Die Aura des Authentischen: Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [1 ed.] 9783737013307, 9783847113300

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Die Aura des Authentischen: Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [1 ed.]
 9783737013307, 9783847113300

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digilit Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung

Band 4

Herausgegeben von Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko

Christian Dinger

Die Aura des Authentischen Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. © 2021 V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © TungCheung: Close up of old English dictionary page with word authentic; Adobe Stock (#110239244) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2512-8930 ISBN 978-3-7370-1330-7

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Der Authentizitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Von der Autorisierung zur Auratisierung: historische Perspektiven auf den Authentizitätsbegriff . . . . . . . . . . . . . 1.2 Authentizität 2.0: Entwicklungen in der digitalen Gegenwart . . .

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2. Authentizität und Literatur . . . . . . . . . . . . 2.1 Authentizität als literaturkritischer Wert . . 2.2 Authentizität im Kontext schriftstellerischer Inszenierungspraktiken . . . . . . . . . . . . Autorschaft und Autorinszenierung . . Inszenierung und Authentizität . . . . Inszenierung von Authentizität . . . . 2.3 Authentizität als Fiktionalitätsparadoxon? . Die Fiktion des Fiktionspakts . . . . . Kunst vs. Leben . . . . . . . . . . . . . Autobiographie und Autofiktion . . . Fälschung und Fake . . . . . . . . . .

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3. Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Authentizität und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Grotesker Realismus und unzuverlässiges Erzählen: Sasˇa Stanisˇic´ : Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) und Herkunft (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karnevalisierung des Krieges . . . . . . . . . . . . . . . »Herkunft ist Zufall« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.1.2. Erzählkompetenz und ›Holocaust-Kitsch‹ – Takis Würger: Stella (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorisierung und Authentifizierung durch die Nachgeborenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stella – ›Großverriss‹ eines Romans . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Authentizität und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Literarische Wunderkinder: Benjamin Leberts Crazy (1999) und Helene Hegemanns Axolotl Roadkill (2010) . . . . . . . »allmächtiges Junggenie« und »unwissendes Kind« – Benjamin Lebert und das Problem der Distanzlosigkeit . . . ›Generation Internet‹ – Helene Hegemanns doppelte Normverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Erleben vs. Erlernen – Junge Literatur und akademische Schreibschulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Leben und Schreiben – Das Erfahrungsparadigma . . . Autodiebe und Bürgerkinder – Der Konformismus-Vorwurf 3.3 Authentizität und Privatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Selbstbespiegelung und Exhibitionismus: Thomas Glavinic . Autofiktionale Selbstentblößung: Bin ich’s oder bin ich’s nicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mit Glavinic im Anzengruber: Selbstinszenierung in Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reale Körper im virtuellen Raum: Thomas Glavinic im Web 2.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Ekel und Aufklärung: Charlotte Roche . . . . . . . . . . . . Interviewpraxis einer unzuverlässigen Autorin . . . . . . . . Emotionale Wirkungsästhetik: Ekel – Scham – Lust . . . . . Die Artikulation des Ungesagten . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Authentizität und Außenseitertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Christian Kracht: Der Dandy . . . . . . . . . . . . . . . . . Positionierung und Relativierung . . . . . . . . . . . . . . . Re-Modeling vs. Prinzip des ›Rock‹ . . . . . . . . . . . . . . Präsenz durch Abwesenheit: Krachts Ästhetik des Verschwindens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Variationen des Themas ›Kuchen‹: Krachts Pastiche-Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Clemens J. Setz: Der Nerd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dichter-Nerd als neuer Autorentypus . . . . . . . . . . Der unzuverlässige Archivar . . . . . . . . . . . . . . . . . . Games und Glitches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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3.4.3 Clemens Meyer: Der Prolet . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Herkunft und stoffspendende Biographie . . . . . . Erfahrung – Imagination – Recherche . . . . . . . . . . . . Aneignung durch Verschmelzung: Gewalten. Ein Tagebuch . 3.5 Authentizität und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Écriture féminine des 21. Jahrhunderts? Der Körper als Echtheitssiegel weiblichen Schreibens bei Helene Hegemann, Charlotte Roche und Isabelle Lehn . . . . . . . Feuchtgebiete und Axolotl Roadkill als Renaissance der écriture féminine? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gegen den Körper anschreiben – Isabelle Lehn: Frühlingserwachen (2019) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 ›Echte‹ Männer – neue und alte Männlichkeitskonzepte bei Benjamin Lebert, Clemens Meyer, Thomas Glavinic und Christian Kracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männliche Initiationsriten in Leberts Crazy und Meyers Als wir träumten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hegemoniale Männlichkeit und Grenzerfahrungen: Thomas Glavinic . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marginalisierte Männlichkeit und Geschlechterparodie: Christian Kracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Geschlechtlicher Perspektivwechsel: Feridun Zaimoglus Die Geschichte der Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Ist Zaimoglu alle Frauen?« – Autorisierung und Aneignung im Geschlechterdiskurs . . . . . . . . . . . . . . Vom Sprachrohr der ›Kanaken‹ zum Sprachrohr der Frauen

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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort

Was mit dem Unbehagen begann, das ich jedes Mal verspürte, wenn ich das Wort ›authentisch‹ hörte, findet seinen vorläufigen Abschluss mit dieser Arbeit, die im Sommer 2020 von der Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenommen und am 13. Januar 2021 ebendort verteidigt wurde. Nach einigen kosmetischen Änderungen liegt sie nun dank der Arbeit von V&R unipress und eines Druckkostenzuschusses der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Buch vor. Dass es dazu gekommen ist, habe ich vielen Menschen zu verdanken. Mein Doktorvater Gerhard Kaiser hat diese Studie mit Geistesschärfe und Gelassenheit begleitet und dabei stets an das Gelingen des Projekts geglaubt – auch und gerade dann, wenn ich mir selbst nicht so sicher war. Heinrich Detering danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens, viele hilfreiche Ratschläge und ganz generell für seinen ansteckenden Enthusiasmus. Ein Großteil der Studie entstand im Forschungszusammenhang des Göttinger DFG-Graduiertenkollegs »Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung«. Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko danke ich für die Organisation des Kollegs und die Aufnahme in die Schriftenreihe »digilit«. Wichtig waren für mich vor allem die Gespräche und der ständige Austausch mit den Kollegiat*innen. Für alles, was eine gemeinsame Promotionszeit an Glücksmomenten und geteilter Leiderfahrung mit sich bringt, danke ich besonders Sebastian Böck, Nicole Gabriel, Julian Ingelmann, Lena Lang, Stefanie Lange, Kai Matuszkiewicz, Bogna Moll, Franziska Weidle und AnnaChristine Zapf. Wertvolle Hinweise habe ich unter anderem von Kevin Kempke und Johannes Franzen erhalten. Für ihren prägenden Einfluss danke ich Anja Johannsen und Peer Trilcke. Mit Guntram Vesper hatte ich ein erhellendes Gespräch über Karl May, von dem ich wünschte, dass es nicht unser letztes gewesen wäre. Ohne meine Göttinger Freund*innen wäre die Promotionszeit sicherlich kürzer, aber auch um einiges ärmer gewesen. Für moralische Unterstützung auf den letzten Metern haben außerdem meine Kolleg*innen im Verlag Schöffling & Co. und im Hessischen Literaturforum im Mousonturm gesorgt.

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Vorwort

Annika Klanke hat das Entstehen dieser Arbeit von Anfang an als kluge Denkpartnerin und kritische Leserin mitverfolgt. Bruder Josef van Scharrel OSB, verlässlicher Begleiter in allen Lebenslagen, gewährte mir das beste Schreibexil der Welt. Meine Eltern haben mich nicht nur auf jede erdenkliche Weise unterstützt, sondern auch stets blind an die Richtigkeit meiner Lebensentscheidungen geglaubt. Der größte Dank gilt schließlich Vera Kostial – ohne ihren analytischen Verstand, ihr spitzfindiges Lektorat und ihre grenzenlose Geduld wäre diese Arbeit schlechterdings nicht zu einem Ende gekommen, jedenfalls nicht zu einem glücklichen. Frankfurt am Main, im März 2021

Christian Dinger

Einleitung

Von den vielen Adjektiven, mit denen sich Literatur bezeichnen lässt, scheint eines zu Beginn des 21. Jahrhunderts besonders Konjunktur zu haben: ›authentisch‹. Im Feuilleton lesen wir von ›authentischen Figuren‹, in Bücherblogs wird der ›authentische Sound‹ von Autor*innen1 gelobt und auch in der Literaturwissenschaft ist immer wieder von der Authentizität literarischer Texte die Rede. Wie kaum ein anderer Begriff steht ›Authentizität‹ im Zentrum gegenwärtiger literaturkritischer und poetologischer Debatten: Sei es das viel diskutierte Verhältnis von autobiographischem und fiktionalem Erzählen, das gerade besonders angesichts der Popularität von autofiktionalen Erzählweisen problematisiert wird; seien es die moralisch im besonderen Maße aufgeladenen Fragen nach kultureller Aneignung und den Möglichkeiten des Erzählens von der Schoah durch die Generation der Nachgeborenen; oder seien es die Diskussionen um die Lizenzen fiktionaler Rede und deren Grenzen, an denen sich immer wieder Literaturskandale entzünden – alle diese Debatten scheinen auf die ein oder andere Weise auf die Frage nach literarischer Authentizität hinauszulaufen. Doch was macht Literatur authentisch? Beschäftigt man sich mit dem Begriff der Authentizität, wird schnell klar, dass wir es hier nicht mit einer Texteigenschaft zu tun haben, deren Vorhandensein sich durch notwendige und hinreichende Bedingungen feststellen ließe. Vielmehr handelt es sich bei ›Authentizität‹ um ein diskursives Zuschreibungsmerkmal, um das ein ständiger Aushandlungsprozess auf dem literarischen Feld geführt wird. Die Frage, die uns hier beschäftigt, lautet also nicht: ›Was ist Authentizität?‹, sondern ›Wem wird in welchem Zusammenhang von welcher Instanz Authentizität zugeschrieben und warum?‹. 1 In der vorliegenden Arbeit wird sich, wo immer es sinnvoll und möglich ist, um eine gendersensible Schreibweise bemüht. Eine Ausnahme bilden theoretische Konzepte, die geschlechtlich bestimmt sind. So werden etwa die Begriffe ›Autor‹ und ›Leser‹ im generischen Maskulinum formuliert, sofern es sich bei den entsprechenden Referenzobjekten nicht um konkrete Personen oder Personengruppen, sondern um theoretisch angenommene Instanzen handelt.

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Einleitung

Um besser verstehen zu können, was Authentizität bedeuten kann und welche Rolle sie in der Kommunikation über Literatur einnimmt, müssen also zunächst jene Praktiken der Zuschreibung untersucht werden, durch die Authentizität diskursiv hervorgebracht wird. Solche Zuschreibungen geschehen jedoch nie im luftleeren Raum. Die Gründe für eine Authentizitätszuschreibung liegen in spezifischen Rezeptionserwartungen, die sich an literarische Texte oder auch deren Urheber*innen richten und die durch textuelle oder paratextuelle Signale sowie durch die habituelle Inszenierung des Autors oder der Autorin verstärkt oder abgeschwächt, enttäuscht, unterlaufen oder bestätigt werden können. Es ist daher wichtig, neben den vornehmlich auf der Rezeptionsseite angesiedelten Zuschreibungspraktiken auch jene Inszenierungsstrategien auf der Produktionsseite zu betrachten, durch welche die Authentizitätszuschreibung provoziert, gefördert oder unterwandert wird. In der vorliegenden Arbeit wird dieses Wechselspiel aus Praktiken der Inszenierung von Authentizität und Praktiken der Zuschreibung von Authentizität anhand verschiedener Beispiele aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur untersucht. Ziel der Studie ist es dabei zum einen, die Verwendungsweisen des Authentizitätsbegriffs in Bezug auf Literatur zu analysieren und damit zur Klärung eines in der Kommunikation über Literatur hochfrequenten und zugleich mehr als diffusen Begriffs beizutragen. Zum anderen sollen aber auch die für den Authentizitätsdiskurs relevanten poetologischen Debatten, Literaturskandale und ästhetischen Fragen sichtbar gemacht werden, um so eine Momentaufnahme zumindest für einen kleinen Ausschnitt des Feldes der gegenwärtigen deutschsprachigen Literaturproduktion zu zeichnen. Der erste Teil dieser Arbeit widmet sich den terminologischen Besonderheiten von ›Authentizität‹. Dabei wird zunächst die historische Genese des modernen Authentizitätsbegriffs nachgezeichnet, um dann auf Entwicklungen im Zeitalter der Digitalisierung einzugehen, die wesentlich zu der gegenwärtigen Konjunktur des Begriffs beigetragen haben. Im zweiten Teil wird nach der spezifischen Bedeutung des Authentizitätsdiskurses für den Gegenstand der Literatur gefragt. Entsprechend der hier vorgenommenen Unterscheidung zwischen der Zuschreibung und der Inszenierung von Authentizität werden in Kapitel 2.1 unter Rückgriff auf Theorien der literarischen Wertung zunächst die Zuschreibungspraktiken der Rezeptionsseite in den Blick genommen, um sich im Kapitel 2.2 den Inszenierungspraktiken der Produktionsseite zuzuwenden. Anschließend werden in Kapitel 2.3 die fiktionalitätstheoretischen Voraussetzungen beleuchtet, unter denen die Frage nach literarischer Authentizität zu betrachten ist. Im dritten Teil der Arbeit wird schließlich die Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität anhand verschiedener Beispiele aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur analysiert. Als Gegenwartsliteratur wird dabei die literarische Produktion der letzten 20 Jahre vor Fertigstellung dieser Arbeit betrachtet – der

Einleitung

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Untersuchungszeitraum umfasst also die Jahre 1999–2019 und somit die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts.2 Um dem semantischen Spektrum des Authentizitätsbegriffs gerecht zu werden, wird die Analyse nach verschiedenen Teildiskursen gegliedert, innerhalb derer die Frage nach literarischer Authentizität jeweils von signifikanter, jedoch mitunter durchaus unterschiedlicher Bedeutung ist. Diese Einteilung ermöglicht es, die zu analysierenden Zuschreibungs- und Inszenierungspraktiken je innerhalb eines klar eingegrenzten diskursiven Rahmens zu betrachten. Aufgrund des breiten thematischen Spektrums, das hier abgedeckt werden muss, liegt der Arbeit ein vergleichsweise großes Textkorpus zugrunde. Die Eingrenzung auf einen einzelnen thematischen Zusammenhang und eine damit einhergehende Reduzierung der Textauswahl erscheint für das Ziel der Arbeit, den gegenwärtigen Authentizitätsdiskurs in seiner Breite darzustellen, wenig sinnvoll. Gleichzeitig erfordert die Textauswahl aber auch ein gewisses Maß an Eingrenzung, um eine Vergleichbarkeit hinsichtlich der diskursiven Prägung sowie der literatursoziologischen Wechselwirkungen sicherzustellen. Im Zentrum dieser Untersuchungen stehen deshalb deutschsprachige Erzähltexte (vornehmlich Romane) der Gegenwartsliteratur, die ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit in den überregionalen deutschsprachigen Feuilletons hervorgerufen haben und in deren Rezeption die Frage nach literarischer Authentizität eine erkennbare Rolle spielt. Die literarischen Primärtexte selbst bilden dabei nur einen Teil des Analysematerials. Entsprechend der besonderen Bedeutung von Rezeptionsprozessen und Inszenierungspraktiken für die Fragestellung dieser Arbeit werden ebenso Paratexte, verschiedene Ausdrucksformen schriftstellerischer Selbstinszenierung (Äußerungen in Interviews, Verhalten in den sozialen Medien, habituelle Inszenierungspraktiken) sowie Rezeptionszeugnisse (Rezensionen und Porträts im Feuilleton, Kundenrezensionen auf Amazon) in den Blick genommen. Abschließend wird die vorgenommene Untersuchung hinsichtlich ihrer Ergebnisse sowie möglicher Auswirkungen auf folgende Studien in diesem Bereich bewertet.

2 Dass sich an dieser Stelle nicht auf eine konventionalisierte Definition von Gegenwartsliteratur verweisen lässt, zählt zu den grundsätzlichen Problemen bei der zeitlichen Bestimmung einer Epoche, die noch nicht abgeschlossen ist. Vgl. hierzu Norbert Otto Eke: Beobachtungen beobachten. Beiläufiges aus germanistischer Sicht zum Umgang mit einer Literatur der Gegenwärtigkeit. In: Maik Bierwirth/Anja Johannsen/Mirna Zeman: Doing Contemporary Literature. Praktiken, Wertungen, Automatismen. München 2012, S. 23–40, hier vor allem S. 29ff. An dieser Stelle wurde bewusst entschieden, die Einteilung nicht mit einem politischen Datum wie 1968, 1989 oder 2001 zu verknüpfen, sondern einen Zeitraum festzulegen, der sich retrospektiv am Zeitpunkt der Untersuchung orientiert.

1.

Der Authentizitätsbegriff

Das Authentische ist allgegenwärtig. War ›Authentizität‹ für Adorno noch ein »Wort aus der Fremde«,3 hat es im späten 20. Jahrhundert (und vermehrt zu Beginn des 21. Jahrhunderts) Einzug in die verschiedensten Diskurse erhalten und erfreut sich vor allem als werbewirksames Hochwertwort größter Beliebtheit:4 Reiseanbieter werben mit dem Versprechen, das authentische Kuba zu erleben, Restaurants bieten authentische indische Küche an, Modelabels präsentieren ihre authentic collection und eine ganze Reihe von Ratgeber- und Coaching-Angeboten bietet ihre Hilfe dabei an, authentisch im Beruf zu bleiben. Bei Authentizität – soviel verrät diese knappe Zusammenschau bereits – handelt es sich zunächst einmal um ein Etikett, ein diskursives Label, das den verschiedensten Gegenständen und Personen mit meist aufwertender Absicht zugeschrieben wird und das eine ganze Reihe unterschiedlicher Sehnsüchte transportiert und zum Ausdruck bringt. Authentizität steht für das Echte, Natürliche, Unmittelbare, Wahre, für das Glaubwürdige, Aufrichtige, Bezeugte und Wirklichkeitsnahe.5 Der Authentizitätsbegriff – der letztlich aufgrund seiner proteushaften Verwendung noch diffuser bleibt als diese sehr allgemeinen Schlagwörter – dient somit als Vehikel für Konzepte, die vor allem durch ihre positive Konnotation auffallen. Dass sich aber über Authentizität »nichts sicherer« sagen lässt, »als dass es sich um einen dezidiert positiven Begriff handelt«, wie der

3 Vgl. Theodor W. Adorno: Wörter aus der Fremde. In: Ders.: Noten zur Literatur II. Frankfurt am Main 1961, S. 110–130. 4 Zum Begriff des Hochwertworts und der Bedeutung des Authentizitätsbegriffs in der Werbesprache siehe Kap. 2.1 dieser Arbeit. 5 Vgl. Susanne Knaller/Harro Müller: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. München 2006, S. 7–16, hier S. 8: »Offenbar gibt es […] eine weit verbreitete, sozial und kulturell erzeugte, wie auch immer zu bewertende Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, nach Ursprünglichkeit, nach Echtheit, nach Wahrhaftigkeit und nicht zuletzt nach Eigentlichkeit, welche von einer global betriebenen Authentizitätsindustrie betreut, kanalisiert und ausgenutzt wird.«

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Der Authentizitätsbegriff

Literaturwissenschaftler Antonius Weixler annimmt,6 kann ebenfalls in dieser Deutlichkeit nicht zugrunde gelegt werden. Schließlich gibt es ebenso Stimmen, die der omnipräsenten Forderung nach Authentizität kritisch gegenüberstehen oder dieses vermeintliche Ideal in bestimmten Bereichen nicht für erstrebenswert oder gar für schädlich halten. Der Theaterregisseur René Pollesch beispielsweise hält Bestrebungen, auf der Bühne Authentizität in der Darstellung zu erzielen, für grundfalsch und gebraucht ›authentisch‹ als Schimpfwort,7 und die Schriftstellerin Juli Zeh wünscht sich 2006 in einem polemischen Essay, Authentizität solle ›zur Hölle fahren‹.8 Dennoch wäre es verkürzt und voreilig, den Authentizitätsbegriff als inhaltsleere Worthülse abzutun und sich einer eingehenden wissenschaftlichen Betrachtung zu verschließen. Denn dies würde in keiner Weise der diskursprägenden Kraft Rechnung tragen, die dem Authentischen als Scharnierbegriff zukommt, der neben seiner Funktion als alltagssprachliches Modewort in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen von größerer Bedeutung ist und an dem sich eine ganze Reihe von kulturellen, sozialen und ästhetischen Fragen entfaltet: angefangen bei der Frage nach Fälschung und Original, nach dem Unterschied zwischen ›authentischem‹ Gegenstand und Reproduktion, welche die Kunstgeschichte ebenso umtreibt wie die Museologie, über die geschichtswissenschaftlich bedeutende Frage nach historischer Authentizität und deren Vermittlung, bis hin zur medienwissenschaftlich (aber auch kunsttheoretisch und theaterwissenschaftlich) interessanten Frage, welche Form der Medialität dazu geeignet ist, eine ›Authentizität in der Darstellung‹ herzustellen bzw. ob es überhaupt so etwas wie medial vermittelte Authentizität geben kann. Durch die Entwicklungen der voranschreitenden Digitalisierung sind all diese Fragen noch brisanter geworden: Die Unterscheidbarkeit zwischen Fälschung und Original steht mit den Manipulationsmöglichkeiten digitaler Technik einer bisher nicht dagewesenen Herausforderung gegenüber. In Zeiten der ›Ära Trump‹ und grassierender Verschwörungstheorien in den sozialen Netzwerken fällt es zunehmend schwerer, zwischen fake news und ›alternativen Fakten‹ auf der einen Seite und ›authentischen Informationen‹ auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die Vermittlung von historischer Authentizität kann durch die 6 Antonius Weixler: Authentisches erzählen – authentisches Erzählen. Über Authentizität als Zuschreibungsphänomen und Pakt. In: Ders. (Hg.): Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Berlin/Boston 2012, S. 1–32, hier S. 1. 7 Vgl. René Pollesch und Harald Schmidt im Gespräch mit Peter Kümmel: Geld? Nein, Weiber, Männer, Orgien! In: Die Zeit vom 30. 08. 2012, https://www.zeit.de/2012/36/Gespraech-Harald -Schmidt-Rene-Pollesch, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 8 Juli Zeh: Zur Hölle mit der Authentizität! In: Die Zeit vom 21. 09. 2006, http://www.zeit.de /2006/39/L-Literatur, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Auf Zehs Essay wird in Kap. 2.3 dieser Arbeit noch ausführlich eingegangen.

Der Authentizitätsbegriff

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Entwicklung der augmented reality unter völlig neuen Voraussetzungen gedacht werden. Darüber hinaus entwickelte die von der Digitalisierung geprägte Gegenwartskultur in den letzten Jahren eine ganze Reihe von neuen Möglichkeiten der subjektzentrierten Selbstpräsentation (mit sehr spezifischen Vorstellungen davon, wie medial vermittelte Authentizität auszusehen hat): angefangen beim Selfie bis hin zum Daily-Vlog im eigenen YouTube-Channel. Diese neuen Darstellungsformen sind gleichzeitig Ausdruck einer gewachsenen Sehnsucht. Die Entfremdungserfahrung des Subjekts in der Moderne erreicht für viele im Technisierungsgrad und im Täuschungspotential des digitalen Zeitalters ihren Höhepunkt. Entsprechend groß ist vielerorts das Verlangen nach dem ›Wahrhaften‹, ›Echten‹, ›Authentischen‹, sodass sich ›Authentizität‹ mit Erik Schilling als zentraler Sehnsuchtsbegriff der Gegenwart begreifen ließe.9 Die aus dieser Sehnsucht resultierende gewachsene Konjunktur des Authentizitätsbegriffs führt aber zwangsläufig zu einer größer werdenden semantischen Unschärfe. Durch die Transformation zum Sehnsuchts-, Leit- und Modewort wird in den einzelnen Kontexten kaum noch deutlich, was ›authentisch‹ eigentlich ist. »Was ›authentisch‹ ist, kann nicht geklärt werden.«10 Mit dieser These fasst Helmut Lethen in seinem 1996 erschienenen Aufsatz über Versionen des Authentischen so prägnant wie ernüchternd das Dilemma der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Authentizitätsbegriff zusammen. Jeder Versuch, dem Authentischen einen ontologischen Status zuzuweisen, scheint Gefahr zu laufen, sich mit den dahinterstehenden essentialistischen Überhöhungen gemein zu machen oder aber nur eine verkürzte Version dessen abzubilden, was der Begriff gegenwärtig bedeuten kann. Dementsprechend wäre auch der Versuch, über die Begriffsgeschichte an die ›eigentliche‹ Bedeutung des Authentischen gelangen zu wollen, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Ebenso gilt es allerdings zu »vermeiden, Authentizität als einen seit jeher relevanten Universalbegriff einzuführen« und auf diese Weise die kulturgeschichtliche Genese der Bedeutungsvielfalt zu ignorieren.11 Auch die Universalität des Authentizitätsbegriffs ist historisch gewachsen. Um seine Wirkmächtigkeit in den vielfältigen Diskursen der Gegenwart analysieren zu können, müssen zunächst die Konti-

9 In seinem populären Sachbuch über Authentizität konstatiert der Literaturwissenschaftler: »Authentizität spielt aktuell eine so große Rolle, dass sie für die Gegenwart als zentrale Sehnsucht zu beschreiben ist.« Erik Schilling: Authentizität. Karriere einer Sehnsucht. München 2020, S. 10. 10 Helmut Lethen: Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze. In: Hartmut Böhme/ Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek 1996, S. 205–231, hier S. 209. 11 Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg 2007, S. 9.

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Der Authentizitätsbegriff

nuitäten und Brüche herausgearbeitet werden, die den Begriff des Authentischen letztlich zu dem ubiquitären Proteus machten, der er heute ist. In der kulturwissenschaftlichen Forschung liegen bereits einige ausführliche Darstellungen der Begriffsgeschichte des Authentischen vor, auf die in diesem Teil der Arbeit aufgebaut werden kann.12 Es wird aus diesem Grund im Folgenden eine kurze Darstellung der begriffshistorischen Zusammenhänge erfolgen, die sich vor allem an den entscheidenden kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutungsverschiebungen orientiert, die den heutigen Gebrauch des Authentizitätsbegriffs maßgeblich beeinflusst haben. Im Zentrum der genealogischen Darstellung steht dabei die systematisch stark vereinfachende Unterscheidung zwischen Objekt- und Subjektauthentizität.13 Authentizität kann demnach sowohl Gegenständen (etwa Ausstellungsobjekten, Kunstwerken, aber auch Texten im editionsphilologischen Sinne) zugeschrieben werden als auch Subjekten (im Sinne eines ›authentischen Selbst‹ oder des ›authentischen Verhaltens‹ einer Person). Dabei sind Objekt- und Subjektauthentizität nicht nur systematisch, sondern auch historisch voneinander abgrenzbar. Während die Verwendungsgeschichte des referentiellen, objektbezogenen Authentizitätsbegriffs bis in die Antike zurückreicht, werden Subjekte erst seit dem 18. Jahrhundert als ›authentisch‹ bezeichnet. Bei dieser ideengeschichtlichen Akzentverschiebung in der Verwendungsweise handelt es sich aber keinesfalls um einen kompletten Bedeutungswandel: Die Nutzung des Begriffs im Sinne der Objektauthentizität hat sich trotz der zunehmenden Popularisierung von subjektauthentischen Implikationen bis in die heutige Zeit erhalten.14 Die im 18. Jahrhundert einsetzende Zentrierung des Subjekts (und seines authentischen Ausdrucks) wurde im 20. Jahrhundert von den ideengeschichtlichen Erosionen abgelöst, die sowohl an der referentiellen Authentizitätszuschreibung ›einzigartiger‹ Objekte als auch an der Konstitution eines ›authentischen Selbst‹ nachhaltige Zweifel anmeldeten. Die postmoderne Theoriebildung und die beginnende Digitalisierung haben diese Erosionen noch verstärkt, was zum einen die Zweifel an der Möglichkeit von Authentizität festigte, zum anderen aber auch das Authentische zum Sehnsuchtsort nach einem von diesen Erosionen unberührten Ideal machte und auf diese Weise die ubiquitäre Präsenz und Wirkmächtigkeit des Begriffs in der Gegenwartskultur beförderte. 12 Einschlägig ist hier vor allem die Monographie von Knaller: Ein Wort aus der Fremde sowie von der gleichen Autorin: Susanne Knaller: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs. In: Dies./Müller: Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, S. 17–35. 13 Vgl. Knaller: Das Wort aus der Fremde, S. 8; vgl. auch Achim Saupe: Authentizität. In: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. 10. 2012, http://docupedia.de/zg/Authentizit.C3.A4t_Version _2.0_Achim_Saupe?oldid=129381, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 14 Vgl. Markus Wiefarn: Authentifizierungen. Studien zu Formen der Text- und Selbstidentifikation. Würzburg 2010, S. 10f.

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Auf den folgenden Seiten soll diese Entwicklung entlang der entscheidenden begriffshistorischen und ideengeschichtlichen Wegmarker nachgezeichnet werden, um im Anschluss auf die spezifische Diskursmacht des Authentizitätsbegriffs in der Gegenwartskultur und die enorme Bedeutungszunahme, die er durch die Entwicklungen der Digitalisierung erfahren hat, einzugehen.

1.1

Von der Autorisierung zur Auratisierung: historische Perspektiven auf den Authentizitätsbegriff

Die Bedeutungsvielfalt des Authentizitätsbegriffs ist bereits in seiner altgriechischen Wortherkunft angelegt. Das griechische αυϑέντηϛ wird übersetzt als »Herr, Gewalthaber, jemand, der etwas mit eigener Hand, dann auch aus eigener Gewalt vollbringt, so auch Urheber«.15 Die adjektivische Verwendung αυϑεντικóς beschreibt für gewöhnlich die Originalität und Zuverlässigkeit von Schriften in Bezug auf deren Urheberschaft, »kann aber auch den Mörder bezeichnen, genauer den Selbst- und Verwandtenmörder, später den Herrn und Gebieter«.16 Es lässt sich bereits in der Etymologie des Wortes erkennen, dass das Authentische »in den Diskurs der Macht verwoben« war.17 In der mittelalterlichen Sprachpraxis hingen Authentizität und Autorität eng miteinander zusammen: »Bei den griechischen Kirchenvätern wird αυϑεντια zur Übersetzung von lateinisch ›auctoritas‹ […]; die latinisierte Form ›authenticus‹ erscheint dann auch als regelmäßiges Adjektiv zu ›auctoritas‹.«18 Die semantische Nähe des Authentischen zum Machtdiskurs war bis in die Neuzeit sowohl in kirchlichen als auch in weltlichen Angelegenheiten ein wesentliches Merkmal der Amtssprache. Während »im katholisch-theologischen Sprachgebrauch die Authentizität der Heiligen Schrift von der Kirche festgelegt wird (authentia auctoritatis)«,19 galt die ›authentische Interpretation‹ (authentica interpretatio) »bei Juristen [als] die Auslegung einer Rechtsnorm oder einer Verwaltungsvorschrift durch eine neue Rechtsnorm desselben Urhebers«.20 Wenn es also zu Gesetzestexten unterschiedliche, einander widersprechende Auslegungen gab, war es der Landesherr, der kraft seiner Autorität eine der Auslegungen zur ›authentischen‹ und somit 15 Kurt Röttgers/Reinhard Fabian: Authentisch. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Basel 1971, S. 691–692, hier S. 691. 16 Susanne Knaller/Harro Müller: Authentisch/Authentizität. In: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 7 (Supplemente). Stuttgart 2005, S. 40–65, hier S. 40. 17 Lethen: Versionen des Authentischen, S. 209. 18 Röttgers/Fabian: Authentisch, S. 691. 19 Ebd. 20 Lethen: Versionen des Authentischen, S. 210.

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gültigen Interpretation erklärte, wie Zedlers Universal-Lexikon aus dem Jahr 1732 bezeugt: Authentica interpretatio wird genennet, da weiter zu widersprechen, oder darinne zu critisiren, niemand erlaubt, sondern bei ihr vielmehr zu acquiesciren. […] Wenn der Verstand zweydeutig und obscur, in welchem Fall es dem Landes Herren allein zukömmt, daß er das Rätzel auflöse, und es ist ein Verbrechen der beleidigten Maiestät, wenn ein Unterthan oder sonst jemand sich dessen ohne dessen Auctorität unterfangen wolle.21

Anders als es die Rede von der ›Objektauthentizität‹ vermuten lässt, waren es also keine Eigenschaften des Materials oder Textmerkmale, die für jedermann ersichtlich die Authentizität eines Gegenstands oder Schriftstücks bezeugten. Vielmehr galt in vormodernen Zeiten etwas nur dann als authentisch, wenn es von einer entsprechenden Autorität qua Sprechakt (oder anderen Formen der Beglaubigung wie dem ›authentischen Siegel‹22) dazu erklärt wurde. In anderen Bereichen der Objektauthentizität wirkt dieser Autoritätsaspekt bis in die Gegenwart weiter, so zum Beispiel im Kontext der musealen Authentizität: Ein Museum, das für sich beansprucht, ›authentische Dinge‹ auszustellen, erfüllt gleichzeitig auch die Funktion als maßgebliche Autorität, welche die ausgestellten Gegenstände für authentisch erklärt.23 In diesem Sinne funktioniert die Zuschreibung von Objektauthentizität gegenüber Ausstellungsgegenständen bis heute analog zur Beglaubigungspraxis durch weltliche oder kirchliche Autoritäten in Mittelalter und Früher Neuzeit: »Dinge werden authentisch gemacht und, solange die Autorität unbestritten ist, von einem Publikum, das diese Autorität akzeptiert, auch für authentisch gehalten.«24 Auch für den Kunstdiskurs, so Susanne Knaller, bleibt die »Fusion von authentisch und autoritär […] innerhalb der Zuschreibungs- und Beglaubigungsproblematik relevant«.25 Hier wird Authentizität »zu einer Frage des kunstwissenschaftlichen Sachverstandes, naturwissenschaftlich gestützter Untersuchungsmethoden und des Kunstmarktes«.26 In diesem Zusammenhang erhält der Begriff auch den Status eines ästhetischen und letztlich auch eines moralischen Werts mit normativem Potential.27 21 Johann Heinrich Zedler: Grosses Universal-Lexikon. Bd. 2, 1732. Fotomechanischer Nachdruck. Graz 1993, Spalte 2265. 22 Vgl. Lethen: Versionen des Authentischen, S. 209f. 23 Vgl. ebd., S. 227f. 24 Ebd., S. 228. Dabei ist natürlich zu bedenken, dass die Autorisierung gerade im musealen Kontext ein allgemein anerkanntes Expertentum voraussetzt, mithin also eine Begründung der Autorität mitgeliefert wird, die eine andere Qualität aufweist als das Gottesgnadentum feudaler Landesfürsten. 25 Knaller: Ein Wort aus der Fremde, S. 13. 26 Ebd., S. 13f. 27 Vgl. ebd., S. 14.

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Auch wenn sich der objektauthentische Wortgebrauch bis hinein in die Gegenwart erhalten hat (wir sprechen immer noch von authentischen Urkunden oder Museumsstücken), wird ›authentisch‹ in seiner gegenwärtig populärsten Gebrauchsform vor allem subjektbezogen genutzt. Das Bedeutungsspektrum der Subjektauthentizität umfasst dabei vor allem positiv konnotierte Charaktereigenschaften wie Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit. Laut Knaller ist die Basis von Subjektauthentizität […] die Vorstellung eines empirischen, gesellschaftlichen, psychologischen Subjekts, das Wahrhaftigkeit auszeichnet. In seiner Außendarstellung und kommunikativen Haltung weist der Einzelne als authentisches Subjekt deshalb eine Übereinstimmung von Form und Selbst auf: D. h. mediale Selbstdarstellung und Kommunikation entsprechen idealerweise den biografischen, psychologischen und physischen Besonderheiten.28

Diese Verwendung des Authentizitätsbegriffs bildet sich allerdings erst im 20. Jahrhundert als Paradigma heraus.29 Dennoch werden die Ursprünge des subjektauthentischen Diskurses häufig bereits im 18. Jahrhundert verortet, meist verknüpft mit dem Werk von Jean-Jacques Rousseau, der vielen als der Gründungsvater der Subjektauthentizität avant la lettre gilt.30 Der Grund für diese Zuordnung liegt zum einen in der herausgehobenen Stellung, die dem Ursprünglichen und Natürlichen in der Rousseau’schen Gesellschaftskritik zukommt, zum anderen in der Innerlichkeit und Aufrichtigkeit, die in seinen autobiographischen Texten propagiert werden: »Bei Rousseau verbindet sich die Frage nach dem inneren, dem wahren Ich (vrai moi) mit der Frage nach dem ursprünglichen, dem natürlichen Menschen (homme naturel) und nach der wahren, der politisch legitimen Gesellschaft.«31 Die Subjekt-Zentrierung des 18. Jahrhunderts stellt auch insofern eine Zäsur dar, als dass die bisher anerkannten Beglaubigungsinstanzen – die Kirche und die weltliche Herrschaft – an Bedeutung verlieren, wenn es um das ›Wahre‹ und ›Echte‹ geht. Egodokumente wie Tagebücher, Briefe und Autobiographien und deren Simulation im Briefroman und in der Herausgeberfiktion haben in dieser Zeit Konjunktur und ihr Status als aufrichtiger und wahrhaftiger Selbstausdruck ist nicht von einem kirchlichen oder landesherrschaftlichen Siegel abhängig, sondern von der Beglaubigung des Lesers:

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Ebd., S. 22. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 147. Birgit Nübel: »Alles sagen« – Autobiographik zwischen Authentizität und Fiktionalisierung. In: Wolfgang Funk/Lucia Krämer (Hg.): Fiktionen von Wirklichkeit. Authentizität zwischen Materialität und Konstruktion. Bielefeld 2011, S. 263–287, hier S. 277.

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Die beglaubigende wie autorisierende Instanz verschiebt sich dabei zum einen von der Wahrheit Gottes (und der diesen auf Erden vertretenden Institutionen) zu der Wahrhaftigkeit des Textes und zum anderen vom Postulat mimetischer Referenz des Dargestellten (Objektauthentizität) zur Aufrichtigkeit des Autobiographen (Subjektauthentizität). Das Kriterium der Subjektauthentizität verweist jedoch anders als die programmatische Autonomie des Subjekts und der von ihm geschaffenen ›Werke‹ nicht auf sich selbst, sondern bedarf des Lesers, der die Stelle des Jüngsten Gerichtes substituiert, das autobiographische Ich freispricht und die Textstrategie der ›Aufrichtigkeit‹ (Authentizität) beglaubigt.32

Die Aufrichtigkeit des schreibenden Subjekts, die sich bei Rousseau im Anspruch äußert, alles zu sagen (tout dire),33 bedarf also auch eine mit der nötigen Autorität versehene Beglaubigungsinstanz, nur dass die Instanz in diesem Fall nicht von einer einzelnen Institution verkörpert wird, sondern aufgefächert wird auf die kollektive Autorität des lesenden Publikums. Susanne Knaller und Harro Müller können in dieser Form des subjektzentrierten Wahrheits- und Aufrichtigkeitspostulats zwar durchaus »den Vorentwurf eines individualauthentischen Konzepts erkennen«, betonen aber, dass die »›programmatische Individualität‹ bei Rousseau noch untrennbar mit der Exemplarität des Individuellen verbunden« sei und daher »ein Entwurf von radikaler Individualauthentizität nicht zu erkennen« wäre.34 Allgemein steht Knaller der Gleichsetzung des modernen Authentizitätsbegriffs mit anderen, vormodernen Leitbegriffen, die jeweils ihre eigene Diskursgeschichte aufweisen, skeptisch gegenüber: Die konstruierte Synonymität zwischen authentisch als wahrhaftig, unverfälscht, eigentlich, unmittelbar, natürlich, ursprünglich, einzigartig und den genannten Begriffen der Aufklärung und Empfindsamkeit bedeutet keinesfalls eine konzeptuelle Identität. Die Feststellung, Authentizität würde in der ›Unmittelbarkeit‹ des Sensualismus, der ›Natürlichkeit‹ der Empfindsamkeit, der ›Ursprünglichkeit‹ der Romantik, im ›Wesen‹ des deutschen Idealismus, im ›Leben‹ der Lebensphilosophie einen geheimen Leitstern des kritischen Diskurses darstellen, transferiert aktuelle semantische Synonyme von Authentizität auf die Begriffe des 18. und 19. Jh., ohne deren diskursbedingte Spezifizität zu reflektieren.35

Statt von einer linearen ideengeschichtlichen Herausbildung des Authentizitätsbegriffs aus anders lautenden Vorläuferbegriffen auszugehen, scheint es sinnvoller, die Leitbegriffe früherer Epochen als diskursgeschichtlich unabhängig zu betrachten, gleichsam aber die semantische Nähe zum Authentizitätsbegriff und die Analogizität in Bezug auf die Wirkungsmacht als Schlüsselwort 32 33 34 35

Ebd., S. 265. Vgl. ebd., S. 274f. Knaller/Müller: Authentisch/Authentizität, S. 49. Knaller: Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs, S. 31.

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einer bestimmten geistesgeschichtlichen Epoche nicht zu ignorieren. Authentizität – darin ist Knaller und Müller zuzustimmen – ist aber kein epochenunabhängiger Begriff, sondern in vielfacher Hinsicht modernespezifisch. Als der Authentizitätsbegriff im 20. Jahrhundert zu einem »Hauptwort der Moderne«36 wird, sind die durch ihn ausgedrückten Ideale allerdings bereits in die Krise geraten. Das Konzept der klassischen (Objekt-)Authentizität der Kunstwerke und Gegenstände gerät durch neue, technisierte Reproduktionsverfahren und massenhafte Fließbandproduktion ins Wanken. Und auch das Ideal der Subjektauthentizität wird, noch ehe diese Verwendungsweise des Begriffs sich im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert hat, bereits von geistesgeschichtlichen Zäsuren infrage gestellt: von der Psychoanalyse, die dem ›Ich‹ bescheinigt, nicht Herr im eigenen Haus zu sein, bis zur Sprachkrise, welche die Möglichkeit in Zweifel zieht, dass das Subjekt mit den Mitteln der Sprache zu einem authentischen Selbstausdruck gelangen kann. Knaller sieht den modernen Authentizitätsbegriff gerade vor diesem Hintergrund der Skepsis gegenüber der Einheitlichkeit des Subjekts als neu entstehenden ästhetischen Gegenbegriff, der sich die Re-Etablierung der in die Krise geratenen Werte zum Ziel gesetzt hat: Authentizität basiert auf dem Infragestellen von illusionsverweisenden Begründungsprogrammen, ist also ein Begriff, der sich keinesfalls aus Paradigmen höherer Wahrheitsbegriffe entwickelt, sondern aus deren Verlust sich als alternatives Modell anbietet. Nur so lässt sich erklären, dass sich der Authentizitätsbegriff im 20. Jahrhundert zum Ersatz moralorientierter Subjektivität herausbildet, zur Abwehr von Entfremdung und Dekonstruktion eingesetzt und als neuer ästhetischer Wahrheitsbegriff stark gemacht wird.37

Wahrheitsbegriffe zirkulierten aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst noch andere. Dominant waren hier vor allem die Leitbegriffe der Existenzphilosophie: Redlichkeit, Wahrhaftigkeit, Echtheit und Eigentlichkeit. Den Begriff der Authentizität verwenden die Vertreter*innen der Existenzphilosophie kaum bis gar nicht: Vermutlich ist für sie der Authentizitätsbegriff mit seiner Betonung der Urheberkonzeption zu sehr mit herkömmlicher substantieller Metaphysik verknüpft und schreibt traditionelle Subjektpositionen mit ihrem Anspruch auf Selbstermächtigung und Selbstbesitz fort, die von der Existenzphilosophie auf unterschiedliche Weise infrage gestellt worden sind.38

36 Vgl. Alessandro Ferrara: Reflective Authenticity. Rethinking the Project of Modernity. London/New York 1998, S. 148f. 37 Knaller: Ein Wort aus der Fremde, S. 148. 38 Knaller/Müller: Authentisch/Authentizität, S. 52f.

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Im wörtlichen Gebrauch findet sich ›Authentizität‹ bei Walter Benjamin in dessen Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, der sich im Kontext der Krise der Objektauthentizität durch moderne Reproduktionstechniken verorten lässt. »Der einzigartige Wert des ›echten‹ Kunstwerks«, so Benjamin, »hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte.«39 Die Aura eines Kunstwerks, die Benjamin als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, definiert, stelle deshalb »nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung«.40 Mit der Säkularisierung sei jedoch der Kultwert des Kunstwerks zunehmend in den Hintergrund geraten zugunsten einer anderen Form von Einmaligkeit – der Authentizität: In dem Masse, in dem der Kultwert des Bildes sich säkularisiert, werden die Vorstellungen vom Substrat seiner Einmaligkeit unbestimmter. Immer mehr wird die Einmaligkeit der im Kultbilde waltenden Erscheinung von der empirischen Einmaligkeit des Bildners oder seiner bildenden Leistung in der Vorstellung des Aufnehmenden verdrängt. Freilich niemals ganz ohne Rest; der Begriff der Echtheit hört niemals auf, über den der authentischen Zuschreibung hinauszutendieren. […] Unbeschadet dessen bleibt die Funktion des Begriffs des Authentischen in der Kunstbetrachtung eindeutig: mit der Säkularisierung der Kunst tritt die Authentizität an die Stelle des Kultwerts.41

Authentizität ist also für Benjamin ein Begriff, der eingeschränkter ist als der Begriff der Echtheit; ein Begriff, der nicht auf die Einmaligkeit der Erscheinung abzielt, sondern auf die »empirische Einmaligkeit des Bildners oder seiner bildenden Leistung«. Mit der Ablösung des Kultwerts durch den Wert der Authentizität wird – da Benjamin ja in der Aura die Formulierung des Kultwerts sieht – auch die Aura eines Kunstwerks verändert. Das säkulare Kunstwerk, so könnte man Benjamins Überlegungen zuspitzen, umgibt nicht mehr eine Aura des Kults, sondern eine Aura des Authentischen. Während der Authentizitätsbegriff bei Benjamin nur am Rande vorkommt, rückt Theodor W. Adorno ihn in das Zentrum seiner ästhetischen Theorie.42 Dabei wendet sich dieser nicht nur gegen den Jargon der Eigentlichkeit in der Existenzphilosophie und dessen Hauptvertreter Martin Heidegger,43 sondern 39 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Fünfte Fassung]. In: Ders.: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 16, hg. von Burkhardt Lindner. Berlin 2012, S. 207–250, hier S. 216f. 40 Ebd., S. 216. 41 Ebd., S. 217. 42 Zum Authentizitätsbegriff in der ästhetischen Theorie Adornos vgl. ausführlich Harro Müller: Theodor W. Adornos Theorie des authentischen Kunstwerks. Rekonstruktion und Diskussion des Authentizitätsbegriffs. In: Knaller/Ders. (Hg.): Authentizität, S. 55–67. 43 Vgl. Theodor W. Adorno: Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. Frankfurt am Main 1964.

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kritisiert auch den Authentizitätsbegriff Benjamins und dessen »einfache Antithese zwischen dem auratischen und dem massenproduzierten Werk«.44 In seinem Essay Wörter aus der Fremde hat Adorno seinen eigenen Gebrauch des Authentizitätsbegriffs reflektiert. Hintergrund dieses Essays waren Protestbriefe von Hörer*innen, die sich darüber beschwerten, dass Adorno in seinen Radiobeiträgen einen übermäßigen Gebrauch von Fremdwörtern mache. Dieser nahm die Beschwerden zum Anlass, um über einige der von ihm verwendeten Wörter und deren Fremdartigkeit zu reflektieren:45 Ich habe in Zusammenhang mit Proust, und auch sonst zuweilen, von ›Authentizität‹ gesprochen. […] Nicht nur ist das Wort ungebräuchlich; die Bedeutung, die es in dem Zusammenhang annimmt, in die ich es zog, ist keineswegs durchaus sichergestellt. Es soll der Charakter von Werken sein, der ihnen ein objektiv Verpflichtendes, über die Zufälligkeit des bloß subjektiven Ausdrucks Hinausreichendes, zugleich auch gesellschaftlich Verbürgtes verleiht.46

Adorno versteht Authentizität demnach als einen »Vermittlungsbegriff zwischen Empirischem, Form und Transzendenz«.47 Er entfernt sich damit vom Begriffsverständnis einer reinen Referenzauthentizität, die nur auf der Zuordnung zu einem Urheber und der autoritativen Beglaubigung dieser Zuordnung beruht, und entwickelt ›Authentizität‹ zu einem genuin ästhetischen Begriff, der auch die Grenze zwischen Kunst und Nichtkunst markiert: Der Begriff der Authentizität wird dabei in einem sehr weiten und grundlegenden Sinne als das entscheidende Kriterium einer Kunst verstanden, die darin echt und unverfälscht ist, daß sie sich von Nichtkunst unterscheidet. Es geht demnach im folgenden nicht um das Problem der Zuschreibung eines Werks oder Stils an einen Autor oder um Kunstwerke, die sich durch gesteigerte Lebensnähe, dokumentarischen Gehalt oder eine biografische Grundierung auszeichnen. Die Formel ›Authentizität des Ästhetischen‹ meint hier vielmehr den ästhetischen Geltungsanspruch selbst.48

Nach dem sehr weit gefassten Begriffsverständnis Adornos ist Authentizität ein ästhetischer Wert, der zur Beurteilung von Kunst ebenso dient wie zur Abgren44 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1970, S. 89. In Zusammenhang mit Adornos Ablehnung von Benjamins antithetischer Struktur ist auch bemerkenswert, dass Adorno – bis heute eher ungebräuchlich – auch den Komparativ und den Superlativ von ›authentisch‹ verwendet und damit den auch bei ihm normativen Begriff zusätzlich als steigerungsfähigen Wertbegriff installiert. Vgl. Müller: Theodor W. Adornos Theorie des authentischen Kunstwerks, S. 60f. 45 Vgl. ebd., S. 59. Dass Adorno sich bemüßigt fühlt, sich für die Verwendung des entlegenen Fremdworts ›Authentizität‹ zu rechtfertigen, zeigt, wie spät der Begriff seinen heute nicht mehr wegzudenkenden Platz in der Alltagssprache fand. 46 Adorno: Wörter aus der Fremde, S. 127. 47 Knaller: Ein Wort aus der Fremde, S. 19. 48 Eberhard Ostermann: Die Authentizität des Ästhetischen. Studien zur ästhetischen Transformation der Rhetorik. München 2002, S. 11.

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zung gegenüber kulturellen Erscheinungen, die der Philosoph nicht zur Sphäre der Kunst rechnet.49 ›Authentisch‹ wird dann auch in den nächsten Jahrzehnten mehr und mehr als Zuschreibungsmerkmal für künstlerische Werke gebraucht – nicht nur, um deren beglaubigte Herkunft und Originalität zum Ausdruck zu bringen, sondern auch als Kennzeichnung für ästhetische Qualität. Gleichzeitig gewinnt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die moralische Dimension des Authentizitätsbegriffs an Bedeutung – und dies nicht nur im Bereich der Fälschung von Kunstwerken,50 sondern auch auf dem zunehmend ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins rückenden Gebiet der Subjektauthentizität. Außerhalb des deutschsprachigen Raums sind es Charles Taylor und Alessandro Ferrara, die über Subjektauthentizität reflektieren und dabei deren ethische Dimension betonen: Während Taylor für Authentizität als Lebensform plädiert,51 entwickelt der italienische Soziologe Ferrara eine auf Rousseau aufbauende Ethik der Authentizität.52 Authentisch zu sein oder zu werden, sich authentisch zu verhalten oder einen authentischen Selbstausdruck in der Kunst zu finden, werden zu Forderungen, die einen immer stärkeren Einfluss auch auf die Praxis der Kunstproduktion erlangen. Ein Beispiel für diese Verknüpfung von ästhetischem und moralischem Anspruch an Kunst ist die unter dem Etikett der ›Neuen Subjektivität‹ zusammengefasste Literatur der 1970er Jahre. Vertreter*innen dieser Strömung (unter anderem Bernward Vesper, Max Frisch und Peter Handke) propagieren eine auf Innerlichkeit bedachte Literatur, die ›authentische Selbsterfahrungen‹ oft in der subjektzentrierten Form des Tagebuchs oder der Autobiographie artikulieren. Christa Wolf, eine zentrale Protagonistin der ›Neuen Subjektivität‹, spricht in diesem Zusammenhang von ›subjektiver Authentizität‹. »Damit«, so Knaller, »wendet sie sich nicht nur politikenttäuscht gegen den sozialistischen Realismus, sondern auch gegen neuere experimentelle Formen des Nouveau Roman etwa.«53 Welche Bedeutung dem Authentizitätsbegriff im literarischen Wertekosmos Wolfs zukommt, wird in einem Brief deutlich, den sie 1975 an Erica und Gian Pedretti schreibt. Darin lobt sie überschwänglich Erica Pedrettis Exposé zum Roman Veränderung, der 1977 im Suhrkamp Verlag erschien: »Ich habe das starke Gefühl von Authentizität: So und nicht anders müssen Sie vorgehen. Es ist 49 Eine klare Abgrenzung der ›authentischen Kunst‹ zu den in den Augen des Kulturkritikers Adorno gering geschätzten Phänomenen der Populärkultur unternimmt er jedoch nicht. Vgl. Müller: Theodor W. Adornos Theorie des authentischen Kunstwerks, S. 61. 50 Zu Fälschungen, Fakes und ihrer Rolle im Authentizitätsdiskurs vgl. den entsprechenden Abschnitt in Kap. 2.3 dieser Arbeit. 51 Vgl. Charles Taylor: The Ethics of Authenticity. Cambridge/London 1992. 52 Vgl. Alessandro Ferrara: Modernity and Authenticity. Albany 1993. 53 Knaller: Ein Wort aus der Fremde, S. 15.

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eigentlich das Wichtigste, das ich bei jedem Autor heute suche.«54 Das Authentische, das für Wolf der zentrale Maßstab ihrer literarischen Wertung ist, das »Wichtigste«, das sie »bei jedem Autor«55 sucht, wird in diesem Brief von ihr nicht näher erläutert oder anhand von Beispielen veranschaulicht. Vielmehr ist es ein »starke[s] Gefühl«, eine subjektiv-emotionale Wirkungsästhetik, auf die Wolf sich bezieht, jedoch nicht ohne hieraus einen produktionsästhetischen Imperativ abzuleiten (»So und nicht anders müssen Sie vorgehen.«). An anderer Stelle führt Wolf ihr Konzept einer subjektiven Authentizität etwas präziser aus, das letztlich aber immer noch vage und nicht ganz ohne Widersprüche bleibt. So betont sie im Gespräch mit Hans Kaufmann: »Übrigens: Ich rede nicht von ›Wahrhaftigkeit‹, wenn ich ›Authentizität‹ sage – das heißt, ich moralisiere nicht.«56 Ganz ohne moralische Implikationen verwendet die Schriftstellerin den Authentizitätsbegriff hingegen offenbar auch nicht, denn nur zwei Seiten zuvor bekennt sie mit Bezug auf Autor*innen, die Distanz zu ihren Gegenständen bewahren, daß in jener Art zu schreiben ein Element von Unredlichkeit mir aufstieß und mich zunehmend störte: die fatale Möglichkeit des Autors eben, sich hinter seinem ›Material‹, seinem ›Thema‹, ›Stoff‹, ›Werk‹ zu verschanzen; ein Objekt aus ihm – dem Werk – zu machen, mit dem er nach Belieben umspringen kann […]; in das soundso viele Arbeitsstunden eingegangen sind, das technisch reproduzierbar und dann als Ware verkäuflich wird.57

Wolf bringt hier die Antagonisten der alten Objektauthentizität – technische Reproduzierbarkeit und Warencharakter – mit ins Spiel und verknüpft sie mit der »Unredlichkeit«, die sie in der »fatalen Möglichkeit« sieht, dass Autor*innen einen literarischen Stoff als ein von sich selbst abgetrenntes Arbeitsmaterial sehen und nicht als Ausdruck der eigenen Innerlichkeit und Individualität. Entgegen Wolfs Beteuerung, sie moralisiere nicht, liegt hier ganz eindeutig der moralische Anspruch der ›subjektiven Authentizität‹ zugrunde. Der Authentizitätsbegriff fungiert hier als ästhetisch-moralischer Doppelwert. Mit ihm wird die künstlerische Qualität eines Werks herausgehoben und gleichzeitig mit moralisch grundierten Attributen wie ›aufrichtig‹ oder ›ehrlich‹ versehen. 54 Christa Wolf: An Erica und Gian Pedretti, La Neuveville/Schweiz, 5. 12. 1975. In: Dies.: »Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten«. Briefe 1952–2011, hg. von Sabine Wolf. Berlin 2016, S. 266–267, hier S. 267. 55 Dass Wolf die Authentizität beim Autor sucht und nicht in dessen Werk, mag der metonymischen Verwendung des Worts ›Autor‹ geschuldet sein, lässt aber dennoch die subjektzentrierte Dimension des Authentizitätsbegriffs erahnen. 56 Christa Wolf: Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann. In: Dies.: Werke, Bd. 4: Essays/Gespräche/Reden/Briefe 1959–1974, hg. von Sonja Hilzinger. München 1999, S. 401– 437, hier S. 410. 57 Ebd., S. 408.

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In dieser doppelten Funktion als ästhetischer Wert und moralischer Imperativ ist der Begriff der Authentizität bis zur Jahrtausendwende (und darüber hinaus) in zahlreiche andere Lebensbereiche vorgedrungen. Dabei geht die steigende Konjunktur des Begriffs einher mit einem steigenden Krisenbewusstsein bezüglich ›authentischer‹ Qualitäten. Die Skepsis der klassischen Moderne gegenüber der Einheitlichkeit des Subjekts, der Unabhängigkeit von Echtheitszuschreibungen und der objektiven (oder zumindest intersubjektiven) Gültigkeit von Wahrheitsvorstellungen wurde im Zuge der Postmoderne (vor allem durch die poststrukturalistische Theoriebildung) noch deutlich verstärkt. Der Krisenbegriff ›Authentizität‹ wächst mit der Ausweitung der Krise. Das führt dazu, dass »[d]ie gegenwärtige Konjunktur des Authentizitäts-Begriffes«, wie Antonius Weixler schreibt, »auch als Reaktion auf die Postmoderne und sogar als ein Anzeichen für ihr Ende gedeutet« wird.58 Während andere vor diesem Hintergrund von einer »Renaissance der Authentizität« sprechen,59 bezweifelt Weixler selbst allerdings, dass sich aufgrund der Konjunktur des Begriffs auf einen Epochenwechsel schließen lässt.60 Stattdessen geht der Literaturwissenschaftler davon aus, »dass wir es mit unterschiedlichen Authentizitätsbegriffen zu tun haben«61 und schlägt in diesem Zuge eine diachron angelegte Dreiteilung des Begriffsverständnisses vor: »Zusammenfassend sind die Verfahren der Vormoderne folglich als referentielle Authentizität der Zuweisung, die der Moderne als relationale Authentizität der ›Erschreibung‹ und die der Postmoderne als relationale Authentizität der Zuschreibung zu bezeichnen.«62 Diese Begriffsaufspaltung ist allerdings auf mehreren Ebenen problematisch. Zum einen bleibt die von Weixler getroffene Unterscheidung zwischen »Zuweisung«, »Erschreibung« und »Zuschreibung« unscharf. Zwar lässt sich (wie im Vorigen bereits deutlich wurde) der vormoderne, auf Referentialisierbarkeit beruhende Authentizitätsbegriff (Objektauthentizität) von einem modernen Authentizitätsbegriff unterscheiden; inwiefern es aber einen qualitativen Unterschied macht, ob jemandem oder etwas Authentizität »zugewiesen« oder »zugeschrieben« wird, geht aus Weixlers Ausführungen nicht hervor. Die Verwendung des Begriffs »Erschreibung« wiederum, der laut Weixler das Konzept bezeichnen soll, »in dem zwar die Verbindung zwischen Signifikat und Signifikant bereits als mediale Relation anerkannt wird, diese Relation […] jedoch noch unproblematisch herzustellen, d. h. zu ›erschreiben‹ ist«,63 legt eine rein pro58 Weixler: Authentisches erzählen – authentisches Erzählen, S. 7. 59 Vgl. Michael Rössner/Heidemarie Uhl: Renaissance der Authentizität? Über die neue Sehnsucht nach dem Ursprünglichen. Bielefeld 2012. 60 Vgl. Weixler: Authentisches erzählen – authentisches Erzählen, S. 8. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd.

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duktionsästhetische Lesart des Authentizitätsphänomens nahe, die verkennt, dass auch in der Moderne Authentizität als Zuschreibungsphänomen zu verstehen ist. Zudem spricht Weixler in seiner Darstellung des postmodernen Authentizitätsbegriffs – dem er die Fähigkeit zugesteht, die ersten beiden Konzepte zu hinterfragen und auf dieser Basis eine Art aufgeklärte Zuschreibung von Authentizität vorzunehmen – dem Begriff in seiner gegenwärtigen Verwendung einen Reflexionsgehalt zu, der sich angesichts der affirmativen Zuschreibungspraxis im allgemeinen Sprachgebrauch (z. B. in der Werbesprache, aber z. T. auch in der Literaturkritik) kaum halten lässt. Überdies verkennt Weixlers Begriffsverständnis die Kontinuitäten, die den Authentizitätsbegriff trotz seines weiten Bedeutungsspektrums zu einem Vehikel für Idealvorstellungen und Sehnsüchte gemacht haben und die dazu geführt haben, dass dieses Bedeutungsspektrum im Laufe der letzten Jahrzehnte zwar immer weiter ausgedehnt wurde, sich aber qualitativ nicht grundlegend geändert hat. Viel mehr noch als durch die Auswirkungen der Postmoderne wurden die jüngsten Entwicklungen der Begriffsgeschichte des Authentischen von den Folgen der Digitalisierung geprägt. Während von den epochalen ›Krisen‹ der Moderne und der Postmoderne nur ein kleiner, meist akademisch gebildeter Teil der Gesellschaft überhaupt Notiz nahm, handelt es sich bei den technischen und sozialen Entwicklungen, die unter dem Schlagwort ›digitale Revolution‹ zusammengefasst werden, tatsächlich um eine Umwälzung, die das Alltagsleben aller Gesellschaftsschichten auf verschiedene Weise verändert hat. Vor dem Hintergrund des Web 2.0 geraten Konzepte von Identität, Urheberschaft und Originalität ins Wanken und werden gleichzeitig neu verhandelt. Dies erklärt auch, weshalb gerade in den sozialen Medien das Zauberwort ›authentisch‹ – sowohl im Sinne der Objekt- bzw. Referenzauthentizität als auch der Subjektauthentizität – eine enorme Konjunktur aufweist: Fotos auf Instagram werden als Beglaubigung authentischer Erlebnisse verbreitet, YouTube-Vlogs gelten als authentischer Selbstausdruck von Spontanität und Individualität, während sogenannte Fake-Profile als moralisch verwerfliche, weil inauthentische Konstruktion von Scheinidentitäten wahrgenommen werden. Es ist der vorläufige Höhepunkt der wechselhaften Begriffsgeschichte, dass die Zuschreibung von Authentizität sich gerade dort höchster Beliebtheit erfreut, wo die dahinter liegenden Konzepte als massiv beschädigt gelten. Der (vor allem um die vielfachen Implikationen der Subjektauthentizität) erweiterte Authentizitätsbegriff zeigt sich dynamischer und offener und wird auch auf Personen, Objekte und Sachverhalte angewendet, die sich früheren Vorstellungen von Authentizität entzogen haben. Unter Rückgriff auf Benjamins Aura-Konzept ließe sich deshalb argumentieren, dass auch in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit – und damit nach der Zertrümmerung der Aura – eine neue Aura des Authentischen entsteht. Diese

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Der Authentizitätsbegriff

gründet sich freilich auf eine angenommene Authentizität, die in ihrem Verständnis weiter gefasst ist als die »authentische Zuschreibung« bei Benjamin, die immer hinter dem »Begriff der Echtheit« zurückbleibt.64 Der erweiterte Authentizitätsbegriff weist vielmehr über diesen hinaus und bildet einen säkularisierten Kultwert aus, der die Einmaligkeit im Reproduzierten und das Ursprüngliche im Konstruierten feiert. Benjamins Definition der Aura als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«,65 greift hier allerdings nur bedingt bzw. fast nur in Umkehrung. Denn beim erweiterten Authentizitätsbegriff – insbesondere bei der Subjektauthentizität – geht es eher um die glaubhafte Inszenierung einer Nähe, so fern (d. h. so künstlich, reproduziert, konstruiert) sie sein mag. Die Aura des Authentischen, so lässt sich mit Blick auf die Verwendung des erweiterten Authentizitätsbegriffs in den digitalen Medien sagen, sie stirbt nicht mit der technischen Reproduzierbarkeit, sie beginnt dort erst zu wachsen. Da die Verwendung des Authentizitätsbegriffs in der Gegenwartskultur und vor allem in der digitalen Medienpraxis einen entscheidenden Einfluss auch auf die Anwendung des Begriffs auf literarische Phänomene hat, soll im Folgenden zunächst näher auf diesen Aspekt eingegangen werden, um dann im zweiten Teil der Arbeit das Verhältnis von Authentizität und Literatur zu beleuchten.

1.2

Authentizität 2.0: Entwicklungen in der digitalen Gegenwart

Die Erschütterung der Objekt- bzw. Referenzauthentizität, die Benjamin gerade in seiner ästhetischen Dimension bereits in den 1930er Jahren beobachtete – damals vor allem in Hinblick auf die Reproduktionstechniken des Films und der Fotografie – hat durch die Digitalisierung eine neue Qualität erreicht. Vor dem Hintergrund, dass sich jede Darstellungsform, sei sie nun bildlich, lautlich oder schriftbasiert, auf einen binären Code herunterbrechen lässt, der entschlüsselbar und beliebig reproduzierbar ist, erscheint die Frage nach Echtheit und Originalität in einem neuen Licht: Ein neues digitales Alphabet gilt heute für Bilder, Worte und Klänge gleichermaßen. Die Pixelkonfigurationen der errechneten Bilder kennen, außer technischen Standards, prinzipiell keine Grenze der Gestaltwerdung und Bildmanipulation. Das Vermögen der Mimesis erlischt in den Rechnungen hochauflösender digitaler Rastergraphiken, deren einziges Element der Punkt ist. […] Man kann hier nicht mehr von Abbildung sprechen, weil jedes Pixel auf dem Bildschirm einzeln berechnet und manipulierbar wird.66 64 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 217. 65 Ebd., S. 216. 66 Norbert Bolz: Der Kult des Authentischen im Zeitalter der Fälschung. In: Anne-Kathrin Reulecke (Hg.): Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten. Frankfurt am Main 2006, S. 406–417, hier S. 408.

Authentizität 2.0: Entwicklungen in der digitalen Gegenwart

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Während Nachahmung und Fälschung von ursprünglich analogen Bildern oder Dokumenten durch die Möglichkeiten der Digitalisierung kaum noch Grenzen gesetzt sind, verschwimmt die Unterscheidung zwischen Original und Reproduktion vollends, wenn es um genuin digitale Artefakte geht. Besonders deutlich wird dies, wenn es um Urkunden geht: Wurde früher den Absolvent*innen einer Hochschule ein Diplom überreicht, war dies das einzige Exemplar, dem der Status des Originals zuerkannt wurde. Weitere Exemplare mussten von den zuständigen Autoritäten beglaubigt, also für authentisch befunden werden. Mittlerweile werden Hochschul-Zeugnisse und andere Urkunden in der Regel zunächst in digitaler Form angelegt. Von diesem immateriellen Dokument lassen sich beliebig viele Kopien oder Originale anfertigen – die Unterscheidung verliert hier tatsächlich ihren semantischen Gehalt.67 Die Veränderungen des Originalitätskonzepts in Zeiten der Digitalisierung betreffen folgerichtig auch das Konzept der Urheberschaft: In einer digitalisierten Gesellschaft, in der es medial wesentlich einfacher ist als in der Gutenberg-Galaxis, identische Kopien von Werken zu verbreiten, ist es jedoch nur eingeschränkt möglich, die unautorisierte Verbreitung wie auch die kreative Nachahmung künstlerischer Werke zu regulieren.68

Der Literaturwissenschaftler Thomas Ernst hat sich mit dem Stellenwert geistigen Eigentums im digitalen Wandel beschäftigt und merkt an, dass die klassische Vorstellung von Urheberschaft nicht nur durch neue Möglichkeiten von Fälschung und Kopie tangiert werden, sondern dass zunehmend auch »die kreativen Nachnutzungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten in den Fokus [rücken], denn viele Nutzer haben ein großes Interesse daran, die Dateien von literarischen, filmischen oder musikalischen Werken zu bearbeiten und ihre modifizierten Versionen wieder zu veröffentlichen«.69 Diese Form der kreativen Nachnutzung

67 Fälschungen dieser Dokumente kann es selbstverständlich dennoch geben. Urkunden ausstellende Institutionen sind deshalb bestrebt, auch digitale Dokumente mit Echtheitssiegeln zu versehen. An der Georg-August-Universität Göttingen wird die Echtheit eines Zeugnisses beispielsweise nicht durch die händische Unterschrift, sondern mit einem Verifikationsschlüssel bezeugt. Vgl.: Angela Brünjes: Absolventen der Georgia Augusta erhalten digitale Zeugnisse. In: Göttinger Tageblatt vom 30. 11. 2017, http://www.goettinger-tageblatt.de/Cam pus/Goettingen/Absolventen-der-Universitaet-Goettingen-erhalten-digitale-Zeugnisse, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Das Novum besteht hier allerdings darin, dass die Originalität der Urkunde durch seine Reproduktion nicht angetastet wird. Das Konzept der Echtheit wird entkoppelt vom Konzept der Einzigartigkeit. 68 Thomas Ernst: Wem gehören Autor-Leser-Texte? Das geistige Eigentum, netzliterarische Standards, die Twitteratur von @tiny_tales und das Online-Schreibprojekt morgen-mehr.de von Tilman Rammstedt. In: Sebastian Böck/Julian Ingelmann/Kai Matuszkiewicz/Friederike Schruhl (Hg.): Lesen X.0. Rezeptionsprozesse in der digitalen Gegenwart. Göttingen 2017, S. 145–167, hier S. 149. 69 Ebd., S. 150.

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Der Authentizitätsbegriff

wird von den Medien häufig als Ausdruck einer im Zeitalter des Internets um sich greifenden ›Copy-and-Paste-Kultur‹ verstanden, die einen unbefangenen Umgang mit geistigem Eigentum pflegt und jede Form von kreativem Inhalt zunächst einmal als kopier- und verwertbar begreift.70 Die ursprüngliche, vormoderne Bedeutung von ›authentisch‹ als zweifelsfreie Zurechenbarkeit zu einem Urheber hat in diesem Zusammenhang mehr und mehr an Relevanz verloren. Gleichzeitig aber lässt sich in der digitalen Kommunikation eine verstärkte Sehnsucht nach subjektauthentischen Qualitäten ausmachen – was sich durchaus als Reaktion auf die Erosion der Objektauthentizität verstehen lässt: Im Zeitalter der totalen Fusion und Simulation physischer und medialer Realität in bestem Baudrillardschen Sinne, der virtuellen Parallelwelten und des makellosen Phantasiekörpers in der Werbephotographie dominiert offensichtlich gleichzeitig der Wunsch nach einer ungeschminkten Wirklichkeit, die Vergleiche zur eigenen, alltäglichen und ungeschönten Existenz erlaubt.71

Der Praxis von Kopie und Simulation, durch welche die Gleichsetzung von Echtheit und Originalität unterlaufen wurde, wird so eine andere Form von Echtheit entgegengesetzt: der individuelle Selbstausdruck des ›authentischen‹ Subjekts. Durch die Entwicklungen, die allgemein unter dem Schlagwort ›Web 2.0‹ zusammengefasst werden, sind die Nutzer*innen digitaler Medien nicht mehr nur Konsument*innen, sondern sind als ›Prosument*innen‹ selbst am Erstellen der Inhalte des World Wide Web beteiligt. Vor allem im Bereich der sozialen Netzwerke ist diese Entwicklung offensichtlich: Plattformen wie Facebook, Instagram oder Twitter stellen eine technische Infrastruktur bereit, auf der die Nutzer*innen ihre eigenen Inhalte verbreiten können. Eine Praxis, die bereits zuvor in Form von Weblogs etabliert wurde, die je nach thematischem und textsortenspezifischem Zuschnitt (also je nachdem, ob es sich etwa um einen Food-Blog oder einen autobiographischen Blog handelt) eine mehr oder minder stark subjektzentrierte Ausprägung haben.72 Diese Subjektzentrierung lässt sich 70 Vgl. Hajo Steinert: Copy-and-Paste-Kultur. In: Deutschlandfunk vom 01. 03. 2011, http://w ww.deutschlandfunk.de/copy-and-paste-kultur.691.de.html?dram:article_id=55259, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 71 Andrea Zapp: Live – A User’s Manual. Künstlerische Skizzen zur Ambivalenz von Webcam und Wirklichkeit. In: Knaller/Müller: Authentizität, S. 316–330, hier S. 317f. 72 Ein Vergleich mit subjektzentrierten Textsorten aus dem analogen Bereich greift im Fall von (autobiographischen) Weblogs jedoch nur bedingt, wie auch Vanessa Diemand betont: »Denn Bloggen wird in dem Bewusstsein praktiziert, dass die Einträge öffentlich einsehbar sind, unabhängig davon, ob diese Öffentlichkeit tatsächlich auf die Publikation aufmerksam wird oder nicht. Darüber hinaus gewährt eine Mehrzahl der Blogger die Möglichkeit, die einzelnen Einträge zu kommentieren; hier zeigt sich eine bewusste Kommunikationsabsicht der Autoren, eine dialogische Struktur, die im Tagebuch nicht gegeben ist.« Vanessa Die-

Authentizität 2.0: Entwicklungen in der digitalen Gegenwart

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im Bereich der digitalen Praktiken bereits anhand von vergleichsweise banalen Kulturtechniken wie dem Selfie beobachten. Sich selbst zu fotografieren ist durch den Siegeszug der Smartphones nicht nur technisch ohne größere Komplikation oder Anstrengung möglich, sondern auch eine gängige und oft diskutierte Alltagspraxis mit allgemeinsprachlich geläufiger Bezeichnung geworden. All diese Praktiken ließen sich mit Michel Foucault als ›Technologien des Selbst‹ begreifen, womit der Philosoph »die in allen Kulturen anzutreffenden Verfahren zur Beherrschung oder Erkenntnis seiner selbst« bezeichnet, »mit denen der Einzelne seine Identität festlegen, aufrechterhalten oder im Blick auf bestimmte Ziele verändern kann oder soll«.73 In diesem Sinne entsteht ein transmediales Umfeld, in dem digitale Technologien als »Ausdrucksmittel von Subjektivität, aber auch als Austragungsort von Innerlichkeit in all ihren Facetten« genutzt werden.74 Ein sehr anschauliches Beispiel für den Stellenwert von Authentizität für diese neuen ›Technologien des Selbst‹ liefert der Fall der YouTube-Userin Lonelygirl15. Das erfolgreiche Video-Portal YouTube ging im Februar 2005 online. Unter dem Motto ›Broadcast yourself‹ ermöglicht die Plattform allen Nutzer*innen, Videos hochzuladen und zu rezipieren. Darunter finden sich neben TV-Mitschnitten, Musikvideos und Zufallsaufnahmen auch Videoblogs, in denen die Nutzer*innen sich selbst und ihre frei gewählten Inhalte präsentieren. Bei Lonelygirl15 handelt es sich um einen der ersten wirklich erfolgreichen und weit über die Usergemeinde hinaus diskutierten YouTube-Channel. Der erste Blog-Eintrag wurde am 16. Juni 2006 online gestellt und verzeichnet bis heute über 6,4 Millionen Aufrufe (Stand: März 2021).75 Der Vlog, in dem die angeblich sechzehnjährige Bree aus ihrem Teenageralltag berichtet, wurde in den Kommentaren begeistert aufgenommen. Dies änderte sich schlagartig, als im September 2006 herauskam, dass hinter der scheinbar spontan daherplaudernden Bree in Wirklichkeit eine neuseeländische Schauspielerin namens Jessica Rose steckt, die mand: Gesicht wahren im Web 2.0 – Blogs zwischen Authentizität und Inszenierung. In: Dies./ Michael Mangold/Peter Weibel (Hg.): Weblogs, Podcasting und Videojournalismus. Neue Medien zwischen demokratischen und ökonomischen Potentialen. Hannover 2007, S. 58–90, hier S. 63. 73 Michel Foucault: Subjektivität und Wahrheit. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 4, hg. von Daniel Defert und Francois Ewald. Frankfurt am Main 2005, S. 258–264, hier S. 259. 74 Laurence Allard: Express Yourself 3.0! Über die Auswirkungen des transmedialen Digitalen und der Vernetzung auf die gegenwärtige Subjektivität: Kommunikatives Handeln auf zwei Ebenen, entdramatisierte Selbstvertextlichung und somato-technologischesdisjunktives Kontinuum. In: Vincent Kaufmann/Ulrich Schmid/Dieter Thomä (Hg.): Das öffentliche Ich. Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext. Bielefeld 2014. S. 179–202, hier S. 179. 75 Vgl. lonelygirl15: First Blog / Dorkiness Prevails. In: YouTube 2006, https://www.youtube.com /watch?v=-goXKtd6cPo, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Der Authentizitätsbegriff

extra für diese Rolle gecastet wurde. Die Videos wurden von einem Team aus drei jungen Filmemachern produziert, die auch das Skript für die einzelnen VlogEinträge geschrieben haben.76 Was anfangs von den Rezipienten als reizend oder cool empfunden wurde, las sich in unzähligen Kommentaren zu ihren Videos auf einmal wie folgt: ›you are a fucking fake‹, ›YOU FAKE!!!‹, ›dickhead. fake bitch. die. ugly bitch‹, ›FAKER NEEDS TO DIE SLOWLY‹ oder ›SHE IS FAKE; IM GOING TO UNSUSCRIBE‹[sic!].77

Der Kulturanthropologe Thorsten Näser hat den Fall von Lonelygirl15 im Licht des Authentizitätsdiskurses und dessen Veränderung durch die medialen Besonderheiten von YouTube untersucht. Dass die Zuschauer*innen in Bezug auf YouTube-Videos eine gesteigerte Authentizitätserwartung haben (gesteigert vor allem im Vergleich mit herkömmlichen audiovisuellen Medien wie dem Fernsehen), ist für ihn vor allem ein Ergebnis von medienspezifischen Authentizitätssignalen:78 »Liefert eine ordnende Instanz entsprechende Anreize und ist dadurch ein grundsätzliches Interesse beim Rezipienten erst einmal geweckt, sind es möglicherweise spezifische Authentizitätssignale als Vorboten konkreter Produkte, die eine Rezeption in Gang setzen […].«79 Besondere Erwartungen hinsichtlich der Authentizität des Gezeigten werden bereits dadurch geweckt, dass es sich bei den Protagonist*innen und Produzent*innen der Videos auf YouTube häufig nicht um professionelle Akteure handelt. Das Motto ›broadcast yourself‹ ist hier bereits ein erster Authentizitätsmarker, der den Nutzer*innen vermittelt: Zu sehen gibt es hier Leute wie du und ich und nicht nur einige Auserwählte, die zuvor dafür ausgebildet wurden, wie sie sich vor einer Kamera zu verhalten haben. In diesem Sinne lässt sich die Enttarnung von Lonelygirl15 als ein Bruch mit dem Authentizitätsversprechen des Amateurhaften sehen. Nicht nur, dass es sich bei Bree um eine professionelle Schauspielerin handelt statt um eine Privatperson, die das Vlog aus reinem Vergnügen betreibt, auch die Tatsache, dass es sich bei den einzelnen Videos um kalkulierte und von einem Filmteam konzipierte Inszenierungen handelt statt um den spontanen Selbstausdruck einer Einzelperson, führte dazu, dass der YouTube-Channel die Aura des Authentischen einbüßte. Der Grund, weshalb Lonelygirl15 überhaupt die gesteigerte Authentizitätserwartung des Publikums wecken konnte, liegt aber nicht nur im Selbstver76 Vgl. Thorsten Näser: Authentizität 2.0 – Kulturanthropologische Überlegungen zur Suche nach ›Echtheit‹ im Videoportal YouTube. In: kommunikation@gesellschaft, Jg. 9, Beitrag 2, 2008, https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0228-200809030, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 77 Ebd., S. 3. (Einige der von Näser zitierten Kommentare sind mittlerweile online nicht mehr verfügbar.) 78 Zum Begriff des Authentizitätssignals siehe S. 72 dieser Arbeit. 79 Näser: Authentizität 2.0, S. 4.

Authentizität 2.0: Entwicklungen in der digitalen Gegenwart

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ständnis des Mediums YouTube, sondern auch in einer spezifischen Ästhetik des Amateurhaften, die gerade in der frühen Phase von YouTube das Format der Daily-Vlogs auszeichnete und hier gezielt als Authentizitätssignal gesetzt wurde: In Hinblick auf die audiovisuelle Suggestion von Authentizität lassen sich hier eine in der Farb- und Schattierungswiedergabe nicht zu perfekte, amateurhafte Webcam-Optik nennen sowie eine fast schon stereotype, meist halbnahe Einstellungsgröße, die den sich an die Community wendenden Nutzer – scheinbar am Schreibtisch vor dem PC sitzend – etwa bis zur Höhe des Bauchnabels zeigt. Hinzu kommt eine Aufnahmeperspektive, die der links oder rechts neben dem Monitor befestigten Webcam entspricht. Der Ton ist oft mäßig und eine editierende Nachbearbeitung erfolgt in der Regel nicht. Wie auch sonst – könnte man fragen – kann es ein Videoblogger schaffen, sich weitestgehend spontan und direkt und noch dazu in einem Turnus von nur wenigen Tagen regelmäßig an die Community zu wenden?80

Auch in der jüngeren Geschichte des Mediums, in der es längst üblich geworden ist, dass erfolgreiche Videoblogger professionelles Equipment und nicht selten auch ein Filmteam zur Verfügung haben, ist diese Ästhetik des Amateurhaften nicht gewichen. So gehört es weiterhin zu den unausgesprochenen Konventionen von Daily-Vlogs, dass die Aufnahme erkennbar in einem Privatzimmer stattfindet (meist markiert durch Bücherregal, Bett oder andere private Möbel oder Gegenstände im Hintergrund).81 Als weiteres Authentizitätssignal fällt zudem die inszenierte Spontanität der scheinbar aus dem Stehgreif vorgetragenen, direkt an die Zuschauer*innen gerichteten mündliche Rede auf. Obwohl die meisten VlogBeiträge dieser Art klar erkennbar nachträglich bearbeitet wurden (beispielsweise wird bereits im ersten Beitrag von Lonelygirl15 eine auffällige Schnitttechnik verwendet), werden Versprecher oder Abschweifungen nicht herausgeschnitten. Vielmehr scheint Wert darauf gelegt zu werden, für das semantische Verständnis der Rede überflüssige Füllwörter und Nachdenkpausen als Ausweis für spontane Mündlichkeit in den Videos zu belassen. Ein weiterer bedeutender Faktor ist die suggerierte Unmittelbarkeit der Kommunikationssituation. Die Vloggerin spricht die Community direkt an, es wird eine Kommunikation auf Augenhöhe inszeniert. Diese Inszenierung wird gestützt von der räumlichen Situation. Die Protagonist*innen der Daily Vlogs treten den Mitgliedern der Community in ebenjener Position gegenüber, in der sie sich meist selbst während des Rezeptionsvorgangs befinden: in einem Privatzimmer vor dem PC oder Laptop sitzend. Die Suggestion einer Kommunikation auf Augenhöhe wird durch diesen Umstand noch verstärkt. Zusammenfassend lassen sich also drei zentrale Merkmale ausmachen, über die in diesem Zusammenhang Authentizität 80 Ebd., S. 10. 81 Auf die authentizitätsbeglaubigende Funktion von Privaträumen wird ausführlich im Kapitel 3.3 dieser Arbeit eingegangen.

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Der Authentizitätsbegriff

inszeniert wird: die Privatheit der Umgebung, die Spontanität der Rede und die Unmittelbarkeit der Kommunikationssituation. Im Fall von Lonelygirl15 wurden diese authentizitätsverbürgenden Konventionen simuliert und damit die entsprechenden Erwartungen innerhalb der Community bedient. Das Wissen um diese Simulation führt jedoch zu einem grundlegend veränderten Rezeptionsverhalten und löst entsprechend abwehrende Reaktionen aus (wie den von Näser zitierten Kommentaren entnommen werden kann). An diesem Beispiel lässt sich somit illustrieren, wie medienspezifische Konventionen und gezielt gesetzte Authentizitätssignale normative Erwartungen auf Rezipient*innenseite hervorrufen. Werden diese Erwartungen letztendlich doch nicht erfüllt, kommt dies einem Normbruch gleich, der entsprechend sanktioniert wird.82 Auf diese Weise wird der in der Begriffsgeschichte des Authentischen verankerte Bezug zu Normativität und Autorität auch in der subjektzentrierten Verwendungsweise des Authentizitätsbegriffs wiederbelebt – nur dass wir es hier mit einer weniger klar umrissenen zuschreibenden und sanktionierenden Autorität zu tun haben. Anders als bei der historischen Objektoder Referenzauthentizität ist es kein Landesherr und keine kirchliche Macht, die über den Status des Authentischen bestimmt, sondern ein Kollektiv, eine Community, die mit entsprechenden medienspezifisch vorgeprägten Erwartungen an ein Werk herantritt, es aufgrund von bestimmten Signalen für authentisch befindet und sanktionierend tätig wird, sollte das Werk diesen Anspruch doch nicht erfüllen können. Bei der Standard-Sanktion im Bereich der sozialen Medien scheint es sich dabei um die Skandalisierung der Enttarnung als ›inauthentisch‹ und der öffentlichen Zurechtweisung (und teilweise auch Anfeindung oder persönlichen Beleidigung) der normbrechenden Akteure zu handeln. Das hier am Beispiel von YouTube illustrierte Zusammenspiel aus medienspezifischen Vorerwartungen, gezieltem Einsatz von Authentizitätssignalen und normierender Setzung durch die Community (inklusive Sanktionierungsmöglichkeiten) lässt sich mühelos auf andere Ausdrucksformen der sozialen Medien übertragen. Selbstverständlich ergeben sich hier Unterschiede hinsichtlich der spezifischen Medialität einzelner Plattformen: Die Inszenierung von Authentizität gestaltet sich in einem textbasierten Portal (wie Twitter) anders als in einem primär visuellen (wie Instagram) oder audiovisuellen (wie YouTube) und wieder anders in einem multimodalen Netzwerk (wie Facebook), das den Nutzer*innen erlaubt, ihren individuellen Selbstausdruck durch Texte, Bilder und Videos gleichermaßen zu verbreiten. Die durchaus vorhandenen medienspezifischen 82 Auf dieses Zusammenspiel von normativen Erwartungen auf Rezeptionsseite und dem Erfüllen bzw. Nicht-Erfüllen auf Produktionsseite wird in Kapitel 2.1 mit Bezug auf literarische Rezeption näher eingegangen.

Authentizität 2.0: Entwicklungen in der digitalen Gegenwart

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Besonderheiten dieser verschiedenen Formate sind im Kontext unserer Fragestellung in Bezug auf die Rolle des Authentizitätsbegriffs in der Gegenwartskultur allerdings von zweitrangiger Bedeutung. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vielmehr, dass auf den Medienkanälen der sozialen Plattformen neben kommerziellen Akteuren auch private Nutzer*innen subjektzentrierte Inhalte verbreiten, die von einer Ästhetik des Amateurhaften geprägt sind. Entscheidend für den Stellenwert des Authentischen innerhalb dieser Kommunikationswege sind (1.) die niedrigschwelligen Möglichkeiten der Kommunikation (prinzipiell kann jede*r unabhängig von ökonomischem Kapital und technischem Spezialwissen ein Massenpublikum erreichen), (2.) die Unmittelbarkeit der Kommunikation (der Sender kommuniziert auf Augenhöhe zu den Empfängern und demonstriert, dass er einer von ihnen ist) und darauf aufbauend (3.) die Manifestation von normativen Authentizitätserwartungen durch den neuen Stellenwert von Privatheit und Spontanität in der digitalen Kommunikation. Gemessen an der enormen Bedeutung, die der Nutzung von sozialen Medien im digitalen Zeitalter zukommt, ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass die Inszenierungsleistung der Akteure sozialer Netzwerke wie auch die Erwartungshaltung der Communities einen erheblichen Einfluss auf Konjunktur und Verwendungsweise des Authentizitätsbegriffs im 21. Jahrhundert haben. Dass auch die Positionskämpfe auf dem literarischen Feld der Gegenwart von dieser Entwicklung beeinflusst und zum Teil sogar maßgeblich bestimmt werden, wird im nun folgenden zweiten Teil dieser Arbeit verdeutlicht, in dem wir uns der Rolle des Authentizitätsbegriffs für die Literatur zuwenden.

2.

Authentizität und Literatur

Die Konjunktur des Authentischen im Zeitalter der Digitalisierung beschränkt sich bei weitem nicht auf die Kommunikationsstrukturen der sozialen Medien. Auch die Produktion, Vermarktung und Rezeption zeitgenössischer Literatur wird in den letzten Jahren wie nie zuvor unter dem Leitbegriff der Authentizität betrachtet und diskutiert. »Im vergangenen Jahrzehnt«, so der Literaturkritiker Ijoma Mangold 2012 in einer Rezension zu Felicitas Hoppes autofiktionalem Roman Hoppe, »haben sich alle genuin literaturkritischen Debatten […] immer um die Frage gedreht: Kunst oder Leben? Konstruktion oder Erlebnis? Form oder Inhalt? Künstlichkeit oder Authentizität?«83 Und tatsächlich wurde in jüngster Zeit in den Feuilletons und Bücherblogs vermehrt die Frage diskutiert, ob eine jugendliche Autorin authentisch über die Berliner Clubszene schreiben kann, wenn sie selbst noch gar keinen Zutritt zu den erwähnten Etablissements hatte;84 oder ob ein männlicher Autor authentisch aus der Perspektive einer weiblichen Protagonistin erzählen kann;85 oder ob die fiktionale Schilderung einer Migrationserfahrung dadurch einen ästhetischen und moralischen Mehrwert erlangt, dass der Autor selbst eine Migrationserfahrung vorzuweisen hat.86 Gleichzeitig erfreuen sich autorzentrierte Genres wie autobiographische Romane, aber auch autofiktionale Texte, in denen trotz starker Fiktionssignale eine Figur den Namen des Autors trägt, auf dem deutschsprachigen Buchmarkt höchster Beliebtheit.87 Dies lässt sich als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins werten, mit der das Autorsubjekt – ein halbes Jahrhundert nach der Verkündung seines Tods durch Roland Barthes – dem lesenden Publikum gegenübertritt und dabei die Frage aufwirft, wie viel an gelebter Erfahrung und biographischer Informa83 Ijoma Mangold: Ich ist ein Spiel mit Worten. In: Die Zeit vom 24. 05. 2012, https://www.zeit.de /2012/22/L-Hoppe, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 84 Siehe Kapitel 3.2.1. 85 Siehe Kapitel 3.5.3. 86 Siehe Kapitel 3.1. 87 Näheres zur Besonderheit von autobiographischen und autofiktionalen Texten siehe Kapitel 2.3.

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Authentizität und Literatur

tion in die fiktionale Erzählung eingehen muss, um die Aura des Authentischen aufrechtzuerhalten. Die unter dem Leitbegriff der Authentizität verhandelten Fragen haben durchaus ihre Vorläufer in der Literaturgeschichte. Wie im ersten Kapitel dieser Arbeit mit Bezug auf die allgemeine Begriffsgeschichte festgestellt, wurden diese Fragen allerdings in vormodernen Epochen mit anderen Begriffen und auch mit jeweils epochenspezifischen ideengeschichtlichen Implikationen gestellt und diskutiert, weshalb von einem linear verlaufenden, ungebrochenen Authentizitätsdiskurs in der Literaturgeschichte nicht ausgegangen werden kann. Zweifellos aber ziehen sich verwandte Diskurse, die das Konzept von literarischer Authentizität maßgeblich mitgeprägt haben, seit jeher durch die Literaturgeschichte. So ist die übergeordnete Frage nach dem ›Wahrheitsgehalt‹ von Literatur spätestens seit Platons vielzitiertem Vorwurf an die Dichtung, sie würde lügen, aus kaum einer literaturtheoretischen Auseinandersetzung wegzudenken. Mit der ideengeschichtlichen Wende zum Subjekt in Renaissance und Aufklärung traten auch die Person des Autors und subjektzentrierte Textgattungen wie Tagebuch, Brief und Autobiographie in den Vordergrund. Die Frage nach der Wahrheit von Literatur wurde somit um die Kernbegriffe ›Wahrhaftigkeit‹ und ›Aufrichtigkeit‹ erweitert – eine Entwicklung, die sich besonders anschaulich am autobiographisch geprägten Werk von Jean-Jacques Rousseau illustrieren lässt.88 Im weiteren Verlauf der Literaturgeschichte ließ sich die verstärkte Rolle des Autors und der von ihm hervorgebrachten ›Wahrheit‹ etwa in der Literatur des Sturm und Drang, des in dieser Zeit aufkommenden Geniekults und literarischer Genres wie der Erlebnislyrik ausmachen.89 In der Moderne sind es gleich mehrere literarische Strömungen, die Anspruch auf authentizitätsverbürgende Qualitäten erheben, wie Helmut Lethen am Beispiel der Avantgarden um 1900 illustriert: Nachdem sich in der Reformbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Einsicht eingebürgert hatte, Authentisches sei nur im ›Organischen‹ anzusiedeln, nie im Umkreis der Maschinen, seien mit den italienischen Futuristen Artisten aufgetreten, für die plötzlich alles Mechanische die Authentizität des modernen Lebens verbürgen sollte. Wie man weiß, hat die Ästhetisierung des Kriegs dann beide Varianten, die ›ursprüngliche Wildheit‹ und die Feier der Technik, zusammengeschlossen.90

Anders als Lethen es hier nahelegt, war es um 1900 nicht der Authentizitätsbegriff, sondern der Lebensbegriff, an dem sich – im ideengeschichtlichen Kontext der Lebensphilosophie – Literatur und andere Künste ausrichteten, wenngleich dieser in vielerlei Hinsicht analog zum modernen Authentizitätsbegriff lesbar 88 Auf Rousseau und die Bedeutung der Autobiographie für den Authentizitätsdiskurs wird ausführlich in Kapitel 2.3 eingegangen. 89 Siehe hierzu auch Kapitel 3.2 dieser Arbeit. 90 Lethen: Versionen des Authentischen, S. 219f.

Authentizität und Literatur

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ist.91 Explizit war von ›authentischer Literatur‹ erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rede. Vor allem im Zuge der ›Neuen Subjektivität‹ wurden ästhetische Konzepte entwickelt, die – wie Christa Wolfs ›subjektive Authentizität‹, auf die bereits im vorigen Kapitel eingegangen wurde – das Authentische in den Vordergrund rückten.92 Verglichen mit dem Authentizitätsdiskurs auf dem literarischen Feld der 1970er Jahre ergeben sich für die gegenwärtige deutschsprachige Literaturproduktion des frühen 21. Jahrhunderts wesentliche Unterschiede, die eine gesonderte Betrachtung notwendig machen. Diese Unterschiede liegen zum einen in den begriffsgeschichtlichen Entwicklungen des Authentizitätsbegriffs begründet, wie sie im vorigen Kapitel ausgeführt wurden, zum anderen haben sich im digitalen Zeitalter die Bedingungen der Produktion, Rezeption und Vermarktung von Literatur verändert. So haben sich zum einen, nicht zuletzt durch die Entstehung digitaler Medien, neue Möglichkeiten der Vermarktung von literarischen Texten und der schriftstellerischen Inszenierungspraktiken ergeben. Zum anderen haben auf textueller Ebene in den letzten drei Jahrzehnten neue produktionsästhetische Phänomene ihren Einfluss auf die deutschsprachige Literatur genommen. So wurden etwa unter den Stichworten ›Popliteratur‹ und ›Postmoderne‹ – um hier nur zwei sehr unterschiedliche Schlagwörter aus diesem Zeitraum aufzugreifen – neue ästhetische Phänomene diskutiert, die ihrerseits jeweils als Reaktionen auf den (vermeintlichen) Authentizitätsanspruch von Literatur lesbar sind. Im nun folgenden zweiten Teil dieser Arbeit wird näher beleuchtet, welche Bedeutung dem Authentizitätsbegriff auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zukommt. Dabei kann es naturgemäß nicht darum gehen, zu klären, was ›authentische Literatur‹ ist, da dem Authentischen, wie im ersten Teil dieser Arbeit ausführlich dargelegt, kein ontologischer Status zukommt. Vielmehr soll gezeigt werden, wie Authentizität diskursiv hervorgebracht (oder auch unterlaufen) wird. Ein Vollständigkeit beanspruchendes Instrumentarium zur Analyse dieser diskursiven Praktiken vorzulegen, wäre bei einem sich ständig wandelnden und bedeutungsoffenen Phänomen wie dem Authentizitätsbegriff schlechterdings nicht möglich. Jedoch werden im Folgenden unter Rückgriff auf verschiedene theoretische Modelle einzelne heuristische Unterscheidungen entwickelt, mit denen sich die relevanten Zuschreibungs- und Inszenierungspraktiken intersubjektiv nachvollziehbar darstellen und analysieren lassen.

91 Zum Lebensbegriff und seinem Verhältnis zum Authentischen siehe Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 92 Zur Bedeutung des Authentizitätsbegriffs für die Literatur der 1960er und 70er Jahre vgl. ausführlich die Monographie von Christoph Zeller: Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970. Berlin/New York 2010.

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Authentizität und Literatur

Hierzu wird zunächst grob in die Zuschreibung von Authentizität und die Inszenierung von Authentizität unterschieden.93 In einem ersten Schritt wird der Fokus auf Zuschreibungspraktiken gelegt und danach gefragt, inwiefern und auf welche Weise Authentizität als literaturkritischer Wert verstanden werden kann. Die zentralen Kontexte, in denen der Authentizitätsbegriff mit Bezug auf literarische Phänomene explizit artikuliert wird, sind Literaturkritiken, Kundenrezensionen, Blogeinträge und andere Rezeptionsdokumente. Da der Authentizitätsbegriff auch in diesen Zusammenhängen äußerst unterschiedlich genutzt wird – und zwar nicht nur mit unterschiedlichen inhaltlichen Implikationen, sondern auch mit ganz verschiedenen Absichten – werden unter Rückgriff auf Theorien der literarischen Wertung die verschiedenen Funktionen des Werts der Authentizität wie auch dessen normatives Potential ergründet. Im Kapitel 2.2 wird der Fokus von der Rezeptionsseite auf die Produktionsseite verlegt und das Phänomen der schriftstellerischen Inszenierungspraktiken beleuchtet. In Anlehnung an neuere Theorien der Autorschaft und der Autorinszenierung wird den Fragen nachgegangen, wie das Verhältnis zwischen den vermeintlichen Polen ›Inszenierung‹ und ›Authentizität‹ zu bewerten ist, welche Rolle der Autor für die Wahrnehmung seines Werks oder seiner Person als ›authentisch‹ spielt und welche Inszenierungsstrategien im Umgang mit den Authentizitätserwartungen des Publikums auf der Produktionsseite auszumachen sind. In Kapitel 2.3 stehen schließlich die literaturtheoretischen, ideengeschichtlichen und gattungsspezifischen Bedingungen im Vordergrund, unter denen die Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität mit Bezug auf die Gegenwartsliteratur stattfindet. Ein zentraler Gegenstand der verschiedenen Diskussionen um Authentizität in der Literatur ist dabei die (vermeintlich) paradoxe Annahme, fiktionale Texte wie Romane müssten einen gewissen Grad an Wirklichkeitsnähe aufweisen. Diese Grundannahme sowie die oppositionelle Annahme findet sich in unterschiedlicher Gestalt und Ausprägung in verschiedenen Kontexten: in fiktionstheoretischen Konstruktionen wie der Rede vom Fiktionspakt, in der Verwendung des diskursiv vorgeprägten Lebensbegriffs in den literaturkritischen Debatten der 1990er und 2000er Jahre, in den gattungstheoretischen Überlegungen zu Autobiographie und Autofiktion und im moralischen, juristischen und literaturkritischen Umgang mit Fälschungen und ›Fakes‹. Die Betrachtung dieser verschiedenen Aushandlungsversuche wirft Licht 93 Hierbei handelt es sich um eine graduelle Unterscheidung, da Inszenierungen selbstverständlich auch Zuschreibungen enthalten können bzw. eine Zuschreibung mitunter auch als Inszenierung lesbar sein kann. In systematischer Hinsicht ist es hier jedoch zweckdienlich, Zuschreibungspraktiken und Inszenierungspraktiken zunächst getrennt voneinander zu betrachten.

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auf die diskursprägende Kraft des Authentizitätsbegriffs für die Gegenwartsliteratur und liefert wichtige Vorannahmen und Systematisierungsansätze für die darauffolgenden Fallstudien im Analyseteil.

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Authentizität als literaturkritischer Wert

Eine der öffentlichkeitswirksamsten Veranstaltungen des Literaturbetriebs, bei denen literarische Texte und deren literaturkritische Beurteilung im Vordergrund stehen, sind die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, in deren Rahmen seit 1977 der Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen wird und die alljährlich im Fernsehen übertragen werden. 1983 sorgte der damals 29-jährige Rainald Goetz für einen Skandal, als er sich während der Lesung seines Wettbewerbstexts mit einer Rasierklinge in die Stirn schnitt und die letzten Zeilen mit blutüberströmtem Gesicht vortrug. In den anschließenden Wortmeldungen der Jury kam das einzige eindeutig positive Urteil von Marcel Reich-Ranicki. In seiner Kritik findet sich allerdings eine Charakterisierung, die bei genauer Betrachtung Rätsel aufgibt: »Dieser Wutausbruch ist nicht gemacht, das glaube ich nicht. Dieser Wutausbruch ist authentisch.«94 Was meint Reich-Ranicki an dieser Stelle? Schließlich handelt es sich bei Goetz’ Auftritt ganz offenbar nicht um eine unvermittelte und aufrichtige Gefühlsregung. Goetz ist nicht etwa ganz ungeplant beim Lesen seines Textes in Wut ausgebrochen und hat sich dann spontan mit einer Rasierklinge in den Kopf geschnitten, die er zufällig dabei hatte. Im Gegenteil wäre es stattdessen naheliegend davon auszugehen, dass im Rahmen einer solchen Lesung die Vortragsweise grundsätzlich immer eingeübt und somit inszeniert ist und dementsprechend dem alltagssprachlichen Verständnis von Authentizität entgegensteht. Doch ganz eindeutig bezieht sich Reich-Ranicki hier nicht auf die Performance (die auch in den anderen Reaktionen der Jury kaum Erwähnung findet), sondern auf den Text. Die Sprache sei es, wie der Literaturkritiker wenige Sätze später sagt, welche »authentisch« sei.95 Nur in einer kurzen Parenthese erwähnt er, dass diese Sprache vom Autor »auch noch sehr gut und sehr dramatisch vorgetragen« wurde.96 Was macht aber einen Text, die ›Sprache‹ eines Texts authentisch? Auf diese Frage geben uns die weiteren Werturteile Reich-Ranickis eine Antwort. »Selten habe ich einen Text gehört, in dem so viel Leben wäre, so viel erlebtes und auf 94 Marcel Reich-Ranicki bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 1983, https://www.you tube.com/watch?v=_BEjgp9MAEY, Min. 5:26–5:33, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 95 Ebd., Min. 5:57. 96 Ebd., Min. 6:01–6:04.

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spezifische Weise des Autors verarbeitetes Leben«.97 Außerdem sei die Sprache »eine individuelle, keine übernommene«.98 Der Kritiker führt also die Lebendigkeit des Textes bzw. dessen lebensweltliche Nähe zum persönlichen Erleben des Autors und die Originalität des Textes an, um seine Argumentation zu stärken und den von ihm verwendeten Authentizitätsbegriff mit Inhalt zu füllen.99 Doch bevor näher darauf eingegangen werden kann, was genau die Zuschreibung ›authentisch‹ in Bezug auf Literatur bedeuten kann, muss zunächst geklärt werden, um welche Art von Zuschreibung es sich in diesem Zusammenhang handelt. Unschwer zu erkennen findet diese Zuschreibung in einem literaturkritischen Rahmen statt. Reich-Ranicki agiert als bekannter Literaturkritiker in seiner Funktion als Jurymitglied des Bachmann-Wettbewerbs. Seine Kernaufgabe ist die Bewertung von literarischen Texten. Ebenso deutlich wird, dass er den Authentizitätsbegriff in seiner positiven Konnotation verwendet, um eine positive Wertung von Goetz’ vorgetragenem Text zu vollziehen. ›Authentizität‹ oder ›authentisch‹ lässt sich in diesem Zusammenhang im Sinne der bis heute maßgeblichen Studie zu literarischen Wertungen von Renate von Heydebrand und Simone Winko als axiologischer Wert betrachten. Ein solcher bezeichnet laut den beiden Autorinnen »den Maßstab, der ein Objekt oder ein Merkmal eines Objekts als ›wertvoll‹ erscheinen läßt, es als Wert erkennbar macht«.100 Demgegenüber wird durch die zweite Klasse von Werten, die von Heydebrand und Winko vorstellen, die attributiven Werte, »ein Objekt oder ein Merkmal eines Objekts« bezeichnet, »dem auf der Grundlage eines axiologischen Werts die Qualität zugeschrieben wird, werthaltig zu sein«.101 Demnach wäre also in dem hier behandelten Kontext Authentizität ein axiologischer Wert und – folgt man der Einschätzung Marcel Reich-Ranickis – die »authentische Sprache« von Goetz bzw. der in seinem Text artikulierte »authentische Wutanfall« ein attributiver Wert, dem aufgrund des axiologischen Werts ›Authentizität‹ Qualität zugeschrieben wird. Von Heydebrand und Winko schreiben außerdem, dass »ein axiologischer Wert in einem gegebenen Wertsystem andere, von ihm abgeleitete Werte rechtfertigen« kann.102 Aus dem sehr allgemeinen und abstrakten Wert ›Authentizität‹ können so verschiedene konkretere Werte abgeleitet werden, so wie Reich-Ra97 Ebd., Min. 5:13–5:24. 98 Ebd., Min. 6:09–6:13. 99 Auf die Bedeutung des von Reich-Ranicki hier neben dem Authentizitätsbegriff besonders bemühten Lebensbegriffs wird in Kapitel 2.3 gesondert eingegangen. 100 Renate von Heydebrand/Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn 1996, S. 40. 101 Ebd., S. 42. 102 Ebd., S. 40.

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nicki – zumindest indirekt – die Werte ›Originalität‹ und ›Leben‹ aus dem Wert ›Authentizität‹ ableitet. Wie im ersten Teil dieser Arbeit hinlänglich deutlich wurde, ist der Authentizitätsbegriff in der Gegenwart mit zahlreichen, im Regelfall ebenfalls positiv konnotierten Qualitäten aufgeladen – folgerichtig können aus dem Wert ›Authentizität‹ diverse andere Werte abgeleitet werden. In ihrer Typologie axiologischer Werte ordnen von Heydebrand und Winko Authentizität als relationalen Wert ein, der vom abstrakten Wert ›Wahrheit‹ abgeleitet wird und in der systematischen Überblicksdarstellung selbst keine Ableitungen aufweist.103 Allerdings bleibt das Begriffsverständnis von ›Authentizität‹ hier auf den Aspekt der Glaubwürdigkeit beschränkt,104 zudem wird nicht berücksichtigt, dass der Authentizitätsbegriff auch zu anderen relationalen Werten wie ›Originalität‹ und ›Neuheit‹, zu formalen Werten wie ›Einfachheit‹ sowie zu individuellen Werten in Beziehung steht, die in der Systematik von Friederike Worthmann als ›Wünsche‹ bezeichnet werden,105 so zum Beispiel der Wunsch nach empathischem Miterleben. Dass von ›Authentizität‹ so viele unterschiedliche Werte abgeleitet werden können, führt dazu, dass die Zuordnungsvoraussetzungen in diesem Fall wenig eindeutig sind,106 dass es also anders ausgedrückt häufig schwer ist, auszumachen, worauf sich das Werturteil ›authentisch‹ bezieht. Besonders augenfällig wird dies, wenn sich zwei Wertende in ihrem Urteil auf jeweils unterschiedliche Ableitungen aus dem übergeordneten Wert der Authentizität beziehen und deshalb zu verschiedenen Werturteilen desselben Texts gelangen. Im September 2016 erschien in der Wochenzeitung Die Zeit ein Interview, das die Literaturkritikerin Iris Radisch mit dem Schriftsteller Navid Kermani führte. Für ein literaturjournalistisches Interview eher unüblich, konfrontierte die Kritikerin ihren Gesprächspartner mit einer scharfen Negativkritik seines kürzlich erschienenen Romans Sozusagen Paris. Radisch wirft dem Roman Banalität vor, außerdem habe sie Probleme mit dem »sich so übereifrig selbst thematisierenden Erzählen« und der »Koketterie mit dem Echtheitssiegel«, das sich für sie beispielsweise darin manifestiert, dass der Erzähler auf die Entsprechungen einiger Figuren in der außertextuellen Wirklichkeit hinweist.107 Zudem bemängelt sie die 103 Vgl. ebd., S. 114f. 104 Vgl. ebd., S. 123. 105 Vgl. Friederike Worthmann: Literarische Wertungen. Vorschläge für ein deskriptives Modell. Wiesbaden 2004, S. 65f. 106 Vgl. von Heydebrand/Winko: Wertung von Literatur, S. 44: »Der Begriff ›Zuordnungsvoraussetzungen‹ bezeichnet die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Wertender (1) einen axiologischen Wert auf ein Objekt bzw. auf Objekteigenschaften und/oder (2) konkretere axiologische Werte auf einen höhergeordneten axiologischen Wert beziehen kann.« 107 Navid Kermani im Gespräch mit Iris Radisch: »Es gibt nun mal Menschen, die Jutta heißen«. In: Die Zeit vom 22. 09. 2016, https://www.zeit.de/2016/40/navid-kermani-roman-sozusagen -paris, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Darstellung von »lauter unauthentischen Menschen«.108 Kermani hingegen betont, ihm gehe es »um unsere banale und irgendwie auch bescheuerte Wirklichkeit«, und er fragt: »Wieso kann ich nicht die Wirklichkeit darstellen, wie sie ist?«.109 Anders als Radisch verwendet er den Authentizitätsbegriff nicht explizit, aber es wird deutlich, dass er sich auf den Wert der Wirklichkeitsnähe beruft, der häufig aus dem Wert der Authentizität abgeleitet wird. Vereinfachend könnte man sagen, dass Radisch vom allgemeinen Wert der Authentizität die Originalität als Wertmaßstab ableitet, während Kermani die Werte ›Wirklichkeitsnähe‹ und ›realistische Darstellung‹ aus dem Authentizitätsbegriff ableitet. So ist es möglich, dass beide aus unterschiedlichen Gründen zu dem Ergebnis kommen, bei Sozusagen Paris handle es sich um einen ›authentischen‹ bzw. ›nicht authentischen‹ Roman. Zu beachten ist außerdem, dass sich Radisch und Kermani nicht nur auf unterschiedliche Wertmaßstäbe beziehen, sondern auch auf eine jeweils unterschiedliche Textebene. Während Kermani sein Werk vornehmlich auf der Inhaltsebene (histoire-Ebene) verteidigt, indem er etwa betont, die dargestellten Inhalte seien wirklichkeitsnah bzw. authentisch, bezieht sich Radisch meist auf die Darstellungsebene (discours-Ebene), indem sie etwa die mangelnde Literarizität der Sprache oder die banale bzw. stereotype Erzählweise des Romans kritisiert. Man könnte also sagen: Kermani sieht das Authentische in dem, was erzählt wird, und Radisch sieht einen Mangel an Authentizität im Wie des Erzählens.110 Jenseits beider Textebenen ist es auch denkbar, dass sich die Authentizitätszuschreibung überhaupt nicht auf den literarischen Text, sondern auf den Autor richtet. Auch von Heydebrand und Winko schreiben, ›Authentizität‹ beurteile »die Glaubwürdigkeit eines Textes bzw. seines Autors«111 und ziehen damit in Betracht, dass eine literarische Wertung auch über den Umweg der Bezugnahme auf den Autor erfolgen kann, obwohl ihre Typologie ansonsten nur textbezogene Wertmaßstäbe beinhaltet. In diesem Fall wird die Person des Autors in Hinsicht auf seine Subjektauthentizität beurteilt. Meist wird dabei dieses Urteil auf direkte oder indirekte Weise auch auf die literarischen Texte des jeweiligen Autors rückbezogen – dabei erschöpft sich der Rückbezug oftmals in der impliziten Annahme, dass ›authentische‹ Menschen auch ›authentische‹ Texte schreiben. Im Fall von Clemens Meyer beispielsweise richten sich die Authentizitätszu108 Ebd. 109 Ebd. 110 Von Heydebrand und Winko gehen zwar in ihrer Typologie axiologischer Werte insofern auf die lokale Dimension der Wertzuschreibung ein, als dass sie zwischen inhaltlichen und formalen Werten unterscheiden – dass allerdings auch relationale und wirkungsbezogene Werte auf unterschiedliche Textebenen bezogen werden können, wird in ihrer Darstellung nicht berücksichtigt. Vgl. von Heydebrand/Winko: Wertung von Literatur, S. 114f. 111 Ebd., S. 123.

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schreibungen in den Feuilletons meist auf die Person des Autors, sein öffentliches Auftreten und seine habituelle Disposition – die Wertung seiner literarischen Texte als ›authentisch‹ erfolgt meist im Rückgriff auf die Einschätzung seiner Persönlichkeit.112 Was in einem literaturkritischen Wertungszusammenhang mit der Zuschreibung von Authentizität gemeint ist, hängt also zum einen davon ab, welche sekundären axiologischen Werte aus dem Wert der Authentizität abgeleitet werden, zum anderen davon, ob die Wertung auf die discoursoder histoire-Ebene eines literarischen Textes oder auf die Person des Autors bzw. sein öffentlich vermitteltes Bild abzielt. Selbstverständlich gibt es auch Fälle von Wertungshandlungen, bei denen aus dem Wert der Authentizität kein konkreterer Wert abgeleitet wird: wenn etwa in einer Feuilleton- oder Laienrezension die allgemeine Aussage getroffen wird, es handle sich um ein ›authentisches Buch‹ oder der Autor verfüge über eine ›authentische Sprache‹, ohne dass näher darauf eingegangen oder aus dem Kontext ersichtlich wird, ob diese Wertung sich auf die Originalität, die Wirklichkeitsnähe, die Anschaulichkeit oder die Glaubwürdigkeit des Texts bezieht. In diesen Fällen liegt der Verdacht nahe, dass ›authentisch‹ lediglich als Hochwertwort im Sinne einer positiven Bezugsgröße ohne darüber hinausgehende Bestimmung verwendet wird. ›Authentisch‹ wäre in diesem Zusammenhang nicht viel mehr als ein eleganter gewähltes Wort für ›gut‹. Hochwertwörter sind vor allem in der Werbesprache gebräuchlich. Laut der Linguistin Nina Janich können als solche »alle diejenigen Ausdrücke bezeichnet werden, die ohne die grammatische Struktur eines Komparativs oder Superlativs geeignet sind, das damit Bezeichnete […] oder näher Bestimmte/Prädizierte […] aufgrund ihrer sehr positiven Inhaltsseite aufzuwerten«.113 Verlagsökonomische Werbestrategien zielen naturgemäß auf Wertung in einem sehr allgemeinen Sinn ab und benötigen hierfür Adjektive, die positiv aufgeladen sind, aber nicht so allgemein und alltagssprachlich abgegriffen klingen wie ›gut‹ oder ›hervorragend‹. Deutlich wird dies unter anderem an der enormen Beliebtheit, derer sich Adjektive wie ›fulminant‹ und ›furios‹ in der Bewerbung von Belletristik erfreuen. Hochwertwörter wie diese werden häufig auch von der Literaturkritik übernommen, um ein allgemein positives Werturteil auszudrücken. Eine Sonderform der Hochwertwörter stellen die Schlüsselwörter dar, die neben ihrer aufwertenden Funktion auch »zu Wortund Assoziationsfeldern zusammengefasst werden [können], an denen sich Argumentationstrends und Produktkonnotationen wie Erotik, Exotik, Hedonismus, Individualität, Exklusivität. Wissenschaftlichkeit, Fortschrittlichkeit und Natürlichkeit ablesen lassen«.114 In diesem Sinne ließe sich ›Authentizität‹ 112 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 3.4.3 dieser Arbeit. 113 Nina Janich: Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. Tübingen 2005, S. 120. 114 Ebd., S. 120f.

