Diagnose "Psychopathie": Die urbane Moderne und das schwierige Kind. Berlin 1918-1933 9783205793892, 9783205796466

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Diagnose "Psychopathie": Die urbane Moderne und das schwierige Kind. Berlin 1918-1933
 9783205793892, 9783205796466

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Kulturen des Wahnsinns (1870–1930) Band 3





Wolfgang Rose / Petra Fuchs / Thomas Beddies

Diagnose „Psychopathie“

Die urbane Moderne und das schwierige Kind. Berlin 1918–1933

2016 BÖHLAU VERLAG · WIEN · KÖLN · WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung der Prof. Dr. Walter Artelt und Frau Prof. Dr. Edith-Heischkel-Artelt-Stiftung, Frankfurt am Main

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Drei Erzieherinnen der Kinderbeobachtungsstation, gezeichnet von einer siebenjährigen Patientin, 1926

© 2016 by Böhlau Verlag GesmbH & Co.KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Ernst Grabovszki, Wien Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79646-6

Inhalt

Prolog: Ein schwieriges Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13 1.1 Ziel, Methodik und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.2 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.3 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

2. Pädagogik und Psychiatrie. Das Psychopathiekonzept als Gründungsparadigma einer neuen Wissensordnung . . . . . . . 26



2.1 Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das „geborgte“ Paradigma: Psychopathie . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Pädagogik und Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Psychiatrie und Jugendfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“ . . . . . . . . . . . . . .

26 28 31 34 43 49

3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen und die Entwicklung der Berliner Psychopathenfürsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69





3.1 Der Neurologe und Psychiater Franz Kramer . . . . . . . . . . . . . . . 70 3.2 Die Sozialpädagogin Ruth von der Leyen . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.3 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in den Jahren des Ersten Weltkriegs . . . 89 3.4 Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.5 „Beobachtungsstation für psychopathische Kinder bei der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

4. Kinderbeobachtungsstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136



4.1 Der Raum: Konzept und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 4.2 Öffnung und Erweiterung: Die Kinderbeobachtungsstation im Stadtraum . . . . . . . . . . . . . . 167 4.3 Mediziner und Pädagoginnen: Interdisziplinäre Praxis und epistemologische Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

6

Inhalt

5. Praxis im Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195



5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge . . . . . . . . . . . . . . 195 5.2 Aus- und Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.3 Das wissenschaftliche Netzwerk im Deutschen Reich . . . . . . . . . . . 232 5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Anlage-Umwelt-Debatte . . . . 252

6. Das Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

6.1 Die „Monstra“-Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

Epilog: Dimensionen eines vergessenen Raumes der urbanen Moderne . . . . . . . . . . . . 300 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .309 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Kramer, Franz – Personalbibliographie . . . . . . . . . . . . . . 317 Leyen, Ruth von der – Personalbibliographie . . . . . . . . . . . 322 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Prolog: Ein schwieriges Kind

„Bei Erich Köbler handelt es sich um einen sittlich minderwertigen Jungen, der ständig leicht erregt ist, hemmungslos drauf losschwatzt und zu phantastischen Lügen und Bösartigkeit neigt. Höhere sittliche Gefühle fehlen ihm. Er bedarf als schwerer Psychopath der Unterbringung in einem Heilerziehungsheim.“1

Mit seiner „Gutachtlichen Äußerung“ für das Jugendamt des Berliner Stadtbezirks Schöne­ berg war Stadtoberschularzt Rudolf Reinhardt im Mai 1926 nicht der Erste, der den damals sechsjährigen Erich als abweichend von der Norm ansah. Das Urteil des medizinischen Sachverständigen markiert jedoch den Zeitpunkt, an dem der Junge „amtlich“ bestätigt den Bereich psychischer „Normalität“ verließ und nun zu den sechs- bis zehntausend Berliner Kindern der 1920er Jahre gerechnet wurde, die nach einer Schätzung des Landesjugendamtes „als Psychopathen mittleren und schwereren Grades zu bezeichnen“ waren.2 Erich war ein „Revolutionskind“. Seine Eltern hatten in der Zeit politischer Unruhen und gewaltsamer Auseinandersetzungen zum Jahreswechsel 1918/19 für kurze Zeit ein Verhältnis unterhalten. Seine Mutter, die Arbeiterin Marie Köbler, war zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt, der Vater, Emanuel Marcin, ein 20-jähriger polnischer Grubenarbeiter, war als Soldat in Berlin stationiert.3 Als Erich am 22. August 1919 in der Hebammenlehranstalt Neukölln – einer Entbindungsanstalt für ledige, sozial benachteiligte Frauen – geboren wurde, war die Beziehung bereits beendet, Marcin erkannte die Vaterschaft nicht an und ging zurück in seine oberschlesische Heimat.4 Die minderjährige Marie Köbler zog mit dem Kind zu ihrer 1

2 3 4

Über Erich Köbler liegen folgende Quellen vor: ein Krankenblatt der Nervenpoliklinik (HPAC, Pol.Krbl. Kn. 322/1926) sowie zwei Krankenakten der Kinder-Kranken- und Beobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité (HPAC, KBS 263 und KBS 825, beide unpaginiert). Für die Namen der Patient_innen und Angehörigen werden im Folgenden grundsätzlich Pseudonyme verwendet. Zitiert wird hier: HPAC, KBS 825, Gutachtliche Äußerung (Dr. Reichardt) v. 14.05.1926 (Abschrift), o. Bl. Bei der Schreibweise „Reichardt“ in der Akte handelt es sich wohl um einen Schreibfehler. Der Stadtoberschularzt Rudolf Reinhardt (geb. 1874) war 1907 in Leipzig mit einem „Beitrag zur Lehre von den Puerperalpsychosen“ bei Paul Flechsig promoviert worden (erschienen Leipzig 1907). Knaut 1930, S. 21. HPAC, KBS 263, Anamnese (Angaben d. Mutter), 10.07.1926 sowie KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, alles o. Bl. Vgl. hier und nachfolgend HPAC, KBS 825, aus den Akten der Amtsvormundschaft, Berlin-Schöneberg, Bericht der Säuglingsfürsorgestelle, o. Bl.

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Prolog: Ein schwieriges Kind

Mutter, die im Dezember 1919 die Pflegschaft für den Enkel übernahm. Erichs Großvater, ein ehemaliger Ziegeleibesitzer, befand sich zu diesem Zeitpunkt in der brandenburgischen Landesirrenanstalt Teupitz, von wo ihn seine Frau jedoch bald darauf wieder nach Hause holte.5 Die Rückkehr des Vaters bzw. Großvaters führte dazu, dass alte Probleme und Streitigkeiten in der Familie wieder zutage traten. Marie Köbler, das sechste von acht Geschwistern, war vom Vater sexuell missbraucht worden, er galt als „jähzornig, schlug Frau & Kinder rücksichtslos“. Während des Weltkrieges hatte er in einer Munitionsfabrik gearbeitet und bei einer Explosion das Gehör verloren, seitdem war er „noch erregter & schwerer zu behandeln“ gewesen. Wegen des Missbrauchs der Tochter sollte er strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden, war dann aber in die psychiatrische Anstalt eingewiesen worden. Schon bald nachdem seine Frau ihn aus Teupitz geholt hatte, traten die alten Verhaltensweisen erneut hervor, er wurde „wieder unleidlich“.6 Nachdem Erichs Großmutter mehrere Schlaganfälle erlitten hatte und nicht mehr in der Lage war, Tochter und Enkel zu helfen, warf der Großvater Marie Köbler und ihren Sohn im Februar 1923 aus der Wohnung.7 „Die Mutter habe immer soviel Cigaretten geraucht, da habe der Großvater sie rausgeschmissen“, deutete Erich drei Jahre später das Geschehen.8 Trotz der widrigen Verhältnisse berichtete Marie Köbler über die ersten Lebensjahre ihres Sohns, er sei „von Anfang an sehr geweckt, lebhaft“ gewesen, habe eine „schnelle Auffassung“ gehabt. Erich sei der „Liebling der ganzen Familie“ gewesen und gerade auch vom Großvater verwöhnt worden. In der Spielschule (im Kindergarten) habe Erich schnell gelernt und sei sehr beliebt gewesen. Dort habe man über ihn geurteilt, „er sei lebhaft aber artig, gutmütig, lustig, tanze gern, lerne leicht“.9 Da sie den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn nicht bestreiten konnte und wohl auch mit der Erziehung des Jungen überfordert war, gab Marie Köbler ihn nach dem Verweis aus der elterlichen Wohnung im April 1923 in eine Pflegefamilie.10 Von diesem Zeitpunkt an 5

HPAC, KBS 263, Anamnese (Angaben d. Mutter), 10.07.1926, o. Bl. Die Herausnahme des Großvaters aus der Landesirrenanstalt Teupitz hängt möglicherweise mit den schwierigen Lebensumständen in den psychiatrischen Anstalten am Ende des Ersten Weltkrieges zusammen. Die allgemeine Unterversorgung ab 1917, die sich in den ersten Nachkriegsjahren fortsetzte, traf die psychisch Kranken und geistig Behinderten in den Anstalten noch härter als die durchschnittliche Zivilbevölkerung und führte zu einem Hungersterben (vgl. Faulstich 1998). Die Zahl der Patient_innen in der Anstalt Teupitz sank zwischen 1917 und 1920 um mehr als 25 Prozent (Durchschnittsbelegung 1916: 1.284, 1919: 935). Vgl. BLHA, Rep. 55 Provinzialverband Abt. IX, Nr. 1697, o. Bl. 6 HPAC, KBS 263, Anamnese (Angaben d. Mutter), 10.07.1926, o. Bl. 7 HPAC, KBS 825, aus den Akten der Amtsvormundschaft, Berlin-Schöneberg, o. Bl. 8 HPAC, Pol.-Krbl. Kn. 322/1926, Angaben des Kindes. 9 HPAC, KBS 263, Anamnese (Angaben d. Mutter), 10.07.1926, o. Bl. 10 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, o. Bl.

Prolog: Ein schwieriges Kind

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war Erich dem Bezirksjugendamt Schöneberg bekannt, das für die Vermittlung der Pflegestelle zuständig war. Rückblickend heißt es vonseiten des Amtes: „Das Kind machte bereits damals einen sehr nervösen Eindruck; stand, wenn man mit ihm sprach, nicht einen Augenblick still, bewegte die Hände, drehte am Taschentuch, an der Jacke u. dergl.“11 In der Folgezeit hielt Marie Köbler nur sporadisch Kontakt zu Erich, auch zahlte sie nur unregelmäßig Pflegegeld, sodass die Stadt Berlin die Kosten schließlich vollständig übernahm. Als Grund dafür, dass sie sich weniger um ihren Sohn kümmerte, führte die Mutter ein zunehmendes Zerwürfnis mit den Pflegeeltern an. Sie „habe ihn aber öfter heimlich beobachtet, wenn er a. d. Schule kam etc. (weint dabei)“.12 Als Erich im April 1925 eingeschult wurde, zeigte er sich, so der Bericht des Jugendamtes Schöneberg, „begabt, aber sehr unruhig“. Demnach störte er den Unterricht und brachte „die Lehrerin manchmal zur Verzweiflung“.13 Diese habe ihn zwar „als Kranken mit dauernder Nachsicht [behandelt], habe aber nichts dadurch erreicht“.14 Auch die Pflegemutter klagte über „Eigensinn, Mangel an Wahrheitsliebe, grosse Unruhe, Lebhaftigkeit, eine unmäßige Neigung zu Onanie und Verführung anderer Kinder“. Bei jeder Bestrafung schreie Erich derart, dass die Mitbewohner des Hauses sie bereits wegen Misshandlung angezeigt hätten, und „der Junge, seitdem er bemerkt hat, dass er bei anderen Schutz findet, verstärkt sein Geschrei noch“.15 Ausschlaggebend für die Zuordnung Erichs in den Bereich des „nicht Normalen“ war jedoch sein als abweichend empfundenes sexuelles Verhalten. Bereits seit 1923 hatte die Pflegemutter Onanie bei ihm beobachtet und ihn deshalb wiederholt in der Kleinkindersprechstunde vorgestellt. Es trat jedoch keine „Besserung“ ein, zudem kam es nach Angaben der Pflegemutter zu Masturbationshandlungen mit anderen Kindern. Als der Junge daraufhin dem Schularzt vorgestellt wurde, erzählte er diesem, die Mutter hätte ihm das Onanieren beigebracht. Weil Erich seiner eingangs zitierten Einschätzung nach als „schwerer Psychopath“ anzusehen war, hielt Rudolf Reinhardt nun auch eine stationäre psychiatrische Beobachtung für notwendig.16 Das Bezirksjugendamt folgte der Empfehlung zur Herausnahme aus der ge11 12 13 14

HPAC, KBS 263, Bericht des Bezirksjugendamtes Schöneberg (Hampel), 04.06.1926, o. Bl. HPAC, KBS 263, Anamnese (Angaben d. Mutter), 10.07.1926, o. Bl. HPAC, KBS 263, Bericht des Bezirksjugendamtes Schöneberg (Hampel), 04.06.1926, o. Bl. HPAC, KBS 825, Aus den Akten der Amtsvormundschaft, Berlin-Schöneberg, Bericht der Lehrerin, o. D. (Juni 1926). o. Bl. 15 Vgl. HPAC, Pol.-Krbl. Kn. 322/1926, Anamnese. 16 HPAC, KBS 263, Bericht des Bezirksjugendamtes Schöneberg (Hampel), 04.06.1926, o. Bl.; Marie Köbler beschuldigte ihrerseits ihren Vater, dem Jungen Selbstbefriedigung beigebracht zu haben (HPAC, KBS 263, Anamnese (Angaben d. Mutter), 10.07.1926, o. Bl.). Hier zeigt sich deutlich die verbreitete Wertung von Masturbation als moralisches Fehlverhalten.

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Prolog: Ein schwieriges Kind

wohnten Umgebung und veranlasste zunächst die Aufnahme in ein Heilerziehungsheim bei Oranienburg, erhielt von dort jedoch „wegen Überfüllung“ eine Absage.17 Nunmehr schlug das Landesjugendamt, dem der Fall offenbar bekannt geworden war, die Aufnahme in einer besonderen Einrichtung vor – der Beobachtungsstation für psychopathische Kinder bei der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité.18 Am 7. Juni 1926 wurde Erich in Begleitung einer Praktikantin des Jugendamtes in der dortigen Sprechstunde der Nervenpoliklinik vorgestellt und durch die untersuchende Ärztin der Kinderbeobachtungsstation (KBS) überwiesen. Die Beobachtungsstation blickte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine fünfjährige Praxis im interdisziplinären Umgang mit verhaltensauffälligen und erziehungsschwierigen Kindern und Jugendlichen zurück. Erich zählte zu den rund 170 Mädchen und Jungen im schulpflichtigen Alter mit „psychopathischer Konstitution“, die bis Mitte 1926 dort aufgenommen, untersucht, begutachtet und behandelt wurden.19 Die KBS befand sich im Zentrum des Gebäudekomplexes der Psychiatrischen und Nervenklinik, der architektonisch dreifach gegliedert war: Vorne, nach Süden gelegen, befand sich das sogenannte Lehrgebäude. Hier lagen (im Erdgeschoss des Westflügels) auch die Räume der Nervenpoliklinik, außerdem Hörsaal, Laboratorium, Badeanstalt, Wohnungen für Ärzte, Beamte und Lohnbedienstete20 sowie im ersten Stockwerk die Krankensäle und -zimmer für neurologische Patient_innen. Daran schlossen sich der mittlere Gebäudeabschnitt der psychiatrischen Klinik für ruhige Patient_innen sowie auf der Nordseite zwei Absonderungshäuser für „unruhige Kranke“ an. Die stationären Bereiche waren nach Geschlechtern getrennt, wobei sich die Männer westlich und die Frauen östlich der Mittelachse des Gesamtkomplexes befanden. Die zur Beobachtung auffälliger Kinder und Jugendlicher vorgesehenen Zimmer lagen am Ende des Traktes der „ruhigen“ psychiatrischen Frauenabteilung. Man musste tief in den psychiatrischen Raum vordringen, um sie zu erreichen. Gleichzeitig befand man sich dort am äußersten östlichen Rand des Mittelgebäudes. Der Weg, den Erich nach seiner Vorstellung in der Nervenpoliklinik zurücklegen musste, um auf die KBS zu gelangen, verdeutlicht diese besondere Lage noch einmal: Für die stationäre Aufnahme existierte an sich nur die Zugangsmöglichkeit durch den im Lehrgebäude gelegenen Haupteingang der Psychiatrischen und Nervenklinik. Wie in Erichs Fall wurden Kinder und Jugendliche jedoch auch über die Nervenpoliklinik an die Beobach17 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk v. 28.05.1926, o. Bl. 18 HPAC, Pol.-Krbl. Kn. 322/1926, Anamnese. Zur Bezeichnung der Station vgl. Leyen/Marcuse 1928, 476. 19 HPAC, Diagnosebuch der Kinderbeobachtungsstation 1921 bis 1945. 20 UAHUB, Char. Dir. 1384.

Prolog: Ein schwieriges Kind

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tungsstation überwiesen, manchmal direkt im Anschluss an eine dort vorgenommene Untersuchung.21 Von der Poliklinik führte ein verwinkelter Flur in die zentrale Eingangshalle des Lehrgebäudes. In Begleitung der Praktikantin des Jugendamtes gelangte Erich von der Halle aus über einen weiteren kurzen Flur und einen kleinen Vorraum zu zwei parallelen Verbindungsgängen, die das Vorderhaus mit dem mittleren Gebäudetrakt verbanden. Erich durchquerte den rechtsseitigen, etwa 40 Meter langen Gang, der zur psychiatrischen Frauenklinik führte. Dieser war mit dreiflügeligen Bogenfenstern versehen und erlaubte einen Blick in den Garten für die ruhigen psychisch kranken Frauen, auf die diesen Bereich umgrenzenden Bauten aus rotem Klinkerstein sowie die Mauer, die die gesamte Klinik umschloss. Am Ende dieser ersten Wegstrecke, mit Erreichen des Wartesaals für Frauen, befand sich Erich nun im architektonischen Zentrum der Klinik. Angrenzend an die rechte Seite des Saales lag das Aufnahmezimmer, in dem der Junge dem diensthabenden Arzt vorgestellt wurde, der ihn der „Station 30 a (Kinder)“ zuwies. Von dieser Stelle aus begleitete die Praktikantin Erich auf die nächste Ebene. Der Weg führte erneut durch den Wartesaal hindurch in das Treppenhaus und in den ersten Stock der ruhigen Frauenabteilung. Nachdem sie einen kleineren, quadratischen Flur erreicht hatten, gab es zwei Möglichkeiten des Zugangs zur Kinderbeobachtungsstation: entweder durch zwei zusammenhängende Zimmer, das Musikzimmer und den Tagesraum, oder durch den großen Krankensaal der Station. Alle drei Räume zählten bereits zum psychiatrischen Binnenraum. Hier kam es vermutlich erstmals zu einem Kontakt mit den Patientinnen der Station 30, die dort in ihren Betten lagen oder im Anschluss an die Therapie- und Arbeitszeiten verschiedenen Freizeitbeschäftigungen nachgehen konnten. Beide Wege mündeten erneut in einen Flur, an dem linker Hand das Untersuchungszimmer lag. Dort erhob der zuständige Stationsarzt in der Regel eine ausführliche Anamnese durch Befragung der Eltern bzw. der jeweiligen Begleitperson. Manchmal wurde das Kind jedoch direkt bis in die Räume der KBS gebracht, wie auch in Erichs Fall. Der Arzt verzichtete unter Verweis auf den ausführlichen Bericht des Jugendamtes Schöneberg, den die begleitende Praktikantin bei sich trug, zunächst auf eine Anamnese und hielt in der Krankenakte fest: „Pat. lässt sich ohne auffällige Reaktion aufnehmen, hat bald seine anfängliche scheue Zurückhaltung aufgegeben & zeigt sich mehr & mehr lebhaft, wendet auch bald seine Zärtlichkeit den neuen Erwachsenen zu.“22 Zu den „neuen Erwachsenen“ zählte in erster Linie die pädagogische Leiterin der Kinderbeobachtungsstation. Von ihr erhielt der Mediziner wesentliche Informationen über Erichs Verhalten in den ersten Stunden nach seiner Aufnahme wie auch während seines gesamten, halbjährigen Klinikaufenthalts. Die Zusammenarbeit von Pädagogin und Psychiater be21 Zum topographischen Schwellenraum Nervenpoliklinik vgl. Hess/Ledebur 2012, 20–28. 22 HPAC, KBS 263, Krankengeschichte (Schulte), Eintrag v. 07.06.1926, o. Bl.

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Prolog: Ein schwieriges Kind

stimmte in besonderer Weise den Charakter dieser frühen kinderpsychiatrischen Station an der Charité und war essentiell für die dortige Praxis der Beobachtung und therapeutischen Beeinflussung des „schwierigen“ Kindes.

1. Einleitung

1.1 Ziel, Methodik und Fragestellungen Die vorliegende Studie untersucht mit der Kinderbeobachtungsstation in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Berliner Charité Ort und Praxis eines richtungweisenden Umgangs mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen in der Zeit der Weimarer Republik. Die Station wurde nach dem Ersten Weltkrieg durch die engagierte Arbeit verschiedener Akteure und Akteurinnen gegründet und räumlich wie fachlich zu einem Zentrum nicht nur der medizinischen Behandlung, sondern auch der pädagogischen Betreuung und sozialen Fürsorge für betroffene Kinder und Familien ausgebaut. Das „schwierige, das konfliktreiche, gefährdete, verwahrloste, kriminelle“1 – kurz: das psychopathische – Kind war in der Zeit des „Durchbruchs“ der Moderne in Deutschland zwischen 1880 und 19302 ein Phänomen, das zunächst am Rande verschiedener Wissensordnungen wie etwa der Pädagogik, Psychiatrie und Fürsorge, des Rechtswesens und der Psychologie lag. Da im Mittelpunkt des Interesses der beteiligten Professionen und ihrer jeweiligen Wissensordnungen das „normale“ Kind (Pädagogik) bzw. der erwachsene Mensch (Psychiatrie, Fürsorge, Rechtswesen, Psychologie) stand, repräsentierte das psychopathische Kind nicht nur ein „epistemologisches Randphänomen“. Randständig war vielmehr auch der regulatorische Zugriff auf dieses „boundary object“,3 denn ebenso umstritten wie die Frage nach den Ursachen kindlicher Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten waren zunächst auch die Methoden ihrer Beeinflussung. Das nicht gefestigte, kontrovers diskutierte Wissen über dieses randständige Thema eröffnete einen epistemischen Schwellenraum mit all seinen Paradoxien, Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheiten. Vor diesem Hintergrund soll die Praxis des Umgangs mit „auffälligen“ Kindern im Sinne des Konzeptes der Liminalität Victor Turners gedeutet und beschrieben werden:4 Liminalität (lat. limen = Schwelle) entsteht demnach an den Rändern der Gesellschaft, dort, „wo die sozialen Strukturen ihre Verbindlichkeit verlieren“.5 Der Begriff Schwellenzustand bezeichnet einen „kulturellen Bereich, der wenig oder keine Merkmale des vergangenen oder zukünftigen Zustands aufweist“,6 ei1 2 3 4 5 6

Leyen 1931, 627. Bajohr/Johe/Lohalm 1991; Peukert 2003, 267–271. Star/Griesner 1989. Vgl. Turner 2000. Förster 2002, 2, 11. Turner 2000, 94.

14

1. Einleitung

nen metaphorischen Raum des „Dazwischen“, des Unbestimmten, der Aufhebung tradierter normativer sozialer, ökonomischer und politischer Zwänge. Die Beobachtungsstation bildet somit den Ausgangspunkt für die Darstellung eines nicht allein topographisch zu verortenden Übergangs- oder Schwellenraums. Vielmehr entfaltete sich aus dieser Situation des mehrfach „Abseitigen“ in der pluralistischen Gesellschaft der Weimarer Republik seit 1918/19 ein Möglichkeitsraum, in dem unterschiedliche Konzepte des Umgangs mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen verhandelt wurden. Ziel der Studie ist die Rekonstruktion eines damit verbundenen, weitgehend in Vergessenheit geratenen empirischen Ansatzes, wie er in der Metropole Berlin in enger Kooperation von Psychiatrie und Heilpädagogik bis 1933 entwickelt, modifiziert und etabliert wurde, und in dessen praktischer Anwendung die Kinderbeobachtungsstation eine zentrale Rolle spielte. Im Unterschied zu bisher vorliegenden Untersuchungen über die Station wird hier methodisch vor allem auf raumwissenschaftliche Theorien zurückgegriffen, da die KBS als institutioneller Dreh- und Angelpunkt einer besonderen Form des Umgangs mit devianten und delinquenten Mädchen und Jungen auch eine topographische Schwelle darstellte, die den Übergang von der Außenwelt in eine psychiatrische Einrichtung und zurück in die „normale Umwelt“ markierte. Diesem Ansatz folgend, soll zunächst die physisch-materielle Beschaffenheit der Beobachtungsstation beschrieben werden. In ihrer Spezialisierung auf Kinder und Jugendliche als Teilgruppe psychiatrischer Patientenschaft ebenso wie in ihrer Konzentration auf die Diagnose jugendlicher psychopathischer Konstitution lässt sie sich konkret als Ort für verhaltensauffällige Mädchen und Jungen definieren. Aufgrund ihrer Lokalisierung in der Psychiatrie erscheint sie als ein spezifisch medikaler Raum.7 Allerdings bildete die KBS als eine besondere Institution innerhalb der „psychiatrischen Landschaft“ gewissermaßen einen Raum in einem Raum, der zwar über seine Architektur, seine Organisation und Verwaltung sowie in personeller Hinsicht mit der Psychiatrischen und Nervenklinik für erwachsene psychisch Kranke verbunden war, jedoch auch eine Reihe von Unterschieden aufwies.8 Worin bestanden diese Differenzen, und wie wirkten sie sich auf die Strukturierung des Alltags auf der KBS aus? Konstitutives Merkmal der untersuchten Einrichtung war die Interaktion zweier Wissensordnungen, also die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychiater_innen und Heilpädagoginnen mit dem Ziel der empirischen Erforschung der psychopathischen Konstitution im Hinblick auf Ätiologie und Therapie.9 Dem Anspruch nach sollte die beiderseits angestrebte

7 8 9

Der Terminus „medikaler Raum“ bezeichnet allgemein „Räume des medizinischen Versorgungswesens“; Orte, die für „Irre und Nervenkranke“ konzipiert wurden, gelten als spezifisch medikale Räume. Vgl. Hänel/Unterkircher 2010, 9 f. Hänel/Unterkircher 2010, 9. Vgl. Leyen 1931, 627.

1.1 Ziel, Methodik und Fragestellungen

15

Kooperation auf der gegenseitigen Anerkennung der fachlichen Kompetenzen beruhen.10 In welcher Weise prägten diese Voraussetzungen das Alltagshandeln auf der Station? Wie interagierten die beteiligten Fachvertreter_innen und welche Kommunikationsmuster lassen sich aus den überlieferten Quellen ablesen? Lassen sich fachliche Synergieeffekte des Wissensraums KBS beobachten? Als solcherart interdisziplinär und kooperativ angelegte Institution im Kontext des Medikalen eignet sich das Konzept der KBS wie kaum ein anderes für eine „spezifisch kulturwissenschaftliche Perspektivierung“, wie sie die medizinische und medizinhistorische Raumforschung seit Kurzem unternimmt.11 Schon die konzeptionelle Mehrdimensionalität der Station und die Tatsache, dass die wissenschaftliche Erforschung und Beeinflussung der kindlichen Psychopathie unter Einbindung heilpädagogischer Theorie und Praxis erfolgte, legen es nahe, dieses physische und symbolische Konstrukt unter soziologischer und unter erziehungswissenschaftlicher Raumperspektive zu analysieren.12 Die KBS wäre demnach zunächst als Raum anzusehen, der erst durch die Praxis sozialer Akteur_innen Gestalt annimmt.13 Mit welchen Bedeutungen versahen die handelnden Subjekte – insbesondere Jugendfürsorgerinnen und Mediziner_innen, aber auch die dort untergebrachten Kinder und Jugendlichen – diesen Raum, und wie gestalteten sie ihn, physischkonkret und metaphorisch-abstrakt? Welche strukturierenden Wirkungen gingen von der vorgefundenen Räumlichkeit wie von der „Verräumlichung“14 auf die handelnden Individuen aus? Mit dem Blick auf Erziehungs-, Unterrichts- und Sozialisationsprozesse erscheint die KBS zugleich als materialisierte Heilpädagogik,15 die sich im Raumkonzept der Station ebenso widerspiegelt wie in der Methodik der heilpädagogischen Beobachtung. Da die Anstellung von heilpädagogisch qualifizierten Jugendfürsorgerinnen des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen (DVFjP) auf der KBS integraler Bestandteil der Konzeption war und die professionellen Kompetenzen der Erzieherinnen im Prozess der Erforschung und Beeinflussung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten einen hohen Stellenwert hatten, drängt sich eine erziehungswissenschaftliche Raum-Reflexion geradezu auf. Welchen Prämissen folgte 10 Kramer 1935, S. 308. 11 Vgl. Hänel/Unterkircher 2010, 10. Eine erste Annäherung an die KBS als topographischen und epistemologischen Schwellenraum erfolgte im ersten Band der Reihe „Kulturen des Wahnsinns“, dem gemeinsamen Publikationsprojekt der seit 2009 bestehenden gleichnamigen DFG-Forschergruppe (Fuchs/Rose/Beddies 2012). 12 Henri Lefebvre, zit. n. Kajetztke/Schroer 2010, 196. 13 Kajetzke/Schroer 2010, 202. 14 Kajetzke/Schroer 2010, 193. 15 Jelich/Kemnitz 2003, 11; Reutlinger 2009, 94 f.

