Die dramatische Wirkungspoetik im Frühwerk Schillers: Eine analytische Annäherung an das Konzept des Ideendichters 9783110541991, 9783110539929

This volume examines the function of Schiller’s early dramas as a poetry of effect. Based on the terminology of analytic

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German Pages 253 [254] Year 2017

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Die dramatische Wirkungspoetik im Frühwerk Schillers: Eine analytische Annäherung an das Konzept des Ideendichters
 9783110541991, 9783110539929

Table of contents :
Dank
Inhalt
1. Einleitung
2. Die Philosophischen Briefe
3. Explizite dramatische Wirkungspoetik
4. Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse
5. Schlusswort
6. Literaturverzeichnis
7. Namenregister

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Christoph Gschwind Die dramatische Wirkungspoetik im Frühwerk Schillers

Deutsche Literatur Studien und Quellen

Herausgegeben von Beate Kellner und Claudia Stockinger

Band 26

Christoph Gschwind

Die dramatische Wirkungspoetik im Frühwerk Schillers Eine analytische Annäherung an das Konzept des Ideendichters

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Die vorliegende Studie wurde durch ein Stipendium der Klassik Stiftung Weimar gefördert.

ISBN 978-3-11-053992-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-054199-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-054017-8 ISSN 2198-932X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Titelabbildung: Johann Wolfgang Goethe an Johann Gottfried Herder, wahrscheinlich zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 1786. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Für Sabina

Dank Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im April 2016 im Rahmen eines binationalen Betreuungsverhältnisses (Cotutelle-Vertrag) an der Universität Freiburg (Schweiz) und an der Georg-August-Universität Göttingen (Deutschland) verteidigt habe. Für die Aufnahme in die Reihe Deutsche Literatur. Studien und Quellen danke ich den Herausgeberinnen der Reihe, Beate Kellner und Claudia Stockinger. Diese Arbeit ist dank der Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen ermöglicht worden. Ein spezieller Dank gilt Prof. Harald Fricke (†), ohne den ich diese Arbeit nie begonnen hätte und dessen zugleich scharfe und wohlwollende Kommentare mich erst auf den begangenen Weg gebracht haben. Nach seinem Ableben haben Prof. Ralph Müller und Prof. Gerhard Lauer dankenswerterweise eine Doppelbetreuung meiner Arbeit übernommen. Ich durfte dabei sowohl von fachwissenschaftlichen Inputs als auch von einer uneingeschränkten Unterstützung bei der Organisation der binationalen Kooperationsvereinbarung profitieren. Prof. Lauer danke ich für die Aufnahme ins sehr inspirierende Göttinger Forschungskolloquium. Ein großer Dank gebührt auch dem Fribourger Forschungskolloquium, dessen Mitglieder mich über die Jahre mit kritisch-konstruktiven Kommentaren entscheidend vorangebracht haben. Das gilt auch für das literaturwissenschaftliche Kolloquium im Rahmen des CUSO-Doktoratsprogramms. Ebenso sei Gottfried Gabriel für die wertvollen Anregungen gedankt. Danken möchte ich auch der Klassik Stiftung Weimar für die Gewährung eines Graduiertenstipendiums sowie dem Literaturarchiv Marbach für die Ermöglichung eines Forschungsaufenthalts auf der Schillerhöhe. Ein besonders großer Dank gilt meinen Eltern, die meine Ausbildung ermöglicht und mir so den Weg für meinen wissenschaftlichen Werdegang geebnet haben. Zuletzt danke ich meiner Frau Sabina, ohne deren weitreichende Unterstützung ich diese Arbeit schlicht nicht zu Ende gebracht hätte.

Inhalt 1  Einleitung . 1 Fragestellung . Begriffsklärungen 3 .. Idee 4 .. Funktion 5 7 .. Wirkungspoetik . Methodologische Anmerkungen 10 . Aufbau

8

 Die Philosophischen Briefe 12 . Vorwort: kognitive Funktion durch Wahrheitsanspruch 13 . Briefwechsel: Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis 23 . „Theosophie des Julius“: Philosophie in Literatur . Nachschrift: Wahrheitstheorie 26 28 Der letzte Brief (Körner an Schiller) .

17

 Explizite dramatische Wirkungspoetik 30 31 Funktionen der Schaubühne (Wozu?) . .. Ästhetische Funktion: metaphysische Bildung 33 Ethische Funktion: moralische Bildung 35 .. 37 .. Anthropologische Funktion: menschliche Bildung . Dramatisierungsstrategien 39 39 .. Inhaltliche Dramatisierungsstrategien ... Darstellung poetischer Gerechtigkeit 39 ... 41 Zu einem dramentheoretischen Begriff des Sachverhalts .. Mediale Dramatisierungsstrategien 44 ... Die dramatische Methode 44 ... Anschauende Erkenntnis 48 ... Propositionale und nicht-propositionale Erkenntnis 61 ... Logische Wahrheit und ästhetische Wahrhaftigkeit 63 ... Das literarische Gemälde als perceptio praegnans 63 Der Hohlspiegel als Metapher für das Prinzip der anschauenden ... Erkenntnis 68 ... Der emotionale Pakt 69 ... Die rührende Rede als rhetorisches Mittel zur Erzeugung einer perceptio praegnans 70 ... Das emotive Kommunikationsschema 71 ... Theatrale Illusion 74 ... Dramatische Fiktion 80

X

Inhalt

 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse 84 . 84 Die Räuber .. 84 Textgenese .. Emotive Funktionen 86 ... Fiktionsinterne Simulation affektpoetischer Kommunikationsmuster: Darstellung von dialogischen rührenden Reden 86 ... Darstellung von monologischen rührenden Reden 92 ... Melodramatische Elemente 95 Kognitive Funktionen 100 .. ... Initiation einer kritischen Reflexion: Affektpoetologie 100 ... Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis: Figurenkonzeptionen 109 als perceptiones praegnantes ... Initiation propositionaler Erkenntnis 128 Kabale und Liebe 135 . 135 .. Textgenese .. Emotive Funktionen 136 ... Fiktionsinterne Simulation affektpoetischer Kommunikationsmuster 136 139 Eloquentia corporis ... ... Das literarische Tableau 143 ... Konstruktion tragischer Sachverhalte 149 151 .. Kognitive Funktionen ... Initiation einer kritischen Reflexion: Affektpoetologie 151 ... Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis: Figurenkonzeptionen 155 als perceptiones praegnantes ... Unterschied zwischen interessanter Situation und allgemeinem 160 Sachverhalt ... Initiation propositionaler Erkenntnis 163 . Don Karlos 167 167 .. Textgenese .. Emotive Funktionen: Thalia-Fragmente 169 ... Vorrede 169 ... Haupttext 172 .. Kognitive Funktionen 177 177 ... Thalia-Fragmente ... Buchfassung von 1787: Don Karlos als Ideendrama? 185 201 .. Briefe über Don Karlos 206 . Die Verschwörung des Fiesko zu Genua .. Textgenese 206 207 .. Die Erstausgabe von 1783 ... Vorwort 207 ... Haupttext 208

Inhalt

..

Vergleich zwischen der Erstausgabe und der Mannheimer Bühnenbearbeitung 214

 Schlusswort 221 . Zusammenfassung . Ausblick 226

221

228 Literaturverzeichnis 228 Siglen . Primärliteratur 228 . 230 Sekundärliteratur 240 Bildquelle 



Namenregister

241

XI

1 Einleitung 1.1 Fragestellung In der Schiller-Forschung der letzten Jahre ist wieder vermehrt das Frühwerk Schillers in den Fokus des Interesses geraten.¹ Diese Studien haben auf der ideengeschichtlichen Rekonstruktion der „Anthropologie des jungen Schiller“² aufbauen können, in der Wolfgang Riedel die Einflüsse aus Naturwissenschaft, Philosophie und Anthropologie auf Schillers frühes theoretisches Werk so minutiös aufgearbeitet hat, dass es dem nur wenig hinzuzufügen gibt. Ich gehe in der vorliegenden Untersuchung zum jungen Schiller einer Frage nach, die bislang vornehmlich und zweifelsohne mit guten Gründen in Bezug auf Schillers klassisches, von der Philosophie Kants geprägtes literarisches Spätwerk gestellt wurde, nämlich der Frage, inwiefern es sich bei Schiller um einen Ideendichter handelt. An diese Frage schließen sich eine Reihe weiterer Fragen an wie: War Schiller ein philosophischer Dichter oder ein dichtender Philosoph?, Wie ist das Verhältnis zwischen Schillers philosophischen und den fiktionalen (epischen, lyrischen und dramatischen) Texten zu bestimmen?, Handelt es sich bei den fiktionalen Texten um eine Form von Philosophie als Literatur? usw. Ich gehe die Frage nach der Position von Schillers frühem Dramenwerk zwischen Poesie und Philosophie hier konkreter an und frage nach dem Verhältnis zwischen der emotiven und der kognitiven Signifikanz, d. h. ‚Bedeutsamkeit‘, sowohl in den poetologischen als auch in den literarisch-fiktionalen Dramentexten. Die Unterscheidung zwischen der emotiven und der kognitiven Signifikanz geht auf zwei diametrale Positionen zurück, die man aufgrund ihrer Profilierung entweder der emotiven oder der kognitiven Signifikanz von fiktionaler Literatur entsprechend als Emotivismus bzw. Kognitivismus bezeichnet.³ Während der Emotivist davon ausgeht, dass alle fiktionale Literatur die Funktion hat, Emotionen auszudrücken bzw. kausal zu erwecken, verteidigt der Kognitivist den Erkenntniswert fiktionaler Literatur, wobei Ver Vgl. stellvertretend Laura Anna Macor: Der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung. Friedrich Schillers Weg von der Aufklärung zu Kant. Von der Verfasserin aus dem Italienischen übersetzt, auf den neuesten Stand gebracht und erweitert. Würzburg 2010, Thomas Stachel: Der Ring der Notwendigkeit. Friedrich Schiller nach der Natur. Göttingen 2010 sowie Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin/Boston 2011 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. Bd. 72 (306)). Für eine detaillierte Übersicht vgl. Wilfried Barner, Christine Lubkoll, Ernst Osterkamp und Ulrich Raulff (Hg.): Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Göttingen 2005 ff.  Vgl.Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“. Würzburg 1985 (Epistemata. Bd. 17).  Für einen Überblick vgl. Simone Winko: Über Regeln emotionaler Bedeutung in und von literarischen Texten. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin/New York 2003 (Revisionen. Bd. 1), S. 329 – 348; hier S. 331– 337. https://doi.org/10.1515/9783110541991-001

2

1 Einleitung

treterinnen und Vertreter der einen oder anderen Position die Begriffe emotiv und kognitiv jeweils auf unterschiedliche Gegenstände beziehen.⁴ Im Hinblick auf die wirkungsästhetische Ausrichtung der Arbeit verwende ich im Folgenden entsprechend einen wirkungsästhetischen Emotions- und Kognitionsbegriff, der sich jeweils auf die emotive oder kognitive Signifikanz der aus einer Wirkungspoetik⁵ rekonstruierten Funktionen, also – kürzer – auf emotive oder kognitive Funktionen bezieht. Ich schließe mich dabei Vertretern der Komplementaritätsthese⁶ an und gehe davon aus, dass fiktionale Literatur sowohl emotive als auch kognitive Funktionen hat und dass beide Funktionstypen Bestandteil der impliziten Wirkungspoetik ein und desselben literarisch-fiktionalen Textes sein können. Dabei soll die prinzipielle Unterscheidung zwischen emotiv und kognitiv als heuristisches Analyseinstrumentarium aber beibehalten werden, um nicht in das Postulat eines Panemotivismus oder Pankognitivismus⁷ zu verfallen. An die Frage nach dem Verhältnis zwischen emotiven und kognitiven Funktionen in einem literarisch-fiktionalen Dramentext knüpft sich diejenige nach dem Verhältnis zwischen fiktionaler Literatur (Dichtung) und Philosophie⁸ an, die sich in die spezifischen Themen „Literatur und Erkenntnis“⁹, „Literatur und Wissen“¹⁰ oder „Literatur

 Vgl. hierzu Winko: Regeln emotionaler Bedeutung, S. 331– 337.  Zu diesem Begriff vgl. das Kapitel 1.2 dieser Untersuchung.  Vgl. Christiane Schildknecht und Dieter Teichert (Hg.): Philosophie in Literatur. Frankfurt a. M. 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 1225), S. 14.  Vgl. zu einem pankognitivistischen Lyrikbegriff Rüdiger Zymner: Funktionen der Lyrik. Münster 2013, S. 254 f. Zymner weist darauf hin, dass durch ein generelles Verständnis von kognitiv als „die intransomatische Informationsverarbeitung von Lebewesen und besonders des Menschen“ sämtlicher Lyrik eine kognitive Funktion attestiert werden kann.  Zum Spektrum dieses Konnexes vgl. Christiane Schildknecht: Literatur und Philosophie. Perspektiven einer Überschneidung. In: Christoph Demmerling und Íngrid Vendrell Ferran (Hg.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin 2014 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderbände. Bd. 35), S. 41– 56.  Vgl. Gottfried Gabriel: Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Stuttgart 1991, ders.: Logik und Rhetorik der Erkenntnis. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung. Paderborn u. a. 1997 (Explicatio) sowie Jürgen Daiber, Eva-Maria Konrad, Thomas Petraschka und Hans Rott (Hg.): Understanding Fiction. Knowledge and Meaning in Literature. Paderborn 2012.  Vgl. Tilmann Köppe (Hg.): Literatur und Wissen. Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin/New York 2011 (linguae & litterae. Bd. 4), ders.: Literatur und Erkenntnis. Studien zur kognitiven Signifikanz fiktionaler literarischer Werke. Paderborn 2008 (Explicatio), Maria E. Reicher: Knowledge from Fiction. In: Jürgen Daiber, Eva-Maria Konrad, Thomas Petraschka und Hans Rott (Hg.): Understanding Fiction. Knowledge and Meaning in Literature. Münster 2012, S. 114– 132, dies.: Können wir aus Fiktionen lernen? In: Christoph Demmerling und Íngrid Vendrell Ferran (Hg.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Berlin 2014. (Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderbände. Bd. 35), S. 73 – 95 sowie Astrid Bauereisen, Stephan Pabst und Achim Vesper (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 2009 (Stiftung für Romantikforschung. Bd. 38). Literarisch-fiktionale Wissensvermittlung ist neben der begrifflichen Bestimmung von Fiktionalität auch ein zentrales Erkenntnisinteresse bei Eva-Maria Konrad: Dimen-

1.2 Begriffsklärungen

3

und Wahrheit“¹¹ auffächern lässt. Einen entsprechenden Fragekatalog haben Christiane Schildknecht und Dieter Teichert in ihrem Sammelband Philosophie in Literatur zusammengestellt: – Wie verarbeitet Literatur philosophische Inhalte? – Wie steht es um die Übersetzbarkeit literarischer Sprachformen in die begriffliche Rede der Philosophie? – Auf welche Weise werden philosophische Reflexionen durch literarische Texte vermittelt? – Läßt sich in den literarischen Texten selbst eine Unterscheidung von philosophischem und literarischem Diskurs nachweisen? – Wie bestimmt die Dichtung ihre Differenz zur Philosophie? – In welcher Weise integrieren literarische Texte genuin philosophische Terminologie, Ausdrucksweise und Schreibformen? Geschieht dies nur negativ (wie etwa in Satire oder Parodie) oder auch in positiven Formen? – Welche literarischen Gattungen sind besonders oft verwendete Medien philosophischen Denkens? – Wie läßt sich die Differenz zwischen dem philosophischen Aspekt von Literatur und den im engeren Sinn philosophischen Texten bestimmen? – Formulieren literarische Texte Probleme, die anschließend von der Philosophie aufgegriffen werden, oder reagiert die Literatur auf philosophische Arbeiten?¹²

Die vorliegende Untersuchung soll Teilantworten auf wenigstens einige dieser Fragen geben und ist deshalb auch als exemplarischer Beitrag zum Problem des Verhältnisses zwischen Dichtung und Philosophie zu verstehen. Dieses wird u. a. auch aus den intertextuellen Bezügen zwischen den philosophischen Abhandlungen und den Dramentexten Schillers abgeleitet werden.

1.2 Begriffsklärungen Das grundlegende terminologische Setting meiner Untersuchung besteht aus den folgenden Begriffen, von denen ich jeweils eine meiner Fragestellung dienliche Bedeutung postuliere.

sionen der Fiktionalität. Analyse eines Grundbegriffs der Literaturwissenschaft. Münster 2014 (Explicatio).  Vgl. Gottfried Gabriel: Fiktion und Wahrheit. Eine semantische Theorie der Literatur. Stuttgart 1975 (problemata. Bd. 51), Käte Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit. Stuttgart 1979, Martha C. Nussbaum: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature. New York 1990, Peter Lamarque und Stein Haugom Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective. Oxford 1994 oder Peter Lamarque: Kann das Wahrheitsproblem der Literatur gelöst werden? In: Alex Burri und Wolfgang Huemer (Hg.): Kunst denken. Paderborn 2007, S. 13 – 24.  Schildknecht/Teichert: Philosophie in Literatur, S. 15 f.

4

1 Einleitung

1.2.1 Idee Die Frage, ob es sich (bereits) beim jungen, d. h. vorkantischen und vorklassischen Schiller um einen Ideendichter handelt, kann auf vielfältige Weisen beantwortet werden, wobei die Beantwortung jeweils maßgeblich von der Auffassung des Ideenbegriffs abhängt. Ich postuliere im Folgenden ex negativo und ex positivo einen Ideenbegriff, der den im Kapitel 1.1 erläuterten spezifischen Zugang zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Philosophie und fiktionaler Literatur in Schillers Frühwerk generiert. Es geht mir hier nicht um einen ontologischen Ideenbegriff im Sinne Platons als ein absolut Seiendes¹³ noch um den transzendentalphilosophischen im Sinne Hegels als ein dialektisch aus der Synthese von Geist und Materie hervorgehendes Absolut-Göttliches¹⁴ oder im Sinne Kants als sprachlich nicht oder zumindest nicht adäquat repräsentierbare „ästhetische Idee“¹⁵. Unter Idee verstehe ich einen bestimmten, auf etwas Allgemeines referierenden Gedankeninhalt, der sich sprachlich pointiert als Thema oder These repräsentieren lässt. Durch dieses Bedeutungspostulat des Ideenbegriffs ist auch dessen alltagssprachliche Auffassung als plötzlicher Einfall (im Sinne von „Ich habe eine Idee, lass uns doch ins Kino gehen.“)¹⁶ ausgeschlossen. Da sich Ideen in meinem Verständnis auf etwas Allgemeines beziehen, können sie sprachlich durch generische Sätze¹⁷ ausgedrückt und aussagenlogisch durch einen Allquantor expliziert werden („Für alles, das x ist, gilt, dass y“). Mit der Postulierung dieser Bedeutung von Idee ziele ich in erster Linie auf eine Entideologisierung des emphatisch-idealistischen Ideenbegriffs Platons, Hegels¹⁸ oder Hebbels¹⁹ ab, der einen entsprechend ideologisch gefärbten Begriff des Ideen-

 Diesen Ideenbegriff setzt etwa Winfried Weier in seiner Untersuchung zum Verhältnis zwischen ‚Idee und Wirklichkeit‘ in der deutschsprachigen Dichtung voraus (vgl. Winfried Weier: Idee und Wirklichkeit. Philosophie deutscher Dichtung. Paderborn 2005, S. 17– 20).  Zur Geschichte des philosophischen Ideenbegriffs vgl. Karl Neumann: Idee. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Völlig neubearbeitete Ausgabe des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe“ von Rudolf Eisler. Bd. 4, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Basel/Stuttgart 1976, Sp. 55 – 134. Zitate aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie werden im Folgenden mit der Sigle HWP und der Band- sowie der Spaltennummer angegeben.  Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werke in zwölf Bänden. Bd. 10, hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 57), § 49, z.B S. 249.  Zur allgemein-umgangssprachlichen Bedeutung von Idee vgl. den Art. Idee in: Brockhaus-Enzyklopädie in 30 Bänden. 21., völlig neu bearb. Aufl. Bd. 13. Leipzig/Mannheim 2006, S. 93 f.; hier S. 93.  Zur Unterscheidung von generischen und singulären Sätzen vgl. Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 92 f.  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die dramatische Poesie. In: ders: Werke in 20 Bänden. Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik III, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 615), S. 474– 574.  Vgl. Friedrich Hebbel: Vorwort zur „Maria Magdalene“, betreffend das Verhältnis zur dramatischen Kunst zur Zeit und verwandte Punkte. In: ders.: Werke in fünf Bänden. Bd. 1: Dramen 1, hg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher. München 1963, S. 307– 328; hier S. 307.

1.2 Begriffsklärungen

5

dramas hervorgebracht hat.²⁰ Ohne die Zuspitzung des platonischen Ideenbegriffs auf eine heuristisch brauchbare Kategorie kann man schnell einmal zum Schluss kommen, dass „alle Dichtung mit der Philosophie gebunden und geeint“ sei und es „ebenso wenig eine philosophiefreie wie weltanschauungsfreie Dichtung“ gebe²¹. Damit ist in heuristischer Hinsicht indes wenig gewonnen.

1.2.2 Funktion Unter Funktion verstehe ich die potentielle Wirkung eines literarischen Textes. Im Kontext einer literarischen Wirkungspoetik handelt es sich um „externe“²² oder „transtextuelle“²³ Funktionen, insofern es hier um die Möglichkeit der Evokation von bestimmten Leser- oder Zuschauerreaktionen, also außerhalb des Textes liegenden Sachverhalten geht. Demnach ist die Funktion als intendierte oder eben potentielle Wirkung von der Funktionserfüllung als tatsächlich eintretenden Wirkung zu unterscheiden²⁴; während Erstere nur theoretisch beschreibbar ist, ist Letztere auch empirisch beobachtbar. Funktion impliziert also einen Dispositionsbegriff ²⁵, d. h. eine Eigenschaft von oder eine Beziehung zwischen Gegenständen, die unter bestimmten Bedingungen zuverlässig auftritt.²⁶ Dem Dispositionsbegriff korreliert die Disposition, d. h. die Eignung, unter bestimmten Bedingungen einen bestimmten Sachverhalt in Erscheinung treten zu lassen. Während die Funktionserfüllung ausbleiben kann, ist die Disposition dazu, „sich unter diesen Bedingungen in der durch den D[ispositionsbegriff] gekennzeichneten Weise zu verhalten“²⁷, ständig gegeben.

 Vgl. Rudolf Unger: Von Nathan zu Faust. Zur Geschichte des deutschen Ideendramas. Basel 1916 oder Norbert Rudolph: Das Gedankliche im Drama. Bonner Diss. Bonn 1932 sowie Martin Puchner: The Drama of Ideas. Platonic Provocations in Theater and Philosophy. Oxford 2010.  Weier, S. 44.  Harald Fricke: Funktion. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1: A – G, hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 2007, S. 643 – 646; hier S. 643. Die bibliographische Angabe des Reallexikons wird im Folgenden mit der Sigle RLW und der Bandnummer abgekürzt. Fricke unterscheidet zwischen internen und externen Funktionen.  Zymner: Funktionen der Lyrik, S. 77 f. Zymner unterscheidet zwischen intratextuellen, intertextuellen und transtextuellen Bezügen zwischen Sprachgebilden und davon unterschiedenen Sachverhalten.  Vgl. Zymner: Funktionen der Lyrik, S. 80. Zur Unterscheidung zwischen auktorialer Wirkungsabsicht, textuellem Wirkungspotential und historischer Wirkung vgl. Roy Sommer: Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologischen Differenzierung. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 41 (2000), S. 319 – 341.  Vgl. Fricke: Funktion, S. 643.  Vgl. Klaus Brockhaus: Dispositionsbegriff. In: HWP 2, Sp. 266.  Brockhaus: Dispositionsbegriff, Sp. 266.

6

1 Einleitung

Die Gesamtheit aller aus einer expliziten oder impliziten Wirkungspoetik rekonstruierbaren Dispositionen bezeichne ich als Wirkungsdisposition. Bei der Wirkungsdidsposition handelt es sich um das Potential eines literarischen Textes, bestimmte Wirkungen zu erzeugen. Ich bezeichne sie deshalb alternativ auch als Wirkungspotential (mit der Betonung auf -potential). Die Beschreibung der Wirkungsdisposition erfolgt entsprechend in „dispositionalen Aussagen“²⁸ z. B. der Form ‚Die rhetorische Strategie x ist geeignet, den Effekt z zu bewirken‘, während die empirische Beschreibung von tatsächlich eintretenden Effekten die Funktion von „Tatsachenberichten“²⁹ hat. Während Dispositionsbegriffe – im Gegensatz zu „Episodenwörtern“³⁰ – Eigenschaften bezeichnen, die unter bestimmten Bedingungen auftreten (z. B. mitleidend), beziehen sich Funktionen auf Vorgänge (z. B. Mitleid erregen). Diese begrifflichen Unterscheidungen lassen sich schematisch in einem einfachen Modell (Abb. 1) darstellen:

Abb. 1: Verhältnis zwischen Wirkungsdisposition und Funktion

Der Begriff der Funktion entspricht cum grano salis demjenigen des „intendierten Rezipienten“³¹ oder des „implizierten Rezipienten“³², die ein von den rezeptionslenkenden Strategien eines literarischen Textes initiiertes ideales Rezeptionsverhalten bezeichnen. Die Begriffsnamen intendierter Rezipient bzw. implizierter Rezipient (Wolfgang Isers „impliziter Leser“ gehört in dieselbe Begriffsreihe) scheinen mir mit ihrer metaphorischen Suggestion der personalen Instanziierung eines eigentlich apersonalen, potentiellen Rezeptionsverhaltens jedoch problematisch. Ich werde im Folgenden deshalb ganz auf sie verzichten und stattdessen eben von der Funktion bzw. von mehreren Funktionen eines Textes sprechen.  Gilbert Ryle: Der Begriff des Geistes. Aus dem Englischen übersetzt von Kurt Baier. Stuttgart 1969 (RUB. Bd. 8331 [6]), S. 155.  Ryle, S. 158.  Ryle, S. 154. Den Begriff Episodenwörter verwendet Ryle zur Bezeichnung von tatsächlich ausgeführten Handlungen (Episoden).  Wolfgang Ranke: Theatermoral. Moralische Argumentation und dramatische Kommunikation in der Tragödie der Aufklärung. Würzburg 2009, S. 68 f. Ranke bezeichnet mit dem Begriff eine abstrakte Rezeptionsinstanz, die sich „exakt so verhält, wie es die Strategie des Textes vorsieht“ (Ranke, S. 69, Fußnote 132).  Manfred Pfister: Zur Theorie der Sympathielenkung im Drama. In: Werner Habicht und Ina Schabert (Hg.): Sympathielenkung in den Dramen Shakespeares. Studium zur publikumsbezogenen Dramaturgie. München 1978 (Münchener Universitätsschriften. Bd. 9), S. 20 – 34; hier S. 25. Pfister meint mit dem Begriff „die ideale Dekodierungsinstanz der Strukturen und Strategien des Textes“ (Pfister, S. 25).

1.2 Begriffsklärungen

7

1.2.3 Wirkungspoetik Unter dem Begriff Poetik verstehe ich das aus einer Poetik-Rede³³, d. h. dem Gesamt kohärenter Äußerungen zu Prinzipien dichterischer Produktion, abstrahierbare System poetischer Regeln. Davon unterscheide ich den Begriff der Poetologie, mit dem ich die Reflexion über solche Poetiken bezeichne.³⁴ Eine Wirkungspoetik ist dadurch spezifiziert, dass sie insbesondere den Kausalnexus zwischen rezeptionslenkenden Strategien und entsprechenden Funktionen, d. h. den Wirkungsmechanismus literarischer Texte bzw. eines bestimmten literarischen Textes, regelt. Des Weiteren unterscheide ich zwischen einer expliziten und einer impliziten Wirkungspoetik. Unter explizite Wirkungspoetik verstehe ich ein System poetischer Regeln, das den Zusammenhang zwischen poetischen Strategien und normativ bestimmten Funktionen theoretisch regelt. Bei der expliziten Wirkungspoetik handelt es sich demnach um eine präskriptive Dichtungstheorie, die vorschreibt, wie bestimmte poetische Strategien bestimmte Funktionen erfüllen sollen.³⁵ Mit dem Begriff der impliziten Wirkungspoetik bezeichne ich das einem literarischen Text zugrunde liegende und aus diesem abstrahierbare Set poetischer Strategien, die die Disposition zur Erfüllung bestimmter Funktionen aufweisen. Eine implizite Wirkungspoetik kann durch poetologische Kommentare innerhalb des entsprechenden literarisch-fiktionalen Textes explizit gemacht werden. Den Begriff der Wirkungspoetik grenze ich schließlich von demjenigen der Wirkungsästhetik ab. Unter Wirkungsästhetik verstehe ich eine literaturwissenschaftliche Teildisziplin, deren zentrale Methode die Analyse von expliziten oder auch impliziten Wirkungspoetiken ist.³⁶

 Eine Vermischung von Poetik und Poetik-Rede findet sich etwa bei Harald Fricke: Poetik. In: RLW 3, S. 100 – 105.  Zur synonymen Verwendung des Begriffsnamens Poetik zur Bezeichnung sowohl von präskriptiven Dichtungslehren als auch von deskriptiven Reflexionen über diese Lehren vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur. 8., verb. u. erw. Aufl. Stuttgart 2001, S. 616 oder Dirk von Petersdorf: Poetik. In: Lexikon Literaturwissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Gerhard Lauer und Christine Ruhrberg. Stuttgart 2011, S. 257– 261; hier S. 257. Zu einer Unterscheidung von Poetik und Poetologie vgl. Fricke: Poetik, S. 100.  Zwischen einer expliziten und einer impliziten Poetik unterscheiden auch Fricke: Poetik, S. 100 f. sowie Rüdiger Zymner: Poetik. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, begründet von Günther und Irmgard Schweikle, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2007, S. 592– 594; hier S. 592. Fricke versteht unter impliziter Poetik eine bestimmte „Schreibweise“. Zymner bestimmt implizite Poetik nur vage als eine aus den literarischen Texten „erschließbare“ Poetik.  Zu dieser Auffassung von Wirkungsästhetik vgl. Andreas Böhn: Wirkungsästhetik. In: RLW 3, S. 851– 854; hier S. 851.

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1 Einleitung

1.3 Methodologische Anmerkungen Die spezifische Frage nach dem Verhältnis zwischen emotiven und kognitiven Funktionen, mit der ich die generellen Fragen nach dem philosophischen Gehalt von Schillers frühen Dramen bzw. nach dem Verhältnis zwischen Dichtung und Philosophie hier angehe, verweist bereits auf den heuristischen Zugang dieser Untersuchung. Das Analyseinstrumentarium, das ich für die Beantwortung dieser Fragen verwende, stammt grosso modo aus der Analytischen Philosophie und der daraus abgeleiteten Analytischen Literaturwissenschaft.³⁷ Dabei machen zwei Aspekte dieser Forschungsrichtungen die Anwendung ihres terminologischen Settings und ihrer Thesen auf die Dramentexte Schillers zu einem Desiderat. Der eine Aspekt besteht aus der Tatsache, dass dem naturgemäß hohen Abstraktionsgrad von Untersuchungen aus dem Bereich der Analytischen Philosophie oder Analytischen Literaturwissenschaft kaum Textanalysen gegenüberstehen, die Aussagen über den heuristischen Wert des terminologischen Settings dieser Bereiche machen. Den zweiten Aspekt bezeichne ich als narratologischen Reduktionismus. Ich meine damit die notorische Fokussierung solcher Studien auf epische Texte, die nicht zuletzt den Umstand ignoriert, dass sich der „alt[e] Streit zwischen Philosophie und Dichtung“³⁸ ursprünglich auf die Dramendichtung bezog.³⁹ Aus diesen beiden Aspekten ergibt sich ein doppeltes Untersuchungsziel. Zum einen soll Schillers frühes Dramenwerk mitsamt den für die Beantwortung der Frage nach dem philosophischen Gehalt der betreffenden Dramen relevanten theoretischen Texten anhand der Analyseinstrumente aus der Analytischen Philosophie und Analytischen Literaturwissenschaft beleuchtet werden. Zum anderen sollen dabei auch die von diesen wissenschaftlichen Disziplinen zur Verfügung gestellten Begriffe geschärft, d. h. anhand konkreter Textanalysen veranschaulicht und gegebenenfalls auch an die Bedingungen des Mediums Drama angepasst werden. Analytische Literaturwissenschaft kommt hier also (1) in ihrer metatheoretischen Variante vor, insofern die Literaturwissenschaft als Disziplin thematisiert wird, (2) in ihrer objekttheoretischen Variante, insofern allgemeinen Fragen zur Literatur wie z. B. ihrem logischen Status oder ihrem Erkenntniswert nachgegangen wird, und (3) in einer literaturwissenschaftlich-praktischen Variante, insofern sie eben auch als Verfahren für die rekonstruktive Erschließung literarischer Texte ein-

 Zur Sachgeschichte der Analytischen Literaturwissenschaft vgl. Tilmann Köppe und Simone Winko: Neuere Literaturtheorien. Eine Einführung. Stuttgart 2008, S. 275 f.  Platon: Der Staat, hg. und eingeleitet von Olof Gigon, übertragen von Rudolf Rufener. 2. Aufl. Zürich/München 1973, S. 498, 607b.  Einen historischen Abriss dazu liefert Nussbaum, S. 10 – 23. Ein aktuelleres Beispiel für die narratologische Zuspitzung der Frage nach dem Erkenntnispotential von literarisch-fiktionalen Texten ist die Studie von Eva-Maria Konrad zu den ‚Dimensionen von Fiktionalität‘ (vgl. Kap. 1.1, Anm. 10).

1.3 Methodologische Anmerkungen

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gesetzt wird.⁴⁰ Während die ersten beiden Varianten das Programm der Analytischen Literaturwissenschaft maßgeblich konstituieren und ihr den Ruf der Praxisferne eingehandelt haben, ist die dritte Anwendung wissenschaftsgeschichtlich eher neu. Die vorliegende Arbeit soll nicht zuletzt zeigen, dass dieser literaturwissenschaftlichpraktische Ansatz nicht nur „vorstellbar“⁴¹, sondern auch umsetzbar ist. Die analytische und prononciert epistemologische Lesart, wie ich sie hier vornehme, unterscheidet sich von den klassisch-hermeneutischen Interpretationen von Schillers frühen Dramen⁴² insbesondere dadurch, dass es gerade nicht um eine hermeneutische Sinnkonstituierung geht, die den hier vorbereiteten Unterschied zwischen Funktion und Funktionserfüllung wieder nivellieren würde.⁴³ Vielmehr soll eine strukturalistische Rekonstruktion von Wirkungsdisposition und Funktionszuweisung aus der impliziten Wirkungspoetik des jeweiligen Dramentextes die Tautologie des Hermeneutischen Zirkels aushebeln bzw. das „Paradoxon des Interpretierens“⁴⁴ umgehen. Schließlich verfolge ich mit der Anwendung von wissenschaftlichen Standards der Analytischen Literaturwissenschaft auch das Ziel, den teilweise stark metaphorischen Interpretationen von Schillers Dramen ein analytisches Gegenmodell an die Seite zu stellen, in dem die wissenschaftliche Metasprache von der poetischen Objektsprache des Gegenstands⁴⁵, d. h. der Texte Schillers, klar geschieden ist. Im Zuge dessen soll die vorliegende Untersuchung auch einen Beitrag zu einer nicht bloß metatheoretischen, sondern auch den Gegenstand der Literaturwissenschaft, den literarischen Text, rational explizierenden Analytischen Literaturwissenschaft leisten. Auch wenn der ideengeschichtliche Kontext von Schillers Frühwerk bereits mehrfach und dabei minutiös aufgearbeitet wurde⁴⁶, kommt keine Analyse eines geistig dermaßen vernetzten Autors wie Schiller ohne Referenz auf das anthropologische, physikotheologische, philosophische usw. Begriffsarsenal aus, aus dem er seine Ideen bezieht. Wenn ich im Folgenden ideengeschichtliche Bezüge zu Schillers theoretischen und literarisch-fiktionalen Texten herstelle, tue ich das aber nicht im Sinne komparatistischer Einflussforschung, sondern es geht mir lediglich darum, den

 Zu dieser Klassifizierung der Analytischen Literaturwissenschaft in verschiedene „Tendenzen“ vgl. Axel Spree: Drei Wege der analytischen Literaturwissenschaft. Vortrag am 8. Göttinger Workshop zur Literaturtheorie. 14. Juli 2006 (http://www.simonewinko.de/spree_text.htm [25.10.16]).  Spree.  Vgl. etwa Walter Hinderer (Hg.): Schillers Dramen. Interpretationen. Stuttgart 1992, Karl S. Guthke: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen/Basel: 1994, Peter-André Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Bd. 1. 2., durchgesehene Aufl. München 2000 oder Rüdiger Zymner: Friedrich Schiller. Dramen. Berlin 2002 (Klassiker Lektüren. Bd. 8).  Vgl. zum Problem einer Funktionsbestimmung als „Sinnhomogenisierung“ Zymner: Funktionen der Lyrik, S. 75 – 82.  Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 13.  Zur Abgrenzung von „Wissenschaftssprache“ und „Dichtungssprache“ vgl. Harald Fricke: Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen. München 1977, S. 24 f.  Vgl. Kap. 1.1, Anm. 2.

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1 Einleitung

ideengeschichtlichen Referenzrahmen zu skizzieren, um dadurch die von verschiedenen philosophischen und anthropologischen Einflüssen geprägte Terminologie Schillers zu erhellen. Dabei wird sich einmal mehr zeigen, dass schon viele von Schillers ästhetischen, anthropologischen, philosophischen und poetologischen Konzepten der nachkantischen Periode – wenn auch noch nicht auf demselben begrifflichen Reflexionsniveau – bereits in der vorkantischen Frühphase seines Werks anskizziert werden.⁴⁷

1.4 Aufbau Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Im ersten Hauptteil werden einige zentrale Konzepte der philosophischen und literaturwissenschaftlichen Forschung zum Erkenntniswert fiktionaler Literatur anhand einer analytischen und prononciert epistemologischen Lesart von Schillers Briefroman-Fragment Philosophische Briefe vorgestellt. Hierbei liegt der Fokus unter Einbezug des ideengeschichtlichen Kontextes auf der dem Text zugrunde liegenden Wirkungspoetik. Dieser Text wird aus zwei Gründen an den Anfang der Untersuchung gestellt: Erstens steckt er den philosophischen, anthropologischen und poetologischen Rahmen von Schillers frühem, d. h. hier vorklassischem und vorkantischem Werk ab. Entsprechend erstreckt er sich über die gesamte vorklassische Schaffensphase von der Karlsschul-Zeit der 1770er Jahre, in denen wahrscheinlich die ersten Entwürfe zu einem Briefroman entstehen, bis hin zur Schwellenzeit Ende der 1780er Jahre. So weist noch das poetologische Lehrgedicht „Die Künstler“ (1789) frappante inhaltliche Parallelen zum Briefroman-Fragment auf. Bei den Philosophischen Briefen handelt es sich also sowohl in werkgenetischer als auch in thematischer Hinsicht um einen Referenztext in Schillers Frühwerk. Zweitens erlaubt es die Struktur der Philosophischen Briefe, in der explizite und implizite Wirkungspoetik aufeinander bezogen werden, ein wirkungspoetisches Modell zu abstrahieren. Dieses erweist sich als exemplarisch für Schillers frühe implizite Wirkungspoetik, wie sich in den anschließenden Dramenanalysen zeigen wird. Der zweite Hauptteil besteht aus einer Rekonstruktion der expliziten Wirkungspoetik anhand einer prononciert ideengeschichtlich-epistemologischen Analyse der frühen poetologischen Texte. Zu diesen Texten zähle ich einerseits die vom dramatischen Frühwerk mehr oder weniger isolierten dramentheoretischen Abhandlungen Ueber das gegenwärtige teutsche Theater und Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? Andererseits gehören auch die poetologischen Peritexte wie die Vorrede zur ersten Auflage der Räuber oder zum Drama Die Verschwörung des Fiesko zu Genua sowie die Selbstbesprechung der Räuber in der Zeitschrift Wirtembergisches  Am deutlichsten zeigt sich das in Roberts Studie Vor der Klassik. Auf die Korrelationen zwischen den auf der Philosophie Kants basierenden Theoremen der klassischen Spätphase und den vorklassischen und vorkantischen Konzepten verweist bereits Walter Hinderer: Von der Idee des Menschen. Über Friedrich Schiller. Würzburg 1998, S. 10.

1.4 Aufbau

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Repertorium und die Briefe über Don Carlos dazu. Bei der Rekonstruktion der expliziten Wirkungspoetik soll auch der ideengeschichtliche Referenzrahmen, sofern er für das Verständnis von Schillers wirkungspoetologischer Konzeption relevant ist, berücksichtigt werden. Dabei wird sich die Orientierung Schillers an den Theorien Gotthold Ephraim Lessings, Moses Mendelssohns, Friedrich Justus Riedels, Johann Georg Sulzers oder Gottfried August Bürgers zeigen. Ziel dieses zweiten Hauptteils ist die Abstraktion eines wirkungspoetischen Modells, das die explizite Wirkungspoetik von Schillers Frühwerk veranschaulicht und als Orientierungsrahmen für die Analyse im dritten Hauptteil fungieren soll. Dieser dritte Hauptteil besteht aus der Rekonstruktion der impliziten Wirkungspoetik aus den Dramentexten Die Räuber, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, Kabale und Liebe sowie den Thalia-Fragmenten und der Buchfassung von 1787 des Don Karlos. Es handelt sich dabei um exemplarische Dramenanalysen, bei denen der Fokus auf dem aus der impliziten Wirkungspoetik rekonstruierbaren Verhältnis zwischen emotiven und kognitiven Funktionen liegt. Des Weiteren sollen mit diesen Analysen einige der eingangs mit Schildknecht/Teichert gestellten Fragen zum Verhältnis zwischen Philosophie und fiktionaler Literatur (Dichtung) wenigstens in Ansätzen beantwortet werden. Im Sinn der im Kapitel 1.3 vorgestellten Methode liegen der Analyse des dritten Hauptteils die folgenden Fragen zugrunde: (1) Welche Dramatisierungsstrategien lassen sich aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramentextes rekonstruieren? (2) Welche Wirkungsdisposition weisen diese Strategien (vor dem Hintergrund der expliziten Wirkungspoetik) auf, d. h. welche emotiven oder auch kognitiven Funktionen kommen den Strategien zu? (3) In welchem Verhältnis stehen die emotiven zu den kognitiven Funktionen? (4) Lassen sich emotive oder kognitive Funktionen als ultimate Funktionen aus der impliziten Wirkungspoetik rekonstruieren? (5) Welcher Art sind ultimat-kognitive Funktionen?, d. h. handelt es sich dabei um die Funktion, Erkenntnis zu vermitteln, Wissen zu generieren, Wahrheit auszusagen usw.? Im Verlaufe dieses dritten Hauptteils wird der Fokus des Interesses vermehrt auf der kognitiven Signifikanz der Dramentexte liegen, genauer: auf der Frage, inwiefern es sich bei den Dramen um ‚Ideendichtungen‘ handelt. Diese Frage bestimmt auch die Reihenfolge der analysierten Dramen, die nur teilweise mit der werkgenetischen Chronologie kongruiert, weil die thematische Struktur das Primat vor der textchronologischen erhält. So werden zuerst die Trauerspiele Die Räuber und Kabale und Liebe und in einem zweiten Teil die Geschichtsdramen Don Karlos und Fiesko in dieser Reihenfolge analysiert. Die Aufteilung in eine Analyse der expliziten und in eine der impliziten Wirkungspoetik hat des Weiteren den Zweck, das Spannungsverhältnis zwischen der wirkungspoetischen Theorie und der Dichtungspraxis zu erhellen.

2 Die Philosophischen Briefe Der spezifizierende Untertitel des partiell in die Philosophischen Briefe integrierten Gedichts „Die Freundschaft“, das im Gedicht-Zyklus Anthologie auf das Jahr 1782 vollständig abgedruckt wurde, lässt darauf schließen, dass es sich bei den Briefen um ein unvollendetes Briefroman-Projekt handelt, denn im Untertitel der AnthologieFassung heißt es: „Julius an Raphael; einem noch ungedruckten Roman“ (NA I, S. 110)¹. Tatsächlich weisen die Philosophischen Briefe einige typische Merkmale des Genres „Briefroman“² auf, nämlich (1) konzeptionell die Gliederung in einen Herausgeberkommentar und den Briefwechsel, (2) medial einen „dramatischen Modus“³ durch den Wegfall einer vermittelnden Erzählinstanz und die szenische Präsentation der fiktiven Welt, (3) thematisch die Authentizität suggerierende Darstellung von Gedanken und Gefühlen der Briefpartner. Zwar ordnet sich Schiller mit der Wahl des Genres „Briefroman“ als der literarischen Form für die Vermittlung philosophischer Ideen in eine gattungshistorische Tradition ein⁴ und bedient gleichzeitig die durch diese Tradition etablierten Präferenzen des Lesepublikums. Dennoch unterscheidet sich seine Variante des im achtzehnten Jahrhundert äußerst populären Genres einerseits durch die Gattungshybridität und andererseits durch die ideengeschichtliche Amalgamierung verschiedener philosophischer, anthropologischer und naturwissenschaftlicher Theoreme. Es handelt sich bei den Philosophischen Briefen um einen epischen Text (Briefroman) in szenisch-dramatischem Modus (Briefroman) mit lyrischen Einschüben (philosophische Gedichte), der sowohl faktuale Rede (in der Vorrede) als auch fiktionale Rede (im Briefwechsel) aufweist. Schiller experimentiert dabei mit den Darstellungsmodi und Wirkungspotentialen unterschiedlicher Text-

 Schiller wird im Folgenden zitiert nach: Schillers Werke. Nationalausgabe, im Auftrag des Goetheund Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie hg. von Julius Petersen † und Gerhard Fricke (1948 ff.: Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des SchillerNationalmuseums hg. von Julius Petersen † und Hermann Schneider; 1961 ff.: Begründet von Julius Petersen †, hg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese; 1979 ff. hg. von Norbert Oellers und Siegfried Seidel †; seit 1992: Hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach von Norbert Oellers).Weimar 1943 ff. Zitate aus der Nationalausgabe werden im Folgenden in Klammern mit der Sigle NA sowie der Bandnummer und der Seitenangabe angegeben.  Zu diesen Merkmalen vgl. Wilhelm Vosskamp: Dialogische Vergegenwärtigung beim Schreiben und Lesen. Zur Poetik des Briefromans im 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 80 – 116 sowie Gerhard Sauder: Briefroman. In: RLW 1, S. 255 – 257.  Vgl. zur dialogischen Kommunikationssituation des Briefromans Monika Moravetz: Formen der Rezeptionslenkung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloïse und Laclosʼ Liaisons Dangereuses. Tübingen 1990 (Romanica Monacensia. Bd. 34), S. 25 – 28.  Zu den historischen Vorläufern des Briefromans vgl. Vosskamp, S. 81– 89. https://doi.org/10.1515/9783110541991-002

2.1 Vorwort: kognitive Funktion durch Wahrheitsanspruch

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sorten, ohne sich auf eine bestimmte philosophische Richtung oder eine bestimmte literarische Gattung festlegen zu wollen. Die Briefe gliedern sich in die folgenden Teile: (1) ein Vorwort des Herausgebers Schiller, (2) den Briefwechsel zwischen Julius und Raphael, hinter denen sich Schiller selbst bzw. Christian Gottfried Körner und womöglich noch weitere Jugendfreunde⁵ verbergen, (3) ein philosophisches Traktat mit dem Titel „Theosophie des Julius“, (4) eine Nachschrift zu diesem Traktat und (5) einen von Körner alias Raphael nachgeschobenen Brief an Schiller alias Julius. Bis auf den nachgeschobenen Brief Körners, der 1789 im siebten Heft von Schillers eigener Zeitschrift Thalia abgedruckt wurde, erschienen alle Teile der Philosophischen Briefe 1786 im dritten Heft dieser Zeitschrift. Allerdings ist die Anordnung der einzelnen Abschnitte, in der diese in der Thalia-Fassung abgedruckt sind, kein Abbild des tatsächlichen Entstehungsprozesses. Einige Bestandteile der Briefe – so etwa der Abschnitt „Aufopferung“ aus der „Theosophie“ – sind früher entstanden als andere.⁶

2.1 Vorwort: kognitive Funktion durch Wahrheitsanspruch Insofern das Aussagesubjekt der „Vorerinnerung“ mit dem Autor Friedrich Schiller identifiziert werden kann, handelt es sich dabei um einen faktualen Text. In diesem Vorwort des Herausgebers werden Motiv und Funktion des fragmentarischen Briefromans, für den bereits eine „Fortsezung“ (NA 20, S. 108) angekündigt wird, formuliert, d. h. der „Gesichtspunkt“ angegeben, „aus welchem wir den folgenden Briefwechsel gelesen und beurtheilt wünschen“ (NA 20, S. 108). Aus den Ausführungen des Vorworts lässt sich demnach eine explizite Wirkungspoetik abstrahieren, die den Kausalnexus von Funktion und Wirkungsdisposition regelt. Schiller weist dem Briefroman-Fragment die Funktion zu, die „Fieberparoxysmen des menschlichen Geistes“, nämlich „Skepticismus“ und „Freidenkerei“, in „Ueberzeugung“ und „fest[e] Gewisheit“ (NA 20, S. 108) zu transformieren, d. h. eine anthropologischpsychologische Balance zwischen einer radikal-idealistischen und einer radikal-materialistischen Ideologie zu vermitteln. Es handelt sich um die kognitive Funktion, „gewisse Wahrheiten und Irrthümer zu berichtigen“, die aus einer „halben Aufklä-

 Vgl. Helmut Koopmann: Schillers „Philosophische Briefe“ – ein Briefroman? In: Alexander von Bormann (Hg.): Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag. Tübingen 1976, S. 192– 216; hier S. 211 sowie 214. Koopmann ging in seinen Spekulationen über die Entstehung der Philosophischen Briefe noch davon aus, dass es sich bei der Person hinter der Figur Raphael um Schillers Jugendfreund und späteren Schwager Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald handelt. Diese These wurde mittlerweile kritisch reflektiert und teilweise widerlegt, so etwa bei Riedel: Anthropologie, S. 208.  Zur Editionsgeschichte der Philosophischen Briefe vgl. den Kommentar in NA 20, S. 151– 154, Koopmann: Philosophische Briefe sowie Riedel: Anthropologie, S. 203 – 238.

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2 Die Philosophischen Briefe

rung“ (NA 20, S. 107)⁷ resultierten. Damit koppelt Schiller sein Romanprojekt an die kognitive Funktion, wahre Aussagen zu vermitteln. Mit Gottfried Gabriel könnte man hier auch von einem „Wahrheitsanspruch“⁸ sprechen, der sich in diesem Fall aber nicht durch die Erschließung einer „Aussage des primären Sprechers auf der Ebene der Reflexion“ ⁹ ergibt, sondern der in der faktualen Vorrede des „primären Sprechers“, unter dem Gabriel die Äußerungsinstanz des gesamten Textes versteht¹⁰, explizit formuliert wird. Der Briefwechsel ist entsprechend so angelegt, dass er am individuellen Fall veranschaulicht, was in der „Vorerinnerung“ als allgemeine These formuliert wird. Diese „Exemplifikation“¹¹, d. h. das Verweisen eines Einzelnen auf etwas Allgemeines, wird durch eine „wohlüberlegte Stilisierung der handelnden Figuren“¹² möglich, hinter denen sich zwar einerseits die real existierenden Personen Friedrich Schiller, dessen Mitschüler an der Karlsschule Joseph Frederic Grammont¹³, Georg Friedrich Scharffenstein, Christian Gottfried Körner und womöglich noch weitere verbergen, die aber durch das Aufweisen bestimmter Eigenschaften nicht den Status eines Historisch-Einzelnen, sondern denjenigen eines Besonderen¹⁴ haben. Die Philosophischen Briefe dokumentieren damit einen Fiktionalisierungsprozess. Die Anonymisierung der empirischen Personen durch die unbestimmte Bezeichnung „Einige Freunde“ (NA 20, S. 107) dient nicht (nur) zur spielerischen Maskierung von wahren Identitäten, sondern sie ent-arretiert auch die fixe Referenzialisierbarkeit von Eigennamen¹⁵, ohne diese aber zu suspendieren. Die Figuren Julius und Raphael verweisen einerseits auf reale Personen und weisen andererseits wesentliche Eigenschaften ei-

 Der Begriff Aufklärung bezeichnet hier eine intellektuelle Tätigkeit. Als Epochen-Begriff etabliert sich das Wort erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Vgl. hierzu Peter-André Alt: Aufklärung. Stuttgart/ Weimar 1996 (Lehrbuch Germanistik), S. 5.  Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 95.  Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 94, Hervorhebung im Original. Den Begriff der Reflexionsebene übernimmt Gabriel von Monroe C. Beardsley, der zwischen der Ebene des Berichts und der Ebene der Reflexion eines literarischen Textes unterscheidet (vgl. Monroe C. Beardsley: Aesthetics. Problems in the Philosophy of Criticism. New York 1958). Eine ähnliche Unterscheidung unternimmt auch Peter Lamarque, der zwischen einer impliziten oder abgeleiteten Ebene des Gegenstands und einer expliziten oder abgeleiteten Ebene des Themas differenziert (vgl. Lamarque: Das Wahrheitsproblem der Literatur, S. 16).  Vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 44.  Zur Exemplifikation literarischer Zeichen vgl. Donatus Thürnau: Gedichtete Versionen der Welt. Nelson Goodmans Semantik fiktionaler Literatur. Paderborn u. a. 1994 (Explicatio).  Riedel: Anthropologie, S. 208.  Zu den Parallelen zwischen dem anthropologischen Fall „Julius“ und dem medizinischen Fall „Grammont“, den Schiller in der Karlsschule dokumentierte, vgl. Riedel: Anthropologie, S. 209.  Ich schließe mich hier der Explikation Gabriels an, der unter dem Besonderen dasjenige fasst, „was uns sprachlich durch einen referenzialisierenden Ausdruck im Singular, z. B. einen Eigennamen oder eine Kennzeichnung, gegeben ist oder gegeben werden kann“ (Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 84).  Zum semantischen Status und Erkenntniswert von Eigennamen vgl. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 162– 176.

2.1 Vorwort: kognitive Funktion durch Wahrheitsanspruch

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nes abstrakten Allgemeinen auf, weisen also über die Bedeutung der realen Person hinaus.¹⁶ Das Verhältnis zwischen dem faktualen Vorwort, in dem allgemeine Aussagen begrifflich-diskursiv repräsentiert werden, und dem fiktionalen Briefwechsel, in dem diese Aussagen anhand konkreter Beispiele veranschaulicht werden, entspricht damit einer „Umkehrung der Richtung des Bedeutens“¹⁷. Die diskursive Referenzrichtung vom Allgemeinen zum Einzelnen wird in die symbolische Referenzrichtung vom Einzelnen zum Allgemeinen verkehrt. Bei Letzterer handelt es sich um eine „komplexe Referenz“, insofern die Eigennamen „Julius“ und „Raphael“ eben nicht (nur) direkt auf Personen der Wirklichkeit verweisen, sondern wesentliche Eigenschaften, „Etiketten“, aufweisen, die sich auf Personen der Wirklichkeit anwenden lassen.¹⁸ Das Vorwort fungiert dabei als vermittelndes Kommunikationssystem und enthält explizite Exemplifikationssignale sowie explizite „Transfersignale“¹⁹, die den Leser dazu auffordern, den folgenden Text beispielhaft, d. h. innerhalb eines bestimmten „Exemplifikationskontextes“²⁰ zu verstehen. Dabei soll der konkrete Einzelfall auf einen allgemeinen Sachverhalt übertragen, d. h. in diesem Fall, das „Gemählde zweier Jünglinge von ungleichen Karakteren“ auf „einige Revolutionen und Epochen des Denkens, einige Ausschweifungen der grübelnden Vernunft“ (NA 20, S. 108) appliziert werden. Den Aussagen der Figuren „Raphael“ und „Julius“ im Briefwechsel wird eine andere wirkungspoetische Relevanz zugeschrieben als den Aussagen Schillers im Vorwort, insofern die „Meinungen, welche in diesen Briefen vorgetragen werden, […] nur beziehungsweise wahr oder falsch“ (NA 20, S. 108) seien. Ich unterscheide in diesem Sinn für die folgenden Ausführungen ein inneres, fiktionsinternes Kommunikationssystem, an dem die Figuren der fiktiven Welt beteiligt sind, von einem äußeren, fiktionsexternen Kommunikationssystem, an dem der Autor, der literarische Text und der Rezipient beteiligt sind (Abb. 2)²¹:

 Zum Unterschied zwischen „Verweisen“, „Mitteilen“ und „Aufweisen“ bzw. „Über-sich-Hinausweisen“ als verschiedene Arten des Bedeutens vgl. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 10.  Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 10.  Zur Applikation durch komplexe Referenz vgl. Thürnau, S. 132– 135.  Vgl. zu diesem Begriff Rüdiger Zymner: Uneigentlichkeit. Studien zur Semantik und Geschichte der Parabel. Paderborn u. a. 1999 (Explicatio), besonders S. 104– 115.  Thürnau, S. 92.  Eine ähnliche Unterscheidung für die Kommunikationssituation des Dramas findet sich bei Elke Platz-Waury: Drama und Theater. Eine Einführung. 5., vollständig überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 1999 (Literaturwissenschaft im Grundstudium. Bd. 2), S. 59 – 61.

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2 Die Philosophischen Briefe

Abb. : Literarisches Kommunikationsmodell

Den Ausführungen in der „Vorerinnerung“ zufolge enthält der Briefwechsel zwischen Julius und Raphael, also das innere Kommunikationssystem, keine Aussagen des primären Sprechers, sondern es kommt ihm die kognitive Funktion zu, solche Aussagen durch ein dialektisches Prinzip zu vermitteln. Dieses dialektische Prinzip besteht aus der exemplifikatorischen Darstellung von „Extreme[n]“ (NA 20, S. 107), die sich „endlich in eine allgemeine, geläuterte und festgegründete Wahrheit […] auflösen“ (NA 20, S. 108) sollen. Die Funktionszuschreibung gründet auf der anthropologischen Prämisse, dass das Gewinnen einer Wahrheitserkenntnis die Erfahrung ihres polaren Gegenteils voraussetze: „Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit – wir müssen den Irrthum – und oft den Unsinn – zuvor erschöpfen, ehe wir uns zu dem schönen Ziele der ruhigen Weisheit hinauf arbeiten“ (NA 20, S. 107). Schiller leitet aus dieser Prämisse die Strategie ab, „Zweifel“ und „Irrthümer“ sowie „Scepticismus“ und „Freidenkerei“ (NA 20, S. 108) darzustellen, um den Rezipienten durch eine „Art Katharsis“²² von diesen Zuständen zu reinigen. Denn ihre Darstellung helfe, „durch eben die unnatürliche Erschütterung die sie in gut organisirten Seelen verursachen, zulezt die Gesundheit bevestigen“ (NA 20, S. 108). Zu den vorausgesetzten anthropologischen Konstanten, auf denen Schiller die Funktionszuschreibungen seines Textes gründet, gehört auch ein Kausalnexus zwischen Geist und Körper im Sinne des commercium mentis et corporis ²³. Diese Denkfigur basiert zum einen auf der anthropologischen Annahme, dass „die Leidenschaften in ihren Extremen, Verirrungen und Folgen […] mit dem Gedankensysteme des Individuums“ (NA 20, S. 107) korrelieren. Zum anderen besteht sie aus einem Konnex von Verstand und moral sense ²⁴, einem „eingebohrnen sittlichen Gefühle“, das sich etwa in einer „moralischen Verschlimmerung“ durch eine „schwankende Philosophie“ (NA 20, S. 107) bemerkbar machen könne.

 Riedel: Anthropologie, S. 231.  Vgl. zur ideengeschichtlichen Tradition des Prinzips einer Körper und Geist verbindenden Mittelkraft und seiner Verwendung bei Schiller Riedel: Anthropologie, S. 61– 151 sowie Robert, S. 31– 36.  Zum Einfluss der moral sense-Lehre auf Schillers Werk vgl. Thomas Stachel: „Ein unbestechlich Gefühl für Recht und Unrecht.“ Schiller und der Moral Sense. In: Cordula Burtscher und Markus Hien (Hg.): Schiller im philosophischen Kontext. Würzburg 2011, S. 29 – 39.

2.2 Briefwechsel: Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis

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2.2 Briefwechsel: Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis Gemäß Schillers Ausführungen im Vorwort fungiert der Briefwechsel als exemplifizierende Veranschaulichung von „Epochen des Denkens“ und „Ausschweifungen der grübelnden Vernunft“ im „Gemählde zweier Jünglinge“ (NA 20, S. 108). Der Briefwechsel erweist sich aber auch als Medium für die Simulation eines dialektischen Kontrastprinzips. Raphael fungiert entsprechend als Lehrer, der seinen Schüler Julius durch eine quasi-maieutische Methode²⁵ die „Wahrheit“ selbst erkennen lassen will. Der erste Brief enthält eine Exposition, aus der hervorgeht, dass Raphael Julius in die Vernunftlehre einer rationalen Aufklärungsideologie eingeführt hatte, die nun durch die Abwesenheit des Freundes und Lehrers bei seinem Schüler ins Wanken geraten ist: „Eile zurük, auf den Flügeln der Liebe komm wieder oder deine zarte Pflanzung ist dahin. Konntest du mit deiner sanften Seele es wagen, dein angefangenes Werk zu verlassen, noch so ferne von seiner Vollendung?“ (NA 20, S. 109) Julius sehnt sich nach einem emotional erfüllenden Zustand naiven Aberglaubens, den er durch die „Lehre“ (NA 20, S. 111) Raphaels gegen einen gefühlsindifferenten Rationalismus eingetauscht habe: „Ich empfand und war glüklich. Raphael hat mich denken gelehrt, und ich bin auf dem Wege meine Erschaffung zu beweinen“ (NA 20, S. 109, Hervorhebungen im Original). Das rationalistische Dogma der Aufklärung hat bei Julius zu einer Entmystifizierung und Entsemantisierung religiöser Begriffe geführt, die ihm jetzt als „Klang ohne Sinn“ (NA 20, S. 110) erscheinen: „Tausend Dinge waren mir so ehrwürdig, ehe deine traurige Weisheit sie mir entkleidete“ (NA 20, S. 110). Dort, wo Julius die potentielle Freiheit eines vernunft- und verstandesgeleiteten Denkens anerkennt, sieht er dieses gleichzeitig von der Notwendigkeit eines „sterblichen Körpers“ (NA 20, S. 112) in die Schranken der Natur gewiesen²⁶: „wie beschränkt ist der Mensch! Wie groß der Abstand zwischen seinen Ansprüchen und ihrer Erfüllung!“ (NA 20, S. 112). Dass es sich bei diesem Lamento nicht um die Aussagen des primären Sprechers Schiller im äußeren Kommunikationssystem handelt, sondern um „Meinungen“ des inneren Kommunikationssystems, die „beziehungsweise wahr oder falsch“ sind, d. h. „gerade so, wie sich die Welt in dieser Seele und keiner andern spiegelt“ (NA 20, S. 108), geht nicht nur aus den Explikationen des Vorworts hervor, sondern lässt sich auch aus den Ausführungen Raphaels erschließen, der Julius’ „Abgrund der Zweifel“ (NA 20, S. 113) in einem allgemeinen Sinnhorizont verortet. Die semantischen und terminologischen Korrespondenzen zwischen den Ausführungen Raphaels und denjenigen im fakutalen Vorwort weisen darauf hin, dass dieser Figur eine Vermittlungsfunktion zwischen dem inneren und dem äußeren Kommunikationssystem zugewiesen wird. Im Sinn des Vorworts befindet sich Julius auf der Zwischenstufe eines Erkenntnisprozesses, der in die „erhabene Ruhe der  Zur maieutischen Methode einer didaktischen Aufklärungssokratik in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts vgl. Helmut Meinhardt: Maieutik II. In: HWP 5, Sp. 638.  Zum Prinzip der Notwendigkeit in Schillers früher Anthropologie vgl. Stachel: Ring der Notwendigkeit, S. 44– 58.

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Ueberzeugung“ (NA 20, S. 114) münden soll. Als gutes Beispiel für die Eigenschaft „skeptisch“, als das die Figur des Julius im Vorwort ausgewiesen wird, weist sie die wesentlichen Merkmale des prädikativen Ausdrucks „skeptischer Mensch“ wie „Zweifel“ (NA 20, S. 113), Nihilismus, Enttäuschung, Desillusionierung, Unglück usw. auf. Es handelt sich bei dieser Figur also um eine adäquate, d. h. zutreffende Darstellung einer typischen Eigenschaft der condicio humana, sodass man mit Gottfried Gabriel von der Erfüllung eines „Adäquatheitsanspruchs“²⁷ sprechen kann. Unter condicio humana verstehe ich hier und im Folgenden eine „dem Menschen eigene Grundverfassung“²⁸. Der in der Vorrede formulierte Anspruch, mit dem Briefroman eine Art Genealogie der Vernunft vorzulegen, d. h. ihre „Geschichte“ (NA 20, S. 107) zu behandeln, legt es nahe, die Rede von den „Epochen des Denkens“ (NA 20, S. 108) nicht nur auf die Ontogenese des menschlichen Individuums, sondern auch auf die Phylogenese der Menschheit zu beziehen.²⁹ Die Figur des Julius fungiert nicht nur als konkrete Verkörperung einer allgemeinen Eigenschaft bzw. eines bestimmten Zustands, sondern auch als Personifikation einer ideengeschichtlichen Entwicklung des Menschen vom Offenbarungsglauben der Scholastik zum dogmatischen Rationalismus der Frühaufklärung, dessen materialistische Unterminierung der Leibniz’schen Metaphysik zu einer Skeptizismus-Krise führt.³⁰ Julius’ Erfahrungen stehen somit stellvertretend für die allgemeinmenschliche Erfahrung einer Unvereinbarkeit von Gefühl und Verstand in der an der Ratio orientierten Frühaufklärung³¹: „Ein kühner Angriff des Materialismus stürzt meine Schöpfung ein“ (NA 20, S. 115). Es handelt sich bei der Darstellung dieser Figur also nicht nur um die Veranschaulichung einer wesentlichen Eigenschaft der condicio humana, in diesem Fall der Skepsis, sondern auch um die Vergegenwärtigung einer bestimmten Situation, in der sich die Figur befindet. Wie bereits im Vorwort angekündigt, soll am Beispiel der Figur des Julius „auf gewisse Perioden der erwachenden und fortschreitenden Vernunft aufmerksam“ (NA 20, S. 107) gemacht, d. h. im Fall des Julius veranschaulicht werden, wie eine Person in eine SkeptizismusKrise geraten kann und wie sie sich dann möglicherweise verhält. Der Briefwechsel macht den Rezipienten also durch die exemplarische Darstellung von allgemeinen Sachverhalten und Verhaltensweisen mit diesen bekannt, wobei

 Zum Adäquatheitsanspruch fiktionaler Literatur vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 82– 86.  Hans Peter Balmer: Condicio humana. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, mitbegründet von Walter Jens, in Verbindung mit Wilfried Barner et al., unter Mitwirkung von mehr als 300 Fachgelehrten. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 337– 348; hier Sp. 337.  Zur Analogisierung von Onto- und Phylogenese in den Philosophischen Briefen vgl.Walter Hinderer: Konnotationen von Freundschaft und Liebe in Schillers „Philosophischen Briefen“ und Hölderlins „Hyperion“. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 119 (2000), S. 498 – 516; hier S. 502 f., Riedel: Anthropologie, S. 206 sowie Robert, S. 240 f.  Zu den historischen Entwicklungen im Zeitalter der europäischen Aufklärung vgl. Alt: Aufklärung.  Vgl. Alt: Aufklärung, S. 7– 11.

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die kognitive Signifikanz eines solchen ‚Kennenlehrens‘³² nicht in der Vermittlung und im Erwerb von theoretischem Wissen³³, sondern in der einfachen Kenntnis der Sachverhalte und Verhaltensweisen besteht. Mit Gottfried Gabriel kann man diesbezüglich statt von einem Erkenntnis- von einem „Kenntniswert“³⁴ sprechen. Die kognitive Funktion, Kenntnis zu vermitteln, kann etwa darin bestehen, Gefühle verstehbar zu machen statt sie kausal zu erwecken.³⁵ Dabei soll die terminologische Nuancierung des Erkenntnisbegriffs auf den Umstand verweisen, dass eine Kenntnis zwar eine kognitive Signifikanz hat, dass es sich dabei aber nicht um propositionale Erkenntnis mit einem Wahrheitswert, sondern um nicht-propositionale Erkenntnis mit einem Erfahrungswert handelt.³⁶ Weil die Unterscheidung zwischen propositionaler Erkenntnis und nicht-propositionaler Erkenntnis zwar durchaus problematisch³⁷, in der Forschung zum Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur, Literatur und Erkenntnis, Literatur und Wissen, Literatur und Wahrheit usw. sowohl der Analytischen Philosophie als auch der Analytischen Literaturwissenschaft aber geläufig ist, übernehme ich die Begriffsnamen zur Bezeichnung zweier verschiedener Erkenntnisweisen für die vorliegende Untersuchung, in deren Zuge ich aber eine Präzisierung des Begriffspaars anstrebe.³⁸ Ich orientiere mich vorläufig an einer Bestimmung der Begriffe, die sich in der Forschung als konsensfähig erwiesen hat. Demnach verstehe ich unter dem Begriff propositionale Erkenntnis eine Erkenntnis, die sich auf einen abstrakten semantischen Gehalt, eben eine Proposition, bezieht, der einen Wahrheitswert (wahr oder falsch) hat und der sich sprachlich durch einen Dass-Satz repräsentieren lässt. Dagegen bezeichne ich mit nicht-propositionale Erkenntnis ein wahrheitsindifferentes Erfassen des Inhalts eines Gegenstands, Sachverhalts usw., das sich durch einen Wie-Satz umschreiben, aber sprachlich nicht oder mindestens nicht adäquat repräsentieren

 Vgl. Gottfried Gabriel: Der Erkenntniswert der Literatur. In: Alexander Löck und Jan Urbich (Hg.), unter Mitarbeit von Andreas Grimm: Der Begriff der Literatur. Transdisziplinäre Perspektiven. Berlin/ New York 2010, S. 247– 261; hier S. 260.  Tilmann Köppe begreift unter theoretischem Wissen Informationen darüber, „was in der Welt der Fall ist oder wie es sich mit etwas verhält“ (Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 50).  Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 261 sowie ders.: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur. In: Christoph Demmerling und Íngrid Vendrell Ferran (Hg.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin 2014 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderbände. Bd. 35), S. 163 – 180; hier S. 177.  Vgl. Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 259 f.  Vgl. Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 261.  Vgl. etwa Harald Fricke: Kann man poetisch philosophieren? Literaturtheoretische Thesen zum Verhältnis von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker. In: Gottfried Gabriel und Christiane Schildknecht (Hg.): Literarische Formen der Philosophie. Stuttgart 1990, S. 26 – 39. Fricke vertritt hier die These, dass es keine nicht-propositionale Erkenntnis, wohl aber nicht-propositionales „Lernen“ gebe. Bei Köppe: Literatur und Erkenntnis kommt die epistemische Zwischenform des Nicht-Propositionalen überhaupt nicht vor.  Vgl. das Kapitel 3.2.2.3 dieser Untersuchung.

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lässt.³⁹ Man kann mit guten Gründen daran zweifeln, ob es sinnvoll ist, im Falle nichtpropositionaler Erkenntnis überhaupt noch von Erkenntnis zu sprechen. Mit dem Begriffsnamen nicht-propositionale Erkenntnis wird aber darauf hingewiesen, dass es neben der begrifflich-distinkten, sprachlich repräsentierbaren Erkenntnis, die in apophantischer Rede typischerweise wissenschaftlicher Sachtexte ausgesagt wird, auch eine nicht-begriffliche, sprachlich nicht adäquat repräsentierbare ‚Erkenntnis‘ gibt, die durch fiktionale Rede literarischer Texte vermittelt ⁴⁰ wird. „Vermittelt“ heisst, dass sich nicht-propositionale Erkenntnis erst im Verstehensprozess konstituiert.⁴¹ Entsprechend lässt sich das Verhältnis zwischen der Vorrede der Philosophischen Briefe und dem Briefwechsel zwischen Julius und Raphael als Verhältnis zwischen einem propositionale Erkenntnis aussagenden faktualen Sachtext und einem nichtpropositionale Erkenntnis vermittelnden literarisch-fiktionalen Text spezifizieren. Während im Vorwort die These aufgestellt wird, dass Skeptizismus die Aufklärung des menschlichen Verstandes auf halbem Wege zum Stillstand bringe, wird in den Briefen am Beispiel der Figur „Julius“ gezeigt, wie sich ein solcher Skeptizismus im konkreten Fall äußern kann, d. h. welche Symptome ein von ihm betroffener Mensch aufweisen kann. Die nicht-propositionale Erkenntnis, wie etwas sein könnte, die durch den literarisch-fiktionalen Text vermittelt wird, ist nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls nicht-propositionalen Erlebnis, wie etwas ist, das im phänomenalen Bewusstsein des Rezipienten zu verorten ist und aus der mentalen Repräsentation einer subjektiven Erfahrung besteht.⁴² Ob die durch den literarisch-fiktionalen Text vermittelte Kenntnis eines Sachverhalts auf der Rezeptionsseite auch zu einem Erleben des Kenntnisgehalts führt⁴³, hängt davon ab, ob der Rezipient die vergegenwärtigte Erfahrung selbst schon einmal gemacht und mental präsent hat.⁴⁴ Zwar ist das durch den Briefwechsel und insbesondere durch die Briefe Julius’ dargestellte Allgemeine durch die Lektüreanweisung der Vorrede thematisch be Zu diesem Verständnis des Propositionalen und Nicht-Propositionalen vgl. Christiane Schildknecht: Proposition. In: RLW 3, S. 166 – 168, dies.: „Ein seltsam wunderbarer Anstrich“? Nichtpropositionale Erkenntnis und ihre Darstellungsformen. In: Brady Bowman (Hg.): Darstellung und Erkenntnis. Beiträge zur Rolle nichtpropositionaler Erkenntnisformen in der deutschen Philosophie und Literatur nach Kant. Paderborn 2007, S. 31– 43 sowie Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 261.  Zum sprechakttheoretischen Unterschied zwischen dem Aussagen und dem Vermitteln von Erkenntnis vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 107.  Vgl. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 9.  Vgl. zu dieser Unterscheidung Schildknecht: Literatur und Philosophie, S. 49 – 51 sowie Gabriel: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, S. 176.  Zum Unterschied zwischen der vom literarisch-fiktionalen Text vergegenwärtigten und vom Rezipienten imaginierten „virtuellen Erfahrung“ und der im realen Leben des Rezipienten erlebten „Alltagserfahrung“ vgl. Íngrid Vendrell Ferran: Das Wissen der Literatur und die epistemische Kraft der Imagination. In: Christoph Demmerling und Íngrid Vendrell Ferran (Hg.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin 2014 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderbände. Bd. 35), S. 119 – 140; hier S. 128 f.  Vgl. Schildknecht: Literatur und Philosophie, S. 50 f.

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stimmt⁴⁵, es lässt sich semantisch aber nicht einfach auf die Aussagen des Vorworts reduzieren. Durch die umgekehrte, symbolische Bedeutungsrichtung weist dieses Allgemeine einen Bedeutungsüberschuss auf, da die sprachlich nicht repräsentierbare nicht-propositionale Erkenntnis propositional uneinholbar ist.⁴⁶ Die Briefe sagen also gewissermaßen mehr als das Vorwort und dies nicht, weil sie umfangreicher sind, sondern weil sie durch die Aushebelung der Referenzialisierbarkeit die bereits angesprochene „Richtungsänderung des Bedeutens“⁴⁷ initiieren, d. h. von einem Besonderen auf ein Allgemeines verweisen, das sich sprachlich nicht vollends repräsentieren lässt. In epistemologischer Hinsicht korrespondiert eine solche Richtungsänderung des Bedeutens einer Richtungsänderung des Erkennens, die mit Kant anhand der Unterscheidung von „reflektierender“ und „bestimmender Urteilskraft“ beschrieben werden kann. Mit dem epistemologischen Terminus reflektierende Urteilskraft bezeichnet Kant die intuitive Suche eines nicht komplett bestimmbaren Allgemeinen zu einem vorgegebenen Besonderen. Unter dem Begriff der bestimmenden Urteilskraft versteht er umgekehrt die distinktive Subsumtion eines Besonderen unter ein vorgegebenes Allgemeines.⁴⁸ Bleibt man in Kants Terminologie, so lässt sich das Allgemeine, auf das die Erkenntnis bei der reflektierenden Urteilskraft gerichtet ist, als „ästhetische Idee“ bezeichnen, d. h. als „diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“⁴⁹. Die reflektierende Urteilskraft wird in den Briefen aber nicht nur durch die Veranschaulichung eines Allgemeinen im Besonderen, das auf dieses Allgemeine hinund darüber hinausweist, sondern auch durch einen exzessiven Gebrauch tropischer Ausdrücke in Gang gebracht. Die zahlreichen Figuren der Uneigentlichkeit aus dem Begriffsarsenal der Religion, Medizin, Optik, Zoologie und anderen bildspendenden Bereichen wie das „Heiligthum dieser Buchen“ (NA 20, S. 109), die „Flüge[l] der Liebe“⁵⁰ (NA 20, S. 109), die „Welt von Würmern“ (NA 20, S. 112) oder das „Gerüste der Schaubühne“ (NA 20, S. 115), um nur einige zu nennen, evozieren ein assoziatives ‚Denken in Bildern‘⁵¹, das aus Vorstellungen besteht, die „mehr denken lassen, als

 Zum Problem der Unbestimmtheit bei der Darstellung von Allgemeinem im Besonderen vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 102– 107.  Vgl. Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 259.  Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 11.  Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft, Einleitung, S. 87– 89. Zur Bedeutung der reflektierenden Urteilskraft als einer spezifischen Erkenntnisleistung bei der Rezeption literarisch-fiktionaler Texte vgl. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 11 sowie Thürnau, S. 154.  Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, S. 664.  Zur Flug-Metaphorik beim jungen Schiller vgl. Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. Die Räuber im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I). In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84 (1980), S. 71– 95.  Vgl. Helmut Koopmann: Denken in Bildern. Zu Schillers philosophischem Stil. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 30 (1986), S. 218 – 250.

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man bei einem durch Worte bestimmten Begriff ausdrücken kann“⁵². Kant weist der Initiation von ästhetischen Ideen durch die Verwendung ästhetischer, d. h. nicht-begrifflicher und alogischer Prädikate die emotive Funktion zu, „das Gemüt zu beleben“⁵³. Während in der expliziten Wirkungspoetik der – abgesehen von der ‚absoluten Metapher‘⁵⁴ der visuellen Epistemologie – vergleichsweise bilderarmen Vorrede keine emotiven Funktionen vorgesehen sind, lassen sich solche aus der impliziten Wirkungspoetik des Briefwechsels anhand entsprechender poetischer Strategien rekonstruieren. Solche Strategien sind die Veranschaulichung eines gesamtgesellschaftlichen Phänomens am individuellen Schicksal eines Einzelnen, der Einsatz uneigentlicher Rede⁵⁵ und die für das Genre „Briefroman“ typische Verwendung von Emotionswörtern wie „melancholi[sch]“ (NA 20, S. 108), „trauri[g]“ (NA 20, S. 109), „Freundschaft“ (NA 20, S. 109), „Liebe“ (NA 20, S. 109 sowie 112), „beweinen“ (NA 20, S. 109), „Begeisterung“ (NA 20, S. 110 sowie 115), „freudig“ (NA 20, S. 110), „Glükseeligkeit“ (NA 20, S. 111), „Genuß“ (NA 20, S. 111 sowie 112) oder „Zweifel“ (NA 20, S. 113). Während die „Vorerinnerung“ durch die begrifflich-argumentative Rede eine kognitive Signifikanz aufweist, lässt sich aus dem Briefwechsel, insbesondere aus den Briefen Julius’, die sowohl kognitive als auch emotive Funktion rekonstruieren, bestimmte Sachverhalte der Wirklichkeit für den Rezipienten erfahrbar zu machen. Aus dem Unterschied zwischen der kognitiv signifikanten Vorrede und dem emotiv signifikanten Briefwechsel lässt sich schließlich auch ein Unterschied zwischen dem philosophisch-faktualen Sachtext und dem literarisch-fiktionalen Text bzw. – allgemeiner – zwischen Denken und Dichten oder – noch allgemeiner – zwischen Philosophie und Poesie ableiten. Die Konzeption der Philosophischen Briefe ließe sich geradezu als Paradebeispiel anführen für dasjenige, was Kant unter Dichten versteht, bei dem einem Begriffe eine Vorstellung der Einbildungskraft unterlegt wird, die zu seiner Darstellung gehört, aber für sich allein so viel zu denken veranlaßt, als sich niemals in einem bestimmten Begriff zusammenfassen läßt, mithin den Begriff selbst auf unbegrenzte Art ästhetisch erweitert.⁵⁶

 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, S. 251.  Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, S. 251.  Zum Begriff der absoluten Metapher, der eine sich verselbständigte Metapher bezeichnet, die das eigentlich Gemeinte gewissermaßen tilgt, vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, kommentiert von Anselm Haverkamp unter Mitarbeit von Dirk Mende und Mariele Nientied. Frankfurt a. M. 2013 (Suhrkamp Studienbibliothek. Bd. 10), S. 14– 16.  Auch in außerliterarischen Kontexten, z. B. in einer politischen Rede oder dem Plädoyer eines Anwalts, fungiert die Verwendung von Tropen als rhetorische Persuasionsstrategie, die auf die Emotionen der Rezipienten zielt.  Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, S. 251.

2.3 „Theosophie des Julius“: Philosophie in Literatur

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2.3 „Theosophie des Julius“: Philosophie in Literatur Weil die Textgenese des in sich abgeschlossenen philosophischen Traktats „Theosophie des Julius“, bei dem es sich um einen „verlorenen Aufsaz“ (NA 20, S. 115) handeln soll, nicht komplett rekonstruierbar ist, kann über sein Entstehungsdatum nur spekuliert werden.⁵⁷ Der Inhalt des theosophischen Essays weist nicht nur kotextuelle Bezüge zur fiktiven Handlung des Romanfragments auf, sondern hat auch einen herausragenden Status im Kontext von Schillers Jugendphilosophie.Was hier pointiert formuliert wird, findet sich auch in der ersten Dissertation Schillers Philosophie der Physiologie (1779), der Karlsschul-Rede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet (1780), den Anthologie-Gedichten (1782), besonders denjenigen innerhalb des Laura-Zyklus⁵⁸, oder als wirkungspoetologisches Konzept in einem Brief an Schillers späteren Schwager Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald vom 14. April 1783, auf den im Kapitel 3.2.2.9 noch eingegangen werden wird. Dieser Status sowie die Koinzidenz zahlreicher philosophisch-anthropologischer Strömungen machen diesen Essay zu einem „Text eigener Art“⁵⁹. Schiller vereinigt in der „Theosophie“ Gedankengut aus verschiedenen philosophischen, anthropologischen und religiösen Strömungen, wie er sie in der Karlsschule vor allem im Unterricht bei Jakob Friedrich Abel kennen gelernt haben dürfte. Dazu gehören z. B. die platonische und neuplatonische Liebesphilosophie in der Traditionslinie von Platon bis Marsilio Ficino, die Hermetik⁶⁰ nach Jakob Hermann Obereit und Friedrich Christoph Oetinger, die Gravitationslehre nach Newton, die Idee der Emanation, d. h. der ‚Ausfließung‘ Gottes in die Natur, Philosopheme aus der Moralphilosophie Garves, Fergusons und Shaftesburys, der Popularphilosophie Moses Mendelssohns oder der Neologie Johann Joachim Spaldings sowie Leibniz’sches Gedankengut.⁶¹ Insofern die „Theosophie des Julius“ „die Resultate“ (NA 20, S. 114) eines idealistisch-metaphysischen „Nachdenkens“ (NA 20, S. 115) darstellten, „entworfen in jenen glüklichen Stunden meiner stolzen Begeisterung“ (NA 20, S. 115), kommt dem Aufsatz die Funktion zu, eine weitere Erkenntnisstufe des epistemischen Prozesses vom naiven Aberglauben zur „ruhigen Weisheit“ (NA 20, S. 107) zu exemplifizieren.

 Vgl. solche Spekulationen in NA 20, S. 160 f. sowie bei Koopmann: Philosophische Briefe und deren Kritik in Riedel: Anthropologie, S. 202.  Vgl. zur lyrischen Darstellung der Liebesphilosophie in den Gedichten „an Laura“ Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/III: Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger. Tübingen 2002, S. 431– 481.  Riedel: Anthropologie, S. 202.  Unter Hermetik oder Hermetismus ist eine auf den hellenistisch-ägyptischen Gott Hermes Trismegistos zurückgehende, platonisches und mystisches Gedankengut verbindende Lehre vom Wesen der Welt zu verstehen (vgl. Alfons Reckermann: Hermetismus, hermetisch. In: HWP 3, Sp. 1075 – 1078; hier Sp. 1075).  Zu den ideengeschichtlichen Hintergründen der „Theosophie“ vgl. Riedel: Anthropologie, Alt: Schiller I, S. 243 – 247 sowie Stachel: Ring der Notwendigkeit, S. 44– 64.

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Das philosophische Traktat stellt also mindestens in struktureller Hinsicht keinen „Fremdkörper“⁶² innerhalb der Philosophischen Briefe dar. Bei diesem „Glaubensbekenntniß meiner Vernunft“ (NA 20, S. 126) handelt es sich um eine radikal-idealistische Liebesphilosophie, die nicht im Modus logischen Argumentierens, wie er für eine „klügelnd[e] Vernunft“ (NA 20, S. 114) typisch wäre, sondern im Modus rhetorisch-metaphorischen Argumentierens⁶³ anhand spekulativer Axiome und suggestiver Metaphern-Komplexe präsentiert wird. Die „Theosophie“ wird nicht als Ergebnis eines Nachdenkens, sondern als Produkt aus Emotion und Einbildungskraft ausgewiesen, die einen antirationalistischen und antiszientifischen Wahrheitsbegriff generieren: „Mein Herz suchte sich eine Philosophie, und die Phantasie unterschob ihre Träume. Die wärmste war mir die Wahre.“ (NA 20, S. 115) Es handelt sich aber nicht nur um eine Philosophie in Metaphern, sondern auch um eine solche über Metaphern, insofern die Liebesphilosophie einen symboltheoretischen Überbau hat. Schiller ordnet sich dabei jeweils in eine Tradition typischen Metapherngebrauchs⁶⁴ ein, so z. B. dort, wo Liebe und kosmologische Schwerkraft analogisiert werden. Von Descartes und Leibniz übernimmt er vor allem die frühaufklärerische Verbindung von Rationalismus und Metaphysik⁶⁵, die den philosophischen Hintergrund für den ersten der insgesamt fünf Abschnitte des Traktats mit der Überschrift „Die Welt und das denkende Wesen“ abgibt. Aus der Annahme einer Identität von Gott und Natur, die diesen symbolisch abbilde, leitet Julius für den Menschen die Aufgabe ab, durch Dechiffrierung der Natursymbolik Gott anzuschauen. Der zentrale Ideenspender für das Theorem einer Natur als „unendlich getheilter Gott“ (NA 20, S. 124) ist wohl die sogenannte Physikotheologie, eine theologische Strömung der Aufklärung, die den metaphysischen Offenbarungsgedanken mit Erkenntnissen der Naturwissenschaft zu vereinen sucht.⁶⁶ Der Kerngedanke des folgenden Abschnitts mit der Überschrift „Idee“ besteht darin, dass die Erkenntnis eines Objekts mit dessen simultaner Inkorporierung einhergehe, sodass Subjekt und Objekt nicht mehr zu unterscheiden seien bzw. das Subjekt jetzt Objekt und das Objekt Subjekt sei: „Welchen Zustand wir wahrnehmen, in diesen treten wir selbst.“ (NA 20, S. 117) Es handelt sich also um eine Art ontologischer Epistemik, insofern die Erkenntnis des Gegenübers an eine Erweiterung des eigenen Seins gekoppelt wird.

 Koopmann: Philosophische Briefe, S. 197.  Zu Schillers philosophischem Stil als einem rhetorisch-metaphorischen Argumentieren vgl. Johannes Anderegg: Leseübungen. Kritischer Umgang mit Texten des 18. bis 20. Jahrhunderts. Göttingen 1970, S. 70 – 82.  Vgl. zu dieser Tradition Riedel: Anthropologie, S. 182– 198.  Vgl. Alt: Aufklärung, S. 7 f.  Vgl. die Ausführungen zur Physikotheologie bei Alt: Aufklärung, S. 34– 36 sowie Ulrich Stadler: Der technisierte Blick. Optische Instrumente und der Status von Literatur. Ein kulturhistorisches Museum. Würzburg 2003, S. 59 – 65. Zu den Einflüssen der Physikotheologie auf Schillers „Theosophie“ vgl. Stachel: Ring der Notwendigkeit, S. 44– 52.

2.3 „Theosophie des Julius“: Philosophie in Literatur

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Der Abschnitt „Liebe“ bildet sowohl inhaltlich als auch formal den Archimedischen Punkt des Aufsatzes. In diesem Abschnitt ist die zentrale These platziert, dass die Liebe als epistemisches Vehikel für die menschliche Apotheose fungiere: „Der Mensch, der es so weit gebracht hat, alle Schönheit, Größe, Vortreflichkeit im Kleinen und Großen der Natur aufzulesen, und zu dieser Mannichfaltigkeit die große Einheit zu finden, ist der Gottheit schon sehr viel näher gerükt.“ (NA 20, S. 121) Die theosophische Liebe, so führt Julius aus, setze einen reflexiven und einen kumulativen Prozess in Gang. Zum einen bestehe sie aus einer narzisstischen Selbstbetrachtung im Spiegel des Gegenübers und zum anderen aus einer Seinserweiterung durch die Aneignung fremder Eigenschaften: „Liebe findet nicht statt unter gleichtönenden Seelen, aber unter harmonischen. Mit Wohlgefallen erkenne ich meine Empfindungen wieder in dem Spiegel der deinigen, aber mit feuriger Sehnsucht verschlinge ich die höheren, die mir mangeln.“ (NA 20, S. 121) Den metaphysischen Erkenntnisprozess hat man sich demnach spiralförmig zu denken, insofern sich die in Liebe verbundenen Individuen einerseits durch reflexive Selbsterkenntnis um die eigene Achse drehen und andererseits durch reziproke Identitätserweiterung aufwärts bis hin zur Erkenntnis Gottes schrauben. Julius weist der Liebe damit die Funktion eines emotiven Erkenntnisinstruments zu, mit dessen Hilfe der Mensch die Einheit des in die Natur emanierten Gottes rekonstruieren und so Perfektibilität erlangen könne. Die Liebe fungiert als great chain of being ⁶⁷, als „Leiter, worauf wir emporklimmen zu Gottähnlichkeit“ (NA 20, S. 124). Der für das Genre „Briefroman“ typische Modus konzeptioneller Mündlichkeit⁶⁸ bestimmt auch den philosophischen Essay, insofern die mehrmalige direkte Ansprache des Briefpartners und die gehäufte Verwendung von Orts- und Zeitdeiktika Spontaneität und Kontinuität seiner Entstehung suggerieren. Der Modus konzeptioneller Mündlichkeit initiiert einen kognitiven Mitvollzug des Erkenntnisprozesses von dem Zeitpunkt, wo „der Saamen“ aufging, „den du selber in meine Seele streutest“ (NA 20, S. 126), bis zur vorläufigen Klimax, die den Beginn des Abschnitts „Liebe“ einleitet: „Jezt bester Raphael, laß mich herumschauen. Die Höhe ist erstiegen, der Nebel ist gefallen, wie in einer blühenden Landschaft stehe ich mitten im Unermeßlichen. Ein reineres Sonnenlicht hat alle meine Begriffe geläutert.“ (NA 20, S. 119) Der theosophische Essay präsentiert also nicht nur Gedanken zu einer idealistischen Liebesphilosophie, sondern repräsentiert auch die Denkprozesse, die zur Er-

 Vgl. zu dieser Denkfigur Riedel: Anthropologie, S. 76 sowie 114– 118. Die Idee einer Wesenskette stammt ursprünglich aus dem Fundus des neuplatonischen Gedankenguts und findet sich im achtzehnten Jahrhundert wieder in den Theorien des Biologen Charles Bonnet sowie in Alexander Popes Essaye on Man, hier als „Vast chain of being“.  Zur konzeptionellen als Alternative zur medialen Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit vgl. Peter Koch und Wulf Oesterreicher: Schriftlichkeit und Sprache. In: Hartmut Günther und Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 1. Halbband. Berlin/New York 1994 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Bd. 10.1), S. 587– 604.

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2 Die Philosophischen Briefe

kenntnis der Gedankeninihalte führen, und exemplifiziert dadurch ebenfalls „Revolutionen und Epochen des Denkens“ (NA 20, S. 108). Dabei wird die Kombination von begrifflich-argumentativer Vorrede und sinnlich-veranschaulichendem Briefwechsel durch die Kombination von rhetorisch-metaphorischer Argumentation in Prosa und sinnlich-veranschaulichender Repräsentation in Versform ergänzt. Den zum Teil aus dem Kontext des Gedichtzyklus Anthologie auf das Jahr 1782 stammenden und in die „Theosophie des Julius“ partiell integrierten philosophischen Gedichten kommt eine Persuasions- und Plausibilisierungsfunktion zu, insofern sie die im Prosateil der „Theosophie“ präsentierten Theoreme in lyrischer Form repräsentieren. Das Gedicht „Der Triumph der Liebe“ aus der Anthologie auf das Jahr 1782 erscheint innerhalb der „Theosophie“ titellos und auf ein paar wenige Verse reduziert. Es sind aber genau diejenigen Verse, die den Kerngedanken der theosophischen Liebesphilosophie, die Prämisse von der göttlichen Erkenntnisfunktion der Liebe, darstellen: „Liebe, Liebe leitet nur / zu dem Vater der Natur / Liebe nur die Geister“ (NA 20, S. 125). Die Konklusion des Abschnittes „Gott“, dass die Liebe als epistemisches Vehikel für die Erkenntnis des Göttlichen fungiere, wird durch die Bildsprache der Gedichtverse gleich doppelt veranschaulicht, nämlich einmal in den Versen: „Arm in Arme, höher stets und höher / vom Barbaren bis zum griech’schen Seher, / der sich an den lezten Seraph reiht, / Wallen wir einmüthgen Ringeltanzes, / bis sich dort im Meer des ewgen Glanzes / Sterbend untertauchen Maaß und Zeit.“ (NA 20, S. 124) und einmal in den oben bereits zitierten Versen aus dem Gedicht „Der Triumph der Liebe“. Die Gedichtfragmente sind durch die Dekontextualisierung aus dem Gedicht-Zyklus und die Rekontextualisierung im philosophischen Traktat Bestandteil von dessen Argumentationsstruktur und weisen in dieser Funktion eine kognitive Signifikanz⁶⁹ auf, die die begriffliche Vorstellung der theosophischen Theoreme aber um eine intuitive, sprachlich nicht repräsentierbare Vorstellung erweitert, die wiederum Kants ästhetischer Idee entspricht.