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bzw. ›authentisch‹ als werbesprachliches Schlüsselwort begreifen, das auf die positive Konnotation von Werten wie Natürlichkeit, Glaubwürdigkeit, Individualität und Originalität verweist, ohne dass eine konkrete Ableitung einer dieser Werte erfolgt – was bleibt, ist demnach die aufwertende Funktion der Bezeichnung und die diffuse Bezugnahme auf ein positiv aufgeladenes Assoziationsfeld. Ebenfalls möglich, wenngleich in der literaturkritischen Praxis eher selten anzutreffen, ist die Negativverwendung von ›Authentizität‹ und ›authentisch‹. Von Heydebrand und Winko betonen in ihrer Einführung, dass der »Terminus ›axiologischer Wert‹ […] keine Konnotationen mit sich [führt], die ihn in der einen oder anderen Richtung festlegen«.115 Durch die große Beliebtheit, der sich Authentizität als literaturkritischer Wert erfreut, hat sich auch eine Gegenbewegung geformt, die Authentizität nicht als erstrebenswertes Ideal im Sozialsystem Literatur ansieht und stattdessen konkurrierende relationale Werte wie Abweichung (von der Alltagswelt oder der realistischen Darstellung der außertextuellen Wirklichkeit), Normbruch oder Innovation favorisieren. Das Wort ›authentisch‹ wird in diesen Fällen oft in ironischer Wendung gebraucht, die vermitteln soll, dass die Bezeichnung zwar positiv aufgeladen, aber dennoch als Maßstab zur Bewertung von Literatur ungeeignet sei. 2006 schrieb die Schriftstellerin Juli Zeh einen Essay für Die Zeit mit dem Titel Zur Hölle mit der Authentizität!. Darin bemängelt sie einen Umgang mit Texten, »der eher an eine Mischung aus Voyeurismus und Indizienprozess erinnert als an literarische Rezeption« und spricht von einem »Dogma des Echtheitsbegehrens« und einem »Wirklichkeitswahn der Unterhaltungsindustrie«, vor dem die »verletzlichen Innereien der Literatur« geschützt werden müssten.116 Zeh sieht die Errungenschaften der fiktionalen Erzählpraxis und die Tradition des Fiktionalitätspakts durch die starke Aufwertung des Authentizitätsbegriffs in Bezug auf Literatur gefährdet.117 Ähnliche Einwände bringt auch der Literaturkritiker Jan Wiele in seinem 2017 erschienenen FAZ-Beitrag Knausgård ist gut, aber Handke ist besser vor, wenn er moniert, dass die »Scheinwirklichkeitsprosa«, der gemeinhin Authentizität zugeschrieben wird, hinter den erzählerischen Entwicklungen der Moderne und der Postmoderne zurückbleibe.118 Zeh und Wiele benutzen hier ›Authentizität‹ nicht direkt als negativen Wert, vielmehr kritisieren sie die Schlüsselposition, die ›Authentizität‹ als positiver 115 Von Heydebrand/Winko: Wertung von Literatur, S. 41. 116 Juli Zeh: Zur Hölle mit der Authentizität! 117 Im Kapitel 2.3 dieser Arbeit wird noch einmal ausführlich auf den Beitrag von Zeh und die darin enthaltene Argumentation eingegangen. 118 Vgl. Jan Wiele: Knausgård ist gut, aber Handke ist besser. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 01. 2017, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/literarische-au thentizitaet-knausgard-ist-gut-aber-handke-ist-besser-14621729.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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axiologischer Wert im Sozialsystem Literatur einnimmt, und führen dagegen andere axiologische Werte wie Innovation oder sprachliche Ästhetik ins Feld. Insbesondere Juli Zeh macht mit ihrer Rede vom »Dogma des Echtheitsbegehrens« deutlich, dass für sie das Problem nicht nur in der Frage begründet liegt, ob Authentizität ein legitimer Maßstab zur Bewertung von Literatur ist, sondern in der Machtposition, die der Wert der Authentizität nach Auffassung der Autorin in der Kommunikation über literarische Texte einnimmt. Folgt man dieser Darstellung, ist es naheliegend, Authentizität nicht nur als einen axiologischen Wert unter vielen zu verstehen, sondern als literarische Norm. Anders als bei axiologischen Werten und Idealen, die nach Friederike Worthmann etwas allgemein Wünschenswertes ausdrücken,119 geben literarische Normen an, »welche literarischen Handlungen geboten, verboten oder erlaubt sind«.120 Worthmann betont, daß literarische Normen sich auf verschiedene literarische Handlungen beziehen können (so daß man zum Beispiel zwischen Produktionsnormen, Lesenormen, Rezensionsnormen, Publikationsnormen oder Wertungsnormen unterscheiden kann), daß sie sich an verschiedene Handlungssubjekte (etwa an Autoren, Leser, Verleger, Literaturkritiker oder Literaturwissenschaftler als Adressatengruppen) richten können und daß sie mit Blick auf verschiedene Handlungsobjekte (also beispielsweise mit Blick auf einen literarischen Einzeltext, auf eine literarische Gattung oder auf die Gesamtheit literarischer Texte) proklamiert werden können.121

In der für diese Arbeit relevanten Fragestellung lässt sich eine literarische Authentizitätsnorm als Produktionsnorm begreifen, die sich vornehmlich an Autor*innen richtet. Authentizität ist dabei zunächst als axiologischer Wert bzw. als Ideal zu verstehen, das in bestimmten Zusammenhängen den Status einer literarischen Norm erlangt.122 In diesem Sinne fungiert Authentizität auch in seiner normativen Funktion als Maßstab für literarische Wertung. Laut Worthmann werden literarische Normen dann als Maßstäbe literarischer Wertung herangezogen, »wenn wir fragen, ob literarische Texte oder literarische Handlungen so sind, wie es geboten, verboten oder erlaubt ist. Es ist mithin die Erfüllung einer Vorschrift, die hier als Maßstab literarischer Wertung dient«.123

119 120 121 122

Vgl. Worthmann: Literarische Wertungen, S. 65. Ebd., S. 119. Ebd., S. 120. Welche Zusammenhänge dies sind bzw. mit Blick auf welche Handlungsobjekte die Authentizitätsnorm Geltung erlangt, soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit – vor allem im dritten Teil – herausgearbeitet werden. 123 Worthmann: Literarische Wertungen, S. 122. Worthmann betont allerdings, dass auch die Nichterfüllung einer Norm zur positiven Bewertung eines literarischen Texts führen kann (vgl. ebd.). In diesem Zusammenhang lässt sich der Normbruch selbst als ein axiologischer Wert in der Beurteilung von Literatur verstehen.

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Es bleibt jedoch die Frage, was genau eine literarische Vorschrift auszeichnet und wer im Sozialsystem Literatur über deren Einhaltung wacht. Von Heydebrand und Winko unterscheiden in Anlehnung an die soziologische Forschung zum Normbegriff von Gabriele Korthals-Beyerlein und Heinrich Popitz drei Bedingungen, die Normen erfüllen müssen: »Sie regulieren das Handeln von Personen in bestimmten Situationen, sind gesamtgesellschaftlich oder in einzelnen Gruppen akzeptiert, und ihre Einhaltung bzw. Nichteinhaltung wird positiv bzw. negativ sanktioniert.«124 Die Sanktionen können dabei in ihrer Schärfe und Deutlichkeit variieren. Von Heydebrand und Winko unterscheiden »Normen, deren Nichteinhaltung schärfere Sanktionen nach sich zieht« und die »einen funktionierenden Sanktionsapparat voraus[setzen]«, von jenen Normen, die als »verinnerlichte Handlungsmuster« und »Spielregeln« wirken und eher schwach sanktioniert werden.125 Dabei gehen die beiden Autorinnen davon aus, dass im Sozialsystem Literatur in der Regel der schwächer sanktionierende Normentyp vorzufinden ist.126 Auch die Gültigkeit literarischer Normen kann in ihrer Reichweite variieren und ist selbstverständlich auch einem historischen Wandel unterlegen. Gaben die Regelpoetiken des 17. und 18. Jahrhunderts noch einen vergleichsweise explizit formulierten und weitreichenden Katalog an ästhetischen Normen vor,127 bleiben die Normen des 20. und 21. Jahrhunderts durch die Einflüsse verschiedener literarischer Strömungen und die zunehmende Ausdifferenzierung des literarischen Marktes meist auf ein literarisches Teilsystem beschränkt, das sich je nach Genre, Sujet oder Publikationsform unterschiedlich konstituiert. Entscheidend sind hier vor allem die Erwartungen, die von verschiedenen Rezipient*innengruppen an die jeweiligen Texte herangetragen werden.128 Ob diese einen normativen Charakter haben, lässt sich daran ablesen, wie im Enttäuschungsfall 124 125 126 127

Von Heydebrand/Winko: Wertung von Literatur, S. 90. Ebd., S. 91. Vgl. ebd. Ein anschauliches Beispiel für eine historische Norm mit einer großen Reichweite wäre etwa die Symmetrienorm im Barock, die sich im Bereich der Lyrik am Alexandriner als vorherrschendem Versmaß ablesen lässt. Eine entsprechend wirkmächtige literarische Norm, deren Gültigkeit eine ähnliche Reichweite aufweist, lässt sich für die gegenwärtige Literaturproduktion kaum ausmachen. 128 Auch für Erik Schilling sind die Erwartungen von Rezipient*innen entscheidend für die Konstitution bzw. für die Zuschreibung von Authentizität. Er schlägt sogar eine Definition vor, nach der Authentizität »die Übereinstimmung einer Beobachtung mit einer Erwartung des Beobachters« bezeichnet (Schilling: Authentizität, S. 11). Nach dieser sehr allgemein gehaltenen Definition würden allerdings auch Erwartungen miteinbezogen werden, die sich nur schwerlich als spezifische Authentizitätserwartungen charakterisieren ließen. So mag es eine gängige Vorerwartung an Kriminalliteratur sein, dass in der Romanhandlung ein Mord geschieht – doch deshalb würde man nicht alle Kriminalromane, in denen ein Mord vorkommt, als ›authentische‹ Kriminalromane etikettieren.

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reagiert wird. Niklas Luhmann geht davon aus, dass in Erwartungen »eine Vorwegdisposition für den Enttäuschungsfall eingebaut« ist, durch die »miterwartbar gemacht [wird], wie man sich im Enttäuschungsfall verhalten kann«.129 Dementsprechend unterscheidet Luhmann zwischen kognitiven und normativen Erwartungen: »Lernbereite Erwartungen werden als Kognitionen stilisiert. Man ist bereit, sie zu ändern, wenn die Realität andere, unerwartete Seiten zeigt. […] Dagegen werden lernunwillige Erwartungen als Normen stilisiert. Sie werden auch im Enttäuschungsfalle kontrafaktisch festgehalten.«130 Richten einzelne Rezipient*innen oder Rezipient*innengruppen normative Erwartungen auf literarische Texte oder deren Urheber*innen, sind jene also nicht bereit, ihre Erwartungen zu ändern, sollten diese nicht erfüllt werden. Analog zu Luhmanns Unterscheidung spricht Friederike Worthmann von »prognostischen« und »präskriptiven« Erwartungen und veranschaulicht ihre Übertragung auf das Sozialsystem Literatur mit einem Beispiel: Erwarten wir im prognostischen Sinne, daß Gedichte Endreime aufweisen und werden mit einem Gedicht konfrontiert, bei dem dies nicht der Fall ist, so werden wir lernen, daß Gedichte nicht in allen Fällen Endreime aufweisen und unsere Erwartungen entsprechend revidieren. Erwarten wir hingegen im präskriptiven Sinne, daß Gedichte Endreime aufweisen und werden mit einem Gedicht konfrontiert, das unsere Erwartungen enttäuscht, so werden wir an unserer Erwartung dennoch festhalten. Statt zu lernen, daß Gedichte nicht in allen Fällen Endreime aufweisen, werden wir darauf beharren, daß unsere Erwartung erfüllt wird.131

Worthmanns Beispiel mit Endreimen lässt sich mühelos auf die Möglichkeit einer Authentizitätsnorm übertragen. Wenn eine Gruppe von Rezipient*innen aufgrund eines entsprechenden Authentizitätssignals einem literarischen Text gegenüber eine gesteigerte Authentizitätserwartung hat, wenn also zum Beispiel jemand von einem Roman die Wirklichkeitsnähe eines autobiographischen Berichts erwartet, weil die Vornamen von Autor und Ich-Erzähler identisch sind, dann kann diese Erwartung im Enttäuschungsfall unterschiedliche Folgen haben. Wenn sich herausstellt, dass es sich bei den Inhalten des Romans keineswegs um einen wirklichkeitsnahen, autobiographischen Bericht handelt, sondern um reine Fiktion, ist es einerseits möglich, dass der Rezipient seine Erwartungen korrigiert. Er sieht ein, dass er seine Erwartungen auf einer zu vagen Grundlage aufgebaut hat und dass eine Gleichheit der Vornamen von Autor und Erzähler noch keine Aussage über den Fiktionsstatus eines Textes treffen muss. Möglicherweise erkennt er sogar einen künstlerischen Mehrwert im Unterlaufen seiner 129 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main 1984, S. 436. 130 Ebd., S. 437. 131 Worthmann: Literarische Wertungen, S. 114.

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Erwartungen, fühlt sich vom Autor spielerisch in die Irre geführt und genießt das intellektuelle Spiel mit seinen Leseerwartungen. Ebenso ist es möglich, dass die Erwartung des Rezipienten bestehen bleibt und dass er darauf pocht, dass eine suggerierte Identität von Autor und Erzähler ihren Niederschlag in der Wirklichkeitsnähe der dargestellten Inhalte haben muss. In diesem Fall fühlt sich der Rezipient vielleicht sogar vom Autor hintergangen oder bewusst getäuscht. Auf diese Weise kann die literarische Authentizitätsnorm zusätzlich zur ästhetischen auch sehr schnell eine moralische Dimension bekommen. Auch hier kann Authentizität als ästhetisch-moralischer Doppelwert fungieren. Wie spezifische Authentizitätserwartungen zur literarischen Norm werden können, soll an dieser Stelle am konkreten Beispiel eines der bekanntesten Literaturskandale des 21. Jahrhunderts veranschaulicht werden: Am 18. Januar 2010 erschien im Berliner Ullstein-Verlag mit Axolotl Roadkill der Debütroman der damals siebzehnjährigen Autorin Helene Hegemann. Der Roman handelt von der sechzehnjährigen Protagonistin Mifti, die mit ihren Geschwistern in einer Berliner WG lebt, durch Technoclubs zieht und mit Drogen experimentiert. In den großen deutschsprachigen Feuilletons wurde das Erscheinen des Buchs begeistert aufgenommen. In den Rezensionen hieß es unter anderem, die Autorin sei ein »literarischer Kugelblitz«,132 ein »Torpedo Girl«,133 ein »Wunderkind der Boheme«134. Und diese Autorin habe den »großen Coming-of-age-Roman der Nullerjahre« geschrieben,135 mindestens aber »große, unvergessliche Literatur«136. Helene Hegemann wurde als ausdrucksstarke, junge Stimme der Gegenwartsliteratur gefeiert, die den Leser*innen einen wirklichkeitsnahen Einblick in die Empfindungswelt ihrer Generation ermöglicht. Tatsächlich wurde die literarische Qualität des Romans von den namhaften Literaturkritiker*innen durchweg positiv beurteilt – bis zum 5. Februar 2010. An diesem Datum wurde durch den Blogger Deef Pirmasens publik, dass einige Textstellen in Hegemanns

132 Ursula März: Literarischer Kugelblitz. In: Die Zeit vom 21. 01. 2010, http://www.zeit.de/201 0/04/L-B-Hegemann, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 133 Nadine Lange: Torpedo-Girl. In: Der Tagesspiegel vom 23. 01. 2010, http://www.tagesspiegel .de/kultur/literatur/rezension-axolotl-roadkill-ich-ist-ein-drogentrip/1669326.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 134 Tobias Rapp: Das Wunderkind der Boheme. In: Der Spiegel vom 18. 01. 2010, http://www.spie gel.de/spiegel/a-672725.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 135 Mara Delius: Mir zerfallen die Worte im Mund wie schlechte Pillen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 01. 2010, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen /belletristik/helene-hegemann-axolotl-roadkill-mir-zerfallen-die-worte-im-mund-wie-schl echte-pillen-1913572.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 136 Maxim Biller: Glauben, lieben, hassen. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 23. 01. 2010, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/helene-hegemanns-axolotl-road kill-glauben-lieben-hassen-1911200.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Roman aus dem Blog Strobo des Bloggers Airen abgeschrieben wurden.137 Die Entdeckung löste einen Literaturskandal aus, der zahlreiche Feuilletonbeiträge nach sich zog, die diskutierten, ob es sich bei den entsprechenden Stellen in Axolotl Roadkill um verschleierte Zitate als literarisches Mittel im Sinne der Intertextualität handelt oder um einen illegitimen Diebstahl geistigen Eigentums. Neben den eher die Referenzauthentizität des Textes betreffenden Fragen nach Originalität und Plagiat wurde aber auch die Frage nach der literarischen Qualität des Romans neu verhandelt – und diese Frage wurde verknüpft mit einem Konzept literarischer Authentizität im Sinne von Wirklichkeitsnähe und biographisch beglaubigter ›Echtheit‹ der Romaninhalte. So ging es in den folgenden literaturkritischen Beiträgen zum Thema unter anderem darum, dass die zu diesem Zeitpunkt noch minderjährige Autorin noch keinen Zutritt zum angesagten Berliner Technoclub Berghain hatte und dementsprechend die im Roman beschriebenen Club-Erfahrungen nicht auf eigener Anschauung und persönlichen Erlebnissen beruhen könnten, sondern ›lediglich‹ auf Aneignung und Einbildungskraft.138 Die Authentizitätserwartungen, die viele Rezipient*innen an den Text richteten, sahen allerdings vor, dass der Romaninhalt auf tatsächlich gemachten Erfahrungen der Autorin aufbaut. Erwartungen, die statt von Hegemann nun vom Blogger Airen erfüllt wurden, der für sich reklamierte, die entsprechenden Drogen- und Club-Erfahrungen selbst gemacht zu haben, wie er in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung betont: »Was ich geschrieben habe, habe ich durchlitten – gottseidank bin ich ohne Krankheit davon gekommen. Das ist kein Roman, das ist mein Leben gewesen. Ich habe mir das nicht ausgedacht. Helene Hegemann hat das nicht erlebt. Ich habe das so erlebt.«139 Airen geriert sich hier also nicht nur als Urheber der umstrittenen Textstellen, sondern auch als ›Urheber‹ der entsprechenden Erfahrungen. Umgekehrt stand Helene Hegemann nun unter dem Verdacht, sich nicht nur fremde Sätze, sondern auch fremde Erfahrungen angeeignet und als die eigenen verkauft zu haben – ungeachtet der Tatsache, dass Axolotl Roadkill klar als fiktionaler Text gekennzeichnet ist. Doch die Erwartungen einer Gruppe von Leser*innen (oder zumindest einer beträchtlichen Anzahl von Rezensent*innen) zielten auf einen glaubwürdigen Einblick in die Lebenswelt eines jugendlichen Milieus ab. Durch 137 Vgl. Deef Pirmasens: Axolotl Roadkill: Alles nur geklaut. In: Die Gefühlskonserve, 05. 02. 2010, http://www.gefuehlskonserve.de/axolotl-roadkill-alles-nur-geklaut-05022010.html, zuletzt abgerufen am 28. 08. 2017 (nicht mehr abrufbar). 138 Vgl. Dirk Pilz: Gut geklaut. In: Berliner Zeitung vom 09. 02. 2010, http://www.berliner-zei tung.de/schlimm-skandal-helene-hegemann-hat-fuer-ihren-roman-axolotl-roadkill-abges chrieben-gut-geklaut-15174128, zuletzt abgerufen am 29. 08. 2017 (nicht mehr abrufbar). 139 Airen im Gespräch mit Tobias Rüther: Das habe ich erlebt, nicht Helene Hegemann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 02. 2010, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bue cher/autoren/der-bestohlene-blogger-airen-im-f-a-z-gespraech-das-habe-ich-erlebt-nichthelene-hegemann-1939795.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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den Plagiatsvorwurf wurde die Glaubwürdigkeit der Autorin erschüttert und viele der Erwartungen wurden enttäuscht. Einige Rezensent*innen haben daraufhin ihre Erwartungen korrigiert und hielten am positiven Urteil über die literarische Qualität des Buchs fest.140 In vielen Fällen jedoch zeigte sich ein normativer Charakter der Erwartungen und der Normverstoß der Autorin wurde sanktioniert, indem ihr von zahlreichen Literaturkritiker*innen das vorher unwidersprochen zugestandene literarische Talent wieder abgesprochen wurde. Jürgen Kaube schrieb in der FAZ: »Aber das Mädchen ist siebzehn. Wie ernst will man nehmen, was sie so alles über ihre Epoche und die Kunst und das Leben und das Urheberrecht von sich gibt?«141 und vermutet den Vater der Autorin, den Dramaturgen Carl Hegemann, als eigentlichen Verfasser des Romans, während Helene Hegemann lediglich als »Model« eingesetzt worden sei, das fremde Kleider vorführen solle.142 Auch Thomas Steinfeld behauptete in der Süddeutschen Zeitung, »dass die Autorin weder über die Erfahrung, noch über die Sprache verfügt, um überhaupt einen Roman schreiben zu können«.143 Willi Winkler, ebenfalls in der Süddeutschen Zeitung, schrieb: »Na gut, was soll man sagen, das Mädchen ist erst siebzehn, sie kann es nicht besser.«144 Und Sibylle Krause-Burger ruft im Tagesspiegel mit großem Pathos den Literaturpapst zu Hilfe: »Wenn das so weitergeht, wird man demnächst eine Siebenjährige entdecken und ihr Gestammel über die ersten Doktorspiele zum Bestseller hochjubeln. Nur ein Großer wie Marcel Reich-Ranicki kann uns davor bewahren.«145 Ein bemerkenswerter Aspekt dieser Kommentare ist, dass Geschlecht und Alter der Autorin, die in vorigen Rezensionen noch als Projektionsfläche für Authentizitätserwartungen dienten, nun als Erklärung für mangelndes literari-

140 Explizit äußerten sich in diesem Sinne beispielsweise die Kritiker Ijoma Mangold, Georg Diez und Peter Michalzik. Vgl. o. A.: Kritiker zu Helene Hegemanns Plagiat. Vom Wunderkind zum Dussel. In: Süddeutsche Zeitung vom 12. 02. 2010, https://www.sueddeutsche .de/kultur/kritiker-zu-helene-hegemanns-plagiat-vom-wunderkind-zum-dussel-1.63680-9, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 141 Jürgen Kaube: Germany’s Next Autoren-Topmodel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 02. 2010, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/plagiatsfall-helene-hegemann-ge rmany-s-next-autoren-topmodel-1943229.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 142 Vgl. ebd. 143 Thomas Steinfeld: Ich bin in Berlin. Es geht um meinen Wahn. In: Süddeutsche Zeitung vom 17. 05. 2010, http://www.sueddeutsche.de/kultur/helene-hegemann-ich-bin-in-berlin-es-ge ht-um-meinen-wahn-1.64959, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 144 Willi Winkler: Untermieter im eigenen Kopf. In: Süddeutsche Zeitung vom 17. 05. 2010, http://www.sueddeutsche.de/kultur/autorin-helene-hegemann-untermieter-im-eigenen -kopf-1.51981, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 145 Sibylle Krause-Burger: Die Legende von der frommen Helene. In: Der Tagesspiegel vom 25. 02. 2010, http://www.tagesspiegel.de/meinung/positionen-die-legende-von-der-fromme n-helene/1687266.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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sches Können herhalten.146 Das »Wunderkind«, das »Torpedo-Girl« wird zum »Model« und zum »Mädchen, das es nicht besser wusste«. An diesem Beispiel zeigt sich bereits, dass die Gültigkeit der Authentizitätsnorm nicht nur von Genre und Publikationsform des literarischen Texts abhängig ist, sondern auch von der spezifischen Disposition der schreibenden Person und ihrer Position im literarischen Feld. Es liegt auf der Hand, dass die Authentizitätserwartungen gegenüber einer jungen, weiblichen Debütantin von denen gegenüber einem älteren, männlichen Routinier abweichen, der sich als poeta doctus inszeniert. Während Letzterem für gewöhnlich die Fähigkeit zugestanden wird, über Themen zu schreiben, die weit von der eigenen Biographie entfernt sind, wird von jungen, weiblichen Autorinnen nicht selten ein radikal subjektiver Blick auf die eigene Lebenswelt erwartet.147 Helene Hegemann hat diese Erwartungen enttäuscht, im selben Zug wie sie die (von sicherlich noch einem größeren Teil der Leser*innenschaft gehegten) normativen Erwartungen enttäuscht hat, nach denen in literarischen Texten verwendete Fremdzitate als solche gekennzeichnet werden.148 Die Autorin beging in diesem Sinne einen doppelten Normverstoß (einen moralischen bzw. juristischen und einen ästhetischen), der entsprechend von den Autoritäten des Literaturbetriebs sanktioniert wurde. Doch stellt sich weiterhin die Frage, wie im Sozialsystem Literatur die entsprechenden Autoritäten ausfindig gemacht werden können, die über die Einhaltung literarischer Normen wachen und Normverstöße sanktionieren. Anders als beim historischen Ursprung des Authentizitätsbegriffs ist es im Kontext gegenwärtiger literarischer Wertungen weniger leicht auszumachen, welche Instanz über die Autorität verfügt, einem Autor oder einem Text Authentizität zu- oder abzusprechen. Entsprechende Autoritäten, die in historischen und außerliterarischen Zusammenhängen als Landesherr oder kirchlicher Würdenträger in Erscheinung treten, lassen sich für den Bereich der Gegenwartsliteratur nicht in dieser personellen Eindeutigkeit bestimmen – und wenn doch, dann allenfalls für Teilsysteme der Literatur.

146 Die Bedeutung von Alter und Geschlecht für spezifische Authentizitätserwartungen wird – u. a. auch am Beispiel von Helene Hegemann – ausführlich in Kapitel 3.2 sowie 3.5 dieser Arbeit thematisiert. 147 Siehe hierzu auch die Ausführungen zu Charlotte Roche in Kapitel 3.3.2 und 3.5.1 dieser Arbeit. 148 Dass auch diese Erwartungen historisch variabel sind und von der Position des Autors im literarischen Feld abhängen, wurde von Verteidigern Hegemanns in einigen Feuilletonbeiträgen am Beispiel der Zitationspraxis kanonischer Autor*innen wie Bertolt Brecht, Thomas Mann oder Elfriede Jelinek veranschaulicht, bei denen ein vergleichbarer Umgang mit Fremdtexten nicht im selben Maße wie bei Hegemann sanktioniert wurde. Vgl. Jürgen Graf: Literatur in den Grenzen des Copyrights. In: Die Zeit vom 18. 02. 2010, https://www.zei t.de/2010/08/Copyrights, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Authentizität und Literatur

Prinzipiell kann zunächst jede rezipierende Instanz normative Erwartungen an einen Text herantragen. In diesem Sinne lässt sich jede wertende Instanz auch als normgebende Instanz begreifen. Allerdings ist in Bezug auf die Norm noch die Einschränkung von von Heydebrand und Winko zu berücksichtigen, dass eine Norm »gesamtgesellschaftlich oder von einzelnen Gruppen akzeptiert sein muss«.149 Außerdem ist die Wirkung von Werturteilen wie auch die von literarischen Normen abhängig von systemspezifischen Machtstrukturen, die hier nicht unberücksichtigt bleiben sollen. Als maßgebliche Instanz für die Wertung von zeitgenössischer Literatur galt seit der Herausbildung des Buchmarkts die klassische Literaturkritik, die vor allem im 20. und 21. Jahrhundert ihre primäre mediale Ausdrucksform im Rezensionswesen des Feuilletons fand.150 Eine besondere Machtposition, die entsprechend mit symbolischem und kulturellem Kapital ausgestattet ist, nehmen dabei Literaturkritiker*innen ein, die frei oder in der Position eines Redakteurs bzw. einer Redakteurin für den Literaturteil einer überregionalen Tageszeitung arbeiten. Durch die Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung und dem Auftreten neuer Verbreitungswege für sekundäre literarische Kommunikation über Bücherblogs oder Kundenrezensionen bei Online-Versandhäusern haben sich die Ausdrucksformen der Literaturkritik diversifiziert und es haben sich verschiedene (einander teils überschneidende) Teilöffentlichkeiten herausgebildet, was letztlich zum Ergebnis hat, dass die Machtposition des Feuilletons als alleiniger Austragungsort von literaturkritischen Debatten zunehmend aufgeweicht wird.151 Diese Entwicklung hat auch zur Folge, dass die Autorität von wertenden Instanzen noch mehr als zuvor vom jeweiligen literarischen Teilsystem abhängig ist. Die maßgebliche Verhandlung von axiologischen Werten und Normen für den Bereich der Genreliteratur beispielsweise findet weitestgehend unabhängig von der klassischen Feuilleton-Kritik über andere, mittlerweile meist digitale Kommunikationswege statt. Für literarische Texte aus dem ›autonomen‹ Bereich aber, die für sich den Anspruch erheben, zur sogenannten Hochliteratur gezählt zu werden, bildet die klassische Literaturkritik nach wie vor die maßgebliche Wertungsinstanz und das Feld, auf dem auf besonders öffentlichkeitswirksame Weise die für die Gegenwartsliteratur gültigen Normen verhandelt werden. Die im Analyseteil dieser Arbeit betrachteten Texte sind vornehmlich dieser letzten Gruppe zuzuordnen, weshalb entsprechende literaturkritische Stimmen im 149 Von Heydebrand/Winko: Wertung von Literatur, S. 90. 150 Zur Geschichte der Literaturkritik vgl. ausführlich Thomas Anz/Rainer Baasner (Hg.): Literaturkritik. Geschichte, Theorie, Praxis. München 2004. 151 Zur veränderten Rolle der Literaturkritik im Zeitalter der Digitalisierung vgl. Stefan Neuhaus: »Leeres, auf Intellektualität zielendes Abrakadabra«. Veränderung von Literaturkritik und Literaturrezeption im 21. Jahrhundert. In: Heinrich Kaulen/Christina Gansel (Hg.): Literaturkritik heute. Tendenzen – Traditionen – Vermittlung. Göttingen 2015, S. 43–58.

Authentizität im Kontext schriftstellerischer Inszenierungspraktiken

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Rahmen dieser Untersuchung als Wertungs- und Zuschreibungsinstanzen mit einem gewissen Autoritätscharakter behandelt werden. Je nach konkretem Fall werden aber auch jene oben genannten Teilöffentlichkeiten in den Blick genommen und andere Formen sekundärer literarischer Kommunikation (wie etwa Amazon-Kundenrezensionen) herangezogen, um ein möglichst differenziertes Bild von der Praxis der Authentizitätszuschreibung zu zeichnen.

2.2

Authentizität im Kontext schriftstellerischer Inszenierungspraktiken

Knüpft man von hier aus wieder an das Ausgangsbeispiel der legendären Wettbewerbslesung von Rainald Goetz in Klagenfurt an, wird offensichtlich, dass ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang von Authentizitätszuschreibungen noch stärker berücksichtigt werden muss. Denn die wertenden Aussagen des Kritikers Reich-Ranicki lassen sich nicht von dem Autor Goetz und der Art und Weise, wie dieser seinen Text und sich selbst präsentiert, abkoppeln. Auch wenn Reich-Ranicki, wie oben bereits erwähnt, nur am Rande auf die denkwürdige Vortragsweise des Autors eingeht, so lässt sich seine Wertung des vorgetragenen Texts als ›authentisch‹ doch nicht vollständig von der Person des Autors bzw. dessen öffentlich wirksamer Persona (im lateinischen Wortsinn von ›Maske‹) trennen. So ist es neben dem Aspekt der Sprache, den man in diesem Zusammenhang als reines Textmerkmal verstehen mag, vor allem der Aspekt ›Leben‹, auf den Reich-Ranicki seine Authentizitätszuschreibung aufbaut. Genauer spricht Reich-Ranicki von »so viel erlebte[m] und auf spezifische Weise des Autors verarbeitete[m] Leben« und stellt so einen direkten Bezug zum Autor des Texts her.152 Auch wenn die explizite Zuschreibung von Authentizität in der Regel durch die Rezeptionsseite erfolgt, kann der Autor doch auf verschiedene Weise eine wichtige Rolle für die Zuschreibungspraxis einnehmen. Am offenkundigsten ist dies der Fall, wenn sich die Authentizitätszuschreibung in erster Linie nicht auf den literarischen Text bezieht, sondern im Sinne einer Subjektauthentizität direkt auf die Autorperson – eine Möglichkeit, die bereits im vorigen Kapitel artikuliert wurde. Aber auch wenn sich die Zuschreibung vordergründig auf den Text bezieht, ist es möglich, dass Autor*innen auf direkte oder indirekte Weise durch textuelle Merkmale wie Sujetwahl oder Stil, durch Paratexte oder die öffentliche Wirkung ihrer Person die Authentizitätserwartungen der Rezipient*innen beeinflussen. Eine weitere, wenn auch eher selten anzutreffende Möglichkeit besteht in der Selbstzuschreibung, wenn der Autor seine literari-

152 Reich-Ranicki: Tage der deutschsprachigen Literatur, Min. 5:13–5:24.

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Authentizität und Literatur

schen Texte selber explizit mit dem Label ›authentisch‹ versieht. Während im Vorigen der Fokus auf Authentizitätszuschreibungen in Form von wertenden Fremdzuschreibungen durch Instanzen der Rezeptionsseite lag, soll es also in diesem Kapitel um die Seite der literarischen Produktion, insbesondere die Inszenierungsleistung des Autors, gehen. Autorschaft und Autorinszenierung Die Zeit, in der die Thematisierung des Autors in literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen ein Tabu darstellte, hat sich im Nachhinein als eher kurzlebig herausgestellt. Die Rede vom ›Tod des Autors‹, mit der Roland Barthes 1968 in seinem gleichnamigen Essay erstmals anhob,153 wurde bereits in den 1990er Jahren zunehmend von der Verkündung einer ›Rückkehr des Autors‹ wieder abgelöst.154 Den Vorreiter*innen dieses Paradigmenwechsels ging es dabei allerdings weniger um eine Rückkehr zum philologischen Biographismus des 19. Jahrhunderts, gegen den sich die poststrukturalistischen Totengräber des Autors wandten, sondern sie plädierten vielmehr für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Autorbegriff und ein »differenzierte[s] methodologische[s] Bewusstsein von den vielfältigen Funktionen des Autors«.155 Denn in ihrer Radikalität ist die Absage der poststrukturalistischen Literaturtheoretiker*innen an die Bedeutung des Autors für seine Texte schon immer an der tatsächlichen Rezeptionspraxis vorbeigegangen. In der alltagssprachlichen Kommunikation über Literatur wie auch in der literaturwissenschaftlichen und literaturkritischen Praxis blieb der Autorname eine feste Bezugsgröße, sei es als Bezeichnung für den empirischen Autor oder als metonymische Wendung für dessen Werk – eine Beobachtung, mit der auch Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko ihre Texte zur Theorie der Autorschaft einleiten: Wir kaufen uns den ›neuen Grass‹, gehen zu Martin Walsers Autorenlesungen, protestieren gegen die Verfolgung Salman Rushdies, sehen uns die neueste ShakespeareVerfilmung im Kino an, suchen in der Buchhandlung unter der Rubrik ›Frauenliteratur‹ oder füllen im Online-Buchhandel das Suchfeld ›Autor: Name, Vorname‹ aus. Der Autor ordnet das Feld der Literatur.156

153 Vgl. Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/ Simone Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185–193. 154 So lautet auch der Titel eines in diesem Zusammenhang einschlägigen Tagungsbandes aus dem Jahr 1999: Vgl. Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999. 155 Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko: Einleitung. Autor und Interpretation. In: Dies. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 7–29, hier S. 9. 156 Ebd., S. 7.

Authentizität im Kontext schriftstellerischer Inszenierungspraktiken

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Die vermehrte Beschäftigung mit Autorschaft führte dazu, dass sich ein literaturwissenschaftlicher Forschungszweig etablierte, der den Autor nicht nur als literaturtheoretische Instanz in den Blick nimmt, sondern auch als handelnden und in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Akteur. So sind in den letzten Jahren zahlreiche Monographien und Sammelbände erschienen, die sich mit dem Phänomen der Schriftsteller- oder Autorinszenierung auseinandersetzen.157 Neben den Beiträgen, die sich allgemein mit Theorie und Geschichte der Autorinszenierung beschäftigen, gibt es auch Ansätze, welche die mediale Dimension der Inszenierungspraktiken in den Vordergrund rücken158 oder sich direkt mit einem bestimmten Medium der Autorinszenierung auseinandersetzen wie zum Beispiel dem Autorenfoto159 oder dem Interview160. Theoretisch knüpfen die Beiträge vor allem an die soziologische Feldtheorie Pierre Bourdieus an,161 aber auch das Konzept der ›biographischen Legende‹, das vom russischen Formalisten Boris Tomasˇevskij bereits 1923 in dessen Text Literatur und Biographie geprägt wurde,162 erfuhr in diesem Zuge eine Renaissance.163 Zudem ergeben sich in diesem Zusammenhang weitere Bezugstheorien aus dem Bereich der Performanz-Theorien oder aus der Theaterwissenschaft. 157 Zu den zentralen Buchpublikationen auf diesem Gebiet zählen vor allem: Christine Künzel/ Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007; Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hg.): Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008; Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011; Christopher F. Laferl/Anja Tippner (Hg.): Künstlerinszenierungen. Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert. Bielefeld 2014; Carolin John-Wenndorf: Der öffentliche Autor. Über die Selbstinszenierung von Schriftstellern. Bielefeld 2014; Sabine Kyora (Hg.): Subjektform Autor. Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2014; Alexander M. Fischer: Posierende Poeten. Autorinszenierungen vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Heidelberg 2015; Robert Leucht/Magnus Wieland (Hg.): Dichterdarsteller. Fallstudien zur biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert. Göttingen 2016. 158 Vgl. Lucas Marco Gisi/Urs Meyer/Reto Sorg (Hg.): Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview. München 2013; sowie: Vincent Kaufmann/Ulrich Schmid/Dieter Thomä (Hg.): Das öffentliche Ich. Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext. Bielefeld 2014. 159 Vgl. Sandra Oster: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung. Autorinszenierung und Kanonisierung mit Bildern. Berlin/Boston 2014. 160 Vgl. Torsten Hoffmann/Gerhard Kaiser: Echt inszeniert. Interviews in Literatur und Literaturbetrieb. Paderborn 2014. 161 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese. In.: Dies. (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 9–30. Jürgensen und Kaiser machen hier insbesondere den von Bourdieu geprägten Begriff des Habitus für ihre Typologie fruchtbar. 162 Vgl. Boris Tomasˇevskij: Literatur und Biographie. In: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 49–61. 163 Vgl. Robert Leucht/Magnus Wieland: Dichterdarsteller. Prolegomena zum Konzept der biographischen Legende. In: Dies. (Hg.): Dichterdarsteller, S. 7–33.

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Die verschiedenen theoretischen Ansätze schließen sich jedoch nur in wenigen Fällen gegenseitig aus, vielmehr werden sie in der Forschungspraxis häufig miteinander verknüpft. So verbindet Alexander M. Fischer beispielsweise Bourdieus Feldtheorie mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz einer theatralisch-performativen Autorinszenierung.164 Und Carolin John-Wenndorf amalgamiert in ihrer Dissertation die Feldtheorie mit Roland Barthes’ Konzept des Mythos und Foucaults Diskursanalyse.165 Einen besonders fruchtbaren und anwendungsfreundlichen Ansatz entwickeln Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser mit ihrer heuristischen Typologie der schriftstellerischen Inszenierungspraktiken, welche die literatursoziologische Herangehensweise von Bourdieu mit dem textanalytischen Instrumentarium von Gérard Genette verbindet. Die beiden Autoren gehen dabei vom literarischen Feld als »Schauplatz permanenter Positionierungs- und Definitionskämpfe« aus,166 auf dem die einzelnen Akteure ihre jeweilige Position nicht nur durch ihre literarischen Texte erlangen und verteidigen, sondern wesentlich auch mithilfe verschiedener paratextueller und habitueller Praktiken.167 Der von Genette geprägte Begriff des Paratexts bezeichnet »jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt«.168 Paratextuelle Phänomene lassen sich nach Genette grob in zwei Unterkategorien subsumieren: der Peritext, der sich in unmittelbarer Nähe zum Haupttext befindet und in der Regel über dasselbe Medium vermittelt wird (darunter fallen etwa der Titel des Haupttexts, Widmungen, Mottos und Vorworte), und der Epitext, der in größerem zeitlichen wie räumlichen Abstand zum Haupttext zu finden ist und auch über andere Medien vermittelt werden kann (hierzu zählen unter anderem Interviews mit dem Autor, Selbstkommentare, Briefwechsel und Tagebucheinträge).169 Entsprechend unterscheiden auch Jürgensen und Kaiser zwischen periund epitextuellen Inszenierungspraktiken.170 Dabei ist es wichtig festzuhalten, dass der Bereich des Epitexts durch den digitalen Wandel stark angewachsen ist und eine ganze Reihe von Textsorten enthält, die Genette bei der Entwicklung seiner Typologie noch nicht bedacht haben konnte: Insbesondere auf dem Gebiet des Epitexts finden sich heute im Internet zahlreiche neue Möglichkeiten für Verlag und Autor, das jeweilige Werk zu präsentieren, zu bewerben 164 165 166 167 168

Vgl. Fischer: Posierende Poeten, S. 40ff. Vgl. John-Wenndorf: Der öffentliche Autor, S. 23–65. Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 9. Vgl. ebd., S. 9f. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt am Main 2001, S. 10. 169 Vgl. ebd., S. 12f. 170 Vgl. Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 11.

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oder mit Zusatzmaterial zu versehen. Mussten sich die Akteure der literarischen Produktion zum Zeitpunkt von Genettes Studie noch mit dem Platz zufrieden geben, den ihnen Zeitungen und Radio- oder Fernsehanstalten in ihren Medien einräumten, dürfen Sie sich heute den beinahe unbegrenzten Raum des World Wide Web zunutze machen und sich neuer Verbreitungswege über Autoren- und Verlagswebsites, YouTube-Channels, Facebook und andere soziale Medien erfreuen.171

Bei den Textsorten dieser digitalen Paratexte handelt es sich zwar oft um Übertragungen (beispielsweise Interviews oder Autorenporträts, die statt in einer Print-Zeitung auf der Verlagswebsite nachzulesen sind), dennoch sind im World Wide Web auch völlig neue Paratext-Formate entstanden wie zum Beispiel Buchtrailer oder Autoren-Blogs. Diese Formate sind längst zu einem neuen und beachtenswerten Austragungsort für paratextuelle Inszenierungspraktiken geworden. Auch Jürgensen und Kaiser erweitern Genettes Typologie um eine weitere Dimension, die in diesem Fall nicht zwangsläufig sprach- oder textgebunden ist – die habituellen Inszenierungspraktiken:172 Habituelle Inszenierungspraktiken müssen nicht an das Medium der Sprachlichkeit (mündlich, schriftlich) gebunden sein. Ihre Analyse hat die performativen, sozialen/ politischen und ästhetischen Aspekte der Inszenierung zu berücksichtigen und erstreckt sich deshalb neben schriftlichen Zeugnissen vor allem auch auf Bild- und Tondokumente (z. B. Fotografien, Zeichnungen, Schallplattenaufnahmen, Fernsehoder Internetauftritte).173

Im Rahmen einer Analyse von habituellen Inszenierungspraktiken können dann auch Kleidung, Mimik, politische Einstellung oder Klassenzugehörigkeit eines Autors relevant sein, sofern diese öffentlichkeitswirksam inszeniert werden.174 Durch die Verbindung von textwissenschaftlichen und literatursoziologischen Ansätzen ist es im Rahmen der Typologie von Jürgensen und Kaiser möglich, Praktiken der Inszenierung in ihren verschiedenen Erscheinungsformen von textbezogenen über paratextuell vermittelten bis hin zu habituellen 171 Christian Dinger: Die Ausweitung der Fiktion. Autofiktionales Erzählen und (digitale) Paratexte bei Clemens J. Setz und Aléa Torik. In: Sonja Arnold/Stephanie Catani/Anita Gröger/ Christoph Jürgensen/Klaus Schenk/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft. Kiel 2018, S. 361–377, hier S. 366. 172 Bourdieu selbst hat den Begriff des Habitus während seiner akademischen Laufbahn stetig weiterentwickelt, weshalb es schwerfällt, den semantischen Gehalt dieses Terminus auf eine prägnante Definition zu kondensieren. Allgemein lässt sich aber der Habitus in Bourdieus Sinne als »System von Dispositionen« verstehen, »die im Alltagsleben als Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata fungieren«. Dieses System wiederum setzt einen »Prozess der Einverleibung oder Inkorporation von gesellschaftlichen Strukturen« voraus (Hans-Peter Müller: Pierre Bourdieu. Eine systematische Einführung. Berlin 2014, S. 37f.). 173 Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 13. 174 Vgl. ebd., S. 13f.

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Phänomenen zu erfassen und hierbei auch die unterschiedlichen medialen Bedingungen zu berücksichtigen. In diesem synoptischen Blick auf die Inszenierungsleistung von Autor*innen liegt ein großer Vorteil, weshalb dieser Ansatz als heuristische Grundlage für die im Rahmen dieser Arbeit erfolgenden Inszenierungsanalysen dienen wird. Zunächst aber soll an dieser Stelle das Verhältnis von Authentizität und Inszenierung reflektiert werden, um auf diese Weise sowohl den Authentizitäts- als auch den Inszenierungsbegriff zu schärfen. Inszenierung und Authentizität »Inszenierungspraktiken«, so Jürgensen und Kaiser, »das meint zunächst jene textuellen, paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten von SchriftstellerInnen, in oder mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen.«175 Dabei besteht der Inszenierungscharakter der zu untersuchenden Praktiken in der »absichtsvolle[n] Bezogenheit auf öffentliche Resonanzräume«.176 Bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Autorinszenierung, so wie Jürgensen und Kaiser sie verstehen, geht es also nicht darum, alle öffentlich wirksamen Schriftsteller*innen unter den Generalverdacht zu stellen, sich permanent marktförmiger Täuschungsmanöver zu bedienen, wie es ein auch in der literaturwissenschaftlichen Forscher*innengemeinde immer noch existierendes Missverständnis nahelegt. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Autor*innen ganz bewusst in der Öffentlichkeit agieren und sich präsentieren, um sich langfristig auf dem literarischen Feld zu positionieren. Ob und inwieweit diese öffentliche Selbstdarstellung deckungsgleich ist mit dem privaten oder dem ›authentischen‹ Selbst der einzelnen Autor*innen, bleibt dabei eine Frage, die wissenschaftlich schlechterdings nicht beantwortet werden kann und als solche in diesem Zusammenhang auch gar nicht gestellt wird. Stattdessen geht es vielmehr um das ›Wie‹ der Inszenierungsleistung und die Frage, wie sich diese mit den Konventionen des literarischen Feldes und den Erwartungen der Rezipient*innen ins Verhältnis setzen lässt. Aus dem Missverständnis, bei Inszenierungspraktiken handle es sich automatisch um Praktiken des Sich-Verstellens, resultiert auch die Annahme, der Inszenierungsbegriff stehe in Opposition zum Authentizitätsbegriff und deshalb handle es sich bei der Rede von ›inszenierter Authentizität‹ um ein Paradoxon. So 175 Ebd., S. 10. Diese Bestimmung knüpft dabei an eine von Gerhard Kaiser bereits 2004 in einem Beitrag entwickelte Definition an. Vgl. Gerhard Kaiser: Inszenierungen des Authentischen. Martin Kessel und Die epochale Substanz der Dichtung. In: Stefan Scherer/ Claudia Stockinger (Hg.): Martin Kessel (1901–1990) – ein Dichter der klassischen Moderne. Bielefeld 2004, S. 109–142, hier S. 118f. 176 Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 10.

Authentizität im Kontext schriftstellerischer Inszenierungspraktiken

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plädieren beispielsweise Matthias Schaffrick und Marcus Willand dafür, den Authentizitätsbegriff in Bezug auf Autorschaft nur dann zu verwenden, »wenn eine Unterscheidung zwischen Inszenierung und Authentizität, Inauthentischem und Nicht-Inszeniertem getroffen und beobachtbar wird«.177 Eine Inszenierung von Authentizität hingegen ist aus der Sicht der beiden Autoren überhaupt nicht möglich: Wenn man davon ausgeht, dass Autorschaft unvermeidlich Inszenierungspraktiken erfordert, weil die Repräsentation und Wahrnehmung von Autorschaft auf mediale Dispositive angewiesen und also immer nur mittelbar beobachtbar ist, so schließt diese Annahme Unmittelbarkeit und Authentizität systematisch aus.178

Demgegenüber betonen Jürgensen und Kaiser, dass es sich bei ›Inszenierung‹ keinesfalls um einen Gegenbegriff zu ›Authentizität‹ handelt: »Auch fungiert der Begriff der ›Inszenierungspraktiken‹ nicht als kulturkritischer, pejorativer Gegenbegriff zu diversen ›Authentizitäts‹-Vorstellungen im Sinne von ›Täuschung‹.«179 Auch Eleonore Kalisch kommt im Rahmen ihrer begriffsgeschichtlichen Untersuchung zu dem Schluss: »Darstellung ist nicht der Gegenpol zu Authentizität und umgekehrt. […] Geht man dem Verhältnis von Authentizität und Darstellung begriffs- und problemgeschichtlich nach, so wird vielmehr deutlich: Darstellung […] war immer ein konstitutives Moment von Authentizität.«180 In dem für diese Arbeit relevanten Untersuchungszusammenhang ist die Rede von inszenierter Authentizität aber allein schon deshalb unproblematisch, weil, wie eingangs bereits betont wurde, nicht Authentizität an sich im Sinne einer essentialistischen Vorstellung vom tatsächlich Echten, Unverstellten und Ursprünglichen untersucht werden kann und soll, sondern Effekte des Authentischen. Und diese lassen sich jenseits von medialer Darstellung und Vermittlung schlechterdings nicht betrachten. Es geht also in diesem Zusammenhang nicht etwa um das Verstellen des Unverstellten oder um eine Vermittlung von Unmittelbarkeit, sondern um öffentlichkeitsbezogene Praktiken, die auf Rezipient*innenseite Authentizitätserwartungen erzeugen, befriedigen, unterlaufen oder in sonstiger Weise beeinflussen.

177 Matthias Schaffrick/Marcus Willand: Autorschaft im 21. Jahrhundert. Bestandsaufnahme und Positionsbestimmung. In: Dies. (Hg.): Theorien und Praktiken der Autorschaft. Berlin/ Boston 2014, S. 3–148, hier S. 88. 178 Ebd. 179 Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 10. 180 Eleonore Kalisch: Aspekte einer Begriffs- und Problemgeschichte von Authentizität und Darstellung. In: Erika Fischer-Lichte/Isabel Pflug (Hg.): Inszenierung von Authentizität. Tübingen/Basel 2000, S. 31–44, hier S. 31.

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Authentizität und Literatur

Inszenierung von Authentizität Dabei fällt auch in diesem Zusammenhang erneut der proteushafte Charakter des Authentizitätsbegriffs auf. Es lassen sich gleich eine ganze Reihe von Inszenierungspraktiken ausmachen, die das Potential dazu haben, Authentizitätseffekte zu erzeugen, und es fällt schwer, diese unter eine gemeinsame Kategorie zu subsumieren. Jürgensen und Kaiser rechnen »distinktive Formen der Authentizitätsbeglaubigung« den ästhetischen Inszenierungspraktiken zu.181 Diese Beglaubigungen erfolgen laut der beiden Autoren unter anderem »durch existenzielle Erfahrungen, durch Inspiration, durch Selbstzurechnung zu Kollektiven von der Nation bis zur Arbeiterklasse, durch Inanspruchnahme historisch variabler Persönlichkeitsprofile bzw. Rollenmuster«.182 Diese Charakterisierung, die sich in die Typologie habitueller Inszenierungspraktiken einreiht, erscheint zunächst einmal plausibel. Bei näherer Betrachtung weist die Einteilung jedoch einige Inkongruenzen auf. So fällt es zum Beispiel schwer, eine klare Unterscheidung zu treffen zwischen einer »Selbstzurechnung zu Kollektiven von der Nation bis zur Arbeiterklasse« als Authentizitätsbeglaubigungsstrategie und somit ästhetischer Inszenierungspraktik auf der einen Seite und der »Inszenierung von Schichten- Gruppen- oder Klassenzugehörigkeit«, die Jürgensen und Kaiser den sozialen und politischen Inszenierungspraktiken zurechnen, auf der anderen Seite.183 Auch ließen sich bestimmte Formen der performativen Inszenierungspraktiken ebenfalls als Authentizitätsinszenierungen charakterisieren, beispielsweise die »öffentlichkeitsbezogenen ›Alltags‹-Darstellung[en]«.184 Das Beispiel, das Jürgensen und Kaiser hierfür wählen – »Oskar Maria Grafs Selbstinszenierungen als lederhosentragender Anti-Intellektueller bei öffentlichen Lesungen«185 – lässt sich durchaus als Authentizitätsinszenierung interpretieren, bei der es darum geht, authentizitätssuggerierende Qualitäten wie Bodenständigkeit, Volksnähe und Individualität darzustellen. Insgesamt lässt sich sagen, dass die Vielfältigkeit der Erscheinungsformen authentizitätsbeglaubigender Inszenierungsstrategien eine eindeutige Zuordnung als Unterkategorie der ästhetischen Inszenierungspraktiken nicht zulässt. Deshalb ist die ansonsten sehr vorteilhafte Typologie von Jürgensen und Kaiser nur bedingt dafür geeignet, die schriftstellerische Inszenierung von Authentizität näher einzugrenzen. Einen weiteren Einteilungsversuch von Authentizitätsinszenierungen unternimmt Carolin John-Wenndorf in ihrer Dissertation zu schriftstellerischen Selbstinszenierungen. Als eine von zwölf Praktiken der Selbstdarstellung be181 182 183 184 185

Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 14. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

Authentizität im Kontext schriftstellerischer Inszenierungspraktiken

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trachtet sie die Praktik der Hypostasierung von Authentizität und unterteilt diese in die Darstellung von habitueller, natürlicher und radikal-subjektiver Authentizität.186 Habituelle Authentizität manifestiert sich laut John-Wenndorf »in einem milieuspezifischen Geschmack«.187 In einem ganz wörtlichen Sinne erkennt sie diese Darstellung des Geschmacks bei Günter Grass’ ausgestellter Vorliebe für einfache, bodenständige Küche: In den deftigen Speisen reflektieren sich Weltsichten; nahrhafte Speisen, besonders die, die mit dem Löffel oder mit der Schöpfkelle serviert werden, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, man müsse streng bemessen, symbolisieren den Mythos des Authentischen, Wirklichen im Gegensatz zu allem bloß Scheinhaften.188

Grass’ Inszenierung als Hobbykoch und Genießer von einfacher Hausmannskost ist ein ähnlicher Fall wie das von Jürgensen und Kaiser vorgebrachte Beispiel von Oskar Maria Grafs volkstümlicher Inszenierung als Anti-Intellektueller. Die Besonderheit liegt hier in dem Umstand, dass sich beide Autoren in den genannten Zusammenhängen dezidiert nicht als Schriftsteller (im Sinne eines Schreibenden) inszenieren, sondern eine Tätigkeit bzw. einen milieuspezifischen Habitus ins Zentrum ihrer Selbstinszenierung stellen, der zunächst einmal nicht im engeren Sinne mit dem Schreiben literarischer Texte assoziiert wird. Gerade bei Grass fällt zudem auf, dass der hier inszenierte volkstümliche Habitus mitunter dem öffentlichen Bild widerspricht, das ebenfalls vom Autor existiert: das des international anerkannten Intellektuellen und Schriftstellers mit hochkulturellem Anspruch, der eher dem Bildungsbürgertum als dem ›einfachen Volk‹ zuzurechnen wäre. Die authentizitätssuggerierende Leistung liegt hier weniger in der Darstellung eines individuellen Habitus, wie es John-Wenndorf nahelegt,189 vielmehr scheint es der Habitus bestimmter Milieus zu sein, der eine authentizitätssteigernde Wirkung hat. Vor allem der von Bourdieu so bezeichnete populäre Geschmack der Volksklasse190 gilt in vielen Zusammenhängen als bodenständig, unverstellt und ursprünglich und vereint damit eine ganze Reihe von Ableitungen des Authentizitätsbegriffs auf sich, während exklusive Kleidung, erlesene Speisen und kostspieliges Mobiliar schnell in den Verdacht des Artifiziellen, des Affektierten und des ›schönen Scheins‹ geraten.191 Die beiden weiteren Kategorien in John-Wenndorfs Einteilung, natürliche und radikal-subjektive Authentizität, werden von der Autorin exemplarisch 186 187 188 189 190

Vgl. John-Wenndorf: Der öffentliche Autor, S. 161–175. Ebd., S. 167. Ebd., S. 169. Vgl. ebd., S. 167. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982, S. 585ff. 191 Die milieu- bzw. klassenspezifische Inszenierung von Authentizität wird in Kapitel 3.4.3 am Beispiel von Clemens Meyer diskutiert.

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Authentizität und Literatur

anhand spezifischer Inszenierungspraktiken von Peter Handke und Charles Bukowski illustriert. So charakterisiert sie Handkes medial ausgestellte Naturverbundenheit als individualauthentische Inszenierung einer romantisch-rousseauistischen Ursprünglichkeitssemantik: Wenn Handke am Fuße eines über Jahrzehnte gewachsenen, mächtigen Baumstammes sitzt, ein anderes Mal Früchte erntet, im klaren Wasser schwimmt oder im Freien liest, wird dieser fiktionalisierte, instrumentalisierte Naturzustand zu seiner Alterität und, verstärkt durch ein dadurch evoziertes gefühlsbedingtes Existenzbewusstsein, zum Symbol für seine unverfälschte und damit auch moralisch integre Natur.192

Die radikal-subjektive Authentizität hingegen orientiert sich laut John-Wenndorf nicht an einer externen Bezugsgröße wie der Natur, sondern entspringt einer »nicht verallgemeinerungsfähigen subjektiven Innerlichkeit«.193 Als Beispiele führt die Autorin die provozierenden und scheinbar spontan ablaufenden öffentlichen Auftritte von Charles Bukowski, Harry Rowohlt und Klaus Kinski an.194 Bei den Beispielen, die John-Wenndorf für die natürliche und die radikalsubjektive Authentizität vorstellt, fällt zunächst auf, dass es sich auch hierbei streng genommen um habituelle Inszenierungspraktiken handelt, was bereits eine Unstimmigkeit in der Kategorisierung offenlegt. Während die Kategorie der habituellen Inszenierung zunächst einmal auf die lokale Dimension abzielt, also auf das ›Wo?‹ der Inszenierung verweist, beziehen sich die Kategorien der natürlichen und der radikal-subjektiven Inszenierung von Authentizität auf das ›Was?‹ der Inszenierung, genauer gesagt: auf konkrete Ableitungen des Authentizitätsbegriffs. Denn genau wie sich aus dem literarischen Wert der Authentizität verschiedene spezifischere Werte ableiten lassen, lassen sich auch verschiedene inhaltlich näher einzugrenzende Erscheinungsformen der Authentizitätsinszenierung aus dem Authentizitätsbegriff ableiten. So lassen sich die von Grass inszenierte Bodenständigkeit und Volksnähe, die von Handke inszenierte Naturverbundenheit und Ursprünglichkeit und die von Bukowski inszenierte Spontanität und Unmittelbarkeit jeweils als Ableitungen aus dem allgemeinen Wert der Authentizität verstehen. Jedoch werden alle von JohnWenndorf als Beispiele aufgeführten Inszenierungspraktiken habituell vermittelt. Die Einteilung in habituelle, natürliche und radikal-subjektive Inszenierung von Authentizität ist damit weder vollständig noch kongruent. 192 John-Wenndorf: Der öffentliche Autor, S. 171. 193 Ebd., S. 173. Das Konzept einer subjektiven Innerlichkeit versieht John-Wenndorf durch ihre Bezugnahme auf Søren Kierkegaard und Karl Jaspers mit einem existentialistischen Überbau, der allerdings in den Ausführungen der Autorin eher skizzenhaft bleibt. Vgl. ebd., S. 172f. 194 Vgl. ebd., S. 172–175.

Authentizität im Kontext schriftstellerischer Inszenierungspraktiken

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Vollständig ist die Einteilung vor allem auch deswegen nicht, weil die wenigen hier genannten authentizitätsverbürgenden Qualitäten (Bodenständigkeit, Ursprünglichkeit, Spontanität) nur einen kleinen Ausschnitt aus der Vielzahl möglicher Ableitungen aus dem Authentizitätsbegriff darstellen. Als Hochwertbegriff der digitalen Gegenwart erzeugt dieser immer neue Ableitungen in immer neuen Kontexten, weshalb eine inhaltsbezogene Kategorisierung authentizitätsbeglaubigender Inszenierungspraktiken generell problematisch ist – zumindest, wenn diese den Anspruch auf Vollständigkeit und Letztgültigkeit erhebt. Eine inhaltsbezogene Einteilung verschiedener Erscheinungsformen schriftstellerischer Authentizitätsinszenierungen erfolgt im dritten Teil dieser Arbeit – allerdings ohne solch einen Anspruch. Vielmehr soll dort eine Einteilung in verschiedene thematische Zusammenhänge erfolgen, die sich in der Kommunikation über Authentizitätseffekte in der jüngsten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als besonders relevant erwiesen haben. Eine komplette Auflistung der inhaltlichen Ableitungen aus dem Authentizitätsbegriff soll aber hier nicht vorgelegt werden, da eine solche dem proteushaften Charakter und den vielseitigen und sich wandelnden Bedeutungsebenen des Begriffs nicht Rechnung tragen könnte. Stattdessen soll an dieser Stelle zunächst eine grobe Einteilung auf formaler Ebene erfolgen. Unterschieden wird zwischen einer werkbezogenen Inszenierung von Authentizität und einer primär subjektbezogenen Inszenierung von Authentizität. Während sich in einer werkbezogenen Inszenierung eindeutige Bezüge zum literarischen Werk des jeweiligen Autors ausmachen lassen, werden unter die Kategorie der subjektbezogenen Inszenierung jene Praktiken subsumiert, die vor allem den Autor als Person bzw. als öffentlich wirksamen Akteur betreffen und nur mittelbar auf das literarische Werk des Autors verweisen.195 Hierbei handelt es sich allerdings um eine graduelle Unterscheidung. Da bei schriftstellerischen Inszenierungspraktiken immer der Autor als Produzent literarischer Texte im Vordergrund steht, lassen sie sich nie völlig ohne Rückwirkung auf das literarische Werk denken. Die hier getroffene Unterscheidung zeigt daher zunächst einmal die Tendenz an, in welchem Maße Inszenierungspraktiken dazu genutzt werden, nicht nur die jeweilige Autorperson, sondern auch das zugehörige Werk zu authentifizieren. Die im Beispiel von Carolin John-Wenndorf thematisierten Kochkünste von Günter Grass lassen sich beispielsweise als subjektbezogene Inszenierung von Authentizität lesen. Zwar spielen bürgerliche Küche und Essenszubereitung auch 195 Diese Unterscheidung lässt sich ergänzend zur im vorigen Kapitel getroffenen Unterscheidung verstehen, nach der die Zuschreibung des Werts der Authentizität entweder auf die discours- oder die histoire-Ebene des literarischen Texts gerichtet ist oder aber auf die Person des Autors.

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Authentizität und Literatur

in Grass’ literarischem Werk eine Rolle,196 wie John-Wenndorf ebenfalls betont;197 von einer Authentifizierung des literarischen Werks über die Mittel der Selbstinszenierung kann in diesem Zusammenhang jedoch nicht die Rede sein. Vielmehr scheint es hier vorrangig um Grass’ Wahrnehmung als öffentliche Person im Sinne einer habituellen Subjektauthentizität zu gehen. Das Hervorkehren des kleinbürgerlichen Habitus in Verbindung mit dem Handwerksbezug des Kochens lässt dabei einen bewusst gesetzten Kontrapunkt zum öffentlichen Bild des Autors als intellektueller Geistesmensch vermuten. Der Bezug zum literarischen Werk hingegen ist weniger offensichtlich und lässt sich zudem eher als gemeinsames Motiv herausarbeiten denn als übergeordnete Inszenierungsstrategie. Ein besonders prägnantes Beispiel für die werkbezogene Inszenierung von Authentizität lässt sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts bei Karl May ausmachen. Hinter dem großen kommerziellen Erfolg von dessen Abenteuerromanen und ›Reiseerzählungen‹ stand schon früh eine Marketingkampagne, die im Rückblick als prototypisch für die Vermarktungsstrategien von Bestsellern im 20. und 21. Jahrhundert betrachtet werden kann. Mays Bücher wurden durch öffentliche Auftritte des Autors und den Verkauf von Autorenfotografien flankiert.198 Die Beliebtheit der Romane ging auf diese Weise einher mit einem für das literarische Feld seiner Zeit relativ ungewöhnlichen Personenkult, weshalb Karl May in der literaturwissenschaftlichen Forschung heute als ein »früher Popstar der deutschen Literatur« gehandelt wird.199 Nicht wenige der im Zuge dieses Autorenkults vertriebenen Fotografien zeigen May, der nach einer kleinkriminellen Karriere inklusive Zuchthausaufenthalt eine weitgehend bürgerlich situierte Schriftstellerexistenz führte,200 in der Pose eines weltgewandten Abenteurers. In ihrer Dissertation über Autorenfotos als Medium der Autorinszenierung nimmt die Buchwissenschaftlerin Sandra Oster eine dieser Abbildungen genauer in den Blick: Eine der Old-Shatterhand-Aufnahmen Alois Schießers zeigt Karl May als Ganzfigur in voller Kostümierung: In Lederkluft gekleidet steht er aufrecht vor einer gemalten Kulisse, er hält mit der rechten Hand ein Gewehr, die linke ist in die Seite gestützt. Um den Oberkörper ist ein Lasso geschlungen, das Revolverholster am Gürtel vervollständigt die Ausrüstung. Der Leser erkennt in dieser abenteuerlustig anmutenden Erscheinung Old

196 Dies lässt sich bereits am berühmten Romananfang von Der Butt ablesen: »Ilsebill salzte nach. Bevor gezeugt wurde, gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen.« Günter Grass: Der Butt. Darmstadt 1977, S. 9. 197 Vgl. John-Wenndorf: Der öffentliche Autor, S. 168. 198 Vgl. Oster: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, S. 93f. 199 Vgl. Helmut Schmiedt: Karl May – ein früher Popstar der deutschen Literatur. In: Grimm/ Schärf: Schriftsteller-Inszenierungen, S. 59–70. 200 Vgl. ebd., S. 59.

Authentizität im Kontext schriftstellerischer Inszenierungspraktiken

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Shatterhand und identifiziert das Gewehr als Winnetous Silberbüchse. Die Kostümierung ist mit Details aus den Texten gespickt. Sie erhält dadurch illustrativen Wert. Text und Bild verweisen gegenseitig aufeinander und beglaubigen einander – der fotografische Wirklichkeitseffekt trägt dazu bei.201

Über diese Form der paratextuellen Inszenierung durch Autorenfotos suggeriert Karl May eine Identität zwischen sich selbst und dem Ich-Erzähler seiner Reiseerzählungen. »Die Ich-Form des Erzählens«, so Karl-May-Forscher Helmut Schmiedt, »ist nicht mehr nur ein Kunstmittel, sondern wird auch zum Zeichen für den Realitätsgehalt des Erzählten, beglaubigt durch die empirische Person, wenn man so will: durch den Körper des Autors Karl May«.202 May ging allerdings in seiner Selbstdarstellungspraxis noch über die Authentizitätssuggestion der Autorenfotos hinaus und bekräftigte durch paratextuelle Aussagen bei öffentlichen Auftritten und in privater Korrespondenz ganz explizit: »Ich bin wirklich Old Shatterhand resp. Kara Ben Nemsi und habe erlebt, was ich erzähle.«203 Auch performativ ist May bestrebt, den fiktionalen Inhalt seiner Romane über die Darstellung seiner eigenen Person bzw. seines Körpers zu authentifizieren, wenn er etwa »die Narbe einer Stichverletzung am Hals bloß[legt], die er angeblich im Zweikampf mit Winnetou erlitten hat«.204 Bei einer anderen öffentlichen Veranstaltung »zelebriert er mit dem Publikum ein fünfminütiges Trauerschweigen zur Erinnerung an Winnetous Tod und bricht danach in Tränen aus«.205 Bei dieser radikalen Gleichsetzung von Erzähler und Autor, die in der Forschung als Old-Shatterhand-Legende bezeichnet wird,206 handelt es sich natürlich um eine sehr spezielle Inszenierungsstrategie, bei der über die Authentizitätssuggestion hinaus eine veritable Täuschungsabsicht dem Publikum gegenüber anzunehmen ist.207 Aber dennoch wird hier das Prinzip der werkbezogenen Inszenierung von Authentizität offenkundig: Mays performative Gleichsetzung des Autor-Ichs mit dem homodiegetischen Erzähler-Ich dient zuallererst der Beglaubigung seiner literarischen Texte als authentische Reiseberichte. Die Aufwertung seiner Person durch subjektauthentische Qualitäten (etwa die erleb201 Oster: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, S. 92. 202 Schmiedt: Karl May, S. 59. 203 Karl May: Brief an einen Leser, 15. April 1898. In: Sabine Beneke/Johannes Zellinger (Hg.): Karl May – Imaginäre Reisen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin vom 31. August 2007 bis 6. Januar 2008. Bönen 2007, S. 85. 204 Schmiedt: Karl May, S. 60. 205 Ebd. 206 Vgl. ebd. 207 May selbst wies jede Täuschungsabsicht von sich und beteuerte, als seine tatsächliche Biographie in den Fokus der Öffentlichkeit geriet, die Gleichsetzung von Autor und Erzähler sei von ihm lediglich metaphorisch gemeint. Vgl. ebd., S. 61. Zur Rolle von Täuschungsabsichten im Kontext von Authentizitätsinszenierungen siehe auch den Abschnitt zu Fälschung und Fake im Kapitel 2.3 dieser Arbeit.

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Authentizität und Literatur

nisorientierte Abenteuerlust eines Individualisten) ist dabei eher ein Nebeneffekt. Anders als bei Günter Grass zielt Mays Inszenierungsstrategie nämlich nicht nur auf das öffentliche Bild des schreibenden Subjekts, sondern auch auf die Rezeptionshaltung, die sich der Autor offenbar von seinen Leser*innen wünscht. Dabei wird eine Einheit von Leben und Werk inszeniert, die den doppelten Effekt hat, dass beides sich gegenseitig authentifiziert: Durch die Aussagen und die performative Selbstdarstellung Karl Mays erhalten die literarischen Texte den Anschein eines dokumentarischen Charakters, der wiederum die Abenteuerlust und den unverstellten Individualismus des Autors beglaubigt. Selbstverständlich treten werkbezogene Inszenierungen von Authentizität nicht immer auf solch exzentrische Weise in Erscheinung wie bei Karl May. Der zentrale Aspekt für die hier getroffene Unterscheidung besteht im Wesentlichen darin, dass die werkbezogene Inszenierung das Potential besitzt, nicht nur das öffentlich wirksame Bild des Autors zu beeinflussen, sondern in entscheidender Weise auch die Rezeption seiner Texte.

2.3

Authentizität als Fiktionalitätsparadoxon?

Die Gleichsetzung von Erzähler-Ich und Autorsubjekt, die Karl May mit seiner Inszenierung betreibt, fördert noch einen weiteren Aspekt des literaturspezifischen Authentizitätsdiskurses zutage, der hier in einem gesonderten Kapitel behandelt werden soll. Dieser betrifft den Fiktionsstatus literarischer Texte. In Kapitel 2.1 wurde bereits geklärt, dass sich unterschiedliche literarische Werte aus dem Authentizitätsbegriff ableiten lassen und dass die Zuschreibung von Authentizität auf verschiedene Ebenen eines literarischen Textes und auf den Autor selbst abzielen kann. In diesem Kapitel geht es um eine Verwendungsweise von Authentizität, die sich in der Kommunikation über Gegenwartsliteratur als besonders dominant erwiesen hat: die Verknüpfung des Inhalts literarischer Texte mit dem Erleben des empirischen Autors. Dieser Aspekt zeigt sich insbesondere in den aus dem Authentizitätsbegriff abgeleiteten Werten ›Wirklichkeitsnähe‹ und ›Echtheit‹ und äußert sich etwa in der vielen Büchern und Filmen mit aufwertender Absicht vorangestellten Anmerkung: »Die Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten« oder der beliebten Publikumsfrage bei öffentlichen Autorenlesungen: »Ist die Geschichte, die Sie in Ihrem Roman erzählen, autobiographisch?«. Diese Form der Authentizitätserwartung auf Rezipient*innenseite bzw. der Authentizitätssuggestion auf Produktionsseite führt zu der naheliegenden Frage, ob es nicht paradox ist, von fiktionalen Texten zu erwarten,

Authentizität als Fiktionalitätsparadoxon?

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die Wirklichkeit abzubilden. Literarische Authentizität ließe sich also in diesem Zusammenhang zunächst als Fiktionalitätsparadoxon verstehen.208 Die Paradoxie liegt allerdings nicht darin begründet, dass Authentizität etwa mit Faktualität gleichzusetzen wäre. In diesem Fall ließe sich das Authentizitätsproblem recht einfach auf den sehr viel eindeutigeren Begriff der Faktualität reduzieren und bei der Zuschreibung von Authentizität in Bezug auf fiktionale Texte würde es sich lediglich um eine Rezeption fiktionaler Texte als faktuale Tatsachenerzählungen handeln. Zwar lässt sich eine gewisse semantische Nähe der Konzepte von Faktualität und Authentizität nicht leugnen, dennoch zeigt sich in der Zuschreibungspraxis, dass als authentisch bezeichnete Texte nicht automatisch als faktuale Texte rezipiert werden. Im Fall von Karl May und der von ihm inszenierten Old-Shatterhand-Legende wird durch die vom Autor suggerierte Gleichsetzung von homodiegetischem Erzähler und Autor zwar durchaus eine Rezeption der Abenteuerromane als faktuale Erlebnisberichte nahegelegt (flankiert durch die paratextuelle Genrekennzeichnung als ›Reiseerzählungen‹), in den zuvor behandelten Beispielen von Rainald Goetz und Helene Hegemann lassen sich jedoch keine grundsätzlichen Zweifel am Fiktionsstatus der jeweiligen Texte ausmachen. Auch wenn Marcel Reich-Ranicki sich in seinem Jury-Urteil explizit auf das Erleben des Autors bezieht, scheint es abwegig, ihm zu unterstellen, er habe Goetz’ Text als faktuale Textsorte rezipiert. Und auch die Rezensent*innen, die sich empört darüber zeigten, dass Helene Hegemann fremde statt eigene Erlebnisse als Vorlage für ihren Roman nutzte, hielten Axolotl Roadkill ganz offensichtlich nicht für eine Autobiographie oder ein Tagebuch der Autorin. Es liegt deshalb nahe, zu vermuten, dass sich Authentizität im Spannungsfeld von Fiktionalität und Faktualität bewegt, ohne sich aber eindeutig einem der beiden Pole zuordnen zu lassen. Entsprechend wäre ›authentisches Erzählen‹ in einem nicht näher bestimmbaren Bereich zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen anzusiedeln.209

208 Das Fiktionalitätsparadoxon, wie es hier verstanden wird, ist nicht zu verwechseln mit dem ›Paradoxon der Fiktion‹ bei Íngrid Vendrel Ferran. Dieses bezieht sich laut Ferran auf die psychologischen Reaktionen von Rezipient*innen auf Elemente fiktionaler Erzählungen (z. B. die Angst vor Dracula trotz des Wissens um dessen Fiktivität). Vgl. Íngrid Vendrel Ferran: Das Paradoxon der Fiktion. In: Tobias Klauk/Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin/Boston 2014, S. 313–337. Das Prinzip der beiden Paradoxa ist allerdings ein ähnliches: Es wird sich gegenüber fiktionalen Texten so verhalten, als handle es sich (zumindest in Teilen) um faktuale Texte mit dem Anspruch, die außertextuelle Wirklichkeit abzubilden. 209 Wo genau das Authentische zwischen diesen beiden Polen zu verorten ist, bleibt vage und je nach Zuschreibungspraxis unterschiedlich zu bewerten, wie sich am Beispiel von Karl May gezeigt hat. Angesichts der generellen Vagheit des Authentizitätsbegriffs ist dies jedoch kaum verwunderlich.

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Authentizität und Literatur

Diese Überlegung knüpft an jüngere Entwicklungen in der Fiktionalitätsforschung an, nach denen eine uneingeschränkte Gültigkeit der Dichotomie von ›fiktional‹ und ›faktual‹ infrage gestellt wird. So kommen etwa Jan Gertken und Tilmann Köppe zu dem Schluss, dass die fiktional/faktual-Unterscheidung angesichts von Schlüsselromanen und anderen Grenzfällen keine ausreichende Grundlage für eine erkenntnisfördernde Kategorisierung bietet.210 Als Konsequenz stellen die beiden Autoren drei verschiedene Optionen für eine begriffliche Neuordnung vor: (1.) Die Unterscheidung zwischen fiktional und faktual ist nicht vollständig, (2.) sie ist nicht exklusiv oder (3.) es handelt sich bei der Unterscheidung um einen »unauflöslichen Fall von Vagheit«.211 Auch Wolfgang Iser geht davon aus, dass die Dichotomie von ›fiktional‹ und ›faktual‹ nicht vollständig ist, und plädiert schon 1993 dafür, »das Oppositionsverhältnis durch eine Triade des Realen, Fiktiven und Imaginären auszuweiten«.212 Eine adäquate Begriffsbestimmung des Imaginären hat sich allerdings als nicht weniger schwierig erwiesen, weshalb sich die von Iser vorgeschlagene Triade in der Forschungspraxis nicht hat durchsetzen können. Es ist jedoch keineswegs das Anliegen dieses Kapitels, das Authentische als eine gleichberechtigte dritte Kategorie neben dem Fiktionalen und dem Faktualen zu etablieren – schließlich handelt es sich bei ›Authentizität‹ nicht um eine Analysekategorie, sondern um ein Zuschreibungsmerkmal bzw. um einen axiologischen Wert. Dennoch kann sich die Zuschreibung von Authentizität auf die Unschärfe der fiktional/faktual-Unterscheidung stützen. Im konkreten Fall kann das etwa so aussehen, dass faktuale Elemente in einem fiktionalen Text als Anlass dafür genommen werden, einem Text Authentizität zuzusprechen ohne dem Text dabei zwingend den Fiktionscharakter abzusprechen. Diese faktualen Elemente lassen sich auch – analog zu Fiktionssignalen –213 als Authentizitätssignale begreifen: Signale also, die statt als Indiz für die Faktualität eines Textes als textuelle oder paratextuelle Inszenierung von Authentizität fungieren und somit Anlass für Authentizitätszuschreibungen liefern können. Solche Authentizitätssignale können beispielsweise darin bestehen, dass Elemente der realen Biographie des Autors thematisiert werden oder eine Namensgleichheit zwischen einer literarischen Figur und dem Autor besteht und auf diese Weise eine besondere Bezugnahme auf die außertextuelle Wirklichkeit vermittelt wird. 210 Vgl. Jan Gertken/Tilmann Köppe: Fiktionalität. In: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York 2009, S. 228–266, hier S. 259. 211 Ebd. 212 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main 1993, S. 19. 213 Zum Begriff der Fiktionssignale vgl. ausführlich: Frank Zipfel: Fiktionssignale. In: Klauk/ Köppe (Hg.): Fiktionalität, S. 97–124.

Authentizität als Fiktionalitätsparadoxon?

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Doch auch wenn eine Authentizitätszuschreibung nicht gleichbedeutend ist mit einer Faktualitätszuschreibung, bleibt in der Erwartung, fiktionale Texte müssten zumindest in Teilen die empirische Wirklichkeit abbilden und beispielsweise überprüfbare Aussagen über die Biographie des Autors enthalten, doch eine Paradoxie bestehen. Und es stellt sich die Frage, ob diese Paradoxie in der Rezeptionspraxis, wenn nicht zu einem Bruch, dann zumindest zu einem Aufweichen des Fiktionspakts führen kann. Zuvor muss aber die Frage gestellt werden, ob die literaturtheoretische Konstruktion des Fiktionspakts überhaupt ein nützliches Werkzeug ist, um das hier zu untersuchende Phänomen zu beschreiben. Die Fiktion des Fiktionspakts In ihrem oben bereits erwähnten Feuilleton-Beitrag Zur Hölle mit der Authentizität! behauptet die Schriftstellerin Juli Zeh, die »Unterscheidung zwischen Fiktion und Wirklichkeit [sei] in Vergessenheit geraten« und stattdessen lasse sich ein »Umgang mit Texten beobachten, der eher an eine Mischung aus Voyeurismus und Indizienprozess erinnert als an literarische Rezeption«.214 In den Authentizitätserwartungen, die sich auf fiktionale Texte richten, sieht Juli Zeh eine rezeptive Fehlleistung, die zwar auch vonseiten des Autors provoziert werden kann,215 die aber letztlich im Bruch des Fiktionspakts mündet, auf den die Autorin explizit Bezug nimmt: Seit sich die Literatur gegen Platons Vorwurf der Lüge verteidigen muss, gibt es eine Geheimabsprache zwischen Autor und Leser, genannt: Fiktionalität. Darin steht, dass die dichterische Rede den Anspruch auf Wahrheitsbehauptung suspendiert, soll heißen: Solange man nicht behauptet, die Wahrheit zu sagen, kann man auch nicht lügen. Mein Debüt täuscht keine Verwurzelung im empirischen Geschehen vor. Ein Leser, der es aufschlägt, geht somit ein Stillhalteabkommen auf dem Gebiet der Überprüfbarkeit ein.216

Zehs Ausführungen zum Fiktionspakt decken sich dabei im Wesentlichen mit Umberto Ecos Vorstellungen eines Fiktionsvertrags: Die Grundregel jeder Auseinandersetzung mit einem erzählerischen Werk ist, daß der Leser stillschweigend einen Fiktionsvertrag mit dem Autor schließen muß, der das beinhaltet, was Coleridge »the willing suspension of disbelief«, die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit nannte. Der Leser muß wissen, daß das, was ihm erzählt 214 Zeh: Zur Hölle mit der Authentizität! 215 »Jedenfalls aber gilt: Wenn der Autor nicht ein fiktives ›Ich‹, sondern seine reale Person zum Textgegenstand macht, ist der Einsturz der Mauer zwischen (tatsächlicher) Außen- und (literarischer) Innenwelt kein überraschender Nebeneffekt, sondern originärer Bestandteil der gewählten Präsentationsform.« (Ebd.) 216 Ebd.

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Authentizität und Literatur

wird, eine ausgedachte Geschichte ist, ohne darum zu meinen, daß der Autor ihm Lügen erzählt. Wie John Searle es ausgedrückt hat, der Autor tut einfach so, als ob er die Wahrheit sagt, und wir akzeptieren den Fiktionsvertrag und tun so, als wäre das, was der Autor erzählt, wirklich geschehen.217

Wie Eco hier ausführt, stützt sich der Fiktionspakt – auch ›Fiktionsvertrag‹ oder ›Fiktionalitätskontrakt‹ – im Kern auf das von Samuel Coleridge 1817 geprägte Konzept der willing suspension of disbelief, wobei einige jedoch auch andere theoretische Einflüsse erkennen.218 Bis heute wird die Vertragsmetapher in der Einführungsliteratur für Studienanfänger*innen der Literaturwissenschaft genutzt, um das Phänomen der Fiktionalität zu erklären.219 Dabei wird allerdings allzu oft versäumt zu betonen, dass es sich eben darum handelt: eine Metapher aus dem Rechtswesen. Und wie bei jeder Metapher stellt sich die Frage, wie sie auch Gertken und Köppe in einer Fußnote ihres fiktionstheoretischen Aufsatzes formulieren, »wie genau sie ausbuchstabiert werden kann oder sollte«.220 Denn selbstverständlich kann nicht im wörtlichen Sinn davon die Rede sein, dass Leser*innen im Vorfeld ihrer Lektüre eine Übereinkunft oder einen Vertrag (weder schriftlich noch mündlich oder »stillschweigend«) eingehen. Doch auch metaphorisch genutzt, bleibt die Frage, wie weit die Rede vom Fiktionspakt tragfähig ist. Denn zu einem Pakt gehört ein gewisses Maß an Verbindlichkeit und damit verbunden eine Form der Sanktionierung bei Nicht-Einhaltung des Pakts. Welche Sanktionen aber sollen greifen, wenn Rezipient*innen einen als fiktional intendierten Text auf empirische Überprüfbarkeit hin lesen? Natürlich kann es sein, dass ein solches Rezeptionsverhalten bei den Leser*innen Unverständnis, Irritation und ein unbefriedigendes Lektüreerlebnis zur Folge hat – aber in diesem Zusammenhang von Sanktionen in Folge eines (metaphorischen) Vertragsbruchs zu sprechen, scheint wenig plausibel.221 217 Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München 1996, S. 103. 218 Juli Zeh sieht sogar Aristoteles als Urheber des Fiktionspakts und nennt diesen ein »aristotelisches Bündnis« (Zeh: Zur Hölle mit der Authentizität!). Diese ideengeschichtliche Verkürzung mag man als textsortenspezifische Zuspitzung lesen. Doch auch Ecos Bezug auf Searle lässt sich als verkürzende Darstellung kritisieren. Vgl. Frank Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001, S. 183. 219 Vgl. Heinz Drügh: Literaturtheoretische Grundbegriffe. In: Ders./Susanne Komfort-Hein/ Andreas Kraß/Cécile Meier/Gabriele Rohowski/Robert Seidel/Helmut Weiß: Germanistik. Sprachwissenschaft – Literaturwissenschaft – Schlüsselkompetenzen. Stuttgart/Weimar 2012, S. 175–196, hier S. 182f. 220 Gertken/Köppe: Fiktionalität, S. 251. 221 Ein in diesem Sinne unbefriedigendes Lektüreerlebnis ließe sich vielmehr als Enttäuschung von bestimmten Vorerwartungen betrachten, mit denen die Rezipient*innen an den jeweiligen Text herantreten. Eine solche Enttäuschung ist aber weder zwangsläufig noch beruht sie auf von einer Autorität durchsetzbaren Sanktionsmechanismen.

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Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Frage, wann und wodurch der Fiktionspakt in Kraft tritt. Ein funktionierender Fiktionspakt würde nämlich eine prinzipielle Unterscheidbarkeit zwischen fiktionalen und faktualen Texten voraussetzen. Es müssten bereits zu Beginn der Lektüre eindeutige Fiktionssignale vorliegen, die den Leser darüber in Kenntnis setzen, ob er einen Fiktionspakt eingehen muss oder nicht. Somit würde hier erneut das grundlegende Problem der fiktional/faktual-Unterscheidung zum Tragen kommen, das bereits zu Beginn dieses Kapitels thematisiert wurde. Die Tatsache, dass keine der zahlreichen Fiktionalitätstheorien dazu in der Lage ist, für die Lektürepraxis taugliche und für alle Grenzfälle fiktionaler Literatur gültige notwendige und hinreichende Bedingungen zu formulieren, die darüber entscheiden, wann ein Text als fiktional zu rezipieren ist und wann nicht, lässt sich schwer mit der Verbindlichkeit vereinbaren, die der Rede vom Fiktionspakt innewohnt.222 Anders als Umberto Eco, der in seinen Überlegungen zum Fiktionspakt eine klare Unterscheidbarkeit zwischen fiktionalen und faktualen Texten stillschweigend voraussetzt,223 knüpft Philippe Lejeune seinen als Gegenstück zum pacte autobiographique etablierten pacte romanesque an die paratextuelle Gattungsbezeichnung. Neben der Nicht-Identität von Autor und Protagonist ist für Lejeune vor allem »der Untertitel Roman auf dem Umschlag« das eindeutige Kennzeichen für das Gelten des Romanpakts.224 Problematisch ist hier zum einen, dass die paratextuelle Kennzeichnung als Roman längst nicht bei allen als Roman rezipierten Texten vorhanden ist.225 Zum anderen wird hier vorausgesetzt, dass die paratextuelle Gattungsbezeichnung immer mitrezipiert wird und als solche in die Erwartungshaltung gegenüber dem jeweiligen Text einfließt – eine Annahme, die offensichtlich von einer akademisch geschulten Rezeptionspraxis ausgeht und jene Leser*innen unberücksichtigt lässt, die dem Untertitel auf dem Umschlag keine oder nur wenig Beachtung schenken. Hinzu kommt, dass Lejeune sich in seiner erstmals 1975 erschienenen Arbeit zum autobiographischen Pakt noch auf ein weniger ausdifferenziertes Spektrum 222 Zur Übersicht über neuere Fiktionalitätstheorien und ihre Problematik in Hinblick auf eine eindeutige Unterscheidung zwischen fiktionalen und faktualen Texten vgl. ausführlich: Gertken/Köppe: Fiktionalität. 223 Vgl. Eco: Im Wald der Fiktionen, S. 103f. 224 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1994, S. 29. 225 Prominente Beispiele hierfür sind in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur etwa die autobiographischen Romane Panikherz (2016) von Benjamin von Stuckrad-Barre und Die Welt im Rücken (2016) von Thomas Melle. Beide werden nicht als Roman gekennzeichnet und weisen eine Namensidentität von Autor und Protagonist auf. Damit würde nach Lejeune in diesen Fällen der autobiographische Pakt und nicht der Romanpakt greifen. Dennoch werden beide Texte in der Literaturkritik nicht als autobiographische Texte im engeren Sinne rezipiert.

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von Genres und Schreibweisen bezieht, als es der gegenwärtigen literarischen Produktion angemessen wäre. So bleibt etwa das Phänomen der Autofiktion, auf das im Folgenden gesondert eingegangen wird, aus naheliegenden Gründen noch völlig unberücksichtigt.226 Dabei sind es gerade Sonderfälle wie die Autofiktion, in denen die Grenzen der Pakt-Metapher unübersehbar werden. Laut Frank Zipfel bietet die Autofiktion »den geradezu widersprüchlichen Vertrag ›Rezipiere mich zugleich als Fiktion und als Nicht-Fiktion‹« an, »einen Vertrag, der quasi auf der Grundlage der Oszillation zwischen zwei unterschiedlichen kulturellen Praktiken geschlossen wird«.227 In einer solchen Unbestimmtheit bleibt allerdings von einem Vertragscharakter nicht viel übrig und die Rede vom Fiktionspakt verliert auch in der metaphorischen Verwendung ihren zweckdienlichen Gehalt. Auch der Versuch von Antonius Weixler, Authentizität nicht als Bruch mit dem Fiktionspakt, sondern als Gegenstand eines eigenen Paktes zu denken, überdehnt die Pakt-Metapher. Weixler untersucht das Phänomen literarischer Authentizität aus narratologischer Perspektive und begreift Authentizität dabei – ähnlich wie es die vorliegende Arbeit tut – als »zielgruppen-spezifisches Zuschreibungsphänomen«.228 Zusätzlich etabliert er jedoch den Begriff des Authentizitäts-Pakts: »Als Authentizitäts-Pakt wird die Bereitschaft des Rezipienten bezeichnet, medialen Produkten aufgrund bestimmter narrativer Verfahren (discours) und Inhalte (histoire) den Status ›authentisch‹ zuzuschreiben.«229 Unklar bleibt in dieser Definition, weshalb es notwendig oder nützlich sein sollte, die Bereitschaft, eine Zuschreibung vorzunehmen, als Pakt zu begreifen. Vielmehr scheint es den Zuschreibungsvorgang unnötig zu verkomplizieren: Ein Sender übermittelt (bewusst oder unbewusst) Authentizitätssignale, die wiederum ein Rezipient (der evtl. bereits entsprechende Vorerwartungen mitbringt) zum Anlass nimmt, um eine Zuschreibung vorzunehmen. Eine Übereinkunft zwischen Sender und Rezipient, zwischen Autor und Leser braucht es für diesen Vorgang überhaupt nicht. Weixler betont zwar, mit der Einführung dieses Begriffs den Rezipienten-Anteil stärken zu wollen,230 in Wirklichkeit wird dieser aber durch die Pakt-Metapher eher abgeschwächt. Schließlich unterschlägt dieses Modell die Möglichkeit, dass literarischen Texten der Status des Authenti-

226 Die naheliegenden Gründe liegen hier selbstredend im Veröffentlichungsdatum von Lejeunes Arbeit. Der Begriff der Autofiktion wurde erst 1977, also zwei Jahre nach dem Erscheinen von Le pacte autobiographique, von Serge Doubrovsky in dessen Roman Fils geprägt. 227 Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 285. 228 Weixler: Authentisches erzählen – authentisches Erzählen, S. 23. 229 Ebd. 230 Vgl. ebd., S. 22.

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schen auch ohne eine entsprechende Intention des Autors zugeschrieben werden kann. Die Frage ist deshalb, ob es nicht sinnvoller ist, die Rede vom AuthentizitätsPakt wie auch vom Fiktionspakt zu vermeiden und sich darauf zu beschränken, von einer sozialen und kulturellen Praxis zu sprechen. Laut Frank Zipfel besagt nämlich »die Rede vom Fiktionsvertrag zwischen Autor und Leser nicht viel anderes, als daß diese fiktionale Texte vor dem Hintergrund und unter den Bedingungen der institutionalisierten sozialen und kulturellen Praxis Fiktion produzieren und rezipieren«.231 Der entscheidende Vorteil, wenn von einer Praxis statt von einem Pakt die Rede ist, liegt unter anderem darin, dass sich die Möglichkeiten des Umgangs mit den jeweiligen Konventionen nicht nur auf die Dichotomie von Einhaltung und Bruch beschränken: »Das Besondere an einer kulturellen Praxis wie der Fiktion […] ist die Tatsache, daß es möglich ist, die Regeln der Praxis sehr weit zu dehnen und bis zu einem gewissen Grade auch mit ihnen zu spielen.«232 Wie der Pakt beruht also auch die Praxis auf Regeln und Konventionen, beinhaltet aber nicht zwangsläufig dasselbe Maß an Verbindlichkeit, das die Rede vom Fiktionspakt nahelegt. Das, was Juli Zeh in ihrem Essay beschreibt und auf polemische Weise kritisiert, ist also nicht das einseitige Aufkündigen eines seit Jahrhunderten gültigen Pakts, sondern schlicht die Modifikation einer sozialen Praxis. Auch in Bezug auf den Authentizitätsbegriff erscheint es sinnvoll, statt von einem Authentizitätspakt von einer sozialen Praxis der Authentizitätszuschreibung zu sprechen. Auch hier ist die größere Anpassungsfähigkeit des Praxisbegriffs ein entscheidender Vorteil, insbesondere in Hinblick auf unterschiedliche Genres, Gattungen oder Schreibweisen. Denn bei Authentizität handelt es sich nicht nur um ein zielgruppenspezifisches, sondern auch um ein gattungs- und genrespezifisches Zuschreibungsmerkmal. So ist etwa die Lektüre eines Romans aus dem Fantasy- oder Science-Fiction-Genre in der Regel von ganz anderen Authentizitätserwartungen begleitet als die Lektüre eines psychologisch-realistischen Romans, der sich an der autobiographischen Schreibweise orientiert.233 231 Zipfel: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, S. 284. Zipfel zieht aus dieser Erkenntnis allerdings nicht die naheliegende Konsequenz, die Rede vom Fiktionspakt durch den Begriff der sozialen und kulturellen Praxis zu ersetzen. 232 Ebd., S. 284f. 233 Wenn literarischen Texten der Fantasy-Literatur oder ähnlicher Genres Authentizität zugeschrieben wird, handelt es sich meist um eine andere Ableitung aus dem Authentizitätsbegriff. So wäre es beispielsweise möglich, einem Fantasy-Roman auf der histoire-Ebene Authentizität zuzuschreiben, weil die erzählte Welt in sich stimmig konstruiert ist (und keine Elemente enthält, die die Welt ›unglaubwürdig‹ machen würden). Anders als in der in diesem Kapitel behandelten Verwendungsweise würde es also in diesem Zusammenhang nicht um die Nähe der erzählten Welt zur außertextuellen Wirklichkeit gehen, sondern um die Stimmigkeit der im Text konstruierten Wirklichkeit.

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Juli Zeh macht in ihrem Text nicht explizit, auf welche Sorte Literatur sie sich bezieht, aber dennoch ist es offensichtlich, dass es ihr um Erzählliteratur geht (vornehmlich Romane), die sich nach Bourdieu eher dem Feld der eingeschränkten Produktion zurechnen lässt ( jedoch weniger dem Avantgarde-Sektor). Mithin, so lässt sich annehmen, bezieht sich die Autorin auf ebendas literarische Subfeld, auf dem sie sich selbst bewegt, und das sich nach Heribert Tommek als flexibel ökonomisierter und medialisierter Mittelbereich literarischer Produktion charakterisieren lässt, der »von Wechselwirkungen, Überlagerungen und hybriden Kompromissformen zwischen kulturell-autonomen und ökonomisch-heteronomen Bestimmungen geprägt« ist,234 in dem es also sowohl um die Generierung von ökonomischem Kapital geht als auch um den Erhalt des Autonomiecharakters. Ein wesentlicher Kern des Autonomiegedankens ist dabei der Anspruch, Kunst hervorzubringen, die sich weder im Unterhaltungszweck noch in der reinen, unmodifizierten Abbildung der Wirklichkeit erschöpft. Es ist also nicht nur das literaturtheoretische Spannungsfeld zwischen Fiktionalität und Faktualität, in dem sich Zehs Anti-Authentizitäts-Polemik verortet – eine mindestens ebenso große Rolle spielt die Dichotomie aus Kunst und Leben. Kunst vs. Leben Ganz zu Beginn ihres Artikels nimmt Juli Zeh auf René Magrittes berühmtes Bild La trahison des images (Ceci n’est pas une pipe) Bezug: »Das berühmte Bild von René Magritte Ceci n’est pas une pipe will sagen: Das ist nur das Bild einer Tabakspfeife, nicht die Pfeife selber.«235 Diese künstlerische Problematisierung des Verhältnisses von Abbild und Referenzobjekt bedeutet für Zeh »[a]uf die Literatur angewendet: Vorgänge und Personen in einem Roman oder in einem Theaterstück sind fiktive Personen und Vorgänge«.236 Darüber hinaus lässt sich Magrittes Bild aber auch als Ausdruck eines Kunstverständnisses betrachten, das über den wirklichkeitsgetreuen Abbildcharakter des Kunstwerks hinausweist.237 234 Heribert Tommek: Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur. Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000. Berlin/München/Boston 2015, S. 252. 235 Zeh: Zur Hölle mit der Authentizität! 236 Ebd. 237 Foucault geht in seiner Interpretation von Magrittes Bild davon aus, dass darin – anders als Zeh es hier nahelegt – nicht nur der Unterschied zwischen einer Darstellung und seinem Referenzobjekt artikuliert wird, sondern dass es überhaupt keine Referenz gibt, da die Zeichnung nur auf sich selbst verweist und nicht auf irgendeine in der Wirklichkeit existierende Pfeife: »Nunmehr ist die Gleichartigkeit auf sich selbst verwiesen – sie entfaltet sich von sich aus und zielt auf sich selbst zurück. Sie ist nicht mehr der Zeigefinger, der die Leinwand senkrecht durchstößt, um auf etwas anderes zu verweisen. Sie eröffnet ein Spiel von Übertragungen, die auf der Ebene des Bildes umherlaufen, ohne etwas zu affirmieren oder zu repräsentieren.« Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Walter Seitter. München 1997, S. 46.

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Nach diesem Verständnis erschöpft sich das Kunstwerk nicht in der nachahmenden Bezugnahme auf die Wirklichkeit. Bezogen auf Literatur ist in diesem Zusammenhang häufig von einer ›Verdichtung‹ die Rede, mittels derer ein literarisches Kunstwerk einen ästhetischen wie semantischen Mehrwert erzeugt. Literarische Texte, die sich nicht erkennbar genug den Mitteln der ›Verdichtung‹ bedienen, laufen daher nicht selten Gefahr, vonseiten der Literaturkritik den Charakter eines Kunstwerks abgesprochen zu bekommen. Als Walter Kempowski 1993 den ersten Teil seines Echolots vorlegte – eine umfangreiche Collage aus Tagebüchern, Briefen und autobiographischen Zeugnissen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs – wurde von mehreren literaturkritischen Stimmen die fehlende exemplarische Verdichtung der unkommentierten Sammlung moniert und es wurde kontrovers darüber diskutiert, ob es sich bei dem umfangreichen Werk um Literatur handle oder eher um eine historiographische Edition.238 Auch in Bezug auf Rainald Goetz’ Tagebuchprojekt Abfall für alle kam die Frage auf, ob die abbildende Gegenwartsmitschrift des Autors die nötige Literarizität aufweist, um dem Untertitel Roman eines Jahres gerecht zu werden.239 Besonderes Aufsehen erregte Maxim Biller 2003 mit seinem Schlüsselroman Esra – und dies nicht nur aufgrund der gerichtlichen Auseinandersetzung, die im Veröffentlichungsverbot des Romans mündete. Denn neben der Frage, inwiefern der Romantext die Persönlichkeitsrechte darin porträtierter Figuren bzw. deren realer Vorbilder verletzt, ging es in der literaturkritischen Diskussion über Esra auch um die Frage, ob Biller sich mit seinem »radikalen Realismus«, der sich nach Johannes Franzen dadurch auszeichnet, dass er »Welthaltigkeit dadurch erzeugt, dass er das reale Leben verarbeitet und die Emotionen des Autors zum Ausgangspunkt des literarischen Entwurfs macht«,240 noch im Rahmen der Literatur mit ihrem Anspruch auf künstlerische Verarbeitung bewegt. So monierte etwa der damalige Feuilleton-Chef der Zeit, Jens Jessen, »Biller hätte, wenn es ihm um das Literarische gegangen wäre, diese Realitätspartikel, an denen nichts Gleichnishaftes hängt, getrost streichen können«.241 Jessen erkennt also im Gleichnishaften den literarischen Mehrwert, durch den die Überführung von realen Ereignissen oder Personen in die Literatur erst gerechtfertigt werden 238 Vgl. hier die Kritiken von Johannes Wilms: Die Kritik in der Krise. Das verstörende Echo auf Walter Kempowskis kollektives Tagebuch »Das Echolot«. In: Süddeutsche Zeitung vom 31. 12. 1993; und Fritz J. Raddatz: Deutschlands Höllenfahrt. In: Die Zeit vom 11. 11. 1999, https://www.zeit.de/1999/46/199946.l-kempowski_.xml, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 239 Vgl. Eberhard Rathgeb: Panik vor dem Jetzt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 09. 1999, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-bel letristik-panik-vor-dem-jetzt-1412746.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 240 Johannes Franzen: Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960– 2015. Göttingen 2018, S. 245. Für eine ausführliche Darstellung von Billers radikalem Realismus sowie der literaturkritischen Debatte um Esra vgl. ebd., S. 245–273. 241 Jens Jessen: Schlüssel ohne Roman. In: Die Zeit vom 13. 03. 2003.

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kann. Dabei bleibt hier eher vage, was genau unter ›gleichnishaft‹ zu verstehen sein soll. Konkreter wird Thomas Steinfeld in einem polemischen Feuilletonbeitrag, der sich angeregt von der Debatte um Esra mit Skandalen in der Gegenwartsliteratur auseinandersetzt: Denn die Literatur lebt vom Willen zur Form, von der Kunst des Schreibens. Ihre Größe, ihre Haltbarkeit, ja auch ihr Erlösendes gibt es nur, weil sie sich vom Leben trennt, weil sie etwas Fiktives, Vages, halb Vorgestelltes, halb Erinnertes so gestaltet, dass dabei anderes Jetzt entsteht – und die Freiheit sich dorthin und wieder zurück begeben zu können. Eine Literatur, die auf dem Echten als höchsten Reiz besteht, weiß von dieser Freiheit nichts und will auch nichts davon wissen.242

Steinfelds Polemik richtet sich hier gegen die »produktionsästhetische Prämisse des radikalen Realismus«, die Franzen wie folgt charakterisiert: »Gute Literatur zeichnet sich durch Wirklichkeitsnähe aus und diese lässt sich vor allem dann erreichen, wenn der Autor eigene Erlebnisse verarbeitet.«243 Dem aus dem Authentizitätsbegriff abgeleiteten Wert der Wirklichkeitsnähe wird in den Kommentaren von Steinfeld und Jessen aber nicht wie bei Juli Zeh ›Fiktionalität‹ gegenübergestellt, sondern – in einem allgemeineren Sinne – der »Wille zur Form« und die »Kunst des Schreibens«. Der künstlerische Wert der Literatur, so Steinfelds Annahme, kann aber nur erzielt werden, wenn sich die Kunst »vom Leben trennt«. Hier kristallisieren sich sehr deutlich die beiden konkurrierenden Leitbegriffe heraus: ›Kunst‹ auf der einen Seite, ›Leben‹ auf der anderen. Die vermeintliche Opposition von Kunst und Leben und die damit verbundenen Literaturbegriffe standen 2006 im Zentrum eines mit Leidenschaft geführten Feuilletonstreits. Auslöser war die vom damaligen Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Volker Weidermann vorgelegte Literaturgeschichte Lichtjahre, eine biographisch orientierte und stark subjektiv eingefärbte Darstellung der Nachkriegsliteratur. Im Rahmen eines Kritikergesprächs im Literarischen Colloquium Berlin kritisierte der Moderator der Gesprächsveranstaltung, Hubert Winkels, das Literaturverständnis, das Weidermanns Buch zugrunde liegt, und wurde daraufhin von Maxim Biller als »Arschloch« bezeichnet. Winkels nahm diese Auseinandersetzung zum Anlass, um in einem poetologischen Essay für die Zeit über die von ihm getroffene Unterscheidung zwischen Emphatikern und Gnostikern zu reflektieren.244 Darin besteht Winkels als Vertreter der Gnostiker darauf, »dass Literatur zu-

242 Thomas Steinfeld: Skandal. In: Süddeutsche Zeitung vom 04. 02. 2004. 243 Franzen: Indiskrete Fiktionen, S. 257. 244 Für eine ausführliche Darstellung des Literaturstreits um Volker Weidermanns Literaturgeschichte vgl. Daniela Strigl: Seher, Emphatiker, Gnostiker. Literaturkritik und Literaturtheorie. In: Primus-Heinz Kucher/Doris Moser (Hg.): Germanistik und Literaturkritik. Zwischenbericht zu einer wunderbaren Freundschaft. Wien 2007, S. 35–48.

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allererst das sprachliche Kunstwerk meint, ein klug erdachtes, bewusst gemachtes, ein formal hochorganisiertes Gebilde, dessen Wirkung, und sei sie rauschhaft, von sprachökonomischen und dramaturgischen Prinzipien abhängt«.245 Der Kunstauffassung der Emphatiker hingegen, die Literatur »nach den Kriterien Lebendigkeit, Lebensnähe, Leidenschaft und Lässigkeit« bewerten,246 steht Winkels skeptisch gegenüber: »Lebenserfahrung übersetzt sich in Schrift, um lebenserfahrene Leser zu stimulieren, noch mehr wirkliches Leben zu erfahren?«247 Winkels Kritikerkollege Georg Diez bemerkte wenige Tage später in seiner ebenfalls in der Zeit erschienen Replik Wir Emphatiker: »Aber so kann nur jemand argumentieren, der Literatur und Leben als zwei widerstrebende Kräfte sieht.«248 Die Emphatiker aber, so Diez, wollen vielmehr »von einer Literatur reden, die vom Leben handelt, die sich aus dem Leben speist und gerade deshalb so fasziniert, weil sie trotzdem immer das große Andere bleiben wird, die Kunst, das Rätsel, der Berg auf den sie alle steigen wollen und dessen Gipfel niemand kennt«.249 Diez nimmt hier die von Winkels geschaffene Bezeichnung des Emphatikers als auch den damit verknüpften Leitbegriff des Lebens an, betont aber, dass es sich aus seiner Sicht keineswegs um einen Gegenbegriff zur Kunst handle, sondern dass Emphatiker wie er vielmehr bestrebt seien, Leben und Kunst zu einer Synthese zu verhelfen. Diese Idee einer Synthese aus Kunst und Leben ist keineswegs neu, genauso wenig wie es ein Novum der Jahrtausendwende ist, dass durch den Lebensbegriff unterschiedliche Kunstauffassungen markiert werden. Bereits während der vorigen Jahrhundertwende war ›Leben‹ der Leit- und Hochwertbegriff, an dem sich die Künste, aber auch die Wissenschaften orientierten, ausrichteten und abarbeiteten. Als zentrales Idol und wichtigster Vordenker der Lebensphilosophie um 1900 lässt sich ohne Zweifel Friedrich Nietzsche ausmachen, dessen »ganzes Denken und Schaffen […] in der Wurzel geprägt vom Phänomen und Begriff des ›Lebens‹« ist, wie Theo Meyer in seiner Monographie über Nietzsche und die Kunst bemerkt.250 Auffällig ist dieser starke Lebensbezug insbesondere beim jungen Nietzsche, der noch unter dem Einfluss der Musik Richard Wagners steht. Im an Wagner gerichteten Vorwort der Schrift Die Geburt der Tragödie bringt Nietzsche seine ästhetische Auffassung auf die Grundformel, »dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlichen metaphysischen Thätigkeit 245 Hubert Winkels: Emphatiker und Gnostiker. In: Die Zeit vom 30. 03. 2006, http://www.zeit.de /2006/14/Debatte1_neu, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 246 Ebd. 247 Ebd. 248 Georg Diez: Wir Emphatiker. In: Die Zeit vom 06. 04. 2006, http://www.zeit.de/2006/15/L-De batteDiez, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 249 Ebd. 250 Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst. Tübingen/Basel 1993, S. 18.

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dieses Lebens […] überzeugt bin«.251 Die angestrebte Synthese aus Kunst und Leben entwickelt Nietzsche in der Tragödienschrift aus der berühmt gewordenen Dichotomie des Dionysischen und Apollinischen: Nietzsches Schrift ist der Versuch, die traditionelle Trennung von Kunst und Leben aufzuheben und den ästhetischen Schein der Kunst im schöpferischen Prinzip des Lebens zu verankern. Er durchbricht die klassische Separation von Leben und Schein, schöpferischem Leben und ästhetischem Schein, Lebensprozeß und Kunstautonomie.252

In seinem späteren Werk wird Nietzsches Lebensbegriff immer wieder anders akzentuiert, jedoch nie präzise definiert, sondern vielmehr »in einer schillernden Unbestimmtheit« belassen.253 Meyer sieht den Begriff bei Nietzsche »im Sinne einer gewissen Doppelstrategie eingesetzt«:254 Wenn es um den Abbau des den ›Geist‹ verabsolutierenden Idealismus geht […], benutzt Nietzsche den Begriff ›Leben‹ gerne provokativ als biologistischen Begriff. Er will dann unter Berufung auf die sinnliche Lebendigkeit den idealistischen Begriff des Geistes zersetzen, ja auflösen. Geht es hingegen um das ›Leben‹ als schöpferischen Entwurf, als neuen Daseins- und Weltentwurf, erscheint das ›Leben‹ als realitätstranszendierende Energiequelle.255

Gerhard Kaiser hingegen sieht Nietzsches Lebensbegriff vor allem ex negativo bestimmt –256 eine Form der Begriffszuweisung, die er auch bei der auf Nietzsche aufbauenden lebensphilosophischen Strömung um 1900 wahrnimmt: Was ›Leben‹ jeweils meint, bestimmt sich also vorrangig und zunächst ex negativo über dasjenige, was im je spezifischen Verwendungsfall seinen Gegensatz bezeichnen soll, also etwa: Geist, Wissenschaft, Bildung, Intellekt, Technik, Urbanität, Künstlichkeit oder bestimmte Weisen des künstlerischen Ausdrucks. Das jeweils dem ›Leben‹ Entgegengesetzte wird dadurch […] per se zum Toten, Starren, Unnatürlichen und Unechten erklärt und somit abgewertet.257

Den Aufstieg des ›Lebens‹ zum Leitbegriff der Jahrhundertwende verortet Kaiser im Kontext einer bildungsbürgerlichen Modernekritik und einem daraus resultierenden wachsenden »Bedürfnis nach sinn- und orientierungsstiftenden

251 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1. München 1988, S. 24. 252 Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 28. 253 Ebd., S. 19. 254 Ebd. 255 Ebd. 256 Vgl. Gerhard Kaiser: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin 2008, S. 211f. 257 Ebd., S. 204.

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Leitvorstellungen«.258 Dass der Lebensbegriff dabei eine ähnliche Funktion übernimmt wie hundert Jahre später der Authentizitätsbegriff, wird bereits in der Einschätzung Herbert Schädelbachs deutlich, der über die semantische Aufladung des Lebensbegriffs um 1900 bemerkt: Im Zeichen des Lebens geht es gegen das Tote und Erstarrte, gegen eine intellektualische, lebensfeindlich gewordene Zivilisation, gegen in Konventionen gefesselte, lebensfremde Bildung, für ein neues Lebensgefühl, um ›echte Erlebnisse‹, überhaupt um das ›Echte‹: um Dynamik, Kreativität, Unmittelbarkeit, Jugend. ›Leben‹ ist die Losung von Jugendbewegung, Jugendstil, Neuromantik, Reformpädagogik und biologischdynamischer Lebensreform.259

Wie ›Authentizität‹ zu Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich ›Leben‹ zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Schlüsselwort ausmachen, das als Antwort auf verschiedene gesellschaftlich verbreitete Verlustängste wie auch Sehnsüchte formuliert wird. Das ›Leben‹ steht hier somit für das ›Echte‹ – und in diesem Sinne ließe sich auch sagen: für das ›Authentische‹ – im Gegensatz zum Künstlichen und Mechanischen der Industrialisierung oder wahlweise auch zum Rationalen und Starren des Wilhelminismus.260 In diesem Sinne ist es nicht nur der proteushafte Charakter des Lebensbegriffs, der seine vielfältigen Verwendungsweisen mit unterschiedlichen modernekritischen Sehnsüchten auflädt, sondern auch die semantische Nähe zu anderen Hochwertwörtern wie ›Echtheit‹, ›Unmittelbarkeit‹, ›Natürlichkeit‹ und ›Individualität‹, die eine Analogie zwischen dem Lebens- und dem Authentizitätsdiskurs markiert.261 Auch jenseits der lebensphilosophischen Strömungen und in der Zeit nach deren zunehmendem Bedeutungsverlust bleibt das ›Leben‹ als vitalistische Projektionsfläche für die Sehnsucht nach dem ›Echten‹ ein fester Bestandteil ästhetischer und poetologischer Positionierung – so etwa im Kontext der Blutund-Boden-Literatur des Nationalsozialismus oder der um die nüchterne Darstellung des ›wahren Lebens‹ bemühten Literatur der Neuen Sachlichkeit.262 Auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts lässt sich diese diskursive Linie – nun immer mehr unter dem Leitbegriff der Authentizität – weiterverfolgen, etwa zur Neuen Subjektivität, in dessen ästhetischem Wirkungsfeld »[d]ie authentischen

258 Ebd., S. 203. 259 Herbert Schädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Frankfurt am Main 1983, S. 172. 260 Vgl. Kaiser: Grenzverwirrungen, S. 202f. 261 Auch Gerhard Kaiser sieht »in der modernekritischen Diagnose einer verlorengegangenen Authentizität« den kleinsten gemeinsamen Nenner der Verwendungsweisen des Lebensbegriffs. Ebd., S. 204. 262 Vgl. ebd., S. 217f.

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Schreiber der siebziger Jahre beteuern, keine Rolle zu spielen und ihre Kämpfe und Schreibkrämpfe am eigenen Leib auszutragen«.263 Es ließe sich jedoch dafür argumentieren, dass der Lebensdiskurs und sein Verhältnis zum Kunstanspruch der literarischen Produktion von einer zunehmenden Verengung geprägt ist. Ging es Nietzsche und seinen Epigonen noch um das ›Leben‹ als eine schöpferische Energiequelle, die teils metaphysische, teils biologistische Dimensionen annimmt, lässt sich für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten, dass ›Leben‹ nun vor allem im Sinne des biographischen Erlebens individueller Subjekte verhandelt wird. Bereits in der Neuen Subjektivität äußerte sich die Hinwendung zum Leben in der Aufwertung von literarischen Selbstzeugnissen wie Tagebüchern und Autobiographien. In den literaturkritischen Debatten der 1990er und 2000er spitzt sich dieses subjektive Verständnis von ›Leben‹ im Sinne von Wirklichkeitsnähe weiter zu. Die Forderung nach einer ›lebendigen Literatur‹, wie sie den von Winkels so bezeichneten Emphatikern vorschwebt, ist dabei oft gleichbedeutend mit einer Literatur, die sich möglichst wirklichkeitsgetreu aus den Erlebnissen des Autors speist. Als prominenter Vertreter dieses Literaturverständnisses versucht Maxim Biller 2011 in einem Essay für die Zeit einen Epochenbegriff zu formen, den er ›Ichzeit‹ tauft: »Wir – Leser, Schriftsteller, Kritiker – leben, lesen und schreiben schon lange in einer literarischen Epoche und wissen es nicht.«264 Unter dem Begriff der ›Ichzeit‹ subsumiert Biller eine Reihe von stilistisch höchst unterschiedlichen Autor*innen wie Jörg Fauser, Robert Schindel, W.G. Sebald, Monika Maron, Uwe Tellkamp, Christian Kracht und Helene Hegemann – wobei er mit der Begründung seiner Einordnung meist eher vage bleibt.265 Als initiales Gründungsereignis der von ihm beschriebenen Epoche wertet Biller den eingangs dieses Kapitels verhandelten Auftritt von Rainald Goetz in Klagenfurt 1982, bei dem der Autor, so Biller, »etwas unerhört Neues« wagte: »Er stellte seine ganze verletzende und verletzliche Person stolz ins grelle öffentliche Licht. Er zeigte, wie ein irrer Aktionskünstler oder verzweifelter Popstar, dass es für ihn keinen Unterschied gibt zwischen seinem Leben und seinem Werk.«266 Die angestrebte Auflösung der vermeintlichen Dichotomie aus Leben und (Kunst-) Werk sowie die Feier des leidgeprüften Lebens als schöpferische Energiequelle 263 Andrea Köhler: Reisender Schnee oder Realismus ohne Resignation. Die deutschsprachige Literatur und das »Authentische«. In: Dies./Rainer Moritz: Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998, S. 168–179, hier S. 170. 264 Maxim Biller: Ichzeit. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 02. 10.2011, http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/unsere-literarische-epoche-ichzeit-114472 20.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 265 Vgl. ebd. 266 Ebd. Erinnert sei an dieser Stelle auch an Marcel Reich-Ranickis Urteil, Goetz’ Text enthalte »so viel Leben« (siehe S. 43f. dieser Arbeit).