16

1. Einleitung

die pädagogische Gestaltung der KBS? Wie wirkte sich das reale und symbolische räumliche ­Arrangement im Sinne einer „psycho-pädagogischen Umwelt“16 auf das Verhalten der Kinder und Jugendlichen aus? Welche Bedeutung kam dem pädagogischen Handeln im Zusammenwirken mit psychiatrischem Agieren zu? Als räumliche Struktur ist schließlich auch das Netzwerk der sich konstituierenden Wissensordnung „Psychopathenfürsorge“ in Berlin und im Deutschen Reich aufzufassen.17 Welche Rolle spielte in dieser „Wissenstopographie“18 der Forschungskomplex des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, dem die KBS zuzuordnen ist? Mit welchen Strategien versuchten die Protagonist_innen dieses Netzknotens auf der Basis des hier gewonnenen Wissens, die Entwicklung der Psychopathenfürsorge zu beeinflussen? Welcher Art waren die Wissensbestände, die sie in das interdisziplinäre Netzwerk einspeisten?

1.2 Forschungsstand Die Geschichte der Kinderbeobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité kann als Teil einer übergreifenden Geschichte des medizinischen und pädagogischen Umgangs mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen – und damit auch der sich herausbildenden Spezialisierung Kinder- und Jugendpsychiatrie – gelesen werden. Die moderne Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein relativ junges Fachgebiet. In der Forschungsliteratur wird übereinstimmend ein Zeitraum von etwa 50 Jahren, beginnend Ende der 1880er Jahre, angegeben, in dem sie sich als medizinische Subdisziplin mit einem eigenen Selbstverständnis konstituierte. Erst 1968, mit der Anerkennung eines speziellen Facharztabschlusses, etablierte sie sich in der Bundesrepublik und 1974 in der DDR endgültig als medizinisches Sondergebiet.19 Die vorliegende Untersuchung lässt sich zunächst als eine medizinhistorische Arbeit zur Geschichte und Genese der Kinder- und Jugendpsychiatrie einordnen. Erste historische Arbeiten zu diesem Fachgebiet wurden nach Abschluss der Konstituierungsphase nicht zuletzt vorgelegt, um „ein die Gruppe stärkendes Traditionsbewußtsein“ zu schaffen.20 Dabei handelt es sich zumeist um kürzere Abrisse zur Entwicklung des Fachgebietes. „Solche historischen Darstellungen sollen nicht vorrangig neue Fragen aufwerfen, sondern sie dienen dem rekapitulativen Bewußtmachen der großen Fortschritte, die gemeinsam erreicht wurden.“21 Arbeiten dieser Form historischer Betrachtung erscheinen in längeren oder kürze16 17 18 19 20 21

Vgl. dazu Kramer/Leyen 1934, 309. Bachmann-Medick 2007, 287. Fangerau 2009, 228. Vgl. Nissen 2005, 507, 493. Fegert 1986, 128. Fegert 1986, 128.

1.2 Forschungsstand

17

ren Abständen immer wieder und erfüllen möglicherweise nach wie vor eine Selbstvergewisserungsfunktion für das Fachgebiet.22 Weitere Publikationen befassen sich mit einzelnen Themenbereichen, Institutionen, Personen oder Zeitabschnitten aus der Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie.23 Diese auf detaillierten Quellenstudien basierenden, materialreichen Arbeiten wären der Grundstock für „eine sozialhistorisch-ideengeschichtlich und wissenssoziologisch orientierte Geschichte der Kinderpsychiatrie“.24 Eine Monographie, die diese Zusammenschau leistet und die Entstehung der wissenschaftlichen Kinder- und Jugendpsychiatrie in den Kontext der erweiterten Jahrhundertwende zwischen 1870 und 1930 mit ihren umstürzenden sozialen, politischen und kulturellen Prozessen des „Aufbruchs in die Moderne“ stellt,25 fehlt jedoch bisher. Eine Ursache dafür dürfte darin liegen, dass der Einfluss unterschiedlicher Wissensordnungen auf die Genese der Kinder- und Jugendpsychiatrie zwar allgemein anerkannt wird, bislang jedoch nicht untersucht wurde, welche Kräfte und Mechanismen die verschiedenen Interessen und Zielvorstellungen der beteiligten Disziplinen so strukturierten, dass letztlich eine neue Wissensordnung entstand. In der Regel wird dieser Prozess in den einschlägigen medizinhistorischen Arbeiten als eine „kumulative Entwicklung“ dargestellt.26 Demnach erscheint die Entstehung des Fachgebietes als Resultat der allmählichen Zusammenfassung von Forschungsergebnissen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, der Entfaltung eines spezifischen wissenschaftlichen Diskurses und seiner Institutionalisierung in eigenen Einrichtungen, Lehrbüchern, Fachzeitschriften und Fachorganisationen bis hin zur rechtlichen Kodifizierung.27 Im Unterschied zu dieser Form der „Fortschrittserzählung“ greifen wir auf den mit dem Modell der „wissenschaftlichen Revolution“ verknüpften Paradigmabegriff zurück, um die Genese der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu erklären. Die eingangs geschilderte liminale Situation des epistemologischen und regulatorischen Interesses an verhaltensauffälligen Kindern lässt sich als „eine Periode ausgesprochener fachwissenschaftlicher Unsicherheit“ 22 Hier sind für den deutschsprachigen Raum vor allem Artikel von Hermann Stutte, Gerhardt Nissen und Helmut Remschmidt in den einschlägigen Fachpublikationen zu nennen. Überblicksdarstellungen in Spezialstudien beziehen sich zumeist auf die Veröffentlichungen dieser Autoren. Auch Nissens 2005 vorgelegte umfangreiche Monographie gehört zu diesem Typus historiographischer Literatur. 23 Genannt seien hier verschiedene Arbeiten, die in den 1970er und 1980er Jahren am Freiburger Institut für Geschichte der Medizin entstanden, so Kindt 1971, Hänsel 1974, Kloë 1979, Barner 1980 und Heiland 1986. Als Beispiele aus neuerer Zeit sei auf Laube 1996, Keim 1999, Thüsing 1999, Waibel 2000, Castell et al. 2003, Rothenberger und Neumärker 2005, Kölch 2006 sowie Castell 2008 verwiesen. 24 Fegert 1986, 128. 25 Nitschke et al. 1990. 26 Dörner 1984, 18. 27 Vgl. z. B. Stutte 1957; Harms 1962; Nissen 2005 passim; Remschmidt 2008.

18

1. Einleitung

charakterisieren.28 Solche Krisensituationen gelten als „notwendige Voraussetzung für das Auftauchen neuer Theorien“,29 die sich zum Paradigma einer neuen Wissenschaftsdisziplin entwickeln können, das „für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen“ liefert,30 und zwar unabhängig von ihrer fachlichen Herkunft. Das Gründungsparadigma der Kinder- und Jugendpsychiatrie – so unsere Annahme – war das Psychopathiekonzept. Eine systematische Verknüpfung der Entwicklung des Psychopathiebegriffs mit der Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie findet in der Forschungsliteratur nur selten statt. Christel Braig legte 1978 eine verdienstvolle Zusammenstellung einschlägiger Quellen vor. 31 Im selben Jahr untersuchte Helmut Remschmidt verschiedene Psychopathiekonzepte und bewertete sie unter einem kinder- und jugendpsychiatrischen Blickwinkel. Zugleich verdeutlichte er den historischen Charakter des Psychopathiebegriffs, dessen Inhalt – insbesondere die variierende Gewichtung von Anlage oder Umwelt als Ursachen von Persönlichkeitsstörungen – immer abhängig von „gewissen Zeitströmungen“ war.32 Die Frage, welche Rolle der Psychopathiebegriff für die Konstituierung der medizinischen Subdisziplin Kinder- und Jugendpsychiatrie spielte, wird explizit erst von Michael Kölch aufgeworfen. Sein Fokus liegt jedoch einerseits auf den äußeren sozialen und politischen Bedingungen, die sowohl die Expansion des Psychopathiekonzepts als auch die verstärkte Beschäftigung mit devianten Kindern und Jugendlichen förderten, und andererseits auf dem Interesse der Psychiatrie, sich mittels der Diagnose Psychopathie Einflussmöglichkeiten auf diesem Gebiet anzueignen.33 Wir sehen dagegen das Psychopathiekonzept vorrangig als wissenschaftsintern wirkendes Paradigma an, das für alle an der Entstehung der Kinder- und Jugendpsychiatrie beteiligten Wissensordnungen, „neuartig genug [war], um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, die ihre Wissenschaft bisher auf andere Art betrieben hatten und gleichzeitig […] offen genug, um der Gruppe von Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen“.34

Hier wäre neben der Psychiatrie auch die Pädiatrie zu nennen, aus der heraus sich im Laufe der 1920er Jahre zunehmend Ärzt_innen mit der Erforschung der Psychopathie und der Behandlung und Betreuung betroffener Kinder beschäftigten. Insofern verstehen wir unsere 28 29 30 31 32 33 34

Kuhn 2003, 80. Kuhn 2003, 90. Kuhn 2003, 10. Braig 1978. Remschmidt 1978. Kölch 2006; vgl. dort insbesondere das erste Kapitel. Kuhn 2003, 25.

1.2 Forschungsstand

19

Untersuchung auch als einen Beitrag zu einer umfassenden, wissenschaftssoziologisch fundierten Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auf den Ausgangspunkt der Untersuchung bezogen, gehen wir jedoch über die ausschließlich medizinhistorische Betrachtungsweise hinaus, unter der die Kinderbeobachtungsstation an der Charité als wissenschaftlicher Gegenstand bisher in den Blick genommen wurde. Die Dominanz dieser Perspektive ist insofern bemerkenswert, als ja die klinische Praxis der Station vor allem durch die enge Zusammenarbeit von Psychiatrie und Heilpädagogik geprägt war und die Gruppe der verhaltensauffälligen und erziehungsschwierigen Kinder und Jugendlichen überdies auch zu den klassischen Gegenständen der Heilpädagogik zählt.35 Die Geschichte der KBS ist also gleichzeitig auch Teil der Geschichte dieses Fachgebietes. Allerdings ergibt sich für jede historiographische Arbeit über die Heilpädagogik das Problem, dass es sich im Grunde um eine Sammelbezeichnung für sehr verschiedenartige Wissensordnungen handelt, auf deren Grundlage sich ein übergreifendes fachliches Selbstverständnis kaum entwickeln konnte.36 Um die Einschätzung des Forschungsstandes in Bezug auf die vorliegende Studie zu präzisieren, ist daher die Beschränkung auf Arbeiten zur Geschichte der Erziehungsschwierigenpädagogik bzw. Pädagogik bei Verhaltensstörungen notwendig. Hier liegen, außer den entsprechenden Kapiteln in den Gesamtdarstellungen zur Geschichte der Heilpädagogik,37 Arbeiten mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen vor: Rolf Göppel untersucht vor allem den Wandel pädagogischer Konzepte im Umgang mit erziehungsschwierigen Kindern und Jugendlichen, wobei eine kritische Haltung gegenüber der Psychiatrie und der von ihr beeinflussten „traditionellen“ Heilpädagogik einerseits und die Sympathie für tiefenpsychologische und psychoanalytische Ansätze andererseits deutlich wird.38 Norbert Myschker vertritt einen eher institutionellen Ansatz. Er bringt die unterschiedlichen historischen Einrichtungen zur Unterbringung, Betreuung und Erziehung von 35 Aus der unüberschaubaren Flut von Publikationen sei hier nur exemplarisch verwiesen auf Ahrbeck/ Rauh 2006; Ellger-Rüttgardt 2008; Goetze/Neukäter 1993; Möckel 2007; Solarová 1983. Zur weiteren Orientierung und Vertiefung vgl. auch die digitale Bibliothek zur integrativen/inklusiven Pädagogik, http://bidok.uibk.ac.at [eingesehen am 15.05.2015]. 36 Die einschlägige deutschsprachige Webseite zur Heilpädagogik listet allein sieben verschiedene Fachrichtungen auf: Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik, Lernbehindertenpädagogik, Blindenpädagogik, Erziehungsschwierigenpädagogik, Körperbehindertenpädagogik, Geistigbehindertenpädagogik, Sprachbehindertenpädagogik. Vgl. Heilpädagogik – Geschichte, http://www.sonderpaedagoge. de/geschichte/deutschland/ez/index.htm [eingesehen am 15.05.2015]. Die Darstellung ihrer historischen Entwicklung wird auch dadurch nicht erleichtert, dass Kinder und Jugendliche unter mehr als eine der zugrunde liegenden Klassifikationen fallen, also beispielsweise zugleich blind und geistig behindert oder erziehungsschwierig und lernbehindert sein können. 37 Merkens 1988, 39–43; Möckel 2007, 143–147 (mit dem Fokus auf schulische Aspekte); Tuggener 1983. 38 Göppel 1989 passim; Göppel 2009.

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1. Einleitung

verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen mit fünf „historiographischen Linien“ in Verbindung, darunter auch eine „pädagogisch-psychiatrische Linie“, deren Entwicklung über Einrichtungen der Psychopathenfürsorge hin zu Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Klinikschulen verlaufen sei.39 Auch für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen liegt aber, wie schon bei der Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie, letztendlich keine Arbeit vor, die ihre Genese umfassend aufgrund innerer und äußerer Faktoren in den Blick nimmt. So, wie es keine speziellen Arbeiten aus heilpädagogischer Perspektive über die KBS oder den DVFjP gibt, existiert bislang auch keine publizierte Monographie über die Initiatorin der Station und Geschäftsführerin des Vereins, Ruth von der Leyen (1888–1935). Dieser Mangel fällt umso mehr auf, als die Medizingeschichte die ärztlichen Protagonisten im Umfeld der Psychopathenfürsorge an der Berliner Charité sehr wohl berücksichtigt. Zu den grundlegenden medizinhistorischen Arbeiten, die die KBS als Teil einer umfangreicheren Arbeit berücksichtigen oder sie ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stellen, zählen die Veröffentlichungen von Michael Kölch40 und Klaus-Jürgen Neumärker.41 Letzterer beklagte bereits in den 1980er Jahren einen Mangel an Forschung zur Entwicklung dieser – aus seiner Sicht – kinderneuropsychiatrischen Einrichtung an der Berliner Charité.42 In seiner jüngsten wissenschaftshistorischen Untersuchung rekonstruiert Neumärker in Zusammenarbeit mit dem Göttinger Kinder- und Jugendpsychiater Aribert Rothenberger die Ursprünge des gegenwärtigen, weitgehend medikalisierten ADHS/HKS-Konzeptes.43 Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Würdigung der Erstbeschreiber der Kern- und Leitsymptome dieser psychischen Störung des Kindesalters, auf die bis heute Bezug genommen wird.44 In der 1932 von Franz Kramer (1888–1967) und Hans Pollnow (1902– 39 Myschker 1993; Myschker 2009, 15–43. 40 Kölch 2006. Seit 2011 leitet der Mediziner die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Berliner Vivantes Klinikum im Friedrichshain. 41 Erwähnung findet die KBS in Neumärker 1990, 131, alleiniger Gegenstand ist sie in Neumärker 2001. Der Neurologe und ehemalige Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie war ab 1987 zunächst Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité in der Nachfolge von Heinz A. F. Schulze. Von 2003 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Juni 2006 leitete er die neu eröffnete Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie an den DRK Kliniken in Berlin-Westend. 42 Neumärker 1982. 43 ADHS/HKS: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung oder Hyperkinetische Störung; Rothenberger/Neumärker 2005. Die Studie wurde ebenso von der Firma MEDICE (Iserlohn) finanziert wie der seit 2003 ausgeschriebene „Kramer-Pollnow-Preis für biologische Kinder- und Jugendpsychiatrie“. Dieser wird für wissenschaftliche Leistungen in der klinischen Forschung, vor allem für die Erforschung der ADHS, vergeben. MEDICE ist nach eigenem Bekunden marktführend im Bereich der Entwicklung und des Vertriebs von ADHS-Medikamenten. Vgl. http://www.medice.de/produkte/ adhs [eingesehen am: 06.06.2012]. 44 Vgl. ICD-10 F90. Hyperkinetische Störungen (F90.0 Einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstö-

1.2 Forschungsstand

21

1943) publizierten wissenschaftlichen Untersuchung „Über eine hyperkinetische Erkrankung im Kindesalter“, die auf Beobachtungen von Kindern auf der Berliner KBS basierte, sehen Neumärker und Rothenberger die Bestätigung des aktuell dominierenden biologischen Erklärungsmodells der ADHS/HKS. Mit der Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte dieser kindlichen Störung verbinden sie zugleich die Anerkennung der Leistungen der biologischen Kinder- und Jugendpsychiatrie und begründen die Notwendigkeit und Relevanz weiterer klinischer Forschung für die qualitative Weiterentwicklung dieses disziplinären Zweiges und der medikamentösen Therapie.45 Im Rahmen seiner Ausführungen zur KBS verweist Neumärker auf die Einbindung der pädagogischen Disziplin in die Alltagspraxis dieser Station.46 In diesem Zusammenhang würdigt er zwar auch den Einfluss Ruth von der Leyens und des DVFjP auf die wissenschaftliche Erforschung der „psychopathischen Konstitution“, doch stehen allein die psychiatrisch-medizinische Praxis und das Wirken Kramers und Pollnows sowie Karl Bonhoeffers (1868–1948) im Fokus.47 Im Unterschied dazu berücksichtigt Michael Kölch in seiner lokalhistorischen Arbeit zur Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Berlin nicht nur die Ereignisgeschichte des DVFjP und der KBS bis in die Anfangsjahre der nationalsozialistischen Diktatur, sondern geht auch dezidiert auf die interdisziplinäre Kooperation zwischen den auf der Station tätigen Jugendleiterinnen und den Ärzten der Psychiatrischen und Nervenklinik ein.48 Den Kern seiner wissenschaftsgeschichtlichen Arbeit bildet jedoch die Beschäftigung mit der Heilpädagogin und Individualpsychologin Annemarie Wolff-Richter (1900–1945) und deren Einrichtung „für schwererziehbare Jungen und Mädchen“ in Berlin-Hermsdorf.49 Das „Psychopathenheim“, in das auch die KBS psychisch auffällige Mädchen und Jungen zur weiteren heilpädagogischen Behandlung überwies,50 stand in enger Verbindung mit der Berliner individualpsychologischen Vereinigung und kommunistisch-marxistischen Gruppen. Vor diesem Hintergrund beleuchtet Kölch die konkrete Bedeutung von kommunistischer Theorie und Praxis der Psychotherapie und Pädagogik und rekonstruiert die Geschichte der individualpsychologischen Psychotherapie, einschließlich der Kindertherapie.51 Methodisch

45 46 47 48 49 50 51

rung; F90.1 Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens; F90.8 Sonstige hyperkinetische Störungen; F90.9 Hyperkinetische Störung, nicht näher bezeichnet) und F98.8 Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität. Rothenberger 2005, 70–72. Neumärker 2005, 91. Neumärker 2005, 85 ff., 91, 94. Kölch 2006. Vgl. dort insbesondere das dritte Kapitel. Kölch 2006. Vgl. dort insbesondere das vierte und fünfte Kapitel. Vgl. z. B. HPAC, KBS 513. Kölch 2006, 9.

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1. Einleitung

basiert seine Untersuchung auf der systematischen Auswertung historischer Quellen, darunter vor allem der Nachlass der Berliner Individualpsychologin.52 Mit der Frage nach der Einbettung des individualpsychologischen Heilerziehungsheimes in den topographischen Raum und das lokale Umfeld von Politik und Gesellschaft berücksichtigt auch Kölch räumliche Aspekte,53 eine raumwissenschaftliche Analyse nimmt er jedoch nicht vor. Gemeinsam ist seiner Untersuchung mit den medizinhistorischen Arbeiten Klaus-Jürgen Neumärkers, dass sie die kinder- und jugendpsychiatrische Station an der Charité und deren Einbindung in die städtischen Versorgungsstrukturen für auffällige Kinder und Jugendliche historiographischrekonstruierend in den Blick nehmen und in ihrer konkret-realen Beschaffenheit darstellen. Unter dem Aspekt der engen Verzahnung von Psychiatrie und Jugendfürsorge in der Metropole Berlin greift ein Beitrag über psychiatrische und pädagogische Versorgungskonzepte und -wirklichkeiten für psychisch kranke und geistig behinderte Kinder und Jugendliche in der Weimarer Republik diese Sichtweise zunächst auf.54 Er bildet gleichsam den Ausgangpunkt für die vorliegende Studie, die durch die Anwendung von Raum und Räumlichkeit als Analysekategorien über die Rekonstruktion des realen Ortes und dessen Geschichte hinaus eine metaphorische Perspektive auf die KBS eröffnen soll.

1.3 Quellen Die materielle Basis der vorliegenden Studie bilden drei Quellengruppen. Von besonderer Bedeutung sind die Patientenakten der Kinder-Kranken- und Beobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, die heute im Historischen Psychiatriearchiv der Charité (HPAC) überliefert sind. Diese Quellen standen erstmals für die historische Auswertung zur Verfügung.55 Sie erlauben zunächst einen detaillierten quantitativen Blick auf die Praxis der KBS im Untersuchungszeitraum. Von den zwischen 1921 und 1933 insgesamt 808 aufgenommenen Kindern und Jugendlichen56 entfällt mehr als die Hälfte (448 = 55,45 Prozent) 52 Kölch 2006, 12. Wir danken Michael Kölch für den Hinweis auf das Familienarchiv Heuss in Basel, in dem der Nachlass Annemarie Wolff-Richters aufbewahrt wird. 53 Kölch 2006, 320. 54 Beddies/Fuchs 2006. 55 Die KBS-Akten wurden seit 2002 als Teil eines umfangreichen Bestandes an Patientenakten (etwa 100.000 für den Zeitraum von 1870 bis 1930) der Psychiatrischen und Nervenklinik von Mitarbeiter_innen des Charité-Instituts für Geschichte der Medizin der Forschung zugänglich gemacht. Im Rahmen des DFG-Forschungs-Projektes „,Die Breite des Normalen‘. Zum Umgang mit Kindern im Schwellenraum zwischen „gesund“ und „geisteskrank“ in Berlin und Brandenburg, 1918–1933“ konnte aus dem grob vorsortierten Material ein eigener Bestand „KBS“ rekonstruiert werden. Möglicherweise befinden sich noch einzelne Akten der KBS unter den Akten der Erwachsenenstationen. 56 Die Zahl ergibt sich aus dem überlieferten Diagnosebuch der KBS 1921–1945, das sich seit 2004 im

1.3 Quellen

23

auf die Kategorie der kindlichen „psychopathischen Konstitution“, wobei das Geschlechterverhältnis relativ ausgeglichen ist.57 Aus diesem Zeitraum sind 363 Akten psychopathischer Mädchen und Jungen (rd. 81 Prozent) erhalten geblieben.58 Eine besondere Gruppe bilden jene Krankenakten der kinderpsychiatrischen Station, denen eine heilpädagogische Einzelfallakte des DVFjP beigefügt wurde, da in ihnen die Perspektiven zweier verschiedener Wissensordnungen auf den gleichen Gegenstand deutlich werden.59 Der Vergleich erlaubt es, Differenzen ebenso wie Kooperationen im Handeln der psychiatrischen und heilpädagogischen Akteur_innen aufzuzeigen. Ähnlich verhält es sich mit der kleinen Gruppe heilpädagogischer Einzelfallakten des DVFjP, die ohne den Zusammenhang mit einer Krankenakte überliefert wurden, aber zum Teil ausführliche Auszüge aus denselben enthalten.60 Von hohem Interesse sind darüber hinaus die in der Mehrzahl aller Krankenakten dokumentierten „Bericht[e] der Jugendleiterin“. Sie geben ebenso Auskunft über die pädagogische Gestaltung des untersuchten Raumes wie über die methodische Beobachtungspraxis der Pädagoginnen. Vor allem aber sind sie bedeutsam zur Klärung der Frage, in welchem Verhältnis Heilpädagogik und Psychiatrie im klinischen Alltag der Berliner Beobachtungsstation zueinander standen und miteinander agierten. Im Abgleich mit den „zusammenfassen-

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58 59

60

Historischen Psychiatriearchiv der Charité befindet. 85 dieser Mädchen und Jungen waren mehrfach zur Beobachtung auf der Station. Der Anteil weiterer Diagnosen war wesentlich kleiner, z. B. Schwachsinn (rd. 12 Prozent), Epilepsie (rd. 11 Prozent), Encepahlitis epidemica (rd. 4 Prozent) sowie psychische Störungen infolge von Geschlechtskrankheiten (2 Prozent). Unter den psychopathischen Kindern und Jugendlichen war das Geschlechterverhältnis mit rd. 45 Prozent Mädchen zu 55 Prozent Jungen annähernd ausgeglichen, in drei Jahrgängen, 1922, 1923 und 1926, lag die Anzahl der Mädchen sogar über der der Jungen. Die Zahlen basieren auf der Auswertung der Datenbank, die im Rahmen des Forschungsprojektes erstellt wurde. Sie enthält alle Eintragungen des Diagnosebuches für die Jahre 1921 bis 1933. Insgesamt sind 661 Akten der Jahre 1921 bis einschließlich 1932 erhalten, das entspricht einem Anteil von 81,81 Prozent. Es sind insgesamt 33 solche „Mischakten“ überliefert, 31 stammen aus den beiden ersten Jahrgängen, jeweils eine Akte ist aus den Jahrgängen 1923 und 1924 erhalten. Eine weitere Akte enthält eine Blattsammlung aus der heilpädagogischen Beratungsstelle des Jugendamts der Stadt Berlin, die im Jahr 1922 gemeinsam mit der Beratungsstelle des DVFjP unter der Leitung Ruth von der Leyens stand (HPAC, KBS 112; vgl. Leyen 1926 f, 449). Die Krankenakte einer 19-jährigen Patientin aus dem Jahr 1927, die auf einer der Frauenstationen untergebracht war, enthält ebenfalls die DVFjP-Akte der jungen Frau (HPAC, F 607/1927 mit eingelegter Akte Ps. V. 1712). Aus der Gesamtzahl dieser Akten betreffen 27 psychopathische Kinder und Jugendliche. Die insgesamt elf heilpädagogischen Einzelfallakten betreffen neun Kinder und Jugendliche; zwei Akten (Ps. V. 6, Bd. 5 und Ps. V. 2145) fallen nicht in den Untersuchungszeitraum 1921 bis 1933, zu drei weiteren Akten (Ps. V. 984; Ps. V. 1079, Bd. 2; Ps. V. 1961) wurden inzwischen auch die KBS-Akten gefunden.

24

1. Einleitung

den Beurteilungen des Arztes“ und den zu einem kleineren Teil erhaltenen psychiatrischen Gutachten in den Akten lässt sich der Stellenwert des Urteils der Jugendleiterin hinsichtlich der milieu- oder anlagebedingten Ursachen einer „psychopathischen Konstitution“ einzelner Kinder erschließen. Eine wichtige Ergänzung zum Bestand der KBS-Akten bieten die Krankenblätter der Nervenpoliklinik. Mit ihrer Hilfe lässt sich zum einen die frühe Kooperation von Jugendfürsorge/Pädagogik und Psychiatrie vor der Gründung der KBS sichtbar machen, zum anderen belegen sie eine wichtige Form der Aufnahmepraxis in die Station. Die Konzentration auf diesen Korpus ungedruckter Quellen ergibt sich aus dem Forschungsziel unserer Untersuchung. Da im Fokus des Interesses die Figuration des „psychopathischen Kindes“ steht, scheiden die überlieferten Aktenbestände der Berliner städtischen und der brandenburgischen Provinzialanstalten für psychisch Kranke und geistig Behinderte weitgehend aus, in denen vorrangig Kinder und Jugendliche mit anderen Diagnosen untergebracht wurden. Dort, wo es spezielle „Psychopathen“-Abteilungen gab, wie seit 1924 in der Landesanstalt Potsdam oder seit 1931 in der Städtischen Heil- und Pflegeanstalt BerlinBuch,61 sind entweder keine Patientenakten überliefert (Potsdam)62 oder die Gründung der Abteilung lag zu sehr am Rand des Untersuchungszeitraums (Berlin-Buch). 63 Zudem waren die betreffenden Abteilungen in der Regel für Fürsorgeerziehungs-Zöglinge vorgesehen. Das verweist auf eine Personengruppe, in der zwar zeitgenössisch ein hoher „Psychopathen“Anteil festgestellt wurde, für deren Konstituierung das Psychopathieparadigma jedoch nicht ausschlaggebend war. Die KBS war Teil einer Psychopathenfürsorge, die sich ausdrücklich als medizinisch-heilpädagogische Alternative zum allein justiziellen Umgang mit devianten Kindern und Jugendlichen begriff. Aus diesem Grund gehören auch Fürsorgeerziehungsheime, die in unterschiedlichen Trägerschaften existierten, nicht zu unserem Forschungsgegenstand. Von Interesse ist dagegen die Infrastruktur der Psychopathenfürsorge, etwa in Gestalt der entsprechenden Beratungsstellen bei den Berliner Bezirksjugendämtern bzw. der verschiedenen Heilerziehungsheime. Der Versuch einer Rekonstruktion des Fürsorge-Netzwerkes für den Berliner Metropolenraum muss sich allerdings weitgehend auf das diesbezügliche in den KBS-Akten unsystematisch überlieferte Schriftgut wie Akten-Auszüge von Jugendämtern, Berichte aus Heilerziehungsheimen und den Schriftwechsel der KBS mit diesen Institutionen beschränken, da geschlossene Aktenbestände der Behörden nicht überliefert sind.

