weiteres auch für die Interpretation von Normtexten des EGV. 793 Dies gilt insbesondere für den Ausdruck ,Gericht‘; vgl. grundlegend EuGH, Urteil vom 30. 6. 1966, Rs 61 / 65 – Vaassen-Göbbels, Slg. 1966, 583 (601 f.); vgl. ferner EuGH, Urteile vom 17. 9. 1997, Rs. C-54 / 96 – Dorsch Consult, Slg. 1997, I-4961, Rn. 22 ff. (I-4992 ff.),

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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Art. 234 Abs. 1 verweist demnach nicht auf mitgliedstaatliche Begrifflichkeiten; den in ihm enthaltenen Ausdrücken ist vielmehr eine autonome gemeinschaftsrechtliche Bedeutung beizulegen.

B. Die Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 I. Bedeutungshypothese Auf der Grundlage der in dieser Arbeit entwickelten zielorientierten Konzeption läßt sich für die Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 folgende Hypothese formulieren: Der EuGH entscheidet im Wege der Vorabentscheidung über Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Eine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts liegt vor, soweit ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis besteht. Dies ist der Fall, soweit die Verwirklichung der mit dem Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele im gemeinschaftsrechtlich gebotenen Umfang es erfordert, den nationalen Gerichten die Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH zu eröffnen.

II. Zutreffen der Bedeutungshypothese Diese Bedeutungshypothese kann freilich nur dann als zutreffende Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 bestimmt werden, wenn sie sich anhand der in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik zulässigen Interpretationsargumente begründen läßt und sich innerhalb der Grenzen zulässiger Interpretation hält.

1. Begründung mit Hilfe der Interpretationsargumente Die überwiegenden Interpretationsargumente sprechen für die hier vorgeschlagene Bedeutung von Art. 234 Abs. 1. a) Indizargument Die relevanten semantischen Konventionen indizieren eine Bedeutung von Art. 234 Abs. 1, die der hier entwickelten Bedeutungshypothese in wichtigen und vom 21. 3. 2000, verb. Rs. C-110 / 98 bis C-147 / 98 – Gabalfrisa u. a., Slg. 2000, I-1577, Rn. 15 ff. (I-1605 ff.); ebenso GH / Wohlfahrt, Art. 177 EGV, Rn. 41 ff.; Mégret / D. Waelbroeck, Art. 177 EGV, Anm. 11. Für einen Rückgriff auf die mitgliedstaatlichen Gerichtsbegriffe plädiert aber Bleckmann, Europarecht, Rn. 919. – Auch die Wendung ,wird eine derartige Frage . . . gestellt‘ hat eine autonome gemeinschaftsrechtliche Bedeutung; vgl. EuGH, Urteil vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 8 (3428).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

Punkten entspricht. Aufgrund der in dieser Untersuchung vorausgesetzten Bedingungen794 sind hier für die Auslegungsbefugnis des EuGH nur die Ausdrücke ,Auslegung‘, ,Vorabentscheidung‘ und ,Frage‘ maßgeblich. Relevante semantische Konventionen sind in sachlicher Hinsicht spezifisch gemeinschaftsrechtliche, soweit solche existieren; in zeitlicher Hinsicht ist kein Sprachgebrauch von vornherein als irrelevant auszuscheiden. Der Untersuchung des relevanten Sprachgebrauchs sind grundsätzlich sämtliche Sprachfassungen zugrunde zu legen.795 (1) ,Auslegung‘ Obwohl der EuGH bereits im ersten Vorabentscheidungsverfahren auf die Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Wortes ,Auslegung‘ in Art. 234 Abs. 1 hingewiesen hat,796 findet sich, soweit ersichtlich, erst in einem Urteil aus dem Jahre 1963 eine ausdrückliche Definition dieses Ausdrucks. Hiernach beschränkt sich der EuGH bei der Vertragsauslegung im Vorabentscheidungsverfahren darauf, „die Bedeutung der Normen des Gemeinschaftsrechts aus Geist und Wortlaut des Vertrages abzuleiten“.797 In zwei Urteilen aus dem Jahre 1980 und in nunmehr ständiger Rechtsprechung präzisiert der EuGH die Definition des Ausdrucks ,Auslegung‘ in Art. 234 Abs. 1 dahingehend, daß durch die Auslegung einer Vorschrift „erläutert und gegebenenfalls verdeutlicht [wird], in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden gewesen wäre“.798 Neben der inhaltlichen Bedeutungsklärung zählt der EuGH auch die Bestimmung der Wirkungsweise eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes, insbesondere die Entscheidung über seine unmittelbare Anwendbarkeit, zur Auslegung i. S. v. Art. 234 Abs. 1.799 Gleiches gilt für das in der deutschen MethodenVgl. zu diesen oben § 2 B. Auf andere Versionen als die deutsche wird nachfolgend jedoch nur eingegangen, wenn sich aus ihnen eine abweichende Bedeutung der untersuchten Ausdrücke ergibt. 796 Vgl. Urteil vom 6. 4. 1962, Rs. 13 / 61 – Bosch, Slg. 1962, 97 (110). 797 Vgl. Urteil vom 27. 3. 1963, verb. Rs. 28 bis 30 / 62 – da Costa & Schaake NV u. a., Slg. 1963, 63 (81; bemerkenswert ist die Reihenfolge „Geist und Wortlaut“); vgl. ferner Urteile vom 18. 10. 1990, verb. Rs. C-297 / 88 und C-197 / 89 – Dzodzi, Slg. 1990, I-3763, Rn. 38 (I-3794), und vom 8. 11. 1990, Rs. C-231 / 89 – Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003, Rn. 21 (I-4017). 798 Urteile vom 27. 3. 1980, Rs. 61 / 79 – Amministrazione delle Finanze dello Stato / Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, Rn. 16 (1223), und verb. Rs. 66, 127 und 128 / 79 – Amministrazione delle Finanze dello Stato / Salumi, Slg. 1980, 1237, Rn. 9 (1260). Vgl. aus neuerer Zeit etwa Urteile vom 10. 2. 2000, verb. Rs. C-234 / 96 und C-235 / 96 – Deutsche Telekom, Slg. 2000, I-799, Rn. 43 (I-818 f.), und vom 29. 11. 2001, Rs. C-366 / 99 – Griesmar, Slg. 2001, I-9383, Rn. 73 (I-9441). 799 Zur Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit bereits Urteil vom 5. 2. 1963, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (23; die französische Urteilsfassung enthält insoweit die Wendung ,interpréter la portée‘). Vgl. auch Urteile vom 19. 12. 1968, Rs. 13 / 68 – Salgoil, Slg. 1968, 679 (693), und vom 26. 10. 1982, Rs. 104 / 81 – HZA Mainz / Kupferberg, Slg. 1982, 3641, Rn. 17 (3663). Kritisch zu diesem Auslegungsverständnis des EuGH Hartley, Foundations, S. 259. 794 795

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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lehre üblicherweise als Rechtsfortbildung bezeichnete Vorgehen.800 Demgegenüber rechnet er die Feststellung von Tatsachen,801 die Beurteilung des Sachverhalts,802 die Vornahme der Subsumtion, also der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auf einen Einzelfall,803 und die Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift mit dem Gemeinschaftsrecht804 nicht zur Auslegung i. S. v. Art. 234 Abs. 1.805 Auch in einzelnen Schlußanträgen sind ausdrückliche Definitionen des Ausdrucks ,Auslegung‘ enthalten. So definierte GA Roemer 1962 Auslegung als die „allgemeine Deutung des Sinnes einer Bestimmung, wenn Sinn und Zweck nach dem Wortlaut nicht klar sind“.806 1966 umschrieb er den Ausdruck ,Auslegung‘ im Hinblick auf das Vorabentscheidungsverfahren dahingehend, daß der EuGH nur „in generalisierender Weise die Deutung von Sinn und Zweck [einer] Vorschrift in der Art der Festlegung zusätzlicher allgemeiner Regeln“ vornehmen könne, auch wenn seine Aufgabe dabei limitiert sei im Hinblick auf eine bestimmte Problemstellung.807 800 Vgl. etwa Urteil vom 5. 3. 1996, verb. Rs. C-46 / 93 und C-48 / 93 – Brasserie du Pêcheur und Factortame, Slg. 1996, I-1029, Rn. 24 ff. (I-1143 f.); ferner Constantinesco, Recht der Europäischen Gemeinschaften, Nr. 734; GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 38; Oppermann, Europarecht, Rn. 652. Ausführlich zum weiten Interpretationsbegriff im Gemeinschaftsrecht bereits oben § 7 B. III. 1. b). – Zur Rechtsfortbildung in der deutschen Methodenlehre Larenz, Methodenlehre, S. 366 ff.; Röhl, Rechtslehre, S. 615 ff. 801 Vgl. z. B. Urteile vom 29. 4. 1982, Rs. 17 / 81 – Pabst & Richarz / HZA Oldenburg, Slg. 1982, 1331, Rn. 12 (1346), vom 1. 12. 1998, Rs. C-326 / 96 – Levez, Slg. 1998, I-7835, Rn. 26 (I-7867), vom 16. 9. 1999, Rs. C-435 / 97 – WWF u. a., Slg. 1999, I-5613, Rn. 32 (I-5650), und vom 23. 10. 2001, Rs. C-510 / 99 – Tridon, Slg. 2001, I-7777, Rn. 28 (I-7811). 802 Vgl. z. B. Urteile vom 5. 10. 1977, Rs. 5 / 77 – Tedeschi / Denkavit, Slg. 1977, 1555, Rn. 17 (1573), vom 16. 7. 1992, Rs. C-187 / 91 – Belovo, Slg. 1992, I-4937, Rn. 12 (I-4968 f.), und vom 13. 4. 2000, Rs. C-176 / 96 – Lehtonen und Castors Braine, Slg. 2000, I-2681, Rn. 40 (I-2730 f.). 803 Vgl. z. B. Urteile vom 27. 3. 1963, verb. Rs. 28 bis 30 / 62 – Da Costa & Schaake NV u. a., Slg. 1963, 63 (81), vom 8. 2. 1990, Rs. C-320 / 88 – Shipping and Forwarding Enterprise Safe, Slg. 1990, I-285, Rn. 11 (I-304), vom 25. 9. 1999, Rs. C-86 / 97 – Trans-ExImport, Slg. 1999, I-1041, Rn. 15 (I-1071 f.), und vom 10. 5. 2001, verb. Rs. C-223 / 99 und C-260 / 99 – Agorà und Excelsior, Slg. 2001, I-3605, Rn. 23 (I-3636) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung. 804 Vgl. z. B. Urteile vom 18. 4. 1989, Rs. 128 / 88 – Di Felice / INASTI, Slg. 1989, 923, Rn. 7 (939), vom 19. 5. 1998, Rs. C-132 / 95 – Jensen und Korn- og Foderstofkompagniet, Slg. 1998, I-2975, Rn. 45 (I-3022), und vom 3. 10. 2000, Rs. C-58 / 98 – Corsten, Slg. 2000, I-7919, Rn. 24 (I-7953). 805 Vgl. ausführlich zu den Diskrepanzen zwischen diesem Sprachgebrauch und der praktischen Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH bereits oben § 4 C. 806 Schlußanträge vom 12. 12. 1962, Rs. 26 / 62 – van Gend & Loos, Slg. 1963, 31 (51). Die Definition erfolgte in Abgrenzung zur Anwendung (einer Bestimmung auf einen konkreten Fall), die GA Roemer als „Subsumtion eines Sachverhalts unter eine gesetzliche Bestimmung und die daraus resultierende Beurteilung des Sachverhalts“ beschrieb (ebd.; Hervorhebung im Original). 807 Schlußanträge vom 23. 3. 1966, Rs. 56 / 65 – Société Technique Minière / Maschinenbau Ulm GmbH, Slg. 1966, 307 (310).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

Die überwiegende Literatur hat sich den genannten Definitionen angeschlossen808 oder definiert den Ausdruck ,Auslegung‘ mit anderen Formulierungen, die jedoch inhaltlich im wesentlichen gleichbedeutend sind.809 Der Ausdruck ,Auslegung‘ in Art. 234 Abs. 1 wird demnach im relevanten Sprachgebrauch verstanden als Klärung der Bedeutung eines Normtextes, die die Bestimmung von dessen Wirkungsweise und das in der deutschen Methodenlehre als Rechtsfortbildung bezeichnete Vorgehen einschließt. (2) ,Vorabentscheidung‘810 Der Rechtsprechung des EuGH läßt sich, soweit ersichtlich, keine ausdrückliche Definition des Ausdrucks ,Vorabentscheidung(sverfahren811)‘ entnehmen. In zahlreichen Entscheidungen hat der EuGH jedoch die prägenden Aspekte des Verfahrens herausgearbeitet: Dieses ist danach ein objektives Zwischenverfahren, in dem vorlegendes Gericht und EuGH miteinander kooperieren.812 (a) Objektives Verfahren Der objektive Aspekt des Vorabentscheidungsverfahrens kommt zunächst darin zum Ausdruck, daß nicht nur die Beteiligten des Ausgangsrechtsstreits in das Verfahren einbezogen werden, sondern auch verschiedene Gemeinschaftsorgane und sämtliche Mitgliedstaaten. 813 Hierdurch wird hervorgehoben, daß der Ausgangs808 So etwa Bergerès, Contentieux communautaire, Nr. 223; Joliet, Droit institutionnel, S. 200; Kapteyn / VerLoren van Themaat, Law of the EC, S. 502. 809 Vergleichbare Definitionen finden sich etwa bei Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 77 (Ermittlung des Inhalts und der Tragweite gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen; ebenso GH / Wohlfahrt, Art. 177 EGV, Rn. 26; GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 37; van Raepenbusch, Droit institutionnel, S. 399; Streinz-Ehricke, Art. 234 EGV, Rn. 11); Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 30 (Ermittlung des Inhalts einer bestimmten Vorschrift); Geiger, EGV, Art. 220, Rn. 11 (Inhaltsermittlung mit Blick auf die Rechtsanwendung). – Vgl. aber auch Koenig / Pechstein / Sander, EU- / EG-Prozeßrecht, Rn. 766, die Auslegung (ergebnisbezogen) als Inhalt und Tragweite des Gemeinschaftsrechts ansehen; ebenso Lenz / Borchardt, Art. 234 EGV, Rn. 5; differenzierend Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 93 ff., der zunächst den Ausdruck ,Auslegung‘ als Vorgang bzw. Ergebnis der Sinnermittlung definiert (S. 100), dann jedoch der Sache nach auch die Subsumtion zu der vom EuGH vorzunehmenden Auslegung zählt (S. 101 ff.). 810 Zur Bedeutung der Wendung ,im Wege der Vorabentscheidung‘ für die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH ausführlich Boulouis, Mélanges Teitgen, S. 23 ff. 811 Auch Beschreibungen des Vorabentscheidungsverfahrens enthalten (wenigstens implizite) Stellungnahmen zur Bedeutung, mit der der Ausdruck ,Vorabentscheidung‘ verwendet wird, so daß hier Äußerungen zu beiden Ausdrücken herangezogen werden können. 812 Vgl. hierzu auch Simon, Système juridique, Nr. 544. 813 Dies gilt zumindest für die Zustellung des Vorlagebeschlusses (vgl. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 EuGH-Satzung); ob die einzelnen Mitgliedstaaten im weiteren Verlauf tatsächlich Stellungnahmen abgeben und dadurch von ihrer Beteiligtenstellung im Vorabentscheidungsverfahren Gebrauch machen, liegt in ihrem Ermessen.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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rechtsstreit zwar den Anlaß für die vor dem nationalen Gericht aufgeworfene Frage bildet, diese aber zugleich über den Rahmen des konkreten, um subjektive Interessen geführten Rechtsstreits hinausweist. Darüber hinaus ist das Vorabentscheidungsverfahren durch eine Beziehung von Gericht zu Gericht geprägt, was unter anderem zur Folge hat, daß die Entscheidung sowohl darüber, ob eine Frage dem EuGH überhaupt zur Vorabentscheidung vorzulegen ist, als auch über den Inhalt des Vorlagebeschlusses dem nationalen Gericht und nicht den Parteien des Ausgangsrechtsstreits obliegt: Diese verfügen weder über einen gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf Vorlage an den EuGH814 oder gar eine eigenständige Möglichkeit zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens, noch können sie den Inhalt des Vorlagebeschlusses gegen den Willen des vorlegenden Gerichts bestimmen oder nachträglich auf ihn Einfluß nehmen.815 Sie sind vor dem EuGH auch keine Parteien, sondern lediglich Beteiligte mit dem Recht, Schriftsätze einzureichen und Stellungnahmen abzugeben, wie dies sämtliche anderen Beteiligten ebenfalls tun können.816 (b) Zwischenverfahren Darüber hinaus ist das Vorabentscheidungsverfahren lediglich ein Zwischenverfahren im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH liegt die alleinige Verantwortung für die Sachentscheidung des Ausgangsrechtsstreits bei dem vorlegenden Gericht.817 Dieses ist zwar an die vom EuGH gegebene Antwort gebunden, hat sie aber in eigener Verantwortung in die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits einzubeziehen, also insbesondere zu beurteilen, ob der Normtext nach der vom EuGH vorgenommenen Auslegung einschlägig ist818 Vgl. hierzu bereits oben § 5 A. II. (um Fn. 167). Vgl. EuGH, Urteile vom 16. 9. 1999, Rs. C-435 / 97 – WWF u. a., Slg. 1999, I-5613, Rn. 29 (I-5649), und vom 4. 4. 2000, Rs. C-465 / 98 – Darbo, Slg. 2000, I-2297, Rn. 18 f. (I-2333). 816 Vgl. Art. 23 Abs. 2 EuGH-Satzung. 817 Vgl. z. B. Urteile vom 8. 11. 1990, Rs. C-231 / 89 – Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003, Rn. 19 (I-4017), vom 11. 7. 1996, Rs. C-44 / 95 – Royal Society for the Protection of Birds, Slg. 1996, I-3805, Rn. 34 (I-3854), und vom 6. 6. 2000, Rs. C-281 / 98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rn. 18 (I-4169). GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 4. 12. 2001, Rs. C-208 / 00 – Überseering, Slg. 2002, I-9922, Rn. 67 (I-9941), beschreibt die Aufgabe des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren treffend als „Mitarbeit des Gemeinschaftsgerichts an der Lösung des vorgetragenen Problems“ (Hervorhebung nur hier). Nach Boulouis, Mélanges Teitgen, S. 23 (25), folgt die Zuständigkeit des nationalen Gerichts für die Sachentscheidung des Ausgangsrechtsstreits bereits aus dem Begriff der Vorabentscheidung, die notwendig eine (substantielle) Hauptsacheentscheidung voraussetze. 818 Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 20. 3. 1986, Rs. 35 / 85 – Procureur de la République / Tissier, Slg. 1986, I-1207, Rn. 9 (I-1212), und vom 16. 7. 1992, Rs. C-187 / 91 – Belovo, Slg. 1992, I-4937, Rn. 12 (I-4968 f.). Die bloße Möglichkeit, daß sich die vom EuGH vorgenommene Auslegung im Nachhinein als nicht einschlägig herausstellt, führt daher nicht zur Unzulässigkeit der Vorlage; vgl. GA Jacobs, Schlußanträge vom 11. 7. 2002, Rs. C-112 / 00 – Schmidberger, Slg. 2003, I-5662, Rn. 31 (I-5671). 814 815

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

und ob die tatsächlichen Voraussetzungen seiner Durchsetzung vorliegen.819 Der EuGH entscheidet somit lediglich über eine sachlich begrenzte Problemstellung, nämlich die aufgeworfene Auslegungsfrage, während das vorlegende Gericht die eigentliche Sachentscheidung trifft.820 (c) Kooperatives Verfahren Das Vorabentscheidungsverfahren ist schließlich ein kooperatives Verfahren, in dem EuGH und vorlegendes Gericht im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten gemeinsam zur Lösung eines Rechtsstreits beitragen.821 Als wesentliches Element der Kooperation zwischen vorlegendem Gericht und EuGH sieht dieser es an, daß beide Gerichte die (vorgeblich) strikte, bereits aus der Eigenschaft des Verfahrens als Zwischenverfahren folgende Befugnisaufteilung822 beachten, die der EuGH nach wie vor zumindest verbal an der Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung orientiert.823 Dabei haben sie nicht nur ihren eigenen Befugnisbereich, sondern auch denjenigen des jeweils anderen Gerichts zu respektieren.824 Die Aufgabe des EuGH ist demnach darauf beschränkt, das Gemeinschaftsrecht selbst auszulegen oder dem nationalen Gericht die Kriterien für die Auslegung an die Hand zu geben, die diesem bei der Beurteilung des Ausgangsrechtsstreits dienlich sein könnten.825 Er respektiert den Befugnisbereich des 819 Vgl. EuGH, Urteile vom 27. 3. 1990, Rs. C-315 / 88 – Bagli Pennachiotti, Slg. 1990, I-1323, Rn. 10 (I-1338), und vom 16. 7. 1992, Rs. C-187 / 91 – Belovo, Slg. 1992, I-4937, Rn. 12 (I-4968 f.). 820 Dies kommt auch im Tenor der Vorabentscheidung zum Ausdruck, der anders als bei Direktklagen nicht mit der Wendung „erkennt und entscheidet“ („déclare et arrête“), sondern mit „hat [ . . . ] für Recht erkannt“ („dit pour droit“) eingeleitet wird; vgl. Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 61; GTE / Krück, Art. 177 EGV, Rn. 86 f. 821 Vgl. insbesondere EuGH, Urteile vom 1. 12. 1965, Rs. 16 / 65 – Schwarze, Slg. 1965, 1151 (1165), und vom 4. 12. 1980, Rs. 54 / 80 – Wilner, Slg. 1980, 3673, Rn. 4 (3681), ähnlich z. B. Urteil vom 15. 6. 1995, verb. Rs C-422 / 93 bis C-424 / 93 – Zabala Erasun u. a., Slg. 1995, I-1567, Rn. 15 (I-1583); GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 4. 12. 2001, Rs. C-208 / 00 – Überseering, Slg. 2002, I-9922, Rn. 67 (I-9941). 822 Kritisch zu deren angeblich striktem Charakter Boulouis / Darmon, Contentieux communautaire, Nr. 84. 823 Vgl. z. B. Urteile vom 5. 10. 1977, Rs. 5 / 77 – Tedeschi / Denkavit, Slg. 1977, 1555, Rn. 17 (1573), vom 7. 5. 1997, Rs. C-223 / 95 – Moksel, Slg. 1997, I-2379, Rn. 20 (I-2401), und vom 16. 9. 1999, Rs. C-435 / 97 – WWF u. a., Slg. 1999, I-5613, Rn. 31 (I-5650). – Vgl. zu den Diskrepanzen zwischen dieser Dichotomie und der praktischen Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH bereits oben § 4 C. 824 Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 20 (3063), vom 16. 7. 1992, Rs. C-83 / 91 – Meilicke, Slg. 1992, I-4871, Rn. 25 (I-4933), und vom 15. 12. 1995, Rs. C-415 / 93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 60 (I-5059). 825 Vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 7. 9. 1999, Rs. C-61 / 98 – De Haan, Slg. 1999, I-5003, Rn. 29 (I-5040); dazu Bode / Ehle, EWS 2001, 55 ff.