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erinnert hier an das nietzscheanische Vitalismus-Ideal. Gefeiert wird Goetz von Biller vor allem für dessen radikale, von Unmittelbarkeit und Opferbereitschaft geprägte Performance, hinter der Biller die programmatische Aussage zu erkennen glaubt: »Ihr müsst und könnt glauben, was ich schreibe, denn ich bürge mit meinem Körper, mit meiner Seele, mit meinem Leben dafür.«267 Es ist also vor allem der lebensbejahende Gestus, der Goetz in Billers Augen zu einem Dichter der ›Ichzeit‹ macht, und weniger die wirklichkeitsnahe Literarisierung eigener Erlebnisse. Bei den anderen von Biller favorisierten Autor*innen spielt aber gerade Letzteres die entscheidende Rolle. Der nietzscheanische Vitalismus soll sich mit dem ›radikalen Realismus‹ paaren, der das unbändige Leben des Autors bis ins Detail wirklichkeitsgetreu abbildet. Dabei wird die Ununterscheidbarkeit von Erzählinstanz und empirischem Autor von Biller nicht nur in Kauf genommen, sondern begrüßt: Fast jedes der bedeutenden Bücher der vergangenen Jahre kommt in der ersten Person Singular daher – oder zumindest ist der Protagonist dem Autor zum Verwechseln ähnlich. Das ist kein Zufall. Nur ein kräftiger Erzähler-Ich [sic!] kann die faszinierende, den Leser mitreißende Illusion erzeugen, dass der Erzählende und der Schreibende ein und dieselbe Person sind.268

Dass Biller die Identität von Erzähler und Autor als Illusion (wenngleich eine in seinen Augen besonders wünschenswerte) bezeichnet, deutet an, dass es ihm hier nicht um eine klassische autobiographische Schreibweise im Sinne Lejeunes geht. Vielmehr geht es ihm um einen »den Leser mitreißenden« Effekt, der vom authentischen Anschein des Selbsterlebten ausgeht und der textlich durch einen autodiegetischen Erzähler befördert werden kann, der offensichtliche Ähnlichkeiten mit dem empirischen Autor aufweist. Dass Biller jenseits der Literarisierung von eigenen Erfahrungen auch andere Wege sieht, diesen Effekt zu erzeugen, zeigt sich in einem zwanzig Jahre zuvor publizierten Text. Anfang der 1990er Jahre entfaltete sich eine feuilletonübergreifende Debatte über den Wert des Realismus in der Literatur,269 die personell wie inhaltlich deutliche Parallelen zur späteren literaturkritischen Diskussion um Weidermanns Lichtjahre aufweist.270 Auslöser war ein Artikel von Frank Schirrmacher, in dem dieser der gegenwartsliterarischen Produktion »Erzähl-

267 Ebd. 268 Ebd. 269 Eine ausführliche Zusammenfassung dieser Debatte inklusive einer Sammlung der wichtigsten Beiträge findet sich in Andrea Köhler/Rainer Moritz: Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998. 270 Zu den Ähnlichkeiten der beiden Literaturdebatten vgl. Franzen: Indiskrete Fiktionen, S. 255.

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versagen« vorwirft.271 Maxim Biller ergriff 1991 mit einem polemischen Beitrag in der Weltwoche das Wort, der den Titel So viel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel trägt und nach Ansicht von Johannes Franzen als »Gründungsdokument des radikalen Realismus gelesen werden« kann.272 Darin diagnostiziert Biller ein »modernistische[s] Wirklichkeitsverbot« und beklagt, »daß es bei uns heute kaum mehr einen Schriftsteller gibt, der sein Material aus der Wirklichkeit bezieht, indem er als Reporter, als Detektiv auf Recherche ginge«.273 Biller nennt hier die Berufe des Reporters und des Detektivs als vorbildgebend für den Schriftstellerberuf und bezieht sich dabei auf die Recherchetätigkeit, die beiden gemein ist und einen Wirklichkeitsbezug auch in der Literatur sicherstellen soll. Aber auch das Erleben aus erster Hand als Quelle der von ihm geforderten Wirklichkeitsnähe wird eingefordert: »Es ist abstrus. Noch nie gab es eine Schriftstellergeneration, die sowenig Hardcore-Journalismus und Realitätswühlerei betrieben und zugleich ein derart ereignis- und konfliktloses Dasein geführt hätte wie die unsere.«274 Für sich selbst führt Biller in diesem Zusammenhang an, er habe Glück gehabt, »nichts als Glück, daß ich durch meine Biographie die determinierenden Hinweise auf all das frei Haus geliefert bekam, […] was ich begreifen und beschreiben will«.275 Das »stoffspendende Glück«,276 von dem Biller spricht, sieht er in der Migrationserfahrung seiner Familie, die es von Russland über die Tschechoslowakei und nach dem Prager Frühling nach Deutschland geführt hat.277 Andere Stoffe für seine Erzählungen wie den Holocaust, die er nicht selbst erlebt habe, musste er sich jedoch durch Recherche aneignen, um sie wirklichkeitsnah in seinen literarischen Texten verhandeln zu können.278 Journalistische Techniken als Grundlage für das literarische Schreiben haben für Biller neben der Aneignungsfunktion wirklichkeitsnaher Stoffe noch einen wirkungsbezogenen Vorteil: »Denn als Reporter, der auch literarisch arbeiten will, lernt man vom Journalismus nicht nur das Gespür fürs vorgegebene Material, für den Menschen an sich, für die Wirklichkeit. Man kapiert darüber hinaus, daß es einen Sinn hat, so zu schreiben, daß der Leser einen begreift.«279 Das Ziel des lebensnahen und wirklichkeitsabbildenden Erzählens – ob dieses nun auf der Grundlage von Re271 Vgl. Frank Schirrmacher: Idyllen in der Wüste oder Das Versagen vor der Metropole. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 10. 1989. 272 Franzen: Indiskrete Fiktionen, S. 256. 273 Maxim Biller: So viel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. In: Die Weltwoche vom 25. 07. 1991. 274 Ebd. 275 Ebd. 276 Ebd. 277 Vgl. ebd. 278 Vgl. ebd. 279 Ebd.

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cherche oder biographischer Erfahrung geschieht – bleibt nach Billers emphatischem und wirkungsorientiertem Literaturverständnis das »Mitreißen« des Lesers. Angestrebt wird in diesem Sinne das Entstehen von Romanen, »die man in einem Ruck durchliest. Die man liebt, die man genauso atemlos und gebannt durchlebt wie eine gute Reportage, einen prima Film«.280 Der Königsweg zu dieser von Unmittelbarkeit und Immersion geprägten Lektüreerfahrung führt in Billers Augen immer noch über das eigene Erleben und eine stoffspendende Biographie. Da das schreibende Subjekt diese Faktoren aber nur begrenzt selbst beeinflussen kann, räumt Biller die Möglichkeit ein, mangelndes Erfahrungswissen durch journalistisches Handwerk wieder auszugleichen.281 Doch auch wenn Biller eigenes Erleben und Recherche als rein pragmatisch voneinander zu unterscheidende Verfahren zur Stoffgewinnung sieht, die letztlich auf den gleichen wirkungsästhetischen Effekt abzielen, lassen sich hieraus unterschiedliche Ausformungen des Werts der Authentizität ableiten. So ließe sich bei der journalistisch erarbeiteten Wirklichkeitsnähe von einer mimetischen Authentizität sprechen. Im Vordergrund steht hier ganz deutlich die Nachahmung der außertextuellen Wirklichkeit durch die realistische Darstellung eines qua Recherche angeeigneten Stoffes. Der Eindruck von Echtheit soll hier durch Faktenwissen, Nachforschungen vor Ort und die nötige Verarbeitung des angeeigneten Wissens in eine anschaulich erzählte Geschichte erreicht werden. Demgegenüber steht bei der biographischen Authentizität das biographische Erleben des schreibenden Subjekts im Vordergrund. Wirklichkeitsnähe und Glaubwürdigkeit werden in diesem Zusammenhang nicht durch die Aneignung eines dem Autor zunächst nicht durch eigene Anschauung vertrauten Gegenstands erzeugt, sondern der literarische Stoff wird direkt aus dem individuellen Erleben des Schreibenden gewonnen. Die Quelle für mimetische Authentizität ist demnach das schriftstellerische Handwerk, während sich die biographische Authentizität aus der lebensweltlichen Erfahrung speist.282 Während Biller eindeutig zu den Verfechtern einer biographischen Authentizität gehört, positioniert sich Juli Zeh mit ihrer oben zitierten Polemik als Protagonistin eines Literaturverständnisses, für das allenfalls eine mimetische Authentizität gelten kann. Dabei hält Zeh die künstlerische Verfremdungsleistung des Autors hoch. Biller hingegen besteht darauf, dass bei aller Verfremdung im künstlerischen Werk ein klarer Bezug zur persönlichen Erfahrung bleibt. Allerdings können für Biller journalistische Techniken auch für die Herstellung von biographischer Authentizität von Bedeutung sein, weil in seinen Augen 280 Ebd. 281 Vgl. Franzen: Indiskrete Fiktionen, S. 258. 282 Die Dichotomie aus Handwerk und Erfahrung findet sich in besonders zugespitzter Form in der Diskussion um literarische Schreibschulen (Kapitel 3.2.2), aber auch in der schriftstellerischen Selbstinszenierung von Clemens Meyer (Kapitel 3.4.3).

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die gesamte Literatur »eine stete, ewige Recherche des menschlichen Daseins« darstellt und ein guter Schriftsteller immer bemüht sein sollte, »die Reportage seines eigenen Lebens« zu verfassen.283 Aber auch hier ist das journalistische bzw. schriftstellerische Handwerk allenfalls Hilfsmittel, um die eigene Biographie freizulegen. Analog zur mimetischen und biographischen Dimension des Authentizitätsbegriffs liegt dem Literaturverständnis von Biller und anderen ›Emphatikern‹ eine realistische wie auch vitalistische Produktionsästhetik zugrunde, die sich darin manifestiert, dass Literatur mit der Erwartung begegnet wird, sie solle zum einen glaubhafte Bezüge zur außertextuellen Wirklichkeit herstellen und zum anderen einen lebensnahen und unmittelbaren Selbstausdruck eines individuellen Subjekts enthalten. In dieser doppelten Authentizitätserwartung vermengen sich die begriffsgeschichtlichen Dimensionen der Subjekt- und der Objektbzw. Referenzauthentizität. Authentizität wird somit zum einen dadurch erzeugt, dass dem Leser eine Referentialisierbarkeit zwischen fiktiven und realen Elementen (Figuren, Personen, Orten) angeboten wird, und zum anderen dadurch, dass der Eindruck entsteht, hier schreibe jemand in radikal-subjektiver Weise von seinem eigenen Ich, von seinem eigenen Leben. Im Sinne von Billers wirkungsorientierter Ästhetik verbinden sich diese Produktionsästhetiken zu einer Wirkungsästhetik, die auf einen Authentizitätseffekt abzielt: auf die emphatische Lektüre, die den Leser »mitreißt«. Autobiographie und Autofiktion Angesichts der Bedeutung, die nach Maxim Billers poetologischer Auffassung dem subjektiven Erleben des Autors, dessen individueller Lebensgeschichte und dem damit verbundenen Wirklichkeitsanspruch auf der Vermittlungsebene für die Literatur zukommt, liegt die Frage nahe, ob nach diesem Literaturverständnis überhaupt noch ein Unterschied zwischen Autobiographie und Roman auszumachen ist. Es scheint deshalb an dieser Stelle sinnvoll, nach der fiktionalitätstheoretischen Dichotomie aus Fiktionalität und Faktualität und der mentalitätsgeschichtlichen und poetologischen Dichotomie aus Kunst und Leben im Folgenden zusätzlich die gattungstheoretische Dichotomie aus Autobiographie und Roman (oder die vom Gattungsbegriff emanzipierte Variante aus autobiographischem und fiktionalem Schreiben) einer näheren Betrachtung zukommen zu lassen, um anschließend noch einmal gesondert auf den gegenwärtig besonders virulenten Begriff der Autofiktion zu sprechen zu kommen. Tatsächlich scheint die Autobiographie auf den ersten Blick allein durch ihr gattungsspezifisches Selbstverständnis den emphatischen Anforderungen an 283 Biller: So viel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel.

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Literatur und dem damit einhergehenden Versuch von Biller & Co, den vermeintlichen Gegensatz aus Kunst und Leben zu überwinden, zu entsprechen: »Die Autobiographie«, so Nadine Jessica Schmidt in ihrer Dissertation zu Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten, »gehört einerseits ohne Zweifel zur Kunst und Literatur, andererseits erhebt sie aber auch wie kaum eine andere Gattung den Anspruch auf Wahrheit und Lebensnähe.«284 Dieser Authentizitätsanspruch der Autobiographie ist jedoch wiederum Teil einer durch die letzten Jahrzehnte stets aufs Neue thematisierten Grundproblematik des autobiographischen Schreibens, wie sie sich bereits im Titel der gattungsprägenden Schrift Goethes, Dichtung und Wahrheit. Aus meinem Leben, artikuliert. Seine Titelwahl (damals noch in der umgekehrten Wortabfolge »Wahrheit und Dichtung«) erläuterte Goethe 1829 in einem Brief an König Ludwig I. von Bayern folgendermaßen: Was den freilich einigermaßen paradoxen Titel der Vertraulichkeiten aus meinem Leben Wahrheit und Dichtung betrifft, so ward derselbige durch die Erfahrung veranlaßt, daß das Publikum immer an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not, durch einen gewissen Widerspruchs-Geist getrieben, denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken.285

Die Schwierigkeit gerade von Lebensdarstellungen, die sich als genuin literarisch verstehen, die wirklichkeitsgetreue Wiedergabe der eigenen Lebensgeschichte mit dem Anspruch auf ästhetische Kunstfertigkeit in der Darstellung zu verbinden, mag Goethe dazu veranlasst haben, den Wirklichkeitsbegriff gegen den (in Hinblick auf Referentialisierbarkeit weniger verbindlichen) Wahrheitsbegriff einzutauschen. Das »Grundwahre«, das Goethe zum Ausdruck bringen will, unterscheidet sich insofern von einer bloßen Faktenwahrheit, als dass es auf eine höhere Erkenntnis abzielt, die in Goethes Augen durch jene »Art von Fiktion«, zu der er sich bekennt, besser zu erreichen ist als durch eine wirklichkeitsgetreue Tatsachenbeschreibung.286 Das, was Goethe in seinem Brief an den bayerischen König insinuiert, nämlich dass auch autobiographischen Texten durchaus ein fiktionaler Charakter zuzusprechen ist, wurde allerdings erst im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert zur vorherrschenden Meinung innerhalb der Autobiogra284 Nadine Jessica Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Exemplarische Studien zu Christa Wolf, Ruth Klüger, Binjamin Wilkomirski und Günter Grass. Göttingen 2014, S. 14. 285 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke in 40 Bänden. II. Abteilung, Bd. 11: Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod, Teil II: Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode, hg. von Horst Fleig. Frankfurt am Main 1993, S. 209. 286 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart 2005, S. 2f.

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phieforschung.287 Und auch in späterer Zeit blieb ein Festhalten an der Autobiographie als genuin nicht-fiktionale Textsorte vielerorts weiter bestehen. So war etwa Rolf Tarot noch 1985 überzeugt, die Autobiographie sei in erster Linie der authentischen Wiedergabe verpflichtet: »Die Notwendigkeit, Sachverhalte authentisch wiedergeben zu müssen, unterwirft die Wiedergabe dem Anspruch auf Wahrheit und damit der Wirklichkeit.«288 Anders als Goethe setzt Tarot hier einen Wahrheitsbegriff voraus, der auf Referentialisierbarkeit beruht: Wahrheit wird nicht als das die Fakten übersteigende Grundwahre begriffen, das auch mithilfe der Fiktion vermittelt werden kann, sondern »als Identität von Aussage und Sachverhalt«.289 Es ist also die referenzauthentische Grundannahme, dass die im autobiographischen Text dargestellten Sachverhalte identisch sind mit den Sachverhalten in der außertextuellen Wirklichkeit, die in diesem Zusammenhang als konstitutives Merkmal der Autobiographie angesehen wird. Doch selbst wenn man autobiographische Texte nicht als reine Faktenerzählungen begreift, sondern wie Nadine Jessica Schmidt (stellvertretend für einen großen Teil der jüngeren Autobiographieforschung) davon ausgeht, »dass autobiographisches Schreiben ohne fiktionale Elemente undenkbar ist«,290 bleibt das Autobiographische an grundlegende Authentizitätserwartungen gekoppelt. Zum einen bildet die von Lejeune angenommene Identität von Autor, Erzähler und Figur im Rahmen seines als konstitutiv für die Gattung der Autobiographie formulierten pacte autobiographique eine referenzauthentische Annahme, die unabhängig von der zuvor erwähnten Referenzauthentizität in Bezug auf Sachverhalte funktioniert.291 Zum anderen knüpft sich an die autobiographische Schreibweise das Versprechen einer spezifischen Subjektauthentizität, durch die das ›wahre Selbst‹ des schreibenden Subjekts beschreibbar und durch die Lektüre auch erfahrbar wird. Nach dieser spezifischen Form der Subjektauthentizität ist es nicht zwingend notwendig, dass alle Elemente des autobiographischen Texts im referenzauthentischen Sinne ›wahr‹ sind – mit anderen Worten: fiktionale Textelemente bedrohen den Authentizitätsanspruch nicht, solange sie als notwendige Mittel für den 287 Vgl. hierzu ausführlich Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität, S. 14–17. 288 Rolf Tarot: Die Autobiographie. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985, S. 27–43, hier S. 31. 289 Ebd. 290 Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität, S. 16. 291 Die Identität von Autor, Erzähler und Figur funktioniert insofern unabhängig von einer Referentialisierbarkeit einzelner Sachverhalte auf der histoire-Ebene, weil sie zunächst einmal nur die Erzählhaltung auf der discours-Ebene betrifft. Außerdem handelt es sich bei dieser Identität laut Lejeune zunächst einmal um eine Behauptung, die der autobiographische Text aufstellt und die der Leser im Rahmen des autobiographischen Pakts zu glauben sich bereit erklärt. Dass die Metapher des Pakts jedoch grundsätzlich problematisch ist, wurde zu Beginn dieses Kapitels bereits ausführlich dargelegt.

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authentischen Selbstausdruck des Individuums präsentiert werden. Die subjektauthentische Erwartung an den autobiographischen Text zielt also auf das ab, was Goethe als das »eigentliche Grundwahre« bezeichnet und was sich vielmehr an der ›Essenz des Lebens‹ orientiert als an einzelnen verifizierbaren Fakten. Ähnlich wie bei der realistisch-vitalistischen Produktionsästhetik bei Maxim Biller beruhen die Erwartungen gegenüber autobiographischen Texten auf einem Konnex von Referenz- und Subjektauthentizität.292 Die referenzauthentische Identifizierbarkeit des Urhebers in der ursprünglichen Wortbedeutung von ›authentisch‹ – in diesem Fall die Identifikation des Text-Urhebers mit dem Erzähler bzw. mit dem Protagonisten – wird verbunden mit dem subjektauthentischen Konzept eines aufrichtigen Selbstausdrucks. Dabei ist es nicht unwichtig zu bemerken, dass gerade Letzteres aufs engste mit der Begriffsgeschichte der Authentizität verknüpft ist – waren es doch gerade die autobiographischen Texte von Jean-Jacques Rousseau, die maßgeblich zur Herausbildung eines subjektauthentischen Konzepts beitrugen und ihm nachträglich den Titel eines Gründungsvaters des modernen Authentizitätsbegriffs avant la lettre einbrachten.293 Die behauptete Authentizität von Rousseaus autobiographischen Texten artikuliert sich dabei nicht im Angebot an das lesende Publikum, jene als faktuale Zweckform zu rezipieren, sondern in einer grundsätzlichen Haltung der Aufrichtigkeit: Die Authentizität des autobiographischen Textes bei Rousseau leitet sich weder aus der Identität von Subjekt und Objekt der Aussage noch der Referenzialisierbarkeit des Dargestellten (Objektauthentizität) ab. Sie beruht vielmehr auf dem Anspruch der Wahrhaftigkeit bzw. Aufrichtigkeit des schreibenden Subjekts (Subjektauthentizität) sowie einem rhetorisch produzierten ›authentischen‹ Sprach- und Darstellungsstil, das heißt der Authentizität der Darstellung.294

Teil dieser »Authentizität der Darstellung« ist unter anderem die Inszenierung der aufrichtigen Haltung des Autors, die dem Prinzip des tout dire, des AllesSagens verpflichtet ist.295 Das heißt, dass die autobiographische Erzählinstanz dem Leser mit dem Gestus absoluter Transparenz gegenübertritt und bekundet, das autobiographische Subjekt in allen seinen Facetten offenzulegen. In Rousseaus Confessions, dessen Titel bereits auf das subjektauthentische Versprechen hinweist, wird dies ganz explizit artikuliert:

292 293 294 295

Einen solchen Konnex beobachtet auch Birgit Nübel. Vgl. Nübel: »Alles sagen«, S. 265f. Siehe S. 21 dieser Arbeit. Nübel: »Alles sagen«, S. 283. Vgl. ebd., S. 274: »Um eine Bestätigung des authentischen/autobiographischen Ich durch die Anderen zu erzielen, muss derjenige, der ›ich‹ sagt, die Wahrheit, das heißt alles sagen (tout dire).«

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Bei meinem Unterfangen, mich der Welt von Grund auf zu offenbaren, darf nichts, was mich angeht, dunkel oder verborgen bleiben. Ich muß mich unaufhörlich ihren Blicken aussetzen, damit sie mir in alle Irrungen meines Herzens, in alle Winkel meines Lebens folgen könne, ohne mich jemals auch nur für einen Augenblick aus dem Gesicht zu verlieren; denn ich habe Furcht, sie möchte bei der geringsten Lücke, der geringsten Leere, die sie etwa in meinem Bericht findet, sich fragen: was hat er denn in dieser Zeit getrieben, und mich beschuldigen, ich hätte nicht alles sagen wollen.296

Der Eindruck von Transparenz und Aufrichtigkeit wird noch verstärkt durch die scheinbare Spontanität des Selbstzeugnisses. Denn anders als bei der Geschichtsschreibung handelt es sich bei Rousseaus Verständnis von Autobiographie nicht um eine nachträgliche Vertextung von authentischem Faktenmaterial – der authentische Selbstausdruck entsteht vielmehr im Moment der Verschriftlichung selbst: »Das Authentizitätspostulat einer Evidenzerfahrung erfolgt […] nicht als eine dem autobiographischen Vertextungsprozess vorgängige, sondern wird erst durch diesen konstituiert.«297 Diese Form des autobiographischen Schreibens, in der sich das Subjekt in einer Haltung absoluter Aufrichtigkeit preisgibt und auf diese Weise spezifische Authentizitätseffekte erzeugt, scheint zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Renaissance zu erleben. Wie kein Zweiter steht der norwegische Autor Karl Ove Knausgård mit dem internationalen Erfolg seines sechsteiligen Werks Min kamp für die neue Konjunktur autobiographischer Stoffe. Das im norwegischen Original zwischen 2009 und 2011 erschienene, über 4500 Seiten umfassende Selbstzeugnis knüpft dabei deutlich an das Rousseausche Erzählprinzip des tout dire an und weitet dieses sogar noch weiter aus, indem er den Anspruch wörtlich nimmt: In einer »Marathonbeschreibung des Banalen«298 werden nicht nur die zentralen Ereignisse des Autorenlebens nacherzählt, sondern es wird umfassend 296 Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse. Übertragen von Ernst Hardt, mit einer Einführung von Werner Krauss. Frankfurt am Main 1971, S. 108. Martina Läubli hingegen sieht gerade im Erzählprinzip des tout dire und dem damit verbundenen Versprechen erzählerischer Lückenlosigkeit ein grundlegendes Authentizitätsproblem. Gerade im obsessiven Betonen einer unerfüllbaren Transparenz wird ihrer Ansicht nach die zwangsläufige Selektivität der Selbsterzählung offenkundig. Vgl. Martina Läubli: Subjekt mit Körper. Die Einschreibung des Selbst bei Jean-Jacques Rousseau, Karl Philipp Moritz und W.G. Sebald. Bielefeld 2014, S. 48f.: »Die zwanghafte Dynamik des tout dire unterhöhlt die von Rousseau behauptete Selbstpräsenz des Subjekts. Rousseaus Erzählprojekt wird durch die Unmöglichkeit, alles zu sagen, grundlegend in Frage gestellt. Gerade durch seinen absoluten Anspruch wird es verdächtig. Unter ihrer Oberfläche trägt die Erzählung immer auch das Nicht-Sagen mit sich. Die Bedingungen der Auswahl dessen, was erzählt wird, werden nicht transparent. Die Leser müssen dem erzählenden Subjekt vertrauen. Dieses wiederum kann sich nur absolut setzen, wenn es die Möglichkeit der Selbsttäuschung verbirgt.« 297 Nübel: »Alles sagen«, S. 267. 298 Thomas Andre: Peinlich wie wir alle. In: Spiegel-Online vom 20. 06. 2014, http://www.spie gel.de/kultur/literatur/karl-ove-knausgard-leben-mein-kampf-ist-literatur-hype-in-denusa-a-976082.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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und detailreich Zeugnis vom Alltagsleben des Ich-Erzählers abgelegt. Die authentizitätssuggerierende Schreibhaltung der Aufrichtigkeit wird hier durch einen weitgehenden Verzicht auf erzählerische Selektion inszeniert: Wer in sein Selbstzeugnis Elemente integriert, die aufgrund ihrer Alltäglichkeit oder Banalität nicht als ›literaturfähig‹ gelten, erscheint glaubwürdiger in seinem Anspruch, nichts zu verheimlichen, sondern ›die ganze Wahrheit‹ zu erzählen. Auf der anderen Seite können gerade extensives Erzählen und Detailreichtum auf der Rezeptionsseite eine grundlegende Skepsis gegenüber der postulierten Authentizität wecken, zum Beispiel, wenn es um das Verhältnis von Erinnertem und Erzähltem geht. So schreibt etwa der Literaturkritiker Jan Wiele: Dass wir Knausgård […] glauben sollen, er wisse wirklich noch genau, was damals sein Bruder in der Studentenbude zu ihm gesagt habe und wie er sich dabei gefühlt habe, ist nichts anderes als eine stinknormale Authentizitätsfiktion, wie sie der Roman seit Jahrhunderten aufbaut.299

Knausgårds Anspruch auf eine aufrichtige Erzählhaltung bleibt von dieser Charakterisierung als »Authentizitätsfiktion« weitestgehend unberührt. Zwar bezeichnet er die Bände der Min kamp-Reihe als Romane,300 in den Teilen seines Werks, die sich poetologisch lesen lassen, kommt aber eine grundlegende Fiktionsskepsis zum Ausdruck. Gegen Ende des zweiten Bandes, der in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Lieben erschienen ist, wird diese Fiktionsskepsis besonders deutlich artikuliert: In den letzten Jahren hatte ich mehr und mehr den Glauben an die Literatur verloren. Ich las und dachte dabei, das hat sich jemand ausgedacht. Vielleicht lag es daran, dass wir vollkommen vereinnahmt wurden von Fiktionen und Erzählungen, dass sie inflationär auftraten. Wohin man sich auch wandte, überall sah man Fiktionen. Diese Millionen von Taschenbüchern, gebundenen Büchern, Filmen und Fernsehserien auf DVD handelten von erfundenen Menschen in einer erfundenen, aber wirklichkeitsgetreuen Welt. […] Darin zu leben, in dem Bewusstsein, dass alles ebenso gut anders sein könnte, stürzte einen in Verzweiflung. Ich konnte darin nicht schreiben, es ging nicht, jeder einzelne Satz begegnete dem Gedanken: Das ist doch nur etwas, was du dir ausdenkst. Das ist wertlos. Das Erfundene hat keinen Wert, das Dokumentarische hat keinen Wert. Das Einzige, worin ich einen Wert erblickte, was weiterhin Sinn produzierte, waren Tagebücher und Essays, die Genres in der Literatur, in denen es nicht um Erzählung ging, die von nichts handelten, sondern nur aus einer Stimme bestanden, der

299 Wiele: Knausgård ist gut, aber Handke ist besser. 300 Vgl. Karl Ove Knausgård im Gespräch mit Joachim Scholl: »Das Schlimmste habe ich ausgespart«. In: Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 23. 05. 2017, http://www.deutschlandfu nkkultur.de/karl-ove-knausgard-kaempfen-das-schlimmste-habe-ich.1270.de.html?dram:a rticle_id=386822, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Außerdem werden die Bände sowohl der norwegischen Originalausgabe als auch der deutschen Übersetzung auf dem Buchumschlag paratextuell als Romane ausgewiesen.

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Stimme der eigenen Persönlichkeit, einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen könnte.301

Die Abneigung gegenüber erfundenen Geschichten und die Bevorzugung von Tagebuch und Essay als subjektzentrierte Genres der Literatur lassen sich als Ausdruck einer Sehnsucht nach dem (Subjekt-)Authentischen lesen, die wiederum dem autobiographischen Schreiben zu einer Renaissance verholfen hat, als deren Protagonist nun Karl Ove Knausgård in Erscheinung tritt. Auch im deutschsprachigen Raum blieb diese ›Renaissance‹ nicht ohne Wirkung. So erschienen allein im Jahr 2016 gleich mehrere erfolgreiche Titel auf dem deutschen Buchmarkt, die autobiographisches Schreiben mit literarischem Kunstanspruch verbinden: Benjamin von Stuckrad-Barres Panikherz, Thomas Melles Die Welt im Rücken und Maxim Billers Biografie. Großen Erfolg erlangte auch der Theaterschauspieler Joachim Meyerhoff mit seinem autobiographischen Romanzyklus Alle Toten fliegen hoch, der wie Knausgårds Min kamp auf sechs Teile angelegt ist.302 Die genannten Titel verbindet miteinander, dass sie dem Leser ein Referentialisierungsangebot unterbreiten, indem sie die Identität von Autor, Erzähler und Figur nahelegen und im Sinne einer Haltung der Aufrichtigkeit die Gedanken- und Gefühlswelt des Autor-Ichs offenlegen. Auf der anderen Seite distanzieren sie sich allerdings von der Autobiographie als reiner Zweckform ohne Kunstanspruch und bekennen sich teilweise offen zur eigenen Fiktionalität. Billers Biografie trägt genau wie die Bücher von Joachim Meyerhoff und die der Knausgård-Hexalogie die paratextuelle Kennzeichnung ›Roman‹ im Untertitel,303 auch bei Buchpreisnominierungen und Bestsellerlisten findet man die Titel in der Kategorie ›Belletristik‹ und nicht unter den Sachbüchern (wie es bei Autobiographien von Politiker*innen und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Fall ist).304 301 Karl Ove Knausgård: Lieben. Roman. München 2012, S. 724. 302 Von diesen sechs Teilen erschienen bisher fünf (Stand: März 2021): Amerika (2011), Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (2013), Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke (2015), Die Zweisamkeit der Einzelgänger (2017) und Hamster im hinteren Stromgebiet (2020). 303 Im Fall von Billers Biografie entsteht so eine besondere Ironie, da der Obertitel selbst eine Gattungsbezeichnung ist. Melles Die Welt im Rücken und Stuckrad-Barres Panikherz verzichten auf eine paratextuelle Kennzeichnung auf dem Buchumschlag und lassen so die Gattungszuweisung offen. 304 Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht Stuckrad-Barres Panikherz, das auf der SpiegelBestsellerliste tatsächlich als Sachbuch rubriziert wurde, während die Bücher von Melle und Meyerhoff Plätze auf der Belletristik-Liste belegten. Die beiden letztgenannten Autoren waren mit ihren Büchern 2016 außerdem beide für den Deutschen Buchpreis nominiert, dessen Teilnahmebedingungen voraussetzen, dass die eingereichten Titel »ihrer Art und Länge nach ein Roman sein« müssen (Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung:

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Diese aus autobiographischem und fiktionalem Schreiben zusammengesetzte Mischform wird in verschiedenen literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen mit unterschiedlichen Begriffen bedacht: Mancherorts werden literarische Texte wie die hier vorgestellten als Memoirs bezeichnet,305 an anderer Stelle ist die Rede von Quasi-Autobiographien,306 von fiktionalen Metaautobiographien307 oder ganz schlicht von autobiographischen Romanen308. Der in der derzeitigen literaturwissenschaftlichen Forschung wirkmächtigste und am meisten diskutierte Begriff für literarische Texte, die sich im Spannungsfeld von Autobiographie und Roman bewegen, ist jedoch der der Autofiktion. Der Begriff geht auf den französischen Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Serge Doubrovsky zurück, der seinen 1977 erschienenen Roman Fils in dessen Vorwort als autofiction bezeichnet. Der Terminus hielt daraufhin zunächst Einzug in die frankophone Literaturwissenschaft und wurde mit Beginn des 21. Jahrhunderts auch in der deutschsprachigen Forschung zunehmend populär, sodass vor allem in jüngster Zeit zahlreiche Publikationen erschienen sind, die sich dieser Thematik widmen.309

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Der Preis. https://www.deutscher-buchpreis.de/der-preis/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.). Vgl. Christopher Schmidt: Das Memoir als Genrebegriff. In: Süddeutsche Zeitung vom 02. 01. 2017, http://www.sueddeutsche.de/kultur/jahresrueckblick-ideen-aus-dem-jahr-die-bleibe n-1.3317938-4, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Vgl. Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans. Göttingen 1993, S. 31f. Vgl. Ansgar Nünning: Metaautobiographien. Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen. In: Ulrich Breuer (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 2. München 2007, S. 269–292. Der Gattungsmix-Terminus ›autobiographischer Roman‹ ist in seiner Verwendungsweise wenig klar umrissen, wenngleich er auf eine lange Tradition zurückblicken kann. So gab schon Theodor Fontane seinen Kindheitserinnerungen den Untertitel »Autobiographischer Roman«. Die Wahl dieses Untertitels begründet Fontane in seinem Vorwort damit, »daß ich nicht von einzelnen aus jener Zeit her vielleicht noch Lebenden auf die Echtheitsfrage hin interpelliert werden möchte« (Theodor Fontane: Meine Kinderjahre. Autobiographischer Roman. In: Ders.: Sämtliche Werke, hg. von Jutta Neuendorff-Fürstenau, Bd. XIV. München 1961, S. 7.). Zu nennen wären hier die Sammelbände: Elio Pellin/Ulrich Weber (Hg.): »… all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs«. Autobiographie und Autofiktion. Göttingen/Zürich, 2012; Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion. Bielefeld 2013; Christine Ott/ Jutta Weiser (Hg.): Autofiktion und Medienrealität. Kulturelle Formungen des postmodernen Subjekts. Heidelberg 2013; sowie die Dissertation von Birgitta Krumrey: Der Autor in seinem Text. Autofiktion in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur als (post-)postmodernes Phänomen. Göttingen 2015; und die Monographie von Jörg Pottbeckers: Der Autor als Held. Autofiktionale Inszenierungsstrategien in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2017.

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Authentizität und Literatur

Doch trotz seiner gegenwärtigen Virulenz in der literaturwissenschaftlichen Forschung bleibt der Begriff in unterschiedliche, miteinander konkurrierende Verwendungsweisen gespalten. Einig sind sich die verschiedenen definitorischen Ansätze lediglich darin, dass es sich bei der Autofiktion um eine Mischform aus autobiographischem und fiktionalem Erzählen handelt: »Im Begriff der Autofiktion werden zwei in der Regel als gegensätzlich betrachtete Konzepte zusammengebracht: das der Autobiographie bzw. des autobiographischen Erzählens und das der Fiktion bzw. des fiktionalen Erzählens.«310 Wie genau jedoch dieses Mischverhältnis zustande kommt und wie es sich im Fall der Autofiktion konkret ausgestaltet, dafür gibt es verschiedene Ansätze. Ein zentraler Streitpunkt liegt dabei in der Frage, zu welchem der beiden Pole, zwischen denen die Autofiktion schwebt, diese eher ausschlägt: zum Fiktionalen oder zum Autobiographischen. In Anbetracht dieser Kernfrage autofiktionaler Begriffsbestimmung geht Frank Zipfel von drei verschiedenen Konzepten der Autofiktion aus: Autofiktion als besondere Art des autobiographischen Schreibens (1), Autofiktion als besondere Art des fiktionalen Erzählens (2) und Autofiktion als Kombination von autobiographischem Pakt und Fiktions-Pakt (3).311 Eine Autofiktion im Sinne der ersten von Zipfel vorgestellten Definitionsmöglichkeit würde dann vorliegen, wenn ein autobiographischer Text in nicht näher bestimmter Häufigkeit und Frequenz Fiktionssignale aufweist, wenn also ein klar dem Genre der Autobiographie zuzuordnender Text den gattungskennzeichnenden Untertitel ›Roman‹ trägt. Hier liegt allerdings die Frage nahe, ob eine solche von den Konventionen abweichende Etikettierung bereits dazu berechtigt, von einer spezifischen Schreibweise zu sprechen.312 Bedenkt man außerdem, dass sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts innerhalb der Autobiographieforschung die Meinung weitestgehend durchgesetzt hat, dass auch autobiographische Texte zu einem gewissen Grad fiktionalen Charakter aufweisen,313 stellt sich die Frage, was nach dieser Definition Autofiktion und Autobiographie überhaupt voneinander unterscheide oder ob man letztlich zu dem 310 Frank Zipfel: Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität? In: Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer (Hg.): Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen. Berlin/New York 2009, S. 285–314, hier S. 286. 311 Vgl. ebd., S. 298–311. 312 Vgl. auch Pottbeckers: Der Autor als Held, S. 38f.: »Reduziert sich aber das Emanzipatorische schlicht darauf, einer konventionell chronologischen Lebensbeschreibung, die problemlos als Autobiographie durchgehen würde, die Gattungsbezeichnung Roman aufzudrucken, dann stellt sich natürlich die Frage nach der Funktion.« Auch Zipfel merkt an, dass es sich bei dieser Möglichkeit lediglich um eine Veränderung der nicht-fiktionsspezifischen Konstruktion handle: »Ein eigentlich unter den Bedingungen des autobiographischen Erzählens verfasster Text wird mit dem Fiktions-Pakt bemäntelt und es wird davon ausgegangen, dass sowohl der Produzent wie auch der Rezipient sich entsprechend verhalten […].« (Zipfel: Autofiktion, S. 301.) 313 Vgl. Schmidt: Konstruktionen literarischer Authentizität, S. 14–17.

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Schluss kommen müsse, »dass jede Autobiographie ›eigentlich‹ Autofiktion sei«.314 In diesem Sinne empfiehlt es sich, Daniel Weidner folgend, »nicht die gesamte Diskussion der fiktionalen Momente der Autobiographie nun noch einmal unter dem Titel ›Autofiktion‹ zu wiederholen«.315 Auch die dritte Definitionsmöglichkeit von Autofiktion als Kombination von autobiographischem Pakt und Fiktions-Pakt ist problematisch. Wesentlicher Kern dieser Definition ist die Annahme, dass der autofiktionale Text sich sowohl als referentiell wie auch als fiktional zu erkennen gibt […] bzw. dass dem Leser sowohl der autobiographische Pakt wie auch der Fiktionspakt angeboten werden, ohne dass er die Möglichkeit an die Hand bekommt, den Text ganz oder teilweise nach einem der beiden Pakte aufzulösen.316

Diese Variante der autofiktionalen Begriffsbestimmung stützt sich vordergründig auf die Pakt-Metapher, die zu Beginn dieses Kapitels bereits ausführlich problematisiert wurde. Insbesondere die in diesem Zusammenhang angenommene gleichzeitige Gültigkeit zweier einander widerstrebender Pakte ist nicht nur paradox, sondern widerspricht den Bedingungen für die Verwendung der Pakt-Metapher grundlegend. Verzichtet man auf diese Metapher und spricht stattdessen, wie oben vorgeschlagen, von der gleichzeitigen (oder sich abwechselnden) Anwendung zweier sozialer Praktiken (der fiktionalen und der referentiellen Lesart), dann ist das zwar weniger paradox, aber in hohem Maße unspezifisch. Es scheint zumindest wenig gewonnen zu sein, wenn man die allgemeine Annahme, Autofiktion sei eine Mischung aus fiktionalem und autobiographischem Erzählen, durch die Definition ergänzt, Autofiktion sei eine Kombination aus der sozialen Praxis der fiktionalen und der sozialen Praxis der referentiellen Lektüre. Zumindest in der deutschsprachigen Forschung hat sich daher die zweite von Zipfel vorgestellte Definitionsmöglichkeit durchgesetzt, die Autofiktion als eine besondere Art des fiktionalen Erzählens begreift. Sie bestimmt die Autofiktion als eigenständige Schreibweise, die »durch die Namensidentität von Autor und Figur zusammen mit einer Fiktionalität behauptenden Gattungsbezeichnung gekennzeichnet ist […].«317 Diese Definition hat den Vorteil, dass sie sich sowohl von klar autobiographisch markierten Texten als auch von den Konventionen eindeutig fiktionaler Texte abgrenzen lässt. Für die Charakterisierung von

314 Martina Wagner-Egelhaaf: Einleitung. Was ist Auto(r)fiktion. In: Dies. (Hg.): Auto(r)fiktion, S. 7–21, hier S. 9. 315 Daniel Weidner: Bildnis machen. Autofiktionale Strategien bei Walter Kempowski, Uwe Johnson und W.G. Sebald. In: Wagner-Egelhaaf (Hg.): Auto(r)fiktion, S. 163–182, hier S. 164. 316 Zipfel: Autofiktion, S. 304f. 317 Ebd., S. 302.

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Authentizität und Literatur

Werken und Schreibweisen als ›Autofiktion‹ bzw. ›autofiktional‹ wird daher im Folgenden diese zweite Definition zugrunde gelegt. Das Phänomen als solches, dass ein Autor erkennbar als Figur in einer fiktionalen Erzählung auftaucht, ist in der Literaturgeschichte nichts Neues: Schon Dante ließ seinen literarisierten Avatar an der Seite von Vergil durch Inferno und Purgatorium bis ins Paradies reisen. Und auch in den Texten von Jean Paul, E.T.A. Hoffmann oder Christian Dietrich Grabbe lassen sich ähnliche Autorfiguren ausmachen.318 Allerdings findet das Spiel mit der Namensgleichheit in der Gegenwart unter ungleich anderen Voraussetzungen statt: Nach dem ›Tod des Autors‹ scheint die offensive Präsenz des Autors im fiktionalen Text geradezu provokativ (zumindest für diejenigen, die von diesem Diskurs Notiz genommen haben). Zudem erscheint ein solch spielerischer Umgang mit Autorschaft, Fiktionalität und Referentialisierbarkeit angesichts des an Bedeutung gewinnenden Authentizitätsdiskurses unter neuen Gesichtspunkten. Auch wenn autofiktionale Texte in der Regel keine absichts- und wirkungsvolle Täuschung des Lesers bezwecken, werden doch alleine durch die Namensidentität von Autor und Figur Authentizitätssignale gesendet, die als Grundlage für ein Spiel mit den Erwartungen des lesenden Publikums fungieren können. Der Roman Hoppe (2012) von Felicitas Hoppe liefert hierfür ein anschauliches Textbeispiel, das nicht zuletzt durch die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an die Autorin im Jahr der Veröffentlichung des Romans für großes Aufsehen sorgte. In Hoppe wird Felicitas Hoppes »Traumbiographie« erzählt – so heißt es im Klappentext der Erstausgabe. Dem Romantext vorangestellt ist ein Auszug aus dem Wikipedia-Eintrag der Autorin, der sich auch im verlegerischen Peritext wiederfindet: »Felicitas Hoppe, *22. 12. 1960 in Hameln, ist eine deutsche Schriftstellerin.«319 Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird allerdings von der Erzählinstanz klargestellt: »Die Hamelner Kindheit ist reine Erfindung.«320 Vielmehr sei Hoppe die »einzige Tochter eines Patentagenten«, den sie bei »Arbeitsaufenthalte[n] auf höchst unterschiedlichen Kontinenten« begleitete.321 Im Folgenden wird Hoppes fiktionale Lebensgeschichte erzählt, nach der sie in Kanada aufwuchs, wo sie sich in den späteren Eishockey-Star Wayne Gretzky verliebte, sich in Australien an einer Dirigentenausbildung versuchte und schließlich nach Amerika zog, wo sie ihre schriftstellerische Karriere begann. Diese Geschichte wird allerdings nicht der autobiographischen Konvention nach in der ersten Person Singular erzählt, sondern von einer (scheinbar) unbeteiligten, heterodiegetischen Erzählinstanz. Dabei imitiert die Erzählweise bis in die 318 319 320 321

Vgl. Krumrey: Der Autor in seinem Text, S. 22. Felicitas Hoppe: Hoppe. Roman. Frankfurt am Main 2012, S. 9. Ebd., S. 14. Ebd.

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Details die Konventionen einer wissenschaftlichen Biographie: Es werden unterschiedlichste schriftliche Quellen angeführt und zitiert (sowohl Egodokumente als auch literarische Texte), Nebenfiguren, die mit der fiktiven Hoppe in Kontakt standen, kommen zu Wort und die gesammelten Quellen werden von der Erzählinstanz miteinander verglichen und auf ihre Plausibilität hin geprüft. Selbst der gelehrte Duktus wissenschaftlicher Biographien wird – teilweise in karikaturesker Übertreibung – übernommen, weshalb Hoppe in der Forschung auch als »fiktionale Biographie«322 oder als »Biographie-Parodie«323 bezeichnet wird. Ebenso jedoch erfüllt der Text die Kriterien für autofiktionales Erzählen: Er wird paratextuell eindeutig als fiktional ausgewiesen (explizit durch die Bezeichnung als ›Roman‹ im Untertitel und als ›Traumbiographie‹ im Klappentext, implizit durch die der Romanhandlung widersprechende Kurzvita der Autorin) und enthält eine Figur, die den Namen der Autorin trägt. Es handelt sich aber insofern um einen Sonderfall des autofiktionalen Erzählens, als dass nicht nur eine Namensidentität zwischen empirischer Autorin und Figur besteht, sondern eine regelrechte Vielzahl von Textinstanzen auszumachen ist, die auf die Schriftstellerin Felicitas Hoppe verweisen. Der Text der Erzählinstanz, die sich als Biographin von Felicitas Hoppe geriert, ist durchsetzt von kommentierenden (und zuweilen korrigierenden) Einschüben, die mit dem Kürzel ›fh‹ versehen sind – eine Instanz, die offenbar über Wissen verfügt, das über das der Erzählinstanz hinausreicht und durch die Verwendung der Initialen der Autorin unvermeidbar mit dieser assoziiert wird. Hinzu kommt, dass an einigen Stellen im Romantext die Erzählinstanz selbst als Hoppe (bzw. als ›fh‹) identifiziert wird, in diesem Fall von der Kommentarinstanz ›fh‹: »Hier seht ihr mich (hier meint fh offenbar sich selbst /fh), aber wo steckt Felicitas?«324 Dieses Verwirrspiel führt dazu, dass die referentielle Bezüglichkeit des Autornamens noch radikaler unterwandert wird, als es das autofiktionale Spiel mit dem Namen des Autors ohnehin schon tut. Hoppe »gebärt eine solche Vielzahl von Hoppes, dass sich jede Frage nach referentieller Echtheit oder gar autobiographischen [sic!] Gehalt endgültig erübrigt«.325 Dem Authentizitätsversprechen, das der Gleichsetzung von Autorin und Protagonistin innewohnt, wird hier bereits auf den ersten Seiten eine Absage erteilt. 322 Vgl. Gaby Pailer: Hoppe, Hockey und der reisende Puck. Selbst(er)findung und kanadische Kindheit in Felicitas Hoppes fiktionaler Auto/Biografie. In: Michaela Holdenried (Hg.): Felicitas Hoppe: Das Werk. Berlin 2015, S. 161–172. 323 Vgl. Birgitta Krumrey: Autofiktionales Schreiben nach der Postmoderne? Felicitas Hoppes Hoppe. In: Dies./Ingo Vogler/Katharina Derlin (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne? Heidelberg 2014, S. 277– 292, hier S. 283. 324 Hoppe: Hoppe, S. 246. 325 Pottbeckers: Der Autor als Held, S. 128.

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Authentizität und Literatur

Die Subversion von referentiellen Authentizitätserwartungen findet aber auch auf einer anderen Ebene statt: Auch der Umgang mit den im Roman zitierten Quellen wird zu einem Vexierspiel mit Fakt und Fiktion. Die Erzählinstanz referiert sowohl auf die tatsächlich publizierten literarischen Werke der empirischen Autorin Hoppe (das gesamte erzählerische Werk wird im Laufe des Romans erwähnt, bereits auf der ersten Seite wird aus Hoppes zweiter Veröffentlichung Pigafetta zitiert326) als auch auf fiktive Buchveröffentlichungen und Textdokumente. Dabei ist gerade in Bezug auf Hoppes unveröffentlichtes Jugendwerk für den Leser kaum ersichtlich, ob es sich dabei um Fiktionen handelt oder doch um realweltlich existierende Schriften, die von der empirischen Autorin in ihren Jugendjahren verfasst wurden und bisher unveröffentlicht geblieben sind.327 Auf dieser Ebene lässt sich in der Tat von einem Schwebezustand des Fiktionsstatus sprechen, wie sie die dritte Variante der Autofiktionsbestimmung nach Zipfel vorsieht. Insofern ließe sich Hoppe auch als autofiktionaler Text im Sinne einer Kombination aus der zweiten und der dritten Autofiktionsvariante nach Zipfel anführen: Das Textganze lässt sich relativ eindeutig als fiktional charakterisieren (selbst für Leser*innen, die nichts über die amtliche Biographie von Felicitas Hoppe wissen), während der Fiktionsstatus der einzelnen Elemente des Textes (also der Zitate, Orte und Figuren sowie der Behauptungen der verschiedenen Instanzen) oftmals in der Schwebe bleibt. »Im gesamten Roman«, so Jörg Pottbeckers, »werden Behauptungen und Gegenbehauptungen ebenso wie die Realitätsbezüge und Fiktionssignale unterschiedslos miteinander verschränkt«.328 Den einzelnen Verweisen auf die Spur zu gehen, würde eine immense Recherchearbeit bedeuten und letztlich dennoch einen großen Rest an Unüberprüfbarem übrig lassen. Der Anspruch (auto)biographischer Texte auf Referenzauthentizität wird durch diese Form des Umgangs mit Fakten und Fiktionen ad absurdum geführt.329 Dennoch verschließt sich der Roman nicht zwangsläufig der Zuschreibung einer Subjektauthentizität im Sinne einer ›gefühlten Nähe‹ zur empirischen 326 Vgl. Hoppe: Hoppe, S. 13. 327 Wenn man den Interview-Aussagen der Autorin Glauben schenken möchte, entstammen einige der Zitate tatsächlich ihren Kindheitswerken. Vgl. Felicitas Hoppe im Gespräch mit Jutta Rinas: Schriftstellerin Felicitas Hoppe im Interview. In: Hannoversche Allgemeine vom 01. 04. 2012, https://www.haz.de/Nachrichten/Kultur/Uebersicht/Schriftstellerin-FelicitasHoppe-im-Interview, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 328 Pottbeckers: Der Autor als Held, S. 121. 329 Vgl. Antonius Weixler: »Dass man mich nie für vermisst erklärt hat, obwohl ich seit Jahren verschollen bin.« Autorschaft, Autorität und Authentizität in Felicitas Hoppes Hoppe (2012). In: Svenja Frank/Julia Ilgner (Hg.): Ehrliche Erfindungen. Felicitas Hoppe als Erzählerin zwischen Tradition und Transmoderne. Bielefeld 2017, S. 359–388, hier S. 373: »Der klassischen Form der ›Referenz-Authentizität‹ wird in Hoppe misstraut und dieses Misstrauen wird in einem komplexen Erzählverfahren reflektiert.«

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Autorin. Hoppe selbst betont in Interviews immer wieder, dass trotz oder gerade wegen der Verfremdung ihrer faktischen Biographie der Blick auf die ›echte‹ Hoppe umso unverstellter möglich sei. So gibt sie gegenüber der Hannoverschen Allgemeinen zu Protokoll: »Ich schlage der klassischen Form der Autobiografie in meinem Buch nicht nur ein Schnippchen. Ich komme mir in der Verfremdung näher, als es mir in der Ichform je gelungen wäre.«330 Und im Gespräch mit dem Radiosender NDR-Kultur sagt sie: Dadurch, dass ich der Figur einen anderen geografischen Hintergrund gegeben habe und einen anderen faktischen und einen anderen familiären, war ich plötzlich auf magische Weise frei, alles über mich, den Charakter Felicitas Hoppe zu sagen, was ich sonst niemals hätte sagen können. So dass dies Buch wahrscheinlich zehnmal autobiografischer geworden ist, als alles hätte werden können, das ich so angesiedelt hätte, dass es den Fakten folgt.331

Die Vorstellung, man könne etwas ›Wahres‹ über eine Person vermitteln, indem man gerade nicht den Fakten folgt, erinnert an Goethes Bestreben in Dichtung und Wahrheit, das ›Grundwahre‹ seines Lebens unabhängig von der Faktenwahrheit vermitteln zu wollen. In Hoppes Roman wird dieses Verhältnis zu Wirklichkeit und Wahrheit oftmals selbstironisch thematisiert. So ist beispielsweise mit Bezug auf fiktive Quellen von Hoppes »in zahlreichen Interviews beharrlich immer wieder auftauchende[m] Hinweis auf ihr literarisches Verfahren ›ehrlicher Erfindung‹« die Rede.332 Antonius Weixler bemerkt hierzu: Die Umschreibung der Arbeitsmethode als ›ehrliche Erfindung‹ stellt als literarisches Verfahren im Hinblick auf den Status der Rede eine paradoxe Formel dar, können doch in faktualer oder fiktionaler Literatur die erzählten Ereignisse nur entweder referentiellauthentisch – also ›ehrlich‹ und ›wahr‹ – oder eben erfunden und artifiziell-fantastisch sein.333

Hoppe hingegen beruft sich offenbar – wie in anderer Weise auch Goethe und Rousseau in ihren autobiographischen Texten – auf eine dritte Kategorie, die zwar schwer fassbar und noch schwerer zu überprüfen ist, deren Behauptung aber dennoch wirkungsvoll ist: der subjektauthentische Selbstausdruck. Bei der Autofiktion handelt es sich zweifellos um eine besonders starke Erscheinungsform der textuellen Inszenierung von Autorschaft. Durch das sub330 Hoppe/Rinas: Schriftstellerin Felicitas Hoppe im Interview. 331 Felicitas Hoppe im Gespräch mit o.N.: Gespräch mit Felicitas Hoppe. In: NDR-Kultur, http://www.ndr.de/kultur/literatur/buchtipps/nbhoppe101.html/, zuletzt abgerufen am 24. 07. 2018 (nicht mehr abrufbar). 332 Hoppe: Hoppe, S. 25. 333 Weixler: »Dass man mich nie für vermisst erklärt hat, obwohl ich seit Jahren verschollen bin«, S. 366.

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Authentizität und Literatur

versive Spiel mit wirklichkeitsverbürgenden Bezügen wird zwar einerseits das Konzept der Referenzauthentizität unterlaufen, andererseits eröffnet dieses Verfahren auch neue Möglichkeiten der subjektzentrierten Selbstdarstellung, die wiederum ein grundlegendes (und nicht auf Referentialisierbarkeit beruhendes) Authentizitätsversprechen mit sich führen. In diesem Fall wird gerade durch die Absage an referenzauthentische Zuschreibungen der Weg frei gemacht für eine andere Form der Authentizität, die im Sinne Goethes auf das ›Grundwahre‹ hinter dem referentialisierbaren Faktenwissen abzielt. Dieses Grundwahre bleibt zwar seinem Wesen nach unkonkret, wird aber in seiner Inszenierung umso deutlicher, wenn es vom empirisch Überprüfbaren losgelöst als reine Charakterdarstellung präsentiert wird wie in Hoppe. Fälschung und Fake Dass im Fall von Hoppe und anderen autofiktionalen Texten das ›Grundwahre‹ ausgerechnet über eine (wenn auch spielerische) Täuschung der Rezipient*innen vermittelt werden soll, ließe sich als eine weitere Paradoxie des Authentizitätsdiskurses charakterisieren. Es soll hier zum Anlass genommen werden, um eine notwendige Abgrenzung der zuvor diskutierten Fiktionsspiele unter Einsatz von Authentizitäts- und Fiktionalitätssignalen auf der einen Seite und Fälschungen auf der anderen Seite vorzunehmen. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die Feststellung, dass es sich nicht bei jeder Nicht-Erfüllung von Authentizitätserwartungen und auch nicht bei jeder Verletzung der Authentizitätsnorm gleichzeitig um eine Fälschung, geschweige denn um einen Fall von Betrug handelt. Entscheidend ist hier vor allem die Täuschungsabsicht, aber auch die Frage, ob eine Täuschung – wenn sie denn erfolgt – als Teil des Kunstwerks zu werten ist oder ob hinter der Täuschungsabsicht eine andere Motivation vermutet wird. Für ein besseres Verständnis soll daher systematisch zwischen dem Spiel mit Authentizitätserwartungen, dem Fake und der Fälschung unterschieden werden. Beim Spiel ist die Nicht-Erfüllung der Authentizitätserwartungen, wie der Name schon sagt, spielerischer Natur, das heißt, es liegt keine Täuschungsabsicht vor und die Suspension der Authentizitätserwartungen findet vor dem Hintergrund eines eindeutig fiktionalen Rahmens statt. Ein Beispiel hierfür wäre die spielerische Behauptung in Hoppe, es handle sich um die Biographie der empirischen Autorin, die durch starke Fiktionalitätssignale von vorneherein ad absurdum geführt wird. Zwar lässt sich von Hoppe und anderen autofiktionalen Texten sagen, dass sie mit dem spielerischen Einsatz von Authentizitätssignalen auch das Konzept der Authentizitätszuschreibung als solches zu unterlaufen versuchen, doch eben dies gehört nicht zu den Kennzeichen von Fälschungen, die ja Authentizität gerade für sich zu reklamieren versuchen. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Anne-Kathrin Reulecke, die in diesem Punkt die postmoderne In-

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fragestellung von Originalität und die Praxis des Fälschens voneinander abgrenzt: Nicht zufällig entzündet sich das Ressentiment an künstlerischen Praktiken der Moderne, die die Frage der Originalität und den künstlerischen Schöpfungsprozeß explizit in ihr Zentrum stellen, an zeitgenössischen ästhetischen Ausdrucksformen, die den »Fake« planvoll und offen praktizieren. Vergessen wird dabei, daß bekennende KunstFälscher im Gegensatz zu den avancierten Konzept-Künstlern immer wieder und gerne betonen, ihre Werke seien ›echten‹ ebenbürtig, ihre Arbeit sei schöpferisch. Fälscher selbst rekurrieren viel eher auf traditionelle Modelle des Originalen, als sie infrage zu stellen. Die Existenz von Fälschungen bestätigt die ubiquitäre Simulation daher nicht ganz so eindeutig, sondern sie ist ebenso ein Zeichen dafür, daß weiterhin und ungebrochen an Begriffen wie Echtheit, Authentizität und Originalität festgehalten wird.334

Der Begriff des ›Fakes‹, den Reulecke ebenfalls als Bezeichnung für eine ästhetische Praxis verwendet, beinhaltet nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis hingegen durchaus eine Täuschungsabsicht, die jedoch als absichtsvoll integrierter Teil des jeweiligen künstlerischen Werks oder Prozesses zu verstehen ist. Beispiele hierfür wären die Inszenierung Karl Mays als lebende Entsprechung der Romanfigur Old Shatterhand335 oder der Fake-Account der Youtube-Vloggerin Lonelygirl15336. Bei letzterem handelt es sich geradezu um das Paradebeispiel eines FakeKonzepts, bei dem das Täuschen der Rezipient*innen wie auch die Offenlegung dieser Täuschung konstitutiver Teil der künstlerischen Praxis ist. Entscheidend ist hier, dass das Täuschungsmanöver jenseits dieser Praxis keine übergeordnete Motivation hat und nicht etwa ökonomisches Interesse dahintersteht. Ein aufmerksamkeitsökonomischer (und damit meist auch finanzieller) Nebeneffekt durch Klickzahlen etc. muss natürlich auch hier angenommen werden – dennoch lässt sich ein qualitativer Unterschied zwischen einem Fake als (mitunter auch ökonomisch erfolgreicher) Kunststrategie und einer Fälschung als monetärer Bereicherungsstrategie feststellen. Zwar kann es sich auch beim Fake um einen Normbruch handeln, der entsprechende Sanktionen nach sich zieht, wie anhand der Kommentare zu den Videos von Lonelygirl15 gezeigt wurde,337 jedoch handelt es sich hierbei um einen absichtlich provozierten Bruch mit der Authentizitätsnorm. Schwieriger zu bewerten ist hingegen Mays Konstruktion der Old-Shatterhand-Legende, da hier die Motivlage unklarer ist. Betrachtet man Mays Inszenierung als werkbezogene Performance, die als Ausdruck einer Ausweitung seines fiktionalen Kosmos auf 334 Anne-Kathrin Reulecke: Fälschungen – Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten. Eine Einleitung. In: Dies. (Hg.): Fälschungen, S. 7–43, hier S. 13f. 335 Siehe Kap. 2.2 dieser Arbeit. 336 Siehe Kap. 1.2 dieser Arbeit. 337 Siehe S. 34 dieser Arbeit.

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die Paratexte und den Habitus des Autors zu verstehen ist, handelt es sich dabei um einen Fake. Da May aber beharrlich bei seiner öffentlichen Behauptung blieb, er sei wirklich Old Shatterhand, lässt sich nicht ausschließen, dass es sich bei dieser Gleichsetzung um eine bewusste oder unbewusste Fälschung aus ökonomischen oder psychopathologischen Beweggründen handelt.338 Klarer ist der Fall von Binjamin Wilkomirskis fingiertem Erfahrungsbericht Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1929–1948. Das 1995 im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag erschienene Buch wurde als autobiographisches Zeugnis einer Kindheit in den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz-Birkenau beworben und rezipiert, bis drei Jahre nach der Veröffentlichung der Schweizer Journalist Daniel Ganzfried den Autor des Betruges bezichtigte und enthüllte, dass es sich bei Wilkomirski in Wirklichkeit um den gebürtigen Schweizer Bruno Doesseker handelt, der nie in ein Konzentrationslager verschleppt wurde.339 Bei Bruchstücke handelt es sich auch deshalb um einen besonderen Fall von Rezipient*innen-Täuschung, weil das Buch den moralisch besonders sensiblen Bereich der Erinnerung an die Leiderfahrung marginalisierter Gruppen im Allgemeinen und der Schoah-Literatur im Besonderen berührt.340 Entsprechend deutlich fiel auch die Sanktionierung dieses Normbruchs aus: Der Verlag nahm den Titel aus dem Programm, er ist heute allenfalls noch antiquarisch erhältlich.341 Doch nicht nur die thematische Brisanz und die daraus resultierende verschärfte Sanktionierung unterscheiden den Fall Wilkomirski vom Fall Lonelygirl15 und anderer Fakes: Ein qualitativer Unterschied besteht darin, dass es sich bei Bruchstücke nicht um einen fiktionalen Text handelt, der durch den Einsatz von Authentizitäts- oder Faktualitätssignalen die Rezeption als faktualer Text nahelegt, sondern schlicht um die Fälschung eines autobiographischen Texts und die widerrechtliche Aneignung einer fremden Identität durch den Autor. Gegenstand des Normbruchs ist in diesem Fall nicht die Fiktion, sondern die Lüge, wie auch Hans-Edwin Friedrich zu Bedenken gibt: »Die Entdeckung der Fäl338 Die Möglichkeit, dass es sich bei Karl May um einen pathologischen Fälscher handelte, wird unter anderem durch sein jahrelanges widerrechtliches Führen eines Doktortitels nahegelegt. Vgl. Hans-Dieter Steinmetz: »Is das nich der Dres’ner Doktor?«. Zu Karl Mays freiem Umgang mit dem Doktortitel. In: Karl-May-Haus Information 13 (2000), S. 1–27. 339 Vgl. Hans-Edwin Friedrich: Gefälschte Erinnerungen. Binjamin Wilkomirski: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 (1995). In: Ders. (Hg.): Literaturskandale. Frankfurt am Main 2009, S. 203–216, hier S. 203. 340 Zur moralischen Dimension der Authentizitätsnorm im thematischen Umfeld der SchoahLiteratur siehe auch Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit. 341 Vgl. Andrea Reiter: Authentischer Bericht oder Roman? Einige Überlegungen zur Typologie von Holocaust-Texten. In: Anne Betten/Konstanze Fliedl (Hg.): Judentum und Antisemitismus. Studien zur Literatur und Germanistik in Österreich. Berlin 2003, S. 120–131, hier S. 121.

Authentizität als Fiktionalitätsparadoxon?

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schung macht aus den Erzählungen Lügen; Bruchstücke wechselt damit den Status, aber nicht die Gattung. Es wird nicht zu einem fiktionalen Text, auch wenn die Erzählungen sich als fiktiv erwiesen haben.«342 Dementsprechend verlässt Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doesseker mit den fingierten Zeugnissen seiner gefälschten Identität den Bereich der KunstAutonomie, in dem sich die Produzent*innen von Lonelygirl15 auch dann noch bewegen, wenn sie die gezielte Täuschung ihrer Rezipient*innen provozieren. Im Gegensatz zum Fake ist die Fälschung nicht künstlerisch motiviert und berührt neben der Authentizitätsnorm auch andere gesellschaftlich-moralische oder gar juristische Normen. Handelt es sich beim Spiel allenfalls um ein offenes Infragestellen der Authentizitätsnorm, das häufig selbst keinen Normbruch zur Folge hat, und beim Fake um einen kalkulierten Normbruch, so haben wir es bei der Fälschung mit einem erweiterten Normbruch zu tun. Eine unvermeidbare Vagheit der hier getroffenen Unterscheidung besteht allerdings in der Bezugnahme auf die jeweils hinter der Täuschungsabsicht stehende Motivation, die oftmals nicht zweifelsfrei offenliegt. Wie am Beispiel von Karl May bereits angedeutet wurde, lässt sich mitunter nicht eindeutig beurteilen, ob die Täuschungsmanöver als Teil einer künstlerischen Inszenierung zu werten sind oder ob andere Motive dahinterstehen. Entsprechend häufig kommt es in der Öffentlichkeit zu unterschiedlichen Bewertungen dieser Motivlage, die dann nicht selten auch zum Gegenstand literarischer Debatten werden wie beispielsweise im Fall von Robert Menasse: Im Oktober 2017 äußerte der Historiker Heinrich August Winkler im Spiegel Zweifel an der Echtheit von Zitaten, die Menasse in seinem im gleichen Jahr mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Die Hauptstadt dem 1982 verstorbenen Europa-Politiker Walter Hallstein zuschreibt.343 Nach langem Schweigen äußerte sich Menasse Ende 2018 gegenüber der Welt und gab zu, die Zitate erfunden zu haben – jedoch nicht, ohne sich zu rechtfertigen: »Seine Form des Zitierens«, so zitiert die Welt den Autor, »sei ›nicht zulässig – außer man ist Dichter und eben nicht Wissenschaftler oder Journalist‹.«344 342 Friedrich: Gefälschte Erinnerungen, S. 215. 343 Vgl. Heinrich August Winkler: Europas falsche Freunde. In: Der Spiegel vom 23. 10. 2017, https://www.spiegel.de/spiegel/heinrich-august-winkler-ueber-robert-menasse-europas-fal sche-freunde-a-1174045.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Für eine ausführliche Darstellung des »Hallstein-Skandals« vgl. Vera K. Kostial: Robert Menasse und der Hallstein-Skandal. Zu Werkpoetik und Rezeption eines politischen Schriftstellers. In: Vera Podskalsky/Deborah Wolf (Hg.): Prekäre Fakten, umstrittene Fiktionen. Fake News, Verschwörungstheorien und ihre umstrittenen Funktionen. PhiN-Beiheft 25/2021, S. 139–162, http://web.fu-berlin.de/phin/beiheft25/b25t06.pdf, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 344 Ansgar Graw: »Was kümmert mich das Wörtliche«. In: Die Welt vom 23. 12. 2018, http s://www.welt.de/kultur/article186002284/Robert-Menasse-hat-Zitate-erfunden-Was-kuem mert-mich-das-Woertliche.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Authentizität und Literatur

Menasse sieht also die falschen Zitate durch seinen Beruf als Schriftsteller legitimiert und verweist damit indirekt auf die Lizenzen fiktionaler Rede. Nach seiner Ansicht handelt es sich hierbei also allenfalls um einen Fake, der mit künstlerischer Absicht den referenzauthentischen Wahrheitsgehalt der Zitate simuliert. Viele Kritiker*innen sehen in Menasses Verhalten jedoch den Akt einer Fälschung, der nicht durch seine Profession gerechtfertigt werden kann. Dabei wird unter anderem damit argumentiert, dass Menasse die falschen Zitate nicht nur in seinem als fiktional ausgewiesenen Romantext verbreitete, sondern auch in Essays und Reden, also in Textsorten, die als faktual gelten. So schreibt beispielsweise Johannes Franzen im Online-Magazin 54Books: Auch ein als Verfasser fiktionaler Romane bekannter Autor wie Menasse hat keinen Anspruch darauf, dass für seine Äußerungen eine allgemeine Fiktionsvermutung gilt (was lebenspraktisch auch eher unerfreulich wäre) und noch viel weniger entlastet ihn dieser Status davon, sich im Fall faktualer Texte an die jeweils geltenden Regeln der Kommunikation zu halten. Wenn ein Text in einer Zeitung erscheint und nicht als fiktional markiert ist, dann dürfen die Leser*innen davon ausgehen, dass hier nichts erfunden wurde. Wenn sich herausstellt, dass Elemente gefälscht wurden, dann handelt es sich – auch, wenn der Verfasser ein Dichter ist – nicht um einen fiktionalen Text, sondern um einen defekten faktualen.345

Franzen argumentiert hier damit, dass die Lizenzen der Fiktion nicht an den Beruf des Dichters, sondern an den konventionalisierten Fiktionsstatus bestimmter Textsorten gebunden sind. Hinzu kommt, dass sich Menasse nicht nur als Dichter, sondern auch als Intellektueller positioniert, der sich sowohl auf dem literarischen als auch auf dem politischen Feld bewegt.346 Gerade mit seinen essayistischen Texten zur Europapolitik, in denen die falschen Hallstein-Zitate eingebettet sind, bewegt sich Menasse eindeutig auf dem Feld der Politik, auf dem entsprechend andere Normen gelten.347 Insofern bleibt die Argumentation des Autors, es handle sich bei der Erfindung der Hallstein-Aussagen nicht um eine Fälschung, sondern um einen künstlerischen Verfremdungseffekt und damit um einen Fake, mehr als zweifelhaft. Ob Menasse die Zitate jedoch erfunden hat, weil sie eine nützliche Fiktion zur Untermauerung seiner politischen Agenda darstellen, wie einige Kritiker*innen 345 Johannes Franzen: Eine Lüge in der Wirklichkeit wird keine Wahrheit im Roman – Zur Kontroverse um Robert Menasse. In: 54Books vom 05. 01. 2019, https://www.54books.de/ei ne-luege-in-der-wirklichkeit-wird-keine-wahrheit-im-roman-zur-kontroverse-um-robertmenasse/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 346 Vgl. Matthias Beilein: 86 und die Folgen. Robert Schindel, Robert Menasse und Doron Rabinovici auf dem literarischen Feld Österreichs. Berlin 2008, S. 14f. Beilein bezieht sich dabei auf Bourdieus Begriff des Intellektuellen, der sich sowohl auf dem literarischen Feld als auch auf dem Feld der Politik bewegt: Vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 1999, S. 209–214. 347 Vgl. Kostial: Robert Menasse und der Hallstein-Skandal, S. 151f.

Authentizität als Fiktionalitätsparadoxon?

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behaupten,348 oder ob dahinter doch eine künstlerische Absicht des Autors steckt – darüber lässt sich am Ende nur spekulieren. Viel interessanter ist in unserem Untersuchungszusammenhang ohnehin die Frage, wie sich entlang der drei hier vorgestellten Kategorien die Positionskämpfe auf dem literarischen Feld gestalten. Die Tatsache, dass die Produzent*innen literarischer Texte sowie verschiedene Gruppen von Rezipient*innen zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich ihrer Wertung als Spiel, Fake oder Fälschung kommen, zeigt sehr anschaulich den von unterschiedlichen Erwartungen beeinflussten Geltungsbereich der Authentizitätsnorm sowie deren Berührungspunkte mit anderen, außerliterarischen Normen.

348 So zum Beispiel Daniel Haas in der Neuen Zürcher Zeitung, der Menasse vorwirft, »die Grenzen zwischen Fakt und Erfindung zugunsten der Fiktion« zu verdrehen, »um seine Idee eines transnationalen europäischen Bundes zu promoten«. Daniel Haas: Wird man doch noch sagen dürfen! In: Neue Zürcher Zeitung vom 05. 01. 2019, https://www.nzz.ch/feuille ton/wird-man-doch-so-sagen-duerfenrobert-menasse-wird-man-doch-so-sagen-duerfen-l d.1449192, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

3.

Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Nachdem im zweiten Teil dieser Arbeit die Besonderheiten des Authentizitätsdiskurses in Bezug auf den Gegenstand der Literatur herausgearbeitet wurden, soll nun die Analyse von konkreten Authentizitätsinszenierungen und ihren Funktionen für den Positionskampf auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur erfolgen. Im Vorigen wurde bereits mehrfach deutlich, dass es sich bei ›Authentizität‹ um einen relationalen Zuschreibungsbegriff handelt, der im höchsten Maße kontextabhängig ist. Insofern lässt sich selbst anhand von Beispielen, die einen besonders deutlichen Bezug zum Authentizitätsdiskurs aufweisen, kein paradigmatischer Fall von Authentizitätsinszenierung herausarbeiten, der sich ohne weiteres auf andere Fälle übertragen ließe. Die Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität ist abhängig von verschiedenen Kommunikationszusammenhängen, die sich je nach thematischem Kontext in ihren Entstehungsbedingungen, ihren konstitutiven Erwartungen und deren normativer Kraft sowie in ihrer diskursprägenden Wirkung voneinander unterscheiden. So macht es durchaus einen Unterschied, ob von ›authentischer Literatur‹ im thematischen Umfeld von Schoah-Erzählungen der Generation der Nachgeborenen die Rede ist oder im Zusammenhang von vermeintlich privaten Einblicken in das Leben des empirischen Autors im Zuge von autofiktionalen Erzähltexten. Im nun folgenden Analyseteil dieser Arbeit soll daher der Versuch unternommen werden, den literarischen Authentizitätsdiskurs in seiner Breite abzubilden und dabei vor allem jene Teildiskurse zu berücksichtigen, die sich in der öffentlichen Kommunikation über Gegenwartsliteratur als besonders relevant erwiesen haben. Entsprechend gliedert sich dieser Teil in insgesamt fünf Kapitel, die sich mit den Bedingungen und der Umsetzung von Authentizitätsinszenierungen innerhalb jeweils einem dieser Teildiskurse befassen. Diese richten sich anhand weiterer Zuschreibungsmerkmale aus, mit denen Autor*innen hinsichtlich ihrer Herkunft, ihres Alters, ihrer Geschlechtsidentität oder aber hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Verortung im Spannungsfeld von Privatheit und

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Öffentlichkeit sowie von Zugehörigkeit und Außenseitertum positioniert werden oder sich selbst positionieren. Eingangs wird in Authentizität und Herkunft die Frage gestellt, welche Rolle die Zugehörigkeit des Autors zu einer bestimmten sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppe für die Zuschreibung von Authentizität spielt und inwiefern das Verbot kultureller Aneignung gleichzeitig Ausdruck normativer Authentizitätserwartungen ist. Eine besondere Berücksichtigung erfährt in diesem Zusammenhang der Sonderfall der literarischen Verarbeitung von kollektiven Leiderfahrungen in der Schoah-Literatur. Anschließend wird in Authentizität und Jugend die literaturkritische Etikettierung der beiden Jung-Autor*innen Benjamin Lebert und Helene Hegemann als ›literarische Wunderkinder‹ sowie die Rezeption von akademischen Schreibschulen untersucht, um die spezifischen Authentizitätserwartungen herauszuarbeiten, die einer jüngeren Autor*innengeneration gegenüber eingenommen werden. In Authentizität und Privatheit wird der Zusammenhang von Privatheitsinszenierungen und Authentizitätsinszenierungen anhand der zum Teil widersprüchlichen Inszenierungspraktiken von Thomas Glavinic und Charlotte Roche herausgearbeitet, während in Authentizität und Außenseitertum mit Christian Kracht, Clemens Setz und Clemens Meyer drei Autoren im Vordergrund stehen, die sich auf jeweils spezifische Weise als gesellschaftliche wie literarische Außenseiter inszenieren, woraus ein besonderer Umgang mit den Authentizitätserwartungen der literarischen Öffentlichkeit erwächst. Schließlich wird in Authentizität und Geschlecht der Authentizitätsdiskurs mit dem Geschlechterdiskurs zusammengeführt und untersucht, inwiefern die literarisch vermittelte Inszenierung von Männlichkeit bzw. Weiblichkeit auf die Zuschreibung von Authentizität zurückgreift. Zudem wird auch hier noch einmal auf die Wirkungsweise der Authentizitätsnorm in Bezug auf die Aneignung einer ›fremden‹ Perspektive eingegangen. Die Reihenfolge der einzelnen Kapitel wird dabei (mit Ausnahme des letzten Kapitels) danach bestimmt, wie eindeutig die normative Dimension der Authentizitätszuschreibung in den jeweiligen thematischen Zusammenhängen hervortritt: Während sich im thematischen Zusammenhang von Authentizität und Herkunft die verschiedenen Formen der Authentizitätsinszenierung relativ deutlich an der (moralisch im besonderen Maße aufgeladenen) Authentizitätsnorm orientieren, lässt sich im Kontext von Authentizität und Außenseitertum ein eher spielerischer Umgang mit Authentizitätserwartungen beobachten, bei dem die Möglichkeit einer Sanktionierung eine eher untergeordnete Rolle spielt. Das letzte Kapitel zu Authentizität und Geschlecht, in dem der normative Aspekt wieder eine deutlich größere Rolle spielt, ist von dieser Ordnung ausgenommen und dient als synoptisches Kapitel, in dem bereits erarbeitete Ergebnisse noch einmal im Kontext eines besonders wirkmächtigen Diskurses illustriert werden. Entsprechend werden hier vor allem auch jene Textbeispiele herangezogen, die in früheren

Authentizität und Herkunft

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Kapiteln bereits Untersuchungsgegenstand waren, auch um zu verdeutlichen, dass es sich bei den hier vorgestellten Teildiskursen keinesfalls um in sich geschlossene Bereiche handelt, die keine Berührungspunkte oder Überlappungen aufweisen. Um diese thematische Bandbreite adäquat abdecken zu können, muss die Untersuchung auf eine entsprechend breite Textbasis gestellt werden. Gebildet wird das Untersuchungsmaterial auf der Grundlage von Prosawerken des 21. Jahrhunderts,349 die eine signifikante Resonanz in der literarischen Öffentlichkeit erzeugt haben und somit ein hohes Maß an diskursprägender Kraft für den jeweils für sie relevanten Teildiskurs aufweisen. Analog zum breit aufgestellten Textkorpus ist es zudem erforderlich, die Analyse des Materials mit einem entsprechend weit gefassten Fokus durchzuführen, der auch Aspekte in den Blick nimmt, die deutlich jenseits des eigentlichen Haupttexts der Untersuchungsgegenstände liegen. Dabei sind neben den in Kapitel 2.2 vorgestellten textuellen, paratextuellen und habituellen Inszenierungspraktiken auch die in 2.1 diskutierten Zuschreibungspraktiken von Relevanz. Dementsprechend wird ein synoptischer Zugang gewählt, der es ermöglicht, das Untersuchungsmaterial über die konventionelle Textanalyse hinaus hinsichtlich der wechselseitigen Beeinflussung von Produktions- und Rezeptionsprozessen zu analysieren. Dabei ist die Schwerpunktsetzung der Untersuchung jeweils davon abhängig, wo im Einzelfall die entscheidenden Inszenierungsphänomene zu beobachten sind.

3.1. Authentizität und Herkunft ›Authentizität‹ zielt in den allermeisten Verwendungszusammenhängen auf die Genese des Bezeichneten ab, wie im terminologischen Teil dieser Arbeit bereits deutlich wurde. Die Authentizität eines historischen Schriftstücks liegt in der zweifelsfreien Zuordnung zu einem Urheber begründet, die Einzigartigkeit des authentischen, auratischen Kunstwerks lässt sich nicht ohne die Vorstellung seines Entstehens denken und auch die Anfänge des subjektauthentischen Diskurses sind auf besondere Weise verknüpft mit dem Konzept eines ›ursprünglichen‹ Menschen in seinem ›natürlichen Urzustand‹. Insofern erscheint es wenig verwunderlich, dass die ›Herkunft‹ literarischer Autor*innen (hier bewusst mehrdeutig im Sinne von geographischer, kultureller, sozialer, religiöser Herkunft) ein zentraler Bezugspunkt für Authentizitätszuschreibungen in der gegenwartsliterarischen Kommunikation ist. 349 Präziser formuliert umfasst der Untersuchungszeitraum die Jahre 1999–2019, wie in der Einleitung bereits artikuliert wurde.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Die Herkunft eines Autors oder einer Autorin im schlicht geographischen Sinne gehört oft zu den beiläufigen Informationen, die paratextuell über die Autorenvita vermittelt werden. Auf größeres Interesse stößt diese Information aber häufig nur, wenn eine Abweichung von den Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft vorliegt, also: bei Autor*innen, die außerhalb des deutschsprachigen Raums geboren und/oder aufgewachsen und erst später in den deutschen Sprachraum eingewandert sind. Während migrantische Stimmen in der deutschsprachigen Literatur lange Zeit eine Seltenheit blieben, steigt in der zweiten Hälfte des 20., vor allem aber im beginnenden 21. Jahrhundert merklich die Zahl der auf deutsch schreibenden Autor*innen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.350 Nicht selten werden die Texte dieser Autor*innen unter Labels wie ›Migrantenliteratur‹ oder ›Migrationsliteratur‹ zusammengefasst – ein Begriff, der unter vielen der darunter Subsumierten kritisch bewertet wird, weil sie die Gefahr sehen, durch diese Kategorisierung auf die eigene Herkunft bzw. auf ihre Migrationserfahrung reduziert zu werden. So sagte Olga Grjasnowa, die in Aserbaidschan geboren wurde und mit elf Jahren als so genannter Kontingentflüchtling nach Deutschland kam, in einem Interview mit der dpa: Allein schon der Begriff ›Migrationsliteratur‹: Dieser ist leider ein sehr schwieriger. Es ist fragwürdig, rassistisch und paternalistisch. Migrationsliteratur in Deutschland ist stets die Literatur, die anders ist, die nicht dazu gehört, nicht bio-deutsch ist. Die einzige Gemeinsamkeit der Migrationsautoren ist übrigens ihre Herkunft und nicht etwa eine ästhetische oder thematische Gemeinsamkeit. Alle, wirklich ausnahmslos alle, die einen seltsam klingenden Namen haben oder deren Eltern oder auch sie selber nicht in Deutschland geboren worden sind, werden unter diesem unsäglichen Begriff zusammengefasst.351

Bereits zuvor verwahrte sich Grjasnowa gegen eine ähnliche Zuordnung, die der Autor und Literaturkritiker Florian Kessler in einer polemischen Abrechnung mit dem aus seiner Sicht homogenen Milieu der akademischen Schreibschulen 350 Von 1985 bis 2017 hat die Robert-Bosch-Stiftung jährlich den Adelbert-von-Chamisso-Preis an Autor*innen verliehen, die auf diese Weise – ähnlich wie der Namensgeber des Preises – von einem Kultur- und Sprachwechsel geprägt wurden. Dass die Vergabe des Preises eingestellt wurde, sieht die Stiftung selbst in der erfolgreich vollzogenen Integration migrantischer Schriftsteller*innen in den Literaturbetrieb begründet, während kritische Stimmen die verloren gegangene Unterstützung beklagen. Vgl. Ilija Trojanow/José F. A. Oliver: Adé, Chamisso-Preis? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 09. 2016, https://www.faz.ne t/aktuell/feuilleton/debatten/kritik-an-bosch-stiftung-ade-chamisso-preis-14443175.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 351 Olga Grjasnowa im Gespräch mit der dpa: Olga Grjasnowa findet Label »Migrationsliteratur« unsäglich. In: Die Welt vom 25. 03. 2017, https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/info line_nt/boulevard_nt/article163153046/Olga-Grjasnowa-findet-Label-Migrationsliteraturunsaeglich.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

Authentizität und Herkunft

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vornahm. In einem Zeit-Artikel mit dem Titel Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! monierte Kessler, dass die Studierenden an den Literaturinstituten in Hildesheim und Leipzig zum größten Teil aus bildungsbürgerlichen Familien stammten und aufgrund ihrer sozialen Homogenität weder über die Themenvielfalt noch über die Lebenserfahrung verfügten, um interessante Literatur zu schreiben.352 Als Gegenbeispiele – also Schreibschulabsolvent*innen, auf die diese Charakterisierung nach Kesslers Meinung nicht zutrifft – führt er neben Olga Grjasnowa Sasˇa Stanisˇic´ und Clemens Meyer an – wobei offensichtlich ist, dass der Autor des Artikels bei Grjasnowa und Stanisˇic´ auf die geographische bzw. kulturelle und bei Clemens Meyer auf dessen soziale Herkunft anspielt:353 Natürlich gibt es auch einige Olga Grjasnowas, Sasˇa Stanisˇic´s und Clemens Meyers da draußen, wobei übrigens auch jemand mit Häkchen über dem Nachnamen humanistische Bildung genossen haben kann, und mir persönlich überhaupt alle drei Autoren unangenehm häufig auf ihre angeblich artfremden Hintergründe hin exotisiert werden.354

Interessant ist, dass Kessler im zweiten Satzteil bereits seine Auswahl relativiert, indem er einräumt, dass ein Migrationshintergrund kein Ausschlusskriterium für eine bildungsbürgerliche Herkunft ist. Im letzten Satzteil macht er schließlich den Selbstwiderspruch komplett, indem er die Ausnahme-Position, die den drei von ihm ausgewählten Autor*innen zugewiesen würde, als »unangenehm« bezeichnet und somit die von ihm selbst reproduzierte Zuweisung kritisiert. Olga Grjasnowa betont daraufhin in einem Gastbeitrag in der Welt ihre eigenen bildungsbürgerlichen Wurzeln und vermutet, dass es »am für Florian Kessler exotisch anmutenden Klang unserer Namen« gelegen habe, dass er nicht nach den Berufen der Eltern von ihr und Sasˇa Stanisˇic´ gefragt habe.355 Doch der Grund für die Sonderstellung, die Olga Grjasnowa zugewiesen wird und gegen die sie sich zu Wehr setzt, liegt nicht allein in der vermuteten geographischen und sozialen Herkunft, sondern in der Annahme, aus dieser Abweichung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft im Allgemeinen und anderen Schreibschulabsolvent*innen im Besonderen resultiere ein Mehr an Lebenserfahrung. Kesslers Polemik ist dabei von einer angenommenen Verbindung zwischen Erleben und Erzählen geprägt, wie sie sich in ähnlicher Form im em352 Siehe auch Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit. 353 Auf Clemens Meyer und den Aspekt der sozialen Herkunft wird in Kapitel 3.4.3 ausführlich eingegangen. 354 Florian Kessler: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! In: Die Zeit vom 16. 01. 2014, http ://www.zeit.de/2014/04/deutsche-gegenwartsliteratur-brav-konformistisch, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 355 Olga Grjasnowa: Deutschland, deine Dichter – bunter als behauptet. In: Die Welt vom 08. 02. 2014, https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article124655990/Deutschland-deine-Dic hter-bunter-als-behauptet.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

phatischen Literaturverständnis von Maxim Biller schon gezeigt hat:356 Während die meisten Studierenden der Literaturinstitute aus bundesrepublikanischen Akademikerfamilien stammen, eine ähnliche Sozialisation durchlaufen und ähnliche Lebenserfahrungen gesammelt haben und daher auch in ihrer literarischen Produktion mit ähnlichen Sujets arbeiten, wird von Schriftsteller*innen mit Migrationserfahrung erwartet, dass ihre literarischen Stoffe von anderen Erfahrungen geprägt sind, die aus ihrer abweichenden kulturellen und sozialen Prägung im Ausland herrühren. Maxim Biller war es schließlich auch, der im gleichen Jahr, in dem Kesslers Polemik erschien, diese Authentizitätserwartung an die Vertreter*innen migrantischer Literatur noch deutlicher formulierte. In einem ebenfalls in der Zeit erschienenen Beitrag kritisierte Biller die Autor*innen nicht-deutscher Herkunft, die seiner Meinung nach zu angepasst wären und sich an den Sujets der Mehrheitsgesellschaft orientierten. Während er lobende Worte für Sasˇa Stanisˇic´s ersten Roman, der während des jugoslawischen Bürgerkriegs in Bosnien spielt, findet, fällt sein Urteil über den in der Uckermark angesiedelten, zweiten Roman Stanisˇic´s vernichtend aus: »Ist dieser radikale, antibiografische Themenwechsel nur Zufall? Hat den ehemaligen Leipziger Literaturstudenten Sasˇa Stanisˇic´ der Mut verlassen? Ist es ihm wichtiger, als Neudeutscher über Urdeutsche zu schreiben als über Leute wie sich selbst?«357 Es handelt sich um eine spezifische Authentizitätserwartung, die hier bei Biller (wie auch etwas weniger explizit bei Kessler) an Autor*innen mit Migrationserfahrung herangetragen wird – nämlich um die normative Erwartung, dass sich das Erzählen aus der Autorenbiographie speisen sollte. Eingefordert wird also der literarische Ausdruck einer biographischen Authentizität, während der Versuch von Stanisˇic´, sich an einer mimetischen Authentizität zu orientieren, indem er ein ihm fremdes Milieu als Vorlage für seinen Roman nutzt, von Biller scharf kritisiert wird. Im Vorigen wurde zwar bereits deutlich, dass Maxim Billers Literaturverständnis auch ganz generell auf die jeweilige Autorenbiographie fokussiert ist, aber hier haben wir es noch einmal mit einer spezifisch auf Autor*innen nicht-deutscher Herkunft gerichteten Erwartungshaltung zu tun. Diese sind in Billers Augen noch vor allen anderen dazu angehalten, ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse zu literarisieren, um so zur kulturellen und thematischen Vielfalt in der deutschsprachigen Literaturlandschaft beizutragen. Eine Erwartungshaltung, die auch andere der betroffenen Autor*innen registrieren und ablehnen: So sagt die in Georgien geborene Schriftstellerin Nino Haratischwili in einem Interview: »Das Einzige, was mich dann schon aufregt: 356 Vgl. den Abschnitt ›Kunst vs. Leben‹ in Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 357 Maxim Biller: Letzte Ausfahrt Uckermark. In Die Zeit vom 20. 02. 2014, https://www.zeit.de /2014/09/deutsche-gegenwartsliteratur-maxim-biller, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Wenn so Anmaßungen kommen: Ich als Georgierin soll gefälligst immer schön über Georgien schreiben. Alles andere sei nicht authentisch.«358 Und der Lyriker Max Czollek äußerte sich im Rahmen der ›MeTwo‹-Debatte, die im Sommer 2018 Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund thematisierte, ganz grundsätzlich zu Authentizitätserwartungen gegenüber Kunst von Minoritäten: Ob Frauenliteratur oder Migrantenroman, Straßenrap oder Judenlyrik – das alles sind Labels, unter denen potenzielle Leser*innen eine Kunst erwarten, die als authentisch apostrophiert wird. Bei diesem Karneval der Kulturen spielen wir Künstler*innen häufig die Rolle, die man uns vorgibt. Die Gründe für diese Kompliz*innenschaft sind offensichtlich und vertraut: Für die Selbstinszenierung als andere erhalten wir soziale und materielle Ressourcen. Unsere Andersheit ist das kulturelle Kapital, das uns einen Einstieg in den Literaturbetrieb ermöglicht. Und ihn zugleich beschränkt.359

Czollek entwirft hier das Bild eines von Positionskämpfen geprägten Felds, zu dem sich Vertreter*innen von Minoritäten nur durch die Inszenierung ihres ›Anders-Seins‹ Zugang verschaffen können und in dem sie ihre Position nur durch die ständige Reproduktion dieses ›Anders-Seins‹ halten können. Autor*innen, deren kulturelle Sozialisation nicht ausschließlich deutsch ist, werden – so die mehr oder weniger implizite Annahme von Czollek, Grjasnowa und anderen – mit dem Label ›Migrationsliteratur‹ versehen, das wiederum mit der normativen Erwartung verbunden ist, dieses Label mit Inhalt zu füllen, indem sie ihren kulturellen Hintergrund und die Erfahrungen des Kultur- und Sprachwechsels literarisieren. Die Erfüllung dieser Erwartungshaltung entscheidet dabei darüber, ob sie ihre Position im literarischen Feld behaupten können bzw. ob sie diese überhaupt erst einnehmen können. Die normative Dimension des literarischen Herkunftsdiskurses zieht allerdings noch weitere Kreise. Denn mit der oben beschriebenen Authentizitätserwartung gegenüber der Herkunft von literarischen Autor*innen geht noch etwas anderes einher: Die einschlägige Gruppe der interkulturell geprägten Autor*innen wird nämlich nicht nur mit einer zu erfüllenden Erwartung hinsichtlich ihrer Sujetwahl konfrontiert – ihnen wird auch die Kompetenz zugesprochen, diese Themen und Sujets literarisch zu bearbeiten. Eine Kompetenz, die umgekehrt anderen Schreibenden ohne Migrationserfahrung oder einem entsprechenden familiären Hintergrund nicht zugestanden wird.

358 Nino Haratischwili im Gespräch mit Iris Radisch und Alexander Cammann: Ein Blick hinter die schmutzigen Kulissen des Schreibens. In: Die Zeit vom 04. 10. 2018, https://www.zeit.de /2018/41/schriftsteller-berufsbild-schaffensprozess-buecher-schreiben, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 359 Max Czollek: Einige Anmerkungen zur Adjektivliteratur. In: Die Zeit vom 08. 08. 2018, https://www.zeit.de/kultur/literatur/2018-08/rassismus-literaturbetrieb-metwo-diskrimi nierung-autoren-integration/seite-2, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Ein Beispiel: Im Zentrum der ersten beiden Romane des deutsch-irakischen Schriftstellers Abbas Khider – Der falsche Inder (2008) und Die Orangen des Präsidenten (2011) – stehen dessen Erfahrungen in einem irakischen Gefängnis unter Saddam Hussein und seine anschließende Flucht aus dem Irak nach Deutschland. Die beiden Texte sind als Roman ausgewiesen und haben, wie auch der Autor betont, fiktionalen Charakter. Laut Khider ist sein literarisches Werk »authentisch, nicht autobiografisch«.360 Das ›Authentische‹ in Khiders Romanen liegt unschwer zu erkennen im beglaubigten Erfahrungsschatz seiner Biographie begründet: Die Romane sind authentisch, weil die darin geschilderten Geschehnisse – obschon fiktionalisiert – durch das reale Erleben des Autors beglaubigt sind. Es handelt sich somit nach der zuvor entwickelten Terminologie um eine Inszenierung von biographischer Authentizität. Khider hat durch diese Verknüpfung von Erleben und (fiktionalem) Erzählen die Erwartung erfüllt, die etwa Maxim Biller an die migrantische Literatur stellt.361 Gleichzeitig ist aber sein biographischer Hintergrund in den Augen vieler Rezipient*innen überhaupt erst die Bedingung, die ihn zum Erzählen dieser Geschichte ermächtigt. Zumindest würde ein Roman über eine Flucht nach Deutschland oder die Inhaftierung in einem irakischen Folter-Gefängnis auf grundsätzlich andere Rezeptionsbedingungen stoßen, wenn er von einem in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Autor geschrieben worden wäre, der weder eine Fluchterfahrung noch einen Gefängnisaufenthalt durchleben musste. Ein solcher Autor müsste sich zumindest von vielerlei Seiten den Vorwurf gefallen lassen, er mache sich der kulturellen Aneignung schuldig. Der Terminus ist vor allem im angloamerikanischen Raum als cultural appropriation innerhalb von identitätspolitischen Debatten vermehrt anzutreffen und beschreibt auf Literatur angewendet »den Vorwurf, dass Mitglieder einer dominanten Kultur sich, indem sie die Erfahrung einer Minorität literarisch verarbeiten, diese Erfahrung auf widerrechtliche Art und Weise aneignen«.362 Folgt man diesem Konzept, stellt sich also bei bestimmten Geschichten die Frage, wer dazu autorisiert ist, sie zu erzählen.

360 Abbas Khider im Gespräch mit Ulla Zierau: Deutsch lernen, um zu träumen und Beamte zu beschimpfen. In: SWR2 Kulturgespräch vom 16. 01. 2013, https://www.swr.de/swraktuell/rp /abbas-khider-ueber-wege-zum-schreiben/-/id=1682/nid=1682/did=10859382/36djfy/inde x.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 361 Entsprechend wird Khiders Roman Die Orangen des Präsidenten von Biller auch als lobenswertes Beispiel erwähnt. Vgl. Biller: Letzte Ausfahrt Uckermark. 362 Johannes Franzen: Erleben legitimiert Erzählen. Zum Problem individueller und kultureller narrativer Enteignung in fiktionalen Werken. In: Mathis Lessau/Nora Zügel (Hg.): Rückkehr des Erlebnisses in die Geisteswissenschaften? Philosophische und literaturwissenschaftliche Perspektiven. Würzburg 2019, S. 173–188, hier S. 173.

Authentizität und Herkunft

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Laut Johannes Franzen lässt sich in bestimmten Zusammenhängen sogar von einem narrativen Eigentumsrecht sprechen, das auf den spezifischen Erfahrungen von Individuen, aber auch ethnischer oder kultureller Gruppen beruhen kann. Dieses Eigentumsrecht lässt sich als Grenze der fiktionalen Freiheit derer betrachten, die nicht über diese Erfahrungen verfügen: Die Lizenzen, die die Autorin oder der Autor eines fiktionalen Werkes für sich in Anspruch nehmen kann, finden eine Einschränkung zum einen dort, wo reale persönliche Erfahrungen von Einzelpersonen verarbeitet werden, zum anderen, wo die literarische Aneignung die Erfahrungen betrifft, die den Kern einer kulturellen Identität ausmachen.363

Fälle von individueller narrativer Enteignung betreffen in der Regel das Persönlichkeitsrecht von einzelnen Personen und sind vor allem im Zusammenhang von Schlüsselromanen virulent.364 Während diese Form des Abwägens zwischen den Rechten Einzelner und den Freiheiten der Literatur eine ständige Begleiterscheinung der Geschichte von Fiktionalität ist, erscheint der Widerspruch von cultural appropriation und den Lizenzen der Fiktionalität als historisch neue Erscheinung, die sich vor allem im Rahmen der identitätspolitischen Erweiterung emanzipativer Kämpfe erklären lässt.365

Beim Konzept des kulturellen narrativen Eigentumsrechts haben wir es mit einer spezifischen Form von normativer Authentizitätserwartung zu tun: Bei der literarischen Verarbeitung bestimmter menschlicher Erfahrungen wird vorausgesetzt, dass diese authentisch ist in dem Sinne, dass die Verarbeitung nur durch diejenigen ausgeführt wird, die diese Erfahrungen selbst gemacht haben oder aber Teil einer Personengruppe sind (die sich meist über ihre ethnische, kulturelle oder religiöse Herkunft definiert), die diese Erfahrungen als Teil ihrer kulturellen Identität ansieht.366 Wenn gegen diese Norm verstoßen wird, folgt der öffentliche Vorwurf der kulturellen Aneignung als entsprechende Sanktion. So wurde etwa auch W.G. Sebald vorgeworfen, er würde sich in seinem literarischen Schaffen fremder Identitäten bemächtigen. »Seine ständige Suche nach Authentizität«, so Rhys W. Williams in einem Aufsatz über Andersch und Sebald, »führte ihn dazu, das Leben von anderen für seine Zwecke auszubeuten und eine Art ›Identitätsraub‹ zu verüben«.367 Sebalds Versuch, etwa in Die Ausgewanderten 363 Ebd. 364 Zum individuellen narrativen Eigentumsrecht in Bezug auf Schlüsselromane sei an dieser Stelle noch einmal auf die Dissertation von Franzen hingewiesen. Vgl. Franzen: Indiskrete Fiktionen. 365 Franzen: Erleben legitimiert Erzählen, S. 186. 366 Vgl. ebd., S. 182. 367 Rhys W. Williams: Andersch und Sebald. Die Dekonstruktion einer Dekonstruktion. In: Jörg Döring/Markus Joch (Hg.): Alfred Andersch ›Revisited‹. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin/Boston 2011, S. 317–330, hier S. 327.

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(1992) seine Geschichten möglichst authentisch zu gestalten, indem er auf reale Erfahrungen zurückgreift, stellt in den Augen von Williams und anderen ein unethisches Verfahren dar, da es sich nicht um Sebalds eigene Erfahrungen handelt und er auch nicht als Teil der kollektiven Identität angesehen werden kann, deren Mitglieder über diese Erfahrungen verfügen. Wie auch bei anderen Formen der Authentizitätserwartung ist es aber auch hier von verschiedenen Faktoren abhängig, ob es zu einem Normverstoß kommen kann. Die Gültigkeit des kulturellen narrativen Eigentumsrechts ist nicht unbegrenzt, sondern abhängig von der gesellschaftlichen und politischen Brisanz der jeweiligen kulturellen Identität (und deren einschlägigen Erfahrungen), dem Genre der literarischen Verarbeitung und der Art und Weise der Darstellung. Kulturelle Aneignung gilt vor allem dann als ethisch fragwürdig, wenn es sich um die Aneignung von identitätsstiftenden Erfahrungen von Minoritäten durch Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft handelt. In diesem Zusammenhang bemerkt Franzen: Problematisch sind je nach Kontext vor allem Identitäten, die für den jeweiligen Diskurs eine politische Bedeutung besitzen, etwa, wenn Mitglieder dieser Identitäten sich auf existierende Gewalt- oder Unterdrückungsprobleme berufen, die Formen kultureller Aneignung besonders verwerflich erscheinen lassen.368

Gegenstand der literarischen Aneignung sind häufig einschlägige Leid- und Viktimisierungserfahrungen, die prägend für die kulturelle Identität einer Minderheit sein können. Dazu gehören Erfahrungen von Diskriminierung, Alltagsrassismus, Flucht und Verfolgung bis hin zum Genozid. Vor allem im deutschsprachigen Raum werden daher fiktionale Erzählungen, die im Umfeld des nationalsozialistischen Völkermords an den europäischen Juden angesiedelt sind, mit besonderer Sensibilität bewertet. Dabei spielt es in der ethischen Bewertung der Aneignung eine große Rolle, ob der oder die Autor*in ihrer Herkunft nach als Nachkomme der Täter- oder der Opfergeneration gesehen werden kann. In jedem Fall lässt sich aber sagen, dass die Authentizitätsnorm im Bereich der Holocaustliteratur im besonderen Maße wirksam ist: Aufgrund der Schwere der Leiderfahrung und der historischen Einmaligkeit des Verbrechens erscheint die unautorisierte Vereinnahmung und fiktionalisierende Verwertung dieser Erfahrung als besonders verwerflich. Ob und inwieweit die ethische Dimension der Authentizitätsnorm zum Tragen kommt, ist allerdings auch eine Frage des Genres. Im Bereich der Jugendliteratur etwa gelten andere Spielräume: Ein didaktisches Kinderbuch über die Judenverfolgung, das von einer Nicht-Jüdin verfasst wurde, wird kaum größere 368 Franzen: Erleben legitimiert Erzählen, S. 182.

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Empörung hervorrufen. Auch der dunkelhäutige Erzähler von Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) hat in der literaturkritischen Rezeption nicht den Vorwurf der kulturellen Aneignung nach sich gezogen, obwohl auch Erfahrungen von Diskriminierung und Kolonialisierung eine Rolle spielen. Der Grund dafür mag darin liegen, dass der Fiktionalisierungsgrad in Krachts kontrafaktischer Geschichtserzählung sehr hoch ist. Das kulturelle narrative Eigentumsrecht, so lässt sich feststellen, beschränkt sich in der Regel auf im weitesten Sinne realistische Literatur für Erwachsene. Zu guter Letzt ist die Legitimität von literarischer Aneignung gruppenspezifischer Erfahrungen auch immer in Hinblick auf die Darstellung im jeweiligen literarischen Text zu betrachten. Die brisante Frage, auf die im Folgenden noch näher eingegangen werden soll, besteht darin, inwieweit die ästhetische Qualität einer literarischen Verarbeitung auch ihre ethische Bewertung beeinflussen kann. Ein literarischer Text, der die Perspektive einer kulturellen Minorität unterkomplex und mit sachlichen Fehlern versehen wiederzugeben versucht, wird den Vorwurf der widerrechtlichen Aneignung sicherlich noch verstärkt zu spüren bekommen. Einige Autor*innen wiederum, die dem Vorwurf der kulturellen Aneignung kritisch gegenüberstehen, sehen in der literarischen Transformation fremder Erfahrungen einen künstlerischen Mehrwert, der die Aneignung in ihren Augen legitimiert. Eine solche Haltung ist bereits bei Thomas Mann zu beobachten, der in seinem Essay Bilse und Ich von einer ›Beseelung‹ des fremden Stoffes durch die künstlerische Bearbeitung des Autors spricht: Die Beseelung, »die Durchdringung und Erfüllung des Stoffes, mit dem was des Dichters ist, macht den Stoff zu seinem Eigentum, auf das, seiner innersten Meinung nach, niemand die Hand legen darf«.369 Thomas Mann stellt hier dem narrativen Eigentumsrecht derjenigen Individuen und Gruppen, die Erfahrungen am eigenen Leib gemacht haben, das Eigentumsrecht des Künstlers gegenüber, das dieser seiner Ansicht nach durch die literarische Verarbeitung erwirbt.370 Ein ähnliches Bild vom künstlerischen Aneignungsprozess zeichnet auch Wolfgang Koeppen, der über seine literarische Bearbeitung der Erinnerungen Jakob Littners (allerdings erst im Rahmen einer Neuauflage) bekannte: »Ich […] schrieb die Leidensgeschichte eines deutschen Juden. Da wurde es meine Geschichte.«371 Nimmt man das Diktum Koeppens 369 Thomas Mann: Bilse und Ich. In: Ders.: Essays I. 1893–1914, hg. von Heinrich Detering. Frankfurt am Main 2002, S. 95–111, hier S. 100. 370 Dass für Manns literarische Produktion neben der Aneignung fremder Erfahrung auch die künstlerische Verarbeitung eigener Erfahrung durchaus eine Rolle spielt, zeigt alleine die häufig thematisierte autobiographische Unterfütterung der Romane Buddenbrooks und Doktor Faustus. 371 Wolfgang Koeppen: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Frankfurt am Main 1992, S. 6.

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ernst, ist es nicht nur das künstlerische Endergebnis, sondern die fremden Erfahrungen an sich, die durch die Anverwandlung des Schriftstellers in dessen Besitz übergehen. Nach dieser Vorstellung wäre also die mimetische Authentizität, die der Autor durch die Annäherung an die ›Wirklichkeit‹ erzielt, nicht nur mit der biographischen ebenbürtig, sondern es gäbe überhaupt keinen Unterschied zwischen diesen beiden Konzepten, weil durch den schriftstellerischen Aneignungsprozess letztlich der gleiche authentische Ausdruck entstünde. Diese Kunstauffassung wird in aktuellen Debatten wieder aufgegriffen, wenn Autor*innen sich gegen den Vorwurf der kulturellen Aneignung wehren, indem sie auf die ureigene Funktion von Schriftsteller*innen verweisen, sich in fremde Schicksale hineinzuversetzen und fremde Erfahrungen zu fiktionaler Literatur zu verarbeiten.372 Es lässt sich also konstatieren, dass sich im Umfeld der Schlagwörter ›Herkunft‹ und ›Authentizität‹ eine komplexe Gemengelage bildet, in der sich unterschiedliche Akteure in einem Aushandlungsprozess darüber befinden, welche Rolle Herkunft und Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen für die Produktion von ›authentischer‹ Literatur spielen und wer über das Eigentumsrecht bzw. über die Autorisierung verfügt, bestimmte Erfahrungen literarisch zu verarbeiten. Dabei wirkt die Herkunft der empirischen Autor*innen literarischer Texte gleich im doppelten Sinne auf die Authentizitätserwartungen gegenüber diesen Texten ein:373 Zum einen lässt sich aus ihr das Eigentumsrecht an den kollektiven Erfahrungen der jeweiligen Gruppe ableiten und somit die Voraussetzungen für die autorisierte (weil authentische) Literarisierung dieser Erfahrungen. Zum anderen weckt die Herkunftszuordnung Authentizitätserwartungen in der literarischen Öffentlichkeit, die zu einer thematischen Festlegung führen können. Anders ausgedrückt: Autor*innen mit einem ethnischen, kulturellen oder religiösen Hintergrund, der von der Mehrheitsgesellschaft abweicht, wird zugestanden, im Modus einer biographischen Authentizität von diesem Hintergrund und den dahinter stehenden Erfahrungen zu schreiben, es wird aber auch von ihnen erwartet – sie dürfen und sollen das ›Fremde‹ in der literarischen Landschaft repräsentieren.

372 Vgl. hier etwa die Position der US-amerikanischen Schriftstellerin Lionel Shriver, die davor warnt, dass das Konzept der cultural appropriation die Funktion literarischer Fiktion als Ganzes bedroht: Vgl. Lionel Shriver: I hope the concept of cultural appropriation is a passing fad. In: The Guardian vom 13. 09. 2016, https://www.theguardian.com/commentisfree/2016 /sep/13/lionel-shrivers-full-speech-i-hope-the-concept-of-cultural-appropriation-is-a-pass ing-fad, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 373 Wie bereits zu Anfang des Kapitels wird ›Herkunft‹ hier als vereinfachendes Schlagwort benutzt, hinter der sich die Zugehörigkeit zu einer spezifischen ethnischen, kulturellen, sozialen oder religiösen Gruppe verbirgt, die nicht als Teil der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen wird.

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Die Funktion des Authentizitätsbegriffs als ethisch-ästhetischer Doppelwert kommt in diesen Zusammenhängen in besonderer Deutlichkeit zum Tragen. Insbesondere wenn es um die literarische Verarbeitung von kollektiven Leiderfahrungen geht, wird die Forderung nach Authentizität in der Regel nicht als ästhetisch wünschenswert formuliert, sondern als moralischer Imperativ – entsprechend deutlich fallen die Sanktionsmechanismen der literarischen Öffentlichkeit aus, wenn es etwa der literarischen Darstellung einer Fluchtgeschichte oder eines Völkermords an Authentizität mangelt. Auf welche Weise der Herkunftsdiskurs die Bewertung literarischer Texte als ›authentisch‹ beeinflusst, sollen im Folgenden zwei Einzelanalysen zeigen, die sich sehr unterschiedlich gelagerten Texten widmen. In Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) und Herkunft (2019) von Sasˇa Stanisˇic´ wird – einmal auf fiktionale und einmal auf autobiographische Weise – von einer Kindheit in Jugoslawien und einer Flucht nach Deutschland erzählt. Vom empirischen Autor ist bekannt, dass er in Jugoslawien aufgewachsen ist und mit 14 Jahren nach Deutschland floh. Ihm wird damit aufgrund seiner Erfahrung eine bestimmte Erzählkompetenz zugesprochen, an die sich – wie sich in der Untersuchung zeigen wird – auch Erwartungen knüpfen. Takis Würgers Roman Stella (2019) hingegen ist eine fiktionale Geschichte vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Anders als Stanisˇic´ kann Würger sich weder durch Erfahrung noch durch seine Herkunft autorisieren, um seine Urheberschaft entsprechend zu legitimieren. Stattdessen wendet er andere Legitimationsstrategien an, die in diesem Unterkapitel näher beleuchtet werden. Dass diese Strategien – zumindest in den Augen vieler Rezensent*innen – nicht zum gewünschten Erfolg, sondern zu einer Vielzahl von Verrissen im Feuilleton geführt haben, ist ein Anzeichen dafür, dass der Autor eine Authentizitätsnorm auf einem ethisch sehr sensiblen Feld gebrochen hat.

3.1.1 Grotesker Realismus und unzuverlässiges Erzählen: Sasˇa Stanisˇic´ : Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) und Herkunft (2019) Unter den deutschsprachigen Autor*innen nicht-deutscher Sprachherkunft ist Sasˇa Stanisˇic´ zweifellos einer der bekanntesten, was vor allem mit dem Erfolg seines Debütromans Wie der Soldat das Grammofon repariert zusammenhängt. Das Buch fand großen Anklang bei Kritik und Publikum, schaffte es auf Anhieb auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis und wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Im Zentrum des Romans stehen die Erfahrungen des kindlichen Protagonisten am Vorabend und während des Jugoslawienkriegs, seine Flucht

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nach Deutschland und seine Erinnerungen an die Zeit, »als alles gut war«,374 als nämlich sein Großvater Slavko noch am Leben und Jugoslawien noch ein sozialistischer Vielvölkerstaat war. Genau wie Sasˇa Stanisˇic´ ist der homodiegetische Erzähler Aleksandar (eine Langform von »Sasˇa«) in Visˇegrad aufgewachsen, hat einen serbischen Vater und eine bosnische Mutter und flieht 1992 mit seinen Eltern nach Deutschland. Diese Nähe von Autor und Protagonist ist es, die Stanisˇic´s Roman in den Augen von Maxim Biller zu einem gelungenen, weil authentischen Buch macht, wie zu Anfang des Kapitels erwähnt wurde. Auch in anderen Kritiken wurde auf den Erfahrungshintergrund verwiesen, der der Handlung von Wie der Soldat das Grammofon repariert zugrunde liegt. So eröffnete Iris Radisch ihre Rezension in der Zeit mit den Worten: »Das ist eine große Sache. Ein Roman über den Krieg. Nicht irgendeinen Krieg, sondern den letzten europäischen Krieg. Geschrieben von einem, der dabei war – als Kind.«375 Macht es zunächst den Anschein, als sei die Rezensentin voller Hochachtung über die erfahrungsgesättigte Perspektive, folgt im weiteren Verlauf von Radischs Text jedoch eine fundamentale Kritik am Roman. Statt Stanisˇic´ ob seiner Herkunft und den biographischen Parallelen zum Protagonisten das sinnbildliche Authentizitätssiegel für seinen Roman zu verleihen, moniert die Kritikerin mangelnde Wirklichkeitsnähe und wirft dem Autor vor, Kitsch produziert zu haben: Er tappt mit seiner Kindererzählung vom Balkankrieg in die erste Falle, die auf seinem Weg liegt: in die Kitschfalle. Aleksandar, das altkluge Kind aus Visˇegrad, das hier erzählt, versucht, in einer Sprache über seine Kriegserlebnisse zu berichten, die offenbar die Sprache eines frühpubertierenden Jungen sowohl imitieren als auch poetisch aufpolieren soll. Das erzwingt eine einerseits ganz unbedarfte, naiv anekdotische, andererseits ein wenig hochgespannte, bemüht märchenhafte Ausdrucksweise. Ein Spagat, in dem man sich leicht die Beine bricht.376

Radisch hebt hier vor allem auf die Sprache des jugendlichen Erzählers ab, die aus ihrer Sicht eben nicht authentisch wirkt, sondern in einer konstruierten Mischung aus Naivität und Poetisierung an Glaubwürdigkeit einbüßt. Das Ergebnis sei eine »Verzauberung und kindliche Poetisierung des Jugoslawienkrieges«, die zu den historischen Kriegsschrecken eine »märchenonkelhafte Distanz« wahre.377

374 So ist der Titel eines vom Protagonisten verfassten ›Buchs im Buch‹. Vgl. Sasˇa Stanisˇic´: Wie der Soldat das Grammofon repariert. Roman. München 2006, S. 156–209. 375 Iris Radisch: Der Krieg trägt Kittelschürze. In: Die Zeit vom 05. 10. 2006, https://www.zeit.de /2006/41/L-Stanisic, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 376 Ebd. 377 Ebd.