61 Vgl. für Potsdam: Leyen/Marcuse 1928, 488, für Berlin-Buch: LAB A Rep. 003-04-01 Städtische Heilund Pflegeanstalt Berlin-Buch, Nr. 133 Fürsorgeerziehungsangelegenheiten. 62 Vgl. Beck 2002, 111 f. 63 LAB A Rep. 003-04-01, Nr. 133, Fürsorgeerziehungsangelegenheiten.

1.3 Quellen

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Ein zweiter Quellenkorpus umfasst vor allem Verwaltungsakten verschiedener Institutionen, die im Zusammenhang mit der Kinderbeobachtungsstation, dem Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen oder dem Komplex „psychopathisches Kind“ stehen. Besonders für die Vorgeschichte der Psychopathenfürsorge und für die öffentliche Förderung der Kinderstation relevant sind die im Bundesarchiv Berlin überlieferten Bestände des Reichsgesundheitsamtes, des Reichsjustizamtes bzw. -ministeriums sowie des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.64 Informationen zur Gründung, zum Betrieb und zum Personal der KBS finden sich im Universitätsarchiv der HumboldtUniversität zu Berlin.65 Von besonderer Bedeutung für die Kenntnis über den DVFjP hat sich der Nachlass des ersten Vorsitzenden des Vereins, Friedrich Siegmund-Schultze (1885–1969), erwiesen, der im Evangelischen Zentralarchiv Berlin überliefert ist.66 Das umfangreiche Material, darunter Korrespondenz (u. a. mit der Geschäftsführerin des DVFjP, Ruth von der Leyen), Sitzungsprotokolle, Berichte von Veranstaltungen, Druckschriften und Vortragsentwürfe, wurde erstmals für diesen Forschungsgegenstand ausgewertet. Die dritte große Quellengruppe, auf die sich diese Studie stützt, sind zeitgenössische ­Publikationen, in denen sich der Diskurs der involvierten Wissensordnungen über das „psychopathische Kind“ widerspiegelt. An erster Stelle ist dabei die „Zeitschrift für Kinderforschung“ (ZfK) zu nennen, die das wichtigste Fachorgan für diesen Komplex war, und die maßgeblich von Protagonist_innen der Berliner KBS – namentlich Ruth von der Leyen als Schriftleiterin – gestaltet wurde. Zu nennen wären darüber hinaus psychiatrische und pädiatrische Fachzeitschriften wie die „Psychiatrisch-neurologische Wochenschrift“ und die „Monatsschrift für Kinderheilkunde“. Darüber hinaus wurden die einschlägigen zeitgenössischen Standardwerke zur Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters und zur Heilpädagogik ebenso berücksichtigt wie entsprechende Lexika, Tagungsbände und Einzelveröffentlichungen aus dem wissenschaftlichen Netzwerk, das sich um das Psychopathieparadigma herum bildete.

64 Barch, R 86, R 3001 und R 4901. 65 UAHUB, Char. Dir., Nervenklinik, UK-Personalia. 66 EZA, Bestand 626, Nachlass Siegmund-Schultze, Nr. 51 W IVa, Nr. 51 W IVb, Nr. I 1,3 Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e. V., I 1,4 Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e. V. Wir danken Jens Wietschorke für den Hinweis auf diesen Quellenbestand.

2. Pädagogik und Psychiatrie. Das Psychopathiekonzept als Gründungsparadigma einer neuen Wissensordnung

Die im Zuge der Modernisierung beobachtete „Verwissenschaftlichung des Sozialen“1 schloss im ausgehenden 19. Jahrhundert in Deutschland zunehmend auch die Erforschung und Behandlung devianten Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen mit ein. „Schwierige“ Kinder wurden eine der zentralen pädagogischen und medizinischen Herausforderungen der sich stürmisch entwickelnden urbanen Moderne.2 An der Bewältigung der damit zusammenhängenden Aufgaben waren verschiedene Wissensordnungen, namentlich der Psychiatrie und Pädiatrie, der Pädagogik und Psychologie sowie des Rechtswesens beteiligt. Die epistemische Unsicherheit hinsichtlich der Ausprägung und der Behandlung kindlicher Persönlichkeitsstörungen beförderte dynamische Aushandlungsprozesse zwischen diesen Disziplinen, die sich besonders deutlich auch in den wissenschaftlichen und (sozial-)politischen Diskursen um die Psychopathie und den Umgang mit psychopathischen Kindern widerspiegeln. Dabei waren es vor allem Protagonist_innen aus der Psychiatrie und der Pädagogik, die die Konzeption und Praxis jenes Berliner Knotenpunktes im Netzwerk der Psychopathenfürsorge bestimmten, der unter der Bezeichnung „Kinderbeobachtungsstation“ Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist.

2.1 Psychiatrie Die Situation war ambivalent: Einerseits spielte die Psychiatrie im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle ebenso als „Institution für systematisierte Reflexionen über die Gefährdungen des bürgerlichen Selbst“ wie als „Ordnungsfaktor für die Obrigkeit“;3 Zahl und Größe neu erbauter Heil- und Pflegeanstalten für die fortwährend aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschiedenen „Irren“ sprechen für sich.4 Andererseits war der Prozess der „Wissenschaftswerdung“ der Psychiatrie um 1900 noch immer unvollendet. Innerhalb des Faches gab es keinen „Konsens über Terminologie, Klassifikation und Interventionsmöglich-

1 2 3 4

Raphael 1996. Grundlegend zu den sozialen Auswirkungen der Modernisierungsprozesse während der erweiterten Jahrhundertwende von 1870–1930 Nitschke et al. 1990. Roelcke 2002, 110. Vgl. Blasius 1994, 65. Demnach erhöhte sich beispielsweise von 1885 bis 1900 die Zahl der öffentlichen Heil- und Pflegeanstalten in Preußen von 71 auf 105, ihre Bettenkapazität stieg von 19.240 auf 42.989.

2.1 Psychiatrie

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keiten für die postulierten Krankheitszustände“.5 Und auch akademisch hatte es sich noch immer nicht vollständig etabliert. Zwar wuchs die Zahl psychiatrischer Lehrstühle und entsprechender Kliniken an den Universitäten, aber erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Psychiatrie zu einem im medizinischen Curriculum verankerten universitären Fach.6 Kinder und Jugendliche gerieten nur sporadisch in den Fokus psychiatrischer Interventionen. Eine Ursache dafür dürfte in der geringen Häufigkeit ausgeprägter Psychosen im Kindes- und Jugendalter zu suchen sein.7 Für eine im Wesentlichen auf Kasuistiken, auf der Sammlung und Auswertung von Einzelfällen, basierende Disziplin waren Kinder und Jugendliche daher schon aus statistischen Gründen ein Randphänomen. Zudem waren die seit Darwin auch in der Psychiatrie verbreiteten evolutionistischen Auffassungen ein ernsthaftes Hindernis, um psychische Erkrankungen in der Kindheit und Jugend als eigenständigen Gegenstandsbereich wahrzunehmen. Kinder und Jugendliche waren in dieser Sichtweise lediglich unfertige Erwachsene, psychische Störungen wurden dementsprechend „als Krankheitsformen en miniature der Erwachsenen angesehen“,8 auf die Konzepte der Erwachsenenpsychiatrie anzuwenden waren. Die Herausbildung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als medizinisches Fachgebiet wird vor diesem Hintergrund für den deutschsprachigen Raum zwar retrospektiv übereinstimmend mit dem Erscheinen der Monographie „Die psychischen Störungen des Kindesalters“ im Jahr 1887 in Verbindung gebracht.9 Bezeichnenderweise war der Autor, Hermann Emminghaus (1845–1904), zu diesem Zeitpunkt Ordinarius für Psychiatrie in Freiburg und Direktor der dortigen psychiatrischen Klinik,10 aber selbst noch davon ausgegangen, dass die Psychiatrie zuständig für „die Anomalien des Seelenlebens aller Entwickelungsstufen [Hervorhebung i. Orig.] des Menschen“ wäre, und damit das gesamte Fach – wenn auch in enger Zusammenarbeit mit der Pädiatrie – zur Schaffung einer allgemeinen Symptomatologie der Kinderpsychosen beitragen müsse.11 Tatsächlich hatte sein Buch 5 6 7

Roelcke 2002, 110. Roelcke 2002, 110, 113. Auf diesen Umstand verweist Emminghaus 1887, 2, wenn er konstatiert, dass der Irrenarzt „unter hundert Fällen, die er studiert und behandelt, kaum einen zu sehen bekommt, der ein kindliches Individuum betrifft“. 8 Nissen 2005, 323. Vgl. etwa Stier 1913a, 15: „Echte Psychosen im Sinne der fertigen, in sich geschlossenen Krankheitsbilder mit charakteristischem Verlauf und charakteristischen Symptomen sind im Kindesalter außerordentlich selten, entsprechend der Unfertigkeit des kindlichen Seelenlebens.“ 9 Emminghaus 1887. Wesentliche Publikationen zu Emminghaus’ Bedeutung für die Entstehung des Fachgebietes erschienen in der Zeit der Existenz zweier deutscher Staaten und fielen in ihrer Bewertung in West und Ost ähnlich aus. Vgl. für die Bundesrepublik: Kindt 1971; Nissen 1986; Reichert 1989; für die DDR: Daute/Lobert 1987. 10 Kindt 1971, 140. Zur Biographie Emminghaus’ vgl. auch: Castell et al. 2003b. 11 Emminghaus 1887, 3 f.

2. 28

2. Pädagogik und Psychiatrie

zeitgenössisch nur geringen Einfluss auf die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu einem eigenständigen Fachgebiet.12 Zwar wurde die Arbeit „häufig zitiert“ und „hin und wieder als Steinbruch verwendet“,13 sie erlebte aber keine weitere Auflage. Obwohl „eine der klarsten Darstellungen der Kinderpsychiatrie des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ wurde sie zeitgenössisch nicht als Initialzündung einer sich konstituierenden Wissenschaftsdisziplin wahrgenommen.14 Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde Emminghaus wiederentdeckt und sein Werk als „historischer Markstein“ und als „cradle of child psychiatry“ bezeichnet, mit dem „ein neues Zeitalter in der Betrachtung des psychisch kranken Kindes“ begonnen hätte.15 Trotzdem begründet sich die Bedeutung, die in der heutigen Rezeption Emminghaus zugeschrieben wird, nicht zuletzt darauf, dass er das „Seelenleben des Kindes im gesunden wie im kranken Zustande ganz incommensurabel mit demjenigen des Erwachsenen“ befand, und zwar nicht nur unter einem defizitären Blickwinkel, sondern in dem Sinne, dass die kindliche Psyche über Qualitäten verfügt, die im Erwachsenenalter verloren gehen.16 Wahrscheinlich ist es gerade dieser durchaus aktuell anmutende Ansatz, „das Kind als Phänomen ganz eigengesetzlicher Prägung zu sehen und zu verstehen“,17 der die Ignoranz seiner Fachkollegen erklärt und ihn zu einem vergessenen Klassiker der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden ließ. Als zuständig für auffälliges Verhalten von Kindern und Jugendlichen, solange nicht eindeutig eine krankhafte Grundlage dafür erkennbar war, galt die Pädagogik.

2.2 Pädagogik Die Pädagogik war am Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich von den Ideen Johann Friedrich Herbarts (1776–1841) geprägt und verstand sich selbst als normative Wissenschaft, deren Forschung sich an dem „Ewigkeitsgehalt“ der „sittlichen Ideen“ orientierte.18 Die von Herbart beanspruchte Wissenschaftlichkeit beruhte auf der systematischen Zusammenfassung aller „Aspekte des Problemfeldes Pädagogik“19 sowie auf dem Versuch zur Entwicklung einer „systematisch-rationalen Psychologie“.20 Herbart und vor allem seine Schüler lieferten da12 13 14 15 16 17 18 19 20

Alexander/Selesnick 1969, 468. Vgl. auch Reichert 1989, 91. Nissen 2005, 364. Zur Rezeptionsgeschichte Emminghaus’ in der Kinderpsychiatrie vgl. Reichert 1989, 87 ff. Stutte 1957, 621; Harms 1967, zit. n. Nissen 1991, 146; Castell et al. 2003b, 418. Emminghaus 1887, 2 f. Vgl. Harms 1962, 84; ebenso Nissen 2005, 363. Kindt 1971, 130. Rein 1898, 165. Göppel 1989, 63. Plake 1991, 130; ähnlich Göppel 1989, 65.

2.2 Pädagogik

29

mit in der öffentlichen, aber auch in ihrer Selbst-Wahrnehmung die Grundlagen für eine „Unterrichtstechnik“, die den Anspruch erhebt, ähnlich wie die Technik der allmählich sich durchsetzenden industriellen Produktionsweise auf einer wissenschaftlichen Grundlage zu beruhen und deshalb effizient zu sein, d. h., schon bei geringem Aufwand sehr hohe Erträge zu garantieren“.21 In der herbartianischen „Leitvorstellung vom vernünftigen, trieb- und affektreduzierenden Einzelwesen“ kommt die Koinzidenz mit den sozialen Erfordernissen am Übergang zur Industrialisierung, insbesondere der Bedarf an Disziplinierungstechniken, am deutlichsten zum Ausdruck.22 Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts kollidierte dieses normative Paradigma jedoch auf zwei Ebenen zunehmend mit der gesellschaftlichen Praxis: Zum einen machte die nach der Durchsetzung der industriellen Produktionsweise einsetzende „Periode der fortgeschrittenen Bedürfnisbefriedigung“23 eine auf Askese und Disziplin ausgerichtete moralische Erziehung obsolet. Dies schlug sich in einem Paradigmenwechsel nieder, der schon wenig später von den Zeitgenossen als grundlegende Zäsur zwischen „alter“ herbartianischer Pädagogik und „neuer“ Reformpädagogik wahrgenommen wurde.24 Aus dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung gingen letztlich die reformpädagogischen Ansätze, die sich als „neuzeitliche naturgemäße Erziehung“ präsentierten, erfolgreich hervor.25 Die zweite Ursache für die zunehmende Aushöhlung des herbartianischen Paradigmas lässt sich auf den stürmischen Urbanisierungsprozess am Ende des 19. Jahrhunderts zurückführen: Es war die Bedrohung des pädagogischen Ideals durch die sogenannten Kinderfehler.26 Mit diesem Terminus wurde abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen bezeichnet, das schon von jeher Gegenstand pädagogischer Bemühungen gewesen war,27 das aber durch die Konzentration von Menschen in (groß-)städtischen Massenquartieren neue Dimensionen erreichte. Nicht nur das störende und schädliche Potential von Devianz wuchs unter diesen Bedingungen: Die urbane Lebensweise selbst schuf in den Augen zahlreicher Zeitgenossen unaufhörlich neue Voraussetzungen für abweichendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen, sei es durch die Konzentration extremer Armut in unmittelbarer Nachbarschaft zu großem Reichtum, durch den Verfall sittlicher Werte angesichts der Auflösung traditioneller Familienzusammenhänge oder durch die Reizüberflutung seitens der Unterhaltungsindustrie und des großstädtischen Straßenlebens.28 21 22 23 24 25 26 27 28

Plake 1991, 130; ähnlich Sachße 1996. Plake 1991, 140. Plake 1991, 11. Plake 1991, 9. Eßer 2010, 292. Strümpell 1890. Vgl. Göppel 1989 passim. Vgl. etwa Barch R 3001, Nr. 6091, Bl. 67 f.: Artikel „Die Enterbten des Lebens. Ein Gang durch die

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2. Pädagogik und Psychiatrie

Der herbartianischen Pädagogik gelang es offenbar nicht, auf die Herausforderungen, die die scheinbar wachsende Zahl schwieriger Kinder und Jugendlicher mit sich brachte, adäquate Antworten zu finden. Eine aus den angewendeten Prinzipien der Pädagogik erklär- und verallgemeinerbare, nicht zufällige, nachhaltige Verhaltensänderung war nicht zu erreichen. Ein Ausweg aus dieser Krise wurde von einem Teil der Pädagogen in der „Medikalisierung“ des Spezialgebietes der Kinderfehler gesehen, worunter jedoch ursprünglich nicht verstanden wurde, der Medizin Einflussmöglichkeiten einzuräumen, sondern eine an dem naturwissenschaftlichen Verständnis der Mediziner orientierte Herangehensweise bei der Lösung des Problems zu praktizieren.29 Dabei wurde die Annäherung an das naturwissenschaftliche Forschungsparadigma der Medizin auch durch die Tendenz einer „quasi-naturwissenschaftlichen Stilisierung der Pädagogik“ gefördert,30 die dem Herbartianismus – ungeachtet seines normativen Charakters – innewohnte.31 Zudem gab es handfeste standespolitische Motive für einen solchen Kurs: Die Pädagogik wurde als zur Philosophie gehörend betrachtet, an den Universitäten war sie mit den entsprechenden Lehrstühlen verbunden. Durch die im ausgehenden 19. Jahrhundert immer stärker hervortretenden naturwissenschaftlichen Denk- und Erklärungsansätze wurde sie im universitären Forschungsbetrieb zunehmend marginalisiert, was nicht zuletzt die Karrieremöglichkeiten ihrer Protagonisten beschränkte.32 Es war Ludwig Strümpell (1812–1899) – Honorarprofessor für Philosophie an der Universität Leipzig und als direkter Schüler Herbarts von hoher Autorität in seinem Fach – der 1890, am Ende seiner beruflichen Laufbahn, dieser Annäherungstendenz an naturwissenschaftliche Vorgehensweisen mit seinem Werk „Die Pädagogische Pathologie oder Die Lehre von den Fehlern der Kinder“ Ausdruck verlieh.33 Anders als Emminghaus, dessen Intention drei Jah-

29 30 31

32

33

Fürsorgeanstalten Berlins“, in: National-Zeitung, Nr. 420 v. 19.11.1910; ebenda, Nr. 6082, Bl. 193: Druckschrift: Tätigkeitsbericht der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge für 1911, S. 33; Damaschke 1907; Hellwig 1914; Loewenberg 1906, 35; Trüper 1909a, 85 f. Göppel 1989, 119 ff. Zu Annäherungen zwischen wissenschaftlicher Pädagogik und naturwissenschaftlicher Medizin am Ende des 19. Jahrhunderts, vgl. Stroß 2000, 228–250. Plake 1991, 134. Carsten Müller verweist dezidiert darauf, dass die Protagonisten der pädagogischen Befassung mit deviantem Verhalten von Kindern und Jugendlichen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert keine Anhänger des reformpädagogischen Paradigmas, sondern Vertreter eines sozialen Herbartianismus waren. Vgl. Müller 2007. Zur ablehnenden Haltung in der frühen Heilpädagogik gegenüber der Reformpädagogik vgl. auch Ufer 1907a. Stroß 2000, 228 f. veranschaulicht anhand der soziologischen Entwicklungen im universitären Bereich diese Seite des Veränderungsdrucks, dem die Pädagogik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ausgesetzt war. Zur prekären Lage der Pädagogik im akademischen Bereich insbesondere im Vergleich zur Medizin vgl. z. B. Trüper 1900, 6. Zur integrativen Rolle der pädagogischen Pathologie zwischen (herbartianischer) Pädagogik und Medizin vgl. Stroß 2000, 238–240.

2.3 Das „geborgte“ Paradigma: Psychopathie

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re zuvor keineswegs die Etablierung eines neuen Fachgebiets gewesen war, erhob Strümpell von vornherein einen weiter gehenden Anspruch.34 Bereits der Untertitel seiner Schrift – „Versuch einer Grundlegung“ – macht deutlich, dass es dem Verfasser um nicht weniger als ein neues, von anderen abgegrenztes Wissensgebiet, eine eigene Wissenschaftsdisziplin ging. Strümpells Buch erlebte bis 1910 noch drei weitere, erweiterte Auflagen, was auf die lebhafte Resonanz in Fachkreisen schließen lässt. Strümpell postulierte: „Nicht bloß die körperlichen Zustände des Kindes, sondern auch die jeweiligen Inhalte, Formen und Richtungen seiner geistigen Entwickelung können unabhängig von jeder Wertschätzung, nur nach ihrem tatsächlichen Dasein und Zustandekommen aufgefaßt und untersucht werden.“35

Der normative Charakter der Pädagogik (der von Strümpell nicht negiert wurde) sollte von der „rein sachlichen, teils von empirischen, teils von theoretischen Vorstellungen geleiteten Untersuchung eines Gegenstandes“ deutlich getrennt werden, wobei für letzteres das wissenschaftliche Vorgehen von Ärzten, Juristen und Historikern als Vorbild genommen wurde.36 Trotz dieser Absichtserklärung blieb Strümpell mit seiner ursprünglichen Konzeption von den „Kinderfehlern“ als Abweichung von der pädagogischen Idealnorm doch deutlich dem moralischen Paradigma verhaftet.37 Zudem folgte seine Zusammenstellung der Beschreibungen von über 300 Formen abweichenden Verhaltens weder einer Ordnung, die auf einen inneren Zusammenhang zwischen ihnen verweisen konnte, noch lieferte er eine schlüssige Antwort auf die Frage nach möglichen Ursachen.38 Der pädagogischen Pathologie fehlte ein eigenes Paradigma, ein nachvollziehbares Prinzip, das die beschriebenen „Kinderfehler“ tatsächlich zu einer Lehre zusammengefügte, die „von der Umwelt als bedeutungsvoll akzeptiert“ werden konnte.39 Strümpells „Versuch einer Grundlegung“ wäre vermutlich im ersten Anlauf gescheitert, wenn nicht nahezu zeitgleich in der Psychiatrie ein Theoriesystem entstanden wäre, das Antwort auf die offenen Fragen zu geben schien: das Konzept der Psychopathie.

2.3 Das „geborgte“ Paradigma: Psychopathie Die Einführung des Psychopathiebegriffs im Sinne einer Gruppenbezeichnung in die deutschsprachige Psychiatrie wird allgemein Julius Ludwig August Koch (1841–1908), Direk34 35 36 37 38 39

Strümpell 1890. Zur Biographie Strümpells vgl. Kahl 1908. Strümpell 1910, 2. Strümpell 1910, 2. Göppel 1989, 130. Göppel 1989, 123. Strümpell ordnete die von ihm aufgelisteten Kinderfehler alphabetisch. Myschker 1993, 180.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

tor der württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefalten, zugeschrieben.40 Bereits zwei Jahre vor Strümpells Werk hatte er „psychopathische Minderwertigkeiten“ in einem Kapitel des von ihm verfassten Leitfadens der Psychiatrie beschrieben.41 Koch fasste darunter „psychische Abnormitäten“ zusammen, „welche auch in schlimmen Fällen doch nicht eigentliche Geisteskrankheiten konstituieren, aber die betreffenden Individuen wegen einer abnormen, minderwertigen Konstitution ihrer Gehirne auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitz geistiger Normalität und Leistungsfähigkeit stehend erscheinen lassen.“42 Einige Jahre später baute er die Psychopathielehre in seinem dreibändigen Hauptwerk aus.43 Für die Psychiatrie als Ganzes bedeutete Kochs Konzeption keinen Paradigmenwechsel, im Gegenteil: Die Betonung hirnorganischer Ursachen der psychopathischen Minderwertigkeit beruhte letztlich auf der von Wilhelm Griesinger (1817–1868) formulierten Auffassung, nach der Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten seien,44 die zum Gründungsparadigma der naturwissenschaftlichen Psychiatrie in Deutschland geworden war.45 Damit wurde die Psychopathielehre hier „als bloße Kenntniserweiterung“ aufgenommen,46 und war zugleich Ausdruck einer Expansionsbewegung der Psychiatrie in die Gesellschaft, die zur Ausdehnung ihres Gegenstandsbereichs auf „das Heer der ,reizbar Schwachen‘, der ,Abnormen‘, der ,sexuell Perversen‘, der Süchtigen, der Psychopathen, Zwangskranken, Neurotiker“ führte, wo „die Grenze zwischen ,Abnorm‘ und ,Normal‘ zu verschwinden droht“.47 Koch hatte Psychopathien nicht mit einem speziellen Blick auf Kinder und Jugendliche beschrieben, doch eigneten sich die unter diesem Begriff subsumierten, sehr heterogenen Symptomgruppen wegen der relativen Häufigkeit solcher Grenzzustände in der Phase des Heranwachsens hervorragend als Erklärungsansatz für auffälliges Verhalten. In Bezug auf Kinder und Jugendliche war es zunächst trotzdem nicht die Psychiatrie, die das neue Konzept nutzte. Vielmehr wurde der Pädagoge Strümpell, vermutlich nach Erscheinen des ersten Bandes der „Psychopathischen Minderwertigkeiten“ 1891, auf das Psychopathiekonzept aufmerksam. In der Vorrede hatte Koch auch die Anwendungsmöglichkeiten der Psychopathielehre

40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Braig 1978, 1; Remschmidt 1978, 285; Nissen 2005, 230, 232. Koch 1888. Zur Entwicklung des Psychopathiebegriffs vor Koch vgl. Nissen 2005, 230 ff. Koch 1888, 34 f. Koch 1891/1893. Griesinger 1845, 1. Vgl. Dörner 1984, 279–306. Kuhn 2003, 104. Das Psychopathiekonzept als Beschreibung von Zuständen zwischen Geisteskrankheit und Normalität war in der deutschen Psychiatrie für mehrere Jahrzehnte weitgehend unstrittig. Meinungsverschiedenheiten herrschten vor allem über die zahlreichen Klassifizierungsversuche. Vgl. den Überblick bei Braig 1978 sowie Remschmidt 1978. 47 Dörner 1984, 291.