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vorlegenden Gerichts in vielen Fällen dadurch, daß er Vorlagefragen, deren Beantwortung seine Auslegungsbefugnis überschritte, so umformuliert oder einschränkt, daß sie im Rahmen seiner Zuständigkeit beantwortet werden können.826 Ist dies jedoch nicht möglich oder liegt eine sonstige nicht behebbare Störung der Befugnisaufteilung vor, bleibt ihm nur übrig, sich für unzuständig zu erklären.827 (d) Zwischenergebnis Der Ausdruck ,Vorabentscheidung(sverfahren)‘ wird im relevanten Sprachgebrauch demnach im Sinne eines primär im objektiven Interesse durchgeführten Verfahrens gebraucht, in dem der EuGH auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts beschränkt ist, während die nationalen Gerichte das Gemeinschaftsrecht anwenden und den Ausgangsrechtsstreit abschließend entscheiden. Beide Gerichte haben dabei die Aufteilung der Befugnisse innerhalb des Verfahrens zu wahren. (3) ,Frage‘ Der Ausdruck ,Frage‘ hat keine spezifisch gemeinschaftsrechtliche Bedeutung. Zwar bestimmte der EuGH in seinem C.I.L.F.I.T.-Urteil nach eigener Aussage die „gemeinschaftsrechtliche Bedeutung der Wendung ,wird eine derartige Frage . . . gestellt‘“.828 Die dabei herausgearbeiteten Kriterien, wann in diesem Sinne keine Frage gestellt wird, sind aber schon deshalb keine Definition des Ausdrucks ,Frage‘ i. S. v. Art. 234, weil der EuGH auch für den Fall ihres Vorliegens ausdrücklich das Recht der nationalen Gerichte hervorhebt, ihn um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.829 Ein solches Ersuchen setzt aber nach Art. 234 Abs. 2 bzw. 3 gerade das Vorliegen einer Frage voraus.

826 So bereits Urteil vom 6. 4. 1962, Rs. 13 / 61 – Bosch, Slg. 1962, 97 (110 f.), seitdem ständige Praxis; vgl. aus neuerer Zeit Beschluß vom 28. 6. 2000, Rs. C-116 / 00 – Laguillaumie, Slg. 2000, I-4979, Rn. 11 f. (I-4987), und Urteil vom 10. 5. 2001, verb. Rs. C-223 / 99 und C-260 / 99 – Agorà und Excelsior, Slg. 2001, I-3605, Rn. 22 ff. (I-3635 f.) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung. 827 Vgl. z. B. Urteile vom 11. 3. 1980, Rs. 104 / 79 – Foglia / Novello [I], Slg. 1980, 745, und vom 16. 7. 1992, Rs. C-83 / 91 – Meilicke, Slg. 1992, I-4871, sowie Beschluß vom 25. 5. 1998, Rs. C-361 / 97 – Nour, Slg. 1998, I-3101, Rn. 15 (I-3107) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung. – Sofern seine Zuständigkeit lediglich teilweise zu verneinen ist, begnügt sich der EuGH mit der Feststellung, daß die Fragen im übrigen nicht beantwortet werden können; vgl. z. B. Urteil vom 15. 6. 1999, Rs. C-421 / 97 – Tarantik, Slg. 1999, I-3633, Rn. 37 (I-3668). 828 Urteil vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 8 (3428). 829 EuGH (vorige Fn.), Rn. 15 (3430). Die Aussagen des EuGH zum Vorlagerecht der nationalen Gerichte dürften auch für die anschließend in Rn. 16 ff. entwickelten weiteren Ausnahmen von dem Vorliegen einer ,Frage‘ gelten; vgl. hierzu auch Urteil vom 17. 5. 2001, Rs. C-340 / 99 – TNT Traco, Slg. 2001, I-4109, Rn. 35 (I-4157).

13 Groh

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

Mangels einer spezifisch gemeinschaftsrechtlichen Bedeutung des Ausdrucks ,Frage‘ ist daher auf den allgemeinen Sprachgebrauch zurückzugreifen. Dabei kann festgestellt werden, daß die Ausdrücke ,Frage‘ im Deutschen, ,question‘ im Französischen und ,question‘ im Englischen jeweils mit den Bedeutungsschwerpunkten ,Erkundigung, Anfrage‘830 oder ,Schwierigkeit, Problem‘831 verwendet werden.832 Hin und wieder wird ihnen auch die Bedeutung ,Thema, Sachbereich‘ zugeschrieben.833 Demgegenüber bezeichnet der in der spanischen Fassung verwendete Ausdruck ,cuestión‘ nicht die bloße Bitte um Antwort – hierfür wird der Ausdruck ,pregunta‘ gebraucht –, sondern die zur Aufklärung eines strittigen Punktes gestellte Frage.834 Gleiches gilt für die italienische Fassung; der dort verwendete Ausdruck ,questione‘ wird nicht im Sinne von bloßer Erkundigung (,richiesta‘) gebraucht, sondern impliziert ein Klärungsbedürfnis oder eine Schwierigkeit.835 Dies spricht dafür, den Ausdruck ,Frage‘ in Art. 234 nicht im Sinne einer bloßen Bitte um Auskunft zu verstehen, sondern ihm die Bedeutung ,Schwierigkeit, Problem‘ beizulegen.836 Gestützt wird dieses Ergebnis noch dadurch, daß die in Art. 234 erwähnte 830 Vgl. Duden, S. 531 („eine Antwort, Auskunft, Erklärung, Entscheidung o. ä. fordernde Äußerung, mit der sich jmd an jmdn wendet“); Larousse, S. 838 („Demande adressée à qqn pour obtenir une information“); Petit Robert, S. 1838 („Demande qu’on adresse à qqn en vue d’apprendre qqch de lui“); Collins Cobuild English Dictionary, S. 1346 („A question is something which you say or write in order to ask someone about something“); Oxford Thesaurus, S. 371 („query, inquiry or enquiry“). 831 Vgl. Duden, S. 531 („Problem; zu erörterndes Thema, zu klärende Sache, Angelegenheit“); Larousse, S. 838 („Point sur lequel on a des connaissances imparfaites, qui est à examiner ou à discuter“); Petit Robert, S. 1838 („Connaissance incomplète ou incertaine qui peut donner lieu à discussion; sujet qui implique des difficultés à résoudre, d’ordre théorique ou pratique“); Collins Cobuild English Dictionary, S. 1346 („A question is a problem, matter, or point which needs to be considered“); Oxford Thesaurus, S. 371 („problem, difficulty, confusion, doubt, dubiousness, uncertainty, query, mitery, puzzle“). 832 Ebenso Lieber, Vorlagepflicht, S. 101; Vandersanden / Barav, Contentieux communautaire, S. 281 f. 833 Vgl. Collins Cobuild English Dictionary, S. 1346 („matter, issue, point, subject, topic, theme, proposition“). Ähnliches gilt für den Ausdruck ,cuestión‘ im Spanischen; vgl. Diccionario de la lengua española, S. 438 („Asunto o materia en general“); Diccionario Vox, S. 191 („Asunto, tema, punto, problema“). 834 Diccionario de la lengua española, S. 438 („Pregunta que se hace o propone para averiguar la verdad de una cosa controvertiéndola“); Diccionario Vox, S. 191 („La cuestión no es una pregunta cualquiera, sino la que se hace o propone para averiguar la verdad de una cosa controvertiéndola“). 835 Vgl. De Mauro, S. 2046 („argomento, materia che richiede un esame, una trattazione“); Grande Dizionario, S. 3165 („formulazione di un problema impegnativo e di diffizile soluzione; argomento che deve essere esaminato nei suoi vari aspetti in modo esaustivo“). 836 Gleichwohl versucht GA Capotorti, Schlußanträge vom 13. 7. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3432, Rn. 3 (3434), aus der französischen und italienischen Sprachfassung von Art. 234 Abs. 2 abzuleiten, daß der Ausdruck ,Frage‘ nicht im Sinne von ,Schwierigkeit, Problem‘ verwendet werde. Das von ihm vorgebrachte Argument ließe sich zwar auch auf die niederländische Fassung stützen; es wird jedoch von der dänischen, deutschen, englischen, portugiesischen, schwedischen und spanischen Sprachfassung nicht getragen.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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Frage nicht etwa die Vorlagefrage bezeichnet, also diejenige des nationalen Gerichts an den EuGH, die man durchaus als Erkundigung oder Anfrage verstehen könnte, sondern die vor dem nationalen Gericht aufgeworfene, sich stellende Frage.837 Der relevante Sprachgebrauch indiziert demnach für den Ausdruck ,Frage‘ die Bedeutung ,Schwierigkeit, Problem‘.838 (4) Ergebnis zum Indizargument Der relevante Sprachgebrauch indiziert eine Bedeutung von Art. 234 Abs. 1, nach der der EuGH in primär objektivem Interesse die Bedeutung und Wirkungsweise gemeinschaftsrechtlicher Normtexte bestimmt, sofern diese Bedeutungsbestimmung eine gewisse Schwierigkeit aufwirft. Die abschließende Sachentscheidung des Ausgangsrechtstreits hat der EuGH dabei den nationalen Gerichten zu überlassen, die wie der EuGH selbst auf die Einhaltung der Aufgabenverteilung zwischen beiden zu achten haben. Damit stützt das Indizargument die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 zunächst insofern, als sich nach dieser die Auslegungsbefugnis des EuGH nicht auf die Beantwortung jeder auch nur denkbaren Erkundigung nach der Auslegung eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes erstreckt. Es spricht zudem dafür, den Inhalt von Vorabentscheidungen nicht beliebig detailliert zu gestalten, sondern dem vorlegenden Gericht wegen der Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens als Zwischenverfahren einen substantiellen Entscheidungsspielraum zu belassen, was insbesondere die Beschränkung der Auslegungsintensität bei der Beantwortung von Präzisierungsfragen stützt. Im übrigen läßt sich das Indizargument nicht für die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 anführen; es widerspricht ihr allerdings auch nicht.

b) Zielargument Die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 ermöglicht die Verwirklichung der mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele im gebotenen Umfang, indem sie das Vorliegen des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses bejaht, soweit dies zur Zielverwirklichung erforderlich ist. Der Umfang, in dem die Verwirklichung der jewei837 Die deutsche Version von Art. 234 Abs. 2 ist insofern ungenau, als sie das „vor“ (einem Gericht) wegläßt, das in den anderen Sprachfassungen enthalten ist („devant une juridiction“, „before any court or tribunal“, „ante un órgano jurisdiccional“, „davanti di una giurisdizione“, „voor een rechterlijke instantie“) und deutlich macht, daß mit dem Ausdruck ,Frage‘ auch nicht etwa ein Auskunftsersuchen der Parteien an das nationale Gericht bezeichnet wird. 838 Ebenso van Raepenbusch, Droit institutionnel, S. 387; vgl. auch Zuleeg, Recht der EG im innerstaatlichen Bereich, S. 363; anders jedoch Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 114.

13*

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

ligen Ziele gemeinschaftsrechtlich geboten ist, wurde bereits näher untersucht; auf die diesbezüglichen Ausführungen kann verwiesen werden.839 Besonders hervorzuheben ist im Rahmen des Zielarguments, daß es dem EuGH durch die mit der hier vorgeschlagenen Bedeutungshypothese verbundenen Entlastung von einzelfallorientierten und unbedeutenden Vorlagefragen ermöglicht wird, sich auf grundlegende Fragen zu konzentrieren und sich so wieder seiner genuin verfassungsgerichtlichen Funktion anzunähern, wodurch gleichzeitig die Dauer von Vorabentscheidungsverfahren verkürzt wird. Im Ergebnis ist daher eine Steigerung der Effizienz des Vorabentscheidungsverfahrens zu erwarten.840 Gegen diese Einschätzung könnte gleichwohl ein teleologisch motivierter Einwand vorgebracht werden: Die mit der hier entwickelten Bedeutungshypothese verbundene Restriktion der Auslegungsbefugnis des EuGH und damit der Möglichkeit der nationalen Gerichte, eine Vorabentscheidung einzuholen, störe das über Jahrzehnte gewachsene Vertrauensverhältnis zwischen EuGH und nationalen Gerichten, das eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg des Vorabentscheidungsverfahrens sei. Würden nationale Gerichte durch eine ihr Vorabentscheidungsersuchen zurückweisende Entscheidung des EuGH brüskiert oder zumindest in ihrer Vorlagebereitschaft irritiert, werde die Effizienz des Verfahrens beeinträchtigt und die Verwirklichung der in ihm verfolgten Ziele letztlich unmöglich.841 Die Sorge um das Vertrauensverhältnis zwischen nationalen Gerichten und EuGH ist im Grundsatz berechtigt. In der Tat wäre die gerichtliche Zusammenarbeit zwischen beiden ohne das gegenseitige Vertrauen zu einem praktisch bedeutungslosen Verfahren verkümmert. Erst die Vorlagebereitschaft der nationalen Gerichte verschafft dem EuGH Gelegenheit, seine Aufgaben im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens zu erfüllen, da eine Einleitung dieses Verfahrens durch ihn selbst nicht möglich ist. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob das dem skizzierten Einwand zugrundeliegende Bild der nationalen Gerichte, das in der Anfangsphase der Gemeinschaft geprägt wurde und damals unabdingbar war, heute noch zutreffend ist. Dieses Bild sieht die nationalen Gerichte als mit einer neuen und für sie unbekannten Rechtsmaterie konfrontierte Institutionen, die sich hilfesuchend an den EuGH wenden (müssen), weil sie mit den Schwierigkeiten des Gemeinschaftsrechts nicht zurechtkommen. In einer solchen Situation bestünde in der Tat die Gefahr, sie durch eine zurückweisende Entscheidung zu verschrecken und damit zu entmuti839 Vgl. zur Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts oben § 5 C. I., zur Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts oben § 5 C. II. und zum Schutz individueller Rechtspositionen oben § 5 C. III. 840 Wie hier sieht auch die Kommission eine Beschränkung der Auslegungsbefugnis des EuGH auf die Beantwortung „wirklich neuer Fragen“ als Beitrag zur Steigerung der Effizienz des Vorabentscheidungsverfahrens an (Ergänzender Beitrag der Kommission, S. 5). Vgl. ferner Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 225 ff. 841 Vgl. zu diesem Einwand etwa EuGH, Zukunft des Gerichtssystems, S. 28 f.; Edward, Liber amicorum Slynn, S. 122; Vandersanden, Mélanges Waelbroeck, S. 619 (642: Die Erklärung, daß keine Veranlassung zur Beantwortung der vorgelegten Frage bestehe, sei der Zurückweisung wegen Unzulässigkeit vorzuziehen, da sie „moins brutale“ sei).

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gen, künftig in vergleichbaren Situationen eine Vorabentscheidung einzuholen. 45 Jahre nach der Gründung der Gemeinschaft können die nationalen Gerichte jedoch nicht mehr als von der Neuartigkeit des Gemeinschaftsrechts geradezu überwältigt angesehen werden. Im Gegenteil ist von ihnen zu erwarten, daß sie der Situation einer allgemeinen und umfassenden Unterstützungsbedürftigkeit mittlerweile entwachsen sind. Vom Gemeinschaftsrecht selbst zu funktionalen Gemeinschaftsgerichten „geadelt“, leisten sie in dieser Eigenschaft durch ihre grundsätzlich eigenverantwortliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts einen unersetzlichen Beitrag zu dessen Verwirklichung.842 Auch die Befürchtung, eine zurückweisende Entscheidung könne als Ablehnung oder gar Abschreckung aufgefaßt werden, ist heute in dieser Allgemeinheit nicht mehr haltbar. Sie geht – wenn auch implizit – fälschlicherweise davon aus, der nationale Richter stehe verständnislos vor einer solchen Entscheidung. Dies muß jedoch keineswegs so sein: Wenn der EuGH die zurückweisende Entscheidung auch für den vorlegenden Richter überzeugend begründet, kann dieser die maßgeblichen Erwägungen nachvollziehen und akzeptieren, die zu der Entscheidung geführt haben. Die genannte Befürchtung übersieht zudem, daß die hier entwickelte Bedeutungshypothese zu einer Stärkung der Verantwortung der nationalen Gerichte führt. Eine Zurückhaltung des EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, die sich aufgrund der hier entwickelten Konzeption ergäbe, ist daher gerade nicht als Brüskierung der nationalen Gerichte, sondern vielmehr als Ausdruck nachhaltigen Vertrauens in deren Aufgabenerfüllung zu werten.843 Ein zweiter denkbarer Einwand geht dahin, die hier entwickelte Konzeption biete letztinstanzlichen Gerichten einen Vorwand, sich ihrer Vorlagepflicht auch in den Fällen zu entziehen, in denen ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis existiert und daher für diese Gerichte eine Verpflichtung zur Vorlage besteht. Hierdurch werde die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts in gefährlicher Weise aufs Spiel gesetzt. Dieser Einwand geht stillschweigend von der Kooperationsunwilligkeit der betreffenden Gerichte aus. Selbstverständlich gibt es stets nationale letztinstanzliche Gerichte, die die Reichweite ihrer Vorlagepflicht bewußt verkennen, weil sie eine ihnen nicht genehme Entscheidung des EuGH befürchten.844 Diese Haltung läßt sich freilich nicht durch eine bestimmte Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens ändern. Zudem wäre es völlig unangemessen, eine allVgl. hierzu bereits oben § 5 B. I. Auch Malferrari, Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen, S. 228, verneint einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen dem Vertrauensverhältnis einerseits und der Möglichkeit des EuGH zur Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen andererseits. – Vgl. zum Vertrauen der Gemeinschaftsrechtsordnung in die Aufgabenerfüllung der nationalen Gerichte bereits oben § 5 B. I. – Plastisch Temple Lang, ELR 1997, 3 (5): „[T]he Court of Justice has made national courts its allies in the enforcement of Community law“; vgl. ferner Burgi, DVBl. 1995, 772 (778). 844 In diesem Zusammenhang genügen die Stichworte ,Cohn-Bendit‘ (Conseil d’Etat, EuR 1979, 292) und ,Kloppenburg‘ (BFHE 143, 383). – Vgl. zu Beispielen der Mißachtung der Vorlagepflicht Lieber, Vorlagepflicht, S. 126 ff. 842 843

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gemeine Interpretation von Art. 234 Abs. 1 auf den Ausnahmefall kooperationsunwilliger Gerichte hin auszurichten845: Dies hieße, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen – und sie auch noch zu verfehlen. Die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 kann sich daher im Ergebnis vollumfänglich auf Erwägungen des Zielarguments stützen, da sie ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis überall dort annimmt, wo dies zur Verwirklichung der mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele im gemeinschaftsrechtlich gebotenen Umfang erforderlich ist.

c) Systemargument Die Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 wird auch durch Erwägungen des Systemarguments gestützt und kann gegen denkbare Einwände aus diesem verteidigt werden. (1) Stützung durch Erwägungen des Systemarguments Im Rahmen des Systemarguments lassen sich sowohl aus Art. 5 als auch aus Art. 10 Erwägungen gewinnen, die die hier vertretene Auffassung stützen. (a) Erwägungen aus Art. 5 Von der in Art. 5 verankerten „europarechtlichen Schrankentrias“846 lassen sich zwei ihrer Elemente, nämlich der in Abs. 1 verankerte Grundsatz der begrenzten Ermächtigung und der in Abs. 3 niedergelegte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit,847 für die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 anführen. Demgegenüber spielt der Grundsatz der Subsidiarität (Art. 5 Abs. 2) im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle. (i) Art. 5 Abs. 1 (Grundsatz der begrenzten Ermächtigung848) Nach Art. 5 Abs. 1 wird die Gemeinschaft innerhalb der Grenzen der ihr im EGV zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig.849 Dieser für die VerEbenso Jacobs, Studi Capotorti, S. 175 (188). So Merten, Subsidiarität als Verfassungsprinzip, S. 78. Vgl. zur Funktion der in Art. 5 niedergelegten Grundsätze auch GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 1; Kenntner, NJW 1998, 2871 (2874); Schwarze / Lienbacher, Art. 5 EGV, Rn. 1. 847 Taraschka, Kompetenzen der EG, S. 49 ff., erachtet die Grundsätze der begrenzten Ermächtigung und der Verhältnismäßigkeit im Gegensatz zu dem hier vertretenen Verständnis als Interpretationsgrenzen. 848 Zur Terminologie Kraußer, Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 17; ihm folgend GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 3. – Der EuGH sprach bislang ebenfalls von 845 846