2.4 Nachschrift: Wahrheitstheorie Die Ausführungen im Anschluss an die „Theosophie“ gehören immer noch zum Briefwechsel zwischen Julius und Raphael, sind aber nicht mehr Bestandteil des philosophischen Essays, sondern fungieren als eine Art „Postskriptum“⁷⁰, in dem Julius auf einem höheren Reflexionsniveau über den Wahrheitswert des theosophischen Essays reflektiert. Er entwickelt dabei eine Semiotik, die auf den Konzepten der

 Zur kognitiven Funktion von Lyrik vgl. Zymner: Funktionen der Lyrik, S. 254 f. Zur kognitiven Signifikanz von Schillers philosophischen Gedichten vgl. Rüdiger Zymner: ‚Vergeistigungskünste‘: Zu Schillers philosophischen Gedichten. In: Christiane Schildknecht und Dieter Teichert (Hg.): Philosophie in Literatur. Frankfurt a. M. 1996 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 1225), S. 278 – 298 sowie Robert, S. 223 – 240.  Riedel: Anthropologie, S. 156.

2.4 Nachschrift: Wahrheitstheorie

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Arbitrarität und Konventionalität basiert⁷¹, und postuliert entsprechend eine Unterscheidung zwischen den Vorstellungsinhalten und den Dingen, wie sie wirklich sind. Die Vorstellungen, die der Mensch von Gegenständen in der Welt habe, seien nicht deren mimetische Abbilder, sondern bloß deren „nothwendig bestimmte und coexistirende Zeichen“ (NA 20, S. 126 f., Hervorhebung im Original). Die Theorie gründet auf der konstruktivistischen Annahme, dass die Vorstellungen von Dingen durch ein selbstreferentielles, d. h. geregeltes und sich selbst die Regel gebendes Denksystem determiniert seien, aus dem das Erkenntnissubjekt nicht ausbrechen könne. Die mentalen Konzepte von Gegenständen wie Gott, Seele oder Welt seien „nur die endemische [sic] Formen, worinn sie uns der Planet überliefert, den wir bewohnen“ (NA 20, S. 127). Weil es keinen zwingenden ontologischen Konnex von Vorstellungen und Vorgestelltem gebe, seien die menschlichen Begriffe von den Dingen arbiträr, d. h. das, was sich der Mensch unter dem Begriffsnamen Gott vorstelle, könne auch ganz anders sein und müsse zwangsläufig anders sein, denn „[s]ollten meine Ideen wohl schöner sein, als die Ideen des ewigen Schöpfers?“ (NA 20, S. 126) Der Konnex von mentalem Konzept und realem Gegenstand ist in Julius’ Zeichentheorie aber insofern konventionell, als eine Gesetzmäßigkeit in der Zuweisung von bestimmten Begriffsnamen zu bestimmten Vorstellungen angenommen wird, also „das Zeichen dem Bezeichneten durchaus getreu bleibt“ (NA 20, S. 127).⁷² Es bestehe zwar keine ontologische Adäquation zwischen der Vorstellung und dem damit bezeichneten realen Gegenstand, wohl aber eine systematische Analogie zwischen den „Gesezen der Denkkraft“ (NA 20, S. 127) und den Gesetzen in den Gegenständen selbst. Das Wahrheitskriterium dieser auf einem „sensualistische[n] Erkenntnismodell“⁷³ gründenden Wahrheitstheorie ist demnach nicht die Adäquatheit der „Idiome“ (NA 20, S. 127), d. h. der Sprachzeichen, sondern die Richtigkeit der „Schlüße“ (NA 20, S. 127). In seiner expliziten Wirkungspoetik knüpft Schiller mit dem Konzept einer ästhetischen Wahrheit an diesen sensualistisch-analogischen Wahrheitsbegriff an.⁷⁴

 Zur semiotischen Dimension von Schillers Philosophischen Briefen vgl. Albrecht Koschorke: Wissenschaften des Arbiträren. Die Revolutionierung der Sinnesphysiologie und die Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800. In: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999, S. 19 – 52.  Zeichen und Bezeichnetes entsprechen hier nicht dem, was Saussure mit signifiant (der sprachliche Ausdruck, das Sprachzeichen) und signifié (das mentale Konzept eines damit bezeichneten außersprachlichen Gegenstands) gemeint hat, sondern beziehen sich auf das Verhältnis von Begriff und realem Gegenstand.  Riedel: Anthropologie, S. 215. Die Idee einer an die Materialität der Zeichen gebundenen und durch eine sensorische Mittelkraft entstellte, subjektive Wahrnehmung der objektiven Wirklichkeit ist etwa schon in Fergusons Grundsätzen der Moralphilosophie oder bei den anthropologischen Medizinern Platner und Haller nachzulesen (vgl. Riedel: Anthropologie, S. 215 – 222).  Zum Unterschied zwischen logischer und ästhetischer Wahrheit vgl. das Kapitel 3.2.2.4 dieser Untersuchung.

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2 Die Philosophischen Briefe

2.5 Der letzte Brief (Körner an Schiller) Im April 1788 schreibt Christian Gottfried Körner in der Rolle des Raphael Schiller einen als „Fortsetzung der philosophischen Briefe“ (NA 21, S. 156) gedachten Brief, der 1789 als letztes Element des fragmentarischen Romanprojekts ins siebte Heft der Thalia aufgenommen wird. Körner stellt in diesem Brief noch einmal die Funktion des Briefromans als eines Aufklärungsprojekts heraus, das aus der Reflexion und Repräsentation einer epistemologisch-anthropologischen Entwicklung des Menschen von der „Unmündigkeit“ zur „Freiheit des Geistes“ (NA 21, S. 156, Hervorhebung im Original) bestehe. Dabei expliziert er auch den exemplifikatorischen Status von Julius’ Individualgeschichte, die als besonderer Einzelfall auf die Philosophiegeschichte im Allgemeinen verweise: „Auch war nichts natürlicher, als daß Deine philosophische Laufbahn bei Dir im Einzelnen eben so begann, als bei dem Menschengeschlechte im Ganzen.“ (NA 21, S. 157) Er verortet den Briefroman im Kontext der Kant’schen Aufklärungsphilosophie, an deren Duktus und Terminologie er sich unmissverständlich orientiert, sodass Schiller in seiner Antwort vom 15. April 1788 mit leicht mürrischem Unterton meint, er „kenne den Wolf am Heulen“ (NA 21, S. 153). So verbirgt sich hinter der Direktive, den „Werth des Selbstdenkens“ (NA 21, S. 157) zu erkennen und „Zutrauen zu Deinen eignen Kräften“ (NA 21, S. 157) zu gewinnen, Kants Imperativ des sapere aude. An der Feststellung, Julius habe den „Zustand der Unmündigkeit“ (NA 21, S. 156) überwunden und sei der „Vormundschaft Deiner Kindheit“ (NA 21, S. 157) entwachsen, lässt sich Kants berühmte Definition der Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“⁷⁵ erkennen. Schließlich kann Körners Bestimmung des Dichtens, die er im Rahmen seiner kritischen Anmerkungen zur „Theosophie des Julius“ formuliert, als poetologischer Kommentar des Briefroman-Projekts gelesen werden, bei dem es sich – wie oben gezeigt werden konnte – ebenfalls um die „Versinnlichung“ von „Ideen“ (NA 21, S. 159) handelt. Zusammenfassend handelt es sich bei den Philosophischen Briefen einerseits um ein ideengeschichtliches Konvolut, mit dem Schiller das Zusammenspiel verschiedenster philosophischer, anthropologischer und naturwissenschaftlicher Theoreme auslotet, und andererseits um eine literarische Hybridgattung, in der der Dichter Schiller mit den Darstellungsmodi und Wirkungspotentialen unterschiedlicher Textsorten experimentiert, ohne sich auf eine bestimmte philosophische Richtung oder eine bestimmte literarische Gattung festlegen zu wollen. Dem strukturellen Verhältnis zwischen dem poetologischen Vorwort und dem poetischen Briefwechsel korrespondiert das mediale Verhältnis zwischen faktualem und fiktionalem Text. Im faktualen Vorwort werden Erkenntnisse ausgesagt, die im fiktionalen Briefwechsel durch die Vergegenwärtigung allgemeinmenschlicher Eigenschaften und Erfahrungen ver-

 Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. In: ders.: Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1966, S. 53 – 61; hier S. 53.

2.5 Der letzte Brief (Körner an Schiller)

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mittelt werden. Während das faktuale Vorwort Bestandteil eines äußeren, fiktionsexternen Kommunikationssystems ist, konstituiert der fiktionale Briefwechsel ein inneres, fiktionsinternes Kommunikationssystem.

3 Explizite dramatische Wirkungspoetik Dieses Kapitel hat das Ziel, aus Schillers frühen poetologischen Texten ein Modell der expliziten dramatischen Wirkungspoetik abzuleiten. Dies geschieht auf der Grundlage des in der Einleitung dargestellten und im Kapitel 2 an den Philosophischen Briefen veranschaulichten wirkungspoetischen Schemas, das auf der Unterscheidung zwischen der Wirkungsdisposition, d. h. dem Wirkungspotential, und der Funktion, d. h. der potentiellen Wirkung, eines literarischen Textes basiert. Schillers explizite Wirkungspoetik des Frühwerks verteilt sich auf zwei Textgruppen, nämlich (1) auf die theatertheoretischen Texte Über das gegenwärtige teutsche Theater (1782) und Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784) sowie (2) auf die poetologischen Peri- und Paratexte der Dramen, zu denen die veröffentlichte und die unterdrückte Vorrede zur ersten Auflage der Räuber (1781), die Selbstbesprechung der Räuber in der Zeitschrift Wirtembergisches Repertorium (1782), die Vorrede zum Fiesko (1783) sowie die Briefe über Don Karlos (1788) gehören. Die beiden Textgruppen unterscheiden sich hinsichtlich ihres Gegenstands, insofern sich die Ausführungen im Theater-Aufsatz und in der Rede über die Wirkungen der Schaubühne auf das Theater im Allgemeinen und diejenigen in den poetologischen Peri- bzw. Paratexten auf einen bestimmten Dramentext beziehen. Schiller hat die am 26. Juni 1784 im Rahmen einer Tagung der Kurfürstlichen Deutschen Gesellschaft gehaltene Rede Vom Wirken der Schaubühne auf das Volk 1785 unter dem Titel Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? im ersten Heft seiner eigenen Zeitschrift Rheinische Thalia und dann noch einmal 1802 als überarbeiteten Aufsatz in der Sammlung Kleinere prosaische Schriften unter dem Titel Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet veröffentlicht.¹ Während die Titelvariante der Fassung von 1802 die Akzentuierung der ethischen Dimension des Theaters widerspiegelt, verweist der Unterschied zwischen dem ursprünglichen Titel der Rede und dem Titel der Thalia-Druckfassung auf eine Unterscheidung zwischen tatsächlicher Wirkung, die sich empirisch belegen lässt, und potentieller Wirkung, die sich theoretisch beschreiben lässt. Die Modalkonstruktion „kann […] wirken“ im Titel der ThaliaFassung präzisiert den Anspruch insofern, als es nicht um eine deskriptive Beschreibung spezifischer Leistungen des Theaters, sondern um die theoretisch-normative Zuschreibung von Funktionen, d. h. von Möglichkeiten theatraler Wirkung, geht. Schiller beschäftigt sich in der Schaubühnen-Rede aber nicht ausschließlich mit den Funktionen des Theaters², sondern er äußert sich außerdem zu den poetischen Mitteln, mit denen diese Funktionen theoretisch erfüllt werden können. Bei diesen poetischen Mitteln handelt es sich um rezeptionslenkende Dramatisierungsstrategien. Unter Dramatisierungsstrategie verstehe ich eine das Medium Drama konstituierende

 Zur Entstehungsgeschichte vgl. NA 21, S. 139.  Vgl. zu dieser Behauptung, die sich durch den Hinweis auf Schillers Ausführungen zur theaterspezifischen Medialität falsifizieren lässt, Alt: Schiller I, S. 382. https://doi.org/10.1515/9783110541991-003

3.1 Funktionen der Schaubühne (Wozu?)

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Technik, die die Wirkungsdisposition zur Erfüllung einer bestimmten Funktion aufweist. Dabei erweist sich die Eignung einer Dramatisierungsstrategie jeweils als abhängig vom kulturellen und historischen Kontext. Der Kausalnexus zwischen einer Dramatisierungsstrategie und einer erwartbaren Wirkung wird an eine zu einem gewissen Zeitpunkt kulturell etablierte Regelhaftigkeit gekoppelt, der gemäß innerhalb dieser Kultur und zu dieser Zeit die Darstellung bestimmter Inhalte in Kombination mit bestimmten Darstellungsweisen „normalerweise“³ zu bestimmten Reaktionen führt.⁴ Die Annahme solcher Regelhaftigkeiten impliziert ihrerseits die Annahme angeborener oder auch soziokulturell modellierter Gesetzmäßigkeiten wie etwa die Fähigkeit und Affinität zur Nachahmung, deren kognitionspsychologischer Ursprung sich mit Hilfe der heutigen Kenntnisse aus der Neurobiologie durch die Existenz von sogenannten Spiegelneuronen erklären lässt.⁵ So baut Schiller seine Funktionsbestimmung auf der anthropologischen Prämisse auf, dass der nach einem harmonischen Mittelzustand strebende Mensch an einer Überreizung leide, die in „wilde Zerstreuungen“ ausarten und so die „Ruhe der Gesellschaft“ gefährden könne (NA 20, S. 100). Daraus leitet er die Funktion der Schaubühne ab, diese Überreizung zu normalisieren: Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachtheil der andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genoßen wird. (NA 20, S. 100)

Schillers explizite theatrale Wirkungspoetik ist also abgesteckt (1) durch die kausale Frage „Weshalb gibt es Theater?“, (2) durch die finale Frage „Wozu dient Theater?“ und schließlich (3) durch die mediale Frage „Wodurch wirkt Theater?“, wobei der Fokus der poetologischen Schriften auf den Fragen (2) und (3) liegt.

3.1 Funktionen der Schaubühne (Wozu?) Die von Schiller dem Theater zugewiesenen Funktionen lassen sich außerdem (1) hinsichtlich ihrer Position innerhalb einer Funktionstaxonomie, (2) hinsichtlich ihrer

 Rüdiger Zymner: Gattungstheorie. Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft. Paderborn 2003, S. 187.  Zur kulturellen und historischen Variabilität von Funktionszuordnungen vgl. Zymner: Funktionen der Lyrik, S. 80 f.  Vgl. zur Bedeutung der Imitationsfähigkeit für die Rezeption fiktionaler Literatur Gerhard Lauer: Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung. In: Karl Eibl, Katja Mellmann und Rüdiger Zymner (Hg.): Im Rücken der Kulturen. Paderborn 2007 (Poetogenesis: Studien zur empirischen Anthropologie der Literatur. Bd. 5), S. 137– 163 sowie ders.: Das Spiel der Einbildungskraft. Zur kognitiven Modellierung von Nachahmung, Spiel und Fiktion. In: Thomas Anz und Heinrich Kaulen (Hg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin/New York 2009, S. 27– 37; hier S. 31 f.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

kognitionspsychologischen Signifikanz und (3) hinsichtlich ihrer thematischen Ausrichtung systematisieren. (1) Aus Schillers Aufzählung verschiedener Funktionen lässt sich eine Funktionstaxonomie abstrahieren, die sich durch eine skalare Gliederung in übergeordnete und untergeordnete bzw. generelle und unmittelbare Funktionen ergibt. Ich will die generellen Funktionen im Folgenden mit einem Begriff aus der Evolutionspsychologie und der Verhaltensforschung als ultimate Funktionen und die unmittelbaren Funktionen unter Rückgriff auf dieselbe Terminologie als proximate Funktionen bezeichnen.⁶ Unter den ultimaten Funktionen fasse ich solche Funktionen, die innerhalb der Funktionszuweisung als die grundlegenden, wichtigsten oder eben ‚letzten‘ Funktionen ausgezeichnet werden. Dagegen haben proximate Funktionen innerhalb einer solchen Zuweisung den Status von unmittelbaren Hilfsfunktionen. Welcher Status einer Funktion zukommt, hängt davon ab, mit welcher anderen Funktion sie in Beziehung gesetzt wird, sodass dieselbe Funktion x in Bezug auf eine proximate Funktion y ultimat und in Bezug auf eine ultimate Funktion z proximat sein kann. (2) Die kognitionspsychologisch bestimmte Skala ist auf der einen Seite durch die emotive Funktion der kausalen Emotionsevokation und auf der anderen Seite durch die kognitive Funktion der Initiation propositionaler Erkenntnis begrenzt. (3) Thematisch oder inhaltlich lassen sich die Funktionen in nicht trennscharfe, prononciert ästhetische, prononciert moralische und prononciert anthropologische Funktionen gliedern. Jede thematisch bestimmte Funktion kann zusätzlich durch ihren Status innerhalb der Funktionstaxonomie und durch ihre kognitionspsychologische Signifikanz bestimmt werden. Diese Systematisierung lässt sich durch das folgende taxonomische Modell (Abb. 3). schematisch darstellen. Die Pfeile zeigen an, dass die Achsen jeweils als Kontinua zu verstehen sind. Proximat und ultimat bzw. emotiv und kognitiv sind keine binären, sondern skalare Begriffe.

Abb. 3: Funktionstaxonomie

 Zur Unterscheidung von ultimaten und proximaten Funktionen der Lyrik vgl. Zymner: Funktionen der Lyrik, S. 301 sowie 314.

3.1 Funktionen der Schaubühne (Wozu?)

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3.1.1 Ästhetische Funktion: metaphysische Bildung Als „höchste und lezte Foderung, welche der Philosoph und Gesezgeber einer öffentlichen Anstalt nur machen können“, bestimmt Schiller die „Beförderung allgemeiner Glückseligkeit“ (NA 20, S. 88). Er verwendet den Begriff der Glückseligkeit auch in der „Theosophie des Julius“ im Zusammenhang mit der Liebe, die hier als „Begierde nach fremder Glükseligkeit“ definiert wird (NA 20, S. 119). In diesem theosophischen Kontext ist Glückseligkeit an die Wahrnehmung von Vollkommenheit im Sinne einer göttlichen Ordnung aller in der Natur wahrnehmbaren Dinge zu einem harmonischen Ganzen gekoppelt. Der unmittelbare Ideenspender dieses Konnexes von Glückseligkeit und Vollkommenheit ist wahrscheinlich Moses Mendelssohn, der im Briefroman Über die Empfindungen (1755) zwischen einer „sinnlichen Schönheit“ als harmonischem „Einerley im Mannigfaltigen“ und einer göttlichen Vollkommenheit als teleologischer „Einhelligkeit des Mannigfaltigen“⁷ unterscheidet. Während sich schöne Gegenstände durch die einheitliche Ordnung ihrer Bestandteile auszeichneten⁸, bestehe die „wahre Vollkommenheit“ in der teleologischen Ausrichtung der Bestandteile eines Gegenstands auf seinen „Endzweck“.⁹ Das Attribut „sinnlich“ verweist auf die epistemische Dimension von Schönheit. Diese korrespondiert auf Rezeptionsseite einer sinnlichen, d. h. vor-rationalen und nicht-propositionalen Erkenntnis einer Einheit in der Vielheit¹⁰, die im Gegensatz zur propositionalen Erkenntnis Affekte wie das an die Schönheit gekoppelte Vergnügen evoziere.¹¹ Als Bedingung für die nicht-propositionale Erkenntnis des Schönen setzt Schiller einen „ästhetische[n] Sinn“ (NA 20, S. 90) als anthropologische Konstante voraus. Bei diesem „Gefühl für das Schöne“ (NA 20, S. 90) handelt es sich um ein ästhetisches Korrelat zum moralphilosophischen moral sense ¹², d. h. dem Gefühl für Recht und Unrecht, das als angeborene anthropologische Disposition vorausgesetzt wird. Eine spezifische Leistung des Theaters besteht Schiller zufolge darin, diesen ästhetischen Sinn zu aktivieren. Damit sollen die extremen psychischen und physischen Zustände wie die Überanstrengung des Intellekts oder die Übersättigung der Sinne, denen der Mensch im Alltag ausgesetzt sei, in einem harmonischen Mittelzustand ausbalanciert

 Moses Mendelssohn: Über die Empfindungen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 1: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1929 mit einem Bildnis und einem Faksimile, bearb. von Fritz Bamberger. Stuttgart 1971, S. 43 – 123; hier S. 85.  Diese Explikation von Schönheit findet sich auch in Mendelssohns Abhandlung Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (vgl. Moses Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften. In: ders.: Schriften zur Philosophie, Ästhetik und Apologetik. Bd. 2: Schriften zur Psychologie, Ästhetik sowie zur Apologetik des Judentums, hg. von Moritz Brasch. Hildesheim 1968, S. 143 – 168; hier S. 150).  Mendelssohn: Über die Empfindungen, S. 58 – 60.  Vgl. Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 146 f.  Vgl. Mendelssohn: Über die Empfindungen, S. 48 f.  Zum Verhältnis zwischen moralischem und ästhetischem Sinn bei Shaftesbury vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Affektpoetik. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen. Würzburg 2005, S. 16.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

werden, was die Glückseligkeit des Menschen letztlich befördere (vgl. NA 20, S. 90). Den Begriff des ästhetischen Gefühls und die Bestimmung des Theaters als Medium, durch das dieses Gefühl evoziert und konstituiert wird, übernimmt Schiller telquel von Johann Georg Sulzer, der den schönen Künsten in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (1771– 1774¹³) eben diese Funktion zuweist.¹⁴ Die Begründung für den hier unterstellten Kausalnexus von psychophysischer Ausgeglichenheit und Glücksempfinden findet sich wiederum bei Mendelssohn. Der physisch gesunde Mensch empfinde Lust, so die Argumentation Mendelssohns, weil das Nervensystem als commercium mentis et corporis das „Gefühl“ der organischen Ordnung an das Gehirn weiterleite, wo es in eine angenehme Vorstellung physischer Vollkommenheit umgewandelt werde.¹⁵ Schiller knüpft zumindest teilweise an solche medizinisch-anthropologischen Konzeptionen von Glückseligkeit an, versieht den Begriff aber zudem mit einer moralphilosophischen Implikation, wie sie für Aristoteles’ Eudämonie-Konzept bezeichnend ist. Glück oder Glückseligkeit erreicht demnach der nach dem Maßstab der Tugend handelnde Mensch und das Erreichen von Glückseligkeit (eudaimonia) entspricht sittlicher Vollkommenheit.¹⁶ Schiller begründet das Primat dieser Funktion also einerseits evolutionsbiologisch mit dem Hinweis auf die „Dauer des physischen Lebens“, das durch das Glückseligkeitsstreben verlängert werde. Andererseits begründet er es moralphilosophisch mit dem Hinweis auf die condicio humana, die durch dieses Streben „veredelt“ werde (NA 20, S. 88). Aus der Perspektive einer medizinischen Anthropologie wird der Schaubühne Stressreduktion im Sinne einer Ausbalancierung von emotiven und kognitiven Kräften als proximate Funktion, d. h. als „Werkzeu[g] höherer Plane“ (NA 20, S. 90), und aus der Perspektive einer philosophischen Anthropologie menschliche Perfektibilität als ultimate Funktion zugewiesen. Schiller weist dem Theater die auf der Denkfigur des ganzen Menschen¹⁷ basierende ultimat-ästhetische Funktion zu, Geist, Körper, Gefühl und Seele durch eine Verstrickung von prodesse, d. h. der „Bildung des Verstands“ (NA 20, S. 90), und delectare, d. h. der „edelsten Unterhaltung“ (NA 20, S, 90), in einem „mittleren Zustand […] sanfter Harmonie“ (NA 20, S. 90) zu arretieren.

 Der erste Teil der Enzyklopädie erschien 1771, der zweite Teil 1774.  Vgl. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Erster Theil. Leipzig 1771, S. III sowie IV.  Vgl. Mendelssohn: Über die Empfindungen, S. 84.  Vgl. Joachim Ritter, Otto Herrmann Pesch und Robert Spaemann: Glück, Glückseligkeit. In: HWP 3, Sp. 679 – 707.  Zu den Figurationen dieser Denkfigur im achtzehnten Jahrhundert vgl. den Sammelband von HansJürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart 1994. Zum Konzept des ganzen Menschen beim jungen Schiller vgl. Riedel: Anthropologie, S. 68 f. sowie 134.

3.1 Funktionen der Schaubühne (Wozu?)

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3.1.2 Ethische Funktion: moralische Bildung Während die Zuweisung einer ulitmat-ästhetischen Funktion auf der Annahme eines angeborenen ästhetischen Sinns beruht, der im Medium des Theaters aktiviert werde, gründet die Zuweisung proximat-ethischer¹⁸ Funktionen entsprechend auf der Annahme eines anthropologisch verankerten und soziokulturell modellierten moralischen Sinns als eines natürlichen Gerechtigkeitsempfindens. Ein solcher moral sense ist bereits in der neuzeitlichen Moralphilosophie ein polysemer Begriff mit zahlreichen Bedeutungsimplikationen, die Schiller jeweils ohne explizite Bezugnahme in seine Theaterschriften übernimmt.¹⁹ In der Schaubühnen-Rede ist der moral sense Bedeutungskomponente eines ebenfalls nur schwer greifbaren Gewissensbegriffs. Dieser referiert im Frühwerk noch auf die mindestens bis zu Kants moralphilosophischen Schriften vorherrschende Gewissenskonzeption Shaftesburys, Wolffs und Rousseaus, deren Philosopheme Schiller höchstwahrscheinlich als Schüler an der Karlsschule bei Jakob Friedrich Abel kennen gelernt hat.²⁰ Aus Schillers Ausführungen zum Gewissen lässt sich die proximate ethische Funktion rekonstruieren, den als anthropologische Disposition vorausgesetzten moral sense durch die Darstellung amoralischen Verhaltens zu aktivieren: Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen preißen, wenn Lady Makbeth […] ihre Hände wäscht, und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen. Wer von uns sah ohne Beben zu, wen durchdrang nicht lebendige Glut zur Tugend, brennender Haß des Lasters, als, aufgeschröckt aus Träumen der Ewigkeit, von den Schrecknissen des nahen Gerichts umgeben, Franz von Moor aus dem Schlummer sprang, als er, die Donner des erwachten Gewissens zu übertäuben, Gott aus der Schöpfung läugnete, und seine gepreßte Brust, zum lezten Gebete vertrocknet, in frechen Flüchen sich Luft machte? (NA 20, S. 92)

Dieser proximat-ethischen Funktion kommt eine emotive Signifikanz in der Form eines gemischten Affekts aus Lust und Unlust zu, der durch die Transformation des intuitiven Gerechtigkeitsempfindens in ein moralisches Bewusstsein evoziert werde. Dabei präfiguriert dieses „wollüstig[e] Entsezen“ (NA 20, S. 92) bereits das an der Kant’schen Moralphilosophie angelehnte, die Positionen Lessings und Mendelssohns vereinigende Gefühl des Pathetisch-Erhabenen.²¹ Schiller profiliert das Theater als institutionelle Alternative zu den juridischen Direktiven des Gesetzes und den Glaubensmaximen der Religion. Dabei weist er ihm

 Ethisch verstehe ich hier im Sinne von ‚moralphilosophisch‘, d. h. ‚sich auf moralphilosophische Aspekte beziehend‘.  Vgl. Stachel: Schiller und der Moral Sense.  Zu den Einflüssen Abels auf Schillers Denken vgl. Alt: Schiller I, S. 141– 150.  Zur poetologischen Konzeption des Pathetisch-Erhabenen als Synthese von Lessings Mitleidspoetik und Mendelssohns Erhabenheitspoetik vgl. Hans-Jürgen Schings: Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchner. München 1980, S. 46 – 53.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

die ethische Funktion der nicht-propositionalen Vermittlung moralischer Regeln²² zu, die durch Gesetze zwar verbindlich, aber bloß diskursiv anhand von „verneinende[n] Pflichten“ (NA 20, S. 91) und durch Religion zwar sinnlich, aber nur uneigentlich anhand von Metaphern vermittelt würden. Die theoretische Funktion, „[r]ichtigere Begriffe“ (NA 20, S. 97) des Ethischen durch exemplarische Vergegenwärtigung nichtpropositional zu vermitteln, erweist sich als proximat für die pragmatische Funktion, moralisch gutes Handeln zu initiieren: „Mit welch herrlichen Empfindungen, Entschlüssen, Leidenschaften schwellt sie [die Schaubühne] unsere Seele, welche göttliche Ideale stellt sie uns zur Nacheiferung aus!“ (NA 20, S. 93) Als Beispiel für ein solches Ideal führt Schiller die Figur des August aus Corneilles Tragödie Cinna ou la Clémence d’Auguste (1643) an, die ihrem Widersacher Cinna als Geste der Vergebung die Hand reicht: „Wer unter der Menge wird in dem Augenblick nicht gern seinem Todfeind die Hand drücken wollen, dem göttlichen Römer zu gleichen?“ (NA 20, S. 93) Die Argumente für die Prämisse einer solchen Nachahmungsaffinität stammen aus der Theorie des Heroisch-Erhabenen, die Schiller ebenfalls im Unterricht an der Karlsschule sowie aus eigener Lektüre von Moses Mendelssohns ästhetischen Schriften kennen gelernt haben dürfte.²³ In seinem programmatischen Aufsatz Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften (1758) bestimmt Mendelssohn das Erhabene wirkungsästhetisch als „sinnlichen Ausdruck einer solchen Vollkommenheit, die Bewunderung erreget“²⁴. Ein Blick in die „Theosophie des Julius“ aus den Philosophischen Briefen zeigt, dass Schiller diesen an die Evokation von Bewunderung gekoppelten Begriff des Heroisch-Erhabenen im Sinn hat, wenn er von der menschlichen Nachahmungsaffinität spricht. Im Abschnitt „Idee“ der „Theosophie“ führt Julius für seine These von der ontologischen Epistemik, d. h. einer identifikatorischen Verwechslung von erkennendem Subjekt und Erkenntnisobjekt (vgl. Kapitel 2.3), die folgende anthropologische Begründung an: Wenn wir z. B. eine Handlung der Großmut, der Tapferkeit, der Klugheit bewundern, regt sich da nicht ein geheimes Bewußtsein in unserm Herzen, daß wir fähig wären ein gleiches zu thun? Verräth nicht schon die hohe Röthe, die bei Anhörung einer solchen Geschichte unsre Wangen färbt, daß unsre Bescheidenheit vor der Bewunderung zittert? daß wir über dem Lobe verlegen

 Zum Ethischen als Bereich des Nichtpropositionalen vgl. Schildknecht: Nichtpropositionale Erkenntnis, S. 33.  Während es zu Schillers nachkantischem Konzept des Pathetisch-Erhabenen eine Reihe erhellender Forschungskommentare gibt (vgl. etwa Klaus L. Berghahn: „Das Pathetischerhabene“. Schillers Dramentheorie. In: Deutsche Dramentheorie I. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland. 3., überarb. Aufl.Wiesbaden 1980 (Athenaion-Literaturwissenschaft. Bd. 11), S. 197– 222), sind Untersuchungen zu seinem vorklassischen und vorkantischen Erhabenheitsbegriff – soweit ich sehe – noch Desiderat (eine Ausnahme ist Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin 2004 (Philologische Studien und Quellen. Bd. 186)).  Moses Mendelssohn: Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 1: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1929 mit einem Bildnis und einem Faksimile, bearb. von Fritz Bamberger. Stuttgart 1971, S. 193 – 218; hier S. 194.

3.1 Funktionen der Schaubühne (Wozu?)

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sind, welches uns diese Veredlung unsers Wesens erwerben muß? Ja unser Körper selbst stimmt sich in diesem Augenblik in die Gebärden des handelnden Menschen, und zeigt offenbar, daß unsre Seele in diesen Zustand übergegangen. (NA 20, S. 117)

Die ethische Funktion des Theaters, wie sie aus der Schaubühnen-Rede rekonstruiert wurde, besteht also (1) aus der Aktivierung des moral sense, (2) aus der Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis von moralisch rechtem Handeln bzw. aus der „sittliche[n] Bildung“ (NA 20, S. 97) und (3) aus der Initiation moralisch guter Handlungen.

3.1.3 Anthropologische Funktion: menschliche Bildung Schiller weist der Schaubühne eine prononciert anthropologische Funktion zu, wenn er sie als „Schule der praktischen Weißheit“ (NA 20, S. 95) profiliert, die „den Menschen mit dem Menschen bekannt“ (NA 20, S. 97) mache. Eine emotive anthropologische Funktion besteht Schiller zufolge in der Evokation eines philanthropischen common sense, d. h. des im Kollektiv des sozial heterogenen Theaterpublikums erlebten Gemeinschaftsgefühls, „ein Mensch zu seyn“ (NA 20, S. 100, Hervorhebung im Original): wenn Menschen aus allen Kraisen und Zonen und Ständen, abgeworfen jede Fessel der Künstelei und der Mode, herausgerissen aus jedem Drange des Schicksals, durch eine allwebende Sympathie verbrüdert, in Ein Geschlecht wieder aufgelößt, ihrer selbst und der Welt vergessen, und ihrem himmlischen Ursprung sich nähern. Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen, und seine Brust giebt jezt nur Einer Empfindung Raum […]. (NA 20, S. 100)

Der anthropologischen Funktion, einen philanthropischen common sense zu evozieren, korrespondiert die soziopolitische Funktion, ein nationales Identitätsbewusstsein zu konstituieren. Darunter versteht Schiller das Bewusstsein der „Aehnlichkeit und Uebereinstimmung seiner [des Volkes] Meinungen und Neigungen bei Gegenständen, worüber eine andere Nation anders meint und empfindet“ (NA 20, S. 99). Die anthropologisch-emotive Funktion, einen philanthropischen common sense zu evozieren, und der soziopolitisch-emotive „Endzweck“ (NA 20, S. 99), ein Nationalitätsbewusstsein zu konstituieren, werden noch um die anthropologisch-kognitive Funktion ergänzt, Kenntnisse verschiedener Menschentypen und Lebenssituationen zu vermitteln. Der Rezipient soll mit der „Summe der Laster“ wenigstens „bekannt“ gemacht werden, wenn diese „weder getilgt noch vermindert“ (NA 20, S. 95) werden können. Es handelt sich dabei um den im Kapitel 2.2 im Zusammenhang mit der Wirkungspoetik der Philosophischen Briefe bereits erläuterten Kenntniswert, der sich aus der nicht-propositionalen Vergegenwärtigung des wirklichen Lebens²⁵ ergibt und in dieser Form eine Alternative zum Wahrheitswert einer propositionalen Aussage darstellt. Eine solche nicht-propositionale Kenntnis vermittelt die Schaubühne  Vgl. Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 261.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

Schiller zufolge, indem sie das „geheime Räderwerk“ (NA 20, S. 97) menschlichen Handelns evident mache: Die Schaubühne hat uns das Geheimniß verrathen, sie [die Lasterhaften] ausfündig und unschädlich zu machen. Sie zog dem Heuchler die künstliche Maske ab, und entdeckte das Nez, womit uns List und Kabale umstrickten. Betrug und Falschheit riß sie aus krummen Labirinthen hervor, und zeigte ihr schreckliches Angesicht dem Tag. (NA 20, S. 95 f.)

Neben der ethischen Funktion der moralischen Bildung hat auch die anthropologische Funktion, den Rezipienten mit der condicio humana durch deren nicht-propositionale Vergegenwärtigung bekannt zu machen, eine kognitive Signifikanz.²⁶ Schiller beschränkt den kognitiven Wert der Bühneninszenierung nicht auf die nicht-propositionale Vergegenwärtigung der condicio humana, sondern hat auch eine „Verschränkung von Textverstehen und Wirklichkeitsverstehen“²⁷ im Blick. Diese soll dann zustande kommen, wenn der Rezipient die durch den physisch repräsentierten Dramentext vermittelte Kenntnis auf die Lebenswirklichkeit appliziert und dabei allenfalls zur propositionalen Erkenntnis gelangt, dass hier der Fall ist, was innerhalb der fiktiven Welt des Theaters vergegenwärtigt wurde. Propositionale Erkenntnis kann also zwar nicht vermittelt, aber initiiert werden. Dass Schiller der Schaubühne die kognitive Funktion zuweist, nicht-propositionale Kenntnis aus der fiktiven Welt des Dramas in propositionales Wissen über die wirkliche Welt zu transformieren, geht etwa aus seiner Aussage hervor, der Eigenname der Figur Franz Moor werde gelegentlich zur Bezeichnung lasterhaften Verhaltens funktionalisiert: „Ich selbst bin mehr als einmal ein Zeuge gewesen, als man seinen ganzen Abscheu vor schlechten Thaten in dem Scheltwort zusammenhäufte: Der Mensch ist ein Franz Moor.“ (NA 20, S. 92) Die epistemologischen Implikationen dieser Antonomasie werden im Kapitel 3.2.2.5 näher erläutert. Aus Schillers Vorstellung einer Transformation nicht-propositionaler Erkenntnis in propositionale geht bereits hervor, dass es wenig Sinn macht, die beiden erkenntnistheoretischen Begriffe gegeneinander auszuspielen. Vielmehr hat man sie sich auf einem Kontinuum zu denken, insofern nicht-propositionale Erkenntnis eine epistemische Vorstufe von propositionaler Erkenntnis sein kann.²⁸ Im Kapitel 3.2.2.2.2 wird sich zeigen, dass diese Vorstellung auch in der Rationalen Ästhetik nach Baumgarten vorherrschend ist.

 Zum kognitiven Wert nicht-propositionaler Vergegenwärtigung vgl. Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 261.  Thürnau, S. 151.  Vgl. hierzu Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 223.

3.2 Dramatisierungsstrategien

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3.2 Dramatisierungsstrategien Die taxonomische Systematisierung von Schillers expliziter Wirkungspoetik hat bereits deutlich gemacht, dass die Zuweisung von Funktionen jeweils an die Voraussetzung anthropologischer Konstanten gekoppelt ist, aus denen eine spezifische Wirkungsdisposition abgeleitet wird. So gründet etwa der wirkungspoetische Kausalnexus zwischen der Darstellung einer als amoralisch qualifizierten Handlung und der Konstituierung eines moralischen Bewusstseins, wie er im Kapitel 3.1.2 skizziert wurde, auf der Annahme eines moral sense als einer anthropologischen Disposition oder auch soziokulturell modellierten Konstante. In diesem Fall wird der Darstellung eines spezifischen Inhalts die Wirkungsdisposition zugewiesen, eine bestimmte Funktion, hier die Aktivierung eines moralischen Sinns bzw. die Konstituierung eines moralischen Bewusstseins, zu erfüllen. Neben solchen inhaltlichen Dramatisierungsstrategien lassen sich aus Schillers dramentheoretischen Texten auch mediale Dramatisierungsstrategien rekonstruieren. Bestimmte Darstellungsweisen werden als geeignet ausgewiesen, bestimmte emotive oder kognitive Effekte zu bewirken. Dabei wird sich zeigen, dass inhaltliche und mediale Dramatisierungsstrategien theoretisch ineinander verzahnt sind. Die Darstellung spezifischer Inhalte wird also jeweils an bestimmte Darstellungsweisen gekoppelt in der Form ‚Die Darstellung des Inhalts x auf die Weise y ist geeignet, die Funktion z zu erfüllen‘. Inhaltliche und mediale Dramatisierungsstrategien lassen sich aber kategorial voneinander unterscheiden, sodass sie im Folgenden separat erläutert werden.

3.2.1 Inhaltliche Dramatisierungsstrategien 3.2.1.1 Darstellung poetischer Gerechtigkeit Bei inhaltlichen Dramatisierungsstrategien handelt es sich um die Darstellung solcher Inhalte, die als geeignet ausgewiesen werden, bestimmte Funktionen zu erfüllen. Im Zuge der Rekonstruktion einer Funktionstaxonomie wurde bereits darauf hingewiesen, dass Schiller für die Dramatisierungsstrategien anthropologische Konstanten wie den ästhetischen Sinn oder den moral sense voraussetzt, anhand derer er die Wirkungsdisposition einer Strategie, eine bestimmte Funktion zu erfüllen, begründet. In den poetologischen Peritexten des Dramas Die Räuber finden sich eine Reihe anthropologischer Begründungen für den in der Schaubühnen-Rede z.T. unreflektiert behaupteten Kausalnexus zwischen der Darstellung bestimmter Inhalte und bestimmten emotiven Effekten. So umschreibt Schiller in der 1782 in der Zeitschrift Wirtembergisches Repertorium erschienen Selbstrezension zur Bühnenfassung der Räuber das Konzept des moral sense als gerechtigkeitsaffine „Grundneigung“ des Menschen, die als moralisches Korrektiv fungiere. Dadurch seien wir bestrebt, „nach unserer strengen Gerechtigkeitsliebe mehr Schuld in die Schale des Begünstigten“ zu legen und sie dafür „in der Schale des Bestraften“ (NA 22, S. 119) zu vermindern. Als eine angeborene menschliche Neigung, „alles in dem Kreis unserer Sympathie zu

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

versammeln“ (NA 22, S. 119), bestimme diese „Gerechtigkeitsliebe“ die emotionale Einstellung des Rezipienten gegenüber den Dramenfiguren. In Schillers wirkungspoetischer Argumentation fungiert ein solcher Gerechtigkeitssinn als moralische Referenzgröße, von der aus sich die Ausgestaltung der Wirkungsdisposition bestimmen lässt. So sei etwa die Darstellung einer unverdient leidenden Figur ein wirkungspoetischer „Kunstgriff“, weil „wir uns so gern auf die Partie der Verlierer schlagen“ (NA 22, S. 118). Die Verteilung von Lohn und Strafe auf tugendhafte und lasterhafte Figuren erweist sich damit als inhaltliche Dramatisierungsstrategie, mit der sich die Evokation bestimmter Emotionen theoretisch regulieren lässt. Der gemeinsame Fluchtpunkt der verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten von Lohn, Strafe, Tugend und Laster ist die poetologische Norm der poetischen Gerechtigkeit, eben die moralisch gerechte Verteilung von Lohn und Strafe auf die Protagonisten und Antagonisten eines literarischen Werks.²⁹ Auch wenn sich in Schillers frühen dramentheoretischen Schriften keine Erwähnung des erstmals beim englischen Kritiker Thomas Rymer nachgewiesenen Begriffs poetic justice ³⁰ findet, so liegt insbesondere den Ausführungen in der Schaubühnen-Rede das Konzept poetischer Gerechtigkeit als moralische Denkfigur zugrunde. So wird hier etwa die „Gerichtsbarkeit der Bühne“ (NA 20, S. 92) einer „weltliche[n] Gerechtigkeit“ (NA 20, S. 93) gegenübergestellt.³¹ Schiller profiliert die Schaubühne als weltliche Institution, in der sich der Idealzustand poetischer Gerechtigkeit wenigstens fiktional realisieren lasse. Dabei wird poetische Gerechtigkeit als fiktives Gegenmodell zu dem als mangelhaft empfundenen juridischen Recht ausgewiesen: „Tausend Laster, die jene [die weltliche Gerechtigkeit] ungestraft duldet, straft sie [die Schaubühne]; tausend Tugenden, wovon jene schweigt, werden von der Bühne empfohlen.“ (NA 20, S. 93) Poetische Gerechtigkeit erweist sich in dieser Argumentation als „ideale oder perfekte Gerechtigkeit“³², insofern sie das utopisch-metaphysische Ideal einer sittlich vollkommenen Welt repräsentiert, das wiederum als Referenzgröße für den moral sense fungiert. Auf dieser ideologischen und anthropologischen Grundlage fungiert die Variation in der Darstellung poetischer Gerechtigkeit³³ als dramaturgisches Regulativ für die Affekterzeugung.

 Vgl. Hartmut Reinhardt: Poetische Gerechtigkeit. In: RLW 3, S. 106 – 108, hier S. 106.  Vgl. The critical works of Thomas Rymer, hg. mit einer Einleitung und Anmerkungen von Curt A. Zimansky. New Haven 1956, S. 22 f., 26 sowie 32. Rymer spricht an den angegebenen Stellen noch von „poetical justice“.  Zur Konzeption des Theaters als Richtanstalt bei Schiller vgl.Yvonne Nilges: Schiller und das Recht. Göttingen 2012, S. 17– 33.  Wolfgang Zach: Poetic Justice. Theorie und Geschichte einer literarischen Doktrin. Begriff – Idee – Komödienkonzeption. Tübingen 1986, S. 28.  Zu verschiedenen Strukturtypen poetischer Gerechtigkeit vgl. Cornelia Mönch: Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert.Versuch einer Typologie. Tübingen 1993, S. 60 – 209.

3.2 Dramatisierungsstrategien

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3.2.1.2 Zu einem dramentheoretischen Begriff des Sachverhalts In der Selbstrezension der Räuber bezeichnet Schiller Konstellationen wie diejenige der poetischen Gerechtigkeit, denen die Disposition zugewiesen wird, eine emotive Funktion zu erfüllen, als „Situationen“ (NA 22, S. 117, 125 sowie 129). Diesen Begriff unterscheidet er von demjenigen des Gemäldes (vgl. NA 22, S. 119, 122 sowie 125), mit dem die konkrete Veranschaulichung abstrakter Begriffe in der Darstellung exemplarischer Figuren gemeint ist.³⁴ Mit dieser Unterscheidung weist Schiller darauf hin, dass es sich bei literarischen Figuren in logischer Hinsicht um einfache Gegenstände handelt, die mit einem Eigennamen bezeichnet werden³⁵ und die Prädikate bzw. prädikative Ausdrücke exemplarisch veranschaulichen können. Eine einzelne Figur kann demnach nur ein Besonderes für ein einfaches Allgemeines, z. B. einen allgemeinen moralischen Begriff wie Laster oder Tugend, jedoch nicht für ein komplexes Allgemeines wie z. B. die Konstellation der poetischen Gerechtigkeit sein. Die Vergegenwärtigung eines komplexen Allgemeinen besteht entsprechend aus der Darstellung komplexer Gegenstände bzw. aus der „Verbindung von Gegenständen“³⁶, die ich im Folgenden mit Wittgenstein als Sachverhalt³⁷ bezeichne (umgekehrt ist ein Gegenstand „Bestandteil eines Sachverhaltes“³⁸). Das Spezifikum eines Sachverhalts besteht darin, dass er anders als Propositionen nicht wahrheitswertfähig ist. Wahr oder falsch ist nicht der in Rede stehende Sachverhalt, sondern die Aussage, in dem der Sachverhalt geäußert wird. Statt von der Wahrheit spricht Wittgenstein deshalb auch vom „Bestehen“³⁹ und Nicht-Bestehen von Sachverhalten. Wenn der Sachverhalt in der wirklichen Welt der Fall ist, wenn der Sachverhalt also besteht oder wirklich ist, handelt es sich um eine „Tatsache“⁴⁰. Auch die fiktive Welt des Dramas besteht nicht aus der „Gesamtheit […] der Dinge“, sondern aus der Gesamtheit der „Tatsachen“⁴¹. Für einen fiktionalen Text können fiktional bestehende oder fiktional nicht-bestehende Sachverhalte voneinander unterschieden werden. Ein fiktional bestehender Sachverhalt ist ein Sachverhalt, der innerhalb der fiktiven Welt der Fall ist. Es handelt sich dabei um „fiktive Tatsachen“⁴². Ein fiktional nicht-bestehender Sachverhalt ist ein Sachverhalt, der in-

 Zum Begriff des literarischen Gemäldes vgl. das Kapitel 3.2.2.5 dieser Untersuchung.  Zum hier verwendeten Gegenstandsbegriff der modernen Logik vgl. Erich Heintel, Arno Anzenbacher und Albert Veraart: Gegenstand. In: HWP 3, Sp. 129 – 134; hier Sp. 134.  Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus. Kritische Edition, hg. von Brian McGuinness und Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 1989, S. 4, Satz 2.01.  Zur Begriffsgeschichte vgl. Barry Smith: Sachverhalt. In: HWP 8, Sp. 1102– 1113.  Wittgenstein, S. 4, Satz 2.011.  Wittgenstein, S. 4, Satz 2.  Wittgenstein, S. 10, Satz 2.06. Wittgenstein unterscheidet zwischen „positiven Tatsachen“, die bestehende, und „negativen Tatsachen“, die nicht-bestehende Sachverhalte bezeichnen.  Wittgenstein, S. 4, Satz 1.1.  Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 93 sowie ders.: Fiktive Tatsachen. In: Tobias Klauk und Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014 (Revisionen. Bd. 4), S. 190 – 208.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

nerhalb der fiktiven Welt nicht der Fall ist. Dass solche spezifischen Sachverhalte gewissermaßen wahrheitsindifferent sind, zeigt sich durch die Ersetzung des Begriffs spezifischer Sachverhalt durch den synonymen der Situation. Eine Situation kann als traurig, erfreulich, ausweglos, kompliziert, verzwickt, tragisch usw. bezeichnet werden, während „wahr“ und „falsch“ keine zulässigen Prädikate für diesen Begriffsinhalt sind (*,Die Situation ist falsch.‘). Umgekehrt ist „tragisch“ kein Prädikat für eine Aussage, sondern nur für den von der Aussage bezeichneten Sachverhalt (*,Die Aussage ist tragisch.‘): ‚Die Aussage, dass x, ist wahr (oder falsch)‘, aber nicht: *‚Die Aussage, dass x, ist tragisch‘, sondern ‚dass x, ist tragisch‘. Wenn Schiller in der Zusammenfassung des Dramas Die Räuber zu Beginn der Selbstrezension eine Reihe von fiktiven Tatsachen als „wahr[e] dramatisch[e] Situationen“ (NA 22, S. 117) bezeichnet, so legt er dieser Prädikation keinen logischen, sondern einen ästhetischen Wahrheitsbegriff zugrunde. Schiller bezeichnet die beschriebenen Situationen nicht als wahr in dem Sinn, dass sie innerhalb der fiktiven Welt der Fall sind (das steht außer Frage), sondern in dem Sinn, dass sie die Disposition zur Erfüllung emotiver Funktionen wie der Evokation von Affekten aufweisen. Die logische Wahrheitsindifferenz eines fiktiven Sachverhalts lässt sich an einer Textpassage aus der Mannheimer Bühnenfassung der Räuber veranschaulichen, die Schiller in der Selbstrezension selbst als Beispiel für eine „drangvolle Situation“ (NA 22, S. 125) anführt⁴³: Der Ausgang dieser Szene ist höchst tragisch, so wie sie überhaupt zugleich die rührendste und entsetzlichste ist. Der Graf [eigentlich Karl Moor, der sich nicht zu erkennen geben will] hat ihr [Amalia] den Trauring, den sie ihm vor vielen Jahren gegeben, an den Finger gespielt, ohne daß sie ihn erkannt hätte. Nun ist er mit ihr am Ziele – wo er sie verlassen und sich ihr zu erkennen geben soll. Eine Erzählung ihrer eigenen Geschichte, die sie für eine andere auslegt, war sehr interessant. Sie verteidigt das unglückliche Mädchen. Die Szene endet also: „R. MOOR. Meine Amalia ist ein unglückliches Mädchen. AMALIA. Unglücklich! daß sie dich von sich stieß! R. MOOR. Unglücklicher, weil sie mich zwiefach umwindet. AMALIA. O dann gewiß unglücklich! – Das liebe Mädchen. Sie sei meine Schwester, und dann noch eine bessere Welt – R. MOOR.Wo die Schleier fallen und die Liebe mit Entsetzen zurückprallt – Ewigkeit heißt ihr Name – Meine Amalia ist ein unglückliches Mädchen. AMALIA. (etwas bitter). Sind es alle, die dich lieben und Amalia heißen? R. MOOR. Alle – wenn sie wähnen einen Engel zu umhalsen, und ein Totschläger in ihren Armen liegt. – Wehe meiner Amalia! Sie ist ein unglückliches Mädchen. AMALIA. (im Ausdruck der heftigsten Rührung). Ich beweine sie! R. MOOR. (nimmt stillschweigend ihre Hand und hält ihr den Ring vor die Augen). Weine über dich selber (und stürzt hinaus). AMALIA. (niedergesunken). Karl! Himmel und Erde!“ (NA 22, S. 126 f.)

 Beim Zitieren aus Schillers Dramentexten schließe ich mich jeweils der typographischen Praxis der Neuausgaben von Schillers Werken in der Nationalausgabe an und setze den Nebentext bei längeren, eingerückten Zitaten in Klammern.

3.2 Dramatisierungsstrategien

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In diesem Fall wird ein spezifischer fiktiver Sachverhalt durch die singuläre Aussage⁴⁴ „Amalia ist ein unglückliches Mädchen“ innerhalb der Figurenrede sprachlich repräsentiert.⁴⁵ Auch wenn hier die Prädikation, d. h. die Verbindung des Eigennamens „Amalia“ mit dem prädikativen Ausdruck „unglückliches Mädchen“, die exemplarische Verkörperung einer Eigenschaft als eines einfachen Allgemeinen suggeriert, handelt es sich um die Aussage eines komplexen Gegenstands, insofern das Prädikat „unglücklich“ nicht die Figur selbst, sondern die Lage, in der sich die Figur befindet, bezeichnet. Amalia ist unglücklich, insofern sie „einen Engel zu umhalsen“ glaubt, während „ein Totschläger in ihren Armen liegt“ (NA 22, S. 127). Ähnlich irreführend ist auch die Rede von der tragischen Figur. Eine Figur ist nicht auf dieselbe Weise tragisch, wie sie tugendhaft, argwöhnisch, ehrlich usw. sein kann, sondern sie ist tragisch in Bezug auf die Situation, in der sie sich befindet; sie ist also genau genommen überhaupt nicht tragisch, sondern befindet sich in einer tragischen Situation bzw. ist – logisch gesprochen – Gegenstand eines tragischen Sachverhalts. Die Prädikate „tragisch“ (NA 22, S. 126 sowie 127), „rührend“ (NA 22, S. 115 sowie 126) und „interessant“ (NA 22, S. 125, 127 sowie 129), mit denen Schiller bestimmte fiktive Sachverhalte spezifiziert, bilden gemeinsam ein terminologisches Feld einer unter den Dramenautoren des achtzehnten Jahrhunderts verbreiteten Affektpoetik. Diese bestimmt theoretisch einen Kausalnexus zwischen bestimmten dramatischen Konstellationen (spezifischen Sachverhalten) und bestimmten emotiven Reaktionen. Weil sich das Prädikat „rührend“ auf eine rhetorische Strategie zur Erfüllung einer emotiven Funktion bezieht, wird diese Wirkungskategorie im Kapitel 3.2.2 als mediale Dramatisierungsstrategie erläutert. Der Begriff interessant bezieht sich hingegen auf den Inhalt solcher Sachverhalte, auf denen als „etwas Außergewöhnlichem“ (NA 22, S. 119) der Wahrnehmungsfokus des Rezipienten liegt. Notwendige Bedingung für die Qualifizierung eines Sachverhalts als „interessant“ ist in der Wirkungspoetologie des achtzehnten Jahrhunderts neben der Extravaganz auch die emotive Signifikanz des Sachverhalts, der ebenfalls eine aufmerksamkeitslenkende Funktion zugewiesen wird. Gemäß Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste handelt es sich bei „interessanten Situationen“ um fiktive Sachverhalte, die eine positive emotionale Einstellung gegenüber der von der Situation betroffenen Figur in der Form von Anteilnahme evozieren.⁴⁶ Unter Anteilnahme versteht Sulzer diejenige Gemütsverfas Zum Unterschied zwischen singulären und generischen Sätzen vgl. Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 92 f. sowie Achim Vesper: Literatur und Aussagen über Allgemeines. In: Christoph Demmerling und Íngrid Vendrell Ferran (Hg.): Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge. Berlin 2014 (Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderbände. Bd. 35), S. 181– 196; hier S. 185 – 187. Vesper unterscheidet außerdem zwischen expliziten und impliziten generischen Aussagen (vgl. Vesper: Literatur, S. 185 – 187).  Zur sprachlichen Repräsentation von Sachverhalten vgl. Wittgenstein, S. 18, Satz 3.11: „Wir benützen das sinnlich wahrnehmbare Zeichen (Laut- oder Schriftzeichen) des Satzes als Projektion der möglichen Sachlage.“ bzw. S. 22, Satz 3.21: „Der Konfiguration der einfachen Zeichen [d. h. Namen] im Satzzeichen entspricht die Konfiguration der Gegenstände in der Sachlage.“  Vgl. Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, Art. interessant, S. 560 – 562; hier S. 560.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

sung, die sich einstellt, wenn eine Situation „eine Angelegenheit für uns selbst wird, daß die Sachen, nach der Lage, darin wir sie sehen, einen gewissen Ausgang nehmen“⁴⁷. Demnach lässt sich die Bedeutung einer Sachverhaltsaussage (z. B. der Aussage, dass Amalia unglücklich ist) von der Bedeutsamkeit des ausgesagten Sachverhalts unterscheiden. Unter Bedeutung einer Sachverhaltsaussage verstehe ich den Inhalt, die Proposition der Aussage (dass Amalia unglücklich ist), die mit Hilfe sprachlicher Zeichen repräsentiert wird. Mit dem Begriff der Bedeutsamkeit bezeichne ich hingegen eine von der Bedeutung unabhängige, kontextvariable und sprachlich häufig nur unzureichend repräsentierbare Art des Gegebenseins eines Sachverhalts. Der Begriff der emotiven Signifikanz oder Bedeutsamkeit meint entsprechend eine auf Emotionen bezogene Weise des Gegebenseins. Der Begriff der emotiven Signifikanz von Sachverhalten zielt im Unterschied zu demjenigen der Bedeutung von Sachverhaltsaussagen auf die Applikation (und nicht Interpretation) von Emotionen.⁴⁸ Die Darstellung interessanter oder tragischer Sachverhalte weist durch deren emotive Signifikanz also die Disposition auf, emotive Funktionen zu erfüllen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sich bei den inhaltlichen Dramatisierungsstrategien um die Darstellung interessanter oder auch tragischer Sachverhalte handelt. Diese weisen durch ihre Extravaganz und emotive Signifikanz die Disposition auf, die Aufmerksamkeit auf den Inhalt des betreffenden Sachverhalts zu lenken. In dieser Eigenschaft als inhaltsbezogene Aufmerksamkeits-Trigger⁴⁹ weist die Darstellung interessanter oder auch tragischer Sachverhalte die Disposition auf, emotive Funktionen wie beispielsweise die Evokation von Sympathie zu erfüllen.

3.2.2 Mediale Dramatisierungsstrategien Bei den medialen Dramatisierungsstrategien handelt es sich um medienspezifische dramaturgische Techniken, die als geeignet ausgewiesen werden, bestimmte Funktionen zu erfüllen. Angaben zu medialen Dramatisierungsstrategien finden sich bei Schiller sowohl in den theatertheoretischen Texten Über das gegenwärtige teutsche Theater (1782) und Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784) als auch in den poetologischen Peritexten der Dramen Die Räuber (1781) und Die Verschwörung des Fiesko zu Genua (1783).

3.2.2.1 Die dramatische Methode Während sich Schiller bei seinen Ausführungen in der Abhandlung Über das gegenwärtige teutsche Theater sowie in der Rede über die Wirkungen der Schaubühne auf den  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 560.  Vgl. hierzu Winko: Regeln emotionaler Bedeutung, S. 344.  Bei „Trigger“ (engl. eigentlich für den Abzugshahn einer Waffe) handelt es sich um einen terminus technicus aus der Psychologie, der sich mit ‚Auslöser‘, ‚Impuls‘ oder ‚Reiz‘ umschreiben lässt.

3.2 Dramatisierungsstrategien

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szenisch repräsentierten Dramentext bezieht, weist er sein Drama Die Räuber sowohl in der veröffentlichten als auch in der unterdrückten Vorrede zur ersten Auflage (1781) als Lesedrama aus. Dieses lasse sich „unmöglich in die allzuenge Pallisaden des Aristoteles und Batteux einkeilen“ (NA 3, S. 5) und werde deshalb „niemals das Bürgerrecht auf dem Schauplaz bekommen“ (NA 3, S. 243). Dabei legitimiert er die „Versündigung gegen den Schauplaz“ mit einem Hinweis auf die Vorteile des „bedachtsamen Lesers“. Dieser könne sämtliche Finessen der dramatischen Dichtung erfassen, ohne vom „gewaltigen Licht der Sinnlichkeit“ einer Theateraufführung „geblendet“ zu werden (NA 3, S. 246). Des Weiteren spezifiziert er das Drama gattungspoetologisch durch eine medienindifferente „Dramatische Methode“ (NA 3, S. 243). Diese zeichne sich auch ohne konzeptionelle Ausrichtung auf die szenische Repräsentation („ohne Hinsicht auf theatralische Verkörperung“) durch vergegenwärtigende Darstellung und die Initiation „lebendige[r] Anschauung“ aus, wodurch sie sich von der „rührenden und unterrichtenden Poesie“ (NA 3, S. 243) unterscheide. Dramatisch wird hier also nicht als klassifikatorischer Begriff zur Bezeichnung einer literarischen Gattung und (trennscharfen) Abgrenzung von konkurrierenden Gattungen, sondern als typologischer Begriff zur Bezeichnung eines poetischen Verfahrens⁵⁰ verwendet. Dieses bestehe aus bestimmten Dramatisierungsstrategien wie der Vergegenwärtigung und sinnlichen Veranschaulichung durch die „eigenen Aeusserungen der Personen“ (NA 3, S. 243, Hervorhebung im Original), sodass es sich bei der Schauspiel-Fassung der Räuber um einen „dramatischen Roman“ handle (NA 3, S. 244). Schiller grenzt diese „Dramatische Manier“ entsprechend von der „beschreibenden Dichtkunst“ ab, bei der die Figuren eines Dramas über ihre eigenen Empfindungen reflektierten, wodurch statt ‚lebendiger‘ „historische Erkenntniß“ initiiert werde (NA 3, S. 243): Wenn der unbändige Grimm in dem entsezlichen Ausbruch: Er hat keine Kinder: aus Makduff [aus Shakespeares Macbeth] redet, ist diß nicht wahrer und Herzeinschneidender als wenn der alte Diego [aus Corneilles Drama Le Cid] seinen Sakspiegel herauslangt, und sich auf offenem Theater begucket? o Rage! o Desespoir! (NA 3, S. 243)

Es lassen sich also die folgenden dramenpoetologischen Unterscheidungen rekonstruieren: (1) eine mediale zwischen dem graphisch repräsentierten und dem physisch, d. h. mimisch, gestisch, phonisch, proxemisch⁵¹ (durch Schauspieler) oder architektonisch (durch das Bühnenbild) repräsentierten Dramentext, (2) eine konzeptionelle zwischen dem als Lesedrama und dem im Hinblick auf eine Bühneninszenierung konzipierten Dramentext sowie (3) eine modale zwischen dem dramatischen, d. h. deskriptiven, und dem epischen, d. h. narrativ-explikativen Darstellungsmodus eines literarischen Textes.

 Zum Unterschied von klassifikatorischen und typologischen Begriffen vgl. Zymner: Gattungstheorie, S. 102– 104.  Zu diesen Repräsentationsformen als theatralen Zeichentypen vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1983, bes. S. 31– 93.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

In der späteren, theaterspezifischen Dramentheorie, die im Aufsatz Über das gegenwärtige teutsche Theater sowie in der Rede über die Wirkungen der Schaubühne entfaltet wird, ebnet Schiller die Differenzierung von medialer und modaler Unterscheidung zwischen dem graphisch und dem physisch repräsentierten Dramentext bzw. zwischen der dramatischen und der epischen Darstellungsweise wieder ein. Nun koppelt er die Profilierung spezifisch dramatischer Eigenschaften an die physische Repräsentation des Dramentextes als Bühnenaufführung. Bei der expliziten Wirkungspoetik der Vorreden zum Drama Die Räuber handelt es sich um eine visuelle Epistemologie, insofern der visuelle Begriff der Anschauung hier als metaphorischer Ausdruck zur Bezeichnung einer ‚inneren Vorstellung‘ im Sinn einer mentalen Repräsentation⁵² verwendet wird. Bei der expliziten Wirkungspoetik des Aufsatzes Über das gegenwärtige teutsche Theater sowie der Rede über die Wirkungen der Schaubühne handelt es sich hingegen um eine epistemologische Visualität, insofern dieselben Begriffe hier als Bezeichnungen für die visuelle Wahrnehmung des auf der Theaterbühne physisch repräsentierten Dramentextes eine eigentliche Bedeutung haben. In der Schaubühnen-Rede profiliert Schiller das Theater als evidentia erzeugendes Medium, das sich durch „Anschauung“ sowie „lebendige Gegenwart“ auszeichne und in dem abstrakte Begriffe wie „Laster“, „Tugend“, „Glükseligkeit“, „Elend“, „Thorheit“ oder „Weißheit“ „in tausend Gemählden faßlich und wahr an dem Menschen vorübergehen“ und „die Wahrheit unbestechlich wie Rhadamanthus [König aus der griechischen Mythologie, Sohn des Zeus und der Europa] Gericht hält“ (NA 20, S. 91). Im Aufsatz Über das gegenwärtige teutsche Theater formuliert Schiller die produktionsästhetischen Bedingungen für diese medialen Effekte. Hinter der wirkungspoetisch-rhetorischen Konzeption der Schaubühne als evidentia erzeugendes Medium verbirgt sich die metaphysisch-idealistische Vorstellung einer harmonisch organisierten Welt, deren Einheit dem gewöhnlichen, sich in der Betrachtung der Details verlierenden Menschen verborgen bleibt: Wir Menschen stehen vor dem Universum, wie die Ameise vor dem grossen majestätischen Palaste. Es ist ein ungeheures Gebäude, unser Insektenblick verweilet auf diesem Flügel, und findet vielleicht diese Säulen, diese Statuen übel angebracht. (NA 20, S. 82)

Aus dieser anthropologischen Prämisse leitet Schiller die Aufgabe des Dramendichters ab, die Komplexität des für die menschlichen „Ameisenaugen“ (NA 20, S. 83) unfassbaren Kosmos in seiner fassbaren Einheit darzustellen, d. h. die „Harmonie des Grossen“ in der „Harmonie des Kleinen“ und die „Symmetrie des Ganzen“ in der „Symmetrie des Theils“ (NA 20, S. 83) zu repräsentieren. Der Schaubühne wird in

 Zu dieser neurophysiologischen Bedeutung von Vorstellung im achtzehnten Jahrhundert bei Kant, La Mettrie, Platner, Abel und Schiller vgl. Sophia Wege: Wahrnehmung – Wiederholung – Vertikalität. Zur Theorie und Praxis der Kognitiven Literaturwissenschaft. Bielefeld 2013, S. 220 – 230.

3.2 Dramatisierungsstrategien

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dieser theatrum mundi-Theorie, die Lessings Schattenriss-Konzeption entspricht⁵³, die Funktion eines Panoptikums⁵⁴ zugeschrieben, das den „Insektenblick“ (NA 20, S. 82) des Menschen in den „panoptischen Blick“⁵⁵ des Theaterpublikums transformiert. Das Theater ist demnach ein offener Spiegel des menschlichen Lebens, auf welchem sich die geheimsten Winkelzüge des Herzens illuminirt und fresko zurückwerfen, wo alle Evolutionen von Tugend und Laster, alle verworrensten Intriguen des Glücks, die merkwürdige Oekonomie der obersten Fürsicht, die sich im wirklichen Leben oft in langen Ketten unabsehbar [meine Hervorhebung, C.G.] verliert, wo […] dieses alles in kleinern Flächen und Formen aufgefaßt, auch dem stumpfesten Auge übersehbar [meine Hervorhebung, C.G.] zu Gesichte liegt. (NA 20, S. 79)

Hinter dieser gehaltsästhetischen Bestimmung der fiktiven Bühnenwelt als eines strukturellen Analagons zur Wirklichkeit bzw. als eines medialen Analogons zur anschauenden Erkenntnis⁵⁶ verbirgt sich wiederum ein metaphysisches Argumentationsmodell, innerhalb dessen die Welt als ein symbolisches Abbild Gottes aufgefasst wird. Dieser würde durch einen bloß metonymischen Weltbezug desavouiert: „Ein Versehen in diesem Punkt ist eine Ungerechtigkeit gegen das ewige Wesen, das nach dem unendlichen Umriß der Welt, nicht nach einzelnen herausgehobenen Fragmenten beurtheilt seyn will.“ (NA 20, S. 83) Dem Dichter werden dabei Eigenschaften des Genies zugewiesen, insbesondere das Vermögen, in vermeintlich Verschiedenem Ähnliches wahrzunehmen, also ingenium im Sinne von ‚Witz‘⁵⁷ zu besitzen. Das Genie zeichnet sich in Schillers Genie-Konzeption insbesondere durch eine überdurchschnittliche Auffassungsgabe aus und besitzt die Fähigkeit, die vermeintliche Ordnung der Welt, die der gewöhnliche Mensch nur sukzessive und in einer langwierigen epistemischen Prozedur erkennen könne, auf einmal zu erfassen. Schiller veranschaulicht diese Idee in einem Brief an Christian Gottfried Körner vom 7. Mai 1785 folgendermaßen: Durch wieviel tausend Labirinthe von Schlüßen würde sich ein gewöhnlicher Geist biß zu dieser Entdeckung haben durchkriechen müßen, wo das verwegene Genie durch einen Riesensprung sich am Ziele sah. (NA 24, S. 6)

Zu den zentralen Inspirationsquellen für Schillers Genie-Konzeption gehören höchst wahrscheinlich Garves Anmerkungen in seiner Übersetzung von Fergusons Grund-

 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: ders.: Werke in acht Bänden. Bd. 4: Dramaturgische Schriften, hg. von Herbert G. Göpfert, bearb. von Karl Eibl. München 1973, S. 229 – 720; hier S. 598, 79. Stück.  Zur konzeptionellen Analogie von Schaubühne und Panoptikum beim jungen Schiller vgl. Robert, S. 124.  Robert, S. 124.  Zum epistemologischen und poetologischen Begriff der anschauenden Erkenntnis vgl. das Kapitel 3.2.2.2 dieser Untersuchung.  Zur Unterscheidung von Witz und Scharfsinn als zwei verschiedenen Erkenntnisvermögen vgl. Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis, S. 95.

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sätzen der Moralphilosophie⁵⁸ sowie die Rede über das Genie (1776) seines KarlsschulLehrers Jakob Friedrich Abel, die dieser anlässlich einer Jahresfeier der herzoglichen Militär-Akademie Karl Eugens, also der früheren Karlsschule, gehalten hat.⁵⁹ Aus den poetologischen Texten, die die explizite Wirkungspoetik des frühen Schiller repräsentieren – so sei zusammenfassend festgehalten –, lässt sich ein literarisches Kommunikationsmodell mit produktionsästhetischen, gehaltsästhetischen und wirkungsästhetischen Komponenten ableiten. In produktionsästhetischer Hinsicht wird dem Dramendichter die Aufgabe zugewiesen, eine unterstellte Weltordnung als pars pro toto auf der Theaterbühne zu repräsentieren, die damit als theatrum mundi fungiert. In gehaltsästhetischer Hinsicht werden der Schaubühne die Eigenschaften eines Panoptikums zugewiesen, das dem Zuschauer den panoptischen Blick ermöglicht. In wirkungsästhetischer Hinsicht wird dem Theater die Funktion zugewiesen, ‚lebendige Erkenntnis‘ zu vermitteln. Diese Verhältnisse zwischen Produktion, Produkt und Rezeption seien im folgenden Modell (Tab. 1) schematisch dargestellt: Tab. 1: Dramatische Konstellation Produktion

Produkt

Rezeption

Dichter mit dem Vermögen, in Verschiedenem Ähnliches wahrzunehmen → ingenium im Sinne von ‚Witz‘

Dramentext als panoptisches theatrum mundi

«lebendige Erkenntnis» ‚panoptischer Blick‘

3.2.2.2 Anschauende Erkenntnis Die Begriffe, mit denen Schiller diese kommunikationstheoretischen Komponenten beschreibt, insbesondere derjenige der lebendigen Erkenntnis, bilden ein terminologisches Setting, dessen aisthesiologische, epistemische, ästhetische, anthropologische und rhetorische Implikationen sich auf das in der Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts zentrale epistemologische Konzept der anschauenden Erkenntnis zurückführen lassen. Der folgende Abriss über die Begriffsgeschichte dieses Konzepts hat die Funktion, das Argumentationsmodell für den bei Schiller unreflektierten Zusammenhang zwischen produktions-, gehalts- und wirkungsästhetischen Komponenten zu rekonstruieren, den Begriff nicht-propositionaler Erkenntnis zu schärfen und die Bedeutung von Schillers Wahrheitsbegriff zu dechiffrieren. Dabei werden einzelne Schlaglichter auf diejenigen Komponenten der Begriffsgeschichte geworfen, die für die Erfüllung dieser Funktion notwendig sind, d. h. die zur Erhellung von

 Zu diesem Einfluss vgl. Riedel: Anthropologie, S. 159 f.  Vgl. Jakob Friedrich Abel: Rede über das Genie. Werden grosse Geister geboren oder erzogen und welches sind die Merkmale derselbigen? Nachdruck der Rede Abels vom 14. Dezember 1776 in der herzoglichen Militär-Akademie zu Stuttgart, mit einem Nachwort hg. von Walter Müller-Seidel. Marbach a. N. 1955.

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Schillers terminologischem Setting beitragen. Es geht also ganz konkret um die Klärung der Begriffe lebendige Anschauung, lebendige Gegenwart, fasslich, wahr und übersehbar sowie die Rekonstruktion des Argumentationsmodells, in dem der Zusammenhang dieser Begriffe begründet wird.

3.2.2.2.1 Erkenntnisweisen bei Leibniz Am Ausgangspunkt der Begriffsgeschichte steht Gottfried Wilhelm Leibniz’ Gliederung der menschlichen Wahrnehmung in verschiedene Erkenntnisweisen in seiner Schrift Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen (1684)⁶⁰. Demnach kann eine Erkenntnis entweder dunkel (obscura) oder klar (clara), diese entweder verworren (confusa) oder deutlich (distincta) und diese schließlich entweder inadäquat (inadaequata) oder adäquat (adaequata) bzw. symbolisch (symbolica) oder intuitiv (intuitiva) sein. Dunkel ist eine Erkenntnis, wenn ein Begriff weder wiedererkannt noch von anderen Begriffen unterschieden werden kann. Eine Erkenntnis ist hingegen klar, wenn eine Wiedererkennung und Unterscheidung von anderen Begriffen gelingt. Geschieht diese Unterscheidung anhand einer Merkmalsbestimmung, sodass der Begriff trennscharf von anderen Begriffen unterschieden werden kann, ist die klare Erkenntnis auch deutlich; ist eine solche Merkmalsbestimmung nicht hinreichend möglich, ist die klare Erkenntnis verworren. Als Beispiel für verworrene Erkenntnis führt Leibniz die Wahrnehmung von Farben, Gerüchen usw. an, die zwar untereinander unterscheidbar, aber nicht definitorisch durch die Anführung ihrer konstituierenden Merkmale wie Größe oder Gestalt bestimmbar seien. Sind die bei einer deutlichen Erkenntnis bestimmten Merkmale selbst wieder deutlich und ist das Erkenntnisobjekt vollständig in seine Teile zerlegbar⁶¹, handelt es sich um adäquate Erkenntnis. Sind die Merkmale zwar klar, aber auch verworren, und lässt sich demnach keine vollständige Merkmalszerlegung vornehmen, so handelt es sich um inadäquate Erkenntnis. Geschieht die deutliche Erkenntnis mit Hilfe von Zeichen (z. B. Buchstaben, Wörtern oder Zahlen), so ist sie symbolisch. Leibniz bezeichnet die symbolische Erkenntnis auch als „blind“⁶², da der automatisierte Gebrauch von Symbolen die Einsicht in das Wesen der Dinge bloß suggeriere und das Erkenntnissubjekt die Bedeutung der selbst wieder erklärungsbedürftigen Symbole voraussetze, ohne diese selbst deutlich zu erkennen: wenn ich so an das […] regelmäßige tausendseitige Vieleck denke, so erwäge ich nicht immer das Wesen der Seite und der Gleichheit und der Tausendzahl […], sondern bediene mich dieser Worte

 Gottfried Wilhelm Leibniz: Meditationes de cognitione, veritate et ideis (Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen). In: ders.: Philosophische Schriften. Bd. 1: Kleine Schriften zur Metaphysik, hg. und übersetzt von Hans Heinz Holz. 2., unveränd. Aufl. Darmstadt 1965, S. 33 – 47.  Vgl. zur Unterscheidung zwischen der Deutlichkeit in intensionaler und jener in extensionaler Hinsicht Gottfried Gabriel: Baumgartens Begriff der perceptio praegnans und seine systematische Bedeutung. In: Aufklärung 20 (2008), S. 61– 71; hier S. 65.  Leibniz: Meditationes, S. 37.

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(deren Sinn wenigstens dunkel und unvollkommen dem Geiste vorschwebt) in Gedanken an der Stelle der Ideen, die ich davon habe, deren Erklärung ich aber jetzt nicht für nötig halte.⁶³

Die intuitive Erkenntnis ist schließlich solche Erkenntnis, bei der sämtliche Merkmale eines Begriffs simultan erfasst werden können. Leibniz räumt zwar ein, dass es unmöglich sei, alle Merkmale komplexer Begriffe gleichzeitig zu erfassen, er gibt aber auch zu bedenken, dass sich der Mensch mit seinen Erkenntnissen allzu schnell zufrieden gebe statt nachzuprüfen, ob sich die einzelnen Merkmale eines komplexen Begriffs nicht widersprechen. „[A]m vollkommensten“⁶⁴ sei eine Erkenntnis, wenn sie sowohl adäquat als auch intuitiv sei, wenn also sämtliche Merkmale eines komplexen Gegenstands deutlich und simultan erfasst werden könnten. Leibniz’ Systematisierung der verschiedenen Erkenntnisweisen lässt sich durch das folgende Baummodell (Abb. 4) schematisch darstellen. Leibniz stößt mit seiner Klassifizierung menschlicher Wahrnehmung in verschiedene Erkenntnisweisen eine interdisziplinär geführte Debatte zum Unterschied zwischen symbolischer Erkenntnis (cognitio symbolica) und intuitiver Erkenntnis (cognitio intuitiva) an, die von Leibniz über Wolff und Baumgarten zu Moses Mendelssohn und Lessing führt. An den Theoremen der letzten beiden orientiert sich dann auch Schiller.

3.2.2.2.2 Das Konzept der anschauenden Erkenntnis bei Baumgarten Leibniz’ epistemologische Klassifizierung der menschlichen Wahrnehmung bestimmt auch Alexander Gottlieb Baumgartens Ästhetik, die vor allem in den Schriften Meditationes philosophicae de nonnulis ad poema pertinentibus (1735), Metaphysica (1739) und Aesthetica (1750/58) entfaltet wird. Während es Leibniz aber u. a. um eine Sensibilisierung für das Illusionspotential menschlicher Wahrnehmung, namentlich symbolischer Erkenntnis, ging, verfolgt Baumgarten ein poetologisches Interesse und verknüpft Theoreme aus der rationalen Erkenntnistheorie mit der Frage nach den Bedingungen des Dichtens (in der Metaphysik) und den Bestimmungen des Gedichts (in den Meditationes). Durch diese Verknüpfung wird Baumgarten zum Begründer der modernen Ästhetik als „Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis und Darstellung“⁶⁵ und damit auch zu einer zentralen Referenz für die ästhetischen Theoreme Mendelssohns, Sulzers und Lessings.

 Leibniz: Meditationes, S. 37.  Leibniz: Meditationes, S. 33.  Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica/Metaphysik. Historisch-kritische Ausgabe, übersetzt, eingeleitet und hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Stuttgart/Bad Cannstatt 2011 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung. Bd. 1/2), § 533, S. 283. Baumgarten schlägt als alternative Bezeichnungen außerdem „Logik des unteren Erkenntnisvermögens“, „Philosophie der Grazien und der Musen“, „untere Erkenntnislehre“, „Kunst, schön zu denken“ sowie „Kunst des Analogons der Vernunft“ vor (Baumgarten: Metaphysik, § 533, S. 283).

3.2 Dramatisierungsstrategien

Abb. 4: Erkenntnisweisen nach Leibniz

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Die Interessensverlagerung bei Baumgarten von epistemologischen zu poetologischen Fragestellungen führt zu einer Auffächerung des Leibniz’schen Erkenntnisbegriffs in einen sowohl produktions- als auch wirkungs- und rezeptionsästhetischen Vorstellungsbegriff. Dessen Polysemantik manifestiert sich in der lateinischen Fassung in der Variation verschiedener Begriffsnamen und in der deutschen Übersetzung in der semantischen Ambiguität des Begriffsnamens Vorstellung, der sowohl die poetische Präsentation eines Begriffs als auch dessen mentale Repräsentation bezeichnen kann. Während die lateinischen Substantive cogitatio, repraesentatio und perceptio meist synonym verwendet werden, dienen die entsprechenden Verben zur Differenzierung des Vorstellungsbegriffs, dessen produktive Komponente mit dem Verb repraesentare und dessen rezeptive Komponente mit dem Verb concipere ausgedrückt werden.⁶⁶

Gehaltsästhetische Komponente Bei Baumgarten ist das Kriterium für die Unterscheidung von einer dunklen und einer klaren Erkenntnis (perceptio) der Grad der Unterscheidbarkeit des vorgestellten Gegenstands von ähnlichen Gegenständen, sodass dunkel und klar keine dichotomischen (entweder dunkel oder klar), sondern skalare Begriffe (mehr oder weniger dunkel bzw. mehr oder weniger klar) sind: Je leichter ich also eine Vorstellung [lat. perceptio] von je mehr und je Ähnlicherem unterscheiden kann, desto klarer ist sie mir […].Von je mehr und je Verschiedenerem also eine Vorstellung unter Aufbietung je grösserer Kraft nicht unterschieden werden kann, desto grösser ist ihre Dunkelheit […].⁶⁷

Baumgarten unterscheidet weiter eine qualitative Klarheit, deren Kriterium die Klarheit der vorgestellten Merkmale ist, von einer quantitativen Klarheit, deren Kriterium die Menge der vorgestellten Merkmale ist, sodass die Klarheit entweder „intensiv“ größer (oder kleiner) oder „extensiv“ größer (oder kleiner) sein könne.⁶⁸ In den Meditationes rehabilitiert er die bei Leibniz noch negativ konnotierte klare und verworrene Erkenntnis⁶⁹, indem er ihr Poetizität attestiert. Der Grad der Poetizität ergibt sich

 Vgl. den Kommentar in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik, übersetzt und hg. von Hans Rudolf Schweizer. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek. Bd. 351), S. 86.  Baumgarten: Metaphysik, § 528, S. 280 f.  Baumgarten: Metaphysik, § 531, S. 281 f.  Zur Rehabilitierung der klaren und verworrenen Erkenntnis bei Wolff und Baumgarten vgl. Clemens Schwaiger: Symbolische und intuitive Erkenntnis bei Leibniz, Wolff und Baumgarten. In: Hans Poser (Hg.): Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G.W. Leibniz. VII. Internationaler Leibniz-Kongress. Schirmherrschaft: Der Regierende Bürgermeister von Berlin. Berlin 2001, S. 1178 – 1184, Gabriel: „perceptio praegnans“, S. 66 sowie Arbogast Schmitt: Schönheit: Gegenstand der Sinne oder des Denkens? Zur Theorie des Schönen im 18. Jahrhundert und bei Platon. In: Astrid Bauereisen,

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durch die Extensität der Klarheit, also durch die Quantität der eine Vorstellung (repraesentatio) bestimmenden Merkmale, sodass „extensiv klarere Vorstellungen äußerst poetisch“⁷⁰, intensiv klare Vorstellungen aber überhaupt nicht poetisch sind. Für die Praxis des Dichtens bedeutet das konkret, dass eine Dichtung umso poetischer ist, je mehr Details in ihr dargestellt werden und je umfassender, d. h. extensiv klarer die Vorstellungen sind.⁷¹ Baumgarten bezeichnet solche extensiv klaren Vorstellungen in der Metaphysik als „perceptiones praegnantes“⁷², also ‚bedeutungsschwangere‘, ‚vielsagende‘ oder ‚sinnreiche‘ Vorstellungen. Hat eine solche sinnreiche Vorstellung die Funktion, eine „Vorstellung von weniger Bestimmtem“ zu erklären, handelt es sich um ein „Beispiel“⁷³. Diese Definition von Beispiel umfasst bereits das Besondere als logische oder ästhetische Kategorie⁷⁴ sowie das rhetorische Verfahren der Exemplifikation.⁷⁵ Im elften Abschnitt der Metaphysik erarbeitet Baumgarten außerdem noch eine semiotische Unterscheidung von symbolischer und intuitiver Erkenntnis, die zu einer grundlegenden Neukonzipierung Letzterer führt. Demnach ist eine Erkenntnis symbolisch, wenn der Wahrnehmungsfokus auf dem Zeichen eines Begriffs, dem Begriffsnamen, liegt; im umgekehrten Fall, wenn also der Fokus auf dem bezeichneten Begriffsinhalt liegt, ist die Erkenntnis intuitiv oder „anschauend“⁷⁶. Baumgarten zufolge sind symbolische Erkenntnis und intuitive Erkenntnis also keine dichotomischen Begriffe, sondern zwei Seiten derselben Medaille, insofern die eine jeweils auch die andere impliziert⁷⁷: „Bei beiden lautet das Gesetz des Bezeichnungsvermögens: Von vergesellschafteten Vorstellungen [die symbolische Erkenntnis des Zeichens und die intuitive Erkenntnis des Bezeichneten] wird die eine das Mittel, die Existenz der andern zu erkennen.“⁷⁸ Baumgarten präsentiert damit eine Alternative zu Leibniz’ und Wolffs Konzept einer vollkommen zeichenfreien intuitiven Erkenntnis⁷⁹ und legitimiert die Vorrangstellung der Verworrenheit in seinen ästhetischen Schriften mit einem graduellen Erkenntnisbegriff. Diesem zufolge hat man sich den Übergang vom Stephan Pabst und Achim Vesper (Hg.): Kunst und Wissen. Beziehungen zwischen Ästhetik und Erkenntnistheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 2009 (Stiftung für Romantikforschung. Bd. 38), S. 49 – 69; hier S. 53.  Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus/Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, übersetzt und mit einer Einleitung hg. von Heinz Paetzold. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek. Bd. 352), § XVII, S. 17.  Vgl. Baumgarten: Meditationes, §§ XVIII – XIX, S. 17 f.  Baumgarten: Metaphysik, § 517, S. 275.  Baumgarten: Meditationes, § XXI, S. 21.  Vgl. Georg Lukács: Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik. Neuwied/Berlin 1967, bes. S. 229 – 281.  Vgl. zu diesem Befund auch Gabriel: „Perceptio praegnans“, S. 66.  Baumgarten: Metaphysik, § 620, S. 327.  Vgl. hierzu Schwaiger, S. 1181 f.  Baumgarten: Metaphysik, § 620, S. 327, Hervorhebung im Original.  Vgl. Schwaiger, S. 1182.

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Irrtum zur Gewissheit nicht als Kippbewegung, sondern als kontinuierlichen Prozess vorzustellen, wie es in den Prolegomena der Aesthetica heißt: Aber sie [die Verworrenheit] ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Entdeckung der Wahrheit, da die Natur keinen Sprung macht aus der Dunkelheit in die Klarheit des Denkens. Aus der Nacht führt der Weg nur über die Morgenröte zum Mittag.⁸⁰

Produktionsästhetische Komponente Der gehaltsästhetischen Bestimmung von Dichtung korreliert eine produktionsästhetische Bestimmung des Dichtungsvermögens, das Baumgarten als die Fähigkeit, „die Übereinstimmung der Dinge zu erkennen“⁸¹, definiert. Die Produkte solcher Vorstellungen bezeichnet er entsprechend als „Erdichtungen“ (fictiones) bzw. „Fiktionen“ (figmenta).⁸² Erdichtungen im Baumgart’schen Sinn sind demnach noch keine künstlerischen Artefakte, sondern erst mentale Repräsentationen einer Einheit in der Vielheit, eben perceptiones praegnantes oder ‚Verdichtungen‘, deren materielle Realisierung das Gedicht ist. Die Fähigkeit zu dichten, d. h. einzelne Teile von Einbildungen (phantasmata) als Einheit wahrzunehmen, bezeichnet Baumgarten als „ingenium“⁸³, d. h. ‚Witz‘⁸⁴, der in der Genieästhetik des achtzehnten Jahrhunderts den Begriff des Dichtergenies als wesentliche Eigenschaft bestimmen wird. Dichten ist bei Baumgarten aber kein subjektiv-schöpferischer Akt eines Originalgenies, sondern die Fähigkeit, objektiv beurteilbare Verbindungen von Einbildungen sowie wesentliche, d. h. typische Eigenschaften eines Gegenstands mental zu repräsentieren.⁸⁵ Erst bei solchen Produkten der Einbildungskraft („phantasia“⁸⁶) handle es sich um Erdichtungen im eigentlichen Sinn, während die mentale Repräsentation von nur scheinbar kompatiblen Verbindungen von Einbildungen bzw. nur scheinbar wesentlichen Eigenschaften eines Gegenstands „Chimären“ oder „leere Einbildungen“⁸⁷ seien.⁸⁸

Wirkungsästhetische Komponente: epistemologische Affekttheorie In den psychologischen Kapiteln der Metaphysik entwickelt Baumgarten eine Art epistemologischer Affekttheorie, in der er einen Kausalnexus zwischen den Er-

 Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der Aesthetica (1750/58), übersetzt und hg. von Hans Rudolf Schweizer. Lateinisch ‒ Deutsch. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek. Bd. 355), § 7, S. 5.  Baumgarten: Metaphysik, § 589, S. 311.  Baumgarten: Metaphysik, § 590, S. 311.  Baumgarten: Metaphysik, § 572, S. 303.  Vgl. Kap. 3.2.2.1, Anm. 57.  Vgl. Baumgarten: Metaphysik, § 591, S. 311– 313.  Baumgarten: Metaphysik, § 594, S. 312.  Baumgarten: Metaphysik, § 590, S. 311.  Zur Bedeutungsunterscheidung von Vorstellung und Einbildungskraft in der Philosophie und Poetologie der Aufklärung vgl. Wege, S. 230 – 238.

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kenntnisweisen und bestimmten Emotionen erläutert. Er unterscheidet dabei auf der Grundlage der Wolff’schen Schulphilosophie zwischen einem unteren Begehrungsvermögen, das auf dunklen oder verworrenen Erkenntnissen beruht, und einem oberen Begehrungsvermögen, das auf deutlichen Erkenntnissen beruht. Unter „Begehren“ oder „Begierde“ fasst er den Versuch, bestimmte Vorstellungen hervorzubringen. Unter „Zurückweisung“ versteht er hingegen den Versuch, zu verhindern, dass bestimmte Vorstellungen hervorgebracht werden.⁸⁹ Begierde ist demnach ein teleologischer Begriff, insofern er die emotionale Ausrichtung auf eine bestimmte Wahrnehmung umfasst: „Was ich begehre, sehe ich 1) vorher als in den zukünftigen Reihen meiner Gesamtwahrnehmungen enthalten, erwarte ich 2) als zukünftig existierend, wenn ich meine Kraft darauf gerichtet habe, 3) gefällt.“⁹⁰ Unter Affekt versteht Baumgarten eine Begierde oder Zurückweisung, die durch extensiv klare, d. h. verworrene Erkenntnis evoziert wird⁹¹ und als „sinnliche Begierde“⁹² dem unteren Begehrungsvermögen angehört, das entsprechend auf dem unteren Erkenntnisvermögen beruht.⁹³ Unter die Affekte fasst Baumgarten Emotionen wie Freude, Hoffnung, Mut, Dankbarkeit, Trauer, Furcht, Schrecken, Mitleid, Zorn oder Verwunderung.⁹⁴ Erkenntnisse, die als Motiv für einen Affekt, d. h. ein sinnliches Begehren oder ein sinnliches Zurückweisen fungieren, nennt Baumgarten „Bewegursachen“⁹⁵. Eine solche Bewegursache ist beispielswiese die anschauende Erkenntnis einer Vollkommenheit, die an „Lust“ oder „Gefallen“⁹⁶ gekoppelt sei, oder die anschauende Erkenntnis einer Unvollkommenheit (Hässlichkeit), die an „Unlust“ oder „Mißfallen“⁹⁷ gekoppelt sei.⁹⁸ Baumgarten bezeichnet diese Erkenntnis deshalb auch als „anregend“, „anrührend“, „feurig“, „pragmatisch“, „praktisch“ oder „lebendig“⁹⁹. Weil die anschauende Erkenntnis, die bestimmte Affekte evoziert, die symbolische Erkenntnis „verdunkelt“, indem die Aufmerksamkeit vom Zeichen des Begriffs abgezogen und auf den Begriffsinhalt verlegt wird, sind Affekte Baumgarten zufolge sprachlich nicht repräsentierbar, „unaussprechlich“¹⁰⁰. Aus der Differenzierung des Begehrungsvermögens in ein unteres, das auf den unteren Erkenntniskräften beruht, und ein oberes, das auf den oberen Erkenntniskräften beruht, ergibt sich die Unterscheidung zwischen den sinnlichen Begierden

 Baumgarten: Metaphysik, § 663, S. 353.  Baumgarten: Metaphysik, § 664, S. 353.  Vgl. Baumgarten: Metaphysik, § 678, S. 363.  Baumgarten: Metaphysik, § 677, S. 361.  Vgl. Baumgarten: Metaphysik, § 676, S. 361.  Vgl. Baumgarten: Metaphysik, § 682– 688, S. 365 – 367.  Baumgarten: Metaphysik, § 669, S. 355.  Baumgarten: Metaphysik, § 655, S. 347.  Baumgarten: Metaphysik, § 655, S. 347.  Bereits Aristoteles definiert Affekt in seiner Nikomachischen Ethik als eine Bewegung der Seele, die mit dem Zustand der Lust oder Unlust korreliert (vgl. hierzu Meyer-Sickendiek, S. 13).  Baumgarten: Metaphysik, § 669, S. 355.  Baumgarten: Metaphysik, § 655, S. 347, § 680, S. 363.

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und Zurückweisungen (Affekten), die aus anschauender Erkenntnis resultieren, und den „vernünftigen“ Begierden und Zurückweisungen, die aus deutlicher Erkenntnis resultieren.¹⁰¹ Baumgarten bezeichnet diese vernünftigen Begierden und Zurückweisungen, denen eine „Verstandeseinsicht“ vorausgeht, als „Willen“ bzw. „Nichtwillen“¹⁰². Den Bewegursachen, also den extensiv klaren (verworrenen) Vorstellungen, die Affekte evozieren, korrespondieren die „Bewegungsgründe“¹⁰³, d. h. intensiv klare (deutliche) Vorstellungen, die Willen oder Nichtwillen evozieren. Weil Baumgarten keinen dichotomischen, sondern einen graduellen Erkenntnisbegriff voraussetzt, geht er davon aus, dass das Wollen oder Nichtwollen, also das vernünftige Begehren bzw. die vernünftige Zurückweisung, mehr oder weniger rein, d. h. mehr oder weniger verworren sein kann. Deshalb sei dem verstandesmäßigen Wollen oder Nichtwollen immer „etwas Sinnliches beigemischt“¹⁰⁴, sodass ein „Streit des unteren mit dem oberen Begehrungsvermögen“ entstehen könne, wenn vernünftige Beweggründe (deutliche Vorstellungen) mit sinnlichen Bewegursachen (dunklen oder verworrenen Vorstellungen) konfligierten.¹⁰⁵ Die zentralen Komponenten von Baumgartens Konzept der anschauenden Erkenntnis seien abschließend noch einmal zusammengefasst. In kognitionspsychologischer Hinsicht modifiziert Baumgarten Leibniz’ hierarchische Klassifizierung verschiedener Erkenntnisweisen, die auf einem dichotomischen Erkenntnisbegriff gründet, durch eine skalare Klassifizierung der Erkenntnisweisen, die auf einem graduellen Erkenntnisbegriff gründet. Im Gegensatz zu Leibniz’ Epistemologie ist bei Baumgarten auch die intuitive Erkenntnis zeichengebunden, wobei sich die symbolische und die intuitive Erkenntnis durch die Richtung des Wahrnehmungsfokus entweder auf das Zeichen oder das Bezeichnete unterscheiden. Anschauende Erkenntnis ist durch extensive Klarheit, d. h. Merkmalsbestimmung (determinatio), symbolische Erkenntnis ist durch intensive Klarheit, d. h. begrifflichdistinkte Bestimmung (definitio), bestimmt. Extensiv klare, d. h. ‚vielsagende‘ oder ‚sinnreiche‘ Vorstellungen (perceptiones praegnantes) fungieren als AufmerksamkeitsTrigger, sodass der anschauenden Erkenntnis eine Aufmerksamkeitsfokussierung entspricht. In produktionsästhetischer Hinsicht bestimmt Baumgarten den Dichter durch die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitsfokussierung, d. h. der Zusammenschau unterschiedlicher Teilvorstellungen in einer einheitlichen Vorstellung als einer mentalen Repräsentation (perceptio praegnans). In gehaltsästhetischer Hinsicht handelt es sich bei einer Dichtung um die perceptio praegnans im Sinne einer detail- und sinnreichen Darstellung eines allgemeinen und komplexen Begriffs. In wirkungsästhetischer Hinsicht erläutert Baumgarten einen Kausalnexus zwischen der anschauenden Erkenntnis und sprachlich nicht repräsentierbareren Affekten.     