2.3 Das „geborgte“ Paradigma: Psychopathie

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in außerpsychiatrischen Fachgebieten erörtert und im Zusammenhang mit der Pädagogik ausdrücklich Bezug auf das ein Jahr zuvor erschienene Werk Strümpells genommen: „Ein entsprechendes Studium der psychopathischen Minderwertigkeiten vermöchte auch die ,Pädagogische Pathologie‘ wesentlich zu fördern, welche unlängst von Ludwig Strümpell in verdienstlicher Weise als eine besondere Disziplin begründet worden ist.“48

Dieser reagierte unmittelbar auf Kochs Veröffentlichung. Die zweite Auflage der „Pädagogischen Pathologie“ im Jahr 1892 ist dem Direktor der Zwiefaltener Anstalt gewidmet und inhaltlich um eine Darstellung seines Psychopathiekonzeptes und dessen Integration in Strümpells Lehre erweitert.49 Die ursprüngliche Beschränkung der pädagogischen Pathologie auf diejenigen Fehler („Störungen und Abnormitäten“), die nicht „aus somatischen Ursachen“ entstehen, wurde aufgehoben. „Diese Abgrenzung zwischen Pädagogik und Psychiatrie ist nun aber nicht mehr ganz aufrecht zu halten. Durch die vom Dr. Koch publicierte Lehre von den psychopathischen Minderwertigkeiten, das heißt, von solchen somatisch verursachten psychopathischen Zuständen, welche zwischen [Hervorhebung i. Orig.] der normalen geistigen Gesundheit und der Geisteskrankheit als besondere Abnormitäten eine Stelle einnehmen, wird auch die pädagogische Pathologie gezwungen, neben ihrem rein pädagogischen Theile noch einen psychiatrischen Theil in sich auszubilden.“50

Die Attraktivität des Koch’schen Konzeptes lag offenbar darin, dass es eine pädagogische Einflussnahme auch in „medizinischen Fällen“ als möglich und notwendig erscheinen ließ. Als zentralen Ansatzpunkt für erzieherisches Eingreifen sah Strümpell dabei die Bildungsfähigkeit, die psychopathischen Kindern und Jugendlichen trotz der „krankhaften“ Grundlage ihrer Verhaltensauffälligkeiten zugebilligt wurde. „Deshalb gehören dieselben zum Theil wohl auch mehr in das Gebiet der pädagogischen, als der psychiatrischen Arbeit, obgleich die letztere dabei nicht zu entbehren ist.“51 Damit war das fehlende Paradigma für Strümpells System gefunden, ein naturwissenschaftlicher Erklärungsansatz, der für die meisten Probleme der Beschäftigung mit devianten Kindern und Jugendlichen offen war und auf dessen Grundlage eine größere Gruppe von

48 Koch 1891, IX. 49 Die Zahl der Kapitel verdoppelt sich von neun auf 18, davon widmen sich allein 7 Kapitel dem Psychopathiekonzept; der Umfang der Arbeit wächst von 226 Seiten der 1. Auflage auf 384 Seiten – vgl. Strümpell 1892. 50 Strümpell 1892, VIII. 51 Strümpell 1892, 229. Ebenso Koch 1896, 28.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

Wissenschaftlern und Praktikern nach Lösungen suchen konnte.52 Das Verhältnis zwischen Koch und Strümpell kann als Ausgangspunkt der Entstehung eines wissenschaftlichen Netzwerkes angesehen werden, in dem der Diskurs über Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter fortan kontinuierlich geführt wurde. Koch bedankte sich ein Jahr nach der zweiten Auflage von Strümpells Werk, indem er die Integration des Psychopathiebegriffs in die pädagogische Pathologie im letzten Satz seines eigenen Hauptwerkes ausdrücklich als eine „mit Meisterhand“ vollzogene Verknüpfung erwähnte.53

2.4 Pädagogik und Psychiatrie Strümpell, der die „Pädagogische Pathologie“ im Alter von 78 Jahren geschrieben hatte und 1899 starb, konnte selbst nicht mehr am Ausbau der Zusammenarbeit zwischen Pädagogik und Psychiatrie teilnehmen.54 Seine Auffassungen fanden jedoch Resonanz unter Pädagogen, die sich mit auffälligen Kindern und Jugendlichen beschäftigten und teilweise unabhängig von ihm zu ähnlichen Ansichten gelangt waren.55 Eine zentrale Figur in dieser Gruppe war Johannes Trüper (1855–1921).56 Er war, unzufrieden mit dem Schulsystem seiner Zeit, nach mehrjähriger Tätigkeit als Lehrer in Bremen 1887 nach Jena gekommen, um seine angeschlagene Gesundheit wiederherzustellen und um sich gleichzeitig an der dortigen Universität in seinem Fachgebiet weiterzubilden.57 Für Letzteres bestanden in Jena günstige Voraussetzungen: Wilhelm Rein (1847–1929), führender Vertreter der spätherbartianischen Pädagogik, „der wohl als der einflussreichste Pädagoge zur Zeit der Jahrhundertwende angesehen werden kann“,58 hatte ein Jahr vor Trüpers Ankunft eine Stelle als Honorarprofessor angetreten und die Leitung des Pädagogischen Seminars an der Universität Jena sowie der angegliederten 52 Vgl. Dörner 1984, 18. 53 Koch 1893, 427. Johannes Trüper erwähnt den „rege[n] und immer freundschaftlicher sich gestaltende[n] Briefwechsel zwischen beiden vorher einander unbekannten Männern“. Trüper 1908, 353. 54 Vgl. Trüper 1908, 354. 55 Stroß verweist darauf, dass die pädagogische Pathologie „im monographischen und Handbuch-Diskurs als ein eher randständiges Gebiet [erscheint], während sie im Diskurs der einschlägigen Periodika – seit der Jahrhundertwende – sehr stark vertreten ist“. Stroß 2000, 280. Vgl. auch Trüper 1908, 353. 56 Zur Biographie Trüpers vgl. u. a.: Stukenberg 1922; Trüper/Trüper 1978; Zimmermann 2005; Richter 2003; Gerhard/Schönberg 2008; Schotte 2010. 57 Zimmermann 2005, 26. Zimmermann zitiert aus einer Quelle mit dem Titel „Bremer Akte vom Vater“, Personalakte betreffend den ordentlichen Lehrer Johann Trüper – Walle (Maschinenschrift), die sich im Heilpädagogischen Archiv (HPA) der Humboldt-Universität Berlin befindet. 58 Plake 1991, 132. Ähnlich Schlüter 2003, 342.

2.4 Pädagogik und Psychiatrie

35

Übungsschule übernommen.59 Wiewohl Ethik und Psychologie für Rein nach wie vor die beiden „Grundwissenschaften“ der Pädagogik waren, und die Medizin im Verhältnis zu ihnen als untergeordnet wahrgenommen wurde, lässt sich in seinen Arbeiten doch ein allgemeiner Bedeutungszuwachs medizinischer Fragestellungen erkennen.60 Dem lag einerseits die Erkenntnis zugrunde, dass die Pädagogik sich von der Physiologie und der Hygiene „die Begründung aller Maßregeln und Gesetze [nimmt], die sich auf die Grundlage des geistigen Lebens, auf den körperlichen Organismus des Zöglings, auf das leibliche Wachsen und Gedeihen desselben beziehen“.61 Andererseits zeugen die inhaltliche Aufwertung der Medizin und die Verwendung medizinischer Analogien durch Rein von dem Versuch, „die Pädagogik nach dem Vorbild der Medizin als eine praxisintegrierte Wissenschaft auf den Universitäten“ zu etablieren.62 Reins Annäherung an die Medizin vollzog sich vor allem unter dem Einfluss des Psychiaters, Neurologen und experimentellen Psychologen Theodor Ziehen (1862–1950), der im selben Jahr wie der Pädagoge nach Jena kam.63 Dort war er zunächst als Oberarzt an der Landes-Irren-Heilanstalt unter Otto Binswanger (1852–1929) tätig64 und folgte diesem später an die Jenaer Universität, an der er seit 1892 als außerordentlicher Professor für Psychiatrie lehrte. Ziehen, der eine vermittelnde Stellung zwischen der herbartianischen Pädagogik und dem naturwissenschaftlich-medizinischen Paradigma einnahm, konnte experimentelle psychologische Beobachtungen an der Übungsschule von Reins pädagogischem Seminar durchführen und verfasste eine Reihe von Artikeln zu psychiatrischen und psychologischen Themen für dessen Enzyklopädisches Handbuch der Pädagogik.65 Johannes Trüper, der sowohl pädagogische als auch psychiatrische Lehrveranstaltungen an der Universität Jena belegt hatte und in engem Kontakt zu Rein, Ziehen und Binswanger stand,66 gab 1890 eine eigene akademische Karriere zugunsten der praktischen heilpädagogischen Arbeit auf und eröffnete eine Anstalt für schwer erziehbare Kinder.67 Für dieses später auf die Sophienhöhe bei Jena verlegte und national wie international renommierte Heilerzie59 Gerhard/Schönberg 2008, 21. Rein hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinen pädagogischen Lehrstuhl inne, wie es bei Trüper/Trüper 1978, 13 und bei Zimmermann 2005, 26 heißt. Erst 1912 erhielt er den ersten und bis 1917 einzigen Lehrstuhl für Pädagogik. Vgl. auch Stroß 2000, 230, FN 177 sowie Schlüter 2003, 342. 60 Stroß 2000, 231 f. 61 Rein 1898, 167. 62 Stroß 2000, 232. 63 Vgl. Gerhard/Blanz 2002; Castell et al. 2003c. 64 Laehr 1891, 88. 65 Stroß 2000, 233 f. 66 Stukenberg 1922, V. 67 Zimmermann 2005, 30 f.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

hungsheim kamen ihm seine Verbindungen zur Jenaer Psychiatrie zugute. Theodor Ziehen wurde Konsiliararzt der Anstalt und untersuchte in dieser Funktion über einen Zeitraum von zehn Jahren 112 Kinder und Jugendliche, die wegen Erziehungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten in dem Heim untergebracht waren, und zum Teil als psychopathisch angesehen wurden.68 Wichtiger für den hier betrachteten Zusammenhang ist jedoch Trüpers Rolle als Publizist und Wissenschaftsorganisator. Sie entsprang wesentlich dem ausgeprägten Bewusstsein des Pädagogen von der Krise seines Faches, das ihn offen für die Einflüsse anderer Disziplinen – insbesondere der Psychiatrie – machte. Bereits 1893 hatte er in einer Publikation für die Berücksichtigung des Psychopathiekonzepts von Koch in der pädagogischen Arbeit mit erziehungsschwierigen Kindern und Jugendlichen geworben.69 Obwohl selbst in der herbartianischen Tradition stehend, hielt er die Auffassung von der „Allmacht der Erziehung“, die offenbar unter Herbartianern nicht selten war, für „eine Illusion minderwertiger philosophisch-pädagogischer Anschauungen“, da sie naturwissenschaftlich nicht fundiert sei.70 Explizit kritisierte er die wissenschaftliche Pädagogik und das öffentliche Erziehungswesen wegen der unzureichenden Beschäftigung mit den pathologischen Ursachen erzieherischer Probleme.71 Trüpers Anwendung des Psychopathiekonzeptes auf Kinder und Jugendliche verschaffte ihm schlagartig Aufmerksamkeit über die Grenzen Jenas hinaus72 und ließ ihn zum Kopf einer Gruppe werden, die nach 1895 entscheidend für die Etablierung des neuen Paradigmas wirkte. Als Organ dieser Gruppe wurde zunächst eine wissenschaftliche Zeitschrift gegründet. Sie sollte ursprünglich den Titel „Die pädagogische Pathologie. Beiträge zur Heilerziehung in Haus, Schule und sozialem Leben“ haben,73 erschien dann aber ab 1896 als „Die Kinderfehler. Zeitschrift für pädagogische Pathologie und Therapie in Haus, Schule und sozialem Leben“. Wie in beiden Titelversionen deutlich wird, war Strümpells Konzept zunächst maßgebend für die inhaltliche Ausrichtung. Die Herausgeber kamen aus verschiedenen Wirkungsbereichen: Neben Trüper gehörten dazu Julius L. A. Koch,74 quasi als Kron68 Trüper 1900, 226. 69 Trüper 1893. 70 Trüper 1893, 5. Zu Trüpers Distanz gegenüber Teilen des herbartianischen Milieus vgl. auch Stukenberg 1922, V. 71 Trüper 1893, 6. 72 So wurde die Lektüre der Schrift offiziell durch das preußische Kultusministerium empfohlen. Vgl. Stukenberg 1922, VII. 73 Trüper 1896a, 1. 74 Koch ging 1898 als Direktor der Staatsirrenanstalt Zwiefalten in den Ruhestand und lebte in Cannstatt. Von 1896 bis 1900 erscheint er als gleichberechtigter, von 1901 bis zu seinem Tod im Jahr 1908 als

2.4 Pädagogik und Psychiatrie

37

zeuge für die naturwissenschaftlich-psychiatrische Fundierung des Konzepts, Christian Ufer (1856–1934),75 Schulrektor in Altenburg, der bereits zu Beginn der 1890er Jahre im Sinne des Psychopathiekonzeptes publiziert hatte,76 sowie Friedrich Zimmer (1855–1919),77 Professor für Theologie und Philosophie, Direktor des Predigerseminars und des Evangelischen Diakonievereins in Herborn. Spiritus rector des Unternehmens war Trüper; von den anderen Herausgebern wirkte Christian Ufer redaktionell und inhaltlich am aktivsten daran mit.78 Dass die Arbeit der Herausgeberschaft vor allem den beiden Pädagogen zufiel, verweist auf das Selbstverständnis der Zeitschrift. Sie war ein pädagogisches Projekt, gedacht als Ergänzung zur herrschenden Pädagogik, als „Sprechsaal […] für alle, welche sich bald mehr bald weniger der Heilpädagogik [Hervorhebung i. Orig.] widmen“.79 Heilpädagogik wurde als zuständig für ein Gebiet von Kinderfehlern gedacht, „die medizinisch-pathologisch sind, wo aber die Kinder […] oft weit mehr ein Gegenstand der Thätigkeit des Erziehers als der des Arztes sind“; dazu müsse sie jedoch „von der Medizin durchdrungen“ sein.80 Gleichwohl blieb sie in diesem Ansatz Pädagogik und war damit „autonom […], wo es etwas im gesunden oder kranken Kindes- oder Volksleben zu entwickeln, zu pflegen, zu bilden, zu erziehen gibt”.81 Die Herausgeber gingen also trotz „einer naturwissenschaftlichen Unterstützung“, insbesondere durch die Psychiatrie, von einem Primat des Pädagogischen bei der Befassung mit psychisch auffälligen

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mitwirkender Herausgeber der ZfK. Vgl. ZfK, Titelblätter der entspr. Jahrgänge, Hagelskamp 1988, 32 A f., 34 A. Wir danken Joachim Hagelskamp für die großzügige Überlassung seiner Arbeit. Ab spätestens 1904 war Ufer Rektor der Mädchenmittelschule in Elberfeld, 1896 bis 1910 gleichberechtigter Herausgeber, 1911 bis 1922 mitwirkender Herausgeber der ZfK. Vgl. ZfK, Titelblätter der entspr. Jahrgänge; Hagelskamp 1988, 31 A f. Ufer 1890; Ufer 1891; Ufer 1892–95. Ab 1898 war Zimmer Direktor des Evangelischen Diakonievereins in Zehlendorf bei Berlin, 1896 bis 1900 gleichberechtigter Herausgeber, 1901 bis 1903 mitwirkender Herausgeber der ZfK. Vgl. ZfK, Titelblätter der entspr. Jahrgänge; Hagelskamp 1988, 32 A. Zimmer publizierte, im Unterschied zu seinen Herausgeberkollegen, nie selbst in der ZfK. Hagelskamp vermutet daher, er könnte „eine ‚politische‘ Funktion zur Darstellung der Interdisziplinarität und des theologischen Bezugs“ wahrgenommen haben – Hagelskamp 1988, 33 A. Nach Schotte 2010, 304, FN 597 war eine stärkere Mitarbeit Zimmers geplant, ließ sich jedoch wegen der starken Inanspruchnahme durch seine beruflichen Pflichten nicht realisieren. Hagelskamp 1988, 36 A; Schotte 2010, 306 f. Trüper 1896a, 5, 10 (Zitat). Der Charakter als pädagogische Zeitschrift wurde später durch Änderungen im Herausgeberkollegium unterstrichen: der Theologe Zimmer schied 1903 aus, ab 1906 gehörten drei und ab 1912 vier Pädagogen zu diesem Kreis, während es stets nur einen Mit-Herausgeber aus dem psychiatrischen Fachgebiet gab. Vgl. die Titelseiten der ZfK der entspr. Jahrgänge sowie Hagelskamp 1988, 33 A ff. Koch 1896, 28. Trüper zit. n. Strohmayer 1910, 6.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

Kindern und Jugendlichen aus.82 Im Zentrum des Interesses stand, mit „den Formen der Abnormität […], die sich zwischen ausgesprochener Krankheit (Psychose, Idiotie, Taubstummheit, Blindheit u. s. w.) und geistiger Gesundheit bewegen“, zunächst das Paradigma von den psychopathischen Minderwertigkeiten, erweitert um Körperbehinderungen.83 Doch schon in der ersten Ausgabe der „Kinderfehler“ wurde die Perspektive weiter gesteckt: Trüper erklärte seine Bereitschaft, nicht nur „die fehlerhaften Anlagen unserer Jugend“, sondern auch die „Kindesseele überhaupt“ zu berücksichtigen, und deutete eine mögliche Entwicklung „zu einer Zeitschrift für Kinderpsychologie“ an.84 Das eigentliche Ziel der Gruppe um Trüper war also nicht ein zwischen der Pädagogik und der Psychiatrie angesiedeltes Wissensgebiet mit dem Fokus auf das Grenzgebiet psychopathischer Erscheinungen, sondern eine Grundlagenwissenschaft vor der Pädagogik, die alle Zustände im Leben Heranwachsender – seien sie als normal oder abnorm zu werten – zum Gegenstand (natur-) wissenschaftlicher Untersuchungen machte. Vier Jahre später wurde dieses Ziel mit einer Neuausrichtung der Zeitschrift, die sich auch in einer Titeländerung niederschlug, deutlich. Mit dem neuen Hauptuntertitel „Zeitschrift für Kinderforschung“ wurde auf die englische Form „Child Study“ rekurriert, ein Begriff, der sich im Zusammenhang mit entsprechenden Bewegungen in Großbritannien und den USA bereits etabliert hatte.85 Die Kinderforschung sollte zu einer „Wissenschaft vom Kind“ (Pädologie) als Basis der Erziehungswissenschaft (Pädagogik) führen.86 Die pädagogische Pathologie, und damit auch die Psychopathielehre, sollte zwar weiterhin Schwerpunkt der Arbeit bleiben, aber eben nur noch als Teilbereich eines größeren Ganzen.87 Anlass für die Erweiterung des Themenbereiches der Zeitschrift war die weitere Institutionalisierung des wissenschaftlichen Netzwerkes durch die Gründung des Vereins für Kinderforschung, zu dessen Vereinsorgan die Zeitschrift bestimmt wurde.88 82 Hagelskamp 1988, 17 A. Vgl. Trüper 1896a, 12. Die Frage welche Disziplin die Führungsrolle innehaben sollte, führte in den Jahren 1902 bis 1905 zu einer erbitterten publizistischen und letztlich juristischen Auseinandersetzung zwischen Trüper und verschiedenen Psychiatern, darunter Wilhelm Weygandt. Vgl. ZfK 7 (1902), 1–16; 8 (1903), 272–276; 9 (1904), 111–115, 160–174, 214–216; 10 (1905), 209–213. 83 Trüper 1896a, 11. 84 Trüper 1896b, 1 f. 85 Zu den internationalen Einflüssen auf die Begriffsbildung der deutschen Kinderforschung vgl. Schotte 2010, 330. Unter dem Begriff „Kind“ wurden von den Kinderforschern Heranwachsende bis zur Mündigkeit gefasst (ebenda, 314). 86 Vgl. Hall 1902. Vgl. auch Heller 1926, 30. Kinderforschung ist nicht Heilpädagogik wie Schotte 2010, 306 impliziert. 87 Trüper et al. 1900, 2. Dies schlug sich auch in dem bis 1922 beibehaltenen Titelzusatz der ZfK „mit besonderer Berücksichtigung der pädagogischen Pathologie“ nieder. 88 Zum Prozess der Vereinsgründung vgl. Schotte 2010, 324 ff. Vgl. Trüper et al. 1900.

2.4 Pädagogik und Psychiatrie

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Der Verein war als Forum für Vertreter aller Disziplinen gedacht, die sich für „das kindliche Leibes- und Seelenleben in gesunden und kranken Zuständen, sofern diese Zustände von Bedeutung für die Erziehung sind“, interessierten.89 Es erwies sich jedoch, dass die Etablierung des Forschungsgegenstandes „Kind“ in dieser allgemeinen Form nicht möglich war. Auf den Jahresversammlungen des Vereins zeigte sich an den Referatsthemen, „dass das dominierende Interesse beim ,kranken‘ Kind lag“.90 Auch ein Überblick über die zwischen 1900 und 1914 in der Zeitschrift für Kinderforschung veröffentlichten Beiträge verdeutlicht, dass die von den Herausgebern beabsichtigte Ausweitung des Forschungsgegenstandes nicht zustande kam. Weit mehr als die Hälfte aller Aufsätze beschäftigte sich nach wie vor mit devianten Kindern und Jugendlichen, wobei sowohl körperliche als auch geistige Abweichungen, Störungen und Behinderungen unter pädagogischen, medizinischen, juristischen und fürsorgerischen Fragestellungen behandelt wurden.91 Im Vergleich mit der Zahl derjenigen Artikel, die sich ausschließlich mit „normalen“ Kindern und Jugendlichen beschäftigen, wird die Dominanz des ursprünglichen Themenspektrums der Zeitschrift noch deutlicher: 33 entsprechende Arbeiten stehen 110 Aufsätzen gegenüber, die im weitesten Sinne der pädagogischen Pathologie zugerechnet werden können.92 Diese Diskrepanz fiel auch Trüper auf, der den spärlichen Zufluss von „Abhandlungen aus dem Gebiete der normalen Entwicklung des Kindes nach Leib und Seele“ beklagte. Seine Bitte an die Autoren der ZfK, „das normale Kind ja nicht außer acht zu lassen“,93 führte jedoch zu keiner grundsätzlichen Änderung der Situation. Den Höhe- und in gewisser Weise auch Endpunkt des Versuchs, mit der Kinderforschung ein eigenes Forschungsgebiet zu etablieren, markierte der maßgeblich von Trüper initiierte Kongress für Kinderforschung und Jugendfürsorge, der vom 1. bis 4. Oktober 1906 in Berlin stattfand.94 Zwar wurden die Verhandlungen des zahlreich besuchten Kongresses von den Organisatoren als Erfolg gefeiert, zugleich mussten sie jedoch zutage getretene Differenzen zwischen Vertretern einzelner Disziplinen, insbesondere zwischen Psychologen und Pädagogen, einräumen.95 Zudem wurden die herbartianischen Grundlagen der „Jenaer Richtung“,96 89 Zitat aus der Satzung des Vereins nach Kopittke 1942, 108, zit. n. Schotte 2010, 326. 90 Schotte 2010, 327. Vgl. Strohmayer/Stukenberg 1901, 222, FN 3: „Man hat bedauert, daß das Psychopathologische die diesjährige Tagesordnung füllte. Ein Vortrag zur Psychologie des normalen Kindes ist trotz wiederholter Aufforderung nicht angemeldet worden.“ 91 Vgl. Hagelskamp 1988, 10 B–66 B. 92 Darüber hinaus gab es noch 28 Artikel, die sowohl deviante als auch normale Erscheinungen des Kindes- und Jugendalters zum Inhalt hatten sowie 37 Beiträge, die sich mit anderen Themen befassten. 93 Trüper 1909b, 163. 94 Vgl. Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge, vom 1. bis 4. Oktober 1906 zu Berlin [Programm] 1906. 95 Ufer 1907b, 43 f. Vgl. auch Zimmermann 2005, 40 sowie Schotte 2010, 333. 96 HPA: Trüper, Brief an Rein, 12.08.1913, zit. n. Schotte 2010, 338.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

die wesentlich das Projekt „Kinderforschung“ vorangetrieben hatten, zunehmend auch innerpädagogisch infrage gestellt, und eine Zusammenarbeit insbesondere von Vertretern der experimentellen Pädagogik wie Ernst Meumann (1862–1915) und William Stern (1871–1938) vermieden bzw. abgelehnt.97 War man zunächst fest von einer Nachfolgeveranstaltung ausgegangen,98 versandeten in den darauffolgenden Jahren die Bemühungen zur Vorbereitung eines weiteren Kongresses, und auch der Verein für Kinderforschung beendete seine Tätigkeit, ohne allerdings offiziell aufgelöst worden zu sein.99 Die Zeitschrift für Kinderforschung blieb renommiertes Organ der wissenschaftlichen Beschäftigung mit devianten Kindern und Jugendlichen. Sie erschien bis zum Ersten Weltkrieg monatlich in einer Auflage von 1.800 Exemplaren und zeichnete sich weiterhin durch eine große Interdisziplinarität der darin veröffentlichten Beiträge aus.100 Das konnte jedoch nicht über das Fehlen einer Synthese der verschiedenen Sichtweisen im Sinne der Kinderforscher hinwegtäuschen. Auffallend ist außerdem, dass führende Psychiater, insbesondere Exponenten einer Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters, kaum in der Zeitschrift publizierten. So veröffentlichte der von Trüper hoch geschätzte Theodor Ziehen lediglich eine Arbeit in den längeren Texten vorbehaltenen „Beiträgen zur Kinderforschung und Heilerziehung“, die als Beihefte zur ZfK erschienen.101 Auch von Wilhelm Strohmayer (1874–1936), Nachfolger Ziehens als Konsiliararzt im Erziehungsheim Sophienhöhe, wie dieser Mitglied des Vereins für Kinderforschung und mehrere Jahre in der ZfK zuständig für Literatur-Rezensionen, erschien erst 1922, nach Trüpers Tod, ein eigener Aufsatz in der Zeitschrift.102 Die weitgehende publizistische Abstinenz der beiden Psychiater in der ZfK ist nicht nur wegen ihrer Zusammenarbeit mit Trüper in der heilpädagogischen Praxis merkwürdig, sondern auch deswegen, weil sie als diejenigen Vertreter ihres Faches zu gelten haben, die nächst Emminghaus „wirklich bedeutende(n) Werk(e) der Kinderpsychiatrie in deutscher Sprache“ vorlegten.103 Bereits zwischen 1902 und 1906 war Ziehens Abhandlung „Die Geisteskrankheiten des Kindesalters“ in drei Bänden erschienen.104 Darin nahm er wichtige Änderungen am Psychopathiekonzept vor, u. a. sprach er statt von „psychopathischer Minderwertigkeit“ von „psychopathischer Konstitution“ – vermutlich eine von Binswanger übernommene Bezeich97 Schotte 2010, 333–338. Vgl. auch EZA Bestand 626, Nr. 51 W IV b, Trüper an Siegmund-Schultze, 9.11.1918, o. Bl. 98 Ufer 1907b, 41; Trüper 1907, 335. 99 Schotte 2010, 339. 100 Schotte 2010, 314. 101 Ziehen 1913. 102 Strohmayer 1922. 103 Für Ziehen: Gerhard/Blanz 2002, 130 (Zitat); für Strohmayer: Demmler 2003, 59. 104 Ziehen 1902–1906.

2.4 Pädagogik und Psychiatrie

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nung – und er grenzte schwere geistige Behinderungen von der Psychopathie ab.105 Ohne jede Polemik gegen Trüper und seine Mitstreiter reklamierte er die Führungsrolle der Psychiatrie für das Gebiet psychischer Störungen von Kindern und Jugendlichen. Zwar waren Ziehens Behandlungsrichtlinien in der Regel erzieherischer Art (und galten vor allem der Prophylaxe),106 aber die „Zuziehung eines sachverständigen Arztes“ blieb für ihn „in jedem Fall notwendig“.107 Bei Heilerziehungsheimen für psychopathische Kinder und Jugendliche war ihm die Frage, „ob der Leiter ein Pädagoge oder ein Arzt ist, […] nebensächlich. Der Behandlungs- und Erziehungsplan muß jedenfalls in erster Linie von ärztlichen d. h. psychiatrischen Gesichtspunkten aus festgestellt, während die Ausführung im wesentlichen dem Pädagogen überlassen bleiben muß.“108

Strohmayer formulierte einige Jahre später seine Abgrenzung gegenüber dem von Trüper reklamierten Führungsanspruch der Pädagogik im Umgang mit psychisch devianten Kindern und Jugendlichen bedeutend schärfer: Er „möchte nicht mehr Arzt sein, wenn sich einst die von Trüper gegebene Grenzbestimmung [zwischen Medizin und Pädagogik – d. Vf.] verwirklichen würde“.109 Eigentlich wäre in der ZfK eine ausführliche Würdigung beider Werke, die nicht zuletzt auf den Erfahrungen der Zusammenarbeit zwischen Pädagogen und Psychiatern in Jena basierten, zu erwarten gewesen, zumal das Psychopathiekonzept jeweils eine wichtige Rolle spielt. Dem ist jedoch nicht so. Ziehen wurde ausführlich als Psychologe und auch als Philosoph reflektiert, während die psychiatrische Seite seiner Arbeit vor allem dann eine Rolle spielte, wenn er als Kronzeuge für eine den pädagogischen Fragen offen gegenüber stehende Medizin aufgerufen wurde.110 Erst 1912, in einem biographischen Aufsatz anlässlich seines Ausscheidens aus der Berliner Fakultät, wurden die „Geisteskrankheiten des Kindesalters“ und die darin vorgenommenen Modifikationen des Psychopathiekonzeptes ausdrücklich erwähnt.111 Zu Strohmayers Arbeit gab es eine kurze Rezension, in der hauptsächlich seiner Einschätzung des von Koch und Strümpell verwendeten Psychopathiebegriffs widersprochen wird.112 Strohmayer hatte im Unterschied zu den beiden Initiatoren der neuen Wissensord105 106 107 108 109 110 111 112

Gerhard/Schönberg 2008, 20. Vgl. Ziehen 1906, 49 f., 75–78, 100, 102. Ziehen 1906, 50. Ziehen 1906, 76. Strohmayer 1910, 6. Vgl. Trüper 1900 sowie Trüper 1917. Schauer 1912, 406 f. Römer 1910.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

nung stärker betont, dass es sich bei Psychopathie um einen Krankheitsbegriff handelte, und damit die Hauptzuständigkeit der Medizin für das Grenzgebiet kindlicher und jugendlicher Verhaltensstörungen unterstrichen.113 Es entsteht der Eindruck, dass die Herausgeber der Zeitschrift für Kinderforschung gerade wegen des intendierten ärztlichen Führungsanspruchs die neueren Entwicklungen nicht zur Kenntnis nehmen wollten und ihre Ansichten über ein interdisziplinäres Zusammenwirken sich auf eine Psychiatrie auf dem Stand der 1890er Jahre bezogen. Symptomatisch dafür ist, dass Johannes Trüper im Jahr 1911 die dritte Auflage eines zwanzig Jahre zuvor erstmals erschienenen Buches des Bremer Psychiaters Friedrich Scholz über die „Charakterfehler des Kindes“ besorgte.114 Die Schrift kann als populäre Form der „Psychopathischen Minderwertigkeiten“ von Koch angesehen werden, behandelte sie doch im Wesentlichen die gleichen Störungen, die durch den Psychopathiebegriff beschrieben wurden, ohne ihn selbst zu benutzen. Die Zeitschrift für Kinderforschung erschien während des gesamten Ersten Weltkriegs, wenn auch in reduziertem Umfang.115 Nach der Novemberrevolution und in der Nachkriegskrise lastete die Herausgeberschaft faktisch allein auf Trüper, dessen eigene Artikel in dieser Zeit zunehmend den Charakter von Pamphleten gegen das politische System der Weimarer Republik annahmen.116 Das erste Heft der Zeitschrift für Kinderforschung des Jahrgangs 1920 enthielt keine eigenen redaktionellen Beiträge aus dem Umfeld des Herausgeberkollegiums, sondern die Referate einer „Tagung über Psychopathenfürsorge“, die am 19. Oktober 1918 in Berlin stattgefunden hatte. Trüper betonte zwar im Geleitwort die geistige Urheberschaft seiner Gruppe für dieses Thema und wertete die Konferenz als Bestätigung seiner schon seit Jahren geäußerten Ansichten. Tatsächlich markierte die Tagung jedoch eine Abkehr von zwei Prämissen, die von der „Jenaer Richtung“ vertreten wurden. Zunächst betraf dies die von Trüper und seinen Mitstreitern verfolgte Ausweitung ihres Forschungsgegenstandes: Im Zusammenhang mit der Berliner Tagung wurde der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen (DVFjP) gegründet, der schon in seinem Namen die inhaltliche Beschränkung auf das Psychopathiekonzept vertrat. Konnte man das noch als Rückkehr zu den Ursprüngen auch des Trüper’schen Handelns verstehen, so unterschied sich diese Psychopathenfürsorge jedoch vor 113 Strohmayer 1910, 3 f. 114 Scholz, F. 1911. Gestützt wird diese Einschätzung durch eine spätere Bewertung August Homburgers, der bei Friedrich Scholz eine „Überbetonung des moralischen und des pädagogischen Momentes“ sieht. Homburger 1926, 260. 115 Der Umfang der ZfK sank von 10 Ausgaben mit 744 Seiten im Jahr 1914 auf fünf Ausgaben mit 294 Seiten 1922. 116 Hagelskamp 1988, 36A; Schotte 2010, 317.