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bandskompetenz der Gemeinschaft geltende Grundsatz wird in Art. 7 Abs. 1 Satz 2 in ähnlicher Form für die Organbefugnis wiederholt;850 danach handelt jedes Organ nach Maßgabe der ihm im EGV zugewiesenen Befugnisse.851 Die Begrenzung der Ermächtigung, die (auch) die Funktion hat, den Befugnisbereich der Mitgliedstaaten zu schützen,852 gilt selbstverständlich auch für den EuGH.853 Sie begründet eine Vermutung für das Verbleiben von Befugnissen auf nationaler Ebene,854 die bei der Interpretation von Befugniszuweisungen zu berücksichtigen ist.855 Zwar wirkt der Grundsatz der begrenzten Ermächtigung selbst weder befugnisbegrünbegrenzter Ermächtigung (vgl. etwa Gutachten 2 / 94 vom 28. 3. 1996 – EMRK-Beitritt, Slg. 1996, I-1759, Rn. 23 [I-1787]), verwendet in einer neueren Entscheidung jedoch – ohne daß sich die anderen Sprachfassungen insoweit geändert hätten – den Ausdruck ,begrenzte Einzelermächtigung‘ (Urteil vom 5. 10. 2000, Rs. C-376 / 98 – Deutschland / Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 83 [I-8524]; ebenso – allerdings auch in den anderen Sprachfassungen – GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 26. 9. 2000, Rs. C-1 / 99 – Kofisa Italia, Slg. 2001, I-210, Rn. 33 [I-219]). 849 Zum Grundsatz der begrenzten Ermächtigung (für die Zeit vor der ausdrücklichen Normierung in Art. 5 Abs. 1) ausführlich Kraußer, Prinzip begrenzter Ermächtigung, passim. – Zur zentralen Funktion von Art. 5 Abs. 1 für die Kompetenzordnung der Gemeinschaft Kraußer, ebd., S. 120; Kenntner, NJW 1998, 2871 (2874). 850 Vgl. zum Verhältnis beider Vorschriften als Ausprägungen des Grundsatzes der begrenzten Ermächtigung CR / Calliess, Art. 7 EGV, Rn. 17 (Art. 5 Abs. 1 als vertikale, Art. 7 Abs. 1 Satz 2 als horizontale Kompetenzabgrenzungsregel); vgl. auch GTE / Bieber, Art. 4 EGV, Rn. 51; Schwarze / Lienbacher, Art. 5 EGV, Rn. 7. 851 In der deutschen Sprachfassung unterscheiden sich die Formulierungen von Art. 5 Abs. 1 („innerhalb der Grenzen der [ . . . ] zugewiesenen Befugnisse“) und Art. 7 Abs. 1 Satz 2 („nach Maßgabe der [ . . . ] zugewiesenen Befugnisse“), so daß der begrenzende Aspekt von Art. 7 Abs. 1 Satz 2 weniger deutlich zum Ausdruck kommt. In den anderen Sprachfassungen enthält Art. 7 Abs. 1 Satz 2 demgegenüber insoweit dieselbe Formulierung wie Art. 5 Abs. 1 („dans les limites des attributions [ . . . ] conférées“; „within the limits of the powers conferred“; „dentro de los límites de las competencias atribuidas“; „nei limiti delle attribuzioni che le sono conferite“; „binnen de grenzen van de [ . . . ] verleende bevoegdheden“). 852 Vgl. GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 3; Kenntner, NJW 1998, S. 2871 (2871 f.); Schwarze / Lienbacher, Art. 5 EGV, Rn. 7. Zu weiteren Funktionen des Grundsatzes der begrenzten Ermächtigung Kraußer, Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 26 ff. 853 Implizit in diese Richtung Bleckmann, Europarecht, Rn. 915; Oppermann, Europarecht, Rn. 620. In der Literatur stehen bei der Erörterung des Grundsatzes der begrenzten Ermächtigung allerdings vielfach die Legislativbefugnisse der Gemeinschaft im Vordergrund; vgl. etwa Lenz / Langguth, EGV, Art. 5, Rn. 4 ff.; Schwarze / Lienbacher, Art. 5 EGV, Rn. 7 ff. 854 Vgl. CR / Calliess, Art. 5 EGV, Rn. 12; ähnlich Kraußer, Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 121; GTE / Zuleeg, Art 3b EGV, Rn. 2; vgl. auch van Raepenbusch, Droit institutionnel, S. 104 f. („les compétences attribuées à la Communauté ne se présument pas“). Zum Regel-Ausnahme-Verhältnis im Hinblick auf den EuGH und nationale Gerichte Temple Lang, ELR 1997, 3 (5): „The jurisdiction of the Court of Justice is limited; it is the national courts which are courts of general jurisdiction to apply Community law whenever appropriate.“ 855 Vgl. Kraußer, Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 121 f.; ferner EuGH, Urteil vom 5. 10. 2000, Rs. C-376 / 98 – Deutschland / Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419, Rn. 83 (I-8524).

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dend noch -verändernd.856 Durch seine Vermutungswirkung statuiert er jedoch eine Begründungslast857 für die Annahme sowohl der Existenz als auch einer bestimmten Reichweite von Gemeinschaftsbefugnissen. Dies geschieht in Art. 5 Abs. 1 nicht nur hinsichtlich der zugewiesenen Befugnisse, sondern auch hinsichtlich der gesetzten Ziele. Die in Art. 5 Abs. 1 gezogene Grenze ist daher auch dann überschritten, wenn eine Tätigkeit der Gemeinschaft die im EGV gesetzten Ziele überschreitet, also von dem Auftrag zu deren Verwirklichung nicht mehr gedeckt ist. Eine solche zielüberschreitende Tätigkeit der Gemeinschaft ist demnach unzulässig, da sie die programmierende und damit auch limitierende Funktion der vertraglichen Zielvorgaben mißachtet.858 Zielvorgaben in diesem Sinne sind auch nicht ausdrücklich im Vertrag verankerte Ziele, sofern das Gebot ihrer Verwirklichung – wie im Fall der mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele – einem Normtext des EGV in begründeter Weise zugeschrieben werden kann. Wären diese Ziele keine solchen i. S. v. Art. 5 Abs. 1, müßte man sämtliche ihrer Verwirklichung dienenden Handlungen für unzulässig erklären. Für das Vorabentscheidungsverfahren, für das sich im EGV keine ausdrücklichen Zielvorgaben finden lassen,859 hätte dies zur Folge, daß seine Durchführung mangels Verfolgung eines vertraglich gesetzten Ziels unzulässig wäre – eine offensichtlich absurde Konsequenz. Der in Art. 5 Abs. 1 und 7 Abs. 1 Satz 2 verankerte Grundsatz der begrenzten Ermächtigung spricht daher für eine Interpretation von Art. 234 Abs. 1, die sich auch im Hinblick auf die Bestimmung der Befugnisgrenzen an den mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen orientiert. Er stützt somit die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1. (ii) Art. 5 Abs. 3 (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) Nach Art. 5 Abs. 3 gehen die Maßnahmen der Gemeinschaft nicht über das für die Erreichung der Ziele des EGV erforderliche Maß hinaus. Dies gilt auch für die rechtsprechende Tätigkeit des EuGH.860 Hierfür spricht nicht nur die Indizierung 856 Vgl. GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 3; GTE / Bieber, Art. 4 EGV, Rn. 56. 857 Ähnlich Kraußer, Prinzip begrenzter Ermächtigung, S. 121 (Beweislast). 858 Vgl. GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 5; GTE / Zuleeg, Art. 3b EGV, Rn. 4; zweifelnd Schwarze / Lienbacher, Art. 5 EGV, Rn. 9. Zur limitierenden Funktion der Vertragsziele auch GH / v Bogdandy, Art. 2 EGV, Rn. 12; Ress, FS Winkler, S. 897 (904, Fn. 37); Streinz / Streinz, Art. 2 EGV, Rn. 19; ferner – für den Bereich der Gemeinsamen Handelspolitik – Taraschka, Kompetenzen der EG, S. 51. 859 Vgl. hierzu bereits oben § 5 A. 860 Ausdrücklich ebenso Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 317; vgl. ferner GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 49. Allerdings hat der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bislang nur für Legislativ- und Exekutivmaßnahmen praktische Bedeutung erlangt; vgl. CR / Calliess, Art. 5 EGV, Rn. 46.

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durch den Normtext – weder findet sich in Art. 5 Abs. 3 eine Ausnahme für ein bestimmtes Organ, noch läßt sich aus dem Ausdruck ,Maßnahme‘ eine Begrenzung auf rechtsetzende Handlungen ableiten –, sondern auch das Protokoll über die Anwendung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.861 Dieses verpflichtet ausdrücklich jedes Organ zur Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (Nr. 1 Satz 2) und unterscheidet zwischen Maßnahmen und Rechtsetzungstätigkeit (Nr. 6), was ebenfalls nahelegt, daß der Ausdruck ,Maßnahme‘ über die Rechtsetzung hinausgeht und alle Handlungsformen der Gemeinschaft umfaßt. Hinzu kommt, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch sicherstellen soll, daß Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten nicht mehr als erforderlich eingeschränkt werden.862 In diese Handlungsspielräume bzw. die ihnen zugrunde liegenden Befugnisse der Mitgliedstaaten kann letztverbindliche rechtsprechende Tätigkeit ebenso stark eingreifen wie rechtsetzende, etwa wenn eine Vorabentscheidung des EuGH die Entscheidung eines Ausgangsrechtsstreits stärker determiniert, als dies zur Verwirklichung der mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele erforderlich ist. Unter Erforderlichkeit ist dabei nicht die Erforderlichkeit i. S. v. Art. 234 Abs. 2 zu verstehen.863 Diese bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Vorabentscheidung und Erlaß der Entscheidung im Ausgangsrechtsstreit,864 während jene den Zusammenhang zwischen der Ausübung der Auslegungsbefugnis des EuGH und den mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen betrifft.865 Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientiert sich, stärker noch als Art. 5 Abs. 1, an dem Bezugspunkt der im EGV gesetzten Ziele. Anders als der 861 Protokoll (Nr. 30) zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (ABl. 1997 C 340 / 1 [105]). Zu diesem Protokoll und seinem Verhältnis zu Art. 5 Abs. 2 ausführlich Kenntner, NJW 1998, 2871 ff. 862 CR / Calliess, Art. 5 EGV, Rn. 47; Schwarze / Lienbacher, Art. 5 EGV, Rn. 35; ähnlich Lenz / Langguth, EGV, Art. 5, Rn. 31. 863 Vgl. zu der parallelen Frage des Verhältnisses zwischen der Erforderlichkeit i. S. v. Art. 234 Abs. 2 und der im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses im Hinblick auf die Zielverwirklichung vorausgesetzten Erforderlichkeit unten B. II. 1. c) (2) (b) (i). 864 Deren Beurteilung obliegt nach Art. 234 Abs. 2 dem vorlegenden Gericht; vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 17. 7. 1997, Rs. C-28 / 95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161, Rn. 24 (I-4199), und Rs. C-130 / 95 – Giloy, Slg. 1997, I-4291, Rn. 20 (I-4302), jeweils m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung. 865 Für deren Beurteilung ist der EuGH zuständig, der den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Grenze der Befugnisausübung offensichtlich für justitiabel hält, auch wenn er ihn in der Sache nur sehr zurückhaltend prüft; vgl. etwa Urteile vom 12. 11. 1996, Rs. C-84 / 94 – Vereinigtes Königreich / Rat, Slg. 1996, I-5755, Rn. 57 f. (I-5811), und vom 13. 5. 1997, Rs. C-233 / 94 – Deutschland / Parlament und Rat, Slg. 1997, I-2405, Rn. 54 ff. (I-2461) und 66 ff. (I-2464 ff.). Für die Justitiabilität von Art. 5 Abs. 3 auch CR / Calliess, Art. 5 EGV, Rn. 65 (grundsätzliche Justitiabilität) und 66 ff. (Kontrollmaßstab); vgl. ferner Schwarze / Lienbacher, Art. 5 EGV, Rn. 36.

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Grundsatz der begrenzten Ermächtigung, der die Frage betrifft, ob der Gemeinschaft bzw. dem handelnden Organ überhaupt eine Befugnis zusteht, bezieht sich die Verhältnismäßigkeit auf die Ausübungsintensität einer der Gemeinschaft bzw. dem handelnden Organ zustehenden Befugnis.866 Im vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, daß Art. 5 Abs. 3 für ein Verständnis von Art. 234 Abs. 1 spricht, nach dem die Ausübung der Auslegungsbefugnis durch den EuGH nicht weiter geht, als dies zur Verwirklichung der mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele objektiv erforderlich ist. Art. 5 Abs. 3 stützt daher die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 insbesondere insoweit, als diese im Falle von Präzisierungsfragen die Auslegungsintensität von Vorabentscheidungen des EuGH beschränkt.867 (iii) Art. 5 Abs. 2 (Grundsatz der Subsidiarität)? In den Bereichen, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen, wird diese nach Art. 5 Abs. 2 nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Grundvoraussetzung der Anwendbarkeit des Subsidiaritätsgrundsatzes ist demnach, daß die fragliche Tätigkeit der Gemeinschaft, hier also die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH, in einem Bereich liegt, der nicht in die ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeit fällt. Eine nicht ausschließliche, sondern nur konkurrierende Befugnis stellt zwar die allgemeine Befugnis des EuGH zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts dar.868 Hierin erschöpft sich die dem EuGH in Art. 234 Abs. 1 zugewiesene Befugnis aber gerade nicht. Vielmehr bezieht sich diese Befugniszuweisung ausdrücklich auf die Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren, also in einem Verfahren, in dem die Auslegung prinzipaler Verfahrensgegenstand ist und in dem der EuGH gemeinschaftsweit letztverbindlich entscheidet. Nationale Gerichte können demgegenüber weder prinzipal noch letztverbindlich über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts entscheiden. Die Befugnis des EuGH zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren fällt daher in den Bereich der ausschließlichen Befugnisse der Gemein-

866 Vgl. GTE / Zuleeg, Art 3b EGV, Rn. 31, der insoweit auf die Regelungsdichte einer Maßnahme abstellt. – CR / Calliess, Art. 5 EGV, Rn. 6, ordnet den drei Absätzen von Art. 5 die „Kann-Frage“ (Abs. 1), „Ob-Frage“ (Abs. 2) und „Wie-Frage“ (Abs. 3) zu; a.A. GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art 3b EGV, Rn. 27 (Berücksichtigung des „Wie“ einer Maßnahme bereits bei Art 5 Abs. 2); in diese Richtung auch EuGH, Urteil vom 10. 12. 2002, Rs. C-491 / 01 – British American Tobacco Investments, Slg. 2002, I-11453, Rn. 184 (I-11607). 867 Vgl. hierzu näher oben § 5 C. I. 1. a) (2). 868 Zur Aufgabenteilung zwischen EuGH und nationalen Gerichten bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts außerhalb des Vorabentscheidungsverfahrens bereits oben § 3 B.

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schaft.869 Dies gilt unabhängig davon, welchen gemeinschaftsrechtlichen Normtext der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren jeweils auszulegen hat. Die Auslegungsbefugnis des EuGH ist also nicht etwa nur in denjenigen Sachbereichen eine ausschließliche, in denen die Gemeinschaft auch über ausschließliche Rechtsetzungsbefugnisse verfügt.870 Gegen eine derartige teilweise Unterwerfung der Auslegungsbefugnis des EuGH unter den Grundsatz der Subsidiarität spricht zwar nicht, daß dieser damit zu einem inhaltlichen Auslegungsmaßstab des materiellen Rechts würde,871 denn nicht dieses, sondern Art. 234 Abs. 1 würde unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Subsidiarität interpretiert. Ihr steht vielmehr entgegen, daß es keinen automatischen Gleichlauf der Reichweite von Legislativ- und Judikativbefugnissen der Gemeinschaft gibt.872 Daher ist für jede Befugniszuweisung gesondert zu bestimmen, welche Reichweite sie hat und ob sie eine ausschließliche oder lediglich eine konkurrierende bzw. geteilte Befugnis einräumt. Für Art. 234 Abs. 1 wurde bereits gezeigt, daß die durch ihn zugewiesene Befugnis nur eine ausschließliche sein kann, da nationale Gerichte gemeinschaftsrechtliche Normtexte weder im Vorabentscheidungsverfahren noch letztverbindlich auslegen können. Da neben Art. 5 Abs. 2 kein Raum für einen ungeschriebenen oder allgemeinen, die Befugnisausübung der Gemeinschaft regelnden Subsidiaritätsgrundsatz bleibt,873 könnte der Grundsatz der Subsidiarität somit hier nur eine Rolle spielen, wenn er nicht nur die Ausübung nicht ausschließlicher Befugnisse regelte, sondern auch die Reichweite ausschließlicher Befugnisse begrenzte. Hiergegen spricht jedoch, daß Art. 5 Abs. 2 die Abgrenzung zwischen nicht ausschließlichen und aus869 Vgl. z. B. Müller-Graff, ZHR 1995, 34 (74); Koenig / Pechstein / Sander, EU- / EG-Prozeßrecht, Rn. 762; Mégret / D. Waelbroeck, Art. 177 EGV, Nr. 6 d; unklar Oppermann, Europarecht, Rn. 619. – Die Ausschließlichkeit folgt nicht bereits aus Art. 292, da dieser lediglich an die Mitgliedstaaten gerichtet ist und über diese hinaus die Ausschließlichkeit der Befugnisse des EuGH nicht gewährleistet; vgl. Schwarze / Becker, Art. 292 EGV, Rn. 4. 870 So aber wohl Remien, JZ 1994, 349 (353); ihm folgend Nassall, JZ 1995, 689 (691). 871 In diese Richtung aber GTE / Müller-Graff, Art. 30 EGV, Rn. 245; Markwardt, Rolle des EuGH, S. 197. 872 Im Bereich der Kontrolltätigkeit des EuGH (Gültigkeitsvariante des Vorabentscheidungsverfahrens) versteht sich dies von selbst; anderenfalls könnte der EuGH keinen Rechtsakt der Gemeinschaft wegen Kompetenzüberschreitung für nichtig erklären. 873 Vgl. GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 23; ebenso Lecheler, Subsidiaritätsprinzip, S. 59. Der EuGH lehnt es ab, Rechtsvorschriften im Hinblick auf die Subsidiarität zu beurteilen, die vor der Verankerung des Grundsatzes der Subsidiarität in Art. 5 Abs. 2 erlassen wurden; vgl. Urteil vom 22. 10. 1998, verb. Rs. C-36 / 97 und C-37 / 97 – Kellinghusen und Ketelsen, Slg. 1998, I-6337, Rn. 35 (I-6363). – Dies bedeutet freilich nicht, daß außerhalb des Bereichs der Befugnisausübung keinerlei Subsidiaritätserwägungen zulässig sind. So läßt sich etwa die Stufung zwischen Art. 234 Abs. 2 und Abs. 3 durchaus als Ausprägung eines Subsidiaritätsgedankens deuten. Ein solcher wäre jedoch lediglich eine verfassungspolitische Leitlinie zur Befugnisverteilung im Vorfeld des Vertragsschlusses, nicht aber Ausdruck des Grundsatzes in Art. 5 Abs. 2. Vgl. zu der rechtspolitischen Funktion eines allgemein verstandenen, nicht in Art. 5 Abs. 2 verankerten Grundsatzes der Subsidiarität Lecheler, Subsidiaritätsprinzip, S. 67.

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

schließlichen Befugnissen nicht selbst vornimmt, sondern voraussetzt und somit letztere nicht begrenzen kann.874 Der in Art. 5 Abs. 2 verankerte Grundsatz der Subsidiarität erfaßt demnach nicht die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren 875 und ist daher für die Begründung der hier entwickelten Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 irrelevant. (b) Erwägungen aus Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 erleichtern die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft die Erfüllung von deren Aufgabe. Diese Unterstützungspflicht trifft alle Organe der Mitgliedstaaten, auch deren Gerichte. Sie umfaßt im vorliegenden Zusammenhang vor allem die Verpflichtung der nationalen Gerichte als funktionale Gemeinschaftsgerichte, das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich eigenverantwortlich durchzusetzen und die alleinige Verantwortung für die Sachentscheidung im Ausgangsrechtsstreit zu tragen. Die Verpflichtung aus Art. 10 Abs. 1 Satz 2 liefe leer oder würde unnötig eingeschränkt, wenn den nationalen Gerichten Aufgaben abgenommen würden, durch deren Wahrnehmung sie die Aufgabenerfüllung der Gemeinschaft, insbesondere des EuGH, erheblich erleichtern. Eine solche Einschränkung wird auf der Grundlage der hier entwickelten Bedeutungshypothese vermieden. Soweit die nationalen Gerichte durch ihre Tätigkeit zur Verwirklichung der mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele beitragen, unterstützen sie den EuGH bei der Erfüllung seiner Aufgaben. Im gleichen Umfang kann dieser keinen weiteren, eigenen Beitrag zur Verwirklichung der genannten Ziele leisten, da die entsprechende Aufgabe bereits von den nationalen Gerichten erledigt wird. Die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens wäre insoweit nicht nur zur Zielverwirklichung nicht hilfreich, sondern hinderte zudem die nationalen Gerichte an der Erfüllung ihrer Verpflichtung aus Art. 10 Abs. 1 Satz 2. Dem trägt die hier vorgeschlagene Konzeption insbesondere durch die Betonung der Funktion der nationalen Gerichte als erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte Rechnung. Sie wird daher durch Art. 10 Abs. 1 Satz 2 gestützt.

874 Vgl. GH / von Bogdandy / Nettesheim, Art. 3b EGV, Rn. 19; Kenntner, NJW 1998, 2871 (2874). 875 A. A. Borchardt, GS Grabitz, S. 29 (33), der den Grundsatz der Subsidiarität heranziehen will, um die Konkretisierungsintensität der Rechtsprechung des EuGH zu begrenzen; ebenso Lenz / Borchardt, EGV, Art. 220, Rn. 24. Auch van Raepenbusch, Droit institutionnel, S. 116 f., und Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 317 f., unterwerfen die Auslegung des EGV durch den EuGH dem Grundsatz der Subsidiarität.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

205

(2) Verteidigung gegen Einwände aus dem Systemargument Einwände aus dem Systemargument können die terminologische oder die inhaltliche Übereinstimmung der hier entwickelten Bedeutungshypothese mit anderen Normtexten in Frage stellen.876 (a) Kein terminologischer Widerspruch zu anderen Normtexten Soweit die hier vorgeschlagene Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 überhaupt zu einer im einzelnen erfaßbaren Bedeutungsänderung der für die Auslegungsbefugnis des EuGH maßgeblichen Schlüsselwörter ,Auslegung‘, ,Vorabentscheidung‘ und ,Frage‘ führt, was bereits zweifelhaft ist, hat diese jedenfalls keinen terminologischen Widerspruch zu anderen Normtexten zur Folge. Der Ausdruck ,Auslegung‘ kommt außerhalb von Art. 234 Abs. 1 noch in Art. 68 vor, wo er sich ebenfalls auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren bezieht.877 Daneben wird er noch in Art. 220 und 292 verwendet, in denen er Bestandteil der floskelhaften Wendung ,Auslegung und Anwendung‘ ist.878 Diese beschreibt den umfassend verstandenen Rechtsdurchsetzungsvorgang, bei dem es gerade nicht auf eine Abgrenzung von Auslegung und Anwendung ankommt. Eine isolierte Definition des Ausdrucks ,Auslegung‘ oder die Bestimmung seiner eigenständigen Bedeutung ist daher bei der Wendung ,Auslegung und Anwendung‘ entbehrlich. Die Bedeutung, die dem Ausdruck ,Auslegung‘ an verschiedenen Stellen des EGV beigelegt wird, steht der hier vorgeschlagenen Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 daher in terminologischer Hinsicht nicht entgegen. Gleiches gilt für den Ausdruck ,Vorabentscheidung‘. Dieser findet sich außerhalb von Art. 234 Abs. 1 noch in Art. 225 Abs. 1 Satz 2, der ausdrücklich auf Art. 234 verweist, und in Art. 35 Abs. 1 bis 3 EUV, der ein hinsichtlich des Vorabentscheidungscharakters mit dem Verfahren nach Art. 234 im wesentlichen vergleichbares Verfahren vorsieht.879 Mit terminologischen Unstimmigkeiten ist daher hinsichtlich des Ausdrucks ,Vorabentscheidung‘ nicht zu rechnen. 876 Die formale Systematik ist für die hier vorgenommene Interpretation von Art. 234 Abs. 1 demgegenüber unergiebig. 877 Eine Ausnahme bildet Art. 68 Abs. 3, der auch von Auslegung spricht, sich aber auf ein Verfahren sui generis (Auslegungsgutachten auf Antrag des Rates, der Kommission oder eines Mitgliedstaats) bezieht. Es spricht allerdings nichts dagegen, den Ausdruck ,Auslegung‘ auch dort im gleichen Sinne wie in Art. 234 Abs. 1 zu verstehen. 878 Diese Wendung ist eine Standardformel in zahlreichen internationalen Verträgen, die eine Regelung über die Streitbeilegung enthalten; vgl. nur Art. 32 Abs. 1 EMRK, Art. 279 UN-Seerechtsübereinkommen, Art. XI Abs. 1 Antarktis-Vertrag, Art. 84 Satz 1 Chicago Convention. 879 Zur Ähnlichkeit der beiden Verfahren CR / Brechmann, Art. 35 EUV, Rn. 2; Schwarze / Böse, Art. 35 EUV, Rn. 2 und 6.