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In eine sehr ähnliche Richtung weist auch die Kritik von Helmut Böttiger, der in seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung auf die Diskrepanz hinweist, die zwischen den Ereignissen des Bürgerkriegs und dem kindlichen Tonfall des Erzählers liegt: In dieser Kinderperspektive, wo alles Erzählen automatisch etwas Magisches bekommt und trotz aller Schrecknisse immer auch heiter bleibt, liegen die Grenzen des Romans von Sasˇa Stanisˇic´, und man merkt es, wenn das Bürgerkriegsgeschehen, das Gemetzel in Bosnien und in der schönen Stadt Visˇegrad an der Drina näherrückt. Das ausufernde Erzählen, das sich an sinnlich fassbaren Situationen festmacht und sich an Anekdotischem berauscht, lässt sich mit den grauenhaften Geschehnissen immer weniger in Einklang bringen.378

Die Tatsache, dass die Erfahrung, als Jugendlicher vor dem Jugoslawienkrieg geflohen zu sein, unbestreitbar zum narrativen Eigentumsrecht von Sasˇa Stanisˇic´ gehört, scheint in diesem Fall nicht auszureichen, um die Authentizitätserwartungen der Literaturkritiker*innen zu befriedigen und dem Roman den Status eines authentischen Fluchtberichts zuzuweisen. Denn auch wenn Radisch und Böttiger nicht explizit von mangelnder Authentizität sprechen, so ist doch klar, dass sie die Qualität von Stanisˇic´s Roman am Wertmaßstab der Wirklichkeitsnähe bemessen. Ihre Wertung orientiert sich allerdings stärker am Konzept der mimetischen Authentizität, während die durch Stanisˇic´s Lebensgeschichte beglaubigte biographische Authentizität zweitrangig ist. Erzählhaltung und Sprache, so lautet der Vorwurf, sind nicht adäquat, um die Leiderfahrung des Protagonisten (stellvertretend für alle Opfer des Konflikts) glaubwürdig zu veranschaulichen. Dem wiederum liegt die stillschweigende Annahme zugrunde, dass Stanisˇic´s Roman den Anspruch verfolgt, die Kriegs-, Leid- und Fluchterfahrung des Protagonisten (oder je nach Lesart auch die des empirischen Autors) auf mimetische Weise abzubilden. Bei näherer Betrachtung des Romantexts scheint jedoch das poetologische Selbstverständnis hinter Wie der Soldat das Grammofon repariert ein völlig anderes zu sein. Ein deutlicher Hinweis hierauf wird zu Beginn des Romans gegeben, wenn der Vater des Erzählers in seinem Atelier arbeitend ausruft: »Ein Maler darf nie mit dem zufrieden sein, was er sieht – Wirklichkeit abbilden, heißt vor ihr kapitulieren!«379 Nach Matteo Galli lässt sich diese Kunstauffassung auch als »das poetische Credo der Hauptfigur und in gewisser Hinsicht von Sasˇa Stanisˇic´« verstehen.380 378 Helmut Böttiger: Als alles gut war – vor dem Krieg. In: Süddeutsche Zeitung vom 28. 09. 2006, https://www.sueddeutsche.de/kultur/wie-der-soldat-das-grammofon-repariert-als-alles-gu t-war-vor-dem-krieg-1.799412, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 379 Stanisˇic´: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 24. 380 Matteo Galli: Wirklichkeit abbilden heißt vor ihr kapitulieren: Sasˇa Stanisˇic´. In: Michaela Bürger-Koftis (Hg.): Eine Sprache – viele Horizonte… Die Osterweiterung der deutsch-

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Karnevalisierung des Krieges Der Roman, das zeigt sich auf verschiedenen Ebenen des Textes, knüpft an literarische Traditionen an, die jenseits einer realistischen Erzählweise anzusiedeln sind und vor deren Folie die von Radisch und Böttiger kritisierte Naivität in der Erzählhaltung eine andere Bedeutung erhält. Iris Radisch führt in ihrer Rezension zwar Oskar Matzerath aus Günter Grass’ Die Blechtrommel als Beispiel für eine kindlich-naive Erzählperspektive an,381 lässt aber unerwähnt, dass auch Grass’ Roman wiederum eine literarische Vorläufertradition zitiert, die auch für Stanisˇic´s Roman prägend ist: die des Schelmenromans des 16. und 17. Jahrhunderts. Deutlich wird dieser Vorbildcharakter bereits in der Formgebung von Wie der Soldat das Grammofon repariert. Der Romantext besteht aus 26 kurzen Kapiteln mit ungewöhnlich langen Überschriften, die gleichsam den Inhalt des jeweiligen Kapitels kurz zusammenfassen. So trägt das erste Kapitel den Titel: »Wie lange ein Herzstillstand für hundert Meter braucht, wie schwer ein Spinnenbein wiegt, warum mein Trauriger an den grausamen Fluss schreibt und was der Chefgenosse des Unfertigen als Zauberer draufhat«.382 Solche Kapitelüberschriften von barocker Länge erinnern an den bekanntesten Schelmenroman deutscher Sprache, Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch, aber auch an andere literarische Vorbilder, wie Galli bemerkt: Demzufolge reiht sich Stanisˇic´s Roman in eine bestimmte literarische Tradition ein, die diese Zwischentitel häufig zu verwenden pflegt, nämlich in die Tradition der komischen Volksbücher, die im Mittelalter entstanden ist und über Rabelais und den spanischen pikaresken Roman bis zu Fieldings Tom Jones reicht.383

Diese Traditionslinie lässt sich auch im Romangeschehen selbst wiederfinden. Die volkstümlichen, von Heiterkeit und groteskem Humor geprägten Feste, die zu Anfang des Romans im Vordergrund stehen, erzeugen in den Augen von Radisch ein »fremdenverkehrsamtliches Erinnerungsbild«,384 werden von der Literaturkritikerin also hauptsächlich als Affirmation von regionalspezifischen Stereotypen gelesen. Nach einer anderen Lesart lassen sich diese Szenen aber

381 382 383 384

sprachigen Literatur. Porträts einer neuen europäischen Generation. Wien 2008, S. 53–63, hier S. 55. Vgl. Radisch: Der Krieg trägt Kittelschürze. Stanisˇic´: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 11. Galli: Wirklichkeit abbilden heißt vor ihr kapitulieren, S. 54. Radisch: Der Krieg trägt Kittelschürze.

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auch als Ausdruck eines literarischen Karnevals im Sinne von Michail Bachtins Karnevalismus-Konzept begreifen.385 Zu Beginn des Romans feiern die Urgroßeltern des Erzählers ein großes Fest zur Einweihung ihres neuen ›Innenklos‹: In der Schlange vor dem neuen Klo tänzelten die Nachbarn vor Druck und aus Vorfreude. Ur-Opa durfte als Erster. Er trug seinen schwarzen Gehrock, klopfte sich auf den Bauch und prahlte lauthals: vier Tage habe ich nicht! Tam-tam, tam-tam-tam, klapperte er Anfeuerungsrhythmen mit dem Klodeckel. Einige, mich inklusive, klatschten mit. Beste Stimmung vorm Innenklo, sechzehn Zuschauer, eine Fünf-Mann-Musikkapelle, perfektes Klowetter, moderierte ich. Ur-Oma reichte Ur-Opa eine Schnapsflasche, feierlich, als übergebe sie ihm die Stafette der Jugend. Er setzte der Flasche das Schnapsglas wie einen Hut auf und blieb fünfundvierzig Minuten sitzen.386

Die Schilderung dieses absurd-heiteren Familienfests sieht Marie E. Brunner in der Tradition von Bachtins literarischem Karneval: Schwankhaft-grobianisch wird das Klofest als Wettbewerb mit Publikumsakklamation der Erstnutzer des einzigen wassergespülten Klos weit und breit in der Gegend ausgemalt; das Klofest ist ein Meisterstück nach dem Vorbild von Rabelais’ Pantagruel und Gargantua und ganz in der Tradition von ›Literatur und Karneval‹ in Bachtins Karnevalismus-Konzept.387

Tatsächlich weist die Szene zentrale Motive der von Bachtin skizzierten mittelalterlichen Lachkultur auf, zu denen er u. a. »Marktplatzfeste karnevalesker Art« und »komische Riten und Kulte« zählt.388 Auch die im Rahmen des ›Klofests‹ unterschwellig thematisierten menschlichen Exkremente finden ihren festen Platz in der Motivik der Leiblichkeit, die laut Bachtin die Sprache des Marktplatzes auszeichnet.389 Auch im späteren Verlauf der Romanhandlung treten immer wieder Karnevals-Motive in den Vordergrund. Während eines Familienfests, das in großer Ausgelassenheit und bacchantischer Überfülle gefeiert wird (alleine die Aufzählung der verschiedenen Speisen durch den Erzähler nimmt zwei Buchseiten ein), kommt es zu einem Zwischenfall: Der serbische Nachbar Kamenko unterbricht das Fest, indem er mit seiner Pistole in die Luft schießt und die Blaskapelle bedroht, damit sie aufhört, ihren »türkischen Zigeunerdreck« zu spielen.390 Die 385 Vgl. Michail Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt am Main 1987. 386 Stanisˇic´: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 38. 387 Marie E. Brunner: »Bis diese Wörter aus deinem Land aufgestanden und zu meinem gegangen sind, haben sie sich unterwegs etwas geändert«. Überlegungen zur transnationalen und postmodernen Gegenwartsliteratur. Würzburg 2018, S. 126. 388 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 52. 389 Vgl. ebd., S. 192. 390 Stanisˇic´: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 45.

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ethnischen Konflikte und der heraufziehende Krieg überschatten für einen Moment die ausgelassene Festtagsstimmung und das Lachen weicht dem bedrohlichen Ernst. Doch gleich im nächsten Augenblick bemächtigt sich das karnevaleske Treiben wieder der Situation. Der Urgroßvater des Erzählers lenkt Kamenko mit einem Lied ab und der Störer wird überrumpelt und entwaffnet. Der bedrohliche Zwischenfall wird sogleich in das Karnevalsgeschehen integriert und am Ende wird die restliche Munition der Pistole in den Misthaufen abgefeuert:391 Ur-Opa tanzt um die Tische und schnappt sich Kamenkos Pistole von meinem Vater. Er tanzt zu den Ställen und schießt so lang in den großen Misthaufen, bis aus den Schüssen Klicke werden. Mit dem Stiefel stößt er die Pistole in den Mist, bis sie verschwunden ist, drückt den Rücken durch und sagt: hachja…392

Auch als der Krieg schließlich ausbricht und das Leben des jungen Erzählers und seiner Familie bedroht, bleibt Aleksandars Blick ein karnevalesker. Der Einzug von Soldaten in Visˇegrad erscheint ihm als eine »hupende Hochzeitsgesellschaft«: »Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen den Himmel an und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben.«393 Selbst die Eroberung Visˇegrads durch serbische Einheiten, die viele Morde und Vertreibungen nach sich zog, erscheint – zumindest für einen kurzen Moment – als volkstümliches Fest. Bis zum Schluss – das heißt in diesem Zusammenhang bis zur Flucht nach Deutschland – versucht der Erzähler, die Geschehnisse in Jugoslawien zu karnevalisieren. Nach dieser Lesart ist es weniger ein kindlichnaiver Blick, der den Erzähler auszeichnet, sondern ein subversiver. Denn nach Bachtin erlaubt die karnevalesk-groteske Form »einen anderen Blick auf die Welt, die Erkenntnis der Relativität alles Seienden und der Möglichkeit einer grundsätzlich anderen Weltordnung«.394 Stanisˇic´ verfolgt also in Wie der Soldat das Grammofon repariert das poetische Konzept einer Karnevalisierung und eines grotesken Realismus nach Bachtin,395 dem es nicht um die reine Abbildung realer Geschehnisse geht. Dass dieses poetische Konzept in der Rezeption des Romans nur wenig Beachtung gefunden hat, hängt mit den hohen Authentizitätserwartungen zusammen, die durch Herkunft und Biographie des empirischen Autors hervorgerufen werden. Dabei wurde von der offenkundigen biographischen Authentizität des Texts auf eine zu 391 Hier wiederholt sich auch das Motiv der Exkremente. Für Bachtin sind sie »die geeignete Materie zur degradierenden Verkörperlichung alles Hohen« (Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 193). Es ist also kein Zufall, dass die Kugeln, mit denen Kamenko die vermeintliche Reinheit seiner eigenen Kultur verteidigen wollte, am Ende im Misthaufen landen. 392 Stanisˇic´: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 51. 393 Ebd., S. 108. 394 Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 85. 395 Vgl. ebd., S. 69.

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erwartende mimetischen Authentizität geschlossen: Die Tatsache, dass die Rezeption der Erzählerfigur aufgrund von Alter, Herkunft und Fluchterfahrung als literarisches Alter Ego des Autors nahegelegt wird, erzeugt die Erwartung eines dokumentarischen Charakters des Texts, die dieser wiederum durch seine grotesk-karnevalistischen Elemente unterläuft. Stanisˇic´s Roman entzieht sich somit dem literaturkritischen Wertmaßstab der Wirklichkeitsnähe, er entzieht sich aber auch dem authentizitätserzeugenden Potential von Herkunftszuschreibungen. »Herkunft ist Zufall« Die Frage nach der eigenen Herkunft und der Bedeutung, die man ihr beimisst, wird in Wie der Soldat das Grammofon repariert an zentraler Stelle thematisiert. Wie Stanisˇic´ selbst ist auch der Erzähler Aleksandar der Sohn eines christlichen Serben und einer muslimischen Bosnierin. Für den jungen Aleksandar ist jedoch weder die ethnische noch die religiöse Herkunft seiner Vorfahren ein wichtiger Bezugspunkt, seine Identifikationsfolie bildet vielmehr der sozialistische Vielvölkerstaat Jugoslawien unter Tito. Personifiziert wird diese schnell untergegangene Welt durch den Großvater Aleksandars, der den sprechenden Namen Slavko trägt und dessen Tod immer wieder mit dem Tod Josip Broz Titos und der Auflösung Jugoslawiens korrespondiert.396 Als Aleksandar auf dem Schulhof von seinem Mitschüler Vukoje Wurm nach seiner Herkunft gefragt wird, weiß er keine Antwort zu geben, die eine klare Zugehörigkeit markiert: Ich bin ein Gemisch. Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also. Es gab den Schulhof, der sich wunderte, wie ich so etwas Ungenaues sein konnte, es gab Diskussionen, wessen Blut im Körper stärker ist, das männliche oder das weibliche, es gab mich, der gerne etwas Eindeutigeres gewesen wäre oder etwas Erfundenes, das Vukoje Wurm nicht kannte, oder etwas, das er nicht auslachen konnte, eine deutsche Autobahn, ein Wein trinkendes, fliegendes Pferd, ein Schuss in den Haushals.397

Die Frage nach der eigenen Herkunft ist für den Protagonisten in doppelter Hinsicht von Ungewissheit geprägt: Der Staat, dem er sich zugehörig fühlt (und die damit verbundene Ideologie) sind in Auflösung begriffen und den ethnischreligiösen Zugehörigkeiten, die nun an Bedeutung gewinnen, kann und will er sich nicht zuordnen. Nach seiner Flucht nach Deutschland wird Aleksandar von seinem neuen Umfeld wieder nach seiner Herkunft befragt. Dabei offenbaren die veränderten Kategorien der Zugehörigkeit deren Konstruktionscharakter: »Wenn man mich fragt, woher ich komme, sage ich, das sei eine schwierige Frage, weil ich aus einem 396 Vgl. Stanisˇic´: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 71. 397 Ebd., S. 53.

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Land komme, das es dort, wo ich gelebt habe, nicht mehr gibt. Hier nennt man uns Jugos, auch die Albaner und die Bulgaren nennt man Jugos, das ist einfacher für alle.«398 War Aleksandars Mitschülern in Visˇegrad der Verweis auf Jugoslawien als Herkunftsbezeichnung nicht präzise genug, weil sie auf seine ethnische Zugehörigkeit abzielten, dient die Bezeichnung ›Jugoslawe‹ an seinem neuen Wohnort Essen als Sammelbezeichnung für alle, die im weitesten Sinne aus der Balkan-Region stammen. Die Frage nach Herkunft und deren Konstruiertheit bleibt auch in den späteren Werken von Sasˇa Stanisˇic´ von Bedeutung. Nicht zufällig trägt sein 2019 erschienener autobiographischer Roman den Titel Herkunft.399 Darin findet sich eine Szene, die deutlich mit der Frage von Aleksandars Mitschüler Vukoje Wurm in Wie der Soldat das Grammofon repariert korrespondiert: Stanisˇic´ erzählt davon, wie während seiner Schulzeit in Visˇegrad ein Mitschüler seine Klassenkamerad*innen dazu auffordert, sich in eine Liste mit den drei Spalten ›Moslem / Serbe / Kroate‹ einzutragen. Einige Schüler*innen folgen dem Aufruf und tragen ihre Namen in eine der Spalten ein, andere verweigern sich oder ergänzen die Liste um die Spalten ›Weiß nicht‹ oder ›Jugoslawe‹.400 Auch hier wird dem Erzähler wieder eine Zuordnung abgenötigt, die er als willkürlich empfindet und die vor dem Hintergrund der heraufziehenden ethnischen Konflikte umso bedrohlicher wirkt. Doch auch im weiteren Verlauf der autobiographischen Handlung, nachdem der Erzähler mit seiner Familie nach Heidelberg geflohen ist, bleibt sein Unwille zur Selbstidentifikation mit einer Herkunftsangabe bestehen. Wo immer es geht, versucht der Erzähler, der Stigmatisierung als Bürgerkriegsflüchtling und den in Deutschland vorherrschenden Jugoslawien-Klischees zu entkommen. Bei einem gemeinsamen Abendessen mit den Eltern eines Mitschülers und dessen Freunden kommt es zu einer Verwechslung: Eine Veterinärmedizinerin aus der Pfalz versteht bei der Antwort auf die Frage nach Stanisˇic´s Herkunft ›Boston‹ statt ›Bosnien‹ und beginnt mit ihm auf Englisch eine Konversation über das MITund die Boston Celtics. Der Erzähler klärt das Missverständnis nicht auf, fühlt sich vielmehr »von der Herkunftslast entledigt«.401 Die eigene Herkunftsgeschichte zu erfinden, zu fiktionalisieren und sich damit von der Zuschreibungslast zu befreien, wird zum zentralen Thema für Stanisˇic´: 398 Ebd., S. 139. 399 Das Buch weist keine paratextuelle Gattungsbezeichnung auf, wurde allerdings 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, der ausschließlich für Romane vergeben wird. Da aber an keiner Stelle in Text oder Paratext die behauptete Identität zwischen Autor, Erzähler und Figur infrage gestellt oder gebrochen wird, wird Herkunft im Folgenden als autobiographischer Roman und nicht als Autofiktion bezeichnet. 400 Vgl. Sasˇa Stanisˇic´: Herkunft. München 2019, S. 111. 401 Ebd., S. 177.

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Circa fünfzehn Jahre später, 2010, war ich selbst am MIT. […] Befragt nach meiner Herkunft, sagte ich mal ›Visˇegrad‹, mal ›Europe‹, mal ›Kurpfalz‹. […] Ich sagte, meine Eltern seien Geisteswissenschaftler. Ich sagte, mein Großvater sei Jäger, Aussiedler aus Danzig. Ich sagte, meine Mütter seien Lesbierinnen. Ich sagte, Herkunft ist Zufall, immer mal wieder, auch ungefragt.402

In einer der zentralen Szenen der Erzählung sitzt Sasˇa Stanisˇic´ mit seiner Großmutter und ihrem Freund Gavrilo auf dem Friedhof in Oskorusˇa am Grab entfernter Verwandter. Als Gavrilo ihn fragt, woher er käme, regt sich erneut Widerstand bei Stanisˇic´: Also doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt! Eine Art Kostüm, das man ewig tragen soll, nachdem es einem übergestülpt worden ist.403

Gavrilo zeigt sich unbeeindruckt von der skeptischen Rede des jungen Mannes. Seine schlichte Antwort lautet: »Von hier. Du kommst von hier.«404 Ein ganz ähnlicher Dialog findet kurz zuvor zwischen dem Erzähler und seiner Großmutter statt und bezieht sich auf Stanisˇic´s Debütroman Wie der Soldat das Grammofon repariert: Ich war gerade angekommen in Visˇegrad, wollte mich erholen von der langen Lesereise mit meinem ersten Roman. Ein Exemplar hatte ich als Geschenk dabei, sinnloserweise auf Deutsch. Ob es das Buch über uns sei, fragte Großmutter. Ich legte sofort los – Fiktion, wie ich sie sähe, sagte ich, bilde eine eigene Welt, statt unsere abzubilden, und die hier, ich klopfte auf den Umschlag, sei eine Welt, in der Flüsse sprechen und Urgroßeltern ewig leben. Fiktion, wie ich sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklichen Geschehen reibt –405

In den Ausführungen der Figur des jungen Sasˇa Stanisˇic´ wird das poetische Konzept explizit, das hier zuvor anhand von Wie der Soldat das Grammofon repariert herausgearbeitet wurde. Nicht Abbildung der Wirklichkeit, nicht mimetische Authentizität, sondern die Darstellung einer anderen, entfremdeten Welt ist das Programm des Autors. Der Verweis auf die phantastischen Elemente des Romans (die sprechende Drina, ewig lebende Urgroßeltern) folgt dem grotesken Realismus nach Bachtin. 402 403 404 405

Ebd., S. 178. Ebd., S. 32. Ebd. Ebd., S. 20.

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Gleichzeitig wird, liest man diese Ausführungen im Kontext der Szene auf dem Friedhof, der Konstruktionscharakter von Literatur mit dem Konstruktionscharakter von Herkunft übereinandergelegt. Nach der Vorstellung des ErzählerIchs sind Herkunftsbezeichnungen ebenso wenig dazu geeignet, die Identität eines Individuums zu artikulieren, wie literarische Texte dazu da sind, Wirklichkeit abzubilden. Aus dieser Haltung spricht eine fundamentale Authentizitätsskepsis. Dem Konzept einer auf ethnischer, religiöser oder geographischer Herkunft begründeten Subjektauthentizität wird dabei ebenso misstraut wie dem Konzept einer mimetischen Authentizität in der literarischen Darstellung. Auf Textebene äußert sich dieses Misstrauen im Modus des unzuverlässigen Erzählens. An verschiedenen Stellen des Textes korrigiert sich der Erzähler oder zweifelt seine eigenen Schilderungen an. Eine Szene, in der der Vater im Hühnerstall eine Schlange erschlägt, wird als zentrale Kindheitserinnerung kurz vor dem Ausbruch des Kriegs eingeführt.406 Später wird eine WhatsApp-Konversation mit dem Vater wiedergegeben, in der dieser seinem Sohn gegenüber beteuert, niemals eine Schlange im Hühnerstall erschlagen zu haben.407 Im darauffolgenden Kapitel reflektiert der Erzähler über seinen eigenen Standpunkt (»Was ist das für ein Buch? Wer erzählt?«408) und gibt an, dass die Begegnung der Schlange mit dem Vater »nur in diesen Zeilen stattgefunden hat«.409 Dieser selbstreflexive Erzählmodus findet sich an mehreren Stellen des Texts. An einer anderen Stelle heißt es mit Blick auf das Verhältnis von familiärer Zugehörigkeit und dessen literarischer Verarbeitung: Literatur ist ein schwacher Kitt. Das merke ich auch bei diesem Text. Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte, beschreibe das Leben vor und nach der Erschütterung, und in Wirklichkeit vergesse ich Geburtstage und nehme Einladungen zu Hochzeiten nicht wahr. […] Ich schiebe nicht dem Krieg und der Entfernung die Schuld zu für meine Entfremdung von meiner Familie. Ich schiebe Geschichten als Übersprungshandlungen zwischen uns.410

Stanisˇic´ inszeniert sich hier als Geschichtenerzähler, der versucht, soziale Klüfte und geographische Entfernungen mit (erfundenen?) Geschichten zu überbrücken. Diese Rollenzuweisung lässt eine deutliche Parallele zum Protagonisten Aleksandar in Wie der Soldat das Grammofon repariert erkennen, der als ›Chefgenosse des Unfertigen‹ den Tod des Großvaters Slavko und den drohenden Wegfall der zusammenhalts- und identitätsstiftenden sozialistischen Grund406 407 408 409 410

Vgl. ebd., S. 41f. Vgl. ebd., S. 218. Ebd., S. 223. Ebd. Ebd., S. 212.

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ordnung Jugoslawiens durch das Erzählen von Geschichten überwinden will: »Wir hatten ein Versprechen aus Geschichten, Mama, nickte der Sohn entschieden und schloss die Augen, als zauberte er ohne Stab und Hut, ein ganz einfaches Versprechen: niemals aufhören zu erzählen.«411 Das Bild des Erzählers, das hier kreiert wird, ist somit nicht das eines Betroffenen, der auf Basis zuverlässiger Erinnerungen aus seinem Erfahrungsschatz berichtet, sondern eines notorischen Geschichtenerzählers, der erfundene und erinnerte Elemente kombiniert, um Geschichten zu produzieren, die über das bloße Abbilden der Wirklichkeit hinausgehen. Dabei bedient sich der Erzähler, wie im Vorigen am Text gezeigt wurde, auch der Mittel des grotesken Realismus und des unzuverlässigen Erzählens. Auf Rezeptionsebene besitzt dieses erzählerische Selbstverständnis das Potential, die Erwartungen derjenigen zu unterlaufen, die in Hinblick auf das erzählerische Eigentumsrecht, das dem Autor aufgrund seiner Herkunft zugebilligt wird, von einer auf Wirklichkeitsnähe bedachten Erfahrungswiedergabe ausgehen. Während wir es also bei Sasˇa Stanisˇic´ mit einem Fall zu tun haben, bei dem die Inszenierung von biographischer Authentizität gesteigerte Erwartungen hinsichtlich der mimetischen Authentizität zur Folge hat, welche aber auf textueller Ebene unterlaufen werden, wird mit Takis Würger nun ein Autor in den Blick genommen, der sich nicht über seine Herkunft im Sinne einer biographischen Authentizität autorisieren kann, aber dennoch den Anspruch einer mimetischen Authentizität erhebt. Thematisch verlassen wir damit die jüngste europäische Geschichte und wenden uns der Zeit des Nationalsozialismus und den damit verbundenen Verbrechen zu, deren literarische Verarbeitung in einem besonderen Maße von der Wirkungsweise der Authentizitätsnorm beeinflusst ist.

3.1.2. Erzählkompetenz und ›Holocaust-Kitsch‹ – Takis Würger: Stella (2019) Auschwitz – verstanden als Chiffre für die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in der Zeit des Nationalsozialismus, die in der amerikanisch geprägten Tradition als ›Holocaust‹ und in der israelischen als ›Schoah‹ bezeichnet wird –412 ist als literarischer Stoff vor allem im deutschsprachigen Raum seit jeher ein ethischer wie ästhetischer Sonderfall. Schon Adornos vielzitiertes Diktum von der Barbarei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, deutet das schwierige Verhältnis von Kunst und historischer Wirklichkeit in diesem Fall an – auch wenn sich Adorno in seiner Äußerung nicht direkt auf die Darstellbarkeit 411 Stanisˇic´: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 31. 412 In der deutschsprachigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung sind bis heute alle drei Begriffe gebräuchlich und werden daher auch hier gleichberechtigt genutzt.

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von Auschwitz bezieht.413 Der rumänisch-US-amerikanische Schriftsteller und Holocaust-Überlebende Elie Wiesel wird hier bereits deutlicher, wenn er schreibt: »Ein Roman über Auschwitz ist entweder kein Roman, oder er handelt nicht von Auschwitz.«414 Der Literaturwissenschaftler Axel Dunker sieht in diesem Diktum Wiesels einen kategorischen »Ausschluss von Fiktion«, wenn es um den Holocaust geht, da sich »Fiktion […] als inkompatibel mit einem authentischen Sprechen über Auschwitz« erweist.415 Etwas weniger rigoros formuliert Ruth Klüger das Unbehagen an der Fiktion im Kontext der Schoah, wenn sie schreibt: Wenn die geschichtlichen Gegebenheiten dem Publikum so sehr unter die Haut gehen wie bei der Aufarbeitung der ›jüngsten Vergangenheit‹ – die sich beharrlich weigert, älter zu werden –, dann wirkt es beleidigend, wenn die Fiktion zu sehr vom Geschehen abweicht. Durch die Wahl des Stoffes haben Schriftsteller und Filmemacher dem Publikum versprochen, sich weitgehend an Überliefertes zu halten.416

Statt von einem Fiktionsverbot geht Klüger hier also von einer Art Faktualitätspakt – oder eher noch von einem Authentizitätspakt – aus: Trotz fiktionalem Rahmen verpflichtet sich der oder die Urheber*in der Geschichte, sich weitgehend an überlieferte Tatsachen zu halten. Darin, so Klüger, unterscheidet sich die Holocaust-Literatur von anderen fiktionalen Bearbeitungen historischer Stoffe: Bei der Holocaust-Literatur werden oft auch nur geringe Abweichungen von der historischen Wirklichkeit von der Leserin, die sich auskennt, mit großem Unbehagen rezipiert. Der Einwand ›So war es nicht, hier stimmt etwas nicht!‹, der leicht, aber zu Unrecht naiv erscheint, wiegt hier schwerer als bei anderen historischen Fiktionen.417

Ruth Klüger bezieht sich hier auf die für Erzählungen der Schoah geltenden, im besonderen Maße normativen Authentizitätserwartungen, auf die bereits zu Beginn des Kapitels verwiesen wurde. Die zentrale Leiderfahrung der Opfer des Holocaust lässt den authentischen Zeugenbericht als einzig legitime Darstellungsform erscheinen, in der das individuelle Einzelschicksal ohne Verfremdung zu seinem Recht kommt. Während in weiten Teilen der anspruchsvollen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur ein eher spielerischer Umgang mit historischen Fakten und individuellen Erinnerungen gepflegt wird, herrscht unter den Akteuren der literarischen Produktion scheinbar eine stillschweigende Überein413 Vgl. Stefan Krankenhagen: Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser. Köln 2001, S. 80. 414 Elie Wiesel: Jude heute. Erzählungen, Essays, Dialoge. Wien 1987, S. 202f. 415 Axel Dunker: Zwang zur Fiktion? Schreibweisen über den Holocaust in der Literatur der Gegenwart. In: Iris Roebling-Grau/Dirk Rupnow (Hg.): ›Holocaust‹-Fiktion. Kunst jenseits der Authentizität. Paderborn 2015, S. 221–235, hier S. 221. 416 Ruth Klüger: Fakten und Fiktionen. In: Dies.: Gelesene Wirklichkeit. Fakten und Fiktionen in der Literatur. Göttingen 2006, S. 68–93, hier S. 85. 417 Ebd., S. 87.

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kunft, dass das Thema ›Holocaust‹ von diesen Spielen ausgenommen ist. Entsprechend werden auch von Rezeptionsseite andere Wertungskategorien angelegt, als es bei einer ästhetischen Fiktion der napoleonischen Kriege der Fall wäre. Laut Achim Saupe ist die Rezeption verschiedener Repräsentationen des Holocaust durch emphatische Postulate über Authentizität, Wahrhaftigkeit, moralische Integrität charakterisiert, die mit dem Berichten und dem Schreiben der Überlebenden auf das Engste verbunden ist. Die Authentizität der Zeugenschaft ist dabei an das Leid und den Schmerz, an eine individuelle und letztlich nicht hinterfragbare ›Primärerfahrung‹ gebunden.418

Geht man jedoch davon aus, dass die narrative Darstellung der Schoah nur durch unmittelbare Erfahrung autorisiert werden kann, steht die Holocaust-Literatur gegenwärtig vor einem massiven Legitimationsproblem. Angesichts des sehr hohen Alters der wenigen verbliebenen Zeitzeugen ist davon auszugehen, dass bereits in wenigen Jahren niemand mehr am Leben sein wird, der aus erster Hand von den Geschehnissen vor 1945 berichten kann. Bereits seit einigen Jahren wird daher vom nahenden Ende der »kurzen Ära der Zeitzeugen« und dessen Bedeutung für die Erinnerungskultur gesprochen.419 In Anbetracht dieser historischen Umbruchsituation ergreifen auch Zeitzeug*innen das Wort, die dem Fiktionsverbot nach Elie Wiesel ablehnend gegenüberstehen und stattdessen die Position vertreten, die Generationen der Nachgeborenen müssten sich der Thematik nun mit den Mitteln der Fiktion annehmen. So forderte der mittlerweile ebenfalls verstorbene Schriftsteller und Buchenwald-Überlebende Jorge Semprún in seiner Laudatio auf Norbert Gstrein anlässlich der Vergabe des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung: »Wir brauchen jetzt junge Schriftsteller, die das Gedächtnis der Zeugen, das Autobiographische der Zeugnisse, mutig entweihen. Jetzt können und sollen Gedächtnis und Zeugnis Literatur werden.«420 Semprún begrüßt ausdrücklich die Versuche jüngerer Autor*innen, sich der Schoah auf fiktionalem Wege anzunähern. Entsprechend positiv fällt auch sein Urteil zu Jonathan Littells umstrittenen Roman Les Bienveillantes (2006) aus.421 Der umfangreiche Roman des jüdischen Autors mit litauisch-US-amerikanischen Wurzeln geriet vor allem aufgrund seiner Täterperspektive in die Kritik (beim Erzähler handelt es sich um einen fiktiven SS-Offizier) und entfachte im 418 Achim Saupe: Holocaust als Kriminalroman. In: Roebling-Grau/Rupnow (Hg.): ›Holocaust‹-Fiktion, S. 133–147, hier S. 141f. 419 Vgl. Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München 2013, S. 11f. 420 Jorge Semprún: »Wovon man nicht sprechen kann«. In: Norbert Gstrein/Ders. (Hg.): Was war und was ist. Reden zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung am 13. Mai 2001 in Weimar. Frankfurt am Main 2001, S. 7–17, hier S. 15. 421 Vgl. Dunker: Zwang zur Fiktion?, S. 222.

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französischen wie im deutschen Sprachraum eine Debatte über die Frage, welche Maßstäbe an die fiktionale Bearbeitung der Schoah durch einen Nachgeborenen herangetragen werden sollten.422 Autorisierung und Authentifizierung durch die Nachgeborenen Solche Debatten, die es in ähnlicher Form bereits anlässlich der filmischen Darstellung der Schoah in der US-amerikanischen Fernsehserie Holocaust (1978) und in Steven Spielbergs Spielfilm Schindlers Liste (1993) gegeben hat, zeigen in ihrer Grundsätzlichkeit eine Sache sehr deutlich: Während der Zeugenbericht aufgrund seines unhinterfragbaren Erfahrungshintergrunds für sich stehen konnte, ist die literarische Produktion der Nachgeborenen, die sich dieser Thematik zuwendet, von einem ständigen Aushandlungsprozess begleitet. Die beiden zentralen Fragen, die diesem Aushandlungsprozess zugrunde liegen, sind dabei fast immer: ›Wer darf die Geschichte erzählen?‹ und ›Wie darf sie erzählt werden?‹. Die erste Frage bezieht sich auf die Autorisierung des Erzählenden, die zweite auf die Authentifizierung des Erzählten. In den Fällen der Lebenszeugnisse von Überlebenden liegt die Beantwortung dieser Fragen auf der Hand: Autorisiert sind die Autor*innen durch ihr eigenes, unmittelbares Erleben, dessen literarische Verarbeitung dann auch nahezu automatisch den Status des Authentischen erlangt, selbst wenn ihr Bericht im Einzelnen von den historisch überlieferten Fakten abweichen sollte. Die Autorisierung der Autorschaft erfolgt demnach durch die offenkundige biographische Authentizität, die keine weiteren Legitimierungsstrategien mehr erfordert. Die literarischen Bearbeitungen nachfolgender Generationen bedürfen hingegen einer anderen Legitimierung. Als zentrales Argument der Autorisierung lässt sich dabei die Autorisierung qua Herkunft ausmachen. Diese lässt sich wiederum in eine direkte und eine indirekte Form unterscheiden. Als direkte Autorisierung qua Herkunft lassen sich jene literarischen Zeugnisse begreifen, die von direkten Nachfahren unmittelbarer Zeitzeug*innen verfasst wurden und sich somit auch als ›Zeugnisse aus zweiter Hand‹ charakterisieren ließen. Ein Beispiel hierfür ist die vielbeachtete Graphic Novel MAUS – A Survivor’s Tale (1986) von Art Spiegelman. Wie bereits der Titel verrät, wird darin die Geschichte eines Überlebenden erzählt – in diesem Fall diejenige von Spiegelmans Vater Wladek, der in der Bilderzählung (als Maus dargestellt) seinem Sohn von seinem Überleben berichtet. Spiegelman kann sich also nicht nur auf seine direkte Abkunft von einem Zeitzeugen berufen, 422 Ausführlich zu Littells Roman und der Rolle der darin verarbeiteten historischen Fakten vgl. Iris Roebling-Grau: Les Bienveillantes – eine ›Holocaust‹-Fiktion? In: Dies./Rupnow (Hg.): ›Holocaust‹-Fiktion, S. 237–259.

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um sich zu autorisieren, sondern er authentifiziert das Dargestellte zusätzlich, indem er die Weitergabe der Erinnerungen innerhalb des Narrativs mitreflektiert. Trotz der Abstraktion in der bildlichen Darstellung, die unter anderem Juden als Mäuse und Deutsche als Katzen zeigt, erscheint MAUS somit als vergleichsweise direkte Weitergabe von Zeugenschaft: Die Legitimation qua unmittelbarem Erleben wird erweitert durch die Legitimation qua direkter Wiedergabe von Erlebtem durch die Nachfahren.423 Eine indirekte Autorisierung qua Herkunft ergibt sich aus der Zugehörigkeit zu der Gruppe, welche die einschlägigen Leiderfahrungen als Teil ihrer kollektiven Identität ansieht. Im Fall der Holocaust-Literatur handelt es sich hierbei naheliegenderweise um das Judentum.424 Auch bei Autor*innen, die sich auf diese indirekte Weise über ihre Herkunft autorisieren, kann es sich um Nachkommen direkt Betroffener handeln, sie agieren aber nicht als Sprachrohr für die Zeugnisse ihrer Eltern und Großeltern, sondern widmen sich dem Thema weitgehend unabhängig von der individuellen Familiengeschichte. Ihre Legitimation zur Bearbeitung des Stoffes ziehen sie demnach auch nicht aus ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie, sondern aus ihrer Zugehörigkeit zur kollektiven Identität der Juden. Prominente Beispiele für diese Form der Autorisierung sind etwa Jonathan Littell und Steven Spielberg, deren jüdische Herkunft in der Rezeption ihrer Werke häufig thematisiert wurde. Eine alternative Möglichkeit der Autorisierung besteht in der Autorisierung qua Profession. Hier wird eine gänzlich andere Legitimationsstrategie verfolgt, bei der es nicht mehr um die direkte oder indirekte Zugehörigkeit zu den Opfern des Nationalsozialismus geht. Im Zentrum der Argumentation stehen vielmehr ein bestimmter Berufsstand und die damit einhergehenden (vermeintlichen) Rechte und Fähigkeiten. In der Regel handelt es sich dabei um den Beruf des*der Schriftsteller*in, aber auch Journalist*innen und Historiker*innen berufen sich auf diese Autorisierung. Dahinter steht die Vorstellung, dass bestimmte Berufsgruppen im besonderen Maße dazu in der Lage sind, fremde Erfahrungen und historische Fakten zu recherchieren und literarisch im Sinne einer mimetischen Authentizität zu verarbeiten.425 Erlernte Fähigkeiten und Qualifikationen 423 Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Darstellung des Holocaust in MAUS und anderen Graphic Novels vgl. Ole Frahm: Gespaltene Spuren. Der Holocaust im Comic nach MAUS – A Survivor’s Tale. In: Roebling-Grau/Rupnow (Hg.): ›Holocaust‹-Fiktion, S. 199– 218. 424 Judentum wird hier in einem weiten, nicht ausschließlich religiösen Sinne verstanden. In diesem Zusammenhang ist – analog zum jüdischen Gesetz der Halacha – nicht das Bekenntnis zum religiösen Judentum der ausschlaggebende Punkt, sondern die Herkunft aus einer jüdischen Familie. 425 Eine solche Argumentation wurde bereits zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, als es um das Verhältnis von Thomas Mann und Lionel Shriver zum narrativen Eigentumsrecht von Individuen oder Gruppen ging. Auch in diesem Fall könnte man sagen, dass eine Autorisie-

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dienen hier ebenso als Bezugspunkt wie schriftstellerisches Sendungsbewusstsein. Entsprechend kann die Autorisierung im konkreten Fall recht unterschiedliche Formen annehmen: von der Bezugnahme auf das relativ diffuse Konzept einer ›dichterischen Freiheit‹ bis zum Verweis auf eine Journalistenausbildung oder ein Studium der Geschichtswissenschaft. Während es sich bei den hier beschriebenen Formen der Autorisierungen um in der Regel paratextuell vermittelte Inszenierungsstrategien handelt, findet die Authentifizierung von literarischen Verhandlungen der Schoah zunächst auf der Textebene statt. In den meisten Fällen handelt es sich hierbei um eine Authentifizierung durch Faktentreue. Anders als beim direkten Zeitzeugenbericht, dessen authentischer Status sich direkt aus der Autorisierung durch Zeugenschaft ergibt und in der Regel auch durch kleinere historische Ungenauigkeiten nicht erschüttert wird, knüpft sich an die literarischen Texte der Nachgeborenen eine gesteigerte Erwartung an die Korrektheit der dargestellten Fakten. Diese Erwartungshaltung mündet in dem eingangs von Ruth Klüger vorgestellten ›Authentizitätspakt‹,426 der auch als ein Gebot zur mimetischen Authentizität verstanden werden kann: das durch den Stoff vorgegebene implizite Versprechen, die historischen Tatsachen auch im fiktionalen Rahmen nicht zu verfremden oder zu modifizieren. In Bezug auf andere historische Stoffe wird weniger streng auf Faktentreue bestanden, wie Klüger am Beispiel der Verjüngung aufzeigt, die Schiller seinen Protagonistinnen Elisabeth I. und Maria Stuart im Drama zuteil werden lässt.427 Der thematische Rahmen der Schoah hingegen fordert von den Vertreter*innen der literarischen Produktion eine andere Art der Genauigkeit und dies bietet ihnen gleichsam auch die Möglichkeit, ihren Text durch das Herausstellen einer besonderen Faktentreue zu authentifizieren. Zu einem ähnlichen Schluss gelangt auch Axel Dunker, wenn er mit Blick auf die extensive Benennung von Quellen in zeitgenössischen Romanen zum Holocaust bemerkt: »Die akribische Recherche des Autors oder der Autorin tritt an die Stelle der von Wiesel noch erhobenen Forderung, nur der sei legitimiert über den Holocaust zu sprechen, der selbst davon betroffen gewesen sei.«428 Als weitere Möglichkeit der Authentifizierung lässt sich die Authentifizierung durch Selbstreflexion ausmachen. In diesem Fall bekennt sich die Autorinstanz rung qua Profession den Versuch darstellt, das narrative Eigentumsrecht einer fremden Gruppe durch berufliche Qualifikation zu erwerben. 426 Im Gegensatz zur Rede vom Fiktionspakt, dessen Gültigkeit im Kapitel 2.3 dieser Arbeit angezweifelt wird, scheint in Klügers Ausführungen die Pakt-Metapher passender, da deren Bruch tatsächlich Sanktionen nach sich zieht (wie sich am deutlichsten vielleicht in der Rezeption von Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke gezeigt hat, wie im Kapitel 2.3 dieser Arbeit erläutert wurde). 427 Vgl. Klüger: Fakten und Fiktionen, S. 73. 428 Dunker: Zwang zur Fiktion?, S. 224.

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zu ihrer eigenen Unzulänglichkeit, von Erlebnissen jenseits des eigenen Erfahrungshorizonts zu berichten, und problematisiert die Erzählperspektive auf die fremden Erinnerungen. Dunker spricht in diesem Zusammenhang von einer ›sekundären Authentizität‹, durch die sich das fiktionale Erzählen von der Schoah legitimiert: »Imagination braucht bei einem Gegenstand wie dem Holocaust und seinen Nachwirkungen den Verweis auf eine sekundäre Authentizität und eine Selbst-Reflexivität, die vor allem in der Literarizität selbst zu finden ist.«429 Die Inszenierung dieser sekundären Authentizität kann paratextuell im Rahmen von Vorworten und Interviews stattfinden, aber auch textuell, indem der Erzähler seine Unzuverlässigkeit thematisiert. Als dritte Form der Authentifizierung ließe sich die Authentifizierung durch Wirkung begreifen. Hierbei handelt es sich allerdings um eine eher schwache Authentifizierungsstrategie, die zudem nur begrenzt von der Produktionsseite gelenkt werden kann. Anders als die beiden zuvor vorgestellten Möglichkeiten ist diese nämlich nicht auf der Textebene, sondern auf Seiten der Rezeption angesiedelt. In diesem Fall authentifiziert sich der Text nicht selbst, sondern wird im Nachhinein von Rezipient*innen, die ihrerseits über eine gewisse Autorität verfügen, für authentisch befunden. Aleida Assmann bemerkt in diesem Zusammenhang: »Es gibt immer wieder Beispiele für fiktionale oder künstlerische Präsentationen solcher unerzählbaren Ereignisse, die die Betroffenen selbst als authentische Darstellungen ihrer eigenen Geschichte ratifizieren.«430 Als Beispiel nennt Assmann den ZDF-Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter (2013), der von fünf fiktiven jungen Menschen handelt, die unterschiedliche Schicksale während des Zweiten Weltkriegs durchleben. Obwohl dem Drehbuch von vielerlei Seiten ein verzerrendes Geschichtsbild vorgeworfen wurde, sei die filmische Darstellung von vielen Zeitzeugen im Nachhinein als authentisch empfunden worden, so Assmann: Diese nach allen Regeln des filmischen Mainstreams präparierte Fiktion beansprucht, ein ›wahrhaftiges‹ Bild von der Vergangenheit zu zeichnen: So ist es gewesen! […] Genauso wurde die ZDF-Fiktion von vielen Angehörigen der Erfahrungsgeneration authentifiziert. ›Genauso war es!‹, reagierte die Mutter des Produzenten Nico Hoffmann, die das Vorbild der Krankenschwester Charlotte abgab. ›So ist es gewesen!‹, versicherte auch Götz Aly, der Züge seiner Mutter in dieser Figur wiedererkannte. Und der Autor Dieter Wellershoff (geb. 1925) beteuerte, dass sich die Filmbilder fugenlos mit seinen eigenen Erinnerungsbildern als junger Soldat vermischt hätten.431

Eine ähnliche Wirkung attestiert Assmann auch der 1978 erschienenen USamerikanischen TV-Serie Holocaust, die nach ihrer Ausstrahlung eine große 429 Ebd., S. 227. 430 Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur, S. 41. 431 Ebd., S. 41f.

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Welle der Anteilnahme am Schicksal der jüdischen Bevölkerung im Nationalsozialismus nach sich zog und nach der Kulturwissenschaftlerin den Grundstein für die spätere ›Erinnerungskultur‹ in Deutschland legte.432 Für Ruth Klüger hingegen rechtfertigt die Wirkung dieser Fiktion nicht den aus ihrer Sicht unsachgemäßen Umgang mit den historischen Fakten. Stattdessen wertet sie die Holocaust-Serie als Kitsch, die auch durch eine lobenswerte Intention und eine positive Wirkung beim Publikum nicht authentifiziert werden kann: In den siebziger Jahren gab es eine sehr erfolgreiche, gutgemeinte Fernsehserie mit dem lapidaren Titel Holocaust. Es ging um zwei Familien, eine jüdische und eine arische, alles, was an historischem Material verwendbar war, wurde in einen Topf geworfen, alles war da, und nichts stimmte außer den gröbsten Fakten. Es war Kitsch. Von dieser Serie wurde behauptet, sie hätte das Bewußtsein vieler Menschen sowohl in Deutschland wie in Amerika für den Holocaust gestärkt oder überhaupt erst geweckt und dadurch Beachtliches geleistet. Unter solchen Umständen, so lautet das Argument zur Verteidigung der Serie, wird das ästhetische Urteil hinfällig, feinschmäcklerisch. Ist es nicht egal, wie wir einen solchen Film benoten, wenn er nur die gewünschte Wirkung hat? Egal ist es bestimmt nicht. Wenn ich um der Wahrheit willen lüge, so wird deshalb aus der Lüge keine Wahrheit; ebensowenig wie der gute Wille Eisen in Gold verwandelt, es sei denn, man glaubt an Alchemie.433

Eine auf Wirkung aufbauende Authentifizierungsstrategie hat somit nicht nur den Nachteil, dass sie von Produktionsseite schwer zu kontrollieren ist, sondern auch, dass sie stark vom individuellen Rezeptionsprozess abhängig ist. Stella – ›Großverriss‹ eines Romans Anfang 2019 erschien – begleitet von einer aufwendigen Marketingkampagne des Hanser-Verlags – der zweite Roman des Spiegel-Journalisten Takis Würger. Mit Stella habe sich der Autor vorgenommen, »[d]as Unerzählbare zu erzählen« – so hieß es in einem auf dem Umschlag der Erstausgabe abgedruckten Zitat von Daniel Kehlmann.434 Im Zentrum des Romans steht die historische Figur der Stella Goldschlag: Eine junge Frau aus jüdischer Familie, die im Berlin zur Zeit des NS-Regimes zunächst untertauchte und später verhaftet und gefoltert wurde. Um ihre Eltern vor der Deportation zu bewahren, willigte sie ein, für die Gestapo als ›Greiferin‹ zu arbeiten und versteckt lebende Jüdinnen und Juden aufzuspüren und teilweise selbst zu verhaften. Ihre Eltern wurden 1944 dennoch deportiert und ermordet, 432 Vgl. ebd., S. 54f. 433 Ruth Klüger: Von hoher und niedriger Literatur. In: Dies.: Gelesene Wirklichkeit, S. 29–67, hier S. 50. 434 Das Zitat findet sich auf der U4 der Erstausgabe. Vgl. Takis Würger: Stella. Roman. München 2019.

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während Stella Goldschlag ihre denunziatorische Tätigkeit bis zum Kriegsende fortsetzte und überlebte. 1946 wurde sie von einem sowjetischen Militärtribunal zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt.435 Die Romanhandlung von Stella ist im Jahr 1942 angesiedelt. Erzählt wird aus der Perspektive des fiktiven Protagonisten Friedrich, ein Schweizer aus wohlhabendem Hause, der nach Berlin gekommen ist, um Zeichenunterricht zu nehmen. In einem Aktzeichenkurs begegnet er Stella Goldschlag und es entspinnt sich eine Liebesgeschichte zwischen ihr und dem jungen Friedrich, die von Stellas Verhaftung überschattet wird. Als Stella nach ihrer Folterhaft wieder zu Friedrich zurückkehrt und ihm die Wahrheit über ihre jüdische Herkunft erzählt, versucht dieser vergeblich, sie aus ihrer Lage zu befreien. Die Kritiken der überregionalen Feuilletons waren zum größten Teil vernichtend: Fabian Wolff schreibt in der Süddeutschen Zeitung, der Roman von Takis Würger sei »ein Ärgernis, eine Beleidigung oder ein richtiges Vergehen – und das Symbol einer Branche, die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint, wenn sie ein solches Buch auch noch als wertvollen Beitrag zur Erinnerung an die Schoah verkaufen will«,436 Jan Wiele schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Roman ginge nicht einmal als Parodie durch und sei eine Blamage für den Verlag,437 und für Paul Jandl ist Stella laut seiner Rezension in der Neuen Zürcher Zeitung »die Schnulzen-Version eines Holocaust-Romans«, ein »Nazi-Kostümfilm«, in dem »so gut wie gar nichts echt« ist. Laut Jandl tauge der Roman »nicht einmal zum Debattengegenstand. Denn auch dafür ist er zu schlecht«.438 Was war hier geschehen? Ganz offensichtlich handelt es sich bei diesen und anderen scharfen Verrissen um die Sanktionierung eines (zumindest aus der Sicht vieler Rezensent*innen) inadäquaten Umgangs mit der Schoah als literarischem Stoff. Doch bevor hier näher auf die einzelnen Vorwürfe der Kritiker*innen eingegangen wird, lohnt es sich zunächst, einen Blick auf die Autorisierungs- und Authentifizierungsstrategien zu werfen, mit denen sich Autor 435 Zur historischen Person Stella Goldschlag vgl. ausführlich das Sachbuch ihres früheren Klassenkameraden Peter Wyden: Stella Goldschlag. Eine wahre Geschichte. Aus dem Amerikanischen von Ilse Strasmann. Göttingen 2019. 436 Fabian Wolff: Ein Ärgernis, eine Beleidigung, ein Vergehen. In: Süddeutsche Zeitung vom 11. 01. 2019, https://www.sueddeutsche.de/kultur/takis-wuerger-stella-goldschlag-rezensio n-buchkritik-1.4282968, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 437 Vgl. Jan Wiele: Relotius reloaded. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11. 01. 2019, http s://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/takis-wuergers-romanueber-stella-goldschlag-relotius-reloaded-15982206.html?utm_campaign=GEPC=s30&ut m_medium=social&utm_content=buffer7c671&utm_source=twitter.com, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 438 Paul Jandl: Takis Würger will sich mit einem Holocaust-Roman profilieren, bringt aber nur Kitsch hervor. In: Neue Zürcher Zeitung vom 20. 01. 2019, https://www.nzz.ch/feuilleton/taki s-wuerger-ein-kitschroman-zum-holocaust-ld.1452707, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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und Text die Legitimation sichern wollten, die ihnen von großen Teilen der Literaturkritik vehement abgesprochen wird. Dem Romantext ist eine Widmung des Autors an seinen Urgroßvater vorangestellt, »der 1941 während der Aktion T4 vergast wurde«.439 Würger weist sich also dem Leser gegenüber als Nachfahre eines Opfers des Nationalsozialismus aus. Dies deutet auf eine Autorisierung qua Herkunft hin. Eine ähnliche Strategie scheint auch Johannes Franzen auszumachen, wenn er in einem Beitrag für den Merkur schreibt: Ob der Autor, der den Roman seinem vom [sic!] den Nationalsozialisten ermordeten Urgroßvater gewidmet hat, am narrativen Eigentum dieser Geschichte partizipiert, erscheint vor dem Hintergrund der Debatte um Autorisierung und Betroffenheit eine Frage, die auch für die Bewertung des Romans eine Rolle spielt.440

Mit Blick auf die Romanhandlung scheint jedoch die Möglichkeit einer Autorisierung qua Herkunft eine eher untergeordnete Rolle zu spielen: Das Geschehen im Roman betrifft fast ausschließlich die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung – die von den Nationalsozialisten als ›Aktion T4‹ geführte Ermordung von Menschen mit körperlicher, seelischer oder geistiger Behinderung wird nicht thematisiert. Es handelt sich also nicht um eine direkte Autorisierung qua Herkunft, da Würger an keiner Stelle die Geschichte seines Urgroßvaters erzählt. Aber auch in seiner indirekten Form wäre für eine Autorisierung qua Herkunft nur schwer zu argumentieren, da Würger als nichtjüdische Person ohne Behinderung kaum einer kollektiven Identität zugerechnet werden kann, die die im Roman geschilderten Ereignisse als Teil ihres narrativen Eigentums begreifen könnte. Über das Motto im Peritext hinaus wird diese Form der Autorisierung vom Autor auch nicht weiterverfolgt. In Interviews beruft sich Würger nicht auf seinen Urgroßvater, sondern vielmehr auf seinen Rechercheaufwand und seinen Austausch mit Zeitzeugen: Ich habe mich zweieinhalb Jahre mit der historischen Stella Goldschlag und ihrer Geschichte beschäftigt. Ich war letztes Jahr zweimal in der Gedenkstätte in Auschwitz und auch in Yad Vashem in Israel und habe dort recherchiert. Ich war zweieinhalb Monate lang in Tel Aviv und habe mich fast jeden Tag mit Noah Klieger getroffen. Noah hat Mengele und das Vernichtungslager Auschwitz überlebt. Wir haben auch darüber gesprochen, ob ein 33-jähriger Deutscher ohne jüdischen Familienhintergrund ein Buch

439 Würger: Stella, S. 7. 440 Johannes Franzen: Der Maßstab der Wirklichkeit. Zur Kontroverse um Takis Würgers Roman Stella. In: Merkur-Blog vom 15. 01. 2019, https://www.merkur-zeitschrift.de/2019/0 1/15/der-massstab-der-wirklichkeit-zur-kontroverse-um-takis-wuergers-roman-stella/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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über die Shoah schreiben darf. Noah hat gesagt: Warum denn nicht? Es kommt ja nicht darauf an, wie du deinen Gott nennst, sondern was für ein Buch du schreibst.441

Der gelernte Journalist Takis Würger beruft sich hier auf eine Kernkompetenz seiner Profession, indem er auf seine ausgiebige Recherche zum Thema verweist. Teil dieser Recherche ist dabei der Austausch mit dem Zeitzeugen Noah Klieger. In seiner Interviewaussage betont Würger indirekt sein persönliches Verhältnis zu Klieger, indem er ihn beim Vornamen nennt, und verweist auf dessen Ansicht, dass die Herkunft des Autors keine Rolle für die Legitimation spiele, eine solche Geschichte zu schreiben, sondern dass es vielmehr auf die Erzählung selbst ankomme. Statt sich also selbst zu autorisieren, besteht Würgers Strategie darin, sich auf eine autorisierte Person zu berufen (und um eine solche handelt es sich bei einem Zeitzeugen fraglos), die ihrerseits den Autor von einer weiteren Autorisierung entbindet. Von den spezifischen Authentizitätserwartungen an einen Roman über die Schoah wird Würger durch die von ihm zitierte Aussage Noah Kliegers jedoch keineswegs freigesprochen – diese werden durch die Betonung, es komme darauf an, »was für ein Buch du schreibst«, eher noch unterstrichen. Insofern gilt es jetzt, die textuellen und paratextuellen Authentifizierungsstrategien von Stella zu beleuchten. Noch vor der Widmung an den Urgroßvater wird dem Romantext ein starkes Authentizitätssignal vorangestellt. Der Roman wird mit den folgenden drei Sätzen eingeleitet: »Teile dieser Geschichte sind wahr. Bei den kursiv gedruckten Textstellen handelt es sich um Auszüge aus den Feststellungen eines sowjetischen Militärtribunals. Die Gerichtsakten liegen heute im Landesarchiv Berlin.«442 Beim ersten Satz handelt es sich um eine häufig anzutreffende Form der Authentizitätsbehauptung, bei der offen gelassen wird, welche Teile der Geschichte den Anspruch auf historische Faktizität erheben und welche sich dem Bereich der Fiktion zuordnen lassen. Die Bemerkung legt nahe, dass sich der folgende Text sowohl auf die Lizenzen fiktionaler Freiheiten beruft als auch den Anspruch größtmöglicher Wirklichkeitsnähe verfolgt. Der zweite Satz untermauert die Authentizitätsbehauptung, indem er auf den faktualen Charakter einzelner Textelemente hinweist. Da es sich bei diesen Textelementen um Auszüge aus Gerichtsakten, also historischen Zeugnissen handelt, wird damit gleichsam der Wirklichkeitsbezug des gesamten Romantexts herausgestellt. Der dritte Satz gibt

441 Takis Würger im Gespräch mit Gerrit Bartels: »Der Vorwurf der Leichtfertigkeit trifft mich«. In: Der Tagesspiegel vom 20. 01. 2019, https://www.tagesspiegel.de/kultur/takis-wuerger-u nd-stella-der-vorwurf-der-leichtfertigkeit-trifft-mich/23886660.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 442 Würger: Stella, S. 5.

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zudem noch den Ort an, an dem diese Dokumente öffentlich einsehbar und somit als authentische Quelle verifizierbar sind. Die Auszüge aus den Gerichtsakten sind jeweils nur wenige Zeilen lang und werden den Kapiteln des Romans vorangestellt. Sie dokumentieren einzelne Fälle, in denen der historischen Stella Goldschlag vonseiten der sowjetischen Besatzungsmacht denunziatorisches Verhalten und Kollaboration mit der Gestapo vorgeworfen wurde. An diesen Textstellen entzündete sich wenige Tage nach der Veröffentlichung des Romans ein juristischer Streit. Der Anwalt der Erbin Goldschlags forderte die Schwärzung der betreffenden Textstellen, da diese ihre postmortalen Persönlichkeitsrechte verletzen würden. Bei der zitierten Quelle handle es sich überdies um Polizeiakten aufgrund derer eine stalinistische Aburteilung erfolgt sei, ohne dass ein einziger der aufgeführten Zeugen gehört worden wäre.443 Aber auch unabhängig von dieser juristischen Auseinandersetzung zog die Einflechtung der Dokumente in den Romanzusammenhang Kritik auf sich. Paul Jandl sieht darin weniger die Persönlichkeitsrechte Goldschlags als vielmehr die ihrer Opfer bedroht, wenn er schreibt: »Es sind Biografien von echten Opfern, die sich ja nicht mehr dagegen wehren können, in das verlogene Spiel des Romans hineingezogen zu werden.«444 Und auch Lothar Müller sieht das Nebeneinander von authentischen Aktenauszügen und konstruierter Romanhandlung kritisch: Ein Schwarm von Deportierten, Ermordeten und Entkommenen steht als stummer Chor im Hintergrund des Liebesromans. Er wird in die Romanmaschinerie eingespeist und verbraucht, ohne dass die Maschinerie der Liebeshandlung je ins Stocken geraten oder es dem Erzähler je die Sprache verschlagen würde. Die Maschinerie läuft wie geschmiert, die Sprache des Liebesromans bleibt von der Sprache der Akten unberührt. […] Diese Freiheit ist die Freiheit zum Ausschlachten des Archivs zur Erzeugung von Ornamenten der Authentizität.445

Für die Kritiker ist die Strategie einer Authentifizierung durch Faktentreue im Fall von Stella somit gescheitert. Sie sehen nicht den Romaninhalt durch die eingestreuten faktualen Textelemente authentifiziert, sondern vielmehr das Archivmaterial durch die Einbindung in den Romankontext entwertet. Problematisiert wird dabei zum einen, dass die Strategie durchschaubar ist: Es gilt als zu 443 Vgl. Daniel Alexander Schacht: Persönlichkeitsrechte verletzt? Schritte gegen »Stella« von Takis Würger. In: Hannoversche Allgemeine vom 05. 02. 2019, http://www.haz.de/Nachrich ten/Kultur/Uebersicht/Persoenlichkeitsrechte-verletzt-Schritte-gegen-Stella-von-Takis-Wu erger, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 444 Jandl: Takis Würger will sich mit einem Holocaust-Roman profilieren, bringt aber nur Kitsch hervor. 445 Lothar Müller: Ein Autor muss sich den Geistern stellen, die er ruft. In: Süddeutsche Zeitung vom 19. 01. 2019, https://www.sueddeutsche.de/kultur/takis-wuerger-stella-kritik-nationals ozialismus-1.4293583, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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offensichtlich, dass die Auszüge aus den Gerichtsakten dem einzigen Zweck dienen, dem Rest des Textes die Aura des Authentischen zu verleihen. Zum anderen wird die Gegenüberstellung von authentischem Archivmaterial und ›inauthentischem‹ – weil hochgradig konstruiertem und schablonenhaft entworfenem – Romaninhalt als moralisch fragwürdig bewertet. Es sind also zwei wesentliche Punkte, weshalb sich Stella aus der Sicht vieler Kritiker*innen als Roman über den Holocaust delegitimiert: Zum einen seien die Verfahren der Literarisierung wie auch der Authentifizierung zu offensichtlich, zum anderen sei die Qualität der literarischen Umsetzung der Ernsthaftigkeit des Stoffes nicht angemessen. Aus diesen beiden Kritikpunkten ergibt sich ein Vorwurf an den Roman, der sowohl eine ästhetische als auch eine ethische Dimension aufweist. Der erste Punkt betrifft nicht nur, wie oben angedeutet, die Durchschaubarkeit der Authentifizierungsstrategie, sondern auch die Durchschaubarkeit der literarischen Mittel, mit denen der historische Stoff bearbeitet wird. Laut dem Literaturkritiker und Literaturwissenschaftler Jan Süselbeck folgt der Romantext von Stella in weiten Teilen »dem Creative-Writing-Konzept Show, don’t tell: Stelle knappe Dialoge in den Vordergrund. Setze auf Handlung, Action und Schockeffekte. Erzeuge eine wohldosierte Mischung von Erotik und Gewalt.«446 Süselbeck hebt also auf den handwerklichen Aspekt von Würgers literarischer Produktion ab und bezweifelt, dass die genutzten literarischen Techniken für die Bewältigung des heiklen Stoffes angemessen sind: Es kommt schnell der Verdacht auf, dass dem Autor überhaupt nicht bewusst war, wie heikel sein Thema angeblicher jüdischer Schuld im Holocaust tatsächlich ist. Solchen Fragen sollte man zumindest nicht mit stilistischen Fingerübungen beizukommen versuchen, wie man sie in der Journalistenschule lernt.447

In der Anspielung auf Creative-Writing-Kurs und Journalistenschule (die Würger tatsächlich besuchte) steckt der Vorwurf, der Autor würde hier schablonenhaft Standardtechniken des Storytellings verwenden, deren basale Grundstruktur in einem kritikwürdigen Gegensatz zum Anspruch seines Stoffes steht. Tatsächlich bedient sich der Roman häufig erzählerischer Mittel, die die Literarizität des Textes und damit auch seine ›Gemachtheit‹ ausstellen. Ein Beispiel hierfür ist die mit starker Symbolik aufgeladene Einführung des Romanpersonals. Bei der ersten Begegnung des Erzählers mit dem jungen, kultivierten Tristan von Appen – von dem sich später herausstellt, dass er Offizier bei der SS ist – gibt dieser seinem Windhund rohes Fleisch zu essen. Wenig später bemerkt der Er446 Jan Süselbeck: Schuldig, jeder auf seine Art. In: Die Zeit vom 12. 01. 2019, https://www.zeit.de /kultur/literatur/2019-01/takis-wuerger-stella-roman-kritik, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 447 Ebd.

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zähler: »Unter dem Nagel seines linken Mittelfingers klebte Blut.«448 Vom Erzähler selbst wird in den ersten Kapiteln berichtet, wie ihm als Kind ein fremder Mann die Wange mit einem Ambosshorn aufschneidet, weshalb er seit diesem Geschehnis farbenblind ist,449 und wie er einem Ziegenbock das Leben rettet, indem er ihn auf seinen Schultern tragend vor einem Gewitter in Sicherheit bringt.450 Der Erzähler wird als hilfsbereit und aufopferungsvoll eingeführt und gleichzeitig als jemand, der Dinge nur mühsam richtig einschätzen kann und vieles nicht sieht, was für andere offensichtlich ist – eine Charakterisierung, auf die auch später im Roman immer wieder zurückgegriffen wird.451 Der Freund und spätere Gegenspieler des Erzählers, Tristan von Appen, wird als SS-Mann mit Blut an den Händen vorgestellt – eine Einführung mit überdeutlicher Symbolik. Textelemente wie diese markieren eine literarische Konstruktion mit finaler Motivierung, die im Fall von Stella das Potential hat, die behauptete mimetische Authentizität zu unterlaufen. Die Künstlichkeit des fiktiven Personals lässt auch jene Figuren artifiziell erscheinen, die auf historische Vorbilder aufgebaut sind. Für Lothar Müller wirkt daher die Figur des ehemaligen Boxers Noah, die, wie unschwer zu erkennen ist, auf den Zeitzeugen Noah Klieger verweist, ebenso unglaubwürdig wie die fiktive Erzählerfigur: »Nur lose haftet der Name des Zeitzeugen Noah K. an dem Berliner Meister im Weltergewicht des Romans. Er unterliegt als Staffagefigur dem gleichen Gesetz wie die Titelfigur. Er soll die Geschichte, die erzählt wird, mit der Aura des Dokumentarischen, Authentischen umgeben.«452 Statt einer literarischen Konstruktion im Dienste der historischen Wirklichkeit attestieren die Kritiker*innen des Romans Stella den Missbrauch historischer Fakten im Dienste der literarischen Konstruktion. Dass es sich bei dieser Konstruktion zusätzlich noch um eine mit geringer literarischer Qualität handle, ist Gegenstand des zweiten zentralen Kritikpunkts an Stella. Häufig mündete diese Kritik im Vorwurf, es handle sich bei dem Roman um Kitsch, genauer gesagt um ›Holocaust-Kitsch‹. Teil der spezifischen Erwartungen, die sich auf eine literarische Verarbeitung der Schoah richten, ist nämlich nicht nur ein besonderes Maß an Faktentreue, sondern auch eine gewisse literarische Qualität, die sich vom Zweck der reinen Unterhaltung abhebt, wie auch Franzen mit Bezug auf die Debatte um Stella feststellt: 448 449 450 451

Würger: Stella, S. 56. Vgl. ebd., S. 13f. Vgl. ebd., S. 23f. Der Erzähler charakterisiert sich immer wieder selbst als verständnis- und ahnungslos, so auch am Ende des Romangeschehens: »Ich verstand nicht, was in Deutschland geschah, warum Bomben fielen, warum Juden gehasst werden mussten und wie ich hineingeraten war in diesen Krieg.« Ebd., S. 194. 452 Müller: Ein Autor muss sich den Geistern stellen, die er ruft.

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Politisch und ethische [sic!] bedeutsame Ereignisse erfordern nicht nur eine strengere Realitätsnähe, sondern offenbar auch eine bestimmte Qualität der Prosa. Konkret verbieten sich demnach alle Formen, die den Roman zu stark an die Konventionen der Unterhaltungsliteratur annähern.453

Im Fall von Stella erregte unter anderem der Erzählstil Anstoß, der zu sehr an Unterhaltungsformate erinnere. So beschwerte sich Süselbeck über einen »verknappten Kinderbuchton«454 und Wolff monierte den »plätschernde[n] Tonfall […], der sich wie das Voice-Over eines Nazidramas mit Veronica Ferres liest«.455 Offensichtlich geht es bei dieser stilistischen Kritik nicht nur darum, den Roman an literaturkritischen Maßstäben zu messen, die sich für Spitzentitel aus für anspruchsvolle Literatur bekannten Verlagen eingebürgert haben, sondern auch um eine besondere Form der literarischen Qualitätssicherung, die sich aus der Brisanz des historischen Stoffs ergibt. Zentral ist hierbei der Kitsch-Begriff, welcher mehr beinhaltet als den reinen Befund mangelnden Anspruchs oder niedrigen Stils.456 Süselbeck verweist in seinem Kitsch-Vorwurf an Stella auf Ruth Klügers Position zum Thema ›KZ-Kitsch‹, die er aber stark verkürzt und verzerrt wiedergibt, wenn er schreibt: Die literarische Aneignung und Verwertung des Leids der Verfolgten durch nicht jüdische Autoren hält die Auschwitz-Überlebende, Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger etwa schlicht für Kitsch. Diese Art Literatur ziele zuallererst auf einen unmittelbaren Lustgewinn, der die Vermittlung der historischen Wahrheit verfehle.457

Tatsächlich spricht sich Klüger in ihrem Aufsatz Von hoher und niedriger Literatur nicht grundsätzlich gegen eine fiktionalisierende Bearbeitung der SchoahThematik von nicht-jüdischen Autor*innen aus.458 Vielmehr unterscheidet sie zwischen »zwei Arten des Ästhetisierens: Die eine ist Wahrheitssuche durch Phantasie und Einfühlung, also Interpretation des Geschehens, die zum Nachdenken reizt, die andere, die Verkitschung, ist eine problemvermeidende An-

453 454 455 456

Franzen: Der Maßstab der Wirklichkeit. Süselbeck: Schuldig, jeder auf seine Art. Wolff: Ein Ärgernis, eine Beleidigung, ein Vergehen. Dies gilt zumindest, wenn der verwendete Kitsch-Begriff kulturtheoretisch entsprechend aufgeladen wird. So schreibt etwa Hermann Broch: »Der Kitsch ist nicht etwa ›schlechte Kunst‹, er bildet ein eigenes, und zwar geschlossenes System, das wie ein Fremdkörper im Gesamtsystem der Kunst sitzt oder, wenn Sie wollen, neben ihm sich befindet […].« Hermann Broch: Bemerkungen zum Problem des Kitsches. Ein Vortrag. In: Ute Dettmar/ Thomas Küpper (Hg.): Kitsch. Texte und Theorien. Stuttgart 2007, S. 214–226, hier S. 222. 457 Süselbeck: Schuldig, jeder auf seine Art. 458 Ein solches Fiktionsverbot wird von ihr sogar stark kritisiert und mit einem »alttestamentarischen Bilderverbot« verglichen. Vgl. Klüger: Von hoher und niedriger Literatur, S. 65f.

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biederung an die vermeintliche Beschränktheit des Publikums«.459 Dem Kitsch liegt demnach ein kalkulierter Rezeptionsprozess zugrunde, dem sich die Bearbeitung des Themas unterwirft. Ziel ist – und in diesem Aspekt ist Süselbecks Formulierung zuzustimmen – die Erzeugung von unmittelbarem Lustgewinn um den Preis der Wahrheit. Mit dem Kitsch-Vorwurf ist also ganz klar nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein ethisches Urteil verbunden. Wenn Klüger, in Anlehnung an Hermann Broch,460 behauptet: »Der Kitsch ist die Lüge, die Kunst ist die Wahrheit«,461 so ist das von ihr zunächst nur als Analogie und nicht als Gleichsetzung gedacht: Es bedeutet nicht, daß man ein sentimentales Gedicht wie eine böse Tat verurteilen soll (und womöglich seinen Verfasser als Übeltäter!), sondern daß das Gedicht einem ästhetischen Urteil unterliegt, das sich mit dem moralischen vergleichen läßt, ohne damit zusammenzufallen. Das tertium comparationis liegt allerdings im Bereich der menschlichen Befindlichkeiten, die Ethik und Ästhetik teilen.462

Etwas als ›Kitsch‹ zu bezeichnen, ist für Klüger also nicht in erster Linie ein moralisches Urteil, aber dennoch ein Urteil anhand eines Maßstabs, in dem ethisches und ästhetisches Empfinden miteinander verbunden sind. Ähnliches gilt für den literaturkritischen Maßstab der Authentizität, der sich – wie in den Eingangskapiteln dieser Arbeit ausführlich dargelegt – ebenfalls in einem ethisch-ästhetischen Grenzbereich bewegt. Und nirgends tritt dieser hybride Charakter deutlicher zutage als im Bereich der Holocaust-Literatur. »Der Großverriss von Stella«, so Johannes Franzen, »ist […] vor allem ein Anzeichen für die gesteigerte Bedeutung literarischer Maßstäbe, die Ethik und Ästhetik miteinander verbinden«.463 Unabhängig davon, wie man Würgers Roman bewertet – ob als moralisches Vergehen, als harmlosen Kitsch oder als legitime Fiktionalisierung mit Unterhaltungscharakter – wird anhand der Debatte um Stella deutlich, dass der Wert der Authentizität, wenn es um die literarische Bearbeitung der Schoah geht, weit mehr ist als eine ästhetische Mode, sondern vielmehr eine literarische Norm mit eindeutigen ethischen Implikationen.

459 460 461 462 463

Ebd., S. 61. Vgl. Broch: Bemerkungen zum Problem des Kitsches, S. 214. Klüger: Von hoher und niedriger Kunst, S. 46. Ebd., S. 46f. Franzen: Der Maßstab der Wirklichkeit.

Authentizität und Jugend

3.2

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Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2012 erschien in der Literaturbeilage der Zeit unter dem Titel Die Achtziger sind da eine groß angelegte Besprechung von insgesamt zehn neu erschienenen Romanen von Autor*innen, die zwischen 1979 und 1990 geboren wurden. Der auf der Titelseite der Wochenzeitung groß angekündigte Artikel verfolgte über die textsortenspezifische Funktion einer Sammelrezension hinaus den Anspruch, ein »Porträt der Autorengeneration um die dreißig« zu liefern.464 Nachdem er jeweils kurz auf die einzelnen Romane eingegangen ist, kommt Thomas E. Schmidt, der Autor des Artikels, zu einem Resümee über die Besonderheiten der jungen Autor*innengeneration: Was ins Auge fällt: Keiner dieser Autoren ringt mit dem Anfang in der Literatur, will sagen, keiner presst hier einen mit Herzblut geschriebenen, ganz nah am eigenen Ich gelagerten Erstling hervor, mit vollem Risiko, womöglich auf charmante Weise allzu ehrlich oder am Rande der Peinlichkeit. […] Die Zwanzig- und Dreißigjährigen kommen reif auf die literarische Welt. Möglicherweise auch aus diesem Grund hält man nach Autobiografischem ebenso vergeblich Ausschau wie nach Bekenntnissen. In dieser Saison fällt der Sturm und Drang aus.465

Bemerkenswert ist hier weniger der Befund selbst, der zehn sehr unterschiedliche Romane auswertet und auf eine gesamte Generation von Schriftsteller*innen verallgemeinert, sondern vor allem die Implikationen, die dieser Befund enthält. Mit einem deutlich erkennbaren Grad an Verwunderung stellt Schmidt eine Abweichung von seinen Vorerwartungen fest – ohne dass er diese zuvor als solche explizit gemacht hätte. Ex negativo wird die Erwartungshaltung jedoch sehr klar formuliert: Junge Autor*innen, so der Umkehrschluss von Schmidts Befund, zeichnen sich für gewöhnlich durch eine Schreibweise aus, die »mit Herzblut« und »nah am eigenen Ich« arbeitet, einen Hang zu Autobiographischem und Bekenntnishaftem aufweist und sich darüber hinaus »mit vollem Risiko« der Gefahr aussetzt, »allzu ehrlich oder am Rande der Peinlichkeit« zu enden. Indirekt formuliert Schmidt hier sehr konkrete Authentizitätserwartungen, die er an eine Gruppe von Autor*innen aufgrund ihres verhältnismäßig jungen Alters richtet (auch wenn er sich nicht enttäuscht davon zeigt, dass diese Erwartungen im konkret vorliegenden Fall nicht erfüllt werden). Zu diesen Erwartungen gehört offenbar, dass das Schreiben junger Menschen sich durch einen emphatischen Stil und eine biographisch gefärbte Handlung auszeichnet. Gleichzeitig wird hier nahegelegt, dass die Qualitäten, die klassischerweise der Jugend zugeschrieben werden – also Emphase, Unmittelbarkeit, Ehrlichkeit und 464 Thomas E. Schmidt: Die Achtziger sind da. In: Die Zeit vom 04. 10. 2012, https://www.zeit.de /2012/41/Deutsche-Literatur-Autorengeneration, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 465 Ebd.

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Risikobereitschaft – in Verbindung mit den fehlenden handwerklichen Fähigkeiten zu einem wenig kunstvollen Ergebnis führen können. Am Ende der hier zitierten Passage greift Schmidt den literaturhistorischen Epochenbegriff des Sturm und Drang auf und hält ihn gleichermaßen als Gegenentwurf neben das von ihm gezeichnete Bild der Autor*innengeneration der 1980er Jahrgänge. Dass sich Schmidt hier ausgerechnet auf den Sturm und Drang bezieht, ist natürlich alles andere als ein Zufall, schließlich können die Autoren, die dieser literarischen Strömung zwischen 1765 und 1785 zugrechnet werden, fraglos als Prototypen jugendlicher Autorschaft bezeichnet werden – und das nicht nur aufgrund des geringen Durchschnittsalters der beteiligten Schriftsteller, wie auch Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser betonen: Im Jahr 1773 betrug das Durchschnittsalter der maßgeblich am Sturm und Drang beteiligten Autoren – also Goethe, Herder, Klinger, Lenz, Müller und Wagner – 24 Jahre, weshalb es sich ja auch um die Leiden des ›jungen‹ Werthers handelt. Hinzu kommt das, was man – ein wenig vage vielleicht – als die ›Lebenshaltung‹ solcher Generationen bezeichnen könnte: das massive Unbehagen an den gesellschaftlichen Verhältnissen, das Aufbegehren gegen väterliche Autoritäten und gegen ein in gesellschaftlichen Konventionen und Routinen erstarrtes, ›spießbürgerliches‹ Leben […].466

Das jugendliche Aufbegehren, von dem Jürgensen und Kaiser hier sprechen, richtet sich nicht nur gegen die bürgerlichen Gewohnheiten der Elterngeneration, sondern im Fall der Stürmer und Dränger auch und ganz explizit gegen eine als starr empfundene Form der Regelpoetik, die sich in höfischer Tradition an Vorbildern aus dem französischen Kulturraum orientiert. Deutlich wird dies in einem der zentralen programmatischen Texte der Epoche: Goethes Rede Zum Shakespears Tag, die er 1771 in seinem Elternhaus in Frankfurt am Main vortrug. Der damals 22-Jährige preist darin Shakespeare als Vorbild für die Überwindung der aristotelischen Tradition des Theaters, das auf der Einheit von Zeit, Ort und Handlung beruht: »Ich zweifelte keinen Augenblick dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft«.467 Ebenso grenzt Goethe Shakespeares und damit sein eigenes Kunstverständnis gegenüber französischen Einflüssen ab: »Drum sind auch alle französischen Trauerspiele Parodien von sich selbst. Wie das so re-

466 Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser: »I hope I die before I get old« – Überlegungen zur Inszenierung von Autorschaft beim jungen Goethe und in Philipp Stölzls Film »Goethe!«. In: Goethe-Jahrbuch 129 (2012), S. 152–163, hier S. 155. 467 Johann Wolfgang Goethe: Zum Shakespears Tag. In: Ders.: Sämtliche Werke in 40 Bänden. I. Abteilung, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771–1805, hg. von Friedmar Apel. Frankfurt am Main 1998, S. 9–12, hier S. 10.

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gelmäßig zugeht, und dass sie einander ähnlich sind wie Schuhe, und auch langweilig mitunter […].«468 Der regelgeleiteten Ästhetik der Aufklärung setzen die Autoren des Sturm und Drang ihre eigene Genieästhetik entgegen, die mit Goethes Rede ihren programmatischen Ausdruck gefunden hat. »Goethe geht es darum«, so Jürgensen und Kaiser, »den künstlerischen Produktionsprozess […] zum gottgleichen Schöpfungsakt eines genialen Individuums zu stilisieren«.469 Dieser Produktionsprozess ist gekennzeichnet von Unmittelbarkeit, Originalität und Spontanität470 und weist somit Qualitäten auf, die nach heutiger Auffassung als authentizitätsbildend gelten können. Auch das Schreiben ›ganz nah am Ich‹ galt bereits für die 1770er Jahre als Kennzeichen jugendlicher Autorschaft. So bemerkt Günter Oesterle: »Der traditionsgeleitete poeta doctus wird abgelöst vom jugendlich-stürmischen Genie, das sich selbst seine Regeln gibt. Zudem machen die jüngeren Autoren und Autorinnen ihre Jugend immer häufiger und entschiedener zum Thema ihres Schreibens.«471 Dass das eigene Erleben zur Quelle poetischen Schaffens wird, schlägt sich besonders deutlich in der im Sturm und Drang beliebten Gattung der Erlebnislyrik nieder, zu deren charakteristischen Merkmalen »die Inszenierung der Identität von Leben und Literatur« gehört.472 Es ist also wenig verwunderlich, dass Thomas E. Schmidt in seinem Generationenporträt die Vertreter des Sturm und Drang bemüht, um seinen vorgeprägten Erwartungen an junge Literatur Ausdruck zu verleihen – scheint diese Dichtergeneration doch auch 250 Jahre später noch stilbildend in wesentlichen Punkten der Autorinszenierung zu sein. Dennoch ist es wohl zu weit gegriffen, wenn man wie Jürgensen und Kaiser behauptet, dass »sich die Leitidee ›Authentizität‹ vom popliterarischen Sturm und Drang in die heutige Popkultur hinübergerettet hat«.473 Wie im terminologischen Teil dieser Arbeit bereits ausgeführt wurde, lässt sich der moderne Authentizitätsbegriff nicht ohne Weiteres mit semantisch verwandten Schlüsselbegriffen früherer Epochen synonym setzen.474 In noch höherem Maße anachronistisch ist daher die Annahme, die Moderne habe das Konzept der Authentizität aus dem 18. Jahrhundert schlicht übernommen, wie es Jürgensen und Kaiser hier nahelegen.

468 469 470 471

Ebd., S. 10f. Jürgensen/Kaiser: I hope I die before I get old, S. 156. Vgl. ebd., S. 161. Günter Oesterle: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Jugend – ein romantisches Konzept? Würzburg 1997, S. 9–30, hier S. 12. 472 Jürgensen/Kaiser: I hope I die before I get old, S. 161. Zur Erlebnislyrik vgl. ausführlich: Michael Feldt: Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus zwischen 1600 und 1900. Heidelberg 1990. 473 Jürgensen/Kaiser: I hope I die before I get old, S. 163. 474 Siehe Kapitel 1.1 sowie 2.

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Dennoch ist nicht zu übersehen, dass protoauthentische Qualitäten in der Genieästhetik des Sturm und Drang eine zentrale Rolle spielen und entsprechende Praktiken der schriftstellerischen Selbstinszenierung aus dieser Epoche bis heute stilbildend für die Wahrnehmung von jugendlicher Autorschaft sind. So ist auch in der Gegenwartsliteratur die Vorstellung virulent, dass jüngere Autor*innen einen direkteren Zugang zu den Quellen künstlerischen Schaffens haben. Der individuelle literarische Produktionsprozess wird nun durch die spezifische Authentizität des Subjekts aufgewertet, die den Schreibenden aufgrund ihres Alters in erhöhtem Maße zugeschrieben wird. Die Literaturwissenschaftlerin Veronika Schuchter ist sogar überzeugt: »Authentizität […] ist überhaupt das entscheidende Wertungskriterium, das an die Texte von jugendlichen AutorInnen angelegt wird.«475 Der Grund für diese erhöhte Authentizitätserwartung liegt zum einen in der Wiederbelebung des Geniegedankens, zum anderen in der Annahme, jüngere Autor*innen müssten als Quelle ihrer literarischen Produktion auf ihr eigenes Erleben zurückgreifen. Auf dem jugendlichen Autor, so Schuchter weiter, lastet die Bürde, die Stimme seiner Generation zu sein, sein Alter erhebt ihn einerseits zum Genie, gleichzeitig erzwingt die damit einhergehende kurze und daher eingeschränkte Lebenserfahrung praktisch das Prädikat des Authentischen. Was ein so junger Autor schreibt, muss ja aus seiner eigenen Lebenswelt stammen, so der Tenor der Literaturkritik.476

Gleichzeitig existieren auf Rezeptionsseite auch Ressentiments gegenüber jüngeren Autor*innen und ihrem von Unmittelbarkeit, Originalität und Spontanität geprägten Produktionsprozess – gerät dieser doch schnell in Verdacht, in gleichem Maße von mangelndem handwerklichen Können und unzureichendem Abstraktionsniveau geprägt zu sein. Im Folgenden werden die spezifischen Authentizitätserwartungen jungen Autor*innen gegenüber anhand von zwei unterschiedlich gelagerten Beispielen näher beleuchtet. Zum einen wird die teils widersprüchliche Rezeption der Debütromane von Benjamin Lebert und Helene Hegemann untersucht, die beide vom Feuilleton als literarische Wunderkinder ausgerufen wurden, sich aber auch besonders harscher Kritik ausgesetzt sehen mussten. Zum anderen wird ein Blick auf das im deutschsprachigen Raum relativ junge Phänomen der akademischen Schreibschulen geworfen, die als Ausbildungsstätten für junge Schriftsteller*innen Fragen aufwerfen, die die Erlernbarkeit literarischen Schreibens, aber 475 Veronika Schuchter: »Das ist wahrscheinlich nicht von mir, deswegen kann ich mich nicht daran erinnern.« Helene Hegemann: Establishment gegen Literatur 2.0. In: Andrea Bartl/ Martin Kraus (Hg.): Skandalautoren. Zu repräsentativen Mustern literarischer Provokation und Aufsehen erregender Autorinszenierung, Bd. 2. Würzburg 2014, S. 431–444, hier S. 433. 476 Ebd.

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auch die Notwendigkeit des Erlebens für den literarischen Produktionsprozess betreffen.

3.2.1 Literarische Wunderkinder: Benjamin Leberts Crazy (1999) und Helene Hegemanns Axolotl Roadkill (2010) Die Rezeptionsgeschichte der im zeitlichen Abstand von elf Jahren veröffentlichten Debütromane von Benjamin Lebert und Helene Hegemann weist beeindruckende Parallelen auf. Beide Autor*innen waren zum Zeitpunkt des Erscheinens siebzehn Jahre alt, beide Romane wurden von hymnischen Rezensionen und einem beachtlichen Verkaufserfolg begleitet. In vielen Rezensionen wurde vor allem das junge Alter von Lebert und Hegemann hervorgehoben, um deren literarisches Ausnahmetalent zu unterstreichen. Lebert sei ein »echtes Wunderkind«,477 hieß es, bevor Hegemann elf Jahre später zum »Wunderkind der Boheme«478 ausgerufen wurde. Neben den Lobeshymnen gab es jedoch in beiden Fällen auch zahlreiche Stimmen, die den beiden Debütromanen jede literarische Qualität absprachen und diese fundamentale Kritik ebenso mit dem Alter der Autor*innen in Verbindung brachten. Einen zentralen Aspekt sowohl in den positiven als auch in den negativen Besprechungen der Bücher bildete dabei die Kategorie ›Erfahrung‹. Nicht selten wurde wie selbstverständlich davon ausgegangen, Lebert und Hegemann hätten in ihren Romanen eigene, spezifisch jugendliche Erfahrungen artikuliert, weshalb ihnen ein hohes Maß an biographischer Authentizität zugeschrieben wurde. »allmächtiges Junggenie« und »unwissendes Kind« – Benjamin Lebert und das Problem der Distanzlosigkeit Anders als in Hegemanns Roman Axolotl Roadkill, in dem die Protagonistin einen anderen Namen als die Autorin trägt und es auch sonst innertextuell wenig Hinweise auf einen autobiographischen Hintergrund gibt, fällt Leberts Crazy durch relativ starke Authentizitätssignale auf. Der Ich-Erzähler heißt ebenfalls Benjamin Lebert und ist – wie auch der empirische Autor – halbseitig gelähmt. Im verlegerischen Peritext der Erstausgabe heißt es über Lebert nach der Angabe von Geburts- und Wohnort: »Kein Abschluß, kein Studium. Dafür sitzenge-

477 Maxim Biller: Meine Schuld. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. 02. 1999, http s://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-belletristikmeine-schuld-1119681.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 478 Rapp: Das Wunderkind der Boheme.

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blieben. Auch anstrengend. Geht in die 9. Klasse«,479 womit der Autor in deutliche Nähe zu seinem Protagonisten gerückt wird, der zu Beginn der Romanhandlung gerade die achte Klasse wiederholt und von seinen Eltern auf das fiktive Internat Schloss Neuseelen geschickt wird, um »aus meinem verfluchten MathematikSechser einen Fünfer zu machen«.480 Es folgt eine Internatsgeschichte mit klassischen Handlungselementen von Initiationsriten und nächtlichen Ausbrüchen bis zum ersten Sex. Der Anschein biographischer Authentizität wird im Fall von Crazy zusätzlich dadurch verstärkt, dass dem Roman ein tagebuchartiger Text vorausging, den Lebert für Jetzt, das Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, geschrieben hatte und aufgrund dessen der Verlag auf das junge Talent aufmerksam wurde.481 Der Romantext weist allerdings neben der Fiktivität des Handlungsortes noch andere Fiktionalitätssignale auf, welche die starke Authentizitätsbehauptung zumindest teilweise relativieren: So weichen Namen und Beruf der Eltern des Erzählers von denen des Autors ab,482 auch wird auf dem Buchumschlag die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ verwendet. Dass Leberts Roman trotz der Verwendung dieser Gattungsbezeichnung bei gleichzeitiger Namensgleichheit von Autor und Figur in der Forschung nicht als autofiktionaler Text charakterisiert wird, mag vor allem damit zu tun haben, dass der Autofiktionsbegriff zur Zeit des Erscheinens von Crazy in der deutschsprachigen Forschung noch nicht gebräuchlich war. Dennoch ist auffällig, dass die Authentizitätssignale in Text und Paratext nicht nur in literaturkritischen Rezensionen, sondern auch in literaturwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen mitunter zu affirmativen Authentizitätszuschreibungen verleiten, so wie sie Matthias Luserke in seiner in zeitlich geringem Abstand zur Erstveröffentlichung von Crazy erschienenen Monographie zu Schul-Literatur im 19. und 20. Jahrhundert vornimmt: Crazy ist das einzige Buch in der Geschichte der Schultexte, das aus der Sicht eines zeitlich gesehen unmittelbar Betroffenen geschrieben ist. […] In der Fachsprache der Germanistik würde man ihm einen hohen Grad an Authentizität bescheinigen. Lebert gelingt es höchst unspektakulär, authentisch zu schreiben.483

479 Benjamin Lebert: Crazy. Roman. Köln 1999, S. 3. 480 Ebd., S. 9. 481 Vgl. Anette Storeide: Die Leiden des jungen Benjamin. Benjamin Lebert, der Roman Crazy und die Pop-Literatur der neunziger Jahre. In: Thomas Jung (Hg.): Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990. Frankfurt am Main 2002, S. 117–135, hier S. 123f. 482 Vgl. ebd., S. 120. 483 Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1999, S. 137.

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Luserke geht zwar auch auf die Gattungsbezeichnung von Crazy ein, sieht diese aber lediglich als Ausdruck eines eher vagen Spiels »mit der Unschärfe zwischen Fiktionalität und dokumentarischer Wirklichkeit«, das dazu führt, dass »das Erlebte […] nachträglich die Qualität des Erfundenen« erhält.484 An der Rezeptionshaltung, so ist Luserke überzeugt, ändert das nichts: »Für den Leser sind die Unterschiede nicht mehr festzustellen, ihm erscheint von der ersten Zeile an der Autor als Ich-Erzähler, der Benjamin Lebert des Textes ist Benjamin Lebert, der Autor, der Roman wird zur Autobiographie, die Fiktion zur Realität.«485 Luserke offenbart dabei eine Wertungspraxis, die dem Erlebten eine eindeutige Präferenz vor dem Erfundenen einräumt.486 Leberts Roman erlange demnach alleine schon dadurch literarische Qualität, dass der Produktionsprozess in zeitlicher Unmittelbarkeit zur Schulzeit des Autors stattfand und dem Text dadurch eine höhere Wirklichkeitsnähe zugeschrieben werden könne als anderen Internatsromanen wie etwa Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß: Je näher die Autoren den Erlebnissen ihrer Schulzeit sind, die sie literarisch darstellen, um so genauer ist ihre Beobachtung und umso größer die Tiefenschärfe, womit sie psychische Prozesse oder gruppeninterne Strukturen, die mäandrischen Windungen der Macht im Schul- oder Internatsalltag, erkennen.487

Die Gleichzeitigkeit von Erleben und Erzählen, die Luserke hier mit einer nach literaturwissenschaftlichen Konventionen ungewöhnlich euphorischen Wertungshaltung lobt, ist auch in der literaturkritischen Auseinandersetzung mit Leberts Roman thematisiert worden. Elke Heidenreich schreibt in ihrer hymnischen Besprechung für den Spiegel, die entgegen der vom Verlag verhängten Sperrfrist noch vor dem Erscheinungstermin von Crazy veröffentlicht wurde:488 Lebert beschreibt: was er sieht, hört, fühlt, denkt. Er beobachtet mit großer Genauigkeit, staunend, er ist er selbst – und nimmt sich doch völlig zurück. Diese Distanz zum eigenen Leben mit 16 Jahren – das ist das Erstaunlichste an Leberts Buch. Er erzählt ja das, was er gerade im Augenblick erlebt – und er erzählt es schon, indem er daneben steht und zusieht.489

484 Ebd. 485 Ebd. 486 Damit vertritt Luserke ein ähnliches Literaturverständnis wie Leberts Romanfigur Janosch, der dem Erzähler auf die Frage, was eigentlich Literatur sei, entgegnet: »Wenn du bei jedem Absatz das Gefühl hast, daß du genauso gehandelt oder gedacht hättest wie die Romanfigur. Dann ist es Literatur.« (Lebert: Crazy, S. 143) Diese Passage lässt sich als poetologischer Selbstkommentar lesen, der eine identifikatorische Lesart des Romans sowie den Wertmaßstab der Wirklichkeitsnähe in den Vordergrund rücken soll. 487 Luserke: Schule erzählt, S. 137. 488 Vgl. Storeide: Die Leiden des jungen Benjamin, S. 119. 489 Elke Heidenreich: Ein Autogramm von Gott. In: Der Spiegel vom 22. 02.1999, https://www. spiegel.de/spiegel/print/d-9032704.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Auch hier werden Beobachtungsgabe und Genauigkeit in der Darstellung als zentrale Qualitäten von Autor und Werk benannt und in Verbindung mit der zeitlichen Unmittelbarkeit von Erleben und Erzählen gebracht. Heidenreich hebt aber auch lobend hervor, dass Lebert es schaffe, trotz dieser Unmittelbarkeit eine Distanz zum eigenen Erleben herzustellen, die es ihm ermögliche, die eigene Geschichte zu erzählen, als ob er »daneben steht und zusieht«. Dieses Lob teilen jedoch andere Rezensenten keineswegs. So schreibt Christian Buhl in der Welt: »Das gewagte Experiment, die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens nicht – gut abgehangen – aus der Erinnerung, sondern aus der Perspektive der Jetztzeit zu schildern, scheitert am fehlenden Sicherheitsabstand.«490 Und sogar Maxim Biller, der sich der literarischen Öffentlichkeit gegenüber als ›Entdecker‹ geriert, der zuerst auf das junge Talent aufmerksam wurde und es in ›seinem‹ Verlag Kiepenheuer & Witsch unterbrachte, äußerte sich kritisch über die Distanzlosigkeit des Autors zu seinem Erzählmaterial und kommt in seinem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung sogar zu dem Schluss, Crazy hätte »niemals gedruckt werden dürfen«: Denn auch ein Wunderkind kann immer nur von seinem eigenen Leben erzählen, und weil dieses eigene Leben noch so jung, so frisch, so rätselhaft ist, kann das Wunderkind, bei all seiner schriftstellerischen Virtuosität, nichts anderes tun, als an diesem Leben viel zu nah dran zu bleiben, so nah eben wie ein Teenager, der fasziniert, erstaunt und erschrocken immer wieder ganz dicht an den Badezimmerspiegel heranrückt, um sich am Anblick seiner wild wuchernden Akne zu weiden.491

Ausgerechnet Biller als glühender Vertreter eines emphatisch-vitalistisch geprägten Literaturverständnisses, das die Einheit von Erleben und Erzählen nicht nur begrüßt, sondern zum eigentlichen Wertmaßstab für gute Literatur erhebt,492 wirft hier seinem Schriftstellerkollegen vor, »viel zu nah dran« zu sein an dem Leben, von dem er erzählt. An der biographischen Authentizität des Romaninhalts von Crazy hat Biller dabei überhaupt keinen Zweifel. Er ist fest überzeugt: »[D]as alles ist garantiert wahr und auch genauso passiert« und dass dies der Autor, den Biller nach wie vor für ein Genie hält, »auch genauso erzählt, ist nur gut«.493 »Schlecht ist jedoch«, so Biller weiter, »daß er ähnlich distanzlos und ungefiltert nicht nur von seinem Leben zu uns spricht, sondern auch darüber räsoniert.«494

490 Christian Buhl: Die Leiden des jungen L. In: Die Welt vom 06. 03. 1999, https://www.welt.de /print-welt/article567621/Die-Leiden-des-jungen-L.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 491 Biller: Meine Schuld. 492 Siehe Kapitel 2.3 dieser Arbeit. 493 Biller: Meine Schuld. 494 Ebd.

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Problematisch an Crazy ist für Biller also nicht die Unmittelbarkeit, die sich zwischen der erzählten Welt und der Lebenswelt des empirischen Autors herstellen lässt, sondern die unterstellte Unfähigkeit des Autors, diese Unmittelbarkeit auf angemessene Weise zu transzendieren, was wiederum – und darauf läuft Billers Kritik im Eigentlichen hinaus – an dem jungen Alter von Benjamin Lebert liegt. Denn »das zentrale Thema des eigenen Lebens« zur Grundlage eines literarischen Produktionsprozesses zu machen, ist nach Billers Literaturverständnis mehr als begrüßenswert, nur könne Lebert »es literarisch noch gar nicht wirklich bewältigen, er, das allmächtige Junggenie, das unwissende Kind«.495 Während sich Biller also über das Authentizitätsversprechen, das in der suggerierten Einheit von Erleben und Erzählen liegt, erfreut zeigt, zweifelt er gleichzeitig an, dass der Autor in der Lage dazu ist, dieses Versprechen in einer angemessenen ästhetischen Form einzulösen. Was ihm fehlt, ist aber nicht eine größere zeitliche Distanz zum Erlebten, sondern ein reiferes Alter des Autors, das diesem ermöglichen würde, seine Erfahrungen adäquat zu reflektieren. Der hier zugrunde gelegte Wertmaßstab orientiert sich somit weniger an der Unmittelbarkeit bzw. Distanzlosigkeit in der Darstellung, sondern an Alter bzw. Jugend des Autors. Die Bewunderung über die literarischen Fähigkeiten, die einem jungen Autor trotz seines Alters zugesprochen werden, vermischt sich in Billers Urteil mit der Skepsis gegenüber den noch nicht ausgereiften Fähigkeiten, die demselben Autor wegen seines Alters unterstellt werden. Dabei ist das direkte Nebeneinander der Etikettierung des Autors als »allmächtiges Junggenie« und »unwissendes Kind« sehr bezeichnend für die doppelte Erwartungshaltung, die einem sehr jungen Autor wie Lebert gegenüber eingenommen wird: Auf der einen Seite die Erwartung größtmöglicher Unmittelbarkeit und Individualität im Produktionsprozess, der frei ist von Routine, festgefügten Konventionen und Traditionsbewusstsein; auf der anderen Seite die Annahme, Texte jüngerer Autor*innen müssten letztlich defizitär sein, was wiederum den Umkehrschluss erlaubt, handwerkliche Schwächen oder fehlende intellektuelle Tiefe direkt auf das Alter der Urheber*innen zurückzuführen. ›Generation Internet‹ – Helene Hegemanns doppelte Normverletzung Der Skandal um Helene Hegemanns Debütroman Axolotl Roadkill, dessen Verlauf in Kapitel 2.1 bereits skizziert wurde, um die Wirkmechanismen der Authentizitätsnorm zu illustrieren, weist gerade in diesem Punkt deutliche Parallelen zur Rezeption von Leberts Crazy auf. Während vor dem Aufkommen der Plagiatsvorwürfe in den Rezensionen zu Axolotl Roadkill vor allem positiv auf

495 Ebd.

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das Alter der Autorin Bezug genommen wurde (»Und sie ist wirklich erst 17.«496), erschien die Jugendlichkeit der Autorin nach Bekanntwerden des Plagiats eher als Defizit (»das Mädchen ist erst siebzehn, sie kann es nicht besser«497). Das Alter der Autorin bietet somit die Projektionsfläche, auf der sowohl die Norm als auch die Sanktionierung bei Normbruch sichtbar wird.498 Die Sanktionen reichen dabei bis zum Ausschluss aus dem bewertungswürdigen Spektrum ernstzunehmender Literatur. Denis Scheck formulierte seine Haltung zum Roman der jungen Schriftstellerin in einer Kurzrezension folgendermaßen: »Jeder Roman, den eine 17-Jährige zu Papier bringt, ist ein guter Roman, genau wie jedes Bild, das ein Sechsjähriger malt, ein gutes Bild ist.«499 Mit diesem Vergleich setzt Scheck nicht nur das künstlerische Potential einer Jugendlichen kurz vor Erreichen der Volljährigkeit mit dem eines Kindes im Grundschulalter gleich, sondern er verbannt Axolotl Roadkill kurzerhand aus dem Kreis der diskussions- und besprechungswürdigen Bücher – wohlgemerkt ohne Hinweis auf ästhetische Kriterien, sondern einzig aufgrund des Alters der Autorin. Doch nicht nur in Hinblick auf die literarische Qualität ihres Romans, sondern auch hinsichtlich der Hegemann zur Last gelegten Plagiatsvorwürfe blieb das Alter die zentrale Kategorie, an der sich ästhetische wie moralische Beurteilung in der literarischen Öffentlichkeit ausrichteten. So wurde der Plagiatsfall – obwohl juristisch schnell und geräuschlos beigelegt –500 von einigen Akteur*innen des Kulturbetriebs zum Generationenkonflikt hochstilisiert, der schließlich in der Leipziger Erklärung zum Schutz geistigen Eigentums mündete. Initiiert vom Verband deutscher Schriftsteller und unterzeichnet von namhaften Autor*innen wie Günter Grass, Christa Wolf und Sybille Lewitscharoff wurde darin gefordert, »geistigen Diebstahl eindeutig zu verurteilen«.501 Hintergrund war die Nominierung von Axolotl Roadkill für den Preis der Leipziger Buchmesse, was aus 496 Tobias Rapp: Das Wunderkind der Boheme. 497 Willi Winkler: Untermieter im eigenen Kopf. 498 Zu Normierung, Normverletzung und Sanktionierung in der Rezeption von Axolotl Roadkill siehe Kapitel 2.1 dieser Arbeit. 499 Denis Scheck: Harter Käse. In: Tagesspiegel vom 28. 03. 2010, https://www.tagesspiegel.de /kultur/aufgeschlagen-zugeschlagen-harter-kaese/1763510.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 500 Der Blogger Airen, von dem Hegemann die betreffenden Passagen abgeschrieben hatte, wurde von Hegemanns Verlag Ullstein finanziell entschädigt und erhielt zusätzlich die Möglichkeit, seine Erzählung Strobo als Taschenbuch zu veröffentlichen. Außerdem wurde in folgenden Auflagen von Axolotl Roadkill ein Quellenverzeichnis angehängt, das die übernommenen Passagen kenntlich macht. (Vgl. Schuchter: Das ist wahrscheinlich nicht von mir, S. 434.) 501 Zitiert nach: Jan Bruck: Urheberstreit: Leipziger Erklärung. In: Deutsche Welle vom 17. 03. 2010, https://www.dw.com/de/urheberstreit-leipziger-erklärung/a-5361813, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. (Der Originaltext, der auf den Seiten des Verbands deutscher Schriftsteller publiziert wurde, ist mittlerweile nicht mehr online abrufbar.)

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Sicht der Unterzeichner*innen eine »fahrlässige Akzeptanz von Rechtsverstößen im etablierten Literaturbetrieb« demonstriere.502 Allerdings zielt die Erklärung nicht nur auf den Fall Hegemann ab, der vielmehr als Symptom eines grundsätzlicheren Generationenproblems gewertet wird. So heißt es weiter in der Erklärung: »Kopieren ohne Einwilligung und Nennung des geistigen Schöpfers wird in der jüngeren Generation, auch auf Grund von Unkenntnis über den Wert kreativer Leistungen, gelegentlich als Kavaliersdelikt angesehen.«503 Aus der Erklärung spricht eine fundamentale Skepsis zum einen gegenüber den Gewohnheiten und Kenntnissen der »jüngeren Generation«, zum anderen in Bezug auf die »Möglichkeiten neuer Medien, auch die des Internets«,504 die hier als Bedrohung für den Schutz geistigen Eigentums angeführt werden. Der Generationenkonflikt, der hier heraufbeschworen wird, bewegt sich also zwischen einer älteren Generation, die für ein an der Buchkultur ausgerichtetes Verständnis von geistigem Eigentum und Urheberrecht steht, und einer jüngeren Generation, die sich wie Hegemann »jener Techniken bedient, die im vergangenen Jahrzehnt durchs Internet zur Blüte kamen: Mash-Up, Copy&Paste und Remix«505 und die im beginnenden 21. Jahrhundert dafür gesorgt haben, dass das konventionelle Verständnis zumindest der Objekt-Authentizität nachhaltig erodiert wurde.506 Hegemann selbst hat in Interviews immer wieder betont, dass der Produktionsprozess von Axolotl Roadkill im Kontext einer durch den Medienwandel beeinflussten, intertextuellen Praxis zu verstehen ist: Wenn da die komplette Zeit über reininterpretiert wird, dass das, was ich geschrieben habe, so ein Stellvertreterroman für die Nullerjahre ist, muss auch anerkannt werden, dass der Entstehungsprozess mit diesem Jahrzehnt und den Vorgehensweisen dieses Jahrzehnts zu tun hat, also mit der Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess durch das Recht zum Kopieren und zur Transformation.507

Dabei haben die Verfahren der Collage und des verschleierten Zitats, derer sich Hegemann im konkreten Fall von Axolotl Roadkill bedient, gar nicht viel mit den Neuerungen des digitalen Zeitalters und den »Vorgehensweisen dieses Jahr-

502 503 504 505

Ebd. Ebd. Ebd. David Hugendick: »Total gedankenlos und egoistisch.« In: Die Zeit vom 08. 02. 2010, http s://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-02/hegemann-blogger-plagiat, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 506 Zur Veränderung des Authentizitätsverständnisses durch digitale Medien siehe Kapitel 1.2 dieser Arbeit. 507 Helene Hegemann im Gespräch mit Cosima Lutz: »Ich beraube schonungslos meine Freunde und mich selbst.« In: Die Welt vom 08. 02. 2010, https://www.welt.de/kultur/article 6305074/Ich-beraube-meine-Freunde-schonungslos.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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zehnts« – also der 2000er, auf die hier Bezug genommen wird – zu tun.508 Bereits in früheren Jahrzehnten haben Autor*innen wie Thomas Meinecke und Elfriede Jelinek – und auf andere Weise auch Thomas Mann im Doktor Faustus – Texte produziert, die aus Versatzstücken verschiedener Fremdtexte zusammenmontiert wurden.509 Noch deutlicher sind die Parallelen zum entstehungsgeschichtlichen Kontext von Bertolt Brechts Dreigroschenoper: Dass es sich bei einem der bekanntesten Stücke des Autors um eine Überarbeitung von John Gays The Beggar’s Opera von 1728 handelt, wurde im Programmheft der Uraufführung noch in aller Ausführlichkeit offengelegt (was in der späteren Rezeption allerdings meist unterschlagen wurde).510 Die Übernahme einiger Verse von François Villon in der Übersetzung von K.L. Ammer in den populären Songs der Dreigroschenoper wurden jedoch nicht gekennzeichnet, was den berühmten Theaterkritiker Alfred Kerr dazu veranlasste, Brecht des Plagiats zu bezichtigen.511 In Anbetracht dieser historischen Vorläufer lässt die Tatsache, dass Hegemann Textpassagen aus einem Blog statt aus einem gedruckten Buch übernommen hat, den Produktionsprozess ihres Romans schwerlich zu einem Spezifikum des digitalen Zeitalters werden. Das Besondere am Hegemann’schen Plagiatsfall liegt weniger im Ausdruck einer generationsspezifischen Neubewertung von geistigen Eigentumsrechten, sondern in einer doppelten Verletzung von normativen Authentizitätszuschreibungen:512 zum einen die Verletzung einer objektauthentischen Norm, die besagt, dass die Urheberschaft aller Elemente eines Textes zweifelsfrei nachvollziehbar sein muss, und zum anderen die Verletzung einer subjektauthentischen Norm, die für jugendliche Autorschaft ein hohes Maß an Wirklichkeitsnähe und eine weitgehende Verschränkung (wenn nicht gar Identität) von Erleben und Erzählen voraussetzt. Ein Literaturskandal konnte aus Axolotl Roadkill nur durch die Kombination dieser beiden Normverletzungen werden. Das Plagiieren einzelner Textstellen alleine hätte – obwohl die objektauthentische Norm expliziter und sogar gesetzlich formuliert ist – bei weitem nicht dieses Maß an Aufmerksamkeit und diese Härte der Sanktionen hervorgerufen. Vielmehr haben die Erwartungen an die biographische Authentizität von Axolotl Roadkill wesentlich damit zutun, dass die plagiierten Textstellen als Indiz für eine Fälschung gesehen wurden, die 508 Zu einem ähnlichen Urteil gelangt auch Veronika Schuchter: »Die Art, wie Hegemann verschiedenste und sehr unterschiedliche Versatzstücke montiert, ist weder radikal neu, noch hat sie realiter etwas mit dem digitalen Zeitalter zu tun.« (Schuchter: Das ist wahrscheinlich nicht von mir, S. 441.) 509 Vgl. Graf: Literatur an den Grenzen des Copyrights. 510 Vgl.: Joachim Lucchesi: Die Dreigroschenoper. In: Brecht-Handbuch in fünf Bänden, hg. von Jan Knopf, Bd. 1: Stücke. Stuttgart 2001, S. 197–215, hier S. 200. 511 Vgl.: Joachim Lucchesi: Die Songs der Dreigroschenoper. In: Brecht-Handbuch in fünf Bänden, hg. von Jan Knopf, Bd. 2: Gedichte. Stuttgart 2001, S. 161–168, hier S. 166f. 512 Siehe Kapitel 2.1 dieser Arbeit.

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ein nicht einlösbares Authentizitätsversprechen aufrechterhalten soll, und nicht als Ausdruck eines künstlerisch motivierten Spiels oder eines Fakes. Hegemann selbst schreibt in einem in der Zeit erschienenen Beitrag an ihre Kritiker gewendet, das Problem, das viele Leute mit dem Roman hätten, »besteht in der Tatsache, dass ich nicht der gängigen Vorstellung eines ›authentischen Jugendlichen‹ entspreche«.513 Die Autorin führt also selbst die Ablehnung ihres Romans auf enttäuschte Authentizitätserwartungen zurück. Es scheint aber dennoch nicht der Fall zu sein, dass sie keinerlei Anspruch auf jegliche Form von Authentizität erhebt. In ihrem kurz nach Aufkommen der Plagiatsvorwürfe abgegebenen Statement erklärt Hegemann apodiktisch: »Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit.«514 Worum es sich bei diesem sehr vagen Konzept von Echtheit handeln soll, auf das sich die Autorin in ihrer nicht näher erläuterten Aussage bezieht, bleibt fraglich. Jedoch lässt sich im Romantext selbst ein Indiz dafür ausmachen, auf welcher Ebene hier trotz allem Authentizität behauptet wird: »Berlin is here to mix everything with everything, Alter!« »Ist das von dir?« »Berlin is here to mix everything with everything, Alter? Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume …« »Straßenschilder, Wolken …« »… Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.« »Es ist also nicht von dir?« »Nein. Von so’nem Blogger.«515

Liest man dieses Telefongespräch zwischen den Figuren Mifti und Edmond als poetologischen Kommentar, lässt sich darin bereits in der ersten Auflage (und somit vor der Enthüllung des Plagiatsfalls) ein Hinweis auf die in Axolotl Roadkill angewendete Praxis der Aneignung von Fremdtexten erkennen. Umgekehrt lässt sich aber auch sagen: Die Aneignungspraxis der fiktiven Romanfiguren erhält ihren Realwert im Produktionsprozess der empirischen Autorin. Der Roman erhält auf diese Weise einen – wenn auch nicht sehr umfassenden – Wirklichkeitsbezug. Philipp Theisohn bemerkt dazu in seinem Forschungsbeitrag über Plagiarismus in der Gegenwartsliteratur: 513 Helene Hegemann: An meine Kritiker. In: Die Zeit vom 29. 04. 2010, https://www.zeit.de /2010/18/Hegemann-Stellungnahme, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 514 Helene Hegemann: Stellungnahme zu den Plagiatsvorwürfen. In: BuchMarkt vom 07. 02. 2010, https://www.buchmarkt.de/archiv/axolotl-roadkill-helene-hegemann-und-ullstein-ve rlegerin-dr-siv-bublitz-antworten-auf-plagiatsvorwurf/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 515 Helene Hegemann: Axolotl Roadkill. Roman. Berlin 2010, S. 13.

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Als ›unecht‹, verlogen, da unauthentisch, wurde die Erlebniswelt von Axolotl Roadkill bewertet, während umgekehrt die Echtheit und Ehrlichkeit des Textes nun darin gefunden wurde, dass er recht deutlich darüber Auskunft gab, woher er diese Erlebniswelt und die dazugehörige Sprache eigentlich hatte (nämlich aus entmündigten Quellen).516

In diesem Sinne ließe sich Hegemanns Erzählverfahren laut Antonius Weixler auch als Ausdruck einer »Authentizität der zweiten Ordnung« verstehen,517 nach der »gerade das bewusste Unterlaufen und In-Frage-Stellen der Autorität der Autor-Authentizität Ausweis eines ›authentischen Generationengefühls‹« sei.518 Bei der Übernahme von Fremdtexten ohne Kennzeichnung würde es sich demnach um einen kalkulierten Normbruch handeln und dementsprechend nach der in Kapitel 2.3 entwickelten Terminologie um einen Fake und nicht um eine Fälschung. Der »authentische Diebstahl«, von dem die Figur Edmond im Roman spricht und den der Übertragung entsprechend Hegemann am Blogger Airen begangen hat, ist aber nicht deswegen authentisch, weil »er sich wirklich ereignet hat« oder weil sich das gestohlene Material »auf tatsächlich vom blogger Airen erlebte, historisch benennbare Ereignisse bezieht«, wie Weixler in seiner These von einem im doppelten Sinne authentischen Diebstahl behauptet.519 Vielmehr ist der Romantext hier ganz eindeutig, was den Vorgang zu einem ›authentischen‹ macht: Der Diebstahl wird authentisch, »sobald etwas meine Seele berührt«.520 Mit der etwas esoterisch anmutenden Wendung vom Berühren der eigenen Seele wird auf einen Prozess verwiesen, der im ›Diebstahl‹ selbst in Gang gesetzt werden muss. Der Diebstahl ist also nicht bereits durch die Authentizität des gestohlenen Materials authentisch, er muss erst durch den Aneignungsprozess authentifiziert werden. Diese Vorstellung erinnert sehr an Thomas Manns Rede von der ›Beseelung‹ eines fremden Stoffes durch den Künstler und das daraus abgeleitete narrative Eigentumsrecht qua künstlerischer Aneignung, wie es im Kapitel 3.1 dieser Arbeit dargestellt wurde.521 Analog zu den Autorisierungsstrategien im Herkunftsdiskurs ist es hier nicht die Zugehörigkeit zu einer so516 Philipp Theisohn: Das Recht der Wirklichkeit. Plagiarismus als poetologischer Ernstfall der Gegenwartsliteratur. In: Bierwirth/Johannsen/Zeman (Hg.): Doing Contemporary Literature, S. 219–239, hier S. 235. 517 Antonius Weixler: Post-autoritäre Authentizität. Eine Rezeptionsanalyse von Eric Fiedlers Aghet, Helene Hegemanns Axolotl Roadkill und Margaux Fragosos Tiger, Tiger. In: Ders. (Hg.): Authentisches Erzählen, S. 321–351, hier S. 334. 518 Ebd., S. 333. Weixlers Begriff einer »Authentizität zweiter Ordnung« lässt sich somit mit dem von Axel Dunker geprägten Begriff der »sekundären Authentizität« vergleichen, der das Generieren von Authentizität durch das selbstreflexive Hinterfragen der eigenen Autorität bezeichnet. Siehe S. 137 dieser Arbeit. 519 Weixler: Post-autoritäre Authentizität, S. 333. 520 Hegemann: Axolotl Roadkill, S. 13. 521 Siehe S. 119 dieser Arbeit.