2.5 Psychiatrie und Jugendfürsorge

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allem in einem deutlich von Trüpers Auffassungen: Sie akzeptierte die Führungsrolle der Psychiatrie. Diese Richtung war nicht neu. Sie hatte sich parallel zum Projekt „Kinderforschung“ und von verschiedenen Orten ausgehend entwickelt, und ihr Beginn war – zumindest in Berlin – mit dem Namen eines Mannes verbunden, der von Trüper zur eigenen Scientific Community gerechnet wurde: Theodor Ziehen.

2.5 Psychiatrie und Jugendfürsorge Theodor Ziehen hatte Jena im Jahr 1900 verlassen. In den folgenden Jahren erschien sein kinderpsychiatrisches Hauptwerk in drei Bänden,117 von denen zumindest die ersten beiden noch wesentlich auf den Erfahrungen seiner Jenaer Zeit beruhten.118 Insbesondere das Aufgreifen des Psychopathiekonzepts kann ohne Zweifel als Ergebnis seiner Jenaer Jahre bezeichnet werden.119 Nachdem er 1904 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie der Berliner Universität berufen worden war und damit zugleich die Leitung der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité übernommen hatte,120 blieben kinderpsychiatrische Themen im Fokus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. In den 1906 erschienenen dritten Teil seiner „Geisteskrankheiten des Kindesalters“ flossen bereits zahlreiche Kasuistiken aus der Praxis der Psychiatrischen und Nervenklinik ein. Hervorzuheben ist insbesondere das Kapitel zu den psychopathischen Konstitutionen, das etwa zwei Drittel des Gesamtumfangs dieses Bandes einnimmt.121 In den Charité-Annalen der Jahrgänge 1905 bis 1912 beschäftigte sich Ziehen in einer Artikelfolge sogar ausschließlich mit der „Lehre von den psychopathischen Konstitutionen“, wobei er zur Illustration seiner Auffassungen „Fälle“ seiner Klinik verwendete.122 Ab dem Jahrgang 1907 erschienen hier des Öfteren Fallgeschichten von Kindern und Jugendlichen. Für Ziehen bildeten die „psychopathischen Konstitutionen neben dem angeborenen Schwachsinn die häufigste und praktisch weitaus wichtigste Geistesstörung des Kindesalters“ und stellten „ein Grenzgebiet zwischen Geistesgesundheit und Geisteskrankheit“ dar.123 Um

117 Ziehen 1902; 1904; 1906. 118 Herberhold 1977, 149. 119 Während in der ersten Auflage seines Lehrbuchs „Psychiatrie für Ärzte und Studierende“ von 1894 das Psychopathiekonzept noch nicht erwähnt wird, enthält die zweite Auflage von 1902 einen längeren Abschnitt über psychopathische Konstitutionen (S. 485–541). 120 Pütter 1905, 5. 121 Vgl. Ziehen 1906. Insgesamt werden mindestens elf Fälle aus der Charité referiert, bei einigen weiteren Beispielen ist nicht ersichtlich, ob sie aus Ziehens Privatpraxis oder früheren Stationen seiner Laufbahn stammen. 122 Ziehen 1905–1912. 123 Ziehen 1906, 23 f.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

dieses Gebiet zu erforschen, förderte er weitere wissenschaftliche Arbeiten. So konnte Helenefriederike Stelzner (1861–1937)124 für ihre Monographie „Die Psychopathischen Konstitutionen und ihre sociologische Bedeutung“ u. a. die Fallgeschichten von 190 Kindern im Alter von 6 bis 14 Jahren verwenden, die in den Jahren 1907 und 1908 sowie bis zum Juni 1909 in der Nervenpoliklinik der Charité vorgestellt worden waren.125 Ab Oktober 1909 wurde die poliklinische Untersuchung und Behandlung von psychiatrisch kranken bzw. psychopathischen Kindern und Jugendlichen auf Veranlassung Ziehens von derjenigen der Erwachsenen abgegrenzt. Diese von dem verantwortlichen Arzt Ewald Stier (1874–1962) als „Kinderabteilung“ in der Nervenpoliklinik bezeichnete interne Organisation des klinischen Betriebs war vermutlich nicht mit einer eigenen räumlichen Struktur verbunden, sondern ist als Zuständigkeitsregelung für das ärztliche Personal der Nervenpoliklinik zu verstehen.126 Der seit 1909 an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité tätige Militärarzt Ewald Stier untersuchte zwischen Oktober desselben Jahres und April 1912 nach eigenen Angaben allein „rund 4.000 psychisch und nervös kranke Kinder“.127 Darüber hinaus wurden nicht nur Kinder und Jugendliche mit Psychosen, sondern auch als psychopathisch eingestufte – also nicht eindeutig dem Gebiet der „Geisteskrankheit“ zugeordnete – Minderjährige auf die Stationen der Psychiatrischen und Nervenklinik aufgenommen.128 Bei Letzteren verfolgte der Aufenthalt den Zweck der Beobachtung und „besseren Fixierung der Diagnose“, aber auch der erzieherischen Beeinflussung ihres Verhaltens.129 Auf der Grundlage dieser breiten empirischen Basis veröffentlichten sowohl Stier als auch sein Chef Ziehen eine Reihe von Beiträgen mit kinderpsychiatrischer Thematik, speziell zur Psychopathie.130 124 Zur Person vgl. Brinkschulte 1995, 184; Buchin 2000; Ziegeler 1993, 12, 28, 32. sowie http://www.frauenorte.net/html/aufsatz_frauenstudium.html [eingesehen am 15.05.2015]. 125 Stelzner 1911, 20. 126 Vgl. Seebacher 1990, Bildanhang, Bild 32: Klinik für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Erdgeschoß. Auf dem Grundriss sind keine besonderen Warte- und Untersuchungszimmer für Kinder im Bereich der Nervenpoliklinik verzeichnet. Auf den – ab dem Jahrgang 1910 überlieferten – Krankenblättern der Nervenpoliklinik der Charité befinden sich neben dem gedruckten Wort „Abteilung“ im Formularkopf die Stempel „Md.“ für Mädchen und „Kn.“ für Knaben. 127 Zu Stier vgl. Pütter 1910, 9 sowie Stier 1913a, 1 f. Angaben zur „Kinderabteilung“ ebenda, 3. 128 Stier 1913a, 5. Von den insgesamt 39 Fällen, auf denen seine Studie basierte, zählte Stier 17 zu den psychopathischen Konstitutionen. Acht dieser Fälle waren mit einem mehrtägigen bis mehrwöchigen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik verbunden. Im Historischen Psychiatriearchiv der Charité (HPAC) konnten davon sechs zugehörige Krankenakten identifiziert werden. 129 Stier 1913a, 127. Stelzner 1911, 219 berichtet von einem Jungen, der zunächst drei Tage zur Beobachtung auf der psychiatrischen Klinik aufgenommen wurde, dann aber 14 Tage dort blieb, „weil sich keine passende Anstalt für ihn finden läßt und man ihn schließlich gewissermaßen aus Verlegenheit wieder der Familie zurückgibt“. 130 Stier 1913b; Stier 1920a, b; Ziehen 1912; Ziehen 1913.

2.5 Psychiatrie und Jugendfürsorge

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Ursache der steigenden Fallzahlen psychopathischer Kinder und Jugendlicher war nicht allein die hohe Bevölkerungszahl und -dichte der umgebenden Metropole Berlin und das damit zusammenhängende stärkere Störpotential auffälligen Verhaltens, sondern auch die Kombination dieses Umstandes mit einer im Entstehen begriffenen fürsorgerischen, sozialpädagogischen und juristischen Infrastruktur für diese Klientel, die zunehmend an den Überweisungen in die Psychiatrische und Nervenklinik beteiligt war. Bis dahin waren es außerhalb der Familien vor allem Lehrer_innen, Schul- und niedergelassene Ärzte, die aufgrund ihres beruflichen Kontakts psychisch auffällige Heranwachsende zur Diagnosestellung bzw. -überprüfung in die Charité schickten.131 Nun erweiterte sich der Kreis der beteiligten Institutionen um die – überwiegend auf privater Initiative beruhende – Jugendfürsorge und die Jugendgerichtsbarkeit. Von besonderer Bedeutung war dabei die 1907 gegründete Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge (DZJ), die als Koordinierungsstelle für zahlreiche in der Kinder- und Jugendpflege tätige Vereine und Einrichtungen fungierte.132 Geschäftsführerin der DZJ bzw. ihrer Vorgängerorganisation war Frieda Duensing (1864–1921), eine der ersten promovierten Juristinnen Deutschlands.133 Sie hatte ihr Amt in Berlin, ebenso wie Theodor Ziehen, im Jahr 1904 angetreten. Duensing engagierte sich in zahlreichen Rechtsfragen, die das Verhältnis zwischen der Erziehung in der Familie und den Eingriffsmöglichkeiten des Staates betrafen. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Problem der Kindesmisshandlung.134 Über dieses Thema wurde sie auch auf die sogenannten psychopathischen Kinder aufmerksam, „diese unglücklichen Kinder […], mit denen niemand fertig wird und die so oft Gegenstand grausamster Mißhandlung werden“.135 Eine wirkungsvolle Hilfe für diese Klientel konnte nach Duensings Auffassung jedoch nur auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Ursachen von Psychopathie und die Bedingungen einer „Regeneration entarteter Jugendlicher, eine Resozialisierung gesellschaftlich gefallener jugendlicher Individuen“ erfolgen.136 Hier traf sich Duensings Engagement mit dem wissenschaftlichen Interesse Theodor Ziehens. Beide waren in der Folgezeit maßgeblich an der Ausgestaltung der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Jugendfürsorge und Psychiatrie in Berlin beteiligt. Ziehen sah in der Zusammenarbeit ohne Zweifel eine notwendige Voraussetzung für die erfolgreiche fachärztliche Beschäftigung mit psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen. Dafür spricht, dass er von Berlin aus zunächst seine Beziehungen nach Jena wei131 Vgl. Stelzner 1911, 218. 132 Die DZJ ging aus der bereits seit 1901 bestehenden Berliner Centralstelle für Jugendfürsorge hervor. Vgl. Sachße/Tennstedt 1988, 41; Allen 2000, 308 f. 133 Vgl. Zeller 1990; Major 1985; Huch 1926. 134 Allen 2000, 310. 135 Jahresbericht der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge 1905/06, zit. n. Leyen 1931, 630. 136 Frieda Duensing (1907), zit. n. Leyen 1931, 630.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

ter pflegte. So gehörte er neben Wilhelm Rein zum vorbereitenden Ausschuss des Kongresses für Kinderforschung und Jugendfürsorge im Jahr 1906;137 außerdem war er Mitglied des Berliner Ortskomitees zur Vorbereitung des Kongresses, dem auch Frieda Duensing angehörte. 138 Spätestens hier dürfte der Kontakt zwischen dem Mediziner und der Fürsorgepolitikerin zustande gekommen sein. Schon am 14. Januar 1907 trat Ziehen als Ko-Referent Duensings bei der von ihr organisierten ersten Konferenz über „die Fürsorge für schwachsinnige und abnorme Kinder“ auf und markierte damit den Beginn einer „engen Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Jugendfürsorge in Berlin“.139 Ziehen, der im Rahmen seines Vortrags zwischen Schwachsinnigen, Kindern mit psychopathischer Konstitution und der Kombination aus beidem unterschied, forderte die Einrichtung von Heilerziehungsheimen, in denen schwachsinnige und psychopathische Kinder getrennt voneinander untergebracht werden sollten, sowie besondere schulische Einrichtungen für psychopathische Mädchen und Jungen. Darüber hinaus forderte er, dass „jedes der Fürsorgeerziehung überwiesene minderjährige Individuum durch einen psychiatrisch geschulten Arzt untersucht werden müsse“.140 Duensing entwickelte in ihrem Referat ein Programm zur Organisation des Hilfsschul- und des Fürsorgeerziehungswesens unter dem Aspekt der Fürsorge für psychopathische Kinder und Jugendliche, unterstützte die Forderungen Ziehens nach besonderen Heilerziehungsheimen und sprach sich für die Förderung der heilpädagogischen und biologischen (medizinischen) Forschung auf diesem Gebiet aus.141 Im Anschluss an die Konferenz gründete sich eine „Kommission für Schwachsinnigenfürsorge“, der die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge und die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité gleichermaßen angehörten. Die Kommission sollte im Wesentlichen drei Zielstellungen verfolgen: Erstens die statistische Erfassung von Einrichtungen, die sich mit „geistig abnormen“ Kindern befassten sowie des Anteils solcher Kinder an der Bevölkerung in Berlin und Brandenburg; zweitens die Errichtung eines Heilerziehungsheimes für psychopathische Kinder und drittens die Einrichtung von Arbeits- und Lehrwerkstätten.142 Die Konferenz markierte – zumindest für Berlin – auch deshalb einen Wendepunkt, weil von ihr ausgehend nunmehr „der Psychopathenfürsorge die klinische Psychiatrie zugrunde“

137 Zimmermann 2005, 37 f. Vgl. Ufer 1907b. 138 Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge, vom 1. bis 4. Oktober 1906 zu Berlin [Programm] 1906, 317. 139 Leyen 1931, 631. 140 Leyen 1931, 631 f. Vgl. auch Stelzner 1911, 234. 141 Leyen 1931, 632. 142 Leyen 1931, 632 f.

2.5 Psychiatrie und Jugendfürsorge

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gelegt wurde.143 Die Praxis der Berliner Psychopathenfürsorge ab 1907 belegt diese mehr als 20 Jahre später getroffene Einschätzung. Im Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung der Fürsorgetätigkeit der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, insbesondere ihrer Abteilung „Groß Berlin“, kam der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité eine Schlüsselrolle zu. So überwies die Unterabteilung „Praktische Einzelfälle“ der DZJ all jene von ihr betreuten Kinder, die durch Erziehungsschwierigkeiten oder „dissoziales Verhalten“ (Lügen, Stehlen, Fortlaufen, sexuelle Schwierigkeiten) auffällig geworden waren, zur psychiatrischen Untersuchung, Beobachtung und Beratung.144 Für 1910 gab Frieda Duensing an, „daß die Psychiatrische Klinik in 30 Fällen für die Erstattung ärztlicher Gutachten in Anspruch genommen worden sei“.145 Seit der Gründung des ersten Berliner Jugendgerichts beim Amtsgericht Berlin-Mitte 1908 war die psychiatrische Untersuchung jugendlicher Delinquenten obligatorisch geworden.146 Die Jugendlichen wurden zu den Untersuchungen, die auch an der Nervenpoliklinik der Charité stattfanden, in der Regel durch die ebenfalls 1908 gegründete Unterabteilung der DZJ für Jugendgerichtshilfe begleitet.147 Auch die 1909 eingerichtete Wohlfahrtsstelle für Jugendliche („Jugendfürsorgestelle“) beim Polizeipräsidium Berlin wurde auf Initiative der DZJ gegründet und personell von ihr besetzt.148 Zu den Aufgaben der dort angestellten „Fürsorgedame“ gehörte unter anderem die Mobilisierung von Hilfen „besonders für psychopathisch Veranlagte“, wozu im Bedarfsfall auch die fachärztliche Untersuchung an der Charité zählte.149 Das bereits 1907 formulierte Ziel, ein Heilerziehungsheim zu gründen, konnte sechs Jahre später realisiert werden. Da die Einrichtung von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge getragen wurde, dürfte die organisatorische Hauptlast bei Frieda Duensing gelegen haben. Der Verein war aus eigener Kraft nicht in der Lage, das Vorhaben zu finanzieren, es mussten 143 Leyen 1931, 631. 144 Erzellitzer 1913. Spuren der frühen interdisziplinären Zusammenarbeit von Jugendfürsorge und Psychiatrie finden sich in den überlieferten Krankenblättern der Nervenpoliklinik. Die DZJ wird mehrfach als überweisende Stelle vermerkt. Vgl. z. B. HPAC, Krkbl. Nr. 411/1910; 272/1912; 280/1912. 145 Leyen 1931, 630. 146 Stier 1913a, 131. Vgl. auch Fürstenheim 1910; S. Schneider 2010, 364. 147 Erzellitzer 1913. Vgl. auch Cornel 2008, 9 sowie Leyen 1931, 635. Das Berliner Jugendgericht ist in den Poliklinik-Krankenblättern häufig als überweisende Stelle vermerkt. Ab dem Jahrgang 1911 findet sich des Öfteren das standardisierte gerichtliche Schreiben mit Angaben zur jeweiligen Strafsache und dem Ersuchen um ärztliche Untersuchung. Für 1912 sind nur Krankenblätter von Mädchen überliefert. Unter diesen befinden sich 42 vom Jugendgericht überwiesene Fälle, denen in der Regel ein entsprechendes Formblatt beigefügt ist. Vgl. HPAC, Karton: 1912 Mädchen 1 (Jan.–Jun.) sowie 1912 Mädchen 2 (Jul.–Dez.). In Einzelfällen finden sich auch Begleitschreiben der Jugendgerichtshilfe, z. B. HPAC, Krkbl. Nr. 207/1912. Zur Entwicklung der Jugendgerichtshilfe in Berlin vgl. in diesem Band, S. 88 ff. 148 Erzellitzer 1913. Vgl. auch Erkens 1930. 149 Vgl. in diesem Band, S. 87 f.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

also Förderer gesucht und überzeugt werden, Geld für das Projekt zur Verfügung zu stellen; ebenso musste ein geeignetes Grundstück ausfindig gemacht werden. Im Jahr 1909 waren unter Beteiligung des preußischen Kultus- und des Innenministeriums sowie des Landesdirektors der Provinz Brandenburg bereits 62.217 Mark bereitgestellt; ein Grundstück in der uckermärkischen Kleinstadt Templin wurde der DZJ kostenlos überlassen.150 Theodor Ziehen unterstützte das Vorhaben vor allem publizistisch, indem er die Notwendigkeit der Einrichtung von Heimen für psychopathische Kinder und Jugendliche – insbesondere aus ärmeren Bevölkerungsschichten – aus psychiatrischer Sicht begründete.151 Die bestehenden Institutionen („Irren- und Schwachsinnigenanstalten“, Erziehungsheime für nicht pathologische, „nur verwahrloste“ Kinder) seien ungeeignet für die besondere Problematik dieser Heranwachsenden, nämlich die pathologische Grundlage ihres auffälligen Verhaltens. Bei rechtzeitiger und gezielter Beeinflussung durch „Ärzte und Pädagogen […] in gemeinschaftlichem Wirken“ bestünden hingegen gute individuelle Entwicklungsmöglichkeiten für diese Kinder im Hinblick auf ihre soziale Integration. Außerdem würden durch solche speziellen Einrichtungen die Kosten für die Gesellschaft minimiert, die ansonsten durch asoziales Verhalten, Kriminalität und Prostitution verursacht würden.152 Ziehen stützte seine Überlegungen auf die zahlreichen in seiner Klinik vorkommenden Fälle psychopathischer Kinder, die „mit größter Wahrscheinlichkeit dem Verbrechen, der Landstreicherei, der Prostitution oder der Geistesstörung oder endlich wenigstens der Erwerbsunfähigkeit und damit der öffentlichen Armenpflege verfallen“ seien, wenn nicht rechtzeitig in interdisziplinärer Zusammenarbeit und mit öffentlicher Förderung gegengesteuert würde.153 Am 6. April 1913 wurde das Heilerziehungsheim für „psychopathische Knaben“ der DZJ in Templin eröffnet.154 Zwar hatte Theodor Ziehen sein Amt an der Charité bereits im Vorjahr niedergelegt und auch Frieda Duensing war 1912 als Geschäftsführerin der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge ausgeschieden. Doch hatten beide in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich dafür gesorgt, dass die von ihnen begonnene Zusammenarbeit von Medizinern, Pädagoginnen und Fürsorgerinnen auch nach ihrem Weggang fortgesetzt wurde.155 150 Leyen 1931, 633. 151 Ziehen 1912. „Die in der letztgenannten Schrift niedergelegten Erfahrungen Ziehens waren die Veranlassung zur Begründung des Erziehungsheimes für psychopathische Knaben, das von der ,Zentrale für Jugendfürsorge‘, der Ziehen als Berater in heilpädagogischen Fragen nahegestanden hat, im April d. J. in Templin eröffnet worden ist.“ Schauer 1912, 399. 152 Ziehen 1912, 3 f., 8, 11. 153 Ziehen 1912, 22 f. 154 N. N. 1915, 73. Vgl. auch Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA), Rep. 2 A II Templin, Nr. 1491 Das Heilerziehungsheim in Templin. 155 Vgl. Fürstenheim 1930, 4.

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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Zur neuen Generation von Akteur_innen dieser interdisziplinären Praxis gehörten Ruth von der Leyen, die seit 1913 in der Abteilung Jugendgerichtshilfe der DZJ wirkte, und der kinderpsychiatrisch bereits profilierte Franz Kramer, der 1912 mit Ziehens Nachfolger Karl Bonhoeffer aus Breslau an die Charité gekommen war.156 Beide waren, orientiert am Psychopathieparadigma, entscheidend an der Weiterentwicklung einer Scientific Community beteiligt, die die Erforschung psychischer Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zu ihrem Programm machte. So gehörten sie 1918 zu den Gründern des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, dessen Geschäftsführerin von der Leyen wurde, und auf Initiative der Sozialpädagogin wurde 1921 die von Kramer geleitete Kinderbeobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité eingerichtet. Sowohl der Verein, der nicht nur ein reichsweites Forum wissenschaftlichen Austauschs war, sondern ebenso eine aktive Fürsorgearbeit in Berlin entfaltete, als auch die Beobachtungsstation, die hauptsächlich der Aufnahme psychopathischer Kinder und Jugendlicher dienen sollte, basierten wesentlich auf der von Ziehen und Duensing geleisteten Vorarbeit und waren wesentliche Elemente eines Berliner Zentrums zur Erforschung jugendlicher Psychopathie, das in den folgenden Jahren entscheidend zur Etablierung der neuen Wissensordnung „Psychopathenfürsorge“ beitrug. Ein dritter Bestandteil dieses Knotenpunktes stand auf den ersten Blick weiterhin in der Jenaer Tradition, da nach Trüpers Tod am 1. November 1921 der Jahrgang 1922 der Zeitschrift für Kinderforschung noch in Verantwortung des alten Herausgeberkollegiums erscheinen konnte. Ab 1923 wechselte das Blatt jedoch den Verlag, den Erscheinungsort (Berlin) und die Herausgeberschaft, zu der jetzt auch Franz Kramer und vor allem Ruth von der Leyen, die Schriftleiterin wurde, zählten. Der eingeführte Titel der Zeitschrift wurde beibehalten und Trüpers Name als Gründer des Blattes im Untertitel erwähnt, die inhaltliche Ausrichtung wurde jedoch grundlegend verändert. Nunmehr galt die Psychiatrie in ausdrücklicher Abgrenzung zu den Auffassungen der pädagogischen Pathologie als „Grundwissenschaft“ der Heilpädagogik, und die Zeitschrift sollte demzufolge an erster Stelle „Psychiatrie pflegen als das Fundament, auf welchem jeder, welcher einer abwegigen, gefährdeten oder abnormen Jugend dienen will, sicheren Halt gewinnen soll“.157

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“ Historisch leistete nicht nur die Psychiatrie, sondern auch die Pädiatrie einen wesentlichen wissenschaftlichen und personellen Beitrag zur Behandlung verhaltensauffälliger Minderjäh156 Zur Praxis der Zusammenarbeit zwischen der Universitäts-Psychiatrie unter Bonhoeffer und der Ortsgruppe der DZJ in Breslau vgl. in diesem Band, S. 76 f. 157 Isserlin 1923b, 11 ff. sowie Isserlin 1923a, 1 (Zitat).