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

Der Ausdruck ,Frage‘ schließlich wird im EGV an zahlreichen Stellen mit unterschiedlichen Bedeutungen – teils im Sinne von ,Sachbereich‘ oder ,Thema‘,880 teils mit der Bedeutung ,Problem‘,881 teils mit weiteren Bedeutungen882 und teils ohne inhaltliche Funktion883 – verwendet. Aufgrund dieser ohnehin bestehenden Vielfalt der Verwendungen sind Bedenken gegen eine etwaige spezifische Bedeutung des Ausdrucks ,Frage‘ im Rahmen der hier entwickelten Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 zurückzuweisen. (b) Inhaltliche Stimmigkeit mit anderen Normtexten Auch inhaltlich ist die hier entwickelte Bedeutungshypothese mit anderen Normtexten stimmig. Soweit inhaltliche Widersprüche zu anderen Normtexten bestehen, können sie zugunsten der hier vertretenen Konzeption aufgelöst werden. (i) Art. 234 Abs. 2 Dies gilt zunächst für Art. 234 Abs. 2, der den nationalen Gerichten die Befugnis zur Beurteilung zuweist, ob die Beantwortung der vor ihnen aufgeworfenen Auslegungsfrage für den Erlaß ihrer Entscheidung erforderlich, also für diese Entscheidung erheblich ist,884 und ob es zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage der Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH bedarf.885 Die hier entwickelte 880 Beispielsweise wird der Ausdruck ,Fragen‘ in der französischen Sprachfassung z. T. mit ,domaines‘ (Art. 105 Abs. 4 UAbs. 2), z. T. auch mit ,matières‘ (Art. 150 Abs. 2 Spiegelstrich 4) wiedergegeben. In der englischen Sprachfassung findet vielfach der Ausdruck ,matters‘ (z. B. in Art. 11 Abs. 2 UAbs. 2 Satz 2, 37 Abs. 2 UAbs. 2, 105 Abs. 4 UAbs. 2, 192 Abs. 2) oder ,issues‘ (in Art. 111 Abs. 4 und 117 Abs. 2 Spiegelstrich 4) Verwendung, während in der spanischen Fassung neben ,cuestiones‘ auch ,asuntos‘ (z. B. in Art. 11 Abs. 2 Satz 2, 115 Satz 1 und 192 Abs. 2), ,materias‘ (Art. 105 Abs. 4 UAbs. 2 und 150 Abs. 2 Spiegelstrich 4) oder ,temas‘ (Art. 111 Abs. 4) verwendet wird. 881 Dies ist der Fall in Art. 145 Abs. 2; der deutsche Ausdruck ,Fragen‘ wird u. a. in der französischen, englischen, spanischen und italienischen Sprachfassung mit ,Problem‘ (’problèmes‘, ,problems‘, ,problemas‘ und ,problemi‘) wiedergegeben. 882 So ist in Art. 197 Abs. 3 die Pflicht der Kommission vorgesehen, auf die ihr vom „Parlament oder von dessen Mitgliedern gestellten Fragen“ zu antworten; in Art. 232 Abs. 2 wird auf „das in Frage stehende Organ“ abgestellt. 883 Die Verwendung des Ausdrucks ,Frage‘ in Art. 121 Abs. 1 Satz 2 und 138 Abs. 2 hat u. a. in der französischen, englischen, spanischen und italienischen Sprachfassung keine Entsprechung. 884 Zur Erforderlichkeit i. S. v. Art. 234 Abs. 2 etwa Lieber, Vorlagepflicht, S. 64 ff. – Besonders die englische Fassung („considers that a decision on the question is necessary“) und die portugiesische Fassung („se considerar que uma decisão sobre essa questão é necessária“) machen deutlich, daß sich der Ausdruck ,erforderlich‘ in Art. 234 Abs. 2 nur auf die Erforderlichkeit einer Antwort auf die aufgeworfene Frage, nicht auf die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung bezieht. Vgl. hierzu Brown / Jacobs, Court of Justice, S. 180; Hartley, Foundations, S. 281. 885 Vgl. EuGH, Urteile vom 17. 7. 1997, Rs. C-28 / 95 – Leur-Bloem, Slg. 1997, I-4161, Rn. 24 (I-4199), und Rs C-130 / 95 – Giloy, Slg. 1997, I-4291, Rn. 20 (I-4302), jeweils

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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Bedeutungshypothese, so ließe sich einwenden, schränke diese Beurteilungsbefugnis in unzulässiger Weise ein, da sie im Falle des Fehlens eines Auslegungsbedürfnisses die Zurückweisung einer Vorlage ermögliche, die das nationale Gericht für erforderlich erachtet habe. Diesem Einwand liegt das Mißverständnis zugrunde, daß die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH von der Beurteilung nationaler Gerichte abhängig sei. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr setzt die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens zwingend voraus, daß die Auslegungsbefugnis des EuGH gegeben ist. Dies hat der EuGH von Amts wegen zu prüfen.886 Ist seine Auslegungsbefugnis zu verneinen, kann sie durch keine wie auch immer geartete Beurteilung eines nationalen Gerichts kompensiert werden.887 Auf eine solche kommt es auch gar nicht mehr an, da ihr mit dem Fehlen der Auslegungsbefugnis des EuGH die Grundlage entzogen ist. Dieser Zusammenhang besteht völlig unabhängig von der konkreten Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH. Weder deren Änderung noch ihre Beurteilung durch den EuGH und die etwa damit verbundene Zurückweisung eines Vorabentscheidungsersuchens berühren daher die aus Art. 234 Abs. 2 folgende Beurteilungsbefugnis der nationalen Gerichte als solche.888 Vielmehr betreffen sie lediglich den Rahmen, der dieser Beurteilungsbefugnis durch Art. 234 Abs. 1 von vornherein gezogen ist. Etwas anderes könnte allenfalls gelten, wenn gerade die in Art. 234 Abs. 2 angesprochene Erheblichkeit oder Erforderlichkeit herangezogen würden, um die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH i. S. v. Art. 234 Abs. 1 zu bestimmen, und dadurch die Eigenschaft objektiver, vom EuGH zu überprüfender Befugniselemente erhielten.889 Dies ist m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung. – Die Befugnis der nationalen Gerichte zur Beurteilung auch dieser Erforderlichkeit folgt daraus, daß ein nationales Gericht die Auslegungsfrage im Falle ihrer Erheblichkeit dem EuGH vorlegen „kann“. 886 Vgl. hierzu EuGH, Urteile vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 19 (3063), vom 15. 6. 1995, verb. Rs. C-422 / 93 bis C-424 / 93 – Zabala Erasun u. a., Slg. 1995, I-1567, Rn. 16 (I-1583), und vom 15. 12. 1995, Rs. C-415 / 93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 60 (I-5059). Dies hat u. a. den Zweck, die Verwirklichung der mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele zu gewährleisten; vgl. EuGH, ebd. (Foglia / Novello [II]), Rn. 18 (3062 f.). 887 So auch von Bogdandy, CMLR 1999, 663 (667); Groh / Wündisch, GRUR Int. 2001, 497 (499 f.). Die dort besprochenen Urteile des EuGH scheinen freilich in eine andere Richtung zu deuten. 888 Für die Beurteilung der Auslegungsbefugnis durch den EuGH und deren Verneinung ebenso EuGH, Urteil vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 18 (3062 f.). 889 Bevor dies angenommen wird, wäre freilich zunächst zu untersuchen, ob die Beurteilungsbefugnis der nationalen Gerichte tatsächlich eingeschränkt wird oder ob lediglich der Ausdruck ,erforderlich‘ in Art. 234 Abs. 2 näher definiert wird. Letzteres fällt zweifellos in die Befugnis des EuGH, nicht der nationalen Gerichte, da diese die Erheblichkeit und Erforderlichkeit i. S. v. Art. 234 Abs. 2 anhand eines gemeinschaftsrechtlichen und damit vom EuGH zu konkretisierenden Maßstabs zu beurteilen haben. Zur davon zu trennenden Frage, inwieweit diese Beurteilung vom EuGH überprüft werden kann, Ress, FS Jahr, S. 339 (insbesondere 347 f.).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

bei der hier entwickelten Bedeutungshypothese jedoch nicht der Fall. Zwar stellt auch sie auf eine Erforderlichkeit ab, doch handelt es sich dabei um eine andere als die in Art. 234 Abs. 2 erwähnte890: Während diese den Zusammenhang zwischen aufgeworfener Auslegungsfrage, Vorabentscheidung und Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits betrifft, bezieht sich jene auf die Frage, inwieweit es zur Verwirklichung der mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele erforderlich ist, die Auslegungsbefugnis des EuGH zu bejahen. Demnach steht die hier entwickelte Bedeutungshypothese nicht in inhaltlichem Widerspruch zu Art. 234 Abs. 2. (ii) Art. 220 Aus Art. 220 läßt sich ein Argument dafür ableiten, die Befugnisse des EuGH und der nationalen Gerichte im Vorabentscheidungsverfahren anhand der Ausdrücke ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ abzugrenzen.891 Insoweit kann Art. 220 gegen die hier vertretene Konzeption angeführt werden. Allerdings wurde bereits gezeigt, daß gegen eine Abgrenzung der Befugnisse des EuGH und der nationalen Gerichte im Vorabentscheidungsverfahren anhand der Ausdrücke ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ erhebliche Bedenken bestehen: Die Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung ist dem Vorabentscheidungsverfahren aufgrund ihrer Herkunft aus der (allgemeinen) juristischen Methodik nicht angemessen, die Fixierung auf sie verengt die Interpretation von Art. 234 Abs. 1 in methodologisch fragwürdiger Weise, und eine Orientierung an den Ausdrücken ,Auslegung‘ und ,Anwendung‘ ist mit der praktischen Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH nicht in Einklang zu bringen.892 Die genannten Bedenken haben in ihrer Gesamtheit ein erheblich größeres Gewicht als der auf Art. 220 gestützte Einwand. Dieser ist daher zurückzuweisen. (iii) Art. 68 Abs. 2 EGV und Art. 35 Abs. 5, Art. 46 EUV Art. 68 Abs. 2 EGV und Art. 35 Abs. 5, Art. 46 EUV enthalten jeweils ausdrückliche Einschränkungen der Befugnisse des EuGH.893 Dies könnte dahingehend ge890 Vgl. zur parallelen Frage des Verhältnisses der Erforderlichkeit i. S. v. Art. 234 Abs. 2 und i. S. v. Art. 5 Abs. 3 bereits oben B. II. 1. c. (1) (a) (ii). 891 Vgl. Dauses, in: ders. (Hrsg.), Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, P.II, Rn. 35; a.A. Lenaerts, Essays Schermers, S. 355 (361). 892 Vgl. zu diesen Bedenken ausführlich oben § 4. 893 Die anderen Absätze von Art. 35 EUV spielen im vorliegenden Zusammenhang als Beschränkungen keine Rolle, da Abs. 1 insoweit lediglich auf die anderen Absätze verweist („unter den in diesem Artikel festgelegten Bedingungen“), Abs. 2 und 3 eine zusätzliche Voraussetzung für die Befugnisausübung durch den EuGH aufstellen (ausdrückliche Anerkennung seiner Zuständigkeit durch den jeweiligen Mitgliedstaat) und Abs. 4 lediglich eine Verfahrensregelung enthält.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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deutet werden, daß derartige Einschränkungen stets einer ausdrücklichen Regelung im geschriebenen Recht bedürften. Diese Deutung widerspricht allerdings nicht nur der Rechtsprechung des EuGH, der seine Auslegungsbefugnis nach Art. 234 Abs. 1 ungeschriebenen Schranken unterworfen hat.894 Sie übersieht zudem, daß die mit der hier vertretenen Konzeption verbundene Restriktion der Auslegungsbefugnis des EuGH nicht mit den Einschränkungen in den genannten Normtexten vergleichbar ist. Diese entziehen bestimmte Rechtsakte der Kontrollbefugnis des EuGH insgesamt und schränken daher die Befugnis des EuGH erheblich nachhaltiger und tiefgehender ein als die hier entwickelte Bedeutungshypothese. Aus ihnen kann kein allgemeiner Grundsatz des Inhalts abgeleitet werden, daß jede Einschränkung der Auslegungsbefugnis des EuGH einer ausdrücklichen Verankerung im Vertrag bedürfte. Somit steht die hier entwickelte Bedeutungshypothese nicht in inhaltlichem Widerspruch zu Art. 68 Abs. 2 EGV und Art. 35 Abs. 5, Art. 46 EUV. (iv) Art. 104 § 3 VfO Nach Art. 104 § 3 VfO kann der EuGH in einem vereinfachten Verfahren durch Beschluß entscheiden, wenn eine Vorlagefrage mit einer Frage übereinstimmt, die der EuGH bereits entschieden hat, oder wenn die Antwort auf sie klar aus der Rechtsprechung abgeleitet werden kann oder keinen Raum für vernünftige Zweifel läßt.895 In allen diesen Fällen liegt nach der hier vertretenen Konzeption grundsätzlich kein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis vor,896 so daß die Auslegungsbefugnis des EuGH zu verneinen wäre. Art. 104 § 3 VfO sieht jedoch nicht die Zurückweisung der Vorlage wegen fehlender Auslegungsbefugnis vor, sondern setzt im Gegenteil die Befugnis des EuGH gerade voraus.897 Bei der Auflösung des demnach zwischen Art 104 § 3 VfO und der hier entwickelten Bedeutungshypothese bestehenden Widerspruchs898 ist zunächst zu berücksichtigen, daß Art. 104 894 Vgl. EuGH, Urteile vom 11. 3. 1980, Rs. 104 / 79 – Foglia / Novello [I], Slg. 1980, 745 (keine Auslegungsbefugnis bei fiktivem Rechtsstreit), und vom 16. 7. 1992, Rs. C-83 / 91 – Meilicke, Slg. 1992, I-4871 (keine Auslegungsbefugnis bei hypothetischen Fragen). 895 Die letzten beiden Varianten wurden durch die Änderung der VfO vom 16. 5. 2000 (ABl. 2000 L 122 / 43) eingefügt; sie sind am 1. 7. 2000 in Kraft getreten. Die erste Anwendung des vereinfachten Verfahrens nach Art. 104 § 3 VfO n. F. erfolgte in EuGH, Beschluß vom 20. 10. 2000, Rs. C-242 / 99 – Vogler, Slg. 2000, I-9083. 896 Eine Ausnahme ist denkbar, wenn die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits zu einer schweren und irreparablen Schädigung hochwertiger Rechtsgüter einer Partei führen kann; in diesem Fall ist das Auslegungsbedürfnis im Hinblick auf den Schutz individueller Rechtspositionen zu bejahen; vgl. hierzu oben § 5 C. III. 1. 897 Vgl. hierzu GA Alber, Schlußanträge vom 1. 2. 2001, Rs. C-340 / 99 – TNT Traco, Slg. 2001, I-4112, Rn. 38 (I-4121). 898 Bemerkenswerterweise geht die Kommission insoweit nicht von einem Widerspruch aus, sondern sieht Art. 104 § 3 VfO in begrenztem Umfang sogar als Argument für eine restriktive Interpretation von Art. 234 Abs. 1 an; vgl. GA Tizzano, Schlußanträge vom

14 Groh

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

§ 3 VfO lediglich ein sekundärrechtlicher Normtext899 und damit rangniedriger ist als Art. 234 Abs. 1. Er muß daher nach Maßgabe von Art. 234 Abs. 1 und der diesem zugeschriebenen Bedeutung interpretiert werden; nicht etwa ist dieser umgekehrt konform zu Art. 104 § 3 VfO zu interpretieren. Vielmehr kann Art. 104 § 3 VfO lediglich Indizwirkung für die Interpretation von Art. 234 Abs. 1 entfalten.900 Diese wird jedoch schon durch die insbesondere teleologisch motivierten, gewichtigen Erwägungen entkräftet, die für die hier entwickelte Bedeutungshypothese sprechen. Hinzu kommt, daß die hier vorgeschlagene Interpretation von Art. 234 Abs. 1 nicht etwa zu einer Funktionslosigkeit von Art. 104 § 3 VfO führt. Das vereinfachte Verfahren kann nämlich auch bei Gültigkeitsfragen Anwendung finden;901 insoweit bleibt Art. 104 § 3 VfO daher unberührt. Schließlich ist zu berücksichtigen, daß die Verfahrensordnung vom EuGH erlassen wird.902 Sollte dieser sich zu einer restriktiven Auslegung von Art. 234 Abs. 1 entschließen, wäre er somit auch in der Lage, den Widerspruch zwischen Art. 234 Abs. 1 und Art. 104 § 3 VfO durch eine entsprechende Anpassung der Verfahrensordnung selbst zu beseitigen. Der aus dem Widerspruch zwischen der hier entwickelten Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 einerseits und Art. 104 § 3 VfO andererseits hergeleitete Einwand dringt daher nicht durch.

d) Vergleichsargument Obgleich das Vorabentscheidungsverfahren in seiner konkreten Ausgestaltung ein spezifisch gemeinschaftsrechtliches Verfahren ist, ist es der Vergleichbarkeit mit anderen Verfahren nicht von vornherein entzogen.903 Das demnach im Hinblick auf Art. 234 Abs. 1 grundsätzlich einsetzbare Vergleichsargument stützt zum Teil die hier entwickelte Bedeutungshypothese, ist aber teilweise auch unergiebig.