Baumgarten: Metaphysik, § 689, S. 367. Baumgarten: Metaphysik, § 690, S. 369. Baumgarten: Metaphysik, § 690, S. 369. Baumgarten: Metaphysik, § 692, S. 369. Baumgarten: Metaphysik, § 693, S. 369.

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3.2.2.2.3 Das Konzept der anschauenden Erkenntnis bei Mendelssohn Als primäre Inspirationsquellen für Schillers Konzept der anschauenden Erkenntnis können Moses Mendelssohns Ausführungen in seinen ästhetischen Schriften Über die Empfindungen (1755) und Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften (1757) sowie im poetologischen Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57) mit Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nicolai angesehen werden, die an Baumgartens Ästhetik anknüpfen. Auch bei Mendelssohns Ästhetik lassen sich kognitionspsychologische, gehaltsästhetische, produktionsästhetische und wirkungsästhetische Komponenten der anschauenden Erkenntnis unterscheiden. In kognitionspsychologischer Hinsicht bestimmt Mendelssohn die anschauende oder „sinnliche“¹⁰⁶ Erkenntnis auf der Grundlage von Baumgartens Ästhetik als eine perceptio praegnans, also eine extensiv klare, d. h. klare und verworrene Erkenntnis, bei der „eine große Menge von Merkmalen auf einmal [d. h. extensiv klar]“ wahrgenommen werde, „ohne sie deutlich [d. h. intensiv klar] auseinandersetzen zu können“¹⁰⁷. Mendelssohn spricht diesbezüglich entsprechend von „bündigen Vorstellungen“¹⁰⁸. Anders als Baumgarten bestimmt Mendelssohn die anschauende Erkenntnis nicht nur qualitativ und quantitativ als detailreiche Vorstellung wesentlicher Merkmale eines Begriffs, sondern auch temporal als „schnelle […] Vorstellung“: In der Anwendung der allgemeinen Schlüsse auf besondre Fälle, übersehen wir alle Theile und Folgen dieser Schlüsse auf einmal, die wir in der Theorie nur nach und nach überdenken können; wir vermindern also die Zeit, wodurch die Wirksamkeit vermehrt wird.¹⁰⁹

Anschauende Erkenntnis ist für Mendelssohn also nicht nur effektiv, sondern auch effizient. Des Weiteren übernimmt er Baumgartens semiotische Unterscheidung von symbolischer Erkenntnis, bei der die Aufmerksamkeit auf das Zeichen eines Gegenstands gerichtet ist, und anschauender Erkenntnis, bei der die Aufmerksamkeit auf den Inhalt des Gegenstands gerichtet ist: „Die Gegenstände werden unseren Sinnen wie unmittelbar vorgestellt, und die untern Seelenkräfte werden getäuscht, indem sie öfters der Zeichen vergessen und der Sache selbst ansichtig zu werden glauben.“¹¹⁰ In gehaltsästhetischer Hinsicht bestimmt Mendelssohn den literarisch-poetischen Text („Gedicht“¹¹¹) mit Baumgarten als „sinnlich vollkommene Rede“ und weist der Poesie („Dichtkunst“¹¹²) die ultimate Funktion („Hauptendzweck“¹¹³) zu, Vergnügen

 Vgl. z. B. Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 146.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 146 f.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 147.  Moses Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 2: Schriften zur Philosophie und Ästhetik II. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1931, bearb. von Fritz Bamberger und Leo Strauss. Stuttgart 1972, S. 147– 155; hier S. 152 f.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 154.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 153.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 153.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 153.

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zu evozieren. Die Disposition, diese Funktion zu erfüllen, schreibt er der Wahl solcher poetischen Ausdrücke zu, „die eine Menge von Merkmalen auf einmal in das Gedächtniss zurückbringen, um uns das Bezeichnete lebhafter empfinden zu lassen, als das Zeichen“¹¹⁴, die also anschauende Erkenntnis initiieren. In produktionsästhetischer Hinsicht leitet Mendelssohn aus der Bestimmung von Funktion und Wirkungsdisposition der Poesie für den Dichter die Aufgabe ab, die in der Natur nicht wahrnehmbare Einheit in der Vielheit¹¹⁵ „in einem eingeschränkten Bezirke“¹¹⁶ bzw. „in einem einzigen Gesichtspunkte“¹¹⁷ zu repräsentieren. Wie Mendelssohns Ausführungen in den Briefen über das Trauerspiel zu entnehmen ist, handelt es sich dabei um eine Form dichterischer Nachahmung. Bei dieser werden die Gegenstände der Wirklichkeit nicht genau so nachgeahmt, „wie sie im Urbilde anzutreffen sind“¹¹⁸, sondern ihre „allgemeinen abstrakten Begriffe“¹¹⁹ werden durch das Anführen von Beispielen oder durch „Erdichtung“¹²⁰ – jeweils im Baumgart’schen Sinn – auf „einzelne Fälle“¹²¹ reduziert. Das kognitionspsychologische Vehikel für dieses poetische Reduktionsverfahren ist auch bei Mendelssohn die „Einbildungskraft“¹²². Mit deren Hilfe könne der Dichter „die erforderliche Mannigfaltigkeit auf einmal fassen“¹²³, wie es Mendelssohn alias Palemon im Briefroman Über die Empfindungen formuliert. In wirkungsästhetischer Hinsicht sieht Mendelssohn in der Initiation anschauender Erkenntnis qua poetischer Reduktion intensiv klarer Allgemeinbegriffe auf extensiv klare Einzelfälle vor allem ein ethisch-praxeologisches Potential. Im Briefwechsel über das Trauerspiel (1756/57) sowie in der Abhandlung Von der Herrschaft über die Neigungen (1757), von der Passagen in den Briefwechsel integriert sind, weist er der anschauenden Erkenntnis, d. h. der extensiv klaren Vorstellung moralischer Begriffe, die Disposition zu, die Handlungsmotivation des Rezipienten zu beeinflussen.¹²⁴ Diese Funktionszuweisung gründet auf der Annahme der anthropologischen Konstante, dass „die Begierde zur Nacheiferung […] von der anschauenden Erkenntniß einer guten Eigenschaft unzertrennlich“¹²⁵ sei. Mendelssohn lehnt sich dabei an die Terminologie der Ästhetik Baumgartens an, über die er durch den moralphiloso-

 Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 153.  Vgl. Kap. 3.1.1, Anm. 10.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 151.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 151.  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 151.  Gotthold Ephraim Lessing, Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai: Briefwechsel über das Trauerspiel, hg. und kommentiert von Jochen Schulte-Sasse. München 1972, Brief Mendelssohns (und Nicolais) an Lessing vom Januar 1757, S. 92.  Mendelssohn: Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 92.  Mendelssohn: Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 92.  Mendelssohn: Über die Empfindungen, S. 51.  Mendelssohn: Über die Empfindungen, S. 51.  Vgl. Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen, S. 152– 154.  Mendelssohn: Briefwechsel über das Trauerspiel, S. 59.

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phischen Zuschnitt des Begriffs anschauende Erkenntnis aber hinausgeht. Die extensiv klare Vorstellung eines moralischen Begriffs, die als Handlungsmotiv fungiert, bezeichnet er entsprechend als „Bewegungsgrund“¹²⁶, während er die Begriffe „Wille“, „Begehrlichkeit“ und „Affect“¹²⁷ als Synonyme zur Bezeichnung des emotiven Effekts verwendet. Neben der ultimat-ethischen Funktion von Dichtung, durch die Initiation anschauender Erkenntnis von moralischen Begriffen den Handlungswillen des Rezipienten zu beeinflussen, weist Mendelssohn der Tragödie auch die proximat-ethische Funktion zu, den moral sense, die „sittliche Empfindlichkeit“¹²⁸, des Rezipienten zu aktivieren und einen „moralischen Geschmack“¹²⁹ zu konstituieren.

3.2.2.2.4 Das Konzept der anschauenden Erkenntnis bei Lessing Lessing konzeptualisiert seinen Begriff der anschauenden Erkenntnis in seinen an der Philosophie Wolffs orientierten Fabelabhandlungen von 1759¹³⁰, in denen er die Fabel als „Grenzphänomen zwischen Philosophie und Poesie“¹³¹ bestimmt. Er gründet seine Fabeltheorie in der ersten Abhandlung Von dem Wesen der Fabel auf der Annahme anthropologischer Dispositionen. Zu diesen zählt er auch die Affinität, die Aufmerksamkeit „auf dieses oder jenes besondere Ding“ zu richten, statt „den öden Begriff eines Dinges zu denken“¹³², also – mit Baumgarten gesprochen – die Affinität zur extensiv klaren Vorstellung (perceptio praegnans) eines Begriffs. Lessing übernimmt also in kognitionspsychologischer Hinsicht Baumgartens semiotische Unterscheidung zwischen einer zeichenfokussierenden symbolischen Erkenntnis und einer inhaltsfokussierenden anschauenden Erkenntnis. In produktionsästhetischer Hinsicht leitet er aus dieser anthropologischen Prämisse eine Kernkompetenz des Dichters ab, die er in Anlehnung an die philosophische Tradition als „Principium der Reduktion“¹³³ bezeichnet. Darunter versteht er die Reduktion eines „Allgemeinen“, das eine intensiv klare (deutliche) Vorstellung initiiert,

 Mendelssohn: Briefwechsel über das Trauerspiel, „Beykommende Blätter“, S. 94, Hervorhebung im Original.  Mendelssohn: Briefwechsel über das Trauerspiel, „Beykommende Blätter“, S. 94  Mendelssohn: Briefwechsel über das Trauerspiel, „Beykommende Blätter“, S. 98.  Mendelssohn: Briefwechsel über das Trauerspiel, „Beykommende Blätter“, S. 118, Hervorhebung im Original.  Die Fabeltheorie gliedert sich in die fünf Abhandlungen Von dem Wesen der Fabel, Vom Gebrauche der Tiere in der Fabel, Von der Einteilung der Fabeln, Von dem Vortrage der Fabeln und Von einem besondern Nutzen der Fabeln in den Schulen.  Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel und Martin Kramer: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 6. Aufl. München 1998 (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte. Bd. 2), S. 228.  Gotthold Ephraim Lessing: Abhandlungen. In: ders.: Werke in acht Bänden. Bd. 5: Literaturkritik, Poetik und Philologie, hg. von Herbert G. Göpfert, bearb. von Jörg Schönert. München 1973, S. 355 – 419; hier S. 359, Hervorhebungen im Original.  Lessing: Abhandlungen, S. 416, Hervorhebung im Original.

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auf „das Besondere“, das eine „faßliche“¹³⁴, d. h. extensiv klare (‚vielsagende‘ oder ‚sinnreiche‘) Vorstellung initiiert. In gehaltsästhetischer Hinsicht resultiert aus diesem dichterischen Reduktionsverfahren die detail- und sinnreiche Darstellung eines „allgemeinen Satzes“ durch die Anführung „bestimmter, wirklicher Dinge“¹³⁵, d. h. konkreter Beispiele. Eine solche sinnreiche Darstellung im Sinne einer gehaltsästhetischen perceptio praegnans fungiert auch in der Theorie Lessings als AufmerksamkeitsTrigger und Initiator anschauender Erkenntnis, „die ich vermittels der Handlung der Fabel von dieser oder jener Wahrheit erhalte“¹³⁶. In wirkungsästhetischer Hinsicht weist Lessing der Fabel die ultimat-kognitive Funktion zu, den Rezipienten von der „Wahrheit“ einer als perceptio praegnans dargestellten moralischen Aussage „lebendig“ zu „überzeugen“¹³⁷. Das Kriterium der kognitiven Signifikanz dient ihm schließlich zur Abgrenzung der Fabel von literarischen Konkurrenzgattungen wie dem epischen Roman oder der Tragödie: „Der Fabuliste […] hat mit unsern Leidenschaften nichts zu tun, sondern allein mit unserer Erkenntnis.“¹³⁸ Um die kognitive Funktion der Wahrheitsvermittlung zu erfüllen, müsse der Fabeldichter die Handlung derart gestalten, „daß die moralische Lehre [gemeint ist ein allgemeiner moralischer Lehrsatz] in die Handlung weder versteckt noch verkleidet, sondern durch sie der anschauenden Erkenntnis fähig gemacht werde“¹³⁹. Das ästhetische Primat der Darstellung besonderer Einzelfälle vor derjenigen abstrakter Allgemeinbegriffe begründet Lessing mit der bereits von Mendelssohn profilierten Eigenschaft anschauender Erkenntnis, das durch symbolische Erkenntnis bestimmte rationale Denken auszuhebeln und direkten „Einfluß in den Willen“¹⁴⁰ auszuüben. In der auf der Epistemologie der Rationalen Ästhetik gründenden Poetologie der Aufklärung – so lässt sich resümierend sagen – werden der Darstellung eines Allgemeinen im Besonderen (1) eine kognitionspsychologische, (2) eine ästhetische und (3) eine ethische Funktion zugewiesen. Letztere lässt sich noch in eine (3a) ethischsemantische und (3b) ethisch-pragmatische Funktion unterteilen. (1) In kognitionspsychologischer Hinsicht wird der detail- und sinnreichen Darstellung eines Allgemeinen im Besonderen die Funktion zugewiesen, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das Wesen eines Gegenstands zu lenken und dadurch die symbolisch-diskursive Erkenntnis auszuhebeln. (2) Der Darstellung eines Allgemeinen im Besonderen wird die ästhetische Funktion zugewiesen, Vergnügen zu evozieren und so das Horaz’sche

      

Lessing: Abhandlungen, S. 361, Hervorhebungen im Original. Lessing: Abhandlungen, S. 359. Lessing: Abhandlungen, S. 361. Lessing: Abhandlungen, S. 376. Lessing: Abhandlungen, S. 376. Lessing: Abhandlungen, S. 371, Hervorhebungen im Original. Lessing: Abhandlungen, S. 383.

3.2 Dramatisierungsstrategien

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delectare ¹⁴¹ einzulösen. (3) Der Darstellung eines Allgemeinen im Besonderen wird (3a) die ethisch-semantische Funktion zugewiesen, moralische Begriffe zu konstituieren, und (3b) die ethisch-pragmatische Funktion, das Ausführen oder Unterlassen einer moralischen bzw. lasterhaften Handlung zu initiieren und so das movere einzulösen. Diese Verhältnisse seien im folgenden Schema (Abb. 5) noch einmal dargestellt:

Abb. 5: Epistemologische Wirkungspoetik in der Poetologie der Aufklärung

Vor dem Hintergrund des hier rekonstruierten Konzepts anschauender Erkenntnis lassen sich einige Begriffe aus Schillers expliziter Wirkungspoetik wie Wahrheit, Gemälde oder Hohlspiegel, die auf der im folgenden Kapitel noch einmal geschärften Unterscheidung zwischen propositionaler und nicht-propositionaler Erkenntnis basieren, als epistemologische Konzepte erklären.

3.2.2.3 Propositionale und nicht-propositionale Erkenntnis Anhand der begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion des Konzepts anschauender Erkenntnis kann die Unterscheidung zwischen propositionaler und nicht-propositionaler Erkenntnis begrifflich geschärft werden. Propositionale Erkenntnis wurde im Kapitel 2.2 als diejenige Erkenntnis bestimmt, die sich auf einen abstrakten semantischen Gehalt bezieht, der einen Wahrheitswert (wahr oder falsch) hat und der sich sprachlich durch einen Dass-Satz repräsentieren lässt. Nicht-propositionale Erkenntnis wurde hingegen als ein wahrheitsindifferentes Erfassen des Inhalts eines Gegenstands, Sachverhalts usw. bestimmt, das sich durch einen Wie-Satz umschreiben, aber sprachlich nicht oder mindestens nicht adäquat repräsentieren lässt. Dieser Bestim-

 Vgl. Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/Deutsch, übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer. Stuttgart 1997 (RUB. Bd. 9421), S. 24 f., V. 333: „aut prodesse volunt aut delectare poetae“ (‚Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter‘).

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

mung lässt sich anhand der Konzeptualisierungen Baumgartens, Mendelssohns und Lessings nun noch präzisierend hinzufügen, dass nicht-propositionale Erkenntnis durch den Aufmerksamkeitsfokus auf den Inhalt eines Begriffs im Gegensatz zur propositionalen Erkenntnis insofern wahrheitsindifferent ist, als sie statt eines Wahrheitswerts einen Wahrhaftigkeits- oder Sinnfälligkeitswert hat. Dabei heißt wahrheitsindifferent aber nicht, dass nicht-propositionale Erkenntnis weder wahr noch falsch ist bzw. dass der Wahrheitswert eines nicht-propositional erkannten Begriffs nicht ermittelbar ist, sondern dass diese Erkenntnis unabhängig vom Wahrheitswert des Erkenntnisgegenstands zustande kommt, also gewissermaßen wahrheitsignorant ist. Während propositional nur das erkennbar ist, was in der Welt der Fall, also ontologisch wahr (existent) ist, ist nicht-propositional auch das erkennbar, was in der Welt nicht der Fall, also ontologisch falsch (inexistent, erfunden) ist. Aus diesem Grund erweist sich fiktionale Literatur, die Fiktives narrativ (typischerweise in der Epik), szenisch (typischerweise im Drama), expressiv (typischerweise in der Lyrik) usw. darstellt, als besonders geeignetes Medium für die Vermittlung von nicht-propositionaler Erkenntnis. Dieser Sachverhalt hat in der Forschung der Analytischen Philosophie und Literaturwissenschaft immer wieder Anlass gegeben, nicht-propositionale Erkenntnis aus dem ‚Reich der Erkenntnis‘ gänzlich auszuschließen und diese spezifische Wahrnehmungsweise überhaupt nicht als Erkenntnis zu bezeichnen.¹⁴² Tatsächlich scheint es nur dann sinnvoll, von einer nicht-propositionalen Erkenntnis auszugehen, wenn man entweder den Begriff der Erkenntnis von demjenigen der Wahrheit entkoppelt und Erkenntnis und Wahrheit als zwei voneinander unabhängige Kategorien auffasst¹⁴³, oder aber den Skopus des Wahrheitsbegriffs erweitert und unter den Begriff nicht nur logische, ontologische usw., sondern auch Evidenz-Wahrheit fasst. Besteht man hingegen auf einem wahrheitsdeterminierten Erkenntnisbegriff, erweist sich der Begriffsname Erkenntnis als zu ‚stark‘ für die Bezeichnung nicht-propositionaler Wahrnehmung, wofür Begriffsnamen wie Einsicht, Erfassen oder Ergreifen adäquater wären. Aus den im Kapitel 2.2 bereits erläuterten Gründen halte ich hier aber weiterhin an den Begriffen der propositionalen und nicht-propositionalen Erkenntnis fest und verwende sie als heuristische Kategorien zur Unterscheidung zwischen einer ratiobestimmten diskursiven und einer affectatio-bestimmten intuitiven ‚Erkenntnis‘.

 Vgl. Fricke: Kann man poetisch philosophieren?, Tilmann Köppe: Grünbeins Idee von der Erkenntnis des Dichters. In: Kai Bremer, Fabian Lampart und Jörg Wesche (Hg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Freiburg i. Br. u. a. 2007 (Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae. Bd. 154), S. 259 – 270 oder ders.: Literatur und Erkenntnis. Eine Darstellung der propositionalistischen Argumentation gegen die Bezeichnung nicht-propositionaler Erkenntnis als Erkenntnis findet sich bei Gottfried Gabriel: Kennen und Erkennen. In: Joachim Bromand und Guido Kreis (Hg.): Was sich nicht sagen lässt. Das Nicht-Begriffliche in Wissenschaft, Kunst und Religion. Berlin 2010, S. 43 – 55; hier S. 48 – 52.  Zum Unterschied von Wahrheit und Erkenntnis vgl. Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 247.

3.2 Dramatisierungsstrategien

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3.2.2.4 Logische Wahrheit und ästhetische Wahrhaftigkeit Wenn Schiller in seiner expliziten Wirkungspoetik im Zusammenhang mit nicht-propositionaler bzw. anschauender Erkenntnis von wahr oder Wahrheit spricht, legt er dieser Rede jeweils einen spezifischen Wahrheitsbegriff zugrunde, der auf einer Evidenztheorie der Wahrheit gründet. Die auf der Theaterbühne physisch repräsentierten Dramenfiguren sind nicht logisch oder ontologisch „wahr“ (NA 20, S. 91), denn es handelt sich unabhängig von der realen Präsenz der Schauspieler um fiktive Figuren, sondern sie sind ästhetisch wahr im Sinne von ‚wahrhaftig‘, ‚einsichtig‘ oder eben „faßlich“ (NA 20, S. 91), sodass der Ausdruck „faßlich und wahr“ (NA 20, S. 91) als Hendiadyoin zu verstehen ist. Das Prädikat „wahr“ ist in diesem Fall nicht Bestandteil einer logischen Aussage, sondern eines ästhetischen Urteils. Die dargestellten Figuren sind Schiller zufolge wahr, insofern sie die wesentlichen Eigenschaften eines abstrakten Allgemeinbegriffs aufweisen, insofern also das Allgemeine im Besonderen adäquat¹⁴⁴ dargestellt ist. Bei der in Rede stehenden „Wahrheit“ (NA 20, S. 91) handelt es sich demnach nicht um logische, sondern um „ästhetische Wahrheit“¹⁴⁵ im Baumgart’schen Sinn als „Wahrheit, soweit sie sinnlich erkennbar ist“¹⁴⁶. Das Wahrheitskriterium der ästhetischen Wahrheit ist anders als bei der logischen Wahrheit nicht die Referenz von Begriffsnamen, Aussagen usw. auf die Wirklichkeit, sondern die Evidenz eines Begriffsinhalts, die unabhängig von der logischen Wahrheit zustande kommen kann.¹⁴⁷ Ästhetische Wahrheit hat also – mit Frege gesprochen – keine „Bedeutung“, sondern einen „Sinn“¹⁴⁸.

3.2.2.5 Das literarische Gemälde als perceptio praegnans Schillers Verwendung des Gemäldebegriffs in der Schaubühnen-Rede lässt vermuten, dass mit diesem Begriff nicht nur die Horaz’sche Analogie von Malerei und Dichtkunst (ut pictura poiesis)¹⁴⁹, sondern darüber hinaus auch das poetische Verfahren einer sinnreichen Darstellung bezeichnet und die damit verbundene ästhetische Erfahrung anschauender Erkenntnis impliziert wird. So bezeichnet Schiller in der SchaubühnenRede mit dem Begriff etwa die Darstellung der Lady Macbeth, die versucht, sich nach

 Zum Adäquatheitsanspruch fiktionaler Literatur vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 82– 86.  Baumgarten: Theoretische Ästhetik, § 423, S. 53. Zur Begriffsgeschichte ästhetischer Wahrheit in der nach-kantischen deutschsprachigen Philosophie bei Hegel, Heidegger und Adorno vgl. Hamburger: Wahrheit und ästhetische Wahrheit, S. 47– 90.  Baumgarten: Theoretische Ästhetik, § 423, S. 53.  Zum Problem bei der Verwendung einer solchen „Sinnes-Evidenz“ als Wahrheitskriterium vgl. Ansgar Kemmann: Evidentia, Evidenz. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, mitbegründet von Walter Jens, in Verbindung mit Wilfried Barner et al. Unter Mitwirkung von mehr als 300 Fachgelehrten. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 33 – 47; hier Sp. 35.  Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 100 (1892), S. 25 – 50. Zu Freges sprachtheoretischer Auffassung des Begriffs ästhetische Wahrheit vgl. Hamburger, S. 113 f.  Vgl. Horaz, S. 26, V. 361.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

dem Mord ihres Gatten an König Duncan die Hände reinzuwaschen (vgl. NA 20, S. 92), oder die Darstellung Franz von Moors, der sein schlechtes Gewissen durch Blasphemie zu ignorieren versucht. Solche „Kunstgemählde“ hätten eine besonders abschreckende Wirkung auf den Zuschauer und hinterließen nachhaltige „Eindrücke“, die „bei der leisesten Berührung“ unverzüglich reaktiviert würden (NA 20, S. 92 f.). Damit weist Schiller dem literarischen Gemälde dieselben Funktionen zu, die bereits Baumgarten und Mendelssohn der extensiv klaren Vorstellung abstrakter Begriffe zugewiesen haben. So liegt die Vermutung nahe, es handle sich bei Gemälde um einen metaphorischen Begriff zur Bezeichnung einer sinnreichen, d. h. extensiv klaren Vorstellung abstrakter Begriffe, die ihre extensive Klarheit durch die Darstellung begriffsbestimmender, also wesentlicher¹⁵⁰ Merkmale und diesen Merkmalen entsprechender Verhaltensweisen erhalten. Ein Hinweis auf eine solche epistemologische Deutung des Gemäldebegriffs findet sich bei Johann Georg Sulzer. Dieser bezeichnet in der zweiten Auflage seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste, die Schiller gekannt hat¹⁵¹, mit Gemälde solche „Stellen der Gedichte [gemeint sind ‚Erdichtungen‘ im Baumgart’schen Sinn], bei denen „sinnliche und besonders sichtbare Gegenstände, wie auf dem Vorgrund, näher ans Auge gebracht, und bis auf ganz kleine Theile ausgezeichnet werden“¹⁵². Dieser Gemäldebegriff impliziert die zentralen Merkmale einer sinnreichen Präsentation nach Baumgarten, insofern sich hinter der Auszeichnung des Gegenstands durch „ganz kleine Theile“ dessen Konzept der extensiven Klarheit durch Merkmalsbestimmung verbirgt, sodass „der Gegenstand umständlicher, als es in der übrigen Materie des Gedichts geschieht, ausgezeichnet“¹⁵³ werde. Zu den Eigenschaften eines literarischen Gemäldes zählt Sulzer neben der „Kürze“ auch solche Worte, „die sehr viel mehr Begriffe [hier im Sinne von ‚Vorstellungen‘] erwecken, als unmittelbar darin liegen“¹⁵⁴. So müsse der Dichter entsprechend diejenigen „Ausdrücke und „Wendungen finden“, „die plötzlich alle Nebenbegriffe erwecken, die sich einzeln nicht ausdrücken lassen“¹⁵⁵. Somit impliziert Sulzers Begriff des literarischen Gemäldes Baumgartens Konzept der perceptio praegnans als einer extensiv klaren, ‚vielsagenden‘ Vorstellung und präfiguriert Kants „ästhetische Idee“. Unter dieser ist diejenige „Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff adäquat sein kann, die folglich

 Zur Bestimmung des Wesentlichen oder Typischen vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 84.  Das geht aus einem Brief vom 9. Dez. 1782 an den Freund und späteren Schwager Reinwald hervor, von dem sich Schiller neben einer Menge anderer Schriften auch die Allgemeine Theorie der Schönen Künste erbittet. Die explizite Erwähnung von Sulzers Theater-Konzeption in der Schaubühnen-Rede weist darauf hin, dass Schiller die verlangte Schrift auch erhalten und mindestens den Eintrag zum Theater gelesen hat.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, Art. Gemählde, S. 452– 455; hier S. 452.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 452.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 452.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 452.

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keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann“¹⁵⁶, aufzufassen. Dabei korrespondieren die Bedeutungsassoziationen, die Sulzer als „Nebenbegriffe“ bezeichnet, Kants „ästhetischen Attributen“ bzw. „Nebenvorstellungen“¹⁵⁷. Der hier von Sulzer unterstellte Zusammenhang von morphologischer Knappheit und semantischer Fülle entspricht dem poetischen Stilprinzip der Konzision, das der Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg in den Sudelbüchern mit der Formel „Mit wenigen Worten viel sagen“¹⁵⁸ umschrieben hat und bei dem Sulzer zufolge „mit wenig Worten sehr viel an[gezeigt]“¹⁵⁹ wird. Die Konzision korrespondiert also nicht der rhetorischen Figur der brevitas, sondern wird durch diese erst hergestellt, sodass ‚Verkürzung‘ oder ‚Verdichtung‘ adäquatere Übersetzungen für den Begriffsnamen Konzision sind als ‚Kürze‘.¹⁶⁰ Das sowohl von Sulzer als auch von Kant konzipierte Dichtungsvermögen zeichnet sich demnach durch die Fähigkeit zur sinnreichen Darstellung aus, bei der ein Gegenstand einerseits durch detaillierte Beschreibung seiner wesentlichen Eigenschaften in extensiver Hinsicht klarer und andererseits durch die Wahl poetischer Ausdrücke wie z. B. Tropen in intensiver Hinsicht dunkler wird, sodass ein sprachlich nicht repräsentierbarer Bedeutungsüberschuss entsteht. Die Konzeption des literarischen Gemäldes im Sinne einer ‚vielsagenden‘ und ‚sinnreichen‘, aber auch bedeutungsoffenen sowie sprachlich nicht repräsentier- und propositional nicht einholbaren Vorstellung ist auch ein Indiz für den Zusammenhang zwischen Baumgartens Konzept der perceptio praegnans und Kants Begriff der ästhetischen Idee.¹⁶¹ Somit ist hier evident geworden, dass sich Schillers Begriff des literarischen Gemäldes in der Schaubühnen-Rede nur vor dem Hintergrund der zwischen Baumgarten und Kant verlaufenden Tradition erklären lässt, in die sich Schiller über Mendelssohn und Sulzer einreiht. Auch in wirkungsästhetischer Hinsicht korrespondiert Sulzers Gemäldebegriff mit Baumgartens Konzeption der verworrenen Vorstellung, insofern die Eigenschaft, im „Vorgrund“ und „näher ans Auge gebracht“ zu erscheinen, den aufmerksamkeitslenkenden Effekt einer extensiv klaren Vorstellung impliziert. Schließlich weist Sulzer dem literarischen Gemälde die bereits bei Baumgarten profilierte emotive Funktion extensiv klarer Vorstellungen zu, Affekte zu evozieren. Daher könne das literarische Gemälde im Gegensatz zu „allgemeine[n] und undeutliche[n] Vorstellungen [gemeint sind hier wohl intensiv klare Vorstellungen, die in extensiver Hinsicht undeutlich sind]“ „rühren“.¹⁶²

 Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, S. 664.  Kant: Kritik der Urteilskraft, § 49, S. 666.  Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher, hg. von Franz H. Mautner. Mit einem Nachwort, Anmerkungen zum Text, einer Konkordanz der Aphorismen-Nummern und einer Zeittafel. Frankfurt a. M./Leipzig 1983, S. 349, Hervorhebung im Original.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 452.  Vgl. Ralph Müller: Theorie der Pointe. Paderborn 2003 (Explicatio), S. 120.  Vgl. Gabriel: „perceptio praegnans“, S. 61– 71.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 452.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

Es handelt sich beim Begriff Gemälde, wie ihn Schiller in seiner SchaubühnenRede verwendet, also um eine metaphorische Bezeichnung für die sinnreiche Vergegenwärtigung abstrakter, vornehmlich moralischer Begriffe wie Tugend oder Laster, deren extensiv klare Bestimmung bestimmte Affekte beim Rezipienten evozieren sollen. Schiller führt in der Schaubühnen-Rede ein Beispiel für dieses epistemologische Konzept des literarischen Gemäldes aus dem eigenen dramatischen Werk an, wenn er sagt, er sei „mehr als einmal Zeuge gewesen, als man seinen ganzen Abscheu vor schlechten Thaten in dem Scheltwort zusammenhäufte: Der Mensch ist ein Franz Moor.“ (NA 20, S. 92) Bei der Prädikation „Der Mensch ist ein Franz Moor“ handelt es sich um eine prädikative Metapher, insofern der prädikative Ausdruck „ein Franz Moor“ den eigentlich gemeinten, intensiv klaren Begriff lasterhaft durch den Eigennamen einer Figur ersetzt, die die wesentlichen Eigenschaften des Begriffs aufweist und damit einer intensiv klaren Vorstellung des Begriffs entspricht. Franz Moor ist in Schillers eigenen Worten ein „treffendes lebendiges Konterfey“ eines „Mißmenschen“ (NA 3, S. 6), d. h. eine perceptio praegnans eines bestimmten Menschentypus. Die Konzision dieser Antonomasie als einer metaphorischen ad hoc-Bildung¹⁶³ besteht zum einen aus der ‚Zusammenhäufung‘ oder ‚Verknappung‘ des abstrakten Begriffs lasterhaft im Eigennamen der Figur „Franz Moor“, deren Set an wesentlichen Eigenschaften, d. h. deren exemplifizierte Etiketten im Sinne der komplexen Referenz auf Individuen der Wirklichkeit appliziert¹⁶⁴ werden.¹⁶⁵ Zum anderen generiert die kognitive Verlinkung der extensiv klaren Vorstellung der literarischen Figur „Franz Moor“ mit dem begrifflich-abstrakten Konzept des Lasterhaften dessen semantische Anreicherung, die sprachlich nicht repräsentier- und propositional nicht einholbar ist, also eine „ästhetische Idee“ des Lasterhaften. Die prädikative Metapher „Der Mensch ist ein Franz Moor“ ist zwar in extensionaler Hinsicht klarer, aber in intensionaler Hinsicht dunkler als die eigentliche Prädikation „Der Mensch ist lasterhaft“ und verhindert dadurch eine Fixierung auf einen eindeutigen Sinn oder eine eindeutige Bedeutung.¹⁶⁶ Da Sulzer seinen Gemäldebegriff aus dem deskriptiv-narrativen Modus der Epik ableitet und entsprechend an den Epen Homers veranschaulicht, bleibt zu fragen, auf welche Weise Dramenfiguren perceptiones praegnantes sein können. Schiller weist die Protagonisten seines dramatischen Erstlings in den poetologischen Peritexten als perceptiones praegnantes im Sinn detail- und sinnreicher Darstellungen abstrakter Begriffe aus. Die Figur des Franz Moor sei ein „treffendes lebendiges Konterfey“ eines „Mißmenschen“ (NA 3, S. 6) und diejenige des Karl Moor ein „seltsamer Donquixote“ (NA 3, S. 6). Bei beiden Figuren handelt es sich also um die extensiv klare Verge-

 Zur Auffassung des Bildspenders als ad hoc-Kategorie vgl. Ralph Müller: Interaction in Metaphor. In: Studies in the Literary Imagination 42 (2009), H. 2, S. 61– 77; hier S. 65.  Zur applikativen Lektüreweise vgl. Thürnau, S. 150.  Zu einer solchen Richtungsänderung des Bedeutens am Beispiel von Eigennamen vgl. Gabriel: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, S. 168 f.  Zur semantischen ‚Resistenz‘ der Metapher vgl. Müller: Interaction in Metaphor, S. 61.

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genwärtigung eines bestimmten Menschentypus, dessen exemplifizierte Etiketten auf Individuen der Wirklichkeit verweisen¹⁶⁷: „Ich werde es hoffentlich nicht erst anmerken dörfen, daß ich dieses Gemählde so wenig nur allein Räubern vorhalte, als die Satyre des Spaniers [Don Quixotes] nur allein Ritter geisselt.“ (NA 3, S. 6) Schiller impliziert mit dieser Qualifikation der Figuren als treffender Beispiele für Allgemeinmenschliches, dass die Figuren die wesentlichen Teileigenschaften einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft aufweisen. Bereits Baumgarten hatte in seiner Metaphysik wesentliche und unwesentliche Eigenschaften von Gegenständen differenziert und daraus den Unterschied zwischen ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Erdichtungen abgeleitet.¹⁶⁸ Weder bei Baumgarten noch bei Schiller werden aber Kriterien für die Unterscheidung von wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen eines allgemeinen Begriffs genannt, sondern es wird jeweils ein Konsens darüber vorausgesetzt, welche Eigenschaften die wesentlichen sind und welche nicht. Die Zuweisung von Eigenschaften geschieht demnach unter der Annahme, dass der Rezipient weiß, welche Eigenschaften die wesentlichen sind, bzw. dass der Rezipient die zugeschriebenen Eigenschaften ebenfalls für die wesentlichen hält. Aus kognitionspsychologischer Perspektive handelt es sich bei einem solchen Wissen um ein kulturell determiniertes mentales Prototypenmodell, mit dessen Hilfe der Mensch die Gegenstände der Welt kategorisiert, indem er sehr typische oder prototypische Eigenschaften einer Kategorie im Zentrum und weniger typische an der Peripherie eines mental repräsentierten Kreismodells verortet. Beim Wesentlichen oder Typischen eines Besonderen als einer perceptio praegnans eines Allgemeinen handelt es sich eben um diejenigen Eigenschaften, „auf die wir bei der Charakterisierung des Besonderen nicht bereit sind zu verzichten“¹⁶⁹ und die wir als „optimale Repräsentanten“¹⁷⁰ des Allgemeinen einstufen, ohne in jedem Fall Gründe für die qualitative Abstufung angeben zu können. Neben dem Fiktionalitätsvertrag¹⁷¹ besteht das im Kapitel 2.1 skizzierte literarische

 Vgl. Kap. 2.1, Anm. 18.  Vgl. Baumgarten: Metaphysik, § 591, S. 311– 313.  Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 84.  Elmar Holenstein: Sprachliche Universalien. Eine Untersuchung zur Natur des menschlichen Geistes. Bochum 1985 (Bochumer Beiträge zur Semiotik. Bd. 1), S. 194.  Unter Fiktionalitätsvertrag verstehe ich eine das literarische Kommunikationsmodell mitkonstituierende stillschweigende Vereinbarung zwischen dem Produzenten und dem Rezipienten eines Textes, dass dieser Text als ein fiktionaler aufzufassen ist, d. h. die im Text sprachlich repräsentierten Gegenstände fiktiv (‚erfunden‘, nicht-referentiell‘) sind. Zum Fiktionalitätsvertrag vgl. z. B. Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 25 – 35. Zu einer Kritik der Annahme eines Fiktionalitätsvertrags als pragmatischen Kriteriums für die Bestimmung von Fiktionalität vgl. Eric Achermann: Von Fakten und Pakten. Referieren in fiktionalen und autobiographischen Texten. In: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld 2013, S. 23 – 53; hier S. 44 f. Achermann verwirft die Möglichkeit eines das für fiktionale Texte typische Rezeptionsverhalten (die Glaubwürdigkeit von im Text Geäussertem anzuzweifeln) erklärenden Vertrages oder Paktes zwischen dem Autor und dem Rezipienten und erklärt dieses Rezeptionsverhalten mit dem „Akt des Bezugnehmens“ (Achermann, S. 46) fiktionaler Texte. Er reduziert die Frage nach Fiktionalität oder Faktizität

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

Kommunikationsmodell also auch aus einem Prototypikalitätsvertrag, d. h. der stillschweigenden Vereinbarung zwischen Textproduzent und Rezipient, dass die Eigenschaften einer literarischen Figur prototypisch für ein einfaches Allgemeines wie eine allgemeinmenschliche Eigenschaft sind. Die psycholinguistische Annahme eines solchen Prototypenmodells schließt freilich nicht aus, dass die Darstellung eines Allgemeinen im Besonderen einer literarischen Figur auch misslingen und ihr Ziel, auf das entsprechende Allgemeine zu verweisen, verfehlen kann. Dies ist dann der Fall, wenn entweder die Darstellung inadäquat ist, d. h. das Allgemeine im Besonderen nicht treffend dargestellt ist, sodass die Umkehrung der Bedeutungsrichtung verhindert wird, oder wenn die Darstellung zwar adäquat, d. h. das Allgemeine treffend dargestellt ist, aber die Umkehrung der Bedeutungsrichtung dennoch nicht zustande kommt (weil etwa die Transfersignale nicht wahrgenommen werden).¹⁷²

3.2.2.6 Der Hohlspiegel als Metapher für das Prinzip der anschauenden Erkenntnis Schiller vergleicht die sinnreichen Verkörperungen abstrakter Begriffe als perceptiones praegnantes in der Schaubühnen-Rede mit den „Schatten in einem Hohlspiegel“ (NA 20, S. 92). Hinter diesem Vergleich verbirgt sich die in der Philosophie und Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts gängige Form der Veranschaulichung aisthesiologischer und epistemologischer Phänomene durch die Analogisierung mit optischen Mechanismen.¹⁷³ Während es sich beim Begriff des literarischen Gemäldes um eine Metapher zur Bezeichnung einer perceptio praegnans einerseits als einer mentalen Repräsentation eines Rezeptionsvorgangs und andererseits als einer ästhetischen Darstellung eines Allgemeinen handelt, fungiert der Begriff des Hohlspiegels als metaphorische Bezeichnung für das Prinzip der anschauenden Erkenntnis. Physikalisch handelt es sich bei einem Hohl- oder Parabolspiegel um den Rotationskörper der mathematischen Parabel, einer konkaven Kurve, die sich durch die Verbindung all jener Punkte in einem Koordinatensystem ergibt, die von der x-Achse und einem Brennpunkt F denselben Abstand haben. Die physikalische Besonderheit eines solchen parabolischen Körpers besteht darin, dass senkrecht auf die konkave Innenflä-

von (literarischen) Texten im Hinblick auf den logischen Status von Autobiographien also auf das Referieren und klammert sprechakttheoretisch-pragmatische Bestimmungen von Fiktionalität aus.  Zum Problem der Unbestimmtheit vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 102– 107.  Zur literarischen Verwendung von Metaphern aus dem Bereich der Optik vgl. Stadler. Eine populäre Anwendung der Hohlspiegel-Metapher zur Bezeichnung eines epistemischen Vorgangs findet sich in Heinrich von Kleists philosophischem Essay Über das Marionettentheater, wo der Hohlspiegel als Bildspender für die metaphorische Veranschaulichung einer die Unendlichkeit durchquerenden Erkenntnis fungiert (vgl. Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Bd. 3: Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. von Klaus MüllerSalget. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker. Bd. 51), S. 555 – 563; hier S. 563).

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che des Körpers einfallendes Licht zuverlässig durch den Brennpunkt abgelenkt wird, in dem sich das Licht also bündelt. Das tertium comparationis zwischen Hohlspiegel und anschauender Erkenntnis besteht einerseits in der Eigenschaft der Konzentration (beim Hohlspiegel von einfallenden Lichtstrahlen auf einen Brennpunkt, bei der anschauenden Erkenntnis von Allgemeinbegriffen auf besondere Einzelfälle) und andererseits im verworrenen Abbild (auf der konkaven Oberfläche des Hohlspielgels oder auf der Theaterbühne). Die physikalischen Eigenschaften des Parabolspiegels, die auch der literarischen Gattung „Parabel“ den Namen geben, seien mit der folgenden Darstellung (Abb. 6) noch einmal veranschaulicht:

Abb. : Hohlspiegel¹⁷⁴

3.2.2.7 Der emotionale Pakt Im Kapitel 3.2.1 wurde eine Bestimmung inhaltlicher Dramatisierungsstrategien als Darstellung interessanter oder auch tragischer Sachverhalte rekonstruiert, die durch ihre Extravaganz und emotive Signifikanz die Disposition aufweisen, die emotive Funktion der Affekterzeugung zu erfüllen. In dem von Schiller als beispielhafte Illustration einer tragischen und „zugleich“ (NA 22, S. 126) rührenden Situation angeführten Dialog zwischen Amalia und Karl Moor werden die Extravaganz und die emotive Signifikanz des Sachverhalts durch mehrfaches Reformulieren („Amalia ist ein unglückliches Mädchen.“) sowie durch den Einsatz von Emotionswörtern wie „unglücklich“, „Liebe“ oder „Entsetzen“ (NA 22, S. 127) markiert. Bei diesen Markierungen handelt es sich um rhetorische Strategien, deren Funktion innerhalb des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems zwischen den Dialogpartnern Amalia und Karl Moor eingelöst wird. Amalia befindet sich nach Karls Schilderung ihrer eigenen Geschichte, die sie für die Geschichte einer Fremden hält und die gemäß Schillers eigenem Dafürhalten „sehr interessant“ (NA 22, S. 127) ist, „im Ausdruck der heftigsten Rührung“ (NA 22, S. 127). Es handelt sich also um einen fiktionsintern si-

 Abbildung aus: Art. Hohlspiegel. In: Lexikon der Physik (Online-Version). Heidelberg 1998 (http:// www.spektrum.de/lexikon/physik/hohlspiegel/6848 [5.8.16]).

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

mulierten Modellfall eines aus affektpoetischer Sicht idealen Kommunikationsschemas. Dabei kann die Simulation der Erfüllung emotiver Funktionen als eine Form der Metakommunikation¹⁷⁵ angesehen werden, insofern damit zu verstehen gegeben wird, wie die im Dialog vergebenen Informationen vom Rezipienten aufgefasst werden sollen. Der Begriff der Metakommunikation ist diesbezüglich aber nicht so zu verstehen, dass eine Reflexion auf die Evokation von Emotionen initiiert und damit die implizite Wirkungspoetik auf der Bedeutungsebene des Textes zu bedenken gegeben wird, sondern so, dass das fiktionsinterne Kommunikationssystem auf die emotive Wirkungsdisposition des Dargestellten aufmerksam macht. In Anlehnung an Peter von Matts Begriff des moralischen Pakts¹⁷⁶ kann man diesbezüglich entsprechend von einem emotionalen Pakt sprechen. Genauso wie der moralische Pakt, der eine „überlegte moralische Urteilsbildung“¹⁷⁷ durch bestimmte Persuasionsstrategien verhindert, legt auch der emotionale Pakt fest, dass die Darstellung bestimmter Sachverhalte bestimmte Emotionen auslösen soll. Die Persuasionsstrategien beziehen sich nicht auf den Wahrheitswert von Sachverhaltsaussagen, sondern auf die emotive Signifikanz der Sachverhalte. Der Rezipient soll nicht davon überzeugt werden, dass Urteile, in denen Sachverhalte geäußert werden, wahr (oder falsch) sind, sondern davon, gegenüber den Sachverhalten eine bestimmte emotionale Einstellung einzunehmen. Die Figuren fungieren dabei als „idealische Stellvertreter der Zuschauer“¹⁷⁸ und generieren durch ihre affektiven Reaktionen auf die Reden der Dialogpartner ein bestimmtes „Rezeptionsmuster“¹⁷⁹, das als Direktive zur Übernahme bestimmter Affekte aufgefasst werden kann. Bei der fiktionsinternen Simulation eines affekttheoretischen Kommunikationsmusters handelt es sich also um eine mediale Dramatisierungsstrategie, die die Disposition aufweist, die emotive Funktion der Affekterzeugung zu erfüllen.

3.2.2.8 Die rührende Rede als rhetorisches Mittel zur Erzeugung einer perceptio praegnans Bei Karls Darstellung der Amalia-Geschichte handelt es sich um einen bestimmten Rede-Typus, für den in der Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts aufgrund seiner emotiven Funktion der terminus technicus der rührenden Rede existiert. Sulzer  Zu diesem Begriff vgl. Pfister, S. 26.  Vgl. Peter von Matt: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München/Wien 1995, S. 36 – 38. Für von Matt ist der „moralische Pakt“ eine narratologische Kategorie, die er als „ein Prinzip allen Lesens und Hörens von Erzähltem“ (von Matt: Familiendesaster, S. 36) aus der impliziten Wirkungspoetik narrativer Texte rekonstruiert. Wolfgang Ranke verwendet den Begriff für die Bestimmung der Theatermoral (vgl. Ranke, S. 92).  Ranke, S. 92.  August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über die dramatische Kunst und Literatur. Kritische Ausgabe, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Giovanni Vittorio Amoretti. Bd. 1. Bonn/ Leipzig 1923, 3. Vorlesung, S. 44.  Platz-Waury, S. 70.

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zufolge kommt einer solchen Rede die Funktion zu, „Leidenschaften“ zu erwecken, „die nach der Absicht des Redners entweder Entschließungen, oder Unternehmungen befördern, oder hintertreiben sollen“¹⁸⁰. Während die generische Aussage eines allgemeinen Sachverhalts eine Wahrheitswerts-Prüfung dieser Aussage initiiert, soll die Schilderung eines emotiven Sachverhalts in einer rührenden Rede die Wahrheitswerts-Prüfung des Sachverhalts gerade verhindern und stattdessen Emotionen evozieren, die entsprechende Folgehandlungen initiieren. Die rührende Rede finde „nur da statt, wo die Gegenstände, die die Leidenschaft hervorbringen sollen, klar genug am Tage liegen, daß der Verstand nicht mehr nöthig hat, über die wahre Beschaffenheit der Sache unterrichtet zu werden, sondern nur die Empfindung stärker zu reizen ist“¹⁸¹. „Klar genug“ meint dabei nicht intensiv klar, sondern es handelt sich um eine extensive Klarheit, die zustande kommt, wenn der rührende Redner die „wahre Beschaffenheit“ eines Sachverhalts „ohne Zergliedern und ohne subtiles Forschen“ „mit einem Blik“¹⁸² erkennt, sodass er die Rezipienten von dem in Rede stehenden Sachverhalt „lebhaft überzeugen“¹⁸³ kann. Eine rührende Rede setzt also die extensiv klare, d. h. detailreiche und sinnfällige mentale Repräsentation eines spezifischen Sachverhalts voraus. Während sich der Begriff des literarischen Gemäldes auf die sinnreiche Darstellung eines einfachen Allgemeinen wie z. B. einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft im Besonderen einer literarischen Figur bezieht, bezeichnet der Begriff der rührenden Rede eine Persuasionsstrategie zur Erzeugung von perceptiones praegnantes im Sinne sinnfälliger Darstellungen von fiktiven Sachverhalten als komplexen Gegenständen. Bei der rührenden Rede handelt es sich um eine mediale Dramatisierungsstrategie, insofern durch eine extensiv klare Darstellung anschauende Erkenntnis initiiert wird.

3.2.2.9 Das emotive Kommunikationsschema In einem Brief vom 14. April 1783 aus Bauerbach an seinen damaligen Jugendfreund und späteren Schwager Wilhelm Friedrich Hermann Reinwald skizziert Schiller ein affekttheoretisches Modell für das äußere Kommunikationssystem zwischen Autor und Rezipienten. Das zentrale Theorem dieses Kommunikationsmodells besteht aus der auf einem stimulus-response-Prinzip gründenden anthropologischen Annahme, dass die Sympathie des Rezipienten gegenüber den Figuren einer Tragödie „am gewisesten und stärksten“ (NA 23, S. 81) durch die Sympathie des Dichters gegenüber diesen Figuren evoziert werde. Schiller leitet aus dieser anthropologischen Prämisse die produktionsästhetische Bedingung ab, dass der Dichter diejenigen Affekte, die er

 Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt. Zweyter Theil. Leipzig 1774, Art. Rührende Rede, S. 991– 993; hier S. 991.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste II, S. 992.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste II, S. 992.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste II, S. 991.

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beim Rezipienten erzeugen wolle, für seine Figuren selbst empfinden müsse: „Dann rühren und erschüttern und entflammen wir Dichter am meisten, wenn wir selbst Furcht und Mitleid für unsern Helden gefült haben.“ (NA 23, S. 80). Er schließt dieses Dichtungskonzept mit der theosophischen Liebesphilosophie kurz, indem er deren Theoreme auf das Verhältnis zwischen dem Dichter und seinen Figuren überträgt. Die Motivation des Dichtens führt er auf die anthropologische Konstante zurück, dass sich der Mensch nicht „in sich selbst zurükziehen und mit sich begnügen“ (NA 23, 79 f.) könne, sondern die permanente Neigung habe, „in das Nebengeschöpf überzugehen, oder daßelbe in sich hineinzuschlingen, es anzureissen“ (NA 23, S. 80). Diese Neigung bezeichnet er in Analogie zur Bestimmung in der „Theosophie“ als „enthousiastische Freundschaft oder platonische Liebe“ (NA 23, S. 79), bei der es sich im Allgemeinen um eine „wollüstige Verwechslung der Wesen“ (NA 23, S. 79) und im speziellen Fall des auf Einbildungskraft basierenden Dichtens um eine „künstliche Täuschung“ (NA 23, S. 79) im Sinn einer Identitätsillusion¹⁸⁴ handle. In der „Theosophie“ spricht Julius entsprechend von der „glüklichen Täuschung“, dass „es unser eigener Zustand ist, wenn wir einen fremden empfinden“ (NA 20, S. 118). Im Unterschied zur poetologischen gründet die philosophische Konzeption der Identitätsillusion in der „Theosophie“ aber nicht auf einem radikalen Emotivismus, sondern auf einem Komplementaritätsmodell, in dem emotive Effekte auf kognitive Ursachen zurückgeführt werden. Voraussetzung für die Identitätsillusion im Sinn einer „Verwechslung der Wesen“ (NA 20, S. 119) sei, so heißt es in der „Theosophie“, die „lebendige […] Erkenntniß“, also die mentale Repräsentation als perceptio praegnans eines fremden Zustands. So werde „die Vollkommenheit auf den Augenblik unser […], worinn wir uns eine Vorstellung von ihr erweken“ (NA 20, S. 118 f.). Das Prinzip der ontologischen Epistemik, d. h. der erkenntnisbasierten Seinsbestimmung, geht damit mit dem Konzept der rührenden Rede konform. Denn auch deren emotive Funktion der Affekterzeugung wird auf eine spezifische Weise der Wahrnehmung, nämlich die anschauende Erkenntnis eines Sachverhalts mit emotiver Signifikanz, zurückgeführt. Im Bauerbacher Brief wird die Identitätsillusion nicht auf einen kognitiven Ursprung zurückgeführt, sondern auf die entelechische Idee, „daß in unsrer Seele alle Karaktere nach ihren Urstoffen schlafen“ (NA 23, S. 79), sodass sämtliche Produkte der Einbildungskraft also „zulezt nur wir selbst“ (NA 23, S. 79) seien. Den literarischen Figuren wird dabei die Funktion als ‚imaginäre Körper‘¹⁸⁵ zugeschrieben, auf die das Schriftsteller-Ego die eigenen Emotionen projiziere: „wir leiden für uns unter andern Leibern“ (NA 23, S. 80). Sympathie erweist sich in dieser Konzeption folglich als

 Zum Begriff der Identitätsillusion vgl. Bernhard Asmuth: Einführung in die Dramenanalyse. 4., verb. u. erg. Aufl. Stuttgart/Weimar 1994 (Sammlung Metzler. Bd. 188), S. 198 – 200 sowie das Kapitel 3.2.2.10.1 dieser Untersuchung.  Vgl. Helmut Schneider: Der imaginäre Körper der Menschheit. Die Konzepte der Sympathie und Einfühlung und die neue Dramaturgie im 18. Jahrhundert. In: Claudia Berger und Fritz Breithaupt (Hg.): Empathie und Erzählung. Freiburg i. Br. 2010 (Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae. Bd. 176), S. 107– 130.

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verkapptes Selbstmitleid: „Erschrecken, entglühen, zerschmelzen wir für das Fremde, uns ewig nie eigen werdende, Geschöpf? Gewis nicht. Wir leiden jenes alles nur für uns, für das Ich, deßen Spiegel jenes Geschöpf ist.“ (NA 23, S. 79). Mit der Konzeption der Sympathie als Selbstmitleid orientiert sich Schiller an der Mitleidspoetik Lessings, der in der Hamburgischen Dramaturgie auch die Furcht als das „auf uns selbst bezogene Mitleid“¹⁸⁶ bestimmte. Im Gegensatz zu Lessing betont Schiller jedoch, dass es sich bei den Gefühlen, die ein Dichter gegenüber einem alter ego empfinde, nicht um „ursprüngliche“ (NA 23, S. 80) Affekte, sondern bloß um eine „sympathetische Empfindung“ (NA 23, S. 80), also eine Affektprojektion handle, die er mit einem Begriff der optischen Physik als „Refraktion“ (NA 23, S. 80) bezeichnet. Das radikal emotivistische Kommunikationsmodell des Bauerbacher Briefs, das auf der Annahme eines trivialen anthropologischen Mechanismus der direkten Emotionsvermittlung gründet, fungiert als Gegenmodell zur Vermittlung nicht-propositionaler Wie-Kenntnis: „Welchen wir lieben, deßen Gutes und Schlimmes, Glük und Unglük genießen wir in gröseren Dosen, als welchen wir nicht so lieben und noch so gut kennen.“ (NA 23, S. 81, Hervorhebung im Original) Die Einschätzung im entsprechenden Kommentar der Nationalausgabe, man dürfe den Bauerbacher Brief „weder überschätzen noch unterschätzen“ (NA 23, S. 299), umschreibt die Bedeutung seines theoretischen Inhalts für Schillers Frühwerk ziemlich treffend. Denn es handelt sich hierbei nicht um eine ausgearbeitete Poetik, sondern eher um Gedankenentwürfe zum dichterischen Schaffen, die „augenblicksgebunden“ (NA 23, S. 299) scheinen. Allerdings muss der Anschein der Spontaneität dieser Theorieskizze nicht automatisch ein Indiz für die Unverbindlichkeit ihres Inhalts sein. Denn gerade die Suggestion einer augenblicksgebundenen Idee, deren sprachlich-argumentative Gestaltung tatsächlich aber hohen künstlerischen (ästhetischen und rhetorischen) Ansprüchen genügt, ist eine gängige Praxis der Sturm-undDrang-Zeit. Während der Darstellung der theosophischen Liebesphilosophie im literarischen Kontext der Philosophischen Briefe eine ästhetische Illustrationsfunktion zugewiesen wird, wird die Philosophie im Bauerbacher Brief mit einem szientifischen Anspruch präsentiert, der gleich zu Beginn des Briefs als Lektüreanweisung expliziert wird: „Meine Seele fängt die Natur in einem entwölkten Spiegel auf, und ich glaube, meine Gedanken sind wahr. Prüfen sie solche.“ (NA 23, S. 78) In der Schaubühnen-Rede überträgt Schiller das Prinzip der auf Identitätsillusion gründenden Sympathie auf das Verhältnis zwischen dem Theaterzuschauer und den auf der Bühne physisch repräsentierten Figuren: Die Schaubühne führt uns eine mannichfaltige Szene menschlicher Leiden vor. Sie zieht uns künstlich in fremde Bedrängnisse, und belohnt uns das augenblickliche Leiden mit wollüstigen Thränen, und einem herrlichen Zuwachs an Muth und Erfahrung. Mit ihr folgen wir der verlassenen Ariadne [aus Johann Christian Brandes’ Melodrama Ariadne auf Naxos] durch das wie-

 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 75. Stück, S. 579.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

derhallende Naxos, steigen mit ihr den Hungerthurm Ugolinos hinunter, betreten mit ihr das entsezliche Blutgerüste, und behorchen mit ihr die feierliche Stunde des Todes. (NA 20, S. 96)

Sympathie wird auch hier als das Leiden eines ego durch den imaginären Körper eines alter ¹⁸⁷ aufgefasst: „Der Unglückliche weint hier mit fremdem Kummer seinen eigenen aus“ (NA 20, S. 100). Mit dem Begriff der „allwebende[n] Sympathie“ bezeichnet Schiller schließlich die körperliche „Erfahrung eines abstrakten Kollektivs“¹⁸⁸, die insofern körperlich ist, als der einzelne Zuschauer seine Empfindungen mit denjenigen der anderen synchronisiert: „Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen“ (NA 20, S. 100). Er nimmt mit diesem Konzept einer die gesellschaftlichen Determinationen aufhebenden kollektiven Gefühlsübereinstimmung einen Gedanken Lessings auf, der in den Gesprächen für Freimäurer das „gemeinschaftliche Gefühl sympathisierender Geister“¹⁸⁹ als Grundlage der Freimaurerei profiliert.

3.2.2.10 Theatrale Illusion¹⁹⁰ Im Aufsatz Über das gegenwärtige teutsche Theater (1782) weist Schiller u. a. auch die theatrale Illusionserzeugung als mediale Strategie zur Erfüllung vor allem emotiver Funktionen aus. Schiller kritisiert an den zeitgenössischen Aufführungspraktiken eine überaffektierte Darstellung der Schauspieler, die dazu führe, dass die „Aufmerksamkeit“ des Zuschauers vom „Inhalt“ einer Theateraufführung abgezogen und auf den „Spieler“ (NA 20, S. 81) gelenkt werde, was einen Illusionsbruch zur Folge habe:

 Vgl. zum aus der Psychoanalyse Freuds abgeleiteten Verhältnis zwischen alter und ego in Bezug auf die Sympathie Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann: Sympathie und Literatur. Einführende Bemerkungen zu einem vernachlässigten Begriff. In: Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann (Hg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin 2014 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften. Bd. 19), S. 7– 32; hier S. 8 f.  Schneider, S. 109. Schneider deutet diese Erfahrung als theatrale Manifestation des Übergangs einer alten, an den konkreten physischen Kontakt gebundenen, zu einer modernen, an das Gemeinschaftsgefühl gebundenen Kollektivvorstellung wie „‘die Nation‘, ‚die Republik‘ oder auch ‚die Menschheit‘“ (Schneider, S. 109).  Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer. In: ders.: Werke in acht Bänden. Bd. 8: Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften, hg. von Herbert G. Göpfert, bearb. von Helmut Göbel. München 1979, S. 451– 488; hier S. 481. Zu einer Interpretation von Lessings Konzept der kollektiven Identifikation vgl. Schneider, S. 118 f.  Die folgende Rekonstruktion des theatralen Illusionsbegriff aus einer epistemologischen Perspektive habe ich in ähnlicher Form auch im Rahmen eines Beitrags zu visueller Epistemologie im 18. Jahrhundert vorgenommen (vgl. Christoph Gschwind: „diesseit und jenseit den Lampen“ – literarische Illusionskonzepte und ihre epistemologischen Implikationen zwischen Aufklärung und Romantik. In: Evelyn Dueck (Hg.): „Der Augen Blödigkeit“. Sinnestäuschungen, Trugwahrnehmungen und visuelle Epistemologie im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2016 (Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik. Bd. 4), S. 173 – 186).

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Eine abgefeimte Italienische Iphigenia, die uns vielleicht durch ein glückliches Spiel nach Aulis gezaubert hatte, weißt [sic] mit einem schelmischen Blick durch die Maske ihr eigenes Zauberwerk wohlbedacht wieder zu zerstören, Iphigenia und Aulis sind weggehaucht […] (NA 20, S. 81)

Eine positive Bestimmung des Illusionsbegriffs besteht hingegen aus der „Abwesenheit der Perception [hier im Sinne von ‚Wahrnehmung‘, ‚Vorstellung‘], deren die Illusion der Spieler nur fähig macht“ und bei der „eine unmerkliche Wahrnehmung des Gegenwärtigen“ fortdaure, „die den Spieler eben so leicht an dem Ueberspannten und Unanständigen vorbei über die schmale Brücke der Wahrheit und Schönheit“ führe, wohingegen das „Bewußtseyn seiner [des Schauspielers] gegenwärtigen Lage […] das künstliche Traumbild durch die Idee der wirklich ihn umgebenden Welt“ zerstöre (NA 20, S. 84). Die aisthesiologischen und epistemologischen Implikationen der zur Beschreibung der Illusionsphänomene verwendeten Terminologie lassen darauf schließen, dass Schiller hier an den im achtzehnten Jahrhundert von Moses Mendelssohn, Friedrich Justus Riedel, Johann Georg Sulzer und Gottfried August Bürger theoretisch ausgearbeiteten Illusionsbegriff anknüpft, dessen Bestimmung im Folgenden kurz rekonstruiert werden soll.

3.2.2.10.1 Zur ästhetischen Illusionstheorie Die Etymologie des Begriffsnamens Illusion, der sich vom lateinischen illúdere, das so viel wie ‚vorspielen‘, ‚vortäuschen‘ oder ‚fingieren‘ bedeutet, ableitet, verweist auf die produktionsästhetische Komponente des Begriffs. In dieser Bedeutung entspricht Illusion dem Ironie-Begriff der klassischen Rhetorik, in der unter Ironie eine Form der Verstellung verstanden wurde, die entsprechend als illusio bezeichnet wurde.¹⁹¹ Die Begriffsgeschichte wird durch eine Bedeutungsverschiebung vom produktionsästhetischen Verfahren des Täuschens auf den rezeptionsästhetisch-kognitionspsychologischen Effekt des Getäuschtwerdens bestimmt¹⁹², wobei der ästhetische Illusionsbegriff immer beide Komponenten impliziert. Die ästhetische Illusion steht jeweils in einem Funktionszusammenhang und ist in ein einfaches Kommunikationssystem mit den Komponenten Sender und Empfänger eingebunden, sodass sie in produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Hinsicht bestimmt werden kann. In produktionsästhetischer Hinsicht setzt sie eine Instanz voraus, die eine Täuschungsabsicht hat, d. h. die Funktion des Täuschens erfüllen will und dazu auf ein Set an Strategien mit einer entsprechenden Wirkungsdisposition zurückgreift. In rezeptionsästhetischer Hinsicht initiiert der Einsatz solcher Strategien auf Rezipientenseite den kognitionspsychologischen Effekt des Getäuschtwerdens, der im Folgenden näher bestimmt werden soll.

 Zur Etymologie des Begriffsnamens Illusion vgl. Werner Strube: Illusion. In: RLW 2, S. 125 – 129; hier S. 126 sowie Asmuth, S. 195 f.  Zu dieser Bedeutungsverschiebung vgl. Asmuth, S. 198 – 200.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

In der literaturwissenschaftlichen Illusionsforschung hat es mehrere Versuche gegeben, den zunehmend polysem gewordenen Illusionsbegriff zu systematisieren. Ich orientiere mich im Folgenden an der Systematisierung Bernhard Asmuths, der in seiner Einführung in die Dramenanalyse rezeptionsästhetisch zwischen drei ästhetischen Illusionstypen unterscheidet, nämlich (1) der Identitätsillusion, d. h. dem Eindruck, bei der künstlerischen Nachahmung eines Gegenstands handle es sich um den wirklichen Gegenstand, (2) einer Wahrnehmungsillusion, d. h. dem Eindruck, das in einem literarischen Text Dargestellte stünde leibhaftig vor Augen, und (3) einer Wahrheitsillusion, d. h. dem Eindruck, bei Fiktivem handle es sich um Wahres.¹⁹³ Identitätsillusion besteht demnach in rezeptionsästhetischer Hinsicht in der Verwechslung von Kopie und Original, Wahrnehmungsillusion in der Verwechslung von sprachlich Evoziertem und physisch Präsentem und Wahrheitsillusion in der Verwechslung von empirisch Bewiesenem und Erfundenem. In produktionsästhetischer Hinsicht entsprechen den drei Illusionstypen bestimmte Strategien mit der Disposition, die Funktion der spezifischen Illusionserzeugung zu erfüllen. Identitätsillusion entsteht potentiell durch die mimetisch genaue Kopie realer Gegenstände, Wahrnehmungsillusion durch den Einsatz rhetorischer Stilfiguren zur Erzeugung von Evidenz¹⁹⁴ und Wahrheitsillusion durch die plausible, d. h. wahrscheinliche Darstellung von Personen und Sachverhalten. Wahrnehmungsillusion wird typischerweise durch graphisch repräsentierte Texte evoziert, ist aber auch als Effekt einer Theateraufführung denkbar (man denke etwa an den gesprochenen Raum, bei dem durch Worte topographische Vorstellungen erzeugt werden).¹⁹⁵ Wahrheitsillusion wird insbesondere durch auto(r)fiktionale oder kontrafaktische Dichtungen evoziert.¹⁹⁶ Alle drei Formen von Illusion basieren auf der Täuschung, etwas für wahr, d. h. echt, physisch präsent oder empirisch bewiesen zu halten, was nicht wahr, d. h. nachgeahmt, sprachlich evoziert oder erfunden ist.

3.2.2.10.2 Der ästhetische Illusionsbegriff im achtzehnten Jahrhundert In den poetologischen Illusionstheorien des achtzehnten Jahrhunderts fungiert das Theater, also der physisch, d. h. phonisch, gestisch mimisch, proxemisch durch Schauspieler oder architektonisch durch das Bühnenbild repräsentierte Dramentext, als prototypisches Medium der Illusionserzeugung. Dies hat u. a. damit zu tun, dass in

 Vgl. Asmuth, S. 198 – 200.  Zum rhetorischen Begriff der Evidenz vgl. Wilhelm Halbfass: Evidenz I. In: HWP 2, Sp. 829 – 834; hier Sp. 829 – 832.  Asmuth kann behaupten, die Wahrnehmungsillusion spiele im Drama keine Rolle (vgl. Asmuth, S. 199), weil er dieses auf seine szenische Repräsentation reduziert und Phänomene wie den gesprochenen Raum außer Acht lässt.  Vgl. etwa die auto(r)fiktionalen Romane Kindheitsmuster von Christa Wolf und Montauk von Max Frisch oder die kontrafaktischen Romane Die Vermessung der Welt von Daniel Kehlmann sowie Imperium von Christian Kracht.

3.2 Dramatisierungsstrategien

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diesem Medium sämtliche eben vorgestellten Illusionstypen, also Identitätsillusion, Wahrnehmungsillusion und Wahrheitsillusion, koinzidieren. Des Weiteren lässt sich aus den einschlägigen Illusionstheorien der Aufklärung so etwas wie ein konsensfähiger Illusionsbegriff abstrahieren, der sich durch die folgenden, konzeptionell verzahnten Eigenschaften konstituiert: (1) Aushebelung von Meta-Kognitionen, (2) Aufmerksamkeitslenkung. Einer der profiliertesten Illusionstheoretiker des achtzehnten Jahrhunderts ist Moses Mendelssohn, in dessen sensualistischer Bestimmung von Illusion sich das Konzept der Identitätsillusion als Sinnestäuschung erkennen lässt. In seiner ästhetischen Schrift Von der Herrschaft über die Neigungen (1757) definiert er den Begriff Illusion wie folgt: Wenn eine Nachahmung [Kopie] so viel ähnliches mit dem Urbilde [Original] hat, daß sich unsre Sinne wenigstens einen Augenblick bereden können, das Urbild selbst zu sehen; so nenne ich diesen Betrug eine ästhetische Illusion.¹⁹⁷

Mendelssohns Definition vereint eine gehaltsästhetische Komponente, die aus einer mimetischen Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem nachahmenden Objekt der Kunst und dem nachgeahmten Objekt der Natur besteht, und eine rezeptionsästhetische Komponente, die aus dem kognitionspsychologischen Effekt des Getäuschtwerdens besteht. Zum Effekt des Illudiertseins heißt es in der Rhapsodie (1771), die „Einbildungkraft“ werde durch die Täuschung „so mit fortgerissen, daß wir zuweilen aller Zeichen der Nachahmung vergessen und die wahre Natur zu sehen wähnen“¹⁹⁸. An dieser Stelle überlagern sich die Illusionstheorie der rationalistischen Vermögenspsychologie und die Epistemologie der Rationalen Ästhetik, aus deren Terminologie die von Mendelssohn verwendeten Begriffe wie „untere Seelenkräfte“, „vorstellen“ oder „Zeichen“ stammen. In epistemologischer Hinsicht handelt es sich bei der ästhetischen Illusion demnach um die zeichenlose, d. h. nicht-diskursive Wahrnehmung eines nachgeahmten Gegenstands oder Sachverhalts. Dieser wird für wahr gehalten (mit der Wirklichkeit verwechselt), weil zeichenhafte, begrifflich-diskursive Meta-Kognitionen wie ‚Der Apfel ist nur gemalt‘ (z. B. beim Betrachten eines Stilllebens) oder ,Der Selbstmord ist nur gespielt‘ (z. B. bei der Rezeption einer Theateraufführung) oder ‚Die Geschichte ist nur erfunden‘ (z. B. bei der Lektüre einer epischen Dichtung) kurzfristig aussetzen. Auch in Gottfried August Bürgers Illusionsbestimmung ist die Illusion ein Effekt der Konzentration auf das Dargestellte unter Ausblendung des Darstellungsmodus. In seinem Lehrbuch der Ästhetik heißt es:

 Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen, S. 154.  Moses Mendelssohn: Rhapsodie, oder Zusätze zu den Briefen über die Empfindungen. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 1: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I. FaksimileNeudruck der Ausgabe Berlin 1929 mit einem Bildnis und einem Faksimile, bearb. von Fritz Bamberger. Stuttgart 1971, S. 381– 424; hier S. 390.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

Will der Künstler durch sein Werk diese ästhetische und pathetische Täuschung hervorbringen, so darf er sich nur bemühen, recht anschauliche Bilder in unsere Phantasie zu mahlen, und sie so zu mahlen, daß das Bezeichnete sinnlicher und lebhafter, als das Zeichen, vorgestellt wird. Er muß unsere ganze Aufmerksamkeit in Einem Puncte versammeln, und uns sein Object in einem so wahrhaften, natürlichen, lebendigen Colorit zeigen, daß wir nicht glauben, bloße Vorstellung [d. h. Einbildung], sondern Sache selbst vor uns zu haben.¹⁹⁹

Dieser Illusionsbegriff korrespondiert cum grano salis demjenigen der Wahrnehmungsillusion, d. h. der Verwechslung eines qua rhetorischer Verfahren sprachlich Evozierten mit physisch Präsentem. Es handelt sich dabei also nicht um eine optische Täuschung, die auf der sinnlichen Wahrnehmung von visuell Präsentiertem beruht, sondern um eine epistemische Täuschung, die auf der geistigen Wahrnehmung von mental Repräsentiertem bzw. Imaginiertem beruht. Bürger orientiert sich hier offenkundig am Konzept des literarischen Gemäldes, wie es Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste bestimmt hat, nämlich als diejenigen Passagen eines literarischen Textes, bei denen „sinnliche und besonders sichtbare Gegenstände, wie auf dem Vorgrund, näher ans Auge gebracht, und bis auf ganz kleine Theile ausgezeichnet werden“²⁰⁰.²⁰¹ Bürger zufolge weist die dichterische Vergegenwärtigung einer Erfahrung oder eines Erlebnisses des Soseins die Disposition zur Initiation einer imaginierten „virtuellen Erfahrung“²⁰² auf, die entsprechende Affekte evoziert: Wenn wir so getäuscht werden, so vergessen wir, daß wir nur eine Nachahmung oder willkührliche Erdichtung uns vorstellen; unsere Phantasie versetzt uns in die Scene selbst, die der Künstler uns abgebildet hat, und wir fühlen unsern Busen eben so bewegt, als der Anblick der Wirklichkeit uns zu bewegen im Stande gewesen seyn würde. […] Diese Täuschung entstehet in uns, wenn durch die Lebhaftigkeit der künstlichen Bilder unsere ganze Phantasie auf ein Objekt gespannt wird, und dadurch die Einbildung ein Übergewicht über die wirkliche äußere Empfindung bekommt.²⁰³

Bürger unterscheidet zwischen ‚echten‘ Emotionen, die durch Alltagserfahrungen ausgelöst werden, und Emotionen, die durch ‚Attrappen‘²⁰⁴ wie fiktionale Literatur ausgelöst werden: „Wir werden alsdann durch das, was wir uns einbilden, stärker gerührt, als durch das, was wir wirklich empfinden.“²⁰⁵ Aus seiner Bestimmung der ästhetischen bzw. pathetischen Illusion lässt sich die Annahme eines Kausalnexus  Gottfried August Bürger: Lehrbuch der Ästhetik. Bd. 2, neu hg., eingeleitet und kommentiert von Hans-Jürgen Ketzer. Berlin 1994, S. 245 f.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 452.  Vgl. das Kapitel 3.2.2.5 dieser Untersuchung.  Vgl. Kap. 2.2, Anm. 43.  Bürger, S. 245.  Vgl. Katja Mellmann: Literatur als emotionale Attrappe. Eine evolutionspsychologische Lösung des „paradox of fiction“. In: Uta Klein, Katja Mellmann und Steffanie Metzger (Hg.): Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur. Paderborn 2006 (Poetogenesis: Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur. Bd. 3), S. 145 – 166.  Bürger, S. 245.

3.2 Dramatisierungsstrategien

79

zwischen der Aushebelung von Meta-Kognitionen und dem Fokus der Aufmerksamkeit auf das künstlerisch vergegenwärtigte „Objekt“ abstrahieren, die für die ästhetischen Illusionstheorien des achtzehtnen Jahrhunderts konstitutiv ist. Durch die evidentia, d. h. ‚Fasslichkeit‘, ‚Gegenwärtigkeit‘, ‚Lebendigkeit‘ etc. evozierende Vergegenwärtigung von Gegenständen und Sachverhalten wird die Aufmerksamkeit des Rezipienten – so die Argumentation – von den metakommunikativen Zeichen einer ästhetischen Fiktion, also z. B. den Farben eines Bildes in der Malerei, dem fiktionsanzeigenden Paratext eines literarischen Werks oder der körperlichen Präsenz von Schauspielern bei einer Theateraufführung, abgezogen und auf das Bezeichnete, also das farblich Dargestellte, die fiktive Welt oder die fiktive Figur, gelenkt. Unter dem Lemma Täuschung in Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste heißt es bezüglich der theatralen Illusion entsprechend, bei dieser komme es überhaupt auf eine gänzliche Feßlung der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand der Kunst an. Denn es ist bekannt, daß das Anstrengen der Aufmerksamkeit auf einen Theil unsrer Vorstellungen, die andern, wenn sie gleich durch die Sinnen erweckt werden, so sehr schwächt, daß man sie oft nicht mehr gewahr wird. Wenn wir demnach im Schauspiel verleitet werden, die Aufmerksamkeit völlig auf das zu richten, was auf der Scene vorgeht, so vergessen wir den Ort, wo wir uns befinden, die Zeit des Tages und andere Umstände unsrer würklichen äußerlichen Lage, und bilden uns, so gut als im Traum, ein, wir seyen an dem Orte, den die Scene vorstellt, und sehen die vorgestellte Handlung, nicht in der Nachahmung, sondern in der Natur selbst. Und eben so geht es mit jeder Täuschung.²⁰⁶

Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass in den poetologischen Illusionstheorien der Aufklärung unter Illusion ein produktionsästhetisch und kognitionspsychologisch bestimmter Vorgang der Täuschung mit epistemologischen Implikationen verstanden wird. Aus rezeptionsästhetischer Perspektive ist Illusion immer an eine bestimmte Weise der Wahrnehmung oder Erkenntnis gekoppelt, die sich in den Illusionstheorien des achtzehnten Jahrhunderts einerseits durch eine epistemische Fokussierung des Bezeichneten und andererseits durch das daran gekoppelte Aussetzen von Meta-Reflexionen konstituiert. Die aisthesiologischen und epistemologischen Implikationen des im achtzehnten Jahrhundert verbreiteten Illusionsbegriffs lassen sich anhand von Mendelssohns Illusionsbegriff rekonstruieren. Mendelssohn zufolge basiert die Identitätsillusion auf der „anschauenden Erkenntniß der Uebereinstimmung“ von Original und Kopie, die er von der „symbolischen Erkenntniß“, dass es sich eben nur um eine Nachahmung und nicht um einen wirklichen Gegenstand der Natur handelt, abgrenzt.²⁰⁷ Aus epistemologischer Perspektive handelt es sich bei der ästhetischen Illusion also um eine Form anschauender Erkenntnis, bei der der Perzeptionsfokus auf dem künstlerisch veranschaulichten Inhalt eines abstrakten Begriffs liegt, wobei Meta-Kognitionen auf Kosten begrifflicher Deutlichkeit, aber zugunsten intuitiver Fasslichkeit,

 Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste II, Art. Täuschung, S. 1146 f.; hier S. 1146.  Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen, S. 154.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

Gegenwärtigkeit, Lebendigkeit usw. ausgehebelt werden. Die epistemologische Bestimmung des Illusionsbegriffs als einer perceptio praegnans findet sich etwa bei Friedrich Justus Riedel in dessen Theorie der schönen Künste und Wissenschaften (1774) pointiert formuliert: „Eine Phantasie ist eine lebhafte und anschauende Vorstellung [eine perceptio praegnans], […] und diese Phantasie, diese mentale Gegenwart, als Effekt auf Seiten unserer betrachtet, heist Täuschung; oder Illusion.“²⁰⁸ Aus der Perspektive einer Philosophie des Geistes handelt es sich bei der Wahrnehmungsillusion um einen mentalen Zustand, das Erlebnis bzw. die Erfahrung, wie es ist, sich in der-und-der Situation zu befinden.²⁰⁹ Während sich also die Bedeutungsintention des produktionsästhetischen Illusionsbegriffs, verstanden als ein Vorspielen, Vortäuschen oder Fingieren, mit einem sprechakttheoretisch-semantischen Fiktionsbegriff, verstanden als die Präsentation von Fiktivem im Modus des Behauptens²¹⁰, überschneidet, lässt sich der ästhetische Illusionsbegriff mit seinen epistemologischen Implikationen, wie sie hier rekonstruiert wurden, von einem solchen Fiktionsbegriff unterscheiden. Illusion als begriffsinhaltsfokussierende Verwechslung von Fiktivem mit Wahrem, sprachlich Evoziertem mit physisch Präsentem usw. ist der durch das fiktionale Fingieren erzeugte Effekt. Insofern Fiktionalität die Disposition zur Evokation von Illusion aufweist, handelt es sich dabei ebenfalls um eine mediale Dramatisierungsstrategie, deren Erläuterung das Hauptkapitel zur expliziten Wirkungspoetik abschließt.

3.2.2.11 Dramatische Fiktion Für eine Theorie dramatischer Fiktion ist die mediale Unterscheidung zwischen dem graphisch und dem physisch repräsentierten Dramentext und die konzeptionelle Unterscheidung zwischen dem als Lesedrama konzipierten und dem für die Bühneninszenierung konzipierten Dramentext relevant, weil die Beurteilung des logischen Status von der medialen Realisierung und der Konzeption des Textes abhängt.²¹¹ Da im Rahmen dieser Untersuchung auch eine Teilantwort auf die Frage

 Friedrich Justus Riedel: Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, mit einer Einleitung und einem Register hg. von Dietmar Till. Hildesheim/Zürich/New York 2010 (Historia Scientiarum: Fachgebiet Kulturwissenschaften), S. 151.  Vgl. Christiane Schildknecht: Phänomenales Erleben in Kunst und Literatur. In: Alex Burri und Wolfgang Huemer (Hg.): Kunst denken. Paderborn 2007, S. 91– 103.  Zu diesem Fiktionsbegriff vgl. Gottfried Gabriel: Fiktion. In: RLW 1, S. 594– 598; hier S. 594 f.  Darauf verweist auch Zipfel in seiner Fiktionstheorie und unterscheidet einerseits phänomenologisch zwischen „Text“ und „Bühnenrealisation“ und andererseits innerhalb des Phänomenbereichs pragmatisch zwischen dem „Text als Vorlage, Partitur oder Anweisung“ und dem „Text als sprachlichem Kunstwerk“ (Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität und Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften. Bd. 2), S. 304– 307).

3.2 Dramatisierungsstrategien

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nach dem Erkenntniswert fiktionaler Literatur angestrebt wird, soll hier kurz erläutert werden, inwiefern man es bei einem Drama mit einem fiktionalen Text zu tun hat.²¹² Ist ein Dramentext im Hinblick auf eine Theaterinszenierung konzipiert, so können die Informationen im Haupt- und Nebentext als pragmatische Direktiven in der Form ‚Folgende Rollen sind zu besetzen: …‘ (Dramatis personae), ‚Die Schauspielerin x soll die Figur y das Folgende sagen lassen: …‘ usw. aufgefasst werden, sodass dem schriftlich fixierten Dramentext eine Appellfunktion zukommt. Beim physisch repräsentierten Dramentext auf der Theaterbühne handelt es sich dann um pragmatische Fiktionalität, insofern die Schauspieler durch pragmatische Regelverstöße eine fiktive Sprechsituation generieren, wenn sie etwa „ich“ sagen und dabei die von ihnen verkörperte fiktive Dramenfigur meinen.²¹³ Aus der Appellfunktion eines für die Bühneninszenierung konzipierten Dramentextes kann aber noch nicht geschlossen werden, ein solcher Text sei ausschließlich pragmatisch fiktional und die Frage nach der semantischen Fiktionalität des Dramas deshalb redundant. Denn die Appellfunktion eines für die Theateraufführung konzipierten Textes ist zwar eine, aber nicht die einzige Funktion. Die Informationen des Haupt- und Nebentextes haben neben dem pragmatischen Status als Anweisungen, wie etwas physisch, d. h. mimisch, gestisch, proxemisch oder architektonisch, repräsentiert werden soll, auch einen semantischen Status als Informationen über die fiktive Welt des Dramas in der Form: ‚Es gibt die folgenden Figuren: …‘ oder ‚Die Figur x sagt Folgendes: …‘. Ein Dramentext hat unabhängig von seiner konzeptionellen Ausrichtung und medialen Realisierung genauso wie ein epischer Text eine story world, die aber typischerweise nicht narrativ, sondern szenisch repräsentiert ist und aus dem Text abstrahiert werden muss. Es gibt also mindestens so etwas wie dramatische Fiktivität²¹⁴ und damit im äußeren Kommunikationssystem ‚Erzählbarkeit‘²¹⁵, wenn auch nicht Erzählung²¹⁶.  Zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen der begrifflichen Bestimmung von Fiktionalität und dem Potential der Erkenntnis- und Wissensvermittlung von fiktionaler Literatur vgl. Konrad, S. 14 f. Konrad beschränkt sich in ihrer Studie aus inhaltlichen (Problem der Anwendung von Fiktionalität auf Drama und Lyrik) und formalen (argumentativer Aufwand) Gründen allerdings auf den „pragmatischen Fall“ der Erzähltexte (Konrad, S. 19). Zudem scheint sie ähnlich wie Köppe, aber anders als Gabriel keine Unterscheidung zwischen Wissen und Erkenntnis zu machen: „Wenn im Folgenden von einer Wissensvermittlung die Rede ist, geht es also vor allem um die Frage, welche Erkenntnisse der Leser aus einem fiktionalen Text ziehen kann (Konrad, S. 24). Damit entfällt auch die Gabriel’sche Unterscheidung zwischen propositionaler Erkenntnis (Wissen) und nicht-propositionaler Erkenntnis (Kenntnis).  Zur szenischen Fiktion als pragmatische Abweichung im Gegensatz zur epischen Fiktion als semantische Abweichung vgl. Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981 (Beck’sche Elementarbücher), S. 120 – 122.  Zum Begriff der Fiktivität als „Nicht-Wirklichkeit des Dargestellten“ vgl. Zipfel, S. 68.  Zur ‚Erzählbarkeit‘ („tellability“) eines dramatischen Plots vgl. Hugo Bowles: Storytelling and Drama. Exploring Narrative Episodes in Plays. Amsterdam/Philadelphia 2010 (Linguistic Approaches to Literature. Bd. 8), S. 18 – 20.  Die gibt es aber natürlich im inneren Kommunikationssystem etwa in der Form einer Teichoskopie oder eines Botenberichts.

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3 Explizite dramatische Wirkungspoetik

Die Kombination von Figurenname im Nebentext und direkter Rede im Haupttext kann sowohl als Direktive, die Figur x das Folgende z sagen zu lassen, als auch als Aussage im Behauptungsmodus der Form ‚Person x sagt, dass z‘ aufgefasst werden²¹⁷, je nachdem, ob man sich auf die mit dem Figurennamen bezeichnete Rolle, die von einer Schauspielerin oder einem Schauspieler verkörpert werden soll, oder auf die mit dem Figurennamen bezeichnete Dramenfigur, die Bestandteil der fiktiven Welt ist, bezieht.²¹⁸ Dabei kann der Nebentext als Fiktionalitätsmarker aufgefasst werden, der auf den sprechakttheoretischen Modus des Fingierens aufmerksam macht. Die durch die elliptische Form des Nebentextes suggerierte Aufforderung, die-und-die Figur sound-so zu spielen, ist ja nichts anderes als die Aufforderung, so zu tun, als ob die-unddie Figur existiere oder als ob der-und-der Sachverhalt zwischen bestimmten Personen bestehe²¹⁹, mit der Implikation ‚obwohl die Figur in Wirklichkeit nicht existiert‘ bzw. ‚obwohl der Sachverhalt zwischen den Personen nicht besteht‘.²²⁰ Während ein graphisch repräsentierter Dramentext das Fingieren in Bezug auf das Dasein und das Fingieren in Bezug auf das Sosein mit einem epischen Text gemeinsam hat, fingiert er keine apophantische Rede wie dieser, sondern markiert das Fingieren in Bezug auf die Präsentation²²¹ durch den fiktionsanzeigenden Nebentext. Im Falle eines physisch repräsentierten Dramentextes handelt es sich dann wieder um implizite Fiktionalitätssignale, da die Rede der Schauspieler nicht metakommunikativ auf den Spielcharakter der Aufführung verweist. Für die konzeptionelle und mediale Unterscheidung zwischen Lesedrama und Bühnenfassung bzw. zwischen graphisch und physisch repräsentiertem Dramentext kann zusammenfassend festgehalten werden, dass der als Lesedrama konzipierte Dramentext in Bezug auf seinen logischen Status primär die Deskriptionsfunktion hat, Informationen über die fiktive Welt zu vermitteln und dadurch semantisch fiktional ist. Dagegen hat der im Hinblick auf die Bühnenaufführung konzipierte Dramentext einerseits die Appellfunktion, ein potentielles Schauspielensemble in der physischen Repräsentation des Textes anzuweisen. Andererseits enthält aber auch er Informationen über die fiktive Welt und ist dadurch semantisch fiktional. Die explizite Wirkungspoetik des jungen Schiller, wie sie bis anhin rekonstruiert wurde, lässt sich schematisch im folgenden Modell (Abb. 7) darstellen:

 Fricke und Zymner schließen diese Möglichkeit aus (vgl. Fricke: Norm und Abweichung, S. 122 sowie Zymner: Uneigentlichkeit, S. 106 f.).  Auf diese Doppelfunktion verweist auch Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ‚eloquentia corporis’ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995 (Theatron. Bd. 11), S. 250.  Zum Spezifikum des Fingierens in Bezug auf die Präsentation bei dramatischer Fiktion vgl. Gabriel: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, S. 166.  Zu dieser sprachphilosophischen Bestimmung fiktionaler Rede vgl. Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 252 f.  Zu diesen drei Typen des Fingierens fiktionaler Rede vgl. Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 252 f.

3.2 Dramatisierungsstrategien

Abb. : Modell zur expliziten dramatischen Wirkungspoetik

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse Während im zweiten Hauptteil dieser Untersuchung eine explizite Wirkungspoetik aus Schillers frühen poetologischen Texten abstrahiert wurde, geht es im nächsten Hauptteil um die Rekonstruktion von impliziten Wirkungspoetiken aus den frühen Dramen Schillers Die Räuber, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, Kabale und Liebe sowie Don Karlos. Mit dem Begriff der impliziten dramatischen Wirkungspoetik bezeichne ich das einem Dramentext zugrunde liegende und aus diesem abstrahierbare Set poetischer Strategien, die die Disposition zur Erfüllung bestimmter Funktionen aufweisen. Ausgehend von diesem Begriff der impliziten dramatischen Wirkungspoetik und dem im Kapitel 3 erarbeiteten Modell der expliziten dramatischen Wirkungspoetik besteht die Rekonstruktion aus der Extrapolation von inhaltlichen und medialen Dramatisierungsstrategien, deren Dispositionen und den daran gekoppelten Funktionen. Dabei werden sich sowohl Parallelen als auch Spannungen zwischen dem Modell der expliziten dramatischen Wirkungspoetik und den impliziten Wirkungspoetiken der einzelnen Dramentexte nachweisen lassen. Bei der Analyse der Dramen Die Räuber und Kabale und Liebe wird das Verhältnis zwischen emotiven und kognitiven Funktionen im Fokus stehen. Bei der Analyse der Geschichtsdramen Don Karlos und Fiesko geht es vornehmlich um die Frage nach der kognitiven Signifikanz der Dramentexte, d. h. konkret um die Frage, ob und – wenn ja – inwiefern diese literarisch-fiktionalen Texte Ideen vermitteln können. Diese thematische Strukturierung erhält aus heuristischen Gründen das Primat vor der textchronologischen, sodass etwa das Drama Kabale und Liebe (1784) vor dem Drama Fiesko (1783) behandelt wird. Die Textanalysen basieren jeweils auf dem folgenden Schema: (1) Rekonstruktion der Textgenese, (2) Rekonstruktion emotiver Funktionen aus der impliziten Wirkungspoetik, (3) Rekonstruktion kognitiver Funktionen aus der impliziten Wirkungspoetik.