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2. Pädagogik und Psychiatrie

riger ebenso wie zur Herausbildung der Kinder- und Jugendpsychiatrie als medizinischer Spezialdisziplin. Vollzieht man die jeweiligen Annäherungen beider Fächer an die wissenschaftliche Aufgabe und die ärztliche Herausforderung „nervöses und psychopathisches Kind“ nach, so lassen sich – bei allen Überschneidungen und Uneindeutigkeiten, die im Wesentlichen in der Materie selbst begründet liegen – doch einige Linien nachzeichnen, die auch die Entwicklung und Prägung der medizinischen Spezialisierung bestimmten. Festzuhalten ist zunächst, dass Kinderärzten, die fachlich wie standesrechtlich im Wesentlichen auf die Behandlung von Klein- und Schulkindern bis zum vollendeten dreizehnten Lebensjahr festgelegt waren, ganz überwiegend jüngere Kinder mit spezifischen Beschwerden und Auffälligkeiten vorgestellt wurden. Zu nennen wären hier beispielsweise Schlafstörungen, Einnässen, motorische Unruhe und Schulversagen, aber auch sexuelle „Frühreife“ und Gewalt gegen Personen und Sachen. Häufig handelte es sich dabei um Erscheinungen auf der Grundlage von Minderbegabung oder geistiger Behinderung sowie um Störungen, für die auch körperliche Ursachen infrage kamen, sei es, dass diese als „angeboren“ oder in der Folge von Krankheiten oder Unfällen als „erworben“ galten. Demgegenüber näherten sich die Psychiater den Erscheinungen psychischer Auffälligkeit bei Minderjährigen eher von der Seite der Jugendlichen und jungen Erwachsenen her an. Störungen hatten sich in diesem Alter evtl. bereits verfestigt und wurden psychiatrisch klassifiziert; ihre Ausprägungen waren gravierender für die Betroffenen als für die Umwelt. Während sich die Kinderärzte vornehmlich „Erziehungschwierigkeiten“ gegenübergestellt sahen, die unter Einbeziehung der Eltern, der Lehrer und evtl. auch der Fürsorgeerziehungsbehörden frühzeitig beeinflusst werden sollten, sahen sich die Psychiater nicht selten mit justiziablen Delikten wie Diebstahl, Körperverletzung, Homosexualität und Prostitution konfrontiert, die vor den (Jugend-)Gerichten verhandelt wurden und u. U. weitergehende, auch forensische Maßnahmen wie Anstalts- oder Heimunterbringung nach sich zogen. Alter und Vorgeschichte der Betroffenen, mangelnde „Beeinflussbarkeit“, eine ungünstige Prognose und die Frage des Schutzes der Allgemeinheit: Das waren Faktoren, die den Zugriff auf jugendliche Psychopathen in vielen Fällen rechtlich, institutionell und auch medizinisch in einen ganz anderen Zusammenhang stellten, als es bei der Behandlung und Betreuung auffälliger Kinder der Fall war. Obwohl sich also Pädiatrie und Psychiatrie unter Konzentration auf spezifische Altersgruppen und Problemlagen dem Phänomen psychischer Auffälligkeit im Kindes- und Jugendalter von unterschiedlichen Positionen aus näherten, gab es Überschneidungen und Berührungspunkte, die sowohl im wissenschaftlichen Bereich wie auch in der konkreten ärztlichen Tätigkeit eine enge Zusammenarbeit geraten sein ließen. Pädiater lernten psychiatrische und psychologische Untersuchungsmethoden und therapeutisches Handeln auch auf ihre junge oder sehr junge Klientel anzuwenden, während Psychiater sich die Kenntnisse der Kinderärzte hinsichtlich der körperlichen Entwicklung und somatischen Besonderheiten der Kinder und

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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Jugendlichen zunutze machten. Lernten die Psychiater, dass Kinder stets „dynamisch“ unter Berücksichtigung ihres körperlichen, geistigen und seelischen Entwicklungstandes und nicht etwa „statisch“ als kleine Erwachsene zu behandeln waren, so hatten die Pädiater anzuerkennen, dass psychopathologische Zustandsbilder nicht regelhaft physische Korrelate aufwiesen, von dieser Seite her zu erklären und erzieherisch zu beeinflussen waren, sondern nicht selten spezifischer psychiatrischer Befunderhebung und Behandlung bedurften. Konnten vor diesem Hintergrund die beiden jungen Disziplinen hinsichtlich ihrer Bemühungen um die Ätiologie, Diagnostik, Therapie und Prognose auffälligen Verhaltens und psychischer Erkrankung an sich nur voneinander profitieren, so ist doch festzustellen, dass jenseits rhetorischer Bekenntnisse zur Kooperation der Ausbau und auch die Festigung eigener Positionen auf dem Feld der Behandlung und Fürsorge für kindliche und jugendliche Psychopathen nicht selten im Vordergrund stand. Dabei sah es zunächst so aus, als könne sich die Pädiatrie die Zuständigkeit nicht nur für das körperlich kranke, sondern auch für das verhaltensauffällige Kind sichern. Adelbert Czerny urteilte in seinen häufig zitierten Berliner Vorlesungen über den „Arzt als Erzieher des Kindes“ selbstbewusst: „Wer soll Eltern auf die große Bedeutung (der) ersten Erziehungseinflüsse auf ein Kind aufmerksam machen? […] Dies kann nur Aufgabe eines Arzte sein, denn nur er vermag die Konsequenzen einer fehlerhaften Erziehung eines Kindes in den ersten Anfängen objektiv zu beurteilen, und ihm fällt die Aufgabe zu, später aus Erziehungsfehlern resultierende Mängel der Kinder zu beheben.“158

Czerny hatte bei diesen Ausführungen stets den Kinderarzt oder sein Idealbild eines pädiatrisch kundigen Haus- und Familienarztes vor Augen, sicher aber nicht den Facharzt für Psychiatrie. Seine Vorlesungen, seit 1908 in zahlreichen Auflagen erschienen, wurden immer wieder auch als Referenz im Hinblick auf eine notwendige pädiatrische Auseinandersetzung mit den schädlichen Folgen moderner Lebensweisen und verfehlter Erziehungsgrundsätze angeführt. Noch im Vorwort der fünften Auflage von 1919 zeigte er sich überzeugt davon, dass die „fortschreitende Kultur“ Nachteile für das kindliche Nervensystem mit sich bringe und sich bei Kindern „in besorgniserregender Art“ geltend machen würde.159 Mangelnde Konsequenz in der Erziehung, die Ein-Kind-Ehe, der urbane Lebensstil, die Schulüberbürdung und weitere Erscheinungen des modernen Lebens führten seines Erachtens nicht selten zu pädagogischen Misserfolgen mit fatalen Folgen für die weitere Entwicklung der Kinder. Angelegenheit des Arztes sei es, zu entscheiden, was dabei tatsächlich „der Art der Erziehung, und was den Eigenheiten des Nervensystems des betroffenen Kindes zur Last zu legen“ sei.160 Es war dies 158 Czerny 1942, 4 f. 159 Czerny 1942, VI. 160 Czerny 1942, IV (Zitat aus dem Vorwort zur sechsten Auflage von 1921).

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2. Pädagogik und Psychiatrie

eine Aufgabe, für die Czerny die Medizin und vor allem die Pädiatrie an sich gut gerüstet sah, sofern sie auf der soliden Grundlage „objektiver naturwissenschaftlicher Beobachtung der Gehirnfunktionen der Kinder“ angegangen würde.161 Anlässlich eines Fortbildungskurses für Ärzte und Pädagogen zum Thema „Kind und Umwelt. Anlage und Erziehung“, der 1930 von seinem Schüler Arthur Keller organisiert in der Universitätskinderklinik auf dem Gelände der Berliner Charité stattfand,162 glaubte Hausherr Czerny die Tagung allerdings knapp und wenig verbindlich einleiten zu müssen, indem er beklagte, dass die Kinderärzte bei Erziehungsproblemen in der Regel eben nicht zur Mitarbeit herangezogen würden. Czerny führte aus: „Wir lesen, hören und staunen, wer alles den Mut findet, ohne Kenntnis der Kinder eine Aktivität in der Pädagogik zu entwickeln, die leider nicht immer schadlos ist. Der gegenwärtige Stand ist so, dass wir sagen müssen, entweder eine ernste Zusammenarbeit von Pädiatern mit Psychologen und Pädagogen oder die Pädiater werden gezwungen sein, sich eine eigene Psychologie und Erziehungslehre zu schaffen.“163

Czernys ausgeprägtes Selbstbewusstsein in Bezug auf die Bewältigung dieser Aufgabe durch die Kinderheilkunde ist vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Fortschritte und therapeutischer Erfolge zu sehen, die der Pädiatrie im ausgehenden 19. Jahrhundert weithin Anerkennung eingebracht hatten. Die deutsche Kinderheilkunde war im Zuge ihrer fachlichen Konsolidierung über die Sozialhygiene (und hier vor allem im Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit) stets in besonderer Weise mit dem Begehren des Nationalstaats verbunden gewesen, auf ein großes Volk körperlich leistungsfähiger und geistig gesunder Individuen zugreifen zu können.164 Hinzu kommt, dass sich für die Zeit um 1900 ohnehin ein reges öffentliches und soziales Interesse an allen mit dem Komplex „Kindheit und Jugend“ zusammenhängenden Fragen feststellen lässt,165 das sich nicht zuletzt in Forderungen nach Erweiterung des Kinderschutzes und der Kinderrechte abbildete.166 Die Akzeptanz der Kindheit als eigene Lebensphase mit spezifischen Bedürfnissen führte auch zu einem wachsenden Interesse 161 Czerny 1930a, 1 f. 162 Keller (Hg.) 1930. 163 Czerny 1930a, 1 f. In diesem Sinne äußerte sich Czerny noch 1930 auch in der von Arthur Keller herausgegebenen Monatsschrift für Kinderheilkunde: „Wir Ärzte beobachten die Reaktionen des Kindes auf Erziehungsmaßregeln in streng naturwissenschaftlicher Art. Wir prüfen die Funktionen des Gehirns, ebenso wie wir die Funktionen irgendeines anderen körperlichen Organs untersuchen. Das Wort Psyche ist für uns entbehrlich.“ (Czerny 1930b, 2 f.). 164 Seidler 1995. 165 Wehler 1995, 500 f. 166 Verwiesen sei auf die Bemühungen zur Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters, die Jugendgerichtsbewegung und auf Initiativen gegen Kindesmisshandlungen in der Familie – vgl. bspw. Barch R 3001, Nr. 6081–6083, 6086.

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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an den damit einhergehenden Risiken und Notlagen. Im Fokus standen dabei freilich weniger individuelle Krisen, die den Prozess des Heranwachsens wohl jedes Kindes und Jugendlichen begleiten, als vielmehr die sozio-kulturellen Bedingungen, unter denen Kindheit und Jugend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattfand. Insbesondere den Lebensumständen der schnell wachsenden Unterschichten in den expandierenden urbanen Ballungsräumen widmete man große Aufmerksamkeit. Unter diesem Blickwinkel war die aufkommende Pä­ diatrie in ihrem Ursprung, ihrer Entwicklung und auch in ihrem Selbstverständnis eine Disziplin, die soziale und pädagogische Aspekte stets in Forschung und Praxis einzubeziehen hatte. Arthur Keller rechtfertigte das ärztliche Ausgreifen in den Bereich der Pädagogik, indem er – Begriffe aus beiden Wissenschaftsfeldern zusammenführend – argumentierte, dass „Fehler und Mängel in der Erziehung“ zu „ausgeprägten Symptomen“ führten, die den Einsatz einer „pädagogischen Pathologie“ erforderten.167 Die Stärken einer etwa im Vergleich zu Frankreich an sich „verspäteten“ deutschen Pädiatrie fasste der Wiener Pädiater Theodor Escherich (1857–1911) 1905 dahingehend zusammen, dass die „Erforschung der speziell dem Kindesalter eigentümlichen Krankheitsprozesse“ erweitert worden sei zu einer „generellen Betrachtung aller im Kindesalter vorkommenden pathologischen Zustände“.168 Und tatsächlich waren innerhalb einer Generation die Ergebnisse nicht nur der Stoffwechselforschung, der Bakteriologie und der Immunologie, sondern auch der biologischen Konstitutionsforschung erfolgreich in die Praxis umgesetzt worden, sodass die deutsche Kinderheilkunde um 1900 nach eigener Wahrnehmung über ein „alle Störungen der Lebensvorgänge umfassendes, nach wissenschaftlichen Grundsätzen geordnetes und in seiner Universalität von keinem anderen Spezialgebiete der Medizin erreichtes Lehrgebäude“ verfügte.169 Dieses Gebäude hatte freilich zunächst noch keine Entsprechung in akade­ mischen und ständischen Strukturen gefunden. Erst die Bevölkerungsverluste des Ersten Weltkriegs und der Kollaps des hergebrachten politischen und gesellschaftlichen Systems führten dazu, dass sich der Bedeutungszuwachs der Kinderheilkunde auch in einer adäquaten Ausstattung des Faches mit Ordinariaten, Kliniken und entsprechender Berücksichtigung in den Studienplänen abbildete.170 Dass nämlich nur künftige Generationen zahlreicher und leistungsstarker Individuen die Ergebnisse des Kriegs würden überwinden können, war parteiübergreifende Überzeugung der Zeit,171 der sich gerade die Pädiater in besonderer Wei167 168 169 170 171

Keller 1930, 95 bzw. 107. Escherich 1904, 8. Escherich 1904, 13. Salge 1920; vgl. auch: Witt 1980. „… und darin liegt für mich die Hoffnung begründet, dass die Deutschen, das jüngste und unverbrauchteste unter den Völkern Europas, durch die heranwachsende Generation einst wieder in die Lage versetzt werden wird, eine geschichtliche Rolle zu spielen, die seiner inneren Kraft, seiner trotz allem

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2. Pädagogik und Psychiatrie

se verpflichtet fühlen mussten. Als berufenste Hüterin aller gesundheitlichen Belange der „Ganzheit des Kindes“ hatte die Kinderheilkunde ihrem Selbstverständnis gemäß auch an den Forschungen und Ergebnissen der Psychologie und der Pädagogik Anteil zu nehmen,172 um so nach 1918 zur Bewältigung der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe „Kindergesundheit“ an hervorragender Stelle beitragen zu können. Die lebhafte Sorge um das Kind nach dem verlorenen Krieg war dabei letztlich biopolitisch motiviert: Es ging um eine „Sanierung der Jugend“ mit dem Ziel der Wiedererstarkung Deutschlands.173 Vor diesem, aber auch vor dem Hintergrund eines allgemeinen sozialstaatlichen Aufbruchs bildete sich in der jungen Weimarer Demokratie ein komplexes Gefüge medizinischer Behandlung, pädagogischer Betreuung und sozialer Fürsorge nicht nur somatisch, sondern auch psychisch kranker, „schwieriger“ und verhaltensauffälliger Kinder heraus, das von der niedrigschwelligen Erziehungsberatung in Schulen und Jugendämtern über ambulante Behandlung und stationäre Aufnahme in Krankenhäusern bis hin zur dauerhaften Unterbringung in Anstalten und Heimen reichte und in das Schul- und Fürsorgeärzte, niedergelassene Kinderärzte und auch klinisch tätige Pädiater eingebunden waren. Die Pluralität der Angebote bildete sich aber nicht nur in den Versorgungsstrukturen und den beteiligten Professionen ab: Vielfalt herrschte auch bei den Erklärungs- und Lösungsansätzen hinsichtlich Ursache, Verlauf und therapeutischer Beeinflussung der Störungen. Das Verhältnis von Anlage und Umwelt, Konstitution und Kondition wurde intensiv diskutiert,174 und gerade hinsichtlich der Psychopathie war durchaus strittig, welcher Grad von Auffälligkeit überhaupt als krankhaft anzusehen und wie die Erscheinungen ggf. zu kategorisieren und zu beeinflussen seien.

Erster Weltkrieg und Kindergesundheit Im Verlauf des Ersten Weltkriegs waren in Deutschland neben Risiken für die körperliche Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auch erhebliche Probleme im Bereich des Mentalen und Sozialen wahrgenommen worden, um deren Bewältigung man sich absehbar würde ungebrochenen Gesundheit und seinen schöpferischen Eigenschaften angemessen ist“ (Spengler 1924, 4). 172 Keller 1932, 242. 173 Zitat: Fischer-Defoy 1928, 102. Werner Fischer-Defoy (1888–1955), 1919 Stadtschularzt in Frankfurt am Main, 1929 Mitglied der NSDAP, Medizinalrat, Oktober 1933 hauptamtlicher Stadtrat und Amtsleiter des Gesundheits- und des Fürsorgeamtes, 1945 entlassen, http://www.ffmhist.de/ffm33-45/portal01/ portal01.php?ziel=t_ak_magistrat_fischer_defoy [eingesehen am 15.05.2015]. 174 Vgl. etwa unter dem Obertitel „Klinik des seelisch und geistig abnormen Kindes und die Möglichkeiten für eine Prophylaxe“: (I.) Pototzky 1932: Die Bedeutung der endogenen Faktoren (Konstitution) sowie: (II.) Benjamin 1932: Die Bedeutung der exogenen Faktoren (Milieu und Erziehung).

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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bemühen müssen. Insbesondere die unzureichende Versorgung in den letzten Kriegsjahren, die militärische Niederlage und der politische Umbruch trugen aus zeitgenössischer Sicht mit dazu bei, dass sich die Lage auch in Bezug auf die psychische Gesundheit der Kinder zunehmend verschlechterte.175 Vielfach beobachtete Störungen des kindlichen Nervensystems führte man in diesem Zusammenhang auf die Folgen der Unterernährung,176 vor allem aber auch auf exogene psychische Faktoren zurück.177 Der auf diesem Feld tätige Berliner Arzt Carl Pototzky (1880–1948) wies 1921 auf die „dauernden Erregungen der Kriegsjahre“ hin, „die sich von den Erwachsenen auf die Kinder übertrugen, die mangelnde Disziplin, die infolge der Abwesenheit oder des Verlustes des Vaters, wie durch die notgedrungene berufliche Tätigkeit der Mutter sich rasch geltend machte, ferner mannigfache psychologische Momente, die die Seele des Kindes trafen, sei es, dass Sorge und Not in eine bisher wohlgeordnete Häuslichkeit einzog, sei es, dass andererseits plötzlich einsetzender Wohlstand alle Hemmungen niederriss.“178

Diskutiert wurde zudem, inwieweit insbesondere die großstädtischen Verhältnisse zu den Phänomenen von Schwererziehbarkeit und Verwahrlosung beitrugen und die durch den Krieg verursachten Probleme in besonderer Schärfe hervortreten ließen.179 Den Krieg hatten Kinder und

175 Bereits 1917 forderte die Gesellschaft für Kinderheilkunde „im nationalen und sozialen Interesse“, Lehrstühle für Kinderheilkunde an allen Universitäten einzurichten, weil den Auswirkungen des Krieges anders nicht entgegenzutreten sei (gedr. in: Brüning 1918, XX f.; Faksimile der Denkschrift in: Schweier/Seidler (Hg.) 1983, 218 f.). 176 Im Dezember 1918 äußerte sich Max Rubner, Direktor des Physiologischen Instituts in Berlin: „Von Jahr zu Jahr ist auch die seelische Umstimmung eine vollkommen andere geworden. […] Alle Unternehmungslust, jede Initiative, jeder Schwung des Gedankens liegt zu Boden in unproduktiver Depression. Auch das Kind hat verlernt zu lärmen, zu lachen und zu spielen.“; und Adalbert Czerny, Direktor der Kinderklinik der Charité, mahnte: „Es wäre […] verfehlt, das Absinken der Widerstandskraft gegen Tuberkulose als den einzigen Nachteil der qualitativ unzureichenden Ernährung betrachten zu wollen. Konstitutionsanomalien verschiedenster Art treten infolge der Ernährungsschwierigkeiten stark hervor. […] Besonders schwer leiden die Neuropathen.“ (Aushungerung Deutschlands 1919, 2 bzw. 4). Gustav Tugendreich referierte an anderer Stelle eine Schrift Friedrich SiegmundSchultzes, in der der Verfasser die Wirkung der „englischen Hungerblockade“ auf die deutschen Kinder anprangerte und auch auf den „engen Zusammenhang von Unterernährung und geistlicher und sittlicher Verwahrlosung“ hinwies. (Tugendreich 1919, 806). 177 Nur exemplarisch seien zwei einschlägige Arbeiten aus der Psychiatrischen und Nervenklinik Königsberg unter dem Direktorat Ernst Meyers (1871–1931) genannt: Kastan 1922; Soecknick 1924. 178 Pototzky 1921, 249. 179 „Durch die Brille eines imaginären vorzeitlichen Gelehrten von vor einigen tausend […] Jahren gesehen, wären wohl selbst unsere relativ ruhigsten, harmonischsten und widerstandsfähigsten großstädtischen Zeitgenossen nervös-psychopathisch.“ (Villinger 1930, 66).

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2. Pädagogik und Psychiatrie

Halbwüchsige zwar ausschließlich mittelbar in der Heimat erlebt, hatten von seinen Auswirkungen aber natürlich nicht unberührt bleiben können. Dabei wirkten die Zeitereignisse nicht nur auf die persönliche physische und psychische Entwicklung,180 sondern prägten auch das engere und weitere soziale Umfeld: Dem katastrophalen Ende des Kaiserreichs folgte nicht selten eine lange „Prekarität als generationeller Erfahrungsraum“.181 Das Hineinwachsen in die politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse der Weimarer Republik, die zumeist als krisenhaft wahrgenommen wurden und die sich mit besonderer Härte bei denjenigen auswirkten, die nach 1900 geboren worden waren und nicht mehr aktiv am Krieg teilgenommen hatten, kann als kollektive Lebenserfahrung von Kindern und Jugendlichen beschrieben werden, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung aufgrund der enormen Menschenverluste zudem relativ hoch war.182

Carl Pototzky und die Nervenpoliklinik im Kaiserin Auguste-Viktoria Haus Der bereits zitierte Carl Pototzky war in der Zeit der Weimarer Republik Leiter einer im letzten Kriegsjahr 1918 eröffneten „Poliklinik für nervöse und schwererziehbare Kinder“, die am „Kaiserin Auguste-Viktoria Haus. Reichsanstalt zur Bekämpfung der Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit“ (KAVH) in Berlin-Charlottenburg eingerichtet worden war. Die Poliklinik am KAVH war aus seiner Sicht nur die erste von zahlreichen weiteren, die noch entstehen sollten: Große Kinder- und Universitätskinderkliniken, so Pototzky, müssten künftig regelmäßig über eine ambulante Einrichtung für diese Klientel verfügen, da die hohe Zahl „neuropathisch und psychopathisch“ veranlagter Kinder vermehrt spezialisierte Einrichtungen erfordere, um die medizinische Versorgung und erzieherische Betreuung der Kinder gewährleisten zu können.183 Mit der Leitung dieser Nervenpolikliniken, die also pädiatrischen Einrichtungen anzugliedern wären,184 sollten dementsprechend Ärzte betraut werden, die vor 180 Der Schwierigkeit, persönliche Erfahrungen zu verallgemeinern, sind sich die Autoren ebenso bewusst, wie der Tatsache, dass Krieg und Nachkrieg nicht als „einheitlicher Erlebnis- und Erfahrungsraum“ aufzufassen sind. Schon von daher wäre also die Verarbeitung des Kriegs an sich individuell zu betrachten (vgl. Gestrich 1991, 635). 181 Weinrich 2013, 41. 182 Weinrich 2013, 41. 183 Pototzky 1921, 249. 184 Siegfried Kalischer (1862–1954) reagierte auf Pototzkys Beitrag in der Wochenschrift, indem er darauf hinwies, dass er „bereits auf eine 25-jährige Tätigkeit als Leiter der Nervenabteilung des Neumannschen Kinderhauses“ in Berlin zurückblicke und auch als Sachverständiger beim Jugendgericht tätig sei. Er empfahl im Gegensatz zu Pototzky „zur gründlichen Beobachtung der zweifelhaften Fälle […] die Nervenklinik mit psychiatrisch vorgebildete Ärzten […]: gilt es doch bei psychopathisch Veranlagten, Begabung, Grad der Intelligenz, Gefühls-, Triebleben, moralischen Sinn, Konzentrationsfähigkeit, Interesse usw. festzustellen.“ (Kalischer 1921, 424).

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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allem kinder-, aber auch nervenärztlich geschult seien, und darüber hinaus auch für die Pädagogik Interesse und Verständnis hätten. „Wenn man auch einer weiteren Spezialisierung innerhalb eines Spezialfaches nicht das Wort reden soll“, so Pototzky, „dürfte sich doch praktisch der Typ eines ‚Kindernervenarztes‘ allmählich herausbilden“. Es war dies eine Bezeichnung, die er auch für sich selbst beanspruchte.185 In der Poliklinik des KAVH kamen „Neuropathien und Psychopathien des Kindesalters, geistige Defekte, Epilepsie sowie auch sonstige organische Nervenerkrankungen“ zur Behandlung; besonderen Wert legte Pototzky auf die Erfassung nervöser Störungen bereits im Säuglingsalter. Therapeutisch favorisierte er die Psychotherapie, zu der er Suggestions- und hypnotische Methoden zählte,186 aber auch körperliche und seelische Übungstherapien;187 „reine Psychoanalyse“ lehnte er ab.188 Vor allem, so Pototzky, müsse „die Pädagogik zu ihrem Recht kommen“, die Eltern müssten „das beruhigende Gefühl haben, dass ihnen der Arzt in den schwierigen Erziehungsfragen als treuer Berater“ zur Seite stehe.189 Zweckmäßig und folgerichtig wäre es, wenn die Polikliniken sich dauerhaft in ein kommunales oder staatliches Gesundheits- und Fürsorgesystem einfügten: „Der Gang wäre dann der, dass aus Kindergärten, Schulkindergärten und Schulen nervöse und schwer erziehbare Kinder durch die Schulärzte den Spezialpolikliniken […] zur Behandlung und Beobachtung“ überwiesen würden, die sie, falls notwendig, entsprechenden Spezialanstalten (Epileptiker-, Idiotenanstalten, Psychopathenheime usw.) überwiesen.190 Genüge die poliklinische Behandlung nicht, so müssten diese Kinder […] zur klinischen Beobachtung an Nervenabteilungen an Kinderkliniken (sic!) überwiesen werden. So wäre in Tübingen, „allerdings an der Nervenklinik“, bereits eine

185 Pototzky 1921, 249; vgl. auch: Pototzky 1933. Pototzky hatte die Bestallung 1903 in Breslau erhalten; er promovierte mit einer Arbeit über „Versuche zur Auffindung neuer Lokalanästhetica“ (Med. Diss., Breslau; 16. Nov. 1903). Im Reichsarztregister (RAR) wurde er zwar zunächst mit der Bezeichnung „Kinder- und Nervenarzt“ geführt – eine Angabe, die mutmaßlich auf ihn selbst zurückging. Der Eintrag wurde aber zu einem unbekannten Zeitpunkt gestrichen und durch die formal wohl zutreffende Fachrichtung Innere Medizin ersetzt („11.3.1912 ,Inn.‘“). Carl Pototzky emigrierte 1938 in die USA; er starb 1948 in New York (Nachruf: Hulse [i.e. Cohn-Hülse] 1948, 10). 186 Pototzky 1919. 187 Pototzky 1926. 188 „Ob die Psychoanalyse und Individualpsychologie […] diagnostisch und therapeutisch zu Hilfe genommen wird, hängt von der Einstellung des einzelnen ab. Mir selbst scheint es, wie für jede Therapie, so ganz besonders für die Psychotherapie am ratsamsten, sich nicht auf eine bestimmte Lehre festzulegen, sondern als Eklektiker aus jeder Lehre das herauszunehmen, was für den einzelnen Fall am zweckmäßigsten scheint. Ein starres Dogma ist m. E. nicht mit dem Begriff einer realen Psychotherapie in Einklang zu bringen!“ (Pototzky 1930, 220). 189 Pototzky 1921, 249. 190 Ebenda.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

Kinderabteilung eingerichtet worden.191 Gemeint ist die von Robert Gaupp initiierte und seit 1919/20 (bis zu dessen Weggang 1926 nach Hamburg) von Werner Villinger (1887–1961) geleitete Station an der Universitätsnervenklinik in Tübingen.192 Das Verhältnis exogener und endogener Faktoren bei der Schwererziehbarkeit diskutierte Pototzky dahingehend,193 dass exogene Faktoren, also „Milieu und Erlebnis“, sowie Freud’sche „pansexuelle Gesichtspunkte“ zu sehr in den Vordergrund gestellt würden.194 Es könnte so der Eindruck entstehen, „es dürfte heute überhaupt den Begriff der Schwererziehbarkeit eines Kindes nicht geben, da diese lediglich als ein Produkt einer unrichtigen Behandlung seitens der Eltern anzusehen sei, resp. sich als eine Frage des Milieus ergebe“.195 Vielmehr sei die Schwererziehbarkeit wesentlich auch mit grundlegenden endogenen Faktoren in Beziehung zu bringen, zu denen er Störungen der Denk-, der Willens- und der Gefühlssphäre zählte. Störungen der „Denksphäre“ wären als Formen und Grade geistiger Behinderung zu beschreiben, Störungen der „Willenssphäre“ als solche, die Hemmungen entweder zu stark oder zu schwach ausgeprägt zutage treten ließen (Psychopathie); Störungen der „Gefühlssphäre“ bringt er vor allem mit „Hysterie“ in Verbindung, die aber vielleicht auch einfach nur als eine „Reaktionstype psychopathischer Veranlagung“ anzusehen sei.196 In jedem Fall sei aber stets eine pathologische endogene Grundlage vorhanden, auf deren Basis exogene Einwirkungen zu Störungen führten: „Ich möchte […] den Standpunkt einnehmen, dass […] die exogenen Faktoren nur eine sekundäre Stellung gegenüber den endogenen Faktoren einnehmen, dass sie sogar für sich allein – also ohne die endogenen Faktoren – überhaupt nicht den Zustand der Schwererziehbarkeit hervorrufen können.“197

Ganz folgerichtig bemühte sich Pototzky intensiv darum, körperliche Entsprechungen für psychische Auffälligkeiten zu finden, und bediente sich dabei der „capillarmikroskopischen Methode“ Walter Jaenschs,198 die in dessen „Ambulatorium für Konstitutionsmedizin“ an der

191 Ebenda. 192 Villinger 1923. Vgl. in diesem Band, S. 236. 193 Als Merkmale der Schwererziehbarkeit nannte Pototzky (Adalbert Czerny folgend): 1. Gesteigerten Bewegungsdrang, 2. Unbeständigkeit, 3. Unfolgsamkeit, 4. Ängstlichkeit, 5. geringe Festigkeit erlernter Funktionen, 6. mangelhafte Anpassung an das Milieu (Pototzky 1925, 3; vgl. auch Czerny 1917, 253). 194 Pototzky 1926, 88. 195 Pototzky 1926, 90. 196 Pototzky 1926, 89; vgl. auch: Pototzky 1924. 197 Pototzky 1926, 91. 198 Jaensch 1926; Jaensch 1929.