21. 2. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4841, Rn. 53 (I-4859 f.). GA Tizzano weist diese Argumentation allerdings unter Hinweis auf die unterschiedlichen Funktionen von Art. 234 einerseits und Art. 104 § 3 VfO andererseits zurück (ebd., Rn. 74). 899 Die VfO wird nach Art. 223 Abs. 6 Satz 1 vom EuGH und damit einem Gemeinschaftsorgan erlassen; sie bedarf nach Art. 223 Abs. 6 Satz 2 der einstimmigen Genehmigung des Rates. 900 Vgl. zur Indizwirkung sekundärrechtlicher Normtexte bei der Interpretation von Primärrecht bereits oben § 7 A. III. 1. b) (2) (b). 901 Zu einem solchen Fall EuGH, Beschluß vom 20. 10. 2000, Rs. C-242 / 99 – Vogler, Slg. 2000, I-9083. 902 Vgl. oben Fn. 899. 903 Bernhardt, Verfassungsprinzipien, S. 45, plädiert für eine Interpretation des Gemeinschaftsprozeßrechts, die sich in erster Linie am materiellen Gemeinschaftsrecht, nicht aber an den mitgliedstaatlichen Prozeßrechten orientiert. Dies steht einer ergänzenden Einbeziehung eines Vergleichs mit mitgliedstaatlichen Prozeßrechtsvorschriften freilich nicht entgegen.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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(1) Voraussetzungen der Vergleichbarkeit Soll der Vergleich mit der Ausgestaltung anderer Vorlageverfahren einen sachgerechten Beitrag zur Interpretation von Art. 234 Abs. 1 leisten, können in ihn nur solche Verfahren einbezogen werden, deren prägende Aspekte dieselben sind wie diejenigen des Vorabentscheidungsverfahrens.904 Als prägend in diesem Sinne können zum einen diejenigen Eigenschaften des Vorabentscheidungsverfahrens angesehen werden, die im relevanten Sprachgebrauch mit dem Ausdruck ,Vorabentscheidung(sverfahren)‘ assoziiert werden: Seine Durchführung in primär objektivem Interesse, seine Ausgestaltung als Zwischenverfahren in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit und die Kooperation von Gericht zu Gericht im Rahmen der jeweiligen Zuständigkeiten. Zum anderen gehören zu den prägenden Aspekten des Verfahrens auch die Ziele, die mit seiner Durchführung verwirklicht werden sollen, also die Gewährleistung der Einheitlichkeit, die Unterstützung des vorlegenden Gerichts und der Schutz individueller Rechtspositionen.905 (2) Vergleichbarkeit mit einzelnen Verfahren (a) Vorlageverfahren nach Art. 6 des Benelux-Gerichtshof-Vertrages Den genannten Kriterien entspricht am ehesten das in Art. 6 des Benelux-Gerichtshof-Vertrages906 geregelte Vorlageverfahren zum Benelux-Gerichtshof, das z. T. bis in die Formulierungen hinein dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 nachgebildet ist. Es setzt ein anhängiges Verfahren vor einem nationalen Gericht voraus und gibt diesem die Möglichkeit, vom Benelux-Gerichtshof die Interpretation eines Normtextes des einheitlichen Benelux-Rechts klären zu lassen, sofern das nationale Gericht dies als für seine Entscheidung erforderlich erach904 In diese Richtung auch Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 22 f.; vgl. ferner EuGH, Urteil vom 16. 5. 2000, Rs. C-78 / 98 – Preston u. a., Slg. 2000, I-3201, Rn. 57 (I-3263), der für die Vergleichbarkeit (im Hinblick auf den Äquivalenzgrundsatz) auf den Gegenstand, den Rechtsgrund und die wesentlichen Merkmale der zu vergleichenden Verfahren abstellt. Ähnlich EuGH, Urteil vom 1. 12. 1998, Rs. C-326 / 96 – Levez, Slg. 1998, I-7835, Rn. 43 (I-7870); GA Geelhoed, Schlußanträge vom 12. 7. 2001, Rs. C-472 / 99 – Clean Car Autoservice, Slg. 2001, I-9689, Rn. 29 (I-9696) und 33 (I-9697 f.). 905 Damit kann eines der historischen Vorbilder des Vorabentscheidungsverfahrens, der renvoi préjudiciel des französischen Rechts (vgl. hierzu allgemein Braibant / Stirn, Droit administratif, S. 463 ff.; Chapus, Droit administratif général, Nrn. 966 ff.), im Rahmen des Vergleichsarguments nicht herangezogen werden, da er in erster Linie die Gewaltenteilung zwischen Exekutive einerseits (zu der im französischen Recht lange auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit gezählt wurde) und Judikative andererseits gewährleisten soll (vgl. Chapus, ebd.; ferner Beckmann, Probleme des Vorabentscheidungsverfahrens, S. 8, der den französischen renvoi préjudiciel allerdings im Rahmen der historischen Auslegung berücksichtigen will). 906 Traité relatif à l’institution et au statut d’une Cour de Justice Benelux vom 31. 3. 1965 (MB 1973, S. 14062).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

tet.907 Unter den gleichen Voraussetzungen sind letztinstanzliche Gerichte zur Vorlage verpflichtet.908 Ein Anspruch der Parteien des Ausgangsrechtsstreits auf Vorlage durch das nationale Gericht besteht nicht. Der Benelux-Gerichtshof hat nach Art. 1 Abs. 2 des Benelux-Gerichtshof-Vertrages die Aufgabe, die Einheitlichkeit bei der Anwendung der den Benelux-Staaten gemeinsamen Rechtsvorschriften zu fördern.909 Diese Aufgabe erfüllt er insbesondere durch Entscheidungen im Vorlageverfahren, die zudem die nationalen Gerichte im Umgang mit dem einheitlichen Benelux-Recht unterstützen. Hervorzuheben ist, daß die Auslegungsbefugnis des Benelux-Gerichtshofs auf die Überwindung von Interpretationsschwierigkeiten beschränkt ist. Dies gilt sogar in zweifacher Hinsicht: Eine Vorlagemöglichkeit besteht nach Art. 6 Abs. 2 des Benelux-Gerichtshof-Vertrages nur dann, wenn das nationale Gericht eine Interpretationsschwierigkeit zu lösen hat.910 Zudem haben die (auch letztinstanzlichen) Gerichte von einer Vorlage abzusehen, wenn die sich stellende Frage nicht von solcher Art ist, daß sie einen vernünftigen Zweifel hervorrufen kann.911 Offensichtlich wurde es – in Kenntnis des gemeinschaftsrechtlichen Vorabentscheidungsverfahrens und seiner praktischen Handhabung912 – nicht als Gefährdung der Einheitlichkeit des gemeinsamen Benelux-Rechts angesehen, aus der Befugnis des Benelux-Gerichtshofs die Beantwortung derjenigen Interpretationsfragen auszuklammern, die keine Schwierigkeiten aufwerfen. Da kein Grund für eine unterschiedliche Beurteilung des Bedürfnisses nach Einheitlichkeit im Gemeinschaftsrecht einerseits und im Benelux-Recht andererseits ersichtlich ist, stützt die Ausge907 Art. 6 Abs. 2 des Benelux-Gerichtshof-Vertrages lautet in der Übersetzung des EuGH: „Setzt die Entscheidung über einen vor einem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit die Beantwortung einer Frage nach der Auslegung einer gemäß Artikel 1 bezeichneten Rechtsvorschrift [lies: des einheitlichen Benelux-Rechts; T. G.] voraus, so kann dieses Gericht, wenn es eine Entscheidung darüber für den Erlaß seines Urteils für erforderlich hält, auch von Amts wegen jede endgültige Entscheidung aussetzen, um dem Benelux-Gerichtshof diese Auslegungsfrage vorzulegen“ (vgl. EuGH, Urteil vom 4. 11. 1997, Rs. C-337 / 95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, Rn. 16 [I-6042]). 908 Art. 6 Abs. 3 des Benelux-Gerichtshof-Vertrages lautet in der Übersetzung des EuGH: „Unter den in Absatz 2 festgelegten Voraussetzungen ist ein nationales Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Anrufung des Benelux-Gerichtshofes verpflichtet“ (vgl. EuGH [vorige Fn.]). 909 Die französische Fassung der Vorschrift lautet: „La Cour est chargée de promouvoir l’uniformité dans l’application des règles juridiques communes à la Belgique, au Luxembourg et aux Pays-Bas [ . . . ]“. 910 Dies kommt in der Übersetzung des EuGH nicht deutlich zum Ausdruck, der lediglich von einer „Frage nach der Auslegung“ spricht. Die französische Originalfassung verlangt demgegenüber „qu’une décision [ . . . ] implique la solution d’une difficulté d’interprétation“. 911 Art. 6 Abs. 4 des Benelux-Gerichtshof-Vertrages lautet in der französischen Fassung: „Néanmoins, la juridiction visée aux alinéas 2 et 3 passe outre: 18 si elle estime que la question qui se pose n’est pas de nature ¨ faire naître un doute raisonnable; [ . . . ]". 912 Der Benelux-Gerichtshof-Vertrag wurde am 31. 3. 1965, also acht Jahre nach Unterzeichnung des EWGV und drei Jahre nach der ersten Vorabentscheidung des EuGH, unterzeichnet.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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staltung des Vorlageverfahrens nach Art. 6 des Benelux-Gerichtshof-Vertrages die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 insbesondere insoweit, als diese die Auslegungsbefugnis des EuGH vom Vorliegen einer besonderen Interpretationsschwierigkeit abhängig macht.

(b) Vorlageverfahren nach Art. 42 Abs. 3 des Saarvertrages Weitgehend vergleichbar mit dem Vorabentscheidungsverfahren ist ferner das in Art. 42 Abs. 3 des Saarvertrages913 geregelte Vorlageverfahren vor dem deutschfranzösischen Gemischten Gerichtshof.914 Auch hierbei handelt es sich um ein nicht von den Parteien des Ausgangsrechtsstreits betriebenes Verfahren915 von Gericht zu Gericht zur Klärung von Rechtsfragen im Hinblick auf die zum damaligen Zeitpunkt im Saarland geltenden französischen Normtexte.916 Hinsichtlich dieses Rechts hatte der Gemischte Gerichtshof nach Art. 42 Abs. 1 des Saarvertrages die Aufgabe, die Einheitlichkeit der saarländischen Rechtsprechung mit der französischen Rechtsprechung zu gewährleisten. Auch die Befugnisse des Gemischten Gerichtshofs unterlagen einer Einschränkung, die gemeinsame Aspekte mit dem hier vorgeschlagenen Konzept des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses aufweist: Sie waren beschränkt auf die grundsätzlichen Rechtsfragen der Anwendung der gemeinsamen (d. h.: ggf modifizierten französischen) Gesetzgebung. Auch insoweit ist kein Grund ersichtlich, warum das Bedürfnis nach Einheitlichkeit des Rechts im Saarland geringer gewesen sein sollte, als dies heute im Gemeinschaftsrecht der Fall ist. Dies kann als Anhaltspunkt dafür gewertet werden, daß auch im Gemeinschaftsrecht eine entsprechende Einschränkung mit der notwendigen Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts in Einklang zu bringen ist. Andererseits wurde der EWGV in Kenntnis des Saarvertrages abgeschlossen, so daß der Verzicht auf eine entsprechende Einschränkung als ausdrückliche Entscheidung gegen sie gewertet werden könnte. Da insoweit jedoch keine verläßlichen Aussagen möglich sind, lassen sich aus der Ausgestaltung des Vorlageverfahrens nach Art. 42 Abs. 3 des Saarvertrages 913 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Regelung der Saarfrage vom 27. 10. 1956 (BGBl. 1956 II, 1589). 914 Art. 42 Abs. 3 des Saarvertrages lautet: „Die obersten saarländischen Gerichte können in einem bei ihnen anhängigen Verfahren eine Entscheidung des Gemischten Gerichtshofs auf den in Absatz (1) bezeichneten Gebieten [gemeint sind diejenigen Rechtsbereiche, in denen im Saarland französisches Recht galt; T. G.] von Amts wegen herbeiführen. Die Vorlegung an den Gemischten Gerichtshof erfolgt durch begründeten Beschluß; die Rechtsfrage ist genau zu bezeichnen und eine Stellungnahme hierzu abzugeben.“ 915 In besonderen Fällen, die jedoch nicht den in Art. 42 Abs. 3 des Saarvertrages geregelten Normalfall der Vorlage betreffen, konnten die Parteien des Rechtsstreits nach Art. 42 Abs. 4 Satz 2 allerdings eine Entscheidung des Gemischten Gerichtshofs beantragen. 916 Vgl. zu diesen Normtexten Art. 4, 6, 7, 12, 15 und 26 des Saarvertrages.

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

keine hinreichend überzeugenden Schlüsse für oder gegen die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 ziehen. Der Vergleich mit diesem Verfahren ist daher für deren Begründung im Ergebnis unergiebig. (c) Sonstige Vorlageverfahren In mehreren mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen existieren Vorlageverfahren zur Gewährleistung der Rechtseinheit, in denen ein Gericht im Rahmen eines bei ihm anhängigen Rechtsstreits einem anderen Gericht eine Rechtsfrage zur Klärung vorlegen kann. In allen diesen Verfahren ist die Entscheidungsbefugnis der anzurufenden Gerichte und damit auch die Verwirklichung der mit der Durchführung der Verfahren verfolgten Ziele beschränkt. Zunächst besteht eine Entscheidungsbefugnis des anzurufenden Gerichts vielfach nur dann, wenn ein Gericht von der Rechtsprechung eines Spruchkörpers desselben Gerichts oder von der eines anderen Gerichts abweichen will (Divergenzvorlage). Häufig ist dieser Fall zudem noch auf die obersten Gerichte eines Landes beschränkt.917 Es ist offensichtlich, daß in diesen Fällen die Einheitlichkeit des Rechts nur sehr beschränkt gewährleistet ist.918 Beispiele für solche Vorlagen sind die in Art. 100 Abs. 3 GG vorgesehene verfassungsrechtliche Divergenzvorlage, die in Art. 95 Abs. 3 GG und dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes919 geregelte Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes und die Divergenzvorlagen an die jeweiligen Großen Senate der obersten Gerichtshöfe des Bundes.920

917 Ausnahmen im deutschen Recht sind § 12 VwGO (Vorlage an den Großen Senat eines Oberverwaltungsgerichts) und § 121 Abs. 2 GVG (Vorlage eines in Strafsachen entscheidenden Oberlandesgerichts an den BGH); beide Fälle betreffen Situationen, in denen das vorlegende Gericht letztinstanzlich entscheidet, und sind daher von ihrem Zweck her der Beschränkung auf oberste Gerichte vergleichbar. 918 Diese Beschränkung wird im deutschen Recht auch nicht durch die zunehmende Einführung von Zulassungsrechtsmitteln kompensiert, für die die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung Zulassungsgrund ist (vgl. etwa §§ 511 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO, § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Hierdurch wird zwar die Wichtigkeit einer einheitlichen Rechtsprechung hervorgehoben, aber nichts über das Maß der angestrebten Einheitlichkeit ausgesagt. Insoweit ist bemerkenswert, daß die Begründung des Gesetzesentwurfs zur Reform des Zivilprozesses vom 24. 11. 2000 die Zulassung einer Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nur zur Vermeidung „schwer erträgliche[r] Unterschiede“ für nötig hält (BT-Drucks. 14 / 4722, 1 [104]). Damit wird nicht zuletzt der durch Art. 97 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich garantierten Unabhängigkeit des Richters Rechnung getragen, aufgrund derer die Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland „konstitutionell uneinheitlich“ ist (so BVerfGE 87, 273 [278]; BVerfG, Beschluß vom 5. 6. 2002 [2 BvR 888 / 01], Rn. 4 [abrufbar im Internet unter ]). 919 Vom 19. 6. 1968 (BGBl. 1968 I, 661). 920 Vgl. § 132 Abs. 2 GVG, § 45 Abs. 2 ArbGG, § 11 Abs. 2 VwGO, § 11 Abs. 2 FGO und § 41 Abs. 2 SGG.

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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Zu nennen ist ferner das Divergenzvorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 lit. e) der griechischen Verfassung.921 In zahlreichen anderen Verfahren ist eine Vorlage nur dann statthaft, wenn eine neuartige oder in anderer Hinsicht grundsätzliche Rechtsfrage zu klären ist (Grundsatzvorlage). In diesen Fällen wird mit der Durchführung einer Vorlage das Ziel verfolgt, die Entwicklung der Rechtsprechung durch eine Leitentscheidung in eine bestimmte Richtung zu lenken und damit von vornherein Divergenzen zu vermeiden. Beispiele hierfür sind die Grundsatzvorlagen an die jeweiligen Großen Senate der obersten Gerichtshöfe des Bundes922 sowie die im französischen Recht bestehende Möglichkeit unterinstanzlicher Gerichte, neue Rechtsfragen, die eine ernstliche Schwierigkeit aufweisen und sich in einer Vielzahl von Streitigkeiten stellen, dem obersten Gericht des betreffenden Gerichtszweiges zur Beantwortung vorzulegen.923 Die Beschränkungen der Entscheidungsbefugnisse der jeweils angerufenen Gerichte in den genannten Vorlageverfahren zeigen deutlich, daß nicht jede noch so unbedeutende Beeinträchtigung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und damit des Rechts als so gravierend angesehen wird, daß sie durch eine Vorlage verhindert werden müßte. Daher stützt der Vergleich mit den genannten Regelungen die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 insoweit, als sie ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit verneint, wenn eine Vorlage an den EuGH lediglich geringfügige Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit verhindern könnte. Diese Einschätzung wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß das Bedürfnis nach Absicherung der Einheitlichkeit des Rechts im Gemeinschaftsrecht größer ist als im nationalen Recht, da die Geringfügigkeit der Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit hier spezifisch für das Gemeinschaftsrecht beurteilt und somit dem stärkeren Einheitlichkeitsbedürfnis der Gemeinschaft bereits Rechnung getragen wurde.

921 Die englische Übersetzung der relevanten Passagen von Art. 100 Abs. 1 der griechischen Verfassung lautet: „Article 100 [Special Supreme Tribunal] (1) A Special Supreme Tribunal shall be established, which shall deal with the following matters: [ . . . ] e) The clarification of [ . . . ] the meaning of a provision of a formal law, in the event that contrary decisions have been issued by the Council of State, the Supreme Court or the Council of Comptrollers“ (im Internet abrufbar unter ). 922 Vgl. § 132 Abs. 4 GVG, § 45 Abs. 4 ArbGG, § 11 Abs. 4 VwGO, § 11 Abs. 4 FGO und § 41 Abs. 4 SGG. 923 Das Verfahren wurde zuerst für die Verwaltungsgerichtsbarkeit eingeführt durch Art. 12 der Loi no 87 – 1127 portant réforme du contentieux administratif vom 31. 12. 1987 (JORF [Lois et Décrets] 1988, S. 7); es wurde sodann auf die Zivilgerichtsbarkeit erstreckt durch Art. 1031-1 bis 1031-7 des Nouveau Code de Procédure Civile, eingefügt durch Art. 1 des Décret no 92 – 228 relatif à la saisine pour avis de la Cour de cassation vom 12. 3. 1992 (JORF [Lois et Décrets] 1992, S. 3690).

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

e) Entstehungsargument Im Rahmen des Entstehungsarguments ist zwischen der ursprünglichen Redaktion des Vertrages und späteren Änderungsvorschlägen zu unterscheiden. (1) Ursprüngliche Redaktion des Vertrages Bei der ursprünglichen Redaktion des Vertrages924 wurde im Hinblick auf das Vorabentscheidungsverfahren ein Entwurf mit drei verschiedenen Varianten diskutiert,925 von denen die erste stark an Art. 41 EGKSV angelehnt war: La Cour de Justice est seule compétente pour statuer, à titre préjudiciel, sur l’interprétation du présent Traité ainsi que sur la validité et l’interprétation des décisions (et recommendations) prises par les institutions (de la Communauté) dans le cas où un litige porté devant un tribunal national mettrait en cause cette interprétation ou validité.926

Die zweite Variante lautete: La Cour de Justice est seule compétente pour statuer, à titre préjudiciel, sur l’interprétation du présent Traité ainsi que sur la validité et l’interprétation des décisions (et recommendations) prises par les institutions (de la Communauté). Lorsqu’une telle question est soulevée devant un tribunal d’un des Etats membres, ce tribunal, s’il estime qu’une décision sur ce point est nécessaire pour rendre son jugement, demande à la Cour de statuer sur cette question et se conforme à l’arrêt de celle-ci.927

Die dritte Variante, die schließlich mit nur geringfügigen Änderungen in den Vertrag aufgenommen wurde, hatte folgende Fassung: La Cour de Justice est compétente pour statuer, à titre préjudiciel, sur l’interprétation du présent Traité ainsi que sur la validité et l’interprétation des décisions (et recommendations) prises par les institutions (de la Communauté). Lorsqu’une telle question est soulevée devant un tribunal d’un des Etats membres, ce tribunal peut, s’il estime qu’une décision sur ce point est nécessaire pour rendre son jugement, demander à la Cour de Justice de statuer sur cette question. 924 Vgl. hierzu die Dokumentation von Neri / Sperl, Traité CEE / Travaux préparatoires, S. 376 f.; ausführlich zur ursprünglichen Entstehungsgeschichte von Art. 234 Funke, SEW 1965, 516 ff. 925 Doc. MAE 813 f / 56 vom 15. 12. 1956 (die Zitierung der Dokumente erfolgt nach Funke, SEW 1965, 516 ff.). – In der im Spaak-Bericht enthaltenen abstrakten Umschreibung der Aufgaben des EuGH findet sich noch kein Hinweis auf das Vorabentscheidungsverfahren; vgl. Funke, ebd., 516. 926 Bemerkenswerterweise wurde die erste Variante vor ihrer Ablehnung noch dahingehend geändert, daß die Befugnis zur Auslegung des Sekundärrechts gestrichen (!) wurde (Doc. MAE 101 / 57 vom 14. 1. 1957; vgl. hierzu und zu weiteren geringfügigen Änderungen Funke, SEW 1965, 516 [518]). 927 Auch die zweite Variante wurde vor ihrer Ablehnung geändert, indem die Regelung über die Bindungswirkung der Vorabentscheidung gestrichen wurde (Doc. MAE 101 f / 57 vom 14. 1. 1957; vgl. hierzu und zu weiteren geringfügigen Änderungen Funke, SEW 1965, 516 [518]).

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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Lorsqu’une telle question est soulevée dans une affaire sur laquelle un tribunal d’un des Etats membres est appelé à statuer en dernier ressort, ce tribunal est tenu de saisir la Cour de Justice.