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zialen Gruppe oder einer bestimmten Generation, aus der Hegemann, die sich selbst nicht als ›authentische Jugendliche‹ sieht, ihr narratives Eigentumsrecht ableitet, sondern der eigene kreative Prozess der Aneignung. In diesem Sinne wird die Übernahme von Zitaten ohne Kennzeichnung und die daraus resultierende Täuschung der Rezipient*innen von Hegemann auch nicht als Fälschung, sondern als Fake inszeniert, der sich als Teil eines poetologischen Programms versteht. Dass große Teile der Literaturkritik Hegemann diese Form der Autorisierung nicht zugestehen, sondern der Autorin das narrative Eigentumsrecht aberkennen wollen, weil sie die Autorisierung durch eigenes Erleben als gescheitert ansehen und die Hegemann’sche Aneignungspraxis entsprechend als Fälschung bewerten, zeigt, wie eng die normativen Authentizitätserwartungen sein können, wenn es sich um literarische Texte von sehr jungen Autor*innen handelt.

3.2.2 Erleben vs. Erlernen – Junge Literatur und akademische Schreibschulen Vorbehalte gegenüber jugendlicher Autorschaft hinsichtlich einer noch nicht zur Genüge ausgebildeten Schreibkompetenz werfen automatisch die Frage auf, ob und wie literarisches Schreiben überhaupt erlernbar ist. Die Vorstellung, die schriftstellerische Praxis ließe sich einüben wie ein Handwerk oder ein Ausbildungsberuf, widerspricht dem Grundgedanken einer Genieästhetik, die sich auch 250 Jahre nach der Hochphase des Sturm und Drang einer bemerkenswerten Langlebigkeit im deutschsprachigen Raum erfreut. Entsprechend groß war die Skepsis in den Feuilletons, als in den 1990er Jahren die ersten akademischen Schreibschulen an deutschen Universitäten gegründet wurden.522 Im amerikanischen Raum besitzt diese Form der schriftstellerischen Ausbildungspraxis eine ungleich längere Tradition. Erste Kurse für kreatives Schreiben etablierten sich an US-amerikanischen Universitäten bereits um 1900, anfangs als Ergänzung zum literaturwissenschaftlichen Studium, bevor wenige Jahre später der Siegeszug eigenständiger Creative Writing-Studiengänge begann.523 522 Im Rahmen einer wissenstheoretisch ausgerichteten Rezeptionsanalyse hat die Literaturwissenschaftlerin Claudia Dürr 161 Feuilletonbeiträge aus dem Zeitraum zwischen 1990 und 2017 analysiert und dabei vor allem für die Gründungsphase der ersten Schreibschulen im deutschsprachigen Raum eine fundamentale Skepsis gegenüber der Erlernbarkeit literarischen Schreibens im Allgemeinen und der Funktion von akademischen Schreibschulen im Besonderen konstatiert. Vgl. Claudia Dürr: Schreiben lernen können aus der Sicht des Feuilletons. Eine wissenstheoretische Analyse. In: Kevin Kempke/Lena Vöcklinghaus/Miriam Zeh (Hg.): Institutsprosa. Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf akademische Schreibschulen. Leipzig 2019, S. 30–55, hier S. 34ff. 523 Vgl. Kevin Kempke/Lena Vöcklinghaus/Miriam Zeh: Einleitung. ›Institutsprosa‹ als poetologisch-soziologischer Analysebegriff. In: Dies. (Hg.): Institutsprosa, S. 4–28, hier S. 15f.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Im deutschsprachigen Raum dagegen sind Möglichkeiten akademischer Ausbildung in literarischem Schreiben ein Phänomen der jüngsten Gegenwart. Eine Ausnahme bildet hier das 1955 in der DDR gegründete Johannes R. BecherInstitut, das nach der Wiedervereinigung 1993 »mit dem Argument, Teil des erziehungsdiktatorischen Systems der DDR gewesen zu sein« abgewickelt und zwei Jahre später als Deutsches Literaturinstitut Leipzig (DLL) neugegründet wurde.524 1999 folgte die Einrichtung des Studiengangs ›Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus‹ an der Universität Hildesheim, 2006 bzw. 2009 zogen die Schweiz und Österreich mit dem Schweizerischen Literaturinstitut Biel und dem Studiengang ›Sprachkunst‹ an der Universität für angewandte Kunst in Wien nach. Als bisher letzte Gründung nahm zum Wintersemester 2017/18 die Kölner Kunsthochschule für Medien den Lehrbetrieb im Studienschwerpunkt ›Literarisches Schreiben‹ auf. Vom Leben und Schreiben – Das Erfahrungsparadigma Die Studierenden an diesen Institutionen – und erst recht deren Absolvent*innen – sind einige Jahre älter als die Autor*innen, um die es im vorigen Kapitel ging. Trotzdem sind sie als junge Autor*innen mit einer besonderen Erwartungshaltung konfrontiert, in die sich häufig zusätzlich spezifische Vorstellungen über die Qualität von Literatur mischen, die im Rahmen oder unter Einfluss von institutioneller Betreuung durch eine Schreibschule entstanden ist. Die allgemeine Skepsis gegenüber der Erlernbarkeit literarischen Schreibens spielt dabei eine große Rolle. In der feuilletonistischen Rezeption der sogenannten Institutsprosa ist dabei jedoch auffällig, dass sich diese Skepsis meist auf einen bestimmten Teil dessen beschränkt, was als Voraussetzung für erfolgreiche literarische Produktion angesehen wird. Während sich die Literaturberichterstattung in großen Teilen darüber einig ist, dass handwerkliche Grundfertigkeiten erlernbar und somit auch an Schreibschulen lehrbar sind,525 herrschen große Vorbehalte hinsichtlich der inhaltlichen Qualitäten der Texte von Autor*innen mit Schreibschul-Hintergrund. So schreibt beispielsweise Elmar Krekeler in der Welt über die Absolvent*innen von Literaturinstituten: »Sie können erzählen, sie können es wirklich. Die Geschichten sind gut gebaut. […] Aber man interessiert sich nicht dafür. Sie können erzählen, wissen aber eigentlich nicht was. Sie riskieren nichts, schreiben ungefährdete, ordentlich geschnittene Lite-

524 Katja Stopka: Das Institut für Literatur ›Johannes R. Becher‹ zwischen Staatsauftrag und ästhetischem Eigensinn. Zur Geschichte einer DDR-Schreibakademie. In: Kempke/Vöcklinghaus/Zeh (Hg.): Institutsprosa, S. 138–158, hier S. 142. 525 Vgl. Dürr: Schreiben lernen können aus Sicht des Feuilletons, S. 40.

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ratur.«526 Ganz ähnlich lautet Helmut Böttigers Urteil in der Süddeutschen Zeitung: »Die Absolventen dieser Kurse können alle ganz gut schreiben, und sie machen nichts falsch. Dass sie meistens gar keinen Stoff haben, fällt zunächst nicht auf.«527 Den Grund für diese inhaltliche Schwäche sieht Böttiger in einem kollektiven Mangel an Lebenserfahrungen, der es den Schreibenden erschwert, interessante Stoffe aus ihrer eigenen Biographie zu entwickeln: »Wenn man aber außer Elternhaus, Schule und Schreibwerkstätten nichts anderes kennen gelernt hat, stellt sich die Frage, worüber man nun eigentlich schreibt. Über eigene Erfahrungen etwa?«528 Eine solche Diskrepanz zwischen handwerklichen Fertigkeiten auf der einen Seite und einem Mangel an biographischem Erfahrungshintergrund auf der anderen Seite ist in der Literaturkritik ein beliebter Vorwurf gegenüber literarischen Texten von jüngeren Autor*innen, insbesondere wenn sie an einer akademischen Schreibschule studieren oder dort einen Abschluss erworben haben.529 So bezeichnet die Journalistin Jana Hensel in einem Beitrag für die Welt mit dem Titel 20-Jährige können gut schreiben. Aber worüber? das Literaturinstitut Leipzig als einen Ort, »wo man zwar das Schreiben, aber nicht das Leben lernt«.530 Interessanterweise handelt es sich bei diesem Befund nahezu um das genaue Gegenstück zu der Kritik am jugendlichen Autor Benjamin Lebert, dessen lebensnahe und erfahrungsgesättigte Prosa gelobt wurde, während die handwerkliche Umsetzung des Stoffes bei einigen Kritiker*innen auf wenig Gegenliebe stieß. Dem 17-jährigen Schüler wurde nicht mangelnde Lebenserfahrung vorgeworfen, sondern allenfalls die mangelnde Distanz, die für die nötige Professionalität im Produktionsprozess gesorgt hätte. Wir haben es also mit zwei verschiedenen literarturkritischen Positionen gegenüber jugendlicher Autorschaft zutun, die einander gegenläufig sind: Auf der einen Seite das Zubilligen inhaltlicher Stärke, die sich aus unmittelbarer Lebenserfahrung speist, bei gleichzeitiger Skepsis gegenüber der formal-handwerklichen Umsetzung; auf der 526 Elmar Krekeler: Im Gefängnis einer gewissen Könnerschaft. In: Die Welt vom 27. 06. 2005, https://www.welt.de/print-welt/article678745/Im-Gefaengnis-einer-gewissen-Koennerschaf t.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 527 Helmut Böttiger: Und immer wird gerade jemand anderes geküsst. In: Süddeutsche Zeitung vom 13. 12. 2008, https://www.sueddeutsche.de/kultur/literatur-und-immer-wird-gerade-je mand-anderes-gekuesst-1.797780, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 528 Ebd. 529 Zur Bedeutung der individuellen Biographie in der Rezeption von Schreibschul-Absolvent*innen vgl. ausführlich: Kevin Kempke: Get a life! Zur Biografie als Quelle literarischer Produktivität. In: Ders./Vöcklinghaus/Zeh (Hg.): Institutsprosa, S. 56–81. 530 Jana Hensel: 20-Jährige können gut schreiben. Aber worüber? In: Die Welt vom 07. 11. 2006, https://www.welt.de/print-welt/article92782/20-Jaehrige-koennen-gut-schreiben-Aber-wor ueber.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

anderen Seite das Zubilligen formal-handwerklicher Fähigkeiten bei gleichzeitiger Infragestellung der inhaltlichen Kompetenz aufgrund zu geringer Lebenserfahrung. Hinter diesem gegenläufigen Befund steht allerdings die gleiche Authentizitätserwartung: Nicht die Imagination, nicht das Hervorbringen von literarisch hochwertigen Fiktionen, sondern die literarische Verarbeitung von Erlebtem kennzeichnet den Literaturbegriff, auf dem die Erwartungshaltung gegenüber jüngeren Autor*innen aufbaut.531 Junge Literatur, so lässt sich dieser Befund zusammenfassen, steht unter einem erhöhten Erwartungsdruck hinsichtlich ihrer biographischen Authentizität. Dass jugendliche Autorschaft im Fall der Schreibschul-Absolvent*innen anders als bei Lebert nicht mit der intensiven Vitalkraft der Jugend oder der Lebensdichte der Pubertät assoziiert wird, hängt nicht zuletzt mit dem antiakademischen Ressentiment von einer lebensfremden Umgebung des Seminarraums zusammen, dem wiederum häufig der Entwurf »eines gefährlichen Lebens in der ›echten Welt‹« gegenübergestellt wird,532 wie Kevin Kempke in seinem Beitrag Zur Biographie als Quelle literarischer Produktivität überzeugend dargelegt hat. Dieser vitalistische Gegenentwurf hat seine Wurzeln laut Kempke in der romantischen Überhöhung eines prekären Künstlertums: »Aus der Not, prekär zu leben, wurde so eine Tugend, die in unterschiedlichen kulturellen Kontexten und mit verschiedenen Schwerpunkten immer wieder mal Konjunktur hat: von der Erlebnisdichtung der (Nach-)Goethe-Zeit bis zur Beat-Literatur der 1960er Jahre.«533 Die von Kempke hier angeführten Beispiele ließen sich um die in Kapitel 2.3 dieser Arbeit nachgezeichnete Traditionslinie der vitalistischen Produktionsästhetik ergänzen und bis hinein in aktuelle Debatten der Gegenwartsliteratur weiterführen. Auch der Emphatiker Maxim Biller beklagte schon in den 1990er Jahren die Wirklichkeits- und Biographie-Armut der jüngeren Autor*innengeneration und setzte ihr seine Vorstellung von einem ›stoffspendenden Leben‹ entgegen.534 Hinter dieser dichotomen Gegenüberstellung vom ›wahren Leben‹ und dem vermeintlich erlebnislosen Dasein im Literaturinstitut verbirgt sich nicht nur eine Skepsis gegenüber akademischen Institutionen, sondern auch gegenüber den Mechanismen des als künstlich empfundenen Literaturbetriebs: 531 Vgl. Dürr: Schreiben lernen können aus Sicht des Feuilletons, S. 45: »Wenn die Literaturkritik zu wenig Lebenserfahrung an den begrenzten Möglichkeiten dessen zu erkennen glaubt, ›worüber man nun eigentlich schreibt‹, […] propagiert sie damit eine bestimmte Vorstellung von Literatur und wertet eine andere, nämlich jene, die sich aus Erfundenem speist, ab. Damit ist mehr über Erwartungen an Literatur als über die Leistung von Literaturausbildungen gesagt.« 532 Kempke: Get a life!, S. 72. 533 Ebd. 534 Siehe S. 86f. dieser Arbeit.

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Der zeitgenössische Vorwurf an die Absolventïnnen deutschsprachiger Schreibschulen, nichts Aufschreibenswertes erlebt zu haben, ist daher auch als eine Variante der in den letzten Jahren häufig zu hörenden Krisendiagnose zu verstehen, dass die Literatur durch den Literaturbetrieb verdorben werde, weil dieser die Autorïnnen einhege und daran hindere, dem eigentlichen Leben nachzugehen.535

Die Schreibschule wird so zur markantesten Ausdrucksform eines als lebensfremd und elitär etikettierten Betriebs. Die Annahme, hier würden junge Autor*innen vom Betrieb für den Betrieb ausgebildet, lässt die Schulen zu einer beliebten Projektionsfläche für einen allgemeinen Verdruss an den Positionskämpfen auf dem literarischen Feld werden. Autodiebe und Bürgerkinder – Der Konformismus-Vorwurf Besonders deutlich wurde diese Aversion im Zuge von Florian Kesslers Polemik gegen die soziale Homogenität an deutschen Schreibschulen, die bereits im Zusammenhang von Authentizität und Herkunft thematisiert wurde. Während Kessler selbst vor allem auf die bildungsbürgerliche Herkunft der meisten Schreibschul-Studierenden und die sich für ihn daraus ergebende habituelle und letztlich auch ästhetische Konformität jüngerer Gegenwartsliteratur abhebt,536 wird diese Kritik in den nachfolgenden Debattenbeiträgen noch ausgeweitet. So schreibt Marko Martin in der taz, an den »zahlreiche[n] […] aus Schreibschulen direkt in Verlagskataloge und Stipendiumsreigen hineingeglittene[n] deutsch schreibende[n] Akademikerkinder[n]« sei letztlich »nicht ihr homogenes Herkunftsmilieu das Problem, sondern ihre habituelle und mentale Waschlappigkeit, die bei allem schicken Vernetztsein doch von einer frappierenden Abwehr gegen die Gerüche der Welt zeugt«.537 Es ist ein geradezu nietzscheanischer Vitalismus dezidiert männlicher Prägung, den Martin hier dem aus seiner Sicht verweichlichten Konformismus der jungen Autor*innengeneration gegenüberstellt. Nicht zufällig wird Jörg Fauser als das leuchtende Gegenbeispiel früherer Jahrzehnte angeführt,538 verbinden sich in ihm doch auf geradezu prototypische Weise männlicher Habitus und lebensgesättigte Textproduktion.539 535 Kempke: Get a life!, S. 72. 536 Vgl. Kessler: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! Zur literatursoziologischen Dimension in Kesslers Polemik vgl. auch Peer Trilcke: Buh! In: Litlog vom 16. 02. 2014, http://www.li tlog.de/buh/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 537 Marko Martin: Schreiben in einer Blase. In: taz vom 13. 02. 2014, https://taz.de/!395202/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 538 Vgl. ebd. 539 Wobei das in der literarischen Öffentlichkeit dominante Bild einer positiv konnotierten, lebensbejahenden Männlichkeit einer genauen Lektüre von Fausers Texten kaum standhält, wie der Literaturwissenschaftler Simon Sahner in einem Essay aufschlussreich gezeigt hat.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Eine ähnlich distinktive Position im literarischen Feld wird Clemens Meyer zugeordnet, der als Absolvent des Deutschen Literaturinstituts Leipzig das habituelle Gegenstück zum Kessler’schen Entwurf des verwöhnten und erfahrungsarmen Bildungsbürgerkinds mit Hornbrille bildet. Meyers raue und zuweilen grobschlächtige Art, sein Bierkonsum, sein sächsischer Dialekt und vor allem seine biographischen Stationen im Baugewerbe und im Jugendarrest lassen ihn als jemanden erscheinen, der nicht nur eine andere soziale Herkunft aufweist als die meisten anderen Schreibschulabsolvent*innen,540 sondern auch durch seinen Erfahrungsreichtum legitimiert ist, seine Biographie zur Quelle literarischer Produktivität zu machen.541 Meyers Sonderstellung unter seinen Kommiliton*innen wird durch in Feuilletons kursierende Anekdoten veranschaulicht wie die, nach der er »[z]um ersten Semester im Leipziger Literaturinstitut […] zunächst nicht erscheinen [konnte], weil er wegen Autodiebstahls ins Gefängnis musste. ›Shit happens‹, soll sein Seminarleiter Burkhard Spinnen damals dazu gesagt haben.«542 Auch wenn der Wahrheitsgehalt dieser Anekdote alles andere als gesichert ist, zeigt der hier gezeichnete Kontrast zwischen kleinkrimineller Aktivität und akademischem Alltag doch mehr als deutlich die Dichotomie zwischen den Gefahren des ›wahren‹ Lebens und der Bravheit des Schreibschulstudiums, die in der feuilletonistischen Wahrnehmung der jüngeren Autor*innengeneration so häufig reproduziert wird. Die Anekdote lässt sich – unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt – als Teil der biographischen Legende des Schriftstellers Clemens Meyer werten, trägt aber ebenso zur Legendenbildung des Leipziger Literaturinstituts selbst bei. Nicht umsonst wird wie hier durch Volker Weidermann die betont lakonische Reaktion des damaligen Dozenten Burkhard Spinnen miterzählt. Das Literaturinstitut – so wird durch Spinnens ›Shit happens‹ suggeriert – sieht durchaus wohlwollend auf abweichendes Verhalten seiner Schützlinge. Dass sich Meyer vom Klischee des Schreibschul-Studenten abhebt, macht ihn viel eher zum Vorzeige-Absolventen als zum Außenseiter. Denn nicht nur das Feuilleton, auch die akademischen Vgl. Simon Sahner: Der harte Kerl des Literaturbetriebs? – Über die eindimensionale Sicht auf Jörg Fauser. In: 54Books vom 29. 05. 2019, https://www.54books.de/der-harte-kerl-des-li teraturbetriebs-ueber-die-eindimensionale-sicht-auf-joerg-fauser/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 540 Als solcher wird Meyer von Kessler auch – neben Olga Grjasnowa und Sasˇa Stanisˇic´ – als Ausnahme seines Befunds angeführt. Vgl. Kessler: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! 541 Siehe dazu ausführlich Kapitel 3.4.3 dieser Arbeit. Darin wird auch dargelegt, wie Meyer diese Erwartungen an seine literarische Produktion auf textueller Ebene unterläuft. 542 Volker Weidermann: Die Welt ist bunt und rot und stimmt nicht mehr. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. 08. 2013, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/cleme ns-meyer-und-der-roman-im-stein-die-welt-ist-bunt-und-rot-und-stimmt-nicht-mehr-12 536013.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Schreibschulen selbst vertreten mitunter die Auffassung, dass eine spezifische Form der Lebenserfahrung förderlich, wenn nicht gar konstitutiv für einen erfolgreichen Start als literarische*r Autor*in ist. Hans-Ulrich Treichel und Josef Haslinger, beide langjährige Professoren am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, sehen den Faktor ›Biographie‹ sogar als einen von drei Grundvoraussetzungen für eine Karriere als Schriftsteller*in, wie sie im Vorwort ihres Schreibratgebers Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller? schreiben: Neben dem Schreibwunsch und der Begabung gibt es noch ein Drittes, was den Schriftsteller ausmacht: seine Biographie. Kindheit, Jugend, Familie, soziale, sprachliche und geographische Herkunft gehören naturgemäß zu den entscheidenden Ressourcen literarischer Imagination und Produktivität. Selbst und natürlich auch dann, wenn nichts davon in einem literarischen Werk auftauchen oder jemals thematisch werden sollte.543

Die Trias von Schreibwunsch, Begabung und Biographie erinnert dabei an eine andere Trias mit Kernkompetenzen, die vor allem im angloamerikanischen Raum als zentrales Produktionsmodell der akademischen Ausbildung von Autor*innen gilt. Nach Mark McGurl lassen sich diese drei »key components« als »creativity«, »craft« und »experience« bestimmen.544 Jedem der drei Begriffe ist zusätzlich ein pädagogischer Imperativ zugeordnet: »find your own voice«, »show, don’t tell« und »write what you know«.545 Auch hier findet sich also mit der Komponente »experience« und dem beigeordneten »write what you know« das poetologische Erfahrungsparadigma, nach dem die Biographie als Quelle literarischer Produktivität nicht wegzudenken ist.546 Da sich individuelle Lebenserfahrung jedoch nur begrenzt im Rahmen eines akademischen Lehrplans vermitteln lässt, gilt die markante Biographie meist als etwas, das die Studierenden bereits mitbringen müssen, wenn sie die Schreibschule betreten. Diese versteht sich dann entsprechend als Institution, die das Wissen vermittelt, das benötigt wird, um aus dem ›Rohmaterial‹ der Lebenserfahrung Literatur zu formen: Die produktionsästhetische Maxime ›erst Leben, dann Literatur‹ wird bei alldem bestätigt. Auf diese Weise kann das Institut als Objektivierungsinstanz verstanden werden, die dabei hilft, gelebte Erfahrungen in Literatur zu überführen und aus dem ›write what you know‹ das Stadium des ›find your voice‹ zu erreichen.547

543 Josef Haslinger/Hans-Ulrich Treichel: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Wie werde ich ein verdammt guter Schriftsteller? Berichte aus der Werkstatt. Frankfurt am Main 2005, S. 7–10, hier S. 8. 544 Mark McGurl: The Program Era. Postwar Fiction and the Rise of Creative Writing. Cambridge, Mass./London 2009, S. 23. 545 Ebd. 546 Vgl. Kempke: Get a life!, S. 61. 547 Ebd., S. 65.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Sowohl in ihrer feuilletonistischen Rezeption als auch in ihrem eigenen Selbstverständnis lässt sich anhand der akademischen Schreibschulen die Gültigkeit einer spezifischen Authentizitätsnorm für junge Autor*innen ausmachen, die sich am Konzept einer biographischen Authentizität orientiert: Die Schreibenden müssen über eine besondere Form der Lebenserfahrung verfügen, um literarisch produktiv sein zu können, und sie müssen diese Lebenserfahrung erkennbar in ihre literarische Produktion einfließen lassen. 250 Jahre nach der Hochphase des Sturm und Drang mag das Genie – nicht zuletzt durch die Schreibschulen – endgültig zu einem historischen Begriff geworden sein. In gleichem Maße aber erleben andere Schlüsselbegriffe dieser Epoche – ›Erleben‹, ›Unmittelbarkeit‹, ›Originalität‹ – in der Kulmination zum modernen Authentizitätsbegriff eine Renaissance. Dass dies im besonderen Maße für die jüngere Generation von Autor*innen gilt, mag nicht zuletzt damit zu tun haben, dass die Inszenierung von Leidenschaft und Lebensnähe der Stürmer und Dränger die Wahrnehmung jugendlicher Autorschaft bis in die Gegenwart hinein geprägt hat.

3.3

Authentizität und Privatheit

Geht man davon aus, dass das Private »im Gegensatz zum Öffentlichen steht«, wie es unter anderem die Definition der Politikwissenschaftlerin Sandra Seubert vorsieht,548 ergibt sich ganz automatisch eine Verbindung zum Authentizitätsdiskurs. Da Inszenierungspraktiken nach Jürgensen und Kaiser eine »absichtsvolle Bezogenheit auf öffentliche Resonanzräume« voraussetzen,549 könnte man demnach das Private als inszenierungsfreien Raum lesen. Folgt man wiederum dem allgemeinen Verständnis, nach dem Inszenierung das Gegenstück zu Authentizität darstellt, so wäre die Privatsphäre der Ort, an dem Authentizität am verlässlichsten zu finden wäre. Dem Privaten wohnt damit ein besonderes Authentizitätsversprechen inne. Diese Annahme schlägt sich insbesondere in einschlägigen Beispielen aus Ratgeberliteratur und Coaching-Angeboten nieder, wenn etwa vom »Authentisch-Bleiben im Beruf« die Rede ist.550 Der teils als karrierepraktische Empfehlung, teils als moralisches Authentizitätspostulat formulierte Imperativ, im Berufsleben genauso authentisch aufzutreten wie im Privatleben, impliziert, dass 548 Sandra Seubert: Privatheit (privat). In: Martin Hartmann/Claus Offe (Hg.): Politische Theorie und Politische Philosophie. München 2011, S. 284–286, hier S. 284. 549 Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 10. 550 Dies wird als einer der Schwerpunkte von »Executive-Coach« Elisabeth Rohmert auf ihrer Internetpräsenz angegeben. (Elisabeth Rohmert: Executive Coaching, http://www.rohme rt.com/de/executive_coaching.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.)

Authentizität und Privatheit

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der Privatsphäre bessere Bedingungen für die Bewahrung und Herausbildung von authentizitätskonstitutiven Qualitäten wie Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit unterstellt werden. Geht es aber um ein medial vermitteltes Bild von Privatheit, das, wie im Zusammenhang dieser Untersuchung, über das Medium der Literatur einer rezipierenden Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, haben wir es mit einem Paradoxon zu tun. Denn letztlich geht es hier um eine inszenierte Privatheit, die sich über literarische Texte und deren Paratexte absichtsvoll auf öffentliche Resonanzräume bezieht. ›Inszenierte Privatheit‹ wäre dementsprechend auf ähnliche Weise paradox wie die Rede von ›inszenierter Authentizität‹. In diesem Kapitel wird daher ›Privatheit‹ analog zu ›Authentizität‹ nicht als ontologischer Ist-Zustand behandelt, sondern als Zuschreibungsmerkmal und medial vermittelte Inszenierung, die den Anschein erwecken soll, es werde hier Privates verhandelt. Der Literaturwissenschaftler Hans Krah sieht bei Privatheitsinszenierungen gar ein »Eindringen des Privaten in den öffentlichen Raum« am Werk.551 Die mediale Vermittlung werde nämlich, so Krah, gerade nicht dazu genutzt, Distanz zu schaffen oder die eigene Medialität zu thematisieren. Vielmehr sei es »die spezifische mediale Präsentation selbst, die erst dafür sorgt bzw. einen wesentlichen Anteil daran hat, dass dem Dargestellten das Label ›Privatheit‹ zugesprochen wird«.552 Denn auch für Krah geht es bei der »Inszenierung von Privatheit nicht um Privatheit an sich, sondern diese wird dabei spezifisch funktionalisiert«.553 Eine wesentliche Funktion sieht er dabei in der Erzeugung von Authentizitätseffekten: »Zum einen dient das Private generell als Indikator für Realität bzw. Authentizität. Da es eigentlich um das Konstrukt Realität geht und als Zeichen für Realität […] Privatheit gilt, wird Realität über den (Um-)Weg des Privaten verdeutlicht und zu installieren versucht.«554 Die Inszenierung von Privatheit lässt sich demnach als eine Form der Inszenierung von Authentizität betrachten, bei der die dargestellten, privat konnotierten Handlungen und Gegenstände Authentizitätseffekte erzeugen, die als Garant für Glaubwürdigkeit, Echtheit und Nähe dienen. Ein besonders markantes Beispiel hierfür liefert das populärkulturelle Phänomen des Reality-TV, insbesondere das Format der Reality-Soap, in der sich die Teilnehmer*innen freiwillig in ihrer privaten Umgebung von Kameras begleiten lassen. Konstantin Dörr, Matthias Herz und Michael Johann sehen dieses Format »im Spannungs551 Hans Krah: Das Konzept ›Privatheit‹ in den Medien. In: Petra Grimm/Oliver Zöllner: Schöne neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit? Die Veröffentlichung des Privaten in Social Media und populären Medienformaten. Stuttgart 2012, S. 127–158, hier S. 141. 552 Ebd. 553 Ebd., S. 142. 554 Ebd.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

feld zwischen Authentizität und Inszenierung, zwischen Realität und Fiktion […]. Dabei soll der Schein von Authentizität aufrechterhalten werden, während tatsächlich – objektiv betrachtet – Realität inszeniert wird«.555 Als Ursache für die Konjunktur solcher Formate nennen die Autoren den allgemeinen »Wunsch nach dem Privaten, Realen, Unverstellten und Authentischen« und knüpfen so ebenfalls ein direktes Band zwischen der Darstellung von Privatem und dem Verlangen nach Authentizität.556 Ein weiteres populäres Beispiel stellt die Inszenierung des Privatlebens von Politiker*innen dar. Diese inszenieren sich für gewöhnlich als Träger*innen eines öffentlichen Amtes und damit dezidiert nicht als Privatpersonen. Dennoch gibt es spätestens seit den 1990er Jahren auch im deutschsprachigen Raum vermehrt Medienformate wie die sogenannten Home-Storys, die für sich beanspruchen, die private Seite von politischen Akteuren zu beleuchten, und dazu beitragen, dass den Protagonist*innen des Formats Nahbarkeit, Sympathie und Authentizität zugeschrieben wird. Dabei steht gerade in dieser öffentlichkeitswirksamen Inszenierungsform nicht die tatsächliche Privatperson, sondern nach wie vor der politische Akteur im Vordergrund.557 In der Literatur spielt Privatheit spätestens seit dem 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Dies betrifft sowohl die fiktionale Textebene, wenn es etwa um die Darstellung von intimen Gedanken und Handlungen auf Figurenebene geht, als auch das für diesen Untersuchungszusammenhang relevante Privatleben des Autors, das zeitgleich mit dem wachsenden Interesse an Autorschaft im Allgemeinen durch die Etablierung des literarischen Marktes Ende des 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewonnen hat. Fragt man nach der Inszenierung von Privatheit als Teil einer Inszenierung von literarischer Autorschaft, lässt sich zunächst grob in einen Modus der Nähe und einen Modus der Distanz unterscheiden, wobei letzterer sich vor allem dadurch auszeichnet, dass auf die Inszenierung von Privatheit weitestgehend verzichtet wird bzw. dass durch andere Formen der Inszenierung gegenläufige Signale gesendet werden. Im Konkreten kann sich das in der Verweigerung von Interviews äußern (oder in der Weigerung, in Interviews Informationen über das Privatleben preiszugeben) sowie in einem bewussten Rückzug aus dem öffentlichen Leben wie bei Arno Schmidt, der die letzten 20 Jahre seines Lebens abgeschieden im Heidedorf Bargfeld lebte und öffentliche Auftritte mied. Ein noch stärker ausgeprägter Modus der Distanz 555 Konstantin Dörr/Matthias Herz/Michael Johann: Deutschland ›privat‹. Realitätsentwürfe in Scripted Reality-Dokumentationen. In: Grimm/Zöllner: Schöne neue Kommunikationswelt oder Ende der Privatheit?, S. 159–187, hier S. 163. 556 Ebd., S. 159. 557 Vgl. Paula Diehl: Zwischen dem Privaten und dem Politischen – Die neue Körperinszenierung der Politiker. In: Sandra Seubert/Peter Niesen (Hg.): Die Grenzen des Privaten. Baden-Baden 2010, S. 251–265, hier S. 252.

Authentizität und Privatheit

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findet sich etwa bei Autoren wie J.D. Salinger und Thomas Pynchon, die sich komplett von der Öffentlichkeit abschotten und auch keine Fotografien von sich dulden. Genau genommen handelt es sich allerdings auch bei einem solchen radikalen Rückzug ins Privatleben um eine Inszenierung von Privatheit, da die Privatsphäre der jeweiligen Autor*innen zwar unzugänglich ist, aber gerade dadurch eine enorme Präsenz in der öffentlichen Wahrnehmung erlangt.558 Der Modus der Nähe wiederum zeichnet sich durch eine scheinbare oder tatsächliche Zugänglichkeit zum privaten Bereich des Autors aus. Dabei ist es zunächst einmal unerheblich, ob der Öffentlichkeit Einblick in das wirkliche Privatleben der schreibenden Person gewährt wird oder ob lediglich im Sinne einer Rhetorik des Privaten Effekte produziert werden, die eine Nähe zum ›echten‹ Menschen hinter den literarischen Kunstwerken simulieren soll. Darüber hinaus lassen sich verschiedene Formen der Inszenierung von Privatheit unterscheiden, die in ihrem Modus jeweils variieren, das heißt unterschiedlich stark Nähe bzw. Distanz suggerieren können. Auf besondere Weise in der literarischen Tradition verankert ist dabei die biographische Inszenierung von Privatheit. Hierbei geht es um die Offenlegung von biographischen Informationen, die den Autor als Privatperson betreffen. Die Möglichkeiten dieser Offenlegung sind breit gefächert und reichen auf textueller Ebene von Anspielungen in fiktionalen Texten mit leicht autofiktionalem Charakter bis hin zu ausführlichen Schilderungen intimer Erinnerungen und Gedanken in autobiographischen Textsorten wie Tagebüchern und Briefwechseln. Auf paratextueller Ebene sind in diesem Zusammenhang alle Aussagen des Autors relevant, die in Interviews oder anderen Formaten getätigt werden und biographische Informationen preisgeben, die dazu geeignet sind, Privatheitseffekte zu erzeugen. Aber auch nichtsprachliche Äußerungen wie Fotografien (insbesondere Kindheits- und Jugendfotos des Autors) können für die biographische Inszenierung von Privatheit genutzt werden. Auch die personenbezogene Inszenierung von Privatheit kann Hinweise auf die Biographie des Autors enthalten, die Bezugnahme richtet sich aber in diesem Fall nicht auf den Autor selbst, sondern auf ihm nahestehende Personen. Gemeint sind damit Personen aus dem familiären Umfeld des Autors, die sein Privatleben verkörpern können. In der Regel sind dies Ehepartner*innen, Lebensgefährt*innen, Kinder, Eltern, Geschwister oder Freund*innen des Autors.559 Die Bezugnahme erfolgt in den häufigsten Fällen in Form von Wid558 Vgl. hierzu auch Christian Krachts Ästhetik des Verschwindens in Kapitel 3.4.1 dieser Arbeit. 559 Eine Ausnahme bilden Familienangehörige, Freund*innen und Partner*innen, die unabhängig von ihrer Beziehung zum Autor bereits in der Öffentlichkeit stehen und daher nicht oder nur teilweise das Privatleben des Autors verkörpern können. Wenn sich beispielsweise Friederike Mayröcker und Ernst Jandl gemeinsam ablichten lassen, so lässt sich das zwar teilweise auch als Inszenierung von Privatheit lesen, zuallererst aber inszenieren sich auf

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

mungen und Danksagungen im Peritext. Möglich sind aber auch Erwähnungen in Interviews oder Fotografien, die den Autor gemeinsam mit einer nahestehenden Person zeigen – zunehmend anzutreffen sind solche vor allem in den sozialen Medien des Web 2.0.560 Die räumliche Inszenierung von Privatheit bezieht sich auf die private bzw. der Öffentlichkeit gegenüber als privat präsentierte räumliche Umgebung des Autors. Im Zentrum stehen dabei insbesondere Arbeitsräume und Wohnräume jeglicher Art sowie halbprivate Räume wie Hotelzimmer oder auch Stammlokale. Eine längere Tradition hat die Inszenierung von privaten Räumen eines Autors durch die museale Nutzung von sogenannten Dichterhäusern. Durch den haptisch erfahrbaren Zugang zur (vermeintlich) privaten Sphäre des Autors kann hier bei den Besucher*innen der Eindruck von direkter Nähe entstehen.561 Eine journalistische Textsorte, in der die räumliche Inszenierung von Privatheit einen besonderen Stellenwert einnimmt, ist die Home-Story. Dabei handelt es sich nach Carolin John-Wenndorf um einen »personenzentrierte[n], unterhaltungsorientierte[n] und mit zahlreichen Bildern illustrierte[n] Bericht über das private Wohn- und Lebensumfeld einer Person«.562 Auch im klassischen Interview wird meist besonders betont, wenn das Gespräch nicht in der Zeitungsredaktion, sondern im Wohnzimmer des Autors oder in dessen Stammlokal stattfindet. Daneben gibt es auch hier die Praxis der Veröffentlichung von Bildern des Arbeitsplatzes oder von Hotelzimmern auf Lesereisen über die Kanäle der sozialen Medien.563 Bei der Inszenierung von körperlicher und sexueller Privatheit handelt es sich um eine besondere Form der Privatheitsinszenierung. Sexualität gilt als besonders intime Sphäre des Privaten. Entsprechend werden der nackte Körper und das eigene Sexualleben für gewöhnlich nicht nur vor einem Zugriff durch die breite Öffentlichkeit geschützt; in der Regel bleiben sie im Rahmen eines engen

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diese Weise beide als Dichterpaar. Keiner verkörpert hier in erster Linie die private Seite des jeweils anderen. Ein Beispiel hierfür ist die Facebook-Präsenz des Bestseller-Autors Sebastian Fitzek, auf der er zahlreiche Fotos veröffentlicht, auf denen er sowohl mit seinen Fans als auch mit Personen aus seinem näheren privaten Umfeld zu sehen ist. Vgl. Sebastian Fitzek: Facebook-Profil, https://www.facebook.com/sebastianfitzek.de/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Dies gilt auch, wenn es sich bei den privaten Räumen des Autors lediglich um eine Rekonstruktion handelt wie im Falle des Goethe-Hauses in Frankfurt am Main. John-Wenndorf: Der öffentliche Autor, S. 357. Robert Menasse beispielsweise veröffentlicht während seiner Lesereisen bei jeder Station jeweils ein Bild vom Hotelzimmer, in dem er nächtigt, und vom bei der Lesung anwesenden Publikum. Hier handelt es sich gewissermaßen um eine parallele Inszenierung von Privatheit und Öffentlichkeit: Zum einen wird räumliche Privatheit inszeniert, zum anderen inszeniert sich Menasse mit der bildlichen Darstellung seines Publikums als öffentlich wirksamer Autor. Vgl. Robert Menasse: Facebook-Profil, https://www.facebook.com/Robert.Me nasse/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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privaten Schutzraums nur den intimsten sozialen Kontakten zugänglich. Doch selbstverständlich gibt es auch in diesem Bereich Ausnahmen. Außerdem gibt es auch hier verschiedene Modi der Inszenierung von körperlicher Privatheit, die eine Spannbreite zwischen Distanz und Nähe auffächern: Von der bloßen körperlichen Präsenz des Autors bei Lesungen (bei der Besucher*innen halbprivate Informationen wie Körpergröße und Sockenfarbe des Autors in Erfahrung bringen können) bis zur Inszenierung von völliger Nacktheit,564 von Anspielungen und Andeutungen bis zur detaillierten Offenlegung des Sexuallebens in autobiographischen Texten oder in paratextuellen Aussagen ist alles möglich. Die im Folgenden behandelten Beispiel-Autor*innen Thomas Glavinic und Charlotte Roche zeichnen sich beide durch einen besonders ausgeprägten Modus der Nähe aus, obwohl keine*r von ihnen bisher einen autobiographischen Text im herkömmlichen Sinne geschrieben hat. Beide nutzen auf sehr unterschiedliche Weise verschiedene Formen der Inszenierung von Privatheit, um Authentizitätssignale zu erzeugen, und beide reagieren ebenfalls sehr unterschiedlich auf die Authentizitätserwartungen, mit denen sie konfrontiert werden. Thomas Glavinic hat in mehreren autofiktionalen Romanen die Privatsphäre seines Alter Egos durchleuchtet und in Interviews sowie im social web auf ganz ähnliche Weise sein vermeintlich eigenes privates Selbst inszeniert, dabei aber immer wieder auf den Fiktionsstatus seiner Texte hingewiesen. Charlotte Roches Roman Feuchtgebiete (2009) hingegen ist nicht autofiktional und hat seinen Bezug zum Privatleben der Autorin erst durch die paratextuelle Inszenierung Roches erhalten.

3.3.1 Selbstbespiegelung und Exhibitionismus: Thomas Glavinic Ein Aufsehen erregender Fall von körperlicher Inszenierung von Privatheit ereignete sich am 1. Dezember 2014: Auf seinem privaten Facebook-Account postete der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic ein Nacktfoto, auf dem er selbst breitbeinig auf einem Stuhl sitzend und mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zu sehen ist. Zwei Tage darauf wurde das Foto in verpixelter Form in den österreichischen Gratiszeitungen heute565 und Öster-

564 Die visuelle Inszenierung von Nacktheit ist auf dem literarischen Feld eher selten, hat aber durchaus prominente Vorbilder: Man denke nur an die Fotografien von Hermann Hesse beim Nackt-Klettern. 565 Vgl. o. A.: Autor Glavinic ganz nackt auf Facebook. In: heute vom 03. 12. 2014, http://www.he ute.at/people/promis/story/18074879, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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reich566 abgedruckt, wenig später wurde der Vorfall auch in seriösen, überregionalen Tageszeitungen wie Die Welt thematisiert.567 Nach eigenen Angaben wollte Glavinic mit dieser Aktion ein Zeichen setzen gegen die aus seiner Sicht unhaltbare Facebook-Richtlinie, nach der die Darstellung von Nacktheit zensiert wird, die Darstellung von Gewalt jedoch nicht.568 Andere Mitglieder der österreichischen Literaturszene gehen allerdings eher davon aus, dass es dem Autor hier nur um die größtmögliche mediale Aufmerksamkeit ging. So sagte etwa die Autorin Stefanie Sargnagel gegenüber dem Tagesanzeiger über Glavinics Nacktfoto-Aktion: »Auf mich machte es den Eindruck, als wolle da jemand einfach seinen Penis herzeigen.«569 Dies blieb nicht das einzige Mal, dass Glavinic durch im offensiven Modus der Nähe inszenierte Körperlichkeit Aufmerksamkeit erregte. Am 10. März 2017 behauptet der Autor in einem Facebook-Post, sein Computer sei gehackt worden und Unbekannte hätten Nacktfotos von ihm im Internet verbreitet, wobei er den Link, der zu den entsprechenden Fotos führt, selbst in diesem Post verbreitete. Implizit verdächtigte er die oben bereits zitierte Stefanie Sargnagel der Verbreitung dieser Fotos. Diese wiederum äußerte die Vermutung, Glavinic selber habe für die Veröffentlichung der Nacktbilder gesorgt.570 Hinter diesen medial flankierten Possen, die die ohnehin gut beheizte Gerüchteküche des österreichischen Literaturbetriebs zusätzlich befeuerten, steckt allerdings mehr, als es auf den ersten Blick scheint: Sie sind Ausdruck einer Poetik der Selbstentblößung,571 in deren Rahmen auf verschiedenen Ebenen Privatheit inszeniert wird. Bei der eingangs beschriebenen Aktion handelt es sich also nicht um eine rein subjektbezogene, sondern um eine werkbezogene Inszenierung von Authentizität, bei der die öffentliche Selbstdarstellung des Autors 566 Vgl. o. A.: Starautor nackt auf Facebook. In: Österreich vom 03. 12. 2014, http://www.oe24.a t/oesterreich/chronik/wien/Starautor-nackt-auf-Facebook/167539654, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 567 Vgl. o. A.: Das ist doch er! Und dann auch noch nackig! In: Die Welt vom 06. 12. 2014, http s://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article135080188/Das-ist-doch-er-Und-dann-auch -noch-nackig.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 568 Vgl. Thomas Glavinic im Gespräch mit Markus Huber und Christian Seiler: »Zuckerberg, geh scheißen!«. In: Markus Huber (Hg.): Fleisch, Nr. 39, Heft 3/2016, S. 19–24, hier S. 20. 569 Stefanie Sargnagel im Gespräch mit Vanessa Simon: »Das ist Vaginaneid«. In: Tagesanzeiger vom 21. 09. 2016, http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/standard/Das-ist-Vaginaneid/stor y/14764096, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 570 Vgl. Stefan Mesch: Von Nacktheit, Selbstzensur und Opferumkehr. In: Deutschlandfunk vom 15. 03. 2017, http://www.deutschlandfunk.de/hasskommentare-von-nacktheit-selbstze nsur-und-opferumkehr.700.de.html?dram:article_id=381307, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 571 Mit seiner Selbstentblößung reiht sich Glavinic in eine durchaus vorhandene österreichische Tradition ein. Man denke hier nur an die Rolle der Nacktheit in den Performances von Valie Export oder den Vertretern des Wiener Aktionismus.

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einen wechselseitigen Einfluss mit dem literarischen Werk aufweist. Dabei liegt der Inszenierung eine Doppelstrategie zugrunde, nach der die Einheit von Leben und Werk simuliert wird, indem gleichzeitig die Authentifizierung des Romans wie auch die ›Verkunstung‹ des Lebens des empirischen Autors dargestellt wird. Autofiktionale Selbstentblößung: Bin ich’s oder bin ich’s nicht? Der erste autofiktionale Roman von Thomas Glavinic, Das bin doch ich (2007), beginnt mit einem sehr sprechenden Bild. Der Ich-Erzähler, ein junger Schriftsteller namens Thomas Glavinic, steht nackt vor dem Badezimmerspiegel, scheut sich aber aus panischer Angst vor Hodenkrebs vor einer eingehenden Betrachtung seiner selbst: Ich gehe ins Bad. Bevor ich die Unterhose ausziehe, wende ich mich vom Spiegel ab. Den Kopf starr geradehaltend, damit mein Blick nicht doch noch auf mein Geschlechtsteil fällt, steige ich in die Duschkabine. Unter den üblichen Verrenkungen dusche ich. Beim Rausgehen, als ich den Blick in den Spiegel nicht vermeiden kann, kneife ich die Augen zusammen. Ich recke den Hals und trockne mich ab. Die Verkrampfung löst sich erst, als ich wieder angezogen bin.572

In diesem ersten Absatz werden bereits einige der wichtigsten Motive des Romans eingeführt. Der Autor vorm Spiegel verweist schon zum Anfang der Erzählung auf die selbstreflexive Dimension des autofiktionalen Grundkonzepts – es ist die Selbstbetrachtung des Autor-Ichs, die hier im Vordergrund steht. Allerdings ist es in diesem Zusammenhang nicht ganz unwichtig, dass die widerwillige Spiegelschau nicht im Arbeitszimmer des Schriftstellers stattfindet oder in einem öffentlichen oder halböffentlichen Raum, sondern im Badezimmer kurz vor und nach dem Duschvorgang, also in einem dezidiert privaten Raum bei einer dezidiert privaten Handlung. Diese Beobachtung korreliert mit der Tatsache, dass in Das bin doch ich weniger die Reflexion von Autorschaft im Zentrum der autofiktionalen Erzählpraxis steht, als vielmehr die Betrachtung des Autors als Privatperson. Die Romanhandlung setzt ein, kurz nachdem die Autorfigur Thomas Glavinic das Manuskript zu seinem jüngsten Roman Die Arbeit der Nacht abgeschlossen und an seine Agentin verschickt hat, und endet mit der ersten öffentlichen Lesung aus dem kurz zuvor publizierten Roman. In diesem Zeitraum befindet sich der Protagonist in einer abwartenden Haltung und vertreibt sich die Zeit mit dem Besuch von Kulturveranstaltungen, mit Alkoholexzessen und Familienbesuch. Literarisches Schreiben spielt in der Romanhandlung praktisch keine Rolle und wird auch nicht reflektiert.573 572 Thomas Glavinic: Das bin doch ich. Roman. München 2007, S. 7. 573 Vgl. Sandra Potsch: Thomas Glavinics Das bin doch ich. Ein Spiel zwischen Autobiografie und Fiktion. In: Andrea Bartl/Jörn Glasenapp/Iris Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und

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Auch Das bin doch ich in erster Linie als Literaturbetriebssatire zu charakterisieren, wie es beispielsweise Birgitta Krumrey tut,574 wäre verkürzt. Denn auch wenn der Literaturbetrieb mit seinen Dynamiken und Akteuren durchaus eine Rolle in der Romanhandlung einnimmt, so liegt der Fokus doch zuallererst auf der Autorfigur selbst. Und dessen Situierung innerhalb des Literaturbetriebs ist nur ein Aspekt unter vielen, der hier selbstironisch aufgenommen wird. Mindestens genauso wichtig wie das öffentliche Leben des Autors im Literaturbetrieb ist für den Romaninhalt das private Ich des Protagonisten, das sich auf beinahe allen Ebenen der Privatheitsinszenierung selbst entblößt. Die räumliche Privatheit in der oben zitierten Passage wird durch die Nacktheit des Protagonisten um eine körperliche und sexuelle Dimension erweitert. Das männliche Geschlechtsorgan rückt dabei gerade durch die krampfhafte Nichtbeachtung seines Trägers in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Körperlichkeit, Sexualität und Männlichkeit werden hier als Motive eingeführt, die sich durch den gesamten Romantext ziehen.575 Die Sexualität des Protagonisten wird mitunter explizit thematisiert, wenn er seinem Freund Daniel Kehlmann576 von seinem Aufenthalt im Sex-Shop oder seinen Masturbationsgewohnheiten als Kind berichtet.577 Aber auch jenseits von sexuellen Konnotationen rückt der Körper des fiktionalisierten Thomas Glavinic in den Fokus, wenn dieser einen Bluterguss am Oberschenkel fotografiert, den er sich im Skiurlaub zugezogen hat,578 oder wenn er sein Gesicht mit dem des amerikanischen Autors Jonathan Safran Foer vergleicht und zu dem Schluss kommt, dass man an seinem Gesicht im Gegensatz zu Foers leider keine »Geistestiefe oder Scharfsinnigkeit oder die Lektüre von Tausenden Büchern« ablesen könne.579 In diesem Zusammenhang wirkt es fast schon wie ein ironischer Meta-Kommentar, wenn Glavinic an einer Stelle des Romans den Mitarbeiter einer Wiener Stadtzeitschrift betrunken angeht, »er solle sich nicht immer so intensiv mit meinem Körper auseinandersetzen«.580

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Glück. Thomas Glavinics Vermessung der Gegenwart. Göttingen 2014, S. 250–266, hier S. 258. Vgl. Krumrey: Der Autor in seinem Text, S. 123–130. Zur Inszenierung von Männlichkeit bei Thomas Glavinic siehe auch Kapitel 3.5.2 dieser Arbeit. Im Romantext selbst wird der Nachname ›Kehlmann‹ nicht genannt. Es wird allerdings sehr deutlich, dass diese Figur ihre realweltliche Entsprechung im Autor Daniel Kehlmann findet, hauptsächlich weil sie zum Zeitpunkt der Romanhandlung einen großen Erfolg mit dem Roman Die Vermessung der Welt feiert. Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 12. Vgl. ebd., S. 221f. Vgl. ebd., S. 146. Ebd., S. 13. Ebd., S. 32.

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Gegen Ende des Romans steht Glavinic noch einmal vor dem Badezimmerspiegel. Diesmal wendet er seinen Blick nicht ab, sondern untersucht eingehend sein Geschlechtsteil. Nach einer gründlichen Intimrasur betrachtet er sich erneut und seine Angst vor Hodenkrebs scheint nun zumindest teilweise gebannt: »Und dann bin ich fertig. Ich betrachte mich im Spiegel. Zwei unausgebeulte Hoden. Zwei krebsfreie Hoden. Ich bin nicht krank. Oder? Ich bin nicht krank. Oder?«581 Zu dieser Rahmung des Romantexts durch intime männliche Körperlichkeit bemerkt Annette Keck: »Anfang und Ende des Romans bestimmen, ob man das will oder nicht, das männliche Geschlechtsteil.«582 Dass das zwanghafte Wegschauen der eingehenden Betrachtung gewichen ist, lässt sich als poetologischer Metakommentar zum autofiktionalen Konzept des Romans lesen: Der Autor beschäftigt sich am Anfang nur widerwillig mit dem eigenen Ich, lässt sich dann aber ganz und gar auf die Praxis der Selbstbespiegelung ein und legt auch seine intimsten Stellen frei. Vordergründig drehen sich die Selbstbetrachtungen des Protagonisten aber zunächst um dessen Hypochondrie. Diese beschränkt sich nicht nur auf die Angst vor Hodenkrebs, sondern betrifft etwa auch die Sorge »an Vogelgrippe in Folge einer Taubenkotattacke zu erkranken«.583 Insgesamt lässt sich sagen, dass der Schriftsteller namens Thomas Glavinic in diesem Roman mit auffallend vielen Schwächen und negativ konnotierten Eigenschaften gezeichnet wird: Er ist hypochondrisch, nervös, leidet an Flugangst, hat ein schwerwiegendes Alkoholproblem und ist neidisch auf seinen sehr viel erfolgreicheren Freund Daniel.584 Noch deutlicher erfolgt die Pathologisierung der Autorfigur im 2016 erschienenen Roman Der Jonas-Komplex. Der knapp 750 Seiten umfassende Roman besteht aus drei Handlungssträngen, von denen einer autofiktional aus dem Leben des Wiener Schriftstellers Thomas Glavinic erzählt und auch ansonsten deutliche Parallelen zu Das bin doch ich aufweist.585 Einige Motive aus dem neun Jahre zuvor erschienenen Roman werden hier noch verstärkt: Zum übermäßigen Alkoholkonsum des Protagonisten kommen Kokainabhängigkeit 581 Ebd., S. 218. 582 Annette Keck: ›Das ist doch er‹. Zur Inszenierung von ›Autor‹ und ›Werk‹ bei Thomas Glavinic. In: Bartl/Glasenapp/Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und Glück, S. 238–249, hier S. 241. 583 Glavinic: Das bin doch ich, S. 172. 584 Auch Sandra Potsch sieht hier »Glavinic vor allem von seiner schwachen Seite präsentiert«. Potsch: Thomas Glavinics Das bin doch ich, S. 262. 585 Die anderen beiden Stränge des Romans erzählen von einem introvertierten dreizehnjährigen Jungen in der Weststeiermark, der ebenfalls einige biographische Parallelen zum empirischen Autor aufweist, sowie vom titelgebenden Jonas – ein reicher Extremsportler, der bereits in Glavinics Romanen Die Arbeit der Nacht (2006), Das Leben der Wünsche (2009) und Das größere Wunder (2013) als Figur auftaucht.

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und Medikamentenmissbrauch hinzu. Seine Ängste und Neurosen weiten sich ebenfalls aus und verbinden sich mit Entzugserscheinungen und Paranoia, die in der Überzeugung, bereits tot zu sein, gipfeln.586 Der komische Effekt, der die Schilderungen eines betrunkenen, sich ständig blamierenden Schriftstellers in Das bin doch ich noch begleitet hat, wird hier mehr und mehr von der tragischen Dimension des Krankheitsberichts eines Süchtigen abgelöst. Außerdem lebt der fiktionalisierte Thomas Glavinic in Der Jonas-Komplex mittlerweile getrennt von seiner Ehefrau und ist promiskuitiv unterwegs. Dies hat eine noch stärkere Inszenierung von sexueller Privatheit zur Folge: Die sexuellen Eskapaden der Autorfigur werden ausführlich beschrieben, auch nimmt der normabweichende Charakter der erzählten sexuellen Handlungen im Laufe des Romans immer weiter zu und gipfelt in der Schilderung von ungeschütztem Geschlechtsverkehr mit einem sodomitisch veranlagten Swinger-Pärchen unter dem Einfluss von Crystal Meth.587 Wenn Thomas Glavinic in autofiktionaler Weise von sexuellen Eskapaden, Drogensucht, Alkoholismus und Hypochondrie erzählt, reiht er sich damit nicht nur in eine dichterische Tradition der Inszenierung von rauschhafter und sexuell aktiver Männlichkeit ein, die sich von Ernest Hemingway über Charles Bukowski bis hin zu Jörg Fauser und Wolf Wondratschek ziehen lässt –588 er artikuliert damit auch besonders private Bereiche, die in der konventionellen Künstlerautobiographie entweder komplett ausgeklammert oder als Teil eines teleologischen per aspera ad astra-Narrativs integriert werden.589 In Das bin doch ich und Der Jonas-Komplex bleiben die Schwächen und Exzesse der Künstlerfigur jedoch ohne eine (dauerhafte) kathartische Wirkung. Glavinic orientiert sich in den beiden Texten dann auch weniger an der klassischen Künstlerautobiographie, sondern reiht sich vielmehr in die Tradition von ›Lebensbeichten‹ ein. Eine solche findet sich in jüngerer Zeit beispielsweise bei Benjamin von StuckradBarre, der in seinem autobiographischen Roman Panikherz (2016) seinen drogeninduzierten beruflichen Abstieg beschreibt.590 Diese Form der Lebensbeichte ist Rousseaus autobiographischem Prinzip des tout dire verpflichtet, dem es darum geht, nichts zu verheimlichen, sondern den Leser*innen auch die in586 Vgl. Thomas Glavinic: Der Jonas-Komplex. Roman. Frankfurt am Main 2016, S. 191, 221, 238. 587 Vgl. ebd., S. 636–641. 588 Zur Darstellung von Männlichkeit bei Glavinic siehe auch Kapitel 3.5.2 dieser Arbeit. 589 Vgl. Jadwiga Kita-Huber: Zum Erzählen von Autorschaft in Thomas Glavinic’ Romanen »Das bin doch ich« und »Der Jonas-Komplex«. In: Laura Cheie/Eleonora Ringler-Pascu/ Christiane Widmer (Hg.): Österreichische Literatur. Traditionsbezüge und Prozesse der Moderne vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Wien 2018, S. 147–162, hier S. 154: »Der Protagonist […] ist kein idealer Held, wie wir ihn aus der (dominanten) Tradition der klassischen Autobiografie kennen […].« 590 Vgl. Benjamin von Stuckrad-Barre: Panikherz. Köln 2016.

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timsten Details offenzulegen: ein Prinzip, das in der Gegenwartsliteratur vor allem mit Karl Ove Knausgårds Min kamp-Reihe Konjunktur erlangt hat, die als Vorbild zu Stuckrad-Barres Text betrachtet werden kann.591 Als weiteres verwandtes Genre ließe sich auch der autobiographische Krankheitsbericht ausmachen, wie er unter anderem von Thomas Melle mit seinem ebenfalls 2016 erschienenen Buch Die Welt im Rücken vorgelegt wurde. Darin erzählt der Autor auf literarisch verdichtete und gleichsam intime Weise von den Auswirkungen seiner bipolaren Störung.592 Die Betonung des Mangels und des Defizitären und das Thematisieren von Krankheit, Sucht und negativ konnotierten Charaktereigenschaften können als Verzicht auf Beschönigung und Glättung der biographischen Legende gelesen werden und auf diese Weise den Anschein des Authentischen erwecken. Gleichzeitig wird in Glavinics Romanen der Eindruck von Authentizität durch eine hyperbolisierte Darstellung und einen provokativen Gestus der Schamlosigkeit wieder subvertiert.593 Anders als die zuvor erwähnten Texte von StuckradBarre und Melle sind die beiden hier behandelten Bücher von Glavinic jeweils peritextuell als ›Roman‹ ausgewiesen. In Verbindung mit der Namensgleichheit von Ich-Erzähler und empirischem Autor wird ein autofiktionaler Charakter der Texte nahegelegt, in dessen Rahmen sich Glavinics distanzlose Inszenierung von Privatheit eher als Fiktions- denn als Authentizitätssignal lesen lässt. Denn wenn man von vornherein nicht von einer vollständigen Identität von Autor und Protagonist ausgeht, lesen sich die privat konnotierten Textmerkmale mehr als satirisch überzeichnete Selbstbezichtigung denn als ›Lebensbeichte‹. Dass diese Lesart sich aber keinesfalls zwingend aus der Lektüre ergibt, zeigen einige Amazon-Kundenrezensionen, deren Verfasser trotz der peritextuellen Kennzeichnung als ›Roman‹ von einer vollständigen Identität von Ich-Erzähler und Autor ausgehen. So fragt beispielsweise Amazon-Nutzer ›Gerhard 1972‹ nach der Autorintention von Das bin doch ich und stellt psychologisierende Mutmaßungen über das Schreiben als Selbsttherapie an: Als Leser bleibt man am Ende etwas ratlos zurück. Die Frage, was wollte mir der Autor mit seinem Roman mitteilen, ist berechtigt. Was ist die Botschaft des Autors an den Leser? – Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Glavinic dieses Buch hauptsächlich zur eigenen Therapierung, zur Selbstheilung geschrieben [hat], das Buch hat ihm offensichtlich geholfen, über eine für ihn schwierige Zeit hinwegzukommen. Dass er das mit 591 Siehe S. 92–94 dieser Arbeit. 592 Vgl. Thomas Melle: Die Welt im Rücken. Berlin 2016. 593 Dies führt zuweilen dazu, dass selbst dramatische Szenen immer wieder humorvoll gebrochen werden. So antwortet beispielsweise der autofiktionale Protagonist aus Der JonasKomplex einem Arzt, der ihn auf seinen Kokainmissbrauch hinweist: »Missbrauch? Ich habe mir das Zeug ja nicht in die Ohren geschmiert. Das wäre Missbrauch. Ich gebrauche es vollkommen sachgemäß.« (Glavinic: Der Jonas-Komplex, S. 621.)

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viel Humor und Ironie getan hat, ist für den Leser unterhaltsam und vergnüglich. Im Vordergrund steht jedoch sein (Selbst-)Findungsprozess, er ist auf dem Weg zu sich selbst.594

Amazon-Rezensent Stephan hat offenbar die auf dem Cover ausgewiesene Gattungsbezeichnung durchaus zur Kenntnis genommen, spricht dem Text aber jede Romanhaftigkeit ab (»Das ist doch kein Roman!«595) und gesteht dem Autor auch nicht die Berufsbezeichnung ›Schriftsteller‹ zu (»Tagebuchschreiber trifft es besser«596). Zudem stört er sich an der »Selbstdarstellung eines ausgesprochen unsympathischen, besserwisserischen selbstreferentiellen Säufers«.597 Stephanie Catani zitiert in ihrem Forschungsbeitrag zu Glavinics multimedialer Inszenierung außerdem noch eine Amazon-Rezension, die online mittlerweile nicht mehr verfügbar ist, in der Das bin doch ich als »Beschreibung eines traurigen Autorenlebens« und als »Auszug aus seinem [des Autors, Anm. C.D.] (faden) Leben« bezeichnet wird.598 Catani unterstreicht in diesem Zusammenhang, »dass sich die offenkundige Wut der Leser ausdrücklich gegen die vermeintlich peinliche Nabelschau des Autors (nicht etwa des Erzählers) richtet – die Gleichsetzung von beiden mithin gar nicht erst in Frage gestellt, sondern im Gegenteil vorausgesetzt wird«.599 Dass diese Voraussetzung der Identität von Autor und Erzähler nicht nur auf ungenauer Lektüre und einem vagen Fiktionalitätsverständnis beruht, sondern mitunter sehr bewusst und souverän artikuliert wird, zeigt die Besprechung des Amazon-Rezensenten Tobias Nazemi zu Der Jonas-Komplex: Die Frage, bei der normalerweise alle Autoren mit den Augen rollen, nämlich: Wieviel Autobiografisches steckt in ihren Romanfiguren? Diese Frage kann man sich bei Glavinic sparen, denn es sind auf alle Fälle mehr als 70 Prozent. Ich kenne nur wenige Autoren, die ihr eigenes Leben so hemmungslos in ihren Romanen ausrollen. […] Einer der drei Protagonisten ist einwandfrei der Autor himself. Nach zwei Romanen und dem Liken seiner Facebookseite, kenne ich die Kneipen, in denen er abhängt, die Orte, wo er sich seine Drogen besorgt, die Saufkumpels und habe sogar eine leise Ahnung, wer die junge erfolgreiche Autorin namens Helen sein könnte, mit der sein Roman-Ego ab und

594 Gerhard 1972: das ist doch er. Amazon-Kundenrezension vom 01. 09. 2010, https://www.ama zon.de/gp/customer-reviews/R8NVE80DWAT1X/ref=cm_cr_arp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&A SIN=3423138459, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 595 Stephan: Wie tief kann man sinken? Amazon-Kundenrezension vom 13. 03. 2008, https:// www.amazon.de/gp/customer-reviews/R3OQOOJDQOG2HL/ref=cm_cr_getr_d_rvw_ttl?ie =UTF8&ASIN=3423138459, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 596 Ebd. 597 Ebd. 598 Amazon-Kundenrezension zitiert nach: Stephanie Catani: Glavinic 2.0. Autorschaft zwischen Prosum, paratextueller und multimedialer (Selbst-)Inszenierung. In: Bartl/Glasenapp/Hermann (Hg.): Zwischen Alptraum und Glück, S. 267–284, hier S. 271. 599 Ebd.

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zu ins Bett geht. Ich will das eigentlich alles gar nicht wissen, mir ist das peinlich – zu viel Information. Ich halte mir Augen und Ohren zu und rufe laut: Blumenwiese! Und trotzdem kann man natürlich nicht genug davon bekommen.600

Der Rezensent ist sich hier ganz sicher: »auf alle Fälle mehr als 70 Prozent« des Geschriebenen ist autobiographischen Ursprungs und der Protagonist »ist einwandfrei der Autor himself«. Er bescheinigt dem Roman damit Glaubwürdigkeit, Echtheit, Lebensnähe, kurz: vollkommene Authentizität, die aber in diesem Fall nicht zu einem durchweg positiven Lektüreerlebnis beiträgt. Gerade aufgrund der vermeintlichen Authentizität wird die Qualität des Buchs hier eher kritisch bewertet. Im Zuge der autobiographischen Lesart wird die ungefilterte Privatheit eher als Zumutung empfunden. Die Inszenierung von Privatheit auf mehreren Ebenen, die in Das bin doch ich und Der Jonas-Komplex betrieben wird, erzeugt Nähe – eine Nähe, die trotz des Suchtcharakters, den der Rezensent feststellt, durchaus unangenehme Empfindungen hervorrufen kann. Der Vorwurf, der Autor habe in seinen Büchern nur peinliche Selbstbespiegelung betrieben, verbunden mit einer Gleichsetzung von Autor und Erzähler sowie psychologisierenden Mutmaßungen über den geistigen Zustand des Autors sind in dieser Zusammensetzung aber keineswegs nur im Bereich der LaienLiteraturkritik zu finden. In seiner Rezension zu Der Jonas-Komplex rät der Journalist Patrick Schlereth dem empirischen Autor Thomas Glavinic ohne erkennbare Ironie, »die Finger von den Drogen zu lassen, ob real oder literarisch, den Blick vom Spiegel abzuwenden, sich ein Beispiel an Jonas zu nehmen und die große Reise zu wagen«.601 Julia Encke kommentierte diese Passage in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung daraufhin folgendermaßen: »Eine Literaturkritik, die sich als lebenstechnischer Ratgeber für Autoren begreift, die sie gar nicht kennt, kann ihren Laden bitte schön gleich zumachen.«602 »Denn Thomas Glavinic lesen«, so Encke weiter, »heißt als Allererstes: den Autor zu vergessen.«603

600 Tobias Nazemi: Der Thomas-Komplex. Amazon-Kundenrezension vom 05. 09. 2016, http s://www.amazon.de/gp/customer-reviews/R293DHTRQS556D/ref=cm_cr_arp_d_rvw_ttl?i e=UTF8&ASIN=3100024648, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 601 Patrick Schlereth: Bin das etwa schon wieder ich? In: Frankfurter Rundschau vom 10. 03. 2016, http://www.fr.de/kultur/literatur/thomas-glavinics-der-jonas-komplex-bin-das-etwa -schon-wieder-ich-a-368158, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 602 Julia Encke: Das allseits unterschätzte Ich. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 03. 2016, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/das-allseits-unterschaetzte-ich-thomas -glavinic-roman-der-jonas-komplex-14120984.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 603 Ebd.

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Mit Glavinic im Anzengruber: Selbstinszenierung in Interviews Den Autor zu vergessen – dies erscheint allerdings als eine mehr als anspruchsvolle Forderung an die Leser*innen von Thomas Glavinic, bedenkt man die vielfältigen Ausdrucksformen, mit denen der Autor sich selbst ins Spiel bringt. Dies tut er nämlich nicht nur auf textueller Ebene, indem er in seinen literarischen Texten eine Figur auftreten lässt, die mit ihm namensidentisch ist – er verstärkt dieses Spiel mit der Identität des Autors noch in seiner paratextuellen Inszenierung in Zeitungsinterviews. Dabei verweist Glavinic in vielen Interviews auf den fiktionalen Status dieses Spiels und betont, nicht mit der gleichnamigen Romanfigur identisch zu sein.604 Gleichzeitig nutzt er aber verschiedene Inszenierungsstrategien, mit deren Hilfe er die eben noch in Abrede gestellte Identität wieder bekräftigt. Besonders deutlich wurde das in zwei Autorenporträts über Thomas Glavinic, die im Abstand von einem Monat anlässlich des Erscheinens von Der JonasKomplex abgedruckt wurden.605 Im Gegensatz zum Interview im Sinne eines transkribierten und nachträglich geringfügig überarbeiteten Gesprächsverlaufs, handelt es sich bei dem Porträt um eine journalistische Textsorte, die besonders dem Interviewer mehr Freiheiten lässt, da er unabhängig vom eigentlichen Gespräch zusätzlich eigene Beobachtungen und Einschätzungen einfließen lassen kann. Hier scheint es jedoch eher der Autor zu sein, der diese Gestaltungsspielräume für sich zu nutzen weiß und das Gespräch auch jenseits des verbal Artikulierten als Plattform für seine spezifische Selbstinszenierung gebraucht. Dabei nimmt auch in diesem Zusammenhang die Inszenierung von Privatheit einen besonderen Stellenwert ein, die hier ähnlich wie in den beiden autofiktionalen Romanen in allen Erscheinungsformen (biographisch, räumlich, personenbezogen und körperlich/sexuell) auftritt, die zu Beginn dieses Kapitels unterschieden wurden. Die für diese journalistische Textsorte eigentlich wichtigste Kategorie, die Inszenierung von biographischer Privatheit, spielt hier allerdings eine verhält604 So betont Glavinic etwa 2014 anlässlich der Premiere einer Bühnenfassung von Das bin doch ich gegenüber dem österreichischen trend-Magazin: »Was ich in der Früh im Spiegel sehe, ist definitiv keine Romanfigur! Das eine ist Fiktion, das andere ist Realität.«, und nachdem die Journalistin weiterhin auf eine Identität von Autor und Protagonist anspielt, wiederholt Glavinic noch einmal seine Klarstellung und gibt an, dass die Figur Thomas Glavinic nur auf einen Teil seines Charakters zurückzuführen sei: »Ich wiederhole mich: Das bin ja nicht ICH. So extrem war das nie bei mir. Ich habe die negativsten Seiten eines bestimmten Charakters erzählt und in größere Dimensionen aufgeblasen.« (Thomas Glavinic im Gespräch mit Michaela Knapp: »So extrem war das nie«. In: trend vom 11. 03. 2014, https://www.trend.at/le ben/kultur/so-373374, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.) 605 Da beide Porträts, sowohl im Hinblick auf den Gesprächsverlauf als auch, was die Beobachtung des Journalisten bzw. der Journalistin betrifft, bemerkenswerte Ähnlichkeiten aufweisen, werden an dieser Stelle beide Texte gemeinsam untersucht.

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nismäßig geringe Rolle. Im Gespräch mit Clara Ott von der Tageszeitung Die Welt scheint Glavinic zunächst eine abwehrende Haltung gegenüber Fragen zu seiner Biographie und den damit verbundenen Parallelen zur gleichnamigen Romanfigur einzunehmen, nur um anschließend diese Parallelen selbst zu beglaubigen: Fragen zu seiner eigenen Mutter wehrt Glavinic ab, auch über seinen Vater, einen Jugoslawen, der seit der Scheidung der Eltern in Hamburg wohnt, will er nicht sprechen. Ihn nervt die vorschnelle Unterstellung, alles müsse autobiografisch aufgeladen sein. »Klar ist mir einiges so oder so ähnlich passiert, anderes natürlich nicht.« Ja, er hat als Jugendlicher erfolgreich Schach gespielt. Ja, im vergangenen Jahr war er als »Writer in Residence« in Carlisle, Pennsylvania. Ja, er kennt Panikattacken, nimmt starke Beruhigungsmittel, kennt die Nachwirkungen von Kokain, glaubt an unsichtbare Mächte. Er neige auch zum Exzess, hätte gern mehrere Körper, um sich auszutoben.606

Dass Glavinic hier eine Identität von Autor und Erzähler strikt zurückweist und anschließend (offenbar) ungefragt die Ähnlichkeiten zwischen beiden aufzählt, ist von einer Widersprüchlichkeit geprägt, die sich durch beide Porträts zieht. Ott unterstreicht diese Widersprüchlichkeit, indem sie Glavinics Beharren auf den Fiktionspakt direkt seinem textuell wie paratextuell inszeniertem Hang zum Exzess gegenüberstellt: »›Unbedingt auf den Romanpakt hinweisen‹, bittet er und bestellt eine neue Flasche Wein. Es ist nicht seine Geschichte, bekräftigt er und zündet sich seufzend eine von noch sehr vielen Zigaretten an diesem Abend an.«607 Die Inszenierung von körperlicher Privatheit ist ebenfalls nicht unüblich in diesem Format, auch wenn es sich hier oft eher um eine Fremdinszenierung durch die Gesprächspartner handelt, die ihre Begegnung mit dem Autor durch Beschreibungen seines Erscheinungsbilds einleiten. Auch Clara Ott beginnt mit einer solchen Beobachtung, wenn sie schreibt: »Glavinic reißt sich zur Begrüßung los, sein schwarzes Hemd rutscht aus der Hose, entblößt den behaarten Bauch und wird im Laufe des Abends oben noch aufgeknöpfter und unten mehr verrutschen.«608 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass Otts Artikel mit einem Foto von Glavinic versehen ist, das ihn mit freiem Oberkörper auf einem Bett sitzend zeigt.609 Besonders auffällig ist allerdings die Inszenierung von räumlicher Privatheit. Beide Gespräche finden in Glavinics Stammlokal, dem italienischen Restaurant Otto e Mezzo im vierten Wiener Gemeindebezirk, statt und wechseln zu späterer Stunde ins gegenüber gelegene Café Anzengruber. Wie eingangs bereits erwähnt 606 Clara Ott: »Ich finde mich ganz normal«. In: Die Welt vom 14. 03. 2016, https://www.welt.de /print/welt_kompakt/print_literatur/article153217583/Ich-finde-mich-ganz-normal.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 607 Ebd. 608 Ebd. 609 Vgl. ebd.

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wurde, ist die Wahl des Stammlokals oder auch der Privatwohnung eines Autors als Gesprächsort durchaus üblich, um so bereits eine Atmosphäre der Intimität zu erzeugen. Das Besondere in diesem Fall ist, dass sowohl das Otto e Mezzo als auch das Café Anzengruber häufige Schauplätze in Der Jonas-Komplex sind. Beide Orte sind meist der Ausgangspunkt für verhängnisvoll exzessive Nächte der literarischen Figur Thomas Glavinic. Der empirische Autor Thomas Glavinic bekräftigt durch sein journalistisch dokumentiertes Verhalten gegenüber der Öffentlichkeit, dass es sich hierbei auch um Orte seines Privatlebens handelt, indem er ostentativ seine Bekanntschaft mit den anderen Gästen demonstriert. So berichtet Clara Ott von ihrem Aufenthalt im Otto e Mezzo: Immer wieder wird er von Stammgästen mit Handschlag oder Bussi begrüßt. Einen Rosenverkäufer verjagt er mit einem Klappmesser, dass er in der Hosentasche trägt, aus der anderen holt er eine Geldbörse und reicht ihm einen Zehner. »Typische Schleifmühlengassen-Freundschaftsbeziehung«, sagt Glavinic augenzwinkernd.610

Und als beide ins Café Anzengruber hinüberwechseln, bemerkt Glavinic: »Das hier ist mein Zuhause, hier mag man mich« und wird laut Ott »auch hier begrüßt, an Tische herangewinkt«.611 Hier wird räumliche Privatheit mit der Hilfe von Inszenierung personenbezogener Privatheit beglaubigt. Diese bekommt ein umso stärkeres Gewicht durch das Auftreten von Werner Tomanek, ein Freund Glavinics, der auch in Der Jonas-Komplex seinen Auftritt als Freund, Anwalt und Saufkumpane des Ich-Erzählers hat. Alexander Cammann bemerkt in seinem Porträt für Die Zeit zur Begegnung mit Tomanek im Otto e Mezzo: »Noch überlegen wir, ob wir jetzt den Autor mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Leben und Werk nerven sollen, da entert glücklicherweise eine seiner Romanfiguren das Lokal.«612 Dass Werner Tomanek Eingang in beide Autorenporträts findet, hat einen doppelten Effekt: Zum einen wird durch das Auftreten eines persönlichen Freundes des Autors der Intimitätsgrad des journalistischen Gesprächs erhöht, zum anderen erzeugt die Anwesenheit dieser zur Romanfigur verarbeiteten realweltlichen Vorlage einen Wirklichkeitseffekt, der die autofiktionale Romanhandlung mit dem realen Umfeld des empirischen Autors verschränkt. Die Gespräche werden von Glavinic geradezu als Romanszenen aus Der Jonas-Komplex inszeniert: Wie sein autofiktionales Alter Ego präsentiert er sich mit seinem Freund Werner in deren Stammlokal sitzend beim Genuss zahlreicher alkoholischer Getränke (»Die zweite Flasche Primitivo geht zur Neige, die ersten Fernets sind vertilgt«, bemerkt Alexander Cammann bereits zu Anfang des

610 Ebd. 611 Ebd. 612 Alexander Cammann: Die Vermessung der drei Welten. In: Die Zeit vom 14.04. 2016, http:// www.zeit.de/2016/15/der-jonas-komplex-thomas-glavinic, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Gesprächs.613). Dementsprechend sehen sich die beiden Journalist*innen in die Romanwelt versetzt. So schreibt Alexander Cammann: »So schnell also ist man in einem Roman, denkt man sich«,614 und Clara Ott formuliert ganz ähnlich: »Unwillkürlich beschleicht einen das Gefühl, mitten in der Kulisse seiner Romanwelt zu sitzen.«615 Selbst wenn man den beiden Journalist*innen einiges an Komplizenschaft in der Darstellung dieser Szenerie unterstellt, bleibt doch klar ersichtlich, dass Glavinic hier mit großem Aufwand die Authentifizierung seiner Romaninhalte unter Zuhilfenahme von Privatheitsinszenierungen betreibt. Angesichts dieser performativen Vermischung von Realweltlichem und Fiktionalem scheint sein Verweis auf den Fiktionspakt beinahe floskelhaft, ganz ähnlich wie ein Lippenbekenntnis zur juristischen Absicherung, das im Anschluss bewusst unterwandert wird. Interviews erfüllen bei Thomas Glavinic nicht nur eine informative oder werkpolitische Funktion, sie sind selber Kunstform,616 sind in diesem Sinne nicht nur Paratext zu seinem literarischen Werk, sondern gleichsam Bestandteil dieses Werks. Als »äußerst resonanzträchtiger und deshalb nachhaltig wirksamer Bestandteil der performativen, weltanschaulichen und ästhetischen Inszenierungspraktiken von Schriftstellern«617 ist das Interview eine ideale Ausdrucksform für Glavinics Poetik der Selbstbespiegelung und Selbstentblößung. Die Fokussierung auf die Person des Autors liegt dem Interview textsortenspezifisch zugrunde und ist auch für andere Selbstzeugnisse Glavinics von zentraler Bedeutung. So besteht seine Bamberger Poetikvorlesung, die der Hanser-Verlag 2014 unter dem Titel Meine Schreibmaschine und ich in Buchform veröffentlichte, zum größten Teil aus einer Auflistung von Dingen, die Glavinic mag bzw. nicht mag, sowie aus einer Reflexion über seinen Werdegang als Schriftsteller.618 Für diese Textsorte durchaus übliche Versuche einer intersubjektiv nachvollziehbaren Reflexion über die Möglichkeiten und Bedingungen literarischen Schreibens über den Bezug zur eigenen Person hinaus sucht man vergeblich in den Selbstzeugnissen des Autors. Dass Glavinic nie müde wird, extensiv über das eigene Ich (oder über das, was die Öffentlichkeit für das private Ich des Autors halten soll) zu sprechen, zeigt am 613 614 615 616

Ebd. Ebd. Ott: »Ich finde mich ganz normal«. Vgl. hier auch die verschiedenen Funktionen, die Torsten Hoffmann und Gerhard Kaiser Schriftstellerinterviews zuweisen. Neben der werkpolitischen und der kanonisierenden Funktion ist dies die ästhetische Funktion, bei der das Interview eine eigene Ästhetik entwickelt und Werkcharakter annimmt. Vgl. Torsten Hoffmann/Gerhard Kaiser: Echt inszeniert. Schriftstellerinterviews als Forschungsgegenstand. In: Dies. (Hg.): Echt inszeniert, S. 9–25, hier S. 11. 617 Ebd. 618 Vgl. Thomas Glavinic: Meine Schreibmaschine und ich. München 2014.

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eindrucksvollsten die 39. Nummer des österreichischen Fleisch-Magazins. Die 106 Seiten umfassende Ausgabe besteht fast ausschließlich aus einem langen Interview, das Christian Seiler und der Herausgeber des Magazins Markus Huber mit Thomas Glavinic geführt haben. Daneben beinhaltet das Heft nur einen kurzen Essay von Glavinic mit dem Titel Das Handwerk des Romans, Kurzinformationen zu den Publikationen und zum Lebenslauf des Autors sowie Zeichnungen und Fotografien, die Glavinic abbilden.619 Bei Letzteren handelt es sich um eine Fotostrecke mit 94 Porträtaufnahmen, die den Autor an einem Tisch sitzend zeigen, ein paar Urlaubsfotos und einige Fotos aus der Kinder- und Jugendzeit Glavinics, was den Eindruck verstärkt, man erhalte durch die Lektüre des Magazins Einblick in das Privatleben des Autors. Das Langinterview ist in verschiedene Einzelgespräche gegliedert, die jeweils einer übergeordneten Thematik gewidmet sind (bspw. dem Rausch, der Gewalt, der Politik oder dem Verlagswesen). Zum Beginn des ersten Gesprächs über den Rausch gibt Glavinic an, dass er den ursprünglichen Gesprächstermin nicht wahrnehmen konnte, weil er »ohnmächtig geworden und das gut zwei Stunden geblieben« sei, da er zuvor »große Mengen von Benzodiazepinen gleichzeitig mit verschiedenen anderen, für sich genommen halbwegs verträglichen Substanzen« genommen habe.620 Im weiteren Verlauf des Gesprächs berichtet der Autor ausführlich von seinem exzessiven Kokainkonsum: »Ich habe sehr spät zu koksen begonnen. Erst mit 35, glaube ich. Ich bin bekanntlich eifrig, ich war recht schnell bei fünf Gramm am Tag, was ja für die meisten eine letale Dosis ist.«621 Mit deutlichem Überbietungsgestus und scheinbar nicht ganz ohne Stolz reklamiert Glavinic hier ein Drogenkonsumverhalten für sich, das dem seines literarischen Avatars in nichts nachsteht. Auch wenn Glavinic hier keine explizite Verbindung zu seinen autofiktionalen Romanfiguren herstellt, können Aussagen dieser Art als paratextuelle Wirklichkeitssignale gelesen werden, die insbesondere den Romaninhalt von Der Jonas-Komplex im Licht autobiographischer Authentizität erscheinen lassen. Das Bekenntnis des ›echten‹ Glavinic zum Kokain- und Medikamentenmissbrauch rückt die entsprechenden Stellen des Romans aus dem Kontext von Übertreibung und Ironisierung heraus und stärkt die Annahme, es handle sich bei den literarischen Texten um eine authentische ›Lebensbeichte‹. Auch die oben erwähnte groteske Sex-Episode mit einem Swinger-Paar in Der Jonas-Komplex wird von Glavinic als wirklichkeitsnah beglaubigt, indem er behauptet, das

619 Vgl. Huber (Hg.): Fleisch. 620 Thomas Glavinic im Gespräch mit Markus Huber und Christian Seiler: »Ich muss mich an den Gedanken gewöhnen, fast gestorben zu sein.«. In: Huber (Hg.): Fleisch, S. 10–18, hier S. 12. 621 Ebd., S. 15.

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entsprechende Paar habe es wirklich gegeben.622 Die Leser*innen stehen nun vor der Wahl, ob sie den paratextuell getätigten Aussagen des Autors Glauben schenken und die autofiktionalen Romane Glavinics als wirklichkeitsnahes Selbstzeugnis lesen oder ob sie vielmehr umgekehrt die Aussagen als Teil eines Spiels mit Wirklichkeit und Fiktion wahrnehmen und daher das Fleisch-Interview im Rahmen derselben fiktionalen Lektürepraxis rezipieren, mit der sie auch die Romane lesen. Insofern geht die von Glavinics Privatheitsinszenierung forcierte Doppelstrategie auf: die Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben, die entweder das Leben als Teil des Kunstwerks oder aber das Kunstwerk als Ausdruck authentischen Lebens darstellt. Christian Seiler schreibt in seinen dem Interview vorangestellten Vorbemerkungen, er sei »gegen das Anzengruber als Austragungsort der Vorbesprechung« gewesen.623 Als Begründung gibt er an: »Das Anzengruber ist in den Romanen von Thomas Glavinic ein literarischer Ort, in dem sich literarische Figuren bewegen, die es im richtigen Leben auch gibt.«624 Das Insistieren des Interviewers, die Vorbesprechung zum eigentlichen Gespräch an einem ›nicht-literarischen‹ Ort abzuhalten, lässt vermuten, dass hier die Beglaubigung von Wirklichkeitsnähe literarischer Inhalte, wie sie in den beiden zuvor untersuchten Autorenporträts stattfindet, bewusst vermieden werden soll. Seiler grenzt sich sogar direkt von diesen Beiträgen ab (ohne allerdings Namen zu nennen), wenn er beteuert, beim folgenden Interview handle es sich nicht um einen »alkoholschwangere[n] Erlebnisaufsatz […], wie er in der einen oder anderen Form in zahlreichen Literaturteilen deutscher Zeitungen […] erschienen ist«.625 Tatsächlich findet das eigentliche Gespräch nach Seilers Angaben in mehreren Sitzungen in Glavinics Privatwohnung statt, bei denen ausschließlich Wasser getrunken wird. Trotz der Abgrenzung gegenüber den Porträts von Cammann und Ott ist das Fleisch-Interview und seine Präsentation im Magazin jedoch ebenfalls reich an Privatheitseffekten. Der Privatheitsgrad des Gesprächs wird durch den Schauplatz von Glavinics eigener Wohnung sogar noch erhöht, umso mehr, da er – wie Seiler betont – dort »in der Regel nicht zu empfangen« pflegt.626 Zudem wird die Atmosphäre des Gesprächs von journalistischer Seite als entspannt und geradezu intim beschrieben: »Wir sprachen vier Stunden, acht Stunden, zwölf Stunden. Saßen am Tisch, wer wollte, zog sich das Hemd oder die Schuhe aus und 622 Vgl. Thomas Glavinic im Gespräch mit Markus Huber und Christian Seiler: »Mit den Hells Angels habe ich eindeutig mehr Spaß als mit ein paar Dichtern«. In: Huber (Hg.): Fleisch, S. 83–87, hier S. 85f. 623 Christian Seiler: Als wir einmal Thomas Glavinic trafen und daraus ein ganzes Fleisch wurde. In: Huber (Hg.): Fleisch, S. 8–9, hier S. 8. 624 Ebd. 625 Ebd. 626 Ebd., S. 9.

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füllte an der Wasserleitung seinen Wasserbecher auf.«627 Das Ablegen von Kleidungsstücken in einem privaten Wohnumfeld kann dabei als Inszenierung von körperlicher Privatheit gelesen werden und wird von Seiler auch noch gesondert herausgestellt: »Die Herbsthitze bedingte, dass Glavinic größere Teile des Gesprächs mit nacktem Oberkörper absolvierte.«628 Auch Glavinic selbst äußert sich in einem kurzen Text im Anschluss an das Interview zu den Umständen des Gesprächs und zeichnet ein ganz ähnliches Bild: Die beiden sitzen in meiner Wohnung. An dem Tisch, an dem ich damals beschlossen habe, die Wohnung zu mieten, obwohl ich noch nichts von ihr außer der Wohnküche gesehen hatte. Ich gehörte sofort dazu. Ich passte mich ein in diesen warmen Raum, der Rest würde auch stimmen. So war es, und noch nie waren Journalisten in meiner Wohnung.629

Glavinic betont hier noch einmal, dass seine Wohnung ein privater Raum ist, der eigentlich nicht für die Begegnung mit Journalisten vorgesehen ist, und unterstreicht zusätzlich die Privatheit der Umgebung, indem er den Ort des Gesprächs mit einer Anekdote in Bezug setzt, die sein persönliches Verhältnis zu dieser Wohnung illustriert. Die Inszenierung räumlicher Privatheit wird dabei zur Bedingung für die Inszenierung biographischer Privatheit, denn nach Glavinics Darstellung bringt ihn die ungezwungene Atmosphäre des Gesprächs dazu, seine Psyche zu erforschen und das Ergebnis den beiden Journalisten preiszugeben: Ich erzähle von mir und über mich, als würde ich wirklich nur mit diesen beiden Männern reden und niemand anderer jemals meine Gedanken zu Gehör kriegen. […] Was wir besprechen rührt an mein Innerstes. Unsere Gespräche bringen mich dazu, in meinem Ich zu graben wie in dem eines Fremden.630

Der öffentliche Aspekt des Interviews wird in dieser Inszenierung in den Hintergrund gedrängt. Glavinic gibt vor, so gesprochen zu haben, als würde er »wirklich nur mit diesen beiden Männern reden«, als besitze dieses Gespräch also keine absichtsvolle Bezogenheit auf einen öffentlichen Resonanzraum und demnach auch keinen Inszenierungscharakter. Genau wie in den Autorenporträts von Cammann und Ott wird auch hier mit Privatheits- und Authentizitätseffekten gearbeitet. Die Porträts zeigen den betrunkenen Glavinic in seinen Stammlokalen, das Fleisch-Interview den nüchternen (wenngleich häufig über den Rausch sprechenden) Glavinic in seiner Wohnung, aber alle drei Texte geben vor, den ›echten‹ Glavinic in seiner ›privaten‹ Umgebung zu porträtieren. 627 628 629 630

Ebd. Ebd. Thomas Glavinic: Nach dem Reden. In: Huber (Hg.): Fleisch, S. 101. Ebd.

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Reale Körper im virtuellen Raum: Thomas Glavinic im Web 2.0 Im letzten Absatz seiner Schlussbemerkungen zum Fleisch-Interview äußert Glavinic die Hoffnung, »dass es noch nicht zu spät ist, dass wir das Private zurückholen und heimkehren können in eine Welt, die analog ist, realistisch, die von dir und mir handelt und von den Menschen, die uns umgeben haben und von denen nur noch ein virtueller Schatten durch unser Leben geistert«.631 Ungeachtet der in diesen Zeilen überdeutlich artikulierten kulturpessimistischen Skepsis gegenüber den Neuerungen des digitalen Wandels ist Thomas Glavinic keinesfalls ein Verweigerer der Kommunikationsmöglichkeiten im Web 2.0 und auch durchaus beteiligt an der Überführung des ›Privaten‹ ins Digitale. Glavinics Präsenz im Netz basiert zum größten Teil auf einer Autoren-Website und zwei Facebook-Profilen. Die Website ist dabei eher konventionell gestaltet und enthält außer den üblichen Kurzinformationen zu Buchpublikationen, der Autorenvita und den Informationen zu Lesungsterminen noch einen Fotoblog des Autors, der allerdings seit Juni 2013 nicht mehr aktualisiert wird.632 In diesem Fall wäre Renate Giacomuzzi zuzustimmen, die davon ausgeht, dass »die Homepage grundsätzlich nicht mehr als eine Visitenkarte ist«,633 während Kommunikation und Interaktion mit den Leser*innen eher in den sozialen Medien stattfindet. Die Tatsache, dass Glavinic zwei Facebook-Profile hat (eine offizielle Fanseite und einen privaten Account), lässt zunächst vermuten, dass hier streng zwischen öffentlicher und privater Kommunikation unterschieden wird. Die öffentliche Fanseite wird größtenteils von einem Social-Media-Team betrieben, einzelne Beiträge sollen aber vom Autor selbst stammen.634 Glavinics privates Profil wiederum enthält mitunter zahlreiche öffentliche Beiträge, die auch für User*innen zugänglich sind, die nicht mit dem Autor ›befreundet‹ sind. Auf beiden Profilseiten finden sich Selfies von Glavinic, die in scheinbar privaten Situationen aufgenommen wurden – so zum Beispiel gemeinsam mit der österreichischen Autorin Vea Kaiser im Fußballstadion bei einem Spiel von Rapid Wien.635 Daneben gibt es aber auch Fotos, die nicht den Charakter eines 631 Ebd. 632 Vgl. Thomas Glavinic: Blog. http://www.thomas-glavinic.de/rubrik/blog/, zuletzt abgerufen am 15. 06. 2017 (nicht mehr abrufbar). 633 Renate Giacomuzzi: Der ›soziale‹ Autor. Zur Autorrolle im Kontext digitaler Kommunikationsmodelle. In: Böck/Ingelmann/Matuszkiewicz/Schruhl (Hg): Lesen X.0, S. 109–125, hier S. 113. 634 Laut Informationstext auf dem Facebook-Profil werden Beiträge des Social Media Teams mit dem Hashtag »#adm« versehen, während Beiträge, die von Thomas Glavinic selbst stammen, mit »#tg« gekennzeichnet werden. Vgl. Thomas Glavinic: Facebook-Profil. https:// www.facebook.com/pg/glavinic.thomas/about/?ref=page_internal, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 635 Vgl. Glavinic: Facebook-Profil, https://www.facebook.com/glavinic.thomas/photos/101527 44256636567, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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spontanen Schnappschusses in der Freizeit haben, sondern bei denen ganz offensichtlich der Inszenierungscharakter hervorsticht. Wenn sich Glavinic beispielsweise in viriler Pose auf einem Motorrad636 oder mit einem Gewehr in der Hand637 zeigt, bleibt unklar, ob es sich dabei um eine ironische Bezugnahme auf sein Image handelt oder um eine affirmative Fortführung seiner in den literarischen Texten angelegten Selbstinszenierung. Ähnliches bemerkt Giacomuzzi, wenn sie schreibt: »Bei Glavinic fällt auf, dass er auf seiner Facebook-Fanseite immer wieder Bild- oder Texteinträge einstreut, mit denen er seine eigene Person zu verrätseln versucht und die Leser im Unklaren lässt, ob die Fotos nun ›gestellt‹ oder authentisch/ehrlich sind […].«638 Auch Stephanie Catani sieht Unzuverlässigkeit und Widersprüchlichkeit als konstituierende Merkmale von Thomas Glavinics Selbstinszenierung: Sichtbar wird, dass die Autorinszenierung Glavinics zwischen auseinanderliegenden Positionen changiert, sein Autor-Ich scheint mitunter ähnlich unzuverlässig wie bereits seine Erzähler-Figuren: Traditionelle Autorschaftsmodelle werden zitiert und zugleich gestört – dem aufmerksamen Leser wird so bewusst erschwert, ein homogenes Autorkonstrukt zu konstituieren.639

Besonders auffällig wird diese Widersprüchlichkeit in der Frage nach dem Verhältnis von Autor und Ich-Erzähler in den autofiktionalen Texten Glavinics. Ähnlich wie in journalistischen Interviews gibt Glavinic auch bei Leser-Kommentaren auf Facebook eine deutliche Antwort auf diese Frage. User*innen, die auf der Fanseite des Autors nach dem Wirklichkeitsgehalt von Das bin doch ich fragen, antwortet er persönlich, verneint jede Identität mit dem Protagonisten und weist wiederholt auf die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ hin.640 Aber auch hier kommt es zum performativen Selbstwiderspruch, wenn Glavinics Verhalten im Netz eine Identifikation zwischen Autor und Figur nahelegt. In Der JonasKomplex ärgert sich die Autorfigur über seine Facebook-Freunde und findet dafür deutliche Worte: »Die Hälfte meiner Facebook-Kontakte sind absolute Idioten. Lauter Betroffenheitsprofis, Empörungsmaschinen und Auschwitzbesitzer. Jedem sein Stückchen Nobelpreisträger. Jedem sein ertrunkener Flüchtling. Jedem sein Quadratzentimeter Gaskammer.«641 Auch der reale Thomas Glavinic echauffierte sich im Kontext der österreichischen Präsidentschafts636 Vgl. Glavinic: Facebook-Profil, https://www.facebook.com/glavinic.thomas/photos/101538 13959026567, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 637 Vgl. Glavinic: Facebook-Profil, https://www.facebook.com/photo.php?fbid=102044427027 70516&set=pb.1319919335.-2207520000.1497866164.&type=3&theater, zuletzt abgerufen am 19. 06. 2017 (nicht mehr abrufbar). 638 Giacomuzzi: Der ›soziale‹ Autor, S. 115. 639 Catani: Glavinic 2.0, S. 281. 640 Vgl. ebd., S. 272f. 641 Glavinic: Der Jonas-Komplex, S. 280.

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wahlen 2016 über die angebliche moralische Selbstgefälligkeit seiner FacebookKontakte und postete in diesem Zusammenhang auch den oben zitierten Auszug aus seinem Roman. Der Autor erzeugte damit einiges an medialer Aufmerksamkeit, der betreffende Beitrag wurde nach kontroversen Diskussionen schließlich wieder gelöscht.642 Die öffentlich sichtbare Mediennutzung des Autors Thomas Glavinic deckt sich in auffälliger Weise mit der Mediennutzung der Figur Glavinic in den Romanen. In Das bin doch ich verschickt der Protagonist im Vollrausch E-Mails mit zweifelhaftem Inhalt an verschiedene Personen oder befürchtet zumindest am nächsten Morgen, er könne dies getan haben.643 Dem auf Facebook agierenden empirischen Autor ist diese unbedarfte Mediennutzung nicht fremd bzw. inszeniert sich Glavinic auf eine Weise, die der Öffentlichkeit den Eindruck vermitteln soll, er agiere unbedarft in den sozialen Medien. Angesprochen auf das Medienecho zu seinen Facebook-Posts sagt Glavinic im Fleisch-Interview: »Was mir völlig fehlt, ist die konkrete Einschätzung dessen, was Äußerungen von mir bedeuten. Wenn ich irgendwas poste, denke ich doch nicht, dass das irgendjemand wirklich als wichtig empfindet.«644 Wie glaubhaft eine solche Aussage von einer öffentlichen Person ist, die entsprechende Beiträge in den Privatsphäre-Einstellungen von Facebook als öffentlich markiert, soll an dieser Stelle nicht bewertet werden. Festzuhalten ist allerdings, dass sich eine naive Mediennutzung, durch die auf fahrlässige Weise private und unüberlegte Äußerungen an die Öffentlichkeit gelangen, sehr gut in Glavinics Poetik der Selbstentblößung einfügt. Um Selbstentblößung in einem ganz wörtlichen Sinn ging es bereits in der zu Beginn des Kapitels beschriebenen Nacktfoto-Aktion des Autors, bei der es sich mit Sicherheit um den markantesten medialen ›Ausrutscher‹ Glavinics handelt. Das Versenden von Nacktfotos im Rausch – darunter auch das ungefragte Versenden so genannter ›Dick Pics‹ an potentielle Sexualpartnerinnen – rückt den im Netz agierenden Autor Glavinic in die Nähe der autofiktionalen Figur Glavinic, der in Der Jonas-Komplex ähnlich handelt.645 Dass in den sozialen Medien und in überregionalen Feuilletons Aspekte von Glavinics intimster Körperlichkeit diskutiert werden, erfüllt also eine doppelte Funktion: Zum einen handelt es sich um die Fortführung von Glavinics spezifischer Inszenierung von Privatheit im Modus der Nähe und der damit verbundenen Poetik der Selbstbespiegelung und Selbstentblößung auf der Ebene der (digitalen) Paratexte, zum anderen ist es Teil der paratextuellen Beglaubigung der autofiktionalen Romane als authentisches Selbstzeugnis. Der häufig wiederholte Hinweis des Autors auf 642 Vgl. Giacomuzzi: Der ›soziale‹ Autor, S. 115. 643 Vgl. Glavinic: Das bin doch ich, S. 219f. Ähnliches findet sich auch in Der Jonas-Komplex: Vgl. Glavinic: Der Jonas-Komplex, S. 148. 644 Glavinic/Huber/Seiler: Zuckerberg, geh scheißen!, S. 21. 645 Vgl. Glavinic: Der Jonas-Komplex, S. 294f.

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den Romanpakt (so dieser überhaupt ernstgemeint ist) hat dieser Beglaubigung dabei nur wenig entgegenzusetzen, denn die performativ gesendeten Authentizitätsmerkmale erzeugen bei weitem mehr Aufmerksamkeit. Dennoch kann paradoxerweise gerade durch diese radikale Privatheitsinszenierung der Authentizitätseffekt letztlich wieder abgeschwächt werden, denn der Inszenierungscharakter rückt dadurch in den Vordergrund. Glavinic gibt nicht nur Einblick in private Sphären, die der breiten Öffentlichkeit verschlossen sind, sondern auch in jene, die für gewöhnlich nicht einmal intimen Kontakten offenstehen. Sowohl das Erleben der autofiktionalen Autorfigur als auch die als ›real‹ markierten Aussagen und Handlungen des Autors im Paratext wecken gerade wegen der radikalen Offenheit den Eindruck von Unglaubwürdigkeit und Glavinic gerät in Verdacht, durch Selbstentblößung um jeden Preis Aufmerksamkeit erzeugen zu wollen, was die aufwendig inszenierte Authentizität wieder unterwandert.646 Ijoma Mangold hat in seiner Rezension zu Das bin doch ich auf dieses Paradox aufmerksam gemacht und es »Verfremdung durch Authentizität genannt«.647 Ob Glavinics Inszenierung von Privatheit aber am Ende als Garant für Authentizität oder als Fiktionsmerkmal gelesen wird, hängt von der jeweiligen Rezeptionspraxis ab. Wie oben bereits angedeutet wurde, lassen sich die schriftstellerischen Inszenierungspraktiken von Thomas Glavinic sowohl im Sinne einer Beglaubigung seiner Romane als authentisches, autobiographisches Selbstzeugnis lesen, als auch im Sinne einer Ausweitung eines fiktionalen Spiels mit der Autoridentität auf die Paratexte. Dementsprechend lässt sich in Konzeption und Präsentation der hier behandelten Texte Glavinics (unter Einbezug seiner paratextuellen und habituellen Inszenierungspraktiken) eine Nähe zu Frank Zipfels Konzept einer Autofiktion als Kombination von autobiographischem Pakt und Fiktions-Pakt erkennen, bei der »dem Leser sowohl der autobiographische Pakt wie auch der Fiktionspakt angeboten werden, ohne dass er die Möglichkeit an die Hand bekommt, den Text ganz oder teilweise nach einem der beiden Pakte aufzulösen«.648 Dass die Idee von der Wirkung zweier einander widersprechender Pakte – wie auch die Idee des Fiktionspakts ganz allgemein – durchaus problematisch ist, wurde in Kapitel 2.3 bereits ausführlich erläutert. Verzichtet man jedoch auf die Pakt-Metapher, lässt sich im Fall von Glavinic allerdings durchaus von der gleichzeitig gegebenen Möglichkeit einer fiktionalen wie auch einer faktualen Lektürepraxis sprechen.

646 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die zu Anfang dieses Kapitels zitierten AmazonKundenrezensionen. 647 Ijoma Mangold: Den Nabel betrachten, aber den Kopf oben behalten. In: Süddeutsche Zeitung (Beiheft zur Frankfurter Buchmesse), H. Nr. 232, 09. 10. 2007, S. 3. 648 Zipfel: Autofiktion, S. 305.

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3.3.2 Ekel und Aufklärung: Charlotte Roche Das literarische Debüt von Charlotte Roche, das 2008 unter dem Titel Feuchtgebiete im Dumont Buchverlag erschien, wurde nicht nur zu einem großen kommerziellen Erfolg – fünf Jahre nach Erscheinen sind in verschiedenen Ausgaben 2,5 Millionen Exemplare dieses Titels verkauft worden –649 es hat auch eine lang anhaltende Debatte im Feuilleton ausgelöst. Der Roman handelt von der 18 Jahre alten Helen Memel, die sich bei einer missglückten Intimrasur eine Analfissur zuzieht und daraufhin ins Krankenhaus eingeliefert wird. Dort versucht sie ihre geschiedenen Eltern wieder zusammenzubringen – im Vordergrund stehen aber ihre sexuellen Phantasien und ihre Beschäftigung mit der eigenen Körperlichkeit. Das Buch wird häufig als Skandalroman bezeichnet, obwohl es nicht wenige Stimmen gibt, die im Romaninhalt nichts Skandalträchtiges erkennen können, zumal die explizite Darstellung von Sexualität und Körperlichkeit literaturgeschichtlich betrachtet alles andere als ein Novum ist. So schreibt der Literaturwissenschaftler Albert Meier: Texte sind dem gutbürgerlichen Geschmack schon oft zu nahe getreten und das, was bei Charlotte Roche zu lesen steht, ist spätestens dann nicht mehr unerhört, wenn man den Bogen weiter spannt und hinter das in allen natürlichen Dingen überempfindliche 19. Jahrhundert zurückblickt.650

Wenn aber dem Inhalt von Charlotte Roches Feuchtgebiete gar nichts Skandalträchtiges anhaftet, stellt sich die Frage, weshalb das Buch dennoch eine derartige mediale Resonanz erzeugen konnte. Tatsächlich hätte der Roman alleine des expliziten Inhalts wegen kaum soviel öffentliche Aufmerksamkeit bündeln können, wenn nicht die Autorin selbst bereits einem breiten Publikum bekannt gewesen wäre. Ohne Roches Prominenz als TV-Moderatorin bei den Sendern VIVA und ProSieben (sowie später auch in öffentlich-rechtlichen Formaten) lässt sich der Bucherfolg von Feuchtgebiete nicht erklären. Birgitta Krumrey weist in diesem Zusammenhang dem Autorinnennamen ›Charlotte Roche‹ sogar die Funktion eines werbewirksamen Labels zu: »Für die Vermarktung der Feuchtgebiete ist der Autorname beziehungsweise die öffentliche Person hinter dem Buch entscheidend; das Label Charlotte Roche ist ein maßgeblicher Distributions- und Werbefaktor.«651 649 Vgl.: o. A.: Eine neue Generation für Feuchtgebiete. In: Buchreport vom 27. 04. 2013, http s://www.buchreport.de/news/eine-neue-generation-fuer-feuchtgebiete/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 650 Albert Meier: Immer sehr unmädchenhaft. Charlotte Roche und ihre Feuchtgebiete. In: Friedrich (Hg.): Literaturskandale, S. 231–241, hier S. 232. 651 Birgitta Krumrey: Autorschaft in der fiktionalen Autobiographie der Gegenwart: Ein Spiel mit der Leserschaft. Charlotte Roches Feuchtgebiete und Klaus Modicks Bestseller. In: Schaffrick/Willand: Theorien und Praktiken der Autorschaft, S. 541–564, hier S. 550.

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Roches Stellung als öffentliche Person steigert dabei das Interesse an ihrem Privatleben. Dass die vermeintlich private Seite von Personen des öffentlichen Lebens eine enorme Anziehungskraft auf einen nicht unbeträchtlichen Teil der Gesellschaft ausübt, zeigt alleine schon die Existenz der sogenannten Regenbogenpresse. Fällt diese Anziehungskraft bei den Akteuren des literarischen Felds jedoch (mit einigen Ausnahmen) eher gering aus, ist sie bei einer TV-Moderatorin, die dem Boulevard deutlich nähersteht, durchaus hoch einzuschätzen. Die textuelle Inszenierung von körperlicher und sexueller Privatheit in Feuchtgebiete steht somit in einem wechselseitigen Verhältnis mit einer durch Roches Prominenz verstärkt voyeuristischen Rezeptionshaltung. Den daraus resultierenden spezifischen Authentizitätserwartungen begegnet die Autorin in einem Modus der radikalen Nähe und mit der explizit formulierten Bereitschaft, alle an sie herangetragenen Erwartungen befriedigen zu wollen. Dass sie dabei durchaus als unzuverlässige Autorin agiert, zeigt sich bereits in ihrer Interviewpraxis. Interviewpraxis einer unzuverlässigen Autorin Durch ihre frühere Moderationstätigkeit erhielt Charlotte Roche nach Veröffentlichung von Feuchtgebiete eine für Romanautor*innen eher unübliche Präsenz im Fernsehen, das 2008 noch weitgehend als Leitmedium gelten konnte. Einen ihrer zahlreichen Talkshow-Auftritte hatte sie in der NDR-Talkshow, moderiert von Hubertus Meyer-Burckhardt und Barbara Schöneberger. Auf Meyer-Burckhardts Eingangsfrage, wie Roche den Inhalt ihres Romans beschreiben würde, antwortet diese: Je nachdem, wem ich erklären muss, was darin vorkommt, dann ist die Geschichte ganz anders. […] Bei meiner Mutter würd ich sagen: Es geht die ganze Zeit nur um Masturbation bei einer Frau und das Buch ist total pornographisch. […] Also bei Ihnen [gemeint ist Hubertus Meyer-Burkhardt, Anm. C.D.] würd ich sagen, dass sich das Buch hervorragend als Wichsvorlage eignet und dass man nebenbei, bei dieser Handlung, noch ganz viel lernt über den weiblichen Körper.652

Die Antwort von Roche wurde von lautem Lachen des Publikums und der übrigen Talkshow-Gäste begleitet. Nachdem die Autorin von den Hämorrhoiden ihrer Protagonistin erzählt, fragt ein weiterer Gast der Show, ob das Beschriebene autobiographisch sei. Nach kurzem Zögern antwortet Roche ostentativ nickend: »Das Buch ist sehr stark autobiographisch, ja.«653 Als daraufhin, ebenfalls von lautem Gelächter begleitet, die Frage folgt, ob das wehgetan habe, relativiert Roche ihre Aussage, indem sie sagt: »Es kommen noch andere Themen vor als 652 Charlotte Roche in der NDR-Talkshow vom 29. 02. 2008, https://www.youtube.com/watch? v=RGGQLv3DNII, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021, Min. 0:50–1:53. 653 Ebd., Min. 4:02–4:06.

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Masturbation und Hämorrhoiden. Also zum Beispiel ist da, jetzt ganz im Ernst, ne ernste Geschichte, ein großes Scheidungskind-Drama oder so. Das ist auf jeden Fall autobiographisch, aber ich musste für das Buch auch richtig viel recherchieren.«654 In dieser kurzen Gesprächssequenz ist bereits vieles von dem enthalten, was sich als Roches spezifische, in verschiedenen Interviews angewendete Inszenierungsstrategie charakterisieren lässt. Dazu gehört vor allem die spielerische Affirmation der pornographischen wie auch der autobiographischen Lesart ihres Romans, deren Implikationen sie – wenn überhaupt – nur teilweise zurückzuweisen oder zu korrigieren versucht. Roche betont hier, dass ihre Darstellung des Romaninhalts von den Erwartungen und Vorlieben der jeweiligen Empfänger abhängt. In beiden Beispielen (gerichtet an Roches Mutter und Hubertus MeyerBurckhardt) wird der vermeintlich pornographische Aspekt des Romans betont – im ersten Fall als Abschreckung, im zweiten (»Wichsvorlage«) als Empfehlung. Die Autorin macht sich somit sowohl die abwertende als auch die aufwertende Funktion des Labels ›pornographisch‹ zu eigen. Die Frage, ob der Romaninhalt autobiographisch sei, wehrt Roche anders als Glavinic nicht mit dem Verweis auf die Gattung ›Roman‹ ab, sondern bestätigt die Annahme, der Roman sei autobiographisch geprägt, sogar »sehr stark« – zunächst ohne weitere Ergänzungen oder Präzisierungen. Erst als die Hämorrhoiden der Protagonistin Helen Memel mit der empirischen Autorin in Verbindung gebracht werden, beendet Roche ihre affirmative Haltung, aber auch hier nicht, indem sie das Autobiographische leugnet, sondern indem sie das Gespräch auf einen anderen Aspekt des Romaninhalts umlenkt. Das »Scheidungskind-Drama«, das Roche explizit als autobiographisch kennzeichnet, scheint aber bei Talk-Gästen und Moderator*innen eher auf Desinteresse zu stoßen und wird nicht weiter besprochen – im fortgesetzten Verlauf des Gesprächs geht es weiterhin um Hämorrhoiden und das weibliche Körperbild. Der Aspekt der körperlichen bzw. sexuellen Privatheit scheint hier von deutlich größerem Interesse zu sein als die biographische Privatheit. Die autobiographische Dimension von Feuchtgebiete ist vor allem insoweit von Interesse, als sie die expliziten körperlich-sexuellen Schilderungen im Roman betrifft, wie sich auch in anderen Interviews zeigt. »Erzähl doch mal von deinen Recherchen für das Buch. Das wollen jetzt nämlich alle wissen: Was von dem Schweinkram, über den Charlotte Roche schreibt, hat sie schon selber gemacht«,655 lautet etwa eine Frage, die Roche im Magazin Neon gestellt wird.

654 Ebd., Min. 4:13–4:33. 655 Charlotte Roche im Gespräch mit Antonia Baum und Christoph Koch: Geruchsprobe. In: Neon vom 26. 03. 2008, S. 146–159, hier S. 148.

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Roche reagiert auf Fragen wie diese im Rahmen einer Interviewstrategie, die sich als Verschleierung durch Affirmation charakterisieren lässt. Sie wehrt die Fragen nach dem autobiographischen Gehalt der intimen Szenen nicht ab und erklärt sie nicht für illegitim oder voyeuristisch, sondern für durchaus verständlich und berechtigt.656 Sie bejaht grundsätzlich die Annahme, dass Teile ihres Romans autobiographisch inspiriert sind, lässt dabei aber (mit Ausnahme des wenig beachteten Scheidungskind-Aspekts) dezidiert offen, um welche Teile es sich dabei handelt. Im Interview mit dem Spiegel treibt sie diese Form der verschleiernden Affirmation auf die Spitze: SPIEGEL: Die Frage, die sich der Leser etwa ab Seite drei stellt, lautet: Wie viel ist erfunden? Lesen wir über den Sex und die Masturbationsphantasien Ihrer Heldin oder die der Charlotte Roche? Roche: Etwa 30 Prozent sind erfunden, etwa 70 Prozent bin ich.657

Dass diese vage Prozentangabe – obgleich mit dem Gestus grenzenloser Offenheit vorgetragen – mehr verschleiert als sie preisgibt und damit eher spielerischen Charakter hat, zeigt sich spätestens im Neon-Interview, in dem Roche ihre Strategie offenlegt: Ich glaube, dass ich das Buch kaputt machen würde, wenn ich erzählen würde, welche Dinge von mir tatsächlich ausprobiert wurden. Trotzdem kann ich verstehen, dass die Leute das wissen wollen, und natürlich kommen da ›echte‹ Sachen drin vor. Wenn ich gefragt werde, beziffere ich den Wahrheitsgehalt an manchen Tagen mit 25 Prozent und an einem guten Tag vielleicht mit 70 Prozent.658

Roche geriert sich hier als unzuverlässige Instanz hinsichtlich ihrer Aussagen zum eigenen Schreiben und subvertiert so die von ihr selbst zuvor inszenierte biographische Authentizität.659 Auch bei anderen Gelegenheiten zieht sie die eigene Glaubwürdigkeit in Zweifel und charakterisiert ihre Aussagen in anderen Interviews als Spiegelungen der (vermuteten) Erwartungshaltung der Fragenden. Im Interview für das Zeit-Magazin, das Jana Hensel mit ihr anlässlich des Erscheinens des Folgeromans Schoßgebete 2011 führte, sagt Roche: 656 »Ich weiß, dass Leute biografische Bezüge herstellen werden und dass die Menschen eigentlich nichts anderes interessiert.« (Ebd.) 657 Charlotte Roche im Gespräch mit Moritz von Uslar und Claudia Voigt: »Ich bin gar nicht so frech.« In: Der Spiegel vom 25. 02. 2008, https://www.spiegel.de/spiegel/a-537317.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 658 Roche/Baum/Koch: Geruchsprobe, S. 148. 659 Vgl.: Ulrike Kellner: »Ich bin die beste Nutte, die es gibt.« Die Demaskierung medialer Skandalisierung am Beispiel von Charlotte Roche. In: Bartl (Hg.): Skandalautoren, S. 417– 430, hier S. 426f. Zur Charakterisierung von Charlotte Roche als unzuverlässige Autorin vgl. auch: Tabea Dörfelt-Mathey: Die unzuverlässige Autorin. Inszenierungspraxis im Interview und ihre problematischen Auswirkungen für die Rezeption der Romane von Charlotte Roche. In: Hoffmann/Kaiser (Hg.): Echt inszeniert, S. 275–297.