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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Charité in großem Stil angewendet wurde.199 Vereinfacht ausgedrückt ging es dabei darum, aus bestimmten Formen der Kapillaren (kleinster Blutgefäße) der Finger auf eine Deformation oder Hemmung der Hirnkapillaren zu schließen und so eine intellektuelle oder psychische Störung nachweisen zu können.200 Pototzky stellte entsprechende Untersuchungen am KAVH teilweise zusammen mit seinem Kollegen Leonid Doxiades an.201 Nur konsequent im Sinne dieses somatischen Ansatzes erscheint vor diesem Hintergrund auch die experimentelle Anwendung von „Grenzstrahlen“ zu therapeutischen Zwecken bei psychisch auffälligen und minderbegabten Kindern am KAVH.202 Aus heutiger Sicht verwundert es nicht, dass sowohl die capillarmikroskopische Diagnostik zur Feststellung intellektueller oder psychischer Störungen wie auch die Grenzstrahlen zur ihrer therapeutischen Beeinflussung inzwischen in Vergessenheit geraten sind.203

Arthur Keller und die schulärztliche Psychopathenfürsorge in Berlin-Mitte Arthur Keller (1868–1934), ein weiterer Protagonist, der in der Zeit der Weimarer Republik in Berlin psychopathische Kinder und Jugendliche von pädiatrischer Seite her kommend betreute, war in den Jahren 1908 bis 1911 als Gründungsdirektor am Kaiserin Auguste-Viktoria Haus tätig gewesen.204 In der Folge hatte er sich als Kinderarzt niedergelassen und war 1926 Schularzt in Berlin-Mitte geworden;205 sein Bezirk umfasste damit auch das berüchtigte Scheunenviertel, eine Anzahl durch Armut, Prostitution und Kleinkriminalität geprägter Straßenzüge der Spandauer Vorstadt.206 Für den Bezirk Mitte mit insgesamt etwa 360.000

199 Kölch 2006; Kölch 2004. 200 Wittneben 1926, 360. 201 Pototzky/Doxiades 1927; Pototzky 1928; Doxiades 1928. 202 Pototzky 1931. Bei den Grenz- oder Bucky-Strahlen, benannt nach dem Berliner Radiologen Gustav Bucky [1880–1963] handelt es sich laut Pschyrembel (Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl. 2002) um wenig durchdringungsfähige, „ultraweiche“ Röntgenstrahlen, die therapeutisch bei entzündlichen Erkrankungen der obersten Hautschichten zum Einsatz kommen. 203 Vgl. zu den Untersuchungsmethoden und -techniken im Ambulatorium für Konstitutionsmedizin der Charité: Kölch 2004, 80 ff. Deutliche Kritik an der Methode Jaenschs übte zeitgenössisch u. a. bereits Werner Villinger: „Psychomorphologie vom Schlage Jaenschs, deren Ursprung aus okkulten Wissenschaften unverkennbar ist, birgt in sich die Gefahr, dass sich hier schließlich die Grenzlinien zwischen Wissenschaft und Aberglauben verwischen.“ (Villinger 1930, 69). 204 Stürzbecher, Manfred, „Keller, Arthur“, Neue Deutsche Biographie, http://www.deutsche-biographie. de/ppn13997301X.html [eingesehen am 15.05.2015]. 205 Ebenda. 206 Geisel 1981. Vgl. zur Rolle osteuropäisch-jüdischer Migranten in dem Viertel auch: http://www.oei. fu-berlin.de/projekte/charlottengrad-scheunenviertel/index.html [eingesehen am 15.05.2015].

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2. Pädagogik und Psychiatrie

Einwohnern wurde ihm zusammen mit seiner Kollegin Paula Heyman (1890–1943)207 auch die „ärztliche Beratung in der Psychopathenfürsorge“ übertragen.208 Ursprünglich mit der Stoffwechselphysiologie und Ernährung des Säuglings ganz einem traditionellen Aufgabenfeld der wissenschaftlichen Pädiatrie verhaftet,209 hatte Keller sein Interesse von der „Laboratoriumsforschung“ zunehmend der Säuglings- und Kleinkinderfürsorge zugewandt und bearbeitete nach seinem Wechsel auf die Schularztstelle besonders Fragen der Psychopathologie des Kindesalters im Kontext der sozialen Verhältnisse seiner Klient_innen und ihrer Familien. Die Praxis der Jugendfürsorge in Berlin verhandelte er seit 1929 engagiert in einer ganzen Serie von Artikeln in der von ihm herausgegebenen Monatsschrift für Kinderheilkunde und berichtete dabei u. a. ausführlich von seinen Hospitationen und Besuchen in Heimen für schwer erziehbare und psychopathische Kinder und Jugendliche in den Randbezirken Berlins, in der Provinz Brandenburg und noch darüber hinaus.210 In engem Kontakt mit diesen Heimen organisierte er verschiedentlich auch die Beobachtung auffälliger Kinder über einen längeren Zeitraum hinweg.211 Die im wörtlichen wie im übertragenen Sinne an sich naheliegende Einrichtung, die Kinderbeobachtungsstation in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité, besuchte Keller offenbar nicht, und auch in seine Erörterungen der Versorgungsinfrastruktur für psychopathische Kinder in Berlin bezog er sie nicht ein.212 Er hoffte vielmehr, dass ihm zur Vermeidung vorzeitiger Psychiatrisierung der Kinder über kurz oder lang „eine eigene Beobachtungsabteilung“ zur Verfügung stehen würde.213 Tatsächlich wurde noch im Jahr 1933 bei der Erziehungsberatungsstelle am Koppenplatz ein „Beobachtungshort“ eingerichtet, von dem Keller sich erhoffte, er würde nicht als „teure Bewahranstalt“, sondern als relativ kostengünstige „Beobachtungs- und Behandlungsstelle im 207 Paula Heyman starb 1943 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau (Seidler 2007). 208 Keller 1932b, 249. Zur Organisation der „Fürsorge für geistig abnorme Kinder und Jugendliche“ in Berlin vgl. Knaut 1930, 21–23. Vgl. in diesem Band, S. 213. 209 Keller hatte mit seinem Lehrer Czerny u. a. ein mehrfach wieder aufgelegtes, bedeutendes Buch zur Säuglingsernährung herausgegeben (Czerny/Keller 1906). 210 Arthur Keller: Aus der Praxis der Jugendfürsorge: (I.) Sinn, Aufgaben und Ausführung der Schularzttätigkeit, Monatsschrift für Kinderheilkunde 45 (1929), S. 523–539; (II.) Heime für schwer erziehbare, psychopathische und schwachsinnige Kinder und Jugendliche, Monatsschrift für Kinderheilkunde 47 (1930), S. 1–10; (III.) Die Stellung des Schularztes in der Fürsorge, Monatsschrift für Kinderheilkunde 51 (1932), S. 241–245; (IV.) Erziehungsberatung am Koppenplatz, ebenda, S. 245–256; (V.) Beratung und Beobachtung im Dienste der Jugendfürsorge, Monatsschrift für Kinderheilkunde 55 (1933), S. 134–145. 211 Keller 1932b, 254. 212 „Abzulehnen ist aber die Angliederung solcher Beobachtungsheime […] an psychiatrische Kliniken. Die Beobachtung soll auch nicht in sogenannten Psychopathenheimen erfolgen, – sonst ist der Fall wiederum als psychiatrisch gestempelt, – sondern auf neutralem Boden.“ Keller 1930c, 105. 213 Keller, 1932b, 254. 33.

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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Dienste der Bekämpfung der ständig zunehmenden Verwahrlosung“ fungieren können.214 Ob diese Einrichtung unter dem NS-Regime und nach Kellers Tod 1934 weiterhin Bestand hatte, ist bislang nicht bekannt. Im Gegensatz zu seinem Leipziger Kollegen Erich Welde, der Ende der 1920er Jahre verlangte, dass der Schularzt seine Zeit und Kraft nicht zu sehr „in der Fürsorge für das einzelne Individuum“ erschöpfen, sondern vor allem „das Wohl des gesamten Volkes“ im Auge behalten sollte,215 beharrte Keller darauf, dass „in jedem einzelnen Falle, wo Hilfe nottut, auch wirklich geholfen“ würde.216 Allerdings beschränkte er sich in seiner Tätigkeit aus standespolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen in der Regel auf die diagnostische Abklärung eines Falles. Eine Behandlung, auch im Bereich der Psychotherapie und Psychologie, kam für ihn nicht infrage, weil „im Bezirk Mitte (am Koppenplatz), wenn ich und meine Fürsorgerinnen uns richtig darum kümmern, tatsächlich jedem Kinde zweckmäßige anderweitige Behandlung“ durch niedergelassene ärztliche Kolleginnen und Kollegen gewährleistet werden konnte.217 Diagnostisch waren nach Kellers Überzeugung vor allem die Übergangs- und Grenzzustände in der Intelligenzentwicklung und im Verhalten nur vom erfahrenen Schularzt zu erkennen und zu beurteilen.218 Tatsächlich rechnete er die „erzieherische und fürsorgerische Arbeit an gefährdeter Jugend zu den schwierigsten Problemen moderner Kulturbestrebungen“ überhaupt.219 Er hatte im Rahmen seiner informatorischen Besuche der einschlägigen Heime für schwer erziehbare, psychopathische und schwachsinnige Kinder und Jugendliche das Handeln und die Einstellung der dort Beschäftigten schätzen gelernt und betonte insbesondere „das Maß an Freiheit, das man diesen Kindern heute gewährt, und demgegenüber das Maß von Verantwortung, die der Leiter der Anstalt und seine Helfer tragen“.220 Die Anpassung der „Asozialen“ in die Gemeinschaft, die Beseitigung der Erziehungsschwierigkeiten, die „Erziehung zur Arbeit“ und zur Selbständigkeit ließen sich nur erreichen, wenn sich zwischen Erziehern und Zöglingen ein mühsam zu erarbeitendes Vertrauensverhältnis einstellte, das sich nach seiner Beobachtung zumeist den Persönlichkeiten der Hausväter, Lehrer und Ausbilder, ihrem Engagement und ihrer Lebensklugheit verdanke.221 Diese Praktiker in den Heimen, so stellte er weiter fest, hätten freilich gegen die „Anwendung der Anschauungen 214 Keller 1933a. 215 Welde 1929, 477. 216 Keller 1929, 526. 217 Ebenda, 529. 218 Keller 1932a, 242. 219 Keller 1930b, 1. 220 Ebenda, 9; vgl. auch: Keller 1933b. 221 Keller 1930, 9.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

von Freud, Adler usw.“ durchweg eine ablehnende Haltung: „Sie fürchten die psychoanalytischen Gutachten, welche in die tiefsten Tiefen graben, die Jugendlichen aufwühlen und gleichzeitig sie auf ihre Fehler aufmerksam machen.“222 Keller, der sich als Czerny-Schüler verstand, rekurrierte rhetorisch immer wieder auf den national und international führenden Pädiater seiner Zeit.223 Umso überraschender ist es deshalb, festzustellen, dass er als Schularzt im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern einen ganz eigenen, gar eigensinnigen Weg ging, indem er seit 1930 eng mit Alexander Neuer (1883– 1941[?]), einem Schüler des österreichischen Individualpsychologen Alfred Adler (1870–1937) zusammenarbeitete.224 Am Beginn dieser Zusammenarbeit hatte offenbar ein Versuch Kellers zur Demonstration der großen Unterschiede in der Bewertung von Erziehungsschwierigkeiten, Fehlern und Vergehen Jugendlicher gestanden: „Ich habe […] Sachverständigen aus den verschiedensten Lagern etwa 20 Kinder und Jugendliche vorgestellt, die in der Familie, in der Schule, in der Öffentlichkeit besondere Schwierigkeiten machen, die aus dem Normalen herausfallen. Es ergaben sich bei dieser Gelegenheit in der Beurteilung des Einzelfalls nach Diagnose, Behandlung und Prognose krasse Differenzen zwischen Ärzten und Lehrern, zwischen Pädagogen der Normalschule, und der Hilfsschule und Heilpädagogen, zwischen Ärzten verschiedener Richtung: derselbe Junge erscheint dem einen als Psychopath, dem andern als schlecht oder falsch erzogen, dem dritten als Berliner Range, wie sie in dem Milieu dieser Familie in der Weinmeisterstraße am Alexanderplatz gar nicht anders erwartet werden kann. Mir zur Rechten saß ein Psychiater, mir zur Linken ein Psychologe. Der eine fragte nach allen Einzelheiten der Familienanamnese, um die Schwere der Belastung festzustellen, der andere nahm auffallend wenig davon Notiz, kümmerte sich um so mehr um die Sonderheiten im Verhalten des Kindes und betonte in der Aussprache nur immer wieder, daß es in der Praxis auf alle die Fragen der Vererbung und Anlage viel weniger ankomme als auf die eine Frage, wie können wir diesem Kinde helfen? Als geborener Optimist und Kinderfreund habe ich mich für Links entschieden; als Mann der Praxis habe ich gemeint: ‚Handeln ist stärker als Reden‘‚ und habe Alexander Neuer, den 222 Ebenda, 4. Gegen diese Furcht vor einer „Entharmlosung“ des Kindes hatte sich bereits 1914 der damals bei Meinhard von Pfaundler in München arbeitende Theodor Gött gewandt (Gött 1914, 1382). 223 Vgl. vor allem: Keller, 1933b. 224 Seit 1924 existierte eine Ortsgruppe Berlin des Internationalen Vereins für Individualpsychologie in Berlin. Seit wann Alexander Neuer in Berlin tätig war, bevor er wahrscheinlich nach dem 30. Januar 1933 wieder nach Österreich zurückkehrte, ist nicht mit letzter Sicherheit festzustellen. Evtl. geht auf seine und Kellers Initiative ein Vortrag Alfred Adlers zurück, der am 23.03.1931 als Gastreferent des Berliner Vereins für Innere Medizin und Kinderheilkunde (Pädiatrische Sektion) über „Symptomenwahl beim Kinde“ sprach (Bericht Monatsschrift für Kinderheilkunde 50 [1931], S. 57–59. Zur Rolle der Individualpsychologie vgl. Kölch 2006). Alexander Neuer emigrierte 1939 nach Frankreich, zu Kriegsbeginn wurde er interniert; er soll 1941 in einem Konzentrationslager in Frankreich gestorben sein (Kenner 2007, 158).

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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Schüler Alfred Adlers gebeten, mir in der Fürsorge für schwierige Kinder und Jugendliche zur Seite zu stehen.“225

Wahrscheinlich seit Herbst 1930 führte Keller mit Alexander Neuer in den Räumen einer Gemeindeschule eine Erziehungsberatung durch, aus deren Praxis er enthusiastisch berichtete: „Als Individualpsychologe reinsten Wassers arbeitet Neuer nur mit den Mitteln seiner Wissenschaft […] Ich muss gestehen, dass ich von Neuers Art zu arbeiten begeistert bin und, wenn dies der Individualpsychologie erb- und eigentümlich ist, dann von Alfred Adlers Psychologie. […] Ich bewundere die Art und Weise, wie Neuer den jungen Menschen zum Sprechen bringt, wie er von den ersten Fragen nach der allgemeinen Situation ausgehend immer näher an den Menschen herankommt, schließlich mit seinen Fragen eine bestimmte Richtung einschlägt, bis uns Beisitzern das Aha ! aufgeht, bis wir erkennen, auf welches Ziel er losgeht, welche Eigenschaften oder Umstände Neuer als Ursache der bestehenden Schwierigkeiten annimmt.“226

Begeisterung ist hier herauszuhören; an anderer Stelle freilich auch noch eine gewisse Zurückhaltung, von der Persönlichkeit des Kollegen direkt auf dessen Lehre zu schließen. Überhaupt, so der Praktiker Keller, würde er „der Pädiatrie und dem einzelnen Pädiater dringend raten, sich von einseitiger Einstellung fernzuhalten und für die Praxis im Einzelfalle das Beste herzunehmen, von welcher Seite es auch geboten wird“.227 Die situationsbezogene, die exogenen Faktoren der Verhaltensauffälligkeiten der Kinder in den Vordergrund stellende Herangehensweise Kellers und seine Hinwendung zur Individualpsychologie blieben nicht unwidersprochen. Paul Schröder, Direktor der Psychiatrischen und Nerven-Klinik der Universität Leipzig und spezialisiert auf kinder- und jugendpsychiatrische Fragestellungen, behandelte 1933 in der Monatsschrift für Kinderheilkunde (sic!) ironisch-distanziert die „Kinderpsychologie Freuds und Adlers“:228 „Die merkwürdige Werbekraft“, so Schröder, „welche diese Lehren offensichtlich für weite Kreise besitzen oder besessen haben, macht es für den, der dieser Psychologie nicht zu folgen vermag, um so mehr zur Pflicht, sich mit ihnen auseinanderzusetzen“.229 Adlers individualpsychologischen Ansatz, seinen Glauben „an das Minderwertigkeits- oder Insuffizienzgefühl der Kinder und was er daraus für die Psychologie ableitet“ (den „Ressentimentkomplex“), hält er immerhin für „diskutabler in den Einzelheiten“ als Freuds Lehren, doch gehöre schon „ein ungewöhnliches

225 226 227 228 229

Keller 1932b, 248 f. Ebenda, 252. Ebenda, 253. Schröder 1933. Schröder 1933, 81.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

Ausmaß von Gläubigkeit dazu, solchen Lehren und Behauptungen Adlers zuliebe die Kinder in ihrer Gesamtheit so zu sehen wie er“.230 Dem Gedanken einer „ursprünglichen seelischen Gleichheit“ der Kinder, wie er von der Psychoanalyse und Individualpsychologie vertreten würde, stellte Schröder seine eigenen Arbeiten über eine differentielle Charakterologie gegenüber: Demnach seien zunächst die charakterlichen Gegebenheiten des einzelnen Kindes in ihren „Qualitäten und Abmessungen“ abzuklären, um auf der Grundlage dieses Wissens festzustellen, wie Umwelteinflüsse auf die Entwicklung des Charakters und auf das Verhalten wirken.231 Gegen das „erstarrte Schema der ‚Individualpsychologie‘ und der ‚Psychoanalayse‘“ wirbt er bei den Pädiatern ausdrücklich dafür, „planmäßig mit hereinleuchten zu helfen in die Frage der anlagemäßigen Unterschiede und der Verschiedenheiten des Charakters beim Kleinkind, sowie in die Modelbarkeit von Halt, Gemüt, Triebleben, Geltungsstreben, Phantasie, Stimmung, Gefühlsleben, Initiative, Ansprechbarkeit, Erregbarkeit usw. in frühen Jahren.“232

Schröder stand mit diesem Ansatz und dem Anliegen, ihn von psychiatrischer Seite her den Kinderärzten zu vermitteln, nicht allein. Bereits drei Jahre zuvor hatte auf dem von Arthur Keller organisierten, bereits angesprochenen Kurs für Ärzte und Pädagogen in der Berliner Universitätskinderklinik Otmar von Verschuer (1896–1969) in ganz ähnlicher Weise das Verhältnis von „Anlage und Milieu“ thematisiert und mit der Zwillingsforschung seinen Königsweg zur Erforschung dieser „doppelten Bedingtheit“ aufgezeigt.233 Die Vorträge des Kurses zum Thema „Kind und Umwelt. Anlage und Erziehung“ waren noch im Jahr 1930 publiziert worden.234 Der Band ist in fünf Abschnitte gegliedert, die sich 1. mit Grundsatzfragen von Erziehung, Anlage und Milieu sowie Konstitution und Typen, 2. mit nervösen und psychopathischen Kindern, 3. und 4. mit Fragen der Intelligenz, Schulbegabung und Lebenstüchtigkeit sowie 5. mit Problemen der Fürsorgeerziehung beschäftigen. Neben Verschuer aus Berlin235 hatte Keller mit Werner Villinger aus Hamburg236 und Karl Coerper (1886–1960) aus Köln237 zwei weitere engagierte Experten gewinnen können, die – fachlich etabliert, in Bezug auf Einfluss und Karriere aber längst nicht saturiert – selbstbewusst und „zukunftsweisend“ ihre Ansichten zu „nervösen und psychopathischen Kindern“, 230 231 232 233 234 235 236 237

Ebenda, 89. Ebenda, 90. Vgl. auch Schröder 1931. Vgl. in diesem Band, S. 267 ff. Schröder 1933, 91. Verschuer 1930. Keller 1930a. Schmuhl 2005. Holtkamp 2002. Schütz 2004.

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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„Anlage und Milieu“, „Konstitution und Typen“ den Kursteilnehmer_innen vermittelten. Hier beanspruchte, gerade im Vergleich zu den Beiträgen der altgedienten Praktiker aus Schulen, Heimen und Behörden, in der späten Weimarer Republik eine neue Generation erbpathologisch orientierter Mediziner den Vorrang in der wissenschaftlichen Arena. Auffällig ist hier wiederum, dass aus der Kinderbeobachtungsstation der Nerven- und Psychiatrischen Klinik der Charité, die in Sichtweite des Tagungsortes lag, kein Beitrag zu dem Kursprogramm geleistet wurde. Mit Werner Villinger, damals „leitender Oberarzt am Jugendamt Hamburg“, beteiligte sich nur ein einziger klinischer Psychiater mit einem – allerdings zentralen – Beitrag über „Nervöse und psychopathische Kinder“ aktiv an der Veranstaltung.238

Pädiatrie und Psychopathologie des Kindesalters Kellers Kurs zum Verhältnis von „Kind und Umwelt“ reihte sich ein in eine ganze Serie von Veranstaltungen, mit denen die Kinderärzte sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre für die Erfordernisse der Behandlung auffälliger Kinder und den damit zusammenhängenden pädagogischen und psychologischen Fragen zu wappnen suchten. Der Wiener Kinderarzt und Individualpsychologe Arthur Zanker (1890–1957)239 sah in der Tatsache, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde im Rahmen ihrer Jahrestagung in Hamburg 1928 der Kinderpsychologie und Pädagogik eine eigene Sektion widmete, einen Ausdruck dafür, dass in der Pädiatrie die „selbstzufriedene Beschränkung auf rein naturwissenschaftliche Forschung“ dem „Streben nach Erweiterung des Gesichtskreises, nach Verständnis nicht nur der Krankheit und ihrer Symptome, sondern des ganzen Menschen, der körperlichen und seelischen Persönlichkeit“ Platz gemacht hätten.240 Auf der Jahrestagung widmete man diesen Problemen eine Vortragsreihe, die der Psychologe William Stern mit einem Beitrag über „moderne Kindespsychologie“ eröffnete, mit dem er versuchte, in der stets aktuellen Streitfrage „exogen – endogen“ im Hinblick auf auffällige Kinder vermittelnd zu schlichten: „Ich glaube, dass gerade das eingehende Einzelstudium der sich entwickelnden Kinderseele die Einseitigkeit der beiden Standpunkte und die Richtigkeit des ihnen übergeordneten ‚Konvergenz‘-Standpunktes mehr und mehr herausstellen wird: Anlage und Umwelt stehen nicht in einem Rangverhältnis […], sondern in einer Korrelation von unerhörter Innigkeit und in Beziehungen des Notwendig-sich-Ergänzens und gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins. […] Denn der endogene Faktor ist nie als starre Angeborenheit, sondern immer nur als vieldeutige Angelegtheit (‚Disposition‘) wirksam, […] und der exogene Faktor ‚Welt‘ ist 238 Villinger 1930. 239 Zu Zanker vgl. Kenner 2007, 217 ff. 240 Zanker 1929, 384.

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2. Pädagogik und Psychiatrie nicht einfach da als starre Hohlform, in die der Mensch gepreßt wird, sondern er wird durch das Entgegenkommen oder Sich-Entgegenkommen der inneren Dispositionen selbst dauernd geformt zu dem, was wir ‚Milieu‘ und ‚Schicksal‘ nennen.“241

Dieser Gedanke sei es, der vor einem Fatalismus schütze, der die seelischen Gegebenheiten des Kindes als unveränderliche Größen hinnehme und daher dazu neige, die Möglichkeit erziehlicher und heilender Einwirkungen allzu gering einzuschätzen. Auf die Individualpsychologie eingehend, warnte Stern vor genau der Einseitigkeit einer pragmatischen und positiven Herangehensweise, die Keller zwei Jahre später an der Arbeit Neuers so schätzen sollte: Zwar sei, so Stern, die Individualpsychologie geeignet, Erzieher und Ärzte zur „höchsten Entfaltung ihrer Kräfte anzuspannen“, doch auch das bestenfalls Erreichbare hätte „verschiedenes Niveau und die Zugänglichkeit für Ermutigung“ sei eine „von Individuum zu Individuum stark variierende Anlage“; so dürfe der – praktisch sehr wertvolle – Optimismus der individualpsychologischen Einstellung nicht dazu führen, „die Theorie zu verfälschen, indem man die Varietätenfülle angelegter Gaben und Fähigkeiten zu einer Quantité negligeable herabzudrücken sucht“.242 Meinhard von Pfaundler, der in Hamburg zu „Krankheitszeichen bei fehlerzogenen Kindern“ sprach, reichte nur eine kurze Zusammenfassung seines Vortrags zur Veröffentlichung ein, die ihn offenbar zur Pointierung nötigte: „Die Individualpsychologie leidet an Elephantiasis grundlegender Ideen sowie an einseitigem, weder dem Verstehen noch dem Einfühlen zugänglichen Finalismus. Ihre Voraussetzungen sind zum Teil unzutreffend, ihrer Folgerungen bleiben mehrfach unerfüllt.“243 Der Psychiater August Homburger, der bereits seit 1917 in Heidelberg in den Räumen der pädiatrischen Ambulanz eine „heilpädagogische Beratungsstelle“ betrieb,244 und von seinem dortigen pädiatrischen Kollegen Ernst Moro eingeladen worden war, näherte sich in seinem Vortrag der „Lehre vom Seelisch-Abnormen im Kindesalter“ ausführlich systematisch von der Seite der klinischen Psychiatrie her,245 traf damit aber offenbar nicht den rechten Ton vor dem rein pädiatrischen Auditorium. Seinen Ausführungen sei das Bestreben anzumerken gewesen, „sich nur streng mit wissenschaftlichem Tatsachenmaterial zu beschäftigen, wie der Analyse der Abnormitäten nach Gesichtspunkten von Anlage, Umwelt, Reaktionsweise und zeitlichem Aufbau. Es ist begreiflich, daß Homburger damit nur das Interesse engster Fachgenossen zu 241 Stern 1928, 8. Vgl. in diesem Band, S. 261 f. 242 Ebenda, 9. 243 Pfaundler 1928, 18. 244 Homburger 1924. Vgl. in diesem Band, S. 233 f. 245 Homburger 1928.

2.6 Exkurs: Pädiatrie und „psychopathisches Kind“

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fesseln vermochte, der Allgemeinheit aber zu doktrinär, ja stellenweise schwer verständlich erscheinen musste.“246

Als nach einem abschließenden Beitrag Carl Pototzkys die Diskussion über die Sektion eröffnet wurde,247 äußerte sich Erich Benjamin noch einmal ausführlich zu den zeitbedingten exogenen Faktoren in Bezug auf die seelische Verfassung der Jugend, warnte vor einer Überbetonung erblicher Gegebenheiten und betonte die Wichtigkeit einer „tiefgreifenden erzieherischen Beeinflussung“ bereits in den allerersten Lebensjahren.248 Der frühzeitigen Erkennung psychopathischer Konstitution, Psychopathie und Schwererziehbarkeit war auch die IV. Ärztekonferenz der „Deutschen Vereinigung für Säuglings- und Kleinkinderschutz“ 1931 in Dresden gewidmet,249 wobei die dort diskutierten Vorschläge zur erzieherisch-therapeutischen Beeinflussung dieser Störungen bereits stark von den Auswirkungen der katastrophalen ökonomischen Situation im Deutschen Reich geprägt wurden. Als Referenten traten mit Werner Villinger, Carl Pototzky und Erich Benjamin hinlänglich bekannte Protagonisten der Fürsorge für das „seelisch und geistig abnorme Kind“ auf, ergänzt wurde diese erprobte Trias von Fachleuten durch den Berliner Kinderarzt und Sozialhygieniker Gustav Tugendreich (1876–1948), der zusammenfassend über institutionelle Aspekte der fürsorgerischen Erfassung und Betreuung dieser Kinder sprach. Prominent kam dabei die Forderung einer Zuweisung insbesondere sehr junger „Psychopathen“ an die Pädiatrie zur Sprache, wobei allerdings (selbst-)kritisch immer wieder auf den vergleichsweise schlechten Ausbildungsstand der Kinderärzte in diesen Fragen hingewiesen wurde, den sie freilich selbst verschuldet hätten. Den auf diesem Gebiet gut ausgebildeten „Erziehern, Irren- und Seelenärzten“ verdanke man „bedeutende Erkenntnisse auf dem Gebiet des kindlichen Geistes- und Seelenlebens“, während in der Kinderheilkunde „Erkennung, Betreuung, Aufzeichnung der geistig-seelischen Entwicklung“ im Vergleich zum somatischen Feld doch sehr vernachlässigt worden sei.250 Erst „,nachdem die Teilung längst geschehen, naht der Poet‘“ – der Kinderarzt –, zitiert Tugendreich Schiller und bedauert: „Diese künstliche Trennung ist für Diagnose und Therapie, sie ist für das geistig und seelisch abnorme Kind und seine Fürsorge höchst nachteilig.“251 Aufschlussreich ist die dokumentierte Aussprache über die Beiträge, der zu entnehmen ist, dass sich in Dresden tatsächlich die wichtigsten medizinischen Vertreter der Erfassung und 246 Zanker 1929, 386. 247 Pototzky 1928. 248 Benjamin 1928, 47. 249 Dokumentation der Vorträge und der Aussprache, Monatsschrift für Kinderheilkunde 53 (1932), S. 61–124. 250 Tugendreich 1932, 99. 251 Ebenda, 100.