Der Verzicht auf die Einführung einer ausschließlichen Auslegungsbefugnis des EuGH, wie sie in den Varianten 1 und 2 vorgesehen war, deutet darauf hin, daß den nationalen Gerichten grundsätzlich die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts einschließlich seiner Interpretation obliegt, sofern sie im Rahmen eines von ihnen zu entscheidenden Rechtsstreits gemeinschaftsrechtliche Fragen zu klären haben. Zudem enthält die Ablehnung einer ausschließlichen Auslegungsbefugnis des EuGH den Verzicht auf eine umfassende Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts in dem Maße, in dem sie divergierende Entscheidungen nicht vorlagepflichtiger Gerichte ermöglicht. Die Entstehungsgeschichte stützt somit die hier entwickelte Bedeutungshypothese insbesondere hinsichtlich der Funktion der nationalen Gerichte als erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte und im Hinblick darauf, daß die prozedurale Absicherung des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren nicht die Verhinderung jeder Beeinträchtigung der Einheitlichkeit verlangt. Die Entscheidung gegen die eher auf eine Unsicherheit oder einen Zweifel hindeutende Formulierung ,mettrait en cause‘ in der ersten Variante und die Aufnahme der auf den ersten Blick eher neutral erscheinenden Wendung ,question est soulevée‘ kann nicht als Verzicht auf das Erfordernis eines Problems bzw. einer Schwierigkeit der Auslegung gedeutet werden. Es wurde bereits dargelegt, daß der Ausdruck ,question‘ in Art. 234 kein (neutrales) Ersuchen bezeichnet, sondern mit der Bedeutung ,Schwierigkeit, Problem‘ verwendet wird.928 (2) Spätere Änderungsvorschläge Art. 234 ist – mit Ausnahme einer hier nicht relevanten Änderung929 – seit Inkrafttreten des Vertrages unverändert geblieben. Im Rahmen der Vorarbeiten zum Vertrag von Nizza wurden zwar verschiedene Vorschläge zu seiner Änderung vorgelegt; sie wurden jedoch schließlich abgelehnt. Von Interesse ist dabei zunächst der Vorschlag, in Art. 234 eine ausdrückliche Regelung über die Aufgabe nationaler Gerichte aufzunehmen, im Rahmen der von ihnen zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten das Gemeinschaftsrecht anzuwenden.930 Dieser Vorschlag zielte auf eine Stärkung der Funktion der nationalen Gerichte als Gemeinschaftsgerichte erster Instanz.931 Aus seiner NichtberücksichtiVgl. hierzu näher oben B. II. 1. a) (3). Durch den Vertrag von Maastricht wurden die Handlungen der Europäischen Zentralbank zu den überprüfbaren Handlungen i. S. v. Art. 234 Abs. 1 lit. b) hinzugefügt; vgl. Art. G Nr. 56 des Vertrages von Maastricht (ABl. 1992 C 191 / 1 [35]). 930 Art. 234 Abs. 1 n. F. in dem Vorschlag der Reflexionsgruppe; vgl. Bericht der Reflexionsgruppe, EuGRZ 2001, 523 (534); ebenso Art. 234 Abs. 1 n. F. in dem Vorschlag der Kommission, Ergänzender Beitrag der Kommission, S. 13. 928 929

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

gung könnte der Schluß gezogen werden, eine solche Stärkung, zu der auch eine Restriktion der Auslegungsbefugnis des EuGH wie die hier vorgeschlagene beitrüge, werde von den Mitgliedstaaten in ihrer Eigenschaft als Vertragsparteien nicht gebilligt. Eine solche Deutung übersieht jedoch, daß die vorgeschlagene Änderung lediglich deklaratorische Wirkung hätte, da die nationalen Gerichte das Gemeinschaftsrecht seit jeher anwenden müssen, soweit es in den von ihnen zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten einschlägig ist.932 Nicht aufgenommen wurde zudem der Vorschlag, die Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte an die Wichtigkeit der Frage für das Gemeinschaftsrecht sowie das Vorliegen eines vernünftigen Zweifels zu knüpfen und den nicht zur Vorlage verpflichteten Gerichten aufzugeben, nach denselben Kriterien die Zweckmäßigkeit einer von ihnen ins Auge gefaßten Vorlage zu beurteilen.933 Auch diese Änderung hätte, soweit sie das Bestehen der Vorlagepflicht an das Vorliegen eines vernünftigen Zweifels knüpft, insoweit lediglich deklaratorische Wirkung, als eine entsprechende Einschränkung vom EuGH bereits seit längerer Zeit anerkannt ist.934 Im übrigen sollte sich von selbst verstehen, daß unterinstanzliche Gerichte bei der Beurteilung der Zweckmäßigkeit einer Vorlage berücksichtigen, inwieweit die Antwort auf die gestellte Frage tatsächlich zweifelhaft ist. Allerdings spricht die Nichtberücksichtigung des Vorschlags, die Wichtigkeit der aufgeworfenen Auslegungsfrage für das Gemeinschaftsrecht als Voraussetzung einer Vorlage anzuerkennen, gegen die hier entwickelte Bedeutungshypothese: Wenn die Wichtigkeit der Frage schon für die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte oder nur das Vorlageermessen sonstiger Gerichte keine Rolle spielen soll, dann gilt dies a fortiori für die Auslegungsbefugnis des EuGH als solche. Man muß sich insoweit freilich nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, welche Aussagekraft das Übergehen eines Änderungsvorschlags hat, um diesen Einwand zurückweisen zu können: Als Erwägung des Entstehungsarguments kann er sich aufgrund seiner geringen Überzeugungskraft gegen die Erwägungen insbesondere des Ziel- und des Systemarguments, die die hier entwickelte Bedeutungshypothese tragen, ohnehin nicht durchsetzen.935 Vgl. Bericht der Reflexionsgruppe, EuGRZ 2001, 523 (526). Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 9. 3. 1978, Rs. 106 / 77 – Staatliche Finanzverwaltung / Simmenthal, Slg. 1978, 629, Rn. 21 und 24 (644 f.), und vom 14. 12. 1995, Rs. C-312 / 93 – Peterbroeck, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12 (I-4620 f.), sowie Beschluß vom 13. 7. 1990, Rs. C-2 / 88 Imm – Zwartveld u. a., Slg. 1990, I-3365, Rn. 18 (I-3372). – Hierauf weist auch die Kommission in ihrem Ergänzenden Beitrag, S. 5, hin; ebenso Bericht der Reflexionsgruppe, EuGRZ 2001, 523 (526). 933 Art. 234 Abs. 3 und 4 n. F. im Vorschlag der Reflexionsgruppe; Bericht der Reflexionsgruppe, EuGRZ 2001, 523 (534). Gegen eine solche Änderung Ergänzender Beitrag der Kommission, S. 5 f. 934 Vgl. Urteile vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 16 (3430), und vom 17. 5. 2001, Rs. C-340 / 99 – TNT Traco, Slg. 2001, I-4109, Rn. 35 (I-4157). 935 Vgl. zur geringen Überzeugungskraft des Entstehungsarguments näher oben § 7 A. V. 2. 931 932

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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f) Ergebnis zur Begründung mit Hilfe der Interpretationsargumente Für die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 sprechen die überwiegenden Interpretationsargumente. Das Indizargument stützt eine Beschränkung der Auslegungsbefugnis des EuGH dahingehend, daß diese sich nicht auf die Beantwortung jeder nur denkbaren Anfrage nach der Auslegung eines gemeinschaftsrechtlichen Normtextes erstreckt. Es spricht zudem für die Respektierung eines substantiellen Entscheidungsspielraums des vorlegenden Gerichts und damit für eine Beschränkung der Auslegungsintensität bei der Beantwortung von Präzisierungsfragen. Das Zielargument verlangt eine Interpretation von Art. 234 Abs. 1, die die Verwirklichung der mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele ermöglicht. Dem trägt die hier entwickelte Bedeutungshypothese dadurch Rechnung, daß sie ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis stets dann annimmt, wenn dies zur Verwirklichung der genannten Ziele im gemeinschaftsrechtlich gebotenen Umfang erforderlich ist. Die mit ihr verbundene Konsequenz, Vorlagefragen nicht zu beantworten, wenn wegen fehlenden Auslegungsbedürfnisses die Auslegungsbefugnis des EuGH zu verneinen ist, beeinträchtigt die Effizienz des Vorabentscheidungsverfahrens und damit die Verwirklichung der mit dessen Durchführung verfolgten Ziele nicht. Im Rahmen des Systemarguments lassen sich Art. 5 Abs. 1, der die Befugnisse der Gemeinschaft auch durch deren Ziele begrenzt, und Art. 5 Abs. 3, nach dem die Maßnahmen der Gemeinschaft nicht über das zur Erreichung dieser Ziele erforderliche Maß hinausgehen, für die hier entwickelte Bedeutungshypothese anführen. Diese wird zudem durch die in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 verankerte Pflicht der Mitgliedstaaten gestützt, der Gemeinschaft die Erfüllung von deren Aufgabe zu erleichtern. Sie ist ferner in terminologischer Hinsicht mit anderen Normtexten stimmig und verursacht keine bleibenden inhaltlichen Diskrepanzen im Verhältnis zu Art. 234 Abs. 2, zu Art. 220, zu Art. 68 Abs. 2 EGV und Art. 35 Abs. 5, Art. 46 EUV sowie zu Art. 104 § 3 VfO. Die Ausgestaltung einiger in den Grundzügen mit dem Vorabentscheidungsverfahren vergleichbarer Verfahren in anderen Rechtsordnungen legt es nahe, aus der Auslegungsbefugnis des EuGH die Beantwortung völlig unproblematischer Fragen und die Behandlung solcher Vorlagen auszunehmen, die für die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts nur von untergeordneter Bedeutung sind. Das Entstehungsargument gibt einen Hinweis auf die Funktion der nationalen Gerichte als funktionale Gemeinschaftsgerichte erster Instanz und deutet zudem darauf hin, daß mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren nicht die Verhinderung jeglicher Beeinträchtigung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts angestrebt wird. Aus der Nichtberücksichtigung von Änderungsvorschlägen im Rahmen der Verhandlungen über den Vertrag von Nizza, die eine teilweise in die Richtung der hier entwickelten Bedeutungshypo-

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

these gehende Modifikation von Art. 234 Abs. 1 betrafen, läßt sich kein durchschlagendes Argument gegen das hier vorgeschlagene Verständnis von Art. 234 Abs. 1 ableiten. 2. Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsgrenzen a) Gegenüber dem EGV vorrangiges Recht Im vorliegenden Zusammenhang spielt als vorrangiges Recht nur die EMRK eine Rolle. Nach deren Art. 6 Abs. 1 Satz 1 hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb angemessener Frist von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört wird, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen Anklage zu entscheiden hat.936 Die aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK folgenden Anforderungen an die verfahrensrechtliche Ausgestaltung gerichtlicher Verfahren werden durch das hier vertretene Verständnis von Art. 234 Abs. 1 von vornherein nicht berührt.937 Klärungsbedürftig erscheint jedoch, ob die hier vorgeschlagene Interpretation von Art. 234 Abs. 1 angesichts der mit ihr verbundenen Restriktion der Auslegungsbefugnis des EuGH mit dem ebenfalls von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährleisteten Recht auf Zugang zu einem gerichtlichen Verfahren vereinbar ist.938 Ein solcher Zugang ist jedoch bereits nach dem derzeitigen Verständnis von Art. 234 Abs. 1 nicht gegeben, da ausschließlich das mit dem Ausgangsrechtsstreit befaßte Gericht darüber entscheidet, ob und zu welchen Auslegungsfragen es den EuGH um eine Vorabentscheidung ersuchen will.939 Darüber hinaus erfüllt das 936 Vgl. zur Reichweite dieses Rechts nach der Rechtsprechung des EuGH insbesondere Urteile vom 17. 12. 1998, Rs. C-185 / 95 P – Baustahlgewebe / Kommission, Slg. 1998, I-8417, Rn. 20 f. (I-8496) m. w. N. (dazu Schlette, EuGRZ 1999, 369 ff.), und vom 11. 1. 2000, verb. Rs. C-174 / 98 P und C-189 / 98 P – Niederlande und van der Wal / Kommission, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (I-61 f.). – Die gemeinschaftsrechtliche Garantie geht insoweit über die aufgrund von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährten Rechte hinaus, als sie auch rein verwaltungsrechtliche Gerichtsverfahren erfaßt; vgl. hierzu GA Ruiz-Jarabo Colomer, Schlußanträge vom 26. 11. 1996, verb. Rs. C-65 / 95 und C-111 / 95 – Shingara und Radiom, Slg. 1997, I-3345, Rn. 75 (I-3363; vgl. auch dort Fn. 24 [I-3362]). 937 Die Einhaltung dieser Anforderungen durch das Vorabentscheidungsverfahren wird in neuerer Zeit zunehmend in Frage gestellt, da die Parteien des Ausgangsrechtsstreits grundsätzlich keine Möglichkeit haben, zu den Schlußanträgen des Generalanwalts Stellung zu nehmen; vgl. erstmals EuGH, Beschluß vom 4. 2. 2000, Rs. C-17 / 98 – Emesa Sugar, Slg. 2000, I-665 (dazu Benoît-Rohmer, CDE 2001, 403 ff.; Mehdi, JDI 2001, 600 ff.; Schilling, ZaöRV 2000, 395 ff.); ferner EuGH, Urteil vom 10. 2. 2000, verb. Rs. C-234 / 96 und C-235 / 96 – Deutsche Telekom, Slg. 2000, I-799, Rn. 25 ff. (I-813 ff.). 938 Zur Reichweite dieses Rechts Jacobs, Mélanges Schockweiler, S. 197 ff.; ferner Frowein / Peukert, EMRK, Art. 6, Rn. 53; IKEMRK / Miehsler / Vogler, Art. 6, Rn. 271 ff.; LR / Gollwitzer, Art. 6 EMRK / Art. 14 IPBPR, Rn. 42 ff. 939 Vgl. hierzu bereits oben B. II. 1. a) (2) (a).

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

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Vorabentscheidungsverfahren nicht die aus dem Recht auf Zugang zu einem gerichtlichen Verfahren abgeleitete Anforderung, daß in diesem Verfahren eine Entscheidung in der Sache selbst zu treffen ist,940 da es lediglich ein Zwischenverfahren ist, in dem nur eine begrenzte Fragestellung geklärt wird.941 Als Verfahren, in dem in der Sache selbst entschieden wird und zu dem folglich nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK der Zugang eröffnet sein muß, ist daher in erster Linie der Ausgangsrechtsstreit vor dem nationalen Gericht anzusehen.942 Dem entspricht es, daß nach ständiger Rechtsprechung der Straßburger Konventionsorgane aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK grundsätzlich kein Anspruch auf eine Vorlage an den EuGH folgt und allenfalls das willkürliche Unterlassen einer solchen Vorlage einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK begründen kann.943 Eine willkürliche Beschränkung der Vorlagemöglichkeit hat die hier vorgeschlagene Interpretation von Art. 234 Abs. 1 jedoch nicht zur Folge, so daß ihr Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK nicht entgegensteht. b) Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV Die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 hält sich auch an die Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV. Sie konfligiert nicht mit den vertraglichen Zielsetzungen, sondern trägt ihnen im Gegenteil durch die Anbindung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses an die mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele Rechnung. Die Supranationalität der Gemeinschaft wird durch sie nicht beeinträchtigt, die vertragliche Begrenzung des Aufgaben- und Befugnisbereichs der Gemeinschaft nicht ausgehebelt. Fraglich könnte allenfalls sein, ob die hier vertretene Konzeption die Integrationsdynamik des Gemeinschaftsrechts hinreichend beachtet, da sie sich auf 940 Vgl. IKEMRK / Miehsler / Vogler, Art. 6, Rn. 271; LR / Gollwitzer, Art. 6 EMRK / Art. 14 IPBPR, Rn. 50. 941 Vgl. zur Eigenschaft des Vorabentscheidungsverfahren als Zwischenverfahren bereits oben B. II. 1. a) (2) (b). 942 Bereits aus der Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens folgt, daß (effektiver) Rechtsschutz grundsätzlich von nationalen Gerichten zu gewähren ist; vgl. GA Jacobs, Schlußanträge vom 15. 5. 1995, verb. Rs. C-430 / 93 und C-431 / 93 – Van Schijndel und van Veen, Slg. 1995, I-4707, Rn. 30 (I-4716 f.); Tonne, Effektiver Rechtsschutz, S. 265 f. Im Hinblick auf den Rechtsschutz vor nationalen Gerichten wirken daher Art. 234 EGV und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK in dieselbe Richtung. 943 Vgl. etwa EKMR, Entscheidungen vom 12. 5. 1993, DIVAGSA / Spanien, und vom 9. 4. 1997, Argyriou / Griechenland; EGMR, Teilentscheidungen vom 23. 3. 1999, Desmots / Frankreich, und vom 8. 6. 1999, Predil Anstalt SA / Italien, sowie Entscheidung vom 4. 11. 2001, Canela Santiago / Spanien (sämtliche Entscheidungen sind im Internet abrufbar unter ). – Meilicke, BB 2000, 17 (23), verneint die Möglichkeit einer Verletzung der EMRK durch willkürliche Nichtvorlage an den EuGH, da die EG nicht Mitglied der EMRK sei. Hierauf kommt es jedoch nicht an, da die Nichtvorlage kein Unterlassen eines Gemeinschaftsorgans, sondern eines nationalen Gerichts ist, das zweifellos an die EMRK gebunden ist.

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

die Auslegungsbefugnis des EuGH in der Tendenz restriktiv auswirkt und die Befugnisse der nationalen Gerichte hervorhebt. Hiermit ist jedoch kein Zurückfallen hinter den gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts verbunden. Die stärkere eigenverantwortliche Einbindung der nationalen Gerichte in die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts ist keine „Renationalisierung“ von Gemeinschaftsbefugnissen, sondern im Gegenteil die Verwirklichung der im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem angelegten, von der Integrationsdynamik angestrebten Aufgabenverteilung zwischen EuGH und nationalen Gerichten. Diese sind funktional erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte; in erster Linie kommt ihnen und nicht dem EuGH die Aufgabe zu, das Gemeinschaftsrecht in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten durchzusetzen.944 Daher entspricht die hier vertretene Konzeption der Integrationsdynamik des Gemeinschaftsrechts eher, als daß sie ihr entgegensteht.945

c) Grenzfunktion des Normtextes Die hier vorgeschlagene Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 baut auf den Grundgedanken der bisherigen Rechtsprechung auf und entwickelt diese kontinuierlich weiter. Sie befindet sich insbesondere im Hinblick auf die Möglichkeit der Zurückweisung von Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung. Zwar hebt der EuGH in ständiger Rechtsprechung hervor, daß die nationalen Gerichte ein unbeschränktes Recht zur Vorlage an den Gerichtshof haben, wenn sie der Auffassung sind, daß der Ausgangsrechtsstreit eine Frage nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwirft.946 In ebenso ständiger Rechtsprechung betont er jedoch auch, daß sie bei der Entscheidung über die Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens die dem EuGH übertragene Aufgabe zu berücksichtigen haben,947 also die Reichweite seiner Befugnisse (be)achten Vgl. hierzu bereits ausführlich oben § 5 B. I. In diesem Sinne weist Boulouis, Mélanges Teitgen, S. 23 (31), völlig zu Recht darauf hin, daß ein Rückgang der Zahl der Vorabentscheidungsersuchen keineswegs ein schlechtes Zeichen sein müsse, sondern gerade im Gegenteil den Erfolg der Integration bestätige, wenn es Ausdruck der (richtig verstandenen) Selbständigkeit der nationalen Gerichte sei. 946 Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 21. 4. 1988, Rs. 338 / 85 – Pardini / Ministero del commercio con l’estero, Slg. 1988, 2041, Rn. 9 (2074), vom 27. 6. 1991, Rs. C-348 / 89 – Mecanarte, Slg. 1991, I-3277, Rn. 44 (I-3313), vom 10. 7. 1997, Rs. C-261 / 95 – Palmisani, Slg. 1997, I-4025, Rn. 20 (I-4044), und vom 16. 6. 1998, Rs. C-53 / 96 – Hermès, Slg. 1998, I-3603, Rn. 31 (I-3648). Kritisch zu dieser Rechtsprechung von Bogdandy, CMLR 1999, 663 (667); Groh / Wündisch, GRUR Int. 2001, 497 (499 f.). 947 Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 20 (3063), vom 16. 7. 1992, Rs. C-343 / 90 – Dias, Slg. 1992, I-4673, Rn. 17 (I-4709), und Rs. C-83 / 91 – Meilicke, Slg. 1992, I-4871, Rn. 25 (I-4933), vom 15. 12. 1995, Rs. C-415 / 93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 60 (I-5059), vom 27. 11. 1997, Rs. C-369 / 95 – Somalfruit und Camar, Slg. 1997, I-6619, Rn. 41 (I-6645), und vom 21. 3. 2002, Rs. C-451 / 99 – Cura Anlagen, Slg. 2002, I-3193, Rn. 26 (I-3227). 944 945

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

223

müssen. Damit ist das Vorlagerecht der nationalen Gerichte gerade nicht unbeschränkt, sondern findet seine Grenze dort, wo eine Vorlagefrage gestellt wird, deren Beantwortung die Auslegungsbefugnis des EuGH überschreitet. Es erstreckt sich also von vornherein nur auf solche Fragen, zu deren Beantwortung der EuGH befugt ist. Daher wird in das Vorlagerecht der nationalen Gerichte auch nicht eingegriffen, wenn sich der EuGH wegen fehlender Auslegungsbefugnis für unzuständig erklärt.948 An diesem Zusammenhang ändert die hier vertretene Konzeption nichts, sondern baut im Gegenteil auf ihm auf. Eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung könnte jedoch insoweit vorliegen, als durch die hier entwickelte Bedeutungshypothese Kriterien für die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH eingeführt werden, die von diesem bisher nicht als solche anerkannt sind. Nach der hier vertretenen Konzeption bestünde daher die Möglichkeit, daß der EuGH sich für unzuständig erklärt, obwohl er nach bisheriger Rechtsprechung seine Auslegungsbefugnis unter vergleichbaren Umständen bejaht. Eine Abweichung liegt allerdings nicht schon dann vor, wenn sich die Rechtsprechung weiterentwickelt, sofern dies in kontinuierlicher Anknüpfung an bisherige Rechtsprechung geschieht. Entscheidend ist daher, inwieweit sich die hier entwickelte Bedeutungshypothese im Hinblick auf die Kriterien für die Reichweite der Auslegungsbefugnis als kontinuierliche Fortschreibung der bisherigen Rechtsprechung deuten läßt. Insoweit ist von Bedeutung, daß der EuGH mehrere im EGV nicht ausdrücklich vorgesehene Einschränkungen seiner Auslegungsbefugnis vorgenommen und zusätzliche Anforderungen an die Zulässigkeit von Vorlagefragen gestellt hat, die er überwiegend unter Verweis auf die mit der Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens verfolgten Ziele rechtfertigt. So verweigert der EuGH die Antwort auf Fragen, die offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehen,949 die im Rahmen eines konstruierten Rechtsstreits gestellt werden950 oder die ein lediglich hypothetisches Problem aufwerfen.951 In allen diesen Fällen beruht die Zurückweisung des Vorlageersuchens auf der Überlegung, daß die vom EuGH vorgenommene Auslegung zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beitragen soll,952 also das Ziel verfolgt, das vorle948 Ausdrücklich ebenso EuGH, Urteil vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 18 (3062 f.). Vgl. zum Verhältnis von Auslegungsbefugnis des EuGH (Art. 234 Abs. 1) und Vorlageermessen der nationalen Gerichte (Art. 234 Abs. 2) bereits oben B. II. 1. c) (2) (b) (i). 949 Vgl. z. B. Urteile vom 15. 3. 1984, Rs. 313 / 82 – Tiel-Utrecht Schadeverzekering / GMWF, Slg. 1984, 1389, Rn. 16 f. (1401 f.), vom 16. 7. 1992, Rs. C-343 / 90 – Dias, Slg. 1992, I-4673, Rn. 42 (I-4714), und vom 13. 12. 1994, Rs. C-297 / 93 – Grau-Hupka, Slg. 1994, I-5535, Rn. 19 f. (I-5551); vgl. ferner Beschluß vom 16. 5. 1994, Rs C-428 / 93 – Monin Automobiles [II], Slg. 1994, I-1707, Rn. 13 ff. (I-1714). 950 Vgl. EuGH, Urteile vom 11. 3. 1980, Rs. 104 / 79 – Foglia / Novello [I], Slg. 1980, 745, und vom 16. 12. 1981, Rs 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045. 951 Vgl. EuGH, Urteil vom 16. 7. 1992, Rs. C-83 / 91 – Meilicke, Slg. 1992, I-4871.