4.1 Die Räuber 4.1.1 Textgenese Bei der Beschäftigung mit Schillers erstem Drama Die Räuber, dessen Entstehung in die Zeit zwischen 1776 und 1780 fällt, ist zwischen zwei konzeptionell verschiedenen Fassungen zu unterscheiden, nämlich zwischen der 1781 im Selbstverlag anonym veröffentlichten und als Lesedrama konzipierten Erstausgabe, deren Original-Manuskript verloren gegangen ist, und der für das Mannheimer Theater z.T. parallel entstandenen Bühnenbearbeitung. Diese wurde unter dem zwischenzeitlichen Titel Der verlorene Sohn vom dortigen Intendanten Heribert von Dalberg bearbeitet, Anfang 1782 https://doi.org/10.1515/9783110541991-004

4.1 Die Räuber

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uraufgeführt und nach einer neuerlichen Bearbeitung Schillers im selben Jahr mit dem gattungsspezifizierenden Untertitel „ein Trauerspiel“ in Mannheim publiziert. Zum Peritext der Erstausgabe gehört neben dem gattungsspezifizierenden Untertitel „Ein Schauspiel“ auch eine „Vorrede“, in der Schiller das Drama einerseits gattungspoetologisch bestimmt und u. a. aufgrund seiner epischen Breite als „dramatische Geschichte“ bezeichnet, die sich der „Vortheile der dramatischen Methode, die Seele gleichsam bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“ (NA 3, S. 5)¹, bediene. Andererseits versucht er, das Drama in ethischer Hinsicht zu legitimieren, weil er den Grund für die Inkompatibilität der Dramenkonzeption mit dem Medium der Theaterbühne weniger im Umfang des Stücks als vielmehr in seinem sittlichen Niveau sieht: „Die Oekonomie desselben machte es nothwendig, daß mancher Karakter auftreten mußte, der das feinere Gefühl der Tugend beleidigt, und die Zärtlichkeit unserer Sitten empört.“ (NA 3, S. 5) Neben dieser im Erstdruck zusammen mit dem Schauspiel abgedruckten Vorrede existiert noch ein zweites, dieser inhaltlich weitgehend korrespondierendes Vorwort, das wegen seiner exzessiven Polemik gegen das Theaterpublikum, „worunter ich […] nicht die Mistpantscher allein, sondern auch und noch vielmehr manchen Federhut, und manchen Tressenrok, und manchen weissen Kragen zu zählen Ursache habe“ (NA 3, S. 245), vorerst unveröffentlicht geblieben ist. Ebenfalls Anfang 1782 erscheint die als Lesedrama konzipierte Erstausgabe in einer „Zwoten verbesserten Auflage“, die gemäß Schillers eigenen Angaben in der entsprechenden Vorrede „Zweideutigkeiten“ der ersten Auflage tilge, im „Wesen“ aber nicht von dieser abweiche (NA 3, S. 9). Diese zweite Auflage der ursprünglichen Schauspiel-Fassung enthält auf der Titelseite das von Schiller nicht veranlasste, berühmte Emblem mit dem Löwen als pictura und der subscriptio „in tirannos“ und wurde dadurch auch als sogenannte ‚Löwenausgabe‘ bekannt. Bei der Rekonstruktion der impliziten Wirkungspoetik von Schillers Drama Die Räuber gilt es also den konzeptionell-funktionalen Unterschied zwischen der als Lesedrama konzipierten Schauspiel-Fassung und der für die Theaterbühne bearbeiteten Trauerspiel-Fassung zu berücksichtigen. Diesem Unterschied wird insbesondere mit dem Kapitel 4.1.3.3 Rechnung getragen. Primärer Referenztext in den anderen Kapiteln ist die Schauspiel-Fassung, auf die sich die Angaben von Akt und Szene, wo nicht anders erwähnt, beziehen. Im Sinn meines in der Einleitung erläuterten methodischen Ansatzes² handelt es sich bei der folgenden Analyse nicht um eine hermeneutischinterpretierende Sinnzuweisung, sondern um die Rekonstruktion der impliziten Wirkungspoetik durch die Extrapolation von Dramatisierungsstrategien und entsprechenden Funktionszuweisungen.  Schiller orientiert sich bei dieser Bestimmung des Dramatisierens höchstwahrscheinlich an Moses Mendelssohn, der in den Hauptgrundsätzen der schönen Künste und Wissenschaften die „glücklichen Augenblicke“ der Dramendichtung erwähnt, „in welchen wir die Natur gleichsam auf der That ertappen“ (Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 143).  Vgl. das Kapitel 1.3 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

4.1.2 Emotive Funktionen Die emotive Funktion, Affekte zu evozieren, lässt sich aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas Die Räuber als eine Funktion neben anderen rekonstruieren. Im ersten Teil der Untersuchung wurden aus Schillers expliziter Wirkungspoetik sowohl inhaltliche als auch mediale Dramatisierungsstrategien für die Evokation von Affekten abstrahiert. Bei den inhaltlichen Dramatisierungsstrategien handelt es sich um die Darstellung interessanter oder auch tragischer Sachverhalte, denen die Funktion zugeschrieben wird, durch ihre Extravaganz und emotive Signifikanz die Aufmerksamkeit auf den Inhalt des betreffenden Sachverhalts zu lenken und dadurch die Initiation von Meta-Kognitionen zu verhindern. In dieser Eigenschaft als inhaltsbezogener Aufmerksamkeits-Trigger weist die Darstellung interessanter oder auch tragischer Sachverhalte die Disposition auf, die emotive Funktion der Affekterzeugung zu erfüllen. Bei den medialen Dramatisierungsstrategien handelt es sich um spezifische Darstellungsmodi, die die Disposition aufweisen, die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz der dargestellten Inhalte zu lenken und dadurch die Initiation von MetaKognitionen zu verhindern. Zu diesen Darstellungsmodi, die aus Schillers expliziter Wirkungspoetik abstrahiert wurden, gehören (1) die fiktionsinterne Simulation eines emotiven Kommunikationsschemas, die als emotive Persuasionsstrategie aufgefasst werden kann (emotionaler Pakt), (2) die sprachliche Repräsentation von Affekten durch Emotionswörter, die als Akzentuierung der emotiven Signifikanz eines spezifischen Sachverhalts aufgefasst werden kann, (3) die Reformulierung spezifischer Sachverhalte mit emotiver Signifikanz und (4) die Darstellung von rührenden Reden, in denen ein spezifischer Sachverhalt mit emotiver Signifikanz extensiv klar dargestellt wird, sodass die Aufmerksamkeit auf den fiktiven Sachverhalt gelenkt und dadurch Meta-Kognitionen ausgehebelt werden. Bereits die Interpretation des Dialogs zwischen Amalia und Karl, den Schiller in der Selbstrezension als Beispiel für die Darstellung eines emotiven Kommunikationsschemas anführt, hat gezeigt, dass inhaltliche und mediale Strategien in Kombination auftreten können.³

4.1.2.1 Fiktionsinterne Simulation affektpoetischer Kommunikationsmuster: Darstellung von dialogischen rührenden Reden Die mediale Strategie der fiktionsinternen Simulation von emotiven Kommunikationsschemata wurde im Kapitel 3.2.2.7 so bestimmt, dass es sich dabei jeweils um eine Form von Metakommunikation handelt, in der zu verstehen gegeben wird, wie die Botschaften der simulierten Kommunikation aufzufassen sind. Bei diesem Darstel-

 Vgl. die Kapitel 3.2.1 sowie 3.2.2 dieser Untersuchung.

4.1 Die Räuber

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lungsmodus hat man es also mit einer Form ‚emotionaler Persuasion‘⁴ zu tun. Ein Beispiel für die fiktionsinterne Simulation eines emotiven Kommunikationsmusters findet sich in der Szene II/2 (Schauspiel-Fassung) bzw. II/5 (Bühnenbearbeitung), in der Herrmann den alten Moor und Amalia in einer erfundenen Geschichte vom angeblichen Tod Karls in einer Schlacht bei Prag unterrichtet. Gleich zu Beginn von Herrmanns Erzählung wird eine Synchronisation der erzählten Emotionen mit dem Emotionsapparat des Rezipienten, hier des alten Moor, simuliert: HERRMANN. […] Er [gemeint ist Karl Moor] sprach viel von seinem alten Vater und von bessern vergangenen Tagen – und von vereitelten Hoffnungen – uns standen die Tränen in den Augen. D. A. MOOR (verhüllt sein Haupt in das Kissen). Stille, o stille! (NA 3, S. 47)

Die Reformulierung des fiktional nicht bestehenden Sachverhalts, dass Karl in Verzweiflung gestorben ist, weist die Disposition auf, die emotive Funktion der Affekterzeugung zu erfüllen, insofern sie die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz des Sachverhalts lenkt: HERRMANN. Es war der lezte Wille meines sterbenden Kameraden. Nimm dis Schwerd, röchelte er [Karl Moor], du wirsts meinem alten Vater überliefern, das Blut seines Sohnes klebt daran, er ist gerochen, er mag sich weiden. Sag ihm sein Fluch hätte mich gejagt in Kampf und Tod, ich sey gefallen in Verzweiflung! Sein lezter Seufzer war Amalia. AMALIA (wie aus einem Todesschlummer aufgejagt). Sein lezter Seufzer, Amalia! D. A. MOOR (Gräßlich schreyend, sich die Haare ausraufend). Mein Fluch ihn gejagt in den Tod! gefallen in Verzweiflung! (NA 3, S. 47 f.)

Bei der singulären Aussage⁵ des spezifischen, fiktional nicht bestehenden Sachverhalts, dass Karl im Krieg gefallen ist, handelt es sich primär um ein emotives Werturteil, d. h. um eine Bewertung der emotiven Qualität des Sachverhalts⁶ im Sinne von ‚Das ist tragisch‘: „Wehe, Wehe! mein Fluch ihn gejagt in den Tod! gefallen in Verzweiflung!“ (NA 3, S. 48) Das mehrfache Wiederholen der Aussage initiiert eine Fixierung der Aufmerksamkeit auf der emotiven Signifikanz des Sachverhalts, d. h. seiner emotiven Bedeutsamkeit.⁷ Die emotive Signifikanz des Sachverhalts wird in der singulären Aussage thematisch impliziert: „Ich bin der Vater, der seinen grossen Sohn erschlug. Mich liebt’ er bis in den Tod! mich zu rächen rannte er in Kampf und Tod! Ungeheuer, Ungeheuer! (wütet wider sich selber).“ (NA 3, S. 49) Die singulären Aussagen der spezifischen  Vgl. Howard Sklar: The Art of Sympathy in Fiction. Forms of ethical and emotional persuasion. Amsterdam/Philadelphia 2013 (Linguistic Approaches to Literature. Bd. 15), S. 24.  Zum Unterschied zwischen singulären und generischen Sätzen vgl. Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 92 f.  Zur theoretischen Annahme der kognitiven Beurteilung einer Situation als Voraussetzung für das Zustandekommen von Emotionen vgl. Meyer-Sickendiek, S. 48 – 50.  Zur Unterscheidung zwischen der Bedeutung und der Bedeutsamkeit eines Sachverhalts vgl. das Kapitel 3.2.1.2 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Sachverhalte weisen also eine emotive Signifikanz auf, insofern sie emotive Werturteile implizieren, d. h. insofern mit dem Akt des Aussagens eines Sachverhalts eine Beurteilung des emotiven Wertes (der emotiven Qualität oder der emotiven Dimension) dieses Sachverhalts verknüpft ist. Die Darstellung einer solchen Beurteilung im inneren Kommunikationssystem des Dramas kann als metakommunikatives Signal für die Übernahme des Urteils⁸ durch den Rezipienten ins äußere Kommunikationssystem⁹ aufgefasst werden. In hermeneutischer Hinsicht initiieren die singulären Aussagen spezifischer Sachverhalte mit emotiver Signifikanz ein „emotionales Textverstehen“¹⁰, d. h. sie vermitteln emotive Botschaften von der Art ‚Der Sachverhalt x ist interessant‘ oder ‚Der Sachverhalt x ist tragisch‘ und ‚Die Figur y leidet unter dem Sachverhalt x‘ oder ‚Die Figur x ist durch den Sachverhalt y gerührt‘. Die emotive Signifikanz des Sachverhalts, die jeweils thematisch impliziert ist, drückt sich etwa in der Interjektion des alten Moor „Wehe, Wehe!“ (NA 3, S. 48) aus. Am Schluss der Szene II/2 der Schauspiel-Fassung findet sich ein weiteres, für die Bühnenbearbeitung getilgtes Beispiel für die fiktionsinterne Simulation eines emotiven Kommunikationsschemas. Der alte Moor bittet Amalia, ihm die Josephsgeschichte aus der Bibel vorzulesen: „Geh, nimm die Bibel […] und lies mir die Geschichte Jakobs und Josephs! Sie hat mich immer so gerührt, und damals bin ich noch nicht Jakob gewesen.“ (NA 3, S. 51) Die biblische Figur des Jakob fungiert als alter ego, durch den der alte Moor an seiner eigenen Situation leidet. Dieses Leiden drückt sich in der Reformulierung des emotiv signifikanten Sachverhalts aus: „Ein reissend Thier hat Joseph zerrissen!“ (NA 3, S. 52) Dabei handelt es sich um das sympathetische Prinzip des Leidens „unter andern Leibern“ (NA 23, S. 80), mit dem Schiller im Bauerbacher Brief die Beziehung zwischen dem Tragödiendichter und dessen Figuren bestimmt hat.¹¹ Diese Form der Sympathie kann anhand des Beispiels aus der Szene II/2 der Schauspiel-Fassung noch stärker konturiert werden. Ex negativo handelt es sich dabei nicht um Empathie als Übernahme der Gefühle und Erfahrungen eines alter in das Gefühlsdispositiv des ego ¹², bei dem der Fokus auf dem alter liegt, sondern um eine Form der Sympathie als eigentlichen Selbstmitleids im Sinn eines Leidens für sich

 Zur Bewertung des Zustands eines alter als kognitive Voraussetzung für das Zustandekommen von Mitleid vgl. Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 179.  Zum Unterschied zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem vgl. das Kapitel 2.1 dieser Untersuchung.  Vgl. zu diesem Begriff Katja Mellmann: Emotionalisierung.Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006 (Poetogenesis: Studien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur. Bd. 4), z. B. S. 156.  Vgl. das Kapitel 3.2.2.9 dieser Untersuchung.  Zu dieser Begriffsbestimmung von Empathie im Unterschied zu Sympathie vgl. Sklar, S. 24: „The most salient characteristic in many definitions of empathy is the absorption of the individual in the feelings or experiences of another.“

4.1 Die Räuber

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selber, bei dem der Fokus auf dem ego liegt.¹³ Der dargestellte emotionale Prozess, in dem der alte Moor durch die Geschichte Jakobs für sich selber leidet, basiert auf der „Verwechslung der Wesen“, d. h. der „Anschauung unserer Selbst in einem andern Glase“ (NA 23, S. 79), die Julius in der „Theosophie“ und Schiller im poetologischen Brief an Reinwald zum Grundprinzip von Freundschaft und Liebe erklären: „Erschreken, entglühen, zerschmelzen wir für das Fremde, uns ewig nie eigen werdende, Geschöpf? Gewis nicht. Wir leiden jenes alles nur für uns, für das Ich, deßen Spiegel jenes Geschöpf ist.“ (Bauerbacher Brief, NA 23, S. 79) Die biblische Figur des Jakob fungiert als ‚imaginärer Körper‘¹⁴, durch den der alte Moor an seiner eigenen Situation leidet, die Ähnlichkeiten mit der Situation Jakobs aufweist. Es handelt sich also nicht um das Leiden mit einem oder für ein alter ¹⁵, sondern um das Leiden durch ein alter für das ego. Demnach scheint es sinnvoll, statt von Empathie als ‚Einfühlen‘ (empatheia)¹⁶ bzw. ‚Nachfühlen‘ oder Sympathie als ‚Mitfühlen‘¹⁷ von Diapathie als ‚Hindurchfühlen‘ zu sprechen. Mit dem Begriff der Diapathie lässt sich das sympathetische Prinzip des selbstbezogenen Mitleids, das Schiller im Bauerbacher Brief erläutert, sowohl von demjenigen der Empathie als auch von demjenigen der fremdbezogenen Sympathie unterscheiden. Ebenso wie bei der Empathie stehen die Emotionen von alter und ego bei der Diapathie in einer Ähnlichkeitsrelation zueinander.¹⁸ Während bei der Empathie die Emotionen des alter als stimulus für die Evokation ähnlicher oder gleicher Gefühle beim ego fungieren, ist dieses bei der Diapathie selbst Agens der kommunikativen Handlung und projiziert bereits entwickelte Emotionen auf die Gefühlsdisposition des alter. Die Emotionen des alter, in diesem Falle der biblischen Figur Jakob,

 Zum Fokus als Kriterium für die Differenzierung von Empathie und Sympathie vgl. Brigitte Scheele: Empathie und Sympathie bei der Literatur-Rezeption: ein Henne-Ei-Problem? In: Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann (Hg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin 2014 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften. Bd. 19), S. 35 – 48; hier S. 37.  Vgl. Schneider, S. 107– 129.  Zur Unterscheidung von Empathie als „feeling with“ und Sympathie als „feeling for“ vgl. Alessandro Giovanelli: In Sympathy with Narrative Characters. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 67 (2009), H. 1, S. 83 – 95.  Zur Etymologie des Begriffsnamens Empathie vgl. Johannes Türk: Jenseits des Mitleids. Techniken der Empathie 430 v.Chr. bis 1930 n.Chr. In: Claudia Berger und Fritz Breithaupt (Hg.): Empathie und Erzählung. Freiburg i. Br. 2010 (Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae. Bd. 176), S. 85 – 106; hier S. 87.  Zur Unterscheidung von Empathie und Sympathie in der philosophischen Gefühlstheorie vgl. Adrian Wettstein: Fiktive Geschichten – echte Emotionen. Der Einfluss von Romanen auf das Gefühlsleben. Münster 2015 (Explicatio), S. 50 – 59.  Zu diesem Empathie-Begriff vgl. Katharina Prinz und Simone Winko: Sympathielenkung und textinterne Wertungen. Überlegungen zu ihrer Untersuchung und exemplarische Analyse der Figur des ‚unglücklichen Mordgehilfen‘ Oliver Brusson. In: Claudia Hillebrandt und Elisabeth Kampmann (Hg.): Sympathie und Literatur. Zur Relevanz des Sympathiekonzeptes für die Literaturwissenschaft. Berlin 2014 (Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften. Bd. 19), S. 99 – 127; hier S. 103.

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werden nicht imaginativ repräsentiert¹⁹, sondern das alter fungiert als Projektionsfläche für die Realisierung der eigenen Emotionen. Die Darstellung von Diapathie innerhalb des inneren Kommunikationssystems kann als eine inhaltliche Dramatisierungsstrategie aufgefasst werden, die emotive Signifikanz eines Sachverhalts zu erhöhen und dadurch im äußeren Kommunikationssystem Affekte wie Sympathie zu evozieren. Unter Sympathie verstehe ich in Anlehnung an die konsensuelle Bestimmung von Prinz/Winko ganz allgemein die positive emotionale Einstellung eines ego gegenüber einem alter ²⁰ im inneren oder im äußeren Kommunikationssystem. Bei der Rede Kosinskys in der Szene III/2 (Schauspiel-Fassung) bzw. III/4 (Bühnenbearbeitung) handelt es sich um ein weiteres Beispiel für die fiktionsinterne Simulation eines emotiven Kommunikationsmusters, bei dem eine emotive Botschaft, d. h. ein spezifischer Sachverhalt mit emotiver Signifikanz, übermittelt wird und bei den Rezipienten des inneren Kommunikationssystems entsprechende emotionale Reaktionen evoziert werden. Kosinsky weist seiner Rede die Funktion zu, die Räuber und insbesondere Karl nach unerhörter Bitte durch die „Geschichte meines Unglüks“ (NA 3, S. 84) dazu zu überreden, ihn in die Bande aufzunehmen: KOSINSKY. Nein! ich fliehe izt nicht mehr. Wenn dich meine Bitten nicht rühren, so höre die Geschichte meines Unglüks. – Du wirst mir dann selbst den Dolch in die Hände zwingen, du wirst – lagert euch hier auf dem Boden, und hört mir aufmerksam zu! (NA 3, S. 84)

Die Informationen im Nebentext sowie der Fremdkommentar Schweizers geben Aufschluss darüber, wie Karl Kosinskys Erzählung rezipiert. Die Analogien zwischen Kosinskys Geschichte und Karls Situation, die in der Namensgleichheit der beiden Verlobten kulminiert, evoziert bei Karl Emotionen in Bezug auf die eigene Situation. Karls Reaktion auf die Rede weist darauf hin, dass er durch Kosinsky für sich selbst und seine eigene Amalia leidet, d. h. es handelt sich auch in diesem Fall nicht um Empathie oder um Sympathie, sondern um Diapathie. Dabei wird eine Interdependenz zwischen dem Typ des Emotionsprogramms²¹ und der mentalen Repräsentation von Ähnlichkeitsrelationen zwischen dem Sender und dem Empfänger der emotiven Botschaft dargestellt. Das Gros der Räuberbande reagiert mit Sympathie, die die Handlungsintention initiiert, Kosinsky zu rächen, während Karl durch die mentale Repräsentation der Ähnlichkeit zwischen der Amalia Kosinskys und seiner eigenen Amalia Diapathie empfindet. Die Differenz zwischen den durch die Erzählung Ko-

 Zu dieser Auffassung von Empathie als Vergegenwärtigung fremder Emotionen vgl. Sklar, S. 25 sowie Wettstein, S. 50 – 55.  Zu dieser Bestimmung von Sympathie vgl. Prinz/Winko: Sympathielenkung und textinterne Wertungen, S. 100.  Der Begriff des Emotionsprogramms soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die einzelne Emotion nicht als punktuelles Ereignis, sondern als komplexer mentaler Prozess aufgefasst wird. Vgl. zu diesem Begriff Mellmann: Emotionalisierung, S. 29 – 33. Diese Auffassung entspricht der aktuellen philosophischen Gefühlstheorie, in der ein Gefühl als Komplex aus verschiedenen Komponenten angesehen wird (zur Komponententheorie von Gefühlen vgl. Wettstein, S. 17– 22).

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sinskys evozierten Emotionsprogrammen, der Sympathie der Räuber und der Diapathie Karls, manifestiert sich schließlich auch auf der Ebene verbalsprachlicher Kommunikation: KOSINSKY. Ich ward ergriffen, angeklagt, peinlich processirt, infam – merkts euch! – aus besonderer Gnade infam aus den Gränzen gejagt, meine Güter fielen als Präsent dem Minister zu, meine Amalia bleibt in den Klauen des Tygers, verseufzt und vertrauert ihr Leben, während daß meine Rache fasten, und sich unter das Joch des Despotismus krümmen muß. SCHWEIZER (aufstehend, seinen Degen wezend). Da gibts was anzuzünden, Hauptmann! MOOR (der bisher in heftigen Bewegungen hin und her gegangen, springt rasch auf, zu den Räubern). Ich muß sie sehen – auf! rafft zusammen – du bleibst Kosinsky – pakt eilig zusammen! DIE RÄUBER. Wohin? was? MOOR. Wohin? wer fragt wohin? (heftig zu Schweizern). Verräther, du willst mich zurükhalten? Aber bey der Hofnung des Himmels! – SCHWEIZER. Verräther ich? – geh in die Hölle, ich folge dir! MOOR (fällt ihm um den Hals). Bruderherz! du folgst mir – sie weint, sie vertrauert ihr Leben. Auf! hurtig alle! nach Franken! in acht Tagen müssen wir dort seyn. (Sie gehen ab). (NA 3, S. 86)

Die Rekonstruktion der emotiven Funktionen aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas Die Räuber hat bis anhin ergeben, dass Emotionen innerhalb des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems als komplexe Emotionsprogramme dargestellt werden. Ein weiteres Beispiel für die Darstellung komplexer Emotionsprogramme ist die Gartenszene IV/12 der Bühnenbearbeitung, die Schiller in der Selbstrezension als die „rührendste“ und „entsetzlichste“ (NA 22, S. 126) Szene bezeichnet.²² Dabei handelt es sich um die komplexe Darstellung verschiedener Emotionen als Emotionsprogramme, die sowohl aus kognitiven als auch aus emotiven Komponenten bestehen. Die Darstellung von emotionalen Reaktionsweisen weist eine kognitive Komponente auf, insofern die mentale Vergegenwärtigung von spezifischen Sachverhalten als Voraussetzung für die Entstehung von Affekten ausgewiesen wird. Die Informationen im Nebentext dokumentieren die Emotionen Amalias, die in Analogie zu den mentalen Repräsentationen der Ähnlichkeit zwischen dem ego und dem alter von „sanftem Schmerz“ (NA 3, S. 207) in die „schmerzlichste […] Empfindung“ (NA 3, S. 207) und schließlich in ein Entsetzen über die eigene Betroffenheit übergehen. Die Darstellung dieses emotiven Prozesses korrespondiert also der Darstellung eines epistemischen Prozesses, der aus der sukzessiven Aufdeckung der Identität eines alter besteht, das sich schließlich als ego erweist. Es handelt sich auch bei diesem Dialog um die Darstellung einer Korrelation von bestimmten Emotionen und entsprechenden mentalen Repräsentationen von Ähnlichkeitsrelationen. Die Darstellung von Amalias Leiden, dem ein Erkenntnisprozess korrespondiert, weist die Disposition zur Sympathieerzeugung im äußeren Kommunikationssystem auf. Das ‚Entsetzliche‘ dieser Szene besteht in der finalen Erkenntnis Amalias, dass die aus einer emotionalen

 Vgl. das Kapitel 3.2.1.2 dieser Untersuchung.

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Distanz bemitleidete Amalia aus der Erzählung des sich als Grafen verkleideten Karl sie selbst und der vermeintliche Kriegsheld Karl in Wirklichkeit der Anführer einer mordenden Räuberbande ist. Dieser Erkenntnis korrespondiert eine Reduktion der emotionalen Distanz zwischen dem leidenden alter und dem mitleidenden ego ²³, die sich als identisch erweisen: RÄUBER MOOR. […] Meine Amalia ist ein unglückliches Mädchen! AMALIA (etwas leichtfertig). Sind es alle, die dich lieben und Amalia heißen? RÄUBER MOOR. Alle – wenn sie wähnen, einen Engel zu umhalsen, und – einen Totschläger in den Armen finden. – Meine Amalia ist ein unglückliches Mädchen! AMALIA (im Ausbruch der schmerzlichsten Empfindung). Ich beweine sie! RÄUBER MOOR (nimmt ihre Hand, und hält ihr den Ring vor die Augen). Weine über dich selber! (Er stürzt hinaus). AMALIA (hat den Ring erkannt). Karl! Karl! O Himmel und Erde! (Sinkt nieder). (NA 3, S. 207 f.)

4.1.2.2 Darstellung von monologischen rührenden Reden Im Kapitel 3.2.2.8 wurde erläutert, dass der Darstellung einer rührenden Rede in der Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts die emotive Funktion der Affekterzeugung zugeschrieben wird. Diese Funktion wird in der Affekttheorie an einen bestimmten Modus der Informationsvermittlung gekoppelt, der die Disposition aufweist, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die emotive Signifikanz eines Sachverhalts zu lenken und so die Initiation von Meta-Kognitionen zu verhindern. Dieser Modus besteht aus der extensiv klaren Darstellung eines „mit einem Blik“²⁴ erkannten Sachverhalts, die eine affektevozierende anschauende Erkenntnis des Sachverhalts initiieren soll. Der Monolog Karls in der Szene III/2 der Schauspiel-Fassung erweist sich als Beispiel für eine rührende Rede, insofern seine elliptische Struktur die Disposition aufweist, anschauende Erkenntnis des in Rede stehenden Sachverhalts zu initiieren und den Rezipienten von der emotiven Signifikanz des Sachverhalts zu überzeugen: Meine Unschuld! Meine Unschuld! – Seht! es ist alles hinausgegangen sich im friedlichen Stral des Frühlings zu sonnen – warum ich allein die Hölle saugen aus den Freuden des Himmels? – daß alles so glüklich ist, durch den Geist des Friedens alles so verschwistert! – die ganze Welt Eine Familie und ein Vater dort oben – Mein Vater nicht – Ich allein der Verstosene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen – mir nicht der süsse Name Kind – nimmer mir der Geliebten schmachtender Blick – nimmer nimmer des Busenfreundes Umarmung (wild zurükfahrend). Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt – angeschmidet an das Laster mit eisernen Banden – hinausschwindelnd ins Grab des Verderbens auf des Lasters schwankendem Rohr – mitten in den Blumen der glüklichen Welt ein heulender Abbadona [der gefallene Engel aus Miltons Epos Paradies Lost]! (NA 3, S. 79)

 Zum Aspekt der emotionalen Distanz zwischen ego und alter beim Sympathiebegriff vgl. Sklar, S. 26.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste II, Art. Rührende Rede, S. 991– 993; hier S 992.

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Die Rede besteht zudem aus solchen Ausdrücken, die Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste als Konstituenten eines literarischen Gemäldes bestimmt hat, also Ausdrücken, die eine sprachlich nicht oder nicht adäquat repräsentierbare ästhetische Idee im Kant’schen Sinn vermitteln.²⁵ Bei diesen Ausdrücken handelt es sich um rhetorische Figuren der Wiederholung wie Alliteration („den Reihen der Reinen“), Anapher („Ich allein der Verstosene, ich allein ausgemustert […]“), Chiasmus („Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt“) oder Parallelismus („Und ich so heßlich auf dieser schönen Welt – und ich ein Ungeheuer auf dieser herrlichen Erde.“) und Figuren der Uneigentlichkeit wie Verbalmetaphern („warum ich allein die Hölle saugen aus den Freuden des Himmels?“; „angeschmidet an das Laster mit eisernen Banden“; „mir die Wollust eines einzigen Mittagsschlafs zu erkaufen“) oder Genitivmetaphern („Grab des Verderbens auf des Lasters schwankendem Rohr“). Im Gegensatz zum emotiven Kommunikationsmuster der Szene II/2, das Bestandteil des inneren Kommunikationssystems ist, liegt die monologische Rede Karls gewissermassen auf der Schnittfläche von innerem und äußerem Kommunikationssystem. Als Bestandteil des äußeren Kommunikationssystems zwischen Autor, Text und Rezipient kommt ihr die Funktion zu, anschauende Erkenntnis des in Rede stehenden Sachverhalts zu initiieren, von der emotiven Signifikanz des Sachverhalts zu überzeugen und entsprechende Affekte wie Rührung oder Mitleid zu evozieren. Die rührende Rede, die Bestandteil des äußeren Kommunikationssystems ist, weist die Disposition zur Initiation des Emotionsprogramms „Sympathie“ im oben erläuterten Sinn auf. Bei der monologischen Rede Karls handelt es sich um eine Strategie für die Evokation von Sympathie im äußeren Kommunikationssystem, d. h. für die Erzeugung einer positiven emotionalen Einstellung des Rezipienten gegenüber der literarischen Figur. Während das Emotionsprogramm „Sympathie“ in dialogischen rührenden Reden im inneren Kommunikationssystem simuliert wird, wird es durch monologische rührende Reden im äusseren Kommunikationssystem initiiert. Ein weiteres Beispiel für eine monologische rührende Rede, die die Disposition zur Initiation von Sympathie im äußeren Kommunikationssystem aufweist, findet sich in der Szene IV/3 der Schauspiel-Fassung, in der Karl von Moor den Betrug seines Bruders Franz durchschaut. Dabei kann die sprachliche Repräsentation der mentalen Vergegenwärtigung des tragischen Sachverhalts als Strategie für die Evokation von Sympathie gegenüber der erkennenden Figur aufgefasst werden: MOOR (auffahrend aus einer schröklichen Pause). Betrogen, betrogen! da fährt es über meine Seele wie der Bliz! – Spizbübische Künste! Himmel und Hölle! nicht du,Vater! Spizbübische Künste! Mörder, Räuber durch spizbübische Künste! Angeschwärzt von ihm! verfälscht, unterdrükt meine Briefe – voll Liebe sein Herz – oh ich Ungeheuer von einem Thoren – voll Liebe sein Vater-Herz – Es hätte mich einen Fusfall gekostet, es hätte mich eine Thräne gekostet – oh ich blöder, blöder, blöder Thor! (wider die Wand rennend). Ich hätte glüklich seyn können – oh Büberey, Büberey! das Glück meines Lebens bübisch, bübisch hinwegbetrogen. (Er läuft wütend auf und nieder).

 Vgl. die Ausführungen zum literarischen Gemälde im Kapitel 3.2.2.5.

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Mörder, Räuber durch spizbübische Künste! – Er grollte nicht einmal. Nicht ein Gedanke von Fluch in seinem Herzen – oh Bösewicht! unbegreiflicher, schleichender, abscheulicher Bösewicht! (NA 3, S. 99)

Die Darstellung eines Emotionsprogramms als Erkenntnisprozess erweist sich als eine Dramatisierungsstrategie für die Evokation von Mitleid, insofern eine solche Darstellung den kognitiven Mitvollzug der Emotion initiiert. Die sprachliche Repräsentation derselben Sachverhalte in den Aussagen mehrerer Figuren weist darauf hin, dass es primär nicht um den semantischen Gehalt dieser Sachverhalte geht, sondern um die emotionale Einstellung der Figuren gegenüber dem semantischen Gehalt. Durch die mehrmalige Vergabe derselben Informationen über fiktional bestehende Sachverhalte verschiebt sich der Fokus der Aufmerksamkeit vom semantischen Gehalt der Sachverhalte auf deren emotive Signifikanz, die je nach Vergabekontext variiert. Bei der wiederholten sprachlichen Repräsentation desselben fiktional bestehenden Sachverhalts handelt es sich im Hinblick auf das äußere Kommunikationssystem, das aus den Komponenten Autor, Text, Rezipient (Leser oder Zuschauer) besteht, um einen Verstoß gegen die Grice’sche Konversationsmaxime der Quantität, die besagt, dass nicht mehr Informationen vergeben werden sollen, als für die Erfüllung des Kommunikationszwecks nötig sind.²⁶ Dabei besteht die Informationsredundanz zwar in Bezug auf den semantischen Gehalt, aber nicht in Bezug auf die emotive Signifikanz des Sachverhalts, die an die Betroffenheit von und emotionale Einstellung gegenüber dem Sachverhalt gekoppelt ist. Die proximate Funktion²⁷, die der sprachlichen Repräsentation spezifischer Sachverhalte als singuläre Aussagen innerhalb der Figurenreden zugeschrieben wird, besteht nicht nur in der Vermittlung des semantischen Gehalts, sondern vor allem auch in der Vermittlung der emotiven Signifikanz von Sachverhalten. An diese proximate Funktion der Vermittlung von emotiven Botschaften, d. h. von Bedeutung und emotiver Bedeutsamkeit fiktional bestehender oder nicht bestehender Sachverhalte, ist die ultimate Funktion der Evokation von Affekten gekoppelt. Was lässt sich anhand der aus dem Drama rekonstruierten Affektpoetik über das Verhältnis von emotiver und kognitiver Signifikanz²⁸ bzw. von emotiven und kognitiven Funktionen sagen? Für das rhetorische Mittel der rührenden Rede wurde bereits erläutert, dass in deren Theorie Kognitionen insofern eine Rolle spielen, als die extensiv klare, d. h. anschauende Vorstellung eines Sachverhalts als Voraussetzung für das Entstehen von Emotionen bestimmt wird. Aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas Die Räuber lässt sich entsprechend eine Auffassung von Rührung und  Zu dieser Konversationsmaxime vgl. H. Paul Grice: Logik und Konversation. In: Georg Meggle (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung. Mit einem Anhang zur Taschenbuchausgabe 1993. Frankfurt a. M. 1993 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 1083), S. 243 – 265; hier S. 249.  Zum Unterschied zwischen proximater und ultimater Funktion vgl. das Kapitel 3.1 dieser Untersuchung.  Zur Relevanz der Frage nach dem Verhältnis zwischen emotiver und kognitiver Signifikanz des Sympathiebegriffs vgl. Hillebrandt/Kampmann: Sympathie und Literatur, S. 16.

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Sympathie als komplexen Emotionsprogrammen mit kognitiven Komponenten rekonstruieren. So basiert die ultimat-emotive Funktion der Affekterzeugung im Fall der rührenden Rede auf der medialen Dramatisierungsstrategie der extensiv klaren Sachverhaltsdarstellung, die die Disposition zur Erkenntnisvermittlung aufweist. Die kognitive Signifikanz des Leidens eines ego durch ein alter, das hier als Diapathie bezeichnet wurde, besteht darin, dass die Kognition ‚Die andere Person ist mir ähnlich’ Bestandteil dieses Emotionsprogramms ist. Solche Kognitionen werden im inneren Kommunikationssystem nicht nur thematisch impliziert, sondern auch sprachlich repräsentiert, so z. B. in der Aussage des alten Moor „damals bin ich noch nicht Jakob gewesen“ (NA 3, S. 51). Auch in der Kosinsky-Szene III/2 wird die Ähnlichkeitsrelation zwischen Karl und Kosinsky explizit thematisiert, wenn etwa Schweizer die Aussage Kosinskys, seine Geschichte finde kein Gehör, weil seine Zuhörer „niemals geliebt“ hätten und „niemals geliebt worden“ (NA 3, S. 84) seien, mit dem Hinweis auf Karls Entfärbung kommentiert: „Sachte, sachte! Der Hauptmann wird feuerroth.“ (NA 3, S. 84) Die Darstellung emotionaler Prozesse durch die fiktionsinterne Simulation emotiver Kommunikationsmuster erweist sich also als durchaus komplex, insofern das Zustandekommen von Emotionen in Abhängigkeit von mentalen Repräsentationen dargestellt wird. Ein solches komplexes Emotionsprogramm, wie es fiktionsintern simuliert wird, besteht (1) aus der mentalen Repräsentation des semantischen Gehalts eines Sachverhalts, d. h. seiner Bedeutung (Was (ist) passiert?), (2) der mentalen Repräsentation der emotiven Signifikanz des Sachverhalts (Welche emotionale Qualität hat das, was passiert (ist)?) oder auch (3) der mentalen Repräsentation einer Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Empfänger und dem Sender einer emotiven Botschaft und schließlich (4) dem eigentlichen Affekt (z. B. Mitleid, Rührung oder Bewunderung). Im Folgenden sei die fiktionsinterne Darstellung von Emotionsprogrammen noch schematisch dargestellt (Tab. 2).

4.1.2.3 Melodramatische Elemente Zur impliziten Affektpoetik der Schauspiel-Fassung gehören auch Elemente des Melodramas, also der sowohl aus gesprochener Rede als auch aus sprachlich repräsentierter Musik²⁹ bestehenden Mischgattung der Empfindsamkeit.³⁰ Die Einbettung

 Zur sprachlichen Repräsentation von Musik in literarischen Texten vgl. Christine Lubkoll: Musik. In: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart 2007, S. 378 – 382 sowie Christoph Vratz: Die Partitur als Wortgefüge. Sprachliches Musizieren in literarischen Texten zwischen Romantik und Gegenwart. Würzburg 2002, S. 48 – 50.  Zu dieser Begriffsbestimmung vgl. Wolfgang Schimpf: Lyrisches Theater. Das Melodrama des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1988 (Palaestra: Untersuchungen aus der deutschen, englischen und skandinavischen Philologie. Bd. 282), S. 12. Für eine konzise Begriffs- und Sachgeschichte des Melodramas im achtzehnten Jahrhundert sowie einen knappen Überblick über die entsprechende Forschungsliteratur vgl. Meyer-Sickendiek, S. 202– 206.

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Tab. 2: Fiktionsinterne Darstellung von Emotionsprogrammen Stufen des Emotions- mentale Repräsenprogramms tation des semantischen Gehalts (der Bedeutung) eines Sachverhalts

mentale Repräsentation der emotiven Signifikanz des Sachverhalts (hermeneutisch: emotionales Verstehen, d. h. Verstehen der emotionalen Qualität des Sachverhalts)

mentale RepräsenAffekt tation einer Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Sender und dem Empfänger einer emotiven Botschaft

Beispiel aus dem dass Amalia ein Drama Die Räuber unglückliches (Bühnenbearbeitung, Mädchen ist IV/)

dass es traurig ist, dass Amalia ein unglückliches Mädchen ist: „Ich beweine sie.“

dass die Amalia des Trauern/ verkleideten Karls und Leiden die Amalia des wirklichen Karls dieselbe Person sind

melodramatischer Elemente in das Schauspiel, das sich u. a. durch die relative Länge oder die Polyperspektivität gattungspoetologisch vom Melodrama unterscheiden lässt³¹, war bereits zu Beginn der melodramatischen Gattungsgeschichte üblich.³² Den musikalischen Sequenzen des im achtzehnten Jahrhundert sich allmählich als eigenständige Gattung herausbildenden Melodramas werden in der entsprechenden Poetologie vor allem die proximat-emotive Funktion des Affektausdrucks sowie die ultimat-emotive Funktion der Affekterzeugung zugewiesen.³³ Dieser Funktionszuweisung korrespondiert ein musikästhetischer Paradigmenwechsel in der Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts von der Auffassung der Musik als eines semiotisch defizitären Mittels bezüglich der Repräsentation von semantischen Gehalten zur Aufwertung und Autonomisierung der Musik als eines adäquaten Mittels für den Ausdruck sprachlich nicht repräsentierbarer emotiver Signifikanz.³⁴ In der Szene II/2 der Schauspiel-Fassung spielt Amalia den Nebentext-Informationen zufolge auf dem Klavier ein an Homers Illias und Klopstocks Messias angelehntes Lied vom „Abschied Andromachas und Hektors“ (NA 3, S. 45). Das Lied, das Amalia mit Karl „oft zusammen zu der Laute gesungen“ (NA 3, S. 45) habe, ist in der typographischen Gestalt des Gedichts, also mit Zeilen- und Strophenbruch, abgedruckt:

 Zur Abgrenzung von Melodrama und Schauspiel vgl. Schimpf, S. 107– 120.  Zur dramatischen Erscheinungsform des Melodramatischen vgl. Schimpf, S. 68 – 71.  Zur emotiven Funktionsbestimmung des Melodramas im achtzehnten Jahrhundert vgl. Schimpf, S. 60 f.  Zur ideengeschichtlichen Rekonstruktion dieses Paradigmenwechsels vgl. Ulrike Küster: Das Melodrama. Zum ästhetikgeschichtlichen Zusammenhang von Dichtung und Musik im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1994 (Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache. Bd. 7), S. 55 – 63.

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Willst dich, Hektor, ewig mir entreissen, Wo des Aeciden [gemeint ist Achilles] mordend Eisen Dem Patroklus schröklich Opfer bringt? Wer wird künftig deinen Kleinen lehren Speere werfen und die Götter ehren, Wenn hinunter dich der Xanthus [Fluss der Unterwelt in der griechischen Mythologie] schlingt? […] Theures Weib, geh, hol die Todeslanze, Laß mich fort zum wilden Kriegestanze, Meine Schultern tragen Ilium – Ueber Astyanax [Sohn Hektors und Andromaches] unsre Götter! Hektor fällt, ein Vaterlands Erretter, Und wir sehn uns wieder in Elysium. (NA 3, S. 45)

Der ästhetische Effekt des Klavierspiels wird in der Replik des alten Moor fiktionsintern simuliert: „Ein schönes Lied, meine Tochter. Das must du mir vorspielen, eh ich sterbe.“ (NA 3, S. 45) Zu Beginn des dritten Aktes der Schauspiel-Fassung begleitet Amalia „auf der Laute“ (NA 3, S. 73) ein Lied, das im Stile der Laura-Gedichte aus dem Gedichtzyklus Anthologie auf das Jahr 1782 Schillers Liebesphilosophie in lyrischer Form repräsentiert: Schön wie Engel, voll Walhalla’s Wonne, Schön vor allen Jünglingen war er, Himmlisch mild sein Blick, wie Mayen Sonne Rükgestralt vom blauen Spiegel-Meer. Sein Umarmen – wütendes Entzüken! – Mächtig feurig klopfte Herz an Herz, Mund und Ohr gefesselt – Nacht vor unsern Blicken – Und der Geist gewirbelt himmelwärts. Seine Küsse – paradisisch Fühlen! – Wie zwo Flammen sich ergreiffen, wie Harfentöne in einander spielen Zu der himmelvollen Harmonie, Stürzten, flogen, raßten Geist und Geist zusammen, Lippen, Wangen brannten, zitterten, – Seele rann in Seele – Erd und Himmel schwammen Wie zerronnen, um die Liebenden. Er ist hin – vergebens ach! vergebens Stöhnet ihm der bange Seufzer nach. Er ist hin – und alle Lust des Lebens Wimmert hin in ein verlornes Ach! – (NA 3, S. 73 f.)

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Die melodramatischen Elemente in der Schauspiel-Fassung sind bemerkenswert, da diese Fassung als Lesedrama konzipiert ist³⁵ und Schiller in der Vorrede zur ersten Auflage die Tauglichkeit des Textes zur Inszenierung auf der Theaterbühne explizit in Frage gestellt hatte. In der Mannheimer Bühnenbearbeitung sind dann sämtliche Lied-Passagen getilgt. Es stellt sich die Frage, (1) wie Musik im schriftlich fixierten Dramentext repräsentiert ist und (2) welche Funktionen der Musik sich aus der impliziten Wirkungspoetik des primär für die Lektüre vorgesehenen Textes rekonstruieren lassen.³⁶ Zur Repräsentationsform lässt sich sagen, dass musikalische Ausdrucksformen durch phonologische Stilfiguren wie Reim („Wonne […] / Sonne“), Alliteration („voll Walhalla’s Wonne“ / „himmelvollen Harmonie“ / „Lust des Lebens“) oder Anapher (Schön wie Engel […] / Schön vor allen […]“) sprachlich nachgeahmt werden³⁷, sodass also auch bei der Lektüre ein klanglicher Eindruck entsteht. Diese sprachliche Repräsentation von Musikalität kann als Strategie aufgefasst werden, die Aufmerksamkeit des Rezipienten im äußeren Kommunikationssystem auf die emotive Signifikanz der im abgedruckten Liedtext sprachlich repräsentierten Sachverhalte zu lenken. In der Szene IV/5 wird der Instrumentalmusik die semantische Funktion der gesprochenen Sprache als eines Mediums für die Übermittlung semantischer Gehalte zugewiesen, insofern der als Graf verkleidete Karl durch das Lautenspiel seine wahre Identität zu erkennen und Amalia damit zu verstehen gibt, dass er ein „Todschläger“ und Amalia „ein unglükliches Mädgen“ (NA 3, S. 102) ist: AMALIA. (froh aufhüpfend) Ha! wie bin ich ein glükliches Mädgen! Mein einziger ist Nachstrahl der Gottheit, und die Gottheit ist Huld und Erbarmen! Nicht eine Fliege konnt er leiden sehen – Seine Seele ist so fern von einem blutigen Gedanken, als fern der Mittag von der Mitternacht ist. MOOR (kehrt sich schnell um, in ein Gebüsch, blikt starr in die Gegend). AMALIA. (singt und spielt auf der Laute). Willst dich, Hektor, ewig mir entreissen, Wo des Aeciden mordend Eisen Dem Patroklus schröklich Opfer bringt? Wer wird künftig deinen Kleinen lehren Speere werfen und die Götter ehren, Wenn hinunter dich der Xanthus schlingt? MOOR (nimmt die Laute stillschweigend und spielt). Theures Weib geh, hol die Todeslanze –

 Zu den soziohistorischen Bedingungen des Melodramas im 18. Jahrhundert vgl.Volker Corsten:Von heißen Tränen und großen Gefühlen. Funktionen des Melodramas im „gereinigten“ Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1999 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 1727), S. 2– 16.  Der Frage, weshalb Schiller für die Bühnenfassung gerade die melodramatischen Passagen streicht, wird hier nicht nachgegangen.  Zu dieser und anderen Formen des Verhältnisses zwischen Literatur und Musik vgl. Lubkoll: Musik, S. 378 – 382 sowie Vratz, S. 48 – 50.

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Laß – mich fort – zum wilden Kriegestanze – (Er wirft die Laute weg, und flieht davon). (NA 3, S. 102 f.)

Dabei erweist sich die Instrumentalmusik neben Gestik und Mimik („kehrt sich schnell um, in ein Gebüsch, blikt starr in die Gegend“) als nonverbale Repräsentationsform von fiktional bestehenden Sachverhalten und deren emotiver Signifikanz. Das prompte Abwenden und der starre Blick Karls als Reaktionen auf Amalias Apotheose des totgeglaubten Geliebten verweisen symbolisch auf den fiktional bestehenden Sachverhalt, dass Karl in Wirklichkeit ein Mörder ist, und repräsentieren gleichzeitig die emotionale Einstellung Karls gegenüber diesem Sachverhalt im Sinne der eloquentia corporis. ³⁸ Die Ersetzung der Verbalsprache durch physische und musikalische Ausdrucksmittel weist die Disposition auf, die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz des fiktional bestehenden Sachverhalts zu lenken, insofern diese Repräsentationsformen auf eine sprachlich nicht (adäquat) repräsentierbare Bedeutsamkeit des Sachverhalts verweisen. Es kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sich aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas Die Räuber inhaltliche und mediale Strategien für die Affekterzeugung rekonstruieren lassen, also Strategien, die die Disposition zur Affekterzeugung aufweisen. Eine inhaltliche Dramatisierungsstrategie besteht aus der Darstellung von Leiden (1) als Diapathie, d. h. als Leiden eines ego durch ein alter, (2) als Sympathie, d. h. als Leiden eines ego mit einem alter. Eine mediale Dramatisierungsstrategie besteht aus der repetitiven sprachlichen Repräsentation fiktional bestehender oder fiktional nicht bestehender Sachverhalte. Diese Reformulierungen weisen die Disposition zur Fixierung der Aufmerksamkeit auf der emotiven Signifikanz, d. h. der emotiven Bedeutsamkeit des Sachverhalts, auf. Singuläre Aussagen von spezifischen Sachverhalten weisen eine emotive Signifikanz auf, wenn es sich dabei um emotive Werturteile handelt, d. h. wenn mit dem Akt des Aussagens eine Beurteilung der emotionalen Qualität des Sachverhalts verknüpft ist und entsprechend eine emotive Botschaft vermittelt wird. Diesen Dramatisierungsstrategien lassen sich die proximate Funktion der Vermittlung emotiver Botschaften und die ultimate Funktion der Affekterzeugung zuschreiben. Die Darstellung von Emotionen im inneren Kommunikationssystem ist komplex, insofern es sich bei solchen Emotionen um differenzierte Emotionsprogramme handelt, an denen sowohl kognitive als auch emotive Prozesse beteiligt sind. Zu den Strategien für die Affekterzeugung gehört die nonverbale (körperliche oder musikalische) Repräsentation von Sachverhalten, insofern diese Repräsentationsformen die Disposition aufweisen, die Aufmerksamkeit durch den Hinweis auf ein Defizit der Verbalsprache auf die sprachlich nicht adäquat repräsentierbare emotive Signifikanz von entsprechenden Sachverhalten zu lenken.

 Zum Prinzip der eloquentia corporis vgl. das Kapitel 4.2.2.2 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

4.1.3 Kognitive Funktionen 4.1.3.1 Initiation einer kritischen Reflexion: Affektpoetologie Die aus affekttheoretischer Sicht idealen emotiven Kommunikationsmuster werden insbesondere in der als Lesedrama konzipierten Schauspiel-Fassung der Räuber nicht nur simuliert, sondern auch thematisiert.³⁹ Da es sich bei solchen Thematisierungen jeweils um eine metadramatische Kommentierung der dramatischen Affektpoetik handelt, bezeichne ich das Phänomen als Affektpoetologie. Entsprechend lassen sich aus der impliziten Wirkungspoetik neben solchen Dramatisierungsstrategien, die die Disposition zur Affekterzeugung aufweisen und Bestandteil der impliziten Affektpoetik sind, auch solche Strategien rekonstruieren, die eine kritische Reflexion auf affekttheoretische Kommunikationsschemata initiieren. Die Initiation solcher metadramatisch-affektpoetologischer Reflexionen ist u. a. an Strategien der Sympathielenkung gekoppelt. Im Zuge der Konzeption der Figur „Franz von Moor“, bei deren Darstellung es sich um die perceptio praegnans eines lasterhaften Menschen handelt⁴⁰, wird die Affekttheorie als materialistisches, die Kalkulierbarkeit des menschlichen Emotionsapparats voraussetzendes Instrument für die Manipulation der Mitmenschen dargestellt. Die Ideologie⁴¹ von Franz konstituiert sich insbesondere durch eine materialistische Auffassung des menschlichen Körpers als „Maschine“ (NA 3, S. 38), in der sich Emotionen in der Form von „mechanischen Schwingungen“ (NA 3, S. 38) äußern. Die Konsequenz einer solchen materialistischen Auffassung des Menschen als Automat, in dem Geist und Körper mechanisch ineinander verzahnt sind, sodass „der überladene Geist […] sein Gehäuse“ (NA 3, S. 38) zerstört, ist der Glaube an die Manipulierbarkeit dieser Mechanik: „Wie denn nun? – Wer es verstünde, dem Tod diesen ungebahnten Weg in das Schloß des Lebens zu ebenen! – den Körper vom Geist aus zu verderben […]“ (NA 3, S. 38 f.). Die Zuweisung bestimmter Eigenschaften zu bestimmten Affekten suggeriert die Existenz eines Gefühlsregisters, durch dessen korrekte ‚Bedienung‘ intendierte Effekte evoziert werden können: Und wie ich nun werde zu Werk gehen müssen, diese süsse friedliche Eintracht der Seele mit ihrem Leibe zu stören? Welche Gattung von Empfindnissen ich werde wählen müssen? Welche wohl den Flor des Lebens am grimmigsten anfeinden? Zorn? – dieser heißhungrige Wolf frißt sich zu schnell satt – Gram? – Dieser Wurm nagt mir zu langsam – Sorge? diese Natter schleicht mir zu

 Diesen Sachverhalt konstatiert und analysiert bereits Steffen Martus: Schillers Metatheater in Die Räuber – mit einem Seitenblick auf Lessings Emilia Galotti. In: Peter-André Alt, Marcel Lepper und Ulrich Raulff (Hg.): Schiller, der Spieler. Göttingen 2013, S. 126 – 144 sowie ders.: Enttäuschung am Anfang. Aufmerksamkeitssteuerung in Schillers Die Räuber. In: Claude Haas und Andrea Polaschegg (Hg.): Der Einsatz des Dramas. Dramenanfänge, Wissenschaftspoetik und Gattungspolitik. Freiburg i. Br. 2012 (Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae. Bd. 129), S. 317– 336.  Zur Darstellung einer Figur als perceptio praegnans vgl. das Kapitel 4.1.3.2 dieser Untersuchung.  Zum Begriff der Ideologie in Abgrenzung zu demjenigen der Philosophie bzw. philosophischen Theorie vgl. das Kapitel 4.1.3.2.3 dieser Untersuchung.

4.1 Die Räuber

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träge – Furcht? – die Hofnung läßt sie nicht umgreiffen – was? Sind das all die Henker des Menschen? – Ist das Arsenal des Todes so bald erschöpft? – (tiefsinnend). Wie? – Nun? – Was? Nein! – Ha! (auffahrend). Schrek! – Was kann der Schreck nicht? – Was kann Vernunft, Religion wider diese Giganten eißkalte Umarmung? – Und doch? – Wenn er auch diesem Sturm stünde? – Wenn er? – O so komme du mir zur Hülfe Jammer, und du Reue, höllische Eumenide, grabende Schlange, die ihren Fraß wiederkäut, und ihren eigenen Koth wiederfrißt; ewige Zerstörerinnen und ewige Schöpferinnen eures Giftes, und du heulende Selbstverklagung die du dein eigen Hauß verwüstest, und deine eigene Mutter verwundest – Und kommt auch ihr mir zu Hülfe wohlthätige Grazien selbst, sanftlächelnde Vergangenheit, und du mit dem überquellenden Füllhorn blühende Zukunft, haltet ihm in euren Spiegeln die Freuden des Himmels vor, wenn euer fliehender Fuß seinen geizigen Armen entgleitet – So fall ich Streich auf Streich, Sturm auf Sturm dieses zerbrechliche Leben an, bis den Furientrupp zulezt schließt – die Verzweiflung! Triumf! Triumf! – Der Plan ist fertig […]. (NA 3, S. 39 f.)

Die emotionalen Reaktionen des alten Moor auf die Nachricht, Karl sei in einer Schlacht in Verzweiflung gestorben, laufen exakt nach dem affekttheoretischen Schematismus ab, den Franz in seinem Monolog theoretisch skizziert, sodass sich sein mechanistisches Menschenbild hier also bestätigt. Die Korrespondenzen zwischen den theoretisch beschriebenen und den tatsächlich eintretenden Affekten werden durch verschiedene Darstellungsweisen vermittelt, nämlich einerseits durch explizite oder implizite Informationen im Nebentext und andererseits durch explizite Aussagen innerhalb der Figurenrede als Selbst- oder Fremdkommentar oder implizit durch affekttypische Reaktionen, die im oben erläuterten Sinn die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz der ausgesagten Sachverhalte lenken. Die von Franz von Moor im oben zitierten Monolog erwähnte „Selbstverklagung“ äußert sich beispielsweise in der Selbstbeschimpfung des alten Moor, der sich als „Ungeheuer“ (NA 3, S. 49) bezeichnet. Der Affekt der Reue zeigt sich in der Klage des alten Moor, dass er seinen Sohn Karl „nimmer aus seinem Grabe zurükholen“ (NA 3, S. 49) könne. Über die finale Verzweiflung, von der sich Franz eine tödliche Wirkung erhofft, informieren sowohl der Nebentext („voll Verzweiflung hin und her geworfen im Sessel“ [NA 3, S. 50]) als auch die Figur selbst: „Verzweifeln aber nicht sterben!“ (NA 3, S. 50) Der Jammer, der sich in den Ausrufen des alten Moor manifestiert, wird im Fremdkommentar Herrmanns expliziert: „Den Jammer steh ich nicht aus.“ (NA 3, S. 48) Der in dieser Szene dargestellte materialistisch-affekttheoretische Schematismus, der aus einem scheinbar automatisierten Kausalnexus zwischen bestimmten Strategien der Affekterzeugung und entsprechenden emotionalen Effekten besteht, korrespondiert cum grano salis dem emotiven Kommunikationsmodell Schillers, das aus seinen poetologischen Ausführungen im Bauerbacher Brief abstrahiert wurde.⁴² Dabei besteht die Korrespondenz in der Idee einer Synchronisation der Emotionen, d. h. der mehr oder weniger zeitgleichen Abstimmung des Emotionsprogramms eines ego mit dem Emotionsapparat eines alter. Dieser Idee entsprechend lässt Franz seinen Bruder Karl in der erfundenen Geschichte bereits „in Verzweiflung“ (NA 3, S. 47) sterben.

 Vgl. das Kapitel 3.2.2.9 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Die Funktion der Affekterzeugung wird innerhalb des inneren Kommunikationssystems also an die Strategie gekoppelt, Affekte sprachlich zu repräsentieren, um sie dadurch kausal zu erwecken. Die Erwähnung des Affekts der Verzweiflung erweist sich im materialistisch-affekttheoretischen Schematismus als Initiator für die Übernahme dieses Affekts in den Emotionsapparat des Rezipienten. Es kann bis anhin festgehalten werden, dass die Darstellung des affekttheoretischen Schematismus als Instrument für die intrigante Manipulation der Mitmenschen die Disposition zur Initiation einer kritischen Reflexion auf diesen Schematismus aufweist. Dabei ist die Initiation einer solchen kritischen Haltung gegenüber dem Schematismus an Strategien der Sympathielenkung gekoppelt, insofern die Repräsentation einer solchen Affektpoetik durch eine antipathetisch konzipierte Figur eine negative oder zumindest kritische Beurteilung dieser Lehre nahelegt. Diese Kritik bestünde dann in einem Hinweis des primären Sprechers auf das Gefahrenpotential eines automatisierten emotiven Mechanismus, der auf der Synchronisation von Emotionen beruht. Die kognitive Funktion, im äußeren Kommunikationssystem eine kritische Reflexion auf den Schematismus der Affektpoetik zu initiieren, ist an die inhaltliche Dramatisierungsstrategie gekoppelt, den Missbrauch des Schematismus für unlautere Zwecke im inneren Kommunikationssystem darzustellen. Während der Rezipient in der Szene II/2, in der Franz und Herrmann Karls Tod fingieren, einen Informationsvorsprung gegenüber den Opfern der Verstellung, dem alten Moor und Amalia, hat, wird er in der ersten Szene des Dramas erst im Nachhinein über Franz’ Verstellungskünste aufgeklärt. Eine solche Verzögerung in der Informationsvergabe weicht von der im achtzehnten Jahrhundert etablierten dramaturgischen Praxis ab, den Rezipienten laufend von allen fiktional bestehenden Sachverhalten in Kenntnis zu setzen. So empfiehlt beispielsweise Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie mit Diderot, aus dessen theatertheoretischer Schrift De la poésie dramatique er zitiert, dass für den Rezipienten stets „alles klar“ sein müsse: „Er ist der Vertraute einer jeden Person; er weiß alles was vorgeht, alles was vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts bessers tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll“⁴³, denn „unser Anteil wird umso lebhafter und stärker sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben.“⁴⁴ Lessings Gebot gründet auf der Auffassung der Rationalen Ästhetik, dass nur dasjenige einen negativen Affekt wie Furcht oder Mitleid evoziere, das klar erkannt werden könne. Ohne diese Bedingung kommt auch Baumgarten zufolge kein Affekt, weder als Begierde noch als Zurückweisung, zustande: Vieles Schlechte kann ich nicht zurückweisen, 1) das unbekannte, 2) das mir gänzlich gleichgültige, 3) das irrtümlich gefallende, 4) auch mißfallendes, aber gar nicht vorhergesehenes,

 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück, S. 453.  Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück, S. 452.

4.1 Die Räuber

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5) ferner auch vorhergesehenes Schlechtes, das ich aber als durch keine Bemühung meinerseits zu verhindern erwarte.⁴⁵

Gemäß der epistemologischen Psychologie der Rationalen Ästhetik evoziert der Wissensvorsprung gegenüber einer unschuldig leidenden Figur einen negativen Affekt im Sinne Baumgartens als Zurückweisung einer extensiv klaren Vorstellung⁴⁶: „Was ich zurückweise, sehe ich 1) vorher, erwarte ich 2) als durch eine bestimmte Bemühung meinerseits zu verhindern, 3) mißfällt.“⁴⁷ Die durch die zeitlich verzögerte Informationsvergabe initiierte Erkenntnis, dass es sich bei den emotionalen Reaktionen von Franz bloß um fingierte Emotionen handelt, generiert einen Illusionsbruch, insofern der auf dem stimulus-response-Prinzip basierende emotive Schematismus durch die Darstellung seiner Manipulierbarkeit ent-routinisiert bzw. entautomatisiert wird. Diese Ent-Automatisierung weist die Disposition auf, den Fokus der Aufmerksamkeit vom Inhalt der fiktiven Welt abzuziehen und auf die Darstellungsform dieses Inhalts, d. h. die Dramaturgie, zu lenken. Die verzögerte Informationsvergabe kann als mediale Strategie aufgefasst werden, eine aufmerksame ReLektüre des bis anhin Gelesenen zu veranlassen, und zwar aufmerksam in dem spezifischen Sinn, dass die Aufmerksamkeit jetzt auf die emotionalen Reaktionen Franzens gerichtet wird, die bei der ersten Lektüre noch unreflektiert als in den emotiven Schematismus passende Affekte rezipiert wurden. Bei einer solchen ent-automatisierten und fokussierten Lektüre lassen sich denn auch implizite Hinweise auf Franzens Verstellungskünste ausfindig machen, die den Status von affektpoetologischen Elementen haben. Ein solches affektpoetologisches oder metadramatisches Element ist beispielsweise Franzens Kommentar, er wolle „vorerst auf die Seite gehn, und eine Träne des Mitleids vergiessen um meinen verlornen Bruder“ (NA 3, S. 11). Die emotive Signifikanz der sprachlichen Repräsentation eines Affekts wird in diesem Fall durch die Einbettung des Affekts in einen Willensakt kognitiv unterlaufen, insofern die volitionale Steuerung einer Emotion deren Authentizität nivelliert. Die reflektierte Einbettung eines Affekts in einen Willensakt widerspricht der in der epistemologischen Psychologie der Rationalen Ästhetik verbreiteten Auffassung von Affekt als eine auf dem unteren Begehrungsvermögen beruhende und durch anschauende Erkenntnis initiierte „sinnliche Begierde“⁴⁸. Bei einem solchen Willensakt handelt es sich Baumgarten zufolge um eine „vernünftige“ Begierde⁴⁹, die eine „Verstandeseinsicht“⁵⁰ bedingt. Die Koinzidenz von Affekt und Meta-Kognition in der Form einer Willensäußerung ist in der Affekttheorie, deren Theorem eines emotiven Kommunikationsmusters im Drama Die Räuber als Drama-

     

Baumgarten: Metaphysik, § 666, S. 355, meine Hervorhebung, C.G. Vgl. die Ausführungen zu Baumgartens Ästhetik im Kapitel 3.2.2.2.2. Baumgarten: Metaphysik, § 664, S. 353. Baumgarten: Metaphysik, § 677, S. 361. Baumgarten: Metaphysik, § 689, S. 367. Baumgarten: Metaphysik, § 690, S. 369.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

tisierungsstrategie für die Affekterzeugung fiktionsintern simuliert wird⁵¹ und das auch an den schematisierten Reaktionen des alten Moor⁵² vorgeführt wird, nicht vorgesehen. Die metakognitive und metadramatische Aussage der Figur des Franz von Moor kann also bereits als Signal aufgefasst werden, die Aufmerksamkeit auf die Affektdramaturgie des Textes zu richten, die durch diesen affektpoetologischen Kommentar und die Darstellung des affekttheoretischen Schematismus als Manipulationsinstrument zu bedenken gegeben wird. Mit dem Wissen um die Verstellungskünste erweisen sich die schematisierten emotionalen Reaktionen von Franz zusammen mit den ebenso schematisierten rührenden Reden als Persuasionsstrategien, mit denen er – wie der Rezipient erst im Nachhinein erfährt – den „Sohn vom Herzen des Vaters los zu lösen“ (NA 3, S. 18) beabsichtigt. Die Initiation einer kritischen Reflexion auf das Manipulationspotential des affekttheoretischen Automatismus lässt sich noch in weiteren Sequenzen als kognitive Funktion aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas rekonstruieren. Neben der verzögerten Informationsvergabe in der Szene I/1 erweist sich auch die dramaturgische Konstruktion von Informationsvorsprüngen als Strategie für die Lenkung der Aufmerksamkeit auf den affekttheoretischen Schematismus. Ein Beispiel hierfür ist der bereits im Kapitel 4.1.2.1 analysierte Auftritt am Schluss der Szene II/2, der in der für die Mannheimer Bühne bearbeiteten Trauerspielfassung fehlt. In diesem Auftritt bittet der alte Moor Amalia, ihm „den Jammer des verlassenen [Jakob], als er ihn [Joseph] nimmer unter seinen Kindern fand“ (NA 3, S. 51), vorzulesen. Innerhalb des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems korrespondiert die Fokussierung des Emotionsprogramms der biblischen Figur einer Ausblendung des fiktional bestehenden Sachverhalts der biblischen Geschichte, dass die Brüder Josephs ihrem Vater anhand eines manipulierten Beweisstücks den Tod ihres Bruders vortäuschen. Der Aufmerksamkeitsfokus des alten Moor auf dem Emotionsprogramm der biblischen Figur divergiert vom Informationsskopus des Rezipienten, der über das gesamte Spektrum der Ähnlichkeiten zwischen der Geschichte Jakobs und derjenigen des alten Moor informiert ist. Die Darstellung des Aufmerksamkeitsfokus auf dem emotiven Dispositiv der biblischen Figur unter Ausblendung des binnenfiktional bestehenden Sachverhalts, dass die Brüder den Tod Josephs fingieren, weist in Kombination mit der dramaturgischen Konstruktion eines Informationsvorsprungs die Disposition auf, einerseits die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf den automatisierten Affektmechanismus zu lenken, um damit das Rezeptionsverhalten zu ent-automatisieren, und andererseits durch diese Ent-Automatisierung im äußeren Kommunikationssystem eine kritische Reflexion auf den Mechanismus zu initiieren. Die Darstellung von Franzens Reaktion, der „plözlich hinweg“ (NA 3, S. 51) geht, als Amalia dem alten Moor vorliest, wie die Söhne Jakobs mit einem fingierten Beweisstück den Tod Josephs vortäuschen, fungiert als Signal für den Rezipienten, die Binnenerzählung auf die

 Vgl. das Kapitel 4.1.2.1 dieser Untersuchung.  Zum schematischen Verhalten dieser Figur vgl. Martus: Schillers Metatheater, S. 130.

4.1 Die Räuber

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Dramenhandlung zu übertragen. Obwohl der alte Moor als Kenner der Josephsgeschichte ausgewiesen wird, initiiert ihre Vergegenwärtigung durch Amalias Lektüre keine kritische Reflexion der eigenen Situation, weil der Transfer des fiktional bestehenden Sachverhalts der Täuschung auf die eigene Lebenswirklichkeit durch die einseitige Fokussierung auf die emotionale Reaktion Jakobs verhindert wird. Die Fokussierung auf das Emotionsprogramm der biblischen Figur zeigt sich in der emotionalen Reaktion des alten Moor, der den Sachverhalt „ein reissend Thier hat Joseph zerrissen“ (NA 3, S. 52) aufgrund seiner emotiven Signifikanz wiederholt und dabei ausblendet, dass der Sachverhalt fiktional, d. h. innerhalb der fiktiven Welt der Bibelerzählung, nicht besteht, sondern von Jakob bloß für wahr gehalten wird. Genauso wie die Emotionen Jakobs in der Bibel-Geschichte gründen also auch diejenigen des alten Moor auf falschen Überzeugungen und sind daher inadäquat in ihrem Bezug zur Welt.⁵³ In der Selbstrezension, die sich auf die Mannheimer Aufführung der Bühnenbearbeitung bezieht, für die dieser Auftritt gestrichen wurde, kritisiert Schiller die Leichtgläubigkeit des alten Moor als dramaturgischen Fehler: Schlechter bin ich mit dem Vater zufrieden. Er soll zärtlich und schwach sein, und ist klagend und kindisch. Man sieht es schon daraus, daß er die Erfindungen Franzens, die an sich plump und vermessen genug sind, gar zu einfältig glaubt. Ein solcher Charakter kam freilich dem Dichter zu statten, um Franzen zum Zweck kommen zu lassen, aber warum gab er nicht lieber dem Vater mehr Witz⁵⁴, um die Intrigen des Sohnes zu verfeinern? (NA 22, S. 128 f.)

Die bis anhin aus der impliziten Wirkungspoetik der Schauspiel-Fassung rekonstruierten Strategien der Aufmerksamkeitslenkung lassen aber darauf schließen, dass der Konzeption der Figur des alten Moor in dieser Fassung des Dramas die Funktion zukommt, den affekttheoretischen Schematismus der emotiven Synchronisation im inneren Kommunikationssystem zu illustrieren, ihn als Mechanismus einer einseitigemotiven Informationsreduktion im äußeren Kommunikationssystem zu problematisieren und den Rezipienten dadurch für das eigene Rezeptionsverhalten zu sensibilisieren. Steffen Martus formuliert das Prinzip dieser Sensibilisierungsfunktion in der These, dass das Publikum „durch die Bühne […] für die Bühne gebildet werden soll“⁵⁵. Diese These kann aufgrund der oben erläuterten Sachverhalte noch mit dem Hinweis ergänzt werden, dass sich die Zuweisung einer solchen Erziehungsfunktion vor allem aus der impliziten Wirkungspoetik der als Lesedrama konzipierten Schauspiel-Fassung der Räuber rekonstruieren lässt, sodass es also weniger die Bühne als vielmehr der schriftlich fixierte Dramentext ist, der beim Leser eine kritische Reflexion auf affekttheoretische Schematismen initiieren soll.

 Zur Angemessenheit bzw. Unangemessenheit von Emotionen in Bezug zur Welt (im Sinne Wittgensteins als Gesamtheit von Tatsachen) vgl. Wettstein, S. 61.  Hier im Sinne des epistemischen Vermögens, Ähnliches in vermeintlich Verschiedenem wahrzunehmen (vgl. Kap. 3.2.2.1, Anm. 57).  Martus: Schillers Metatheater, S. 144.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Für die fiktionsinterne Illustration einer einseitigen Fokussierung der emotiven Bedeutsamkeit und der daran gekoppelten Ausblendung der Bedeutung von Sachverhalten findet sich in der Szene III/2 der Schauspiel-Fassung bzw. III/4 der Bühnenbearbeitung ein weiteres Beispiel. Die Reaktionen Karls auf die rührende Rede Kosinskys wurden im Kapitel 4.1.2.1 als diapathetisches Leiden eines ego (Karl) durch ein alter (Kosinsky) interpretiert und in Analogie zur Diapathie des alten Moor in Bezug auf die biblische Figur des Jakob gesetzt. Die Parallelen zwischen diesen beiden fiktionsinternen Simulationen eines emotiven Kommunikationsschemas, bei dem eine emotive Botschaft vermittelt und idealerweise mit dem Emotionsapparat des Empfängers synchronisiert wird, bestehen nicht nur in der diapathetischen Reaktion der Figuren, sondern auch in der unreflektierten Fokussierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Sachverhalte mit emotiver Signifikanz. Karl von Moor reduziert den Informationsskopus von Kosinskys Rede auf die emotive Botschaft, dass dessen Verlobte Amalia ihr Leben „verseufzt und vertrauert“ (NA 3, S. 86), und verlinkt diesen emotiv signifikanten Sachverhalt mit der Situation seiner eigenen Amalia: „sie weint, sie vertrauert ihr Leben“ (NA 3, S. 86). Während der alte Moor in seiner auf das Emotionsprogramm Jakobs fokussierten Rezeption ausblendet, dass der zur Trauer Anlass gebende fiktive Sachverhalt in der Bibel-Geschichte nicht besteht, sondern von den Söhnen Jakobs bloß vorgetäuscht wird (genauso, wie Franz durch einen manipulierten Beweis Karls Tod vortäuscht), ignoriert Karl an der Geschichte Kosinskys, dass dieser aufgrund fingierter Briefe gefangen genommen wurde. Neben der fiktionsinternen Simulation eines reduktionistischen emotiven Kommunikationsschemas lassen sich noch weitere inhaltliche Dramatisierungsstrategien rekonstruieren, die die Disposition aufweisen, die kognitive Funktion der Ent-Automatisierung eines etablierten Rezeptionsverhaltens bzw. der Initiation einer kritischen Reflexion auf affektdramaturgische Mechanismen zu erfüllen. Zu diesen Strategien gehört etwa auch die Darstellung einer gescheiterten Kommunikation zwischen Spiegelberg und Karl in der Szene I/2 der Schauspiel-Fassung. Spiegelberg versucht, Karl davon zu überzeugen, dass „die Kräfte wachsen in der Noth“ (NA 3, S. 23), und erzählt ihm zu diesem Zweck eine Anekdote aus seiner Kindheit: Komm, laß dir ein Stükchen aus meinen Bubenjahren erzählen. Da hatt ich neben meinem Hauß einen Graben, der, wie wenig, seine acht Schuh breit war, wo wir Buben uns in die Wette bemühten hinüber zu springen. Aber das war umsonst. Pflumpf! lagst du, und ward ein Gezisch und Gelächter über dir, und wurdest mit Schneeballen geschmissen über und über. Neben meinem Hauß lag eines Jägers Hund an einer Kette, eine so bißige Bestie, die dir die Mädels wie der Bliz am Rokzipfel hatte, wenn sie sichs versahn, und zu nah dran vorbey strichen. Das war nun mein Seelengaudium, den Hund überall zu necken wo ich nur konnte, und wollt halb krepiren vor Lachen wenn mich dann das Luder so giftig anstierte, und so gern auf mich losgerannt wär, wenns nur gekonnt hätte. – Was geschieht? ein andermal mach ichs ihm auch wieder so, und werf ihn mit einem Stein so derb an die Ripp, daß er vor Wuth von der Kette reißt und auf mich dar, und ich wie alle Donnerwetter reißaus und davon – Tausend Schwerenoth! Da ist dir just der vermaledeyte Graben dazwischen. Was zu thun? Der Hund ist mir hart an den Fersen und wüthig, also kurz resolvirt – ein Anlauf genommen – drüben bin ich. Dem Sprung hatt ich Leib und Leben zu danken; die Bestie hätte mich zu Schanden gerissen. (NA 3, S. 22 f.)

4.1 Die Räuber

107

Die Kommunikation misslingt insofern, als Karl die parabolisch verschlüsselte Aussage nicht decodieren kann, weil er die Exemplarizität der erzählten Geschichte nicht erkennt, die Geschichte also nicht als Parabel rezipiert. Die Darstellung einer misslungenen Kommunikation weist hier die Disposition auf, die Aufmerksamkeit auf das parabolische Verfahren selbst zu lenken, die in der Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts etablierte Wahrnehmungspraxis der anschauenden Erkenntnis zu entautomatisieren und dadurch eine kritische Reflexion auf diese Praxis zu initiieren. Parabolisches Erzählen, das der Theorie Lessings zufolge die anschauende Erkenntnis einer allgemeinen Aussage initiiert⁵⁶, erweist sich im inneren Kommunikationssystem als hermeneutischer Problemfall, insofern diese Art exemplarisch-vergegenwärtigenden Erzählens ein Potential für Missverständnisse aufweist. Ein Blick in die poetologischen Diskussionen und poetischen Praktiken der Aufklärung zeigt, dass die kritische Reflexion auf die ästhetische Initiation anschauender Erkenntnis in Schillers Erstlingsdrama kein Novum darstellt. Bereits Mendelssohn moniert in der ästhetischen Schrift Von der Herrschaft über die Neigungen die Irrtumsanfälligkeit der anschauenden Erkenntnis, die „trüglich“ sei, „weil unsre Urtheilskraft leicht verführt werden kann, wenn sie sich mit Exempeln ohne Beweis begnügt“⁵⁷. Er sieht in der anschauendenden Erkenntnis auch ein mnemotechnisches Defizit, insofern sie „nicht so leicht in das Gedächtniß zurück[komme], wenn ihr Gegenstand abwesend ist, und vielmehr das Object einer sinnlichen Lust, eines Scheinguts, auf die Sinne wirkt“⁵⁸. Auch aus der impliziten Wirkungspoetik von Lessings Aufklärungsdrama Nathan der Weise lässt sich die kognitive Funktion der Initiation einer kritischen Reflexion auf das in der Fabeltheorie profilierte Reduktionsprinzip rekonstruieren, bei dem ein abstrakter Allgemeinbegriff auf einen konkreten Einzelfall reduziert wird. Lessing veranschaulicht in seinem Ideendrama⁵⁹ die hermeneutische Unzuverlässigkeit anschauender Erkenntnis, wenn dem Sultan Saladin Nathans parabelhaft verschlüsselte Antwort auf die Frage nach der wahren Religion vorerst unklar ist und erst durch die begrifflich-diskursive Entschlüsselung klar wird. Die Transferleistung, die Erzählung von den drei Ringen auf die Frage nach der wahren Religion zu übertragen, gelingt dem Sultan vorerst nicht, weil er zwischen den Ringen und den Weltreligionen kein tertium comparationis ausmachen kann. Nathans Explikation des tertium comparationis weist die Disposition auf, den Fokus der Aufmerksamkeit vom Inhalt des Ring-„Geschichtchen[s]“⁶⁰ abzuziehen und auf den Funktionsmechanismus der parabolischen Erzählung zu lenken:

 Vgl. das Kapitel 3.2.2.2.4 dieser Untersuchung.  Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen, S. 153.  Mendelssohn: Von der Herrschaft über die Neigungen, S. 153.  Zu diesem gattungstheoretischen Begriff vgl. das Kapitel 4.3.3.2.1 dieser Untersuchung.  Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. In: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 9: Werke 1778 – 1780, hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker. Bd. 94), S. 483 – 627; hier S. 555, V. 391.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

NATHAN. Ich bin zu Ende. Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. – Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder Mit seinem Ring’, und jeder will der Fürst Des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht Erweislich; – (nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet): Fast so unerweislich, als Uns itzt – der rechte Glaube. SALADIN. Wie? das soll Die Antwort sein auf meine Frage? … NATHAN. Soll Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe, Mir nicht getrau zu unterscheiden, die Der Vater in der Absicht machen ließ, Damit sie nicht zu unterscheiden wären. SALADIN. Die Ringe! – Spiele nicht mit mir! – Ich dächte, Daß die Religionen, die ich dir Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung; bis auf Speis und Trank! NATHAN. Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht. – Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden? – Nicht? – Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? Doch deren Blut wir sind? doch deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? die uns nie getäuscht, als wo Getäuscht zu werden uns heilsamer war? – Wie kann ich meinen Vätern weniger, Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt. – Kann ich von dir verlangen, daß du deine Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht Zu widersprechen? Oder umgekehrt. Das nemliche gilt von den Christen. Nicht? – SALADIN (Bei dem Lebendigen! Der Mann hat Recht. Ich muss verstummen.)⁶¹

Aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas Die Räuber lassen sich also sowohl Strategien für die Evokation von Affekten als auch Strategien für die Initiation einer kritischen Reflexion auf affekttheoretische Schematismen rekonstruieren. Zu den Strategien für die Evokation von Affekten gehören insbesondere die metakommunikative, fiktionsinterne Simulation von affekttheoretisch idealen Kommunikations-

 Lessing: Nathan der Weise, S. 557 f., V. 441– 476.

4.1 Die Räuber

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mustern, die sich durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz von fiktiven Sachverhalten bzw. die Vermittlung emotiver Botschaften konstituieren. Zu den Strategien für die Initiation einer kritischen Reflexion auf affekttheoretische Schematismen gehören metatheatrale Kommentare im inneren Kommunikationssystem, eine intransparente Informationsvergabe sowie die fiktionsinterne Illustration hermeneutischer Probleme beim parabolischen Erzählen. Diese Strategien weisen jeweils die Disposition zur Ent-Routinisierung und Ent-Automatisierung soziokulturell etablierter Rezeptionsgewohnheiten auf, sodass sich die implizite Wirkungspoetik durch ein Spannungsverhältnis zwischen emotionalem und rationalem Verstehen konstituiert. Vor dem Hintergrund der Poetologie und poetischen Praxis in der Aufklärung, an denen sich Schiller orientiert hat, sowie Schillers Kommentar in der Vorrede zur Erstausgabe der Räuber kann dieses Spannungsverhältnis als ästhetische Auseinandersetzung mit der Affekt-Dramaturgie des Barock und der epistemologischen Psychologie der Rationalen Ästhetik nach Baumgarten aufgefasst werden.

4.1.3.2 Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis: Figurenkonzeptionen als perceptiones praegnantes Wie im ersten Teil dieser Untersuchung bereits gezeigt wurde, hat Schiller die Protagonisten seines dramatischen Erstlings in den poetologischen Peritexten auf der Grundlage eines Prototypikalitätsvertrags als perceptiones praegnantes im Sinne detail- und sinnreicher Darstellungen abstrakter Begriffe ausgewiesen.⁶² Im Folgenden geht es entsprechend nicht um eine Beurteilung der Adäquatheit von Figurendarstellungen als perceptiones praegnantes, sondern um die Rekonstruktion von Strategien der Eigenschaftszuweisung, von der angenommen wird, dass sie aufgrund eines Prototypikalitätsvertrags geschieht. Es geht also vorab um die Frage, inwiefern es sich bei der Konzeption von Dramenfiguren um perceptiones praegnantes handelt.

4.1.3.2.1 Extensivierung der Klarheit einer perceptio praegnans durch eigenschaftstypisches Handeln Eine erste Antwort auf die Frage nach den Techniken zur Darstellung einer Dramenfigur als perceptio praegnans lautet, dass sich aus den Handlungsintentionen und (Sprach‐)Handlungen⁶³ der Figuren ein bestimmtes Handlungsmuster oder Handlungsschema ableiten lässt. Ein solches Handlungsmuster oder Handlungsschema ergibt sich, insofern die Pläne und effektiven Handlungen einer Figur in einem ästhetischen Funktionszusammenhang stehen und dadurch die Disposition aufweisen, auf ein gemeinsames Allgemeines zu verweisen. Genau genommen verweisen

 Vgl. das Kapitel 3.2.2.5 dieser Untersuchung.  Wo nicht anders vermerkt, verwende ich im Folgenden einen pragmatischen Begriff von Handeln im Sinne von (performativem) Sprachhandeln.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

aber nicht die Handlungen der Figuren auf ein Allgemeines, sondern die Figuren handeln in einer Weise, die als typisch für eine allgemeinmenschliche Eigenschaft ausgewiesen werden kann und deren Eigenschaftsbezeichnung aus den Handlungen erst durch Interpretation abstrahiert werden muss. So kann beispielsweise das Verhalten des Franz von Moor gegenüber seinem Vater mit den Prädikaten „hinterlistig“, „bösartig“, „intrigant“ usw. bestimmt, also mit solchen Eigenschaftsbezeichnungen umschrieben werden, die sich auf derselben Isotopie-Ebene befinden und auf das gemeinsame prädikative Allgemeine „lasterhafter Mensch“ verweisen. Franz wird als verschlagener und in der Verstellung versierter Mensch dargestellt, der die Glaubenssätze der christlichen Religion und die Prämissen der Empfindsamkeit als Persuasionsstrategien instrumentalisiert. Bei seiner Argumentation für die väterliche Verstoßung des Bruders Karl in der Szene I/1 baut er auf die rhetorische Suggestionskraft des Vergleichs: Er ist euer Augapfel gewesen bisher, nun aber, ärgert dich dein Auge, sagt die Schrift, so reiß es aus. Es ist besser einäugig gen Himmel, als mit zwey Augen in die Hölle. Es ist besser Kinderlos [sic] gen Himmel, als wenn beyde Vater und Sohn in die Hölle fahren. (NA 3, S. 16)

Dabei kann die Intensivierung dieser Eigenschaftszuweisung durch den dramaturgischen Kunstgriff, den Rezipienten erst nach dem Dialog mit dem Vater über die eigentlichen Absichten der Figur aufzuklären, als Dramatisierungsstrategie zur semantischen Akzentuierung dieses Figurenprofils aufgefasst werden. Zum Handlungsmuster der Figur „Franz von Moor“ gehören auch die intriganten Handlungen wie das Fingieren der Briefe oder die Instrumentalisierung Herrmanns, den Franz gegen Karl aufwiegelt und den er dadurch zur Mithilfe an der Vortäuschung von dessen Tod überredet. Das Handlungsmuster der Figur „Franz von Moor“ konstituiert sich außerdem durch die Explikation solcher Handlungsabsichten, die mit denselben oder ähnlichen Eigenschaftsbezeichnungen etikettiert werden können wie die vollzogenen Handlungen. Zu diesen Absichten gehören die familiäre und gesellschaftliche Ausgrenzung des Bruders, die Beseitigung des Vaters oder die Nötigung von Karls Verlobter Amalia: […] auf diese Art erreichen wir alle Zwecke zumal und bald. Amalia gibt ihre Hofnung auf ihn [Karl] auf. Der Alte mißt sich den Tod seines Sohnes bey, und – er kränkelt – ein schwankendes Gebäude braucht des Erdbebens nicht, um über’n Haufen zu fallen – er wird die Nachricht nicht überleben – dann bin ich sein einiger Sohn – Amalia hat ihre Stützen verloren, und ist ein Spiel meines Willens, da kannst du leicht denken – kurz, alles geht nach Wunsch – aber du must dein Wort nicht zurüknehmen. (NA 3, S. 43)

Franz erweist sich sowohl im Bereich des Politischen, wo er die Errichtung einer Tyrannei beabsichtigt, als auch im Bereich des Privaten, wo er Amalia zu Heirat und Beischlaf zwingen will, als despotisch:

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Mein Vater überzuckerte seine Forderungen, schuf sein Gebiet zu einem Familienzirkel um, sas liebreich lächelnd am Thor, und grüßte sie Bruder und Kinder. – Meine Augbraunen [sic] sollen über euch herhangen wie Gewitter-Wolken, mein herrischer Name schweben wie ein drohender Komet über diesen Gebirgen, meine Stirne euer Wetterglas seyn! […] Ich will euch die zakichte Sporen ins Fleisch hauen, und die scharfe Geisel versuchen. – In meinem Gebiet solls so weit kommen, daß Kartoffeln und dünn Bier ein Traktament für Festtage werden, und wehe dem, der mir mit vollen feurigen Backen unter die Augen trit! Blässe der Armuth und sclavischen Furcht sind meine Leibfarbe: in diese Liverey will ich euch kleiden! […] (NA 2, S. 52 f.) […] diese ewige Grille von Karl soll dir [Amalia] mein Anblik gleich einer feuerhaarigen Furie aus dem Kopfe geiseln, das Schrekbild Franz soll hinter dem Bild deines Lieblings im Hinterhalt lauren, gleich dem verzauberten Hund, der auf unterirrdischen Goldkästen liegt – an den Haaren will ich dich in die Kapelle schleifen, den Degen in der Hand, dir den ehlichen Schwur aus der Seele pressen, dein jungfräuliches Bette mit Sturm ersteigen, und deine stolze Schaam mit noch gröserem Stolze besiegen. (NA 3, S. 75)

Neben der Explikation der Handlungsintentionen und der Darstellung von Handlungen werden auch die Reflexionen über die Verwirklichungsmöglichkeiten der Handlungsziele sprachlich repräsentiert. In einer „Planszene“⁶⁴ legt Franz von Moor dar, „wie ich nun werde zu Werk gehen müssen, diese süsse friedliche Eintracht der Seele mit ihrem Leibe [gemeint ist der Vater] zu stören“ (NA 3, S. 39). Die Darstellung einer Dramenfigur als perceptio praegnans einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft (wie z. B. „lasterhaft“) bzw. eines prädikativen Allgemeinen (wie z. B. „lasterhafter Mensch“) besteht also u. a. aus dem szenisch-performativen Ausweisen einer Figur als eines eigenschaftstypisch handelnden Menschen und unterscheidet sich dadurch vom narrativ-deskriptiven Zuweisen von Eigenschaften, wie es Sulzer für die literarischen Gemälde epischer Texte beschrieben hat.⁶⁵ Die Figur des Franz von Moor weist eigenschaftstypische Merkmale auf, die zusammen das Handlungsmuster „lasterhaft“ bzw. „lasterhafter Mensch“ ergeben. Ein solches Handlungsmuster weist auch die Figur des Karl von Moor auf, deren eigenschaftstypisches Verhalten u. a. im Fremdkommentar des Räuberkollegen Razmann in der Szene II/3 beschrieben wird: Er mordet nicht um des Raubes willen wie wir – nach dem Geld schien er nicht mehr zu fragen, so bald ers vollauf haben konnte, und selbst sein Dritteil an der Beute, das ihn von Rechtswegen trift, verschenkt er an Waysenkinder, oder läßt damit arme Jungen von Hoffnung studiren. Aber soll er dich einen Landkjunker schröpfen, der seine Bauren wie das Vieh abschindet, oder einen Schurken mit goldnen Borden unter den Hammer kriegen, der die Geseze falschmünzt, und das Auge der Gerechtigkeit übersilbert, oder sonst ein Herrchen von dem Gelichter – Kerl! da ist er dir in seinem Element, und haußt teufelmäßig, als wenn jede Faser an ihm eine Furie wäre. (NA 3, S. 58)

Die Figur des Karl von Moor erweist sich aber als komplexer als diejenige des Franz von Moor, insofern sich aus den vor allem in Selbst- und Fremdkommentaren be-

 Peter von Matt: Die Intrige. Theorie und Praxis der Hinterlist. München/Wien 2006, S. 152.  Vgl. das Kapitel 3.2.2.5 dieser Untersuchung.

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schriebenen Handlungen Karls ein mehr oder weniger heterogenes Set an charakterlichen Merkmalen wie Freiheitsliebe, Misanthropie, Nihilismus, Gerechtigkeitsaffinität oder Melancholie abstrahieren lässt, das nicht einfach mit der Bezeichnung einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft zusammengefasst werden kann. Dies lässt darauf schließen, dass der Darstellung dieser Figur (noch) eine andere Funktion zukommt als die konkrete Veranschaulichung einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft als einer perceptio praegnans. Zusammenfassend lässt sich bis anhin sagen, dass es sich bei der Darstellung der Figur des Franz von Moor um eine perceptio praegnans, d. h. eine extensiv klare Repräsentation im Sinne einer detail- und sinnreichen Darstellung des abstrakten Begriffs Laster bzw. des prädikativen Ausdrucks „lasterhafter Mensch“ handelt, insofern die Figur ein Handlungsmuster aufweist, das auf semantisch homogene Eigenschaften schließen lässt. Die Darstellung der Figur als perceptio praegnans eines allgemeinen Begriffs besteht also nicht aus der Explikation wesentlicher oder typischer Teileigenschaften, sondern aus der Illustration solcher Eigenschaften. Dabei kann die semantische Homogenität der durch eigenschaftstypisches Verhalten illustrierend aufgewiesenen Teileigenschaften als implizites Transfersignal aufgefasst werden, die semantisch ähnlichen Eigenschaften unter einem gemeinsamen Allgemeinen zu subsumieren. Die Darstellung solcher Handlungsmuster weist durch dieses Transferoder Applikationspotential die Disposition auf, die kognitive Funktion der Kenntnisvermittlung zu erfüllen, d. h. den Rezipienten mit einem bestimmten Menschentypus bzw. mit einer bestimmten allgemeinmenschlichen Eigenschaft bekannt zu machen, indem die „Mechanik“ des „Lastersystems“ (NA 3, S. 6 sowie NA 22, S. 123) und dessen „Räderwerk“ (NA 20, S. 97) ‚durch Handlung‘⁶⁶ vergegenwärtigt werden. Die Konzeption der Figur als produktionsästhetische perceptio praegnans ⁶⁷ ist damit eine Strategie für die Vermittlung einer nicht-propositionalen, phänomenalen Kenntnis, wie sich eine bestimmte Eigenschaft der condicio humana in den Handlungen eines Menschen äußern kann.

4.1.3.2.2 Extensivierung der Klarheit einer perceptio praegnans durch eigenschaftstypisches Denken Die figurale perceptio praegnans einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft konstituiert sich nicht nur durch eigenschaftstypische Verhaltensweisen, sondern auch durch eine eigenschaftstypische Denkweise, die ebenfalls zur Extensivierung der perceptio praegnans beiträgt. Diese Denkweise konstituiert sich durch eine bestimmte Wertekonstellation. Dabei handelt es sich um ein System von Meinungen und Überzeu Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2010 (RUB. Bd. 7828), Kapitel 5, S. 19. Im Kapitel 6 heißt es entsprechend, die Tragödie sei „nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit“ (Aristoteles, Kapitel 6, S. 21).  Zu diesem Begriff vgl. das Kapitel 3.2.2.2.2 dieser Untersuchung.

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gungen, die in der Form von subjektiven Werturteilen repräsentiert werden. Ein solches Denksystem ist im ersten Monolog des Franz von Moor in der Szene I/1 sprachlich repräsentiert und weist im inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystem drei Funktionen auf: Erstens fungiert es in rhetorischer Hinsicht als Argumentationsmodell für die Legitimation von Handlungen (retrospektiv) und Handlungsintentionen (prospektiv). Dieses Argumentationsmodell besteht aus einer Reihe von Prämissen, die eine spezifische Einstellung zur Welt repräsentieren: Jeder hat gleiches Recht zum Grösten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb, und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beym Ueberwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze. […] Wer nichts fürchtet ist nicht weniger mächtig als der, den alles fürchtet. (NA 3, S. 18 f.)