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Ich hasse Schriftsteller, die ernst genommen werden wollen. Wenn jemand mein Buch falsch versteht, dann mache ich doppelt und dreifach mit. Wenn mich jemand auf Pornografie reduzieren will, dann sage ich: Gern, und steige voll drauf ein. Alles andere finde ich total peinlich.660

Folgt man Roche an dieser Stelle, entspricht es nicht ihrem Selbstverständnis als Autorin, die eigene Lesart ihrer Texte zu propagieren oder mit paratextuellen Mitteln zu unterfüttern, vielmehr geht es ihr darum, die bereits vorhandenen Lektüreeindrücke (oder auch lektüreunabhängigen Vorurteile) zu bestätigen und, wo es möglich ist, zu verstärken. Dieses Selbstverständnis, das sich an das Erfüllen von Erwartungen knüpft, hat Roche in einem Interview für das Süddeutsche Zeitung Magazin in folgender Formel zusammengefasst: »Ich bin die beste Nutte, die es gibt. Ich kann extrem gut spüren, was jemand will.«661 Roche führt damit die Erfüllung von Publikumserwartungen mit dem Befriedigen von (sexuellen) Bedürfnissen parallel. Auf die feststellende Bemerkung ihres Interviewpartners Peer Teuwsen hin, dies sei auch in dem gerade stattfindenden Gespräch so, antwortet Roche zustimmend: »Immer. Ich befriedige alle, komme nach Hause und implodiere.«662 Roche zieht ihre Glaubwürdigkeit also auch in diesem scheinbar in aller Offenheit und Ehrlichkeit geführten Gespräch in Zweifel und nährt damit den Verdacht, die vermeintliche Offenlegung ihrer Inszenierungsstrategie sei genauso Teil derselben wie ihre Praxis der verschleierten Affirmation. Nimmt man die von ihr postulierte Maxime der umfassenden Bedürfnisbefriedigung ernst, erscheint es nur folgerichtig, dass Roche ihr Interviewverhalten auf die unterschiedlichen Erwartungen der verschiedenen Medien und Formate anpasst. Etwas vereinfachend ausgedrückt könnte man sagen: Für Fernseh-Talkshows und Boulevard-Medien werden Zoten gerissen und Privatheit simuliert und für die Feuilletons wird eben dieses Verhalten als hintergründiges und autorgesteuertes Spiel inszeniert. Dass dieser affirmative Umgang mit (vermuteten) Erwartungen auch eine Marketingstrategie sein kann, also auf einen verkaufsfördernden Effekt abzielt, wird in den Interviews selten artikuliert und vor allem von Roche nicht in den Vordergrund gestellt. Dennoch schließt die Autorin nicht aus, dass ihr Verhalten im öffentlichen Raum auch ökonomisch motiviert sein kann:

660 Charlotte Roche im Gespräch mit Jana Hensel: Lass uns über Sex reden! In: Zeit-Magazin vom 11. 08. 2011, https://www.zeit.de/2011/33/Roche-Hensel/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 661 Charlotte Roche im Gespräch mit Peer Teuwsen: »Ich bin die beste Nutte, die es gibt« In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 29. 10. 2008, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/gesell schaft-leben/ich-bin-die-beste-nutte-die-es-gibt-75840, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 662 Ebd.

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SPIEGEL: Würden Sie sich so was auch ausdenken, damit das Buch sich besser verkauft? Roche: Klar. Die Grenzen sind fließend. Manchmal sagt man eine Lüge so oft, dass sie dann zur Wahrheit wird.663

Ihr Bekenntnis, für den Verkaufserfolg ihres Buches notfalls auch zu lügen, widerspricht jeder Vorstellung von Authentizität – sei es eine werkbezogene, biographische Authentizität, die Feuchtgebiete durch die Gleichsetzung von Protagonistin und Autorin immer wieder zugeschrieben wird, oder eine subjektbezogene Authentizität, die sich auf Roches unverstellte und spontane Art als TV-Moderatorin beziehen könnte. Die Autorin erteilt dem Konzept der Authentizität dann auch in mehreren Interviews eine deutliche Absage: Süddeutsche Zeitung Magazin: Bei Ihnen weiß ich nie, was künstlich und was echt ist. Roche: Ich weiß es ja selber nicht. Darum geht es auch im Buch: Lügengeschichten erzählen, bis man sie selber glaubt. Ich glaube nicht an Authentizität. Ich kann sehr gut so tun, als sei ich natürlich.664

Und im Interview mit Jana Hensel sagt Roche: Meine Lesungen sind der reinste Fake, ich spiele, dass ich authentisch bin. Denn ungebrochene Authentizität ist das Langweiligste, was es gibt. Das ist peinlich und oft nur platt. Der Zuschauer will die perfekte Simulation des Authentischen, nur beim Sex soll alles wirklich sein.665

Die Autorin setzt hier ihrer affirmativen Praxis gegenüber Authentizitätszuschreibungen eine radikale Skepsis gegenüber Authentizitätskonstruktionen als solchen entgegen und lässt so ihre in vielen Interviews und Talkshows betriebene Inszenierung als bloßes paratextuelles Spiel erscheinen, das aus unterhaltenden oder auch aus verkaufsfördernden Gründen betrieben wird, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, damit ernsthafte und für die Rezeption bedeutende Bezüge zum eigentlichen literarischen Text herstellen zu wollen.666 Betrachtet man aber die Inszenierungsstrategie von Charlotte Roche als Ganzes, drängt sich die Frage auf, ob nicht selbst ihre Authentizitätsskepsis noch als Teil ihrer Authentizitätsinszenierung zu bewerten ist. Betrachtet man die Aussagen Roches als die einer unzuverlässigen Autorin, stellt sich unweigerlich 663 Charlotte Roche im Gespräch mit Martin U. Müller und Markus Brauck: »Man muss lügen können.« In: Der Spiegel vom 31. 08. 2009, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-6669608 3.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 664 Roche/Teuwsen: Ich bin die beste Nutte, die es gibt. 665 Roche/Hensel: Lass uns über Sex reden! 666 Dieser Meinung ist Tabea Dörfelt-Mathey, die in Abgrenzung zu Alexander Senner der These widerspricht, dass Feuchtgebiete nur unter Einbeziehung des öffentlichen Epitexts als Teil einer Gesamtinszenierung zu verstehen sei. Die widersprüchliche Inszenierung der unzuverlässigen Autorin Charlotte Roche aber, so Dörfelt-Mathey, unterlaufe die Vorstellung, ihre Aussagen könnten für das Textverständnis konstitutiv sein. (Vgl.: Dörfelt-Mathey: Die unzuverlässige Autorin, S. 285.)

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die Frage, weshalb man gerade die Aussagen zu ihrer eigenen Unglaubwürdigkeit für bare Münze nehmen sollte. Es scheint zumindest nicht ganz unwahrscheinlich, dass der Hinweis auf die eigene Unglaubwürdigkeit vor allem eine paradoxale Strategie ist, um Glaubwürdigkeit zu generieren. Mit dem Hinweis, dass alle Authentizität letztlich eine simulierte ist, erwirbt sich Roche gleichsam den Anschein unverstellter Ehrlichkeit, indem sie diesen Zustand aufdeckt. Eine Haltung, die sich ähnlich wie bei Helene Hegemanns ›authentischem Diebstahl‹ als Inszenierung von Authentizität zweiter Ordnung nach Antonius Weixler bezeichnen lässt667 und die man auf die paradoxale Formel bringen kann: Wenn alle nur so tun, als seien sie authentisch, sind am Ende die am authentischsten, die die Simulation zugeben. Betrachtet man die Interviewpraxis von Charlotte Roche von diesem Standpunkt aus, lassen sich auf poetologischer Ebene durchaus Verbindungen zum Inhalt von Feuchtgebiete ziehen. Daher soll im Folgenden ein in der literaturkritischen wie literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Roman viel zu selten erfolgter Blick auf den Haupttext geworfen werden. Emotionale Wirkungsästhetik: Ekel – Scham – Lust »Solange ich denken kann, habe ich Hämorrhoiden. Viele, viele Jahre habe ich gedacht, ich dürfte das keinem sagen.«668 In diesen ersten zwei Sätzen von Feuchtgebiete werden bereits zwei wesentliche Motive des Romans eingeführt: Ekel und Scham. Das Hämorrhoidalleiden gilt – zumal bei einer jungen, weiblichen Person, als welche Charlotte Roche ihre Protagonistin angelegt hat – als gesellschaftliches Tabu, das nicht zuletzt wegen der Verortung im analen Bereich und der damit verbundenen Assoziation mit körperlichen Ausscheidungen in vielen Menschen Ekelgefühle hervorruft. Ekel und Scham sind hier also eng miteinander verknüpft. Als drittes zentrales Motiv im emotionalen Repertoire des Romans wird nur wenige Zeilen später das Motiv der Lust etabliert und zu den anderen beiden Emotionen ins Verhältnis gesetzt: Der Arzt von Helen Memel würde ihre Hämorrhoiden nur operativ entfernen, »wenn es meinem Liebhaber nicht gefällt oder ich wegen meinem Blumenkohl beim Sex Beklemmungen kriege. Das würde ich aber nie zugeben«.669 Anschließend beschreibt die Erzählerin ausführlich den »erfolgreichen« Analverkehr, den sie trotz ihres Hämorrhoidalleidens seit Jahren hat.670

667 668 669 670

Siehe S. 160 dieser Arbeit. Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Roman. Köln 2008, S. 8. Ebd., S. 9. Ebd.

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Die drei Emotionen – Ekel, Scham und Lust – und ihr Verhältnis zueinander bleiben die gesamte Romanhandlung hindurch als zentrale Motive präsent. Auf der Darstellungsebene wird dieses Verhältnis vor allem durch das von anderen Romanfiguren, insbesondere der Mutter, abweichende Hygieneempfinden der Erzählerin verhandelt, das durch zahlreiche Analepsen und Reflektionen der Erzählerin illustriert wird. »Hygiene wird bei mir kleingeschrieben.«,671 sagt Helen Memel zur Eröffnung des zweiten Kapitels. Im Folgenden berichtet die Erzählerin ausführlich von ihrem Verhalten, das sie sich beim Besuch von öffentlichen Toiletten angewöhnt hat: Mir macht es Riesenspaß, mich nicht nur immer und überall bräsig voll auf die dreckige Klobrille zu setzen. Ich wische sie auch vor dem Hinsetzen mit meiner Muschi in einer kunstvoll geschwungenen Hüftbewegung einmal komplett im Kreis sauber. Wenn ich mit der Muschi auf der Klobrille ansetze, gibt es ein schönes schmatzendes Geräusch und alle fremden Schamhaare, Tropfen, Flecken und Pfützen jeder Farbe und Konsistenz werden von meiner Muschi aufgesogen. Das mache ich jetzt schon seit vier Jahren auf jeder Toilette. Am liebsten an Raststätten, wo es für Männer und Frauen nur eine Toilette gibt. Und ich habe noch nie einen einzigen Pilz gehabt.672

Der für viele Menschen mit Ekel und nicht selten auch mit Scham besetzte Gang auf die öffentliche Toilette wird hier als lustvolles Ereignis beschrieben. Der Angst vor Bakterien auf der Toilettenbrille begegnet die Protagonistin mit einem Ritual, das mit deutlicher Lust an der Grenzüberschreitung erzählt wird. Auffällig an dieser Beschreibung ist der Detailreichtum, mit dem Helens Toiletten-Ritual illustriert wird (»Schamhaare, Tropfen, Flecken und Pfützen jeder Farbe und Konsistenz«), mitunter auch auditiv (»ein schönes schmatzendes Geräusch«) oder mit einer den Ekel-Effekt konterkarierenden euphemistischen Anmut (»in einer kunstvoll geschwungenen Hüftbewegung«). Die erzählerischen Mittel, die hier zur Veranschaulichung eingesetzt werden, zielen deutlich auf einen Wirkungseffekt bei der Leserschaft. Dass dieser in vielen Fällen nicht ausbleibt, lässt sich in zahlreichen Rezeptionsdokumenten nachlesen. Vor allem in den über 2.800673 Kundenrezensionen auf Amazon lesen sich häufig Kommentare wie: »Mehrfach hat mich beim lesen das Übelheitsgefühl [sic!] überkommen.«,674 »Ich habe an mehreren Stellen eine kleine Pause ge-

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Ebd., S. 18. Ebd., S. 20. Stand: März 2021. Blumenkind: Selten so ein Mist gelesen. Amazon-Kundenrezension vom 08. 08. 2016, http s://www.amazon.de/gp/customer-reviews/R1FDMF815QLOPI/ref=cm_cr_getr_d_rvw_ttl?i e=UTF8&ASIN=3832180575, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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macht, da mir wirklich schlecht wurde.«,675 »Schmunzeln und Würgereiz wechseln sich ab«676 oder »Also jetzt mal ehrlich, das ist sowas von ekelhaft was die Frau da so beschreibt, dass einem alles hochkommt beim lesen [sic!].«677 Auch wenn die Erwähnung eines beim Lesen von Feuchtgebiete entstehenden Würgereizes in den meisten Rezensionen eher als rhetorisches Mittel zu verstehen ist, verweist sie dennoch auf eine starke körperliche Reaktion als direkte Wirkung auf das Gelesene. Auch die Autorin selbst geht in Interviews immer wieder auf die Wirkungsebene des Romans ein. Dabei scheint es ihr allerdings weniger um den Ekel-Effekt, sondern um die Reaktionen auf das Motiv der Lust zu gehen. Dies zeigt sich etwa, wenn sie den pornographischen Gebrauchswert von Feuchtgebiete hervorhebt, indem sie Hubertus Meyer-Burckhardt das Buch als »Wichsvorlage« empfiehlt oder wenn sie stolz davon berichtet, wie ein Freund beim Lesen des Manuskripts eine Erektion bekommen habe.678 Dabei ist auffällig, dass die Autorin den lustvollen Aspekt ihrer emotionalen Wirkungsästhetik hervorhebt, während in der Rezeption vor allem der EkelAspekt dominiert. Dennoch wäre es verkürzt, hier von einem grundsätzlichen Gegensatz zwischen einer positiven Lektürewirkung durch Lustempfinden und einer negativen Lektürewirkung durch Ekel auszugehen. Winfried Menninghaus beschreibt zwar den Ekel als »Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird«,679 und sieht in der Theorie des Ekels »ein Gegenstück – wenn auch kein symmetrisches – zur Theorie der Liebe, des Begehrens und des Appetits als Formen des Umgangs mit einer Nähe, die gewollt wird«,680 dennoch lässt sich selbst im Ekel noch ein lustvoller Aspekt erkennen. So spricht die Literaturwissenschaftlerin Alexandra Pontzen von einer »Lust-Dimension, die dem Ekel (uneingestanden) innewohnt«, und konstatiert in Anlehnung an Menninghaus’ Ekel-Definition: »Wovor man sich ekelt, das will man sich vom Leibe halten – und kann doch oft den Blick nicht davon wenden.«681 Ohne die Lust am Ekel lässt sich weder der Verkaufserfolg noch die Wirkungsästhetik von Feuchtgebiete verstehen. Dabei 675 Sarah: Naja, muss man nicht haben… Geschmackssache! Amazon-Kundenrezension vom 21. 07. 2011, https://www.amazon.de/gp/customer-reviews/R3HMTD1LEYZQ38/ref=cm_c r_getr_d_rvw_ttl?ie=UTF8&ASIN=3832180575, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 676 Sylvia Schmitz: Naja…. Amazon-Kundenrezension vom 14. 05. 2011, https://www.amazon .de/gp/customer-reviews/R3KMFTDUM0FPND/ref=cm_cr_getr_d_rvw_ttl?ie=UTF8&A SIN=3832180575, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 677 Jana Ulrich: Wiederlich [sic!]. Amazon-Kundenrezension vom 31. 10. 2011, https://www.ama zon.de/gp/customer-reviews/R24L33GZFGLEGA/ref=cm_cr_arp_d_rvw_ttl?ie=UTF8&A SIN=3832180575, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 678 Vgl. Roche/Uslar/Voigt: Ich bin gar nicht so frech. 679 Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt am Main 1999, S. 7. 680 Ebd. 681 Alexandra Pontzen: Zum Kotzen. Kommentar. In: Rainer Maria Kiesow/Martin Korte (Hg.): Emotionales Gesetzbuch. Dekalog der Gefühle. Köln/Weimar/Wien 2005, S. 77–85, hier S. 85.

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bedient sich der Roman an einer durchaus vorhandenen literaturgeschichtlichen Tradition der Ekel-Lust, die unter anderem von Bachtin anhand der karnevalesken Elemente im Werk von Rabelais herausgearbeitet wurde682 und im deutschsprachigen Raum ihren Höhepunkt im Grobianismus des 16. und 17. Jahrhunderts feierte. In dieser Tradition verortet auch Meier den Text von Roche: »Charlotte Roche zieht mit Feuchtgebiete das altehrwürdige Register des Grobianismus und verschiebt es nur ins Jugendlich-Feminine.«683 Das Neue an der literarischen Umsetzung in Feuchtgebiete besteht also vor allem darin, dass diese traditionsreiche Motivik mit dem modernen Reinheitsdiskurs jugendlicher Weiblichkeit in Verbindung gebracht wird.684 Die Artikulation des Ungesagten In der bisherigen Darstellung der emotionalen Trias blieb das Motiv der Scham noch weitgehend unbehandelt. Tatsächlich wird das Thema ›Scham‹ in Feuchtgebiete auf weniger offensichtliche Weise verhandelt, weshalb es auch in der Rezeption eine eher untergeordnete Rolle spielt. In der öffentlichen Kommunikation über den Roman wird Scham meist in seiner Negation, als ›Schamlosigkeit‹ thematisiert. Die Bild betitelte die Autorin nach Veröffentlichung von Feuchtgebiete als »Schamlos-Charlotte«,685 während Lothar Müller in der Süddeutschen Zeitung das Attribut auf die Protagonistin des Romans anwendend schreibt, diese sei »ein gänzlich schamloses Plappermaul«.686 Gänzlich schamlos ist Helen Memel jedoch nicht, wie bereits am zweiten Satz des Romans gezeigt wurde: »Viele, viele Jahre habe ich gedacht, ich dürfte das keinem sagen.«687 Der Satz rückt zwar die Schamempfindung der Protagonistin in die erzählte Vergangenheit, doch finden sich im Text genug Indizien dafür, dass Helen das Gefühl der Scham alles andere als fremd ist. Als sie nach der Operation aufwacht, beschämt Helen der Gedanke, während der Operation nackt gewesen zu sein: »Heißt das, ich war die ganze Operation über nackt? Das finde ich schlimm. Die reden doch darüber, wie man aussieht. Da 682 Vgl. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Vgl. hierzu auch die motivische Bedeutung von Ausscheidungen, die im Kapitel 3.1.1 am Beispiel von Sasˇa Stanisˇic´s Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert thematisiert wurde. 683 Meier: Immer sehr unmädchenhaft, S. 239. 684 Zur Rolle von Weiblichkeit in Feuchtgebiete siehe Kapitel 3.5.1 dieser Arbeit. 685 Claudia Weingärtner: Was treibt Sie zu Schamlos-Charlotte? In: Bild vom 21. 04. 2008, https://www.bild.de/regional/hamburg/treibt-was-schamloses-4322310.bild.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 686 Lothar Müller: Hygiene wird bei mir kleingeschrieben. In: Süddeutsche Zeitung vom 16. 04. 2008, https://www.sueddeutsche.de/kultur/charlotte-roche-feuchtgebiete-hygiene-wird-bei -mir-kleingeschrieben-1.217020-0, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 687 Roche: Feuchtgebiete, S. 8.

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bin ich mir total sicher!«688 Und als die beste Freundin der Erzählerin behauptet, Smegma gäbe es nur bei Männern, heißt es: »Und was ist das dann immer zwischen meinen Lippen und in meiner Unterhose? Habe ich gedacht, nicht gesagt. Trau ich mich nicht.«689 »Trau ich mich nicht« heißt es auch später im Roman, als es darum geht, dass Helen ins Bordell geht, um ihren Wissensdurst zu stillen, weil sie sich zu sehr schämt, um Freundinnen oder die Mutter nach den Details weiblicher Anatomie zu fragen.690 Selbst wenn es um die Verwendung von vulgären Vokabeln wie »Fotze« geht, sagt Helen, dass sie sich nie trauen würde, so etwas zu sagen.691 Stattdessen erfindet sie für ihre Geschlechtsteile infantile Neologismen wie »Hahnenkämme«, »Vanillekipferl« und »Perlenrüssel«.692 Meier spricht in diesem Zusammenhang von einer »paradoxe[n] Verschämtheit« der Protagonistin.693 Und tatsächlich scheint die Artikulation der eigenen Schüchternheit im Widerspruch zu den detaillierten Berichten von Masturbation und Hygieneexperimenten zu stehen. Dabei wird in den Rezensionen häufig übersehen, dass die expliziten Schilderungen in den meisten Fällen nicht an eine andere Figur, sondern an den Leser gerichtet sind. In dieser Hinsicht hat der Text den Charakter einer intimen Aufzeichnung in der Tradition des Tagebuchs. Die Grenzen von Scham und gesellschaftlichem Tabu werden nicht in der Kommunikation zwischen den fiktiven Figuren überschritten, sondern auf der Kommunikationsebene zwischen Erzählerin und Leser sowie auf der Ebene des Epitexts zwischen Autorin und Rezipient. Denn dort, im öffentlichen Epitext des Romans, inszeniert sich Charlotte Roche tatsächlich auf eine Weise, die Parallelen zu ihrer Protagonistin aufweist – wenn auch nicht in biographischer Hinsicht. Entgegen ihres Images als »Schamlos-Charlotte« betont die Autorin in mehreren Interviews, dass sie selbst eher verklemmt sei. So sagt sie gegenüber der Frauenzeitschrift Brigitte: Ich bin selber nicht so cool. Ich musste beim Schreiben meine eigene Scham überwinden, immer wieder Wörter erfinden, weil ich selber keinen Namen dafür hatte. Die Leute haben einen völlig falschen Eindruck, wenn sie jetzt glauben, dass ich mit nichts ein Problem hätte, nur weil ich so ein Buch geschrieben habe. Aber Stellen davon sind für mich total befreiend.694

688 689 690 691 692 693 694

Ebd., S. 28f. Ebd., S. 22f. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. ebd., S. 118. Vgl. ebd., S. 22. Meier: Immer sehr unmädchenhaft, S. 237. Charlotte Roche im Gespräch mit Inga Leister: »Ich bin auch verklemmt«. In: Brigitte vom 03. 03. 2008, https://www.brigitte.de/liebe/sex-flirten/charlotte-roche±ich-bin-auch-verkle mmt-10146022.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Roche inszeniert sich hier nicht als schamlose Tabubrecherin, für die keine gesellschaftlichen Konventionen gelten, sondern vielmehr als jemand, der durchaus Scham empfindet, aber sich dazu zwingt, Dinge zu artikulieren, über die normalerweise geschwiegen wird. Diese Artikulation des Ungesagten wird gleichsam als ein Akt der Befreiung dargestellt. Die Verstöße gegen die Normen des guten Geschmacks resultieren dabei nicht in der Aufhebung der Normen (weder innerhalb noch außerhalb der Diegese), sondern führen zu deren Sichtbarwerden. Dies schlägt sich auch in der Wirkungsästhetik von Feuchtgebiete nieder, wie Meier feststellt: »Wer bei ihrer Lektüre pikiert ist oder sich gar ekelt, spürt daran genau, wo die gesellschaftlichen oder auch individuellen Grenzen des Erlaubten im Augenblick gerade verlaufen.«695 Es ist somit ein aufklärerischer Gestus, mit dem sich Roche inszeniert und der als Kern ihrer Text wie Epitext bestimmenden Poetik zu werten ist. Denn die Praxis der Wahrheitssuche und -verkündung geht auf beiden Ebenen weit über die Dimension der körperlich-sexuellen Privatheit hinaus. Im Roman befreit sich Helen von einer traumatischen Kindheitserfahrung, in der sie in letzter Minute den erweiterten Suizid ihrer Mutter verhinderte. Am Ende der Romanhandlung erzählt sie ihrem jüngeren Bruder davon und bricht damit das Schweigen, das über dieses Familiengeheimnis gelegt wurde:696 Als du klein warst, hat Mama versucht sich umzubringen. Sie wollte dich mitnehmen. Die hat dir mit dem Fläschchen Schlafmittel eingeflößt und selber Tabletten genommen. Als die nette Helen nach Hause kam, lagt ihr bewußtlos auf dem Küchenboden und Gas strömte aus dem Ofen. Ich habe euch gegen den Willen von Mama gerettet, kurz bevor das Haus in die Luft flog oder ihr erstickt wäret.697

Helen ist sich bewusst, dass das Lüften dieses Geheimnisses den Zusammenhalt ihrer Familie noch stärker gefährdet, doch sie ist überzeugt: »Man kann doch nicht für immer schweigen.«698 So endet der Roman mit einer Entwicklung der Hauptfigur, die sich nicht nur von ihren Eltern und dem kindlichen Wunsch, diese wieder zusammenzubringen, emanzipiert,699 sondern auch Scham und Hemmungen, sich zu äußern, ablegt. In der allerletzten erzählerischen Sequenz des Romans verlässt Helen gemeinsam mit ihrem Lieblingspfleger Robin das Krankenhaus. Helen sagt zu ihm:

695 Meier: Immer sehr unmädchenhaft, S. 239. 696 Zu diesem Aspekt vgl. auch Christer Petersen: »Ich war eine gute Hure.« Zur skandalösen Authentifizierung des Körpers in weiblicher Bekenntnisliteratur der 2000er Jahre. In: Bartl/ Kraus (Hg.): Skandalautoren, S. 355–393, hier S. 370f. 697 Roche: Feuchtgebiete, S. 209. 698 Ebd., S. 210. 699 Vgl. Petersen: Ich war eine gute Hure, S. 370.

Authentizität und Privatheit

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»Ich schlafe erst mit dir, wenn du es schaffst, einem Pony so feste am Arschloch zu saugen, dass es sich von innen nach außen stülpt.« »Ist das überhaupt möglich, oder willst du gar nicht mit mir schlafen?« »Das wollte ich schon immer mal zu einem Typen sagen. Jetzt hab ich’s geschafft.«700

Der sinnlose, aber vulgäre Satz, den Helen ihrem Gefährten gegenüber herausbringt, scheint wie ein Befreiungsschlag, mit dem sie ihre Scham endgültig überwindet und der nur noch von dem lauten Schrei übertroffen wird, den die Protagonistin beim Verlassen des Krankenhauses ausstößt und mit dem der Roman endet.701 Die Artikulation des Ungesagten erscheint hier nicht nur als aufklärerischer Auftrag, sondern auch als therapeutisches Mittel zur Selbstheilung – ein Prinzip, das auf epitextueller Ebene eine ebenso große Rolle für die schriftstellerische Selbstinszenierung von Charlotte Roche spielt. Das öffentliche Sprechen über vermeintlich Geheimes oder Privates gehört zum Erkennungszeichen der Interviewpraxis von Roche. Das gilt auch jenseits des Epitexts von Feuchtgebiete: Roche spricht in Interviews nicht nur offen über ihre Magersucht, sondern im Kontext ihres Romans Schoßgebete auch häufig über den Unfalltod ihrer drei Brüder und ihres daraus resultierenden Traumas.702 In einem Interview im Spiegel betont Roche die Überwindung, die es sie gekostet hat, in diesem Roman Dinge zu artikulieren, über die normalerweise geschwiegen wird: SPIEGEL: Ihr neues Buch ist eine Art Offenbarungsliteratur. Der Versuch, Dinge zu erzählen, die man eigentlich niemandem berichtet. Haben Sie keine Angst vor solch einer Offenbarung? Roche: Ich will einfach supermutig sein. Natürlich habe ich immer auch unglaubliche Angst vor meiner Courage, Angst davor, dass ich danach tot bin, dass es danach kein Leben mehr gibt, wenn man all diese Dinge preisgibt. Und dann sage ich mir: Das darf keine Rolle spielen! 703

Die Preisgabe von Privatem erscheint in dieser Antwort nicht als Resultat einer exhibitionistischen Neigung, sondern geradezu als existenzielle Notwendigkeit, der man sich trotz innerer Widerstände stellen muss. 2019 veröffentlichte Roche einen Podcast, in dem sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Martin Keß über Eifersucht, Seitensprünge und andere Herausforderungen in der gemeinsamen Beziehung spricht. Der Modus der Nähe, der bereits zuvor die Privatheitsinszenierung von Roche kennzeichnete, wird hier noch

700 Roche: Feuchtgebiete, S. 220. 701 Vgl. ebd. 702 Vgl. Charlotte Roche im Gespräch mit Lothar Gorris und Claudia Voigt: »Guckt mal, was jetzt kommt.« In: Der Spiegel vom 08. 08. 2011, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-798 05397.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 703 Ebd.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

verstärkt: Ohne fiktionalen Rahmen, der bei den beiden Romanen den Grundstein für Roches öffentliche Äußerungen legte, vertritt der Podcast den Anspruch unverfälschter Ehrlichkeit und Realitätsbezug – was in Anbetracht von Roches 2008 geäußerter Authentizitätsskepsis geradezu ironisch wirkt. Im Interview mit dem Göttinger Tageblatt betont Roche auf ganz ähnliche Weise wie bei Schoßgebete die Überwindung und den Mut, den es braucht, um den öffentlichen Zugriff auf das Private zuzulassen: Göttinger Tageblatt: Haben Sie keine Angst, im Podcast so viel von sich und Ihrer Beziehung der Öffentlichkeit preiszugeben? Roche: Ich habe richtig Angst. Der Podcast ist ein echtes Experiment, bei dem nicht klar ist, dass es ein gutes Ende nehmen muss. Allein dass es bald losgeht, führt zu Streit. Wir machen etwas, das nicht nur für Außenstehende krass klingt, sondern für uns auch.704

Anders als bei Thomas Glavinic wird die Gewährung eines großzügigen Einblicks ins (angeblich) Private hier nicht als ein Akt des Exhibitionismus inszeniert, sondern als Herausforderung, der eine therapeutische oder moralische Notwendigkeit zugrunde liegt und zu der man sich regelrecht zwingen muss. Ein weiterer Unterschied zur Privatheitsinszenierung von Glavinic besteht darin, dass es bei Roche kein Wechselspiel aus Nähe und Distanz, aus Authentizitätsgebaren und Fiktionalitätsbeharren gibt. Roches Inszenierung verlässt den Modus der Nähe nie. In diesem Licht lässt sich auch ihre Absage an jede Form von schriftstellerischer Authentizität verstehen. Mit der Offenlegung ihrer eigenen Inszenierungspraktiken und dem Eingeständnis, dass auch das scheinbar Authentische am Ende nur Ergebnis dieser Inszenierung ist, folgt Roche ihrer Maxime der größtmöglichen Transparenz. Ihre Aussage, sie spiele nur, dass sie authentisch sei,705 wirkt wie eine Beichte, die ihre eigene Glaubwürdigkeit gerade dadurch mehrt, dass diese von ihr selbst infrage gestellt wird. In diesem Sinne lässt sich auch dieser Akt der Preisgabe im Kontext einer subjektbezogenen Inszenierungsstrategie verstehen, die sich das Verwischen der Grenze von Privatem und Öffentlichem zum Ziel gemacht hat.

704 Charlotte Roche im Gespräch mit Hannah Scheiwe: »Alles, was ich mache, ist sexuell«. In: Göttinger Tageblatt vom 21. 06. 2019, https://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Me dien-TV/Charlotte-Roche-Alles-was-ich-mache-ist-sexuell, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 705 Vgl. Roche/Hensel: Lass uns über Sex reden!

Authentizität und Außenseitertum

3.4

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Authentizität und Außenseitertum

Die Literaturgeschichte ist durchzogen von Außenseiterfiguren – von Hamlet und Richard III. bis zu Holden Caulfield – und auch die öffentliche Wahrnehmung des Schriftstellerberufs ist verknüpft mit Bildern von verschrobenen, rätselhaften Eigenbrötlern wie Hölderlin, Arno Schmidt oder Michel Houellebecq. Diese Behauptung mag in ihrer Allgemeinheit zunächst einmal banal sein (zumal das Außenseitertum der genannten Figuren und Personen sehr unterschiedlich charakterisiert werden kann), doch für den Authentizitätsdiskurs erweist sich der Begriff des Außenseiters gerade auch in seiner Allgemeinheit als äußerst fruchtbar. Mit ihm wird der erzählerische Blick von außen assoziiert ebenso wie eine grundsätzlich interessante und unverwechselbare Persönlichkeitsstruktur. Mit einer Außenseiterperspektive sind also authentizitätserzeugende Qualitäten wie Glaubwürdigkeit und Individualität verbunden. Gleichzeitig kann eine gesellschaftliche Außenseiterposition an ein unvorhersehbares, exzentrisches Verhalten gekoppelt sein, das die Authentizitätserwartungen der Rezipient*innen unterläuft. Insofern birgt literarisches Außenseitertum sowohl Möglichkeiten der Beglaubigung als auch der Subversion von Authentizität. In diesem Kapitel wird der Außenseiteraspekt auf dem Gebiet der schriftstellerischen Selbstinszenierung untersucht und eine mögliche Außenseiterrolle von Erzählinstanzen oder Figuren ist nur von Interesse, wenn sie als Teil der jeweiligen Inszenierung betrachtet werden kann. Im Fokus der Untersuchung stehen dabei Formen der Inszenierung, die Jürgensen und Kaiser als soziale bzw. ästhetische Inszenierungspraktiken bezeichnen. Das ist auf sozialer Ebene insbesondere »die Inszenierung von Schichten-, Gruppen- oder Klassenzugehörigkeit«,706 und auf ästhetischer Ebene handelt es sich um »distinktive Formen der Authentizitätsbeglaubigung […] durch Selbstzurechnung zu Kollektiven von der Nation bis zur Arbeiterklasse, durch Inanspruchnahme historisch variabler Persönlichkeitsprofile bzw. Rollenmuster«.707 In diesem Sinne geht es nicht nur um die Untersuchung habitueller Besonderheiten, die von einer bestimmten gesellschaftlichen Norm abweichen und damit als exzentrisch oder außenstehend betrachtet werden können, sondern es werden zur Konkretisierung des diffusen Außenseiterbegriffs bestimmte Gruppen oder gesellschaftliche Stereotypen herangezogen, die aus unterschiedlichen Gründen mit Außenseitertum in Verbindung gebracht werden, entweder weil es sich bei ihnen um gesamtgesellschaftliche Minderheiten mit teilweise auffälligem, normabweichendem Verhalten handelt (z. B. Nerds, Dandys) oder weil sie durch Milieuwechsel in ihrem neuen sozialen Umfeld aufgrund ihrer habituellen Disposition als fremd und 706 Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 14. 707 Ebd.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

exotisch wahrgenommen werden und dadurch eine Außenseiterposition einnehmen (z. B. Clemens Meyer als ›proletarischer‹ Literat). Der Begriff orientiert sich in diesem Sinne sowohl an der allgemeinen, gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung als auch an der spezifischen Wahrnehmung der literaturinteressierten Öffentlichkeit. Diese müssen natürlich nicht deckungsgleich sein. Außenseitertum ist somit ein relationaler Begriff, der hier als diskursives Label begriffen wird und nicht als klar umrissene soziale Kategorie. ›Außenseiter‹ bezeichnet demnach zunächst jene Individuen und Gruppenzugehörige, denen dieses Etikett von anderen zugeschrieben wird. Subsumiert werden unter der Außenseiter-Kategorie in diesem Kapitel jene Schriftsteller*innen, die ihre besondere Position im literarischen Feld (und die damit einhergehenden besonderen Authentizitätserwartungen) nicht ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht oder ihrem Alter zu verdanken haben, sondern ihrer jeweiligen habituellen, ästhetischen oder sozialen Selbstinszenierung, durch die sie eine Außenseiterrolle in der Gesellschaft (oder zumindest im Literaturbetrieb) einnehmen. Es ist somit auch die individuell variabelste Kategorie, da die Positionierung der Schriftsteller*innen sich nicht nach grundlegenden gesellschaftlichen Dualismen richtet (männlich/weiblich, alt/jung, mit/ohne Migrationshintergrund), sondern sich relativ frei an einzelnen sozialen Typen oder Gruppen orientiert.708 Durch die starke Individualisierung der Inszenierungen bedarf es in diesem Kapitel einer ausführlicheren Betrachtung von Einzelfällen, weshalb im Folgenden drei Fälle exemplarisch vorgestellt und analysiert werden. Es handelt sich dabei um drei Autoren, die aus unterschiedlichen Gründen eine Außenseiterposition im deutschsprachigen Literaturbetrieb einnehmen: Christian Kracht, Clemens Setz und Clemens Meyer. Alle drei werden mit einem Etikett versehen, das sie einer bestimmten sozialen Gruppe oder einem Typus zuordnet: Christian Kracht wird im Folgenden als ›Dandy‹ vorgestellt, Clemens Setz als ›Nerd‹ und Clemens Meyer als ›Prolet‹. Diese Etikettierung soll hier nicht unkritisch reproduziert werden, sondern vielmehr verdeutlichen, unter welchen Grundbedingungen die jeweilige Inszenierung verläuft.

708 Für diese Typen oder Gruppen können natürlich die genannten Kategorien wie Geschlecht oder Alter wiederum eine Rolle spielen – siehe zum Beispiel die Bedeutung der (sozialen) Herkunft für die Autorinszenierung von Clemens Meyer. Auch soll hier nicht unterschlagen werden, dass das Außenseitertum überhaupt eine genderspezifische Dimension hat. So sind zum Beispiel die für Christian Kracht und Clemens Meyer wichtigen soziokulturellen Phänomene des Dandyismus und des Proletentums maßgeblich von modernen Männlichkeitsvorstellungen geprägt. Siehe hierzu auch Kapitel 3.5.2 dieser Arbeit.

Authentizität und Außenseitertum

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3.4.1 Christian Kracht: Der Dandy Als Christian Kracht 2012 für seinen Roman Imperium (2012) den WilhelmRaabe-Literaturpreis erhielt – zu diesem Zeitpunkt seine erste literarische Auszeichnung überhaupt –,709 untertitelte der Spiegel seine Mitteilung über diese Preisvergabe mit den Worten »Hoch dotierte Ehre für einen Außenseiter des Literaturbetriebs«.710 In der Meldung war weiter zu lesen: »Seine kühle Zurückhaltung, seine nicht für jedermann ergründlichen Scherze aus der Abseite der Kulturgeschichte, seine Koketterie mit der Herkunft aus einer reichen Familie […] machten Kracht zum Außenseiter – und damit verdächtig.«711 Auch für den Literaturkritiker Hubert Winkels gilt Kracht als »verfemter Außenseiter, kapriziös, reich, flüchtig, modisch, arrogant, ironisch und vor allem literaturbetriebsfern«.712 In diesen beiden Wortmeldungen sind bereits zahlreiche Zuschreibungen enthalten, die für die Rezeption von Krachts literarischem Werk entscheidend sind. Zunächst einmal fällt auf, dass das unterstellte Außenseitertum Krachts innerhalb des Literaturbetriebs in direkte Verbindung mit seiner habituellen Disposition gebracht wird. Sein Verhalten bei Gesprächen, sein Kleidungsstil und seine soziale Herkunft werden hier als Beleg für Fremdheit und Isolation aufgeführt. Diese Charakterisierung ist eng mit dem Label ›Dandy‹ verbunden, das in zahlreichen Rezensionen und anderen literaturkritischen Beiträgen in Bezug auf Kracht Verwendung findet. Besonders auffällig lässt sich dies in der Rezeption von Tristesse Royale (1999) beobachten, einem Gesprächsband, in dem sich Christian Kracht mit vier weiteren Jungautoren im Berliner Nobelhotel Adlon über den Zustand der Gesellschaft zur Jahrtausendwende austauscht.713 So schreibt zum Beispiel Feridun Zaimoglu in einer Abrechnung mit der Poplite-

709 Alleine die Tatsache, dass ein erfolgreicher Autor wie Kracht, der mit nahezu allen seinen Veröffentlichungen die Aufmerksamkeit der literarischen Öffentlichkeit auf sich zog, erst 17 Jahre nach seinem gefeierten Debüt Faserland (1995) mit einem Preis ausgezeichnet wurde, kann als ein Beleg für sein Außenseitertum innerhalb des Literaturbetriebs gewertet werden. 710 o. A.: Christian Kracht erhält Wilhelm-Raabe-Preis. In: Der Spiegel vom 04. 10. 2012, http ://www.spiegel.de/kultur/literatur/imperium-christian-kracht-erhaelt-wilhelm-raabe-preis -a-859504.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 711 Ebd. 712 Hubert Winkels: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe. Die Diskussion um Imperium und der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2012. Berlin 2013, S. 7–17, hier S. 8. 713 Zur Verwendung des Dandy-Begriffs in der Rezeption von Tristesse Royale vgl. Isabelle Stauffer: Faszination und Überdruss. Mode und Marken in der Popliteratur. In: Alexandra Tacke/Björn Weyand (Hg.): Depressive Dandys. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 39–59, hier S. 46f.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

ratur in der Zeit, dass Christian Kracht sich »am Dandyismus eines jungen Gottfried Benn zu orientieren«714 scheine. Die Bezeichnung Krachts als Dandy stellt nicht nur einen Bezug zu Benn her, sondern zu einer umfangreichen literarischen Tradition, die Autoren wie Baudelaire, Joris-Karl Huysmans, Oscar Wilde, Thomas Mann oder Ernst Jünger umfasst.715 Dabei lässt sich spätestens mit der Figur des dekadenten Dandy, wie sie von Huysmans in dessen Roman À rebours geprägt wurde, ›Künstlichkeit‹ als eines der konstitutiven Merkmale des Dandytums bezeichnen, das auch in den Dandy-Konzepten des 20. Jahrhunderts seinen Niederschlag findet: Die Figur des von Huysmans konstruierten Dandy weist jedoch weit über seine Zeit hinaus. Paul Valérys Monsieur Teste, Ernst Jüngers soldatischer Dandy und der von Andy Warhol verkörperte Verhaltenstypus, dessen Künstlichkeit dem Maschinenhaften unserer Zeit entspricht, haben die Denaturalisierung und Mechanisierung des Dandyhabitus weiter vorangetrieben.716

Für Giorgio Agamben gipfelt das Artifizielle im Habitus des Dandys sogar in einer antihuman ausgerichteten Praxis der Selbstverdinglichung: »Wie das Kunstwerk sich selbst zerstören und entäußern muß, um eine absolute Ware werden zu können, so muß der Künstler-Dandy ein lebender Leichnam werden, fortwährend auf ein Anderes gerichtet, ein seinem Wesen nach nicht menschliches und antihumanes Geschöpf.«717 Die Künstlichkeit des Dandys steht damit im krassen Gegensatz zur rousseauistischen Vorstellung eines ›natürlichen Menschen‹ sowie jeglichen Konzepten eines authentischen Subjekts. Vor allem in Krachts ersten beiden Romanen Faserland und 1979 spielt der Dandy auch als literarisches Motiv eine Rolle. So beschreibt etwa 1979 die Entwicklung des Protagonisten von einem gelangweilten Dandy zu einem spirituellen Sinnsucher und schließlich durch den erzwungenen Aufenthalt in einem chinesischen Umerziehungslager zum ›Neuen Menschen‹ nach kommunisti-

714 Feridun Zaimoglu: Knabenwindelprosa. In: Die Zeit vom 18. 11. 1999, http://www.zeit.de /1999/47/199947.poplit_.xml, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 715 Zum Dandyismus und seiner Bedeutung in der Literaturgeschichte vgl. ausführlich Günter Erbe: Der moderne Dandy. Zur Herkunft einer dekadenten Figur. In: Tacke/Weyand (Hg.): Depressive Dandys, S. 17–38; sowie die Dissertation von Anne Kristin Tietenberg: Der Dandy als Grenzgänger der Moderne. Selbststilisierungen in Literatur und Popkultur. Berlin 2013. 716 Erbe: Der moderne Dandy, S. 30. Zur Bedeutung von Künstlichkeit in Krachts Dandyismus vgl. auch Christian Dinger: Wege zum ›Neuen Menschen‹. Dimensionen des Transhumanen im Werk von Christian Kracht. In: Imme Bageritz/Hartmut Hombrecher/Vera K. Kostial/ Katerina Kroucheva (Hg.): Fordschritt und Rückblick. Verhandlungen von Technik in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts. Göttingen 2019, S. 95–111, hier S. 101f. 717 Giorgio Agamben: Beau Brummell oder die Aneignung der Irrealität. In: Ders.: Stanzen. Das Wort und das Phantasma in der abendländischen Kultur. Zürich 2005, S. 85–98, hier S. 90.

Authentizität und Außenseitertum

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scher Vorstellung – wobei der Protagonist zu keiner Zeit seinen ästhetizistischen Blick und seinen artifiziellen Habitus gänzlich aufgibt.718 Im Vordergrund der Fremdbezeichnung ›Dandy‹ in Bezug auf die Person Christian Kracht stehen aber weniger Motivik, Schreibstil oder Sujets des Autors als vielmehr seine habituelle Selbstinszenierung. Sein ausgewählt eleganter Kleidungsstil, seine ironischen und ästhetizistischen Aussagen in Interviews und auch die Art und Weise, wie er auf Autorenfotos seine Zigarette hält (was mitunter direkte Assoziationen zu Oscar Wilde hervorruft),719 prägten nachhaltig Krachts Bild als Dandy in der Öffentlichkeit. Der Autor selbst hat dieses Etikett jedoch nie als Selbstzuschreibung gebraucht und weist es, wird er in Interviews darauf angesprochen, stets entschieden zurück. In einem Gespräch mit dem Literaturkritiker Ijoma Mangold aus dem Jahr 2013 bekräftigt Kracht, der Dandy sei »nur Ihr öffentliches Bild von mir, das hat mit mir absolut überhaupt nichts zu tun«, und grenzt sich von dieser Bezeichnung weiter ab, indem er sagt: »Ein Dandy ist ein parfümierter Mensch, der angeekelt durch Fußgängerzonen streicht und sich mit Bonmots vor dem Älterwerden rettet.«720 Im weiteren Verlauf des Gesprächs zieht Mangold den Vergleich zwischen Kracht und einer Filmfigur, einem Internatsschüler, und stützt diesen Vergleich unter anderem auf die Krawatte, die sein Gesprächspartner gerade trägt, woraufhin Kracht entgegnet: »[B]itte, das ist doch keine Schulkrawatte, das ist eine Krawatte mit einem schottischen Hochlandmuster.«721 Mit dieser Betonung der ästhetischen Qualität seiner Kleidung und des damit verbundenen erlesenen Geschmacks ihres Trägers, welche die Etikettierung des Autors als Dandy wenn nicht rechtfertigt, so doch nachvollziehbar macht, relativiert Kracht seine kurz zuvor vollzogene Zurückweisung dieses Etiketts. Ähnliches ließ sich beobachten, als Kracht 2001 in der Harald-Schmidt-Show zu Gast war, um seinen kurz zuvor erschienenen Roman 1979 vorzustellen. Kracht gab sich während des gesamten Gesprächs reserviert und wortkarg, antwortete auf Schmidts Fragen meist einsilbig oder ausweichend und fiel ansonsten durch ästhetische Urteile über Personen des öffentlichen Lebens auf, wenn er zum Beispiel über eine angebliche Ähnlichkeit Nick Hornbys mit einem Penis sinniert oder sich spöttisch über die Backenzähne von Kurt Russel äußert.722 Alexander Fischer erkennt in Bemerkungen wie diesen ein Spiel »mit dem 718 Vgl. Dinger: Wege zum ›Neuen Menschen‹, S. 101–103. 719 Vgl. Fischer: Posierende Poeten, S. 494f. 720 Christian Kracht im Gespräch mit Ijoma Mangold: »Gott sagt: Dies geschieht«. In: Die Zeit vom 10. 10. 2013, http://www.zeit.de/2013/42/film-finsterworld-christian-kracht, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 721 Ebd. 722 Vgl. Christian Kracht in der Harald-Schmidt-Show vom 12. 10. 2001, https://www.youtube. com/watch?v=GUJypXBsJJQ, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

ästhetizistischen Blick des Dandys auf die Welt«.723 Schmidts Frage, ob er ein Dandy sei, verneint Kracht allerdings wieder kurz und bestimmt. Wenig später spricht er jedoch ausführlich über die in 1979 erwähnten Berluti-Schuhe, laut Kracht die »besten Schuhe der Welt«, deren Träger sich in Paris träfen, um ihre Schuhe mit Dom Pérignon Jahrgangschampagner zu putzen. Im Roman sei aber von Krug-Champagner die Rede, weil dieser, so Kracht, besser schmecke.724 Ähnlich wie in dem Interview mit Ijoma Mangold zwölf Jahre später verbindet Christian Kracht auch hier die Zurückweisung des Dandy-Etiketts mit einer habituellen Beglaubigung dieser Zuschreibung, die man fast schon als performativen Selbstwiderspruch lesen kann. Fischer spricht in diesem Zusammenhang von einem Wechselspiel aus Positionierung und (ironischer) Relativierung: Wie in Tristesse Royale wird auch in der Harald Schmidt-Show ein popmodernes Wechselspiel von Positionierung und Relativierung (ironischer Selbstdistanzierung) vorgeführt. Kracht behauptet zunächst, kein Dandy zu sein, nur um gleich darauf dem Publikum Facetten seines Dandytums zu präsentieren.725

Positionierung und Relativierung Die Rede von Positionierung und ironischer Relativierung ist nicht nur für Krachts Umgang mit dem Dandy-Etikett von Bedeutung, sie ist ein zentrales Merkmal seiner Autorinszenierung, besonders wenn es um Authentizitätserwartungen des Publikums geht. Denn diese werden durch Krachts Inszenierung gezielt aufgebaut, um sie anschließend wieder ins Leere laufen zu lassen. Diese scheinbar widersprüchliche Doppelstrategie lässt sich anhand von verschiedenen Fotografien des Autors veranschaulichen. Während Kracht auf dem Buchrücken der Erstausgabe von Tristesse Royale gemeinsam mit den anderen Autoren des Bands in einer artifiziellen Dandy-Pose abgebildet ist,726 vermitteln andere Fotografien des Autors den Eindruck von Unmittelbarkeit und Spontanität. In einem Zeit-Interview aus dem Jahr 1999, das Christian Kracht gemeinsam mit seinem Schriftsteller-Kollegen Benjamin von Stuckrad-Barre gab, behauptet Kracht: »Ich stelle meinem Verlag grundsätzlich nur Urlaubsfotos zur Verfügung. Da sieht man gut aus, ist schlank, braun gebrannt. Und das kann Isolde Ohlbaum nicht leisten, wenn sie Schriftsteller mit Füllfederhalter im Mund vor dem Bücherregal fotografiert.«727 Dem professionellen, arrangierten und vor dem Hin723 724 725 726 727

Fischer: Posierende Poeten, S. 513. Vgl. ebd., S. 513f. Ebd., S. 514. Für eine ausführliche Analyse dieser Fotografie vgl. ebd., S. 492ff. Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre im Gespräch mit Anne Philippi und Rainer Schmidt: »Wir tragen Größe 46«. In: Die Zeit vom 09. 09. 1999, http://www.zeit.de /1999/37/199937.reden_stuckrad_k.xml/komplettansicht, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

Authentizität und Außenseitertum

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tergrund gängiger Dichterklischees inszenierten Foto-Porträt wird hier der authentische Urlaubs-Schnappschuss gegenübergestellt. Betrachtet man allerdings Krachts sogenannte Urlaubsfotos,728 fällt auf, dass auch diese hochgradig inszeniert wirken und keinesfalls den Eindruck ungestellter Spontanität hinterlassen. Einige dieser Bilder erzeugen allerdings auf anderem Wege bemerkenswerte Authentizitätseffekte: Viele Rezipient*innen meinen, in den Autorenfotos eine Ähnlichkeit Krachts mit den jeweiligen Protagonisten seines gerade aktuellen Romans ausmachen zu können. So vermutet etwa Joe Paul Kroll in seiner Rezension zu Imperium, Kracht provoziere mit seinen Autorenfotos eine Identifikation von Autor und Figur: Auf den jüngsten Pressefotos posiert er [Kracht, Anm. C.D.] mit Stoppelbart und strähnigem, schütterem Haar, wie müde und des Lebens überdrüssig. Sein Erscheinungsbild ähnelt darin dem des ausgemergelten August Engelhardt, wie ihn Aufnahmen der letzten Jahre zeigen.729

Analog hierzu lassen sich auch in Fotografien, die Kracht im Zuge seiner Publikationen Mesopotamia (1999) und Der gelbe Bleistift (2000) veröffentlichte, Bezüge zu Figuren aus Faserland herstellen.730 Und auch in einer Vorab-Rezension zu Krachts Roman Die Toten (2016) betont der Rezensent, Christian Kracht sähe in einem kurz zuvor gesendeten Fernsehinterview dem Helden seines neuen Romans sehr ähnlich und wirke wie ein Schauspieler, der sich »für die Verfilmung des eigenen Romans« bewerbe.731 Das eigentlich eher subjektbezogene Inszenierungsmedium der Autorenfotografie erhält durch diese Form der Rezeption die Qualität einer werkbezogenen Inszenierung von Authentizität. Denn bei aller ostentativ ausgestellten Künstlichkeit tragen solche und ähnliche Fährten, die Kracht (bewusst oder unbewusst) in seine Autorinszenierung streut,

728 Auf Christian Krachts Facebook-Präsenz finden sich mehrere Fotos, die den Autor in jüngeren Jahren an verschiedenen Orten der Welt zeigen, wie zum Beispiel hier in Mogadischu: Christian Kracht: Facebook-Profil, https://www.facebook.com/mr.christiankracht/ photos/a.90807176757.92559.57740086757/10153730757116758/?type=3&theater, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Dass diesen Bildern mittlerweile durchaus der Status einer Werkhaftigkeit zukommt, zeigt die Tatsache, dass einige der von Kracht auf Facebook geposteten Urlaubs- und Jugendfotos als eigenständiger Beitrag in einem literaturwissenschaftlichen Sammelband abgedruckt wurden. Vgl.: Christian Kracht: In Youth is Pleasure. Christian Krachts Bildstrecke auf Facebook. In: Matthias N. Lorenz/Christine Riniker (Hg.): Christian Kracht revisited. Irritation und Rezeption. Berlin 2018, S. 563–569. 729 Joe Paul Kroll: Der Ritter der Kokosnuss. In: CULTurMAG vom 29. 02. 2012, http://culturmag .de/rubriken/buecher/christian-kracht-imperium/46271, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 730 Vgl. Fischer: Posierende Poeten, S. 508f. 731 Jan Küveler: Perfekt komponiert wie ein japanisches Zimmer. In: Die Welt vom 05. 09. 2016, https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article157939330/Perfekt-komponiert-wie-ein-j apanisches-Zimmer.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

immer wieder zu einer Gleichsetzung von Autor und Hauptfigur bei, wie sie Andreas Schumann insbesondere in den literaturkritischen Reaktionen auf Faserland ausmacht.732 Die Identifikation von Autor und Romanfigur wird von Kracht genau wie die Etikettierung als Dandy gleichzeitig zurückgewiesen und bestätigt. Die Authentizitätserwartungen des Publikums, die danach verlangen, den Autor entweder einer sozialen Gruppe zuzuordnen oder ihn mit einer seiner Figuren in Verbindung bringen zu können, werden von Kracht weder erfüllt noch vollständig suspendiert. Stattdessen bleibt die Frage nach der subjektbezogenen Authentizität des Autors Christian Kracht in der Schwebe, was die Neugier des Publikums nur noch weiter steigert. Nadja Geer erkennt in Krachts Selbstinszenierung »Tarn-Haltungen«, mit denen er »trickreich Authentizitätssemiotiken« unterläuft.733 In der Unbestimmtheit sieht Geer das vorherrschende Prinzip, das Krachts Inszenierung zugrunde liegt: Kracht hat es in den 1990er-Jahren geschafft, sich sowohl vom Pop als auch vom Mainstream zu distanzieren. Man weiß bei ihm nicht, ob er drinnen oder draußen steht, ob er Naivität vorspielt oder wirklich so ist, ob er provozieren will oder ob hinter seiner Vorgehensweise ein genau ausgeklügeltes Konzept steht.734

Diese permanente Unsicherheit spiegelt auch die Ambivalenz der Außenseiterposition wider: Sie verspricht auf der einen Seite Authentizität, weil sie von bestimmten sozialen Zusammenhängen und Konventionen unabhängig ist und deshalb mit Ursprünglichkeit, Originalität und Individualität assoziiert wird – auf der anderen Seite verliert sie ihr authentizitätsverbürgendes Potential schlagartig, wenn sie auch soziale Konventionen und Erwartungen wie Ehrlichkeit, Eindeutigkeit und Zugewandtheit unterläuft. Aus dem exotischen Querkopf und outlaw wird so schnell ein undurchsichtiger Sonderling, dessen Unfähigkeit zur normalen sozialen Interaktion ihn aus der Mitte der Gesellschaft verbannt. Das Interessante an Christian Kracht ist jedoch, dass es bei ihm gar nicht zu diesem radikalen Umschwung in der Sympathie und Erwartungshaltung des Publikums kommt. Wie oben bereits ausgeführt wurde, spielt er geschickt mit den Erwartungen der Rezipient*innen, sodass sein Bild in der Öffentlichkeit in der Schwebe bleibt. Konkreter gesprochen: Man misstraut seinen Aussagen, ist

732 Vgl. Andreas Schumann: »das ist schon ziemlich charmant«. Christian Krachts Werke im literaturhistorischen Geflecht der Gegenwart. In: Johannes Birgfeld/Claude D. Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln 2009, S. 150–164, hier S. 152f. 733 Nadja Geer: Sophistication. Zwischen Denkstil und Pose. Göttingen 2012, S. 192. 734 Ebd., S. 201.

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aber dennoch neugierig, ob er nicht doch etwas Erhellendes zu seiner Person und zu seinem Werk sagen wird.735 Re-Modeling vs. Prinzip des ›Rock‹ Die Unbestimmtheit der Autorenposition und das Wechselspiel aus Positionierung und Relativierung, das Krachts Inszenierung zugrunde liegt, haben durchaus ihre Vorbilder in der Kulturgeschichte, oder präziser gesagt: in der Popgeschichte. Alexander Fischer erkennt diesen Vorbild-Charakter vor allem im Prinzip des Re-Modeling, das sich am anschaulichsten in der Popmusik des späten 20. Jahrhunderts zeigt: Das beschriebene, existentielle Wechselspiel von Positionierung und ironischer Relativierung findet in der Pop-Industrie sein Pendant, ja vielleicht sogar sein Vorbild in der Strategie des Re-Modelings. Das Re-Modeling wird verstanden als Alternative zum Prinzip ›Rock‹, zum langfristigen, zuweilen lebenslangen Festhalten an einer Position. Im Bereich der Popmusik sind es Künstler wie Bruce Springsteen oder Guns ’n’ Roses, die als Repräsentanten des ›Rock‹ gelten, weil sie während ihrer gesamten Karriere ihrem Label treu bleiben und insofern Authentizität und Wahrhaftigkeit darstellen […].736

Anders als bei den Vertretern des Prinzip ›Rock‹, die Fischer aufführt, ist es bei Vertretern der Popmusik durchaus üblich, sich neu zu erfinden, seine Inszenierungsstrategie umzukonzipieren oder auf spielerische Weise eine völlig neue Identität anzunehmen, die den bisherigen Erwartungen an die Künstler-Person entgegenläuft. Laut Dirk Niefanger bezeichnet Re-Modeling »die Neuvermarktung eines Produktes (vorzugsweise eines Musikers oder einer Band) unter gleichem oder kaum variiertem Namen. Als Beispiel hierfür werden David Bowie, Madonna oder Cher genannt«.737 David Bowie entwirft etwa mit Ziggy Stardust 735 Besonders deutlich wurde dies in der Berichterstattung zum Erscheinen von Krachts Roman Die Toten. Bereits vor dem eigentlichen Erscheinungstermin gab es Interviews bzw. Autorenporträts in der Zeit und im ARD-Magazin Druckfrisch. Von anderen Feuilletonisten wurde kritisiert, hier werde dem Autor kurz vor Erscheinen seines Romans eine unkritische Inszenierungs- und Werbeplattform geboten (vgl. z. B. Jürgen Kaube: Publikumstäuschung als Verkaufshilfe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02. 09. 2016, http://www.faz.ne t/aktuell/feuilleton/buecher/themen/christian-kracht-bei-denis-schecks-sendung-druckfri sch-14416082.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021). Denis Scheck verteidigte daraufhin sein Vorab-Interview mit Kracht und wies darauf hin, dass es durchaus interessant sei, wie jemand, der jede Selbstaussage zu seinem Werk verweigere, sich in einem Interview gebe. Vgl. Denis Scheck in 3Sat-Kulturzeit vom 07. 09. 2016, https://www.youtube.com/watch?v=c BmcFawUdWA, zuletzt abgerufen am 15.11. 2016 (nicht mehr abrufbar). 736 Fischer: Posierende Poeten, S. 464f. 737 Dirk Niefanger: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur. In: Johannes G. Pankau (Hg.): Pop – Pop – populär. Popliteratur und Jugendkultur. Bremen 2004, S. 85–101, hier S. 98.

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eigenständige Kunst- bzw. Bühnenfiguren, die er auch wieder sterben lässt, um sich anschließend musikalisch neu zu positionieren. Die ursprünglich der Hippie-Kultur zugeordnete Sängerin Cher hat sich später, wie auch in Tristesse Royale erörtert wird,738 »durch Computermodulation ihrer Stimme und angepasste Outfits der metallischen Kühle der 1990er-Ästhetik«739 angenähert. Während beispielsweise im Rock-Genre ein solches Re-Modeling auf Skepsis und Ablehnung stoßen würde, ist dieses Verfahren innerhalb der Popkultur anerkannt und widerspricht nicht den Authentizitätserwartungen des Publikums.740 Vielmehr ist es so, dass den qua Re-Modeling neu erfundenen Bühnenpersonen durchaus Authentizität zugeschrieben wird: »Das Besondere an diesem Verfahren ist, daß es selbst als ›authentisches‹ verkauft wird. Anders ausgedrückt: Das Nicht-Identische erscheint als Identisches; das Re-Modeling ist Madonnas charakteristisches – wenn man so will ›authentisches‹ – Markenzeichen.«741 Christian Krachts Nähe zum Prinzip des Re-Modeling lässt sich vor allem in seiner frühen Schaffensphase um die Jahrtausendwende ausmachen. Zu dieser Zeit gilt er als einer der wichtigsten Vertreter der deutschsprachigen Popliteratur, auch wenn er diese Genrebezeichnung selbst nicht verwendete und immer wieder behauptete, er habe »keine Ahnung, was das sein soll: Popliteratur«.742 Gegen den Pop-Begriff als solchen scheint allerdings keine Aversion vorzuliegen. So ist im Untertitel von Tristesse Royale schließlich von einem »popkulturellen Quintett« die Rede, dem sich Kracht offenbar zurechnet. Ein Kapitel dieses Gesprächsbands trägt den Titel ›Re-Modeling‹ und wird von Christian Kracht mit den Worten beschlossen: »Eigentlich kann also nur das Re-Modeling als Sinn des Lebens subsumiert werden.«743 Diese Aussage ist im Kontext des Bandes zu verstehen, in dem nahezu alle Aussagen »durch konträre oder kommentierende Aussagen ironisch relativiert«744 werden. Hier sind wir erneut beim Spiel aus Positionierung und Relativierung angelangt, welches das Prinzip des Re-Modeling en miniature darstellt. Die eigene Position wird unterlaufen und durch eine neue, manchmal auch gegensätzliche ersetzt, die auch immer nur unter Vorbehalt existiert. In diesem 738 Vgl. Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg, Benjamin von Stuckrad-Barre. Berlin 1999, S. 131. 739 Fischer: Posierende Poeten, S. 465. 740 Dass es hier durchaus genrespezifische Erwartungshaltungen bezüglich des Re-Modeling gibt, zeigt das Beispiel Bob Dylan. Durch seine Hinwendung zur Rockmusik Mitte der 1960er Jahre enttäuschte er die Authentizitätserwartungen der Folkmusik-Fans, für die das ReModeling keine legitime Inszenierungspraxis darstellt. 741 Niefanger: Provokative Posen, S. 98. 742 Kracht/Stuckrad-Barre/Philippi/Schmidt: Wir tragen Größe 46. 743 Bessing (Hg.): Tristesse Royale, S. 132. 744 Fischer: Posierende Poeten, S. 463.

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Zusammenhang ist es also weniger die Gesamtinszenierung der Künstlerperson, sondern die Positionierung, die einem Re-Modeling unterzogen wird.745 Dass Kracht jedoch selbst im Zuge einer langfristig angelegten Inszenierungsstrategie ein Re-Modeling durchlaufen hätte, wie es bei Pop-Größen wie Cher, Madonna oder Robbie Williams zu beobachten war, davon kann nur sehr bedingt die Rede sein. Wesentliche Elemente der habituellen und ästhetischen Inszenierungspraktiken Krachts sind über mehr als zwanzig Jahre gleich geblieben: die ausgewählte Eleganz seiner Kleidung, der ästhetizistische Blick, die Dandy-Attitüden, die Undurchsichtigkeit seiner Aussagen. Dennoch lässt sich eine Wandlung in Krachts Selbstinszenierung ausmachen, die vielleicht sogar die Unterteilung in einen frühen und einen späten Kracht rechtfertigt.746 Ist der Kracht der späten 1990er und frühen 2000er Jahre noch verhältnismäßig präsent in der Öffentlichkeit, unter anderem sogar als Fotomodell für die Bekleidungshauskette Peek & Cloppenburg,747 wurde er in späteren Jahren in seinem Auftreten deutlich zurückhaltender, leiser und auch ernsthafter. Zurückhaltend gab er sich zwar schon im Gespräch mit Harald Schmidt 2001, allerdings schlägt er dort einen erkennbar ironischen, bisweilen arroganten Ton an. Vergleicht man diesen Auftritt mit den Gesprächen, die Kracht anlässlich des Erscheinens der beiden Romane Imperium und Die Toten mit dem Literaturkritiker Denis Scheck im Rahmen der ARD-Sendung Druckfrisch führte,748 fällt auf, dass in den jüngeren Interviews deutlich der Gestus der Unsicherheit und Nervosität in Krachts Inszenierung dominiert. So fragt Kracht Scheck beispielsweise, ob er ein bestimmtes Wort (›emulieren‹) in diesem Kontext verwenden könne, er reagiert auf die Fragen des Literaturkritikers meist eher verwirrt oder überrascht und beteuert, dass er auf komplexere Fragen keine Antwort geben könne.749 Hat seine 745 Vgl. ebd., S. 465: »Im öffentlichkeitswirksamen Re-Modeling der eigenen Position wird diese gebrochen, durch das Spannungsverhältnis zum neu eingeführten Selbstbild ironisch relativiert.« 746 Zumal sich auch werkgeschichtlich eine Zäsur ausmachen ließe: Die drei ersten Romane Krachts, oft auch als Trilogie etikettiert, sind durch einen starken Ich-Erzähler und einen reduktionistischen Sprachstil charakterisiert, während Imperium und Die Toten einen allwissenden Erzähler und einen stilistisch sehr ausladenden, an historischen Vorbildern orientierten Sprachstil aufweisen. 747 Vgl. Kracht/Stuckrad-Barre/Philippi/Schmidt: Wir tragen Größe 46. 748 Vgl. Christian Kracht in Druckfrisch vom 25. 03. 2012, http://www.daserste.de/information /wissen-kultur/druckfrisch/sendung/2012/christian-kracht-imperium100.html, zuletzt abgerufen am 15. 11. 2016 und Christian Kracht in Druckfrisch vom 29. 08. 2016, http://www.da serste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/sendung/kracht-die-toten-100.html, zuletzt abgerufen am 15. 11. 2016 (beide Videos nicht mehr abrufbar). Für eine ausführliche Analyse dieser Interviews vgl. Jan Henschen: »Kästner ist in mich hineinimmaniert«. Eine Miszelle zu Christian Krachts Interview über Imperium. In: Lorenz/Riniker (Hg.): Christian Kracht revisited, S. 747–759. 749 Vgl. Kracht in Druckfrisch (2012).

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Zurückhaltung in der Harald-Schmidt-Show noch den Eindruck größter Selbstsicherheit und Souveränität gemacht, hat die jüngere Inszenierung von Zurückhaltung eher entgegengesetzte Züge: Sie wirkt unsicher, schüchtern, beinahe devot. So entschuldigte er sich zu Beginn seiner ersten Frankfurter Poetikvorlesung mit der Bemerkung, er rede »wie ein autistischer Säugling«.750 Ironisch lassen sich Krachts Aussagen zwar immer noch lesen, aber die Ironie ist deutlich weniger offensichtlich als noch im Schmidt-Interview. Seine Äußerungen sind stattdessen von großer Ernsthaftigkeit getragen, die vielleicht gerade deswegen am Ende doch ins Ironische zu kippen scheint. Präsenz durch Abwesenheit: Krachts Ästhetik des Verschwindens Bei diesen Beobachtungen geht es wie erwähnt weniger um den Ausdruck eines Re-Modelings der Marke ›Kracht‹ – vielmehr scheint es sich hier um die Weiterentwicklung einer Inszenierungsstrategie zu handeln, die sich schon früh bei dem Autor beobachten ließ. Diese Strategie lässt sich als Ästhetik des Verschwindens beschreiben – eine Ästhetik, die gleichermaßen die Texte wie auch die Autorinszenierung Krachts durchzieht, wie Eckhard Schumacher in einem Forschungsbeitrag mit dem Titel Omnipräsentes Verschwinden darlegt: Es spricht einiges dafür, im Verschwinden ein Motiv zu entdecken, das Christian Kracht als Autor von Beginn an in eben dem Maß verfolgt, in dem es auch seine Texte bestimmt. In anderer, aber strukturell verwandter Form vollzieht Kracht als Autor häufig genau das, was die Figuren in seinen Texten kennzeichnet: Er entzieht sich dem Blick, wendet sich ab, verschwindet. Und wie seine Figuren gewinnt er gerade dadurch eine irritierende Präsenz.751

Bereits in Tristesse Royale stellt Christian Kracht die Ästhetik des Verschwindens dem Prinzip des Re-Modeling entgegen, indem er auf seine häufigen AsienReisen anspielt: »Deswegen verschwinde ich auch immer nach Asien – kein ReModeling, sondern mein eigenes Verschwinden hin zum Nullpunkt.«752 Das Verschwinden wird hier von Kracht als wörtliches Verschwinden in entfernte Weltregionen formuliert. Mit der Betonung der lokalen Dimension der Ästhetik 750 Zitiert nach: Kevin Kempke/Miriam Zeh: Blitz und Donner. Christian Krachts Frankfurter Poetikvorlesung als werkbiographische Zäsur. In: Merkur-Blog vom 16. 05. 2018, https://w ww.merkur-zeitschrift.de/2018/05/16/blitz-und-donner-christian-krachts-frankfurter-poet ikvorlesungen-als-werkbiographische-zaesur/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 751 Eckhard Schumacher: Omnipräsentes Verschwinden. Christian Kracht im Netz. In: Birgfeld/ Conter (Hg.): Christian Kracht, S. 187–203, hier S. 187. Zu Krachts Ästhetik des Verschwindens und dessen Niederschlag in seinen Texten vgl. auch: Sven Glavion/Immanuel Nover: Das leere Zentrum. Christian Krachts ›Literatur des Verschwindens‹. In: Tacke/ Weyand (Hg.): Depressive Dandys, S. 101–120. 752 Bessing (Hg.): Tristesse Royale, S. 153.

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des Verschwindens greift er dabei ein zentrales Motiv seiner Romane auf: In Ansätzen zeigt sich dieses bereits im Debütroman Faserland, der damit endet, dass der Protagonist sich mit einem Ruderboot auf den Zürichsee hinausfahren lässt, in dessen Mitte die Romanhandlung abrupt abbricht.753 In 1979 verschwindet der Protagonist dann tatsächlich in Asien, nämlich in einem chinesischen Umerziehungslager, wo er aufgrund des Hungerns am Ende nur noch 38 Kilogramm wiegt und somit auch in einem ganz buchstäblichen Sinne beinahe verschwunden ist.754 Und in Imperium begibt sich Krachts August Engelhardt nach Deutsch-Neuguinea an die Peripherie des deutschen Kolonialreichs, wo er ebenfalls in einem körperlichen Sinne zu verschwinden beginnt, indem er seine eigenen leprösen Daumen verspeist.755 In all diesen Texten wird die Ästhetik des Verschwindens mit dem Unterwegssein in verschiedenen Weltregionen (meist in der vermeintlichen Peripherie des Weltgeschehens) enggeführt. Wenn Kracht auf sein eigenes Weltbürgertum, seine vielen Reisen oder Umzüge verweist, knüpft er an diese Motivik an und stellt auf diese Weise subtil eine Verbindung zwischen Autor und Sujet her. Denn tatsächlich wechselt Kracht in den folgenden Jahren häufig den Wohnsitz und lebt auf unterschiedlichen Kontinenten: Er wohnt in Thailand, Argentinien, Italien und in den USA.756 Der Umstand, dass der Autor die Länder seiner Romane nicht nur bereist, sondern mitunter sogar bewohnt, führt zum einen dazu, dass ihm auch die Kompetenz zugeschrieben wird, über andere Erdteile wirklichkeitsnah zu schreiben, und ihm so eine gesteigerte Behauptung von mimetischer Authentizität ermöglicht wird. Zum anderen wird auf diese Weise das öffentliche Bild des Autors mit der Beschaffenheit seines Werks parallelisiert, das sich in der »Topographie der literarischen Schauplätze« ständig ausweitet und »sich inzwischen beinahe über den gesamten Globus« erstreckt.757 Gleichzeitig wird Kracht selbst zu einem abwesenden Autor im buchstäblichen Sinn, weit entfernt vom Zugriff durch den Literaturbetrieb. Dies spiegelt sich auch in seinem Verhalten gegenüber der literaturinteressierten Öffentlichkeit wider: Autorenlesungen mit Christian Kracht werden nicht von einem moderierenden Gespräch begleitet und auch nicht von einführenden Worten des Autors – sie bestehen nur aus einer sehr knappen Begrüßung und der Lesung aus 753 754 755 756

Vgl. Christian Kracht: Faserland. Roman. Köln 1995, S. 158. Vgl. Christian Kracht: 1979. Roman. Köln 2001, S. 182. Vgl. Christian Kracht: Imperium. Roman. Köln 2012, S. 221. Vgl. Kracht/Mangold: Gott sagt: Dies geschieht: »Sie selbst sind bekannt dafür, dass Sie immer auf einem anderen Kontinent leben. Während man noch dachte, sie [sic!] seien in Asien, sind Sie schon in Südamerika…«. 757 Stefan Bronner/Björn Weyand: Von den wundersamen Zusammenhängen in der Welt. Christian Krachts Weltliteratur. In: Dies. (Hg.): Christian Krachts Weltliteratur. Eine Topographie. Berlin/Boston 2018, S. 3–11, hier S. 3.

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dem aktuellen Buch.758 Interviews gibt Kracht bereits seit Beginn seiner Schriftstellerkarriere äußerst ungern,759 und tut er es doch, bleibt er meist einsilbig und distanziert, wie oben bereits erörtert wurde. Nach der im Kapitel 3.3 entwickelten Typologie lässt sich sagen, dass sich Kracht in einem Modus der Distanz inszeniert. Der Gestus der Abwesenheit und Zurückhaltung provoziert selbstverständlich ein umso größeres Interesse des Publikums in Bezug auf die wenigen öffentlichen Äußerungen und Auftritte des Autors. Denn anders als etwa J.D. Salinger oder Thomas Pynchon betreibt Kracht keine Totalverweigerung gegenüber der Öffentlichkeit. Neben einigen Lesungen und Interviews, die er immer noch gibt, ist er vor allem im Netz präsent.760 Dennoch bleibt die gesteigerte Neugierde des Publikums meist unbefriedigt. Als nach dem Erscheinen seines Romans Imperium eine Debatte um die vermeintlich rechte, antidemokratische Gesinnung des Autors von dem Spiegel-Kritiker Georg Diez losgetreten wurde, äußerte sich Kracht zunächst wochenlang nicht, während das Thema die großen Feuilletons dominierte und unter anderem eine Erklärung des Kiepenhauer & Witsch-Verlegers Helge Malchow und einen offenen Brief mehrerer namhafter Schriftsteller*innen an die Spiegel-Chefredaktion nach sich zog.761 Als Kracht über einen Monat nach Diez’ Artikel dem ARD-Literaturmagazin Druckfrisch ein Interview gibt, äußert er sich auch hier nur unbestimmt und einsilbig zu den Vorwürfen – es erfolgt nichts, was in irgendeinem Sinne als Statement bezeichnet werden könnte.762 Auf die Fragen nach dem Skandal um Imperium geht Kracht nicht ein, sondern wechselt schnell das Thema. Von Scheck befragt, ob es nicht auch die Gefahr gäbe, zum »Dichter-Darsteller« zu werden, will Kracht zunächst erschreckt wissen, ob dies ein an ihn gerichteter Vorwurf sei. Als Scheck beschwichtigend verneint, fügt Kracht hinzu: »Ich fürchte, man ist eigentlich immer Schriftsteller-Darsteller. So, äh, also zumindest für mich gibt es … Ich kann das gar nicht trennen, also die Darstellung des … Also, insofern sind die Romane auch Darstellungen oder Simulationen, äh,

758 Vgl. Adrian Bruhns: Kracht kommentiert sein Werk. In: Litlog vom 26. 10. 2016, http://www.lit log.de/kracht-kommentiert-sein-werk, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 759 Vgl. Kracht/Stuckrad-Barre/Philippi/Schmidt: Wir tragen Größe 46. 760 Auf seiner Facebook-Präsenz postet Kracht regelmäßig Fotos von sich und teilt auch beinahe sämtliche Rezensionen zu seinen Büchern. Krachts Homepage (Christian Kracht: Autorenwebsite. https://www.christiankracht.com, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021) enthält überdies eine Übersicht über die Übersetzungen seiner Werke sowie bis vor einiger Zeit auch eine Auflistung der wissenschaftlichen Publikationen zu seinem Werk. Vgl. Fischer: Posierende Poeten, S. 488f. 761 Die beiden Erklärungen sowie auch eine Zusammenstellung der Debattenbeiträge finden sich in einer Publikation, die der Suhrkamp-Verlag anlässlich der Vergabe des WilhelmRaabe-Preises an Kracht veröffentlichte. Vgl. Winkels (Hg.): Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe. 762 Vgl. Kracht in Druckfrisch (2012).

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Versuche.«763 Nachdem Kracht auf die folgende Frage Schecks erneut ausweichend reagiert und beteuert, dass er sie »überhaupt nicht beantworten« könne,764 wendet Scheck gegen die von Kracht vorgeschobene Unkenntnis ein, dass das Autorentum doch »eine einzige Beschäftigung mit den Leidenschaften, mit den Triebwerken, mit unseren Seelen, mit den verborgenen psychischen Impulsen, die in uns hantieren«, sei.765 Darauf Kracht: »Ja, aber ich glaube, nicht wenn man es – und darüber sprachen wir ja eingangs –, nicht, wenn man es nur darstellt. Dann ist das nicht so. Also wenn man lediglich mit den Worten hantiert und sie dann hübsch zusammenfügt…«.766 Statt auf inhaltliche Aspekte einzugehen, thematisiert Kracht hier seine eigene schriftstellerische Selbstinszenierung. Jedoch bleibt er auch hier allgemein und vage. Der kokette Hinweis, er sei selber nur Darsteller und habe eigentlich nichts zu sagen, dient vielmehr dazu, sich selbst von inhaltlichen Aussagen zu dispensieren, als dass es sich um eine erkennbare Form von Positionierung handeln würde. Der Literaturwissenschaftler Kay Wolfinger sieht diese Form des SichEntziehens als wesentliches Merkmal von Krachts Interviewstrategie: »Christian Kracht verweigert also systematisch analytische Fragen zu seinem Werkverständnis und seiner Einordnung und lässt vielmehr skurrile Interviewsituationen dafür stellvertretend ›antworten‹.«767 Krachts Verhältnis gegenüber der Öffentlichkeit ist von einem Nebeneinander von Abwesenheit und Präsenz geprägt, das man analog zu seinem Wechselspiel aus Positionierung und ironischer Relativierung lesen kann. Er gibt ein mit Spannung erwartetes Interview, das vor einem denkbar großen Publikum im Fernsehen ausgestrahlt wird, entzieht sich dann aber den brisanten Fragen; er liest vor gefüllten Theatersälen aus seinen Romanen vor, verweigert sich aber jeglicher interpretierender Kommentierung seines Werks; er lebt seit Jahren außerhalb des deutschsprachigen Raums, bestimmt aber immer wieder die Berichterstattung über deutschsprachige Literatur in den Feuilletons. Die Faszination, die der Autor auslöst, wie auch seine subtile Inszenierungsstrategie führen letztlich dazu, dass »der Modus des Verschwindens selbst nicht übersehen wird, sondern jene Präsenz erzeugen kann, mit der Kracht sich im Literaturbetrieb positioniert und sich zugleich dessen Zugriff entzieht«.768 Dieses doppelte Spiel aus Präsenz und Abwesenheit, aus Positionierung und Relativierung fügt sich zu einem großen Subversionsakt gegenüber Authentizi763 764 765 766 767

Ebd., Min. 6:50–7:16. Ebd., Min. 7:31–7:33. Ebd., Min. 7:38–7:50. Ebd., Min. 7:53–8:14. Kay Wolfinger: Poeta dixit. Zur Interviewstrategie von Christian Kracht. In: Lorenz/Riniker: Christian Kracht revisited, S. 729–746, hier S. 743. 768 Schumacher: Omnipräsentes Verschwinden, S. 190f.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

tätszuschreibungen zusammen. Der verschwindende Autor Kracht entzieht sich den Zuschreibungen – in jeglicher Hinsicht. Positionen, auf die man sich beziehen könnte, sind bereits ironisch relativiert, Aussagen, die uns Kontext liefern könnten, werden entweder gar nicht getätigt oder verschwimmen im unsicheren Gestammel, und auch der Körper des Autors ist flüchtig – kaum aufgetaucht, ist er auch schon wieder verschwunden. Dies ist der Hauptgrund dafür, dass die Frage nach Authentizität bezogen auf Christian Kracht und sein Werk nie beantwortet, aber immer wieder gestellt wird. Nicht etwa, weil seine Inszenierung von dandyhafter Künstlichkeit die Authentizitätserwartungen von vornherein subvertieren würde – dann wäre die Frage ja tatsächlich beantwortet –, sondern weil Kracht durch subtile Inszenierungspraktiken dieses Doppelspiel betreibt, das die Frage nach Authentizität immer wieder ins Leere laufen lässt, sie aber auch immer wieder neu stellt. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Alexander Fischer, wenn er konstatiert: [E]ine Frage nach dem ›authentischen‹ Schriftsteller Christian Kracht erübrigt sich insofern, denn dieser Autor ist im Rahmen der vorgeführten Überlagerung oder Verdopplung verschwunden. Alle Projektionen und Image-Zuschreibungen, die den ›wahren‹ Autor betreffen, werden ad absurdum geführt, da hervorgehoben ist, dass keine Differenz bestehe zwischen Simulation und Wahrheit/Authentizität.769

Oder um es mit den Worten des jungen Christian Kracht zu sagen: »Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen, das sind alles Mechanismen, die noch gut funktionieren.«770 Zu einem scheinbaren Bruch mit dieser sich entziehenden Inszenierung kam es bei Krachts erster Frankfurter Poetikvorlesung im Mai 2018. Der Autor begann seine Vorlesung im Audimax der Goethe-Universität Frankfurt mit der Schilderung seines sexuellen Missbrauchs als Internatsschüler durch den Reverend Keith Gleed, dessen Vergehen im Rahmen der ›MeToo‹-Debatte im Jahr zuvor ans Licht gekommen waren. Dieses lebensgeschichtliche Bekenntnis steht ohne Frage in einem deutlichen Gegensatz zu seiner vorigen Inszenierungsstrategie, die im Wesentlichen darin bestand, so wenig wie möglich preiszugeben. Umso erstaunlicher ist, dass Kracht die biographische Episode zum Anlass nimmt, um über die Rolle von Männlichkeit in seinem literarischen Werk zu referieren, womit er nicht nur von seiner bisherigen Verweigerungshaltung hinsichtlich der Beteiligung an interpretatorischen Fragen abweicht, sondern diese Interpretation sogar selbst forciert. Dabei ist der akademische Rahmen der Poetikvorlesung, in dem sich diese Zäsur ereignet hat, durchaus von Bedeutung – lässt sich dieser 769 Fischer: Posierende Poeten, S. 517. 770 Christian Kracht im Gespräch mit o. A.: Der schlechteste Journalist von allen. In: Der Tagesspiegel, 30. 06. 2000, http://www.tagesspiegel.de/kultur/christian-kracht-im-gespraech-d er-schlechteste-journalist-von-allen/151028.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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seltene und deshalb viel beachtete Werk-Kommentar doch als direkte Einflussnahme auf die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit Krachts Werk begreifen, wie Kevin Kempke und Miriam Zeh anmerken: Die Selbstentblößung im Rahmen seiner Poetikvorlesung war nämlich auch mit einer Machtgeste des Autors Christian Kracht verbunden. Nicht nur präsentierte er den langersehnten biographischen Schlüssel zu seinem Werk. Selbsthermeneutisch überreichte er den An- und Abwesenden auch weitere autor-adäquate Lesarten seiner Romane. Für jeden nannte er zwei theoretische bzw. literarische Bezugsgrößen: z. B. Erich Kästner und Thomas Mann für Imperium, Mishima Yukio und Georges Bataille für Die Toten. Unzählige künftige Dissertations- und Masterarbeitsthemen dürfte der Autor damit diktiert haben.771

Obwohl Kempke und Zeh mit ihrer Einschätzung grundsätzlich richtig liegen mögen, dass es sich bei Krachts Poetikvorlesung um eine werkpoetische Zäsur handelt, die die Rezeption des Kracht’schen Œuvres in »eine prä- und eine postFrankfurt-Lesart« aufteilt,772 ist dennoch festzustellen, dass Kracht hier nicht grundsätzlich von seinem Wechselspiel aus Präsenz und Abwesenheit abweicht. Die Tatsache, dass Kracht die Video- und Tonaufzeichnung seiner Vorlesung untersagte und auch einer anschließenden Publikation seines Vorlesungsskripts nicht zustimmte,773 lässt sich dabei durchaus als Indiz für eine Kontinuität in Krachts Inszenierungspraxis werten: Der Autor gibt vor 1200 Leuten ein intimes Bekenntnis ab, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass eben dieses Bekenntnis jenseits der performativen Einmaligkeit der Vorlesung nur aus zweiter Hand rezipiert werden kann, womit er sich erneut für alle sichtbar der Öffentlichkeit entzieht bzw. dafür sorgt, dass dieser etwas vorenthalten wird. Auch die interpretatorischen Angebote an die Literaturwissenschaft, auf die Kempke und Zeh hinweisen, lassen sich als Teil dieser Doppelstrategie lesen. Auf der einen Seite bietet Kracht einen biographischen Schlüssel für sein Werk an, auf der anderen Seite verweist er auf literarische Vorbilder, die als werkpoetischer Zugang von Kracht als Person wegführen. Gerade im Rahmen von Krachts Poetik des Pastiches, die hier abschließend thematisiert werden soll, ist zu beobachten, dass der eigentliche Autor eher hinter den literarischen Riesen verschwindet, die er als Inspirationsquellen nennt, als dass sie den Schlüssel zum Verständnis einer einheitlichen Poetologie darstellen.

771 Kempke/Zeh: Blitz und Donner. 772 Ebd. 773 Vgl. ebd.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Variationen des Themas ›Kuchen‹: Krachts Pastiche-Dichtung Krachts Spiel mit Authentizität beschränkt sich nicht nur auf seine Selbstinszenierung als Autor auf paratextueller und habitueller Ebene, auch seine literarischen Texte werfen die Frage nach Authentizität auf – auch wenn hier auf den ersten Blick weniger die Subjektauthentizität des Autors Kracht im Fokus steht als vielmehr die Objekt- bzw. die Referenzauthentizität der Texte selbst. Geht es bei den öffentlichen Auftritten und Äußerungen Krachts mehr um die Glaubwürdigkeit des Autors, steht bei der Bewertung auf der Textebene hauptsächlich die Frage nach Originalität und Eigenständigkeit der literarischen Texte im Vordergrund. Besonders in den jüngeren Romanen ist »die Künstlichkeit, Konstruiertheit und Kopierlust der krachtschen Texte«774 auffällig. Ein Wort, das in diesem Zusammenhang besonders oft zu hören bzw. zu lesen ist, ist das des Pastiches.775 Unter einem Pastiche versteht man laut dem Metzler Lexikon für Literaturund Kulturtheorie »eine dem Original möglichst nahe kommende Imitation des Stils eines Autors oder auch nur eines bestimmten Textes«.776 Im Gegensatz zur Parodie besteht beim Pastiche »nicht von vornherein die Absicht […], sich vom wiederaufgegriffenen Text ironisch zu distanzieren bzw. eine komische Wirkung zu erzielen«.777 Nadja Geer erkennt bereits in Krachts drittem Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten »einen literarischen Pastiche«, der »mit allen literarischen Finessen der Fälschung auf[wartet]: Übernahme einer Atmosphäre […], Übernahme eines Tons, Übernahme bestimmter Wörter, die einen literarischen Vintagelook erzeugen sollen«.778 In Imperium schließlich sieht eine ganze Reihe von Literaturkritiker*innen eine Imitation des literarischen Stils von Thomas Mann. So schreiben Richard Kämmerlings und Erhard Schütz in ihren Rezensionen beide von einem »Thomas-Mann-Ton«779 und auch Jan Süselbeck 774 Geer: Sophistication, S. 195. 775 Vgl. u. a. Küveler: Perfekt komponiert wie ein japanisches Zimmer; Eckhard Schumacher: »… als entgleite ihm die ohnehin schon recht brüchige Realität«. Über das Schreiben und Verschwinden bei Christian Kracht. In: Deutschlandfunk vom 12. 05. 2013, http://www.de utschlandfunk.de/als-entgleite-ihm-die-ohnehin-recht-bruechige-realitaet.1184.de.html?dr am:article_id=246292, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 776 Martin Kuester: Pastiche. In: Ansgar Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart 2008, S. 559. 777 Ebd. 778 Geer: Sophistication, S. 211. 779 Richard Kämmerlings: Der einzig wahre Gott ist die Kokosnuss. In: Die Welt vom 13. 02. 2012 vom https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article13861894/Der-einzig-wahre-Gott-is t-die-Kokosnuss.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021; Erhard Schütz: Kunst, kein Nazikram. In: Der Freitag vom 16. 02. 2012, https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/kunst-k ein-nazikram, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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erkennt einen »Stil, der in seiner Manieriertheit an Thomas Mann erinnert«780. Es finden sich allerdings auch kritische Stimmen, die Krachts Verfahren der Imitation nicht als kunstvollen Pastiche ansehen, sondern vor allem den Ironiegehalt des Stils betonen, der der oben zitierten Lexikon-Definition des Pastiches eigentlich widerspricht, und Imperium unter Kitschverdacht stellen. Mit dieser Begründung wurde der Roman etwa von Rainald Goetz abgeurteilt, der bereits nach der ersten Seite die Lektüre einstellte: »Allein der erste Satz, dieser Kitsch, wie dieser ›Boy!‹ da unter diesem Himmel, und siebzig Adjektive und Ironie hoch zehn als Programm. Es ist ein großer Joke. Ich finde das unangenehm.«781 Auch der 2013 verstorbene Schriftsteller Wolfgang Herrndorf äußerte sich in seinem mittlerweile als Buch erschienenen Blog-Tagebuch Arbeit und Struktur ähnlich über Imperium: »Lektüre: ›Imperium‹. Stilblüten, Redundanzen, Adjektive. […] Hin und wieder ein Kracht-Satz wie früher, ein gutes Bild, aber zu 95 Prozent zweitklassige Parodie eines viertklassigen Autors der vorletzten Jahrhundertwende.«782 Der Kitschverdacht, unter den Krachts Roman hier von seinen Schriftstellerkollegen Goetz und Herrndorf gestellt wird, öffnet den Blick für ein anderes, dem Kitsch nicht ganz unähnliches, aber doch komplexeres Phänomen: 1964 prägte Susan Sontag in ihrem Essay Notes on Camp maßgeblich das kunsthistorische und kulturwissenschaftliche Verständnis von Camp. Darin bezeichnet sie Camp als »die konsequent ästhetische Erfahrung der Welt. Es stellt den Sieg des ›Stils‹ über den ›Inhalt‹ dar, des ›Ästhetischen‹ über das ›Moralische‹, der Ironie über die Tragödie«.783 Camp sei außerdem »die Beziehung zum Stil in einer Zeit, in der die Übernahme eines Stils – als solche – absolut fragwürdig geworden ist«.784 Sontag stellt zudem eine Verbindung zwischen Camp und Dandyismus her, wenn sie beispielsweise schreibt: »Camp ist der moderne Dandyismus. Camp ist die Antwort auf das Problem: Wie kann man im Zeitalter der Massenkultur Dandy sein?«785 Die Überbetonung des Stils, der Vorzug des Ästhetischen gegenüber dem Moralischen und die modernen Dandy-Attitüden sind Elemente, die sich in Christian Krachts Werk zweifelsfrei wiederfinden und seine Texte daher durchaus campy wirken lassen. Nadja Geer sieht Krachts Pastiche-Dichtung in Ich 780 Jan Süselbeck: In der »G-Trap«. In: literaturkritik.de vom 22. 03. 2012, http://literaturkritik. de/public/rezension.php?rez_id=16533, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 781 Rainald Goetz im Gespräch mit Ijoma Mangold und Moritz von Uslar: Wut ist Energie. In: Die Zeit vom 29. 11. 2012, http://www.zeit.de/2012/49/Interview-Rainald-Goetz-Johann-Hol trop/komplettansicht, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 782 Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Berlin 2013, S. 313f. 783 Susan Sontag: Anmerkungen zu ›Camp‹. In: Charis Goer/Stefan Greif/ Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop. Stuttgart 2013, S. 41–60, hier S. 54. 784 Ebd., S. 59. 785 Ebd., S. 56.

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werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten als Paradebeispiel für eine campe Ästhetik und setzt diese in Verbindung mit den Authentizitätserwartungen gegenüber dem empirischen Autor: »Seine Lust am Übernehmen eines ›hohen Tons‹ macht es bisweilen schwer, den Autor Christian Kracht hinter all dem campen Tand zu erkennen.«786 Ganz ähnlich wie das Prinzip des Re-Modeling steht Camp mit seinem Hang zum Artifiziellen, Übertriebenen, Adaptierten und letztlich Inhaltsleeren dem Authentizitätsversprechen des Prinzip ›Rock‹ entgegen. Statt einem ›echten‹, moralisch integrem Erzählen, wird vorgetäuscht und Unsinn erzählt; Mechanismen, die – wie Kracht im oben zitierten Interview behauptet – »noch gut funktionieren«787. Dabei geht der Pastiche in Imperium bis an die Grenzen von Fälschung und Plagiat. Neben der Übernahme des Mann’schen Stils und den vielen inhaltlichen Verweisen auf die Klassiker der Abenteuerliteratur, die sich in Krachts viertem Roman finden, berichtet beispielsweise der Autor Marc Buhl von »Übernahmen« aus seinem ein Jahr zuvor erschienenen Buch, das ebenfalls den Lebensreformer August Engelhardt als Protagonisten hat.788 Und selbst das Cover der deutschsprachigen Erstausgabe von Imperium sei eine »notdürftig kaschierte Übernahme aus einem Comic«.789 In seiner Dankesrede zum Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, die leider ebenfalls nicht mehr in Gänze öffentlich zugänglich ist, sprach Christian Kracht über seinen Vater und dessen »unermessliche Angst«, in der bessergestellten Gesellschaft als Hochstapler, nämlich als Abkömmling der Arbeiterklasse erkannt zu werden. Diese Furcht, so Kracht, habe er von seinem Vater geerbt, die Furcht nämlich, einer werde das schon aufdecken, schon bald, das »ganze Lügengebäude, das Pastiche meiner Literatur«,790 die Furcht, wenn sie, die ›wahren‹ Schriftsteller, wüssten, »dass bei mir alles immer geborgt ist, appropriiert, beeinflusst, gestohlen, kopiert, verneigt vor…, Sie würden mir sagen: ›Ach, Christian Kracht, alle Dichtung ist doch übernommen!‹«791. Es sei ihm daher nur möglich, durch das Schreiben »aus anderen Stimmen einen Kuchen zu backen […], dessen Glasur neu erscheint«, aber in Wirklichkeit immer nur neue Va-

786 Geer: Sophistication, S. 212. 787 Kracht/o. A.: Der schlechteste Journalist von allen. 788 Vgl. Andreas Platthaus: Finden Sie die Unterschiede? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06. 03. 2012, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/christian-krachts-imperium -finden-sie-die-unterschiede-11674244.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 789 Ebd. 790 Zitiert nach Eckhard Schumacher: Differenz und Wiederholung. Christian Krachts Imperium. In: Winkels (Hg.): Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe, S. 129–146, hier S. 138. (Da die Rede, wie oben angemerkt, nicht als vollständiger Abdruck vorliegt, muss hier auf Zitate in anderen Texten verwiesen werden.) 791 Zitiert nach Winkels: Vorwort, S. 16.

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riationen des Themas Kuchen darstellt, kratzt man einmal mit dem Fingernagel an jener Glasur.792 Hier tritt Krachts Außenseiterposition wieder deutlich zutage. In der Darstellung des Sohns hat auch Krachts Vater, ein wohlhabender Top-Manager, den Habitus der arbeitenden Klasse bewahrt und sich der besserverdienenden Schicht nie ganz zugehörig gefühlt. Analog dazu inszeniert sich auch der Sohn in dieser Rede als Außenstehender des Literaturbetriebs, der nicht in den Kreis der ›wirklichen‹ Schriftsteller gehört, sondern dessen Kunst immer nur imitiert und sich zu eigen macht. Gleichzeitig bedient Kracht damit einen altbekannten Topos moderner Autorschaft. Sowohl die Klage darüber, dass es ›nichts Neues‹ gäbe, als auch das Eingeständnis, man habe in Wirklichkeit immer nur abgeschrieben, gehört seit langer Zeit zum Standardrepertoire schriftstellerischer Inszenierungspraktiken. Schon Thomas Mann, auf den Kracht in Imperium Bezug nimmt, bekannte sich 1945 in einem Brief an Adorno zu »einer Art höheren Abschreibens«.793 Auch hier ist die Bewegung, die Kracht vollzieht, eine Gegenläufige: Zum einen inszeniert er sich als Außenseiter, der nicht in den Kreis der ›wahren Dichter‹ gehört, zum anderen knüpft er durch seine Inszenierung an Traditionen der Autorschaft an, die ihn mit eben jenen ›wahren Dichtern‹ in eine Reihe stellen. Dass der Preisträger seine Rede nicht abgedruckt oder in anderer Form der Öffentlichkeit zugänglich gemacht sehen will,794 fügt sich insofern voll und ganz in sein Autorschaftsverständnis ein. Denn bei Kracht ist der Autor, kaum hat er einmal etwas von sich preisgegeben, schon wieder verschwunden.

3.4.2 Clemens J. Setz: Der Nerd Von der ersten Begegnung der beiden Autoren Christian Kracht und Clemens Setz zeigte sich der Literaturkritiker Hubert Winkels geradezu beeindruckt: Er, Kracht. Und er, Setz. Als die beiden sich zum ersten Mal begegneten im Staatstheaterfoyer in Braunschweig, konnte man eine Art Symbiose über Konvergenzpunkte in einer schönen Leben-Text-Kombination erleben. Da war kein Dazwischenkommen mehr, keine Trennung möglich. Die Reden flossen ineinander, und es war ein bejahendes wechselseitiges Nicken, dass man als Kritiker neidisch werden konnte […].795

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Zitiert nach Schumacher: Differenz und Wiederholung, S. 139. Thomas Mann: Briefe, Bd. 2, hg. von Erika Mann. Frankfurt am Main 1963, S. 470. Vgl. Winkels: Vorwort, S. 17. Ebd., S. 14f. An anderer Stelle bezeichnet Winkels die Begegnung der beiden Autoren als »zweitägige dauergeflüsterte Einvernehmlichkeitsfeier«. Hubert Winkels: Vorwort oder Folgen Sie diesem Heißluftballon! In: Ders. (Hg.): Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe. Der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Göttingen 2016, S. 7–13, hier S. 7.

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Da haben sich zwei gefunden, könnte man sagen, wenn man dieser Darstellung Glauben schenkt: zwei Außenseiter – oder auch nur zwei Menschen desselben Berufsstands, die darüber hinaus noch das ein oder andere Interesse miteinander teilen, während der Literaturkritiker, der diese Begegnung schildert und einem anderen Berufsstand angehört, hier die Rolle des eigentlich Außenstehenden einnimmt. Dabei verbindet Christian Kracht und Clemens Setz äußerlich zunächst sehr wenig. Von der optischen Erscheinung eines Dandys ist Setz weit entfernt. Der Öffentlichkeit präsentiert er sich üblicherweise in Kapuzenpullover und anderer locker sitzender Kleidung, meist mit halblangen Haaren oder einem langen Vollbart und einem unauffälligen Brillengestell. Dieses Auftreten wird in einigen literaturkritischen Interviews zum Anlass für wenig diskrete Fragen genommen, beispielsweise, ob Setz an diesem Tag schon einmal in den Spiegel geschaut habe796 oder wann es bei ihm Zeit für eine neue Frisur werde.797 Auf letztere Frage antwortete Setz, er sei »nicht sozial genug, als dass solche Dinge eine Rolle spielen«.798 Clemens Setz verkörpert also offensichtlich eine andere Außenseiterrolle als Christian Kracht und es wird sowohl in der Fremd- als auch in der Selbstinszenierung des Autors deutlich artikuliert, um welchen gesellschaftlichen Außenseitertypus es sich dabei handelt: Bis ich 16 war, hatte ich weder ein Buch gelesen noch eine Partyeinladung bekommen. Ich war ein Nerd, blass, uncool, picklig, ohne Freunde. Stattdessen war ich süchtig nach Ballerspielen, habe programmiert, Pornobilder angestarrt, mich in Internetforen nächtelang mit anderen Außenseitern über die obskursten Dinge unterhalten […].799

So äußerte sich Clemens Setz in einem Interview mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin auf die Frage hin, wann und warum er mit dem Schreiben begonnen habe. Die Darstellung entspricht einem Narrativ, das Setz bei mehreren Gelegenheiten bemüht, wenn es in Interviews oder Porträts um die Genese seiner Autorschaft geht.800 In einem Video-Interview, das der Suhrkamp-Verlag pro-

796 Vgl. Clemens J. Setz im Gespräch mit Ulrike Weiser: »Menschen sind mir rätselhaft«. In: Die Presse vom 02. 03. 2013, http://diepresse.com/home/kultur/literatur/1351111/Clemens-Set z_Menschen-sind-mir-raetselhaft, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 797 Diese Frage wurde Setz im Rahmen einer Kurzfragerunde in der Büchersendung Erlesen des österreichischen Senders TW 1 gestellt. Vgl. Clemens Setz in Erlesen vom 10. 03. 2011, http s://www.youtube.com/watch?v=c4JQvUTSEIc, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 798 Ebd., Min. 47:15–47:20. 799 Clemens J. Setz im Gespräch mit Tobias Haberl: Das Selbstmitleid ist weg. In: Süddeutsche Zeitung Magazin vom 24. 09. 2015, https://sz-magazin.sueddeutsche.de/literatur/das-selbst mitleid-ist-weg-81674, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 800 Ähnlich äußert sich Setz bereits 2009 in einem Interview in Der Westen: Vgl. Clemens J. Setz im Gespräch mit Britta Heidemann: Clemens J. Setz überrascht sich mit einem Roman. In:

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duzierte, heißt es in der Vorstellung des Autors: »In seiner Jugend ist er ein verschlossener Computer-Nerd, der Bücher meidet. Als er sich eines Tages auf gut Glück ein Buch von Ernst Jandl kauft, ist das die Initialzündung für sein Leben als Autor.«801 Es ist also der Nerd, der als die spezifische Außenseiterrolle von Clemens Setz auszumachen ist und sich bis zu einem gewissen Grad als Äquivalent zum Dandyismus von Christian Kracht betrachten lässt. Anders als Kracht, der das Dandy-Etikett für seine Person strikt ablehnt, scheint Setz kein Problem damit zu haben, den Begriff ›Nerd‹ auf sich selbst anzuwenden. Als Selbstbezeichnung verwendet er diesen Begriff allerdings nur in Bezug auf seine Vergangenheit. Im oben zitierten Interview mit dem SZ-Magazin reagiert Setz zumindest irritiert auf die Frage, ob er immer noch ein Außenseiter sei (»Wie kommen Sie darauf ?«802), wobei er gleich darauf bekennt: »Ich mag es im Abseits zu stehen. In Hotels stelle ich mich manchmal im Bademantel neben eine Topfpflanze und schaue den anderen Gästen zu.«803 In diesem Satz wird Setz’ Außenseitertum durch ein sehr anschauliches Bild illustriert: Der Autor steht im Abseits der Gesellschaft und nimmt eine Beobachterperspektive ein. Durch das Bild eines im Bademantel neben einer Topfpflanze stehenden Sonderlings wird dieses Außenseiter-Motiv noch verstärkt und der Autor erscheint als Außenstehender in doppelter Hinsicht: durch seine Perspektive und durch sein Verhalten. Dieser doppelten Außenseiter-Inszenierung zum Trotz verneint Setz in anderen Interviews seine soziale Randständigkeit in Bezug auf sein Dasein als Schriftsteller. In einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse erwidert er auf die Frage, ob er sich immer noch als Außenseiter fühle: »Früher war ich es eindeutig. Ich hatte keine Freunde, war immer allein. Jetzt habe ich durchaus Leute, die ich anrufen kann – sogar eine Freundin (lacht). Ich kann mich auch im Literaturbetrieb nicht Außenseiter nennen, auch wenn ich da nur eine kleine Rolle spiele.«804 Als Fremdzuschreibung vor allem vonseiten der Literaturkritik wird das Außenseiterlabel wie auch die Bezeichnung als Nerd dennoch häufig auf den Autor angewendet. So hieß es anlässlich des Erscheinens von Indigo (2012), Setz sei »der Außerirdische der deutschsprachigen Literatur, um nicht zu sagen: ein

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Der Westen vom 13. 10. 2009, http://www.derwesten.de/kultur/clemens-j-setz-ueberraschtsich-mit-einem-roman-id6380.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Suhrkamp Verlag: Clemens J. Setz – Autorenporträt. In: Suhrkamp Logbuch, http://www.log buch-suhrkamp.de/clemens-j-setz/autorenportraet-setz/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021, Min. 0:13–0:24. Setz/Haberl: Das Selbstmitleid ist weg. Ebd. Setz/Weiser: »Menschen sind mir rätselhaft«.

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Nerd«.805 Und in der Welt schrieb Richard Kämmerlings 2011, Setz wirke »weniger wie ein Bücherwurm, eher wie ein Technik-Nerd«.806 Die Beobachtung der äußeren Erscheinung und der habituellen Auffälligkeiten des Autors wird dabei oft mit den Sujets und dem Personal seines Œuvres in Verbindung gebracht. Außenseitertum spielt nämlich nicht nur für Setz’ Autorinszenierung eine Rolle, sondern bildet auch ein zentrales Motiv in seinem literarischen Werk. Sein zweiter Roman Die Frequenzen (2009) wurde im Focus als »Außenseiter-Panoptikum« bezeichnet.807 In seinem Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (2011) entfaltet Setz einen ganzen Reigen von Außenseiterschicksalen: Eine Frau wohnt allein in der Gondel eines Riesenrads, ein »riesiges unbeseeltes Metallgestell am Rande einer mittelgroßen Industriestadt«,808 junge Studenten bezahlen auf dem Straßenstrich ältere Frauen, damit diese für ein paar Stunden die Mutterrolle spielen, ein Mann lebt »im Innern einer Schneekugel«,809 auf einem Planeten, der ansonsten vollkommen unbewohnt ist. Im Roman Indigo werden Kinder von einer Krankheit befallen, die bei Menschen, die sich in unmittelbarer Umgebung zu ihnen aufhalten, starke Übelkeit und andere Körperreaktionen hervorruft. Die betroffenen Kinder werden deshalb in größtmöglicher Distanz zu anderen Menschen erzogen. Es sind Szenarien der Isolation und der Einsamkeit, die Setz in diesen Texten entwirft. Und oft stehen im Zentrum dieser Texte gesellschaftliche Außenseiter, wie im Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2015), der auf etwas mehr als tausend Seiten die Geschichte von Natalie Reinegger erzählt, die an Epilepsie leidet, Synästhetikerin ist und ihre Abende damit verbringt, dass sie fremden Männern auf der Straße Gratis-Blowjobs anbietet oder sich allein in ihrer Wohnung Live-Sendungen im Fernsehen anschaut. Der Literaturkritiker Ijoma Mangold erkennt in diesem Roman eine neue Form der Darstellung gesellschaftlichen Außenseitertums, wenn er konstatiert: »Bei Clemens Setz kehrt jetzt der Freak mit aller Macht als Phänotyp der Gegenwart zurück«.810 Dabei sieht er die Protagonistin Natalie als »Verkörperung dieses neuen Freaktums«.811

805 Helmut Böttiger: Batman, du hast Recht. In: Süddeutsche Zeitung vom 14. 09. 2012, S. 17. 806 Richard Kämmerlings: »Quälerei? Das ist doch ganz normal«. In: Die Welt vom 13. 03. 2011, https://www.welt.de/print/wams/kultur/article12797879/Quaelerei-Das-ist-doch-ganz-nor mal.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 807 Deutsche Presseagentur: Clemens J. Setz: Meister des poetischen Schauerromans. In: Focus vom 04. 10. 2012, http://www.focus.de/kultur/buecher/literatur-clemens-j-setz-meister-des -poetischen-schauerromans_aid_832119.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 808 Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Erzählungen. Berlin 2011, S. 238. 809 Ebd., S. 239. 810 Ijoma Mangold: Die Freaks sind zurück. In: Die Zeit vom 10. 09. 2015, http://www.zeit.de /2015/35/clemens-setz-tandem-graz, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 811 Ebd.

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Das Außenseitertum ist also ein zentrales Motiv sowohl in der habituellen und paratextuellen Selbstinszenierung von Clemens Setz als auch innerhalb der literarischen Texte des Autors. Dies tritt besonders deutlich in Setz’ autofiktionalen Texten zutage, wenn der Außenseitertypus von einer literarischen Figur verkörpert wird, die mit dem Autor namensidentisch ist. In Indigo begibt sich ein junger Mathematiklehrer namens Clemens Setz auf die Spur der mysteriösen Indigo-Krankheit. Er hat Schwierigkeiten sich zu konzentrieren, ist leicht überfordert und hat panische Angst vor Abbildungen von Tieren – insbesondere wenn diese leiden oder entstellt sind.812 Auf der zweiten Zeitebene des Romans treten die exzentrischen Eigenschaften der gealterten Figur noch stärker hervor: Sein Äußeres wird als eulenartig beschrieben,813 er lebt zurückgezogen mit seiner Frau, die ihn von der Außenwelt abschirmt. In der Erzählung Das Herzstück der Sammlung aus dem Band Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes sitzt der greise Schriftsteller Clemens Setz bewegungs- und beinahe kommunikationsunfähig in einem Gitterbett als titelgebendes Herzstück seiner eigenen Sammlung, einer Art Literaturarchiv. In einem dunklen, mit kuriosen Gegenständen übersäten Zimmer wird er zurückgelassen, als das Archiv für immer geschlossen wird. Auch die Geschichte Traum von verdächtigen Mänteln aus dem mit ›Nacherzählungen‹ untertitelten Band Glücklich wie Blei im Getreide (2015) weist einen autofiktionalen Charakter auf. Darin, so erzählt Setz seine eigene Geschichte nach,814 berichtet die Enkelin des Schriftstellers C. J. Setz von dem Ableben ihres Großvaters: »Er wurde von einem Balkon erschlagen, und als Toter wurde er natürlich überall abgewiesen, zuhause durfte er nicht mehr rein, obwohl er sein Bett vermisste. […] Der Tote wanderte dann tagelang durch seine Heimatstadt, wo er immer weniger und weniger anfassen konnte.«815 Der Tod tritt hier als vollendetes Außenseitertum auf, der die Autorfigur endgültig von seiner sozialen Umwelt abschneidet.

812 Vgl. Clemens J. Setz: Indigo. Roman. Berlin 2012, S. 29f. 813 Vgl. ebd., S. 399. 814 Laut dem Vorwort des Erzählbands handelt es sich bei den Nacherzählungen um Zusammenfassungen von Geschichten, die Setz am Anfang seines Studiums in den Jahren 2001 bis 2003 geschrieben hat. Vgl. Clemens J. Setz: Glücklich wie Blei im Getreide. Nacherzählungen, mit Zeichnungen von Kai Pfeffer. Berlin 2015, S. 9–12. 815 Ebd., S. 39.

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Der Dichter-Nerd als neuer Autorentypus816 Der Außenseiter stellt also nicht nur einen favorisierten Figurentypus im Setz’schen Œuvre dar – durch die autofiktionalen Außenseiterfiguren, die mit dem Autor namensidentisch sind, wird auch ein deutlicher Bezug zur paratextuellen und habituellen Inszenierung des Autors hergestellt. Das Bild, das Setz auf textueller Ebene von sich zeichnet, korreliert auf diese Weise mit dem Außenseiternarrativ, das er auf paratextueller Ebene vermittelt. Beides kreist dabei auch um die Frage nach Genese und Bedeutung von Autorschaft. In Indigo wird zumindest andeutungsweise auch vom Beginn der Schriftstellerkarriere von Clemens Setz erzählt. Auf der ersten Zeitebene des Romans erhält der junge Setz die Anfrage des Residenz-Verlags für eine Buchveröffentlichung,817 im Folgenden geht es auf der zweiten Zeitebene um Setz’ ersten Roman Söhne und Planeten,818 der 2009 im Residenz Verlag erschien. In Das Herzstück der Sammlung entwirft der noch sehr junge empirische Autor Clemens Setz das Bild eines greisen Schriftstellers Setz, der für die Nachwelt aufbewahrt wird – und zwar nicht nur in Form seines literarischen Werks, sondern buchstäblich er selbst. Einsamkeit und Isolation sind hier die direkte Folge von Autorschaft. Der Autor verschmilzt mit seinem Werk und wird als Teil desselben zur Schau gestellt und archiviert. Die Verbindung von Außenseitertum und Autorschaft wird in Setz’ InterviewAussagen noch deutlicher hervorgehoben. So besagt das bereits erwähnte Narrativ seiner Autorschaftsgenese, dass das exzessive Computerspielen ersetzt wurde durch exzessives Lesen und schließlich im exzessiven Schreiben mündete.819 Soziales Außenseitertum wird dabei als Voraussetzung oder zumindest als Begünstigung für literarische Autorschaft gewertet: Ich habe eine merkwürdige Rolle. Viele Menschen vertrauen mir auf Anhieb und erzählen mir die merkwürdigsten Dinge. Ich glaube, Männer wie Frauen nehmen mich nicht als Teilnehmer im erwachsenen Spiel von Sex, Macht und Partnerschaft wahr, eher als Neutrum. Für mich ist das wunderbar, weil ich niemanden beeindrucken muss, da nichts davon abhängt, wie ich auf andere wirke. Umgekehrt ist es auch für Menschen um

816 Die im folgenden Abschnitt vorgestellten Ergebnisse basieren zum Teil auf einem Beitrag im Rahmen des Internationalen Kolloquiums zur Bamberger Poetikvorlesung von Clemens Setz 2016. Vgl. Christian Dinger: Das autofiktionale Spiel des poeta nerd. Inszenierung von Authentizität und Außenseitertum bei Clemens J. Setz. In: Iris Hermann/Nico Prelog (Hg.): »Es gibt Dinge, die es nicht gibt«. Vom Erzählen des Unwirklichen im Werk von Clemens J. Setz. Würzburg 2020, S. 65–75. 817 Vgl. Setz: Indigo, S. 357f. 818 Vgl. ebd., S. 362f. 819 Vgl. Setz/Haberl: Das Selbstmitleid ist weg.