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

gende Gericht bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zu unterstützen. Diese Funktion kann sie jedoch nicht erfüllen, wenn sie entweder wegen fehlenden Bezuges zum Ausgangsrechtsstreit für dessen Ausgang keine Rolle spielt oder wegen des konstruierten Charakters dieses Rechtsstreits von vornherein nicht der Rechtspflege dient.953 Ein weiterer Grund, der die Zurückweisung von Vorlagefragen rechtfertigt, ist die Aufgabe des EuGH, dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort auf die von diesem vorgelegte Frage zu geben. Der EuGH kann diese Aufgabe nur erfüllen, wenn ihm das nationale Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund des Ausgangsrechtsstreits in ausreichendem Umfang erläutert. Tut es dies nicht, erklärt der EuGH das Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig.954 Die hier vertretene Konzeption des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses knüpft in ganz ähnlicher Weise wie der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung an den mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen an, um anhand dieser Ziele die Reichweite der Auslegungsbefugnis des EuGH zu bestimmen. Als Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung ließe sich dies somit nur dann auffassen, wenn die vom EuGH bisher entwickelten Einschränkungen seiner Auslegungsbefugnis abschließend wären. Dies ist jedoch nicht der Fall. Zwar bezeichnet der EuGH in einigen Entscheidungen die Gründe, aus denen er auf die Beantwortung einer Vorlagefrage verzichten kann, als abschließend. Allerdings sind diese Entscheidungen insofern teilweise widersprüchlich, als sie nicht stets dieselben Gründe nennen. So wird etwa in einigen Urteilen die Zurückweisung einer Vorlagefrage nur dann für zulässig erachtet, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits besteht;955 gleichzeitig werden jedoch in anderen Entscheidungen darüber hinaus auch der hypothetische Charakter des zu lösenden Problems oder das Fehlen der erforderlichen Angaben über den tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund des Ausgangsrechtsstreits als zulässige Ablehnungsgründe genannt.956 Zudem 952 Vgl. z. B. EuGH, Urteile vom 16. 12. 1981, Rs. 244 / 80 – Foglia / Novello [II], Slg. 1981, 3045, Rn. 18 (3062 f.), und vom 16. 7. 1992, Rs. C-343 / 90 – Dias, Slg. 1992, I-4673, Rn. 42 (I-4714), und Rs. C-83 / 91 – Meilicke, Slg. 1992, I-4871, Rn. 25 (I-4933). 953 Besonders deutlich EuGH, Urteil vom 12. 3. 1998, Rs. C-314 / 96 – Djabali, Slg. 1998, I-1149, Rn. 18 ff. (I-1162 f.) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung. 954 Vgl. z. B. Urteil vom 26. 1. 1993, verb. Rs. C-320 / 90 bis C-322 / 90 – Telemarsicabruzzo u. a., Slg. 1993, I-393, und Beschluß vom 30. 4. 1998, verb. Rs. C-128 / 97 und C-137 / 97 – Testa und Modesti, Slg. 1998, I-2181. Die Beantwortung einer einzelnen Vorlagefrage wegen fehlender Angaben lehnte der EuGH bereits 1977 ab; vgl. Urteil vom 3. 2. 1977, Rs. 52 / 76 – Benedetti / Munari, Slg. 1977, 163, Rn. 20 / 22 (182). 955 Vgl. z. B. Urteile vom 6. 7. 1995, Rs. C-62 / 93 – BP Soupergaz, Slg. 1995, I-1883, Rn. 10 (I-1912 f.) m. w. N. aus der früheren Rechtsprechung, vom 10. 7. 1997, Rs. C-261 / 95 – Palmisani, Slg. 1997, I-4025, Rn. 18 (I-4044), vom 22. 6. 2000, Rs. C-318 / 98 – Fornasar u. a., Slg. 2000, I-4785, Rn. 27 (I-4823 f.), und vom 5. 12. 2000, Rs. C-448 / 98 – Guimont, Slg. 2000, I-10663, Rn. 22 (I-10688).

§ 8 Interpretation von Art. 234 Abs. 1

225

sieht der EuGH zum Teil die Gründe für die Zurückweisung einer Vorlagefrage als nicht abschließend an957 und läßt in zahlreichen Urteilen die Frage nach dem abschließenden Charakter der Ablehnungsgründe zumindest implizit offen.958 Die Rechtsprechung des EuGH in dieser Frage ist damit zu uneinheitlich, als daß die Gründe, aus denen die Auslegungsbefugnis des EuGH zu verneinen ist, als abschließend angesehen werden könnten. Darüber hilft auch nicht der Grundsatz der restriktiven Interpretation von Ausnahmen hinweg. Zwar sieht der EuGH die Verneinung seiner Auslegungsbefugnis im Vorabentscheidungsverfahren ausdrücklich als Ausnahme an.959 Die restriktive Interpretation einer solchen Ausnahme ist jedoch kein Selbstzweck, sondern stets auf den Regelfall bezogen, von dem abgewichen wird. Sie soll sicherstellen, daß der Regelfall bzw. der Grundsatz, von dem eine Ausnahme gemacht wird, gewahrt bleibt und nicht ausgehöhlt wird.960 Für das Vorabentscheidungsverfahren heißt dies, daß die Auslegungsbefugnis des EuGH nicht so weit eingeschränkt werden darf, daß die mit ihrer Ausübung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele nicht mehr im gebotenen Umfang verwirklicht werden können. Gerade dies wird aber durch die Anknüpfung des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses an diese Ziele verhindert. Die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 stellt daher keine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung dar. Sie baut vielmehr auf deren Strukturen und Grundgedanken auf, indem sie die Einschränkungen der Auslegungsbefugnis an die mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele anknüpft. Damit schreibt sie die bisherige Rechtsprechung kontinuierlich fort. Selbst wenn man diese Einschätzung nicht teilt und die hier vertretene Konzeption als Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung ansieht, beachtet sie die Grenzfunktion des Normtextes, da für eine Ausgestaltung der Auslegungsbefugnis des EuGH im Sinne des hier vertretenen Ansatzes Gründe von erheblichem Gewicht sprechen. Es wurde bereits dargelegt, daß sämtliche gegen eine Vorlage sprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben im Vergleich zu der Zeit, in der der 956 Vgl. z. B. Urteile vom 29. 6. 1999, Rs. C-60 / 98 – Butterfly Music, Slg. 1999, I-3939, Rn. 13 (I-3963), vom 21. 10. 1999, Rs. C-97 / 98 – Jägerskiöld, Slg. 1999, I-7319, Rn. 21 (I-7340), vom 18. 11. 1999, Rs. C-275 / 98 – Unitron Scandinavia und 3-S, Slg. 1999, I-8291, Rn. 18 (I-8313), und vom 13. 3. 2001, Rs. C-379 / 98 – PreussenElektra, Slg. 2001, I-2099, Rn. 39 (I-2176). 957 Vgl. Urteil vom 16. 7. 1992, Rs. C-343 / 90 – Dias, Slg. 1992, I-4673, Rn. 18 (I-4709). 958 Vgl. z. B. Urteile vom 9. 2. 1995, Rs. C-412 / 93 – Leclerc-Siplec, Slg. 1995, I-179, Rn. 13 (I-215), vom 15. 12. 1995, Rs. C-415 / 93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 61 (I-5059 f.), vom 9. 3. 2000, Rs. C-437 / 97 – EKW und Wein & Co, Slg. 2000, I-1157, Rn. 52 (I-1208), und vom 11. 7. 2000, Rs. C-36 / 99 – Idéal Tourisme, Slg. 2000, I-6049, Rn. 20 (I-6070). 959 Vgl. Urteil vom 26. 9. 2000, Rs. C-322 / 98 – Kachelmann, Slg. 2000, I-7505, Rn. 17 (I-7527). 960 Vgl. EuGH, Beschluß vom 5. 4. 2001, Rs. C-518 / 99 – Gaillard, Slg. 2001, I-2771, Rn. 14 (I-2780), und Urteil vom 3. 10. 2000, Rs. C-303 / 98 – Simap, Slg. 2000, I-7963, Rn. 34 (I-8022).

15 Groh

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Teil 2: Interpretative Einbeziehung der zielorientierten Konzeption

EuGH die grundlegenden Weichenstellungen für die Aufgabenverteilung im Vorabentscheidungsverfahren stellte, erheblich an Gewicht gewonnen haben.961 In ihrer Gesamtheit wiegen sie beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts so schwer, daß sie auch eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung in dem Umfang rechtfertigen können, der mit der hier entwickelten Konzeption verbunden sein kann.

d) Ergebnis zur Einhaltung der Interpretationsgrenzen Die hier vorgeschlagene Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 beachtet die aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK als gegenüber dem EGV vorrangigem Recht folgenden Grenzen und die Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV. Sie hält auch die Grenzfunktion des Normtextes ein, da sie die bisherige Rechtsprechung kontinuierlich fortschreibt und zudem gewichtige Gründe für sie sprechen, die selbst eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung rechtfertigen können.

III. Ergebnis: Die Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 Die hier entwickelte Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1 wird von den überwiegenden Interpretationsargumenten gestützt und hält sich in den Grenzen zulässiger Interpretation. Sie erweist sich damit als beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts zutreffende Bedeutung von Art. 234 Abs. 1. Dieser ist daher wie folgt zu verstehen: Der EuGH entscheidet im Wege der Vorabentscheidung über Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Eine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts liegt vor, soweit ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis besteht. Dies ist der Fall, soweit die Verwirklichung der mit dem Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele im gemeinschaftsrechtlich gebotenen Umfang es erfordert, den nationalen Gerichten die Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH zu eröffnen.

961 Vgl. für die Funktion der nationalen Gerichte als funktionale Gemeinschaftsgerichte erster Instanz oben § 5 B. I., für die Notwendigkeit einer Begrenzung der Arbeitslast des EuGH oben § 5 B. II. und für das Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer oben § 5 B. III.

Ergebnis und Ausblick § 9 Zusammenfassendes Ergebnis I. Die Befugnis zur Auslegung gemeinschaftsrechtlicher Normtexte im Vorabentscheidungsverfahren wird dem EuGH durch Art. 234 Abs. 1 zugewiesen. Art. 234 Abs. 2 und 3 enthalten demgegenüber lediglich Ausübungsvoraussetzungen der in Abs. 1 zugewiesenen Befugnis. Diese verleiht dem EuGH kein (allgemeines) Auslegungsmonopol, sondern lediglich ein Auslegungsprivileg. II. Die überkommene Auffassung, nach der die Auslegungsbefugnis des EuGH anhand der Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung näher bestimmt und von den Befugnissen der nationalen Gerichte abgegrenzt werden soll, wird der vom EuGH im Vorabentscheidungsverfahren zu erfüllenden Aufgabe nicht gerecht. Erstens orientiert sie sich an Begriffen, die einem völlig anderen Sachbereich als dem gemeinschaftsrechtlichen Prozeßrecht entstammen und zu anderen Zwecken als einer Befugnisabgrenzung gebildet wurden. Zweitens reduziert sie die Abgrenzung in methodologisch fragwürdiger Weise auf einen einzelnen Ausdruck der Befugniszuweisung und stützt sich praktisch ausschließlich auf ein einzelnes Interpretationsargument. Drittens übersieht sie, daß der EuGH zwar verbal an der Dichotomie zwischen Auslegung und Anwendung festhält, sich jedoch inhaltlich längst von ihr verabschiedet hat. III. 1. Die Reichweite der dem EuGH in Art. 234 Abs. 1 zugewiesenen Befugnis kann nur dann sachgerecht bestimmt werden, wenn dabei an den mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen angesetzt wird. Als erstes Ziel ist insoweit die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu nennen, für deren Verwirklichung Art. 234 Abs. 3 besondere Bedeutung zukommt. Das zweite mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgte Ziel ist die Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts; es wird in erster Linie durch Art. 234 Abs. 2 verwirklicht. Als drittes mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgtes Ziel ist der Schutz individueller Rechtspositionen anzuerkennen. Die genannten Ziele stehen in der aufgeführten Reihenfolge in einem Rangverhältnis. Mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren wird somit in erster Linie das Ziel verfolgt, die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu wahren; erst an zweiter Stelle soll sie die nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts unterstützen und an dritter Stelle individuelle Rechtspositionen schützen. 15*

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Ergebnis und Ausblick

2. Die mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele stehen in einem Spannungsverhältnis zu gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben, die gegen eine Vorlage sprechen. Die erste dieser Vorgaben ist die Funktion der nationalen Gerichte als erstinstanzliche Gemeinschaftsgerichte, aufgrund derer die Gerichte der Mitgliedstaaten verpflichtet sind, das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich eigenverantwortlich durchzusetzen und die von ihm verliehenen individuellen Rechte effektiv zu schützen. Vorlagen an den EuGH erscheinen aus dieser Perspektive als Ausnahme. Gegen eine Vorlage spricht ferner die Notwendigkeit, die Arbeitslast des EuGH auf ein Maß zu beschränken, das diesem die Aufrechterhaltung einer funktionierenden Rechtspflege ermöglicht. Schließlich ist gegen eine Vorlage das Gebot der Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer anzuführen. 3. Das Spannungsverhältnis zwischen den mit der Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Zielen einerseits und den gegen eine Vorlage sprechenden gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben andererseits ist im Wege einer Abwägung aufzulösen. Soweit sich dabei die Ziele durchsetzen können, ist ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis anzuerkennen, das rechtfertigender Grund und gleichzeitig Grenze der Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren ist. Zu bejahen ist ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis zunächst im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts, wenn der Verzicht auf eine Vorlage an den EuGH zu mehr als nur geringfügigen Beeinträchtigungen dieser Einheitlichkeit führt. Liegt bereits lösungsrelevante Rechtsprechung des EuGH vor, an der sich das nationale Gericht orientiert, ist von Geringfügigkeit in diesem Sinne auszugehen, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage (1) mit einer bereits beantworteten übereinstimmt, wenn sie (2) auf die weitere Präzisierung der lösungsrelevanten Rechtsprechung gerichtet ist, ihre Beantwortung aber wegen zu starker Orientierung an den konkreten Umständen des Ausgangsrechtsstreits nicht mehr für eine erhebliche Anzahl anderer Rechtsstreite verwertbar wäre, oder wenn sie (3) einen Normtext betrifft, zu dem bereits gefestigte Rechtsprechung des EuGH besteht, deren ratio decidendi in nicht ernsthaft zu bezweifelnder Weise auf das im Ausgangsrechtsstreit zu beurteilende Geschehen übertragen werden kann. Fehlt demgegenüber lösungsrelevante Rechtsprechung des EuGH, sind etwaige Beeinträchtigungen der Einheitlichkeit nur geringfügig, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage (1) einen sekundärrechtlichen Normtext betrifft und zweifelsfrei zu beantworten ist, wenn sie (2) lediglich für vereinzelte Ausgangsrechtsstreite relevant ist oder wenn sie sich (3) auf unverbindliche Handlungen bezieht. Liegt das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis nicht schon im Hinblick auf die Wahrung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts vor, so ist es gleichwohl hinsichtlich der Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich zu bejahen, sofern diese Gerichte bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts vor besonderen Schwierigkeiten stehen. Solche liegen von vornherein nicht vor, wenn die aufgeworfene Auslegungsfrage

§ 9 Zusammenfassendes Ergebnis

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mit einer bereits beantworteten übereinstimmt oder wenn die ratio decidendi lösungsrelevanter Rechtsprechung in nicht ernsthaft zu bezweifelnder Weise auf das im Ausgangsrechtsstreit zu beurteilende Geschehen übertragen werden kann. Sie sind jedoch anzuerkennen, wenn (1) die vom nationalen Gericht zu vergleichenden Sprachfassungen des zu interpretierenden Normtextes untereinander erkennbar divergieren, wenn (2) der zu interpretierende Normtext einen Ausdruck enthält, der im nationalen Recht nicht existiert oder mit einer ersichtlich anderen Bedeutung verwendet wird, wenn (3) der Einsatz des Ziel- oder des Systemarguments gerade wegen der Zugehörigkeit des zu interpretierenden Normtextes zum Gemeinschaftsrecht erhöhte Anforderungen an die nationalen Gerichte stellt bzw. die Interpretation wegen der hohen Entwicklungsgeschwindigkeit des Gemeinschaftsrechts mit größeren Unsicherheiten verbunden ist, wenn (4) die aufgeworfene Auslegungsfrage die (Weiter-)Entwicklung von Rechtsgrundsätzen betrifft oder wenn (5) in einer Übergangszeit nach dem Beitritt neuer Staaten zur Gemeinschaft deren Gerichte gemeinschaftsrechtliche Normtexte zu interpretieren haben. Trotz des Vorliegens besonderer Schwierigkeiten bei der Interpretation des Gemeinschaftsrechts ist ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis allerdings zu verneinen, wenn eine weitere Ausdifferenzierung der Rechtsprechung die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts eher beeinträchtigte als sicherte. Liegt das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis auch nicht aus Gründen der Unterstützung der nationalen Gerichte bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts vor, ist es im Hinblick auf den Schutz individueller Rechtspositionen zu bejahen, wenn eine Vorlage an den EuGH zu einem erheblichen Zuwachs an Rechtsschutzqualität führt. Dies ist der Fall, wenn die Beantwortung der aufgeworfenen Auslegungsfrage im Ausgangsrechtsstreit zu einer schweren und irreparablen Verletzung hochwertiger Rechtsgüter führen kann. Auch hier ist das gemeinschaftsrechtliche Auslegungsbedürfnis jedoch trotz des mit einer Vorlage an den EuGH verbundenen erheblichen Zuwachses an Rechtsschutzqualität zu verneinen, wenn eine weitere Ausdifferenzierung der Rechtsprechung die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts eher beeinträchtigte als sicherte. IV. Die Konzeption des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses kann im Wege der Interpretation in Art. 234 Abs. 1 einbezogen werden. Unter Interpretation ist dabei die Bestimmung der im Hinblick auf die aufgeworfene Rechtsfrage zutreffenden Bedeutung von Normtexten zu verstehen. Sie ist ein produktiver Vorgang, durch den dem Normtext eine Bedeutung zugeschrieben wird. Die Bedeutungsbestimmung ist mit Hilfe der in der jeweiligen Rechtsordnung zulässigen Interpretationsargumente und unter Beachtung der dort geltenden Interpretationsgrenzen intersubjektiv vermittelbar zu begründen. 1. Als Interpretationsargumente stehen in der gemeinschaftsrechtlichen Methodik fünf Erwägungsmuster zur Verfügung. Das Indizargument stützt eine Bedeutungshypothese damit, daß sie den relevanten semantischen Konventionen entspreche. Seine Überzeugungskraft ist sehr ge-

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Ergebnis und Ausblick

ring. Sie reicht schon aus grundsätzlichen Erwägungen nicht aus, um eine Bedeutungsbestimmung hinreichend zu begründen, und wird zusätzlich in begrenztem Umfang durch die Mehrsprachenauthentizität des Gemeinschaftsrechts, vor allem aber durch dessen dynamische Struktur geschwächt. Das Zielargument begründet eine Bedeutungshypothese damit, daß sie geeignet sei, ein mit dem Normtext verfolgtes Ziel zu verwirklichen. Seine Überzeugungskraft ist sehr stark, da es in besonderem Maße geeignet ist, der dynamischen Struktur des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen. Das Systemargument begründet eine Bedeutungshypothese mit der (formalen) Stellung eines Normtextes innerhalb eines Rechtsakts oder seinem terminologischen und inhaltlichen Zusammenhang mit anderen Normtexten. Dieser betrifft in erster Linie gleichrangige Normtexte, während höherrangige Normtexte als Interpretationsgrenzen und rangniedrigere Normtexte als Indizien für die zutreffende Bedeutung fungieren. Die Überzeugungskraft des Systemarguments ist relativ stark. Das Vergleichsargument verweist zur Begründung einer Bedeutungshypothese auf das Verständnis gleichartiger Normtexte in anderen Rechtsordnungen. Es hat aufgrund der nach wie vor bestehenden Einzigartigkeit der Gemeinschaften nur eine sehr beschränkte Überzeugungskraft. Das Entstehungsargument zieht zur Begründung einer Bedeutungshypothese die Entstehungsgeschichte des Normtextes heran. Es hat wegen seiner rückwärtsgewandten Perspektive eine sehr geringe Überzeugungskraft. 2. Grenzen sind der Interpretation des EGV zunächst durch vorrangige Normtexte gezogen. Als solche sind völkerrechtliche Verträge anzusehen, sofern sie für (fast) alle Mitgliedstaaten Altverträge i. S. v. Art. 307 Abs. 1 sind; dies gilt insbesondere für die EMRK. Darüber hinaus muß jede Interpretation des EGV die Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV beachten, das dessen Zielbestimmungen und die prägenden Strukturen der Gemeinschaft umfaßt. Schließlich ist bei der Vertragsinterpretation die Grenzfunktion des Normtextes zu beachten. Diese besteht nicht in einer sprachlich determinierten „Wortlautgrenze“, da eine solche aus prinzipiellen sprachtheoretischen Gründen nicht existiert und ein bloßer Rückgriff auf sprachliche Kriterien zudem die spezifisch juristische Entscheidungsverantwortung in nicht zu rechtfertigender Weise auf (vermeintliche) sprachliche Gegebenheiten abwälzte. Die Annahme einer „Wortlautgrenze“ ist im Gemeinschaftsrecht zudem wegen dessen Mehrsprachenauthentizität von vornherein illusorisch und darüber hinaus wegen ihrer beharrenden Wirkung der dynamischen Struktur des Gemeinschaftsrechts nicht angemessen. In der gemeinschaftsrechtlichen Methodik ist daher von einem Interpretationsbegriff auszugehen, der auch das in der deutschen Methodik als Rechtsfortbildung bezeichnete Vorgehen umfaßt. Die interpretationsbegrenzende Funktion des Normtextes

§ 9 Zusammenfassendes Ergebnis

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wird dabei durch die präsumtive Verbindlichkeit früherer Entscheidungen des EuGH gewährleistet. Sie verpflichtet zur Bestimmung von Normtextbedeutungen, die die bisherige Rechtsprechung des EuGH kontinuierlich fortschreiben, sofern nicht ausnahmsweise Gründe von erheblichem Gewicht für eine Abweichung von früheren Entscheidungen vorliegen. 3. Der hier entwickelten zielorientierten Konzeption entspricht eine Bedeutungshypothese von Art. 234 Abs. 1, nach der der EuGH zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren nur befugt ist, soweit ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis vorliegt. a) Für diese Bedeutungshypothese sprechen die überwiegenden Interpretationsargumente. Das Indizargument stützt im Hinblick auf den Ausdruck ,Frage‘ eine Beschränkung der Auslegungsbefugnis des EuGH auf die Lösung von Auslegungsschwierigkeiten. Es spricht zudem hinsichtlich des Ausdrucks ,Vorabentscheidung‘ für die Respektierung eines substantiellen Entscheidungsspielraums des vorlegenden Gerichts. Das Zielargument verlangt eine Interpretation von Art. 234 Abs. 1, die die Verwirklichung der mit der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele ermöglicht. Dem wird hier dadurch Rechnung getragen, daß ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis stets dann angenommen wird, wenn dies zur Verwirklichung der genannten Ziele im gemeinschaftsrechtlich gebotenen Umfang erforderlich ist. Die damit verbundene Konsequenz, bestimmte Vorlagefragen wegen fehlenden Auslegungsbedürfnisses nicht zu beantworten, beeinträchtigt die Effizienz des Vorabentscheidungsverfahrens und damit die Verwirklichung der mit dessen Durchführung verfolgten Ziele nicht. Im Rahmen des Systemarguments lassen sich der in Art. 5 Abs. 1 verankerte Grundsatz begrenzter Ermächtigung, der in Art. 5 Abs. 3 niedergelegte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die in Art. 10 Abs. 1 Satz 2 geregelte Pflicht der Mitgliedstaaten, der Gemeinschaft die Erfüllung von deren Aufgabe zu erleichtern, für die hier vorgeschlagene Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 anführen. Diese ist zudem terminologisch und inhaltlich mit anderen Normtexten, insbesondere mit Art. 234 Abs. 2, mit Art. 220, mit Art. 68 Abs. 2 EGV und Art. 35 Abs. 5, Art. 46 EUV sowie mit Art. 104 § 3 VfO, in Einklang zu bringen. Die Ausgestaltung einiger in den Grundzügen mit dem Vorabentscheidungsverfahren vergleichbarer Verfahren in anderen Rechtsordnungen legt es nahe, aus der Auslegungsbefugnis des EuGH die Beantwortung völlig unproblematischer Fragen und die Behandlung solcher Vorlagen auszuklammern, die für die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts nur von untergeordneter Bedeutung sind. Das Entstehungsargument gibt einen Hinweis auf die Funktion der nationalen Gerichte als funktionale Gemeinschaftsgerichte erster Instanz und deutet zudem

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Ergebnis und Ausblick

darauf hin, daß die Auslegung im Vorabentscheidungsverfahren nicht jede noch so geringe Beeinträchtigung der Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts verhindern soll. Aus der Nichtberücksichtigung von Änderungsvorschlägen, die die Rolle der nationalen Gerichte stärken und die Auslegungsbefugnis des EuGH behutsam einschränken wollten, im Rahmen der Verhandlungen über den Vertrag von Nizza läßt sich kein durchschlagendes Argument gegen die hier vorgeschlagene Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 ableiten. b) Die der zielorientierten Konzeption entsprechende Bedeutungshypothese hält die Grenzen zulässiger Interpretation ein. Sie beachtet die aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK folgenden Anforderungen und die Vorgaben des Integrationsprogramms des EGV. Sie hält auch die Grenzfunktion des Normtextes ein, da sie die bisherige Rechtsprechung kontinuierlich fortschreibt und zudem von gewichtigen Gründen getragen ist, die selbst eine Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung rechtfertigen können. 4. Die gegenwärtig zutreffende Bedeutung von Art. 234 Abs. 1 läßt sich daher wie folgt formulieren: Der EuGH entscheidet im Wege der Vorabentscheidung über Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Eine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts liegt vor, soweit ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsbedürfnis besteht. Dies ist der Fall, soweit die Verwirklichung der mit dem Vorabentscheidungsverfahren verfolgten Ziele im gemeinschaftsrechtlich gebotenen Umfang es erfordert, den nationalen Gerichten die Möglichkeit einer Vorlage an den EuGH zu eröffnen.