Das Denksystem fungiert zweitens in pragmatischer Hinsicht als Handlungskatalysator, insofern das Argumentationsmodell einen kausallogischen Begründungszusammenhang suggeriert, der ein Handlungsmotiv abgibt: „Frisch also! mutig ans Werk! Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich seyn, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht (ab).“ (NA 3, S. 20) Das Denksystem fungiert drittens in hermeneutischer Hinsicht als Sinngenerator, insofern die einzelnen Gedankeninhalte für den Besitzer des Denksystems ein Raster zur Verstehbarkeit der Welt bilden. Zu Beginn des Monologs stellt Franz eine Reihe von Fragen nach Gründen für das Sosein seiner Existenz und initiiert dadurch einen Verstehensprozess: Warum bin ich nicht der erste aus Mutterleib gekrochen? Warum nicht der Einzige? Warum mußte sie [gemeint ist die Natur] mir diese Bürde von Häßlichkeit aufladen? gerade mir? Nicht anders als ob sie bey meiner Geburt einen Rest gesezt hätte. Warum gerade mir die Lappländers Nase? Gerade mir dieses Mohrenmaul? diese Hottentotten Augen? […] Wer hat ihr die Vollmacht gegeben jenem dieses zu verleyhen, und mir vorzuenthalten? Könnte ihr jemand darum hofiren, eh er entstund? Oder sie beleidigen, eh er selbst wurde? Warum gieng sie so parteylich zu Werke? (NA 3, S. 18)

Die Argumente, die Franz gegen die Annahme einer emotionalen Bindung durch Blutsverwandtschaft vorbringt, generieren eine als sinnvoll erscheinende, subjektive Weltversion: „Sehet also, das ist die ganze Hexerey, die ihr in einen heiligen Nebel verschleyert, unsere Furchtsamkeit zu mißbrauchen.“ (NA 3, S. 20) Das Denksystem ist außerdem dynamisch, insofern die Konfrontation der von ihm repräsentierten subjektiven Weltsicht mit der fiktiven Lebenswirklichkeit der Figur zu Reflexionen oder auch Revisionen der Denkweise führt. Diese Dynamik von Franzens Denksystem zeigt sich beispielsweise nach dem Traum, dessen apokalyptische Bilder das schlechte Gewissen im Sinne eines moralischen Bewusstseins metaphorisch vergegenständlichen. Der zentrale Gedankeninhalt des Denksystems, die

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nihilistische Entmystifizierung der „menschlichen Bestimmung“ (NA 3, S. 95), wird durch die apokalyptische Metaphorik des Traums in Frage gestellt, sodass Franz an dieser Idee zu zweifeln beginnt: Pöbelweisheit, Pöbelfurcht! – Es ist ja noch nicht ausgemacht, ob das Vergangene nicht vergangen ist, oder ein Auge findet über den Sternen – hum, hum! wer raunte mir das ein? Rächet den droben über den Sternen einer? – Nein, nein! Ja, ja! Fürchterlich zischelts um mich: Richtet droben einer über den Sternen! Entgegen gehen dem Rächer über den Sternen diese Nacht noch! Nein! sag ich – öd, einsam, taub ists droben über den Sternen – wenns aber doch etwas mehr wäre? Nein, nein, es ist nicht! Ich befehle, es ist nicht! wenns aber doch wäre? Weh dir, wenns nachgezählt worden wäre! wenns dir vorgezählt würde diese Nacht noch! – warum schaudert mir’s so durch die Knochen? – Sterben! warum pakt mich das Wort so? Rechenschaft geben dem Rächer droben über den Sternen – und wenn er gerecht ist, Waisen und Wittwen, Unterdrükte, Geplagte heulen zu ihm auf, und wenn er gerecht ist? – warum haben sie mir gelitten, warum hast du über sie triumfiret? – (NA 3, S. 120)

Im anschließenden Dialog mit dem Pastor Moser setzt Franz seine atheistisch-nihilistischen Thesen einer Prüfung aus, indem er den Pastor als Korreferenten bestimmt, der als Repräsentant eines Gottesgläubigen dagegen argumentieren soll: Es ist kein Gott! – Izt red ich im Ernste mit dir, ich sage dir: es ist keiner! du sollst mich mit allen Waffen widerlegen, die du in deiner Gewalt hast, aber ich blase sie weg mit dem Hauch meines Mundes. (NA 3, S. 121)

Franzens Denksystem konstituiert sich durch die Prämissen eines rational-materialistischen Nihilismus: „Ich habs immer gelesen, daß unser Wesen nichts ist als Sprung des Geblüts, und mit dem lezten Blutstropfen zerrinnt auch Geist und Gedanke. […] Empfindung ist Schwingung einiger Saiten, und das zerschlagene Klavier tönet nicht mehr.“ (NA 3, S. 121) Im Verlaufe des Disputs erweist sich das Argumentationsmodell Franzens als unzulänglich, sodass die rationalen Argumentationen sukzessive von emotionalen Reaktionen abgelöst werden: MOSER. […] Er [Gott] wird jede Minute, die ihr ihnen [den Menschen, deren Tod Franz zu verantworten hat] getödtet, jede Freude, die ihr ihnen vergiftet, jede Vollkommenheit, die ihr ihnen versperret habt, von euch fodern dereinst, und wenn ihr darauf antwortet, Moor, so sollt ihr gewonnen haben. FRANZ. Nichts mehr, kein Wort mehr! willst du, daß ich deinen schwarzlebrigen Grillen zu Gebot steh? (NA 3, S. 123)

Nach dem Abgang des Pastors „wirft sich“ Franz „in seinem Sessel herum in schröklichen Bewegungen“, worauf eine „tiefe Pause“ (NA 3, S. 124) folgt. An dieser Stelle wird die allgemeine Eigenschaften illustrierende perceptio praegnans gewissermaßen aufgebrochen, insofern die Figur ein für diese Eigenschaft atypisches Verhalten aufweist. Gemäß dem Prototypikalitätsvertrag würde man erwarten, dass Franz dem Pastor hinterherlacht oder Ähnliches. Das atypische Verhalten der Figur, deren eigenschaftstypisches Denksystem durch die Argumente des

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Pastors depotenziert wird, weist die Disposition zur Vermittlung einer nicht-propositionalen, phänomenalen Erfahrung auf, nämlich der Erfahrung, wie es sein kann, wenn das durch Abstraktionen verdrängte Gewissen reaktiviert wird und zu Gewissensbissen (morderi conscientia)⁶⁸ führt. Es handelt sich sowohl bei der Figurenkonzeption als perceptio praegnans als auch bei der Vergegenwärtigung einer solchen Erfahrung um Strategien für die Erfüllung ethischer Funktionen, wie sie im Kapitel 3.1.2 aus der expliziten Wirkungspoetik Schillers rekonstruiert wurden. Während die Darstellung der Figur als perceptio praegnans der allgemeinmenschlichen Eigenschaft „lasterhaft“ bzw. des prädikativen Allgemeinen „lasterhafter Mensch“ die Disposition zur Sensibilisierung des als anthropologische Konstante vorausgesetzten moral sense aufweist, kann die Vergegenwärtigung der Erfahrung von Gewissensbissen als Strategie für die Evokation von Vergnügen aufgefasst werden. Im ersten Fall wird der moral sense als moralische Beurteilungsinstanz bei den Rezipienten vorausgesetzt, im zweiten Fall wird er im inneren Kommunikationssystem durch die Darstellung einer bestimmten Verhaltensweise veranschaulicht. Die Darstellung der Figur des Franz von Moor generiert also zwei verschiedene Formen der nicht-propositionalen Wie-Kenntnis, nämlich (1) die Kenntnis, wie sich eine bestimmte Eigenschaft der condicio humana in konkreten Handlungen äußern kann, und (2) wie es sein kann, wenn das durch Abstraktionen verdrängte Gewissen als Gewissensbisse reaktiviert wird. Diese beiden proximat-ethischen Funktionen, (1) die Vermittlung einer Kenntnis allgemeinmenschlicher Eigenschaften der condicio humana und (2) die Vermittlung einer Kenntnis von Erfahrungen, lassen sich auch aus der Darstellung der Figur „Karl von Moor“ rekonstruieren. Das materialistische Denksystem der Figur „Franz von Moor“ wird durch ein idealistisch-metaphysisches Denksystem der Figur „Karl von Moor“ kontrastiert. Dieses konstituiert sich durch die Idee einer moralisch vollkommenen Welt, die durch einen gerechtigkeitsstiftenden Gott verwaltet wird. Auch dieses Denksystem erfüllt fiktionsintern die pragmatische Funktion als Handlungskatalysator, insofern Karl im Sinne des Ideals einer sittlich vollkommenen Welt handelt, deren Vollkommenheit er durch seine Taten selbst herzustellen beabsichtig, wie aus dem oben bereits zitierten Fremdkommentar des Räuberkollegen Razmann hervorgeht. Das Argumentationsmodell des Denksystems gründet auf der Denkfigur der poetischen Gerechtigkeit, d. h. der nach ethischen Maßstäben gerechten Verteilung von Lohn und Strafe auf tugendhaft bzw. lasterhaft handelnde Menschen. Die Dynamik des Denksystems ergibt sich durch eine kritische Auseinandersetzung mit der Priorisierung der Gerechtigkeit, deren Herstellung sich in der Praxis als verlustreich und damit moralisch fragwürdig erweist: Höre sie nicht, Rächer im Himmel! – Was kann ich dafür? Was kannst du dafür, wenn deine Pestilenz, deine Theurung, deine Wasserfluten, den Gerechten mit dem Bösewicht auffressen? Wer kann der Flamme befehlen, daß sie nicht auch durch die gesegneten Saaten wüte, wenn sie

 Zu den morderi conscientia vgl. Hans Reiner: Gewissen. In: HWP 3, Sp. 574– 592; hier Sp. 577.

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das Genist der Hornissel zerstören soll? – O pfui, über den Kinder-Mord! den Weiber-Mord – den Kranken-Mord! Wie beugt mich diese That! Sie hat meine schönsten Werke vergiftet – da steht der Knabe, schaamroth und ausgehönt vor dem Auge des Himmels, der sich anmaßte mit Jupiters Keile zu spielen, und Pygmeen niederwarf, da er Titanen zerschmettern sollte – geh, geh! du bist der Mann nicht, das Rachschwerdt der obern Tribunale zu regieren, du erlagst bey dem ersten Griff – hier entsag ich dem frechen Plan, gehe, mich in irgend eine Kluft der Erde zu verkriechen, wo der Tag vor meiner Schande zurüktrit. (er will fliehen). (NA 3, S. 65)

Bei der Darstellung der selbstkritischen Reflexion über die eigene Hybris handelt es sich um eine sympathielenkende Strategie, insofern die hamartia der Selbstüberschätzung die Figur zu einem mittleren Helden macht, dessen gemischter Charakter als Identifikationsangebot für den Rezipienten aufgefasst werden kann. Die situationsdependente Flexibilität des Denksystems zeigt sich in der folgenden Rede der Szene II/3, in der sich Karl gegenüber dem Pastor, der als Abgesandter der Gesetze auftritt, als Rächer der Natur inszeniert, der das positive Recht missachtet, um moralische Gerechtigkeit herzustellen: Bemerken sie die vier kostbare [sic] Ringe, die ich an jedem Finger trage – gehen Sie hin, und richten Sie Punkt für Punkt den Herren des Gerichts über Leben und Tod aus, was sie sehen und hören werden – diesen Rubin zog ich einem Minister vom Finger, den ich auf der Jagd zu den Füssen seines Fürsten niederwarf. Er hatte sich aus dem Pöbelstand zu seinem ersten Günstling empor geschmeichelt, der Fall seines Nachbars war seiner Hoheit schemel – Tränen der Waisen huben ihn auf. Diesen Demant zog ich einem Finanzrath ab, der Ehrenstellen und Aemter an die Meistbietenden verkaufte und den traurenden Patrioten von seiner Thüre sties. – Diesen Achat trag ich einem Pfaffen Ihres Gelichters zur Ehre, den ich mit eigener Hand erwürgte, als er auf offener Kanzel geweint hatte, daß die Inquisition so in Zerfall käme – ich könnte Ihnen noch mehr Geschichten von meinen Ringen erzählen, wenn mich nicht schon die paar Worte gereuten, die ich mit Ihnen verschwendet habe – (NA 3, S. 70)

Karl verteidigt seine Handlungen gegenüber dem geistlichen Vertreter als ethisches Korrektiv, das den als mangelhaft empfundenen status quo im Sinne des Ideals einer sittlich vollkommenen Welt modifiziert. Das metaphysische Denksystem ist also prospektiv, insofern sich seine zentralen Ideale auf einen Soll-Zustand beziehen, an dem sich die Beurteilung des Ist-Zustandes orientiert. Es konfligiert aber immer wieder mit einem nihilistischen Denksystem, das sich durch die Vorstellung einer kontingenzbestimmten Welt konstituiert und als Ausdruck von Skeptizismus-Krisen manifestiert. Entsprechend beschreibt Karl das Leben in der Szene III/2 der SchauspielFassung als groteskes theatrum mundi: MOOR. […] Es wird alles zu Grund gehen. Warum soll dem Menschen das gelingen was er von der Ameise hat, wenn ihm das fehlschlägt, was ihn den Göttern gleich macht? – oder ist hier die Mark seiner Bestimmung? SCHWARZ. Ich kenne sie nicht. MOOR. Du hast gut gesagt, und noch besser gethan wenn du sie nie zu kennen verlangtest! […] ich habe die Menschen gesehen, ihre Bienensorgen, und ihre Riesenprojekte – ihre Götterplane und ihre Mäusegeschäfte, das wunderseltsame Wettrennen nach Glükseligkeit; – dieser dem Schwung seines Rosses anvertraut – ein anderer der Nase seines Esels – ein dritter seinen

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eigenen Beinen; dieses bunte Lotto des Lebens, worein so mancher seine Unschuld, und – seinen Himmel sezt, einen Treffer zu haschen, und – Nieten sind der Auszug – am Ende war kein Treffer darinn. Es ist ein Schauspiel, […] das Tränen in deine Augen lockt, wenn es dem Zwerchfell zum Gelächter kizelt. (NA 3, S. 78)

Die Denkweise Karls erweist sich damit als Kippfigur, die je nach Situation in ein idealistisch-metaphysisches oder ein materialistisch-nihilistisches Weltbild umschlagen kann. Analog zur Darstellung der Figur „Franz von Moor“ weist also auch die Darstellung der Figur „Karl von Moor“ die Disposition zur Vermittlung einer nichtpropositionalen Erfahrung auf, in diesem Fall der Erfahrung, wie es sein kann, wenn eine grundsätzlich metaphysische Weltauffassung durch Anflüge von Nihilismus erschüttert wird.⁶⁹ Die beiden Denksysteme der Figur „Karl von Moor“, das idealistischmetaphysische und das materialistisch-nihilistische, werden in einem Entscheidungsmonolog der Szene IV/5 (Schauspiel-Fassung) mit der Frage nach Leben oder Tod verzahnt: Wer mir Bürge wäre? – – Es ist alles so finster – verworrene Labyrinthe – kein Ausgang – kein leitendes Gestirn – wenns aus wäre mit diesem lezten Odemzug – Aus wie ein schaales Marionetenspiel⁷⁰ – Aber wofür der heisse Hunger nach Glükseligkeit? Wofür das Ideal einer unerreichten Vollkommenheit? Das hinausschieben unvollendeter Plane? – wenn der armselige Druk dieses armseligen Dings (Die Pistole vors Gesicht haltend). den Weisen dem Thoren – den Feigen dem Tapfern – den Edlen dem Schelm gleich macht? Es ist doch eine so göttliche Harmonie in der seelenlosen Natur, warum sollte dieser Mißklang in der vernünftigen seyn? – Nein! Nein! es ist etwas mehr, denn ich bin noch nicht glüklich gewesen. Glaubt ihr, ich werde zittern? Geister meiner Erwürgten! ich werde nicht zittern. – Euer banges Sterbegewinsel – euer schwarzgewürgtes Gesicht – eure fürchterlich klaffenden Wunden sind ja nur Glieder einer unzerbrechlichen Kette des Schiksals, und hängen zulezt an meinen Feyerabenden, an den Launen meiner Ammen und Hofmeister, am Temperament meines Vaters, am Blut meiner Mutter […]. Warum hat mein Perillus einen Ochsen aus mir gemacht, daß die Menschheit in meinem glühenden Bauche brate?⁷¹ (Er setzt die Pistole an). Zeit und Ewigkeit – gekettet aneinander durch ein einzig Moment! – Grauser Schlüssel, der das Gefängnis des Lebens hinter mir schließt, und vor mir aufriegelt die Behausung der ewigen Nacht – sage mir – o sage mir – wohin – wohin wirst du mich führen? – Fremdes, nie umsegeltes Land! (NA 3, S. 109)

Das Denksystem weist eine emotive Signifikanz auf, die in der Wahrnehmung einer Differenz zwischen der Idee einer familiär strukturierten Welt mit einem Gott als Va-

 Im Rahmen einer psychoanalytisch-literaturwissenschaftlichen Interpretation könnte man das dargestellte Verhalten dieser Figur auch als manisch-depressiv bezeichnen.  Zum Topos „Welttheater“ seit der Antike und speziell zum Topos des Menschen als Marionette in den Händen Gottes bei Platon vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948.  Bei Perillus handelt es sich um einen sagenhaften Erzgießer, der dem Tyrannen Phalaris der Sage nach einen ehernen Ochsen geschenkt hat, in dessen Hohlraum Menschen verbrannt werden sollten (vgl. die Erläuterungen in NA 3, S. 430).

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terfigur und dem tatsächlichen Zustand der Ausgeschlossenheit aus dieser Welt besteht: […] daß alles so glüklich ist, durch den Geist des Friedens alles so verschwistert! – die ganze Welt Eine Familie und ein Vater dort oben – Mein Vater nicht – Ich allein der Verstosene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen – mir nicht der süsse Name Kind – nimmer mir der Geliebten schmachtender Blick – nimmer nimmer des Busenfreundes Umarmung (wild zurükfahrend). Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt – angeschmidet an das Laster mit eisernen Banden – hinausschwindelnd ins Grab des Verderbens auf des Lasters schwankendem Rohr – mitten in den Blumen der glüklichen Welt ein heulender Abbadona⁷²! (NA 3, S. 79)

Mit der sukzessiven Enthüllung von Franzens Intrige wird schließlich auch die idealistisch-metaphysische Idee einer harmonisch geordneten Welt in Frage gestellt, was zu einer Depotenzierung des Denksystems führt: „die Geseze der Welt sind Würfelspiel worden, das Band der Natur ist entzwey, die alte Zwietracht ist los, der Sohn hat seinen Vater erschlagen“ (NA 3, S. 114). Die Absurdität der Tat wird durch das Deutungsmodell des metaphysischen Denksystems aber postwendend wieder aufgehoben, indem Karl der Räuberbande die Funktion und Legitimation als richtende Instanz zuschreibt, die den Vatermord rächen soll: „eh soll kein Gedanke von Mord oder Raub Plaz finden in eurer Brust, bis euer aller Kleider von des verruchten Blute scharlachroth gezeichnet sind“ (NA 3, S. 115). Das metaphysische Denksystem, das sich durch die zentrale Idee einer sittlich vollkommenen Welt konstituiert, fungiert damit ein weiteres Mal als Sinngenerator, insofern die Taten der Räuberbande unter Verweis auf ein Gerechtigkeitsdefizit in einen übergeordneten Sinnzusammenhang eingepasst werden: Heute, heute hat eine unsichtbare Macht unser Handwerk geadelt! Betet an vor dem, der euch dis erhabene Loos gesprochen, der euch hieher geführt, der euch gewürdiget hat die schrökliche Engel seines finstern Gerichtes zu seyn! Entblöset eure Häupter! Kniet hin in den Staub, und stehet geheiliget auf! (NA 3, S. 115)

4.1.3.2.3 Zur Unterscheidung von philosophischer Theorie und Ideologie Es wurde bereits dargestellt, dass die Denksysteme der Figuren aus einer Reihe von Werturteilen bestehen. Diese werden sprachlich durch generische Sätze repräsentiert und signalisieren damit einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Im Folgenden seien einige Beispiele für solche Werturteile zitiert: Beispiel 1: FRANZ. […] Jeder hat gleiches Recht zum Grösten und Kleinsten, Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb, und Kraft an Kraft zernichtet. […] (NA 3, S. 18)

 Figur aus John Miltons epischem Gedicht Paradise Lost (1667).

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Beispiel 2: FRANZ. […] Wer nichts fürchtet ist nicht weniger mächtig als der, den alles fürchtet. […] (NA 3, S. 19) Beispiel 3: FRANZ. […] Es kommt alles nur darauf an, wie man davon denkt, und der ist ein Narr, der wider seine Vortheile denkt. […] (NA 3, S. 94) Beispiel 4: FRANZ. […] der Mensch entstehet aus Morast, und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gährt wieder zusammen in Morast, bis er zulezt an den Schuhsohlen seines Uhrenkels unflätig anklebt. Das ist das Ende vom Lied – der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung […]. (NA 3, S. 95)

Solche generischen Aussagen allgemeiner Sachverhalte weisen die Disposition auf, die kognitive Funktion der Vermittlung allgemeiner Aussagen sowie der Initiation propositionaler Erkenntnis zu erfüllen, insofern der implizierte Anspruch auf Allgemeingültigkeit eine Wahrheitswerts-Prüfung provoziert. Es stellt sich demnach die Frage, ob es sich bei der sprachlichen Repräsentation von Denksystemen bereits um eine Form von Philosophie als Literatur⁷³ handelt. In diesem Fall müssten explizite oder implizite Signale für den Transfer von Aussagen des fiktionsinternen Kommunikationssystems auf das fiktionsexterne Kommunikationssystem oder – mit Beardsley und Gabriel gesprochen – Aussagen des primären Sprechers auf der Reflexionsebene des Textes⁷⁴ ermittelt werden können. Der Frage, ob es sich bei den beschriebenen Denksystemen um eine Form von Philosophie als Literatur handelt, muss die Frage vorgeschaltet werden, ob es sich denn überhaupt um Philosophie in Literatur handelt (etwa so, wie es sich bei der „Theosophie des Julius“ um Philosophie in Literatur handelt).⁷⁵ Ich gehe bei der Beantwortung dieser Frage davon aus, dass es sich bei fiktionaler Literatur (Poesie) und Philosophie um zwei verschiedene Medien im Sinne von Zeichensystemen handelt, die auf unterschiedliche Weisen bedeuten, d. h. auf die außersprachliche Wirklichkeit referieren. Philosophie und Literatur werden hier demnach als unterschiedliche Repräsentationsformen von bestimmten Weltauffassungen⁷⁶ verstanden. Bereits aus der Beschreibung und Systematisierung der fiktionsinternen Denksysteme, die zur Extensionalität einer figuralen perceptio praegnans beitragen, geht hervor, dass es sich bei solchen Systemen um spezifisch ästhetische Repräsentationsformen von philosophischen Theorien handelt. Diese Repräsentationsformen bezeichne ich im Folgenden als Ideologien. Ich verwende den Begriff der Ideologie hier  Zur historischen Dimension des Komplexes „Philosophie als Literatur“ vgl. Pierre Hadot: Philosophie VI (Literarische Formen der Philosophie). In: HWP 7, Sp. 848 – 858.  Vgl. Kap. 2.1, Anm. 9.  Zur Unterscheidung zwischen Philosophie in und Philosophie als Literatur vgl. Schildknecht: Literatur und Philosophie, S. 42– 45.  Zu einer Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung vgl. Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis, S. 111– 115.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

in Anlehnung an die amerikanische Soziologie⁷⁷ als heuristische Kategorie zur allgemeinen Bezeichnung eines sich in Bezug auf Funktion und Darstellungsmodus von einer philosophischen Theorie wesentlich unterscheidenden ‚Systems von Ideen’.⁷⁸ Mit dem Begriff der philosophischen Theorie bezeichne ich hingegen ein Ideen- oder Gedankensystem, dessen sprachliche Darstellung auf wissenschaftlichen Standards wie begriffliche Schärfe, Argumentationslogik, Überprüfbarkeit, Objektivität, Wahrheitsanspruch usw. basiert. Bei einer philosophischen Theorie handelt es sich also um ein komplexes Gedankensystem, in dem ein zentraler Gedankeninhalt oder mehrere zentrale Gedankeninhalte unter Verwendung einer wissenschaftlichen Terminologie und mit einem theoretischen Bewusstsein sowie der Funktion, wahre Aussagen zu machen, diskursiv-argumentativ entfaltet wird bzw. werden. Unter Ideologie verstehe ich hingegen eine auf praktisches Handeln ausgerichtete „Pseudo-Theorie“ oder „Para-Theorie“⁷⁹. Sowohl bei einer philosophischen Theorie als auch bei einer Ideologie handelt es sich um ein System von Ideen, das im Fall Ersterer theoretisch und im Fall Letzterer a-, para- oder pseudotheoretisch, nicht-szientifisch sowie handlungsbezogen („action-related“⁸⁰) ist. Ideologien sind „highly dynamic entities“⁸¹ und haben eine emotive Signifikanz, insofern sie eine subjektiv-affektive Einstellung zur Welt generieren.⁸² Während eine philosophische Theorie die Funktion hat, die Wirklichkeit oder Ausschnitte aus der Wirklichkeit unter Verwendung wissenschaftlicher Standards zu erklären, d. h. wahre Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, ist eine Ideologie als subjektive, nicht- oder anti-szientifische Konzeption eines Wirklichkeitsideals wahrheitsignorant oder zumindest wahrheitsindifferent. Auch wenn Ideologie und philosophische Theorie auf dieselbe Wirklichkeit referieren können, besteht die Erstere nicht aus „bloßen Tatsachen“, sondern aus einer individuellen „Sicht der Wirklichkeit“⁸³. Eine Ideologie ist – zusammengefasst – ein a-, para- oder pseudotheoretisches, nicht- oder anti-szientifisches sowie affektiv besetztes System von Meinungen und Überzeugungen, das (1) in rhetorischer Hinsicht als Argumentationsmodell für die Begründung von Handlungen (retrospektiv) und Handlungsintentionen (prospektiv), (2) in hermeneutischer Hinsicht als Sinngenerator für die Plausibilisierung von Ereignissen und (3) in pragmatischer Hinsicht als Katalysator für die praktische Umsetzung von Handlungsintentionen fungiert.⁸⁴ Insofern eine Ideologie in einem kon Zum Ideologiebegriff der in der Tradition der Wissenssoziologie stehenden amerikanischen Soziologie vgl. Ulrich Dierse: Ideologie III. In: HWP 4, Sp. 173 – 185; hier Sp. 178.  Vgl. Carl Joachim Friedrich: Man and his Government. An Empirical Theory of Politics. New York 1963, S. 89.  Theodor Geiger: Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens. Stuttgart/Wien 1953 (Sammlung: Die Universität. Bd. 41), S. 64, Hervorhebung im Original.  Friedrich, S. 91.  Friedrich, S. 90.  Zur Subjektivität von Ideologien vgl. Geiger, S. 159.  Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 260.  Zur pragmatischen Komponente des soziologischen Ideologiebegriffs vgl. Geiger, S. 112– 133.

4.1 Die Räuber

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kreten Handlungszusammenhang steht, handelt es sich dabei um eine Form von angewandter – im Gegensatz zu theoretischer – Philosophie. Der Unterschied zwischen philosophischer Theorie und Ideologie sei in der folgenden Tabelle (Tab. 3) schematisch dargestellt: Tab. 3: Unterschied zwischen philosophischer Theorie und Ideologie philosophische Theorie

Ideologie

theoretisch, szientifisch (Einhalten wissenschaftlicher Standards wie Verifizier- bzw. Falsifizierbarkeit, Verwendung einer wissenschaftlichen Terminologie, Objektivität usw.) methodisch-systematisch objektiv kognitiv (rationale Einstellung gegenüber dem Gegenstand) Wahrheitsanspruch

a-, para- oder pseudotheoretisch, nichtoder anti-szientifisch

deskriptiv semantisch (inhaltsorientiert) Präsentation von Tatsachen

unsystematisch subjektiv, perspektivisch emotiv/affektiv (emotionale Einstellung gegenüber dem Gegenstand)⁸⁵ Wahrhaftigkeits-/Glaubhaftigkeitsanspruch normativ-evaluativ (Werturteile⁸⁶) pragmatisch (handlungsorientiert) Präsentation von Sichtweisen

Die Unterscheidung von philosophischer Theorie und Ideologie liefert eine Antwort auf die Frage, wie Philosophie in Literatur vorkommen kann bzw. wie Philosophie in Literatur repräsentiert sein kann, nämlich als subjektive, a-, para- oder pseudotheoretische, handlungsorientierte und affektiv bestimmte Ideologie. Ideen, d. h. spezifische Gedankeninhalte, sind innerhalb des fiktionsinternen Kommunikationssystems als Bestandteile von Ideologien präsent und sprachlich durch generische Aussagen repräsentiert. Zur Frage, welchen semiotischen Bezug Dramenfiguren zu Ideen haben, d. h. in welcher Form Dramenfiguren auf Ideen verweisen und damit ‚Ideenträger‘ sein können, kann bis anhin also gesagt werden, dass zur Darstellung von wesentlichen Eigenschaften der condicio humana in einer figuralen perceptio praegnans neben eigenschaftstypischen Handlungsweisen auch eigenschaftstypische Denkweisen gehören, die sich durch Ideen als Werturteile, also Ideale, konstituieren. Als eigenschaftstypische Denkweisen sind Ideologien neben eigenschaftstypischen Handlungsweisen Bestandteil einer Figurenkonzeption. Diese kann umgekehrt perceptio praegnans eines einfachen Allgemeinen wie einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft, jedoch nicht eines komplexen Allgemeinen wie einer Idee oder sogar einer

 Vgl. Geiger, S. 35: „Der homo sensualis macht dem homo rationalis einen Strich durch die Rechnung.“  Zum ideologischen Charakter von Werturteilen vgl. Geiger, S. 165: „Der Satz [die Aussage eines Werturteils] enthält ja eben nichts anderes als die Schein-Theoretisierung des Engagements, der positiven oder negativen Gefühlseinstellung gegenüber dem Aussagegegenstand.“

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

philosophischen Theorie sein.⁸⁷ Es besteht kein prädikativer Bezug zwischen einer Dramenfigur und einer philosophischen Theorie, da es sich bei einer solchen nicht um einen prädikativen Ausdruck handelt.⁸⁸ Eine einzelne Figur kann deshalb auch kein Beispiel für eine Idee oder eine philosophische Theorie sein, sondern nur im Sinne einer solchen Theorie, also gewissermaßen theoriekonform denken und handeln. Es soll dabei nicht unterstellt werden – und würde auch der Werkgenese widersprechen –, dass die philosophischen Theorien als Ausgangstexte fungieren und gewissermassen die Orientierungsgrösse für die Ideologien abgeben, wie es der Begriff der Theoriekonformität vielleicht suggeriert.Vielmehr ist davon auszugehen, dass Schiller das Denksystem seiner vorkantischen Zeit mehr oder weniger simultan sowohl in der Form philosophischer Theorien als auch in der Form literarischer Ideologien repräsentiert. So bildet beispielsweise das Argumentationsmodell des Materialismus den „Argumentationshorizont“⁸⁹, vor dem Franz seine Handlungsintentionen legitimiert. Der Materialismus ist nicht als philosophische Theorie, sondern als Ideologie im oben erläuterten Sinn repräsentiert, die der philosophischen Theorie aber terminologisch, argumentationslogisch sowie methodologisch korrespondiert. Die methodologische Theoriekonformität von Franzens Ideologie zeigt sich etwa in der rhetorischen Strategie, affektiv besetzte ethische Begriffe wie denjenigen des Gewissens ad abstracta zu führen und so zu entmystifizieren (vgl. NA 3, S. 19). Bei der Darstellung dieser materialistischen Methode handelt es sich Schillers eigenen Aussagen zufolge um eine Dramatisierungsstrategie zur Vergegenwärtigung des abstrakten ethischen Begriffs Laster in einem einfachen Besonderen: Das Laster wird […] mit samt seinem ganzen innern Räderwerk entfaltet. Es lößt in Franzen all die verworrenen Schauer des Gewissens in ohnmächtige Abstraktionen auf, skeletisirt die richtende Empfindung, und scherzt die ernsthafte Stimme der Religion hinweg. (NA 3, S. 6)

Der Bezug zwischen einer figuralen perceptio praegnans, bestehend aus eigenschaftstypischen Handlungs- und Denkweisen, und einer philosophischen Theorie soll im Folgenden durch eine Darstellung der inhaltlichen Korrespondenzen zwischen Schillers früher Moralphilosophie und ihren literarisch-dramatischen Repräsentationsformen als Ideologien noch genauer bestimmt werden. Durch den Vergleich zwischen philosophischer Theorie und poetischer Ideologie lässt sich schließlich auch die mediale Unterscheidung zwischen dem Drama als literarisch-fiktionalem Text, in dem Ideen als Werturteile Ideologien konstituieren, und dem philosophischen Sachtext, in dem Ideen als wahre Aussagen über die Wirklichkeit zu einer Theorie verknüpft werden, weiter schärfen. Schließlich soll die noch offen gebliebene Frage, ob und – falls ja – in welcher Weise es sich bei den Ideologien der Figuren um lite-

 Vgl. das Kapitel 3.2.1.2 dieser Untersuchung.  Vgl. hierzu Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 97.  Ranke, S. 81.

4.1 Die Räuber

123

rarische Formen von philosophischen Theorien handelt, ob an die sprachliche Repräsentation dieser Ideologien also die kognitive Funktion der Vermittlung allgemeiner Aussagen gekoppelt ist, beantwortet werden.

4.1.3.2.4 Korrespondenzen zwischen der philosophischen Theorie und den literarischen Ideologien Es lassen sich einige signifikante inhaltliche Korrespondenzen zwischen Schillers Jugendphilosophie und der Ideologie der Figur Karl von Moor aus den Räubern nachweisen. Die Rede von Korrespondenzen oder Konformitäten und nicht etwa von Parallelen oder Analogien soll dem Umstand Rechnung tragen, dass es sich bei den literarischen Repräsentationen einzelner philosophischer Ideen oder ganzer philosophischer Theorien als Ideale bzw. Ideologien nicht um bloße Reformulierungen handelt, sondern dass sich Ideologien eben als theoriekonform erweisen, d. h. im Sinne einer bestimmten philosophischen Theorie konstituiert sind, die den terminologischen, argumentativen, methodologischen usw. Rahmen der Ideologien abgibt. So erweist sich beispielsweise die Idee einer pantheistisch-spinozistischen Omnipräsenz eines „vernünftig empfindenden Wesens“ (NA 20, S. 116) in der Natur aus der „Theosophie des Julius“ im Drama Die Räuber als Ideal, an dem sich Karls Beurteilung seiner eigenen Situation orientiert: „[…] Es ist alles so finster – verworrene Labyrinthe – kein Ausgang – kein leitendes Gestirn […].“ (NA 3, S. 109) Der propositionale Gehalt der Behauptung aus der „Theosophie“, dass alle „Geister […] von Vollkommenheit“ (NA 20, S. 117) angezogen werden, wird im Drama Die Räuber durch die Figur des Karl von Moor erfragt: „Wofür das Ideal einer unerreichten Vollkommenheit?“ (NA 3, S. 109) Philosophie und Ideologie unterscheiden sich im angeführten Beispiel also durch unterschiedliche Einstellungen, die gegenüber denselben Propositionen als abstrakten semantischen Gehalten eingenommen werden, bzw. durch unterschiedliche Sprechakte, durch die dieselben Gehalte repräsentiert werden. So wird der semantische Gehalt, dass es Vollkommenheit gibt, in der Philosophie für wahr gehalten bzw. behauptet und im Dramentext bezweifelt bzw. erfragt. Im Verlaufe von Karls Entscheidungsmonolog werden die verschiedenen Einstellungen gegenüber der Proposition bzw. die sprechakttheoretische Repräsentation der Proposition wieder zur Deckung gebracht: „Es ist doch eine so göttliche Harmonie in der seelenlosen Natur, warum sollte dieser Mißklang in der vernünftigen seyn? – Nein! Nein! es ist etwas mehr, denn ich bin noch nicht glüklich gewesen.“ (NA 3, S. 109) In der „Theosophie“ heißt es entsprechend: „Alle Geister sind glüklich durch ihre Vollkommenheit.“ (NA 20, S. 119) Karls Lamentation, er sei der einzige Verstoßene in einer „Welt“, in der „alles so verschwistert“ sei und die „Eine Familie“ darstelle (NA 3, S. 79), impliziert die theosophische Idee einer durch gegenseitige Liebe familiär strukturierten Welt. In der Tugend-Rede ist dieser Gedanke folgendermaßen formuliert: „Liebe ist es, die aus der gränzenlosen Geisterwelt eine Einzige Familie, und soviel Myriaden Geister zu soviel Söhnen Eines alliebenden Vaters macht.“ (NA 20, S. 32) Karl empfindet entsprechend

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

eine doppelte Ausgrenzung: einerseits aus der durch Blutsverwandtschaft konstituierten, mikrokosmischen Familie, von deren Vater er sich verstoßen glaubt, und andererseits aus der durch Seelenverwandtschaft konstituierten, makrokosmischen Großfamilie Menschheit, aus der er sich durch die Zugehörigkeit zu einer unmenschlich handelnden Räuberbande ausgeschlossen fühlt. Um die Korrespondenzen deutlich zu machen, sei noch einmal die Passage aus der Szene III/2 der Schauspiel-Fassung zitiert: Ich allein der Verstosene, ich allein ausgemustert aus den Reihen der Reinen – mir nicht der süsse Name Kind – nimmer mir der Geliebten schmachtender Blick – nimmer nimmer des Busenfreundes Umarmung (wild zurükfahrend). Umlagert von Mördern – von Nattern umzischt – angeschmidet an das Laster mit eisernen Banden – hinausschwindelnd ins Grab des Verderbens auf des Lasters schwankendem Rohr – mitten in den Blumen der glüklichen Welt ein heulender Abbadona! (NA 3, S. 79)

Bei den Korrespondenzen zwischen der Liebesphilosophie und der Ideologie der Figur Karl von Moor handelt es sich also um propositionale Übereinstimmungen, d. h. um Übereinstimmungen in Bezug auf einen bestimmten semantischen Gehalt, der durch unterschiedliche Sprechakte repräsentiert wird und dem gegenüber unterschiedliche Einstellungen (affektiv oder kognitiv) eingenommen werden. Unter Berücksichtigung des philosophischen Kontextes erweist sich die Ideologie der Figur „Karl von Moor“ als stark von Schillers gleichzeitig ausgearbeiteter Moralphilosophie geprägt, wie sie insbesondere in der Rede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet (1780) entfaltet wird. Schiller postuliert zu Beginn dieser Rede eine funktionale Bestimmung des Tugendbegriffs. Demnach ist Tugend derjenige „Zustand eines denkenden Geists, durch welchen er am fähigsten wird, Geister vollkommener zu machen, und durch Vervollkommung derselben selbst glükseelig zu seyn“ (NA 20, S. 31, Hervorhebung im Original). Schiller zufolge gibt es keinen generativen Tugendbegriff, da „jeder denkende Geist […] sich aus seinem eigenen Gedankensystem ein eigenes Gebäude von Tugend und Laster“ (NA 20, S. 31 f.) errichte. Fragen der Moral gehören für Schiller also nicht in den Bereich der Anspruch auf Objektivität, Überprüfbarkeit und Wahrheit erhebenden Theorie, sondern in den Bereich der subjektiven, wahrheitsindifferenten Ideologie. Er gibt die theoretischen Ambitionen der Rede mit dieser Feststellung aber nicht auf, sondern postuliert sogleich eine Konsensfähigkeit beanspruchende, an der schottischen Moralphilosophie nach Ferguson und Hutcheson orientierte Minimaldefinition von Tugend: Werd ich wohl jedes noch wankende System von Tugend vollends zu Boden stürzen, werd ich ihr wohl ihren festen ewigen Karakter anerschaffen, wenn ich sie mit den grösten Weisen dieses Jahrhunderts weises Wohlwollen heisse? (NA 20, S. 32)

Das Streben nach Glückseligkeit wird dabei als angeborene anthropologische Disposition verstanden. Das zentrale Konstituens von Schillers metaphysischer Moral-

4.1 Die Räuber

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philosophie ist die Idee eines durch Gott nach dem Maßstab sittlicher Vollkommenheit harmonisch geordneten Weltsystems: Wenn wir uns den Menschen als einen Bürger des grosen Weltsystems denken, so können wir den Werth seiner Handlungen nach nichts besser bestimmen, als nach dem Einflus, den sie auf die Vollkommenheit dieses Systems haben. Wenn wir noch weiter gehen, wenn wir finden, daß alle Räder, alle treibende Kräfte des grosen Systems nur darum so innig in einander greifen, nur darum so harmonisch zusammenstimmen, damit der geistige Theil der Schöpfung dadurch vollkommener werde, der empfindende angenehmer, stärker empfinde, der denkende höher, umfassender denke; so können wir jede moralische Handlung nur nach dem Maase schäzen, oder verdammen, nach welchem sie mehr oder weniger zur Vollkommenheit der geistigen Weesen mitgewürkt hat. (NA 20, S. 30 f.)

Es handelt sich dabei um einen im achtzehnten Jahrhundert verbreiteten, aus der Physik in die philosophische Anthropologie übertragenen Systembegriff. Dieser bezeichnet ein „sinnvoll gegliedertes ganzes, dessen einzelne teile in einem zweckmäszigen zusammenhang stehen oder unter einem höheren prinzip, einer idee, einem gesetz sich zu einer einheit zusammenordnen“⁹⁰, bzw. den „Zusammenhang von Dingen einerley Art und Einrichtung, und die Ordnung, nach welcher sie unter einander verbunden sind“⁹¹. Aus der Auffassung der Welt als System ergibt sich eine funktionale Bestimmung menschlichen Handelns, das als systemisch angesehen wird. Johann Georg Sulzer definiert den Begriff des Systems in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste entsprechend als „ein zusammenhängendes gebilde von (zumeist gleichartigen) körpern, die funktionell ein ganzes bilden“⁹². Aus den Reden Karls lässt sich erschließen, dass die Denkfigur des sittlich bestimmten Weltsystems ein zentraler Gedankeninhalt der Ideologie dieser Figur ist, insofern Karl den spezifischen Sachverhalten jeweils eine kosmologische Dimension beimisst. Weil er die Liebe zwischen Vater und Sohn zerstört glaubt, erscheint ihm die Welt als „ewiges Chaos“ (NA 3, S. 214). Die Zwischenprämisse für diese Schlussfolgerung findet sich in der Rede über die Folgen der Tugend expliziert, wo es diesbezüglich heißt, dass die „Liebe, die den Vater an den Sohn, den Sohn an den Vater fesselt“, die „Harmonie des Ganzen“ (NA 20, S. 33) entscheidend beeinflussen könne. Karl begründet den Austritt aus der Räuberbande und die Selbstauslieferung an die Justiz am Ende des Dramas theoriekonform mit dem Hinweis auf die „mißhandelte Ordnung“ (NA 3, S. 135), die es durch die Aufopferung wieder herzustellen gelte. Er handelt damit tugendhaft im Sinne von Schillers Moralphilosophie, der gemäß sich

 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, bearb. von der Arbeitsstelle des Deutschen Wörterbuchs. Bd. 10. Leipzig 1877, Sp. 1433.  Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen. 2., vermehrte und verb. Aufl. Bd. IV. Hildesheim 1990, Spalte 510.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste II, Art. System, S. 1434.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

tugendhaftes Handeln durch einen Beitrag zur sittlichen Vollkommenheit der Welt auszeichnet: Jedwede Handlung eines Geistes also […] macht sich des herrlichen ehrenvollen Namens von Tugend würdig, wenn sie die Vollkommenheit der Geister zum Zwek hat, wenn sie mit dem Weesen des Unendlichen übereinstimmt, mit seinen Absichten harmonisch geht, wenn sie seine Gröse verherrlicht. (NA 20, S. 31)

Entsprechend erweist sich auch das Vokabular von Karls abschließendem Fazit als theoriekonform, insofern die metaphorische Rede vom „Mißlaut“ in der „Harmonie der Welt“ (NA 3, S. 135) der Idee eines kosmologischen Funktionszusammenhangs korrespondiert, die in der Tugend-Rede ebenfalls mit einer Verbalmetapher aus dem Bildbereich der Musik erläutert wird: Jedwede [menschliche Handlung] im Gegentheil macht sich des schändenden Namens von Laster schuldig, wenn sie die Geister unvollkommener macht, wenn sie mit den Eigenschaften des Höchsten Weesens mislautet, wenn sie seine Absichten verfehlet. – Vollkommenheit der Geisterwelt wäre also die erste Folge der Tugend. (NA 20, S. 31)

Karls eigenmächtiges Handeln im Namen einer göttlichen Gerechtigkeit bzw. der „obern Tribunale“ (NA 3, S. 65) erweist sich vor dem Hintergrund von Schillers Moralphilosophie als redundanter Eingriff in die „weiseste Vorsehung“, die „eben so mächtig“ sei, „das Laster eines Einzigen in die Glükseeligkeit der Welt enden zu lassen, als sie diese durch Tugend glüklich machen kann.“ (NA 20, S. 35), wie es in der Tugend-Rede heißt. Karl argumentiert bei seiner Selbstverurteilung im Sinne dieser Prämisse: „Ich nannte es Rache und Recht – Ich maßte mich an, o Vorsicht die Scharten deines Schwerdts auszuwezen und deine Parteylichkeit gut zu machen […].“ (NA 3, S. 134 f.). In der Mannheimer Bühnenbearbeitung wird die Idee einer sinnstiftenden und Sittlichkeit erfüllenden Vorsehung als „große[r] Gedanken“ einer sinnhomogenisierenden Ideologie repräsentiert: RÄUBER MOOR […] Wenn dieser Turm wäre das Ziel gewesen, zu dem du mich führtest auf blutvollen Wegen? Wenn ich darum das Haupt der Sünder bin worden? – – – Ewige Vorsicht! hier schaudre ich – und bete an! – Wohl! ich vertraue dir, und mach Feierabend am Ziele. […] (NA 3, S. 228) RÄUBER MOOR […] Ja, alter Mann [gemeint ist der Vater Moor], auch mit Blut kann die Vorsicht taufen – Mit Blut hat sie dir heute getauft – Ihre Wege [sind] seltsam und fürchterlich – aber Freudentränen am Ziele! (NA 3, S. 229)

Die Darstellung der Figur „Karl von Moor“ erweist sich im Verlaufe des Dramas als eine perceptio praegnans des prädikativen Ausdrucks „tugendsame Seele“ (NA 20, S. 35), insofern diese Figur durch ihre Verhaltensweise am Dramenende dessen wesentliche Eigenschaften gemäß der Tugend-Rede aufweist, nämlich „Ruhe der Seele in allen Stürmen des Schiksaals, Stärke des Geists in allen Auftritten des Jammers, Selbsgewisheit in allen Zweifeln der Finsternis“ sowie einen „gleiche[n] und unerschütterte[n]

4.1 Die Räuber

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Karakter gegen alle Vorfälle des Menschlichen Lebens“ (Tugend-Rede, NA 20, S. 35). Vor dem Hintergrund dieser Merkmalsbestimmung weisen die Denk- und Handlungsweisen im Entscheidungsmonolog, in dem Karl die Möglichkeit des Suizids als Akt der Selbstbestimmung abwägt, die typischen Teileigenschaften des prädikativ Allgemeinen „tugendhafter Mensch“ auf, wie es Schiller in der Tugend-Rede bestimmt hat. Karl stellt der „unzerbrechlichen Kette des Schicksals“ Autonomie und Authentizität entgegen und entscheidet damit die Zweifel an der „Harmonie“ der „vernünftigen“ Welt und der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz zugunsten selbstbewusster Duldung, obwohl aus seiner Perspektive „alles so finster“ ist und weder ein „Ausgang“ noch ein „leitendes Gestirn“ aus dem „Labyrinthe“ (NA 3, S. 109) führt. Anhand des Vergleichs zwischen der Ideologie der Figur „Karl von Moor“ und Schillers Moralphilosophie in der Tugend-Rede kann der Begriff der figuralen perceptio praegnans als einer detail- und sinnreichen Darstellung einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft in einem personalen Besonderen noch weiter geschärft werden. Der Figur des Karl von Moor aus dem Drama Die Räuber und dem Typus des tugendhaft Handelnden aus der moralphilosophischen Abhandlung Die Tugend in ihren Folgen betrachtet kommen dieselben Prädikate zu oder – anders gesagt – die allgemein-abstrakte Variable des prädikativen Ausdrucks „x ist tugendhaft“ wird im Dramentext durch den Eigennamen⁹³ „Karl von Moor“ „instantiiert“⁹⁴. Die Figur des Karl von Moor aus dem Drama Die Räuber ist demnach ein Beispiel für den prädikativen Ausdruck „tugendsame Seele“ bzw. für die allgemeinmenschliche Eigenschaft „tugendhaft“, wie sie Schiller in der Tugend-Rede bestimmt. Der Eigenname Karl Moor bezeichnet dann eine Reihe wesentlicher Merkmale der allgemeinmenschlichen Eigenschaft „tugendhaft“, sodass es sich bei der Darstellung der mit dem Eigennamen bezeichneten Figur um eine Exemplifikation im Goodman’schen Sinn, also um das Aufweisen von Eigenschafts-Etiketten handelt, die wiederum auf Personen der Wirklichkeit verweisen können (komplexe Referenz).⁹⁵ Die ‚Instanziierung‘ der Subjektposition eines prädikativen Ausdrucks erweist sich damit als eine mögliche Form der ‚Reduktion‘ eines abstrakten Allgemeinbegriffs auf ein konkretes Besonderes, wobei der Begriff in diesem Fall durch die moralphilosophischen Frühschriften Schillers gegeben ist. Das Beispiel der Figur „Karl von Moor“ zeigt, dass eine solche ‚Instanziierung‘ eine emotive Signifikanz aufweisen kann, wenn sie an Strategien der Sympathielenkung gekoppelt ist, d. h. wenn die Subjektposition durch eine Figur erfüllt wird, deren Darstellung die Disposition aufweist, der Figur gegenüber eine positive Einstellung einzunehmen (z. B. mit ihr zu sympathisieren). Eine emotive Signifikanz ist dem Tugendbegriff Schillers bereits inhärent, insofern die in der TugendRede aufgeführten Teileigenschaften der allgemeinmenschlichen Eigenschaft „tugendhaft“ mit den wesentlichen Eigenschaften eines erhabenen Charakters korre Zur Bedeutung von Eigennamen vgl. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 162– 176.  Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 97. Ich verwende den Begriff im Folgenden in der morphologisch motivierten Schreibung mit „z“: instanziieren bzw. Instanziierung.  Zur komplexen Referenz nach Goodman vgl. das Kapitel 2.1 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

spondieren, dessen Darstellung in der Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts die Funktion zugewiesen wird, Bewunderung zu evozieren.⁹⁶ Bei der Figur des Karl von Moor aus dem Drama Die Räuber handelt es sich also insofern um einen ‚Ideen-Träger‘ von Schillers früher Liebes- und Moralphilosophie, als diese Figur diejenigen Merkmale aufweist, d. h. im Sinn derjenigen Merkmale handelt, die in der philosophischen Theorie als Konstituenten einer bestimmten Idee (z. B. des metaphysischen Weltsystems) oder zumindest einer bestimmten Eigenschaft (z. B. „tugendhaft“) ausgewiesen werden. Es besteht eine prädikative Analogie zwischen der Figur im Dramentext und einem bestimmten Typus (der theosophisch Liebende, der Tugendhafte usw.) im philosophischen Text. Durch die ästhetisch-illustrative ‚Instanziierung‘ der Subjektposition eines prädikativen Ausdrucks wird die abstrakte Theorie konkret erfahrbar und für einen emotionalen Zugang verfügbar gemacht.

4.1.3.3 Initiation propositionaler Erkenntnis Anhand eines Vergleichs zwischen der als Lesedrama konzipierten Schauspiel-Fassung und der Mannheimer Bühnenbearbeitung der Räuber soll im Folgenden der Unterschied zwischen der Vermittlung nicht-propositionaler Kenntnis und der Initiation propositionaler Erkenntnis veranschaulicht werden. Das zentrale Argument für die finale Handlung der Selbstauslieferung an die Justiz formuliert Karl in der Schauspiel-Fassung in der generischen Aussage, dass „zwey Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grund richten würden.“ (NA 3, S. 135) Wie bereits zu Beginn des Kapitels 4.1.3.2.2 angemerkt, weist die Darstellung eines allgemeinen Sachverhalts als generische Aussage die Disposition auf, die kognitive Funktion der Erkenntnisinitiation zu erfüllen. Damit stellt sich für diese Textpassage wiederum die Frage, ob es sich bei der generischen Aussage um eine philosophische Aussage des primären Sprechers mit Wahrheitsanspruch handelt. Um diese Frage beantworten zu können, scheint mir die Terminologie Wolfgang Rankes aus seiner Studie zur ‚Theatermoral‘⁹⁷ besser geeignet als diejenige von Gottfried Gabriel. Statt mit Gabriel danach zu fragen, ob es sich bei den generischen Aussagen innerhalb des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems um Aussagen des primären Sprechers im äußeren Kommunikationssystem handelt, kann mit Ranke danach gefragt werden, ob die „argumentierende Rede“ des inneren Kommunikationssystems Bestandteil der „argumentativen Darstellung“ des äußeren Kommunikationssystems ist.⁹⁸ Ranke zufolge ist eine Darstellung genau dann argumentativ, „wenn aus ihrer Anlage und Struktur hervorgeht, dass der intendierte Rezipient durch sie Gründe erhält, eine bestimmte Einstellung gegenüber einem Problem, das im Text (unmittelbar oder mittelbar)  Zu dieser Funktionszuschreibung vgl. das Kapitel 3.1.2 dieser Untersuchung.  Vgl. Kap. 1.2.2, Anm. 31.  Zur Unterscheidung von argumentierender Figurenrede und argumentativer Darstellung vgl. Ranke, S. 81.

4.1 Die Räuber

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thematisch ist, einzunehmen bzw. zu übernehmen.“⁹⁹ Zugeschnitten auf den von mir in der Einleitung erläuterten Zusammenhang zwischen Funktion (potentieller Wirkung) und Wirkungsdisposition (Wirkungspotential) lautet die Frage, ob sich explizite oder implizite Signale für den Transfer von generischen Aussagen des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems auf das äußere, fiktionsexterne Kommunikationssystem ausfindig machen lassen. Weist die Darstellung der generischen Aussagen innerhalb der fiktiven Welt also die Disposition zur Applikation auf die reale Welt des Rezipienten und damit zur Erfüllung der kognitiven Funktion, propositionale Erkenntnis zu initiieren, auf? Im Kapitel 3.1.3 wurde bereits ermittelt, dass Schiller in seiner expliziten Wirkungspoetik dem Drama die Funktion zuweist, nicht-propositionale Erkenntnis anhand des Dramentextes in propositionale Erkenntnis über die Wirklichkeit zu transformieren. In Bezug auf generische Aussagen innerhalb der fiktiven Welt würde das bedeuten, dass fiktional wahre Sätze vom Rezipienten in wahre Sätze über die Wirklichkeit verwandelt werden.¹⁰⁰ Dies hat man sich so vorzustellen, dass der Rezipient eine Wahrheitswerts-Prüfung der fiktionalen generischen Aussage vornimmt, d. h. prüft, ob der durch die generische Aussage repräsentierte allgemeine Sachverhalt auf die Wirklichkeit zutrifft. Bei einem positiven Ergebnis einer solchen Wahrheitswerts-Prüfung hätte der Rezipient ausgehend vom fiktionalen Dramentext Wissen über die Welt, also propositionale Erkenntnis, erworben. Eine solche propositionale Erkenntnis wird vom fiktionalen Dramentext also nicht vermittelt, sondern initiiert. Die Transformation nicht-propositionaler in propositionale Erkenntnis, die nur empirisch überprüfbar ist, kann aus dem Transfer generischer Aussagen der fiktiven Welt auf die Wirklichkeit des Rezipienten bestehen. Karls generische Aussage in der Schauspiel-Fassung, dass zwei Menschen seines Typs den Bau der sittlichen Welt zugrunde richten würden, dokumentiert eine moralphilosophische Erkenntnis innerhalb der fiktiven Welt, die die Disposition aufweist, die kognitive Funktion der Erkenntnisinitiation zu erfüllen. Ich setze bei den folgenden Ausführungen voraus, dass die Vermittlung moralphilosophischer Erkenntnisse, um die es beispielsweise Ranke in seiner Untersuchung zur Theatermoral geht, eine mögliche, aber nicht die einzige kognitive Funktion fiktionaler Literatur ist. Tatsächlich lassen sich in der Darstellung von Karls argumentierender Rede Strategien ausfindig machen, die die Disposition aufweisen, die kognitive Funktion der Erkenntnisinitiation zu erfüllen. Zu diesen Strategien gehört die bereits mehrfach kommentierte Repräsentation eines allgemeinen Sachverhalts als generische Aussage, die eine Wahrheitswerts-Prüfung provoziert. Bis anhin wurden allgemeine Sachverhalte als zentrale Gedankeninhalte einer eigenschaftstypischen Denkweise beschrieben, die neben eigenschaftstypischen Verhaltensweisen zur Extensionalität

 Ranke, S. 82, Hervorhebung im Original.  Zur Transformation fiktional wahrer Sätze in wahre Sätze über die Wirklichkeit vgl. Köppe: Literatur und Erkenntnis, S. 101.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

einer figuralen perceptio praegnans beiträgt und dadurch einen Kenntniswert generiert. Die generischen Aussagen solcher allgemeinen Sachverhalte haben dann eine Veranschaulichungs- oder Illustrationsfunktion, insofern sie Bestandteile einer detailund sinnreichen Figurenkonzeption (perceptio praegnans) und im Sinne von Schillers Ausführungen im faktualen Vorwort der Philosophischen Briefe eben „nur beziehungsweise wahr oder falsch“ sind, d. h. „gerade so, wie sich die Welt in dieser Seele und keiner andern spiegelt“ (NA 20, S. 108). Aus der Darstellung von Karls Reflexionen lassen sich jedoch rezeptionslenkende Strategien abstrahieren, die darauf hinweisen, dass der sprachlichen Repräsentation einer Ideologie in diesem Fall nicht nur die Funktion der Vermittlung einer vergegenwärtigenden, nicht-propositionalen Kenntnis, sondern auch die Funktion der Initiation von propositionaler Erkenntnis zugewiesen wird. Eine solche rezeptionslenkende Strategie ist die poetologische Reflexion Karls auf seinen Status als exemplarischer Menschentypus in der Formulierung „zwey Menschen wie ich“ (NA 3, S. 135). Diese Reflexion weist die Disposition auf, die Aufmerksamkeit des Rezipienten von der Figurendarstellung als perceptio praegnans abzuziehen, sie auf das literarisch-fiktionale Verfahren der Exemplifikation zu lenken und dadurch Meta-Kognitionen zu initiieren. Die Initiation solcher Meta-Kognitionen wird durch die grammatische Form des Konjunktivs begünstigt, insofern diese auf die Funktion fiktionaler Literatur als Experimentiermedium für die Vergegenwärtigung möglicher Welten verweist. Der poetologische Verweis auf die Veranschaulichungsfunktion der Figur kann als rezeptionslenkende Strategie aufgefasst werden, mit der der Rezipient auf den Kenntniswert des Dramentextes aufmerksam gemacht werden soll. Dieser Kenntniswert besteht in der Darstellung der in der Tugend-Rede theoretisch-systematisch erläuterten Reziprozität von individuellem Handeln und sittlichem Zustand der Welt. (vgl. NA 20, S. 30) Karls generische Aussage verweist auf das Erkenntnispotential des Textes, in dem sie steht, insofern ihr Bedeutungsumfang die gesamte Dramenhandlung umfasst. Bei der Darstellung von Karls Reflexionen handelt es sich um eine „Strategie zur Lenkung der integralen Rezeption“, die sich auf „das Verständnis und die Beurteilung der dargestellten Welt unter Voraussetzung aller bis zum Ende des Stücks vergebenen Informationen“¹⁰¹ bezieht. Die Beurteilung des bisherigen Geschehens eröffnet dem Rezipienten eine Retrospektive auf die gesamte Dramenhandlung. Die poetologische Reflexion der Figur auf ihren exemplarischen Status fungiert als Signal für die Auffassung des Dramentextes als theatrum mundi, bei dem es sich gemäß Schillers expliziter Wirkungspoetik um einen fiktionalen ‚Schattenriss‘ der realen Welt handelt, der dem Rezipienten einen ‚panoptischen Blick‘ auf die überkomplexe Wirklichkeit ermöglicht.¹⁰² Der Erkenntnisprozess der Figur Karl von Moor erweist sich als beispielhaft für Schillers epistemologische Prämisse aus dem Vorwort der Philosophischen Briefe, dass man „nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit“ gelange und man „den

 Ranke, S. 71.  Vgl. das Kapitel 3.2.2.1 dieser Untersuchung.

4.1 Die Räuber

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Irrthum […] zuvor erschöpfen“ müsse, bevor man das „schöne Ziele der ruhigen Weisheit“ erreiche (NA 20, S. 107). In den abschließenden Reflexionen Karls finden sich beide Stufen des epistemischen Prozesses, d. h. sowohl die Einsicht in das eigene Fehlhandeln (die hamartia) als auch die Erkenntnis eines allgemeinen Sachverhalts. Ebenso wie die Brieffreunde der Philosophischen Briefe überschaut auch Karl „mit ruhigerem Blik die zurükgelegte Bahn“ (NA 20, S. 108): O über mich Narren, der ich wähnete die Welt durch Greuel zu verschönern, und die Geseze durch Gesezlosigkeit aufrecht zu halten. Ich nannte es Rache und Recht – Ich maßte mich an, o Vorsicht die Scharten deines Schwerdts auszuwezen und deine Parteylichkeiten gut zu machen – aber – O eitle Kinderey – da steh ich am Rand eines entsezlichen Lebens, und erfahre nun mit Zähneklappern und Heulen, daß zwey Menschen wie ich den ganzen Bau der sittlichen Welt zu Grund richten würden. […]. (NA 3, S. 134 f.)

Die als Lesedrama konzipierte Schauspiel-Fassung der Räuber erweist sich demnach als fiktionale Variante von Schillers literarischem Aufklärungsprojekt, dessen epistemologische Maxime, durch Irrtümer zu wahren Überzeugungen zu gelangen, ein zentrales Strukturmerkmal der impliziten Wirkungspoetik dieses Dramas darstellt. Karl erweist sich durch seine Skeptizismus-Krisen entsprechend als Parallelfigur zu Julius aus den Philosophischen Briefen. Dass die finale moralische Beurteilung Karls eine hermeneutische Relevanz für das Verständnis des gesamten Textes hat, geht auch aus dem Vorwort zur ersten Auflage der Schauspiel-Fassung hervor, in der Schiller das Drama in einer verteidigenden Haltung als „moralisches Buch“ qualifiziert, an dessen Ende „die Tugend […] siegend“ davongehe (NA 3, S. 8). Dabei koppelt Schiller die adäquate moralische Beurteilung seiner Person an die hermeneutisch ganzheitliche Lektüre des Dramas¹⁰³: Wer nur so billig [hier im Sinne von ‚gerecht‘] gegen mich handelt, mich ganz zu lesen, mich verstehen zu wollen, von dem kann ich erwarten, daß er – nicht den Dichter bewundere, aber den rechtschaffenen Mann in mir hochschäze. (NA 3, S. 8)

Schiller weist dem Drama im poetologischen Peritext also die kognitive Funktion zu, eine moralische Aussage zu vermitteln. Durch die generische Aussage Karls wird innerhalb der fiktiven Welt etwas gesagt, von dem aufgrund der erläuterten rezeptionslenkenden Strategien angenommen werden kann, dass es der primäre Sprecher auch „wesentlich meint“¹⁰⁴, sodass der Erkenntniswert dieses fiktionalen Textes nicht nur in der szenisch-illustrierenden Vergegenwärtigung von allgemeinmenschlichen  Zum Konnex von Verstehen und Urteilen vgl. Peter von Matt: Recht, Gerechtigkeit und Sympathie. Über die Gerichtsbarkeit der Literatur und ihre Strategien. Aufsatz im Rahmen des vierten Kolloquiums der „Peter-Häberle-Stiftung“ an der Universität St. Gallen. Zürich/St. Gallen 2013.Von Matt leitet diesen Konnex vom französischen Sprichwort „Tout comprendre, c’est tout pardonner“ ab, das Schiller aber nicht gekannt haben dürfte, da es gemäß aktuellem Forschungsstand erstmals in Tolstois Krieg und Frieden erschien.  Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 256.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Eigenschaften (condicio humana) und spezifischen Sachverhalten (Situationen), sondern auch in der „Aufstellung“¹⁰⁵ von Thesen besteht. Die Funktion, durch Illustration nicht-propositionale Wie-Kenntnis zu vermitteln, und die Funktion, durch die generische Aussage von allgemeinen Sachverhalten propositionale Erkenntnis zu initiieren, sind hier also ineinander verschränkt. Aus der Perspektive eines hermeneutischen Intentionalismus wird nicht nur im, sondern auch mit dem literarischfiktionalen Dramentext etwas behauptet, insofern sich aus den oben erläuterten Strategien die Autorintention ableiten lässt, „durch die (Gesamtheit der) Äußerungen, die das Werk konstituieren, etwas über die Welt zu behaupten [d. h. eine allgemeine Aussage zu machen, an deren Wahrheitswert der Autor als primärer Sprecher glaubt]“, und insofern „kompetente Leser in der Lage sind, die (Gesamtheit der) Äußerungen, die das Werk konstituieren, gemäß der genannten Autorabsicht zu interpretieren“¹⁰⁶. Der Unterschied zwischen dem Aufstellen von Thesen und dem Aufweisen von allgemeinmenschlichen Eigenschaften und Situationen in einem fiktionalen Text kann anhand eines Vergleichs zwischen dem Schluss der Schauspiel-Fassung und demjenigen der Bühnenbearbeitung veranschaulicht werden. Die Darstellung des Reflexionsprozesses und die sprachliche Repräsentation einer Erkenntnis im inneren Kommunikationssystem der Schauspiel-Fassung weisen die Disposition zum kognitiven Mitvollzug der Reflexion bzw. zur Transformation der fiktionsinternen Erkenntnis über die fiktive Welt in eine propositionale Erkenntnis über die Wirklichkeit des Rezipienten auf. Während der Selbstauslieferung Karls in der Schauspiel-Fassung ein Reflexionsprozess vorgeschaltet ist, der als Sinngenerator für diese Handlung fungiert, besteht das Handlungsmotiv in der Bühnenbearbeitung in einem sprachlich nicht repräsentierten Bewusstsein für moralisch rechtes Handeln, also in einem moral sense. ¹⁰⁷ Auf die Ankündigung der Räuber, Karl Moor weiterhin zu dienen, antwortet dieser in der Bühnenbearbeitung: „Nein! nein! nein! Gewiß sind wir fertig. Leise flistert mein Genius: ‚Geh nicht weiter Moor. Hier ist der Markstein des Menschen – und der Deine.‘“ (NA 3, S. 234) Während in der Schauspiel-Fassung ein Reflexionsprozess bzw. eine Erkenntnis sprachlich repräsentiert werden, wird in der Bühnenbearbeitung eine Erfahrung dargestellt. Die Darstellung dieser Erfahrung weist die Disposition zur Vermittlung einer nicht-propositionalen, phänomenalen Wie-Kenntnis auf, nämlich der Kenntnis, wie sich der ‚moralische Sinn‘ äußern und welche Konsequenzen er auf das Handeln eines Menschen haben kann. Dem Schluss der Bühnenbearbeitung kann demnach ein Kenntniswert zugeschrieben werden, der eine emotive Signifikanz hat, insofern die dramatische Vergegenwärtigung moralisch

 Gabriel: Erkenntniswert der Literatur, S. 258. Vgl. auch ders.: Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, S. 172.  Reicher: Können wir aus Fiktionen lernen?, S. 85. Es ist einschränkend anzumerken, dass Reicher fiktionalen Texten aufgrund eines spezifischen, von den Konsensbestimmungen abweichenden Begriffs der fiktionalen Äußerung einen apophantischen Status zuweisen kann (vgl. Reicher: Können wir aus Fiktionen lernen?, S. 83).  Zur Denkfigur des moral sense vgl. das Kapitel 3.1.2 dieser Untersuchung.

4.1 Die Räuber

133

rechten (tugendhaften) oder moralisch falschen (lasterhaften) Handelns gemäß Schillers expliziter Wirkungspoetik die Disposition zur affektiv bestimmten Aktivierung des moral sense aufweist.¹⁰⁸ Die Schluss-Reden Karls sind in der Bühnenbearbeitung nicht mehr argumentierend, sondern rührend¹⁰⁹ und weisen die Disposition zur Evokation von entsprechenden Affekten auf, die im Sinn der Affektpoetik fiktionsintern simuliert werden: RÄUBER MOOR (mit Würde). […] Kommt! schließt einen Kreis um mich, und vernehmt das Testament eures sterbenden Hauptmanns. (Er heftet einen verweilenden Blick auf die Bande). Ihr seid treu an mir gehangen. – Treu ohne Beispiel – hätt euch die Tugend so fest verbrüdert als die Sünde – ihr wäret Helden worden, und die Menschheit spräch eure Namen mit Wonne. Gehet hin, und opfert eure Gaben dem Staate. Dienet einem Könige, der für die Rechte der Menschheit streitet – Mit diesem Segen seid entlassen. (Zu Schweizer und Kosinsky). Ihr bleibet. (Die übrigen Räuber gehen langsam und bewegt von der Bühne). (NA 3, S. 235)

Sowohl in der Schauspiel-Fassung als auch in der Bühnenbearbeitung erweist sich die Denkweise der Figur Karl von Moor als typisch für die allgemeinmenschliche Eigenschaft „tugendhaft“, wie sie Schiller in seiner Tugend-Rede bestimmt hat. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass Karl seine Handlung in der Schauspiel-Fassung begründet und mit dem Text damit eine ethische Ideologie zu verstehen gegeben wird. In der Bühnenbearbeitung handelt dieselbe Figur im Sinne einer solchen Ideologie, deren hermeneutische Dimension als Sinngenerator hier explizit getilgt ist: „Untersucht nicht, wo Moor handelt […].“ (NA 3, S. 235) Während die Evokation von Bewunderung in der Bühnenbearbeitung im Sinn der Affektpoetik fiktionsintern simuliert wird, wird sie in der Schauspiel-Fassung im Sinn einer Affektpoetologie von der Figur Karl von Moor reflektiert: „Man könnte mich darum bewundern.“ (NA 3, S. 135) In der Schauspiel-Fassung werden die „äusseren Folgen der Tugend“ auf die gesamte Menschheit reflektiert. In der Bühnenbearbeitung werden hingegen die „innern Folgen der Tugend“ auf den einzelnen Menschen illustriert. Im Sinn der Tugend-Rede, dass „das allzeit ergözen“ werde, „was das ganze vollkommener“ (NA 20, S. 31) mache, lässt Karl in der Bühnenbearbeitung das Bewusstsein um die tugendhafte Tat der Selbstaufopferung für eine sittliche Welt „sehr heiter“ (NA 3, S. 236) werden: „Und auch ich bin ein guter Bürger – Erfüll ich nicht das entsetzlichste Gesetz? Ehr ich es nicht? Räch ich es nicht? – […].“ (NA 3, S. 236) Die Darstellung von Karls Nachdenken über ein metaphysisches Weltbild in der Schauspiel-Fassung weist die Disposition zum kognitiven Mitvollzug der Gedankeninhalte (Symphilosophieren) auf, während die Darstellung von Karls Handlungen nach der moralphilosophischen Theorie in der Bühnenbearbeitung die Disposition zum emotiven Mitvollzug der Handlungen (Sympathisieren) aufweist. Die allgemeinen Sachverhalte, die innerhalb  Zur emotiven Dimension der ethischen Funktion in Schillers expliziter Wirkungspoetik vgl. das Kapitel 3.1.2 dieser Untersuchung.  Zur Darstellung einer rührenden Rede als Dramatisierungsstrategie vgl. das Kapitel 3.2.2.8 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

der philosophischen Theorien durch generische Aussagen repräsentiert sind, werden in der Bühnenbearbeitung durch die figurale Instanziierung zu spezifischen Sachverhalten, deren Darstellung die Disposition aufweist, emotive Funktionen zu erfüllen. Die Dramatisierungsstrategien beider Dramentexte – so lässt sich zusammenfassend sagen – weisen die Disposition zur Vermittlung einer moralphilosophischen Erkenntnis auf, sodass es sich um Persuasionsstrategien handelt. In der Bühnenbearbeitung haben die Strategien für die Überzeugung von moralisch rechtem Handeln eine emotive Signifikanz, insofern die Persuasion hier durch die Evokation von Emotionen und die Aushebelung von Meta-Kognitionen geschieht. In der SchauspielFassung haben die Persuasionsstrategien eine kognitive Signifikanz, insofern hier fiktionsintern Argumente für eine spezifische Form moralisch rechten Handelns angeführt werden. Die ‚Theatermoral‘ wird in der Schauspiel-Fassung also kognitiv durch die Explikation von Argumenten und in der Bühnenbearbeitung emotiv durch die Evokation von Affekten vermittelt. Die Schlussreden Karls in der Bühnenbearbeitung sind affektpoetisch, insofern sie als rührende Reden die Disposition aufweisen, Emotionen kausal zu erwecken. Diese Disposition weisen sie durch metakommunikative Signale für einen emotionalen Pakt auf.¹¹⁰ Die Schlussreden Karls in der Schauspiel-Fassung sind affektpoetologisch, insofern sie als argumentierende Rede die Disposition aufweisen, Emotionen zu bedenken zu geben. Diese Disposition weisen sie durch metakommunikative Signale für den Transfer fiktional wahrer Aussagen von fiktional bestehenden Sachverhalten in die reale Welt des Rezipienten auf. Ein solcher Transfer birgt das Potential für eine Transformation von Erkenntnissen der Figuren über die fiktive Welt in propositionale Erkenntnis des Rezipienten über die Wirklichkeit. Die Ergebnisse des Vergleichs zwischen den beiden Versionen des Dramenschlusses seien in der folgenden Tabelle (Tab. 4) schematisch zusammengefasst: Tab. 4: Unterschied zwischen der Schauspiel-Fassung und der Bühnenbearbeitung der Räuber Dramenschluss der Schauspiel-Fassung

Dramenschluss der Bühnenbearbeitung

Persuasionsstrategien kognitiv-hermeneutische Funktion: Initiation eines emotiv-hermeneutische Funktion: Vermittlung Verstehensprozesses emotiver Botschaften affektpoetologisch bestimmte implizite Wirkungs- affektpoetisch bestimmte Wirkungspoetik poetik argumentierende Rede als Bestandteil der argurührende Rede mentativen Darstellung Initiation propositionaler Erkenntnis über die Wirk- Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis lichkeit des Rezipienten (Erkenntniswert, Initiation (Kenntniswert, Vermittlung einer Wie-Kenntnis) einer Dass-Erkenntnis)

 Zum emotionalen Pakt vgl. das Kapitel 3.2.2.7 dieser Untersuchung.

4.2 Kabale und Liebe

135

Tab. : Unterschied zwischen der Schauspiel-Fassung und der Bühnenbearbeitung der Räuber (Fortsetzung) Dramenschluss der Schauspiel-Fassung

Dramenschluss der Bühnenbearbeitung

Repräsentation einer philosophischen Theorie als Ideologie durch theoriekonformes Denken (Argumentieren) Provokation einer Wahrheitswerts-Prüfung Initiation von Symphilosophieren

Vergegenwärtigung einer philosophischen Theorie durch theoriekonformes Handeln Wahrhaftigkeitsanspruch Initiation von Sympathisieren

4.2 Kabale und Liebe 4.2.1 Textgenese Schiller nimmt die Arbeit am Drama Kabale und Liebe gemäß der Biographie von Caroline von Wolzogen in der Mitte des Jahres 1782 auf, wo er den „Plan“ zu diesem Stück entworfen haben soll.¹¹¹ Er hat es bei der Konzeption dieses Dramas von Beginn weg auf eine effektive Bühnenwirksamkeit abgesehen¹¹², worauf die Wahl des stark schematisierten, auf den deutschsprachigen Bühnen nach Lessings Prototyp Miss Sara Sampson (1755) aber sehr erfolgreichen Genres „Bürgerliches Trauerspiel“¹¹³ sowie die später auf Anraten des damals in der Theaterszene bekannten und beliebten Schauspielers und Dramenautors August Wilhelm Iffland vorgenommene Umänderung des Titels von Louise Millerin in Kabale und Liebe hinweisen.¹¹⁴ In der Forschung wurde immer wieder auf das Spannungsverhältnis zwischen der klassizistischen Form des Bürgerlichen Trauerspiels und dem agitatorischen Inhalt von Schillers Kabale und Liebe hingewiesen.¹¹⁵ Briefliche Zeugnisse dokumentieren denn auch Schillers Mühe bei der dramaturgischen Konzeption des Stücks. In einem Brief an Reinwald vom 27. März 1783 bemängelt er selbstkritisch „die gothische Ver-

 Caroline von Wolzogen: Schillers Leben, verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eigenen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner. Teil 1. Stuttgart/Tübingen 1830, S. 48, zitiert nach NA 5N, S. 332.  Vgl. den Kommentar in NA 5N, S. 192 sowie Alt: Schiller I, S. 354.  Zur Entstehung und Popularität des Bürgerlichen Trauerspiels in der deutschen Literatur vgl. Erika Fischer-Lichte: Geschichte des Dramas. Epochen der Identität auf dem Theater von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 1: Von der Antike bis zur deutschen Klassik. Tübingen 1990, S. 251– 294.  Aus Berichten von Schillers Jugendfreund Andreas Streicher und Louisa Pistorius, der Tochter des Verlegers Schwan, geht außerdem hervor, dass Schiller die Figuren des Stücks auf die Schauspieler des Mannheimer Theaters zugeschnitten hat (vgl. die Dokumente der Entstehungsgeschichte in NA 5N, S. 333 sowie 345).  Vgl. etwa Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie. Paderborn 2004, Alt: Schiller I, S. 356 oder Dieter Liewerscheidt: Die Macht der Bühne. Zur dramaturgischen Unentschiedenheit von Schillers „Kabale und Liebe“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 58 (2014), S. 176 – 188; hier S. 185.

136

4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

mischung von komischem und tragischem, die allzu freie Darstellung einiger mächtigen Narrenarten, und die zerstreuende Mannichfalitgkeit des Details“ (NA 23, S. 74). Schiller bezeichnet die große Merkmalsfülle bei der dramatischen Darstellung als dramaturgischen „Fehler“ (NA 23, S. 77), weil eine solche Darstellung gemäß den Maßstäben einer epistemologischen Wirkungsästhetik, wie sie im Kapitel 3.2.2 erläutert wurde, den panoptischen Blick auf die fiktive Welt und damit auch die affektevozierende Initiation anschauender Erkenntnis verunmöglicht. Mendelssohn hält in den Hauptgrundsätzen der schönen Künste und Wissenschaften diesbezüglich fest: „Bei allzu kleinen [d. h. extensiv verworrenen] Gegenständen vermisst das Gemüth die Mannigfaltigkeit, und bei allzu großen [d. h. extensiv klaren] die Einheit im Mannigfaltigen.“¹¹⁶ Schiller kritisiert an der aktuellen Fassung seines zu diesem Zeitpunkt noch unter dem Titel Louise Millerin firmierenden Bürgerlichen Trauerspiels entsprechend die fehlende Einheit. d. h. – wie er in einem Brief vom 3. April 1783 an den Mannheimer Intendanten Heribert von Dalberg noch spezifizierend ergänzt – die „Vielfältigkeit der Karaktere“ sowie die „Verwiklung der Handlung“ (NA 23, S. 77). Drei Wochen später, am 24. April 1783, verkündet er wiederum in einem Schreiben an Reinwald, er habe das Stück inzwischen „sehr verändert“ (NA 23, S. 85). Weitere zehn Monate später schreibt er über die sich noch im Druck beim Verleger Schwan befindende Louise Millerin dem Regisseur Gustav Friedrich Wilhelm Großmann, das Trauerspiel sei im Vergleich zu den Räubern und dem Fiesko „für die Direction bequemer, und für das Publikum genießbarer“ geworden, weil es sich „durch die Einfachheit der Vorstellung, den wenigen Aufwand von Maschinerei und Statisten, und durch die leichte Faßlichkeit des Plans“ auszeichne (NA 23, S. 131 f.). Von der Fassung vor diesen offenbar grundlegenden Veränderungen ist bloß noch ein handschriftliches Bruchstück überliefert, von dem man annimmt, dass es in der ersten Aprilhälfte des Jahres 1783 entstanden ist. Die zweite Fassung des Stücks erscheint schließlich am 15. oder 16. März 1784 in der Buchhandlung des Verlegers Schwan. Von dieser Druckfassung ist die Bühnenbearbeitung für das Mannheimer Theater zu unterscheiden, die am 13. April in Frankfurt ur- und am 15. April unter Schillers eigener Regie in Mannheim erstaufgeführt wird.¹¹⁷ Bei der folgenden Analyse werden sowohl die Druck- als auch die um einige Passagen gekürzte Bühnenfassung berücksichtig.¹¹⁸

4.2.2 Emotive Funktionen 4.2.2.1 Fiktionsinterne Simulation affektpoetischer Kommunikationsmuster Aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramentextes lassen sich Strategien für die Evokation von Affekten rekonstruieren, wie sie in den Kapiteln 3.2.1 und 3.2.2 dieser  Mendelssohn: Hauptgrundsätze, S. 150.  Vgl. den Kommentar zur Entstehungsgeschichte in NA 5N, S. 359 – 388.  Die neue Ausgabe des fünften Bandes der Nationalausgabe vereinfacht den Vergleich zwischen der Druckfassung und der Bühnenbearbeitung durch einen Paralleldruck.

4.2 Kabale und Liebe

137

Untersuchung bereits aus Schillers expliziter Wirkungspoetik abstrahiert wurden und wie sie für die Affekt-Dramaturgie des Genres „Bürgerliches Trauerspiel“ im achtzehnten Jahrhundert typisch sind.¹¹⁹ Zu diesen Strategien gehört etwa die fiktionsinterne Simulation eines emotiven Kommunikationsschemas, in dem ein Sender durch eine rührende Rede dem Empfänger eine emotive Botschaft übermittelt. Ein Beispiel für diesen Typus der medialen Dramatisierungsstrategie findet sich in der Szene I/3 des Dramas, in der Louise von ihrem Vater in Bezug auf die Liaison mit Ferdinand von Walter zur Rede gestellt wird: LOUISE. (tritt unruhig an ein Fenster) Wo er wol jezt ist? – Die vornehmen Fräulein, die ihn sehen – ihn hören – ich bin ein schlechtes vergessenes Mädchen (erschrikt an dem Wort, und stürzt ihrem Vater zu) Doch nein! nein! verzeih er mir. Ich beweine mein Schiksal nicht. Ich will ja nur wenig – an ihn denken – das kostet ja nichts. (NA 5N, S. 20 sowie 21¹²⁰)

Die emotionale Reaktion des Vaters, über die der Nebentext informiert, lenkt die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz des sprachlich repräsentierten Sachverhalts und kann als metakommunikatives Signal für die Übernahme der dargestellten Emotionen in den Emotionsapparat des Rezipienten aufgefasst werden: „MILLER (beugt sich gerührt an die Lehne des Stuls, und bedekt das Gesicht) […].“ (NA 5N, S. 20 sowie 21) Zu den Strategien, die die Disposition zur Erfüllung emotiver Funktionen aufweisen, gehört auch die dramaturgische Konstruktion eines Informationsvorsprungs¹²¹ des Zuschauers gegenüber den Figuren, die Diderot und Lessing zufolge zur Intensivierung der evozierten Affekte beiträgt.¹²² In der Szene II/1 wird die Lady Milford als beklagenswerte Figur dargestellt, die an der Lieblosigkeit des Fürsten leidet: LADY. […] Du sagst, man beneide mich. Armes Ding! Beklagen soll man mich vielmehr. Unter allen, die an den Brüsten der Majestät trinken, kommt die Favoritin am schlechtesten weg, weil sie allein dem großen und reichen Mann auf dem Bettelstabe begegnet – […] Mein Herz hungert bei all dem Vollauf der Sinne, und was helfen mich tausend beßre Empfindungen, wo ich nur Wallungen löschen darf? (NA 5N, S. 46 sowie 47)

Die sprachliche Repräsentation des Sachverhalts und die Lenkung der Aufmerksamkeit auf dessen emotive Signifikanz durch die gleichzeitig als metakommunikatives Signal aufzufassende Direktive ‚Beklagen soll man mich‘ weisen die Disposition auf, im äußeren Kommunikationssystem Sympathie für die vom Sachverhalt betroffene Figur zu evozieren. Die Darstellung der Szene II/2, die als sogenannte ‚Kammerdiener Vgl. Karl Eibl: Bürgerliches Trauerspiel. In: RLW 1, S. 285 – 287.  Werden die Zitate aus dem Drama Kabale und Liebe mit der Angabe von zwei Seitenzahlen belegt, heißt dies, dass die zitierte Passage sowohl in der Druckfassung als auch in der Bühnenbearbeitung vorkommt.  Zur Informationsvergabe als Technik der Sympathielenkung vgl. Prinz/Winko: Sympathielenkung und textinterne Wertungen, S. 110.  Vgl. dazu die Ausführungen im Kapitel 4.1.3.1 dieser Untersuchung.

138

4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Szene‘ bekannt ist, kann als Strategie aufgefasst werden, beim Rezipienten eine positive moralische Beurteilung¹²³ der Lady Milford zu initiieren, insofern sich die Handlungs- und Denkmuster dieser Figur als tugendhaft erweisen. Der dramaturgisch konstruierte Informationsvorsprung des Rezipienten gegenüber der Figur des Ferdinand von Walter weist hier die Disposition zur Evokation von Sympathie für die Figur der Lady Milford auf, insofern sich das harsche Benehmen Ferdinands angesichts der in den vorangegangenen Szenen illustrierten Tugendhaftigkeit als inadäquat erweist und die Figur der Milford damit als unverdient leidend dargestellt wird: FERDINAND. (mit einer kurzen Verbeugung) Wenn ich sie worinn unterbreche, gnädige Frau – LADY (unter merkbarem Herzklopfen) In nichts, Herr Major, das mir wichtiger wäre. FERDINAND. Ich komme auf Befehl meines Vaters. LADY. Ich bin seine Schuldnerin. FERDINAND. Und soll Ihnen melden, daß wir uns heurathen – So weit der Auftrag meines Vaters. LADY. (entfärbt sich und zittert) Nicht Ihres eigenen Herzens? FERDINAND. Minister und Kuppler pflegen das niemals zu fragen. LADY. (mit einer Beängstigung, daß ihr die Worte versagen) Und Sie Selbst hätten sonst nichts beizusezen? (NA 5N, S. 54 sowie 55)

Bei der Fortsetzung des Dialogs zwischen der Lady und Ferdinand handelt es sich um ein weiteres Beispiel für die fiktionsinterne Simulation eines aus affekttheoretischer Perspektive idealen Kommunikationsmusters, in dem der Empfänger emotiver Botschaften (hier: Ferdinand) seinen Emotionsapparat mit dem emotionalen Dispositiv des Senders (hier: die Lady Milford) synchronisiert. Der Dialog zwischen Ferdinand und der Lady Milford funktioniert nach dem Schematismus der Affektpoetik. Die Milford bedient sich der rührenden Rede als rhetorischen Verfahrens, mit dem sie Ferdinand von der emotiven Signifikanz ihrer Situation zu überzeugen versucht. Die Nebentext-Kommentare, die in der Druckfassung u. a. eine Informationsfunktion haben, d. h. Informationen über die fiktive Welt vermitteln¹²⁴, können als metakommunikatives Signal für den Transfer fiktiver Emotionen im inneren Kommunikationssystem in den Emotionsapparat des Rezipienten aufgefasst werden. Ferdinand agiert in der Rolle eines in affekttheoretischer Hinsicht idealen Rezipienten, an dem eine emotionale Reaktionsweise musterhaft vorgeführt wird. Gemäß den Informationen im Nebentext tritt Ferdinand „frostig“ und „gelassen“ (NA 5N, S. 56 sowie 57) vor die Lady Milford, der gegenüber er sich zu Beginn der Begegnung moralisch überlegen fühlt. Im Verlaufe von Milfords Erzählung wird Ferdinand „nachdenkend, und heftet wärmere Blike auf die Lady“ (NA 5N, S. 60 sowie 61), während diese „mit immer zunehmender Rührung“ (NA 5N, S. 60 sowie 61) in der Erzählung ihres tragischen Schicksals

 Zur Relevanz der moralischen Beurteilung einer Figur für das Zustandekommen von Sympathie vgl. Dolf Zillmann: Dramaturgy for Emotions from Fictional Narration. In: Jennings Bryant und Peter Vorderer (Hg.): Psychology of Entertainment. Mahwah, NJ 2006, S. 215 – 238; hier S. 230 – 234.  Zu den Funktionen des Nebentextes vgl. das folgende Kapitel.

4.2 Kabale und Liebe

139

fortfährt. Ferdinand ist inzwischen „sehr bewegt“ und „rennt in der heftigsten Unruhe durch den Saal“ (NA 5N, S. 60 sowie 61), bis er der Milford schließlich „durch und durch erschüttert“ (NA 5N, S. 62 sowie 63) ins Wort fällt: Zuviel! Zuviel! Das ist wider die Abrede, Lady. Sie sollten sich von Anklagen reinigen, und machen mich zu einem Verbrecher. Schonen Sie – ich beschwöre Sie – schonen Sie meines Herzens, das Beschämung und wütende Reue zerreissen – (NA 5N, S. 62 sowie 63)

Die rührende Rede der Lady Milford evoziert bei Ferdinand eine Reflexion auf sein Handeln, aus der ein Schuldeingeständnis resultiert: „Ich bin der Schuldige. Ich zuerst zerriß ihrer [Louises] Unschuld goldenen Frieden – wiegte ihr Herz mit vermessenen Hoffnungen, und gab es verrätherisch der wilden Leidenschaft Preiß.“ (NA 5N, S. 64 sowie 65) Die Darstellung von Ferdinands Emotionsprogrammen kann als Strategie aufgefasst werden, die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz der in der Rede sprachlich repräsentierten Sachverhalte zu lenken bzw. die emotive Signifikanz dieser Sachverhalte zusätzlich zu akzentuieren.

4.2.2.2 Eloquentia corporis An der Szene II/3 kann beispielhaft gezeigt werden, dass die Nebentext-Informationen in diesem Drama eine herausragende Rolle spielen. Ich habe im Kapitel 3.2.2.11 vorgeschlagen, die Funktionsbestimmung des Nebentextes von der konzeptionellen Ausrichtung des gesamten Dramentextes abhängig zu machen, sodass dem Nebentext eines als Lesedrama konzipierten Dramas primär eine Informationsfunktion und demjenigen eines im Hinblick auf eine Theateraufführung konzipierten Dramas neben der Informations- auch eine Appellfunktion zugewiesen werden kann. Diese Unterscheidung gilt es bei der Nebentext-Analyse des Dramas Kabale und Liebe zu berücksichtigen, insofern dieses sowohl in einer als Lesedrama konzipierten Druckfassung als auch in einer für die Theateraufführung konzipierten Bühnenbearbeitung vorliegt. Bereits die auffallend hohe Quantität der Nebentext-Informationen liefert einen Hinweis auf deren dramaturgische Bedeutung. Ich unterscheide für das Drama Kabale und Liebe fünf Typen von Nebentext-Informationen, wobei ich den Begriff der Information sowohl auf Informationen über die fiktive Welt als auch auf Informationen zur Aufführungspraxis im Sinne von Regieanweisungen beziehe: (1) Informationen zur Mimik (mimisch), (2) Informationen zur Gestik (gestisch), (3) Informationen zu Bewegungen und Anordnung im Raum (proxemisch und lokativ)¹²⁵, (4) Informationen zum sprachlichen Verhalten und (5) Informationen zu Gemütszuständen (emotiv).

 Den Beschreibungstypen (1), (2) und (3) entsprechen die drei kinesischen Zeichenarten in Erika Fischer-Lichtes Theater-Semiotik: (1) proxemische Zeichen, (2) gestische Zeichen und (3) mimische Zeichen. Bewegungen, Mimik und Gestik haben auf der Theaterbühne eine semiotische Funktion,

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Zu den Informationstypen (1) und (2) zählen Redeinhalte begleitende oder ersetzende körperliche Gefühlsaudrücke wie „entfärbt sich und zittert“ (NA 5N, S. 54 sowie 55) bzw. Bewegungen des Körpers wie „hält seine Hand fest“ (NA 5N, S. 62 sowie 63) oder „hält das Gesicht mit beiden Händen bedekt“ (NA 5N, S. 64 sowie 65). Zum Typ (2) zähle ich außerdem phonetische Informationen z. B. zur Intonation: „FERDINAND. (langsam und mit Nachdruk): […]“ (NA 5N, S. 56 sowie 57) oder zur Lautstärke: „leiser“ (NA 5N, S. 64 sowie 65). Der Informationstyp (3) gibt Auskunft darüber, wie sich die Figuren im Raum bewegen (proxemisch) oder wo sich die Figuren im Raum befinden (lokativ). Proxemische Informationen sind beispielsweise „von ihm weggehend“ (NA 5N, S. 56 sowie 57), „eilt ihr nach“ (NA 5N, S. 60 sowie 61) oder „kommt zurük“ (NA 5N, S. 60 sowie 61). Lokative Informationen sind Informationen zur Position der Figuren im Raum von der Art „Lady hat sich unterdeß bis an das äußerste Ende des Zimmers zurükgezogen“ (NA 5N, S. 64 sowie 65). Beim Informationstyp (4) handelt es sich um Informationen von der Art „fällt ihr ins Wort“ (NA 5N, S. 62 sowie 63), die also Auskunft darüber geben, wie sich Figuren sprachlich verhalten, d. h. ob sie beispielsweise die Rede eines Dialogpartners unterbrechen oder schweigen. Der Informationstyp (5) bezieht sich auf den Inhalt bzw. die Qualität einer Emotion und antwortet auf die Frage ‚Was empfindet die Figur?‘. Solche emotiven Informationen geben also Auskunft über das Emotionsprogramm, das eine Rede begleitet oder die verbale Sprache ersetzt. So dokumentiert der Nebentext beispielsweise den Affekt der Angst, der die Rede der Lady Milford begleitet, die zuerst „mit einer Beängstigung“ (NA 5N, S. 54 sowie 55) und im Verlaufe des Dialogs „mit immer steigender Angst“ (NA 5N, S. 56 sowie 57) spricht. Nebentext-Informationen dieses Typs weisen die Figuren außerdem als gerührt („mit immer zunehmender Rührung“ [NA 5N, S. 60 sowie 61]), „sehr bewegt“ (NA 5N, S. 60 sowie 61) oder „erschüttert“ (NA 5N, S. 62 sowie 63) aus. Die Informationstypen (1) bzw. (2) und (5) sind zwar systematisch unterscheidund separat beschreibbar, fallen in der sprachlichen Repräsentation des Nebentextes aber häufig zusammen. Dies ist z. B. bei der Nebentext-Angabe „im Ausdruck des heftigsten Leidens“ (NA 5N, S. 64 sowie 65) der Fall, die sowohl Informationen zur Mimik der sprechenden Figur als auch Informationen zum von dieser Mimik ausgedrückten Affekt enthält. Neben dieser finden sich noch weitere Nebentext-Informationen, die sich nicht eindeutig dem Typ (1) bzw. (2) oder (5) zuschreiben lassen, da sie sowohl als Information zur Ausdrucksweise als auch als Information zur emotionalen Disposition der sprechenden Figur aufgefasst werden können. Dies gilt etwa für die Informationen „frostig“, „gelassen“ oder „schmerzhaft“ (NA 5N, S. 56 sowie 57). Die Ambiguität solcher Informationen ist Ausdruck der im achtzehnten Jahrhundert verbreiteten, an die Denkfigur des ganzen Menschen gekoppelten anthro-

insofern der Schauspieler mit ihnen auf bestimmte Inhalte (z. B. Emotionen) referiert (vgl. FischerLichte: Semiotik des Theaters I, bes. S. 31– 93).