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mich herum befreiend, weil sie nicht den Druck fühlen, mich beeindrucken zu müssen.820

Was hier von Setz im Interview mit Tobias Haberl beschrieben wird, ist der ›authentische Blick von außen‹, der zu Beginn dieses Kapitels bereits als wesentliche authentizitätsverbürgende Funktion der Inszenierung von sozialem Außenseitertum vorgestellt wurde. Der Autor gewinnt seine neutrale erzählerische Perspektive auf die Welt aus sozialer Isolation oder – wie es die InterviewAussage von Setz nahelegt – aus der Abweichung von sozialen Konventionen, die es ihm ermöglicht, seine Umwelt anders zu erfahren als andere Menschen. Das Autorschaftsverständnis, das hier im Vordergrund steht, ist das des stillen Beobachters, der im Abseits steht, wie es Setz sehr deutlich formuliert, wenn er von seiner Vorliebe spricht, in Hotels andere Gäste zu beobachten, während er selbst im Bademantel neben einer Pflanze steht. Trotz der Thematisierung der eigenen Person durch die Mittel der Autofiktion ist es bei Setz also weniger der Bezug auf das eigene Erleben, der den Anschein von Authentizität generiert, als vielmehr die Genauigkeit und Glaubwürdigkeit der literarisch verarbeiteten Beobachtung. Darüber hinaus gibt es noch einen anderen Aspekt, der eine soziale Außenseiterposition für eine Authentizität verbürgende Autorposition fruchtbar macht, und dieser liegt im spezifischen Außenseitertypus des Nerds begründet. Die lange Zeit fast ausschließlich abwertend gebrauchte Bezeichnung hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr zu einer durchaus positiv konnotierten Selbstbezeichnung entwickelt. Neben der Verwendung in populären amerikanischen Fernsehserien wie The Big Bang Theory trugen auch berühmte Personen wie Steve Wozniak, Mark Zuckerberg oder Jaron Lanier dazu bei, dass mit ›Nerd‹ nicht nur der ungepflegte Sonderling, sondern auch der charismatische und erfolgreiche Querkopf assoziiert wird. Der Nerd zeichnet sich somit nicht mehr nur durch soziale Isolation und Normabweichung aus, sondern auch durch Eigenschaften wie Kreativität, Intelligenz und innovatives Denken.821 Dabei ist es allerdings immer noch nicht fest definiert, welche notwendigen oder hinreichenden Bedingungen eine Person aufweisen muss, um als Nerd zu gelten. Eine einheitliche Begriffsbestimmung hat sich in der Forschung bisher nicht durchgesetzt, was zu einem großen Teil daran liegen mag, dass sich die verschiedenen

820 Ebd. 821 Diesen Bedeutungswandel des ursprünglich negativ konnotierten Lexems ›Nerd‹ hin zu einer positiv besetzten Selbstbezeichnung weist der Linguist Andreas Osteroth anhand von Synchronfassungen populärer Fernsehserien (darunter auch The Big Bang Theory) nach. Vgl. Andreas Osteroth: Der Einfluss der Synchronfassungen massenmedialer Produkte auf den Sprachwandel am Beispiel des Lexems Nerd. In: Sprachreport, Heft 3/2015, 31. Jahrgang, hg. vom Institut für deutsche Sprache Mannheim, S. 1–8.

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Nerd-Kulturen mitunter stark voneinander unterscheiden.822 Tim Jänick etabliert in seiner soziologischen Studie zu Selbstbild und Fremdwahrnehmung von Nerds eine Definition, die versucht, stereotype und herabsetzende Implikationen zu vermeiden: Ein Nerd ist jemand, der sich intensiv mit einem Thema oder Hobby auseinandersetzt, das einem Großteil seiner Mitmenschen verschlossen bleibt. Aufgrund seiner hohen Fokussierung auf dieses Thema vernachlässigt er Bereiche seines Lebens, auf die eine Gesellschaft großen Wert legt.823

Legt man diese vorläufige und allgemein gehaltene Definition des Nerds auf die Autorinszenierung von Clemens Setz, ergeben sich einige aufschlussreiche Erkenntnisse. Die intensive Auseinandersetzung mit einem Thema oder Hobby gehört bei Setz zu den wesentlichen Elementen schriftstellerischer Selbstinszenierung. Beispiele hierfür sind neben der bereits erwähnten Entwicklung vom exzessiven Computerspielen hin zum exzessiven Lesen und Schreiben von literarischen Texten andere Interviewaussagen wie etwa die, dass er gar nicht merke, dass er recherchiere, weil er von einem Thema besessen sei.824 An anderer Stelle heißt es, mit dem Schreiben von Die Stunde zwischen Frau und Gitarre ging es ihm so, als habe ein »riesige[r] Fisch angebissen, der mich ins offene Meer hinausgezogen hat, in dem ich verschwunden bin«.825 Im Kontext solcher Aussagen geht es oft auch um Bereiche des sozialen Lebens, die für Clemens Setz keine oder nur eine geringe Rolle spielen. So behauptete er in einem vom Suhrkamp Verlag produzierten Interview, er habe noch nie eine Party gegeben und gehe privat auch nie als Gast auf Partys.826 Bemerkenswert ist an diesen Beispielen nicht nur, dass die Setz’sche Inszenierungspraxis mit Jänicks Definition des Nerds übereinstimmt, sondern dass die Nerd-Eigenschaften als wesentlicher Bestandteil von Setz’ Autorschaftsverständnis fungieren. Die Obsession ist bei Setz eine Grundvoraussetzung für literarische Produktion. Zudem geht mit der intensiven Bearbeitung eines Themas, das den meisten anderen Menschen verschlossen bleibt, automatisch das Generieren von Spezialwissen einher. Der Autor ist aufgrund seiner obsessiven Beschäftigung dazu in der Lage, ein wenig bekanntes oder abseitiges Thema 822 So hat beispielsweise die Otaku-Kultur in Japan kulturell andere Ursprünge als die technikaffine Nerdkultur amerikanischen Ursprungs, wie sie etwa in The Big Bang Theory dargestellt wird. 823 Tim Jänick: Nerd-Kultur. Selbstbild und Fremdwahrnehmung von (Computer-)Nerds. Hamburg 2013, S. 19. 824 Vgl. Suhrkamp Verlag/Clemens J. Setz: Wieviel Setz steckt in Setz? In: Suhrkamp Logbuch, http://www.logbuch-suhrkamp.de/clemens-j-setz/im-gespraech-mit-judith-schalansky/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 825 Setz/Haberl: Das Selbstmitleid ist weg. 826 Vgl. Suhrkamp Verlag: Autorenporträt.

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literarisch zu verarbeiten und es auf diese Weise seinen Leser*innen, denen dieses Thema ansonsten verschlossen geblieben wäre, zu eröffnen. Es ist also nicht nur die negative Bestimmung des ›Blicks von außen‹, die eine nerdspezifische Autorschaft charakterisiert, es ist auch die positive Bestimmung der intensiven Beschäftigung mit und der Vermittlung von Spezialwissen. In diesem Sinne lässt sich der Nerd auch als Dichtertypus begreifen, der dem poeta doctus verwandt ist. Denn auch beim so bezeichneten Dichterideal und seinen antiken Vorbildern ist die Weitergabe von Spezialwissen zentral. »Genauigkeit und Zuverlässigkeit des Sachwissens«, so Winfried Barner 1981, »ist ein Ehrenpunkt jedes antiken poeta doctus«.827 Barner betont außerdem: »Ob dieses Spezialwissen beiläufig eingewoben wird in einen Hymnos, eine Elegie […] oder zusammenhängend ausgebreitet im Lehrgedicht […]: stets kommt es auf das Detaillierte und auf das Entlegene an.«828 Entlegenes und detailliertes Spezialwissen findet sich bei Clemens Setz nicht nur im gezielten Einsatz seiner qua Studium erworbenen Mathematikkenntnisse als Werkzeug zur Poetisierung,829 sondern auch in der Bezugnahme auf abgelegene – meist digital verortete – Subkulturen, von deren Existenz die meisten Menschen nicht einmal wissen. Dazu gehört etwa das absurd anmutende Genre der Anne Frank Crossover-Fanfiction, über das Setz in der Zeit einen Essay geschrieben hat,830 oder das Phänomen der ASMR-Videos,831 über die er in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung berichtete832 und die auch als wiederkehrendes Element im Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre vorkommen. Wo der klassische poeta doctus mit Verweisen auf zwar entlegene, aber dennoch kanonische oder zumindest kanonfähige Wissensbestände der Hochkultur 827 Winfried Barner: Poeta doctus. Über die Renaissance eines Dichterideals in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Jürgen Brummack (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Tübingen 1981, S. 725–752, hier S. 740. 828 Ebd. 829 Im Interview mit dem SZ-Magazin betont Setz die Verbindung von Mathematik und Literatur und erläutert an einem Beispiel, wie für ihn poetische Bilder aus mathematischen Überlegungen entstehen können. Vgl. Setz/Haberl: Das Selbstmitleid ist weg. 830 Clemens J. Setz: »Hey, ich bin Anne.« In: Die Zeit vom 06. 08. 2015, http://www.zeit.de /2015/32/fanfiction-anne-frank-sonic-tagebuch, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 831 Im Gespräch mit Tobias Haberl liefert Setz eine prägnante Definition auf die Frage des Interviewers, was ASMR-Videos seien. Laut Setz handelt es sich dabei um »Videos, in denen bestimmte Geräusche gemacht werden, die für die meisten Menschen angenehm sind und bei mir ein rauschhaftes High-Gefühl verursachen, nicht im Sinne von Euphorie, eher wie eine tiefe, angenehme Versenkung« (Setz/Haberl: Das Selbstmitleid ist weg). 832 Clemens J. Setz: High durch sich räuspernde Menschen. In: Süddeutsche Zeitung vom 06. 04. 2015, http://www.sueddeutsche.de/kultur/gastbeitrag-das-namenlose-gefuehl-1.2423469, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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aufwartet, zeichnet sich der ›poeta nerd‹ in Gestalt von Clemens J. Setz durch eine Verweisstruktur aus, die auf Wissensbestände der Hochkultur, der Populärkultur sowie abseitiger Subkulturen zurückgreift.833 Die Spannbreite des Setz’schen Wissenskosmos lässt sich exemplarisch am Gedichtband Die Vogelstraußtrompete veranschaulichen. Die Bezüge in den Gedichten reichen von Superman834 und der kleinen Hexe Bibi Blocksberg835 über den Jazzpianisten Bill Evans,836 den Maler Willem de Kooning,837 den Physiker Erwin Schrödinger838 und den Schriftsteller Harold Brodkey839 bis hin zu kaum entfremdeten Zitaten aus dem Brockhaus Conversations-Lexikon von 1809840 und der französischen Encyclopédie von 1756.841 Auf den ersten Blick handelt es sich bei der Verweisstruktur ins Setz’ Texten um eine Inszenierung von Referenzauthentizität, bei der es hauptsächlich um die Originalität von Zitaten geht, die ihrerseits eine Beglaubigungsfunktion für die Glaubwürdigkeit des Autors besitzen. In diesem Fall ist das Herzeigen von Wissen jedoch nicht nur ein Mittel zur Autorisierung des Autors als Authentifizierungsinstanz und auch nicht nur ein Mittel zur Generierung von symbolischem Kapital durch Inszenierung von enzyklopädischer Bildung, sondern es ist Teil der spezifischen Außenseiter-Inszenierung von Clemens Setz. Der Dichter-Nerd macht seinen Leser*innen nicht nur sein erworbenes Spezialwissen zugänglich, sondern er lässt es sie auch durch seine Augen betrachten und gibt auf diese Weise Einblick in seine Gedankenwelt – darin besteht das große Authentizitätsversprechen dieses Autorentypus. So wie sich die Authentizitätserwartungen an Helene Hegemann daran knüpften, dass die Autorin in ihren Texten dem Publikum die Welt der urbanen Jugend anschaulich macht, richtet sich auf Setz die Erwartung, die Leserschaft in die Welt der einsamen Außenseiter und Nerds zu entführen. Doch hier sind es nicht nur Erfahrungen aus erster Hand, die die Authentizität des Erzählten verbürgen – das Wissen, das der Autor präsentiert, fungiert in diesem Fall ebenso als Authentizitätsgarant. 833 Selbstredend hat auch diese Ausweitung des poeta-doctus-Prinzips seine Vorbilder in der neueren Literaturgeschichte. Als poeta nerd avant la lettre ließe sich Arno Schmidt bezeichnen, der ebenso wie Setz eine komplexe Verweisstruktur in sein Werk eingewoben hat, die sich aus verschiedenartigem Spezialwissen speist. Am deutlichsten wird dies sicherlich in seinem Hauptwerk Zettel’s Traum, das neben Bezügen zu Freud, Poe und Joyce auch mit popkulturellen Phänomenen und der ausführlichen Beschäftigung mit Alltagsdingen angereichert ist. 834 Vgl. Clemens J. Setz: Die Vogelstraußtrompete. Gedichte. Berlin 2014, S. 29. 835 Vgl. ebd., S. 9. 836 Vgl. ebd., S. 23. 837 Vgl. ebd., S. 66. 838 Vgl. ebd., S. 19. 839 Vgl. ebd., S. 74. 840 Vgl. ebd., S. 39. 841 Vgl. ebd., S. 32.

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Das ist nicht nur deshalb der Fall, weil glaubhaft präsentiertes Wissen automatisch die Autorität und damit die authentizitätsverbürgende Kraft des Autors steigert, sondern weil das Generieren und Herzeigen von Spezialwissen zum Wesen des Nerd gehört. Mit dem Sammeln von kuriosen und abseitigen Wissensbeständen bestätigt Clemens Setz also zum einen seine Inszenierung als Nerd, zum anderen greift er auf die schriftstellerische Tradition des poeta doctus zurück. Der unzuverlässige Archivar Dieses Sammeln von Kuriositäten nimmt eine Stellung in Werkpoetik und Selbstinszenierung von Clemens Setz ein, die noch über das Anknüpfen an das Dichterideal des poeta doctus hinausgeht. Mit dem Aufspüren und Zusammentragen von verborgenen Geschichten und Subkulturen in seinem essayistischen und belletristischen Werk nimmt Setz die Rolle eines Sammlers bzw. die eines Archivars ein. Diese lässt sich durchaus als nerdspezifisch charakterisieren. Zwar ist in Jänicks Definition nicht genau aufgeführt, welche Hobbys und Themen der intensiven Beschäftigung des Nerds zugrunde liegen, nach allgemeinem Verständnis jedoch gilt das Sammeln etwa von Science-Fiction- und Fantasy-Merchandise oder Comicbüchern als charakteristische Tätigkeit von Nerds. Gleichzeitig hat die schriftstellerische Selbstinszenierung als Sammler*in oder Archivar*in eine lange literaturhistorische Tradition. Carolin John-Wenndorf listet den Archivar als einen von insgesamt 14 Autorentypen in ihrer »kleinen Dichtertypologie« auf, die sich an ihre Dissertation zur Selbstinszenierung von Schriftsteller*innen anschließt.842 Im 20. Jahrhundert sind es Autor*innen wie Ernst Jünger, Arno Schmidt, Friederike Mayröcker oder Walter Kempowski, die sich auf verschiedene Weise als Sammler*in inszenieren oder als solche rezipiert werden.843 Dabei muss selbstverständlich berücksichtigt werden, dass es sich bei den hier genannten Beispielen um verschiedene Formen des Sammelns handelt. Zu unterscheiden ist dabei etwa, ob es sich wie bei Schmidt und Mayröcker um eine intertextuelle Poetik auf Werkebene handelt, ob der Autor wie bei Walter Kempowski in seiner Funktion als Chronist verschiedene historische Stimmen zu einem literarischen Text komponiert, oder ob sich der Autor als Sammler auch nicht-textbasierter Gegenstände inszeniert, so zum Beispiel Goethe als Sammler von Steinen und Kunstgegenständen oder Jünger als Käfersammler.

842 Vgl. John-Wenndorf: Der öffentliche Autor, S. 432f. 843 Zur Bezeichnung Walter Kempowskis als Sammler und seinem Umgang mit diesem Label vgl. Philipp Böttcher: »Sie werden mich wieder als Sammler bezeichnen«. Werkstrategien in Walter Kempowskis Culpa. Notizen zum »Echolot«. In: Ders./Kai Sina (Hg.): Walter Kempowskis Tagebücher. Selbstausdruck, Poetik, Werkstrategie. München 2014, S. 87–122.

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Bei Clemens Setz ist das Motiv der Sammlung auf verschiedenen Ebenen von Bedeutung. In seinem essayistischen Werk inszeniert er sich als Kuriositätensammler, der verborgenen und abgründigen Themen nachspürt. So behandeln seine Essays in der Zeit neben dem bereits erwähnten Phänomen der Anne Frank Crossover-Fanfiction auch die Themen Deep Net, IS-Enthauptungsvideos, Bitcoins und den Grottenolm. Für das Literaturmagazin Volltext verfasste Setz ab 2011 die Reihe Nicht mehr lieferbar, in der er Bücher rezensierte, deren deutschsprachige Ausgaben mittlerweile vergriffen sind.844 Hier zeigt sich sowohl Setz’ Vorliebe für Entlegenes als auch seine Sammelleidenschaft. Die mehrteilige Kolumne stellt sich so als Archiv vergessener Autor*innen dar. Auch in Setz’ belletristischem Werk wird das Motiv des Sammelns bzw. des Archivs häufig aufgegriffen. In Milchglas, der ersten Erzählung aus dem Band Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, hält der jugendliche Protagonist unter seinem Bett allerlei Zeugnisse der Grausamkeit und Brutalität in einer blauen Kiste versteckt: Die schreckliche Kreuzigung auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars; ein Porträt des Elefantenmenschen Joseph Merrick; das nackt brennende Mädchen in Vietnam; der Lampenschirm aus Buchenwald; ein KZ-Häftling, der in einer Druckkammer ermordet worden ist, mit geborstenen Augenhöhlen; ein alter Kupferstich, der einen Pestdoktor zeigt, geschnäbelt und mit einem Stock zum Berühren der Kranken […]; eine Werbepostkarte zum Film Eraserhead; ein paar alte Kinderzeichnungen mit Tunneln, Kerzen und Altären; ein Rosenkranz; eine Bilderserie aus der Chronik der Medizin über das Steinschneiden im Mittelalter; die musikalische Hölle von Bosch; ein paar Seiten aus einem Kinderbuch mit der Darstellung von vergreisten Elfen […] – das grausamste Bild zeigt eine Wiese neben einem Wald, auf ihr eine Schar Elfen, Männer wie Frauen, die sich unter Todesschmerzen krümmen und die Hände gegen ihre Oberkörper pressen, um die Katastrophe aufzuhalten – das und eine Sammlung alter Actionfiguren waren in etwa der Inhalt der blauen Kiste.845

Der Protagonist ist ein Kuriositätensammler des Unheimlichen, wie man es auch von seinem Autor behaupten könnte. In der ersten Erzählung des Bandes lässt sich diese Aufzählung auch als Ausblick auf die folgenden Geschichten lesen, die ebenfalls ein Panoptikum des Unheimlichen bilden. Ganz explizit wird das Sammlungs-Motiv in der Erzählung Das Herzstück der Sammlung aufgegriffen, auf die oben bereits ausführlicher eingegangen wurde. Die literarische Sammlung, dessen Herzstück der Autor selbst ist, soll nach der Schließung des Archivs »als Teil einer größeren Bibliothek, einer privaten Sammlung« bestehen bleiben.846 844 Der erste Teil der Kolumne erschien im Juli 2011. Vgl. Clemens J. Setz: Ausrichten, Anschwärzen, Entlarven. In: Volltext. Zeitung für Literatur, 2/2011. 845 Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, S. 24. 846 Ebd., S. 198.

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Im Vorwort zu Glücklich wie Blei im Getreide erzählt Clemens Setz von dem Fund einer Mappe, welche die Geschichten aus seiner Jugendzeit enthält, zu denen er die in diesem Band vorliegenden Nacherzählungen verfasste: Vor einigen Monaten fand ich einige alte Texte wieder, die ich in den Jahren 2001 bis 2003 verfasst hatte. Sie lagen in einer Mappe, auf die ich damals, aus mir heute nicht mehr vertrauten Gründen, das Bild einer Sphynx-Katze geklebt hatte. […] Mit Edding hatte ich unter das Bild geschrieben: »Geschichten, 2001–2003«. Und anstelle einer Signatur gibt es einen kleinen, hydrantenförmigen, koboldhaft tanzenden Pinguin.847

Setz präsentiert hier also Texte aus der frühen Phase seines literarischen Schaffens als Archivfund. Die systematische Archivierung seiner ungemein regen Textproduktion, die der Autor in Das Herzstück der Sammlung überspitzt und selbstironisch fiktionalisiert hat, wird hier real betrieben, indem der Inhalt von bisher nicht veröffentlichten Erzählungen (wenn auch nicht die Erzählungen selbst) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Gleichzeitig inszeniert Setz hier einmal mehr die Genese seiner literarischen Autorschaft. Im weiteren Verlauf des Vorworts berichtet er halb spöttisch, halb anerkennend von den Schreibgewohnheiten und den frühen Versuchen seines jüngeren Ichs, sich selbst als Schriftsteller zu begreifen: Im Herbst 2001 hatte ich begonnen, Germanistik und Mathematik zu studieren, und ich lebte mit meiner Freundin und Komplizin Julia zusammen, zwei Faktoren, durch die ich mir ungewöhnlich erwachsen vorkam. So erwachsen, dass ich jeden Tag gegen halb fünf Uhr aufstand, um zu schreiben. Oft trug ich um diese Tageszeit bereits das helle Sakko, in dem ich später zur Uni fuhr. Ich saß an einem Tisch, der heute nicht mehr existiert (er brach eines Tages in sich zusammen, als ich mich, allerdings nicht allein, auf ihm niederließ), und beschriftete die Seiten eines karierten Collegeblocks. Im Sakko. Oft war meine Hand um acht Uhr früh, also nach zwei, drei Stunden intensiver Arbeit, so müde und verkrampft, dass ich hinterher in der Vorlesung nicht mehr mitschreiben konnte und einfach dasaß und »aktiv zuhören« musste, wie einst in der Schule.848

Es ist eine Form von vergangenheitsbezogener Privatheitsinszenierung, die Setz hier betreibt. Er gewährt den Leser*innen nicht nur Einblick in die Inhalte seines Frühwerks, sondern auch in seine Gewohnheiten als Student. Dieser private Aspekt der schriftstellerischen Inszenierung wird besonders durch die eingeschobene Andeutung unterstrichen, der Tisch, an dem der junge Setz seine ersten Schreibversuche unternommen hat, sei beim Liebesspiel zerbrochen. Das Aufnehmen der literarischen Produktion wird gemeinsam mit dem Zusammenziehen mit seiner Freundin als ein wichtiger Schritt im Erwachsenwerden stilisiert. Gleichzeitig wird durch das frühe Aufstehen und die sich verkrampfende Hand noch einmal der exzessive Charakter der eigenen literarischen Produktionstä847 Setz: Glücklich wie Blei im Getreide, S. 9. 848 Ebd.

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tigkeit betont. Auf diese Weise wird hier in wenigen Sätzen das Narrativ der Selbstfindung eines jungen Erwachsenen mit dem der Genese eines vielversprechenden, wenn auch noch etwas unbeholfenen Autorentalents verschränkt. Durch die in diesen Narrativen vermittelte biographische Inszenierung von Authentizität erhält das Vorwort eine beglaubigende Funktion auch hinsichtlich der im Band enthaltenen Nacherzählungen. Obwohl es sich bei ihnen nicht um Originaltexte handelt, die im Sinne eines tatsächlichen Archivfunds der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, sondern um eindeutig modifizierte, künstlerisch verfremdete Inhaltswiedergaben, werden sie im Vorwort als Zeugnis von gewöhnlich unter Verschluss gehaltenen Schreibexperimenten präsentiert, die Einblick in Autorschaftsgenese und Gedankenwelt des jungen Clemens Setz geben, und erhalten auf diese Weise ebenfalls die Aura des Authentischen. Auch Indigo wird in Gestaltung, Typographie und Gliederung als Archivmaterial inszeniert – in diesem Fall allerdings in einem deutlich fiktionalen Rahmen. Bereits der Einband der Erstausgabe ist durch die Verwendung von Wolkenmarmorpapier der Optik und Haptik eines Aktenordners nachempfunden. In den Text selbst sind zahlreiche Scheindokumente integriert, die sich typographisch vom restlichen Romantext abheben. So finden sich mehrere in Schreibmaschinenschrift gesetzte Seiten, die als Berichte des Protagonisten Clemens Setz ausgegeben und mit dem Zusatz ›[Grüne Mappe]‹ versehen sind. An anderen Stellen des Romans werden Teile von angeblichen Fremdtexten eingefügt, diese wiederum werden durch den Zusatz ›[Rotkarierte Mappe]‹ gekennzeichnet. Diese Mappen spielen auch im Romaninhalt eine Rolle: Sie werden als wichtige Dokumente von einer Figur zur anderen weitergereicht. Es wird also in der Tradition der Herausgeberfiktion auf paratextueller Ebene Archivmaterial imitiert, das auf textueller Ebene in die Romanhandlung integriert wird. Dabei kommen auch wirklichkeitsverbürgende Paratexte wie Fußnoten und Fotografien zum Einsatz, welche die Konventionen wissenschaftlicher Textgestaltung imitieren und dadurch den Eindruck von außertextuellem Wirklichkeitsbezug und authentischer Referentialisierbarkeit vermitteln.849 Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür ist die kurze Geschichte, die mit dem Titel Die Jüttnerin von Bonndorf übertitelt ist.850 Der Text umfasst zwei Buchseiten, ist in Frakturschrift gesetzt und mit einer Illustration versehen. Die Seitenzahlen der beiden Buchseiten weichen von den übrigen ab und auch der Sprachstil weist deutliche Unterschiede zum übrigen Romantext auf. Insgesamt wird der Anschein erweckt, es handle sich hier um die Kopie oder das Faksimile 849 Zur wirklichkeitsverbürgenden Funktion von wissenschaftlichen Paratexten wie Fußnoten vergleiche ausführlich: Harald Stang: Einleitung – Fußnote – Kommentar. Fingierte Formen wissenschaftlicher Darstellung als Gestaltungselemente moderner Erzählkunst. Bielefeld 1992. 850 Vgl. Setz: Indigo, S. 80f.

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eines historischen Originaldokuments. Ganz unten auf der zweiten Textseite findet sich zudem eine Literaturangabe, die vorgibt, die genaue Textherkunft zu dokumentieren: »(aus: Johann Peter Hebel, Die Kalendergeschichten. Sämtliche Erzählungen aus dem Rheinländischen Hausfreund, S. 334)«.851 Allerdings gibt es weder in den Kalendergeschichten noch im übrigen Werk Johann Peter Hebels eine Erzählung, die dem Titel oder dem Inhalt der Geschichte aus Indigo entspräche, genauso wenig lassen sich Hinweise darauf finden, was es mit der Bezeichnung ›Jüttnerin‹ auf sich hat – die von Setz gelegte Spur führt ins Leere. Durch falsche Fährten wie diese unterläuft der Autor das zuvor aufgebaute Authentizitätsversprechen des poeta doctus – der gelehrte Dichter wird zum unzuverlässigen Archivar. Denn sobald eine dieser falschen Fährten aufgedeckt ist, begleiten zahlreiche Fragen die Lektüre von Setz’ literarischem Werk: Sind die gelehrten Verweise in den Gedichten tatsächlich authentisch im Sinne einer Referenzauthentizität? Beziehen sich die Nacherzählungen in Glücklich wie Blei im Getreide wirklich auf real existierende Texte aus dem Frühwerk? Welche der Bücher und Kunstwerke, auf die sich Setz bezieht, existieren in der außerfiktionalen Wirklichkeit? Also kurz: Was ist Spezialwissen und was ist Fiktion? Dass diese Spannung nie aufgelöst wird und damit auch die Authentizitätserwartungen des Publikums unbefriedigt bleiben, gehört zum Kernbestand der Setz’schen Poetik. Angesprochen auf die Rechercheleistung, die man als Leser*in bei der Lektüre von Indigo leisten müsse, um die losen Enden in der Geschichte zusammenzuführen, antwortete Setz der österreichischen Tageszeitung Die Presse: »Bei Geschichten wie ›Indigo‹ geht es darum, das Gefühl der unendlichen Recherche zu erzeugen. Man weiß, dass man nie auf den Grund kommt und das ist das Entsetzliche.«852 Setz bleibt also nicht stehen bei der Autorität, die ihm die neue Nerd-Version des poeta doctus verleiht, er unterläuft diese sogar durch eine gezielte Unzuverlässigkeit in seiner Verweisstruktur, in der das Verhältnis von Fakt und Fiktion verschwimmt. Er delegiert die Recherche zu vermeintlichen Fakten an das lesende Publikum, ohne dass dieses der Aufgabe überhaupt Herr werden könnte, und schafft damit eine unauflösbare Ungewissheit in Bezug auf den Fiktionsstatus vieler seiner textuell wie paratextuell getroffenen Aussagen. Denn trotz der im Vorigen aufgezeigten vielfältigen Verweise auf außertextuelle Wissensbestände gibt Setz vor, Wirklichkeitsbezug nicht als Kategorie für literarische Qualität anzusehen, wenn er in einem Interview sagt: »Eigentlich sind Geschichten nicht dafür da, unsere Wirklichkeitsdrüsen zu massieren.«853

851 Ebd., S. 81. 852 Setz/Weiser: »Menschen sind mir rätselhaft«. 853 Suhrkamp Verlag/Setz: Wieviel Setz steckt in Setz?, Min. 5:26–5:33.

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Games und Glitches Nimmt man Setz’ Absage an den wirklichkeitsabbildenden Anspruch von Literatur ernst, legt dies nahe, dass der Einsatz von Authentizitäts- und Wirklichkeitssignalen in seinen literarischen Texten vor allem spielerischer Natur ist. Im Vordergrund der Setz’schen Authentizitätseffekte stünde demnach nicht die Täuschung der Rezipient*innen, sondern die spielerische Unterwanderung der Authentizitätsnorm. Für diese Lesart spricht, dass die oben thematisierte Unzuverlässigkeit in der Regel nichts daran ändert, dass die Texte in ihrer Gesamtheit als fiktional rezipiert werden. Im Fall von Indigo lässt sich feststellen, dass trotz der unzuverlässigen Verweisstruktur und der autofiktionalen Bezugnahme auf den empirischen Autor der grundlegende Fiktionsstatus des Texts außer Frage steht: Nicht nur die paratextuelle Etikettierung als Roman, auch und vor allem die phantastischen Elemente im Romaninhalt und die Tatsache, dass ein Großteil der Handlung im Jahr 2021 – und somit neun Jahre nach Veröffentlichung des Texts – angesiedelt ist, machen unmissverständlich klar, dass es sich hier um einen fiktionalen Text handelt. Es geht hier also tatsächlich um einen spielerischen Umgang mit der Grenze zwischen Fakt und Fiktion, der die Bereitschaft der Rezipient*innen mit einschließt, nicht um den Versuch tatsächlicher Täuschung. Obwohl man bei einzelnen Textelementen, bei denen der Fiktionsstatus zunächst unbestimmt bleibt, (wie der Pseudo-Hebel-Kalendergeschichte Die Jüttnerin von Bonndorf) durchaus von einem Fake auf Mikro-Ebene sprechen kann, bewegen wir uns hier also zumindest auf der Makroebene im Bereich des Spiels. Jenseits dieser Einordnung nach der in Kapitel 2.3 entwickelten Terminologie nehmen auch Spiele in einem ganz wörtlichen Sinn eine nicht unbedeutende Rolle im Werk und in der schriftstellerischen Selbstinszenierung von Clemens Setz ein. Allerdings ist es hier vor allem das Motiv des Computerspiels, das an verschiedenen Stellen zu finden ist. Anknüpfend an die bereits mehrfach erwähnte Selbstaussage des Autors, er habe einen Großteil seiner Jugend spielend am PC zugebracht, behauptet er gegenüber dem Süddeutsche Zeitung Magazin, dass seine ästhetischen Vorstellungen nach wie vor sehr von Computerspielen geprägt sind: Ich glaube, die Computerwelt ist eine Art Hintergrund für mein Weltbild und meine ästhetischen Vorstellungen. Allein die Tatsache, dass ich vor meinem 16. Lebensjahr hunderttausendmal gestorben und wiederauferstanden bin, nicht wörtlich, aber in den Spielen; ich habe mich schon sehr mit den Avataren identifiziert. So eine repetitive Erfahrung des eigenen Sterbens konnte ein Jugendlicher in den Fünfzigerjahren nicht machen. Das hat schon was gemacht mit mir.854

854 Setz/Haberl: Das Selbstmitleid ist weg.

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Dabei ist es nicht so, dass sich Setz etwa bestimmter Erzähltechniken bedient, die sich vornehmlich in Computerspielen wiederfinden. Experimente mit interaktivem Erzählen lassen sich in seinem bisherigen Werk nicht ausmachen. Spuren einer Gameästhetik finden sich allerdings durchaus in seinen Texten, und zwar nicht nur an den Stellen, die das Motiv des Computerspiels explizit aufgreifen.855 Besonders relevant für diese Ästhetik scheint für Setz weniger der idealtypische Verlauf eines Computerspiels zu sein, sondern dessen Störanfälligkeit. In seinem Essay Die Poesie der Glitches diskutiert Setz das poetische Potential von visuellen Störeffekten in Computerspielen, die innerhalb der Gamer-Community als ›Glitches‹ bezeichnet werden: Als Glitches bezeichnet man Fehler im Programmcode eines Computerspieles. Es sind meist visuelle Effekte oder Abläufe, die von den Spielentwicklern so nicht beabsichtigt waren. Sie gehören also zu der kostbaren Kategorie absichtslos entstandener Kunst. Für mich sind sie die vielleicht bedeutendsten, mich am stärksten umtreibenden und elektrisierenden Beispiele surrealer Poesie in unserer Zeit.856

Setz zieht dabei eine Verbindungslinie von diesen Ergebnissen einer technischen Fehleranfälligkeit zu den ästhetischen Prinzipien moderner Erzählliteratur, wenn er schreibt: Vieles, was als moderne Erzählstrategie gilt, verläuft im Grunde entlang der Logik von Glitches: Fehler, Blasen, Verwerfungen im Gewebe der Wirklichkeit. Sie weisen darauf hin, dass die Parameter, nach denen wir existieren, alle veränderbar sind. Gegenstände kommen abhanden, Menschen springen durch Zeit und Raum, jemand begegnet seinem Doppelgänger, ein anderer entdeckt eine Parallelwelt.857

Was Setz hier recht allgemein als moderne Erzählstrategie charakterisiert, ist zunächst einmal Ausdruck einer spezifischen Ästhetik, die sich in verschiedenen Formen durch sein Werk zieht. Die Ästhetik der Störung findet seinen Ausdruck zum einen in der Sujet- und Motivwahl des Setz’schen Œuvres:858 Kinder, die Menschen in ihrer Umgebung krank machen; Visitenkarten, auf denen sich Geschwüre ausbreiten;859 ein Affe, der an einem Tinnitus leidet.860 Zum anderen 855 Ein Beispiel für die motivische Verarbeitung von Computerspielen ist neben der Erzählung Kleine Braune Tiere, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung eines fiktiven Computerspiels steht (vgl. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, S. 256–286), die Bezugnahme auf das Open-World-Spiel Grand Theft Auto in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (vgl. Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Roman. Berlin 2015, S. 96–98). 856 Clemens J. Setz: Die Poesie des Glitches. In: Winkels (Hg.): Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe, S. 33–41, hier S. 33. 857 Ebd., S. 33f. 858 Zum Motiv der Störung im Werk von Setz vgl. ausführlich: Florian Lehmann: Rauschen, Glitches, Non sequitur. Clemens J. Setz’ Poetik der Störung. In: Hermann/Prelog (Hg.): »Es gibt Dinge, die es nicht gibt«, S. 119–137. 859 Vgl. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes, S. 62–74. 860 Vgl. Setz: Glücklich wie Blei im Getreide, S. 72.

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schlägt sie sich auf einer grundlegenden kommunikativen Ebene seiner literarischen Texte nieder. Die Figurenrede ist häufig geprägt von einer Dysfunktionalität zwischenmenschlicher Kommunikation.861 Der Protagonist und die Protagonistin aus Indigo und Die Stunde zwischen Frau und Gitarre sind beide rätselhaften Phänomenen auf der Spur, die für den Rest des Personals selbstverständlich zu sein scheinen. In Indigo versucht der junge Mathematiklehrer Clemens Setz hinter das Geheimnis der verschwundenen Kinder im HelianauInstitut zu kommen und befragt zu diesem Zweck als erstes die Kinderpsychologin Monika Häusler-Zinnbret. Diese scheint etwas über das Verschwinden der Kinder zu wissen, aber der Gesprächsverlauf verläuft dennoch unbefriedigend: – Eine Frage, Frau Häusler. Während meiner Arbeit am Institut sind manche Schüler mitten im Schuljahr weggezogen und waren hinterher nur sehr schwer oder gar nicht mehr – – Ja? – Und einmal habe ich gesehen, wie eines der Kinder, ein gewisser Max Schaufler, von einem Mann abgeholt wurde. Und er, das heißt Max, er hat … na ja, er war als Rauchfangkehrer verkleidet. So mit rußigem Gesicht und … Ich weiß nicht, ich habe Dr. Rudolph natürlich gefragt, aber der hat nur gesagt, dass er reloziert worden ist. Und dass er fürs Institut nicht mehr tragbar ist. – Und? Eine kurze Pause. – Naja, ist das nicht seltsam?, sagte ich. Ich meine, ich habe so etwas noch nie gesehen, es war richtig gespenstisch dieser Aufzug. – Das wird oft gemacht, unterbrach sie mich sanft. Verkleidungen helfen Kindern, mit einer schwierigen Situation umzugehen. […] – Okay, aber – – Man sieht es oft auf Friedhöfen, bei Beerdigungen. Ein Kind mit einem geschminkten Gesicht. Als Katze oder … oder es trägt einen komischen Hut. Sieht man oft. – Gut, es geht mir gar nicht so sehr um die Verkleidung, es ist eher die Tatsache, dass so viele Schüler des Instituts versetzt oder… – Reloziert? – Ja. – Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, Herr Setz.862

Fast bei jeder Wortmeldung wird der autofiktionale Erzähler von seiner Gesprächspartnerin unterbrochen, die zudem nicht auf die eigentliche Frage nach den verschwundenen Kindern, sondern nur auf den Nebenaspekt ihrer Verkleidung eingeht. Der Erzähler ist nicht in der Lage, das Gespräch zu lenken, das am Ende mehr verschleiert als offenlegt. 861 Florian Lehmann spricht mit Bezug auf die Dialoge in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre auch von »ostentative[n] Zeugnisse[n] des Nicht-Verstehens«. Lehmann: Rauschen, Glitches, Non sequitur, S. 131. 862 Setz: Indigo, S. 57f.

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Eine ähnlich dysfunktionale Gesprächssituation findet sich in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Dort bleibt Natalie Reinegger das Arrangement zwischen ihrem behinderten Bezugsklienten Dorm und seinem früheren Stalkingopfer fast bis zuletzt ein Rätsel. Im Gespräch mit ihren Kolleginnen, die vorgeben, sie über das Arrangement aufklären zu wollen, wird auch hier durch Abschweifungen und kommunikative Ausweichstrategien das eigentliche Thema des Gesprächs umgangen: – Ah, jetzt hab ich den Faden verloren, sagte Astrid. Egal. Noch einmal. Der Herr Dorm hat sich, und auch wir haben das, selbstverständlich in Rücksprache mit dem Chris, äh … Christopher Hollberg, also, dem Dr. Hollberg, Rücksprache gehalten mit ihm und waren uns schon im Frühjahr einig, dass es … Sie lachte entschuldigend und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht. Wieder ein misslungener Satz. Es war alles so schwierig.863

Ohne etwas über das geheimnisvolle Arrangement gesagt zu haben, schweifen Natalies Kolleginnen zu anderen Themen ab, um sie anschließend nach ihrem Einverständnis zu fragen, als wäre bereits alles gesagt worden: – Natalie, sagte B. War das verständlich? – Entschuldigung, was? Natalie hatte registriert, dass der letzte Satz, den B gesagt hatte, an sie gerichtet gewesen war. Sie war kurz in einen Graubereich gefallen. Wurmwesen, Elefant. – Ob du glaubst, dass du damit klarkommst?, sagte B. Insgesamt. – Sicher, sagte sie. Es geht um das … Arrangement? Dies ließen die anderen als Antwort gelten. Es war immerhin sehr heiß heute, ein drückend schwüler Tag.864

Die Protagonist*innen aus Indigo und Die Stunde zwischen Frau und Gitarre zeichnen sich durch ein Informationsdefizit gegenüber dem übrigen Personal aus. Der Zugang zum Wissensbestand der anderen Figuren wird ihnen dabei nicht ausdrücklich verwehrt, er scheitert aber dennoch an einer (möglicherweise beabsichtigt herbeigeführten) Störung in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Ein anderes Beispiel für eine von beiden Seiten bewusst herbeigeführte Dysfunktionalität von Kommunikationsabläufen ist das in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre von Natalie häufig angewandte Non-sequitur-Verfahren. Dabei geht es darum, Gespräche so fortzusetzen, dass sie mit dem Vorangegangenen möglichst wenig zu tun haben, ein assoziativer – oder in diesem Fall vielmehr dissoziativer – Gesprächsverlauf, der dem surrealistischen Verfahren der écriture automatique nicht unähnlich ist. Solche ›Nonseq-Unterhaltungen‹, die Natalie

863 Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre, S. 86. 864 Ebd., S. 89.

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mit Vorliebe mit ihren Bekannten über einen Online-Chat führt, verlaufen dann in etwa folgendermaßen: – ich fühl mich komisch, sagte Natalie, wie nach einem gewonnenen atomkrieg – Ich fühl mich wie eine Maulwurfs-Elster. – also sind sie bereits in dir? – Überall. Sie stehlen kleine Dinge. – auch im keller? – Im Keller sind Gespenster. – gespenster von maulwurfelstern? – Nein, von kleinen Rollstuhlkindern.865

Für Moritz Baßler entspricht das Non-sequitur-Verfahren »geradezu einem poetologischen Begehren des Romans«.866 Allerdings betont Baßler, dass sich bei Setz das Verfahren nicht des Romantextes selbst bemächtigt, wie es bei den modernen Avantgarden der Fall gewesen wäre. Stattdessen funktioniert dieses Spiel mit Sprache auf Figurenebene, »so dass eine motivierte Romanhandlung in Gang kommt«.867 Setz’ Poetik der Störung, die Glitches, die Brüche, die gescheiterte Kommunikation, das Dissoziative – all das mündet nicht in einer universellen Sprachskepsis, hat aber dennoch subversives Potential. Das Konzept von Authentizität, das auf dem Erfüllen von Erwartungshaltungen beruht, wird hier zielsicher unterlaufen durch eine Poetik, die sich jeder Affirmation verweigert. Während Setz auf der Ebene paratextueller und habitueller Inszenierungspraktiken noch Authentizität generiert, indem er den Prototyp eines Nerds verkörpert und sich als verlässlicher poeta doctus inszeniert, wird diese Zuschreibung gleich wieder infrage gestellt, indem der Wahrheitsanspruch relativiert wird, Spiele mit Faktualitätszuschreibungen die Leser*innen in die Irre führen oder Erwartungshaltungen an Plot und Figurenrede enttäuscht werden. Bei Clemens J. Setz bestätigt sich also die eingangs des Kapitels erwähnte Ambivalenz des Verhältnisses von Authentizität und Außenseitertum. Die Außenseiterstellung des Nerds birgt durch die abweichende Perspektive und den Einsatz von Spezialwissen zunächst einmal Potential für die Inszenierung von Authentizität – sobald aber Konventionen verletzt und Erwartungen enttäuscht werden, wird das Konzept der Authentizität nicht mehr affirmativ inszeniert, sondern unterlaufen. Auch wenn sich die beiden Autoren in ihren spezifischen Inszenierungspraktiken stark voneinander unterscheiden, zeigt sich hier eine Ähnlichkeit zu Christian Kracht: Beide wecken zunächst Authentizitätserwar865 Ebd., S. 672. 866 Moritz Baßler: Realistisches non sequitur. Auf der Suche nach einer kostbaren Substanz. In: Winkels (Hg.): Clemens J. Setz trifft Wilhelm Raabe, S. 59–81, hier S. 67. 867 Ebd., S. 76.

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tungen beim Publikum, entziehen sich aber letztlich der Zuschreibung sowohl in Hinblick auf ihr öffentliches Bild als auch auf ihr literarisches Werk.

3.4.3 Clemens Meyer: Der Prolet Zwei Jahre bevor Clemens J. Setz 2011 der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen wurde, hieß der Preisträger Clemens Meyer. Britta Heidemann verglich diese beiden Autoren in einem kurzen Kommentar für Der Westen miteinander und bezeichnete beide als »Außenseiter«, die ihre überraschende Auszeichnung »der Dynamik preisvergebender Jurys, die das ›Authentische‹ lieben«, verdankten.868 Tatsächlich erhielt im Fall von Clemens Meyer der Akt der Preisübergabe, dem für gewöhnlich als nüchternes literaturbetriebliches Ritual wenig Sensationspotential zukommt, einiges an Aufmerksamkeit in der Berichterstattung. Die taz versah ihren Bericht zur Preisverleihung mit einem Foto, das den jubelnden Autor mit Bier in der Hand zeigt und mit den Worten »Authentischer Biertrinker auf Häppchen-Veranstaltung« untertitelt war.869 Im Bericht selbst wird minutiös die Reaktion Meyers auf seine Auszeichnung beschrieben: Und um 16.30 Uhr am Donnerstag stieß dieser Clemens Meyer einen großen Schrei aus, reckte erst seinen rechten Arm mit einer Bierflasche darin in die Luft, sprang dann aus der Mitte der Zuschauerreihen auf, musste sich zunächst etwas verschüttetes Bier aus dem Auge wischen, darauf noch schnell einen Schluck nehmen, um sich schließlich seinen Weg durch die Stuhlreihen zu bahnen und auf die Bühne zu eilen.870

Sieglinde Geisel kommentierte diese Form der Berichterstattung auf dem Literaturkritik-Portal Perlentaucher kritisch: »Der tüchtige Schluck Bier, den sich Meyer genehmigte, bevor er zur Preisverleihung auf die Bühne kam, fehlte in keinem Messebericht, als wäre diese Geste wichtiger als das Buch, für das er ausgezeichnet wurde.«871 Diese Szene veranschaulicht bereits die besondere Rolle, die Clemens Meyer im deutschsprachigen Literaturbetrieb einnimmt. Anders als bei Kracht und Setz ist das Außenseiter-Label, mit dem er dabei bedacht wird, wenig eindeutig: Mal 868 Britta Heidemann: Die Preisträger-Prosa des Clemens J. Setz. In: Der Westen vom 01. 04. 2011, http://www.derwesten.de/kultur/die-preistraeger-prosa-des-clemens-j-setz-id449269 9.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 869 Vgl. Dirk Knipphals: Der Überall-zugleich-Mann. In: taz vom 15. 03. 2008, http://www.taz.de /!5185090/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 870 Ebd. 871 Sieglinde Geisel: »Es macht ding und dann dong«. In: Perlentaucher vom 20. 03.2008, https:// www.perlentaucher.de/essay/es-macht-i-ding-i-und-dann-i-dong-i.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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wird er als der »Vorzeige-Prolet des Literaturbetriebs«872 bezeichnet, mal als »›Bad Boy‹ der deutschen Literaturszene«873 oder als »Tattoomann der deutschen Literatur«874. Diese verschiedenen Labels dienen der Zuordnung Meyers zu einer diffusen sozialen Gruppe, die mit der Bezeichnung ›Arbeiterklasse‹ sicherlich zu allgemein umrissen wäre. Zwar ließe sich einiges von dem, was hier behelfsweise mit dem Begriff des Proletentums versehen wird,875 auch über klassenspezifische Merkmale des Prekariats erklären – etwa der Mangel an kulturellem wie an ökonomischem Kapital – doch handelt es sich hierbei kaum um die zentralen Aspekte, die Meyer als Außenseiter im Literaturbetrieb erscheinen lassen. Dem Absolventen des Deutschen Literaturinstituts Leipzig ließe sich auch bei literaturkritischer Zuspitzung wohl kaum ein gewisses kulturelles Kapital absprechen und der Mangel an ökonomischem Kapital ist im literarischen Feld grundsätzlich kein Normverstoß, sondern dient vielmehr als Distinktionsmerkmal gegenüber den besitzenden Klassen.876 Im Zentrum von Meyers Selbst- und Fremdinszenierung steht vielmehr eine habituelle Disposition,877 die sich vor allem in der Opposition zum bildungsbürgerlichen Habitus offenbart. Richard Kämmerlings hat diese Wahrnehmung in einem Beitrag für die FAZ in einem anschaulichen Bild zusammengefasst: Der Schriftsteller Clemens Meyer ist eine imposante Erscheinung. Mit seiner kräftigen Gestalt, seinen Tattoos, einem grobschlächtigen Habitus und einer kräftigen, in Fankurven trainierten Stimme mit breitem Sächsisch wirkt Meyer im deutschen Literaturbetrieb immer etwas wie ein Hooligan, der sich in die VIP-Loge verirrt hat.878

872 Wiebke Porombka: »Bin noch da, ihr Schweine!«. In: Der Spiegel vom 09. 04. 2010, http ://www.spiegel.de/kultur/literatur/autor-clemens-meyer-bin-noch-da-ihr-schweine-a-6878 42.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 873 Krumrey: Der Autor in seinem Text, S. 182. 874 Elmar Krekeler: Clemens Meyer blickt in einsame Männerherzen. In: Die Welt vom 03. 02. 2008, https://www.welt.de/kultur/article1622033/Clemens-Meyer-blickt-in-einsame-Maenn erherzen.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 875 ›Prolet‹ bzw. ›Proletentum‹ wird hier dezidiert in Abgrenzung von ›Proletarier‹ bzw. ›Proletariat‹ genutzt, da es sich bei Letzteren um vornehmlich politisch bzw. ökonomisch geprägte Begriffe handelt, während bei Ersteren die habituelle Dimension in den Vordergrund rückt. 876 Vgl. Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. In Ders.: Kunst und Kultur. Kunst und künstlerisches Feld. Schriften zur Kultursoziologie 4, hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger. Konstanz 2011, S. 339–447, hier S. 347. 877 Gerade im Sinne Bourdieus lässt sich der Habitus natürlich nicht gänzlich von der Klassenzugehörigkeit trennen. Bei der spezifischen Inszenierung Meyers verbindet sich allerdings der Klassenhabitus der Arbeiterklasse mit regionalen Spezifika und habituellen Elementen der Bohème und der kleinkriminellen Unterschicht. Hier von einem Klassenhabitus zu sprechen, scheint also weiterhin zu unspezifisch. 878 Richard Kämmerlings: Overdose jagt die Goldene Peitsche. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 03. 2010, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/bellet

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Es sind habituelle Besonderheiten wie das Tragen von Tattoos, die dialektal geprägte Sprechweise oder das Bevorzugen von Bier gegenüber Sekt oder Rotwein, die Clemens Meyer im bildungsbürgerlich geprägten Literaturbetrieb auffällig erscheinen lassen. Hinzu kommt, dass er über einen für arrivierte Schriftsteller eher atypischen Lebenslauf verfügt: »Zweimal saß er im Jugendknast. Nach dem Abitur ging er nicht auf die Universität, sondern auf den Bau.«879 Sein Schreibstudium finanzierte sich Meyer durch Gelegenheitsjobs und Sozialhilfe.880 Dem daraus resultierenden Außenseiter-Image innerhalb des Literaturbetriebs steht der Autor eher kritisch gegenüber, wenngleich er sich nicht ganz so ablehnend darüber äußert wie beispielsweise Christian Kracht: »Klar, mein Image ist mir schon bewusst, aber ich wollte nie Außenseiter sein.«881 Meist betont Meyer in diesem Zusammenhang, dass er trotz seiner habituellen Besonderheiten in erster Linie Schriftsteller sei und keineswegs literaturfern: Ich definiere mich nicht darüber, ständig in der Kneipe zu sitzen oder biertrinkend durch die Fußballstadien zu ziehen. Gegen die Vereinnahmungen anzugehen bringt nichts. Auf Wikipedia habe ich gelesen, ich würde mein Image vermarkten. Keine Ahnung, wer so etwas da reinschreibt. Ich sitze in Leipzig die meiste Zeit in meinem Arbeitszimmer, mein Leben gehört der Literatur und meinen Büchern.882

Neben Meyer selbst kritisieren auch einige Rezensent*innen die Fokussierung ihrer Kolleg*innen auf soziale Herkunft und Habitus des Autors. So schreibt Lena Bopp in der FAZ: Meyer wird diese Bilder nicht los. Nicht die von seiner großen bierflaschenschwenkenden Freude, als er 2008 für seinen Erzählungsband ›Die Nacht, die Lichter‹ den Preis der Leipziger Buchmesse gewann. Nicht die von seinen vielen Tattoos. Nicht die von seiner Vergangenheit als Bauarbeiter, Gabelstaplerfahrer und Hartz-IV-Empfänger.883

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ristik/clemens-meyer-gewalten-overdose-jagt-die-goldene-peitsche-1957764.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Julia Löhr: Ein Arbeiter im Literaturbetrieb. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. 05. 2010, http://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/mein-weg/clemens-meyer-ein-arbeiter-im-li teraturbetrieb-1979705.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Vgl. ebd. Clemens Meyer im Gespräch mit Florian Gathmann und Jenny Hoch: »Unterschicht – was soll denn das sein?«. In: Der Spiegel vom 26. 02. 2008, http://www.spiegel.de/kultur/litera tur/schriftsteller-clemens-meyer-unterschicht-was-soll-denn-das-sein-a-536352.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Clemens Meyer im Gespräch mit Stefan Kister: Huren, Kapitalismus und Donald Duck. In: Stuttgarter Zeitung vom 16. 04. 2015, http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mi t-clemens-meyer-huren-kapitalismus-und-donald-duck.43abf1e7-c947-4247-aac5-c41c2cb 6982d.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Lena Bopp: Reisender, kommst du nach Eden City. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 08. 2013, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/clemen s-meyer-im-stein-reisender-kommst-du-nach-eden-city-12541182.html?printPagedArticle

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Das Echtheitsbegehren, mit dem Meyer konfrontiert sei, liege laut Bopp zum einen an seinem Habitus, »[z]um größeren Teil aber liegt es an der Ähnlichkeit, die der Leipziger Schriftsteller mit seinen Figuren zu haben scheint – da spielt es auch keine Rolle, dass derlei Übertragungen den Grundregeln des Romanlesens eklatant widersprechen«.884 Auch die Kritikerin Ina Hartwig sieht sich dazu veranlasst, in einer Rezension zu Die Nacht, die Lichter klarzustellen, dass Clemens Meyer »Gerüchten zum Trotz keineswegs diesem Milieu entstammt«,885 und meint damit das Milieu seiner Figuren. Die Authentizitätserwartungen, die sich an Meyer richten, speisen sich also zum einen aus seiner habituellen Disposition, aus seiner äußeren Erscheinung, seinem Verhalten in der Öffentlichkeit und seinem beruflichen Werdegang, die ihn zum Faszinosum des Literaturbetriebs machen; zum anderen aus seiner vermeintlichen Milieukenntnis, die ihm in den Augen vieler Rezipient*innen eine gewisse Kompetenz verleiht, über bildungs- und literaturferne Schichten im Modus einer wirklichkeitsnahen Milieustudie zu schreiben. Auf diese Weise wird die Meyer zugeschriebene subjektbezogene Authentizität zum Garanten für eine werkbezogene Authentizität. Im Zentrum dieser Übertragungsleistung steht erneut der authentizitätsverbürgende Begriff der Erfahrung. Dass Meyer in seiner Inszenierungsstrategie über das Erfahrungsparadigma hinausgeht und dabei ein poetologisches Programm entwirft, das die an ihn gerichteten Authentizitätserwartungen nur in Teilen erfüllt, soll im Folgenden gezeigt werden. Soziale Herkunft und stoffspendende Biographie Die Figuren in Clemens Meyers Erzählungen und Romanen sind fast ausnahmslos auf irgendeine Weise gesellschaftlich randständig: Sie kommen aus einkommensschwachen Bevölkerungsschichten, bewegen sich im Arbeiter- oder im Rotlichtmilieu, sind Langzeitarbeitslose oder Kleinkriminelle. Deutlich wurde diese Vorliebe für Außenseiter-Figuren bereits in Meyers Debütroman Als wir träumten (2006), in dessen erzählerischem Zentrum fünf Jugendliche stehen, die im Post-Wende-Leipzig ihre Zeit mit Autodiebstählen, Straßenschlachten und Alkoholexzessen zubringen. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde Meyer vonseiten der Literaturkritik die Kompetenz zugesprochen, von diesem Milieu zu berichten – meist mit der Begründung, der Autor wisse aus eigener Anschauung, worüber =true#pageIndex_2, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Dass die Reproduktion dieser Bilder zwar kritisiert, aber durch die Aufzählung gleichsam fortgeführt wird, gehört zur ironischen Dimension solcher Zuschreibungs- und Inszenierungsdynamiken. 884 Ebd. 885 Ina Hartwig: Mehr so bittersüß. In: Frankfurter Rundschau vom 10. 03. 2008, http://www.f r.de/kultur/literatur/die-nacht-die-lichter-mehr-so-bittersuess-a-1186883, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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er schreibe. Eberhard Falcke brachte dies in seiner Rezension zu Als wir träumten auf die Formel: »Wenn einer Kämpfe durchzustehen hatte, dann kann er was erzählen«, und gestand Meyer zu, dass er über etwas verfüge, »was nicht jeder Schreibschulabsolvent mitbringt: einen Stoff, mit dem er sich auskennt, der was hergibt und mit dem der Autor, wie jede Romanzeile beweist, in Leidenschaft verbunden ist«.886 Clemens Meyer wird hier, wie bereits in Kapitel 3.2.2 erwähnt, als Ausnahmeerscheinung der deutschsprachigen Schreibschulen präsentiert, der anders als seine ehemaligen Kommiliton*innen über eine stoffspendende Biographie verfügt. Die Authentizitätserwartungen, so zeigt auch Falckes Einwurf, sind dabei nicht nur auf eindeutige Schnittmengen von Autorbiographie und Romanhandlung beschränkt. Mittelbar führt die biographische Nähe des Autors zu seinem literarischen Sujet nämlich für Falcke dazu, dass »er sich auskennt« und ihm entsprechend eine besonders wirklichkeitsnahe Literarisierung zuzutrauen ist. Entsprechend sind es nicht nur die eigenen, persönlichen Erfahrungen, die im Fall von Meyer als Quelle authentischer Literatur angesehen werden – vielmehr sind es die kollektiven Erfahrungen einer ganzen sozialen Gruppe, als deren Stellvertreter Meyer gilt. Es handelt sich also in diesem Sinne um eine Autorisierung qua sozialer Herkunft analog zu der Zuschreibungspraxis, die im Kapitel 3.1 dieser Arbeit in Bezug auf geographische bzw. ethnische Herkunft erläutert wurde. Dass die Funktion von sozialer wie geographischer Herkunft eine ähnliche Rolle bei der Autorisierung literarischer Autorschaft spielen kann, zeigt auf sehr anschauliche Weise der bereits mehrfach zitierte Zeit-Beitrag von Florian Kessler, in dem er Clemens Meyer neben Olga Grjasnowa und Sasˇa Stanisˇic´ als Ausnahmeerscheinung unter den Schreibschulabsolvent*innen mit bürgerlicher Herkunft nennt,887 wobei Grjasnowa und Stanisˇic´ ganz eindeutig wegen ihrer geographischen Herkunft als Ausnahmen gelten und Meyer aufgrund seiner sozialen.888 Auch wenn es Kessler nicht explizit macht, ist klar, was hier transportiert werden soll: Aufgrund ihrer geographischen bzw. sozialen Herkunft haben Meyer, Grjasnowa und Stanisˇic´ andere Lebenserfahrungen gemacht als ein Großteil der Diplomschriftsteller*innen und sind deshalb auch in der Lage, glaubwürdig von Erfahrungen und Milieus zu erzählen, die der bildungsbürgerlich geprägten Leserschaft nicht aus eigener Anschauung vertraut sind.

886 Eberhard Falcke: Auf hartem Boden. In: Die Zeit vom 09. 03. 2006, http://www.zeit.de/2006 /11/L-Meyer, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 887 Vgl.: Kessler: Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn! 888 Olga Grjasnowa zumindest dient als Tochter eines Rechtsanwalts und einer Musikwissenschaftlerin kaum als Gegenbeispiel zu den von Kessler aufgeführten Richter- und Professorenkindern. Zur sogenannten Kessler-Debatte siehe Kapitel 3.2.2 dieser Arbeit.

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Noch deutlicher artikuliert dies Enno Stahl in einem Essay über Realismus und literarische Analyse. Über Meyers Debütroman schreibt er: »Dieser Roman ist wirklich realitätsgesättigt. Meyer dürfte wohl der einzige bisherige Absolvent des Literaturinstituts Leipzig sein, der das erlebt hat, was er in seinem Debütroman schildert: nämlich eine Straßenköterexistenz. Und deshalb hat Meyer auch was zu erzählen.«889 In diesem Zusammenhang bedenkt Stahl Meyers Roman auch mit dem Authentizitäts-Label: »[S]eine Schilderung ist authentisch, glaubhaft und oft hart, zwar nicht ohne Männerpathos und -romantik, insgesamt jedoch eindrucksvoll.«890 Auch hier zeigt sich, dass die Zuschreibung von Authentizität bei Meyer weniger an die direkte Verarbeitung konkreter biographischer Erlebnisse gebunden ist als vielmehr an eine allgemeine Milieukenntnis, die zwar biographischen Ursprungs ist, aber über die semi-autobiographische oder autofiktionale Literarisierung einzelner Erfahrungen hinausgeht. Bei der Erfahrung, auf die Stahl hier abzielt, handelt es sich vielmehr um die kollektive Erfahrung einer Gruppe oder eines bestimmten (oder auch weniger bestimmten) Teils der Gesellschaft. Als Teil dieser Gruppe, so lässt sich nach der in Kapitel 3.1 vorgestellten Terminologie Johannes Franzens sagen, besitzt Meyer das narrative Eigentumsrecht an dieser kollektiven Erfahrung und ist dementsprechend durch die ihm zugeschriebene Gruppenzugehörigkeit autorisiert. Wenn von Meyers Milieukenntnis die Rede ist, so meint das nicht nur das bloße Wissen über die Eigenarten einer bestimmten sozialen Gruppe, sondern auch Meyers Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Erfahrungsraum. Meyers angebliche Milieukenntnis spielt auch für die Rezeption seines zweiten Romans Im Stein (2013) eine zentrale Rolle. Der Roman ist im Rotlichtmilieu angesiedelt und erzählt die Geschichte von verschiedenen Protagonist*innen der urbanen Unterwelt – vornehmlich von Prostituierten und Zuhältern. Zu Meyers Sujetwahl schreibt Gerrit Bartels im Tagesspiegel: Wer bislang kein Buch des […] Schriftstellers in der Hand hatte, dürfte erstaunt über den Stoff dieses Romans sein. Insbesondere über das Personal, das in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten eine Hauptrolle spielt, weil es für die meisten Autoren nur in einer ihnen völlig unbekannten Parallelwelt existiert: kleine und größere Kriminelle, Prostituierte und Zuhälter, Boxer und Jockeys. Wer jedoch Meyers Debütroman »Als wir träumten« aus dem Jahr 2006 kennt, mit seinen Geschichten von Hooligans, Techno-Kids, Knastbrüdern, Autoknackern und Drogensüchtigen im Leipzig der frühen neunziger Jahre; und wer auch seinen darauffolgenden Erzählungenband [sic!] »Die Nacht, die Lichter« und das sogenannte Tagebuch »Gewalten« gelesen hat, wird womöglich stutzen und sich fragen: Kann Clemens Meyer nicht einmal

889 Enno Stahl: Realismus und literarische Analyse. In: Ders.: Diskurs-Pogo. Über Literatur und Gesellschaft. Berlin 2013, S. 89–119, hier S. 102. 890 Ebd.

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eine andere Platte auflegen? Mal das Milieu wechseln? Vielleicht versuchen, sich selbst zu entkommen, dem Clemens-Meyer-Klischee.891

Wobei der Kritiker gleich darauf selbst einwendet: »Nur: Warum sollte er die Sujets und Milieus wechseln? Entstammen beispielsweise nicht auch die Figuren Martin Walsers allesamt derselben Gesellschaftsschicht? Ist nicht jeder WilhelmGenazino-Erzähler ein Flaneur und Alltagsethnologe?«892 Meyers Sujets sind mit Veröffentlichung seines zweiten Romans bereits zu seinem Markenzeichen geworden und der Autor gewissermaßen zum literaturbetrieblichen Botschafter literaturferner Milieus. Dass er diese in seinen Texten auf besonders wirklichkeitsnahe Weise darzustellen vermag, wird dem Autor auch im Fall von Im Stein bescheinigt. Über seine Darstellung des Prostitutionsgewerbes schreibt Bartels: »Meyer tappt dabei nicht in die Falle, Männerfantasien aufzusitzen, diese Arbeit gar zu romantisieren.«893 Ein ganz anderes Urteil hinsichtlich der mimetischen Authentizität des Romans stammt von der feministischen Zeitschrift Emma, deren Redaktionsteam im November 2013 Clemens Meyer zum ›Pascha des Monats‹ kürt. Die knappe Begründung für die satirische Antiauszeichnung lautet wie folgt: Es hätte ein richtig gutes Buch werden können. Denn der 36-jährige Clemens Meyer, geboren in Leipzig, versteht was von der Sache. Er war sogar schon selber im Knast – wofür er von so manchem blutleeren Feuilletonisten bewundert wird. Er weiß um die Gewalt im Rotlichtmilieu und die Rolle der ›Engel‹, der Hells Angels; um die Millionen, die da verdient werden; ja sogar um die fatalen Folgen des Prostitutionsgesetzes von 2002. In seinem tristen 500-Seiten-Epos lässt er mal die ›Sexarbeiterinnen‹, mal die Profiteure monologisieren. Lustig ist das nicht. Aber es gleitet dann doch zunehmend ab ins Chaos und in den Rotlicht-Kitsch der sattsam bekannten, larmoyanten Männerliteratur. Und trägt somit bei zur Mystifizierung der Verhältnisse. Schade eigentlich.894

Auch hier wird Meyer zunächst einmal als Autor mit einem privilegierten Kenntnis- und Erfahrungsschatz eingeführt, dem eine gewisse Erzählkompetenz zugetraut wird (»Clemens Meyer […] versteht was von der Sache«, »Er weiß um die Gewalt im Rotlichtmilieu […].«). Im weiteren Verlauf der Begründung wird Meyer jedoch vorgeworfen, dennoch kein realistisches Bild des Milieus zu zeichnen, sondern stattdessen »Rotlicht-Kitsch« zu reproduzieren. Ein vielbeachtetes Kapitel in Meyers Roman, auf das hier möglicherweise angespielt wird, 891 Gerrit Bartels: Das kälteste Gewerbe der Welt. In: Der Tagesspiegel vom 23. 08. 2013, http s://www.tagesspiegel.de/kultur/clemens-meyers-roman-im-stein-das-kaelteste-gewerbe-de r-welt/8685978.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 892 Ebd. 893 Ebd. 894 o. A.: Pascha: Clemens Meyer, Autor. In: Emma vom 02. 11. 2013, http://www.emma.de/arti kel/pascha-clemens-meyer-autor-311979, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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trägt den Titel Kolumbusfalter und besteht aus dem Bewusstseinsstrom einer sechzehnjährigen Zwangsprostituierten. Die fragmentarischen Erinnerungen an den Missbrauch durch verschiedene Freier sind dabei erzählerisch mit der Lektüre eines Dagobert-Duck-Comics verschränkt, was die Jugendlichkeit der Erzählerin zusätzlich unterstreicht.895 Bedenkt man die lebensweltliche Distanz zwischen der Person des Autors und der Figur der Erzählerin, lässt sich hier trotz der Meyer zugeschriebenen Milieukenntnis sicherlich am wenigsten von einem erfahrungsgesättigten Text sprechen. Ob der Vorwurf der Emma-Redaktion sich auf diese Textstelle oder eine andere bezieht, lässt sich jedoch nicht sagen, da hierauf im Kommentar nicht näher eingegangen wird. Dies macht es Meyer wiederum einfach, die Kritik mit der Bemerkung zu quittieren, die Redakteur*innen hätten »den Roman nicht richtig gelesen, denn darin wird nichts verklärt«.896 Denkbar ist allerdings auch, dass sich die Kritik der Emma gar nicht an einer bestimmten Textstelle entzündet, sondern an einer (aus Sicht der Emma-Redaktion) unzureichenden Autorisierung des Autors für die literarische Bearbeitung dieses Stoffs. Mit dem Verweis auf die »sattsam bekannte, larmoyante Männerliteratur« wird der unterstellte Umstand, dass der Autor trotz Milieukenntnis und Recherche keine realistische Darstellung des Rotlichtmilieus vorgelegt habe, mit dessen Geschlechtsidentität in Verbindung gebracht. Während für die meisten anderen literaturkritischen Stimmen der Verweis auf die soziale Herkunft und Milieukenntnis des Autors als Garant für Authentizität ausreicht, knüpft die Emma ihre Zuschreibung (auch wenn dies hier nicht explizit geschieht, sondern in der verkürzten Form einer journalistisch-satirischen Zuspitzung) an die genderspezifische Schreibweise.897 In den Augen der Emma reicht die Autorisierung des Autors durch seine soziale Gruppenzugehörigkeit nicht aus, um dem Roman Authentizität zuzuschreiben, da die Redaktion die Darstellung des Rotlichtmilieus durch einen spezifisch männlichen Blick auf den Stoff verfälscht sieht. Hier zeigt sich erneut der relationale Charakter des Authentizitätsbegriffs. Ist die Zuschreibung des Labels ›authentisch‹ in Bezug auf Meyer und seine literarischen Texte für gewöhnlich an seine habituelle Inszenierung als literaturbetriebsferner ›Prolet‹ geknüpft, wird hier ein anderer Wertungsschwerpunkt gewählt. Statt der Zugehörigkeit zur Gruppe der ›Straßenköter‹ und der Kenntnis des Rotlichtmilieus, wird von der Emma Meyers Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Männer herausgestellt – eine Gruppe, die nicht über das narrative Eigentumsrecht von Erfahrungen im Bereich der Sexarbeit verfügt. So entgeht 895 Clemens Meyer: Im Stein. Roman. Frankfurt am Main 2013, S. 324–344. 896 Meyer/Kister: Huren, Kapitalismus und Donald Duck. 897 Das Verhältnis von Geschlechtsidentität und Authentizitätszuschreibung wird ausführlich in Kapitel 3.5 dieser Arbeit behandelt.

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auch der für seine realistischen Milieustudien gelobte Meyer an dieser Stelle nicht dem Kitsch-Vorwurf. Ein Beispiel, an dem sich zeigt, dass die Einhaltung der Authentizitätsnorm nicht immer von einem homogen auftretenden Kollektiv literaturkritischer Akteure überwacht wird. Denn während Bartels Im Stein für die Abwesenheit von Männerphantasien und Romantisierungen lobt, kommt die Redaktion der Emma zu einem gänzlich anderen Schluss.898 Beide Positionen beziehen sich dabei jedoch auf eine Form der Autorisierung, die auf einer sozialen oder geschlechtsspezifischen Zugehörigkeit basiert. Erfahrung – Imagination – Recherche Meyer selbst bezieht sich in Interviewaussagen weniger auf die Autorisierung durch Verweise auf Biographie und Gruppenzugehörigkeit und betont den Anteil der Imagination für den literarischen Produktionsprozess. In einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt geht er auf die Frage nach der Verarbeitung persönlicher Erfahrung ein. Gefragt nach dem Anteil eigenen Erlebens in Als wir träumten, antwortet der Autor: Natürlich muss man bestimmte Dinge kennen, wenn man darüber schreibt, aber was heißt ›kennen‹? Ich kann aus dem Fenster schauen und Leute beobachten, und wenn ich gut im Kopf bin, dann kann ich imaginieren, was sie machen. In ›Als wir träumten‹ war das eine Welt, in der ich mich teilweise selbst bewegte. Aber es ist trotzdem ein Roman. Ich wollte ein Epos aus diesen Versatzstücken konstruieren. So habe ich mir auch viel ausgedacht, um endlich nach sechs Jahren dieses Epos fertig zu haben.899

In dieser Aussage bestätigt Meyer zwar, dass eigene Erfahrung gerade im Fall von Als wir träumten die stoffliche Basis bildet, betont aber gleichzeitig das hohe Abstraktionsniveau seiner literarischen Verarbeitung. Es lässt sich hier durchaus herauslesen, dass für den Schriftsteller Meyer gemäß seines öffentlich inszenierten Selbstbildes das Imaginieren ein mindestens ebenso wichtiger Bestandteil ist wie das Erleben. An anderer Stelle verbindet er diese Klarstellung mit einer Absage an das Authentizitäts-Label: »Authentische Literatur gibt es nicht. Du 898 Allerdings ist davon auszugehen, dass bei der Wertung durch die Emma auch außerliterarische Aspekte wie eine unterschiedliche Auffassung hinsichtlich der ethischen Bewertung von Sexarbeit eine Rolle spielen. 899 Clemens Meyer im Gespräch mit Ulrich Wickert: Wir sind alle der Gewalt unterworfen. Die Welt vom 06. 03. 2010, https://www.welt.de/welt_print/kultur/literatur/article6663354/Wirsind-alle-der-Gewalt-unterworfen.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. Ein bemerkenswertes Detail ist, dass Meyer hier in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen den Begriff ›Epos‹ verwendet, womit er nicht nur den fiktionalen Charakter von Als wir träumten betont, sondern auch auf eine literarische Tradition verweist, die vom Gilgamesch-Epos und Homer über die mittelalterlichen Heldenepen bis zu James Joyce reicht. Dies lässt sich durchaus als bildungsbürgerliches Inszenierungsmerkmal begreifen, das dem Bild des Prolet-Schriftstellers entgegensteht.

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kannst nur die Erfahrungen nehmen und mit einem Vorschlaghammer zertrümmern. Dann setzt Du sie neu zusammen.«900 Im Rahmen seiner paratextuellen Selbstinszenierung weist Meyer der persönlichen Erfahrung als Quelle literarischer Glaubwürdigkeit eine weniger zentrale Rolle zu als die zuvor gehörten Stimmen der Rezensent*innen und betont dagegen die Bedeutung literarischer Abstraktions- und Verfremdungsverfahren. Dabei unterscheidet sich Meyers produktionsästhetischer Ansatz, vorhandene Erfahrungen neu zusammenzusetzen, von dem poetischen Aneignungsprozess wie er zuvor am Beispiel von Äußerungen Thomas Manns und Wolfgang Koeppens veranschaulicht wurde:901 Nicht die Aneignung fremder Erfahrung durch Imagination ist das Ziel des Produktionsprozesses, sondern die literarische Verfremdung eigener Erfahrung und somit letztlich eine nicht näher bestimmte Mischung aus Imagination und biographischem Wissen. Ein weiterer Punkt, den Meyer in Bezug auf den literarischen Produktionsprozess immer wieder betont, ist die Recherche. Besonders im Zuge der Veröffentlichung von Im Stein erwähnt Meyer immer wieder seine akribische Recherchearbeit und die Rezeption von Literatur, die für die im Roman verhandelten Themenbereiche von Bedeutung ist: »Ich habe über einen Zeitraum von etlichen Jahren alles gesammelt und gelesen, was es zu dem Thema gibt: Biografien von Huren, aber auch wirtschaftliche Darstellungen, ›das Kapital‹ von Marx, betriebswirtschaftliche Arbeiten, auch Mythologisches.«902 In einem anderen Interview ergänzt Meyer, dass es aber auch nicht ausschließlich auf gute Recherchearbeit ankomme: »Irgendwo hingehen, mit Leuten reden, sich Notizen machen, das kann jeder Idiot! Aber einen Roman daraus machen, die Realität wieder verlassen, darum geht es! Trotzdem braucht man ein Fundament. Und ich sage mal: So ein Buch konnte nur ich schreiben!«903 In diesem letzten Zitat werden alle drei Merkmale zusammengefasst, die Meyer als Voraussetzungen seiner literarischen Produktion präsentiert: persönliche Erfahrung bzw. persönliche Affinität,904 Recherche und die nach Meyers Ansicht für die Literarisierung des Stoffs unbedingt notwendige Imagination. Diese produktionsästhetische Trias aus Erfahrung, Recherche und Imagination erinnert an die im Curriculum akademischer Schreibschulen beliebte Trias aus creativity, craft und 900 Clemens Meyer im Gespräch mit David Hugendick: »Was verdammt nochmal ist hier los?«. In: Die Zeit vom 20. 03. 2010, http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-03/clemens-meyer-in terview, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 901 Siehe S. 119f. dieser Arbeit. 902 Meyer/Kister: Huren, Kapitalismus und Donald Duck. 903 Clemens Meyer im Gespräch mit Gerrit Bartels: »Prostituierte faszinieren mich«. In: Der Tagesspiegel vom 07. 10. 2013, http://www.tagesspiegel.de/kultur/zur-person-prostituiertefaszinieren-mich/8893302.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 904 Vgl. ebd.: »Ich habe eine gewisse Affinität zu dem Milieu und einiges in Erfahrung gebracht.«

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experience nach Mark McGurl, wie sie im Kapitel 3.2 dieser Arbeit thematisiert wurde.905 Dass Meyer in seiner paratextuellen Selbstdarstellung auf jenes Modell eingeht, zeigt nicht nur, dass er sich selbst in deutlich weniger großer Entfernung von seiner Ausbildungsstätte positioniert als es die oben gehörten Stimmen aus dem Feuilleton nahelegen, sondern auch, dass das in der Rezeption von Meyers Texten virulente Erfahrungsparadigma für das poetologische Selbstverständnis des Autors nur ein Aspekt unter mehreren ist. Im Folgenden soll anhand einer Analyse einzelner Erzählungen beleuchtet werden, welches poetologische Selbstbild die textuelle Inszenierung des Autors in dieser Hinsicht vermittelt. Aneignung durch Verschmelzung: Gewalten. Ein Tagebuch Als Meyers dritte Veröffentlichung in Buchform erschien 2010 Gewalten. Ein Tagebuch. Anders als es der Untertitel vermuten ließe, bedient sich Gewalten jedoch nur sehr bedingt der textsortenspezifischen Konventionen eines Tagebuchs. Es handelt sich um eine Sammlung von elf eigenständigen Erzählungen, die zwar alle grob im Jahr 2009 angesiedelt, jedoch nicht als Abfolge von Tagen als erzählerische Einheit strukturiert sind.906 Für Krumrey handelt es sich deshalb »nicht um ein Tagebuch im eigentlichen Sinne«,907 stattdessen ließe sich Gewalten »präziser als autofiktionaler Text beschreiben, der die Tagebuchform transzendiert und mithilfe des Untertitels eine auf Referenzialität angelegte Rezeptionserwartung beim Leser generieren will«.908 Ähnlich wie in Thomas Glavinics Der Jonas-Komplex wird der Text als ›Roman eines Jahres‹ präsentiert,909 der die Geschehnisse im Privatleben des autofiktionalen Erzähler-Ichs mit den gesellschaftlich-politischen Ereignissen des jeweiligen Jahres verknüpft. So spielt der Tod von Meyers Hund Piet in Gewalten ebenso eine Rolle wie der Amoklauf von Winnenden und die Ermordung der achtjährigen Michelle, die 2009 vor Gericht verhandelt wurde. Krumrey sieht allerdings in Meyers Buch einen deutlichen Unterschied zur Poetik der Selbstbespiegelung bei Glavinic.910 Die authentizitätssuggerierende Wirkung der Namensgleichheit von Autor und homodiegetischem Erzähler sieht sie durch Aussagen der Autorfigur subvertiert: 905 Siehe S. 167 dieser Arbeit. 906 Zur Systematik der textsortenspezifischen Konventionen von Tagebüchern vgl. ausführlich: Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München 2005. 907 Krumrey: Der Autor in seinem Text, S. 174. 908 Ebd., S. 176. 909 Beide Texte wurden durch das Tagewerk-Stipendium der Guntram und Irene Rinke-Stiftung gefördert, das an Autor*innen vergeben wird, »die das Lebensgefühl des jeweiligen Jahres aus ihrer Sicht schildern«. (Guntram und Irene Rinke-Stiftung: Stipendium, https://www.r inke-stiftung.de/projekte.html#preise, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.) 910 Vgl. Krumrey: Der Autor in seinem Text, S. 191.

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Nur zum Teil entwirft er seinen Erzähler als Schriftsteller, der dem öffentlichen Bild des Verfassers entspricht, und bietet Motive an, die eine autobiographische Lesart fördern. Gleichermaßen unterläuft er den vom Autornamen ausgehenden ›authentischen‹ Bezug durch provokante und ethisch-moralisch fragwürdige Aussagen.911

Die »ethisch-moralisch fragwürdigen Aussagen« findet Birgitta Krumrey hauptsächlich in den Erzählungen German Amok und Der Fall M. In German Amok spielt die autofiktionale Erzählerfigur ein fiktives Computerspiel, das sie die Perspektive eines Schul-Amokläufers einnehmen lässt. Ziel des Spiels ist es, auf das Schulgelände zu gelangen und dort so viele Personen wie möglich zu erschießen. Parallel zur Darstellung des Spielverlaufs reflektiert der Erzähler die Amokläufe von Erfurt 2002 und Winnenden 2009. Für Krumrey bewegt sich das hier entworfene Gewalt-Szenario »an der Grenze des Anrüchigen«, da Leser und Leserin hier »die Perspektive eines Spielers [teilen], der an den beschriebenen virtuellen Gewalttaten keinen Anstoß nimmt, sondern Hochgefühle dabei empfindet, die anderen Spielfiguren zu eliminieren«.912 In Der Fall M rekapituliert der autofiktionale Erzähler den Mordfall der achtjährigen Michelle, der sich ganz in der Nähe seines Wohnorts im Leipziger Osten zutrug. Der Erzähler spricht dabei den Täter direkt an, versucht sich in seine Gedankenwelt zu versetzen und die Tat aus seiner Perspektive nachzuvollziehen. Auch hier erkennt Krumrey etwas Anstößiges »in dem Versuch, sich einer nicht rational nachvollziehbaren Handlung zu nähern sowie in der angedeuteten Nähe zwischen Erzähler und Täter«.913 Dabei lässt sie allerdings außer Acht, dass der Versuch des Erzählers, Tat und Täter zu verstehen, nur teilweise gelingt (»Und hier steig ich so langsam aus, auch wenn ich mir alle Mühe gebe, dich zu verstehen.«914) und dass sich der Erzähler mehrmals vom Täter distanziert (»Weißt du, Alkohol war bei meinem ersten Mädchen auch im Spiel, aber anders, weißt du, ganz anders…«915) oder gänzlich vom imaginierten Tatgeschehen abwendet (»…aber mehr kann ich nicht sehen, denn ich drehe mich weg hinten im Flur, Gesicht zur Wand, obwohl ich dir doch vorhin versprochen habe, dir über die Schulter zu schauen«916). Die Einnahme der Täterperspektive in diesen beiden Erzählungen mag eine provokante Dimension haben, es findet aber zu keinem Zeitpunkt eine Gleichsetzung von Täter und autofiktionalem Erzähler-Ich statt, wie von Krumrey suggeriert wird. In beiden Erzählungen wird der Blickwinkel des Täters nur unter den Anführungszeichen einer Imagination eingenommen: in German Amok im 911 912 913 914 915 916

Ebd., S. 177. Ebd., S. 187. Ebd., S. 188. Clemens Meyer: Gewalten. Ein Tagebuch. Frankfurt am Main 2010, S. 103. Ebd., S. 111. Ebd., S. 110.

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virtuellen Rahmen eines fiktiven Computerspiels, in Der Fall M mittels einer imaginierten Beobachtung des Täters. Die Annahme Krumreys, bei German Amok und Der Fall M handle es sich lediglich um Provokationen, welche die Wirklichkeitssuggestion der autofiktionalen Erzählweise relativieren sollen, verkennt die poetologische Aussagekraft dieser beiden Erzählungen. Im Zentrum dieser wie auch anderer Geschichten des Bandes steht nämlich vielmehr eine metareflexive Betrachtung der Aneignungsstrategien der Autorfigur. In Gewalten tritt die Erzählerfigur Clemens Meyer zuweilen dem Image des empirischen Autors entsprechend »als ›Rüpel‹, als Nachwuchsschriftsteller, der eine zwielichtige Vergangenheit hat und so gar nicht in den respektablen Literaturbetrieb zu passen scheint«,917 auf, was die Authentizitätserwartung steigert, dass hier jemand aus Erfahrungen erster Hand und einer genauen Milieukenntnis schöpft.918 An anderer Stelle ist, wie in German Amok und Der Fall M, die Autorfigur kein Selbst-Erlebender, sondern jemand, der fremde Stoffe literaturfähig macht, indem er recherchiert, beobachtet und versucht, sich in die Gedankenwelt anderer Menschen hineinzuversetzen. Dieses Nebeneinander von eigener Erfahrungswelt und Aneignung fremder Erfahrungswelten durch Recherche tritt bereits in den ersten beiden Erzählungen in all seinen Facetten zutage, weshalb diese hier einer kurzen Analyse unterzogen werden sollen. Die erste Erzählung, die wie der gesamte Erzählband den Titel Gewalten trägt, beginnt in einer psychiatrischen Anstalt, in welcher der autodiegetische Erzähler an ein Bett gefesselt ist und versucht, sich zu orientieren. In einer Analepse erfahren die Leser*innen, wie diese Ausgangssituation zustande kam: Nach einer Nacht in der Leipziger Cocktailbar Brick’s und einer Auseinandersetzung mit der Polizei landet der Erzähler, der als »Herr Meyer« angesprochen wird,919 zunächst in der Ausnüchterungszelle einer Polizeistation. Nachdem er, immer noch betrunken, androht, er würde sich aufhängen, wenn man ihn nicht telefonieren lasse, wird er in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie gebracht. Das Geschehen ist in der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember 2008 angesiedelt,920 die Titelgeschichte bekommt damit den Charakter einer Eröffnung des Jahres 2009, das den zeitlichen Erzählrahmen des Bandes bildet. Die Erzählweise ist geprägt von der Desorientierung des unter Alkohol- und Medikamenteneinfluss stehenden Protagonisten: Es wird achronologisch erzählt; auch die Analepse, die über die Vorgeschichte des unfreiwilligen Psychiatrieaufenthalts aufklärt, ist durchsetzt von Erinnerungen des Erzählers an frühere Reisen nach Amerika921 917 Krumrey: Der Autor in seinem Text, S. 191. 918 Vgl. ebd., S. 188: »Die eigene Erfahrung des Autors im Leipziger Osten der 1980er und 90er Jahre suggeriert eine gewisse Authentizität des Erzählten.« 919 Vgl. Meyer: Gewalten, S. 23. 920 Vgl. ebd., S. 6. 921 Vgl. ebd., S. 22.

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oder Frankfurt922, von Kindheitserinnerungen923 oder von Reflexionen über einen österreichischen Familienmörder.924 Immer wieder wird die Zeitebene unvermittelt gewechselt, indem die Analepse unterbrochen wird und sich die Perspektive wieder auf den am Bett fixierten Protagonisten richtet. Dabei bleibt unklar, wo genau der Erzählzeitpunkt der Geschichte zu verorten ist. Das Präsens, in dem hier erzählt wird, vermittelt den Eindruck unmittelbarer Gegenwärtigkeit, als ob es sich um eine direkte Wiedergabe des Gedankenstroms des gefesselten Erzählers in der Psychiatrie handelt. An einigen Textstellen wird jedoch deutlich, dass der tatsächliche Erzählzeitpunkt später zu verorten ist – etwa, wenn der Erzähler auf Sachverhalte hinweist, die er zum vermeintlichen Erzählzeitpunkt noch nicht wissen kann:925 »Und über all das denke ich nach, während ich da festgeschnallt im Bett liege und meine Arme irgendwie aus diesen Manschetten kriegen will und noch gar nicht wissen kann, dass da welche über den Gang stolpern und nach mir greifen […].«926 Im Text finden sich einige Wirklichkeitssignale, die den Protagonisten über die angedeutete Namensgleichheit hinaus mit dem empirischen Autor in Verbindung bringen. So wird etwa Meyers altersschwacher Hund erwähnt,927 der auch in Interviews mit dem Autor öfter zur Sprache kommt.928 Außerdem erinnert sich der Erzähler an einen Aufenthalt in der Jugendarrestanstalt Zeithain 1997.929 Hierbei handelt es sich ebenso um eine biographische Station von Clemens Meyer, die der interessierten Öffentlichkeit aus Interviews und Porträts bekannt sein kann.930 Das stärkste Wirklichkeitssignal wird paratextuell vermittelt. In einem Interview mit Ulrich Wickert, das in der Tageszeitung Die Welt abgedruckt wurde, gibt Meyer an, dass dem Inhalt der Titelgeschichte von Gewalten ein persönliches Erlebnis zugrunde liegt: Die Ausgangssituation war folgende: Ich geriet in eine Polizeikontrolle, man sperrte man [sic!] mich in eine Ausnüchterungszelle. Dort ließ man mich nicht telefonieren, und ich dachte: Man muss doch anrufen, damit man hier wieder rauskommt. Ich weiß, 922 923 924 925

926 927 928 929 930

Vgl. ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 18f. Vgl. ebd., S. 10f. Vgl. Krumrey: Der Autor in seinem Text, S. 179: »Narrative Prolepsen markieren jedoch, dass der Erzählzeitpunkt und die erzählte Gegenwart nicht übereinstimmen können; die Wahl des Präsens erweckt lediglich den Anschein eines gegenwärtigen Erlebens bzw. suggeriert ein erneutes Erleben in der retrospektiven Imagination«. Meyer: Gewalten, S. 9. Vgl. ebd. Vgl.: Meyer/Gathmann/Hoch: Unterschicht – was soll denn das sein?. Vgl. Meyer: Gewalten, S. 8. Vgl. Clemens Meyer im Gespräch mit Gerrit Bartels: »Ich sehe mich als Individualisten«. In: taz vom 21. 06. 2006, https://taz.de/!415860/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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dass man bis 0,8 oder 0,9 runternüchtern muss, bis sie einen wieder raus lassen. Ich hatte 2,8 oder 2,5, da würde es lange dauern. Und dann habe ich dummerweise in diese Gegensprechanlage gesagt: ›Wenn ich nicht telefonieren darf, hänge ich mich auf!‹ Nun hatte ich natürlich nicht die Absicht, das zu tun, aber wenn man das äußert – das weiß ich jetzt –, kommt man sofort in eine Psychiatrische Anstalt, egal, wie ernst man das meint.931

Dadurch, dass Meyer hier den Handlungsverlauf der Titelgeschichte mit einer autobiographischen Anekdote verknüpft, wird zum einen sein Image als rebellischer und trinkfester Nachtschwärmer bestätigt, gleichzeitig wird die Rezeptionspraxis der Gleichsetzung des empirischen Autors mit seinen literarischen Figuren befördert. Wie für die Protagonisten von Als wir träumten endet die Nacht hier für den Autor (bzw. für seinen literarisierten Avatar) in der Ausnüchterungszelle einer Polizeistation.932 Die autobiographische Beglaubigung der Erzählung lässt sich also als Ausdruck einer sowohl subjekt- als auch werkbezogenen Authentizität lesen. Vor allem aber scheint sie die These von der stoffspendenden Biographie als Grundlage für literarische Produktion zu bestätigen. Bereits in der zweiten Erzählung wird allerdings mit der Fokussierung des eigenen Erlebens als Quelle literarischen Stoffs gebrochen. Im Bernstein beginnt damit, dass der homodiegetische Erzähler, der hier erneut mit »Herr Meyer« angesprochen wird,933 am Leipziger Hauptbahnhof einen Besucher erwartet, mit dem er über ein mögliches Filmprojekt über das amerikanische Militärgefängnis in Guantanamo sprechen möchte. Nach einem längeren Gespräch über Filme präsentiert der namenlose Besucher dem Erzähler Recherchematerial zum Gefangenenlager. Kurz darauf bricht dieser Erzählstrang mitten im Satz ab. Anschließend wird eine kurze Szene erzählt, in der ein Mann in einem Räderwerk gefangen ist. Dies stellt sich schließlich als Traum des Erzählers heraus, der erwacht und sich an die Arbeit an seinem Drehbuch macht. Es folgt ein schneller Wechsel aus vom Erzähler imaginierten Filmszenen und der Beschreibung der eigenen Arbeit am Drehbuch auf der Grundlage von vorher zusammengetragenem Recherchematerial. Die Erzählung ist geprägt von einem häufigen, scheinbar assoziativen Wechsel der Erzählperspektive, die sich deutlich am filmischen Erzählen, an Schnitt- und Montagetechniken orientiert.934 Der Gedankenstrom des autofiktionalen Erzählers wird unvermittelt vom Bericht des fiktiven Gu-

931 932 933 934

Meyer/Wickert: Wir sind alle der Gewalt unterworfen. Vgl. Clemens Meyer: Als wir träumten. Roman. Frankfurt am Main 2006, S. 7. Vgl. Meyer: Gewalten, S. 29. Dies wird im Text mitunter explizit artikuliert, wenn etwa ein Szenenwechsel durch das Wort »Schnitt« markiert wird. Vgl. ebd., S. 39 u. 44.

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antanamo-Häftlings ›K.‹935 unterbrochen, der im Zentrum des Filmprojekts steht.936 Im Laufe der Erzählung verschwimmen die Grenzen zwischen den Fiktionsebenen, der Erzähler arbeitet so intensiv an seinem Text, dass er mit der Figur K. zu verschmelzen scheint: Ich taumele zum Spiegel. Der beschlägt kaum, wenn ich gegen ihn atme. Keine Luft. Sie stehlen mir die Luft. Mein Bild verschwimmt, was für ein Bart! […] Ich bin glatt rasiert, und meine Hände ziehen Schlieren über das Glas des Spiegels. Das bin ich und bin’s doch nicht. Wo ist das Zentrum? Mir wird die Luft knapp, wer macht so etwas, dass er einem die Luft zum Atmen klaut? Ich hab doch davon gelesen… Wir liegen am Boden der Zelle, am Boden dieses Raums, der von der Luftzufuhr abgeschnitten wurde, und denken an unsere Großmütter. Der Sauerstoffmangel führt uns durch die Zeit. Und Räume ändern sich, und wir wissen nicht, ist das hier oder woanders.937

Das glattrasierte Gesicht des Erzählers verschwimmt im Spiegel zum bärtigen Gesicht K.s und am Ende des Absatzes wird aus dem Ich des Erzählers ein K. inkludierendes Wir. In dieser Erzählung stehen nicht die persönlichen Erfahrungen des autofiktionalen Ichs im Vordergrund, sondern dessen Aneignungsprozess von fremden Erfahrungen mittels einer manischen Recherche- und Textarbeit. Diese Arbeit wird in Im Bernstein dokumentiert und schließlich mit der Foltererfahrung des fiktiven K. parallel geführt. Es beginnt mit den Mappen, die von dem geheimnisvollen Besucher übergeben werden und die bereits eine Sogwirkung auf den Erzähler ausüben.938 Im weiteren Verlauf wird sein Arbeitszimmer beschrieben, das »mit Skizzen, Notizen und Fotos tapeziert« ist.939 Der Erzähler wechselt sein Arbeitsgerät (von der Schreibmaschine940 zurück zum Laptop941) sowie seinen Arbeitsplatz (von seinem Arbeitszimmer zu einem Hotelzimmer942) – beides, um die Konzentration und damit auch die Immersion zu steigern. Die Aneignung des Filmstoffs führt dabei am Ende so weit, dass autofiktionale Erzählerfigur und fiktive Filmfigur für kurze Zeit miteinander verschmelzen. Liest man diese Szene 935 Die deutliche Kafka-Reminiszenz in der Namensgebung dieser Figur (man denke an die Protagonisten K. bzw. Josef K. in den Romanen Das Schloss und Der Proceß) lässt sich als ein weiteres bildungsbürgerliches Aufwertungssignal verstehen, das wie Meyers Verwendung des Epos-Begriffs (siehe S. 255 dieser Arbeit) ein Gegengewicht zur Prolet-Inszenierung des Autors bildet. 936 Vgl. Meyer: Gewalten, S. 43: »Und dann habe ich es, während ich die Wände meiner Wohnung weiter mit Fotos und Protokollen tapeziere, BEIM STEHEN MUSSTE ICH EINE WINDEL TRAGEN; die absolute Auflösung, der totale Wahnsinn, Raum und Zeit existieren nicht mehr, fünf Jahre.« 937 Ebd., S. 54. 938 Vgl. ebd., S. 39. 939 Ebd., S. 41. 940 Vgl. ebd., S. 43. 941 Vgl. ebd., S. 47. 942 Vgl. ebd.

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als poetologischen Kommentar, lässt sie sich als Inanspruchnahme jenes in Kapitel 3.1 thematisierten poetischen Aneignungsprozesses verstehen, in dessen Zuge sich der Autor fremde Erfahrungen durch das Schreiben selbst zu eigen macht. Die Verschmelzung, die Meyer hier literarisch darstellt, erinnert dabei an Koeppens Diktum, wonach die Lebensgeschichte Jakob Littners im Schreiben seine eigene geworden sei.943 Sowohl in Im Bernstein als auch in der Titelgeschichte Gewalten steht die Gefangenen-Thematik im Vordergrund,944 und in beiden Erzählungen verschwimmt die Wahrnehmung der homodiegetischen Erzähler. Der auffälligste Unterschied zwischen diesen beiden Texten besteht darin, dass in Gewalten das eigene Erleben der Autorfigur im Zentrum steht, das zudem paratextuell als persönliche Erfahrung des empirischen Autors ausgewiesen wird, während Im Bernstein auf eine Erlebniswelt rekurriert, die weder die fiktionalisierte Autorfigur noch der empirische Autor Clemens Meyer aus eigener Anschauung kennt. Ähnlich wie in Der Fall M wird Meyer hier nicht als Erlebender präsentiert, sondern als Rechercheur, der sich in die Gedankenwelt seiner Protagonisten hineinversetzt. Dieser Aneignungsprozess wird als so intensiv dargestellt, dass die Grenze zwischen fremder und eigener Gedankenwelt kurzzeitig verschwimmt.945 Auch wenn die Titelgeschichte von Gewalten. Ein Tagebuch durchaus Meyers Image des trink- und rauflustigen Proleten reproduziert und die Annahme einiger Rezensent*innen zu bestätigen scheint, dass der Autor hauptsächlich aus eigener Erfahrung und Milieukenntnis schöpft, so wird diese Lesart bereits in der darauffolgenden Erzählung konterkariert oder zumindest ergänzt. Das in diesem Band textuell inszenierte Bild des Schriftstellers erschöpft sich nicht in der Darstellung von authentischem Erleben und der Beobachtung des eigenen Milieus. Bei Meyer schöpft der Autor sowohl aus eigenen als auch aus fremden Erfahrungen, die er sich durch Recherche und Einfühlungsvermögen zu eigen macht. Egal ob eigene Erfahrungen oder recherchierte Geschehnisse die Basis bilden: Im Zentrum von Meyers textueller Selbstinszenierung in Gewalten steht der Aneignungsprozess des Stoffes. Dieser muss nämlich unabhängig von seinem Ursprung künstlerisch fruchtbar gemacht werden. Recherche und Erfahrung 943 Vgl. Koeppen: Jakob Littners Aufzeichnungen aus einem Erdloch, S. 6. 944 Durch die eingestreuten O-Töne der fiktiven Gefangenen-Figur in Im Bernstein wird zudem ein direkter Bezug zur Ausgangssituation der vorangegangenen Erzählung Gewalten hergestellt. Vgl. Meyer: Gewalten, S. 41: »ICH WACHTE AUF UND WAR NACKT AUF EIN BETT GEFESSELT IN EINEM WEISSEN RAUM«. 945 Dabei scheint die Recherche der Autorfigur in Im Bernstein gar nicht besonders intensiv zu sein. Weder fährt der fiktionalisierte Clemens Meyer an den Ort des Geschehens, noch führt er Interviews mit ehemaligen Insassen von Guantanamo. Die Aneignung der fremden Erfahrung gelingt bei ihm nur durch das Sammeln und Rezipieren von Text- und Bildmaterial und der Fiktionalisierung des vorhandenen Stoffs.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

stehen sich deshalb auch nicht als Gegensatzpaar gegenüber, vielmehr werden sie hier als gleichberechtigte potentielle Quellen literarischen Materials dargestellt. Dieses Material in Kunst zu verwandeln, wird als die eigentliche Arbeit des Schriftstellers dargestellt. Das Autorschaftskonzept, mit dem sich Meyer hier inszeniert, lässt sich ähnlich wie bei Christian Kracht und Clemens Setz, wenn auch in anderer Form, als Teil eines Doppelspiels aus Bestätigung und Subversion der Authentizitätszuschreibung bezeichnen. Denn zum einen reproduziert Meyer durch sein habituelles Auftreten, seine Sujetwahl und die Literarisierung persönlicher Erfahrung sein Bild in der Öffentlichkeit und bestätigt damit implizit die an ihn gerichteten Authentizitätserwartungen; zum anderen betont er in Interviewaussagen wie auch in den poetologisch angelegten Erzählungen in Gewalten die Wichtigkeit der Recherche und der Imagination im literarischen Produktionsprozess, womit er den Erwartungen an biographische Authentizität und eine Autorisierung durch Gruppenzugehörigkeit zumindest in Teilen eine Absage erteilt. Die habituellen Inszenierungspraktiken Meyers überdecken dabei in der öffentlichen Wahrnehmung des Autors dessen poetologisches Selbstverständnis, nach dem die Bezugnahme auf persönliche Erfahrungen und biographisches Wissen nur einen Baustein seiner Werkgenese darstellt, aber nicht deren Fundament: »Mir ist es darauf angekommen, über das Persönliche hinaus die Welt in die Texte hineinzuholen – die reale und auch eine surreale Welt. Das war mir auch bei meinen beiden ersten Büchern schon wichtig: nicht nur vom Ich zu schreiben.«946 Meyers eigener Anspruch an seine literarischen Texte geht also weit über den einer realistischen Milieustudie hinaus. Da sich aber in vielen seiner Texte auf den ersten Blick allein durch die Wahl des Sujets eine Verbindung zwischen Meyers Biographie und seinen habituellen Inszenierungspraktiken herstellen lässt, wird kein Bruch mit der Authentizitätsnorm wahrgenommen, sondern Meyer gilt weiterhin als Prototyp eines authentischen Autors.

3.5

Authentizität und Geschlecht

Die Bedeutung der Geschlechtsidentität für die Zuschreibung bzw. die Inszenierung von Authentizität wurde im Vorigen bereits an mehreren Stellen deutlich, weshalb die Gelegenheit genutzt werden soll, um nicht nur die bisherigen Ergebnisse um ein weiteres Paradigma der Authentizitätsinszenierung zu ergänzen, sondern im Rahmen eines synoptischen Abschlusskapitels gleichsam 946 Clemens Meyer im Gespräch mit Andreas Montag: Lieber geht man zu weit als gar nicht. In: Berliner Zeitung vom 17. 03. 2010, http://www.berliner-zeitung.de/15057520, zuletzt abgerufen am 28. 04. 2017 (nicht mehr abrufbar).

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das Ineinanderwirken der verschiedenen (Teil-)Diskurse zu veranschaulichen. Zu diesem Zweck werden im Folgenden vor allem jene Beispiele herangezogen, die bereits Gegenstand der vorangegangenen Untersuchungen gewesen sind. Denn wie eingangs des Analyseteils dieser Arbeit betont wurde, handelt es sich bei den verschiedenen Teildiskursen des Authentizitätsdiskurses nicht um in sich geschlossene, autonome Systeme.947 Auch wenn in unterschiedlichen Zusammenhängen verschiedene Facetten des überaus vagen Bedeutungsspektrums des Authentizitätsbegriffs transportiert werden, kommt es doch immer wieder zu Überlappungen und Überschneidungen der einzelnen Teildiskurse. Ganz besonders deutlich zeigt sich das für den Bereich ›Authentizität und Geschlecht‹, vor allem, weil geschlechtsspezifische Zuschreibungen häufig auch dort eine Rolle spielen, wo vordergründig ein anderes Thema im Zentrum steht, wie sich im Folgenden zeigen wird. In diesem Sinne bietet es sich an, anhand der geschlechtsspezifischen Inszenierung von Authentizität die Verbindungslinien zwischen den zuvor untersuchten Phänomenen nachzuzeichnen und so gleichzeitig bereits erarbeitete Erkenntnisse zusammenzufassen. Dieses Vorgehen ist vor allem deshalb naheliegend, weil die Verbindung zwischen Geschlechts- und Authentizitätsdiskurs grundsätzlicher Natur ist. Geht man davon aus, dass das Subjekt primär geschlechtlich bestimmt ist, liegt der Gedanke nahe, dass auch die Authentizität des Subjekts, von der in subjektauthentischen Annahmen die Rede ist, geschlechtlich bestimmt ist. Dabei wird in der poststrukturalistischen Denkrichtung, die sich spätestens seit den 1990er Jahren innerhalb der geschlechtertheoretischen Forschung als dominant erwiesen hat, davon ausgegangen, dass Geschlechtsidentität keinen ontologischen Status hat, sondern diskursiv erzeugt wird.948 Nach Judith Butler ist es nicht das prima facie des medizinisch als männlich oder weiblich identifizierten Körpers, das die Geschlechtsidentität bestimmt, sondern »die wiederholte Stilisierung des Körpers, ein Ensemble von Akten, die innerhalb eines äußerst rigiden regulierenden Rahmens wiederholt werden, dann mit der Zeit erstarren und so den Schein der Substanz bzw. eines natürlichen Schicksals des Seienden hervorbringen«.949 Butler charakterisiert diese Akte als performativ insofern, »als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr 947 Siehe die Einführung zu Teil 3 dieser Arbeit. 948 Nach Judith Butler wird nicht nur die Geschlechtsidentität (gender), sondern auch das anatomische Geschlecht (sex) diskursiv erzeugt. Nach ihrer Theorie »gibt es keinen Rückgriff auf den Körper, der nicht bereits durch kulturelle Bedeutungen interpretiert ist«, weshalb »das Geschlecht (sex) definitionsgemäß immer schon Geschlechtsidentität (gender) gewesen ist«. (Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991, S. 26.) Dieser Einschätzung wird hier im Wesentlichen gefolgt, weshalb die Begriffe ›Geschlecht‹ und ›Geschlechtsidentität‹ im Folgenden synonym im Sinne von gender verwendet werden. 949 Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 60.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

durch leibliche Zeichen und andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen sind«.950 Die Performanz der Hervorbringung und Festschreibung von Geschlechtsidentitäten zeigt sich allerdings nicht nur in den Akten, Gesten und Inszenierungen des betreffenden Subjekts. Anknüpfend an Simone de Beauvoirs berühmtes Diktum »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es«951 begreift Butler den als Feststellung vorgetragenen Ausspruch ›Es ist ein Mädchen!‹ kurz nach bzw. im Vorfeld der Geburt als einen Sprechakt mit normativer Wirkung. Durch die performative Festlegung der sprachlichen Geschlechtszuschreibung beginnt somit die Wirkung einer Norm, die durch rituelle Wiederholungen verfestigt wird.952 Es lassen sich also deutliche Parallelen zwischen dem Butler’schen Verständnis von Geschlechtsidentität und dem hier verfolgten Ansatz erkennen. Sowohl ›Authentizität‹ als auch ›Geschlecht‹ sind demnach als diskursive Konstruktionen zu verstehen, die durch Zuschreibungen bzw. durch performative Akte (die sich durchaus auch als eine basale Form internalisierter Inszenierungspraktiken verstehen lassen) hervorgebracht werden. Entsprechend ist für Butler auch die Vorstellung eines ›authentischen‹ Ausdrucks der Geschlechtsidentität, die auf die vermeintliche Essenz der geschlechtlichen Zugehörigkeit verweist, eine diskursiv hervorgebrachte Konstruktion, was aber »nicht deren Scheinhaftigkeit oder Künstlichkeit [behauptet], denn diese Begriffe sind Bestandteile eines binären Systems, in dem ihnen das ›Reale‹ und Authentische gegenüberstehen«.953 Vielmehr geht es ihr darum, »zu begreifen, wie die Plausibilität dieser binären Beziehung diskursiv hervorgebracht wird«, und in diesem Zuge darzulegen, »daß bestimmte kulturelle Konfigurationen der Geschlechtsidentität die Stelle des ›Wirklichen‹ eingenommen haben und durch diese geglückte Selbst-Naturalisierung ihre Hegemonie festigen und ausdehnen«.954 In diesem Sinne lassen sich durchaus Formen einer ›authentischen Geschlechtsidentität‹ erkennen und beschreiben, nur dass weder das Authentische noch das Geschlechtliche einen ontologischen Status haben, sondern diskursiv erzeugt werden. Entsprechend soll es in den nun folgenden Untersuchungen darum gehen, wie literarisch vermittelt Formen einer geschlechtsspezifischen Authentizität inszeniert werden. ›Geschlechtsspezifische Authentizität‹ meint hier vor allem die performative Beglaubigung binärer Geschlechtsidentitäten mit besonderem Verweis auf deren vermeintlich essentialistischen Charakter, mithin also um den 950 Ebd., S. 200. 951 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg 1951, S. 265. 952 Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Berlin 1995, S. 26. 953 Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 60. 954 Ebd.

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Ausdruck des ›wahrhaft‹ Weiblichen bzw. Männlichen. Dabei gehen die zu untersuchenden Inszenierungspraktiken darüber hinaus, was Jürgensen und Kaiser in ihrer Typologie unter ›performative Inszenierungspraktiken‹ subsumieren,955 vielmehr sind auch in diesem Zusammenhang alle habituellen sowie paratextuelle und textuelle Formen der Inszenierung relevant, wobei auf textueller Ebene zusätzlich zwischen der Darstellung von geschlechtsspezifischer Authentizität und einer geschlechtsspezifischen Ästhetik zu unterscheiden ist. Während die textuellen Inszenierungspraktiken auf der Ebene der histoire vor allem die Darstellung verschiedener Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte innerhalb der Diegese beinhaltet, die eine authentische Form der Männlichkeit bzw. Weiblichkeit ausdrücken wollen, geht es auf discours-Ebene um die häufig diskutierte Frage, ob es eine dezidiert männliche bzw. weibliche Schreibweise geben kann, also eine geschlechtsspezifische Produktionsästhetik als Ausdruck ›authentischer‹ Männlichkeit bzw. Weiblichkeit.956 Die Untersuchung bewegt sich dabei bewusst in dem binären Muster aus ›männlich‹ und ›weiblich‹, jedoch nicht im Sinne einer beglaubigenden Reproduktion, sondern um die literarisch vermittelten Authentifizierungsstrategien, die der Beglaubigung dieser Binarität zugrunde liegen, adäquat betrachten zu können, ohne sie von vornherein als essentialistische Konstruktion zu verwerfen. Dementsprechend bildet auch die Aufteilung dieses Kapitels die Zweigeschlechtlichkeit ab: Steht im ersten Teil die Frage nach einer weiblichen Ästhetik in der Gegenwartsliteratur im Zentrum, geht es im zweiten Teil um die literarische Repräsentation von neuen und alten Männlichkeitskonzepten. In einem dritten Teil wird schließlich der Fall eines erzählerischen Perspektivwechsels in den Blick genommen, in dem die geschlechtliche Codierung von Autor und Erzählinstanz voneinander abweichen.

955 Vgl. Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 13f. 956 Eine solche männliche bzw. weibliche Schreibweise ließe sich natürlich nicht vollständig unabhängig von der histoire-Ebene charakterisieren, insofern dass eine geschlechtsspezifische Ästhetik auch Einfluss auf die Darstellung von Geschlechtlichkeit innerhalb der Diegese hätte. Bei der Unterscheidung zwischen discours- und histoire-Ebene handelt es sich also in diesem Zusammenhang lediglich um eine Orientierungshilfe, die zwischen dem ›Was‹ einzelner Erzählelemente und dem ›Wie‹ einer umfassenden Erzählhaltung unterscheiden soll.

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3.5.1 Écriture féminine des 21. Jahrhunderts? Der Körper als Echtheitssiegel weiblichen Schreibens bei Helene Hegemann, Charlotte Roche und Isabelle Lehn Insbesondere in den beiden Jahrzehnten bevor Butlers Theorie den ontologischen Status einer binären Geschlechtsidentität infrage stellte, war die Frage, ob es eine spezifisch weibliche Ästhetik geben kann, virulent innerhalb der sich gerade konstituierenden feministischen Literaturwissenschaft.957 Die Einsicht, dass die Kulturgeschichte der westlichen Zivilisation fast durchgehend als männlich geprägt zu charakterisieren ist, führte zu dem Anliegen, dieser Prägung etwas dezidiert Weibliches entgegenzusetzen. Entsprechend begann man mit der Suche nach einer Form der literarischen Kommunikation, die das authentisch (weil nicht von der männlich geprägten Tradition der Kulturproduktion beeinflusste) Weibliche zum Ausdruck bringt. Dabei herrscht jedoch innerhalb der feministischen Forschungsgemeinschaft nicht nur große Uneinigkeit darüber, wodurch sich eine weibliche Ästhetik auszeichnet, sondern auch wie weit die männliche Prägung der Kulturproduktion reicht. So sehen einige Vertreter*innen der feministischen Interpretationspraxis die Grenze der weiblichen Ausdrucksmöglichkeit bereits darin, »daß ›Weiblichkeit‹ im Text niemals außerhalb des ›männlich‹ codierten Repräsentationssystem Schrift problematisiert werden kann«.958 Anderen, wie der feministischen Literaturwissenschaftlerin Silvia Bovenschen, geht es weniger um die grundsätzliche Neuordnung von Kulturgeschichte oder -produktion, sondern um die Andersartigkeit des weiblichen Erlebens, die ihren Ausdruck in einer spezifischen Ästhetik finden sollte: »Gibt es eine weibliche Ästhetik? Ganz gewiß, wenn die Frage das ästhetische Sensorium und die Formen sinnlichen Erkennens betrifft; sicher nicht, wenn darunter eine aparte Variante der Kunstproduktion oder eine ausgeklügelte Kunsttheorie verstanden wird.«959 Bovenschen geht also von einer Andersheit von Wahrneh957 Eine Übersicht der verschiedenen Forschungspositionen innerhalb des feministischen Diskurses findet sich in Nicole Masanek: Männliches und weibliches Schreiben? Zur Konstruktion und Subversion in der Literatur. Würzburg 2005, S. 17–53. 958 Christine Kanz: Postmoderne Inszenierungen von Authentizität? Zur geschlechtsspezifischen Körperrhetorik der Gefühle in der Gegenwartsliteratur. In: Henk Habers (Hg.): Postmoderne Literatur in deutscher Sprache: eine Ästhetik des Widerstands? Amsterdam 2000, S. 123–153, hier S. 129. Die Ansicht, sich als Frau bereits durch die Ausdrucksform des Schreibens auf männlich codiertem Terrain zu bewegen, drückt auch Elfriede Jelinek in einem Interview mit der taz aus, wenn sie sagt, »daß ich mich, indem ich schreibe, faktisch zum Mann gemacht habe«. (Elfriede Jelinek im Gespräch mit Dieter Bandhauer: Dieses vampirische Zwischenleben. In: taz vom 09. 05. 1990, https://taz.de/!1769022/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.) 959 Silvia Bovenschen: Über die Frage: gibt es eine weibliche Ästhetik? In: Gabriele Dietze (Hg.): Die Überwindung der Sprachlosigkeit. Texte aus der neuen Frauenbewegung. Darmstadt/ Neuwied 1979, S. 82–115, hier S. 112.