§ 10 Ausblick In dieser Arbeit wurde bewußt darauf verzichtet, Vorschläge für eine textliche Änderung von Art. 234 zu machen. Aufgrund ihrer Beschränkung auf eine Interpretation von Art. 234 Abs. 1 kann die hier entwickelte Konzeption ohne vorherige Vertragsänderung in die Praxis umgesetzt werden. Dies ist in verbindlicher Weise selbstverständlich nur durch eine Vorabentscheidung des EuGH möglich, der allein zur autoritativen Auslegung von Art. 234 befugt ist.962 Eine auf eine solche Vorabentscheidung zielende Vorlagefrage nach der dem gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts angemessenen Aufgabenverteilung im Vorabentscheidungsverfahren ist zwar für den Ausgangsrechtsstreit nicht entscheidungserheblich.963 Allerdings wäre es geradezu absurd, Fragen zur Auslegung von Art. 234 allein aus diesem Grund zurückzuweisen, da sie für die praktische Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens von ganz erheblicher Vgl. Heß, ZZP 1995, 59 (87). Ebenso GA Jacobs, Schlußanträge vom 29. 4. 1997, Rs. C-337 / 95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6016, Rn. 22 (I-6021 f.). 962 963

§ 10 Ausblick

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Bedeutung sein können. Es überrascht daher nicht, daß der EuGH in ständiger Rechtsprechung nicht zögert, auch Fragen zur Auslegung von Art. 234 zu beantworten.964 Aber auch ohne eine entsprechende Vorabentscheidung des EuGH verliert die hier entwickelte Konzeption nicht ihre Bedeutung für die praktische Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens. Dies gilt zwar nicht für letztinstanzliche Gerichte, die bis zu einer entsprechenden Fortentwicklung der Rechtsprechung nur unter den vom EuGH in seinem C.I.L.F.I.T.-Urteil anerkannten Voraussetzungen von einer Vorlage absehen können.965 Von Nutzen kann sie aber für nationale Gerichte sein, die nicht in letzter Instanz entscheiden. Diese können das hier entwikkelte Kriterium des gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsbedürfnisses als Maßstab für die Ausübung ihres Vorlageermessens heranziehen und so beurteilen, ob eine Vorlage an den EuGH im Hinblick auf die im Ausgangsrechtsstreit aufgeworfene Auslegungsfrage sachgerecht ist. Schließlich kann die hier entwickelte Konzeption auch Anregungen für eine Anpassung von Art. 234 an den gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts im Rahmen eines Vertragsänderungsverfahrens geben, sofern eine solche zu einem späteren Zeitpunkt für erforderlich erachtet werden sollte. Auch wenn die hier entwickelte Konzeption keinen unmittelbaren Niederschlag in der praktischen Handhabung des Vorabentscheidungsverfahrens finden sollte, wird sie jedenfalls in der wissenschaftlichen Diskussion über die Aufgabenverteilung im Vorabentscheidungsverfahren zu einer weiteren Auseinandersetzung herausfordern. Diese Diskussion wurde durch die brillanten Schlußanträge GA Jacobs’ in der Rechtssache S. I. Wiener966 um einen sehr wertvollen Beitrag aus der Praxis bereichert. Es ist zu hoffen, daß sie bald ihrerseits der Praxis eine tragfähige Grundlage für die Lösung der immer drängender werdenden Probleme zur Verfügung stellen wird, die mit der Aufgabenverteilung bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts im Vorabentscheidungsverfahren verbunden sind.

964 Vgl. z. B. Urteile vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, vom 4. 11. 1997, Rs. C-337 / 95 – Parfums Christian Dior, Slg. 1997, I-6013, und vom 4. 6. 2002, Rs. C-99 / 00 – Lyckeskog, Slg. 2002, I-4839. 965 Vgl. Urteil vom 6. 10. 1982, Rs. 283 / 81 – C.I.L.F.I.T. / Ministero della sanità [I], Slg. 1982, 3415, Rn. 12 ff. (3429 f.). Zu den Auswirkungen der hier vertretenen Konzeption auf die Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte Groh, EuZW 2002, 460 (464). 966 Schlußanträge vom 10. 7. 1997, Rs. C-338 / 95 - S. I. Wiener, Slg. 1997, I-6497.

Résumé Depuis l’origine, une distinction entre interprétation et application sous-tend la jurisprudence de la Cour de Justice des Communautés Européennes, aux fins de délimiter son pouvoir d’interprétation dans le cadre de la procédure préjudicielle par rapport aux pouvoirs appartenant aux juridictions nationales. Tant la doctrine que les juridictions nationales ont adopté cette approche, qui n’est guère contestée aujourd’hui et qui peut se prévaloir d’un rapprochement entre les articles 220 CE et 234 CE. Un examen plus poussé permet cependant de formuler des objections de taille : Cette approche a recours à des notions tirées de la méthodologie juridique générale aux fins de résoudre un problème spécifique du droit procédural communautaire, sans avoir examiné à suffisance leur aptitude à ces fins; son fondement est exclusivement justifié par une interprétation contextuelle et fait litière de l’interprétation téléologique en dépit de l’importance de celle-ci en droit communautaire; elle néglige le fait que, si la Cour continue à invoquer la distinction entre interprétation et application, ceci ne correspond plus depuis longtemps déjà à la pratique de la procédure préjudicielle. La présente thèse dégage une alternative à l’approche traditionnelle. Dans sa première partie, l’auteur développe une conception partant des objectifs poursuivis par l’interprétation du droit communautaire dans la procédure préjudicielle, à savoir la préservation de l’uniformité du droit communautaire, l’assistance apportée aux juridictions nationales aux fins de l’application du droit communautaire et la protection des droits individuels. Ces objectifs se heurtent aux impératifs communautaires militant contre l’introduction d’une procédure préjudicielle : la fonction des juridictions nationales comme juges communautaires de première instance, la nécessité de limiter la charge de travail de la Cour dans l’intérêt d’une bonne administration de la justice et l’obligation de statuer dans un délai raisonnable. Si, dans le cadre de cette mise en balance d’intérêts divergents, il convient de faire primer les objectifs poursuivis par l’interprétation du droit communautaire dans le cadre de la procédure préjudicielle sur les impératifs militant contre un renvoi, il y a lieu de reconnaître l’existence d’un besoin communautaire d’interprétation entendu comme le fondement et la limite de la compétence de la Cour en matière d’interprétation. En l’état actuel du droit communautaire, ce besoin d’interprétation n’existe que si un renvoi à la Cour dissipe un risque plus que négligeable d’atteinte à l’uniformité du droit communautaire, lorsqu’il remédie à des difficultés particulières que rencontre la juridiction de renvoi dans l’interprétation du droit communautaire ou qu’il entraîne une augmentation considérable de la qualité de la protection des droits individuels. Dans toutes les autres hypothèses, un besoin com-

Résumé

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munautaire d’interprétation fait défaut – et ainsi une compétence de la Cour, si bien que celle-ci devrait rejeter des questions lui ayant néanmoins été déférées à titre préjudiciel comme irrecevables. Dans la deuxième partie de la présente thèse, la conception développée en première partie est rapprochée par interprétation de la lettre de l’article 234, premier alinéa, CE. A cette fin, tout d’abord, est précisé le fondement méthodologique de l’auteur qui va au-delà de la théorie classique. Sur cette base, les instruments de la méthode communautaire d’interprétation font l’objet d’une analyse. Il est alors démontré que l’article 234, premier alinéa, CE peut être interprété, au moyen des méthodes admissibles d’interprétation et compte tenu des limites données à l’interprétation, en ce sens qu’il implique que le besoin communautaire d’interprétation constitue une condition du pouvoir d’interprétation de la Cour dans le cadre de la procédure préjudicielle.

Summary Ever since its inception, the European Court of Justice (ECJ) has taken account in its case-law of the dichotomy between interpretation and application in order to mark a boundary between its interpretative jurisdiction in preliminary ruling proceedings and the jurisdiction of the national courts. This viewpoint, which is based on a comparison of Articles 220 EC and 234 EC, is shared by academic circles and national courts alike and is now largely beyond doubt. On closer inspection, however, serious objections can be made to it: it employs concepts of general legal methodology to solve a specific problem of Community procedural law, without having made clear why they are appropriate for that purpose: it is based solely upon systematic interpretation and wholly excludes teleological interpretation, which is otherwise so important in Community law: it disregards the fact that the ECJ’s purported adherence to the dichotomy between interpretation and application has long ceased to bear any relation to the way in which the preliminary ruling procedure actually functions. The above dissertation suggests an alternative to the traditional view. The first part develops an approach which builds on the objectives pursued when Community law is interpreted in preliminary ruling proceedings, namely the protection of the uniformity of Community law, the support of the national courts when enforcing Community law and the protection of individual rights. There is a tension between these objectives and the accepted principles of Community law which militate against instituting preliminary ruling proceedings: the function of the national courts as Community courts of first instance, the need, in order to secure the efficient administration of the law, to limit the ECJ’s caseload and the requirement that cases should be dealt with within a reasonable time. If in the context of this tension greater importance can be given to the objectives pursued when Community law is interpreted in proceedings for a preliminary ruling than to the accepted principles of Community law which militate against a reference, a Community-law need for interpretation must be recognised, which must be seen as constituting the grounds and bounds of the ECJ’s interpretative jurisdiction. As Community law currently stands, this need for interpretation arises only if a reference to the ECJ prevents more than a minor impairment of the uniformity of Community law, if it settles particular difficulties which the referring court has encountered in interpreting Community law or if it results in a significant enhancement in the level of legal protection. In all other cases the Community-law need for interpretation is lacking and thus the ECJ does not have jurisdiction, with the result that, for want of jurisdiction, it must refuse to answer questions which the national courts have none the less referred.

Summary

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In the second part of the above dissertation the approach developed in the first part is combined by means of interpretation with the text of Article 234(1) EC. For that purpose there is first of all an explanation of the author’s own methodological approach, which extends beyond the traditional doctrine, and an assessment on that basis of Community-law methods of interpretation. It will then be shown that with the assistance of the permitted canons of interpretation and in compliance with the stated bounds of interpretation, Article 234(1) EC can be construed in such a way that it encompasses the Community-law need for interpretation as a pre-requisite for the ECJ’s interpretative jurisdiction in preliminary ruling proceedings.

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Sachverzeichnis Absehbarkeit gerichtlicher Entscheidungen 179 ff. Abweichung von der Rechtsprechung des EuGH 92 acte clair siehe in claris non fit interpretatio Amtssprachen 48, 149 Arbeitsbelastung des EuGH 65 ff., 71, 85, 102, 113 Arbeitssprachen 95, 105 f., 140 Argumentation siehe Interpretationsargumente Ausgangsrechtsstreit 52 f., 62, 68 f., 72, 74 f., 80, 97 ff., 103, 110, 190 f. – Parteien 59, 67, 72, 85, 103, 191, 213 – Umstände 35, 39, 80 ff. Auslegung (siehe auch Interpretation) – Begriff im Gemeinschaftsrecht 177 f., 188 ff., 205 – und Anwendung 32 ff., 188 f., 205, 208 – und Interpretation 120 Auslegungsbedürfnis, gemeinschaftsrechtliches 40, 70 ff., 116 ff. Auslegungsintensität 79, 81 ff., 195, 202 Auslegungsmonopol 31 Bedeutung – autonome 49, 94, 104, 107 f., 137 f., 147 f., 185 ff. – Begriff 121 ff. – Kontextabhängigkeit 123 ff., 141, 143 Bedeutungsbestimmung 127 f. Bedeutungsdivergenzen 48 f., 139 f. – rechtlich bedingte 147 – sprachlich bedingte 147 f. Bedeutungshypothese 130, 187 Bedeutungsidentität 49, 148 Befugnis 27 f. Befugnisausübungsvorschrift 29 Befugniszuweisung 28 ff., 34 f.

begrenzte Ermächtigung 50 f., 156, 173, 198 ff. Bindung an den Normtext siehe Normtext, Bindung Divergenzvorlage 214 f. Dynamik des Gemeinschaftsrechts 109, 150 ff., 157, 168, 173, 177, 183, 221 f. Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts 42 ff. – Begründung 43 ff. – Beschränkungen 46 ff. – Dimensionen 42 f. – Wahrung durch das Vorabentscheidungsverfahren 41 ff., 71 ff., 96, 117 f. Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung 161 EMRK 68, 172 f., 220 f. Erforderlichkeit (Art. 234 Abs. 2) 201, 206 ff. Fachsprache, juristische 137, 147 Frage (Art. 234 Abs. 2) 193 ff., 206 Funktionenteilung 182 f. gegenwärtiger Stand des Gemeinschaftsrechts 71, 94, 104, 109, 151, 222 Gerichte, nationale – als Gemeinschaftsgerichte 61 ff., 71, 84, 96, 102, 104, 112 ff., 139, 197, 204, 217 f., 222 – Eigenverantwortlichkeit 31, 61 f., 64, 84 f., 102, 112, 197, 204, 222 Gesetzesbindung siehe Normtext, Bindung Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner 45 f., 182 Gleichmäßigkeit der Rechtsdurchsetzung 182

Sachverzeichnis grammatische Auslegung siehe Interpretationsargumente, Indizargument Grundsatzvorlage 215 historische Auslegung siehe Interpretationsargumente, Entstehungsargument in claris non fit interpretatio 142 ff. Interpret 127 f., 154 ff., 160, 177 Interpretation – Akzeptanzfähigkeit 183 f. – Begriff 120, 177 f. – Begründung 129 ff. – besondere Schwierigkeiten im Gemeinschaftsrecht 103 ff., 115, 117 f. – sekundäre 154 f., 160, 166 – sekundärrechtskonforme 164 – Subjektivität 125 f. – Ziel 134 Interpretationsargumente 130 ff., 135 ff. – Begriff 130 – Entstehungsargument 167 ff. – Indizargument 136 ff., 164, 187 ff. – kontexterschließende Funktion 130, 141, 143 – Systemargument 158 ff., 198 ff. – Überzeugungskraft 130 ff., 141 ff., 157 f., 165, 167, 168 f. – Vergleichsargument 165 ff., 210 ff. – Zielargument 153 ff., 195 ff. Interpretationsgrenzen 131 ff., 169 ff. – aus dem Integrationsprogramm des EGV 173 f. – aus der Grenzfunktion des Normtextes 133, 174 ff. – aus vorrangigem Recht 132 f., 163, 169 ff. – Begriff 131 ius cogens 161, 170 Klarheitsregel siehe in claris non fit interpretatio Kompetenz siehe Befugnis Mehrsprachenauthentizität – des Gemeinschaftsrechts 48 ff., 94 ff., 138, 146 ff., 176 f. – in Belgien 105, 149 – in der Schweiz 149 f. – in Kanada 150 17 Groh

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Mitgliedstaaten – Gleichheit 44, 50 – Unterschiede zwischen den Rechtssystemen 49 f., 147 f. Normtext – Bedeutung 125 ff. – Begriff 23 – Bindung 45, 106, 133, 179 – Grenzfunktion 133, 136, 174 ff. – Indizfunktion 107, 136, 141 f. Pragmatik 122 Präjudizien – Anknüpfungsgebot 180 – präsumtive Verbindlichkeit 180 f. – Widerspruchsverbot 180 Präzisierungsfragen 75 ff., 118 ratio decidendi 86, 89 ff. Recht und Sprache 120 f., 144 f., 175 Rechtsfortbildung 174, 177 f., 188 f. Rechtsgemeinschaft 43 f. Rechtsgrundsätze, allgemeine 110 f., 117, 162, 184 Rechtskreise 95 f., 140 Rechtsprechung – gefestigte 91 f., 105 – lösungsrelevante 72 ff., 104 Rechtsschutz – erheblicher Zuwachs der Qualität 114 ff., 118 – Schutz individueller Rechtspositionen 54 ff., 57 f., 59 ff., 62, 63, 67, 113 ff., 117 rechtsvergleichende Auslegung siehe Interpretationsargumente, Vergleichsargument Richtigkeit der Interpretation 129 ff. Richtigkeitsgewähr von EuGH-Entscheidungen 56, 114 f. semantische Konventionen (Verwendungsregeln) 122 ff., 136, 140 f., 142, 144, 146, 151 f., 154, 164, 174 f., 177, 187 f. – als Arbeitshypothesen 108, 125, 141, 164 – in sachlicher Hinsicht relevante 137 f., 188 – in (national)sprachlicher Hinsicht relevante 138 ff., 188

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Sachverzeichnis

– in zeitlicher Hinsicht relevante 138, 188 – Unschärfe 124 f., 149, 174 f. Semantik 122 Semiotik 121 f. Sprachfassungen – Divergenzen 95 ff., 105 f., 147 ff., 176 – gleiche Verbindlichkeit siehe Mehrsprachenauthentizität – Vergleich 94 ff., 105 ff., 138 f., 188 Sprachgebrauch, relevanter 95, 104 Subsidiaritätsgrundsatz 202 ff. Syntaktik 122 Systematik – formale 159 – horizontale 161 f. – materiale 159 ff. – vertikale 163 f. systematische Auslegung siehe Interpretationsargumente, Systemargument teleologische Auslegung siehe Interpretationsargumente, Zielargument Terminologie, autonome siehe Bedeutung, autonome Übersetzung 48 f. Übersetzungsfehler 48 f., 147 Übertragungsfragen 86 ff., 105 Unabhängigkeit des Richters 45 Unterstützung nationaler Gerichte im Vorabentscheidungsverfahren 51 ff., 102 ff., 117, 223 f. unverbindliche Handlungen 100 f. Unzulässigkeit von Vorlagefragen 224 Unzuständigkeit des EuGH 70, 193, 223 Verantwortung für juristische Entscheidungen 128, 145, 175

Verbindlichkeit mehrerer Sprachfassungen siehe Mehrsprachenauthentizität Verfahrensdauer 68 f., 71 f., 85, 96, 113 vergleichende Auslegung siehe Interpretationsargumente, Vergleichsargument Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 200 ff. Verträge, völkerrechtliche – Altverträge (Art. 307 Abs. 1) 171 ff. – Interpretation 146, 152 Vertragssprachen 48, 50, 138 Vertrauen (als Voraussetzung für das Funktionieren des Vorabentscheidungsverfahrens) 64, 92, 196 f. Verweis auf Begriffe des nationalen Rechts 185 f. Verwendungsregeln siehe semantische Konventionen Vorabentscheidungsverfahren – Begriff 23, 190 ff., 205 – kooperatives Verfahren 192 f. – objektives Verfahren 190 f. – Zwischenverfahren 62, 191 f., 221 Vorlageanspruch 59 f., 191, 212, 221 Vorlagepflicht 32, 41, 67, 69, 197, 218 Vorlagerecht 53 f., 67, 222 f. Wiederholungsfragen 73 ff., 104 Wortlautauslegung siehe Interpretationsargumente, Indizargument Wortlautgrenze (siehe auch Normtext, Grenzfunktion) – im Gemeinschaftsrecht 174, 176 ff. – im nationalen Recht 174 ff. Zeichen 121 ff. Zulässigkeit von Vorlagefragen 223 Zuständigkeit des EuGH 58 f., 192 f. zweifelsfrei zu beantwortende Auslegungsfrage 93 ff.