4.2 Kabale und Liebe

141

pologischen Vorstellung einer eloquentia corporis ¹²⁶, d. h. der rhetorischen Ausdrucksstärke des Körpers, der als Zeichensystem für die nonverbale Repräsentation von Emotionen aufgefasst wird. Bei den Nebentext-Informationen des Typs (1) und (2) handelt es sich demnach um eine Form der Theatersemiotik, insofern Mimik und Gestik auf bestimmte Gemütszustände verweisen, also als Zeichen von emotiven Inhalten fungieren. Die Information, dass sich Ferdinand noch vor der Erzählung der Lady Milford „auf seinen Degen“ (NA 5N, S. 58 sowie 59) stützt, verweist auf die Selbstsicherheit dieser Figur, während die Information, dass er im Verlaufe der Erzählung „wärmere Blike auf die Lady“ (NA 5N, S. 60 bzw. 61) richtet, sein zunehmendes Mitgefühl mit der Erzählerin anzeigt. Der Informationstyp (3) lässt sich von den Typen (1) und (2) unterscheiden, insofern Bewegungen im Raum zwar aus bestimmten Gemütszuständen resultieren, im Grunde aber Beziehungen zwischen Figuren symbolisieren und also nonverbaler Ausdruck von spezifischen Sachverhalten sein können. So drückt z. B. die Information, dass sich die Milford „bis an das äußerste Ende des Zimmers zurükgezogen“ (NA 5N, S. 64 sowie 65) habe, den Umstand aus, dass Ferdinand ihre Avancen zurückweist und stattdessen seine Liebe zu Louise Miller beichtet. Bei der Information „Der Major bleibt in sprachloser Erstarrung stehn“ (NA 5N, S. 66 sowie 67), die dem Informationstyp (4) (Informationen zum sprachlichen Verhalten) zugeschrieben werden kann, handelt es sich um einen Spezialfall physischer Zeichenhaftigkeit, insofern der nonverbale Ausdruck den verbalen nicht begleitet, sondern ersetzt. Die Reaktion Ferdinands auf die Ankündigung der Lady Milford, sie werde Ferdinand zu einer Verbindung mit ihr zwingen, wird ihrerseits nicht mehr verbal repräsentiert, sondern gerade durch verbale Sprachlosigkeit ausgedrückt. Bei der Darstellung „sprachloser Erstarrung“ (NA 5N, S. 66 sowie 67) handelt es sich um einen dramaturgischen Kunstgriff, durch den die Dramenhandlung zum Stillstand gebracht wird. Die dramaturgische Konstruktion eines Handlungsunterbruchs kann als rhetorische Strategie für eine emphatische Akzentuierung¹²⁷ der emotiven Bedeutsamkeit eines unmittelbar davor sprachlich repräsentierten Sachverhalts aufgefasst werden. Der „Verzicht auf sprachliche Materialisierung“¹²⁸ in einem genuin sprachlichen Medium führt zu einer Irritation in der Rezeption, sodass die Darstellung des Schweigens die Disposition aufweist, die Aufmerksamkeit auf das unmittelbar zuvor Mitgeteilte zu lenken. Die Stilllegung der Handlung durch Sprech-Pausen erweist sich demnach als zusätzliche Strategie, die Aufmerksamkeit vom semantischen Gehalt (der Bedeutung) eines spezifischen Sachverhalts abzuziehen und auf die

 Zur Theorie und Geschichte der eloquentia corporis vgl. Košenina, S. 31– 184 sowie Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009 (Theatron. Bd. 54), S. 32– 40.  Zur semantischen Gedanken-Emphase (emphasis) vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 3. Aufl. Mit einem Vorwort von Arnold Arens. Stuttgart 1990, § 905, S. 451.  Lausberg, S. 451.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

emotive Signifikanz (Bedeutsamkeit) des Sachverhalts zu lenken.¹²⁹ Die nonverbale Reaktion Ferdinands auf die Rede der Lady Milford verleiht dem sprachlich repräsentierten Sachverhalt („Ich laß alle Minen sprengen.“ [NA 5N, S. 66 sowie 67]) eine zusätzliche, über den semantischen Gehalt des Sachverhalts hinausgehende und sprachlich nicht repräsentierbare Bedeutungskomponente oder eben Bedeutsamkeit: „sie geht schnell ab. Der Major bleibt in sprachloser Erstarrung stehn. (Pause). Dann stürzt er fort durch die Flügeltüre.“ (NA 5N, S. 66 sowie 67) Die durch das rhetorische Mittel der Sprech-Pause konstruierte Emphase wird in diesem Fall noch zusätzlich intensiviert, insofern die Pause die Szene beschließt. Damit kann einerseits der Leser des schriftlich fixierten Dramentextes, der das Rezeptionstempo selber bestimmt, in der Lektüre innehalten und über das emphatisch Akzentuierte nachdenken. Andererseits erhält auch der Zuschauer einer Theateraufführung durch die logistische Pause des Szenenwechsels Gelegenheit, die emotive Tragweite des bisher Dargestellten zu bedenken. Im Gegensatz zur Theateraufführung, bei der der Eindruck der mimischen und gestischen Affektausdrücke auf den Zuschauer vom Können der Schauspieler abhängig ist, muss die Evidenz der körperlichen Rhetorik im schriftlich fixierten Dramentext qua Sprache erzeugt werden.¹³⁰ Die Darstellung von Sprech-Pausen erweist sich außerdem als Mittel, eine thematisch implizierte emotive Signifikanz von Sachverhalten auszudrücken. In der Szene II/5, in der Ferdinand Louise seine Sympathien gegenüber der Lady Milford beichtet, wird die Bedeutung der Sprachlosigkeit und des starren Blicks durch die folgende Rede zumindest partiell aufgeschlüsselt: FERDINAND. (tritt zurük, und schaut sie bedeutend an) Eine Stunde, Louise, wo zwischen mein Herz und Dich eine fremde Gestalt sich warf – wo meine Liebe vor meinem Gewissen erblaßte – wo meine Louise aufhörte, Ihrem Ferdinand alles zu seyn – – LOUISE. (sinkt mit verhülltem Gesicht auf den Sessel nieder). FERDINAND. (geht schnell auf sie zu, bleibt sprachlos mit starrem Blik vor ihr stehen, dann verläßt er sie plözlich, in großer Bewegung) Nein! Nimmermehr! Unmöglich Lady! Zuviel verlangt! Ich kann Dir diese Unschuld nicht opfern – Nein beim unendlichen Gott! ich kann meinen Eid nicht verlezen, der mich laut wie des Himmels Donner aus diesem brechenden Auge mahnt – Lady blik hieher – hieher du Rabenvater – Ich soll diesen Engel würgen? Die Hölle soll ich in diesen himmlischen Busen schütten? […]. (NA 5N, S. 70 sowie 71)

Die emotive Signifikanz des Sachverhalts, dass Louise der Lady Milford aufgeopfert werden soll, ist in der sprachlichen Repräsentation des Sachverhalts thematisch im Sinne von ‚Es ist tragisch, dass eine Unschuldige geopfert werden soll‘ impliziert und durch die Sprech-Pausen akzentuiert. Die Ausrufezeichen fungieren dabei als Mar-

 Zur Unterscheidung von Bedeutung und emotiver Bedeutsamkeit eines Sachverhalts vgl. das Kapitel 3.2.1.2 dieser Untersuchung.  Zur Funktion der sprachlichen Repräsentation von Gestik und Mimik im schriftlich fixierten Dramentext vgl. Košenina, S. 33.

4.2 Kabale und Liebe

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kierungen dieser thematischen Implikation, die außerdem noch durch die Sprachlosigkeit und den starren Blick Ferdinands signalisiert wird. In der Szene III/6, in der der Sekretär Wurm Louise den Brief an den Hofmarschall von Kalb diktiert, kommt der Sprech-Pause eine ähnliche Funktion zu: WURM. „An Herrn Hofmarschall von Kalb“ LOUISE. Ewige Vorsicht! ein Name, so fremd meinen Ohren, als meinem Herzen diese schändlichen Zeilen (sie steht auf, und betrachtet eine große Pause lang mit starrem Blik das Geschriebene, endlich reicht sie es dem Sekretair, mit erschöpfter hinsterbender Stimme) Nehmen Sie mein Herr. Es ist mein ehrlicher Name – es ist Ferdinand – ist die ganze Wonne meines Lebens, was ich jezt in Ihre Hände gebe – Ich bin eine Bettlerin! (NA 5N, S. 116 sowie 117)

Die Gedankenstriche können in diesem Fall als Markierung verbaler Sprachlosigkeit aufgefasst werden, die ihrerseits die emotive Signifikanz der sprachlich repräsentierten Sachverhalte markiert. Die eloquentia corporis oder „körperliche Beredsamkeit“¹³¹, wie Lessing die Rhetorik der Körpersprache bezeichnete, bestimmt bereits den ersten Dialog zwischen Louise und Ferdinand in der Szene I/4, die mit der folgenden Nebentext-Information beginnt: „Ferdinand von Walter. Louise. (Er fliegt auf sie zu – sie sinkt entfärbt und matt auf einen Seßel – er bleibt vor ihr stehn – sie sehen sich eine Zeitlang stillschweigend an. Pause).“ (NA 5N, S. 22 sowie 23) Die emotive Signifikanz des Sachverhalts, dass sich Ferdinands Liebesabsolutismus nicht mit dem bürgerlichen Tugend-Ideal Louises vereinen lässt, wird hier nicht nur durch die Sprech-Pause, sondern auch durch die Anordnung der Figuren im Raum angedeutet.

4.2.2.3 Das literarische Tableau Für diese Form der visuellen Semantik existiert in der Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts der Begriff des literarischen Tableaus, der die symbolische Vergegenwärtigung spezifischer Sachverhalte durch eine bestimmte Figurendisposition auf der Theaterbühne bezeichnet. Schiller hat sich bei der dramatischen Konzeption solcher Tableaus mit großer Wahrscheinlichkeit an der Theorie Denis Diderots orientiert. Dass Schiller Diderots Schriften gekannt hat, lässt sich bereits anhand einiger frappanter Parallelen zwischen den Dramentheorien der beiden Schriftsteller nachweisen und wird außerdem von Schillers Jugendfreund Andreas Streicher bezeugt.¹³² Die Adaptation von durch Diderot geprägten wirkungsästhetischen Begriffen wie Situation („situation“) oder Interesse („intérêt“) lässt darauf schließen, dass Schiller nicht (nur)

 Gotthold Ephraim Lessing: Aus dem Nachlass: Der Schauspieler. Ein Werk, worinne die Grundsätze der ganzen körperlichen Beredsamkeit entwickelt werden. In: ders.: Werke in acht Bänden. Bd. 4: Dramaturgische Schriften, hg. von Herbert G. Göpfert, bearb. von Karl Eibl. München 1973, S. 724– 733; hier S. 724, 731 sowie 732.  Vgl. NA 7/II, S. 82.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

die damals in Theaterkreisen weitherum kursierende Übersetzung Lessings gekannt, sondern Diderots dramentheoretische Schriften im Original gelesen hat.¹³³ Diderot hat sich insbesondere in den Entretiens sur le Fils naturel (1757), einem fiktionalen Dialog zwischen dem Autor Diderot und der ebenfalls als Autor auftretenden Figur des Dorval, mit dem Begriff des literarischen Tableaus auseinandergesetzt. Für die Rekonstruktion einer Anwendung von Diderots Tableau-Begriff auf die Konzeption des Dramas Kabale und Liebe ist relevant, dass Diderot die Bestimmung des Begriffs in den Entretiens an die theoretische Konzeption des bürgerlich-familiären Illusionstheaters mit der ‚vierten Wand‘ koppelt. Diderot präsentiert in den Entretiens ein relativ breites semantisches Spektrum des Tableau-Begriffs, aus dem zwei Bedeutungen herausragen: (1) das Tableau als pantomimische, d. h. mimische, gestische oder proxemische Vergegenwärtigung eines einfachen Allgemeinen, z. B. einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft und (2) das Tableau als pantomimische Figurendisposition, d. h. als Standbild¹³⁴ eines komplexen Allgemeinen, also eines Sachverhalts. Um den Tableau-Begriff (1) verständlicher zu machen, führt Dorval ein Beispiel für das Tableau der frommen Frau („le tableau de la femme pieuse“) an: Le même homme court chez la mère. Elle dormait aussi. Elle se réveille au bruit de ses rideaux tirés avec violence. Qu’y a-t-il? demande-t-elle… Madame, le malheur le plus grand. Voici le moment d’être chrétienne. Vous n’avez plus de fils… Ah Dieu! s’écrie cette mère affligée. Et prenant un Christ qui était à son chevet, elle le serre entre ses bras. Elle y colle sa bouche. Ses yeux fondent en larmes. Et ces larmes arrosent son Dieu cloué sur une croix.¹³⁵

Dieser Tableau-Begriff bezeichnet die nonverbale, bedeutungsträchtige Darstellung eines prädikativ Allgemeinen wie „die fromme Frau“ („la femme pieuse“¹³⁶), „die zärtliche Ehefrau“ („l’épouse tendre“¹³⁷) oder „die untröstliche Mutter“ („la mère désolée“¹³⁸) und korrespondiert demnach dem metaphorischen Begriff des Gemäldes, der die perceptio praegnans einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft bezeichnet.¹³⁹ Auch wenn der aus dem lateinischen tabula (‚Tafel‘) abgeleitete und sich zuerst in der französischsprachigen Dichtungstheorie etablierende Begriff des literarischen Tableaus in der Poetologie des deutschen Sprachraums häufig mit dem Begriffsnamen Gemälde (auch als Gattungsbezeichnung) übersetzt wurde¹⁴⁰, unterscheide ich im  Vgl. die Ausführungen in NA 7/II, S. 79.  Vgl. Schneider, S. 127.  Denis Diderot: Entretiens sur le fils naturel. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. 10: Le drame bourgeois. Fiction II, hg. von Jacques Chouillet und Anne-Marie Chouillet. Paris 1980, S. 83 – 162; hier S. 113.  Diderot: Entretiens, S. 113.  Diderot: Entretiens, S. 113.  Diderot: Entretiens, S. 113.  Vgl. das Kapitel 3.2.2.5 dieser Untersuchung.  Zur Etymologie des Begriffsnamens vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2004, S. 12.

4.2 Kabale und Liebe

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Folgenden zwischen dem literarischen Gemälde als sprachlich repräsentierter perceptio praegnans eines einfachen Allgemeinen (z. B. einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft) und dem literarischen Tableau als nonverbaler perceptio praegnans eines spezifischen Sachverhalts (eines komplexen Allgemeinen). Die pointierteste Bestimmung des Tableau-Begriffs (2), um den es im Folgenden geht, findet sich bei Diderot im ersten Gespräch der Entretiens. Demnach ist ein Tableau „une disposition de ces personnages [des Dramas] sur la scène, si naturelle et si vraie, que rendue fidèlement par un peintre, elle me plairait sur la toile“¹⁴¹. Die Bestimmung des Tableaus als pantomimische Figurendisposition wird ebenfalls anhand eines Beispiels aus dem Drama Le Fils naturel illustriert: „La vue de Mahomet tenant un poignard levé sur le sein d’Irène, incertain entre l’ambition qui le presse d’enforcer et la passion qui retient son bras, est un tableau frappant.“¹⁴² In diesem Beispiel besteht das Tableau aus der symbolischen Vergegenwärtigung eines fiktional bestehenden Sachverhalts. Das dramaturgische Mittel der Tableau-Darstellung wird demjenigen des effektorientierten ‚Theaterstreichs‘ („coup de théâtre“¹⁴³) entgegengestellt.¹⁴⁴ Beim Theaterstreich handelt es sich Dorval zufolge um ein unvorhersehbares Ereignis in der Dramenhandlung, das die Situation der Figuren schlagartig verändert: „Un incident imprévu qui se passe en action et qui change subitement l’état des personnages“¹⁴⁵. Aus Diderots Definition des Tableau-Begriffs lassen sich drei wesentliche Komponenten abstrahieren, die auch für Schillers Tableau-Darstellung relevant sind: (1) eine mediale Komponente, (2) eine gehaltsästhetische Komponente und (3) eine wirkungsästhetische Komponente.

4.2.2.3.1 Mediale Komponente In den Entretiens koppelt Diderot den Begriff des Tableaus an die szenische Aufführung eines Dramentextes, sodass man sich ein Tableau ganz konkret als sinnbildliche Figurengruppierung auf der Theaterbühne vorzustellen hat. Es handelt sich um eine „disposition […] sur la scène“¹⁴⁶, also ein nonverbales Zeichensystem, in dem sich Bedeutung durch mimische, gestische, proxemische usw. Zeichen konstituiert. Ein Tableau ist demnach eine stumme Szene („une scène muette“¹⁴⁷), in der die Anord Diderot: Entretiens, S. 92.  Diderot: Entretiens, S. 141.  Diderot: Entretiens, S. 91.  Zur Unterscheidung zwischen tableau und coup de théâtre aus einer soziohistorischen Perspektive vgl. Peter Szondi: Lektüren und Lektionen. Versuche über Literatur, Literaturtheorie und Literatursoziologie. Frankfurt a. M. 1973, S. 21– 36. Szondi begreift das Tableau als ein Symbol des BürgerlichPrivaten und den ‚Theaterstreich‘ als Widerspiegelung höfisch-aristokratischer „Wandelbarkeit“ und „Unbeständigkeit“ (Szondi, S. 23).  Diderot: Entretiens, S. 92.  Diderot: Entretiens, S. 92.  Diderot: Entretiens, S. 112.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

nung der Figuren im Raum sowie der pantomimische Ausdruck als Zeichen fungieren, die symbolisch auf die Beziehung zwischen den Figuren verweisen. In der poetologischen Abhandlung De la poésie dramatique spezifiziert Diderot die Pantomime als diejenige Darstellungsweise, die dem Dialog ‚Energie‘ („l’énergie“) und ‚Klarheit‘ („clarté“) verleihe.¹⁴⁸ Hinter der Tableau-Konzeption verbirgt sich die Horaz’sche Denkfigur des ut pictura poiesis ¹⁴⁹, also die Analogie von Dichtung und Malerei. Über diese geht Diderot aber hinaus, insofern es ihm um eine Übertragung der spezifischen Merkmale des Mediums Malerei in das Medium Drama geht, das er jenem vorzieht: Serait-ce une règle qu’il faut s’éloigner de la chose, à mesure que l’art en est plus voisin, et mettre moins de vraisemblance dans une scène vivante où les hommes même agissent, que dans une scène colorée, où l’on voit, pour ainsi dire, que leurs ombres?¹⁵⁰

Im Gegensatz zum Gemälde der Malerei sei das Tableau auf der Theaterbühne eine ‚belebte Dekoration‘ („décoration animée“¹⁵¹). Das temporale Spezifikum des Tableaus, eine zeitliche Abfolge in einer Momentaufnahme zu fixieren¹⁵², generiert ein retardierendes Moment in der Dramenhandlung, das ein Potential für die Lenkung der Aufmerksamkeit aufweist. In Bezug auf die Medialität des Tableaus ist schließlich zu bedenken zu geben, dass seine Darstellung im schriftlich fixierten Dramentext und in der szenischen Aufführung auf einer Theaterbühne grundsätzlich verschieden ist. Im schriftlich fixierten Dramentext ist das Tableau im Nebentext als Information über die fiktive Welt oder auch als Regieanweisung sprachlich repräsentiert und kann hier „episierend“¹⁵³ wirken, insofern seine Darstellung das showing des dialogischen Haupttextes durch ein telling unterbricht.

4.2.2.3.2 Gehaltsästhetische Komponente Diderot alias Dorval bestimmt das Tableau mit den Prädikaten „natürlich“ („naturelle“) und „wahr“ („vraie“).¹⁵⁴ Bereits die Verbindung des Wahrheitsbegriffs mit demjenigen der Natürlichkeit weist darauf hin, dass Diderot hier keinen logischen, sondern einen ästhetischen Wahrheitsbegriff verwendet und unter Wahrheit ‚Wahrscheinlichkeit‘ („vraisemblance“¹⁵⁵), ‚Wahrhaftigkeit‘ ‚Sinnfälligkeit‘ oder eben ‚Natürlichkeit‘ versteht. Die Unterscheidung zwischen einem logischen und einem äs-

 Vgl. Denis Diderot: De la poésie dramatique. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. 10: Le drame bourgeois. Fiction II, hg. von Jacques Chouillet und Anne-Marie Chouillet. Paris 1980, S. 324– 427; hier S. 410.  Vgl. Kap. 3.2.2.5, Anm. 149.  Diderot: Entretiens, S. 93.  Diderot: Entretiens, S. 112.  Zur temporalen Spezifik des Tableaus vgl. Graczyk, S. 19 sowie 88.  Graczyk, S. 88.  Vgl. Diderot: Entretiens, S. 92.  Diderot: Entretiens, S. 93.

4.2 Kabale und Liebe

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thetischen Wahrheitsbegriff ¹⁵⁶ manifestiert sich in Diderots Unterscheidung zwischen Wahrheit, die er der Philosophie, und Schönheit, die er den schönen Künsten zuordnet. Demnach bezeichnet der Begriff Wahrheit im Sinne einer Korrespondenztheorie die Übereinstimmung von Aussagen mit den Dingen, wie sie wirklich sind, und der Begriff Schönheit die Übereinstimmung künstlicher Abbilder (der Malerei, Bildhauerkunst oder Dichtung) mit diesen Dingen: Les beautés ont dans les arts le même fondement que dans les vérités dans la philosophie. Qu’estce que la vérité? La conformité de nos jugements avec les êtres. Qu’est-ce que la beauté d’imitation? La conformité de l’image avec la chose.¹⁵⁷

Zum Wahrheitswert des Tableaus merkt Diderot in der Fußnote 77 der Entretiens an, dass das literarische Tableau, wie es Dorval vertritt, gewissermaßen ‚doppelt‘ wahr sei („doublement ‚vraie‘“¹⁵⁸), nämlich einerseits als ‚Gemälde des wirklichen Lebens‘ („,peinture‘ de la vie“¹⁵⁹) und andererseits als ‚lebendiges Gemälde‘ („peinture ‚vivante‘“¹⁶⁰). Diderot spielt dabei auf den Begriff des Tableaus vivant an, also der pantomimischen Darstellung von Szenen aus der Malerei durch lebende Personen.¹⁶¹ In metaphysischer Hinsicht fungiert das Diderot’sche Tableau als ästhetisches Mittel, die überkomplexe Welt durch ihre Reduktion auf sinnhaft-symbolische Bilder der anschauenden Erkenntnis zugänglich zu machen. Beim Tableau handelt es sich um eine ‚Komposition‘, d. h. die teleologische Zusammenschau von Gegenständen, die in visueller Hinsicht einen panoptischen Blick und in epistemischer Hinsicht eine anschauende Erkenntnis eines Allgemeinen in seinem Besonderen ermöglicht: Un tableau bien composé est un tout renfermé sous un seul point de vûe, où les parties concourent à un même but, et forment par leur correspondance mutuelle un ensemble aussi réel, que celui des membres dans un corps animal.¹⁶²

Diderot schwebt dementsprechend eine Schaubühne vor, auf der der Zuschauer die ganze Aktion („toute l’action“¹⁶³) überschauen kann. Hinter der theoretischen Konzeption des literarischen Tableaus verbirgt sich damit auch die metaphysische Denkfigur des theatrum mundi, die der Vorstellung des Theaters als Mikrokosmos der realen Welt korrespondiert.¹⁶⁴  Vgl. das Kapitel 3.2.2.4 dieser Untersuchung.  Diderot: Entretiens, S. 150.  Diderot: Entretiens, S. 93.  Diderot: Entretiens, S. 93.  Diderot: Entretiens, S. 93.  Zur Sach- und Begriffsgeschichte des Tableau vivant vgl. Graczyk, S. 16 f.  Denis Diderot und Jean-Baptiste le Rond d’Alambert (Hg.): Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. 28 Bde. Bd. 3. Lausanne/Bern 1753, S. 772.  Diderot: Entretiens, S. 111.  Zur ideengeschichtlichen Entwicklung des literarischen Tableau-Begriffs aus dem Prinzip der wissenschaftlichen Komprimierung von Informationen auf einer tabula vgl. Graczyk, S. 11– 21.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

4.2.2.3.3 Wirkungsästhetische Komponente In wirkungsästhetischer Hinsicht weist Diderot der Tableau-Darstellung die emotive Funktion zu, Vergnügen und Rührung zu evozieren. Dabei ist die Funktion der Evokation von Vergnügen an die mediale Dramatisierungsstrategie der wahrscheinlichen, sinnreichen oder natürlichen Darstellung eines Allgemeinen im Besonderen als Komposition im oben erläuterten Sinn und die Evokation von Rührung an die inhaltliche Dramatisierungsstrategie der Darstellung eines Sachverhalts mit emotiver Signifikanz gekoppelt. Diderot zufolge eignet sich aber nicht jeder Sachverhalt der Dramenhandlung für die Tableau-Darstellung, sondern nur einfache, während komplizierte Sachverhalte verbalsprachlich zu repräsentieren seien. Er begründet dies mit dem illusionserzeugenden Effekt der Rede, die die Sachverhalte durch rhetorische Stilmittel evident machen könne: Lorsqu’une action est simple, je crois qu’il faut plutôt la représenter que la réciter. […] Mais si l’action se complique, si les incidents se multiplent, ils’en rencontrera facilement quelques-uns qui me rappelleront que je suis dans un parterre; que tous ces personnages sont des comédiens ; et que ce n’est point un fait qui se passe. Le récit au contraire me transportera au-delà de la scène. J’en suivrai toutes les circonstances. Mon imagination les réalisera comme je les ai vues dans la nature. Rien ne se démentra.¹⁶⁵

Die mediale, gehalts- und wirkungsästhetische Komponente, die aus Diderots theoretischer Konzeption des Tableau-Begriffs abstrahiert wurden, lassen sich auch aus der impliziten Wirkungspoetik von Schillers Drama Kabale und Liebe rekonstruieren. Diese Rekonstruktion soll beispielhaft an der Tableau-Darstellung zu Beginn der Szene V/7 vorgenommen werden. Die Szene, in der Ferdinand und Louise zum letzten Mal aufeinandertreffen, wird mit den folgenden Nebentext-Informationen eingeleitet: Ferdinand und Louise. (Sie kommt langsam mit dem Lichte zurük, sezt es nieder, und stellt sich auf die entgegen gesezte Seite vom Major, das Gesicht auf den Boden geschlagen, und nur zuweilen furchtsam und verstohlen nach ihm herüber schielend. Er steht auf der andern Seite, und sieht starr vor sich hinaus). Großes Stillschweigen, das diesen Auftritt ankündigen muß. (NA 5N, S. 176 sowie 177, Hervorhebung im Original)

Es handelt sich beim beschriebenen Tableau um ein nonverbales Zeichensystem, in dem Mimik („sie sieht starr vor sich hinaus“), Gestik („zuweilen furchtsam und verstohlen auf ihn herüber schielend“ / „das Gesicht auf den Boden geschlagen“) und Lokation („Er steht auf der andern Seite“) symbolisch auf das Verhältnis zwischen den Figuren verweisen, sodass man von einer visuellen Semantik sprechen kann. Diese „stillgelegte Szene“¹⁶⁶ weist die Disposition zur emphatischen Akzentuierung des durch sie symbolisch veranschaulichten Sachverhalts auf, insofern das „Stillschwei-

 Diderot: Entretiens, S. 141 f.  Graczyk, S. 79.

4.2 Kabale und Liebe

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gen“ den Fokus der Aufmerksamkeit von der Bedeutung des Sachverhalts abzieht und auf seine emotive Bedeutsamkeit lenkt.¹⁶⁷ Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sich beim Tableau um eine visuell wahrnehmbare (Theateraufführung) oder vorstellbare (Dramentext) bedeutungsträchtige, sinnreiche Darstellung eines spezifischen Sachverhalts handelt, der bei dieser Dramatisierungsstrategie nicht als singuläre Aussage innerhalb der Figurenrede sprachlich repräsentiert, sondern als sinnbildliche Figurenanordnung vergegenwärtigt wird. Die dramaturgische Konzeption des Tableaus erweist sich damit als Strategie für die Evokation von Emotionen des Rezipienten im äußeren Kommunikationssystem. Durch die Eigenschaft des Tableaus, einen bestimmten Sachverhalt von störenden Elementen zu ‚purifizieren‘¹⁶⁸, weist seine Darstellung die Disposition auf, die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz des Sachverhalts zu lenken. Bei Mimik, Gestik und Anordnung der Figuren „Louise“ und „Ferdinand“ handelt es sich um nonverbale Ausdrücke eines spezifischen Sachverhalts, dessen emotive Signifikanz durch die Emphase der Sprachlosigkeit markiert wird. Die temporale Fixierung der Handlung in einer Momentaufnahme weist die Disposition auf, einen panoptischen Blick auf das bisher Geschehene zu initiieren.

4.2.2.4 Konstruktion tragischer Sachverhalte Im Kapitel 3.2.1 wurde aus Schillers expliziter Wirkungspoetik die inhaltliche Dramatisierungsstrategie abstrahiert, tragische Sachverhalte darzustellen, die in der Affektpoetik die Disposition zur Evokation von Affekten wie Mitleid aufweisen. Tragisch meint in dieser Affektpoetik im Wesentlichen den Verstoß gegen die Maxime der poetischen Gerechtigkeit, also den Umstand, dass eine Person unverdient leidet.¹⁶⁹ Im Folgenden soll die dramaturgische Konstruktion eines tragischen Sachverhalts am Beispiel der ursprünglichen Titelfigur Louise Miller kurz erläutert und dabei gezeigt werden, dass das Tragische in diesem Fall auf einer verbal- und körpersprachlichen Verwirrung gründet. In der Szene III/6, in der Wurm Louise zum Schreiben des fingierten Briefs an den Hofmarschall von Kalb zwingt, wird die natürliche Analogie von körperlicher und verbalsprachlicher Eloquenz künstlich pervertiert, insofern Louise durch die schriftliche Fixierung etwas gestisch repräsentiert, was ihren Gefühlen widerspricht, wie sie im Nachhinein analysiert: „Meine Hand schrieb, was mein Herz verdammte“ (NA 5N, S. 186 sowie 187). Durch den erzwungenen Eid, für die Authentizität des Geschriebenen zu bürgen und über die Erpressung zu schweigen, entkoppelt sich die eloquentia corporis von der eloquentia verbalis und ersetzt diese schließlich, sodass  Vgl. zu dieser Funktion des Tableaus Graczyk, S. 17. Graczyk umschreibt dieses Phänomen als „Stillstellung einer Handlung oder Situation zu einer bedeutungsvollen Konstellation“ (Graczyk, S. 17).  Vgl. Graczyk, S. 19.  Zu diesem Begriff des Tragischen vgl. Wolfgang Düsing: Tragisch. In: RLW 3, S. 666 – 669; hier S. 666 f.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Louise ihre Emotionen fortan vor allem physisch ausdrückt. So sitzt sie zu Beginn des fünften Aktes „stumm und ohne sich zu rühren in dem finstersten Winkel des Zimmers, den Kopf auf den Arm gesunken.“ (NA 5N, S. 150 sowie 151) Als Ferdinand Louise in der Szene V/2 den Brief an den Hofmarschall von Kalb hinwirft, antwortet sie nicht verbal, sondern physisch: „schlägt ihn auseinander, und sinkt leichenblaß nieder.“ (NA 5N, S. 162 sowie 163) Die eloquentia corporis wird im inneren Kommunikationssystem durch die Missdeutungen Ferdinands als defizitär dargestellt: Bleich wie der Tod! – Jezt erst gefällt sie mir deine Tochter! So schön war sie nie die fromme rechtschaffne Tochter – Mit diesem Leichengesicht – – Der Odem des Weltgerichts, der den Firniß von jeder Lüge streift, hat jezt die Schminke verblasen, womit die Tausendkünstlerin auch die Engel des Lichts hintergangen hat – Es ist ihr schönstes Gesicht! Es ist ihr erstes wahres Gesicht! Laß mich es küssen (er will auf sie zugehen) (NA 5N, S. 162)

Ferdinand anerkennt die Authentizität der eloquentia corporis, verkennt aber den fiktional bestehenden Sachverhalt, auf den diese verweist. Louises Gesichtsausdruck ist insofern „wahr“ im Sinne von ‚authentisch‘, als er die emotive Signifikanz des fiktional bestehenden Sachverhalts ausdrückt, dass sie zum Schreiben des Briefs an den Hofmarschall, zur Behauptung nicht bestehender Sachverhalte sowie zum Verschweigen der wahren Umstände gezwungen wurde. Ferdinand deutet Louises Entfärbung hingegen als Ausdruck für die emotive Signifikanz des fiktional nicht bestehenden Sachverhalts, dass sie eine Liebesverbindung zum Hofmarschall von Kalb unterhält und die Gefühle ihm selbst gegenüber körperlich fingiert hat. Die eloquentia corporis erweist sich damit als unzulängliches Zeichensystem, insofern der körperliche Ausdruck eben nur die emotive Signifikanz und nicht den semantischen Gehalt eines Sachverhalts repräsentiert. Dieses semiotische Defizit führt zu einer Fehlinterpretation von Louises authentischer Körpersprache, die Ferdinand für Verstellung hält: Gott! Gott! und alles das nichts als Grimasse? – Grimasse? – O wenn die Lüge eine so haltbare Farbe hat, wie gieng es zu, daß sich kein Teufel noch in das Himmelreich hineinlog? Da ich ihr die Gefahr unsrer Liebe entdekte, mit welch überzeugender Täuschung erblaßte die Falsche da! Mit welch siegender Würde schlug sie den frechen Hohn meines Vaters zu Boden, und in eben dem Augenblik fühlte das Weib sich doch schuldig – Was? hielt sie nicht selbst die Feuerprobe der Wahrheit aus – die Heuchlerin sinkt in Ohnmacht. Welche Sprache wirst du jezt führen, Empfindung? Auch Koketten sinken in Ohnmacht. Womit wirst Du dich rechtfertigen Unschuld – Auch Mäzen sinken in Ohnmacht. (NA 5N, S. 120)

Aus diesen Umständen ergibt sich der grundlegende tragische Sachverhalt des Stücks, den Louise in der Szene V/7 verbalsprachlich andeutet: Ein entsezliches Schiksal hat die Sprache unsrer Herzen verwirrt. Dürft ich den Mund aufthun, Walter, ich könnte dir Dinge sagen – ich könnte – – aber das harte Verhängniß band meine Zunge, wie meine Liebe, und dulden muß ichs, wenn du mich wie eine gemeine Mäze mishandelst. (NA 5N, S. 184 sowie 185)

4.2 Kabale und Liebe

151

Während Louise die emotive Signifikanz fiktional bestehender Sachverhalte im Sinn der eloquentia corporis physisch adäquat repräsentieren kann, ist ihr die verbalsprachliche Berichtigung des fiktional nicht bestehenden Sachverhalts, dass sie Ferdinand mit dem Hofmarschall von Kalb hintergangen hat, untersagt. Aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas Kabale und Liebe sowohl in seiner Druckfassung als auch in seiner Bühnenbearbeitung lässt sich also neben der sprachlichen Repräsentation von spezifischen Sachverhalten mit emotiver Signifikanz auch die sprachliche (im schriftlich fixierten Dramentext) und szenische (im Rahmen einer Theateraufführung) Repräsentation von verbaler Sprachlosigkeit rekonstruieren. Die Darstellung verbaler Sprachlosigkeit als Schweigen, eloquentia corporis oder auch literarisches Tableau weist die Disposition zur Lenkung der Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz spezifischer Sachverhalte auf. Bei der eloquentia corporis handelt es sich um eine nonverbale Kommunikationsform, bei der die Bewegungen des Körpers (z. B. Mimik und Gestik) die emotionale Einstellung der entsprechenden Figur gegenüber einem bestimmten Sachverhalt ausdrücken, also um die nonverbale Repräsentation emotiver Signifikanz. Beim Tableau handelt es sich um die bedeutungsträchtige, sinnreiche Vergegenwärtigung, also die perceptio praegnans eines bestimmten Sachverhalts, der nicht als singuläre Aussage innerhalb der Figurenrede sprachlich repräsentiert, sondern als sinnbildliche Figurenanordnung vergegenwärtigt wird.

4.2.3 Kognitive Funktionen 4.2.3.1 Initiation einer kritischen Reflexion: Affektpoetologie Aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas Kabale und Liebe lassen sich ähnliche affektpoetologische Strategien rekonstruieren wie aus derjenigen des Dramas Die Räuber, sodass sich die in der Schiller-Forschung oft anzutreffende Behauptung, die Dramaturgie von Kabale und Liebe ziele einseitig auf affektive Wirkungen¹⁷⁰, zumindest als unterkomplex erweist. Ebenso wie im Drama Die Räuber werden die der barocken Affektpoetik zugrunde liegenden Mechanismen auch im Drama Kabale und Liebe als Instrumente der Antagonisten für die Manipulation der Mitmenschen dargestellt. Der Sekretär Wurm vertritt eine materialistische, die Kalkulierbarkeit des Menschen voraussetzende Affekttheorie, die sich sprachlich durch Sentenzen repräsentieren lässt: „Zwang erbittert die Schwärmer immer, aber bekehrt sie nie.“ (NA 5N,

 Vgl. z. B. Liewerscheidt, S. 179 – 188. Liewerscheidt erschließt aus der impliziten Wirkungspoetik der Druckfassung eine „konsequente Wirkungsbetontheit“ (S. 179), einen „theatralen Beeindruckungswillen, ja die ästhetische Gewaltsamkeit ihres Autors“ (S. 182) sowie einen „schier unbändigen Drang zu dramatischer Übersteuerung“ (S. 185), die die „Wahrnehmungstoleranz des Zuschauers“ (S. 188) strapazierten. Alt moniert eine Affektkalkulation, die als Reaktion auf den Publikumsmisserfolg der Fiesko-Inszenierung zu erklären sei (vgl. Alt: Schiller I, S. 354). Zu einem anderen Ergebnis kommt hingegen Martus: Schillers Metatheater.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

S. 84 sowie 85) Dabei weist die Repräsentation einer solchen Affektpoetik durch eine lasterhafte Figur die Disposition auf, eine kritische Einstellung gegenüber dem affekttheoretischen Schematismus zu initiieren, insofern die moralische Beurteilung der Lehre an die emotionale Einstellung gegenüber der sie repräsentierenden Figur gekoppelt ist. Bei den Personencharakterisierungen Wurms handelt es sich um treffende Interpretationen der Figuren, wie sie bis zu dieser Szene dargestellt wurden. Über Louise sagt der Sekretär: „Ich kenne das gute Herz auf und nieder. Sie hat nicht mehr als zwo tödliche Seiten, durch welche wir ihr Gewissen bestürmen können – ihren Vater und den Major.“ (NA 5N, S. 88 sowie 89) Aufgrund der Adäquatheit der Charakterbeschreibung scheint auch das von Wurm skizzierte Szenario plausibel: WURM Sie [Louise] liebt ihren Vater – bis zur Leidenschaft möcht ich sagen. Die Gefahr seines Lebens – seiner Freiheit zum mindesten – die Vorwürfe ihres Gewissens den Anlaß dazu gegeben zu haben – Die Unmöglichkeit, den Major zu besizen – endlich die Betäubung ihres Kopfs, die ich auf mich nehme – Es kann nicht fehlen – Sie muß in die Falle gehn. (NA 5N, S. 88 und 90 sowie S. 89 und 91) WURM […] Und sehen Sie nun, wie schön wir beide auf diese Manier zum Ziel kommen werden – Das Mädchen verliert die Liebe des Majors, und den Ruf ihrer Tugend. Vater und Mutter ziehen gelindere Saiten auf, und durch und durch weich gemacht von Schiksalen dieser Art, erkennen sie’s noch zulezt für Erbarmung, wenn ich der Tochter durch meine Hand ihre Reputation wieder gebe. (NA 5N, S. 90 sowie 91)

Die Erkenntnis der Adäquatheit von Wurms Charakterisierung korrespondiert einer Einsicht in die plakative Figurenzeichnung in den ersten beiden Akten, die die Rezensenten Schiller seit der Erstaufführung des Stücks immer wieder vorgeworfen haben.¹⁷¹ Eine kognitive Funktion des Dramas besteht jedoch auch aus der Vermittlung der Kenntnis, dass sich die Personenpsychologie als viel komplexer erweist, als es die von den Antagonisten repräsentierte schematisierte Affektpoetik des Barock suggeriert. Louise in der Szene V/1 der Druckfassung und Ferdinand in der letzten Szene der Druckfassung und der Bühnenbearbeitung weisen auf diesen Umstand hin: LOUISE. […] Die Liebe ist schlauer als die Bosheit und kühner – das hat er nicht gewußt, der Mann mit dem traurigen Stern – O! sie sind pfiffig, so lang sie es nur mit dem Kopf zu thun haben, aber sobald sie mit dem Herzen anbinden, werden die Böswichter dumm – – (NA 5N, S. 152) FERDINAND [zu seinem Vater]. […] Fein und bewundernswerth, ich gesteh’s, war die Finte, den Bund unsrer Herzen zu zerreissen durch Eifersucht – Die Rechnung hatte ein Meister gemacht, aber schade nur, daß die zürnende Liebe dem Draht nicht so gehorsam blieb, wie deine hölzerne Puppe. (NA 5N, S. 188 sowie 189)

Die sprachliche Repräsentation dieser Sachverhalte durch Sympathie erzeugend dargestellte Figuren weist die Disposition auf, im äußeren Kommunikationssystem

 Für einen Überblick vgl. Košenina, S. 251.

4.2 Kabale und Liebe

153

eine kritische Reflexion auf eine materialistisch-schematisierte Affektpoetik zu initiieren. Aus der impliziten Wirkungspoetik des schriftlich fixierten Dramentextes lassen sich des Weiteren Strategien rekonstruieren, die die Disposition aufweisen, MetaKognitionen zu initiieren und dadurch die durch die Darstellung einer eloquentia corporis erzeugten Illusionseffekte¹⁷² zu zerstören oder mindestens zu stören. Zu diesen Strategien gehört beispielsweise der Kommentar des Präsidenten zum Intrigenplan des Sekretärs Wurm: „Das Geweb ist satanisch fein“ (NA 5N, S. 90 sowie 91). Er kann als metadramatischer Verweis auf die Dramaturgie des Dramentextes aufgefasst werden¹⁷³, wobei die etymologische Anspielung des Wortes Gewebe auf seinen Ursprung im Wort textus die poetologische Dimension des Kommentars markiert. Einen ähnlichen illusionsdurchbrechenden Effekt hat die Darstellung von Louises Bewusstsein für die Wirkungskategorie des Heroisch-Erhabenen, wenn sie in der Szene III/4 zu Ferdinand sagt: „Laß mich die Heldin dieses Augenbliks seyn“ (NA 5N, S. 102 sowie 103) oder (in der Szene IV/7): „Ha! So könnt ich mir ja noch den Schein einer Heldin geben, und meine Ohnmacht zu einem Verdienst aufpuzen“ (NA 5N, S. 140 sowie 141). Zu den Strategien für die Initiation von Meta-Kognitionen gehört insbesondere der poetologische Kommentar des Musikus Miller in der Szene V/1, in der sich Louise gegen den Liebhaber und für den Vater entscheidet und mit Letzterem aus „der Stadt, wo meine Gespielinnen meiner spotten, und mein guter Name dahin ist auf immerdar“ (NA 5N, S. 158 sowie 159), fliehen will: Wohin du nur wilst, meine Tochter. Das Brod unsers Herrgotts wächst überall, und Ohren wird er auch meiner Geige bescheeren. Ja! Laß auch alles dahingehn – Ich seze die Geschichte deines Grams auf die Laute, singe dann ein Lied von der Tochter, die, ihren Vater zu ehren, ihr Herz zerriss’ – wir betteln mit der Ballade von Thüre zu Thüre, und das Allmosen wird köstlich schmeken von den Händen der Weinenden – (NA 5N, S. 158 und 160 sowie S. 159 und 161)

Die hier von Miller noch einmal aktualisierte Geschichte der zu einem Verlust gezwungenen und sich für den Vater aufopfernden Tochter sowie die potentielle Wirkung entsprechen dem Narrativ¹⁷⁴ und der Wirkungsintention der im achtzehnten Jahrhundert entstehenden empfindsam-rührenden Schema-Literatur, zu der das Melodrama oder das rührende Familienspiel gehören.¹⁷⁵ Der tragische Sachverhalt wird

 Zum theoretischen Konnex von eloquentia corporis und Illusion in der seelenkundlichen Poetologie des achtzehnten Jahrhunderts vgl. Košenina, S. 247– 250.  Zur poetologischen Dimension des Kommentars vgl. Nikola Roßbach: „Das Geweb ist satanisch fein.“ Friedrich Schillers Kabale und Liebe als Text der Gewalt. Würzburg 2001 (Würzburger wissenschaftliche Schriften. Bd. 333), S. 78 sowie 96.  Unter Narrativ verstehe ich ein bestimmtes Erzählschema, das aus soziokulturell oder auch gattungspoetologisch etablierten Scripts und Frames besteht.  Zum typischen Handlungsmuster des Rührenden Familienschauspiels vgl. Günter Saße: Rührendes Lustspiel. In: RLW 3, S. 337– 339; hier S. 338.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

hier nicht durch ein an die emotive Funktion der Affekterzeugung gekoppeltes Tableau symbolisiert, sondern durch den verbalsprachlichen Verweis auf seine Wirkungsdisposition poetologisch kommentiert. Dieser poetologische Kommentar weist die Disposition auf, einerseits die Aufmerksamkeit im äußeren Kommunikationssystem von der emotiven Signifikanz des Sachverhalts abzuziehen und auf gattungspoetologische Konventionen zu lenken und andererseits eine auf dem Bewusstsein um diese Konventionen basierende Reflexion auf die Dramaturgie des vorliegenden (schriftlich fixierten oder physisch auf der Theaterbühne repräsentierten) Dramentextes zu initiieren. Der Auftritt Ferdinands im Anschluss an den poetologischen Kommentar Millers initiiert das Bewusstsein einer Differenz zwischen der im poetologischen Kommentar beschriebenen trivialen Dramaturgie und der ‚ambitionierten‘ Dramaturgie¹⁷⁶ des vorliegenden Dramentextes, die sich als komplexer erweist. Das Drama Kabale und Liebe weist zwar einige für das Rührstück typische Elemente wie beispielsweise die illusionserzeugende Repräsentation interessanter oder tragischer Sachverhalte durch Tableaus oder die Mischung aus Komik und Tragik auf. Gleichzeitig stellt es das primär auf Affektevokation zielende Schema des theatralen Melodramas¹⁷⁷ und bürgerlichen Rührstücks¹⁷⁸, wie sie im achtzehnten Jahrhundert in Anlehnung an die englische sentimental comedy sowie die französische comédie larmoyante vor allem August von Kotzebue oder August Wilhelm Iffland verfasst haben, aber auch aus. Das für die Gattung des Melodramas konstitutive Medium der Musik hat im Drama Kabale und Liebe entsprechend eine symbolisch-veranschaulichende Funktion. Die Musikinstrumente, die den Figuren zur Verfügung stehen, werden als Musikinstrumente ent-funktionalisiert und als Symbole für das emotionale Dispositiv der Figuren re-funktionalisiert. Diese Neucodierung des Musikinstruments, dem in der als Lesedrama konzipierten Schauspiel-Fassung der Räuber noch die aus dem dramaturgischen Schema des Melodramas entlehnte Funktion der Affekterzeugung zukommt, lässt sich an der Szene III/4 in der Druckfassung von Kabale und Liebe veranschaulichen, in der Ferdinand das Spiel auf der Violine abbricht und das Instrument zerstört: „FERDINAND. (hat in der Zerstreuung und Wut eine Violine ergriffen, und auf derselben zu spielen versucht – Jetzt zerreißt er die Saiten, zerschmettert das Instrument auf dem Boden, und bricht in ein lautes Gelächter aus.)“ (NA 5N, S. 104) Somit weist auch die implizite Wirkungspoetik des unter dem gattungspoetologischen Etikett „Bürgerliches Trauerspiel“ firmierenden Dramas Kabale und Liebe die Disposition auf, die proximat-kognitive Funktion der Ent-Automatisierung kulturell etablierter Rezeptionsroutinen und die ultimat-kognitive Funktion der Reflexion auf und

 Zum Auseinanderklaffen von „Trivialdramatik“ und „ambitionierte[r] Dramatik“ in den 80er und 90er Jahren des achtzehnten Jahrhunderts vgl. Eibl: Bürgerliches Trauerspiel, S. 286.  Zur affektiven Komponente des Melodramas vgl. Schimpf, S. 60 f.  Zu den zentralen Motiven dieses Genres vgl. Horst Albert Glaser: Das bürgerliche Rührstück. Analekten zum Zusammenhang von Sentimentalität mit Autorität in der trivialen Dramatik Schröders, Ifflands, Kotzebues und anderer Autoren am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart 1969 (Dichtung und Erkenntnis. Bd. 9).

4.2 Kabale und Liebe

155

Emanzipation von einer aus der hermeneutischen Perspektive Schillers hinderlichen Affektpoetik¹⁷⁹ zu erfüllen.

4.2.3.2 Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis: Figurenkonzeptionen als perceptiones praegnantes Auch im Drama Kabale und Liebe konstituieren sich die Figurenkonzeptionen durch bestimmte Handlungs- und Denkweisen als perceptiones praegnantes eines bestimmten Menschentypus bzw. einer Eigenschaft der condicio humana. Diese Denkweisen lassen sich mit dem im Kapitel 4.1.3.2 erarbeiteten Begriff der Ideologie beschreiben. Dabei handelt es sich um ein a-, para- oder pseudotheoretisches, nichtoder anti-szientifisches sowie affektiv besetztes System von Meinungen und Überzeugungen, das (1) in rhetorischer Hinsicht als Argumentationsmodell für die Begründung von Handlungen (retrospektiv) und Handlungsintentionen (prospektiv), (2) in hermeneutischer Hinsicht als Sinngenerator für die Plausibilisierung von Ereignissen und (3) in pragmatischer Hinsicht als Katalysator für die praktische Umsetzung von Handlungsintentionen fungiert. Wie bereits bei der Analyse des Dramas Die Räuber soll auch hier aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramentextes rekonstruiert werden, welche Funktionen an die Darstellung solcher Ideologien gekoppelt sind. Es wird also gefragt, ob die Darstellung die Disposition zur Illustration eines einfachen Allgemeinen (einer allgemeinmenschlichen Eigenschaft) oder auch zur Vermittlung eines komplexen Allgemeinen (z. B. einer philosophischen Aussage) aufweist.

4.2.3.2.1 Louise Miller Die Figur der Louise Miller konstituiert sich durch eine von kleinbürgerlich-religiösen Werten bestimmte Denkweise, die ich im Folgenden als Tugendideologie bezeichnen werde. Das zentrale Konstituens dieser Ideologie ist die Idee eines Paradieses post mortem, in dem der Mensch für sein Erdulden während des Lebens belohnt wird. Louise beschreibt diese Idee im Vokabular einer teilweise auch von ihrem Vater vertretenen bürgerlichen Ideologie, in der ökonomisches und religiöses Denken ineinander verquickt sind¹⁸⁰: […] aber der Vater hat ja so oft gesagt, daß der Schmuk und die prächtigen Titel wolfeil werden wenn Gott kommt, und die Herzen im Preise steigen. Ich werde dann reich seyn. Dort rechnet man Tränen für Triumphe, und schöne Gedanken für Ahnen an. (NA 5N, S. 22 sowie 23)

 Zu Schillers hermeneutischem Anspruch an den Rezipienten und insbesondere an den Leser seiner Dramentexte vgl. die Ausführungen zum Unterschied zwischen der Schauspiel-Fassung und der Bühnenbearbeitung der Räuber im Kapitel 4.1.3.3 dieser Untersuchung.  Vgl. Alt: Schiller I, S. 362.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Die pragmatische Komponente der Ideologie als eines Handlungskatalysators besteht in der Absicht Louises, auf eine Liebeserfüllung ante mortem zu verzichten: „Ich entsag ihm für dieses Leben.“ (NA 5N, S. 22 sowie 23) Durch ihre Denk- und Handlungsweise weist Louise dieselben Eigenschaften auf wie der im Abschnitt „Aufopferung“ der „Theosophie“ beschriebene Menschentypus, der unter „Rüksicht auf eine belohnende Zukunft“ (NA 20, S. 122) handelt, „seinen Mittelpunkt ins sich selber“ errichtet und auf „Dankbarkeit“ zielt (NA 20, S. 123): LOUISE. […] Dann, Mutter – dann, wenn die Schranken des Unterschieds einstürzen – wenn von uns abspringen all die verhaßte Hülsen des Standes – Menschen nur Menschen sind – Ich bringe nichts mit mir, als meine Unschuld […]. Ich werde dann vornehm seyn Mutter – (NA 5N, S. 22 sowie 23)

Bei der Aufopferung gegenwärtiger zugunsten „ewiger“ Erfüllung handelt es sich gemäß dem Argumentationsmuster der radikal-idealistischen Liebesphilosophie um eine „Veredlung einer menschlichen Seele“, die aber bloß die „edelste Stuffe des Egoismus“ (NA 20, S. 122) darstelle, wie Julius in der „Theosophie“ ausführt. Louise erweist sich demnach als perceptio praegnans eines in diesem spezifischen Sinn egoistischen Menschen, insofern sie durch ihre Denk- und Handlungsweise die wesentlichen Eigenschaften dieses Typus (Selbstverherrlichung, Opferbereitschaft usw.) aufweist. Der Typus des egoistisch Tugendhaften, wie er in der „Theosophie“ charakterisiert wird, wird durch die Figur der Louise Miller instanziiert¹⁸¹, insofern dieser Figur im Dramentext dieselben Prädikate zukommen wie dem Typus in der philosophischen Theorie.

4.2.3.2.2 Ferdinand von Walter In der Forschung zum Drama Kabale und Liebe wurde immer wieder auf die inhaltlichen Korrespondenzen zwischen Schillers Liebesphilosophie, wie sie in seiner medizinisch-anthropologischen Dissertation Philosophie der Physiologie, der moralphilosophischen Karlsschul-Rede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet, dem Binnenessay „Theosophie des Julius“ in den Philosophischen Briefen sowie in den Laura-Gedichten der Anthologie auf das Jahr 1782 formuliert wurde, und Ferdinands Liebesideologie hingewiesen.¹⁸² Solche Korrespondenzen bestehen zum einen in der Überlagerung

 Zur Instanziierung als figuraler ‚Erfüllung‘ eines prädikativ Allgemeinen vgl. die Ausführungen zu den Korrespondenzen zwischen der philosophischen Theorie und den literarischen Ideologien im Kapitel 4.1.3.2.4 dieser Untersuchung.  Vgl. insbesondere Günter Saße: Liebe als Macht. Kabale und Liebe. In: Günter Saße (Hg.): Schiller. Werk-Interpretationen. Heidelberg 2005, S. 35 – 56; hier S. 35, ders.: „Der Herr Major ist in der Eifersucht schrecklich, wie in der Liebe“ – Schillers Liebeskonzeption in den Philosophischen Briefen und in Kabale und Liebe. In: Jürgen Lehmann, Tilmann Lang, Fred Lönker und Thorsten Unger (Hg.): Konflikt – Grenze – Dialog. Kulturkontrastive und interdisziplinäre Textzugänge. Festschrift für Horst Turk zum 60. Geburtstag. Frankfurt a. M. 1997, S. 173 – 184, Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlich-

4.2 Kabale und Liebe

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von Ferdinands Vokabular mit dem terminologischen Setting der Liebesphilosophie und zum anderen aus inhaltlichen Analogien zwischen den Theoremen der theosophischen Liebesphilosophie und den Konstituenten von Ferdinands Liebesideologie. Eine inhaltliche Korrespondenz besteht etwa in der reflexiven Komponente der Selbstbespiegelung und dem kosmologischen Skopus der Liebe¹⁸³, die in der folgenden Äußerung Ferdinands zum Ausdruck kommen: „Weis ich nur diesen Spiegel helle, so läuft keine Wolke über die Welt.“ (NA 5N, S. 24 sowie 25) Im Gedicht „Die Freundschaft“, das die zentralen Ideen der Liebesphilosophie in Versform repräsentiert und partiell in die „Theosophie“ integriert ist¹⁸⁴, heißt es entsprechend: „Schöner mahlt sich mir die schöne Erde, / heller spiegelt in des Freunds Gebärde / reizender der Himmel sich.“ (NA 20, S. 120) Ferdinands Aussage: „Der Augenblik, der diese zwo Hände trennt, zerreißt auch den Faden zwischen mir und der Schöpfung.“ (NA 5N, S. 72 sowie 73) erweist sich als Teil eines Syllogismus aus der Argumentationslogik der Liebesphilosophie, deren zentrale Idee einer theosophischen Liebe etwa in der Rede über die Tugend in ihren Folgen betrachtet formuliert ist: „Liebe ist es, die den Unendlichen Schöpfer zum endlichen Geschöpfe herunterneigt, das endliche Geschöpf hinaufhebt zum unendlichen Schöpfer.“ (NA 20, S. 32) Die Rhetorik der theosophischen Liebesphilosophie, in der die Liebe mit der Anziehungskraft der Gravitation verglichen wird¹⁸⁵, erweist sich als Strukturmerkmal von Ferdinands Reden. Die Verse „Laß das wilde Chaos wiederkehren, / durch einander die Atomen stören, / ewig fliehn sich unsre Herzen zu.“ (NA 20, S. 120) aus dem Gedicht „Die Freundschaft“ korrespondieren der Aussage Ferdinands in der Szene I/4: „Laß auch Hindernisse wie Gebürge zwischen uns treten, ich will sie für Treppen nehmen und drüber hin in Louisens Arme fliegen.“ (NA 5N, S. 24 sowie 25) Die Idee von der Liebe als Vehikel für die Apotheose des Menschen bestimmt sowohl Julius’ als auch Ferdinands Liebeskonzept. Während Julius in den Philosophischen Briefen an Raphaels Arm „zur großen Geistersonne / freudig den Vollendungsgang“ (NA 20, S. 120) wagt, soll Louise an Ferdinands „Arm […] durchs Leben hüpfen, schöner als er dich von sich lies soll der Himmel dich wieder haben, und mit Verwunderung eingestehn, daß nur die Liebe die lezte Hand an die Seelen legte“ (NA 5N, S. 26 sowie 27). Neben den Korrespondenzen lassen sich auch einige Unterschiede zwischen den Theoremen von Schillers Liebesphilosophie und den Inhalten von Ferdinands Liebesideologie feststellen. Das reziproke Moment der theosophischen Liebe, wie sie vor allem in den philosophischen Texten Schillers beschrieben wird, fehlt in Ferdinands Liebesabsolutismus gänzlich. Ferdinands absolutistischer Besitzanspruch bezieht sich nicht auf spezifische Eigenschaften Louises, sondern auf den Status der

keit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert. München 1984, S. 177 sowie Benno von Wiese: Friedrich Schiller. Stuttgart 1963, S. 199.  Zu diesen Eigenschaften der theosophischen Liebe vgl. das Kapitel 2.3 dieser Untersuchung.  Vgl. das Kapitel 2.3 dieser Untersuchung.  Zur metaphorischen Übertragung des physikalischen Gravitationsgesetzes auf die Anziehungskraft der Liebe vgl. Riedel: Anthropologie, S. 182– 198.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Geliebten, auf den er sie reduziert: „Du bist meine Louise. Wer sagt dir, daß du noch etwas seyn soltest?“ (NA 5N, S. 24 sowie 25), während Julius sein „ewiges Eigenthumsrecht“ auf die „Vortreflichkeit“ (NA 20, S. 120) Raphaels geltend macht. In der Druckfassung kulminiert Ferdinands Liebesideologie in der Vorstellung einer sowohl von der religiösen Institution als auch von der sexuellen Erfüllung entkoppelten Liebesreligion¹⁸⁶, die auf der affektiven Verinnerlichung religiöser Begriffe gründet: Mein Vaterland ist, wo mich Louise liebt. Deine Fußtapfe in wilden sandigten Wüsten [ist] mir interessanter, als das Münster in meiner Heimat – Werden wir die Pracht der Städte vermissen? Wo wir seyn mögen, Louise, geht eine Sonne auf, eine unter – Schauspiele, neben welchen der üppigste Schwung der Künste verblaßt.Werden wir Gott in keinem Tempel mehr dienen, so ziehet die Nacht mit begeisternden Schauern auf, der wechselnde Mond predigt uns Buße, und eine andächtige Kirche von Sternen betet mit uns. (NA 5N, S. 100)

Es handelt sich dabei um einen aufklärerischen Gedanken, insofern die religiöse Terminologie als Bildspender für die metaphorische Beschreibung eines säkularisierten ‚Liebesevangeliums‘¹⁸⁷ funktionalisiert wird. Unabhängig davon, dass die Liebesideologie Ferdinands in ihrer Radikalität inhaltlich von der theosophischen Liebesphilosophie abweicht bzw. in ihrer Konsequenz über diese hinausgeht, handelt es sich dabei um eine in sich kohärente Denkweise, die in Kombination mit entsprechenden Handlungsweisen die Figurenkonzeption „Ferdinand von Walter“ als perceptio praegnans konstituiert. Diese Denkweise unterscheidet sich aber hinsichtlich ihres Reflexionsniveaus von derjenigen der Figuren Karl und Franz von Moor aus dem Drama Die Räuber, insofern Ferdinand im Gegensatz zu diesen keinen metasprachlichen Zugang zu den zentralen Begriffen seiner Ideologie hat. Ferdinand reflektiert nicht auf die Begriffe Liebe, Gott oder Schöpfung wie Franz und Karl von Moor – vor allem in ihren Monologen – auf die Begriffe Tugend oder Gewissen reflektieren, sondern er macht jeweils eine affektiv bestimmte Erfahrung mit den Begriffen. Die für seine Ideologie zentralen Begriffe haben also keine „Erkenntniswirklichkeit“, sondern eine „Erlebniswirklichkeit“¹⁸⁸, d. h. sie sind nicht Gegenstand einer Objektivität und Allgemeingültigkeit beanspruchenden Reflexion, sondern von affektiv bestimmten, individuellen Erfahrungen. So äußert sich die Idee einer kosmologisch dimensionierten Liebe in der Szene III/4 der Druckfassung beispielsweise als spontaner Einfall, der sich „vor meine Seele drängt“ (NA 5N, S. 100): „Du Louise und ich und die Liebe! – Liegt nicht in diesem Zirkel der ganze Himmel?“ (NA 5N, S. 100) Bereits in der Szene II/5 sowohl der Druckfassung als auch der Bühnenbearbeitung wird dieselbe Idee von Ferdinand als eine von der

 Zur asexuellen Manifestierung des Eros als Liebesreligion vgl. Guthke, S. 106 sowie Peter-André Alt und Hans-Jürgen Schings: „Kabale und Liebe“ – ein Drama der Aufklärung? Marbach a.N. 1999, S. 14.  Vgl. Helmut Koopmann: Kabale und Liebe. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 365 – 378; hier S. 377.  Zum Unterschied zwischen Erkenntnis- und Erlebniswirklichkeit vgl. Geiger, S. 160.

4.2 Kabale und Liebe

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Notlage hervorgebrachte Inspiration beurteilt, als „das köstliche Geschenk des Himmels, Entschluß in dem geltenden Augenblik, wo die gepreßte Brust nur durch etwas Unerhörtes sich Luft macht“ (NA 5N, S. 72 sowie 73). An dieser Stelle zeigt sich auch die bereits im Kapitel 4.1.3.2.2 erläuterte Dynamik einer Ideologie im von mir explizierten Sinn, die im Gegensatz zu einer konzeptionell schriftlichen¹⁸⁹, gegenüber kontextuellen Einflüssen prinzipiell resistenten philosophischen Theorie flexibel ist, insofern die Konfrontation der sie konstituierenden subjektiven Weltsicht mit der fiktiven Lebenswirklichkeit der Figur zu Anpassungen führen kann oder muss. Ferdinands Liebesideologie ist dynamisch, insofern sie als idealistisch-metaphysischer Gegenentwurf zum höfisch-aristokratischen Ständemodell funktionalisiert wird, wie sich an der folgenden Äußerung in der Szene I/4 zeigen lässt: Laß doch sehen, ob mein Adelbrief älter ist, als der Riß zum unendlichen Weltall? oder mein Wappen gültiger als die Handschrift des Himmels in Louisens Augen: Dieses Weib ist für diesen Mann? (NA 5N, S. 24 sowie 25)

Ferdinand stellt dem Machtstreben und Karrieredenken der adligen Aristokratie, wie sie von den Figuren des Präsidenten und des Sekretärs Wurm vertreten wird, ein „Ideal von Glük“ (NA 5N, S. 38 sowie 39) entgegen, das aus der absoluten Selbstbestimmung besteht: „In meinem Herzen liegen alle meine Wünsche begraben. –“ (NA 5N, S. 38 sowie 39) Sowohl die Figur der Louise Miller als auch diejenige des Ferdinand von Walter konstituieren sich durch bestimmte Handlungs- und Denkweisen, die zusammen jeweils eine kohärente Figurenkonzeption als perceptio praegnans ergeben. Im Gegensatz zu den Denksystemen der Figuren Franz und Karl von Moor aus dem Drama Die Räuber bestehen die Denkweisen der Figuren „Louise“ und „Ferdinand“ nicht aus metasprachlichen Reflexionen über abstrakte Begriffe, sondern es handelt sich dabei eher um die sprachliche Repräsentation eines affektiv bestimmten und individuell-konkreten Erfahrens bzw. Erlebens von Begriffen wie Tugend, Liebe, Gott oder Schöpfung. Bei den Ideologien Louises und Ferdinands handelt es sich eher um Denkweisen als um Denksysteme, da die Systematik begrifflichen Reflektierens fehlt. Dies gibt bereits einen Hinweis auf die Funktion dieser Figurendarstellungen, die im Folgenden aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas (in der Druck- und Bühnenfassung) rekonstruiert werden soll. Es geht dabei u. a. um die Frage, welche wirkungspoetische Relevanz die dramatische Repräsentation der theosophischen Liebesphilosophie als metaphysisch fundierte und politisch motivierte (anti-aristokratische) Liebesideologie im Drama Kabale und Liebe hat.

 Vgl. Kap. 2.3, Anm. 68.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

4.2.3.3 Unterschied zwischen interessanter Situation und allgemeinem Sachverhalt An der Szene III/4, die die eigentliche Peripetie des Dramas darstellt (und nicht erst die Szene III/6, in der der Sekretär Wurm und der Präsident von Walter ihre Intrigenpläne in die Tat umsetzen), lässt sich zeigen, dass die Darstellung der Figuren „Louise Miller“ und „Ferdinand von Walter“ als perceptiones praegnantes eines bestimmten menschlichen Typus Bestandteil der dramaturgischen Konstruktion einer interessanten Situation ist und damit die Disposition zur Evokation von Emotionen aufweist. Bereits in der die Szene III/4 für diesen Zweck vorbereitenden Planszene¹⁹⁰ III/1 wird die Aufmerksamkeit von Ferdinands Liebesideologie, die er in den Szenen zuvor vor allem Louise gegenüber immer wieder sprachlich repräsentiert hat, abgezogen und durch die Fremdcharakterisierung des Sekretärs Wurm auf das charakterliche Dispositiv dieser Figur gelenkt: Ich müßte mich schlecht auf den Barometer der Seele verstehen, oder der Herr Major ist in der Eifersucht schreklich, wie in der Liebe. Machen Sie ihm das Mädchen verdächtig – – Wahrscheinlich oder nicht. Ein Gran Hefe reicht hin, die ganze Masse in eine zerstörende Gährung zu jagen. (NA 5N, S. 86 sowie 87)

In der Szene III/4 wird diese Einschätzung Wurms durch ein von Eifersucht motiviertes Verhalten Ferdinands, das in der folgenden, die Szene beschließenden Aussage kulminiert, als zutreffend ausgewiesen: „Kalte Pflicht gegen feurige Liebe! – Und mich soll das Märchen blenden? – Ein Liebhaber fesselt dich, und Weh über dich und ihn, wenn mein Verdacht sich bestätigt (geht schnell ab.)“ (NA 5N, S. 104 sowie 105) Beim Ausruf „Kalte Pflicht gegen feurige Liebe!“ handelt es sich um die sprachliche Repräsentation eines interessanten Sachverhalts, dessen antithetische Struktur den gesamten Dialog der Szene bestimmt. Die ‚kalte Pflicht‘ bezieht sich – in einer für das charakterliche Dispositiv Ferdinands typischen, hyperbolischen Form – auf Louises bürgerliche Tugendideologie. Diese stellt sich als eine mit der sich hinter dem Begriff „feurige Liebe“ verbergenden idealistisch-metaphysischen Liebesideologie inkommensurable Denkweise heraus. Die Tugendideologie ist utopisch durch ihre zentrale Idee eines Paradieses post mortem, das Louise in der Szene V/1 als „dritten Ort“ bezeichnet, „wo kein Eidschwur mehr bindet“ (NA 5N, S. 152 und 154 sowie 153 und 155). Die Liebesideologie ist hingegen ‚heterotopisch‘ durch ihre zentrale Idee einer „tatsächlich realisierte[n] Utopie“¹⁹¹ im Sinn des oben erläuterten irdischen ‚Liebesevangeliums‘ als eines Paradieses auf Erden. In der Logik der bürgerlichen Tugendideologie, die die Figur der Louise Miller konstituiert, handelt es sich bei der Verbindung eines Adligen mit einer Bürgerlichen um eine Pflichtverletzung, die nur

 Vgl. Kap. 4.1.3.2.1, Anm. 64.  Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris und Stefan Richter (Hg.): AISTHESIS. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1991, S. 34– 46; hier S. 39 – 42.

4.2 Kabale und Liebe

161

durch Aufopferung gesühnt werden kann: „Mein Anspruch war Kirchenraub, und schauernd geb ich ihn auf.“ (NA 5N, S. 102 sowie 103) In diesem Sinn antwortet Louise Ferdinand auf die Frage, ob sie ihn bei seiner Flucht begleite: „Meine Pflicht heißt mich bleiben und dulden.“ (NA 5N, S. 104 sowie 105) Durch den Kontext der Dramenhandlung wird also ersichtlich, dass es sich bei Ferdinands Ausruf „Kalte Pflicht gegen feurige Liebe!“ um eine – wenn auch überpointierte – Zusammenfassung eines interessanten Sachverhalts mit emotiver Signifikanz handelt. Zu dessen dramaturgischer Konstruktion gehört bereits die Szene I/4, die mit den folgenden Worten Louises schließt: „ […] der Friede meines Lebens ist aus – Wilde Wünsche […] werden in meinem Busen rasen. […] Du hast den Feuerbrand in mein junges friedsames Herz geworfen, und er wird nimmer nimmer gelöscht werden.“ (NA 5N, S. 26 sowie 27) Die Nebentext-Information, dass Louise im Anschluss an diese Rede hinauseilt und Ferdinand ihr „sprachlos“ (NA 5N, S. 26 sowie 27) folgt, markiert den Inhalt der Rede nach dem oben erläuterten Prinzip der eloquentia corporis als „interessante“ Situation, d. h. als spezifischen Sachverhalt mit emotiver Signifikanz. Bereits hier qualifiziert Louise Ferdinands idealistisches Versprechen einer von allen gesellschaftlichen Determinationen entkoppelten Liebeserfüllung als „Hoffnungen“, die „mein Herz, wie Furien, anfallen“ (NA 5N, S. 26 sowie 27). Betrachtet man Ferdinands Aussage, es stünden sich „kalte Pflicht“ und „feurige Liebe“ gegenüber, im Kontext von Schillers Liebesphilosophie, so erweist sich diese Aussage als Konkretisierung der generischen Aussage in der „Theosophie des Julius“, „Egoismus und Liebe“ seien zwei charakterliche Dispositive, „deren Gränzen nie in einander fließen“ (NA 20, S. 122 f., Hervorhebung im Original). Dabei wird in der spezifischen Terminologie der Schiller’schen Liebesphilosophie unter „Egoismus“ eine an einer Belohnung post mortem orientierte Aufopferungsmaxime verstanden (vgl. NA 20, S. 122), wie sie durch die Figur der Louise Miller instanziiert wird. Während es sich bei der singulären Aussage der Dramenfigur im Kontext der Dramenhandlung um die sprachliche Repräsentation eines spezifischen Sachverhalts mit emotiver Signifikanz, also einer interessanten Situation, handelt, wird durch die generische Aussage Julius’ im Kontext der philosophischen Theorie ein allgemeiner Sachverhalt repräsentiert. Dabei weist die sprachliche Repräsentation der interessanten Situation durch eine singuläre Aussage im Dramentext die Disposition zur Evokation von Emotionen auf ¹⁹², während im philosophischen Text eine Erkenntnis ausgesagt wird, nämlich diejenige, dass sich ‚Egoismus‘ und ‚Liebe‘ gegenseitig ausschließen bzw. dass die Begriffe Egoismus und Liebe (mit der spezifischen Bedeutungsintension) dichotomisch sind.

 Vgl. die Kapitel 3.2.2.7 und 4.1.2.1 dieser Untersuchung.

162

4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Dass die Dramenfigur einen Sachverhalt aussagt, von dem nicht die Bedeutung, sondern die emotive Bedeutsamkeit¹⁹³ im Fokus steht, wird durch die in den Kapiteln 4.2.2.2 und 4.2.2.3 erläuterten medialen Dramatisierungsstrategien der eloquentia corporis und des literarischen Tableaus markiert. So handelt es sich bei der Darstellung von der Zerschlagung der Violine um eine Dramatisierungsstrategie mit der Disposition zur Erfüllung emotiver Funktionen, insofern diese Handlung symbolisch auf den Konflikt zwischen Ferdinands Liebes- und Louises Tugendideal verweist und die interessante Situation versinnbildlicht. Im Drama werden die prädikativen Ausdrücke „bürgerliches Tugendideal“ und „idealistischer Liebesabsolutismus“ durch eigenschaftstypische (Sprach‐) Handlungen und Denkweisen konkreter Figuren als figurale perceptiones praegnantes, d. h. detail- und sinnreiche Figurenkonzeptionen, instanziiert, während dieselben prädikativen Ausdrücke innerhalb des philosophischen Textes durch das Anführen eigenschaftstypischer Merkmale begrifflich differenziert werden. In der „Theosophie“ heißt es: Egoismus errichtet seinen Mittelpunkt in sich selber; Liebe pflanzt ihn außerhalb ihrer in die Achse des ewigen Ganzen. Liebe zielt nach Einheit, Egoismus ist Einsamkeit. Liebe ist die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaats, Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung. Egoismus sä’t für die Dankbarkeit, Liebe für den Undank. Liebe verschenkt, Egoismus leyht – Einerlei vor dem Tron der richtenden Wahrheit, ob auf den Genuß des nächstfolgenden Augenbliks, oder die Aussicht einer Märtyrerkrone – einerlei, ob die Zinsen in diesem Leben oder im andern fallen! (NA 20, S. 123)

Sowohl der begrifflich-distinkten Erläuterung der Begriffe Egoismus und Liebe im philosophischen Text „Theosophie des Julius“ als auch der illustrativ vergegenwärtigenden Darstellung von bürgerlicher Tugendideologie und theosophischer Liebesideologie im Drama Kabale und Liebe liegt eine antithetische Struktur zugrunde. Diese gehört im philosophischen Text zur Vertextungsstrategie des Argumentierens und stellt im Dramentext eine Dramatisierungsstrategie für die dramaturgische Konstruktion einer interessanten Situation dar. Im philosophischen Text wird eine These in apophantischer Rede ausgesagt und durch das Anführen stützender Argumente begründet, der Wahrheitsanspruch also eingelöst bzw. der Wahrheitswert festgelegt. Dagegen drückt die singuläre Aussage der Dramenfigur einen spezifischen Sachverhalt mit emotiver Signifikanz aus, der extensiv klar, d. h. in diesem Fall durch die Darstellung beispielhafter Handlungs- und Denkweisen dargestellt wird, nichtpropositionale Erkenntnis vermittelt und damit wahrheitsindifferent ist. Beim Ausruf Ferdinands: „Kalte Pflicht gegen feurige Liebe!“ handelt es sich nicht um die sprachliche Repräsentation einer allgemeinen Erkenntnis, dass „kalte Pflicht“ und „feurige Liebe“ polare Begriffe sind, sondern um die sprachliche Repräsentation der

 Zum Unterschied zwischen der Bedeutung und der Bedeutsamkeit von Sachverhalten vgl. die Ausführungen im Kapitel 3.2.1.2 dieser Untersuchung.

4.2 Kabale und Liebe

163

subjektiven Erfahrung bzw. des Erlebnisses, wie es ist, wenn die Positionen zweier sich liebender Menschen inkompatibel sind.¹⁹⁴ Dabei manifestiert sich die Erlebnisqualität des Ausgesagten in der exclamatio. Die antithetische Darstellung der beiden Ideologien im Dialog zwischen Ferdinand und Louise in der Szene III/4 ist also nicht als Bestandteil einer allfälligen argumentativen Darstellung des gesamten Dramentextes aufzufassen. Wie gezeigt werden konnte, handelt es sich bei der Gegenüberstellung dieser beiden Ideologien um eine inhaltliche Dramatisierungsstrategie für die Konstruktion eines dramatischen Konflikts, d. h. einer interessanten Situation, die ja gerade durch das Konflikthafte die Disposition zur Evokation von Emotionen aufweist. Das schließt aber nicht aus, dass der ‚Fall‘ „Ferdinand und Louise“ wenn auch nicht als beweisendes, so doch als aufweisendes Argument¹⁹⁵ im Sinne eines Beispiels für den in der „Theosophie“ behaupteten Sachverhalt, dass bürgerliche Tugendideologie und theosophische Liebesideologie inkompatibel sind, aufgefasst werden kann. Nur handelt es sich bei diesem aufweisenden Argumentieren eben nicht um eine ultimate, sondern um eine proximat-kognitve Funktion der impliziten Wirkungspoetik.

4.2.3.4 Initiation propositionaler Erkenntnis Im Drama Kabale und Liebe finden sich aber auch Figurenaussagen, die zumindest Kandidatinnen für Aussagen des primären Sprechers sind, die also die Disposition zur Initiation von propositionaler Erkenntnis aufweisen. Es handelt sich dabei insbesondere um die kritische Aussagen der Lady Milford zur adligen Aristokratie im Allgemeinen und dem Fürsten im Speziellen sowie zum Status der Frau am fürstlichen Hof wie beispielsweise: „Unter allen, die an den Brüsten der Majestät trinken, kommt die Favoritin am schlechtesten weg, weil sie allein dem großen und reichen Mann auf dem Bettelstabe begegnet –“ (NA 5N, S. 46 sowie 47) Diese Aussage befindet sich gewissermaßen auf der Schnittfläche von innerem und äußerem Kommunikationssystem, insofern sie sich einerseits auf spezifische Sachverhalte der fiktiven Welt bezieht (die „Favoritin“ ist die Lady Milford selbst) und durch ihre Generalität andererseits einen allgemeinen Sachverhalt repräsentiert, der sich möglicherweise auf die reale Welt des Rezipienten applizieren lässt. Dabei weist die Ersetzung des Eigennamens (Lady Milford) durch das Appellativum (die Favoritin) die Disposition zum Transfer des fiktiven Sachverhalts auf die reale Welt des Rezipienten auf, insofern der durch die Ersetzung erhöhte Abstraktionsgrad der Aussage eine Prüfung ihres Wahrheitswerts provoziert. Dies gilt in verstärktem Maße auch für die folgende generische Aussage der Milford zum Status der Frau am fürstlichen Hof:

 Zum Unterschied zwischen propositionaler Dass-Erkenntnis und nicht-propositionaler WieKenntnis vgl. das Kapitel 2.2 sowie 3.2.2.3 dieser Untersuchung.  Zum Unterschied zwischen beweisender und aufweisender Kraft von Argumenten vgl. Gabriel: Zwischen Logik und Literatur, S. 223.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Wir Frauenzimmer können nur zwischen Herrschen und Dienen wählen – aber die höchste Wonne der Gewalt ist doch nur ein elender Behelf, wenn uns die größere Wonne versagt wird, Sklavinnen eines Manns zu seyn, den wir lieben. (NA 5N, S. 46 sowie 47)

In diesem Fall wird die Wahrheitswerts-Prüfung, die durch die generische Aussage eines allgemeinen Sachverhalts provoziert wird, durch die Replik von Milfords Zofe Sophie fiktionsintern eingelöst: „Eine Wahrheit, Milady, die ich von Ihnen zulezt hören wollte!“ (NA 5N, S. 46 sowie 47) Die fiktionsinterne Einlösung der Wahrheitswerts-Prüfung kann als metakommunikatives Signal für die Transformation einer Aussage innerhalb der fiktiven Welt in eine propositionale Erkenntnis über die wirkliche Welt aufgefasst werden. Dass mit der generischen Aussage von allgemeinen Sachverhalten Wahrheitswerts-Prüfungen provoziert werden, heißt aber noch nicht, dass es sich bei diesen Aussagen bereits um allgemeine Aussagen des primären Sprechers handelt bzw. dass die Aussagen Bestandteil der argumentativen Darstellung des gesamten Dramentextes sind. Eine Kongruenz von argumentierender Figurenrede und argumentativer Darstellung wurde für die Schauspiel-Fassung des Dramas Die Räuber rekonstruiert, wo die finalen Reflexionen der Figur Karl von Moor den Status einer fiktionsinternen Gesamtbeurteilung der Dramenhandlung haben.¹⁹⁶ Die Rede von einer argumentativen Darstellung im Kontext einer Analyse literarisch-fiktionaler Texte ist aber nicht selbstverständlich und es fragt sich, ob überhaupt und – falls ja – mit welchen Gründen in Bezug auf solche Texte von einer argumentativen Darstellung gesprochen werden kann. Dazu gilt es einerseits zwischen der argumentativen Darstellung eines Textes und dem Argumentieren eines Textverfassers und andererseits zwischen dem Argumentieren des Verfassers eines literarisch-fiktionalen Textes und demjenigen des Verfassers eines faktualen Sachtextes zu unterscheiden. Mit dem Begriff der argumentativen Darstellung kann jedenfalls nicht das Argumentieren des primären Sprechers eines literarisch-fiktionalen Textes gemeint sein, denn – wie mit Gottfried Gabriel gezeigt werden kann – behauptet dieser überhaupt nicht, sondern macht Aussagen.¹⁹⁷ Es ist aber immerhin einzugestehen, dass der Verfasser eines literarisch-fiktionalen Textes auf eine andere Weise bzw. mit anderen Mitteln ‚argumentiert‘ als z. B. der Verfasser eines fakutalen Sachtextes und dass diese Mittel dann unter dem Begriff der argumentativen Darstellung zusammengefasst werden können. Für das Argumentieren in Bezug auf einen literarischfiktionalen Text, das ich im Folgenden als literarisches Argumentieren bezeichne, kann vorläufig festgehalten werden, dass der Verfasser eines solchen Textes nicht in dem Text, sondern höchstens mit diesem argumentiert. Der Autor eines Dramentextes, um den es mir hier geht, kann mit einem Text ‚argumentieren‘ in dem Sinn, dass er

 Vgl. die Ausführungen zum Unterschied zwischen der als Lesedrama konzipierten SchauspielFassung und der Bühnenbearbeitung im Kapitel 4.1.3.3 dieser Untersuchung.  Zum Unterschied zwischen dem Sprechakt des Behauptens und demjenigen des Aussagens vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 89.

4.2 Kabale und Liebe

165

bestimmte, innerhalb der fiktiven Welt vertretene Argumente durch inhaltliche oder auch mediale Dramatisierungsstrategien profiliert und damit als seine eigenen Argumente ausweist. Beim literarischen Argumentieren profiliert der primäre Sprecher bestimmte Positionen, Einstellungen oder Argumentationen des inneren Kommunikationssystems durch bestimmte Strategien, während beim wissenschaftlichen Argumentieren Thesen aufgestellt und Argumente zu deren Verteidigung angeführt werden. Aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas Kabale und Liebe lassen sich solche Profilierungsstrategien rekonstruieren, von denen etwa auch die oben präsentierten generischen Aussagen zur adligen Aristokratie und zu den Mechanismen des Fürstenhofs betroffen sind. Die Profilierung sprachlich in der Figurenrede repräsentierter Argumente als potentieller Argumente des primären Sprechers besteht etwa in der bereits für das Drama Die Räuber konstatierten Initiation einer positiven emotionalen Einstellung des Rezipienten gegenüber der argumentierenden Figur. Bei der Sympathieerzeugung handelt es sich in diesem Fall also sowohl um eine proximat-emotive als auch um eine ultimat-kognitive Funktion.¹⁹⁸ So wird beispielsweise an der Lady Milford, die eine von ihr begründete Kritik an der adligen Aristokratie im Allgemeinen und am Fürsten im Speziellen äußert, die Erfahrung vergegenwärtigt, wie sich ein als anthropologische Konstante vorausgesetzter moral sense positiv auf das Denken und Handeln eines Menschen auswirken kann. Bei der Ansprache der Milford an ihre Bediensteten in der Szene IV/9 handelt es sich um eine rührende Rede, die im Nebentext als solche markiert („wendet sich zu der versammelten Dienerschaft, und spricht das folgende mit der innigsten Rührung“ [NA 5N, S. 146 sowie 147]) wird und deren intendierte emotionale Reaktionen fiktionsintern simuliert werden („Alle übrigen gehen sehr bewegt auseinander“ [NA 5N, S. 148 sowie 149]). Der Verzicht der Milford auf Reichtum zugunsten moralischer Größe und individueller Freiheit erweist sich als Lösung des in der generischen Aussage der Szene II/1 formulierten Dilemmas, „zwischen Herrschen und Dienen wählen“ (NA 5N, S. 46 sowie 47) zu müssen: Verkrieche dich jezt weiches leidendes Weib – Fahret hin süße goldene Bilder der Liebe – Großmuth allein sei jezt meine Führerin! – – Dieses liebende Paar [gemeint sind Louise und Ferdinand] ist verloren, oder Milford muß ihren Anspruch vertilgen, und im Herzen des Fürsten erlöschen! (nach einer Pause, lebhaft) Es ist geschehen! – Gehoben das furchtbare Hinderniß – Zerbrochen alle Bande zwischen mir und dem Herzog, gerissen aus meinem Busen diese wütende Liebe! – – In deine Arme werf ich mich, Tugend! – Nimm sie auf, deine reuige Tochter Emilie! […] Groß, wie eine fallende Sonne, will ich heut vom Gipfel meiner Hoheit heruntersinken, meine Herrlichkeit sterbe mit meiner Liebe, und nichts als mein Herz begleite mich in diese stolze Verweisung […]. (NA 5N, S. 142)¹⁹⁹

 Zur Verschränkung von Sympathielenkung und moralischer Urteilslenkung vgl. Ranke, S. 73 – 79.  In der Bühnenbearbeitung sind einige wenige, für das Verständnis des Monologs unwesentliche Sätze gestrichen.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Die Ideologie, die die Lady Milford in diesem Monolog der Szene IV/8 vertritt, korrespondiert mit der zentralen Idee einer dem gesellschaftlichen Status übergeordneten moralischen Größe der anti-aristokratischen Ideologie, die Ferdinand – wie oben bereits erläutert – in der Szene I/7 gegenüber seinem Vater und Louise im Dialog der Szene IV/7 gegenüber der Lady Milford vertreten. Bei der Figur der Louise Miller äußert sich die Ideologie in der rhetorischen Frage an die Lady Milford, ob diese ihre Lebensumstände gegen diejenigen Louises eintauschen würde: Sind Sie glüklich, Milady? (diese verläßt sie schnell und betroffen, Louise folgt ihr, und hält ihr die Hand vor den Busen) Hat dieses Herz auch die lachende Gestalt Ihres Standes? Und wenn wir jezt Brust gegen Brust, und Schiksal gegen Schiksal auswechseln solten – und wenn ich in kindlicher Unschuld – und wenn ich auf ihr Gewissen – und wenn ich als meine Mutter Sie fragte – Würden Sie mir wol zu dem Tausche rathen? (NA 5N, S. 138 sowie 139)

Die Lady Milford weist in ihrer Replik auf diese Frage explizit auf die signifikante Analogie dieses Gedankenguts mit demjenigen Ferdinands hin: „Diese Größe hast du nicht auf die Welt gebracht, und für einen Vater ist sie zu jugendlich. Lüge mir nicht. Ich höre einen andern Lehrer –“ (NA 5N, S. 138 sowie 139). Auch wenn es sich bei dieser literarisch-ästhetischen Profilierung nicht um ein Argumentieren (in einem strengen Sinn) handelt, will ich den Begriff der argumentativen Darstellung (vorerst) nicht aufgeben. Denn die Profilierung bestimmter Positionen und Argumentationen durch inhaltliche oder auch mediale Dramatisierungsstrategien erweist sich als Mittel zur Herstellung von ‚Bewertungseindeutigkeit‘, d. h. der Eindeutigkeit im äußeren Kommunikationssystem, welche der im inneren Kommunikationssystem sprachlich repräsentierten Meinungen, Überzeugungen und Argumente auch diejenigen des primären Sprechers sind.²⁰⁰ Der sprechakttheoretische Unterschied zwischen dem Medium des philosophischen Sachtextes und dem Medium des fiktionalen Dramentextes sei abschließend noch schematisch dargestellt (Tab. 5): Tab. 5: Sprechakttheoretischer Unterschied zwischen dem Sprecher eines faktualen Sachtextes und dem Sprecher eines fiktionalen Dramentextes Erkenntnisse primärer Sprecher eines faktualen Sachtextes primärer Sprecher eines fiktionalen Dramentextes

argumentative Darstellung

werden im Text ausgesagt

Argumentieren im Text durch das Anführen von Argumenten (logisch-beweisendes Argumentieren) werden durch den Text vermittelt Argumentieren mit dem Text durch das (nicht-propositionale) oder initiiert Profilieren fiktionsinterner Positionen, (propositionale) Meinungen und Argumente (rhetorisch-aufweisendes Argumentieren)

 Zum Begriff der Bewertungseindeutigkeit vgl. Ranke, S. 144.

4.3 Don Karlos

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4.3 Don Karlos 4.3.1 Textgenese Die Textgenese des Don Karlos ist äußerst komplex und kann hier nicht im Detail wiedergegeben werden. Die Arbeit an diesem Drama erstreckt sich vom Jahr 1782, als sich Schiller zum ersten Mal mit dem Stoff auseinandersetzte, bis zu Schillers Tod.²⁰¹ In dieser Zeit sind zahlreiche formal und inhaltlich unterschiedliche Fassungen entstanden, sodass man es nicht mit einem Don Karlos-Drama, sondern vielmehr mit vielen verschiedenen Don Karlos-Texten zu tun hat.²⁰² Wie bereits bei den vorangegangen Dramen Schillers dienen auch in diesem Fall die verschiedenen Konzeptionstypen als erste Gliederungseinheit einer Kategorisierung. Es kann also zwischen solchen Fassungen, die als Lesedramen zur Lektüre, und solchen, die als Schauspiele zur Rezeption auf der Theaterbühne konzipiert wurden, unterschieden werden. Dabei überschnitten sich die Arbeit an den Lesedrama-Fassungen und diejenige an den Bühnenbearbeitungen teilweise. Weitere Gliederungseinheiten, die sich auch in der Forschung als spezifizierende Unterscheidungsmerkmale zwischen den verschiedenen Fassungen etabliert haben, sind die Mitteilungsform und das Figurenarsenal. Man unterscheidet einerseits formal zwischen Vers- und Prosa-Fassungen und andererseits inhaltlich zwischen DomingoFassungen und solchen Fassungen, in denen die Figur des Pater Domingo aus Zensurgründen durch diejenige des Staatssekretärs Perez ersetzt ist (Perez-Fassungen). So kann etwa zwischen der Vers-Domingo-Fassung für die Hamburger und der ProsaPerez-Fassung für die Rigaer Theaterbühne unterschieden werden. Während die formale und inhaltliche Heterogenität des Don Karlos-Komplexes durch solche Gliederungseinheiten systematisiert werden kann, erweist sich seine lange Entstehungsgeschichte in Bezug auf eine werkchronologische Systematisierung als Problem, das in der Don Karlos-Forschung zu Differenzen führte und noch immer führt. Diese Differenzen ergeben sich durch unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob der Don Karlos – will man ihn zwar nicht als einen Text, aber als ein Drama begreifen – dem vorkantischen und vorklassischen Frühwerk oder dem kantischen und klassischen Spätwerk Schillers zuzurechnen ist.²⁰³ Eine konsensfähige Lösung dieses Problems in der Forschung ist die Etikettierung des Don Karlos als Schwellenwerk, das den Übergang von der Poetologie des Sturm und Drang zu jener der Klassik dokumentiere.²⁰⁴ Schiller selbst leistet dieser These in den Briefen über Don Karlos (1788)

 Für einen detaillierten Überblick über die Entstehungsgeschichte vgl. den Kommentar in: Friedrich Schiller: Don Karlos, hg. von Gerhard Kluge. Frankfurt a. M. 2009 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. Bd. 35), S. 1008 – 1050 sowie – konziser – Zymner: Schiller, S. 61– 66.  Für eine Übersicht vgl. den Kommentar in Schiller: Don Karlos, S. 997 f.  In Liewerscheidt, S. 176, beispielweise wird der Don Karlos nicht unter Schillers Jugenddramen subsumiert.  Vgl. bereits Unger: Von Nathan zu Faust, S. 27.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Vorschub, wenn er dort eingesteht, dass sich in der Ausarbeitungsphase, die „mancher Unterbrechung wegen eine ziemlich lange“ gewesen sei, „in mir selbst vieles verändert“ (NA 22, S. 138) habe. Ich beschränke mich im Folgenden auf die zwischen 1783 und 1788 entstandenen und als Lesedramen konzipierten Don Karlos-Texte (inklusive Para- und Peritexte), also auf die Thalia-Fragmente (1785 – 1787), die Erstausgabe von 1787 sowie die sich auf diese Ausgabe beziehenden Briefe über Don Karlos (1788). Schließlich ist die Don Karlos-Forschung maßgeblich von der Frage nach der Einheit des Dramas geprägt. Dabei wird vornehmlich auf die Buchfassung von 1787 Bezug genommen. Auch dieses Forschungsinteresse lässt sich auf Aussagen Schillers zurückführen, der in der Korrespondenz zur Entstehung des Don Karlos immer wieder die Intention äußert, mit diesem Drama ein vollkommenes, d. h. dramaturgisch einheitliches und abgeschlossenes Werk zu schaffen. Exemplarisch für diese Absichtserklärung sei hier eine Passage aus einem Brief vom 5. Dezember 1786 an den Verleger Göschen zitiert: Ohngeachtet der großen Verwüstungen welche meine Feile bereits in den ersten Akten schon angerichtet hat und noch anrichtet, wodurch gegen 2 biß 3 Bogen im ganzen weniger werden, wird er [der Don Karlos] dennoch zu 22 biß 23 Bogen anwachßen, weil es ein ganzes Tableau seyn soll. Auch kommen vornen noch neue Züge und einige Scenen, welche die Vollkommenheit des Stüks nothwendig macht, dazu. (NA 7/II, S. 24)

Schillers Anspruch auf die Vollkommenheit erstreckt sich auch auf die Typographie und Orthographie des Drucks, der ihm „ganz und gar nicht“ (NA 7/II, S. 30) gefällt, weil er „schlecht in die Augen“ (NA 7/II, S. 31) falle: Daß ein Jambe zwei Zeilen einnimmt, sieht höchst fatal aus, und es ist sehr häufig. Ueberhaupt ist keine richtige Proportion beobachtet: die Personen, welche unter dem Auftritt stehen, sind nicht größer gedruckt, als die über den Versen, und beide haben mit den Versen selbst einerlei Lettern. Mit eben der Schrift ist auch der Ort und die jedesmalige Verwandlung der Scene gedruckt. (NA 7/ II, S. 30 f.)

Dass es Schiller mit der Typographie so genau nimmt, zeigt, wie sehr er die Rezeption nicht nur von der schriftsprachlich evozierten Gegenwärtigkeit und Fasslichkeit (im Gegensatz zur evidentia einer szenischen Repräsentation), sondern auch von der Materialität des Mediums Buch und dessen visueller Semantik²⁰⁵ abhängig macht.

 Zur hermeneutischen Relevanz der Typographie von Texten beim Lesen vgl. Hans Peter Willberg und Friedrich Forssman: Lesetypographie. Mainz 2005 sowie Albert Ernst: Wechselwirkung. Textinhalt und typografische Gestaltung. Würzburg 2005. Zur marktstrategischen Signifikanz der Textpräsentation im Fall von Schillers Don Karlos vgl. Claudia Stockinger: Der Leser als Freund. Das Medienexperiment „Dom Karlos“. In: Zeitschrift für Germanistik 16 (2006), H. 3, S. 482– 503; hier S. 497 f.

4.3 Don Karlos

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4.3.2 Emotive Funktionen: Thalia-Fragmente Bei den Thalia-Fragmenten handelt es sich um eine als Lesedrama konzipierte Fassung, die zwischen 1785 und 1787 auf insgesamt vier Ausgaben der zuerst von Schiller selbst herausgegebenen und später vom Verleger Georg Joachim Göschen übernommenen Zeitschrift Thalia (ursprünglich: Rheinische Thalia) verteilt wurde. Das ThaliaFragment unterscheidet sich von den folgenden Lesedrama-Fassungen des Don Karlos außer durch seinen Fragmentcharakter also auch durch ein spezifisches Publikationsmedium, an das eine marktstrategisch bestimmte Veröffentlichungspolitik gekoppelt ist²⁰⁶, die es bei der Analyse des Fragments zu berücksichtigen gilt.