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mung und Erleben der Frau aus, weshalb sich auch in der Kunst »andere Imaginationen und Ausdrucksformen erwarten« lassen,960 die Notwendigkeit, eine Theorie der weiblichen Ästhetik zu entwickeln, sieht sie jedoch nicht. Eben dieses Ziel verfolgen hingegen mit Luce Irigaray und Hélène Cixous zwei der einflussreichsten feministischen Theoretikerinnen aus dem französischsprachigen Raum. Irigaray geht dabei den Weg über das Sprechen (parler femme), während Cixous ihr Augenmerk auf das Schreiben richtet (écriture féminine). Was beide verbindet, ist der starke Bezug zum (weiblichen) Körper. Irigaray entwirft mit dem parler femme »ein multifunktionales, plurales Sprechen, das dem männlich-phallischen Diskurs, der klare und eindeutige Sinnsetzungen tätigt, nicht nur diametral entgegensteht, sondern alle (männliche) Logik und Begrifflichkeit auseinander brechen lässt«.961 Der phallischen Logik der Einheit setzt sie dabei die autorerotische Berührung der ›zwei Lippen‹ der Frau entgegen: Die Frau ›berührt sich‹ immerzu, ohne daß es ihr übrigens verboten werden könnte, da ihr Geschlecht aus zwei Lippen besteht, die sich unaufhörlich aneinander schmiegen. Sie ist also in sich selbst schon immer zwei, die einander berühren, die jedoch nicht in eins (einen) und eins (eine) trennbar sind.962

Der geschlechtlich bestimmte Körper wird hier zum Ausweis für die Alterität weiblichen Sprechens und damit indirekt zum Authentizitätsmerkmal. Diese Ableitung eines besonderen weiblichen Sprechens aus anatomischen Merkmalen des Körpers hat Irigaray nicht nur den Vorwurf eingebracht, den cartesianischen Dualismus aus (weiblich codiertem) Körper und (männlich codiertem) Geist zu reproduzieren,963 sondern auch, ein biologistisch geprägtes Konzept von Weiblichkeit zu vertreten.964 Cixous hingegen bestimmt im Rahmen ihres Konzepts einer écriture feminine »das schreibende Subjekt nicht primär biologisch-geschlechtlich, was ihr erlaubt zu schlussfolgern, dass auch Männer, wenn sie denn Zugang zum KörperlichImaginären finden, weiblich-subversiv schreiben können«.965 Dennoch geht es auch ihr um ein »körpernahes Sprechen«, das »in einem oppositionellen Verhältnis zur männlichen ›Ökonomie des Selben‹, zu einem vom Körper entfremdeten Sprechen steht«.966 So kommt auch Cixous zu dem Schluss, »daß eine 960 961 962 963

Ebd., S. 91. Masanek: Männliches und weibliches Schreiben?, S. 39. Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist. Berlin 1979, S. 23. Einen ähnlichen Vorwurf richtet Butler bereits an Beauvoir. Vgl. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 31. 964 »Letztendlich bleibt die Frau auch bei Irigaray auf das reduziert, was sie schon bei Lacan war: auf ihren Körper.« (Masanek: Männliches und weibliches Schreiben?, S. 40.) 965 Masanek: Männliches und weibliches Schreiben?, S. 41. 966 Ebd.

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Frau nicht schreibt wie ein Mann, weil sie mit dem Körper spricht. Das Schreiben kommt vom Körper. […] Das Schreiben ähnelt deinem Körper und ein Frauenkörper funktioniert nicht wie ein Männerkörper«.967 Anders als bei Butler wird in den Ansätzen von Irigaray und Cixous der Körper zum a priori kultureller Einschreibung erklärt, wodurch er sich als Quelle eines authentischen Ausdrucks von geschlechtlich bestimmter Identität qualifiziert. Durch die enge Verbindung, die beide Theoretikerinnen zwischen Körper und Schreiben bzw. Sprechen ziehen, erhält nicht nur der Körper des Subjekts den Status einer diskursiv unabhängigen, weil ›natürlichen‹ Gegebenheit, sondern auch der individuelle Ausdruck des Subjekts. Die Kulturtechnik des Schreibens wird damit zum unmittelbaren Ausdruck einer (ontologisch bestimmten) Körperlichkeit stilisiert und erhält auf diese Weise die Aura des Authentischen. Feuchtgebiete und Axolotl Roadkill als Renaissance der écriture féminine? Für Christine Kanz ist eine solche »sowohl die Literatur als auch die Kulturtheorie noch der siebziger und achtziger Jahre beherrschende Auffassung des Körpers als Authentizitätsgaranten«968 ein Konzept, das auch in Texten der Gegenwartsliteratur noch umgesetzt wird.969 Und auch Tanja Prokic´ sieht eine Traditionslinie der écriture féminine, die bis in die Gegenwart hineinreicht und in der sie die beiden in dieser Arbeit behandelten Romane Feuchtgebiete von Charlotte Roche und Axolotl Roadkill von Helene Hegemann verortet.970 Die Begründung für diese Zuordnung fällt bei den beiden Texten jedoch sehr unterschiedlich aus. Während Prokic´ im Fall von Roche vor allem mit der Darstellung des Körperempfindens und der »hochgradig identifikatorische[n] Rezeption des Romans« argumentiert,971 sich also vor allem auf die histoire- und die Rezeptionsebene des Romans bezieht, sieht sie im Fall von Hegemanns Axolotl Roadkill die Elemente weiblichen Schreibens vor allem auf der discours-Ebene in Form von einer subversiven Textstrategie: Von Cixous’ Konzept einer écriture féminine lässt sich eine Linie zu Axolotl Roadkill ziehen. Die textuelle Strategie entzieht sich einer eindeutigen Chronologie der Hand-

967 Hélène Cixous: Die unendliche Zirkulation des Begehrens. Köln 1977, S. 57. 968 Kanz: Postmoderne Inszenierungen von Authentizität?, S. 137. 969 Ebd., S. 138. Mit Blick auf das Veröffentlichungsdatum von Kanz’ Beitrag ist dies eine Einschätzung, die naturgemäß nur auf die 1990er Jahre bezogen werden kann. 970 Vgl. Tanja Prokic´: Skandal oder trivial? Helene Hegemann, Charlotte Roche und das Erbe der écriture féminine. In: Bartl/Kraus (Hg.): Skandalautoren, S. 395–415, hier vor allem S. 402–408. 971 Ebd., S. 403.

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lung, sie setzt dagegen eine heterogene Textstruktur, welche zwischen Anschlüssen fiktionaler und extradiegetischer Natur changiert.972

Diese Charakterisierung, die sich vor allem auf den »authentischen Duktus« in Hegemanns Roman bezieht, der sich aus einem »Nebeneinander von reflexivem Diskurs, exzessiver Jugendsprache und einer heterogenen Textstruktur« ergebe,973 scheint jedoch etwas zu vage, um die Einordnung in eine Traditionslinie der écriture féminine zu rechtfertigen. Zwar zählen laut dem Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie »die Auflösung von Gattungsgrenzen, die Unabgeschlossenheit des Textes […], ein nichtlineares Erzählen, Dialogizität, syntagmatische und grammatikalische Brüche sowie die Betonung der Materialität der Sprache über Rhythmus und Homophonie« zu den wesentlichen Merkmalen der écriture féminine,974 jedoch können all diese Merkmale schwerlich als Alleinstellungsmerkmal von Cixous’ Konzept gelten. Wäre eine nichtlineare, heterogene Struktur ausreichend, um einen Text in der Tradition einer weiblichen Schreibweise zu verorten, müsste man einen Großteil der (männlich geprägten) literarischen Moderne und vor allem der (nahezu ebenso männlich geprägten) Postmoderne in diese Traditionslinie stellen, was letztlich zu einer Verwässerung des Konzepts führen würde. Zudem erscheint es widersinnig, einen Text, der so ostentativ seine Skepsis gegenüber Konzepten subjektiver wie objektiver Authentizität ausstellt,975 in die Tradition des literarischen Ausdrucks ›authentischer‹ Weiblichkeit zu stellen. Die von Prokic´ ins Feld geführte heterogene Textstruktur, die zwischen fiktionalen und realweltlichen Bezügen oszilliert, ließe sich demnach viel eher im Sinne von Butler als »Pastiche-Effekt jener parodistischen Verfahren, die das Original, das Authentische und das Reale selbst als Effekt darstellen«, begreifen.976 Plausibler hingegen ist Prokic´s Argumentation in Bezug auf Roches Feuchtgebiete. Zwar setzt der eher konventionell und linear erzählte Text die oben aufgeführten Strukturmerkmale der écriture féminine in deutlich geringerem Maße um als Axolotl Roadkill, dennoch gelingt es Prokic´ einige Elemente herauszuarbeiten, die auf eine erkennbare Nähe zur Konzeption eines weiblichen Schreibens bzw. Sprechens schließen lassen. So zum Beispiel die »vornehmlich naive Suche nach einer Versprachlichung der weiblichen Sexualität bzw. Geschlechtsorgane«.977 Helen Memels Neubezeichnung ihrer Geschlechtsorgane als

972 Ebd., S. 406. 973 Ebd., S. 408. 974 Doris Feldmann/Sabine Schülting: Écriture féminine. In: Nünning (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 148. 975 Siehe Kapitel 3.2.1 dieser Arbeit. 976 Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 215. 977 Prokic´: Skandal oder trivial?, S. 403.

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»Vanillekipferl«, »Hahnenkämme« und »Perlenrüssel«978 lässt sich durchaus im Sinne Irigarays als eine Form des parler femme werten, in der versucht wird, den weiblichen Körper einer phallisch-logozentrischen Sprache zu entziehen, um so ein originär weibliches Sprechen zu ermöglichen. Die in Feuchtgebiete erzeugte Unmittelbarkeit durch den Mündlichkeit suggerierenden Bewusstseinsstrom befördert zusätzlich den Eindruck, dass es hier um eine Selbstermächtigung durch eine besondere Form des Sprechens geht. Wie bereits im Kontext der Artikulation des Ungesagten deutlich gemacht wurde, wird dem Aussprechen von tabuisierten (also den Normen männlich geprägter Sprachregulationen zuwiderlaufenden) Sachverhalten sowohl im Rahmen der Figurenrede von Helen als auch der paratextuellen Inszenierung von Roche eine therapeutische Wirkung zugeschrieben.979 Prokic´ argumentiert weiter, dass beide Romane zwar in der Tradition der écriture féminine stehen, gleichzeitig aber deren Scheitern exemplarisch vor Augen führen.980 Die Hauptsymptomatik dieses Scheiterns glaubt Prokic´ in einem Verharren der beiden Hauptfiguren »in einem Zustand der Adoleszenz« zu erkennen.981 Im Fall von Axolotl Roadkill wird die Weigerung, erwachsen zu werden, durch die Protagonistin Mifti explizit artikuliert (»Ich weiß komischerweise genau, was ich will: nicht erwachsen werden.«982) und erhält durch die metaphorische Bedeutung des titelgebenden Axolotl, ein im Zustand der Larve verharrender Schwanzlurch, eine leitmotivische Bedeutung (»Ein Babyaxolotl. Es hat das freundlichste Lächeln des ganzen Planeten, nimm es mit. Sieht aus wie eine Comicfigur, hat keine großen Ansprüche an irgendetwas und bleibt sein gesamtes Leben lang im Lurchstadium, das heißt, es wird einfach nicht erwachsen. Krass, oder?«983). Entsprechend besitzen für Hegemanns Roman der Adoleszenzdiskurs und die damit verbundenen Phänomene von Vorläufigkeit und Unabgeschlossenheit eine deutlich prägendere Bedeutung als die Frage nach einem authentischen Entwurf erwachsener Weiblichkeit. In Roches Feuchtgebiete hingegen lässt sich, wie im Vorigen herausgearbeitet wurde, durchaus eine Entwicklung nachzeichnen, die im Erwachsenwerden der Hauptfigur mündet: Helen überwindet sowohl ihre Scham als auch ihr Kindheitstrauma, emanzipiert sich endgültig von ihren Eltern und dem infantilen Wunsch ihrer Wiedervereinigung und ist in der Lage, eine erwachsene Beziehung mit dem Pfleger Robin einzugehen.984 Prokic´ hingegen sieht in Helens nicht auf 978 979 980 981 982 983 984

Roche: Feuchtgebiete, S. 22. Siehe Kapitel 3.3.2 dieser Arbeit. Prokic´: Skandal oder trivial?, S. 409. Ebd. Hegemann: Axolotl Roadkill, S. 15. Ebd., S. 136. Siehe S. 204f. dieser Arbeit.

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Reproduktion angelegter Sexualität einen Hinweis auf ihr Verharren in der Adoleszenz-Phase.985 Trotz Kinderwunsch hat sich Helen mit Erreichen der Volljährigkeit sterilisieren lassen, um eine von ihr als pathologisch empfundene Genealogie abzubrechen: Ich will wirklich, seit ich denken kann, ein Kind haben. Es gibt aber bei uns in der Familie ein immer wiederkehrendes Muster. Meine Urgroßmutter, meine Oma, Mama und ich. Alle Erstgeborene. Alle Mädchen. Alle nervenschwach, gestört und unglücklich. Den Kreislauf habe ich durchbrochen. Dieses Jahr bin ich achtzehn geworden und habe schon lange drauf gespart. Einen Tag nach meinem Geburtstag, sobald ich ohne Erlaubnis durfte, habe ich mich sterilisieren lassen.986

Als Ersatz für die verloren gegangene Fähigkeit, Kinder auf die Welt zu bringen, züchtet Helen Avocado-Bäume aus Kernen, die sie zuvor in ihre Vagina eingeführt und wieder herausgepresst hat: »Näher komme ich an eine Geburt nicht ran. Ich habe mich monatelang um diesen Kern gekümmert. Hatte ihn in mir und hab ihn wieder rausgepresst. Und ich kümmere mich perfekt um meine so entstandenen Avocadobäume.«987 Prokic´ sieht den Akt weiblicher Selbstermächtigung, der in der Sterilisationsentscheidung liegt, »durch das Supplement der Avocado zwar humoristisch, aber auch eindeutig pathografisch aufgelöst«.988 Dabei lässt sich die AvocadoEpisode viel eher als Teil der Selbstermächtigungsstrategie der Erzählerin deuten, die es ihr ermöglicht, die (in ihrem Fall als toxisch empfundene) soziale Dimension der Mutterschaft zu eliminieren und gleichzeitig die Illusion eines fruchtbaren Körpers als biologische Dimension von Mutterschaft zu erhalten. Das Gebären der Avocado-Kerne ersetzt so das für Helens Weiblichkeitsvorstellungen essentielle Element des gebärenden Körpers, der in der Lage ist, neues Leben hervorzubringen. Diese durchaus essentialistisch geprägte Aufwertung der körperlichen Disposition der Frau gegenüber ihrer sozialen Rolle schlägt sich im Gesamtkontext des Romans in einer zweiwertigen Semantisierung von Weiblichkeitszuschreibungen nieder. Auf der einen Seite werden ›Rasierzwang‹,989 Reinlichkeits- und Keuschheitsvorstellungen als diskursiv hervorgebrachte, künstliche Regulationen des weiblichen Körpers vorgestellt, während auf der anderen Seite Menstruation, Masturbation und Fruchtbarkeit als ›natürliche‹ Elemente des Authentisch-Weiblichen inszeniert werden.

985 986 987 988 989

Vgl. Prokic´: Skandal oder trivial?, S. 409. Roche: Feuchtgebiete, S. 40f. Ebd., S. 40. Prokic´: Skandal oder trivial?, S. 410. Vgl. Roche: Feuchtgebiete, vor allem S. 9f.

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Gegen den Körper anschreiben – Isabelle Lehn: Frühlingserwachen (2019) Ein ganz anderes Bild des weiblichen Körpers – wenngleich mit ähnlichen Elementen – entwirft Isabelle Lehn in ihrem autofiktionalen Roman Frühlingserwachen. Die sechsunddreißigjährige Ich-Erzählerin Isabelle Lehn ist nicht nur namensidentisch mit der empirischen Autorin, sondern ebenfalls Schriftstellerin. Während sie sich mit befristeten Anstellungen in der Wissenschaft über Wasser hält, wartet sie auf die Veröffentlichung ihres ersten Romans und ist im Alltag vor allem mit Beziehungsproblemen, der Unsicherheit hinsichtlich ihres Kinderwunsches und dem Kampf gegen ihre Depressionen beschäftigt. Der fragmentierte Bewusstseinsstrom der Erzählerin kreist dementsprechend vor allem um das eigene Schreiben, das Altern und den Zustand ihres Körpers. Anders als in Roches Feuchtgebiete wird der weibliche Körper in Frühlingserwachen jedoch vor allem als dysfunktional vorgestellt: Ich schäme mich, einen Körper zu haben, der ständig sichtbar ist. Jedermann kann sehen, wie er versagt. Ständig gibt er ein Bild ab, und es gelingt mir nicht, es zu kontrollieren. […] Mein Körper, der schmerzt, zu viel Blut verliert und ab fünfunddreißig Jahren lebensbedrohlich wird, wenn er nicht regelmäßig zum Check-up geht. Mein Körper, in dessen Erbgut der Tod schlummert. Mein Körper, der sich ständig verliebt, um sich lebendig zu fühlen. […] Mein Körper, der das Denken bestimmt. Mein Körper steht dem Denken im Weg. Mein Körper hat Hautausschlag und lässt sich in den Eingeweiden herumwühlen, weil er sich weigert, schwanger zu werden. Mein Körper hat noch gar nichts geleistet. Ich will mit der Axt schreiben, den Körper ausstellen, um nicht länger nur ein Körper zu sein.990

Mit dem hier vermittelten Körperbild und seinem Verhältnis zum Denken und Schreiben wird Cixous’ Modell der écriture féminine ad absurdum geführt. Das körpernahe Sprechen, von dem bei Cixous die Rede ist, findet sich bei Lehn sehr deutlich wieder, wird aber gleichzeitig als ein vom Körper belastetes und behindertes Sprechen dargestellt. Wie auch bei Cixous wird das Schreiben bei Lehn vom weiblichen Körper bestimmt, jedoch nicht in einer positiv aufgeladenen Abgrenzung zu einem vom Körper entfremdeten männlichen Schreiben. Stattdessen erscheint die Entfremdung vom eigenen Körper bei Lehn als ein erstrebenswertes Ziel, das paradoxerweise durch das Ausstellen des Körpers im Schreiben erreicht werden soll. Dieses Ausstellen des Körpers wird im Roman auf ähnlich explizite Weise umgesetzt wie bei Roche. Körpervorgänge, anatomische Details und Ausscheidungen werden ausführlich und plastisch beschrieben. Ein zentrales Motiv sind dabei die ungewöhnlich starken Regelblutungen der Erzählerin:

990 Isabelle Lehn: Frühlingserwachen. Roman. Frankfurt am Main 2019, S. 32f.

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Ich sitze auf der Kloschüssel und heule vor Angst. Das Leben fließt aus mir heraus. Ich gebäre Brocken von Blut, die irgendwas mit mir zu tun haben. Mein Körper stülpt sich von innen nach außen. […] Der Tampon war ein lächerliches Stück Watte, und jetzt schießt das Blut nur so aus mir heraus. Ich höre es hart in die Kloschüssel schlagen. Alles ist leuchtend rot, das Blut ist kräftig und nichts wird es aufhalten können. Ich pelle mich aus den klebrigen Sachen, sitze über einem Massaker und heule.991

Der Detailreichtum, mit dem hier Körperflüssigkeiten beschrieben werden, erinnert an das auf einen Ekel-Effekt abzielende Erzählverfahren von Charlotte Roche.992 Von einem lustvollen Verhältnis zur eigenen Menstruation, wie es sich bei der Protagonistin aus Feuchtgebiete zeigt,993 kann hier aber keine Rede sein. Gelten Menstruation, Masturbation und Mutterschaft in Roches Roman als elementarer Ausdruck von natürlicher Weiblichkeit, werden sie in Frühlingserwachen viel eher als Akte der Fremdbestimmung dargestellt: Masturbation wird zur mühsamen Tätigkeit, die als Mittel nicht zum Lustgewinn, sondern zur Schmerzlinderung eingesetzt wird,994 und Mutterschaft verliert durch die ausführlich dargestellten reproduktionsmedizinischen Verfahren, denen sich die Hauptfigur ausgesetzt sieht, seine natürliche Aura vollständig.995 Der (weibliche) Körper wird in Frühlingserwachen als ein angsteinflößender, weil autonomer und unkontrollierbarer Gegenspieler zum Subjekt dargestellt. Diese Entfremdungssemantik gipfelt in der Wahrnehmung des Körpers als (dysfunktionale) Maschine: Die Körpermaschine geht ständig kaputt. Sie macht nicht, was ich von ihr will. Mein Körper gehört jetzt den Ärzten. Er hat sich verfügbar zu halten, präsentiert seine Öffnungen, lässt sich rechts und links in die Hüfte spritzen, immer im Wechsel. […] In Verlängerung der Apparate, an die man mich anschließt, kann ich dabei zusehen, wie der Körper sich in eine Maschine verwandelt.996

Statt als Grundlage authentischer Weiblichkeit wird der Körper als etwas zutiefst Artifizielles semantisiert. Die cartesianische Vorstellung des Körpers als Maschine wird hier ebenso aufgerufen wie der ebenfalls auf Descartes zurückgehende Leib-Seele-Dualismus,997 den Cixous durch die écriture féminine zu überwinden hoffte. 991 Ebd., S. 52. 992 Siehe S. 200 dieser Arbeit. 993 Der spielerisch-lustvolle Umgang mit der eigenen Menstruation äußert sich bei Helen Memel vor allem in der Herstellung von selbstgemachten Tampons bzw. dem TamponTausch mit der besten Freundin. Vgl. Roche: Feuchtgebiete, S. 111–114. 994 Vgl. Lehn: Frühlingserwachen, S. 141. 995 Vgl. ebd., vor allem S. 127–134. 996 Ebd., S. 127. 997 Für Descartes ist die Maschinenhaftigkeit des Körpers eine direkte Folge der Unterscheidung zwischen Körper und Geist: »So kann ich auch den menschlichen Körper als eine Art Maschine ansehen, die aus Knochen, Nerven, Muskeln, Adern, Blut und Haut zusammen-

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Die Unterscheidung zwischen Leib und Seele bzw. zwischen Körper und Geist findet auch ihren Niederschlag im Aufbau des Romans: Die Körpererfahrungen der Erzählerin wechseln sich mit ihren Erfahrungen als schreibende Frau im Literaturbetrieb ab. Dabei bleibt der Körper auch häufig dann noch präsent, wenn der erzählerische Fokus auf die Autorinnenfigur Isabelle Lehn gelegt wird. Die literarische Produktion und vor allem das professionelle Agieren im Literaturbetrieb werden immer wieder vom weiblichen Körper behindert, etwa wenn die Erzählerin aufgrund von starken Regelblutungen nur unter größter Anstrengung eine Lesung übersteht.998 Dabei lässt sich der Inhalt von Lehns Roman nicht nur als Ausdruck, sondern auch als spezifische Darstellung weiblichen Schreibens begreifen, in der Autorschaft unter den Bedingungen der weiblichen Körpererfahrung gezeigt wird. Davon zu unterscheiden sind jene literaturbetrieblichen Passagen, die eine metaisierende Funktion haben. Bei dem Roman, den die literarische Figur Isabelle Lehn bei ihrer Agentin einreicht, für den sie einen Verlag sucht und mit dem sie schließlich auf Lesereise geht, handelt es sich – wie relativ schnell deutlich wird – um den Roman Frühlingserwachen selbst. Die dadurch erzeugte Metaebene fungiert gleichsam als starkes Fiktionalitätssignal, denn natürlich können Lektorat, Veröffentlichung und Rezeption eines Textes nicht gleichzeitig dessen Gegenstand sein. Darüber hinaus wird die Fiktionalität der Erzählung in den metaisierenden Passagen ganz explizit thematisiert: so zum Beispiel im Gespräch der Erzählerin mit ihrer Agentin: »Meine Agentin mag den neuen Roman. Wir sagen jetzt Roman, damit er nach etwas klingt – außerdem braucht dieser Text ein Fiktionssignal.«999 In einem späteren Gespräch mit der Lektorin des Romans wird sogar diese Metaebene noch metaisiert, indem die Thematisierung der eigenen Fiktionalität im Text schon vorab artikuliert wird: Meine Lektorin macht sich ein paar Notizen und ich schlage ihr vor, bereits im Roman die Antworten auf ein paar Fragen zu liefern, die man unwillkürlich provoziert. Ich habe ein bisschen Angst, wie das sonst auf Lesungen wird. – Frage: Wie viel Prozent Ihrer Geschichte haben Sie selbst erlebt? – Antwort: Zweiundsechzig Prozent. Vielleicht auch dreiundsechzig Prozent. Sie findet das nicht so gut, das ist ihr zu meta. Ich halte dagegen: Alle Dialoge in diesem Buch sind erfunden. Alle Gedanken in diesem Buch sind erdacht. Der Sex in diesem

gepaßt ist und auch geistlos all die Bewegungen ausführt, wie sie jetzt unwillkürlich, also ohne den Geist, ablaufen.« (René Descartes: Meditation über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Stuttgart 1986, S. 201f.) 998 Vgl. Lehn: Frühlingserwachen, S. 53. 999 Ebd., S. 48.

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Buch ist phantastisch. Ich möchte nicht sterben, sondern hundert Jahre alt werden. […] In Wirklichkeit bin ich eine erfolgreiche Schriftstellerin.1000

Der Authentizitätseffekt der unmittelbaren Körpererfahrung wird so durch das Ausstellen von Fiktionalität unterwandert. Gleichzeitig wird durch die offensive Fiktionalitätsbehauptung eine Lesart des Romans befördert, die sich ebenfalls als der Versuch eines authentischen Ausdrucks von Weiblichkeit verstehen lässt, jedoch weniger auf die individuelle Körpererfahrung der Autorenpersona abzielt, sondern auf die kollektive Erfahrung der Gruppe ›Frauen‹. Das, was die literarisierte Ich-Erzählerin Isabelle Lehn in Frühlingserwachen erlebt, was mit ihrem Körper geschieht und welche Auswirkungen dies auf ihr Selbstverständnis als moderne, schreibende Frau hat, wird durch die eingezogenen Metaebenen von der empirischen Autorin Isabelle Lehn abgekoppelt und lässt sich erst dadurch als Ausdruck einer kollektiven Erfahrung lesen. Für eine solche Lesart plädiert die Schriftstellerin Franziska Gerstenberg, die Frühlingserwachen explizit einem weiblichen Schreiben zuordnet:1001 »Ob das alles autobiografisch ist, die Frage stellt sich schnell gar nicht mehr. Denn in Isabelle Lehn, der Figur im Text, erkennen sich viele Frauen wieder.«1002 Weibliches Schreiben erscheint hier weniger als ein spezifisches produktionsästhetisches Verfahren, sondern als ein auf kollektive Erfahrung gestütztes Erzählen, das eine identifikatorische Rezeptionspraxis bei den von dieser Erfahrung betroffenen Personengruppen ermöglicht. Ein solcher, dezidiert wirkungsbezogener Entwurf weiblicher Ästhetik schwebt auch der empirischen Autorin Isabelle Lehn vor, wenn sie in einem Essay für den Verlagsblog Hundertvierzehn über Weibliches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur schreibt: Nachdem mein Roman »Frühlingserwachen« erschienen war, erhielt ich zahlreiche Rückmeldungen von Frauen, die sich in der Schilderung eines zerrissenen, wenig perfekten Lebens wiedererkannten. Erst vor kurzem erreichte mich die folgende Mail: »Danke für das wunderbar tröstliche, komische und abgrundtief wahre ›Frühlingserwachen‹. Danke, Danke, Danke. Es tut gut zu wissen, dass offenbar auch andere solch eine Art Leben führen. Und sei es auch nur eine fiktive Personage. Mir doch egal. Es hilft.«1003 1000 Ebd., S. 114f. 1001 Vgl. Franziska Gerstenberg: Der Körper, das Schreiben und die Frauen. In: goethe.de, http s://www.goethe.de/ins/tr/de/kul/sup/lit/fra/21705865.html?fbclid=IwAR1JzAHoi4cKz8xiT o1yTP8cHMpDQtcN0bpmgVTQ7O5WeZdh784bWRls03U, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 1002 Ebd. 1003 Isabelle Lehn: Weibliches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Hundertvierzehn. Das literarische Online-Magazin des S. Fischer Verlags, https://www.fi scherverlage.de/magazin/extras/weibliches-schreiben-gegenwartsliteratur, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

Die Lesart von Frühlingserwachen als authentischer Ausdruck weiblicher Erfahrung bleibt somit unberührt von der durch die ausgestellte Fiktionalisierung unterwanderten Authentizität des Selbsterlebten. Was in diesem Zusammenhang zählt, ist weniger das individuelle Erleben des schreibenden Subjekts, sondern vielmehr die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die über das narrative Eigentumsrecht einer kollektiven Erfahrung verfügt, wie es im Kapitel 3.1 dieser Arbeit dargelegt wurde. Erzählerische Autorität erlangt Isabelle Lehn demnach nicht über den Bezug zur eigenen Individualbiographie, sondern über die Zugehörigkeit zur geschlechtlich markierten Gruppe ›Frauen‹. Diese Gruppenzugehörigkeit basiert auf der kollektiven Erfahrung, die in den Romanen von Charlotte Roche und Isabelle Lehn durch eine spezifisch weibliche Körpererfahrung repräsentiert wird. Auch hier ist also das Erfahrungsparadigma konstituierend für die Inszenierung von Authentizität. In beiden Romanen wird das öffentliche Bild angeblich authentischer Weiblichkeit hinterfragt und erzählerisch unterwandert, allerdings nicht ohne ihm einen literarischen Ausdruck von Weiblichkeit entgegenzusetzen, der seinerseits Anspruch auf größtmögliche Authentizität erhebt, indem er eine kollektive Erfahrung artikuliert, die durch den biologisch determinierten Körper beglaubigt wird. Im Widerspruch zu Butlers Thesen erscheint der Körper in Feuchtgebiete und Frühlingserwachen entsprechend nicht als diskursiv hervorgebrachte Fabrikation, sondern als alltags- und lebensbestimmende Evidenz und Quelle geschlechtsspezifischer Erfahrungen. Der markanteste Unterschied der beiden Romane besteht darin, wie diese Erfahrungen dargestellt werden: Bei Charlotte Roche als lustvolle Form der Selbsterkenntnis, bei Isabelle Lehn hingegen als schmerzvoller Ausdruck der Selbstentfremdung.

3.5.2 ›Echte‹ Männer – neue und alte Männlichkeitskonzepte bei Benjamin Lebert, Clemens Meyer, Thomas Glavinic und Christian Kracht Das Konzept einer weiblichen Ästhetik, wie es Cixous und Irigaray entwickeln, versteht sich in Abgrenzung zu einer als männlich markierten Norm. Das ›Männliche‹ erfuhr in den feministischen Diskursen der 1970er Jahre zumeist keine eingehende Betrachtung, da es als das bereits gesetzte, normgebende Prinzip galt, zu dem nun das abweichende, das ›andere‹ Prinzip der Weiblichkeit gleichsam etabliert und erforscht werden müsste. Entsprechend wurde die soziale Konstruktion von Männlichkeit erst mit einiger Verspätung zum Gegenstand soziologischer und kulturwissenschaftlicher Forschung. Eine Ausnahme in vielerlei Hinsicht bildet in diesem Zusammenhang Klaus Theweleits groß angelegte, 1977 und 1978 erstmals in zwei Bänden erschienene Studie Männerphantasien, in der er die Entwicklung des ›soldatischen Mannes‹ als Grundtypus

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der faschistischen Männlichkeitskonzeption nachzeichnet.1004 Theweleits Studie und andere Werke der frühen Männlichkeitsforschung zeichnen sich aber auch dadurch aus, dass sie »Männlichkeit in nur einem maskulinen Leitbild aufgehen lassen«,1005 wie der Literaturwissenschaftler Toni Tholen kritisch anmerkt. »In der gegenwärtigen Männlichkeitsforschung«, so Tholen weiter, »herrscht dagegen breiter Konsens, dass von Männlichkeiten nurmehr im Plural gesprochen werden kann.«1006 Einen Großteil der verschiedenen Männlichkeitskonzepte eint die Bezugnahme auf die essentialistische Konstruktion einer ursprünglichen, authentischen Männlichkeit. Gerade im Zuge einer in den letzten Jahrzehnten immer wieder diskutierten ›Krise der Männlichkeit‹ heißt es nicht selten, der moderne Mann müsse (wieder) Zugang zu einer authentischen Ausdrucksform seiner Geschlechtsidentität finden. Dabei wird die diagnostizierte Krisenhaftigkeit zumeist auf ein verändertes Geschlechterverhältnis und eine daraus resultierende Erosion klassischer Männlichkeitskonzepte zurückgeführt, während sich die Versuche, diese Krise zu überwinden, als zwei einander gegenläufige Bewegungen beobachten lassen, wie Tholen in einem Aufsatz zur ›Krise der Männlichkeit‹ konstatiert: zum einen in Richtung Wiederherstellung der traditionellen Geschlechterordnung, vor allem durch Strategien männlicher Resouveränisierung; zum anderen in Richtung einer Erfindung und Etablierung neuer Geschlechtervorstellungen und -praktiken, die Männlichkeit anders als bisher denken ließen […].1007

Während also auch vor dem Hintergrund des feministischen Diskurses des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts traditionelle Zuschreibungen von Männlichkeit hinterfragt und durch neue Ansätze der sozialen Konstruktion männlicher Geschlechtsidentität ersetzt werden, kommt es gleichzeitig zur Renaissance einer gesellschaftlichen Praxis, welche die dominante Position von männlich sozialisierten Individuen sicherzustellen versucht und die in der Soziologie meist unter dem Terminus der hegemonialen Männlichkeit verhandelt wird.1008 Verstärkt durch den Befund der allgemeinen Krisenhaftigkeit lässt sich in den letzten Jahren eine regelrechte Konkurrenz unterschiedlicher Männlichkeits1004 Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Vollständige und um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe. Berlin 2019. 1005 Toni Tholen: Männerbilder im Wandel? Beobachtungen zur Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts. In: Ders.: Männlichkeiten in der Literatur. Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung. Bielefeld 2015, S. 51–78, hier S. 52. 1006 Ebd. 1007 Toni Tholen: ›Krise der Männlichkeit‹. Zur Konzeptualisierung eines häufig verwendeten Topos. In: Ders.: Männlichkeiten in der Literatur, S. 45–49, hier S. 46. 1008 Vgl. Tholen: Männerbilder im Wandel?, S. 54.

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konzepte beobachten. Dabei gilt für die allermeisten dieser Konzepte, dass sie Männlichkeit – obschon sie in der Regel am Essentialismus einer biologisch festgeschriebenen Geschlechterbinarität festhalten – nicht als Eigenschaft begreifen, die einem qua Geburt zukommt, sondern als Tugend, die sich das männlich markierte Individuum durch soziale Praxis erwerben muss. Am deutlichsten tritt dies in Form von männlichen Initiationsritualen zutage, die sich aus archaischen Gesellschaftsstrukturen bis in die Gegenwart hinein erhalten haben und auch in der Gegenwartsliteratur ihren Ausdruck finden. Ziel der Initiation ist es in der Regel, Individuen, die bisher durch biologistische Zuschreibung lediglich in der Potenz als männlich gelten, in die soziale Praxis als ›echte‹ Männer einzuführen, damit sie jenem Leitbild entsprechen, das trotz seiner offensichtlichen sozialen Konstruiertheit den Anspruch einer authentischen Männlichkeit vertritt. In den zuvor behandelten Beispielen aus der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur sind bereits an verschiedenen Stellen unterschiedliche Konzepte von Männlichkeit in Erscheinung getreten. Einige dieser Beispiele werden daher im Folgenden noch einmal einer eingehenden Betrachtung in Hinblick auf diese Konzepte und ihre Bedeutung für den geschlechtsspezifischen Authentizitätsdiskurs unterzogen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der textuellen Inszenierung von Männlichkeit. Zunächst werden anhand der Romane Crazy von Benjamin Lebert und Als wir träumten von Clemens Meyer die Besonderheiten männlicher Initiation betrachtet, um dann in einem zweiten Schritt anhand der Texte von Thomas Glavinic und Christian Kracht die unterschiedlichen Konzepte von hegemonialer und marginalisierter Männlichkeit zu beleuchten. Männliche Initiationsriten in Leberts Crazy und Meyers Als wir träumten In den Romanen Crazy von Benjamin Lebert und Als wir träumten von Clemens Meyer steht jeweils eine kleine Gruppe männlicher Jugendlicher und deren Entwicklung von kindlichen Jungen zu jungen Männern im Vordergrund. Dabei ist die erzählte Zeit, in der diese Entwicklung beschrieben wird, höchst unterschiedlich: Während der erzählte Zeitraum in Als wir träumten mehrere Jahre umspannt und die Protagonisten vom Kindesalter bis über die Volljährigkeit hinaus begleitet werden, werden in Crazy nur die Geschehnisse weniger Monate erzählt. In beiden Romanen lässt sich jedoch eine besonders ausgeprägte homosoziale Gruppenbildung unter den Hauptfiguren beobachten: der Zusammenschluss von (in diesem Fall jungen und männlichen) Individuen zu einer in sich geschlossenen Gruppe, die sich gegenseitig ihrer eigenen (Geschlechts-) Identität versichern und dabei einen entsprechenden Habitus einüben. Die homosoziale Struktur wird dabei zum Teil noch durch die Schauplätze der beiden Romane verstärkt. Im Fall von Crazy ist dies durchgehend das Internat, in Meyers

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Roman ist es unter anderem das Gefängnis bzw. die Jugendarrestanstalt, die ein in sich geschlossenes und homosoziales Umfeld bietet, in dem Männlichkeit ohne äußere (also ohne weibliche) Einflüsse verhandelt werden kann. Sexualität und Gewalt bilden dabei in den Romanen von Lebert und Meyer den semantischen Hintergrund, vor dem diese Verhandlung stattfindet. Sie sind gewissermaßen die ›authentischen Quellen‹, aus denen sich die Männlichkeit der Protagonisten speist. In Leberts Crazy ist es vor allem die Sexualität, die im Vordergrund steht. Bereits das erste Gespräch, das der Erzähler mit seinem Zimmergenossen Janosch führt, dreht sich um das andere Geschlecht: »Janosch redet und redet. Er tut mir richtig leid. Er redet von Blumensträußen, strahlenden Lichtern und unendlich großen Brüsten. Ich stelle mir alles genau vor und stimme ihm inbrünstig zu. So ein Mädchen ist wirklich toll.«1009 Innerhalb der homosozialen Gruppe heranwachsender Internatsschüler ist das Reden über Frauen und Sex die identitätsstiftende Ausdrucksform der eigenen Mannwerdung. Dabei ist es bezeichnend, dass die Frau bzw. der weibliche Körper nicht als soziales Gegenüber, sondern lediglich als Projektionsfläche für die eigenen, männlich markierten Phantasien fungiert. Besonders deutlich wird das in der Beschäftigung der jugendlichen Protagonisten mit Nacktbildern: Janosch richtet sich auf. Auf seinem Bett liegt ein Playboy-Heftchen. Zwei Tussis von der Popgruppe Mr. President haben sich ausgezogen. Sie sehen nicht schlecht aus. Wir beschäftigen uns damit. […] Früher hingen in unseren Zimmern Superhelden. Nun hängen in unseren Zimmern Supertitten. Im Wesentlichen sind wir kleine Jungen geblieben.1010

Das Erwachsenwerden wie auch das Nicht-Erwachsenwerden-Wollen wird in den Gesprächen der Jugendlichen mehrmals thematisiert, wobei immer deutlich ist, dass es sich beim Erwachsenwerden in erster Linie um ein Zum-Mann-Werden handelt und insbesondere Janosch, der Anführer der kleinen Gruppe, lässt keinen Zweifel daran, dass diese Mannwerdung durch Sex – oder auch nur durch das Reden über Sex – befördert wird: »Keine Sau hat mich gefragt, ob ich erwachsen werden will«, antwortet Felix. »Als Junge hat man es viel einfacher. Oder nicht, Jungs?« »Halt’s Maul«, antwortet Janosch. »Wir sind hier nicht beim Psychologen. Wir reden von Bier und Sex. Und nicht darüber, daß wir Kinder bleiben wollen.«1011

Die Protagonisten verharren allerdings nicht im homosozialen Raum des Internats. Bei den beiden zentralen Handlungselementen des Romans handelt es 1009 Lebert: Crazy, S. 17. 1010 Ebd., S. 44f. 1011 Ebd., S. 48.

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sich um Ausbruchsszenarien, die im genrespezifischen Kontext des Internatsromans fast schon als obligatorische Rituale der Grenzüberschreitung gewertet werden können. Der erste Ausbruch besteht in einem nächtlichen Ausflug auf den Mädchenflur, der mit der Entjungferung des Erzählers Benni endet, während der zweite Ausbruch die Jungen nach München führt, wo sie einen Strip-Club besuchen. Beide Ausbrüche sind also nicht nur Grenzüberschreitungen im Sinne einer Missachtung der Ausgangssperre für Internatsschüler*innen, sondern sie sind zusätzlich mit sexuellen Initiationserlebnissen verknüpft. Der erste Geschlechtsverkehr verläuft für Benni allerdings weniger als selbstbestimmter Akt, sondern vielmehr als eine Pflichtaufgabe zur Mannwerdung, die er entsprechend zu erfüllen hat: Marie küßt mir auf die Stirn. Ich zittere. Drehe mich zur Seite. Scheiß drauf! denke ich. Dann nagele ich sie eben. Ich muß ein Mann sein, würde Janosch sagen. Und ein Mann bekäme kein Muffensausen beim Anblick von ein paar Möpsen. Ein Mann muß grapschen. Sie bearbeiten. Ein Mann muß cool sein, würde Janosch meinen. […] Marie setzt sich rittlings auf mich. Ich glaube, ich bin in ihr. Es ist ein unangenehmes Gefühl. So schön, wie alle sagen, ist das Nageln gar nicht. Ich fühle mich eingeengt. Mein Schwanz tut weh. Aber ich bin ein Mann.1012

Der Erzähler versucht die eigene Unsicherheit zu überspielen, indem er sich die von seinem Schulfreund und Idol Janosch imperativisch formulierte Maxime einer authentischen Männlichkeit vorhält. Nicht Lust oder Vergnügen ist das Ziel des sexuellen Akts, sondern die Transformation zu einem ›echten‹ Mann. Das eigentliche Initiationserlebnis des Erzählers erfolgt jedoch am Ende des Romans, als Benni, Janosch und ihre vier Freunde auf Einladung des alten Sambruse, den sie im Verlauf ihres unerlaubten Ausflugs nach München kennenlernen, einen Strip-Club besuchen. Während Bennis Entjungferung ein privater, heimlicher Vorgang war, wird er hier gemeinsam mit seinen Weggefährten und unter Anleitung eines erfahrenen Mannes in die Sphäre der Männlichkeit eingeführt. Insofern hat diese Szene durchaus den Charakter jener Einsetzungsriten, die Bourdieu als wesentlich für die Instituierung von Männlichkeit beschreibt.1013 Die Erfahrung als Gruppe nimmt hier erzählerisch eine deutlich zentralere Position ein als Bennis individuelles Entjungferungserlebnis. Hier wird das Erleben der eigenen Männlichkeit durch andere Männer bezeugt und vom ›erfahrenen‹ Mann Sambruse angeleitet. Die Frauen im Strip-Lokal sind dabei nur mittelbar Teil dieses Rituals. Sie dienen – wie schon zuvor die Abbildungen in Janoschs Playboy-Heft – als bloße Objekte der Betrachtung, die dafür sorgen, dass für die Protagonisten die eigene Männlichkeit erfahrbar wird. Ausgehandelt wird das entsprechende Männlichkeitskonzept aber nicht in der 1012 Ebd., S. 80. 1013 Vgl.: Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft. Frankfurt am Main 2005, S. 47f.

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direkten Auseinandersetzung mit dem ›anderen Geschlecht‹, sondern innerhalb der homosozialen Männergruppe. Eine ähnliche Gruppendynamik lässt sich bei den Protagonisten von Als wir träumten beobachten, wenngleich es in Meyers Roman vor allem Szenen der Gewalt sind, die sich als leitmotivischer Ausdruck von Virilität durch den Roman ziehen. Sexualität spielt zwar ebenfalls eine nicht unwesentliche Rolle in den Gesprächen und Handlungen der jugendlichen Freunde Daniel, Rico, Mark und Paul, woraus sich klar erkennbare Parallelen zu einigen Szenen in Crazy ergeben: vom gemeinsamen Betrachten pornographischer Hefte1014 bis zum Strip-Club Besuch.1015 Sehr viel dominanter ist jedoch das Motiv der Gewalt. Die vier Freunde leben im Leipziger Osten kurz nach der Wende. Mit der DDR sind für sie auch die gewohnten Autoritäten der Eltern, Lehrer und FDJ-Funktionäre weggebrochen und die Jugendlichen bewegen sich in einem Umfeld, das sich für sie gleichzeitig schranken- und haltlos gestaltet. Ihr Alltag besteht aus kleinkriminellen Autodiebstählen, Alkoholkonsum und Schlägereien mit rivalisierenden Straßenbanden. Die Literaturwissenschaftlerin Frauke Matthies sieht im Verhalten der Protagonisten den Versuch, eine männlich geprägte Gegenwelt zu etablieren, die dem Sinnverlust im Nach-Wende-Leipzig entgegenwirkt und durch das emotionale Bewusstsein, zu den ›echten Männern‹ zu gehören, eine identitätsstabilisierende Funktion hat: »Their ideas of what makes them ›real‹ men help Daniel and his friends create a masculine counter-world – and a sense of (imagined) belonging.«1016 Doch auch wenn man das Verhalten der Jugendlichen als einen Bruch mit der geordneten Welt ihrer Kindheit versteht, entstehen ihre Männlichkeitsvorstellungen keinesfalls im luftleeren Raum. Auch wenn die Väter der Protagonisten alle auf die ein oder andere Weise abwesend sind – sie haben die Familie verlassen, sitzen im Gefängnis ein oder sind sozusagen geistig abwesend – beziehen die Freunde um Daniel ihre Vorstellungen, was ›echte Männer‹ ausmacht, aus der früheren Generation. Und auch die Welt der Väter ist zutiefst von Gewalt geprägt. Der Vater von Daniels Freund Pitbull ist Alkoholiker und schlägt zu, wenn er betrunken ist. Als sein Sohn älter wird, ist er es, der den Vater schlägt und sich so auf die einzige Weise zu Wehr setzt, die ihm als männlich bekannt ist.1017 Der Vater des Erzählers Daniel wiederum muss nach einer Schlägerei mit dem Fan eines rivalisierenden Fußballklubs ins Gefängnis. Als der zwölfjährige Daniel die Stammkneipe seines Vaters betritt, wird er von dessen ehemaligen Trinkge1014 Vgl. Meyer: Als wir träumten, S. 60f. 1015 Vgl. ebd., S. 156–169. 1016 Frauke Matthies: Clemens Meyer, Als wir träumten: Fighting ›Like a Man‹ in Leipzig’s East. In: Lyn Marven/Stuart Taberner (Hg.): Emerging German-Language Novelists of the Twenty-First Century. Rochester, NY 2011, S. 89–104, hier S. 96. 1017 Vgl. Meyer: Als wir träumten, S. 97.

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fährten an den Tisch geholt. In heldenhaft verklärten Geschichten berichten sie dem Erzähler vom letzten Kampf seines Vaters und initiieren ihn auf diese Weise in die Sphäre der Männlichkeit: Die anderen reden immer noch über Ali und Stevenson und die großen Kämpfe, aber Dieter erzählt mir von Vaters großem Kampf, ich halte die Augen geschlossen und spüre seine Hand schwer auf meiner Schulter. »… konnten wir nichts, gar nichts machen, hatten die ihn schon. Hat sich gewehrt wie’n Mann, hat ihnen noch paar verpasst […]«.1018

Die betrunkene Gewalttätigkeit von Daniels Vater wird in den Erzählungen der Männer zu einem heroischen Beweis seiner Virilität. Der Vergleich zum Profiboxen, durch den das Stammtischgespräch auf die Boxlegenden Adonis Stevenson und Muhammad Ali gelenkt wird,1019 rückt die alkoholindizierte Kneipenschlägerei in die Nähe eines sportlichen Wettkampfs. Das Motiv des Boxkampfs als ritualisiertes und institutionalisiertes Pendant zu den Straßenkämpfen der Jugendlichen zieht sich leitmotivisch durch Meyers Roman und ist vor allem mit Daniels Freund Rico verbunden, dessen Boxkarriere ein jähes Ende nimmt, als er auf seinen Gegner losgeht, nachdem der Ringrichter den Kampf schon für beendet erklärt hat.1020 Die Geschichte von Ricos letztem Kampf wird erzählerisch verschränkt mit dem Duell zwischen Henry Maske und Graciano Rocchigiani, das sich Daniel und Rico Jahre später im Fernsehen ansehen, wobei die Freunde eindeutig auf der Seite des Herausforderers Rocchigiani stehen. Die Parteinahme für einen Sportler, einen Klub oder ein Stadtviertel spielt eine wichtige Rolle im sozialen System der jugendlichen Protagonisten. Mit der identitätsstiftenden Wirkung dieser Parteinahme etabliert sich ein ›wir‹, dem ganz automatisch ein ›die anderen‹ entgegensteht: Maske-Fans gegen RockyFans, die Anhänger von BSG Chemie Leipzig gegen diejenigen des 1. FC Lokomotive, Punks gegen Neonazis – die Zugehörigkeit zur einen oder anderen Gruppe ist für die Figuren in Als wir träumten vor allem Anlass zur gewalttätigen Auseinandersetzung. Die Ausübung von körperlicher Gewalt wird zum Ausdruck eines Wettbewerbs, sie ist kein Mittel, um etwas zu erreichen oder sich vor etwas zu schützen, sondern der Zweck der Gewalt liegt wie der des sportlichen Wettkampfs in sich selbst. Besonders deutlich wird dies in der Jugendarrestanstalt, wo der Erzähler eine Strafe absitzen muss. Zu Daniel gewendet deutet ein Mitinsasse auf den Anhänger eines gegnerischen Fußballklubs:

1018 Ebd., S. 275. 1019 Vgl. ebd. 1020 Vgl. ebd., S. 131f.

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»Dynamo-Fan«, sagte Klaus, »richtige Nummer. Würd gern mal mit ihm ’n kleines Match machen. Ich und der, nur wir beide, draußen aufm Hof, bisschen matchen, das wär’s. Der is aber in Ordnung, du.« »Wie meinst’n das, matchen? Fußball, oder was?« »Biste blöd, Daniel, biste blöd? Nur mal so, bisschen auf die Fresse, bisschen matchen, verstehste. Der is Dynamo-Fan!« Ich wurde rot und hatte das Gefühl, alle am Tisch blickten auf meinen roten Kopf. »Klar«, sagte ich, »kenn ich doch, ’n kleines Match machen, bisschen matchen, hab nicht richtig zugehört.« Klaus blickte rüber zu dem Riesen und schob seine Tasse hin und her. »Ich und der, verstehste, das wär’s, nur bisschen matchen, das wär ’n klasse Kampf. Aber du, der ist echt in Ordnung, der ist Dynamo-Fan, verstehste?«1021

Die Gewalterfahrung wird hier zum Freizeitvergnügen, bei dem die Zugehörigkeit zu verschiedenen Sportvereinen nur noch der zufällig gewählte Vorwand ist, um sich zu schlagen. Der Kampf wird nicht vermieden, sondern gesucht, weil er der zentrale Selbstausdruck der eigenen Männlichkeit und somit der eigenen Identität ist. Sowohl in Crazy als auch in Als wir träumten ist es der Körper, der im Zentrum der sich herausbildenden Männlichkeitskonzepte der jugendlichen Protagonisten steht. In diesem Sinne bestätigt sich bei Lebert und Meyer auf literarischer Ebene, was die Soziologin Raewyn Connell auf gesellschaftlicher Ebene beobachtet: »Wahre Männlichkeit scheint sich fast immer vom männlichen Körper abzuleiten – einem männlichen Körper innewohnend oder etwas über einen männlichen Körper ausdrückend.«1022 In den hier behandelten Romanen spielt sich dieser körperliche Ausdruck ›wahrer‹ Männlichkeit vor allem in den Bereichen Sexualität und Gewalt ab. Sie erscheinen als Felder, in die der angehende Mann (von anderen Männern) eingeführt wird und auf denen er sich beweisen muss. Wie schon im vorigen Kapitel sind es also auch hier Körpererfahrungen, die als Ausweis für eine authentische Geschlechtsidentität dienen. Während jedoch im Zusammenhang mit der weiblichen Ästhetik vor allem die Autonomie des weiblichen Körpers betont wurde, die sich als ausdrucksstarke Energie wie auch als unkontrollierbare Belastung äußern kann, geht es hier meist um die Möglichkeit, Kontrolle über den eigenen und den fremden Körper zu erlangen – ein Prinzip, das vor allem für die Formen hegemonialer Männlichkeit von zentraler Bedeutung ist. Inwiefern dieses Konzept – ebenso wie das gegenläufige Modell einer marginalisierten Männlichkeit – nicht nur auf motivischer Ebene in den literarischen Texten Niederschlag findet, sondern darüber hinaus auch zum 1021 Ebd., S. 213f. 1022 Raewyn Connell: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, 4. durchgesehene und erweiterte Auflage. Wiesbaden 1999, S. 95.

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Gegenstand schriftstellerischer Selbstinszenierung wird, wird im Folgenden am Beispiel der bereits aus vorangegangenen Kapiteln bekannten Autoren Thomas Glavinic und Christian Kracht erörtert. Hegemoniale Männlichkeit und Grenzerfahrungen: Thomas Glavinic Über sein Verhältnis zur Gewalt befragt, antwortet Thomas Glavinic im Rahmen des bereits behandelten Großinterviews im Fleisch-Magazin: Ich wuchs zum Teil in einer Gegend in Graz auf, in der Gewalt zur Tagesordnung gehörte. Als ich 12 war, gab es bei uns Schlägereien mit Fahrradketten und Steinen, bei denen Blut floß, nicht oft, aber oft genug. Ich hatte Gründe, weshalb ich mit 13 Karate trainiert habe und mit 17 Taekwondo […]. Gewalt als solche hat mich immer angewidert. Ich wusste jedoch früh, dass ich mich auch physisch wehren können muss. Ich wollte nie jemanden verletzen, doch wenn ich angegriffen wurde, konnte ich mich wehren.1023

Glavinic bedient sich hier des Motivs der jugendlichen Gewalterfahrung als männliche Initiation, wie wir es in den Romanen von Meyer und Lebert ausfindig gemacht haben, und integriert es in seine schriftstellerische Selbstinszenierung. Er verfolgt dabei die geläufige Argumentation, wonach Gewalt als solche abzulehnen sei, aber man einen wehrhaften Körper ausbilden müsse, um sich im Notfall gegen die Gewalttätigkeit anderer zu schützen. Im gleichen Gespräch formuliert der Autor sein Männlichkeitsideal in Form einer Analogie: »[Z]wei scharfe Schneiden machen einen Dolch zu einer Waffe – nicht anders verhält es sich mit Geist und Körperkraft beim Mann. Ein Mensch muss intellektuell und körperlich wehrhaft sein.«1024 Wehrhaftigkeit, so wird in diesen paratextuellen Aussagen Glavinics nahegelegt, ist für ihn der Ausweis authentischer Männlichkeit. Darüber hinaus lässt sie sich als Ausdruck dessen begreifen, was die Soziolog*innen Nina Baur und Jens Luedtke als »Kernprinzip des Männlichen« verstehen: Kontrolle. Kontrolle beinhaltet dabei einerseits Kontrolle über den eigenen und andere Körper durch Körpergestaltung und Körperpraxis, andererseits die Beherrschung der natürlichen, aber auch sozialen Umwelt und damit verbunden der legitime sowie illegitime

1023 Glavinic/Huber/Seiler: Mit den Hells Angels habe ich eindeutig mehr Spaß als mit ein paar Dichtern, S. 87. 1024 Ebd. Dass Glavinic im zweiten hier zitierten Satz von »Mann« auf »Mensch« wechselt, ändert nichts daran, dass es an dieser Stelle um eine Vorstellung von Männlichkeit geht, sondern legt vielmehr nahe, dass der Autor die beiden Begriffe hier mit männlichkeitsnormativer Selbstverständlichkeit synonym verwendet.

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Zwang gegen sich und andere. Dabei überlagern sich Körperbeherrschung und Kontrolle der sozialen Umwelt insoweit, als erstere das Mittel zu letzterer bildet.1025

Die Ausbildung des eigenen Körpers als Mittel zur Kontrolle der sozialen Umwelt ist ein Prinzip, dass sich auch in den Interview-Aussagen Glavinics widerspiegelt. So illustriert er die von ihm behauptete Wehrhaftigkeit seines Körpers durch folgendes Beispiel: Ich sehe Dinge, bei denen andere Menschen wegschauen. Am helllichten Tag genauso wie spätabends in der U-Bahn. Zum Glück muss man sich mit einem Mann, der eine Frau nachts in der U-Bahn belästigt, ja gar nicht prügeln, bei den meisten reicht ein Blick. Die suchen ja keinen Ärger, die suchen ein Opfer, und ich bin keines. Das merkt eigentlich jeder recht schnell.1026

Es ist eindeutig nicht nur Zivilcourage, die Glavinic hier für sich beansprucht. Er inszeniert sich auch als jemand, der durch Ausstrahlung und körperliche Überlegenheit sein Umfeld kontrollieren kann. Das Betonen, kein Opfer zu sein, entspricht dabei einem im klassischen Sinne männlichen Geschlechtshabitus, ähnlich wie Glavinics öffentlich inszenierte Vorliebe für Fußball, Kampfsport, Motorräder oder jede Form von Rausch und Exzess, die sich – wie an anderer Stelle bereits erwähnt – durchaus als Fortführung einer literaturgeschichtlichen Tradition rauschmittelbetonter Männlichkeitsinszenierung betrachten lässt.1027 Der markanteste Ausdruck der Glavinic’schen Inszenierung von Männlichkeit lässt sich dabei sicherlich in der Veröffentlichung eines Nacktfotos auf Facebook und dem Versenden sogenannter ›Dick-Pics‹ ausmachen.1028 Denn die Präsentation des männlichen Geschlechtsorgans lässt sich nicht nur als eine Form der sexuellen Inszenierung von Privatheit begreifen, sondern auch als eine Form der Inszenierung von geschlechtsspezifischer Authentizität durch den Versuch, den vermeintlich eindeutigen Beweis zu erbringen, ein ›echter‹ Mann zu sein. Ein weiteres zentrales Merkmal von Glavinics Männlichkeitsinszenierung liegt im Ausstellen von Grenzerfahrungen (etwa im Rauschzustand oder durch körperlichen Zusammenbruch) sowie kalkulierten Grenzüberschreitungen (etwa durch das Posten von Nacktbildern oder auf anderer Ebene durch die ausgestellte Nähe zum damaligen FPÖ-Obmann Heinz-Christian Strache und den Hells

1025 Nina Baur/Jens Luedtke: Konstruktionsbereiche von Männlichkeit. Zum Stand der Forschung. In: Dies. (Hg.): Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland. Opladen/Farmington Hills 2008, S. 7–29, hier S. 9f. 1026 Glavinic/Huber/Seiler: Mit den Hells Angels habe ich eindeutig mehr Spaß als mit ein paar Dichtern, S. 87. 1027 Siehe S. 178 dieser Arbeit. 1028 Siehe S. 173f. dieser Arbeit.

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Angels1029). Die Lust an der Grenzüberschreitung wurde bereits anhand anderer Beispiele als charakteristischer Bestandteil von Authentizitätsinszenierungen identifiziert.1030 Wie im Vorigen gezeigt wurde, ist der bewusste und teilweise ritualisierte Grenzübertritt aber auch ein wichtiger Bestandteil männlicher Initiation: Das Ausbrechen aus dem Internat, der heimliche Konsum von Alkohol, Drogen oder Pornographie, kleinkriminelle Aktivitäten oder die rauschhafte Erfahrung des Kampfes sind zentrale erzählerische Elemente in den zuvor behandelten Romanen von Benjamin Lebert und Clemens Meyer und eng mit dem Eintritt der jugendlichen Protagonisten in die Sphäre der Männlichkeit verknüpft. Am Beispiel von Glavinics Roman Der Jonas-Komplex zeigt sich, dass sich dieses Entgrenzungs-Motiv auch in der literarischen Verhandlung von erwachsener Männlichkeit weiter fortsetzt. Der Autorfigur Thomas Glavinic wird in diesem Roman mit der Figur des Jonas ein anderer Männlichkeitstypus gegenübergestellt: Während der fiktionalisierte Glavinic seine Grenzerfahrung vor allem durch Alkohol, Kokain und Tabubrüche sexueller Natur herbeiführt, womit sein Verhalten sich – wie zuvor bereits gezeigt wurde – in vielen Punkten mit der paratextuellen Inszenierung des empirischen Autors deckt,1031 sind es bei Jonas Extremsport und gefährliche Abenteuer in entlegenen Weltregionen, die ihn in mehrfacher Hinsicht an seine Grenzen führen. Jonas, der als Figur bereits in Glavinics Roman Das größere Wunder (2013) auftaucht, der von seiner Besteigung des Mount Everest handelt, ist in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zur Figur des Schriftstellers Thomas Glavinic: Er ist erfolgreich, wohlhabend, körperlich in bester Verfassung und führt eine funktionierende Beziehung mit einer Frau. Er ist ständig auf der Suche nach neuen Herausforderungen, die ihn möglichst nah an seine Belastungsgrenzen heranführen, und so lässt er sich von seinem mephistophelischen Anwalt Tanaka an verschiedenen, abgelegenen und teilweise gefährlichen Orten auf der ganzen Welt aussetzen, um alleine auf sich gestellt zurückfinden zu müssen: »Verstecken Sie mich in der Welt.« »Wie stellen Sie sich das vor? Denken Sie an die Verwendung einer Augenbinde?« »Narkose. Sie haben doch ein paar Ärzte an der Hand. Sie betäuben mich, bringen mich an einen von Ihnen gewählten Ort im Irgendwo oder Nirgendwo, und wenn ich aufwache, sind Sie oder Ihre Schergen nicht mehr da, und ich muss mich alleine zurechtfinden.«1032 1029 Vgl. Glavinic/Huber/Seiler: Mit den Hells Angels habe ich eindeutig mehr Spaß als mit ein paar Dichtern. 1030 Dies gilt insbesondere für die Inszenierung von Charlotte Roche. Siehe Kapitel 3.3.2 dieser Arbeit. 1031 Siehe Kapitel 3.3.1 dieser Arbeit. 1032 Glavinic: Der Jonas-Komplex, S. 244.

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Und so kämpft sich Jonas durch den Dschungel, flieht als Freiheitsstatue verkleidet durch den Jemen oder schwimmt auf einem verlassenen Atoll von Insel zu Insel. Es ist die altbekannte Konstellation Mann vs. Natur, die in diesen Teilen des Romans im Vordergrund steht und hinter der zum einen die rousseauistische Vorstellung einer Selbstfindung im Naturzustand erkennbar ist, zum anderen ein archaisches Männlichkeitsbild vom Mann als Eroberer, der auf sich alleine gestellt die Widrigkeiten seiner Umwelt bezwingt und ständig auf der Suche nach neuen Herausforderungen ist, um sich zu messen. Indem Glavinic die Figur des Jonas als Idealtypus des Mannes konzipiert, wird durch ihn auch das Prinzip einer hegemonialen Männlichkeit verkörpert. »Hegemoniale Männlichkeit«, so Connell, »kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll).«1033 Mit der Hegemonialität geht also vor allem die Definitionsmacht einher, die darüber bestimmt, welches Männlichkeitskonzept gerade als das überlegenere zu werten ist und entsprechend »mit hohem sozialen Status, Gütern und Frauen ausgestattet« wird.1034 Die Tatsache, dass Jonas nicht nur reich und erfolgreich ist, sondern darüber hinaus jede Herausforderung zu meistern und jeden Wettbewerb zu gewinnen scheint, macht ihn geradezu zum Archetypus hegemonialer Männlichkeit.1035 Dass es ihm trotz der auf den ersten Blick ebenbürtigen Partnerschaft mit seiner Freundin Marie auch um die Bewahrung männlicher Vorherrschaft geht, zeigt sich, als Marie Anstalten macht, sich an dem männlichen Wettbewerb mit der Natur beteiligen zu wollen, und ihr Recht einfordert, ebenfalls Grenzerfahrungen machen zu können. Maries Plan, gemeinsam mit Jonas ohne Unterstützung von außen zu Fuß zum Südpol zu reisen, lehnt dieser kategorisch ab. Zwar begründet Jonas diese Ablehnung nicht explizit mit Maries Geschlechtsidentität, doch wird schnell deutlich, dass die Gefahr, der er sich permanent selbst aussetzt, für ihn selbst als Mann nur eine große Herausforderung bedeutet, während Marie als Frau davor unbedingt zu beschützen sei. Im Gespräch mit seinem Anwalt bringt Jonas diese Haltung auf den Punkt: 1033 Connell: Der gemachte Mann, S. 130. 1034 Baur/Luedtke: Konstruktionsbereiche von Männlichkeit, S. 10. 1035 Damit ist Glavinics Jonas geradezu ein Gegenstück zur biblischen Figur des Jonas, der vor Gottes Auftrag auf hohe See flüchtet, wo er schließlich von einem Wal verschluckt wird. Der Titel von Glavinics Roman wiederum spielt auf einen Begriff aus der Psychologie an, auf den auch im Romantext eingegangen wird, wenn der jugendliche Protagonist aus dem dritten Erzählstrang über sich selbst sagt: »Überall sehe ich die Gefahr, nicht die Chance. Ich habe gelesen, das nennt man den Jonas-Komplex.« (Glavinic: Der Jonas-Komplex, S. 83). Vgl. zu diesem Aspekt auch Kita-Huber: Zum Erzählen von Autorschaft in Thomas Glavinics Romanen, S. 159.

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»Tanaka, ich marschiere ganz sicher nicht 400 Kilometer durch die Antarktis.« »Sie haben schon Blöderes gemacht.« »Das stimmt, aber da ging es nur um mein eigenes Leben.«1036

Hinter der scheinbar noblen Haltung, das eigene Leben gering zu schätzen und das der Partnerin schützen zu wollen, verbirgt sich im Fall von Jonas eine geschlechtsspezifische Unterscheidung hinsichtlich der Legitimität bestimmter Erfahrungen. Der archaische Überlebenskampf, dem er sich selbst mit großem Vergnügen und ohne jemanden um Erlaubnis zu bitten wiederholt aussetzt, ist nicht für seine Freundin vorgesehen. Mit entsprechendem Unverständnis reagiert er auf Maries Motivation, obwohl diese sich kaum von seiner unterscheidet: »Aber warum? Was suchst du dort?« »Was hast du am Everest gesucht?«, fragte sie. »Ich könnte sagen, dich. Ich könnte sagen, mich. Beides wäre nicht falsch. Aber genau kann ich es nicht sagen.« »Siehst du, und mir geht es genauso. […] Ich suche eine existentielle Erfahrung, die mir abgeht. Ich suche eine Grenze, an der ich noch nie war.«1037

Marie möchte also an jener unmittelbaren Grenzerfahrung partizipieren, die zum Kern des von Jonas verkörperten Männlichkeitskonzepts gehört. Als die beiden die Antarktis-Reise schließlich unternehmen, ist es Jonas, der an seine körperlichen Grenzen stößt. Er bekommt Fieber und überlebt nur knapp die Expedition. Seine Rettung durch Marie markiert nicht nur den glücklichen Ausgang der Geschichte, sondern auch eine Entwicklung der Figur des Jonas und die damit verbundene Transformation seines Männlichkeitskonzepts. Als die beiden im letzten Teil der Jonas-Geschichte aus der Antarktis ausgeflogen werden, sagt Marie: »Du warst noch vor kurzem anders. Durch die Welt fliegen, allein. Dich in der Welt verstecken lassen, allein. Nichts und niemanden dir wirklich nahekommen lassen, keine Schwäche akzeptieren. Du wolltest immer die Kontrolle. Besser alles alleine machen, dann kann man sich sicher sein, dass alles funktioniert. Das ist in manchen Dingen aber idiotisch. Nah. In vielen. Und jetzt habe ich gesehen, dass das nicht mehr stimmt. Du kannst auch zu zweit sein.«1038

Die kathartische Wirkung und die authentizitäts- wie identitätsstiftende Kraft der Grenzerfahrung, die sich Marie erhofft hat, wird somit schließlich Jonas zuteil. Die Tatsache aber, dass er diese Grenzerfahrung nicht auf eigene Faust, sondern gemeinsam mit Marie erlebt, wird hier als grundlegender Bruch mit Jonas’ männlichem Selbstverständnis präsentiert. Der Wandel seines Männ1036 Glavinic: Der Jonas-Komplex, S. 53. 1037 Ebd., S. 32. 1038 Ebd., S. 740f.

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lichkeitskonzepts macht Jonas jedoch nicht weniger zum Vertreter einer hegemonialen Männlichkeit. Seine Figur ist so angelegt, dass er einen sozialen Status besitzt, der es ihm ermöglicht, ungehindert von gesellschaftlichen Zwängen Männlichkeit neu zu definieren.1039 Somit besteht die Entwicklung, die Jonas zum Ende des Romans vollzieht, nicht in der Aufgabe seiner hegemonialen Position, sondern in deren Neuausrichtung. Marginalisierte Männlichkeit und Geschlechterparodie: Christian Kracht Damit unterscheidet sich Jonas im Wesentlichen von den Hauptfiguren der Romane von Christian Kracht. Diese entsprechen weder einem klassischen Männlichkeitsbild, noch weisen sie einen sozialen Status auf, der sie als Vertreter einer hegemonialen Männlichkeit infrage kommen ließe. Vielmehr weisen sie Merkmale auf, die sie in die Nähe von Connells Konzept der marginalisierten Männlichkeit rücken – ein Konzept, das vor allem jene Formen von Männlichkeit bezeichnet, die nur sehr eingeschränkt von der Macht des Patriarchats profitieren.1040 Baur und Luedtke nennen vier Eigenschaften, die als zentrale Ursachen für eine solche Marginalisierung angesehen werden können: Jugendlichkeit, die Zugehörigkeit zu unteren sozialen Schichten, die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit und eine von der Norm abweichende Sexualität.1041 Gerade in Krachts ersten drei Romanen lassen sich die Protagonisten recht eindeutig diesen Kategorien marginalisierter Männlichkeit zuordnen: der jugendliche Protagonist aus Faserland, der Homosexuelle aus 1979 und der dunkelhäutige Politkommissär aus Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Aber auch in den Folgeromanen lassen sich der Vegetarier und Nudist August Engelhardt in Imperium und der schüchterne Regisseur Emil Nägeli in Die Toten nur schwerlich als machtvolle Vertreter einer dominanten Männlichkeit charakterisieren, auch wenn sie nicht eindeutig einer marginalisierten Gruppe angehören. Deutlich wird dies insbesondere dann, wenn die Protagonisten auf einen dominant-männlichen Charakter treffen, wie er in Die Toten beispielsweise durch den deutschnationalen Filmmogul Alfred Hugenberg verkörpert wird: Und nun stellt sich Hugenberg, ohne eine Antwort abzuwarten, breitbeinig hin, leicht schwankend, als sei er verhinderter Kapitän zur See, wächst empor, plustert sich auf, 1039 Connell betont, dass es sich bei hegemonialer Männlichkeit nicht um ein starres Konzept handelt, dass an einen bestimmten Männlichkeitstypus gekoppelt ist. Vielmehr gehört die Veränderbarkeit zum Konzept wesentlich dazu: »Hegemonie ist […] eine historisch bewegliche Relation. Ihr Hin und Her ist auch das Schlu¨ sselelement von Männlichkeit […].« Connell: Der gemachte Mann, S. 131. 1040 Vgl. ebd., S. 133f. 1041 Vgl. Baur/Luedtke: Konstruktionsbereiche von Männlichkeit, S. 11f.

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füllt den Hohlraum, den seine Aura projiziert, physisch aus, fixiert Nägeli und donnert: Zweihunderttausend Dollar stünden ihm zur Verfügung.1042

Kontrastierend zu dieser überbetonten Inszenierung von Männlichkeit erwähnt der Erzähler wenige Zeilen später die androgyne Erscheinung auf der Bühne des Varietés, in dessen Zuschauerraum sich Hugenberg und Nägeli befinden: »Oben auf der Bühne löst zögerlich eine Elfe den Büstenhalter von ihrer schmalen Knabenbrust.«1043 Nägeli selbst hat der Dominanz Hugenbergs kaum etwas entgegenzusetzen, genauso wenig wie seinem japanischen Nebenbuhler Amakasu, der ihm letztlich die Verlobte abspenstig macht. Ähnliches lässt sich in Imperium beobachten, etwa bei der Begegnung August Engelhardts mit einem Pflanzer an Deck des Dampfschiffs ›Prinz Waldemar‹ zu Beginn des Romans. Bereits in dem Moment, als sich der Herr im weißen Tropenanzug dem jungen Engelhardt nähert, heißt es: »Engelhardt war augenblicklich von jener fast krankhaften Schüchternheit ergriffen, die stets von ihm Besitz nahm, wenn er auf Menschen traf, die von sich und der Richtigkeit ihres Tuns und Seins vollkommen überzeugt waren.«1044 Auf die Bemerkung des Pflanzers hin, der Liegestuhl, auf dem Engelhardt sich befindet, werde »aufgrund seiner nach vorne ausschwenkbaren, hölzernen Beinlehnen als bombay fornicator bezeichnet«,1045 reagiert dieser mit Unverständnis: »Engelhardt verstand nicht ganz, auch waren ihm Kalauer geschlechtlicher Natur suspekt, hielt er doch den Sexualakt für etwas völlig Natürliches, ganz und gar Gottgegebenes und nicht für einen Teil einer verklemmten, falsch verstandenen Manneszucht.«1046 Nicht nur dass sich Engelhardt automatisch der dominanten Virilität seines Gegenübers unterordnet, er verweigert sich auch dem Spiel der männlichen Selbstvergewisserung durch die heitere Bezugnahme auf die eigene Sexualität. Nachdem er im Speisesaal das Schweinekotelett verschmäht und stattdessen einen einfachen Salat bestellt, gibt sich Engelhardt dem Gelächter des Pflanzers preis, flieht beschämt aus dem Saal und ist nun endgültig von der männlich dominierten Gesellschaft ausgeschlossen.1047 Krachts Protagonisten – obschon ausschließlich Männer – sind Außenseiter in einer patriarchalen Gesellschaft. Die soziale Isolation der Romanfiguren ist dabei nicht zuletzt in ihrer marginalisierten Männlichkeit begründet. Als Homosexuelle, Schwarze, Vegetarier oder schlicht als sexuell wie sozial Verunsicherte haben sie keinen Anteil an der ›authentischen Männlichkeit‹. Als identitätsstiftender 1042 1043 1044 1045 1046 1047

Christian Kracht: Die Toten. Roman. Köln 2016, S. 113. Ebd. Kracht: Imperium, S. 21. Ebd., S. 22. Ebd. Vgl. ebd., S. 25f.

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Ersatz dienen ihnen andere Wertsysteme wie der esoterische Ursprünglichkeitskult des ›Kokovoren‹ August Engelhardt oder – insbesondere bei den Protagonisten der ersten beiden Romane – die künstliche Welt des Dandys, der nicht nur durch die ihm eigene Aufwertung des Artifiziellen allen Vorstellungen authentischer Männlichkeit entgegensteht, sondern dessen als feminin empfundene ästhetische Formvollendung auch im deutlichen Gegensatz zum männlichen Geschlechtshabitus steht, was ihn zum klassischen Vertreter einer marginalisierten Männlichkeit macht.1048 Neben der Darstellung von sozialen Beziehungen zwischen den Vertretern einer hegemonialen und einer marginalisierten Männlichkeit, zeigt sich in der Motivik der Kracht’schen Romane auch eine Tendenz zur Dekonstruktion von Männlichkeit wie auch von Geschlechtlichkeit im Allgemeinen. Ein zentrales Beispiel hierfür ist das Motiv des verschwindenden Körpers. Krachts Ästhetik des Verschwindens, die im Vorigen ausführlich anhand seiner schriftstellerischen Selbstinszenierung diskutiert wurde,1049 schlägt sich auch in den Romanen nieder und weist hier eine geschlechtliche Dimension auf – ist es doch der Körper selbst, der hier im Begriff ist, zu verschwinden. In Imperium magert Engelhardt durch seine strenge Kokosnuss-Diät immer weiter ab, bis das langsame Verschwinden seines Körpers schließlich in Auto-Anthropophagie gipfelt und Engelhardt seine leprösen Daumen verspeist.1050 In 1979 bemerkt der Protagonist auf einem Gefangenentransport in ein chinesisches Umerziehungslager erleichtert, wie weit Rippen und Hüftknochen vom Körper abstehen, und denkt an seinen zu Beginn des Romans verstorbenen Partner: Ich dachte an Christopher, daran, daß ich mich immer zu dick gefühlt hatte, und ich war glücklich darüber endlich seriously abzunehmen. Das hatte ich ja nie geschafft; ein, zwei Kilo hatte ich mir früher herunterhungern können, aber jetzt waren schon mindestens zehn oder zwölf Kilo weg, Gott sei Dank.1051

Der lebensfeindliche Ästhetizismus, der das persönliche Körperideal über das eigene Wohlergehen stellt, lässt sich als Ausdruck des antihumanen Dandyismus nach Agamben begreifen, dessen Ziel es ist, »ein lebender Leichnam [zu] werden«.1052 Er kann aber auch als Indiz für eine geschlechtsbezogene Körper1048 Es ist daher kein Zufall, dass die in Kapitel 3.4 behandelten Außenseiterfiguren allesamt männlich geprägt sind. Während das Weibliche innerhalb der patriarchalen Gesellschaft ohnehin eine Außenseiterrolle einnimmt und daher nicht im gleichen Maße Außenseitertypen kultiviert, handelt es sich bei den in dieser Arbeit vorgestellten Außenseitertypen immer auf die eine oder andere Weise um Spielarten marginalisierter Männlichkeit. 1049 Siehe Kapitel 3.4.1 dieser Arbeit. 1050 Kracht: Imperium, S. 221. 1051 Kracht: 1979, S. 166. 1052 Agamben: Beau Brummell oder die Aneignung der Irrealität, S. 90. Siehe auch S. 210 dieser Arbeit.

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feindlichkeit gelesen werden, die vor allem darum bemüht ist, den Körper als Ort der Einschreibung von Geschlechtsidentität und sexuellem Begehren zu tilgen. Diese Lesart wird auch durch die abwehrende Haltung fast aller Kracht’schen Romanhelden gegenüber (männlicher) Sexualität nahegelegt: In Faserland äußert sich diese im Entsetzen des Protagonisten, als er seinen Freund Nigel beim Geschlechtsverkehr mit zwei weiteren Personen überrascht,1053 in 1979 reagiert der Protagonist ähnlich verstört, als ein tibetischer Mönch unerwartet sein Geschlechtsteil präsentiert,1054 und auch wenn Krachts Engelhardt, wie im Zitat oben behauptet, den Geschlechtsakt als etwas Natürliches empfindet, ist Sexualität in Imperium ebenfalls negativ besetzt und wird in erster Linie durch den antisemitischen Vergewaltiger Aueckens verkörpert, der schließlich von Engelhardt getötet wird.1055 Die Abwertung des Sexuellen in Krachts Texten wird häufig in erster Linie als »Abgrenzung von homosexueller Männlichkeit« interpretiert.1056 Auf Figurenebene lässt sich eine solche Abgrenzung tatsächlich beobachten. Versteht man aber das verstörende Potential männlicher (und damit auch homosexuellmännlicher) Sexualität als Teil einer Camp-Inszenierung, wie es Tanja Nusser in ihrem Beitrag über Männlichkeitsperformanzen im Werk von Christian Kracht tut, entsteht vielmehr das Bild einer brüchigen männlichen Identität, die im Begriff ist, sich aufzulösen. Die Inszenierung von Formen marginalisierter Männlichkeit ist demnach nur die Vorstufe einer grundsätzlichen Subversion dichotomischer Geschlechtszuschreibung: Homosexualität, Hautfarbe und Weiblichkeit gehen in den Texten von Kracht […] in der Art und Weise Hand in Hand, wie sie weiße, heterosexuelle biologische Männlichkeit durchaus ironisch gebrochen rahmen und auch inszenieren. Während die Texte, jedenfalls die Romane, auf der Handlungsebene ihre Geschichten entwickeln, indem sie die Protagonisten kontinuierlich in Dichotomien einspannen, in denen ihre Identitäten verhandelt werden, bringen die Texte auf der performativen Ebene diese Dichotomien in Bewegung und kennzeichnen jedwede Identitätszuschreibung als transitorisch, da performativ inszeniert.1057

Von der Verhandlung klassischer Konzepte hegemonialer und marginalisierter Männlichkeit auf der histoire-Ebene lässt sich somit das subversive Spiel mit Geschlechtlichkeit unterscheiden, das Kracht auf der discours-Ebene betreibt. Während sich Krachts Romanhelden an den tradierten Männlichkeitskonzepten 1053 1054 1055 1056

Vgl. Kracht: Faserland, S. 49f. Vgl. Kracht: 1979, S. 130. Vgl.: Kracht: Imperium, S. 129f. Tanja Nusser: »Wir ficken auf der Bühne, sozusagen«. (Triste) Männlichkeitsperformanzen in Christian Krachts Texten. In: Lorenz/Riniker (Hg.): Christian Kracht revisited, S. 705– 728, hier S. 717. 1057 Ebd., S. 720.

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abarbeiten, wird auf der discours-Ebene eine Ästhetik entwickelt, die weder männlich noch weiblich ist. Hier kommt erneut die bereits beschriebene Nähe der Kracht’schen Ästhetik zum Konzept des Camp zum Tragen.1058 Susan Sontag betont in ihren Anmerkungen zu ›Camp‹ die Bedeutung des Androgyn als »eines der großen Leitbilder der Camp-Sehweise«.1059 So wie sich die Ästhetik des Camp auch sonst jedweder Zuschreibung von Natürlichkeit entzieht, wird durch sie auch die essentialistische Zuschreibung einer ›natürlichen‹ Geschlechterordnung unterwandert: Hier nähert sich der Camp-Geschmack einer meist uneingestandenen Wahrheit des Geschmacks: die raffinierteste Form des sexuellen Reizes besteht (ebenso wie die raffinierteste Form des sexuellen Genusses) in einem Verstoß gegen die Natur des eigenen Geschlechts. Das Schönste am männlichen Mann ist etwas Weibliches, das Schönste an einer weiblichen Frau ist etwas Männliches.1060

Mit Judith Butler lässt sich diese geschlechtliche Dimension von Krachts CampÄsthetik als Teil jener Geschlechter-Parodie begreifen, »die nicht voraus[setzt], daß es ein Original gibt, das diese parodistischen Identitäten parodieren. Vielmehr geht es gerade um die Parodie des Begriffs des Originals als solchem«.1061 So wie Kracht auf der Ebene paratextueller und habitueller Inszenierungspraktiken jedes Konzept einer ›authentischen‹ Identität parodiert, wird auch in der textuellen Inszenierung von Männlichkeit die Vorstellung einer essentialistischen Geschlechtsidentität unterwandert. Was bleibt, ist »das subversive Gelächter im Pastiche-Effekt jener parodistischen Verfahren, die das Original, das Authentische und das Reale selbst als Effekt darstellen«.1062

3.5.3 Geschlechtlicher Perspektivwechsel: Feridun Zaimoglus Die Geschichte der Frau Zu der in den vorangegangenen beiden Unterkapiteln erfolgten Untersuchung der Inszenierung von Weiblichkeit und Männlichkeit auf textueller Ebene lässt sich abschließend konstatieren, dass in den zugrunde gelegten Texten sowohl in den Konzepten weiblichen Schreibens (auf der discours-Ebene), als auch in den literarischen Repräsentationen von Männlichkeitskonzepten (auf der histoireEbene) geschlechtsspezifische Authentizität vor allem mit Hilfe des bereits in anderen Teildiskursen herausgearbeiteten Erfahrungs-Begriffs inszeniert wird. 1058 1059 1060 1061 1062

Siehe S. 225f. dieser Arbeit. Sontag: Anmerkungen zu ›Camp‹, S. 45. Ebd. Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 203. Ebd., S. 215.

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Eine Besonderheit des Geschlechterdiskurses liegt dabei vor allem in der spezifischen Ausprägung des Erfahrungsbegriffs als Körpererfahrung, dem vor allem vor dem Hintergrund eines dichotomen Geschlechterbildes das Versprechen größtmöglicher Unmittelbarkeit innewohnt. Denn die Annahme, beim geschlechtlich definierten Körper handle es sich um eine Erfahrungsquelle, die sich biologisch und nicht diskursiv konstituiere, macht diesen zum Garanten für Echtheit par excellence. Nimmt man zusätzlich zur Textebene auch den empirischen Autor in den Blick, lässt sich feststellen, dass die Authentizität der in den Texten vermittelten Körpererfahrungen zusätzlich durch die Geschlechtsidentität der Autor*innen (und deren performative Inszenierung) beglaubigt wird. Dabei ist es gar nicht notwendig, von einer Identität von Autor und Figur auszugehen – Authentizität wird alleine dadurch generiert, dass Autor und Figur derselben Geschlechtsidentität angehören und sich entsprechend einen gemeinsamen Erfahrungsraum teilen. Auch wenn man Isabelle Lehn und Charlotte Roche nicht mit den Protagonistinnen ihrer Romane verwechselt, ist es möglich, ihnen eine gewisse Kompetenz beim Erzählen von weiblichen Körpererfahrungen zuzugestehen. Und auch wenn Clemens Meyer und Benjamin Lebert nicht dieselben Initiationsprozesse wie ihre Protagonisten durchlaufen haben, wird man ihnen doch einen gewissen Erfahrungsschatz in Bezug auf männliche Sozialisation im Allgemeinen nicht absprechen können. Interessant sind in Hinblick auf die Funktionsweise der Authentizitätsnorm vor allem jene Fälle, in denen dieses Identitätsverhältnis nicht besteht, in denen also empirischer Autor und fiktive Figur (zumal, wenn es sich bei letzterer um die Erzählinstanz handelt) nicht dem gleichen Geschlecht angehören. In der Literaturgeschichte handelt es sich bei dieser Konstellation keinesfalls um einen seltenen Fall – vielmehr war es schon immer eine gängige Praxis der literarischen Produktion, dass in Texten von Autorinnen eine männlich markierte Erzählperspektive eingenommen bzw. in Texten männlicher Autoren aus weiblicher Perspektive erzählt wird. Gerade die letztgenannte Konstellation war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein alleine schon deshalb häufig anzutreffen, weil literarische Autorschaft bis vor wenigen Jahrzehnten noch ein Feld war, das in deutlich überproportionalem Maße von Männern bespielt wurde, während weibliche Autorschaft über viele Jahrhunderte nahezu unsichtbar blieb. Entsprechend häufig waren es auch männliche Autoren, die das Innenleben und die Erfahrungswelt von Frauen als literarisches Sujet wählten. Vor allem im Realismus des späten 19. Jahrhunderts hatte die möglichst glaubhafte Darstellung psychologischer Vorgänge und damit auch die Literarisierung des weiblichen Seelenlebens Konjunktur. Nicht zufällig entstehen in dieser Epoche mit Effi Briest, Madame Bovary und Anna Karenina drei der berühmtesten Frauenfiguren der europäi-

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schen Literaturgeschichte. Alle drei entspringen bekanntermaßen der Feder von männlichen Schriftstellern. Die Diskrepanz zwischen der performativen Inszenierung von Geschlechtlichkeit auf Autor-Ebene und der textuellen Inszenierung von Geschlechtlichkeit ist also keinesfalls ein neues Phänomen. Relativ neu hingegen ist eine bestimmte Art des Umgangs mit dieser Diskrepanz in der Rezeption, die sich aus dem in Kapitel 3.1 bereits ausführlich behandelten identitätspolitisch geprägten Vorwurf der kulturellen Aneignung ergibt. Im Kontext des Geschlechterdiskurses besteht dieser Vorwurf darin, dass Autor*innen, die sich die Perspektive einer anderen Geschlechtsidentität aneignen und damit geschlechtsspezifische (Körper-)Erfahrungen literarisieren, die sie selbst nicht gemacht haben, gegen das narrative Eigentumsrecht derjenigen verstoßen, die über eine solche kollektive Erfahrung verfügen. In der Praxis sind es vor allem männliche Autoren, die sich diesem Vorwurf ausgesetzt sehen können, wenn sie sich in ihren Texten eine weibliche Perspektive aneignen – ein Umstand, der vor allem der Tatsache geschuldet ist, dass die Machtverhältnisse in der Gesellschaft immer noch eine Benachteiligung des weiblichen Teils der Bevölkerung zur Folge haben und die Aneignung von Unterdrückungs- und Viktimisierungserfahrungen im identitätspolitischen Kontext im besonderen Maße als kritikwürdig gilt. Nicht zufällig handelt es sich deshalb beim Urheber des Textes, anhand dessen Rezeption nun abschließend noch einmal die Wirkweise der Authentizitätsnorm innerhalb des Geschlechterdiskurses beleuchtet wird, um einen männlichen Autor: Feridun Zaimoglu mit seinem viel diskutierten Buch Die Geschichte der Frau, in dem aus der Perspektive einer ganzen Reihe verschiedener, fiktiver wie historischer Frauenpersönlichkeiten erzählt wird. »Ist Zaimoglu alle Frauen?« – Autorisierung und Aneignung im Geschlechterdiskurs »Es spricht die Frau. Es beginnt.« – so wird der 2019 erschienene Roman Die Geschichte der Frau von Feridun Zaimoglu eingeleitet.1063 Trotz der paratextuellen Kennzeichnung als Roman handelt es sich allerdings um eine Sammlung eigenständiger Erzählungen, deren inhaltliche Gemeinsamkeit vor allem darin besteht, dass die homodiegetischen Erzählinstanzen allesamt Frauen sind. Dabei handelt es sich neben historischen Persönlichkeiten wie der Warhol-Attentäterin Valerie Solanas vor allem um weibliche Figuren der Weltliteratur wie Antigone und Brunhild oder fiktive Figuren aus dem Werkkosmos von Zaimoglu wie im Fall von Leyla, die bereits 2006 titelgebend für einen seiner Romane war. Die Erzählungen der einzelnen Frauen werden nicht durch eine rahmengebende 1063 Feridun Zaimoglu: Die Geschichte der Frau. Roman. Köln 2019, S. 5.

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Erzählung oder ein Vorwort miteinander verknüpft. Von entsprechend großer Bedeutung ist deshalb die einordnende Funktion des verlegerischen Peritexts, der auf dem Buchrücken den Text als »[e]in literarisches Abenteuer, ein großer Gesang, ein feministisches Manifest« ankündigt.1064 Zaimoglus neuer Roman sei, so heißt es weiter, »ein unverfrorenes Bekenntnis zur Notwendigkeit einer neuen Menschheitserzählung – aus der Sicht der Frau.«1065 Im emphatischen Jargon des Buchmarketings wird hier also eine politische Dimension des Texts angekündigt (»ein feministisches Manifest«) wie auch eine neue, weil aus weiblicher Perspektive erzählte Geschichte der Menschheit. Die Idee, die androzentrisch geprägte Literatur- und Weltgeschichte aus der Perspektive von Frauen zu erzählen, die in den kanonischen Werken der Weltliteratur und der Geschichtsschreibung meist ein Dasein als stumme Randfiguren fristen, ist nicht neu. Ein ähnliches Ziel verfolgte auch Christa Wolf mit ihren Büchern Kassandra (1983) und Medea (1996). Noch stärker erinnert Form und Anspruch von Zaimoglus Die Geschichte der Frau an die mit Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen untertitelte Publikation Wenn du geredet hättest, Desdemona (1983) von Christiane Brückner. In seiner Zeit-Rezension von Zaimoglus Roman zieht Burkhard Müller ebenfalls die Parallele zu Brückners Text und moniert gar, der Autor halte sich »so eng an das von Brückner vorgegebene Konzept, dass man fast von einem Plagiat sprechen möchte«.1066 Müllers eigentlicher Vorwurf hat allerdings nur bedingt mit Plagiarismus zu tun, denn bereits im folgenden Satz seiner Rezension heißt es: »Wie überzeugend, wie vertrauenswürdig kann ein Mann sein, der im Namen des weiblichen Geschlechts und stellvertretend für dieses seine Stimme erhebt?« Damit stellt der Rezensent die entscheidende Frage nach der Autorisierung Zaimoglus, der als Mann selbst keinen Anteil an der kollektiven Erfahrung hat, von der er zu erzählen den Anspruch vertritt. Dass er an diesem Anspruch scheitert, ist für Müller mehr als deutlich und verleitet ihn sogar zu einer Schlussfolgerung, die sich auch als authentischer Imperativ verstehen lässt, nämlich, »dass es zuletzt keine Literatur ohne persönliche Erfahrung geben kann«.1067 Auch ohne die persönliche Erfahrung wie Müller zur conditio sine qua non der Literatur zu erheben, wurde in anderen Feuilletonbeiträgen die Frage gestellt, warum ausgerechnet ein Mann die große Menschheitserzählung aus der Sicht der Frau schreiben sollte – zumal weibliche Schriftstellerinnen ein solches Projekt ja 1064 Ebd., U4. 1065 Ebd. 1066 Burkhard Müller: Die forcierte Altertümelei von Mittelaltermärkten. In: Die Zeit vom 14. 03. 2019, https://www.zeit.de/2019/12/die-geschichte-der-frau-feridun-zaimoglu, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 1067 Ebd.

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durchaus selbst umsetzen könnten und, wie die oben genannten Beispiele zeigen, auch umgesetzt haben. So schreibt Johannes Franzen in der taz: »Wer es sich zur Aufgabe macht, politisch marginalisierten Menschen eine Stimme zu geben, muss sich mit dem Problem auseinandersetzen, dass diese Menschen meistens schon eine eigene Stimme haben.«1068 Zaimoglu selbst weist diese Überlegungen in Interviews streng zurück. Dem Spiegel gegenüber sagt der Autor zu dem Argument, man brauche »keine Männer, um starke Frauenfiguren zu erzählen«: Das ist ein Fundamentalismus, der ins Leere geht. Jeder ist bedingt und fixiert über seine Herkunft und sein Geschlecht. Wir müssen uns freiwillig beschränken? Das wäre Selbstzensur. Das Bewusstsein für Unrecht setzt mich ja instande, Geschichten zu schreiben. Mit den Mitteln der Literatur ist es möglich, mit seinem Geschlecht auf dem Papier zu brechen.1069

Zaimoglu gesteht zu, dass Herkunft und Geschlechtsidentität die Wahrnehmung beeinflussen. Daraus eine Beschränkung seiner literarischen Produktionsmöglichkeiten abzuleiten, sieht er jedoch als Selbstzensur. Autorisiert sieht er sich vielmehr durch sein »Bewusstsein für Unrecht«, während er davon ausgeht, die eingeschränkte Perspektive seiner eigenen Geschlechtsidentität »mit den Mitteln der Literatur« aufbrechen zu können. Mit diesem Verweis auf die Mittel der Literatur bedient Zaimoglu den bereits bekannten Topos der Aneignungskraft literarischer Produktion, die im Kontext von Authentizität und Herkunft bereits am Beispiel von Wolfgang Koeppen und Thomas Mann illustriert wurde.1070 Im literarischen Schreiben, so die Grundannahme dieser emphatischen Produktionsästhetik, löst sich die eigene Identität auf und der Autor verschmilzt geradezu mit dem Gegenstand seines Schreibens. Im Spiegel-Interview beschreibt Zaimoglu diesen Anverwandlungsprozess wie folgt: Jetzt werde ich dramatisch, aber mein Leben ist die Literatur. Ich mache Gewaltmärsche, ich schlafe schlecht, ich wache und wandle wie ein flackernder Geist, um mich einzustimmen. Meine öde Existenz ist völlig unwichtig, ich zerfalle im Text. Ich muss mich in dieser fremden Gestalt auflösen. Das ist zehn Mal geschehen. Es stellt sich ein besonderer Ton ein, plötzlich bin ich nicht mehr außerhalb. Ich bin es, ich bin die Frau. Ich bin Hildrun, ich bin Valerie Solanas. Es dauert viele Wochen, bis ich so weit bin. Dann setze ich mich hin und schreibe.1071 1068 Johannes Franzen: Breitbeiniger Anspruch. In: taz vom 10. 03. 2019, https://taz.de/Roman -Die-Geschichte-der-Frau/!5577100/, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 1069 Feridun Zaimoglu im Gespräch mit Anne Haeming: »Ich verstehe die feministische Militanz nun sehr gut«. In: Der Spiegel vom 24. 02. 2019, https://www.spiegel.de/kultur/litera tur/feridun-zaimoglu-ich-verstehe-die-feministische-militanz-nun-sehr-gut-a-1254620.ht ml, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 1070 Siehe S. 119f. dieser Arbeit. 1071 Zaimoglu/Haeming: Ich verstehe die feministische Militanz nun sehr gut.

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Diese Beschreibung einer poetischen Ich-Verschiebung lässt sich als Teil einer Inszenierungsstrategie begreifen, die eine doppelte Funktion erfüllt: zum einen als Reminiszenz an literaturhistorische Vorbilder eines emphatischen Produktionsprozesses vom klassischen Dichterideal des poeta vates bis zur Genieästhetik des Sturm und Drang und der damit verbundenen Stilisierung der literarischen Produktion als gottgleicher Schöpfungsakt.1072 Auch erinnert Zaimoglus »Ich bin es, ich bin die Frau« stark an den oft zitierten, jedoch vermutlich apokryphen Ausspruch Gustave Flauberts: »Madame Bovary, c’est moi.«,1073 womit auch die Identifikation des (männlichen) Autors mit der (weiblichen) Heldin sein berühmtes Vorbild gefunden hat. Zum anderen nutzt Zaimoglu diesen altbekannten Topos schriftstellerischer Selbstinszenierung als ethische Legitimationsstrategie, um den Vorwurf der kulturellen Aneignung abzuwehren. Die Diskrepanz zwischen Zaimoglus persönlicher, von seiner Geschlechtsidentität und gesellschaftlichen Stellung determinierten Perspektive und der Erzählperspektive seines Romans wird durch den Hinweis auf den künstlerischen Aneignungsprozess zu nivellieren versucht. Statt sich durch seine Geschlechtsidentität zu autorisieren, beansprucht Zaimoglu also eine Autorisierung qua Profession. Es sind zwei verschiedene Begriffe von Aneignung, die hier gegeneinander stehen: Die widerrechtliche Aneignung einer fremden Perspektive, die Zaimoglu vorgeworfen wird, auf der einen Seite, und die emphatische Aneignung, die Zaimoglu für sich reklamiert, auf der anderen Seite. Diese Opposition fasst Julia Encke in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wie folgt zusammen: »Ist Zaimoglu alle Frauen? Oder werden im Roman alle Frauen zu Zaimoglu, indem er sie zu Wort kommen lässt? Geht es also in ›Die Geschichte der Frau‹ um einen Auflösungsprozess oder um einen Prozess der großen Zaimoglu-Aneignung?«1074 Die Frage, an der sich der ethische Sprengstoff von Die Geschichte der Frau entzündet, liegt somit auch darin begründet, welche Perspektive im Anschluss an den Aneignungsprozess letztlich dominiert: Gelingt dem Autor eine (im mimetischen Sinne) authentische Annäherung an die weibliche Perspektive oder bleibt der männliche Blick erkennbar, der sich auf fremde, weibliche Schicksale legt? Eine Frage, die ungeachtet ihrer ethischen Dimension zunächst einmal auf die ästhetische Umsetzung abzielt.1075

1072 Siehe S. 149 dieser Arbeit. 1073 Vgl. Katharina Picandet: Zitatromane der Gegenwart. Frankfurt am Main 2011, S. 220. 1074 Julia Encke: Gegen das gewaltige Gewoge! In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 05. 03. 2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/schwuelstige-neuersc heinungen-auf-dem-buchmarkt-16068508.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 1075 Diese Fragestellung setzt natürlich voraus, dass die grundsätzliche Möglichkeit einer ›authentischen‹ kulturellen Aneignung eingeräumt wird. Für die Vertreter*innen der Position

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Zaimoglu, der das Verbot kultureller Aneignung vehement ablehnt (»Das Dogma des Verbots der kulturellen Aneignung ist reaktionär.«1076), hebt ebenfalls auf diesen Aspekt ab, wenn er im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung sagt: Mit den Mitteln der Kunst kann man die eigene Beschränktheit überwinden. Natürlich muss man sich dann dem Urteil stellen: Ist das gelungen oder nicht? Die Anfangsworte meines Buches lauten: ›Es spricht die Frau.‹ Natürlich darf man fragen: Wer spricht hier eigentlich? Die Frauen selbst? Oder der Autor?1077

Die Frage nach der eigenen Autorisierung ist für Zaimoglu also in erster Linie eine ästhetische Frage. Denn wie bereits erwähnt, sind es die Mittel der Kunst, durch die er sich autorisiert sieht, zum Sprachrohr der Frauen zu werden. Ob es sich um eine widerrechtliche oder eine legitime Aneignung handelt, entscheidet demnach der gelungene bzw. misslungene Einsatz dieser Mittel. Entsprechend wäre es nicht mehr die Autorität des Autors als Vertreter einer sozialen Gruppe (in diesem Fall der Frauen), durch die Authentizität generiert wird, sondern der angemessene künstlerische Umgang mit der fremden Erfahrungswelt. Die sich daraus ergebende Verquickung von ethischen und ästhetischen Bewertungsmaßstäben wurde bereits im Fall von Takis Würgers Stella beobachtet. Auch hier besaß der Autor nicht die nötige Autorität durch Gruppenzugehörigkeit, auch hier berief sich der Autor auf seine Autorität qua Profession, die seine Aneignung legitimieren sollte, die jedoch nach Meinung vieler Kritiker*innen an der mangelhaften literarischen Qualität der Umsetzung scheiterte.1078 Auch wenn der Geschlechterdiskurs nicht im selben Maße moralisch aufgeladen ist wie der Diskurs um die Erinnerung an die Schoah, so ist doch auffällig, dass auch in der Rezeption von Zaimoglus Die Geschichte der Frau ästhetische Wertungen mit der Frage nach der Legitimität von Zaimoglus Autorschaft verknüpft werden. Auf ästhetischer Ebene sind es vor allem Sprache und Stil von Zaimoglus Roman, an denen die Literaturkritik Anstoß genommen hat. Ein häufig artikulierter Vorwurf besteht darin, dass durch die markante sprachliche Ausgestaltung des Romans die Einzelschicksale der Frauen nicht zum Ausdruck, sondern zum Verschwinden gebracht werden. So moniert Müller in der bereits zitierten Zeit-Rezension: »Von der beschworenen ›Vielstimmigkeit‹ des Autors kann keine Rede sein: Alle werden sie über den Kamm desselben Stils und Duktus

von Burkhard Müller, nach der es jenseits von persönlicher Erfahrung keine Literatur geben kann, stellt sich diese Frage naturgemäß gar nicht erst. 1076 Feridun Zaimoglu im Gespräch mit Martina Läubli: »Die Frau darf nicht verschwinden«. In: NZZ am Sonntag vom 03. 05. 2019, https://nzzas.nzz.ch/kultur/die-frau-darf-nicht-versch winden-ld.1479187, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021. 1077 Ebd. 1078 Siehe Kapitel 3.1.2 dieser Arbeit.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

geschoren […].«1079 Ähnlich argumentiert Encke in der FAS: »Denn tatsächlich dringt man zu den Frauen, die hier sprechen, gar nicht vor, fühlt nicht mit ihnen mit, begreift auch nicht, wer sie wirklich sind, weil die ganze Zeit die Sprache im Weg herumsteht. Der Ton versperrt den Blick, weil alles Ton ist in diesem Roman.«1080 Das Ergebnis ist laut Encke »ein lautes, buntes Feuerwerk, von dem am Ende nichts bleibt außer der Erinnerung an den Feuerwerksmeister: Feridun Zaimoglu.«1081 Und auch Franzen sieht durch den einheitlichen Stil der Geschichten einzig den Autor selbst sichtbar gemacht: [I]n dem repetitiven Stil werden die Stimmen der unterschiedlichen Frauen vereinheitlicht und so ihre Individualität geleugnet. Am Ende spricht doch wieder nur der Autor, dessen viriler Stil sich den Objekten seines historischen Gerechtigkeitssinns nicht unterwerfen kann, weswegen sie auch Objekte bleiben und nie zu Subjekten werden.1082

Die Sprache des Romans wird hier als textuelle Inszenierungspraktik gewertet, die den Autor selbst in den Vordergrund rückt und nicht die marginalisierte Gruppe, dessen Sprachrohr er zu sein vorgibt. Nach dem Urteil der hier zitierten Kritiker*innen scheitert also der von Zaimoglu forcierte Aneignungsprozess »mit den Mitteln der Literatur«, da diese nicht dazu führen, dass die NichtZugehörigkeit des Autors in den Hintergrund gerät, sondern vielmehr dazu, dass diese noch zusätzlich herausgestellt wird. Zaimoglu gelingt es demnach weder, sich durch seine Zugehörigkeit zu der Gruppe, dessen kollektive Erfahrungen dem literarischen Stoff zugrunde liegen, zu autorisieren, noch durch eine künstlerisch-emphatische Annäherung an diese. Entsprechend unerfüllt bleiben die normativen Authentizitätserwartungen, die an einen Text herangetragen werden, der den Anspruch erhebt, eine »neue Menschheitserzählung aus der Sicht der Frau« zu sein. Vom Sprachrohr der ›Kanaken‹ zum Sprachrohr der Frauen Dass die Gültigkeit der Authentizitätsnorm nicht unabhängig von themen- und gruppenspezifischen Diskursen bewertet werden kann, lässt sich durch einen Blick auf die Anfänge von Zaimoglus literarischer Autorschaft veranschaulichen. 1995 erschien Zaimoglus Debüt Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft, das laut Peritext der Erstauflage »wilde[…] und radikal authentische

1079 1080 1081 1082

Müller: Die forcierte Altertümelei von Mittelaltermärkten, S. 8. Encke: Gegen das gewaltige Gewoge. Ebd. Franzen: Breitbeiniger Anspruch.

Authentizität und Geschlecht

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[…] Bekenntnisse junger Männer türkischer Abstammung« versammelt.1083 Schon hier präsentiert sich Zaimoglu »ganz im Gestus einer Sprecherfigur der Unterdrückten«1084 und übernimmt dabei eine doppelte Rolle: Zum einen die des Chronisten, der vermeintlich authentische Aussagen von Betroffenen dokumentiert, zum anderen die als Angehöriger der Gruppe der Betroffenen, der ihre kollektiven Erfahrungen teilt: Die authentizitätssteigernden Inszenierungsstrategien, derer sich Zaimoglu bedient, sind offensichtlich. Unter diesem Aspekt sind auch Zaimoglus Verweise auf seinen eigenen Migrationshintergrund zu betrachten. Charakteristika der Deutsch-Türken, ihre Bedürfnisse und Wünsche hinsichtlich ihrer Existenz innerhalb der deutschen Gesellschaft sind Zaimoglu aus eigener Erfahrung bekannt, wie er in Interviews stets betont. […] Zaimoglu ist nicht nur Stellvertreter, sondern auch Zugehöriger, er weiß, wovon er spricht.1085

Anders als bei Die Geschichte der Frau steht im Fall von Kanak Sprak die Autorisierung Zaimoglus durch seine Gruppenzugehörigkeit außer Frage. Ein markantes Beispiel dafür, dass seine Lizenzen aufgrund seiner Herkunft andere sind als die eines Autors ohne deutsch-türkischen Migrationshintergund, liegt in der Verwendung des Begriffs ›Kanake‹. Ursprünglich als abwertendes Schimpfwort für Menschen mit Wurzeln in der Türkei oder im arabisch-persischen Sprachraum verwendet, etablierte sich ›Kanake‹ auch als trotzige Selbstbezeichnung – für die als solche aber wiederum die Gruppenzugehörigkeit des Sprechenden von entscheidender Bedeutung ist. Dass Zaimoglu diese selbstermächtigende Verwendungsweise des Begriffs und damit auch die notwendige Autorisierung qua Herkunft für sich beansprucht, zeigt sich 1998 in einer denkwürdigen Diskussion in der TV-Gesprächsrunde 3 nach 9, in der er unter anderem mit der damaligen Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis, über die Legitimität der Begriffsverwendung streitet: »Bereits deutlich in Rage fordert Simonis eine Erklärung von Zaimoglu: ›Wieso dürfen Sie Kanake sagen und ich nicht?‹, worauf Letzterer schlicht erwidert: ›Weil man da draußen uns ständig als Kanaken bezeichnet.‹«1086 Zaimoglu vertritt hier eine identitätspolitische Position, die klar zwischen den Lizenzen der Vertreter*innen der Mehrheitsgesellschaft und denen mar1083 Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. 24 Mißtöne vom Rande der Gesellschaft. Hamburg 1995, U4. 1084 Gesa Husemann: Vom »Sprachrohr der Kanaken« zum »deutschen Dichter« – Feridun Zaimoglu. In: Jürgensen/Kaiser (Hg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 383– 404, hier S. 385. 1085 Ebd., S. 387f. 1086 Jochen Neubauer: Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akin, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Socak und Feridun Zaimoglu. Würzburg 2011, S. 459.

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Inszenierung und Zuschreibung von Authentizität

ginalisierter Gruppen unterscheidet. Eine ähnliche Argumentation lehnt er gut 20 Jahre später im Kontext der Rezeption von Die Geschichte der Frau strikt ab. Gleichzeitig knüpft er aber mit diesem Roman an seine damalige Rolle als Sprachrohr unterdrückter Gruppen an. Diese hatte er zwischenzeitlich zugunsten seiner Nobilitierung auf dem literarischen Feld der Gegenwart aufgegeben, wie Gesa Husemann in ihrem Beitrag zum Imagewandel Zaimoglus konstatiert: Im Laufe seiner literarischen Karriere weigert sich Zaimoglu, als Autor mit Migrationshintergrund eine gesonderte Position in der Peripherie des literarischen Feldes einzunehmen, und greift auf Inszenierungsstrategien zurück, mithilfe derer es ihm gelingt, sich im zentralen Positionsfeld der deutschen Gegenwartsliteratur zu platzieren.1087

Der Wandel in der schriftstellerischen Selbstinszenierung Zaimoglus ist somit ein anschauliches Beispiel für die in Kapitel 3.1. beschriebene doppelte Wirkungsweise der Authentizitätsnorm innerhalb des Herkunftsdiskurses, in dem authentisches Erzählen nur einer Gruppe von Betroffenen zugestanden wird, von der gleichzeitig erwartet wird, diese Authentizität auch einzulösen. Die Einhaltung der Authentizitätsnorm, die Zaimoglu durch die Inszenierung seiner Gruppenzugehörigkeit sicherstellt, produziert somit gleichzeitig neue Authentizitätserwartungen, die mit einer inhaltlichen Festlegung verbunden sind. Entsprechend hat sich Zaimoglu von seiner Rolle als Sprachrohr der Marginalisierten distanziert. Die Wiederbelebung dieser Rolle mit Die Geschichte der Frau verläuft jedoch unter gänzlich veränderten Grundbedingungen. Nicht nur agiert Zaimoglu mittlerweile statt von der Peripherie aus dem Zentrum des literarischen Felds, er verlässt mit dem neuen Roman auch den Herkunftsdiskurs und inszeniert sich als Sprachrohr einer Gruppe, der er nicht angehört. Dass diese Form der Inszenierung von der literarischen Öffentlichkeit als Normbruch gewertet wird, legt die diskursspezifische Wirkungsweise der Authentizitätsnorm offen: Eine im Rahmen des Herkunftsdiskurses erworbene Autorisierung lässt sich nicht automatisch auf andere Zusammenhänge übertragen. Hier zeigt sich erneut die kontextabhängige Variation der Zuordnungsvoraussetzungen für den Wert der Authentizität, die den proteushaften Charakter des Authentizitätsbegriffs ausmacht.

1087 Husemann: Vom »Sprachrohr der Kanaken« zum »deutschen Dichter«, S. 404.

Schluss

Die vorliegende Analyse der Inszenierungs- und Zuschreibungspraktiken von Authentizität hat gezeigt, dass es sich bei literarischer Authentizität nicht um ein starres Konzept handelt, sondern um den Gegenstand eines permanenten diskursiven Aushandlungsprozesses, der je nach thematischem Zusammenhang unterschiedliche Auswirkungen auf die Positionskämpfe auf dem literarischen Feld hat. Dieser Aushandlungsprozess wird sowohl von Produktions- als auch von Rezeptionsseite geführt, wobei auf Rezeptionsseite vor allem die spezifischen Erwartungen der Rezipient*innen entscheidend sind, während auf der Produktionsseite die Frage nach der Autorisierung der entsprechenden Autor*innen im Zentrum steht. Die beiden zentralen Fragen, an denen sich die Bedeutung der Authentizitätszuschreibung bemisst, lauten also: ›Was wird in einem bestimmten Zusammenhang von Literatur erwartet?‹ und ›Wer ist in diesem Zusammenhang autorisiert, Authentizität für sich zu beanspruchen?‹. Im Rahmen dieser Arbeit wurde die Grundlage erarbeitet, auf der diese Fragen in den verschiedenen diskursiven Zusammenhängen der literarischen Produktion zu Beginn des 21. Jahrhunderts weiterverfolgt und beantwortet werden können. Dabei kann diese Beantwortung immer nur unter den spezifischen Voraussetzungen der jeweiligen Teildiskurse und ihrer Eigengesetzlichkeiten erfolgen. Denn auch, wenn sich in den unterschiedlichen Erwartungshaltungen und Autorisierungsstrategien bestimmte Parallelen ausmachen lassen (wie etwa die Orientierung am Erfahrungsparadigma), bleibt der Authentizitätsbegriff doch ein Proteus, dessen genaue Bedeutung sich weder in der Kommunikation über Literatur noch in anderen Zusammenhängen letztgültig festschreiben lässt. Vielmehr ist es paradoxerweise gerade seine Wandelbarkeit, durch die der Authentizitätsbegriff zum Fixpunkt von so unterschiedlich gelagerten Debatten, Skandalen und poetologischen Konzepten werden konnte, wie sie in dieser Arbeit vorgestellt wurden. Gerade dadurch, dass es sich bei Authentizität nicht um eine ontologisch bestimmbare Eigenschaft, sondern um ein Zuschreibungsphänomen handelt, ist jeder Akt der Zuschreibung und jede Form der Authentizitätsinszenierung immer auch ein Versuch der beteiligten Akteure, die Deu-

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Schluss

tungshoheit darüber zu gewinnen, was literarische Authentizität eigentlich bedeutet. Daher muss die Frage nach Authentizität immer vor dem Hintergrund eines Zusammenspiels aus Praktiken der schriftstellerischen Inszenierung und Praktiken literarischer Wertung betrachtet werden. Die vorliegende Arbeit ist deshalb nicht nur eine Studie über die verschiedenen Wirkungsweisen des Authentizitätsbegriffs, sondern auch eine Momentaufnahme der Positionskämpfe auf dem Feld der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Als abgeschlossen kann eine solche Momentaufnahme naturgemäß nicht betrachtet werden. Vielmehr ist es so, dass die Beobachtung der sich am Authentizitätsbegriff orientierenden Aushandlungsprozesse auf dem literarischen Feld auch in den kommenden Jahren eine wichtige Aufgabe der literatursoziologischen Gegenwartsforschung sein wird. Auf der Grundlage der hier erarbeiteten Ergebnisse lassen sich dabei die zentralen Fragen nach den Autorisierungsprozessen und rezeptiven Erwartungshaltungen weiterverfolgen. Denkbar wären etwa weitere Studien, in deren Rahmen die Instanzen und Institutionen der Autorisierung näher betrachtet werden, um ein vollständigeres Bild von den Veränderungen zu bekommen, die im Zeitalter der Digitalisierung auf diesem Gebiet zu beobachten sind.1088 Ein weiterer Anwendungsbereich der hier präsentierten Ergebnisse lässt sich in der empirischen Leserforschung finden. So könnte beispielsweise auf Grundlage der hier herausgearbeiteten Funktionen von Authentizitätserwartungen für die Wirkungsweise der Authentizitätsnorm eine empirische Studie Aufschluss über die impliziten Vorerwartungen geben, die Leser*innen an verschiedene fiktionale Texte herantragen. Die Ergebnisse einer solchen Studie könnten nicht nur ergänzend zu den hier unternommenen Analysen von (vor allem der klassischen Literaturkritik zuzurechnenden) Rezeptionsdokumenten betrachtet werden, sondern auch die Wechselwirkungen zwischen sekundärer literarischer Kommunikation und individuellem Lektüreverhalten offenlegen. Doch auch jenseits literaturwissenschaftlicher Fragestellungen bleibt der Authentizitätsdiskurs ein wichtiger Gegenstand der Gegenwartsforschung. Schon anhand der identitätspolitischen Debatten, die in der Diskussion um den Vorwurf der kulturellen Aneignung in dieser Arbeit zur Sprache gekommen sind, lässt sich beobachten, dass der Authentizitätsbegriff auch im Zentrum von politischen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen steht. Doch nicht nur im Kontext linker 1088 Dass im gegenwärtigen Authentizitätsdiskurs auch die klassischen Autorisierungsinstanzen infrage gestellt werden, ließ sich etwa im Zuge der Debatte um Takis Würgers Stella beobachten, als zahlreiche Buchhändler*innen in einem offenen Brief monierten, »dass die Kritiker für sich beanspruchen, die Lufthoheit darüber zu haben, wie über die Zeit des Nationalsozialismus geschrieben werden darf«. (o. A.: Buchhändler nehmen Takis Würger in Schutz. In: Börsenblatt vom 27. 02. 2019, https://www.boersenblatt.net/2019-02-27-arti kel-debatte_um____stella___.1613841.html, zuletzt abgerufen am 07. 03. 2021.)

Schluss

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Identitätspolitik, auch im sprachlichen Umfeld von neu-rechtem Nationalismus, Identitärer Bewegung und Globalisierungsgegnerschaft ist ›Authentizität‹ zu einem zentralen politischen (Kampf-)Begriff avanciert.1089 Die Tatsache, dass der Authentizitätsbegriff in seiner Bedeutungsoffenheit als Projektionsfläche für so viele unterschiedliche politische und gesellschaftliche Vorstellungen dient, sollte nicht dazu führen, dass die Wissenschaft vor einer eingehenden Beschäftigung mit diesem Begriff und seiner Verwendung kapituliert. Sie sollte vielmehr der Ansporn sein, anhand der unterschiedlichen Facetten des Authentizitätsbegriffs die gesellschaftlichen, politischen und literarischen Vorgänge zu untersuchen, die unsere Gegenwart bestimmen.

1089 Vgl. Delphine Horvilleur: Überlegungen zur Frage des Antisemitismus. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Berlin 2020, S. 128.

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Interviews

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V.

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