4.3.2.1 Vorrede Schiller verfasst das Vorwort zu den Thalia-Fragmenten im Februar 1785. Die poetologischen Theoreme der Vorrede korrespondieren mit denjenigen des Bauerbacher Briefs, insofern das Dichten hier wie dort in einen liebesphilosophischen Kontext gestellt wird. In der Einleitung des Bauerbacher Briefs verstrickt Schiller die positiven Emotionen gegenüber dem Adressaten Reinwald mit denjenigen gegenüber seinem literarischen Werk Don Karlos: „In diesem herrlichen Hauche des Morgens denk ich Sie Freund – und meinen Karlos [hier metasprachlich gemeint].“ (NA 23, S. 78) In der Folge des Briefs entwickelt Schiller dann die bereits im Kapitel 3.2.2.9 erläuterte liebesphilosophisch bestimmte Wirkungspoetik, die auf der Analogisierung von Dichten und Lieben gründet: „Jede Dichtung ist nichts anderes, als eine enthousiastische Freundschaft oder platonische Liebe zu einem Geschöpf unsers Kopfes.“ (NA 23, S. 79) In der Vorrede zu den Thalia-Fragmenten knüpft er an diese Idee an, verweist jetzt aber auf die „Gefahr“, durch eine solche affektiv bestimmte Einstellung „die Perspektive des Ganzen zu verlieren“: „Mit den Lieblingswerken unsers Geistes ergeht es uns beinahe wie mit unsern Mädchen – endlich werden wir blind für ihre Flecken, und stumpf durch Genuß“ (NA 6, S. 343). Schiller orientiert sich bei dieser Beurteilung offensichtlich einmal mehr am Ideal des literarischen Gemäldes, wie es Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste bestimmt hat, wobei er den GemäldeBegriff hier auf die Gesamtkonzeption des Dramentextes anwendet. Das „Wesen der Kunst“ besteht Sulzer zufolge „in der genauen Beobachtung der allgemeinen Perspektiv, die jedem einzeln Theil des Gedichts seine Entfernung, seine Größe, seine Ausführlichkeit in Zeichnung und Farbe“²⁰⁷ bestimme. Das Kunstwerk erfülle seine ultimaten Funktionen nur dann, wenn „alle Regeln dieser Perspektiv genau beobachtet“²⁰⁸ seien.

 Vgl. Stockinger.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, Art. Gemählde, S. 452.  Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste I, S. 452.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Im Bauerbacher Brief verstrickt Schiller die Freundschaftsgefühle gegenüber dem Adressaten und die emotionale Einstellung gegenüber dem eigenen literarischen Werk miteinander. Dagegen weist er in der Vorrede zu den Thalia-Fragmenten den Adressaten, d. h. der potentiellen Leserschaft als „geschmackvoll fühlende[n] Freunde[n]“, die Aufgabe zu, den Entstehungsprozess des Dramas kritisch zu überwachen und „das neugebohrene Kind seines Genius mit liebevoller Sorgsamkeit [zu] warten und [zu] pflegen!“ (NA 6, S. 343) Dies sei der Grund, „warum das Publikum die Tragödie Dom Karlos in Bruchstücken voraus empfängt“ (NA 6, S. 343). Schiller komplettiert das im Bauerbacher Brief anskizzierte poetologische Kommunikationsmodell hier also durch die Komponente des Adressaten. Dabei legt er das Verhältnis zwischen Autor und Leserschaft im Sinn der liebesphilosophischen Poetologie auf eine auf den Idealen der Empfindsamkeit basierende, durch „Wohlwollen“ (NA 6, S. 343) und Empathie bestimmte Freundschaftsbeziehung fest. Einen besonderen Nutzen für das literarische Projekt Don Karlos verspricht sich Schiller von den als „Kenner“ (NA 6, S. 344) unter den Freunden bezeichneten Schriftstellerkollegen, deren professionelle „Zurechtweisung […] mir über die Gebrechen meiner Dichtung die Augen öfnet, und mir vielleicht dazu dienen kann, sie desto fleckenfreier der strengen Zukunft zu übergeben“ (NA 6, S. 344). Schillers Direktive an den Leser, die „klassische Vollkommenheit“ (NA 6, S. 344) der literarischen Produktion eines Freundes zu befördern, impliziert zum einen eine potentielle Offenheit des Dramas Don Karlos in seiner fragmentarischen Thalia-Fassung, zu deren Mitgestaltung der Rezipient explizit aufgefordert wird. Zum anderen können die Direktiven als rezeptionslenkende Strategien aufgefasst werden, die bei einer Rekonstruktion der impliziten Wirkungspoetik des Haupttextes berücksichtigt werden müssen, indem etwa gefragt wird, ob sie sich in gleicher oder ähnlicher Form auch aus dieser abstrahieren lassen.²⁰⁹ Schließlich greift Schiller mit dem Hinweis auf die angestrebte Vollkommenheit des Stücks auch den Topos der dramaturgischen Einheit auf, der zu einem zentralen Element im poetologischen Diskurs zu diesem Drama avanciert. Im zweiten Teil der Vorrede geht Schiller auf den Inhalt des Dramas ein und gibt dem Leser dramaturgische Hinweise, die ebenfalls als rezeptionslenkende Strategien fungieren. Er legt dabei den Fokus (1) auf die emotive Funktion, (2) auf die dramaturgische Konstruktion der Informationsvergabe und (3) auf die Sprache des Dramas. (1) Aus den Funktionszuweisungen und der dafür verwendeten Terminologie lässt sich eine affektpoetische Konzeption des Dramas als Rührstück abstrahieren. Damit konzipiert Schiller ein dramaturgisches Korrelat zur liebesphilosophischen Poetologie des ersten Teils und beurteilt das Drama entsprechend ausschließlich nach affekttheoretischen Maßstäben. So stellt er in Frage, ob die Liebesgeschichte zwischen Don

 Eine positive Antwort auf diese Frage findet sich bei Stockinger, S. 488 f. Stockinger vertritt hier die These, dass der Freundschaftsdiskurs zwischen Don Karlos und Marquis Posa dem Drama als implizite Rezeptionsdirektive eingetragen sei.

4.3 Don Karlos

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Karlos und der Königin Elisabeth die Disposition zur Evokation von Rührung und Erschütterung aufweist und weist dafür der Darstellung des Königs Philipp eine ultimat-emotive Funktion zu: „Wenn dieses Trauerspiel schmelzen soll, so muß es […] durch die Situation und den Karakter König Philipps geschehen. Auf der Wendung, die man diesem gibt, ruht vielleicht das ganze Gewicht der Tragödie.“ (NA 6, S. 345) Der unglücklich und gegen die Naturgesetze liebende Don Karlos könne hingegen höchstens „schaudern“, aber nicht „weinen machen“ (NA 6, S. 344 f.), und die zwischen der Liebe Karlos’ und Philipps hin und hergerissene Elisabeth zwar „Murren gegen Vorsicht [d. h. hier ‚Vorsehung‘] und Schicksal“ sowie „Zähneknirschen gegen weltliche Konvenzionen“ bewirken, aber keine „Tränen ablocken“ (NA 6, S. 345). (2) Bei der dramaturgischen Konstruktion der Informationsvergabe orientiert sich Schiller an Diderots und Lessings Vorgabe, den Rezipienten über das kommende Geschehen zu informieren, da „unser Anteil um so lebhafter und stärker“ werde, „je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben“²¹⁰. Schiller qualifiziert dieses dramaturgische Gesetz, dessen epistemologische Implikationen bereits im Kapitel 4.1.3.1 rekonstruiert wurden, als das „erste Requisit der Tragödie“ (NA 6, S. 345). Entsprechend soll der zentrale Konflikt des Dramas bereits im ersten Akt „verrathen seyn“ (NA 6, S. 345), um die affektive Wirkung zu steigern. (3) Mit der Metrisierung der Thalia-Fragmente in einen jambischen Blankvers folgt Schiller einerseits Wielands Forderung, „ein vollkommenes Drama“ (NA 6, S. 345) in Versen zu verfassen. Andererseits dementiert er aber die Notwendigkeit einer Reimstruktur, um die eigene Dichtung dadurch von der klassizistischen Tragödie der Franzosen und deren als gekünstelt und unnatürlich disqualifizierten Sprache abzugrenzen: […] denn ich unterschreibe Wielands zweite Foderung, daß der Reim zum Wesen des guten Dramas gehöre, so wenig, daß ich ihn vielmehr für einen unnatürlichen Luxus des französischen Trauerspiels, für einen trostlosen Behelf jener Sprache, für einen armseligen Stellvertreter des wahren Wohlklangs erkläre – (NA 6, S. 345 f.)

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Schiller den Rezipienten in der Vorrede zu den Thalia-Fragmenten auf eine durchwegs affektbestimmte Lektüre einstimmt.²¹¹ Diese ist als Freundschaftsdienst an den Autoren zu verstehen. Ihre kritische Dimension besteht nicht aus einer hermeneutischen Intention, sondern einzig aus der emotionalen Einstellung gegenüber den Dramenfiguren und damit auch gegenüber dem Autor.

 Lessing: Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück, S. 452.  Zu einer solchen „Emotionalisierung von Darstellung und Rezeption“ vgl. Stockinger, S. 486.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

4.3.2.2 Haupttext Der Emotionalisierung in der expliziten Wirkungspoetik der Vorrede korrelieren inhaltliche und mediale Dramatisierungsstrategien in der impliziten Wirkungspoetik, die die Disposition zur Affekterzeugung aufweisen. Eine inhaltliche Dramatisierungsstrategie zur Erfüllung dieser emotiven Funktion besteht in der Darstellung des Konflikts zwischen privaten Neigungen und öffentlich-politischen Pflichten, von dem die zentralen Figuren des Stücks betroffen sind. Die titelgebende Figur des Don Karlos wird als interessante Figur eingeführt, deren Körpersprache in der Szene I/1 im Sinn der eloquentia corporis ²¹² die Gemütsverfassung ausdrückt: Karlos (kommt langsam und in Gedanken versenkt aus dunkeln Boskagen, seine zerstörte Gestalt verräth den Kampf seiner Seele […]. Der Prinz verläßt die Statue in großer Bewegung, man sieht Traurigkeit und Wut in seinen Gebärden abwechseln, er rennt heftig auf und nieder, und fällt zulezt matt auf ein Kanapee. […]) (NA 6, S. 347)

Schillers Empfehlung in der Vorrede, die kontrafaktische Darstellung²¹³ der DonKarlos-Geschichte durch den Abbé Saint Réal²¹⁴ vorgängig zu lesen, erweist sich als peritextuelle Informationsvergabe, die die Disposition zur Initiation einer positiven Einstellung gegenüber der entsprechenden Dramenfigur aufweist. Während die Andeutungen des Don Karlos in der Szene I/1 für den Pater Domingo „Geheimniß“ (NA 6, S. 348, 359 sowie 360, V. 23, 294 sowie 327) und „Räzel“ (NA 6, S. 349 sowie 354, V. 51 sowie 156) sind, weiß der vorinformierte Leser bereits um die Liebe zur Königin Elisabeth. Bei der elliptischen Informationsvergabe handelt es sich also nicht nur um eine Strategie für die Erzeugung von Spannung, sondern um die Initiation eines emotionalen Paktes²¹⁵ zwischen der Figur des Don Karlos und dem Rezipienten, von dem der Pater Domingo mit seiner materialistischen Auffassung des Menschen ausgeschlossen ist. Mit Claudia Stockinger könnte man pointiert formulieren, dass die

 Vgl. das Kapitel 4.2.2.2 dieser Untersuchung.  Unter kontrafaktischer Darstellung verstehe ich hier in Anlehnung an Andreas Martin Widmann, aber ohne die Einschränkung auf narrative Texte die sprachlich-literarische Evokation eines geschichtlich verbürgten Ereignishorizontes, dessen Darstellung in für die ultimaten Funktionen des literarischen Textes zentralen Punkten von historisch verifizierbaren Fakten abweicht (vgl. Andreas Martin Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik. Bd. 4), S. 17 f. sowie 49 f.). Mit Widmanns Verengung der Begriffsextension durch die Forderungen, (1) die ‚historische Folie‘ müsse Bestandteil eines zu einer bestimmten Zeit kulturell etablierten Weltwissens sein (vgl. Widmann, S. 49 f.) und (2) die Abweichung müsse „zentrale historische Ereignisse“ (Widmann, S. 139) betreffen, gehe ich nicht mit.  Schiller erwähnt die mit den historischen Fakten relativ frei verfahrende Darstellung Saint Réals das erste Mal in einem Brief vom 9. Dezember 1782 an Reinwald: „Ich bin also frei Ihnen diejenige [sic] Schriften zu merken, die mir zuerst einfallen, und meinem gegenwärtigen Wunsch am nächsten liegen. Sie sind: […] Oeuvres de Mons. l’Abbé St. Real. (Denjenigen Theil wo die Geschichte des Don Carlos von Spanien vorkommt), Wielands Agathon.“ (NA 7/II, S. 12).  Zum emotionalen Pakt vgl. das Kapitel 3.2.2.7 dieser Untersuchung.

4.3 Don Karlos

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elliptische Form der Informationsvergabe im ersten Auftritt in Kombination mit den Ausführungen in der Vorrede eine Freundschaftsbeziehung zwischen dem Rezipienten und Don Karlos konstruiert. Der Rezipient teilt gewissermaßen mit der Figur des Don Karlos das Geheimnis der Liebe zu Elisabeth. Die Nebentextinformation „mit erkünstelter Gleichgültigkeit“ (NA 6, S. 354) verweist auf den Informationsvorsprung des Rezipienten gegenüber dem Pater Domingo. Die Konstruktion eines Informationsvorsprungs im äußeren Kommunikationssystem erfüllt außerdem die in der Vorrede explizierte dramaturgische Maxime, dass der Intensitätsgrad der erzeugten Affekte von der Antizipationsmöglichkeit und damit vom Kenntnisstand des Rezipienten abhängt.²¹⁶ Der Marquis Posa fungiert im ersten Dialog mit Don Karlos in der Szene I/2 als eine Art Stellvertreter-Figur, deren emotionale Reaktionen auf die Rede des Don Karlos als metakommunikative Signale für die Übernahme der Emotionen in den Gefühlsapparat des Rezipienten aufgefasst werden können. Die Reden des Don Karlos weisen Emotionswörter aus dem Begriffsarsenal des Rührstücks wie heiß, Tränen oder Herz auf. Dagegen konstituiert die Reaktion des Marquis Posa ein bestimmtes, sowohl für das ernsthafte und ästhetisch ambitionierte Bürgerliche Trauerspiel als auch für das komödienhafte und trivial-schematisierte Rührstück²¹⁷ typisches Rezeptionsmuster. So reagiert der Marquis auf die Reden Karlos’ gemäß Nebentextkommentar entsprechend „in sprachloser Rührung“ (NA 6, S. 364). Dabei lenken die Sprachlosigkeit sowie die Ersetzung der Verbalsprache durch körperliche Gesten im Sinn der eloquentia corporis die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz der sprachlich repräsentierten Sachverhalte.²¹⁸ Im Dialog mit dem Marquis Posa expliziert Don Karlos die interessanten und tragischen Sachverhalte, die er im Gespräch mit dem Pater Domingo nur angedeutet hat. In seiner Beschreibung der Vaterbeziehung manifestiert sich eine spezifisch Schiller’sche Figuration des Tragischen, die aus der Zerrüttung eines metaphysischen, auf zwischenmenschlicher Harmonie und sittlicher Vollkommenheit gründenden Weltsystems besteht. Die metaphorische Bezeichnung von Vater und Sohn als „zwei feindliche / Gestirne, die, im ganzen Lauf der Zeiten / ein einzigmal, in scheitelrechter Bahn / zerschmetternd sich berühren, dann auf immer / und ewig auseinander flieh’n“ (NA 6, S. 372, V. 648 – 652), ist eine Kontrafaktur der „Anziehung der Geister“, (Philosophische Briefe, NA 20, S. 124), die in der „Theosophie“ in Analogie zur „Anziehung der Elemente“ (NA 20, S. 124) gesetzt wird. Die Beziehung zwischen Karlos und seinem Vater wird als Defekt im „System der körperlichen Anziehung“ (Schaubühnen-Rede, NA 20, S. 88) dargestellt, der das „mächtige Gesez der Anziehung“ (Tugend-Rede, NA 20, S. 32) aufhebt. Die im ersten Auftritt gegenüber dem Pater Domingo nur angedeuteten und als Rätsel und Geheimnis verschlüsselten emotionalen Konflikte  Zu einer epistemologischen Begründung der Rationalen Ästhetik nach Baumgarten vgl. die Ausführungen im Kapitel 4.1.3.1 dieser Untersuchung.  Vgl. Kap. 4.2.3.1, Anm. 176.  Zur Wirkungsdisposition der eloquentia corporis vgl. das Kapitel 4.2.2.2 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

werden im zweiten Auftritt gegenüber dem als „einzger Freund“ bezeichneten Marquis Posa sprachlich repräsentiert (NA 6, S. 364, V. 418). Es handelt sich dabei jeweils um singuläre Aussagen mit emotiver Signifikanz in der folgenden Form: […] Mein [Karlos’] Wunsch stößt fürchterlich auf meines Vaters Liebe, Ich fühls und dennoch lieb ich. Dieser Weeg [sic] führt nur zu Wahnsinn oder – Blutgerüste, ich liebe ohne Hoffnung – lasterhaft – mit Todesangst, und mit Gefahr des Lebens, das seh ich ja, und dennoch lieb ich. (NA 6, S. 369, V. 553 – 559)

Die Darstellung von politischen Amtsträgern als Menschen mit natürlichen Neigungen erweist sich als eine zentrale Strategie für die Initiation einer positiven emotionalen Einstellung gegenüber den Figuren in der Form von Sympathie und damit auch als Strategie für die Evokation von Affekten wie Rührung oder Bewunderung. Diese Strategie lässt sich besonders deutlich aus der Darstellung der Königin Elisabeth abstrahieren, die in ihrem ersten Auftritt einen Konflikt zwischen dem an das politische Amt als Königin gekoppelten Verstellungsgebot und dem Bedürfnis nach emotionaler Nähe zu den Mitmenschen äußert: Betrübter Rang, der von der ganzen Welt durch einen unglücksvollen Spalt mich scheidet, der zwischen meinen königlichen Gram und eines Freundes offne Brust sich lagert, der mir die Träne zum Verbrechen macht, die ich so gern an seinem Halse weinte! – – Einsiedlerin auf einem öden Tron, auf welchen nie das Mitleid mich begleitet, wo nichts als sklavische Verehrung mir nach einer hergebrachten Formel räuchert, mein Herz umsonst nach einem Herzen lechzt – […] wo find ich, was ich suche? – eine Seele, die sich vertraulich an die meine schmiegte? (NA 6, S. 375 f., V. 694– 710)

Der Garten von Aranjuez wird von Elisabeth als Heterotopos²¹⁹ empfunden, der von der „Verstümmlung“ (NA 6, S. 374, V. 673) der Natur durch den König verschont geblieben ist und der sich durch das Arrangement des Marquis Posa in einen locus amoenus verwandelt. Aus der impliziten Wirkungspoetik des Dialogs zwischen Elisabeth und Karlos in der Szene I/5 lässt sich die Dramatisierungsstrategie der fiktionsinternen Simulation

 Vgl. Kap. 4.2.3.3, Anm. 191.

4.3 Don Karlos

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eines idealen Rezeptionsverhaltens rekonstruieren. Die Königin erweist sich durch ihren Verzicht auf die körperliche Erfüllung der Liebe zu Karlos zugunsten der Liebe zu den Flandrischen Provinzen als erhabene Figur, deren Darstellung die Disposition zur Evokation von Bewunderung aufweist²²⁰: „Elisabeth / war ihre erste Liebe – ihr zwote sei Spanien! Wie gerne, guter Karl, / will ich der besseren Geliebten weichen!“ (NA 6, S. 388 f.,V. 1003 – 1006). Die Reaktionen Karlos’ auf die Rede der Königin konstituieren ein spezifisches Rezeptionsmuster, dessen inhaltliche Komponente die Aufmerksamkeit auf die moralische Qualität und dessen formale Komponente die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz der sprachlich repräsentierten Sachverhalte lenkt: „KARLOS (wirft sich von Empfindungen überwältigt vor der Königin nieder, und drückt ihre Hand wider sein Gesicht.) Wie groß sind sie, o Himmlische – […].“ (NA 6, S. 389, V. 1007) Bei der Interjektion „O“ handelt es sich um einen Marker für die Beurteilung der emotiven Signifikanz im Sinne von ‚Das ist bewunderungswürdig‘. Das dramaturgische Prinzip der fiktionsinternen Simulation emotiver Kommunikationsmuster, das die Disposition zur Affekterzeugung aufweist, strukturiert in besonders deutlicher Form den ersten Dialog zwischen Don Karlos und der Prinzessin Eboli. Auf die Ankündigung der Eboli, Karlos werde „teilnehmend um mich weinen“ (NA 6, S. 461,V. 2487), reagiert dieser gemäß Nebentextinformation im Sinn eines affekttheoretisch idealen Rezeptionsmusters „mit erwartungsvollem teilnehmendem Erstaunen“ (NA 6, S. 461). Der Prinzessin ist es demnach gelungen, die Aufmerksamkeit Karlos’ zu fokussieren und damit die Grundbedingung für die Initiation einer positiven emotionalen Einstellung zu schaffen. Auf die affekttheoretisch bestimmte Dramaturgie des Dialogs verweist außerdem die melodramatische Einführung in die Szene durch den von einer Laute begleiteten Gesang der Prinzessin Eboli.²²¹ Dabei wird die affektevozierende Funktion der Musik fiktionsintern expliziert: „Ich bin / ganz Ohr, ich weiß nichts von mir selber, stürze / ins Kabinet, der süßen Künstlerin / die mich so himmlisch rührte, mich so mächtig / bezauberte, in’s schöne Aug zu sehen.“ (NA 6, S. 450,V. 2218 – 2222) Auf die Erzählung der Eboli von der durch den König arrangierten Hochzeit mit dem Prinzen von Silva reagiert Karlos gemäß affekttheoretischem Kommunikationsschema „heftig ergriffen“ (NA 6, S. 462). Das Script des Dialogs zwischen Don Karlos und der Prinzessin Eboli weist auffallende Parallelen zur Verlaufsstruktur des Dialogs zwischen Ferdinand von Walter und der Lady Milford im Drama Kabale und Liebe auf. Diese Parallelen bestehen insbesondere in den affekttheoretisch schematisierten Reaktionen der Männerfiguren erstens auf die tragischen Sachverhalte, die Mitleid evozieren, und zweitens auf die Tugend- und Liebesideologien der Frauenfiguren, die Bewunderung evozieren. Das den beiden Dialogen zwischen Ferdinand und der Lady Milford bzw. zwischen Don Karlos und der Prinzessin Eboli zugrunde liegende Kommunikationsschema lässt sich  Zum affekttheoretischen Kausalnexus zwischen der Wirkungskategorie des Erhabenen und dem Affekt der Bewunderung vgl. das Kapitel 3.1.2 dieser Untersuchung.  Zur Wirkungsdisposition solcher melodramatischen Elemente vgl. das Kapitel 4.1.2.3 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

vereinfacht folgendermaßen beschreiben: Figur x hat zu Beginn des Dialogs eine emotional neutrale (Don Karlos) oder emotional negative (Ferdinand) Einstellung gegenüber der Figur y; Figur y liebt Figur x und will bei dieser durch die sprachliche Repräsentation tragischer Sachverhalte sowie einer liebesphilosophisch bestimmten Tugendideologie eine positive emotionale Einstellung in der Form von Rührung und Mitleid bzw. Bewunderung evozieren; die Figur x reagiert auf die Reden der Figur y in der von dieser intendierten Weise, d. h. sie empfindet Rührung und Bewunderung gegenüber der Figur y; diese Empfindungen der Figur x fungieren als Handlungsmotive und initiieren ein Liebesgeständnis; die Figur x projiziert dabei die Emotionen gegenüber einer Figur z auf die Figur y; die Figur y entdeckt diese Projektion und entwickelt Rachegefühle gegenüber den Figuren x und z. Beim anschließenden Monolog der Prinzessin Eboli in der Szene II/10 handelt es sich um die sprachliche Repräsentation eines komplexen Emotionsprogramms, in dem bestimmte emotionale Reaktionen an bestimmte mentale Vergegenwärtigungen gekoppelt sind: […] Was kann denn er dabei, Er zu gewinnen haben, wenn der König der Königin die … (sie hält plözlich inn, von einem Gedanken überrascht – zu gleicher Zeit reißt sie die Schleife, die ihr Karlos gegeben hat von dem Busen, betrachtet sie schnell, erkennt sie und schrikt zusammen) O ich rasende! Jezt endlich, jetzt … Wo waren meine Sinne? Jezt gehn mir die Augen auf … Sie hatten sich lang geliebt, eh der Monarch sie [gemeint ist Elisabeth] wählte. Nie ohne sie sah mich der Prinz. Ihr galten die stummen Seufzer seiner Brust, der Winke bedeutungsvolles Spiel, die feurige Beredsamkeit der Blike – O und alles was ich betrogner überraschter Thor zu meinem Eigenthum gemacht! … Sie also, Sie war gemeint, wo ich so gränzenlos so warm so wahr mich angebetet glaubte? O ein Betrug der ohne Beispiel ist, und meine Schwäche hab ich ihr verrathen. (Stillschweigen) (NA 6, S. 471, V. 2672– 2687)

Die Interjektion „O“ verweist dabei auf die emotive Signifikanz der sprachlich repräsentierten Sachverhalte. Am Beispiel dieses Monologs lässt sich der mentale Status (emotiv oder kognitiv) der literarisch-fiktionalen Vergegenwärtigung noch weiter schärfen. Aus der Perspektive einer Philosophie des Geistes besteht der kognitive Wert dieser Sequenz (1) in produktionsästhetischer Hinsicht in der Vergegenwärtigung der Erfahrung, wie es ist, wenn die Hoffnung auf Liebe enttäuscht wird, und (2) in rezeptionsästhetischer Hinsicht im nicht-propositionalen Kennenlernen dieser Erfah-

4.3 Don Karlos

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rung durch den Rezipienten und damit der Erweiterung von dessen phänomenalem Bewusstsein. Die szenische Vergegenwärtigung des Emotionsprogramms weist in diesem Fall die Disposition zur Evokation von Emotionen auf, insofern sie in Verbindung mit illusionserzeugenden Strategien wie der literarischen Gemäldetechnik eine virtuelle Erfahrung dieses Emotionsprogramms und damit eine pathetische Illusion im Bürger’schen Sinn als fiktionsbezogenes Emotionsprogramm²²² initiiert. Die Disposition der szenischen Vergegenwärtigung eines Erlebnisses zur Vermittlung nicht-propositionaler Kenntnis wird in diesem Fall von der metakommunikativen Vermittlung emotiver Botschaften (im Dialog mit Don Karlos) und Strategien der Illusionserzeugung zum Zweck der Initiation eines emotiven Miterlebens begleitet. Aus der impliziten Wirkungspoetik der Thalia-Fragmente lässt sich also eine Reihe von Strategien zur Evokation von Affekten rekonstruieren. Zu diesen Strategien gehören die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz sprachlich repräsentierter Sachverhalte, die Ersetzung verbalsprachlicher durch körpersprachliche Repräsentationen (eloquentia corporis), melodramatische Sequenzen, die metakommunikative Simulation affekttheoretisch idealer Kommunikationsschemata sowie die Initiation virtueller emotionaler Erfahrungen. Diese Dramatisierungsstrategien erweisen sich als dramaturgische Realisierungen der affektpoetologischen Aussagen aus der Vorrede.

4.3.3 Kognitive Funktionen 4.3.3.1 Thalia-Fragmente Neben der emotiven Funktion, bestimmte Affekte zu erzeugen, lässt sich aus der impliziten Wirkungspoetik der Thalia-Fragmente auch die kognitive Funktion der Erkenntnisvermittlung rekonstruieren. Diese Funktion besteht auch hier u. a. in der sprachlichen Repräsentation allgemeiner Sachverhalte durch generische Sätze, die eine Wahrheitswerts-Prüfung provoziert. Die allgemeinen Sachverhalte bilden jeweils eine Ideologie im oben erläuterten Sinn, also ein para-theoretisches, affektiv bestimmtes, sinngenerierendes und handlungsmotivierendes System von Meinungen und Überzeugungen, das als spezifische Denkweise zusammen mit spezifischen Handlungsweisen eine bestimmte Figurenkonzeption konstituiert. So besteht beispielsweise Posas Darstellung des Monarchen aus einer Reihe von Gedankeninhalten, die zusammen eine politphilosophisch-republikanische Ideologie konstituieren. Über den Monarchen sagt der Marquis in der Szene I/9 zu Don Karlos: […] ein ungeheurer Spalt reißt vom Geschlecht der Sterblichen ihn los, und Gott ist heut, wer gestern Mensch noch war. Jezt hat er keine Schwächen mehr. Die Pflichten

 Zu diesem Illusionsbegriff vgl. das Kapitel 3.2.2.10.2 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

der Ewigkeit verstummen ihm – Die Menschheit (noch heut ein großes Wort in seinem Ohr) verkauft sich selbst, und kriecht um seine Launen. Sein Mitgefühl löscht mit dem Leiden aus, und Wollüste verklagen seine Tugend, für seine Thorheit schickt ihm Peru Gold, für seine Laster zieht sein Hof ihm Teufel. Er schläft berauscht in diesem Himmel ein, den seine Sklaven staatsklug um ihn pflanzen, lang wie sein Traum währt seine Herrlichkeit, und wehe dem, der ihn barmherzig weckte! (NA 6, S. 402 f., V. 1256 – 1270)

Die Replik Karlos’, der diese Darstellung als „[w]ahr und schrecklich“ (NA 6, S. 403, V. 1279) qualifiziert, kann als zusätzliches metakommunikatives Signal für eine Wahrheitswerts-Prüfung aufgefasst werden. Ein weiteres Beispiel für die sprachliche Repräsentation einer Ideologie findet sich im Monolog der Prinzessin Eboli in der Szene II/12, in der diese Figur ihr Tugendkonzept erläutert. Es handelt sich dabei um eine profane Tugendideologie, deren zentrale Idee der Konnex von Tugend und Liebe ist: Tugend? […] Spart sie für jene Welt der Unschuld schöne Blume? Wenn für die Liebe sie nicht sammelt, wem, wem sammelt denn die Tugend? Ist sie mehr als hoher Wucher mit der Liebe Freuden? Ich werde nicht mehr lieben. Ihres Amtes entbind ich sie auf immerdar. Sie fliehe der Hofnung zu. Ich werde nicht mehr lieben. (NA 6, S. 474, V. 2760 – 2772)

Die Rede der Eboli weist eine argumentationslogische Struktur auf, die sich durch den folgenden Syllogismus explizieren lässt: Die Liebe (p) ist eine notwendige Bedingung für Tugend (q) (q → p). Die Liebe besteht nicht (¬ p). Daraus folgt, dass auch keine Tugend besteht (→ ¬ q). Die Referenzgröße dieser Ideologie im philosophischen Frühwerk Schillers ist die Tugend-Rede, von deren zentralen Prämissen sie durch die Säkularisierung der Tugend aber entscheidend abweicht. In der Tugend-Rede heißt es, tugendhaftes Handeln sei „von den Vorgefühlen des Himmels“ (NA 20, S. 35) begleitet. Die spezifische Bestimmung des Tugendbegriffs durch die Prinzessin Eboli ist situationsbedingt motiviert, insofern die Verlinkung von Tugend und Liebe als Argumentationsmodell für die Verschwörung gegen die Königin Elisabeth fungiert. Dass es sich bei dieser Tugendideologie um ein situationsbezogenes ad hoc-Konstrukt handelt, zeigt sich u. a. durch den Vergleich mit der Liebesideologie, die die Prinzessin Eboli im Dialog mit Don Karlos präsentiert. Hier vertritt die Prinzessin noch eine autonomie-

4.3 Don Karlos

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ästhetische Auffassung der Liebe, die dem ökonomischen Nützlichkeitsdenken der höfischen Heiratspolitik entgegengestellt, jedoch gleichzeitig mit Hilfe eines ökonomischen Vokabulars veranschaulicht wird: Armselige Vernünftelei! Wie schwach von diesen starken Geistern! Weibergunst, der Liebe Glück der Waare gleich zu achten, worauf geboten werden kann! Sie ist das einzige auf diesem Rund der Erde, was keinen Käufer leidet, als sich selbst. Die Liebe ist der Liebe Preiß. Sie ist der unschätzbare Diamant, den ich verschenken oder ewig ungenoßen verscharren muß – Dem großen Kaufmann gleich, der ungerührt von des Rialto Gold und Königen zum Schimpfe seine Perle dem reichen Meere wiedergab, zu stolz sie unter ihrem Werthe los zu schlagen. (NA 6, S. 462 f., V. 2516 – 2529)

Durch die Idee der Seelenharmonie und der ästhetischen Einheit in der Vielheit weist das Liebeskonzept der Eboli schließlich frappante Parallelen zur theosophischen Liebesphilosophie auf: […] Der Seelen entzükender Zusammenklang – ein Kuß – der Schäferstunde schwelgerische Freuden – der Schönheit hohe himmlische Magie sind eines Strales schwesterliche Farben, sind einer Blume Blätter nur. […] (NA 6, S. 463, V. 2537– 2542)

Dass die Darstellung dieser Ideologie innerhalb der Figurenrede durch den Abstraktionsgrad, das Reflexionsniveau oder die argumentationslogische Struktur eine Wahrheitswerts-Prüfung initiiert, heißt noch nicht, dass mit ihr auch die kognitive Funktion der Vermittlung allgemeiner Aussagen verbunden ist. Wie in den Kapiteln 4.1.3.3 und 4.2.3.4 zu den Dramen Die Räuber und Kabale und Liebe bereits erläutert wurde, ist die Disposition für die Erfüllung dieser kognitiven Funktion erst dann gegeben, wenn die argumentierende Figurenrede auch Bestandteil der argumentativen Darstellung des ganzen Textes (sofern sich eine solche rekonstruieren lässt) ist, wenn sich also Signale für die Applikation der fiktionsinternen Aussagen auf das äußere Kommunikationssystem zwischen Autor, Text und Rezipient ausfindig machen lassen. In Bezug auf kognitive Funktionen kann für die Thalia-Fragmente bis anhin festgehalten werden, dass verschiedene Ideologien wie die politphilosophisch-anthropologische des Marquis Posa oder die anthropologisch-moralphilosophische der Prinzessin Eboli präsent sind und durch ihre sprachliche Repräsentation die Disposition

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

zu einer Wahrheitswerts-Prüfung aufweisen. Anders formuliert sind die Begriffe Humanität, Freiheit, Republik, Liebe, Tugend usw. innerhalb des inneren Kommunikationssystems als Themen, d. h. als Gesprächsgegenstände präsent, deren Status innerhalb des äußeren Kommunikationssystems noch geklärt werden muss. Bei Posas Erläuterung von zwei verschiedenen Tugendbegriffen in der Szene III/2 handelt es sich um eine Form philosophischen Reflektierens innerhalb fiktionaler Literatur. Das philosophische Reflexionsniveau ergibt sich (1) durch das moralphilosophische Thema „Tugend“, (2) durch systematisches Unterscheiden und begriffliche Trennschärfe sowie (3) durch einen relativ hohen Abstraktionsgrad. Marquis Posa gibt anhand konkreter Einzelfälle Merkmalsdefinitionen zweier verschiedener Tugendbegriffe. Dabei besteht die Systematik in der dialektischen Gegenüberstellung von These (Tugendbegriff1) und Antithese (Tugendbegriff2). Der Tugendbegriff, den Posa auf die Prinzessin Eboli bezieht, konstituiert sich durch die Merkmale „profan“, „bewusst“, „teleologisch“, „egoistisch“ und „anerzogen“. Der Tugendbegriff, den Posa auf die Königin Elisabeth bezieht, konstituiert sich hingegen durch die Merkmale „sakral“, „unbewusst“, „autonom“, „altruistisch“ und „angeboren“. Zur Persuasionsstrategie des Marquis Posa gehört neben der antithetischen Struktur auch die Zuweisung eines bestimmten Vokabulars zu einem bestimmten Tugendkonzept. So wird die Eboli-Tugend (Tugend1) durch einen ökonomischen und die Elisabeth-Tugend (Tugend2) durch einen organizistischen Metaphernkomplex veranschaulicht: […] Diese Tugend [der Prinzessin Eboli], […] wie wenig reicht sie empor zu jenem Ideale das aus der Seele mütterlichem Boden in stolzer schöner Grazie empfangen freiwillig sproßt und ohne Gärtners Hilfe verschwenderische Blüthen treibt. Es ist ein fremder Zweig, mit nachgeahmtem Süd in einem rauhern Himmelstrich getrieben; Erziehung, Grundsaz, nenn es wie du willst, erworbne Unschuld, dem erhizten Blut durch List, durch manchen zweifelhaften Kampf und kriechende Verträge abgerungen, dem Himmel der sie fodert und bezahlt gewissenhaft sorgfältig angeschrieben. […] wie anders alles, was ich hier [bei der Königin Elisabeth] bemerkte! In angebohrner stiller Glorie, mit sorgenlosem Leichtsinn, mit des Anstands schulmäßiger Berechnung unbekannt nicht bang vor nie geahndeten Gefahren, gleich ferne von Verwegenheit und Furcht, mit festem Heldenschritte wandelt sie die schmale Mittelbahn des Schiklichen, unwissend daß sie Anbetung erzwungen,

4.3 Don Karlos

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wo sie von eignem Beyfall nie geträumt. […] Nur kleine Seelen knieen vor der Regel, die große Seele kennt sie nicht. (NA 6, S. 505 f., V. 3345 – 3388)

Die philosophische Reflexion, die sich durch den hohen Abstraktionsgrad und die begriffliche Trennschärfe auszeichnet, weist die Disposition zur Erkenntnisvermittlung auf.Vermittelt wird die Erkenntnis zweier verschiedener, polar entgegengesetzter Tugendbegriffe, nämlich einerseits einer natürlichen, d. h. angeborenen, unbewussten und zweckfreien Tugend und andererseits einer künstlichen, d. h. bewusst angeeigneten und zweckorientierten Tugend. Bei der Darstellung der natürlichen Tugend handelt es sich um eine begriffliche Präfiguration des ästhetischen Konzepts der schönen Seele, wie es Schiller in seiner philosophischen Schrift Über Anmut und Würde (1793) ausarbeiten wird. Außer der begrifflichen Erkenntnis des bloßen Inhalts zweier verschiedener Tugendbegriffe wird auch ein Werturteil vermittelt, nämlich das Urteil, dass die natürliche Tugend die bessere Tugend ist als die künstliche, weil – so die implizierte Prämisse – sich in jener die moralische Freiheit des Menschen manifestiert. Neben der Darstellung begrifflicher Reflexion über den moralphilosophischen Begriff der Tugend lassen sich noch andere Strategien zur Erfüllung kognitiver Funktionen aus der impliziten Wirkungspoetik der Thalia-Fragmente rekonstruieren. Zu diesen Strategien gehört etwa die fiktionsinterne Thematisierung von Zufall und Vorsehung, die die Disposition zur Initiation einer Reflexion auf diese Kategorien aufweist. Die philosophische Kategorie der Vorsehung ist im inneren Kommunikationssystem nicht Gegenstand einer begrifflichen Reflexion, d. h. die Figuren verfügen nicht über einen metasprachlichen Zugang zu dieser Kategorie, sondern sie fungiert als Bezugsgröße bei der Beurteilung spezifischer Sachverhalte. Es handelt sich dabei um den theologischen Vorsehungsbegriff, der einen göttlichen, d. h. zweckbestimmten und harmonischen Weltenplan bezeichnet. Dem metasprachlichen Zugang zum Tugendbegriff steht damit ein intuitiver Zugang zum Begriff der Vorsehung gegenüber, die als sinnhomogenisierende, gottähnliche Instanz allegorisiert wird. Dieser Zugang lässt sich etwa an der folgenden Rede des Don Karlos veranschaulichen, der in der Szene I/2 von der Rückkehr des Marquis Posa aus Belgien überrascht wird: […] Und was bringt dich so unverhoft aus Brüßel wieder? Wem dank ich diese Ueberraschung? – Wem? ich frage noch? – – Verzeih dem Freudetrunknen, erhabne Vorsicht, diese Lästerung – – Wem sonst als dir, Allgütigste? Du wußtest daß Karlos ohne Engel war, du sandtest mir diesen, und ich frage noch? (NA 6, S. 361, V. 341– 348)

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Auch König Philipp beruft sich auf die Vorsehung als die über den Kompetenzen des weltlichen Alleinherrschers stehende providentia, d. h. den göttlichen, sinnhomogenen und sittlich vollkommenen Weltenplan²²³, wie sich in seinem Monolog der Szene III/8 herausstellt: Jezt gib mir einen Menschen, gute Vorsicht. Du hast mir viel gegeben – mehr, als bei der gleichen Theilung unter deine Kinder mir billig werden sollte. Schenke mir jezt einen Menschen. … Du, du bist Allein, denn deine Augen prüfen das verborgne – ich bitte dich um einen Freund, denn ich bin nicht wie du allwißend. […] (NA 6, S. 539, V. 4059 – 4066)

Die Vorsehung wird dabei nicht als prospektive praevidentia (‚Voraussehen‘) oder praescientia (‚Vorwissen‘), also nicht als entmündigende und den freien Willen einschränkende Prädestination²²⁴, sondern als gegenwartsbezogene Ordnungsinstanz aufgefasst: Ich brauche Wahrheit – ihre stille Quelle im dunkeln Schutt des Irrthums aufzugraben ist nicht das Loos der Könige. Gib mir den seltnen Mann mit reinem offnen Herzen, mit hellem Geist und unbefangnen Augen, der mir sie finden helfen kann. Ich schütte die Loose auf. Laß unter tausenden, die um die Hoheit Sonnenscheibe flattern, den Einzigen mich finden. […] (NA 6, S. 539, V. 4075 – 4083)

Das Verhältnis der Figuren zu dieser allegorisierten Form der Vorsehung als einer gottähnlichen Sinnhomogenisierungsinstanz erweist sich aber als durchaus ambivalent und ihre Souveränität wird insbesondere durch Don Karlos immer wieder in Frage gestellt, wie sich an den folgenden beiden Reden dieser Figur in den Szenen I/2 und I/5 zeigen lässt: […] Rodrigo [gemeint ist Marquis Posa], enthülle du diß wunderbare Räzel der Vorsicht mir – Warum von tausend Vätern

 Zum philosophischen Begriff der Vorsehung vgl. Werner Schüßler: Vorsehung. In: Metzler-Philosophie-Lexikon. Begriffe und Definitionen., hg. von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. Stuttgart/ Weimar 1996, S. 558.  Zum Begriff der Prädestination und dessen Geschichte vgl. Theodor Mahlmann: Prädestination. In: HWP 7, Sp. 1172– 1178.

4.3 Don Karlos

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just eben diesen Vater mir? und ihm just diesen Sohn von tausend bessern Söhnen? […] Furchtbares Loos! Warum mußt es gescheh’n? (NA 6, S. 371 f., V. 633 – 643) […] Große Vorsehung, ich will es dir vergeben, will vergessen, wie unaussprechlich selig ich mit ihr [Königin Elisabeth] geworden wäre – wenn nur er [König Philipp] es ist, Er ists nicht – hör es große Vorsehung! so frevelhaft beschimpft er deine Gabe! er ist es nicht – Das, das ist Höllenquaal! er ist es nicht, und wird es niemals werden! Du nahmst mir meinen Himmel nur, um ihn in Philipps Armen zu vertilgen. (NA 6, S. 380, V. 795 – 804)

Der Begriff der Vorsehung wird von den Dramenfiguren – anders als die Begriffe der Tugend oder der Liebe – also nicht begrifflich reflektiert, sondern in einer je spezifischen Weise erfahren bzw. erlebt. Die Thematisierung der Erfahrungen mit der Vorsehung weist – anders als die Darstellung von Reflexionen auf Begriffe wie Tugend oder Liebe – nicht die Disposition zur Initiation propositional-diskursiver Erkenntnis auf (z. B. der Erkenntnis, dass natürliche Tugend diese-und-diese Eigenschaften aufweist), sondern die Disposition zur Vermittlung nicht-propositionaler Kenntnis, auf welche Weise Menschen vom Schicksal betroffen sein können. Darüber hinaus weist die ambivalente Thematisierung der Vorsehung, die von den Figuren sowohl als sinnhomogenisierende, gerechtigkeitsstiftende und göttlich-gütige als auch als sinnwidrige und undurchsichtige Instanz erfahren und thematisiert wird, die Disposition auf, im äußeren Kommunikationssystem eine von den kritischen Fragen der Figuren animierte Auseinandersetzung mit der Theodizee-Frage zu initiieren. Aus der impliziten Wirkungspoetik der Thalia-Fragmente lässt sich im Zusammenhang mit der Thematisierung der Vorsehung noch eine weitere Funktion rekonstruieren. Die Denkfigur der Vorsehung wird nämlich nicht nur fiktionsintern thematisiert, sondern bestimmt auch die Dramaturgie der Thalia-Fragmente, aus deren impliziter Wirkungspoetik sich neben affektiven und kognitiven Funktionen auch die Funktion der Spannungserzeugung rekonstruieren lässt. Zu den Strategien für die Spannungserzeugung gehört insbesondere eine die Affektpoetik des achtzehnten Jahrhunderts unterlaufende Konstruktion der Informationsvergabe, die auf dem Zurückhalten von Informationen basiert. So wird der Rezipient zusammen mit Don Karlos über die „geheime[n] Wünsche“ (NA 6, S. 512,V. 3530) des Marquis Posa vorerst im Ungewissen gelassen: „Doch davon wenn es Zeit ist mehr.“ (NA 6, S. 512,V. 3532) In Anlehnung an Clemens Lugowskis Unterscheidung zwischen einer ‚Wie-Spannung‘, d. h. der Spannung, wie sich ein proleptisch vermitteltes Ereignis zutragen wird, und

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einer ‚Ob-Spannung‘, d. h. der Spannung, ob sich dies-und-dies zutragen wird²²⁵, kann die durch die selektive Informationsvergabe erzeugte Spannung als inhaltsbezogene ‚Was-Spannung‘ bezeichnet werden. Die Evokation einer Was-Spannung weist ihrerseits die Disposition auf, die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der bloß angedeuteten Sachverhalte zu lenken. Die Evokation von Spannung bzw. die Initiation einer Erwartungshaltung durch eine kalkulierte, selektive und elliptische Informationsvergabe, die die Theoreme einer affektpsychologischen Epistemologie²²⁶ subvertiert, ermöglicht einen realen Zugang zur philosophischen Kategorie der Vorsehung innerhalb des äußeren Kommunikationssystems. Aus der impliziten Poetik des ThaliaFragments lassen sich also zwei konkurrierende dramaturgische Strategien rekonstruieren: einerseits die affekttheoriekonforme Strategie der transparenten Informationsvergabe, die die Disposition zur Evokation von Emotionen aufweist und durch die die Aufmerksamkeit auf die emotive Signifikanz spezifischer Sachverhalte gelenkt wird, und andererseits die aus affekttheoretischer Perspektive inadäquate Strategie der selektiven oder auch elliptischen Informationsvergabe, die die Disposition zur Evokation von Spannung aufweist und durch die die Aufmerksamkeit auf den Inhalt potentieller Sachverhalte gelenkt bzw. durch die der Begriff der Vorsehung für den Rezipienten erfahr- und erlebbar gemacht wird. Die kognitive Signifikanz der Thalia-Fragmente – so lässt sich zusammenfassend festhalten – besteht aus unterschiedlichen Repräsentationen philosophischer Begriffe wie Tugend, Liebe oder Vorsehung und den durch diese Repräsentationen potentiell vermittelten oder initiierten Erkenntnisweisen. Die Darstellung eines metasprachlichbegrifflichen Zugangs der Figuren zu den Begriffen Tugend oder Liebe weist die Disposition zur Initiation propositional-diskursiver Erkenntnis auf. Die Vergegenwärtigung von unterschiedlichen konkreten Erfahrungen mit der philosophischen Kategorie der Vorsehung weist die Disposition zur Vermittlung nicht-propositionalanschauender Erkenntnis auf. Die fiktionsinterne Problematisierung der Vorsehung weist die Disposition zur Initiation einer Reflexion auf die Theodizee-Frage auf. Schließlich lässt sich aus der impliziten Wirkungspoetik der Thalia-Fragmente noch die Strategie einer defizitären oder elliptischen Informationsvergabe mit der Disposition zur Spannungserzeugung rekonstruieren. Der Evokation von Spannung kann einerseits die ultimat-kommerzielle Funktion zugeschrieben werden, den Leser zum Weiterlesen und damit zum Kauf weiterer Thalia-Hefte zu bewegen. Andererseits generiert die Spannungserzeugung aber auch einen realen Zugang zum fiktionsintern vergegenwärtigten Begriff der Vorsehung, insofern dieser für den Rezipienten des äußeren Kommunikationssystems in einer bestimmten Form konkret erfahr- und erlebbar gemacht wird. In der folgenden Analyse der Buchfassung von 1787 wird sich zeigen, dass es sich bei der aus affektpoetischer Perspektive inadäquaten Informati Zur „Ob-Spannung“ als komplementärem Typus der Spannungserzeugung zur „Wie-Spannung“ vgl. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer. Frankfurt a. M. 1976 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft. Bd. 151), S. 40 – 42.  Vgl. das Kapitel 3.2.2.2.2 dieser Untersuchung.

4.3 Don Karlos

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onsvergabe nicht nur um ein ökonomisches Kalkül, sondern auch um eine Dramatisierungsstrategie für die Erfüllung von ultimat-kognitiven Funktionen handelt.

4.3.3.2 Buchfassung von 1787: Don Karlos als Ideendrama? Ich schränke die Analyse der Buchfassung von 1787 auf die Rekonstruktion kognitiver Funktionen ein, weil diese Fassung einerseits keine Strategien für die Evokation von Affekten aufweist, die nicht bereits im Zusammenhang mit den Thalia-Fragmenten erläutert wurden. Andererseits lässt sich die Beantwortung der eingangs gestellten Frage nach der kognitiven Signifikanz von fiktionaler Literatur, dem Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie sowie nach Phänomenen wie „Philosophie in Literatur“ oder „Philosophie als Literatur“ damit weiter konkretisieren. Ich schließe dabei an die Ergebnisse aus der Analyse der Dramen Die Räuber und Kabale und Liebe an und lege den Fokus also weiterhin auf Rankes Begriff der argumentativen Darstellung, der im Kapitel 4.2.3.4 bereits mit dem Konzept des Profilierens spezifiziert wurde. Davor soll mit dem gattungspoetologischen Begriff des Ideendramas ein weiteres Konzept, das die oben formulierten Fragen impliziert, kurz erläutert und als heuristisches Instrument in die Analyse integriert werden.

4.3.3.2.1 Zum Begriff Ideendrama Die Szene III/10 des Don Karlos, in der Marquis Posa dem König Philipp seine politisch-humanistische Ideologie vorträgt, hat in der Forschung immer wieder dazu veranlasst, das Stück als Ideendrama zu diskutieren und es mit Lessings Nathan zu vergleichen.²²⁷ Als Konsens hat sich in diesen Diskussionen die Bestimmung des Don Karlos als Tragödie und Ideendrama vereinende Hybridgattung etabliert.²²⁸ Das Problem dieser gattungspoetologischen Zuordnungsversuche liegt in der terminologischen Unschärfe des Begriffs Ideendrama, zu dem noch keine umfassende Studie vorliegt.²²⁹ Die Versuche, das Ideendrama von verwandten Subgattungen des Dramas wie dem Problemstück, dem Lehrstück, dem Thesenstück oder dem Tendenzstück zu unterscheiden, fielen in der Regel unbefriedigend aus.²³⁰ Es kommt erschwerend hinzu, dass gerade die häufig einander entgegengestellten Begriffe des Ideendramas und des Tendenzstücks stark ideologisch geprägt sind und die Abgrenzungsversuche

 Vgl. bereits Unger: Von Nathan zu Faust, S. 27 f.  Vgl. z. B. Peter André Bloch: Die dramaturgischen Probleme des Don Carlos aufgrund der verschiedenen Theaterkonzepte Schillers. In: Christine Maillard (Hg.): Friedrich Schiller: Don Carlos. Théâtre, psychologie et politique. Strasbourg 1998, S. 23 – 39; hier S. 29.  Zu diesem Befund vgl. Thorsten Unger: Ideendrama. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, begründet von Günther und Irmgard Schweikle, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. 3., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart/Weimar 2007, S. 339.  Auf diese Schwierigkeit wird bei Arthur H. Nethercot: The Drama of Ideas. In: The Sewanee review 49 (1941), S. 370 – 384; hier S. 374 aufmerksam gemacht.

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häufig auch mit einer ideengeschichtlich determinierten Profilierung des einen oder anderen Begriffs einhergingen.²³¹ Obwohl die Studie von Rudolf Unger zum Ideendrama ,von Nathan zu Faust‘ in besonders signifikanter Weise ideengeschichtlich geprägt ist (Unger ist der Begründer der Problemgeschichte), wurde seine begriffliche Bestimmung des Ideendramas bis in die aktuellsten Lexikon- und Handbuchartikel zu diesem Begriff tradiert.²³² Die ideologisch-ideengeschichtliche Prägung zeigt sich bei Unger in der Unterscheidung zwischen dem Begriff der Idee und dem bei ihm noch negativ konnotierten Begriff Tendenz. ²³³ Ausgehend von Lessings Drama Nathan der Weise, das für Unger den Prototypen des Ideendramas darstellt, bestimmt er den Zusammenfall von „ideelle[m] Höhepunkt“ und „dramatische[m] Gipfelpunkt“²³⁴ als ein notwendiges gattungskonstituierendes Merkmal. Bei einem Überblick über die Forschungsgeschichte zum Ideendrama ist neben Ungers Studie zu dieser Gattung auch die Abhandlung Norbert Rudolphs zum ‚Gedanklichen im Drama‘²³⁵ zu nennen. Ähnlich wie bei Unger manifestiert sich auch in Rudolphs terminologischem Setting eine geistesgeschichtliche Prägung, die bei Unger freilich noch durch eine problemgeschichtliche Perspektive spezifiziert ist. Diese Prägung äußert sich bei Rudolph etwa in der sich an Hefeles Abhandlung Das Wesen der Dichtung ²³⁶ orientierenden Unterscheidung zwischen dem „Gehalt“ und der „Gestalt“ eines literarischen Textes, die wiederum von einer metaphysischen, propositional nicht erkennbaren „Idee“ unterschieden werden: Unter Gehalt einer Dichtung versteht man die innerste Bedeutung, den tieferen Sinn und Wert einer Dichtung. Im Gegensatz zur Idee einer Dichtung, die nach Hefele nichts anderes ist als der irrationale Auftrieb zum Schaffen, die daher auch nicht rational gedeutet werden kann, läßt sich der Gehalt der Dichtung wohl rational erfassen; aber er ist in der Dichtung nicht ausgesprochen, sondern er drückt sich durch die Gestalt des Kunstwerks selbst aus.²³⁷

Die Bedeutung des Begriffsnamens Gedankendrama, die Rudolph im Anschluss an diese Unterscheidungen geistes- und ideengeschichtlicher Prägung postuliert, hat sich in der Fortsetzung der Forschungsgeschichte mit einigen wenigen terminologischen Anpassungen als konsensfähige Begriffsbestimmung etabliert. Rudolph bezeichnet mit dem Begriff ein solches Drama, das vom Gedanklichen als dem Primären ausgeht und das Gedankliche zum alleinigen Gegenstand und Zweck der Darstellung macht […] äußere Handlung und Rollenträger [sind] nur Mittel zum Zweck, Mittel zur Veranschaulichung des gedanklichen Stoffes. Das ei-

 Markant zeigt sich das beispielsweise bei Unger: Von Nathan zu Faust.  Bei Unger: Ideendrama, S. 339 sowie bei von Wilpert, S. 364 wird die Studie von Unger unter dem entsprechenden Eintrag als Quelle angegeben.  Vgl. Unger: Ideendrama, S. 14.  Unger: Ideendrama, S. 19.  Vgl. Kap. 1.2.1, Anm. 20.  Vgl. Hermann Hefele: Das Wesen der Dichtung. Stuttgart 1923.  Rudolph, S. 11 f.

4.3 Don Karlos

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gentlich Wesentliche der Dramatik, die Gestaltung dramatischer Konflikte und die Gestaltung von Menschen und Charakteren wird vernachlässigt. Die Verkündigung und Veranschaulichung einer Idee wird zur Hauptsache. Das Geschehnis im Drama und die Rollenträger sind nur Mittel zu diesem Zweck.²³⁸

Unter Ideendrama wird im Allgemeinen entsprechend ein Drama verstanden, aus dessen impliziter Wirkungspoetik sich die ultimat-kognitive Funktion der Vermittlung einer bestimmten Idee, d. h. eines bestimmten Gedankeninhalts, rekonstruieren lässt.²³⁹ Für die begriffliche Differenzierung zwischen dem Ideendrama und verwandten Subgattungen des Dramas wie dem Tendenz- oder Thesenstück hat sich ein bestimmtes Set an Abgrenzungskriterien etabliert, bestehend aus dem ästhetischen Niveau der Funktionserfüllung (1), dem Aktualitätsbezug der Idee (2) und dem Grad der Bedeutungsextension der Idee (3). Konkret werden die verwandten Gattungen „Ideendrama“, „Tendenzstück“, „Problemstück“, „Thesenstück“ oder „Lehrstück“ durch die folgenden Fragen klassifiziert: (1) Auf welchem ästhetischen Niveau erfolgt die Funktionserfüllung (Wird die zentrale Idee indirekt, d. h. metaphorisch, symbolisch usw. oder direkt, d. h. durch sprachliche Repräsentation vermittelt?), (2) Handelt es sich um eine allgemeinmenschliche, historisch invariante und überzeitliche oder um eine historisch aktuelle Idee? und (3) Betrifft die Idee die Menschheit im Allgemeinen oder nur eine bestimmte Gruppe von Menschen?²⁴⁰ Im Zuge der betreffenden Explikationsversuche wurde bereits auf die Probleme solcher Abgrenzungskriterien und ihre Defizite hinsichtlich einer trennscharfen Unterscheidung zwischen den konkurrierenden Begriffen aufmerksam gemacht. Ich schließe mich der opinio communis an, dass die Grenzen zwischen dem Ideendrama und verwandten Gattungen sowohl auf der paradigmatischen Achse der ‚Gattungslandschaft‘²⁴¹, zu der etwa auch das Geschichtsdrama gehört, als auch auf ihrer syntagmatischen Achse, auf der Tendenzstück, Problemstück, Lehrstück, oder Thesenstück liegen, fließend sind. Unter Ideendrama verstehe ich hier in Anlehnung an meine Begriffsbestimmung von Idee in der Einleitung (Kapitel 1.2.1) ein Drama, aus dessen impliziter Wirkungspoetik sich die ultimat-kognitive Funktion der Vermittlung einer bestimmten Idee, d. h. eines konkreten Gedankeninhalts, der sprachlich als Thema oder These repräsentierbar und propositional erkennbar ist, rekonstruieren lässt. Wichtig für die Abgrenzung des Ideendramas von verwandten Gattungen scheint mir, dass sich die Vermittlung eines bestimmten Gedankeninhalts mindestens

 Rudolph, S. 28.  Vgl. die Begriffsexplikationen bei Unger: Ideendrama, S. 339 sowie bei von Wilpert, S. 364.  Zu solchen Abgrenzungsversuchen vgl. das Metzler Lexikon Literatur, S. 609 und 769 sowie den Artikel Thesenstück in von Wilpert, S. 830.  Vgl. Rüdiger Zymner: Gattungslandschaften. Probleme des generologischen Kulturvergleiches. In: Christiane Sollte-Gresser, Hans-Jürgen Lüsebrink und Manfred Schmeling (Hg.): Zwischen Transfer und Vergleich. Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturbeziehungen aus deutsch-französischer Perspektive. Stuttgart 2013 (collection „Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien“), S. 321– 330.

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als eine, typischerweise aber als die ultimate Funktion des betreffenden Dramas rekonstruieren lässt. Strategien, die die Disposition zur Vermittlung von Ideen aufweisen, sind demnach noch keine hinreichende, sondern bloß eine notwendige Bedingung für das Ideendrama. Für die Bestimmung eines Dramentextes als Ideendrama müssen sich Strategien ausfindig machen lassen, die die Disposition zum Transfer eines bestimmten Gedankeninhalts vom inneren in das äußere Kommunikationssystem aufweisen. Mit Ranke gesprochen ist mindestens eine argumentierende Rede im inneren Kommunikationssystem eines Ideendramas Bestandteil der argumentativen Darstellung des gesamten Textes. Bei einem Ideendrama handelt es sich also nicht (nur) um Philosophie in Literatur, sondern (auch) um Philosophie als Literatur.

4.3.3.2.2 Der Dialog zwischen Marquis Posa und König Philipp in der Szene III/10 Bei der Rede des Marquis Posa in der Szene III/10 des Don Karlos handelt es sich mindestens um eine Form von Philosophie in Literatur, insofern sie (1) durch ihre argumentationslogische Struktur eine Vertextungsstrategie²⁴² aufweist, die typischerweise philosophische Sachtexte strukturiert, und (2) (polit‐)philosophische Themen und Argumentationsmodelle enthält. Im Folgenden soll es aber nicht darum gehen, die evidenten Parallelen von Posas Ideologie zu den Staats- und Moralphilosophien Rousseaus, Montesquieus, Hobbes oder Fichtes²⁴³ nachzuzeichnen, sondern darum, die Funktion dieser Szene aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramas zu rekonstruieren. Aus der Rede des Marquis Posa lässt sich ein klassisches Argumentationsschema abstrahieren, in dem eine Behauptung aufgestellt und durch das Anführen von Argumenten begründet wird. Posa leitet seine Rede mit der assertiven Aussage „Ich kann nicht Fürstendiener sein.“ (NA 6, S. 180,V. 3548) ein und begründet diese Behauptung im Anschluss mit einem spezifischen Monarchiekonzept, das er in der Szene I/2 des Thalia-Fragments in Ansätzen bereits Don Karlos gegenüber vorgetragen hat (vgl. NA 6, S. 363, V. 382– 400). Diesem Konzept zufolge wird die Freiheit des Einzelnen zu autonomem Handeln durch die Instrumentalisierung für die Zwecke der Monarchie eingeschränkt: „Menschen / sind Ihnen brauchbar, weiter nichts; so wenig / als Ohr und Auge für sich selbst vorhanden. / Nur für die Krone zählen sie […].“ (NA 6, S. 183, V. 3629 – 3632) Analog zur Gegenüberstellung von natürlicher und künstlicher Tugend unterscheidet Posa zwischen einem künstlichen „Maschinenglück“ (NA 6, S. 181, V. 3561), das sich bei der Erfüllung der von der monarchischen Regierung delegierten Aufgaben einstelle, und dem natürlichen „Menschenglück“ (NA 6, S. 182, V. 3587), das aus der „reine[n] Liebe“ (NA 6, S. 182, V. 3588) des Einzelnen zu den Mitmenschen entstehe. Posa kritisiert an der politischen Praxis der Monarchie die politisch funk Unter Vertextungsstrategie verstehe ich hier eine Grundform der thematischen Entfaltung nach Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 7., durchgesehene Aufl. Berlin 2010, S. 56 – 77.  Zu den staatsphilosophischen Einflüssen auf Posas Ideologie vgl. Alt: Schiller I, S. 446 – 451.

4.3 Don Karlos

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tionale Konstruktion von Werten wie „Wahrheit“ oder „Glück“: „Ein neues [Glück] / erschuf der Krone Politik – ein Glück, / das sie noch reich genug ist auszutheilen, / und in dem Menschenherzen neue Triebe, / die sich von diesem Glücke stillen lassen.“ (NA 6, S. 182, V. 3590 – 3594) Die impliziten Schlussregeln in Posas Argumentation können wie folgt expliziert werden: Der Fürstendiener muss im Sinn der monarchischen Regierung handeln: Wenn Sie mich anzustellen würdigen, so wollen Sie nur die vorgewog’ne That. Sie wollen nur meinen Arm und meinen Muth im Felde, nur meinen Kopf im Rathe. Was ich leiste, gehört dem Thron. […] Nicht meine Thaten – ihr Empfang am Throne soll meiner Thaten Endzweck sein. (NA 6, S. 181, V. 3553 – 3564)

Posa will autonom handeln: „Mir aber, / mir hat die Tugend eignen Werth. Das Glück, / das der Monarch mit meinen Händen pflanzte, / erschüf’ ich selbst, und Freude wäre mir / und eigne Wahl, was mir nur Pflicht sein sollte.“ (NA 6, S. 181, V. 3564– 3568) Das teleologische Handeln des Fürstendieners und das autonome Handeln des Marquis Posa schließen sich aus: Und ist das Ihre Meinung? Können Sie in Ihrer Schöpfung fremde Schöpfer dulden? Ich aber soll zum Meißel mich erniedern, wo ich der Künstler könnte sein? – – Ich liebe die Menschheit, und in Monarchieen darf ich niemand lieben als mich selbst. (NA 6, S. 181, V. 3574– 3579)

Aus diesen Schlussregeln zieht Posa die Schlussfolgerung: „Ich kann nicht Fürstendiener sein.“ (NA 6, S. 182, V. 3610) Dem Einwand des Königs, die angeführten Argumente legitimierten keine Verletzung der bürgerlichen Pflichten gegenüber dem Staat, begegnet Posa mit dem Argument, dass der Staat eine pervertierte Form angenommen habe und das kollektive Bewusstsein eines gemeinsamen Vaterlandes in der Bevölkerung verloren gegangen sei: […] Der Staat, dem ich sie [die Pflichten] schuldig war, ist nicht mehr. Ehmals gab’s einen Herrn, weil ihn Gesetze brauchten; jetzt giebt’s Gesetze, weil der Herr sie braucht. Was ich dort meinesgleichen gab, bin ich jetzt nicht gehalten Königen zu geben – Dem Vaterlande? – Wo ist das? Ich weiß von keinem Vaterlande. Spanien geht keinen Spanier mehr an. Es ist

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die Riesenhülle eines einz’gen Geistes. (NA 6, S. 183, V. 3614– 3623)

Ein zentraler Gedankeninhalt von Posas Rede ist die Crux des Monarchen, die sich selbst zugewiesene Rolle als gottähnlicher Herrscher mit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse zu vereinen: […] Aber Schade! Da Sie den Menschen aus des Schöpfers Hand in Ihrer Hände Werk verwandelten, und dieser neugegoßnen Kreatur zum Gott Sich gaben – da versahen Sie’s in etwas nur: Sie blieben selbst noch Mensch – Mensch aus des Schöpfers Hand. Sie fuhren fort als Sterblicher zu leiden, zu begehren; doch geben kann die neue Pflanzung nichts. Sie brauchen Mitgefühl – und einem Gott kann man nur opfern – zittern – zu ihm beten; mit ihm zu fühlen wagt man nicht. […] (NA 6, S. 186 f., V. 3712– 3723)

Posas Bild des aktuellen monarchischen Staates erweist sich als Kontrafaktur des liebesphilosophischen Schöpfungsideals aus der „Theosophie“, das dort mit den folgenden Versen aus dem Gedicht „Die Freundschaft“ veranschaulicht wird: „Freundlos war der große Weltenmeister, / fühlte Mangel, darum schuf er Geister, / sel’ge Spiegel seiner Seligkeit. / Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches / aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches / schäumt ihm die Unendlichkeit.“ (NA 20, S. 125) Posa stellt hingegen fest, dass die Untertanen gerade nicht „die treuen Spiegel“ seien, „die rein, / wie sie empfangen haben, wiedergeben“ (NA 6, S. 187, V. 3734 f.). Zur rhetorischen Strategie Posas gehört auch die antithetische Gegenüberstellung von göttlichem Makrokosmos und politischem status quo: […] Sehen Sie Sich um in seiner [Gottes] herrlichen Natur. Auf Freiheit ist sie gegründet – und wie reich ist sie durch Freiheit! Er, der große Schöpfer, wirft in einen Tropfen Thau den Wurm, und läßt noch in den todten Räumen der Verwesung die Willkühr sich ergötzen – Ihre Schöpfung, wie eng und arm! Das Rauschen eines Blattes erschreckt den Herrn der Christenheit – – Sie müssen vor jeder Tugend zittern. […] (NA 6, S. 192, V. 3863 – 3872)

Zudem findet sich in beiden Texten, sowohl in der „Theosophie“ als auch in der Rede des Marquis Posa, der für die Liebesphilosophie konstituierende Konnex zwischen Denken und Lieben. Julius beendet seine Theosophie der Liebe mit der Direktive:

4.3 Don Karlos

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„Laßt uns helle denken, so werden wir feurig lieben“ (NA 20, S. 125). Derselbe propositionale Gehalt lässt sich aus einer rhetorischen Frage des Marquis Posa abstrahieren: „Darf meine Bruderliebe / sich zur Verkürzung meines Bruders borgen? / Weiß ich ihn glücklich – eh’ er denken darf?“ (NA 6, S. 182, V. 3601– 3603) Im zweiten Teil des Dialogs präsentiert Posa seine politphilosophische Ideologie, die sich aus der Idee des freien, d. h. autonom handelnden Bürgers und derjenigen eines kollektiven Humanitätsbewusstseins konstituiert: Wenn nun der Mensch, sich selbst zurückgegeben, zu seines Werths Gefühl erwacht – der Freiheit erhabne, stolze Tugenden gedeihen – wenn in dem Herzen wieder sich empört die Römerwallung, Nationenstolz, das Vaterland in jedem Bürger prangt, dem Vaterlande jeder Bürger stirbt – (NA 6, S. 193, V. 3906 – 3912)

Diese Idee eines philanthropischen common sense findet sich bereits in der Schaubühnen-Rede.²⁴⁴ Dort fungiert das Theater als von den gesellschaftlichen Determinationen entkoppelter sozialer Raum, in dem sich der einzelne Zuschauer durch das Kollektiverlebnis seines Menschseins bewusst wird, das er mit dem Rest des Theaterpublikums teilt: Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen, und seine Brust giebt jezt nur Einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu seyn. (NA 20, S. 100)

Posa verdichtet den ersten Teil der Rede, in dem er die Monarchie kritisiert, und den zweiten Teil, in dem er sein politphilosophisch-anthropologisches Ideal präsentiert, im Appell an den König, „Gedankenfreiheit“ (NA 6, S. 191,V. 3862) zu geben. An dieser Stelle wird die Grenze zwischen dem inneren und dem äußeren Kommunikationssystem durchlässig, insofern sich Posa als Repräsentant der gesamten Menschheit inszeniert, in deren Namen er zu sprechen vorgibt: O könnte die Beredsamkeit von allen den Tausenden, die dieser großen Stunde teilhaftig sind, auf meinen Lippen schweben, den Strahl, den ich in diesen Augen merke, zur Flamme zu erheben! […] (NA 6, S. 191, V. 3848 – 3852)

Die Figur des Marquis Posa fungiert hier gewissermaßen als Avatar, der die Illusion einer physischen Involviertheit in die fiktionale Dialogsituation evoziert, sodass der

 Vgl. hierzu das Kapitel 3.1.3 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Rezipient die Argumentation Posas nicht nur rational nachvollziehen, sondern mit dieser Figur argumentieren und appellieren kann. Die rhetorisch evozierte Illusion physischer Involvierung bewirkt im Sinne von Gottfried August Bürgers Begriff der pathetischen Täuschung auch eine emotionale Involvierung, wobei theoretisch zwischen ‚echten‘, d. h. durch reale Alltagssituationen ausgelösten, und ‚imaginierten‘, d. h. durch literarisch-fiktionale Attrappen ausgelösten, Emotionen zu unterscheiden ist.²⁴⁵ Durch diese emotionale Involvierung unterscheidet sich der literarisch-fiktionale Text von einem philosophischen Sachtext. Zum Verhältnis zwischen Philosophie und Literatur lässt sich abschließend Folgendes sagen. Bei der sprachlichen Repräsentation von Posas politphilosophischer Ideologie, deren zentrales Konstituens die Idee einer auf Gedankenfreiheit gründenden Republik ist, handelt es sich um eine Form von Philosophie in Literatur. Die Rede Posas weist (1) hinsichtlich der behandelten Themen (Freiheit, Moral, Humanität usw.), (2) hinsichtlich der Vertextungsstrategie (Argumentieren) und (3) hinsichtlich der verwendeten Argumentationsschemata (aus Anthropologie, Moralphilosophie, Staatsphilosophie und Liebesphilosophie) Korrespondenzen zur Textsorte des philosophischen Sachtextes auf. Innerhalb des inneren Kommunikationssystems werden Erkenntnisse ausgesagt und Behauptungen mit Wahrheitsanspruch und Verteidigungspflicht²⁴⁶ aufgestellt. Bei der Rede Posas hat man es – mit Wolfgang Ranke gesprochen – mit einem Fall von argumentierender Rede²⁴⁷ innerhalb des inneren Kommunikationssystems zu tun. Das Rezeptionsverhalten, das durch die Rede Posas initiiert wird, korrespondiert dem Rezeptionsverhalten, das bei der Lektüre eines philosophischen Sachtextes initiiert wird. Anhand des Textes können somit propositionale Erkenntnisse der Form ‚Ich erkenne, dass x‘ erworben werden (z. B. ‚Ich erkenne, dass Gedankenfreiheit die Voraussetzung für die Staatsform der Republik ist‘ oder ‚Ich erkenne, dass der Bürger in der Monarchie nur künstliches Glück erlangen kann‘), nämlich dann, wenn der Rezipient den Wahrheitswert der Figurenaussagen an der wirklichen Welt prüft und zum Schluss kommt, dass hier der Fall ist, was innerhalb der fiktiven Welt behauptet wird. Die literarisch-fiktionale Eigenheit der Szene III/10 besteht in der rhetorischen Involvierung des Rezipienten in die fiktionale Dialogsituation, also in der Überschreitung der Grenze zwischen dem inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystem, an dem die fiktiven Dramenfiguren beteiligt sind, und dem äußeren, fiktionsexternen Kommunikationssystem, an dem Autor und Rezipient beteiligt sind. In der Evokation der ästhetisch-literarischen Illusion, dass der Rezipient die Argumentation der Figur „Marquis Posa“ nicht nur rational nachvollzieht, sondern mit dieser Figur argumentiert und appelliert, zeigt sich eine spezifische

 Vgl. Bürger, S. 245. Zum ästhetischen Illusionsbegriff vgl. das Kapitel 3.2.2.10.2 dieser Untersuchung.  Zu den notwendigen Bedingungen eines assertiven Sprechakts vgl. Gabriel: Fiktion und Wahrheit, S. 95.  Vgl. Ranke, S. 81.

4.3 Don Karlos

193

Leistung eines literarisch-fiktionalen Textes, die diesen von nicht-fiktionalen Texten unterscheidet.

4.3.3.2.3 Don Karlos als Ideendrama? Um anhand der Szene III/10 Aussagen zum gesamten Dramentext machen zu können, muss – wie oben bereits ausgeführt – der funktionale Status dieser Szene aus der impliziten Wirkungspoetik des Textes rekonstruiert werden. Es muss also beispielswiese eruiert werden, ob es sich bei der argumentierenden Rede Posas um einen Bestandteil der argumentativen Darstellung des Dramentextes handelt oder ob die sprachliche Repräsentation der Ideologie nur zu Illustrationszwecken dient, ob sie also nur zur Extensivierung der Klarheit einer figuralen perceptio praegnans ²⁴⁸ beitragen soll. Zur Figur des Marquis Posa lässt sich diesbezüglich festhalten, dass sie für den im Abschnitt „Aufopferung“ der „Theosophie“ beschriebenen Genie-Typus eigenschaftstypische Denk- und Handlungsweisen aufweist, dass dieser Typus also durch diese Figur instanziiert wird. In dieser Instanziierung liegt u. a. ein kognitiver Wert des Dramentextes, der aus der extensiv klaren, anschauende Erkenntnis initiierenden Darstellung eines bestimmten Menschentypus besteht. Die kognitive Funktion der Vermittlung nicht-propositionaler, anschauender Erkenntnis durch die extensiv klare Darstellung allgemeinmenschlicher Eigenschaften oder eines Sets solcher Eigenschaften wurde vor allem im Kapitel 4.1.3.2 (Figuren als perceptiones praegnantes) genauer ausgeführt und soll hier nicht rekapituliert werden. Es soll an dieser Stelle genügen, festzuhalten, dass die Funktion der Vermittlung der nicht-propositionalen Kenntnis, wie ein Mensch mit Eigenschaften der condicio humana typischerweise denkt und handelt, auch die implizite Wirkungspoetik des Dramas Don Karlos in der Buchfassung von 1787 konstituiert. Als Beispiel für die extensiv klare Darstellung einer Eigenschaft der condicio humana ließen sich etwa auch die Frauenfiguren „Prinzessin von Eboli“ und „Königin Elisabeth“ anführen, die verschiedene, fiktionsintern durch die Ausführungen des Marquis Posa in der Szene III/2 explizierte Tugend-Konzepte – wenigstens über weite Strecken der Dramenhandlung – illustrieren. Die Frage, ob die argumentierende Rede Posas Bestandteil der argumentativen Darstellung des gesamten Dramentextes ist, d. h. ob es sich dabei nicht nur um Philosophie in Literatur, sondern auch um Philosophie als Literatur handelt, will ich anhand eines Vergleichs mit Lessings Drama Nathan der Weise beantworten. Ich setze dabei voraus, dass es sich bei Lessings Nathan insofern um ein typisches Beispiel für ein Ideendrama handelt, als sich aus der impliziten Wirkungspoetik dieses Textes die Vermittlung eines konkreten Gedankeninhalts (die Idee der Toleranz) als ultimat-kognitive Funktion rekonstruieren lässt. Dabei ergibt sich die Disposition zur Erfüllung dieser Funktion u. a. aus der Konformität der uneigentlich-parabolisch so-

 Vgl. die Kapitel 4.1.3.2 und 4.2.3.2 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

wie eigentlich-argumentativ vermittelten Toleranz-Idee mit den Verhaltensweisen (Handlungs- und Denkweisen) bestimmter Figuren, die diese Idee also instanziieren, d. h. im Sinn der Idee handeln und denken. Unter argumentativer Darstellung in Bezug auf einen literarisch-fiktionalen (Dramen‐)text ist also aus den bereits im Kapitel 4.2.3.4 erläuterten Gründen nicht das Anführen und Verteidigen von Argumenten durch den primären Sprecher zu verstehen (in diesem Sinn ist ein literarisch-fiktionaler Text nie argumentativ²⁴⁹), sondern der Begriff umfasst Strategien, die die Disposition zur Transformation von nicht-propositionaler Erkenntnis anhand des Dramentextes in propositionale Erkenntnis über die Wirklichkeit aufweisen. Zum Argumentieren des primären Sprechers mit (aber nicht in) einem literarisch-fiktionalen Dramentext zähle ich in Orientierung an Lessings Nathan auch die ‚Bestätigung‘ einer innerhalb des inneren Kommunikationssystems sprachlich explizierten oder thematisch implizierten Idee durch deren Instanziierung. Im Fall von Lessings Nathan besteht die argumentative Darstellung demnach u. a. in der Illustration der parabolisch sowie explikativ vermittelten Toleranz-Idee durch ideenkonformes Handeln und Denken der Figur „Nathan“, durch die diese Idee instanziiert wird. Bei der Instanziierung einer Idee durch ideenkonformes Handeln oder auch Denken von Dramenfiguren kann es sich ebenfalls um eine für literarisches Argumentieren²⁵⁰ spezifische Profilierungsstrategie handeln, wenn die Instanziierung nämlich als aufweisendes Argument für eine bestimmte These fungiert.²⁵¹ Dementsprechend kann die Inkommensurabilität zwischen der sprachlich explizierten oder thematisch implizierten Idee und dem Figurenhandeln – umgekehrt – als Signal für eine negative oder zumindest kritische Beurteilung der Idee durch den primären Sprecher aufgefasst werden. Für die Beantwortung der gattungspoetologischen Frage, ob es sich bei der Buchfassung des Don Karlos um ein Ideendrama handelt, kann also die Darstellung des Verhältnisses zwischen der Humanitätsidee Posas und dem Handeln dieser Figur aufschlussreich sein. Bereits in Bezug auf die Szenen, in denen philosophische Ideen repräsentiert werden, lassen sich diesbezüglich Unterschiede zwischen Lessings Nathan und Schillers Don Karlos ausmachen. Während Nathan und Sultan Saladin aus textlinguistisch-gesprächsanalytischer Perspektive ein kohärentes Gespräch führen, indem sie gleichermaßen auf einen zentralen Gegenstand, das Textthema, Bezug nehmen, weist im Dialog der Szene III/10 zwischen Posa und Philipp nur die erste Gesprächsphase eine solche Kohärenz auf, wo der Abtausch von Argumenten durch Stichomythien repräsentiert ist: MARQUIS Es sind

 Vgl. Ranke, S. 80 sowie 82 und die Ausführungen im Kapitel 4.2.3.4 dieser Untersuchung.  Zum Unterschied zwischen literarischem und wissenschaftlichem Argumentieren vgl. das Kapitel 4.2.3.4 dieser Untersuchung.  Vgl. hierzu die Ausführungen im Kapitel 4.2.3.3 dieser Untersuchung.

4.3 Don Karlos

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zween Tage, Sire, daß ich in’s Königreich zurückgekommen. KÖNIG Ich bin nicht gesonnen in meiner Unterthanen Schuld zu stehn. Erbitten Sie Sich eine Gnade. MARQUIS Ich genieße die Gesetze. KÖNIG Dieses Vorrecht hat auch der Mörder. MARQUIS Wie viel mehr also der gute Bürger! – Sire, ich bin vergnügt. (NA 6, S. 178, V. 3505 – 3512)

Der zweite Teil des Dialogs ist insofern asymmetrisch, als sich die Repliken Philipps weniger auf den Inhalt von Posas Rede als vielmehr auf die Eigenschaften des Redners beziehen und damit auch gegen die Grice’sche Konversationsmaxime der Relation („Sei relevant.“)²⁵² verstoßen. So kommentiert der König etwa Posas Ausführungen zum „Maschinenglück“ in der Monarchie mit den Worten: „Ihr Feuer / ist lobenswerth. Sie wollen Gutes stiften.“ (NA 6, S. 181, V. 3579 f.) Der König prüft vielmehr den Menschen Posa auf Authentizität als dessen politphilosophische Ideologie auf Kohärenz: ([…] Für sich) Neu zum wenigsten ist dieser Ton. Der Weihrauch der Schmeichelei und Unterwerfung muß doch endlich sich erschöpfen. Nachzuahmen erniedrigt einen Mann von Kopf – Auch einmal die Probe von dem Gegentheil. Warum nicht? (NA 6, S. 185, V. 3684– 3689)

Die Asymmetrie des Dialogs ergibt sich aus den unterschiedlichen Intentionen der Dialogpartner, die in den vorangehenden Monologen jeweils expliziert wurden. Während Marquis Posa den König von seinen philosophischen Ideen überzeugen und zu einem alternativen Regierungsstil überreden will, sucht dieser einen Vertrauten, mit dessen Hilfe er die noch ungeklärten spezifischen Sachverhalte aufklären kann, wie aus dem dieser Szene vorangestellten Monolog Philipps hervorgeht. Für den König

 Vgl. Grice, S. 249.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

hat die Philosophie Posas eine emotive Signifikanz, insofern er sich in der Konzeption des Monarchen als Menschengott selbst erkennt: MARQUIS […] Bereuenswerther Tausch! Unselige Verdrehung der Natur! – Da Sie den Menschen zu Ihrem Saitenspiel herunterstürzten, wer theilt mit Ihnen Harmonie? KÖNIG (Bei Gott, er greift in meine Seele!) […] (NA 6, S. 187, V. 3744– 3748)

Zu den Persuasionsstrategien Posas gehört nicht nur die argumentationslogische Struktur seiner Ausführungen, sondern auch die Evokation von Emotionen. Gemäß den Informationen im Nebentext macht Posa den Inhalt seiner Rede von den emotionalen Reaktionen des Königs abhängig: „Er bemerkt einige Bewegungen bei dem König und hält inne – Dieser verharrt in seinem Stillschweigen“ (NA 6, S. 183); „Der König steht auf, macht einige Schritte und setzt sich wieder – Der Marquis hat inne gehalten“ (NA 6, S. 187); „Der König ist bewegt, der Marquis bemerkt es und tritt einige Schritte näher“ (NA 6, S. 190). Der Schluss der Szene, an dem der König Posa zu seinem Vertrauten macht, weist die Disposition auf, die Aufmerksamkeit von den Inhalten der politphilosophischen Ideologie abzuziehen und auf die neue Figurenkonfiguration „König Philipp – Marquis Posa“ zu lenken. Im vierten Akt, der unmittelbar auf die Szene III/10 folgt, liegt der thematische Fokus entsprechend nicht mehr auf dem politphilosophischen Ideal, sondern auf den spezifischen Sachverhalten und deren Enthüllungen. Aus der impliziten Wirkungspoetik des vierten Aktes lassen sich also vor allem Strategien für die Evokation von Emotionen rekonstruieren. Während der Protagonist in Lessings Nathan die Toleranz-Idee durch sein Handeln und Denken instanziiert, handelt Marquis Posa seiner Idee von der Gedankenfreiheit zuwider, indem er über das Schicksal seiner Mitmenschen zu bestimmen versucht und bereit ist, für die Realisierung seines Staatsideals zu töten. Dieser despotische Charakterzug zeigt sich pointiert in der Szene IV/18, wo Posa im Begriff ist, die Prinzessin Eboli zu ermorden, um sein politisches Komplott mit Don Karlos und der Königin Elisabeth nicht zu gefährden: „[…] Spaniens Verhängniß / und eines Weibes Leben! – Diesen Mord / getrau’ ich mir, an deinem Weltgericht / noch auszufechten.“ (NA 6, S. 253,V. 4826 – 4829) Es besteht demnach eine Divergenz zwischen dem sprachlich argumentativ-explikativ repräsentierten republikanischen Humanitätsideal und der vergegenwärtigten Erfahrung, wie dieses Ideal unter den gesellschaftlichen Bedingungen verwirklicht werden kann.²⁵³ Die Inkohärenz zwischen den

 Auf diesen Sachverhalt weist etwa auch Alt: Schiller I, S. 454 hin.

4.3 Don Karlos

197

Idealen der politphilosophischen Ideologie und dem despotischen Handeln Posas zieht die Aufmerksamkeit von den Inhalten der Ideologie ab und lenkt sie auf die anthropologischen und soziopolitischen Bedingungen ihrer Realisierung; sie verhindert also die direkte Ableitung einer argumentativen Darstellung aus der argumentierenden Rede dieser Figur. Lässt sich aus der Buchfassung des Don Karlos von 1787 eine argumentative Darstellung abstrahieren, so besteht diese jedenfalls nicht aus der argumentierenden Rede des Marquis Posa. Dem gesamten Dramentext liegt aber eine antithetische Struktur zugrunde, die sich als Bestandteil einer argumentativen Darstellung anbietet. Es handelt sich dabei um die Gegenüberstellung von republikanisch-humanistischem Staatsideal, das von Marquis Posa repräsentiert wird, und monarchischem Staatsideal, das von der ganz am Schluss des Dramas auftretenden Figur des Großinquisitors repräsentiert wird. Die Auffassung des Großinquisitors von der Monarchie, die er in der Szene V/10 im Dialog mit dem König Philipp vertritt, erweist sich als Kontrafaktur von Posas republikanischem Staatsideal, wie er es in der Szene III/10 gegenüber dem König vertreten hat. Die Begründung des Königs für seine Konspiration mit Posa, er habe nach einem Menschen gesucht, pariert der Großinquisitor mit den folgenden Worten: […] Wozu Menschen? Menschen sind für Sie nur Zahlen, weiter nichts. Muß ich die Elemente der Monarchenkunst mit meinem grauen Schüler überhören? Der Erde Gott verlerne zu bedürfen, was ihm verweigert werden kann – Wenn Sie um Mitgefühle wimmern, haben Sie der Welt nicht Ihres Gleichen zugestanden? Und welche Rechte, möcht’ ich wissen, haben Sie aufzuweisen über Ihres Gleichen? (NA 6, S. 330 f., V. 6118 – 6127)

Für die Beantwortung der Frage, ob sich aus der impliziten Wirkungspoetik dieses Dramentextes die ultimat-kognitive Funktion der Ideenvermittlung rekonstruieren lässt, kann eruiert werden, ob sich Strategien des literarischen Argumentierens im oben erläuterten Sinn ausfindig machen lassen, ob also beispielsweise eine der beiden in der dispositio des Textes antithetisch gegenübergestellten Positionen profiliert wird. Mit dem Auftritt des Großinquisitors, der in den Rezensionen zur Buchfassung notorisch als undramatisches Element der Aufmerksamkeitsverwirrung kritisiert wurde, durchbricht Schiller die dramaturgische Routine der transparenten Informationsvergabe und damit auch den Schematismus der Rührstück-Dramaturgie, der mit der im Kap. 4.3.3.1 erläuterten Ausnahme bis zu Posas Sterbe-Szene eingehalten wird. Damit wird wie bereits im Drama Kabale und Liebe eine theoretisch schematisierte und soziokulturell etablierte Empfindsamkeits-Dramaturgie zuerst konstruiert und dann durch Strategien der Ent-Automatisierung vertrauter Rezeptionsroutinen wieder destruiert. Die auf den Prämissen von Baumgartens Rationaler Ästhetik gründende

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

dramaturgische Regel der transparenten Informationsvergabe nach Diderot und Lessing wird mit dem Dramenschluss der Buchfassung subvertiert. In Anbetracht der Tatsache, dass Schiller die transparente Informationsvergabe in der stark emotionaliserten Vorrede der Thalia-Fragmente noch als „erste[s] Requisit der Tragödie“ (NA 6, S. 345) reklamiert, korreliert dem Bruch mit den dramaturgischen Konventionen in diesem Fall auch ein Bruch im peritextuell aufgebauten Freundschaftsverhältnis zwischen Autor und Leser. Ein Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung fühlt sich von Schiller denn auch hinters Licht geführt, da „wir uns fälschlich für etwas als für die Haupthandlung interessirt haben, welches im Grunde nicht die Haupthandlung war“, und „wir nur ein Gaukelspiel sahen, dessen wahrer Grund bis itzt verborgen blieb, obwohl er offenbar schien.“ (NA 7/II, S. 533) Welche Funktion kann Schillers dramaturgischem Konstrukt der Informationsvergabe zugeschrieben werden? Durch den Auftritt des Großinquisitors wird die philosophisch-theologische Kategorie der Vorsehung aus einer alternativen Perspektive thematisiert, insofern es sich beim blinden und an einem Stock gehenden Greisen um eine Kontrafaktur der allsehenden und allwissenden Vorsehung handelt. Das Leben des Marquis Posa erweist sich in der Retrospektive des Großinquisitors als determiniert, da es bereits „angefangen und beschlossen in der Santa Causa heiligen Registern“ (NA 6, S. 327,V. 6044 f.) liege. Dem Auftritt des Großinquisitors kommt eine hermeneutische Funktion zu, insofern die Ausführungen dieser Figur eine Gesamtbeurteilung der vorangehenden Handlung initiieren.²⁵⁴ Die Irritation im kulturell konditionierten Rezeptionsverhalten, die durch den Bruch mit der etablierten Praxis der Informationsvergabe entsteht, weist die Disposition zur Suche nach einer Bedeutung auf einer der Darstellungsebene übergeordneten Sinnebene auf. Auf der Darstellungsebene, d. h. innerhalb des inneren Kommunikationssystems, erweist sich die Welt am Ende als prinzipiell unüberschaubar. Die Annahme einer moralisch vollkommenen und vernunftbegründeten Welt, wie sie durch die Vorsehung repräsentiert wird, wird durch die Präsentation einer letztlich kontingenzbestimmten Welt, in der die Pläne jedes Einzelnen ad absurdum geführt werden, zu bedenken gegeben. Dass ein blinder und gehbehinderter Greis als Personifikation einer anti-aufklärerischen Ideologie am Schluss als Einziger den Überblick behält, kann als Ironisierung eines aufklärerisch-metaphysischen Weltverständnisses aufgefasst werden. Die Strategien der Spannungserzeugung, die bereits die implizite Wirkungspoetik des Thalia-Fragments konstituieren und sich im Kontext der seriellen Veröffentlichung als dramaturgische Konsequenzen marktstrategischer Überlegungen erklären lassen, erweisen sich am Schluss der Buchfassung von 1787 als Dramatisierungsstrategien für die Erfüllung der kognitiven Funktion, einerseits die metaphysische Weltauffassung und andererseits das poetologische Konzept des theatrum mundi zu bedenken zu geben. Die im inneren Kommunikationssystem der Thalia-Fragmente

 Eine ähnliche Funktionszuschreibung findet sich auch bei Bloch, S. 30.

4.3 Don Karlos

199

vergegenwärtigten konkreten Erfahrungen mit dem auf einer teleologischen Weltauffassung basierenden Begriff der Vorsehung werden durch die dramaturgische Komposition der Buchfassung auch für den Rezipienten des äußeren Kommunikationssystems konkret erfahrbar gemacht. Die Enthüllungen des Großinquisitors konstituieren ein phänomenales Bewusstsein einerseits für die Unvorhersehbarkeit und andererseits für die Kontingenz des Unvorhersehbaren. Diese Konstituierung einer providentia- und contingentia-Erfahrung weist die Disposition zur Ent-Automatisierung eines am dramaturgischen Prinzip des theatrum mundi geschulten Rezeptionsverhaltens und damit auch zu einer Reflexion auf dieses Prinzip auf. Anders als bei der Schauspiel-Fassung des Dramas Die Räuber, an dessen Schluss die argumentierende Rede Karls mit der argumentativen Darstellung des Dramentextes zusammenfällt, finden sich im inneren Kommunikationssystem der Don Karlos-Buchfassung von 1787 keine metasprachlichen Aussagen zum Begriff der Vorsehung, der hier durch die Darstellung konkreter Erfahrungen anschaulich und durch das dramaturgische Verfahren einer elliptischen bzw. verzögerten Informationsvergabe für den realen Rezipienten erfahrbar gemacht wird. In Bezug auf diese kognitive Funktion der Reflexionsinitiation lässt sich nun nicht mehr sinnvoll von argumentativer Darstellung sprechen, da in diesem Fall ja nicht für eine bestimmte Position, Meinung etc. im oben erläuterten Sinn argumentiert, sondern ein bestimmtes Konzept (hier dasjenige der teleologisch organisierten Welt bzw. des theatrum mundi) zu bedenken gegeben, problematisiert, angezweifelt oder in seinem Absolutheitsanspruch in Frage gestellt wird. Da es sich bei der Initiation einer (kritischen) Reflexion auf ein bestimmtes Konzept aber gleichwohl um ein „zweckgerichtetes“²⁵⁵ literarisches Reden und damit um eine Form von Rhetorik handelt, fasse ich die Vergegenwärtigung einer anti-teleologischen und kontingenzbestimmten Welt als Bestandteil einer dem gesamten Dramentext zugrunde liegenden rhetorischen Struktur auf. Den Begriff der rhetorischen Struktur verwende ich als Hyperonym zu demjenigen der argumentativen Darstellung. Ich gehe also davon aus, dass die rhetorische Struktur eines Dramentextes argumentativ sein kann, aber nicht muss. Argumentativ ist eine rhetorische Struktur eines Dramentextes dann, wenn sich aus seiner impliziten Wirkungspoetik Strategien für die Profilierung oder Disqualifizierung einer bestimmten Position, Meinung, Haltung usw. rekonstruieren lassen. Für die Buchfassung des Don Karlos von 1787 kann diesbezüglich festgehalten werden, dass sich – anders als bei der Schauspiel-Fassung der Räuber – keine solche argumentative Darstellung aus dem Text abstrahieren lässt, sondern dass die innerhalb des inneren Kommunikationssystems vertretenen Meinungen und Positionen zu bedenken gegeben bzw. einer kritischen Reflexion ausgesetzt werden. Zu den Strategien für die Initiation einer solchen kritischen Reflexion gehört etwa die Darstellung einer Inkommensurabilität zwischen fiktionsintern geäußerten Ideen und den Handlungen der Figuren. Diese Darstellung weist die Disposition auf, die Aufmerksamkeit vom

 Erich Meuthen und Jan-Dirk Müller: Rede1. In: RLW 3, S. 229 – 233; hier S. 229.

200

4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Inhalt der Ideen abzuziehen und auf die anthropologischen und soziopolitischen Bedingungen ihrer konkreten Realisierung zu lenken. Eine Inkongruenz zwischen Begriffsreflexion und figuraler Instanziierung lässt sich etwa für das von Posa gegenüber dem König vorgetragene Humanitätsideal feststellen, dem just diese Figur zuwiderhandelt. Dies gilt im Übrigen auch für das von Posa begrifflich reflektierte Tugendideal, das von der Königin Elisabeth am Ende nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Sowohl das politisch-republikanische Ideal der Gedankenfreiheit als auch das ethisch-anthropologische Ideal der angeborenen Tugend werden weder profiliert noch disqualifiziert und sind damit auch nicht Bestandteil einer argumentativen Darstellung, sondern diese Ideale werden zu bedenken gegeben. Derselbe kognitive Wert kann der Darstellung des providentia-Begriffs zugeschrieben werden, der durch die Erfahrungen der Figuren im inneren Kommunikationssystem depotenziert und damit im äußeren Kommunikationssystem ebenfalls zu bedenken gegeben wird. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Buchfassung des Don Karlos von 1787 eine Form von Philosophie in Literatur aufweist, insofern im inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystem philosophiert wird, d. h. Thesen zu philosophischen Themen aufgestellt und verteidigt werden. Aus dieser Form von Philosophie in Literatur lässt sich die kognitive Funktion der Initiation propositionaler Erkenntnis rekonstruieren. Bei dieser kognitiven Funktion handelt es sich aber nicht um eine ultimate Funktion des Dramentextes. Als (eine) ultimate Funktion lässt sich hingegen die Initiation einer kritischen Reflexion auf bzw. eine Sensibilisierung für das philosophisch-metaphysische Konzept der Vorsehung sowie auf das poetologische Konzept des theatrum mundi rekonstruieren. Das Konzept der Vorsehung wird durch die dramaturgische Konstruktion eines Informationsdefizits im äußeren Kommunikationssystem für eine konkrete Erfahrung zugänglich gemacht und die Reflexion auf bzw. die Sensibilisierung für dieses Konzept damit an Emotionen gekoppelt. Die Frage, ob es sich beim Don Karlos in der Buchfassung von 1787 um ein Ideendrama im oben erläuterten Sinn handelt, kann insofern verneint werden, als eine ultimate Funktion nicht aus der Vermittlung eines bestimmten Gedankeninhalts, sondern aus der Initiation eines Gedankenanstoßes besteht, die auf Dramatisierungsstrategien der Irritationsauslösung gründet. Bei diesen Dramatisierungsstrategien handelt es sich nicht mehr um ein literarisches Argumentieren als ein Bewertungseindeutigkeit konstituierendes Profilieren bestimmter fiktionsintern geäußerter Meinungen, Positionen oder Einstellungen, sondern u. a. um die kontrastive Anordnung (dispositio) von Positionen, die Bestandteil einer rhetorischen Struktur des Dramentextes ist. Im folgenden Kapitel wird mit den Briefen über Don Karlos zusätzlich zum ThaliaFragment und zur Buchfassung von 1787 noch ein dritter Don Karlos-Text²⁵⁶ unter der Perspektive einer prononciert epistemologischen Wirkungsästhetik kommentiert. Der Einbezug dieses Textes in die vorliegende Untersuchung ist in zweifacher Hinsicht

 Vgl. Kap. 4.3.1, Anm. 202.

4.3 Don Karlos

201

sachlich motiviert. Erstens handelt es sich bei den Briefen um einen weiteren poetologischen Text, durch dessen Analyse sich das Modell von Schillers früher expliziter Wirkungspoetik komplettieren lässt. Zweitens weisen die Briefe über Don Karlos nicht nur formal, sondern auch inhaltlich und poetologisch frappante Parallelen zu den Philosophischen Briefen auf, die sich dadurch definitiv als der zentrale Referenztext von Schillers Frühwerk erweisen.

4.3.4 Briefe über Don Karlos Schiller hat die Briefe über Don Karlos als Replik auf die Rezensionen der Buchfassung von 1787 verfasst und bezieht sich dabei ganz konkret auf die Besprechung eines jungen, nicht definitiv identifizierbaren Rezensenten vom 11. Juni 1788 in der Allgemeinen Literatur-Zeitung sowie diejenige von Christian Viktor Kindervater in der Kritischen Uebersicht der neuesten schönen Litteratur der Deutschen aus demselben Jahr. Es geht im Folgenden darum, aus den Briefen, die zwischen der Rekonstruktion des emotional involvierten Autors und der Konstruktion des distanzierten Beobachters changieren, das poetologische Verständnis Schillers zu abstrahieren. Ich verstehe die Briefe also nicht als eine auf die implizite Wirkungspoetik des Don Karlos applizierbare explizite Wirkungspoetik, d. h. nicht als Interpretationshilfe, geschweige denn als einen Interpretationsschlüssel, sondern als Dokumentation von Schillers poetologischem Verständnis seines Dramas. Im Gegensatz etwa zur Selbstrezension der Räuber im Wirtembergischen Repertorium wurde die Selbsterläuterung des Don Karlos unter einer anderen poetologischen Perspektive verfasst als der Dramentext, auf den sie sich bezieht, sodass eine Interpretation des Dramas Don Karlos anhand der Briefe zwangsläufig zu Verzerrungen führen würde. Die Briefe über Don Karlos weisen in vielerlei Hinsicht Korrespondenzen zu den Philosophischen Briefen auf. Eine formal-gattungspoetologische Korrespondenz besteht in der Wahl der Textsorte „Brief“, mit der die Emotionalisierung der expliziten Wirkungspoetik, die bereits den Bauerbacher Brief sowie die Vorrede des ThaliaFragments bestimmt, fortgesetzt wird. Schiller knüpft an die Bestimmung des Freundschaftsverhältnisses zwischen dem Verfasser und seinen kritischen Lesern an und spricht die Rezensenten, die er persönlich kaum kennt, entsprechend mit „lieber Freund“ (NA 22, S. 137) an. Die Emotionalisierung des äußeren Kommunikationssystems, bestehend aus Autor, Text und Leser, geschieht auch hier über eine Verstrickung des dramatischen Werks mit der Biographie des Autors: Während der Zeit nämlich, daß ich es [das Stück Don Karlos] ausarbeitete, welches mancher Unterbrechungen wegen eine ziemlich lange Zeit war, hat sich – in mir selbst vieles verändert. An den verschiedenen Schicksalen, die während dieser Zeit über meine Art, zu denken und zu empfinden, ergangen sind, mußte notwendig auch dieses Werk teilnehmen. (NA 22, S. 138)

202

4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Der erste Brief besteht aus poetologischen Ausführungen, die Hinweise für die Bestimmung und Gewichtung der Briefe in Bezug auf das Gesamtverständnis des Don Karlos enthalten. Schillers eigenen Aussagen zufolge hat sich das Verhältnis zwischen Autor und Text, das bereits in der Vorrede zu den Thalia-Fragmenten Thema war, grundlegend verändert. Während Schiller in der Vorrede zu den Thalia-Fragmenten die affektive Involviertheit in den eigenen Text zum Anlass nimmt, den Rezipienten als kritischen Beobachter in den Entstehungsprozess zu integrieren, hält er im ersten Brief der Selbstrezension fest, das Stück sei ihm „fremder“ geworden, sodass er sich jetzt „gleichsam in der Mitte zwischen dem Künstler und seinem Betrachter“ (NA 22, S. 138) befinde. Wie bereits in der Vorrede der Philosophischen Briefe gibt er auch hier den „Gesichtspunkt“ (NA 22, S. 138) an, aus dem die folgenden Briefe zu betrachten sind. Schiller zufolge handelt es sich bei den Karlos-Briefen nicht um eine Explikation der Autorintention, sondern um eine Rekonstruktion der impliziten Wirkungspoetik anhand einer Beurteilung der Wirkungsdisposition: Es käme also […] vorzüglich darauf an, zu untersuchen, ob in dem Stücke alles enthalten ist, was zum Verständnis desselben dienet, und ob es in so klaren Ausdrücken angegeben ist, daß es dem Leser leicht war, es zu erkennen. (NA 22, S. 138)

Der interpretative Teil der Karlos-Briefe, der mit dem zweiten Brief einsetzt, besteht vor allem aus der psychologischen Plausibilisierung einzelner Handlungen und der dramaturgischen Sinnhomogenisierung. Neben den gattungspoetologischen lassen sich auch semantische Korrespondenzen zwischen den Briefen über Don Karlos und den Philosophischen Briefen aufzeigen. So erklärt Schiller die Freundschaft zwischen Don Karlos und Marquis Posa aus der Perspektive der philosophischen Liebesphilosophie, deren zentrale Theoreme also auch in den Karlos-Briefen repräsentiert sind. Zu diesen Theoremen gehört etwa die Idee der narzisstischen Projektion des ego auf das alter, auf deren Grundlage Schiller das Verhalten des von den Rezensenten für „zu idealisch“ befundenen Marquis Posa psychologisch zu plausibilisieren versucht: „Posa sah in diesem [Karlos’] schönen Spiegel sich selbst und freute sich seines Bildes.“ (NA 22, S. 144) Überhaupt erweist sich die Figur des Marquis Posa in Schillers Beschreibung als die Instanziierung des Genie-Typus, wie er im Abschnitt „Aufopferung“ der „Theosophie“ konzipiert wird, nämlich als der Mensch „mit dem hellen umfassenden Sonnenblike“ (Philosophische Briefe, NA 20, S. 123): Das Menschengeschlecht, das er jezt sich denket, ist Er selbst. Es ist ein Körper, in welchem sein Leben, vergessen und entbehrlich, wie ein Blutstropfe schwimmt – wie schnell wird er ihn für seine Gesundheit versprüzen! (NA 20, S. 123)

Den Marquis Posa beschreibt Schiller in den Briefen in diesem Sinn als Menschen, in dem sich „allmählich eine zusammengesetzte und erhabene Vorstellung des Menschen im großen und ganzen“ entwickle, „gegen welche jedes einengende kleinere Verhältnis verschwindet“ (NA 22, S. 145). Die inhaltlichen Parallelen zwischen den

4.3 Don Karlos

203

Karlos-Briefen und dem Abschnitt „Aufopferung“ aus der in die Philosophischen Briefe integrierten „Theosophie“ lassen darauf schließen, dass die Ausarbeitungsphasen der beiden Texte zeitlich zusammenfallen. Neben den gattungspoetologischen und semantischen lassen sich schließlich auch noch wirkungsästhetische Korrespondenzen zwischen den beiden Texten, den Briefen über Don Karlos und den Philosophischen Briefen, nachweisen. Schiller plausibilisiert nicht nur die Psychologie der Figuren, sondern weist diesen auch die Funktion der dramatischen Vergegenwärtigung bestimmter Zustände der condicio humana zu. Im Kontext dieser Funktionszuweisung erweist sich auch die Figurenkonstellation als auf einen bestimmten Zweck hin angelegtes dramaturgisches Konstrukt, das seinerseits Korrespondenzen zum wirkungspoetischen Schema der Philosophischen Briefe, wie es in deren Vorwort expliziert wird, aufweist. Den hermeneutischen Ausführungen in den Karlos-Briefen zufolge handelt es sich beim Drama Don Karlos ebenfalls um die literarisch-fiktionale Illustration eines epistemischen Entwicklungsprozesses von einem radikalen Idealismus über eine Skeptizismus-Krise bis hin zu einem liberalen Idealismus. Dieser Illustrations- oder Veranschaulichungsfunktion legt Schiller diejenige anthropologische Disposition zugrunde, die bereits die Poetik der Philosophischen Briefe bestimmte, dass der Mensch nämlich nur „durch Extreme zur Wahrheit“ gelange und „den Irrthum […] zuvor erschöpfen“ (NA 20, S. 107) müsse, wie es im Briefroman-Fragment heißt. Für die Figurenkonzeption leitet er aus diesen poetologischen und anthropologischen Prämissen ab, dass die Figur des Don Karlos zwar ein „weiches, wohlwollendes Herz, Enthusiasmus für das Große und Schöne, Delikatesse, Mut, Standhaftigkeit“ sowie „uneigennützige Großmut“ aufweisen müsse, aber eben noch nicht als „weise“ (NA 22, S. 165, Hervorhebung im Original) dargestellt sein dürfe. Denn es komme auf die Darstellung der Entwicklung vom affektiv bestimmten zum vernunftbestimmten Zustand gerade an, d. h. darauf, „den künftigen Schöpfer des Menschenglücks aus dem Stücke gleichsam hervorgehen zu lassen“ (NA 22, S. 166). Aus der Perspektive Schillers befindet sich Don Karlos über weite Strecken der Dramenhandlung auf derselben ontologischen Stufe wie Julius in den Philosophischen Briefen, nämlich „in den entscheidenden Jahren, wo des Geistes Blume sich entfaltet, Ideale empfangen werden und die moralische Empfindung sich läutert“ (NA 22, S. 163), wie es in den KarlosBriefen heißt. Sowohl im faktualen Peritext des fragmentarischen Briefromans Philosophische Briefe als auch im faktualen Epitext des Dramas Don Karlos weist Schiller der fiktionalen Literatur die Funktion als Experimentiermedium zu. Dieses vergegenwärtige einerseits den „Konflikt“ von Ideologien „mit der Leidenschaft“, (Karlos-Briefe, NA 22, S. 164, Hervorhebung im Original) und andererseits die Auflösung dieses Konflikts in eine „allgemeine, geläuterte und festgegründete Wahrheit“ (Philosophische Briefe, NA 20, S. 108) bzw. eine „liberale […] Philosophie“ (Karlos-Briefe, NA 22, S. 163) durch

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

eigenschaftstypisches Handeln und Denken.²⁵⁷ Schiller weist die Buchfassung des Don Karlos zum einen als dramatisches Medium für die literarisch-fiktionale Veranschaulichung politphilosophischer „Ideen“ aus, die im Dramentext „angewandt und bestätigt“ (NA 22, S. 168) würden. Zum anderen lässt sich aus seinen poetologischen Ausführungen die Auffassung fiktionaler Literatur als Medium für die individuelle Vergegenwärtigung allgemeinmenschlicher Erfahrungen abstrahieren, die aus der Perspektive einer Philosophie des Geistes die Disposition zur Vermittlung nicht-propositionaler, phänomenaler Wie-Kenntnis aufweist. Aus einer solchen Perspektive legitimiert Schiller das despotische Verhalten des Marquis Posa als ein „Beispiel“, das die „allgemeine […] Erfahrung“ instanziiere, „daß man sich in moralischen Dingen nicht ohne Gefahr von dem natürlichen praktischen Gefühl entfernt, um sich zu allgemeinen Abstraktionen zu erheben“ (NA 22, S. 172). Außerdem zeige sich, „daß sich der Mensch weit sicherer den Eingebungen seines Herzens oder dem schon gegenwärtigen und individuellen Gefühle von Recht und Unrecht [d. h. dem moral sense] vertraut als der gefährlichen Leitung universeller Vernunftideen, die er sich künstlich erschaffen hat“ (NA 22, S. 172). Schiller koppelt an die Darstellung der Posa-Handlung eine ethische Funktion, insofern er aus ihr die kontextuell implizierte Aussage ableitet: „nichts führt zum Guten, was nicht natürlich ist“ (NA 22, S. 172). In der poetologischen Argumentation Schillers hat die Karlos-Handlung eine Vorbild-Funktion, insofern sie veranschaulichen soll, wie der Konflikt zwischen den beiden Extremen „Schwärmerei“ und „Vernünftelei“ in einen mittleren Zustand der ‚liberalen Philosophie‘ aufgelöst werden kann. Schiller geht es weniger um die propositionale Vermittlung einer konkreten philosophischen Idee als um die nicht-propositionale Vergegenwärtigung eines aus moralphilosophischer Sicht idealen Erkenntnisprozesses. Die „Hauptidee“ (NA 22, S. 167) des Dramas besteht den Ausführungen in den KarlosBriefen zufolge nicht im politphilosophischen Ideal einer auf individueller Gedankenfreiheit gründenden Republik, sondern im epistemischen Prozess, der in der Erkenntnis dieses Ideals mündet. Wie bereits in der Vorrede zur ersten Auflage der Räuber verweist Schiller auch hier auf eine Inkommensurabilität zwischen dem für das Verständnis des Dramas erforderlichen Reflexionsniveau und den etablierten Rezeptionsgewohnheiten: „Es ist möglich, daß, um die Hauptidee des Stückes herauszufinden, mehr ruhiges Nachdenken erfordert wird, als sich mit der Eilfertigkeit verträgt, womit man gewohnt ist dergleichen Schriften zu durchlaufen.“ (NA 22, S. 167) Bei den Briefen über Don Karlos handelt es sich also um den Versuch Schillers, das Drama durch eine sinnhomogenisierende und monosemierende Reduktion auf eine „Hauptidee“ als einheitlichen Text auszuweisen. Diese Monosemierung ist insofern unterkomplex, als auf die Kritik der Rezensenten, der Auftritt des Großinqui Zu einer Interpretation von Schillers Philosophischen Briefen als medienreflexives Simulationsmedium von einem „dynamischen Erkenntnisprozess“ vgl. Arndt Niebisch: Schillers Philosophische Briefe. Die Medienerziehung einer neuen Generation. In: Selma Jahnke und Sylvie Le Moël (Hg.): Briefe um 1800. Zur Medialität von Generation. Berlin 2015 (Berliner Intellektuelle um 1800. Bd. 4), S. 85 – 102; hier S. 93.

4.3 Don Karlos

205

sitors und dessen Erläuterung der Pläne mit dem Marquis Posa generiere eine Irritation in der Aufmerksamkeitslenkung, mit keinem Wort eingegangen wird. So bleibt etwa die Funktion der retardierenden Informationsvergabe, die ich im Kapitel 4.3.3.2.3 aus der impliziten Wirkungspoetik der Buchausgabe von 1787 rekonstruiert habe, in den Briefen ungeklärt. Stattdessen weist das wirkungspoetologische Argumentationsmuster in den Karlos-Briefen signifikante Parallelen zu demjenigen im faktualen Vorwort der Philosophischen Briefe auf. In beiden Texten profiliert Schiller die spezifische Leistung eines literarisch-fiktionalen Textes, eine bestimmte Erfahrung im besonderen Einzelfall zu vergegenwärtigen. Aus der epistemologischen Perspektive der Rationalen Ästhetik weist diese Vergegenwärtigung die Disposition zur Vermittlung einer phänomenalen Kenntnis auf, in diesem konkreten Fall der Kenntnis eines epistemischen Prozesses von naivem Idealismus über eine Skeptizismus-Krise zu einem gemäßigten Rationalismus. Aus den impliziten Wirkungspoetiken der Dramen Die Räuber, Kabale und Liebe und Don Karlos (Thalia-Fragmente sowie Buchausgabe von 1787) lassen sich neben der emotiven Funktion, Affekte zu evozieren, also die folgenden kognitiven Funktionen rekonstruieren: (1) die Vermittlung der nicht-propositionalen, phänomenalen Wie-Kenntnis allgemeinmenschlicher Eigenschaften und Erfahrungen der condicio humana (2) die Initiation der propositionalen Erkenntnis (moral‐)philosophischer Ideen und Sachverhalte (3) die Initiation einer Reflexion auf bestimmte philosophische und poetologische Konzepte Zu den Dramatisierungsstrategien, die die Disposition zur Erfüllung dieser Funktionen aufweisen, gehören (1) die Vergegenwärtigung von Eigenschaften der condicio humana sowie von allgemeinmenschlichen Erfahrungen und Erlebnissen (2) das Profilieren von fiktionsintern geäußerten Meinungen, Positionen und Einstellungen (literarisches Argumentieren) (3) die rhetorische Strukturierung des Dramentextes durch die Darstellung einer Inkongruenz von begrifflicher Reflexion und figuraler Instanziierung bzw. von unterschiedlichen philosophischen oder poetologischen Konzepten Die Anwendungsmöglichkeiten des terminologischen Settings, das durch die Rekonstruktion der Wirkungspoetiken dieser Dramen erarbeitet und geschärft wurde, soll in einer den textanalytischen Anwendungsteil abschließenden Analyse des ‚republikanischen Trauerspiels‘ Die Verschwörung des Fiesko zu Genua exemplarisch illustriert werden. Die Ergebnisse zur Rekonstruktion der impliziten Wirkungspoetiken in den Kapiteln 4.1 bis und mit 4.3 sind in der folgenden Übersicht noch einmal zusammenfassend dargestellt (Abb. 8):

206

4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Abb. 8: Übersicht zur Rekonstruktion der impliziten dramatischen Wirkungspoetik

4.4 Die Verschwörung des Fiesko zu Genua 4.4.1 Textgenese Die Entstehung von Schillers zweitem Drama geht auf das Jahr 1782 zurück. Aus Briefen im Kontext der Entstehung geht hervor, dass Schiller auch bei der Ausarbeitung des Fiesko – wie schon bei derjenigen der Räuber – die Theater-Konventionen als Einschränkungen empfindet, denen er sich nur widerwillig beugen mag. An den Intendanten des Mannheimer Theaters, Heribert von Dalberg, dem er ein Manuskript des Stücks zur Beurteilung gesandt hat, schreibt er am 16. November 1782: Sobald ich aber freie Macht bekäme, das Stük noch außerdem nach meinem Sinn herauszugeben, wo ich den Theaterzwek ganz ausser Augen sezen dörfte, sobald ich dazu befugt würde, solte das Stük durch Herausnahme einer einzigen Episode in ein simpleres Theaterstük schmelzen. (NA 4, S. 255)

Die Ausarbeitung des Fiesko überschneidet sich teilweise mit der Bearbeitung von Kabale und Liebe. Der Erstdruck des Dramas erscheint Ende April 1783 in Mannheim mit dem Motto „Nam id facinus inprimis ego memorabile existimo, sceleris atque periculi novitate“ (‚Denn diese Untat halte ich für besonders denkwürdig wegen der Neuheit des Verbrechens und der Gefahr‘) des römischen Geschichtsschreibers Sallust²⁵⁸ und einer Widmung an Schillers Karlsschul-Lehrer Jakob Friedrich Abel. Das Stück wird im Juli desselben Jahres in Bonn von der Schauspieltruppe des Regisseurs

 Vgl. die Übersetzung und Erläuterung in NA 4, S. 417.

4.4 Die Verschwörung des Fiesko zu Genua

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Gustav Friedrich Wilhelm Großmann aufgeführt. Auf Drängen des Intendanten Dalberg schreibt Schiller die Druckfassung 1783 in eine Bühnenfassung um, die am 11. Januar 1784 in Mannheim uraufgeführt wird. 1785 erscheint eine von Christian Friedrich Schwan und Gottlieb Christian Götz herausgegebene, von Schiller nicht autorisierte Neuauflage des Dramas. Auf diese folgt eine möglicherwiese auf Neubearbeitungen Schillers zurückgehende, am 13. März 1786 und am 15. sowie 17. September desselben Jahres in Leipzig aufgeführte Bühnenfassung, deren Autorisierung aber ebenfalls problematisch ist.²⁵⁹ Die Strukturierung der folgenden Analyse basiert auf dem konzeptionellen Unterschied zwischen der als Lesedrama konzipierten Erstausgabe von 1783 und der im Hinblick auf eine Theateraufführung konzipierten Mannheimer Bühnenbearbeitung, an denen sich die in den vorangehenden Kapiteln des textanalytischen Teils erarbeiteten Begriffe zur literarisch-dramatischen Ideenvermittlung noch einmal veranschaulichen lassen.

4.4.2 Die Erstausgabe von 1783 Der Titel der Erstausgabe Die Verschwörung des Fiesko zu Genua wird durch den spezifizierenden Untertitel „Ein republikanisches Trauerspiel“ ergänzt, der als rezeptionslenkende Strategie aufgefasst werden kann, mindestens aber die Frage aufwirft, inwiefern das Drama ein „republikanisches“ ist.

4.4.2.1 Vorwort Schiller begründet in einem Vorwort des Dramas die Abweichung der Handlung von den historischen Fakten mit der Aufgabe des Dramendichters, die überkomplexe, kontingenzbestimmte und dadurch undurchsichtige Wirklichkeit als teleologisch geordnete und dadurch überschaubare Welt darzustellen: Die wahre [d. h. historisch verbürgte] Katastrophe des Komplotts, worinn der Graf [Fiesko] durch einen unglüklichen Zufall am Ziel seiner Wünsche zu Grunde geht, muste durchaus verändert werden, denn die Natur des Dramas duldet den Finger des Ohngefährs oder der unmittelbaren Vorsehung nicht. […] der Künstler wählt für das kurze Gesicht [im Sinne von ‚Kurzsichtigkeit‘] der Menschheit, die er belehren will, nicht für die scharfsichtige Allmacht, von der er lernt. (NA 4, S. 9)

Im zweiten Teil des Vorworts begründet Schiller die kontrafaktische Darstellung mit der conditio sine qua non, dass „nur Empfindung Empfindung“ evozieren könne und der Aufmerksamkeitsfokus deshalb vom politischen Handeln abgezogen und auf die anthropologischen Bedingungen gelenkt werden müsse: Es stand daher nicht bei mir, meiner Fabel jene lebendige Glut einzuhauchen, welche durch das lautere Produkt der Begeisterung herrscht, aber die kalte, unfruchtbare Staatsaktion aus dem

 Vgl. den Kommentar in NA 4, S. 305 f.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

menschlichen Herzen herauszuspinnen, und eben dadurch an das menschliche Herz wieder anzuknüpfen – den Mann durch den Staatsklugen Kopf zu verwikeln – und von der erfindrischen Intrigue Situationen für die Menschheit zu entlehnen – das stand bei mir. (NA 4, S. 9 f.)

Die Unterscheidung zwischen polithistorischer Faktenwahrheit und anthropologischer Wahrscheinlichkeit impliziert bereits die von Schiller später in der Abhandlung Über die tragische Kunst systematisch ausgeführte Unterscheidung zwischen historischer und poetischer Wahrheit²⁶⁰: „Mein Verhältniß mit der bürgerlichen Welt machte mich auch mit dem Herzen bekannter als dem Kabinet, und vielleicht ist eben diese politische Schwäche zu einer poetischen Tugend geworden.“ (NA 4, S. 10)

4.4.2.2 Haupttext Die Verschiebung des Fokus von den politischen Handlungen der historischen Person zu den anthropologischen Bedingungen der Dramenfigur manifestiert sich im Personenverzeichnis, in dem die aufgeführten Figuren durch charakterliche Eigenschaften spezifiziert werden. Fiesko wird dabei als „[j]unger schlanker blühendschöner Mann von 23 Jahren – stolz mit Anstand – freundlich mit Majestät – höfischgeschmeidig, und eben so tükisch“ (NA 4, S. 11) beschrieben. Politisches Handeln wird von Beginn weg an anthropologische Bedingungen geknüpft: „[…] dieser Dein Fiesko […] wird – uns Genua von seinen Tyrannen erlösen!“ (NA 4, S. 15) Die Figuren handeln und denken im Sinn der ihnen im Personenverzeichnis zugewiesenen Eigenschaften. So konstituiert sich beispielsweise die Konzeption der Figur des Gianettino Doria durch eine spezifische Weise des Denkens, die etwa in der folgenden Sentenz zum Ausdruck kommt: „Gewalt ist die beste Beredsamkeit.“ (NA 4, S. 21) Die in der Vorrede explizierte Strategie, politisches Handeln auf seine anthropologischen Bedingungen zurückzuführen und dadurch beim Rezipienten entsprechende Emotionen gegenüber den Dramenfiguren zu evozieren, lässt sich also auch aus der impliziten Wirkungspoetik des Textes rekonstruieren. Zum selben wirkungsdispositionellen Setting gehört auch die Veranschaulichung politischer Begriffe wie Republik, Monarchie oder Despotismus einerseits durch metaphorische Umschreibungen und andererseits durch figurale Illustrierung. Die Begriffe Republik, Monarchie oder Despotie, die bestimmte Regierungsformen bezeichnen, werden vergegenwärtigt, insofern ihnen bestimmte Denk- und Handlungsweisen korrelieren, Figuren also im Sinn eines bestimmten Republik-, Monarchie- bzw. Despotie-Begriffs handeln. Eine Dramatisierungsstrategie besteht also in der anthropologischen Typologisierung klassifikatorischer Politbegriffe, die als Bezeichnung bestimmter Eigenschaften bzw. eines bestimmten Sets an Eigenschaften der condicio humana fungieren. Der Typologisierung klassifikatorischer Begriffe korrespondiert eine Emotionalisierung politischer Abstrakta. Diese Emotionalisierung geschieht durch ethisches  Vgl. Friedrich Schiller: Über die tragische Kunst. In: NA 20/I, S. 148 – 170; hier S. 166 f.

4.4 Die Verschwörung des Fiesko zu Genua

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Konnotieren der anthropologischen Typologien. So zeichnet sich beispielsweise despotisches Handeln, wie es durch die Figur des Gianettino Doria instanziiert wird, durch die Anwendung von Gewalt zur Unterdrückung der Mitmenschen aus, die in der Vergewaltigung Berthas versinnbildlicht wird: VERRINA. Mein Kind ist nicht schuldig. BOURGOGNINO. Also Gewalt! (faßt das Schwerd von dem Boden). Genueser! Bei allen Sünden unter dem Mond! Wo – Wo find ich den Räuber? VERRINA. Eben dort, wo du den Dieb Genuas findest – (NA 4, S. 34)

Während die Figur des Gianettino Doria den Begriff des Despotismus instanziiert, instanziiert die Figur des Verrina einen Begriff des Republikanismus. Verrina handelt etwa im Sinn eines spezifischen Republikanismusbegriffs, wenn er das Schicksal seiner Tochter Bertha an das Schicksal der Republik Genau koppelt.²⁶¹ Das Adjektiv „republikanisch“ im Untertitel bezieht sich demnach sowohl auf die Staatsform „Republik“ als auch auf eine spezifische Handlungsweise, die sich insbesondere durch Verzicht auf weltliche Güter und Machtansprüche auszeichnet. Die titelgebende Figur des Fiesko hat hinsichtlich dieser Illustrationsstrategie, mit der abstrakte Begriffe durch eigenschaftstypisches Handeln veranschaulicht werden, insofern einen Sonderstatus, als ihr keine der Eigenschaften (republikanisch, monarchisch oder despotisch) fix zugewiesen wird.Vielmehr wird anhand dieser Figur veranschaulicht, wie moralisches Handeln und politische Machtansprüche konfligieren können. Fiesko, der im Personenverzeichnis als „höfischgeschmeidig, und eben so tükisch“ (NA 4, S. 11) beschrieben wird, erweist sich dieser Eigenschaftszuweisung entsprechend als politisch taktierende Figur, die bestimmte Persuasionsstrategien publikumsgezielt und -wirksam einzusetzen weiß. In der Szene II/8 überzeugt Fiesko die aufgebrachten, nach einer neuen Staatsform verlangenden Handwerker mit Hilfe einer Tierfabel davon, dass diese Staatsform monarchisch sein müsse. Bei Fieskos fabelhafter Erzählung handelt es sich – abgesehen von der politischen (statt moralischen) Ausrichtung – um eine mustergültige Umsetzung von Lessings Fabel-Theorie, der zufolge eine Fabel aus der fiktionalen, d. h. Wirklichkeit fingierenden Erzählung eines Einzelfalls besteht, der als etwas Besonderes auf eine allgemeine Aussage verweist und durch diese Umkehrung der Bedeutungsrichtung nicht-propositionale, anschauende Erkenntnis vermittelt.²⁶² Bei Lessing heißt es: Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besondern Falle die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt: so heißt diese Erdichtung eine Fabel.²⁶³

 Zu dem durch die Figur des Verrina repräsentierten Republikverständnis vgl. Alt: Schiller I, S. 346 f.  Vgl. das Kapitel 3.2.2.2.4 dieser Untersuchung.  Lessing: Abhandlungen, S. 384 f.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

In Fieskos Fabel besteht der Lehrsatz in der politischen Botschaft, dass die Monarchie vor der Despotie, der Demokratie und der Republik die beste Regierungsform sei. Dabei wird die strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Despotie und der Monarchie in der Tierfabel von der Suggestion einer organologischen Metaphorik überblendet: „Laßt uns einen Monarchen wählen, riefen sie [die Tiere] einstimmig, der Klauen und Hirn und nur einen Magen hat – und einem Oberhaupt huldigten alle“ (NA 4, S. 50). In Kombination mit der Veranschaulichung der These, dass die Monarchie die beste Regierungsform sei, platziert Fiesko am Schluss seiner Erzählung außerdem den Appell, ihn als Monarchen zu wählen, indem er die fiktive Situation der Tiere auf die wirkliche Situation Genuas appliziert: „[…] und einem Oberhaupt huldigten alle – einem Genueser – aber (indem er mit Hoheit unter sie tritt) es war der Löwe.“ (NA 4, S. 50) Die für eine Fabel typische Ersetzung der Menschen durch Tiere weist Lessing zufolge die Disposition auf, die Evokation von Affekten, die der Vermittlung einer allgemeinen Aussage hinderlich wäre, auszuhebeln: „Wie kann er [der Fabeldichter] aber anders, z. B. die Erregung des Mitleids vermeiden, als wenn er die Gegenstände desselben unvollkommener macht, und anstatt der Menschen Tiere oder noch geringere Geschöpfe annimmt?“²⁶⁴ Welche Funktion in der impliziten Wirkungspoetik kommt der Fabel zu, die in der gattungspoetologischen Tradition – so etwa in Lessings Drama Nathan der Weise – typischerweise als propositionale Erkenntnis initiierende Form von Literatur als Philosophie eingesetzt wurde? Die rezeptionsästhetische Funktion der Fabel, den Handlungswillen der Rezipienten zu beeinflussen, wird in Schillers Fiesko fiktionsintern simuliert. Nach Fieskos Erzählung sind die das Volk repräsentierenden Handwerker entschlossen: „Und Genua solls nachmachen, und Genua hat seinen Mann schon.“ (NA 4, S. 50) Innerhalb des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems, an dem die Dramenfiguren beteiligt sind, hat die Fabel die kognitive Funktion, eine politische Botschaft zu vermitteln und die Rezipienten von dieser Botschaft zu überzeugen sowie entsprechende Folgehandlungen zu initiieren. Die Gattung „Fabel“, wie sie Lessing in seiner Fabel-Theorie bestimmt hat und wie sie Schiller in die Handlung des Fiesko als retardierendes Moment integriert, weist die Disposition zur Vermittlung wahrer Aussagen auf und ist damit eine potentielle Kandidatin für die Erfüllung kognitiver Funktionen im äußeren Kommunikationssystem. Das Potential für die Erfüllung kognitiver Funktionen besteht außer in der gattungspoetologisch bestimmten Wirkungsdisposition der Fabel auch in der literaturhistorisch etablierten Funktionszuschreibungs-Praxis, als deren Referenzgröße im achtzehnten Jahrhundert die Ringparabel (nach Lessings Begriffsverständnis eigentlich: -fabel) in Lessings Nathan gilt. Fiesko instrumentalisiert jedoch die Form parabolischen Erzählens als Persuasionsstrategie, mit der er das genuesische Volk dazu überreden will, ihn zum Monarchen zu wählen, wie im anschließenden Monolog ersichtlich wird: „Es geht er-

 Lessing: Abhandlungen, S. 393 f.

4.4 Die Verschwörung des Fiesko zu Genua

211

wünscht. Volk und Senat wider Doria. Volk und Senat für Fiesko – Haßan! Haßan! Ich mus diesen Wind benuzen – Haßan! Haßan! – Ich mus diesen Haß verstärken! dieses Interesse anfrischen!“ (NA 4, S. 50) Durch diese Rede Fieskos im Anschluss an die Fabelerzählung wird die Aufmerksamkeit vom Inhalt der parabolisch vermittelten Aussage abgezogen und auf die spezifische Funktion parabolischen Erzählens als politisches Manipulationsinstrument gelenkt. Der Einsatz des parabolischen Erzählens als politisch-rhetorische Persuasionsstrategie erweist sich als eigenschaftstypisches Merkmal, das die perceptio praegnans der im Personenverzeichnis als „höfischgeschmeidig, und eben so tükisch“ beschriebenen Figur des Fiesko extensiviert. Dass der Darstellung der Tierfabel in Bezug auf das äußere Kommunikationssystem (Autor – Text – Leser) eine illustrative Funktion zukommt, lässt sich durch eine Analyse der (Sprach‐)Handlungen Fieskos plausibilisieren. So fingiert Fiesko einen Mordanschlag, um den vermeintlichen Täter in aller Öffentlichkeit begnadigen und sich selber damit zum moralischen Helden stilisieren zu können, wie er in der entsprechenden Planszene dem Mohren Hassan Muley erklärt: „Du kommst ganz weg. Ich gebe dir meine gräfliche Ehre. Ich werde mir deine Bestrafung zur Genugthuung ausbitten, und dich dann vor den Augen der ganzen Republik pardonnieren!“ (NA 4, S. 51) Im inneren Kommunikationssystem, d. h. innerhalb der fiktiven Welt der Dramenhandlung, kommt der parabolischen Erzählung selbst also die politstrategische Funktion zu, Repräsentanten des Volks von der Legitimation der monarchischen Staatsform sowie der Machtübertragung an den Fabelerzähler Fiesko zu überzeugen. Im äußeren Kommunikationssystem kommt der Darstellung des parabolischen Erzählens als rhetorische Persuasionsstrategie die proximate Funktion zu, die Figurenkonzeption (perceptio praegnans) „Fiesko“ zu illustrieren, und die ultimate Funktion, nicht-propositionale Kenntnis eines bestimmten Eigenschaftssets der condicio humana zu vermitteln. An dieser Stelle ist anzumerken, dass sich die kognitive Funktion, nicht-propositionale Kenntnis allgemeinmenschlicher Eigenschaften zu vermitteln, und die kognitive Funktion, propositionale Erkenntnis von allgemeinen Aussagen zu initiieren, nicht prinzipiell ausschließen. Es ist also denkbar, dass bestimmte Eigenschaften der condicio humana, die durch entsprechende Handlungs- oder auch Denkweisen einer Dramenfigur illustriert, d. h. extensiv klar dargestellt werden, durch eine argumentative Darstellung des Textes beispielsweise als vorbildliches moralisches Handeln nicht nur zu verstehen gegeben, sondern durch entsprechende Profilierungsstrategien auch nahegelegt werden.Wie unten noch gezeigt werden wird, hat man es z. B. bei der Mannheimer Bühnenfassung des Fiesko mit der Einlösung eines Wahrheitsanspruchs durch Illustration zu tun. Ebenso wie der Darstellung der Figur „Karl von Moor“ aus den Räubern lässt sich auch der Darstellung der Figur „Fiesko“ neben der Funktion der Vermittlung nichtpropositionaler Kenntnis von allgemeinmenschlichen Eigenschaften noch eine weitere, verwandte kognitive Funktion zuweisen. In der Fortsetzung der Handlung zeigt sich nämlich, dass die Darstellung dieser Figur über den Komplexitätsgrad der illustrativen Instanziierung condicio humana-inhärenter Eigenschaften hinausgeht. In

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

den beiden kurz aufeinanderfolgenden Monologen Fieskos im zweiten Akt werden zwei verschiedene Regierungsformen bzw. zwei verschiedene anthropologische Dispositionen repräsentiert. Im ersten Monolog der Szene II/9 denkt Fiesko im Sinn eines Republikanismus-Begriffs nach Montesquieu, in dem moralisches und politisches Handeln amalgamieren: Republikaner Fiesko? Herzog Fiesko? – Gemach – Hier ist der gähe Hinuntersturz, wo die Mark der Tugend sich schließt, sich scheiden Himmel und Hölle – Eben hier haben Helden gestrauchelt, und Helden sind gesunken, und die Welt belagert ihren Namen mit Flüchen – Eben hier haben Helden gezweifelt, und Helden sind stillgestanden, und Halbgötter geworden – (rascher). Daß sie Mein sind die Herzen von Genua? Daß von meinen Händen dahin, dorthin sich gängeln läßt das furchtbare Genua? – o über die schlaue Sünde, die einen Engel vor jeden Teufel stellt – Unglükselige Schwungsucht! Uralte Bulerei! Engel küßten an deinem Halse den Himmel hinweg, und der Tod sprang aus deinem kreisenden Bauche – (sich schaudernd schüttelnd). Engel fingst du mit Sirenentrillern von Unendlichkeit – Menschen angelst du mit Gold, Weibern und Kronen! (nach einer nachdenkenden Pause, vest). Ein Diadem erkämpfen ist gros. Es wegwerfen ist göttlich. (entschlossen). Geh unter Tyrann! Sei frei Genua, und ich (sanftgeschmolzen) dein glüklichster Bürger! (NA 4, S. 64)

Durch den Entschluss zum Verzicht auf die durch das Diadem symbolisierte politische Macht handelt die Figur des Fiesko im Sinn des Heroisch-Erhabenen, wie es etwa Mendelssohn bestimmt hat²⁶⁵, und weist dadurch aus affekttheoretischer Perspektive die Disposition zur Evokation von Bewunderung auf. Die Idee des zugunsten individueller Freiheit auf direkte Machtausübung verzichtenden Regenten ist der Inbegriff eines humanitären Republikanismus, wie er auch von der Figur des Marquis Posa im Don Karlos vertreten wird. Im kurz darauf folgenden Monolog der Szene III/2 revidiert Fiesko, inspiriert von der Aussicht auf „das Meer und Genua“ in der „Morgendämmerung“ (NA 4, S. 66), seinen Entschluss, auf die Machtansprüche des Fürsten zu verzichten, und argumentiert hier nach dem Muster eines monarchischen Absolutismus: Daß ich der gröste Mann bin im ganzen Genua? und die kleineren Seelen sollten sich nicht unter die Große versammeln? – aber ich verleze die Tugend? (steht still). Tugend? – der erhabene Kopf hat andre Versuchungen als der gemeine – Solt er Tugend mit ihm zu theilen haben? – Der Harnisch, der des Pygmäen schmächtigen Körper zwingt, solte der einem Riesenleib anpassen müssen? (Die Sonne geht auf über Genua). Diese majestätische Stadt. (mit offnen Armen dagegen eilend). Mein! – und drüber emporzuflammen gleich dem königlichen Tag – drüber zu brüten mit Monarchenkraft – all die kochenden Begierden – all die nimmersatten Wünsche in diesem grundlosen Ozean unterzutauchen? – – Gewis! Wenn auch des Betrügers Wiz den Betrug nicht adelt, so adelt doch der Preiß den Betrüger. Es ist schimpflich eine Börse zu leeren – es ist frech, eine Million zu veruntreuen, aber es ist namenlos gros eine Krone zu stehlen. Die Schande nimmt ab mit der wachsenden Sünde.

 Zu Schillers Orientierung an Mendelssohns Konzept des Heroisch-Erhabenen vgl. das Kapitel 3.1.2 dieser Untersuchung.

4.4 Die Verschwörung des Fiesko zu Genua

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(Pause. Dann mit Ausdruk). Gehorchen! – Herrschen! – ungeheure schwindlichte Kluft – Legt alles hinein, was der Mensch kostbares hat – eure gewonnene [sic] Schlachten, Eroberer – Künstler, eure unsterblichen Werke – eure Wollüste, Epikure – eure Meere und Inseln, ihr Weltumschiffer. Gehorchen und Herrschen! – Seyn und Nichtseyn! Wer über den schwindlichten Graben vom lezten Seraph zum Unendlichen sezt, wird auch diesen Sprung ausmessen. (mit erhabenem Spiel). Zu stehen in jener schröklich erhabenen Höhe – niederzuschmollen in der Menschlichkeit reissenden Strudel, wo das Rad der blinden Betrügerin Schiksale schelmisch wälzt – den ersten Mund am Becher der Freude – tief unten den geharnischten Riesen Gesez am Gängelbande zu lenken – schlagen zu sehen unvergoltene Wunden, wenn sein kurzarmiger Grimm an das Geländer der Majestät ohnmächtig poltert – die unbändigen Leidenschaften des Volks, gleich soviel strampfenden [sic] Roßen, mit dem weichen Spiele des Zügels zu zwingen – den emporstrebenden Stolz der Vasallen mit einem – einem Athemzug in den Staub zu legen, wenn der schöpfrische Fürstenstab auch die Träume des fürstlichen Fiebers ins Leben schwingt. – Ha! welche Vorstellung, die den staunenden Geist über seine Linien wirbelt! – Ein Augenblik: Fürst: hat das Mark des ganzen Daseins verschlungen. Nicht der Tummelplaz des Lebens – sein Gehalt bestimmt seinen Werth. Zerstüke den Donner in seine einfache Sylben, und du wirst Kinder damit in den Schlummer singen; schmelze sie zusammen in einen plözlichen Schall, und der Monarchische Laut wird den ewigen Himmel bewegen – Ich bin entschlossen! (heroisch auf und nieder). (NA 4, S. 67 f.)

Fieskos Monologe bringen zum Ausdruck, dass politisches Handeln eine ethische Dimension hat und dass Politik und Moral konfligieren können. Im ersten Monolog entscheidet Fiesko diesen Konflikt durch den tugendhaften Verzicht auf fürstlichen Machtanspruch zugunsten bürgerlichen Glücks, also im Sinn eines bestimmten Republikbegriffs, wie er auch durch die Figur des Marquis Posa im Don Karlos vertreten wird. Im zweiten Monolog löst Fiesko den Konflikt zwischen politischer Machtausübung und moralischem Handeln zugunsten Ersterer auf, indem er einen ethischen Begriff von Größe bzw. Erhabenheit durch einen politischen ersetzt. Der Begriff des Erhabenen, wie er im zweiten Monolog verwendet wird, hat ausschließlich machtpolitische Implikationen. Erhaben bedeutet hier so viel wie ‚über den Menschen stehend‘, ‚den juridischen Gesetzen enthoben sein‘. Die monologischen Reflexionen Fieskos, in denen bestimmte Meinungen vertreten und argumentativ begründet werden, weisen die Disposition zur Vermittlung von politphilosophischen und ethischen Erkenntnissen auf.²⁶⁶ Die Sprechsituation des Monologs, der auf der Schnittfläche von innerem und äußerem Kommunikationssystem liegt, provoziert eine (auf dem moral sense basierende) Beurteilung der in den beiden Ideologien jeweils vertretenen Meinungen.²⁶⁷ Bei den in den Monologen sprachlich repräsentierten Ideologien handelt es sich demnach um weitere potentielle Kandidatinnen für die Erfüllung der kognitiven Funktion, Erkenntnis zu vermitteln oder zu initiieren.

 Zu diesem Befund vgl. auch Albert Meier: Des Zuschauers Seele am Zügel. Die ästhetische Vermittlung des Republikanismus in Schillers Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 31 (1987), S. 117– 136; hier S. 131 f.  Vgl. Meier, S. 132.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Um zu eruieren, ob es sich bei einer der beiden in den Monologen sprachlich repräsentierten Positionen und Argumentationen um eine moralische Botschaft des primären Sprechers handelt, muss rekonstruiert werden, ob eine der beiden argumentierenden Monologreden Teil einer argumentativen Darstellung des gesamten Dramentextes ist. Anhand dieser Frage lässt sich eine heuristisch wertvolle Unterscheidung zwischen der als Lesedrama konzipierten Erstausgabe und der für die Theaterinszenierung konzipierten Bühnenbearbeitung aufzeigen.

4.4.3 Vergleich zwischen der Erstausgabe und der Mannheimer Bühnenbearbeitung Die Erstausgabe des Fiesko vermittelt keine politische Aussage, sondern vergegenwärtigt politisches Handeln.²⁶⁸ Zur rhetorischen Struktur des Erstausgaben-Textes gehört die Divergenz zwischen der parabolisch-illustrativ vermittelten Aussage, die Monarchie sei die beste Regierungsform und sowohl der Despotie als auch der Demokratie vorzuziehen, und dem konkreten politischen Handeln Fieskos, das despotische Züge aufweist und mit der parabolisch vermittelten nicht-propositionalen Erkenntnis somit inkompatibel ist. Fiesko, der sich selbst die Rolle des Löwen zuschreibt, weist gerade nicht die in der Fabeltradition diesem Tier typischerweise zukommenden Eigenschaften, sondern vielmehr diejenigen des schlauen und hinterlistigen Fuchses auf.²⁶⁹ Die parabolisch vermittelte Idee der Monarchie als beste aller Staatsformen wird fiktionsintern also nicht instanziiert, wie etwa die Toleranz-Idee in Lessings Ideendrama Nathan der Weise durch entsprechende Figurenhandlungen instanziiert wird, sondern der Dramentext weist diesbezüglich eine Inkohärenz auf, die ihrerseits als Bestandteil einer rhetorischen Struktur des gesamten Textes aufgefasst werden kann. Diese rhetorische Struktur konstituiert sich außerdem durch die antithetische Gegenüberstellung eines Republikbegriffs im Sinne Montesquieus, bei dem Politik und Moral koinzidieren, wie er von Fiesko im ersten Monolog expliziert und wie er von der Figur des Verrina instanziiert wird (d. h. Verrina denkt und handelt im Sinn dieses Republikbegriffs), und dem despotischen Monarchie-Konzept im Sinn Machiavellis, in dem sich Politik und Moral ausschließen, wie es durch die Figur des Fiesko im zweiten Monolog expliziert und durch entsprechende (Sprach‐)Handlungen instanziiert wird. Ähnlich konstituiert sich die rhetorische Struktur des Don Karlos in der Buchfassung von 1787 u. a. durch die antithetische Gegenüberstellung von einem auf der Gedankenfreiheit des republikanischen Bürgers und der Korrelation von Bürgerwohl und Fürstengröße basierenden Republikbegriff, wie er durch die Figur des Marquis Posa expliziert wird, und dem Monarchie-Konzept, dem zufolge der Bürger  Vgl. Meier, S. 129 sowie 131 f.  Zur kulturell etablierten Typenzuschreibung in der Gattungstradition der Fabel vgl. Lessing: Abhandlungen, S. 392: „Der Fabulist weiß nur von einem Fuchse, und sobald er mir das Wort nennt, fallen auch meine Gedanken sogleich nur auf einen Charakter.“

4.4 Die Verschwörung des Fiesko zu Genua

215

für die Festigung der Macht des Alleinherrschers instrumentalisiert wird, wie es durch die Figur des Großinquisitors instanziiert wird. In der Szene IV/14 (Erstausgabe) bzw. IV/11 (Bühnenbearbeitung) des Fiesko wird für die von Fiesko bereits durchgedachte Option, durch den Verzicht auf politische Macht moralische Größe zu erlangen, in einer argumentierenden Rede Leonores ein zusätzliches Argumentationsmodell präsentiert. Dieses Argumentationsmodell besteht zum einen aus liebesphilosophischen Idealen, die sich cum grano salis mit den Theoremen aus Schillers Jugendphilosophie decken, und zum anderen aus einer bestimmten anthropologischen Auffassung des monarchischen Herrschers, die dem Monarchie-Konzept Marquis Posas aus dem Don Karlos entspricht. Die argumentierende Rede Leonores, mit der sie Fiesko vom geplanten politischen Schlag gegen die Dorias noch abhalten will, konstituiert sich u. a. durch die antithetische Gegenüberstellung von Herrschsucht und Liebe als zwei „Götter“ (NA 4, S. 100), die einander ausschlössen: Liebe hat Thränen, und kann Thränen verstehen; Herrschsucht hat eherne Augen, worinn ewig nie die Empfindung perlt – Liebe hat nur ein Gut, thut Verzicht auf die ganze übrige Schöpfung, Herrschsucht hungert beim Raube der ganzen Natur – Herrschsucht zertrümmert die Welt in ein rasselndes Kettenhaus, Liebe träumt sich in jede Wüste Elisium. (NA 4, S. 100)

Die Idee eines Lebens in Liebe, das „melodisch wie die flötende Quelle zum Schöpfer“ (NA 4, S. 102) rinnt, korrespondiert dem zentralen Theorem der theosophischen Liebesphilosophie, wonach die Liebe auf der great chain of being zur Erkenntnis Gottes führt. Als weiteres Argument für den Verzicht auf die politische Macht führt Leonore die Auffassung des Fürsten als Geschöpf „zwischen Menschheit und Gottheit“ (NA 4, S. 101) an, die Schiller in ähnlicher Form auch im Don Karlos durch die Figur des Marquis Posa darlegen lässt. Die zentrale These, dass die Liebe der Preis für die Opferung der politischen Macht zugunsten moralischer Größe ist, äußert Leonore in einem Appell: „Komm zurüke! Ermanne dich! Entsage! Die Liebe soll dich entschädigen.“ (NA 4, S. 101) In der Schlussszene sowohl der Erstausgabe als auch der Bühnenbearbeitung wird Fiesko durch Verrina moralisch verurteilt, wobei das Urteil ein bestimmtes Konzept moralischen Handelns impliziert, das Verrina mit dem Begriff der „römischen Tugend“ (NA 4, S. 118) spezifiziert. Verrina kontrastiert dieses republikanische Tugendideal in der Szene V/16 mit der Hybris Fieskos, der mit den Verschwörern sowohl im übertragenen als auch im eigentlichen Sinn sein Spiel getrieben habe: Du [Fiesko] hast eine Schande begangen an der Majestät des wahrhaftigen Gottes, daß du dir die Tugend die Hände zu deinem Bubenstük führen, und Genuas Patrioten mit Genua Unzucht treiben ließest – […] Das fürstliche Schelmenstük drükt wohl die Goldwaage menschlicher Sünden entzwei, aber du hast den Himmel genekt, und den Prozeß wird das Weltgericht führen. (NA 4, S. 119)

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Die Begriffe „Bubenstük“ und „Schelmenstük“ sind Bestandteile einer Spiel-Metaphorik, mit der Verrina das aus seiner Perspektive moralisch verwerfliche Handeln Fieskos beschreibt: O Natürlich! Ein vorzüglicher Kopf mus es immer seyn, von dem die Wahrheit ohne Ohrfeige wegkommt – Aber schade! der verschlagene Spieler hats nur in einer Karte versehn. Er kalkulirte das ganze Spiel des Neides, aber der raffinirte Wizling lies zum Unglük die Patrioten aus. (NA 4, S. 118)

Die argumentierenden Reden Leonores und Verrinas sind weitere potentielle Kandidatinnen für die Erfüllung einer kognitiven Funktion, sodass eruiert werden muss, inwiefern diese Reden die rhetorische Struktur des gesamten Textes bestimmen bzw. ob es sich dabei allenfalls um Bestandteile einer argumentativen Darstellung des Textes handelt. Eine argumentative Darstellung läge z. B. dann vor, wenn sich aus der impliziten Wirkungspoetik des Dramentextes die Profilierung einer oder mehrerer der im inneren Kommunikationssystem vertretenen Meinungen rekonstruieren ließe. Aufschluss über diese Frage kann der Schluss des Dramas geben, dem alleine durch seine Position in der dispositio des Textes eine rhetorische Relevanz zukommt, wie auch Schiller in den Briefen über Don Karlos anmerkt: „aber der Zweck, worauf der Künstler gearbeitet hat, muß sich ja am Ende des Kunstwerks erfüllt zeigen. Womit die Tragödie beschlossen wird, damit muß sie sich beschäftigt haben“ (NA 22, S. 167). In der Gestaltung des Dramenschlusses liegt auch der grundlegende Unterschied zwischen der Erstausgabe und der Mannheimer Bühnenbearbeitung des Fiesko. Die Erstausgabe endet mit dem Ertrinken des Titelhelden, der von Verrina symbolträchtig mitsamt Purpurmantel ins genuesische Meer gestürzt wird, sowie dem Überlaufen Verrinas zu Andreas Doria. Der Dramentext schließt mit der Nebentext-Information: „Alle bleiben in starren Gruppen stehn. Der Vorhang fällt.“ (NA 4, S. 121) Die Reden am Dramenschluss lenken die Aufmerksamkeit auf den Republikanismus in seinen beiden Facetten als politische Regierungsform und als eine Form moralischen Handelns, die in der Ertränkungs-Szene V/16 ineinander verstrickt sind: „FIESKO (ruft aus den Wellen). Hilf Genua! Hilf! Hilf deinem Herzog! (sinkt unter).“ (NA 4, S. 121) Genau genommen ist es also nicht Verrina, der Fiesko ertränkt, sondern dieser wird von den genuesischen Wellen verschluckt und vom genuesischen Volk, das er um Hilfe anfleht, im Stich gelassen. Die Darstellung von Fieskos Tod kann als Strategie für die Vermittlung einer moralischen Lehre aufgefasst werden, nämlich der Lehre, dass despotisches Handeln, wie es die Figur des Fiesko durch ihr politisches Spiel praktiziert, sowie das Streben nach Macht ins Verderben führen. In der Darstellung des Dramenschlusses lässt sich das Strukturprinzip der poetischen Gerechtigkeit erkennen, dem gemäß moralisch gutes Handeln belohnt und moralisch verwerfliches Handeln (in diesem Fall durch den Tod) bestraft wird. Es besteht eine Komplementarität zwischen der potentiellen Initiation einer auf dem moral sense gründenden, negativen moralischen Beurteilung von Fieskos Meinungen und Argumentationen durch den Rezipienten und der Sank-

4.4 Die Verschwörung des Fiesko zu Genua

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tionierung des auf diesen Meinungen und Argumentationen gründenden Verhaltens durch den primären Sprecher. Dieser vermittelt mit der Darstellung der Ertränkungsszene am Schluss des Dramas eine moralische Beurteilung als eine primäre Botschaft des Dramentextes. Wie im Kapitel 4.4.2.1 bereits erläutert, erklärt Schiller in der Vorrede zur Erstausgabe den Untergang (hier im doppelten Sinn) Fieskos mit dem Spezifikum des Mediums Drama, die überkomplexe Wirklichkeit in einem überschaubaren Mikrokosmos zu repräsentieren, in dem nicht nur das umsichtige Genie, sondern auch der kurzsichtige Mensch eine Kausalität der Geschehnisse erkennen könne. Dieser metaphysischen Weltauffassung in der expliziten Poetik korrespondiert das poetologische Konzept des theatrum mundi, das sich aus der impliziten Wirkungspoetik der Erstausgabe als rhetorisches Strukturprinzip (poetische Gerechtigkeit) rekonstruieren lässt. Bei der Strukturierung der Handlung durch das Prinzip der poetischen Gerechtigkeit handelt es sich um das Profilieren als eine Form literarischen Argumentierens, insofern dieses Strukturprinzip ein ethisches Argumentationsmodell impliziert. Dieses Profilieren geschieht hier ex negativo, insofern ein explizit durch die Darstellung poetischer Gerechtigkeit sanktioniertes Verhalten implizit als lasterhaft disqualifiziert und auf diese Weise „teleologische Eindeutigkeit“²⁷⁰ in Bezug auf die moralische Bewergtung von Fieskos Handeln hergestellt wird.²⁷¹ Aus der impliziten Wirkungspoetik der Bühnenfassung lassen sich u. a. Strategien für die Evokation von Affekten rekonstruieren. Während die Darstellung von Fieskos Festhalten am politischen Machtanspruch in der Erstausgabe eine auf dem moral sense basierende negative moralische Beurteilung dieser Figur initiiert, weist die Entscheidung des Titelhelden in der Bühnenbearbeitung, auf das Fürstenamt zu verzichten, die Disposition zur Evokation von Bewunderung auf.²⁷² Fiesko handelt und denkt im Monolog der Szene IV/15, der in der Erstausgabe fehlt und in der Bühnenbearbeitung auf das Gespräch mit Andreas Doria folgt, im Sinn des Heroisch-Erhabenen, insofern er sich seine „vermessene Falschheit“ eingesteht und sich entschließt, auf den „Purpur“ (NA 4, S. 216) zu verzichten. Die Information des Nebentextes in der Szene V/6,Verrina reagiere auf Fieskos Verzicht „mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens“ (NA 4, S. 229), kann als metakommunikatives Signal für den Transfer dieser Emotion in das äußere Kommunikationssystem aufgefasst werden, sodass dieser Version des Dramenschlusses eine emotive Signifikanz zukommt. Der Konflikt zwischen „Fieskos Ehrgeiz“ und „Fieskos Tugend“ (NA 4, S. 216) wird hier zugunsten moralischer Größe aufgelöst: „Der Entschluß stehet felsenfest! (er eilt zu

 Ranke, S. 227.  Zur poetischen Gerechtigkeit als Strukturprinzip für die Herstellung von Bewertungseindeutigkeit vgl. Ranke, S. 146 f. Für Gottscheds Trauerspiel Der sterbende Cato stellt Ranke allerdings fest, dass die poetische Gerechtigkeit hier „kein verlässliches Orientierungsmodell“ darstelle und damit auch kein „gültiges moralisches Bewertungskriterium“ sei (Ranke, S. 146).  Zur Wirkungskategorie der Bewunderung und der poetologischen Dispositionszuschreibung im Erhabenheitsdiskurs der Aufklärung vgl. das Kapitel 3.1.2 dieser Untersuchung.

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

dem Heer hin) Wohlan, meine Brüder! (er schwingt das Schwert und ergreift eine Fahne) Im Namen Gottes und der gerechten Sache! (indem er an ihrer Spitze gegen das Thor eilt) Fiesko und Freiheit!“ (NA 4, S. 216) Die politische Befreiung Genuas durch die Verschwörer wird durch die Befreiung Berthas aus dem Kerker zusätzlich individuell veranschaulicht. Der Informationsvorsprung des Rezipienten gegenüber Bertha, die in der Kerker-Szene vom Ausgang der Verschwörung und Bourgogninos Befreiungsabsichten noch nichts weiß, kann als Strategie für die Evokation von positiven, antizipatorischen Emotionen wie Vorfreude aufgefasst werden.²⁷³ Die Bühnenfassung endet nicht mit der Errichtung der neuen Republik und der Krönung Fieskos zum Herzog von Genua, sondern mit der moralischen Läuterung dieser Figur, die den moralischen Wert ihres Verzichts auf politische Macht noch einmal bekräftigt und die Insignien der Monarchie in einem symbolischen Akt zerstört: „Ein Diadem erkämpfen ist Gros [sic] – es wegwerfen, göttlich. Seid frei, Genueser! (er zerbricht das Zepter, und wirft die Stücke unter das Volk) Und die monarchische Gewalt vergehe mit ihren Zeichen!“ (NA 4, S. 229) Während sich aus der impliziten Wirkungspoetik der Erstausgabe die Funktion der indirekten Vermittlung einer moralischen Lehre rekonstruieren lässt, die durch das ethische Argumentationsmodell poetischer Gerechtigkeit ex negativo nahe gelegt wird, lässt sich aus der impliziten Poetik der Bühnenbearbeitung die Funktion der direkten Vermittlung einer nicht-propositionalen moralischen Erkenntnis rekonstruieren, nämlich der Kenntnis, wie der Konflikt zwischen Tugend und Herrschsucht idealerweise aufgelöst werden kann. Zur rhetorischen Struktur der Erstausgabe gehört die Darstellung von Fieskos politischem und physischem Untergang, die als Sanktionierung moralischen Fehlverhaltens im Sinn der poetischen Gerechtigkeit aufgefasst werden kann. In der Erstausgabe ist die Divergenz zwischen dem staatsphilosophischen Ideal der Republik als einer Regierungsform und dem anthropologischen Ideal der „innern Republik“ (NA 4, S. 81) Bestandteil der rhetorischen Struktur des Textes. Derweil besteht die rhetorische Struktur der Bühnenbearbeitung aus einer Monosemierung des polysemen Republikbegriffs, insofern das politische Handeln des Amtsträgers und das moralische Handeln des Menschen in einem RepublikanismusKonzept koinzidieren. In der Bühnenbearbeitung des Fiesko lässt Schiller den Titelhelden das politische Ideal des Konnexes von Fürstengröße und Bürgerglück verwirklichen, das im Don Karlos durch Marquis Posa expliziert wird. So endet der Text der Bühnenbearbeitung mit den folgenden Worten Fieskos: FIESKO (mit grosser Rührung, einen Blick auf das Volk geworfen, das mit allen Zeichen der Freude noch auf den Knien ligt). Himmlischer Anblick – belonender als alle Kronen der Welt – (gegen das Volk eilend) Steht auf, Genueser! den Monarchen hab ich euch geschenkt – umarmt euren glücklichsten Bürger. (Der Vorhang fällt). (NA 4, S. 230)

 Zur in der epistemologischen Psychologie Baumgartens theoretisch vorbereiteten Kausalität von Informationsvorsprung und Affekt vgl. das Kapitel 4.1.3.1 dieser Untersuchung.

4.4 Die Verschwörung des Fiesko zu Genua

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Die Nebentext-Informationen über die positiven Reaktionen zuerst Verrinas und dann des ganzen Volks auf die abschließenden Reden Fieskos können dabei als metakommunikatives Signal für die positive emotionale Beurteilung von Fieskos Handeln aufgefasst werden. Auf die Frage Fieskos in der Szene V/6, ob er Verrina nun doch wieder zu seinen Freunden zählen dürfe, fällt ihm dieser gemäß Nebentext-Information „begeistert in seine Arme“ (NA 4, S. 230). Mit der „Erinnerung an das Publikum“, einem Theaterzettel für die Aufführung der Mannheimer Bühnenbearbeitung vom 11. Januar 1784, trägt Schiller durch einen faktualen Text zusätzlich zur Monosemierung des Dramentextes bei, um potentielle Fehlinterpretationen möglichst auszuschließen. Dabei weist er wie dann später auch in den Briefen über Don Karlos darauf hin, dass der hermeneutische Anspruch eines Dramentextes nicht durch die Wirkungsintention des Autors, sondern durch die Wirkungsdisposition des Textes selbst eingelöst werden müsse: Eigentlich sollte das Tableau für den Künstler reden, und er selbst die Entscheidung hinter dem Vorhang erwarten – Es ist auch jezt meine Absicht nicht, das Urtheil der Zuschauer für meine Manier zu bestechen, und der Faden des Trauerspiels liegt nicht sehr versteckt – dennoch seze ich einen zu grosen Werth in die Aufmerksamkeit meines Publikums, als daß ich ihm nicht auch die wenigen Augenblicke sollte zu retten suchen, die darauf gehen würden, bis es ihn fände. (NA 4, S. 270 f.)

In der Fortsetzung der „Erinnerung“ begründet Schiller außerdem die inhaltlichen Abweichungen der Bühnenfassung von der Erstausgabe mit dem Rezeptionsverhalten des Theaterzuschauers, der „augenblicklich geniesen“ müsse, während der Leser „den verworrensten Faden mit Bedacht auseinander“ (NA 4, S. 271) löse. Die aus der impliziten Wirkungspoetik der Bühnenbearbeitung rekonstruierte Funktion der Vermittlung einer Kenntnis, wie der Konflikt zwischen Tugend und Herrschsucht zugunsten moralischer Größe aufgelöst werden kann, weist Schiller dem Fiesko hier explizit zu. Das Drama halte „uns den Spiegel unserer ganzen Kräfte vor Augen“, reaktiviere „den sterbenden Funken des Heldenmuths“ und rücke uns „aus dem engen dumpfigen Kreis unsers alltäglichen Lebens in eine höhere Sphäre“ (NA 4, S. 272). Abschließend seien die zentralen Unterschiede zwischen der Erstausgabe und der Bühnenbearbeitung des Fiesko noch einmal zusammengefasst. In der Bühnenbearbeitung wird ein bestimmter Tugendbegriff anhand eigenschaftstypischen Handelns und Denkens exemplifiziert bzw. instanziiert und dadurch die nicht-propositionale Kenntnis tugendhaften Verhaltens vermittelt. In der Erstausgabe wird ein bestimmter Lasterbegriff anhand eigenschaftstypischen Handelns und Denkens exemplifiziert bzw. instanziiert und dadurch die nicht-propositionale Kenntnis moralischen Fehlverhaltens vermittelt. Darüber hinaus vermittelt der Text der Erstausgabe aber auch eine implizite, d. h. strukturell implizierte moralische Beurteilung des exemplifizierten Konzepts und weist dadurch die Disposition zur Initiation der propositionalen Erkenntnis auf, dass ein Verhalten x tugendhaft und ein Verhalten y lasterhaft ist. Die argumentierenden Reden Leonores und Verrinas konstituieren zusammen mit der Sanktionierung von Fieskos hamartia eine kohärente

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4 Implizite dramatische Wirkungspoetik: Dramenanalyse

Text-Struktur und tragen dabei zur ‚Bewertungseindeutigkeit‘, d. h. zur Eindeutigkeit im äußeren Kommunikationssystem bei, welche der im inneren Kommunikationssystem sprachlich repräsentierten Meinungen, Überzeugungen und Argumente auch diejenigen des primären Sprechers sind.²⁷⁴ In der Bühnenbearbeitung wird die Bewertungseindeutigkeit durch positive emotionale Reaktionen als metakommunikative Signale für die positive Beurteilung eines bestimmten Verhaltens hergestellt. Die Unterschiede zwischen der als Lesedrama konzipierten Erstausgabe und der Mannheimer Bühnenbearbeitung des Fiesko lassen sich schematisch wie folgt zusammenfassen (Tab. 6): Tab. 6: Vergleich zwischen der Erstausgabe und der Bühnenbearbeitung des Fiesko Erstausgabe

Bühnenbearbeitung

Vergegenwärtigung der Erfahrung eines Konflikts zwischen politischen Machtansprüchen und moralischem Handeln finale Vergegenwärtigung moralischen Fehlverfinale Vergegenwärtigung moralisch rechten haltens Handelns implizite Beurteilung eines Verhaltens als laster- Darstellung eines Verhaltens als tugendhaft haft Herstellung von Bewertungseindeutigkeit durch Herstellung von Bewertungseindeutigkeit durch die Sanktionierung eines implizit als lasterhaft die Vermittlung einer positiven emotionalen Eindisqualifizierten Verhaltens stellung gegenüber einem als tugendhaft qualifizierten Verhalten indirekte Vermittlung der moralischen Aussage, Vermittlung der Kenntnis, wie moralisch recht dass ein Verhalten x tugendhaft und ein Verhalten gehandelt werden kann y lasterhaft ist

 Zu Rankes Begriff der Bewertungseindeutigkeit vgl. das Kapitel 4.2.3.4 dieser Untersuchung.

5 Schlusswort 5.1 Zusammenfassung Die der Untersuchung zugrunde gelegte Methode einer analytisch-ideengeschichtlichen Rekonstruktion von Schillers expliziter und impliziter Wirkungspoetik hat einen ‚unverstellten‘, d. h. nicht historisierenden und nicht klassisch hermeneutischen Blick auf Schillers Frühwerk ermöglicht. So konnte der Frage, ob Schiller bereits in seiner vorklassischen und vorkantischen Phase (bis 1787) ein Ideendichter war, ohne heuristische Verzerrungen durch die Aporie des Hermeneutischen Zirkels nachgegangen werden. Durch die Anwendung von Begriffen aus der Analytischen Philosophie und der an dieser orientierten Analytischen Literaturwissenschaft auf die philosophischen, poetologischen und literarisch-fiktionalen Texte Schillers konnten sowohl diese Texte unter einer spezifisch epistemologischen Perspektive erhellt als auch die angewandte Terminologie geschärft werden. Zu dieser Terminologie gehört etwa die Unterscheidung zwischen propositionaler und nicht-propositionaler Erkenntnis, die sich für die Spezifizierung verschiedener kognitiver Funktionen als nützlich erwiesen hat. Die analytisch-epistemologische Lesart von Schillers Philosophischen Briefen hat den Rahmen des hier behandelten Problemfeldes abgesteckt. Insbesondere der dramenanalytische Teil der Untersuchung hat gezeigt, dass es sich bei den Philosophischen Briefen um einen Referenztext in Schillers Frühwerk handelt, insofern er sowohl Ausgangs- als auch Fluchtpunkt der philosophischen, poetologischen und literarischen Texte darstellt. Das Briefroman-Fragment hat sich außerdem als Modellfall für Schillers frühe Wirkungspoetik erwiesen. Aus diesem Text ließen sich einige für die Fortsetzung der Studie zentrale Begriffe und Funktionsweisen abstrahieren: das mediale (semiotische und semantische) Spezifikum eines fiktionalen Textes im Unterschied zu einem faktualen Text (Richtungsänderung des Bedeutens, Vermittlung von „ästhetischen Ideen“), die Unterscheidung zwischen einem inneren, fiktionsinternen und einem äußeren, fiktionsexternen Kommunikationssystem, das Verhältnis zwischen dem inneren und dem äußeren Kommunikationssystem, die Vergegenwärtigung von Erfahrung zur Vermittlung nicht-propositionaler Wie-Kenntnis. Die analytische und prononciert epistemologische Abstraktion von Schillers expliziter Wirkungspoetik insbesondere aus der poetologischen Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? hat ein wirkungspoetisches Modell ergeben, das auf der anthropologischen Denkfigur des ganzen Menschen gründet und entsprechend sowohl aus emotiven Funktionen als auch aus kognitiven Funktionen besteht. Die Spannweite der kognitiven Funktionen reicht von der Sensibilisierung für ethische Begriffe und der Konstituierung eines moralischen Bewusstseins über die Vermittlung nicht-propositionaler Erkenntnis von Eigenschaften und Erfahrungen der condicio humana bis hin zur Initiation einer kritischen Reflexion auf philosophische https://doi.org/10.1515/9783110541991-005

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5 Schlusswort

und poetologische Konzepte und schließlich zur Initiation von propositionaler Erkenntnis, also von Wissen über die wirkliche Welt des Rezipienten. Die von Schiller dem Theater zugeschriebenen Funktionen lassen sich auf einem Signifikanz-Kontinuum verorten, wobei der emotive Pol aus der kausalen Evokation von Affekten und der kognitive Pol aus der Initiation von propositionaler Erkenntnis besteht. Durch ein Zwei-Achsen-Modell konnte dargestellt werden, dass die Verortung der Funktionen in einem Signifikanz-Kontinuum von einer skalaren Gliederung in proximate und ultimate Funktionen komplementiert wird. Die theoretische Unterscheidung zwischen Funktion (potentieller Wirkung) und Wirkungsdisposition (Wirkungspotential) hat sich als nützliches heuristisches Instrument für die Systematisierung von Schillers früher expliziten Wirkungspoetik erwiesen. So konnte gezeigt werden, dass Schiller in seinen poetologischen Texten nicht nur zu den Funktionen des Dramas, sondern auch zu entsprechenden Strategien für die Erfüllung dieser Funktionen Aussagen macht. Durch die Auffächerung von Schillers Wirkungsbegriff in die Komponenten „Funktion“, „Strategie“ und „Disposition“ hat sich ein Analyseinstrumentarium ergeben, mit dem sich dann auch die impliziten Wirkungspoetiken der Dramentexte in ein wirkungspoetisches Modell überführen ließen. Bei der Analyse der medialen Dramatisierungsstrategien hat sich das ästhetischepistemologische Konzept der anschauenden Erkenntnis als Schlüssel für das Verständnis von Schillers expliziter Wirkungspoetik erwiesen. Anhand einer begriffsgeschichtlichen Rekonstruktion konnten einige zentrale Begriffe von Schillers expliziter Wirkungspoetik wie lebendige Erkenntnis, Wahrheit, Gemälde oder Hohlspiegel geklärt werden. Dabei ist ersichtlich geworden, dass Schillers Konzeption einer expliziten Wirkungspoetik in den frühen poetologischen Texten auf epistemologischen Theoremen der Rationalen Ästhetik basiert. Im Zentrum der Analyse von Schillers dramatischem Frühwerk stand die Frage nach dem Erkenntniswert von Literatur, die aufgrund der Begriffsklärungen in der Einleitung in die folgenden Teilfragen aufgefächert wurde: Lassen sich aus den impliziten Wirkungspoetiken der Dramentexte Dramatisierungsstrategien rekonstruieren, die die Disposition zur Erfüllung kognitiver Funktionen aufweisen? Falls ja: Um welche Form von kognitiven Funktionen handelt es sich dabei? Kommt den kognitiven Funktionen innerhalb der Funktionstaxonomie ein proximater oder ein ultimater Status zu? Als kognitive Funktion hat sich aus der impliziten Wirkungspoetik der Dramentexte die Vermittlung nicht-propositionaler Kenntnis (1) von Eigenschaften und (2) von Erfahrungen der condicio humana rekonstruieren lassen. Dabei haben sich die Figur des Julius, der Genie-Typus aus den Philosophischen Briefen und der Typus des tugendsamen Menschen aus der Rede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet als Schablonen für die Konzeption einiger Dramenfiguren erwiesen. Was in der SchillerForschung schon mehrfach konstatiert wurde, dass nämlich die Protagonisten von

5.1 Zusammenfassung

223

Schillers frühen Dramen Parallelfiguren zu Julius sind¹, hat sich hier noch einmal bestätigt. Die inhaltlichen Korrespondenzen zwischen der Tugend-Rede und dem Drama Die Räuber sowie zwischen den Philosophischen Briefen und dem Drama Kabale und Liebe haben es ermöglicht, Aussagen zum Unterschied zwischen einem philosophischen Sachtext und einem fiktionalen Dramentext zu machen. Es konnte nachgewiesen werden, dass die Theoreme der „Theosophie“ und der Rede Die Tugend in ihren Folgen betrachtet in den frühen Dramen als konkrete individuelle Erfahrungen vergegenwärtigt und so für einen emotionalen Nachvollzug zugänglich gemacht werden. Es handelt sich bei einigen Dramenfiguren also mindestens ansatzweise um Instanziierungen von prädikativen Ausdrücken („der tugendsame Mensch“, „der theosophisch liebende Mensch“) im Sinne Köppes, d. h. die Figuren weisen dieselben Prädikate auf wie z. B. der Genie-Typus aus der „Theosophie“ oder der Typus des tugendsamen Menschen aus der Tugend-Rede. Es konnte weiter dargestellt werden, dass die dramatische Figurendarstellung über die Instanziierung philosophischer Begriffe hinausgeht und außerdem aus der Vergegenwärtigung von konkreten Erfahrungen mit philosophischen Kategorien wie der Moral, der Liebe oder der Vorsehung besteht. Diese Vergegenwärtigung von Erfahrungen weist die Disposition auf, nicht-propositionale Kenntnis bestimmter Erfahrungen der condicio humana zu vermitteln und damit das phänomenologische Bewusstsein des Rezipienten zu konstituieren. In den vergegenwärtigten Erfahrungen manifestiert sich jeweils ein epistemischer Prozess, dessen Darstellung am individuellen Einzelfall die Disposition zum kognitiven Mitvollzug aufweist. Figuren, an denen ein solcher epistemischer Prozess veranschaulicht wird, fungieren als Vorbilder für eine geistige Bildung, wie sie Schiller in der Vorrede der Philosophischen Briefe skizziert. Es wurde also erwiesen, dass Schiller das Projekt einer ästhetisch-pädagogischen Aufklärung, die er mit dem Romanfragment Philosophische Briefe beginnt, mit seinen Dramentexten fortführt.² Das von Steffen Martus für die Bühnenbearbeitung der Räuber konstatierte Prinzip der theatralen Bildung für das Theater³ lässt sich demnach nicht nur für die als Lesedrama konzipierte Fassung dieses Dramas, sondern für das gesamte dramatische Frühwerk Schillers nachweisen. Die aus den impliziten Wirkungspoetiken der Dramentexte rekonstruierbare Bildung beschränkt sich nicht auf den Bereich der Literatur. Schiller will den Rezipienten nicht nur für das Theater bzw. das Drama, sondern auch für die außerliterarische Wirklichkeit bilden. Aus der impliziten Wirkungspoetik sämtlicher hier untersuchten Dramentexte haben sich

 Vgl. stellvertretend Kenneth Dewhurst und Nigel Reeves: Friedrich Schiller. Medicine, Psychology and Literature. Berkeley, Los Angeles 1978, S. 313 f.  Quero Sánchez zufolge wird dieses Projekt unter dem Einfluss Kants aufgegeben (vgl. Quero Sánchez: Der Einfluß der Kantischen Philosophie auf Schiller und der fragmentarische Zustand des Geistersehers und der Philosophischen Briefe. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 71– 98; hier S. 73).  Vgl. Kap. 4.1.3.1, Anm. 55.

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5 Schlusswort

entsprechend Strategien für die Ent-Automatisierung etablierter, an einer affekttheoretischen Dramaturgie geschulter Rezeptionsroutinen rekonstruieren lassen. Im letzten Teil der Dramenanalyse ging es um die Frage nach der Möglichkeit eines fiktionalen Dramentextes, bestimmte (moralphilosophische) Gedankeninhalte als zentrale Textbotschaften zu vermitteln. Es wurde gezeigt, dass es sich bei der sprachlichen Repräsentation von allgemeinen Sachverhalten, die die Ideologie einer Dramenfigur konstituieren, um Kandidatinnen für allgemeine Aussagen des primären Sprechers handelt. Demgegenüber hat sich die verbalsprachliche oder nonverbale Repräsentation von spezifischen Situationen als Kandidatin für die Erfüllung emotiver Funktionen erwiesen. Mit Hilfe des Sachverhaltsbegriffs von Wittgenstein konnten interessante oder tragische Situationen als emotiv signifikante Sachverhalte ausgemacht werden, deren Wahrheitswertneutralität und metakommunikative Markierung die Disposition zur Evokation von Affekten aufweisen. In diesem Bereich konnte außerdem gezeigt werden, wie die Darstellung der Dramenfiguren bei emotiv signifikanten Sachverhalten, d. h. in Situationen des Leidens oder der Rührung, ein Verständnis solcher Affekte als komplexe, sowohl aus kognitiven als auch aus emotiven Komponenten bestehende Emotionsprogramme dokumentieren. Schließlich hat die Rekonstruktion der impliziten Wirkungspoetik von den Räubern und Kabale und Liebe ersichtlich gemacht, dass interessante und tragische Situationen in Schillers Dramen durch den philosophischen Überbau eines theosophischen, moralphilosophischen und anthropologischen Weltideals immer auch eine universelle Dimension haben. Weil der Mensch in Schillers theosophischer Moralphilosophie ein „Bürger des grosen Weltsystems“ (Tugend-Rede, NA 20, S. 30) ist, handelt es sich bei der Zerrüttung dieses Weltsystems durch ‚Störfälle‘⁴ um eine schillerspezifische Figuration des Tragischen, vor deren Hintergrund in den frühen Dramen die interessanten und tragischen Situationen entwickelt werden. Durch die Konzeption des Dramas als theatrum mundi, die aus der expliziten Wirkungspoetik abstrahiert und aus den impliziten Wirkungspoetiken der Dramen Die Räuber und Kabale und Liebe sowie den Thalia-Fragmenten des Don Karlos rekonstruiert wurde, ist auch die Gesamtidee dieser Dramen jeweils mit der Wirkungskategorie des Tragischen verknüpft. Die Ergebnisse aus der Analyse des Verhältnisses zwischen philosophischem Sachtext und fiktionalem Dramentext seien hier noch einmal zusammengefasst: (1) Ein fiktionaler Dramentext weist – genauso wie ein faktualer Sachtext – eine rhetorische Struktur auf. (2) Das Argumentieren als rhetorisches Verfahren kann Bestandteil dieser rhetorischen Struktur sein. (3) Es handelt sich dabei um eine spezifische Form des Argumentierens, die vom logischen Status eines literarischen Textes abhängt.

 Vgl. Peter-André Alt: Dramaturgie des Störfalls. Zur Typologie des Intriganten im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 29 (2007), H. 1, S. 1– 28.

5.1 Zusammenfassung

225

Der primäre Sprecher eines faktualen Sachtextes argumentiert innerhalb des Textes, d. h. er stellt Behauptungen in der Form von Thesen auf und verteidigt diese durch das Anführen von Argumenten. (5) Der primäre Sprecher eines fiktionalen Textes kann nicht in seinem Text, sondern nur mit ihm argumentieren. (6) Bei den Argumentationen innerhalb eines fiktionalen Textes handelt es sich um Argumentationen der fiktiven Figuren innerhalb des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems. (7) Der primäre Sprecher eines fiktionalen Textes argumentiert mit dem Text in dem Sinne, dass er bestimmte Meinungen, Einstellungen usw. des inneren, fiktionsinternen Kommunikationssystems unter Verwendung bestimmter Strategien (wie z. B. der Sympathie- oder Aufmerksamkeitslenkung sowie des Anführens aufweisender ‚Argumente‘) profiliert. (8) Beim literarischen Argumentieren handelt es sich also – anders als beim wissenschaftlichen Argumentieren – um ein Profilieren. (9) Außer aus dem literarischen Argumentieren als Profilieren kann die rhetorische Struktur eines literarisch-fiktionalen Textes auch aus dem Problematisieren bestimmter philosophischer oder poetologischer Konzepte bestehen. (10) Beim Problematisieren handelt es sich nicht mehr um eine Form literarischen Argumentierens, weil hier keine Meinungen, Einstellungen, Ideen usw. profiliert, sondern zu bedenken gegeben, d. h. für eine kritische Reflexion zugänglich gemacht werden. (4)

Anders als die Bühnenbearbeitungen haben sich die für die Lektüre konzipierten Dramenfassungen als hermeneutische Herausforderungen erwiesen, insofern die Dechiffrierung ihrer zentralen – meist ethischen – Botschaften eine genaue Lektüre voraussetzen, die im Medium des Theaters durch die Simultaneität von Produktion und Rezeption nicht gewährleistet ist. Obwohl für den textanalytischen Teil eine thematisch-systematische Gliederung das Primat vor einer chronologischen Darstellung erhalten hat, lassen sich anhand der Ergebnisse auch Aussagen zur Entwicklung von Schillers dramatischem Schaffen von der Erstausgabe der Räuber bis zur Buchfassung von 1787 des Don Karlos machen. Während sich aus der impliziten Wirkungspoetik der Räuber die Funktionen rekonstruieren lassen, (moral‐)philosophische Theorien und Ideen als Erfahrungen zu vergegenwärtigen bzw. als Lösungen zu vermitteln, lässt sich aus der impliziten Wirkungspoetik des Don Karlos u. a. die Funktion der Initiation einer kritischen Reflexion auf solche Theorien rekonstruieren. Die Analyse des Schauspiels Don Karlos in der Buchfassung von 1787 hat gezeigt, wie die Vergegenwärtigung einer geistigen Bildung (hier durch die Figur des Don Karlos instanziiert) von einer Problematisierung philosophischer (providentia) und poetologischer (theatrum mundi) Konzepte überlagert wird.

226

5 Schlusswort

5.2 Ausblick Wie gezeigt werden konnte, lässt sich die in der Schiller-Forschung durchaus provokante Frage nach Schiller als Ideendichter mit Gewinn für das sogenannte ‚Frühwerk‘ reformulieren.Während die Einteilung von Schillers Dramenwerk in eine vorkantische und eine nachkantische Phase aufgrund der zeitlich doch recht klar ausmachbaren ‚philosophisch-kantianischen Wende‘ Anfang der 1790er Jahre nach wie vor ein handhabbares Kriterium für die Gliederung von Schillers Gesamtwerk darstellt, muss eine Einteilung in Früh- und Spätwerk anhand gattungspoetologischer Kriterien zumindest in Frage gestellt werden. Denn es konnte nachgewiesen werden, dass sich gerade aus den impliziten Wirkungspoetiken von Schillers frühen Dramen, namentlich aus dem dramatischen Erstling Die Räuber und aus der Mannheimer Bühnenbearbeitung des Fiesko, die Vermittlung (polit‐)philosophischer Ideen als ultimate Funktion rekonstruieren lässt, während die implizite Wirkungspoetik des Don Karlos (in der Buchfassung) die Disposition zur Initiierung einer poetologischen Reflexion aufweist. Für die Fortsetzung von Schillers Dramenwerk könnte mit dem in dieser Untersuchung angewandten Vorgehen einer analytisch-historischen Rekonstruktion eruiert werden, ob sich die nicht nur für den Don Karlos-Komplex von den Thalia-Fragmenten bis zur Buchfassung, sondern auch für das gesamte dramatische Frühwerk von den Räubern bis zum Don Karlos rekonstruierte ‚Poetologisierung‘ in den weiteren Dramentexten fortsetzt und wie sie sich zur Wirkungskategorie des Tragischen verhält. Dabei könnte sich der schillerspezifische Liebesbegriff mit seinen theosophischen, moralphilosophischen und poetologischen Dimensionen als Schlüssel zur Erschließung von Schillers Dramenwerk erweisen und gleichzeitig dessen Einheit mit konstituieren. So könnte Schillers letztes vollendetes Drama Wilhelm Tell (1804) vor diesem Hintergrund etwa so gelesen werden, dass das Tragische als Zerrüttung eines auf Liebe basierenden Weltsystems hier überwunden wird und die fiktionsinterne Verwirklichung der politphilosophischen Idee à la Marquis Posa mit der poetologischen Ablösung der Tragödie durch die Gattung „Idylle“ korreliert, wobei das idyllische Tableau am Dramenschluss vom Liebesidyll zwischen Berta und Rudenz (ungefähr in der Mitte des Dramas) präfiguriert wird. Das Drama Wilhelm Tell wäre damit der gattungspoetologische Modellfall des Ideendramas, als der es insbesondere in literaturdidaktischen Kontexten neben Lessings Nathan und Goethes Iphigenie gerne zitiert wird. Aber das wäre – z. B. durch eine Rekonstruktion der impliziten Wirkungspoetik – eben erst noch nachzuweisen. Zudem birgt auch ein Vergleich zwischen dem aus Schillers frühen dramentheoretischen Schriften abstrahierten Modell einer expliziten Wirkungspoetik und den späteren Dramentheorien Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792) oder Über die tragische Kunst (1792) ein heuristisches Potential. Zumindest lassen sich Korrespondenzen zwischen der späteren dramentheoretischen Terminologie Schillers und dem hier aus den frühen Schriften rekonstruierten und geklärten Begriffssystem erkennen, wenn Schiller in Über die tragische Kunst etwa über das

5.2 Ausblick

227

Verhältnis zwischen dem „Zweck“ als dem „letzte[n] Grund“ (ultimate Funktion) und der „Form“ als „der Verbindung der Mittel, wodurch eine Dichtungsart ihren Zweck erreicht“ (Dramatisierungsstrategie) (NA 20, S. 168), referiert. Des Weiteren findet sich in derselben Abhandlung auch der aus der impliziten Wirkungspoetik der Räuber als Dramatisierungsstrategie rekonstruierte und aus den Schriften Baumgartens als epistemologische Affekttheorie⁵ extrapolierte Zusammenhang zwischen der klaren Erkenntnis eines Sachverhalts (seiner Vorstellung), der Einsicht in dessen Ähnlichkeit mit selbst erlebten Situationen und dem Auslösen von Affekten explizitert: „denn nur die Aehnlichkeit der Umstände, welche wir vollkommen einsehen müssen, kann unser Urtheil über die Aehnlichkeit der Empfindungen rechtfertigen“ (NA 20, S. 162).

 Vgl. das Kapitel 3.2.2.2.2 dieser Untersuchung.

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240

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Bildquelle Art. Hohlspiegel. In: Lexikon der Physik (Online-Version). Heidelberg 1998 (http://www.spektrum. de/lexikon/physik/hohlspiegel/6848 [5.8.16]).

7

Namenregister

Es sind insbesondere Namen von Personen verzeichnet, die den ideengeschichtlichen Referenzrahmen von Schillers frühem dramatischem und philosophischem Werk konstituierten (Primärliteratur) oder deren wissenschaftliche Arbeiten aus dem Bereich der Analytischen Philosophie (des Geistes), der Analytischen Literaturwissenschaft, der Literaturtheorie im Allgemeinen sowie der Dramentheorie und Theorie des Ideendramas im Besonderen (Sekundärliteratur) den theoretischen Rahmen der vorliegenden Untersuchung bilden. Abel, Jakob Friedrich 23, 35, 48, 206 Aristoteles 34, 45, 55, 112 Asmuth, Bernhard 76 Baumgarten, Alexander Gottlieb 38, 50, 52– 59, 62, 64 f., 67, 102 f., 109, 197, 227 Beardsley, Monroe C. 119 Bürger, Gottfried August 11, 75, 77 f., 177, 192 Corneille, Pierre

36

Dalberg, Wolfgang Heribert Reichsfreiherr von 84, 136, 206 f. Descartes, René 24 Diderot, Denis 102, 137, 143–148, 171, 198 Ferguson, Adam 23, 47, 124 Fichte, Johann Gottlieb 188 Ficino, Marsilio 23 Frege, Gottlob 63 Gabriel, Gottfried 14, 18 f., 119, 128, 164 Garve, Christian 23, 47 Goethe, Johann Wolfgang von 226 Goodman, Nelson 127 Göschen, Georg Joachim 168 Götz, Gottlieb Christian 207 Grice, H. Paul 94, 195 Großmann, Gustav Friedrich Wilhelm 136, 207 Hebbel, Friedrich 4 Hefele, Hermann 186 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4 Hobbes, Thomas 188 Homer 66, 96 Horaz, Quintus Flaccus 60, 63, 145 Hutcheson, Francis 124 Iffland, August Wilhelm

135, 154

https://doi.org/10.1515/9783110541991-007

Kant, Immanuel 1, 4, 21 f., 26, 28, 35, 64 f., 93 Klopstock, Friedrich Gottlieb 96 Köppe, Tilmann 43, 223 Körner, Christian Gottfried 13 f., 28, 47 Kotzebue, August von 154 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18, 23 f., 49–53, 56 Lessing, Gotthold Ephraim 11, 35, 47, 50, 57, 59 f., 62, 73 f., 102, 107, 135, 137, 143, 171, 185 f., 193 f., 196, 198, 209 f., 214, 226 Lichtenberg, Georg Christoph 65 Lugowski, Clemens 183 Martus, Steffen 105, 223 Mendelssohn, Moses 11, 23, 33–36, 50, 57– 60, 62, 64 f., 75, 77, 79, 107, 135, 212 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat Baron de la Brède 188, 212, 214 Newton, Isaac 23 Nicolai, Friedrich 57 Obereit, Jakob Hermann 23 Oetinger, Friedrich Christoph Platon

23

4, 23

Ranke, Wolfgang 128 f., 185, 188, 192 Reinwald, Wilhelm Friedrich Hermann 23, 71, 89, 135 f., 169 Riedel, Friedrich Justus 11, 75, 80 Riedel, Wolfgang 1, 34 Rousseau, Jean-Jacques 35, 188 Rudolph, Norbert 186 Rymer, Thomas 40 Scharffenstein, Georg Friedrich 14 Schildknecht, Christiane 3, 11 Schwan, Christian Friedrich 136, 207 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Earl 35

23,

242

7 Namenregister

Spalding, Johann Joachim 23 Stockinger, Claudia 172 Streicher, Johann Andreas 143 Sulzer, Johann Georg 11, 34, 43, 50, 64–66, 70, 75, 78 f., 93, 111, 125, 169 Unger, Rudolf von Matt, Peter

186 70

Wieland, Christoph Martin 171 Winko, Simone 90 Wittgenstein, Ludwig 41, 224 Wolff, Christian 35, 50, 53, 59 Wolzogen, Caroline von 135