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2. Pädagogik und Psychiatrie

Betreuung auffälliger Kinder getroffen hatten. Anwesend waren demnach u. a. Arthur Keller, Paula Heyman, Curt Boenheim, Wilfried Cohn-Hülse, Gustav Adolf Waetzoldt und auch Franz Kramer aus Berlin, außerdem Franz Hamburger und Albert Moll aus Wien, Jussuf Ibrahim (Jena), Stefan Engel (Dortmund) und Paul Schröder (Leipzig). Franz Kramer, der – soweit nachvollziehbar – im Rahmen seiner Tätigkeit auf der Beobachtungsstation für jugendliche Psychopathen der Nervenklinik die Zusammenarbeit mit der Pädiatrie nicht eben in den Vordergrund gestellt hatte, begrüßte in seinem Diskussionsbeitrag nichtsdestotrotz den Gedanken verstärkter Kooperation: „Es entspricht das durchaus den Bestrebungen, die der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen seit 1918 verfolgt; dieser hat immer ein Zusammenwirken von Psychiater und Pädiater bei der Beurteilung dieser Probleme angestrebt.“252 In der Endphase der Weimarer Republik blieben die Ausführungen Kramers indes weitgehend ohne konkrete Folgen. Zwar gab es mit der vom DVFjP und der Deutschen Vereinigung für Säuglings- und Kleinkinderschutz gemeinsam organisierten Sachverständigenkonferenz zu dem Thema „Die Erziehungsschwierigkeiten des Kleinkindes“ am 19. März 1933 tatsächlich noch einen Versuch, das Zusammenwirken der beiden medizinischen Fächer zu verbessern.253 Auch wurden im selben Jahr zwei Pädiater in das Herausgeberkollegium der Zeitschrift für Kinderforschung aufgenommen. Doch die nach 1933 sich endgültig durchsetzende Tendenz, die medizinische und (volks-)erzieherische Tätigkeit der Kinderärzte ganz auf das Ziel einer Höherentwicklung der „Volksgemeinschaft“ auszurichten, verwies das Problem des „psychopathischen Kindes“ an die Peripherie des pädiatrischen Interesses. Der in Dresden anwesende Wiener Ordinarius für Pädiatrie, Franz Hamburger, hatte bereits in seiner Antrittsvorlesung 1930 Vorstellungen einer umfassenden Gesundheitsführung von Kindern und Familien anklingen lassen, mit der er seinem Fach nicht nur neue Aufgaben zugewiesen, sondern eine Umorientierung der Kinderheilkunde zu einer ärztlichen Kinderkunde gefordert hatte, die sich insbesondere mit dem Aspekt der Krankheitsvorbeugung und Leistungssteigerung gesunder Kinder auseinandersetzen sollte.254 Dass mit der Verwirklichung dieses Konzepts die Pädiatrie und die Pädiater weit über ihre gewohnten Behandlungsfelder und -methoden und auch über die Altersgrenze von 13 Jahren hinaus tätig werden sollten, wurde als weiterer erwünschter Effekt von ihm begrüßt.

252 Kramer 1932b, 120. 253 ZfK 41 (1933), H. 3, 287–327. Vgl. in diesem Band, S. 291. 254 Hamburger 1930, 778.

3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen und die Entwicklung der Berliner Psychopathenfürsorge

Mehr als zwei Jahrzehnte – von ihrer ersten Begegnung in der Berliner Jugendgerichtshilfe im Jahr 1913 bis zum Suizid der Sozialpädagogin am 10. Juli 1935 – arbeiteten Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Fürsorge für schwer erziehbare Kinder zusammen. Die gemeinsame soziale Herkunft aus dem Bildungsbürgertum und das empathische Interesse am „schwierigen“ Kind in der Metropole Berlin bildeten die Grundlage, auf der sich die vertrauensvolle Kooperation der beiden Protagonisten psychiatrisch-pädagogischer Fürsorge entfalten konnte. Gegenseitige Wertschätzung fachlicher Kompetenz, pädagogischer Optimismus und gleichgerichtetes soziales Engagement beförderten eine emanzipierte Arbeitsbeziehung, die sich während des Ersten Weltkriegs und besonders in der Weimarer Republik fortwährend intensivierte und produktiv ausgestaltete. Psychiater und Sozialpädagogin teilten die Überzeugung, dass nur qualitative empirische Forschung geeignet sei, Erziehungsschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen wissenschaftlich auf den Grund zu gehen und Verhaltensauffälligkeiten zum Wohl und Nutzen des kindlichen Individuums wie der Gesellschaft zu beeinflussen. Institutionell gaben dabei der kurz vor Ende des Krieges gegründete Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e. V. und die 1921 aus den Vereinsaktivitäten hervorgegangene Kinderbeobachtungsstation an der Charité den Rahmen der Kooperation Ruth von der Leyens und Franz Kramers. Dabei ist über die private Seite der langjährigen Verbindung kaum etwas bekannt, von einer Freundschaft zwischen Kramer und von der Leyen überhaupt nur an einer einzigen Stelle die Rede.1 Ruth von der Leyen repräsentierte den Typus akademisch gebildeter bürgerlicher Frauen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, der nach einer eigenständigen Tätigkeit suchte, und denen das rasch sich ausdehnende Feld der Sozialen Arbeit die Möglichkeit zur Ausübung eines Berufes und zur Entfaltung ihrer Potentiale bot. Wie auch andere qualifizierte Fürsorgerinnen und sozialpolitisch engagierte Akteurinnen blieb sie ledig; bis zu dessen Tod im September 1934 lebte sie gemeinsam mit ihrem Vater in der elterlichen Wohnung in Berlin-Wilmersdorf. Franz Kramer, knapp zehn Jahre älter als Ruth von der Leyen und aus einem liberalen jüdischen Elternhaus stammend, folgte dem traditionellen Lebensentwurf, der einem Mann bürgerlicher Herkunft und einem arrivierten Mediziner der Zeit entsprach. Er heiratete 1924 die Breslauer Kaufmannstochter Luise Scheffels (geb. 1896).2 Nach der Heirat 1 2

Nachruf Ruth von Leyen (anonym). In: Die Frau 1935/36, 113. Hierfür und für das Folgende vgl. Neumärker 2005, 89.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

zog das Ehepaar in die Budapester Straße in Berlin-Charlottenburg; ein Jahr darauf kam die Tochter Gabriele zur Welt, 1928 wurde der Sohn Karl geboren. Taufpate und Namensgeber war Karl Bonhoeffer, Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité und Kramers langjähriger Mentor. Die Kooperation Kramers und von der Leyens schloss eine reiche, aber durchaus eigenständige und disziplingebundene Publikationstätigkeit mit ein. Eine gemeinsame Veröffentlichung erschien erst 1934 unter dem Titel „Entwicklungsverläufe ‚anethischer, gemütloser‘ psychopathischer Kinder“.3 Der Beitrag bildet die Essenz langjähriger empirischer Forschung und plädiert für die Fortsetzung einer individualisierenden, auf Beobachtung und Erfahrung basierenden und in letzter Konsequenz immer am Einzelfall orientierten Wissenschaft. Gleichzeitig stellt er auch einen letzten Versuch der Selbstbehauptung angesichts drastisch veränderter politischer Verhältnisse dar, die sich zu diesem Zeitpunkt nicht nur bereits individuell biographisch niedergeschlagen hatten, sondern auch innerhalb des Netzwerkes der Jugendfürsorge und seiner Akteur_innen spürbar geworden waren. Präsentation und Diskussion des gemeinsamen Aufsatzes bildeten den Endpunkt der wissenschaftlichen Arbeit Kramers und von der Leyens und markierten ihren Ausschluss aus der Scientific Community der Psychopathenfürsorge, die sie mitbegründet, maßgeblich geprägt und der sie über lange Jahre als anerkannte Mitglieder angehört hatten.

3.1 Der Neurologe und Psychiater Franz Kramer Herkunft, Jugend und Studium der Medizin (1878–1902) Franz Kramer wurde am 24. April 1878 in Breslau geboren und wuchs als einziges Kind einer „gebildeten liberal jüdischen Kaufmannsfamilie“ heran.4 Sein Vater, Julius Kramer (geb. 1844), betrieb einen Getreidehandel in Breslau, der zweitgrößten Metropole Preußens um die Jahrhundertwende.5 1872 hatte Julius Kramer sich mit der aus Schlesien stammenden Anna Stoller (geb. 1852) verheiratet. Beide Ehepartner waren „israelitischen“ Glaubens, ihren Sohn erzogen sie jedoch eher säkular.6 Von 1884 bis 1886 besuchte Franz Kramer das Breslauer St.-Maria-Magdalenen-Gymnasium, eine traditionsreiche und exklusive Einrichtung des höheren Schulwesens für Jungen in

3 4 5 6

Kramer/Leyen 1934. Neumärker 2005, 79. Hettling/Reinke/Conrads 2003, 20. Neumärker 2005, 79.

3.1 Der Neurologe und Psychiater Franz Kramer

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Preußen.7 Die Schülerschaft der interkonfessionellen Bildungsanstalt stammte fast ausnahmslos aus bürgerlichen Elternhäusern, knapp fünfzig Prozent der aufgenommenen Jungen war protestantisch, etwa ein Drittel katholisch und zwanzig Prozent waren jüdischer Herkunft.8 Aufgrund der pluralistischen Bildungspolitik in Breslau zeichnete sich das höhere Schulwesen der Stadt durch ein hohes Maß jüdischer Inklusion aus. Exklusiv waren die Gymnasien und Realgymnasien in sozialer Hinsicht, nicht aber konfessionell.9 Diese Situation war auch der Tatsache geschuldet, dass Breslau einen vergleichsweise hohen Anteil jüdischer Einwohner hatte, der 1875 bei rd. 6,3 Prozent lag. Trotz des Anstiegs der absoluten Zahl auf 20.000 sank der Anteil jüdischer Einwohner bis 1905 auf 4,3 Prozent, da sich die Gesamtbevölkerung der Stadt verdoppelte.10 Dennoch gehörte die Odermetropole mit der drittgrößten Gemeinde vor 1933 zu den bedeutenden jüdischen Zentren des Deutschen Reiches.11 Die schlesische Großstadt war durch gravierende soziale Unterschiede in der Bevölkerung geprägt, die sich entsprechend auf die Bildungs-, Einkommens- und Wohnsituation auswirkten. Von den prekären Lebensverhältnissen zahlreicher Menschen blieb die Familie Kramer als Teil des gehobenen Bürgertums allerdings weitgehend unberührt.12 Im März 1896 legte Franz Kramer sein Abitur ab, der Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben.13 Im Mai d. J. nahm er sein Medizinstudium an der Breslauer Universität auf und bestand im Februar 1898 die ärztliche Vorprüfung mit der „Gesamtzensur gut“.14 1901 beendete Kramer sein Studium und erhielt die Approbation als Arzt.

Kontakte und Vernetzungen: Frühe berufliche Praxis in Breslau (1902–1907) Im darauffolgenden Jahr nahm Franz Kramer seine Tätigkeit als Assistenzarzt bei dem Psychiater und Neurologen Carl Wernicke (1848–1905) an der „Königlichen Universitäts-Poli7 8 9 10 11

Van Rahden 2000, 181. Neumärker 2005, 79. Van Rahden 2000, 182. Vgl. Neumärker 2005, 79. Hettling/Reinke/Conrads 2003, 19. Wolff 2012, 185. Um 1910 lebte ein Drittel aller deutschen Juden allein in der Stadt Berlin (mit Umlandgemeinden), der jüdische Bevölkerungsanteil machte dort etwa fünf bis zehn Prozent aus. Ähnlich lag der prozentuale Anteil jüdischer Bevölkerung in Frankfurt am Main und in Hamburg. 12 Neumärker 2005, 81; Hettling/Reinke/Conrads 2003, 116 f. 13 Das genaue Todesdatum ist nicht bekannt. 14 Am 03.08.1811 wurde die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau durch die Vereinigung der alten Leopoldina und der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder neu gegründet. Sie war die erste deutsche Universität mit einer katholischen und einer protestantischen Fakultät. Daneben existierten die Fakultäten für Recht, Medizin und Philosophie.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

klinik für Nervenkranke zu Breslau“ auf.15 Noch im gleichen Jahr promovierte er bei seinem Lehrer mit einer neurologischen Arbeit zum Dr. med. und publizierte einen ersten Fachbeitrag in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie zum Thema „Muskeldystrophie und Trauma“.16 Inspiriert von der Denk- und Arbeitsweise Carl Wernickes, der als ideenreicher, produktiver Kliniker und Wissenschaftler galt17 und in regem Austausch mit seinen Kollegen,18 zu denen auch sein späterer Gegner Paul Schröder (1873–1941) zählte,19 reihte Franz Kramer sich in die psychiatrisch-neurologische „Breslauer Schule“ ein. Diese genoss hohes Ansehen durch ihr hervorragendes intellektuelles Klima und ihre Leistungen. Entscheidend für seinen beruflichen Werdegang und seine Zukunft sollte die Begegnung mit einem weiteren Mitarbeiter der Breslauer Klinik werden: Karl Bonhoeffer.20 Zwischen 1893 und 1897 war Bonhoeffer als Assistenzarzt in der Wernickeschen Klinik und im Anschluss als Privatdozent an der Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität tätig gewesen. Nachdem er 1903 zunächst einen Ruf nach Königsberg, kurz darauf nach Heidelberg angenommen hatte, kehrte er bereits im Oktober 1904 nach Breslau zurück und avancierte zum Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik. In der Nachfolge Wernickes übernahm Bonhoeffer auch dessen Assistenten Kramer. Paul Schröder, den der neue Klinikdirektor noch aus seiner eigenen Assistenzzeit in der Breslauer Klinik und aus der Zusammenarbeit in Königsberg kannte, bot er eine Stelle als Oberarzt an. Schröder schloss 1905 seine Habilitation bei Bonhoeffer ab,21 Kramer folgte 1907 mit einer Untersuchung im Bereich der Neurologie und Neurophysiologie.22 Im Rahmen der Disputation seiner Habilitationsschrift in der Aula Leopoldina der Breslauer Universität trat Schröder als sein Opponent auf.23 Als Mitglied der Prüfungskommission überprüfte er auch die Stichhaltigkeit der Untersuchung seines fünf Jahre jüngeren Kollegen.

15 Wernicke war 1885 nach Breslau berufen worden und leitete die dortige Klinik fast zwanzig Jahre lang, bis 1904. 16 Die Promotion behandelte das Thema „Rückenmarksverbindung bei Polyneuritis“. Kramer 1902a, b. 17 Neumärker 2005, 81. 18 Dazu gehörten u. a. der Neurologe Hans-Gerhard Creutzfeldt (1885–1964) und der bedeutende Breslauer Neurologe und Neurochirurg Otfrid Foerster (1873–1941). Zu den weiteren aus der Breslauer Schule hervorgegangenen Neurologen vgl. Hanisch 2007, 476–478; Neumärker 2005, 81 mit Bezug auf Kolle 1964, 520 und Peiffer 1997, 21. 19 Zu Person und Werk vgl. Castell et al. 2003, 436–442. 20 Der am 31.03.1868 in Neresheim/Württemberg geborene Karl Bonhoeffer hatte Medizin in Tübingen, Berlin und München studiert. 1890 promovierte er und erhielt ab Januar 1893 durch Vermittlung seines Doktorvaters, des Tübinger Physiologen Paul Grützner (1847–1919), die Assistentenstelle in der Psychiatrischen und Nervenklinik Breslau. Vgl. Neumärker 2005, 108–109. 21 Schröder 1905. 22 Kramer 1907. 23 Neumärker 2005, 83; Kramer 1907.

3.1 Der Neurologe und Psychiater Franz Kramer

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Mit seiner Ernennung zum Privatdozenten für Psychiatrie und Neurologie am 18. Dezember 1907 wurde Franz Kramer Mitglied des Lehrkörpers der medizinischen Fakultät. Die Breslauer Alma mater hatte nicht nur einen sehr guten wissenschaftlichen Ruf, sondern zeichnete sich auch durch ein besonderes Klima der Toleranz aus. Bezeichnend dafür ist, dass neben den theologischen Fakultäten evangelischer und katholischer Ausrichtung seit 1854 auch das Jüdisch-theologische Seminar Fraenckelscher Stiftung existierte, die erste moderne akademische Einrichtung zur Ausbildung von Rabbinern und Lehrern in Deutschland und eines der wichtigsten Zentren jüdischer Wissenschaft in Europa.24 Wie die schulpolitische Entwicklung der Stadt, spiegelte auch die akademische Landschaft das Bemühen um die wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung wider.25

Psychologie und Intelligenzforschung, Empirie und Langzeitstudien (1908–1911) Der junge Neurologe Kramer zeigte sich fachlich vielseitig interessiert und öffnete sich früh verwandten Disziplinen und den zeitgenössisch neuen naturwissenschaftlich-empirischen Methoden. Gleichzeitig wendete er sich sozialpolitischen Fragen im Bereich der entstehenden Kinder- und Jugendfürsorge zu. Sein breites wissenschaftliches Interesse motivierte ihn zunächst zur Kontaktaufnahme mit dem Psychologen Hermann Ebbinghaus (1850–1909), der seit 1894 in Breslau tätig war.26 Als einer der Wegbereiter der empirischen Gedächtnisforschung hatte Ebbinghaus nur wenige Jahre zuvor das erste Berliner Laboratorium für experimentelle Psychologie eingerichtet und war durch seine Veröffentlichungen zur Psychophysik und zu Experimentalmethoden sowie durch seine zweibändige Monografie „Grundzüge der Psychologie“ bereits über Deutschland hinaus bekannt geworden.27 Noch vor seinen französischen Kollegen Alfred Binét (1857–1911) und Théodore Simon (1873–1961) hatte er mit der nach ihm benannten „Combinationsmethode“ einen ersten brauchbaren Intelligenztest für Kinder entwickelt.28 Seit 1902 war Ebbinghaus Vorstandsmitglied des 1899 von dem Pädagogen Johannes Trüper in Jena gegründeten Vereins für Kinderforschung.29 Zugleich gehörte er zu den aktiven Mitgliedern der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur, eines 24 Zur Geschichte und Bedeutung des Breslauer jüdisch-theologischen Seminars und des Rabbinerberufs im 19. Jahrhundert vgl. Hettling/Reinke/Conrads 2003, 99–112. 25 Dieser Emanzipationsprozess schien nach dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen zu sein. Vgl. Wolff 2012, 186. 26 Lück 2009, 51. 27 Ebbinghaus 1902, 1913. 28 Neumärker 2005, 83. Die Methode basierte auf Massenuntersuchungen bei Schulkindern, die Ebbing­ haus auf Anfrage der Breslauer Schulbehörden durchgeführt hatte. Vgl. ders. 1897. 29 Vgl. in diesem Band, S. 39 f.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

bereits seit 1803 bestehenden, angesehenen privaten Vereins, der sich als einer der ersten gegenüber Juden geöffnet hatte und in dem diese eine führende Rolle einnahmen.30 Die Zahl der Vereinsmitglieder lag nach der Jahrhundertwende bei rd. 1.000, die Aktivitäten bestanden vor allem in einer regen Vortrags- und Forschungstätigkeit, wobei der Anspruch bestand, die fehlende Akademie in Schlesien zu ersetzen und die Erkenntnisse der Geistes- und Naturwissenschaften einer breiten interessierten Öffentlichkeit nahezubringen.31 Auch Franz Kramer gehörte zu den Referenten dieser renommierten Institution.32 Die philosophisch-psychologische Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur unterstand zwischen 1907 und 1914 der Leitung William Sterns, einem Schüler von Ebbinghaus.33 Der aus einem jüdischen Elternhaus stammende Philosoph und Psychologe hatte an der Berliner Universität studiert und dort 1893 promoviert. Mit dem Ziel der Habilitation war Stern seinem Lehrer Ebbinghaus 1897 nach Breslau gefolgt, wo er zwischen 1907 und 1916 den Lehrstuhl für Psychologie und Pädagogik an der dortigen philosophischen Fakultät innehatte.34 Zu den Forschungsschwerpunkten, die er gemeinsam mit seiner Ehefrau Clara (1877–1948) verfolgte, zählten die Untersuchung der Kindersprache und die Psychologie der frühen Kindheit.35 Die Arbeiten waren aus Langzeitstudien hervorgegangen und basierten auf präzise geführten wissenschaftlichen Tagebüchern, in denen vor allem Clara Stern systematisch ihre Beobachtungen über die Entwicklung der gemeinsamen drei Kinder festhielt. Das vorrangige Ziel des von Clara und William Stern begründeten entwicklungspsychologischen Tagebuch-Verfahrens bestand darin, die Beobachtung so durchzuführen, dass die Kinder sie kaum wahrnahmen und ihr Verhalten von dieser Aktivität möglichst unbeeinflusst blieb. Diese qualitative Methodik der Beobachtung kindlichen Verhaltens fand Anfang der 1920er Jahre auch auf der von Franz Kramer mitbegründeten und bis 1935 von ihm geleiteten Kinderbeobachtungsstation an der Charité Anwendung. Kramer und William Stern hatten sich vermutlich schon 1906 kennengelernt; im Februar 1907 nahmen sie gemeinsam eine mehrtägige Untersuchung eines elfjährigen Mädchens, Anna, vor, die wegen ihrer ungewöhnlichen mnemotechnischen Leistungsfähigkeit Aufsehen erregt hatte.36 Der Vater, ein Schausteller, präsentierte seine Tochter seit ihrem fünften Lebensjahr als „Gedankenleserin“ und „Gedächtniskünstlerin“ in der Öffentlichkeit und war 30 Van Rahden 2000, 106 f. 31 Van Rahden 2000, 106 f. 32 Am 1. Dezember 1911 hielt er einen Vortrag zum Thema „Wirbelsäulenverletzung und hysterische Lähmungen“ in der Medizinischen Sektion der Gesellschaft. Vgl. Kramer 1912a. 33 Van Rahden 2000, 107. Zu Biographie und Werk vgl. Bühring 1996 passim; Deutsch 1991 passim. 34 Vgl. dazu in diesem Band, S. 35, Fußnote 59 sowie Rothland 2008, 121. 35 Stern/Stern 1907; Stern/Stern 1909; Stern 1914. Vgl. auch Deutsch 1994. 36 Kramer/Stern 1908.

3.1 Der Neurologe und Psychiater Franz Kramer

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von der Polizei zur Beibringung eines psychologischen Gutachtens aufgefordert worden. Kramer und Stern nutzten diesen für sie glücklichen Umstand, um der Frage nachzugehen, ob die „Produktionen“ des Mädchens eine außergewöhnliche intellektuelle Leistung darstellten und Ausdruck einer „übernormalen“ Begabung waren oder „lediglich“ auf der Beherrschung eines ausgeklügelten Systems beruhten, das sie sich mechanisch und ohne die Zusammenhänge eigentlich zu verstehen, angeeignet hatte. Im Rahmen ihrer Untersuchung wendeten Kramer und Stern u. a. Methoden der experimentellen Gedächtnisprüfung (Bilder, Sprache, Zahlen) und die „Ebbinghaussche Kombinationsmethode“ an, bei der in Prosatexten ausgelassene Worte ergänzt werden mussten.37 Die Ergebnisse der eingehenden „Psychologische[n] Prüfung eines elfjährigen Mädchens mit besonderer mnemotechnischer Fähigkeit“ publizierten sie 1908 in der Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung. Die Forscher konstatierten, dass das von Anna und ihrem Vater benutzte, auf der assoziativen Verknüpfung bestimmter Signalwörter beruhende System das inhaltliche Verständnis und die aktive gedankliche Tätigkeit des Kindes voraussetzte. Das Mädchen demonstrierte Kramer und Stern anhand vorgegebener Beispiele sowohl die Flexibilität des Systems als auch ihre Fähigkeit, damit schöpferisch umzugehen.38

Psychiatrie und Jugendfürsorge In der Zusammenarbeit mit Stern konnte Kramer die Bedeutung der Einzelfallstudie für die differentielle und generelle Psychologie herausstellen. Er übertrug diese Erkenntnis auf das empirische Vorgehen im Rahmen seiner psychiatrisch-neurologischen Praxis in der Breslauer Universitätsnervenklinik. Neben neurologischen Fragestellungen arbeitete er zwischen 1909 und 1912 vor allem auf dem Gebiet der Intelligenzforschung. Hier setzte er sich gemeinsam mit Paul Schröder mit den Mängeln von Intelligenzprüfungsmethoden und den Diskrepanzen zwischen Lebens- und Intelligenzalter auseinander.39 Als ein Ergebnis seiner Untersuchung zu den Gründen für schulisches Zurückbleiben oder Versagen formulierte Kramer 1913, „dass die Schulleistungen in hohem Maße von der Intelligenz des Kindes abhängen; sie werden jedoch in einer Reihe anderer Faktoren so erheblich beeinflusst, dass von einem strengen Parallelismus nicht die Rede sein kann“.40 Unter den verschiedenen Momenten, die auf die kindlichen Schulleistungen unabhängig von der Intelligenz einwirkten, nannte er neben sozialen Faktoren, physischen Erkrankungen und Beeinträchtigungen auch „Be37 38 39 40

Vgl. auch Neumärker 2005, 84. Kramer/Stern 1908. Kramer 1913a. Kramer 1913a, 514.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

sonderheiten der psychischen Veranlagung des Kindes“ wie „die Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit dauernd zu konzentrieren, übermäßige Affekterregbarkeit, die sie [die Kinder] leicht einschüchtern lässt“ sowie affektbedingte Momente, etwa „mangelnder Ehrgeiz und Fleiß, Neigung zu Disziplinverletzung u. a.“.41 Schon hier zeigten sich die Grundzüge des wissenschaftlichen Denkens Kramers, der das Entstehen eines Phänomens stets auf ein dynamisches Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren zurückführte und vor allem nicht als konstante Persönlichkeitsmerkmale deutete. Die kindlichen Proband_innen für ihre Untersuchungen im Kontext der Intelligenzforschung rekrutierten Schröder und Kramer zum einen aus der Patientenschaft der Klinik, zum anderen aus der im März 1909 auf Initiative der örtlichen Justizverwaltung konstituierten Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge (BZJ).42 Die Ortsgruppe der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, deren Geschäftsstelle sich in den Räumen des Breslauer Jugendgerichts befand, folgte damit dem Vorgehen ihres Dachverbandes. Als freier Verband von Vereinen und anderen Institutionen (Anstalten, Stiftungen, Behörden) sowie engagierten Einzelpersonen förderte die Breslauer Zentrale die Bestrebungen der Jugendfürsorge durch zahlreiche Maßnahmen und unterstützte insbesondere das Jugendgericht.43 Mit Gründung der BZJ entfaltete sich eine systematische und zielgerichtete Zusammenarbeit zwischen der freien Jugendfürsorge und der Psychiatrischen und Nervenklinik Breslau unter Leitung Karl Bonhoeffers. Zwar hatte sich die Klinik dem Verband nicht angeschlossen,44 doch gab es, etwa über William Stern, der der BZJ als Mitglied angehörte und im Kontakt mit Kramer stand, personelle Verbindungen zwischen beiden Institutionen.45 Franz Kramer und Paul Schröder zählten darüber hinaus zu den Ärzten, die sich der Zentrale unentgeltlich zur Verfügung stellten und die regulären psychiatrischen Begutachtungen jugendlicher Angeklagter vornahmen. 46 Im Gegenzug profitierten sie hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Forschungsinteressen von dieser Verbindung: Die BZJ überwies verhaltensauffällige und erziehungsschwierige Mädchen 41 Kramer 1913a, 515. 42 Nach der 1921 erfolgten Gründung einer Heilpädagogischen Beratungsstelle überwies diese Kinder und Jugendliche an die Breslauer Universitätsklinik. Psychiatrische Untersuchungen erfolgten zudem durch Ärzte der städtischen Heil- und Pflegeanstalt und durch einzelne Nervenärzte. Vgl. Leyen/ Marcuse 1928, 479. 43 Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge 1909, 10. Bereits im ersten Jahr gehörten der BZJ 92 Vereine und andere Organisationen sowie 95 Privatpersonen an. Vgl. ebenda, 15 f. 44 Vgl. Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge 1911, 16–19. 45 William Stern wurde später Ehrenmitglied. Vgl. Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge 1913, 31. 46 Paul Schröder gehörte 1909 zu den vier Medizinern, die psychiatrische Untersuchungen von Jugendlichen für das Gericht vornahmen. Insgesamt 60 Fälle wurden im ersten Jahr des Bestehens der Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge begutachtet. Franz Kramer wird erst 1911 als Gutachter erwähnt. Vgl. Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge 1909, 8 und 1911, 8.

3.1 Der Neurologe und Psychiater Franz Kramer

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und Jungen, die vor der jugendgerichtlichen Anordnung der Fürsorgeerziehung standen, zu Forschungszwecken an die Breslauer Universitätsklinik. Kramer und Schröder präsentierten indessen Ergebnisse ihrer Untersuchungen in der Zentrale, die ihren Mitgliedern regelmäßige Gelegenheit zur fachlichen Qualifizierung bot.47 Schröder hob die „große[n] Freiheiten“ hervor, die er in diesem Zusammenhang genoss: „Dabei habe ich aber den Vorteil gehabt, die Kinder mit ihren Angehörigen in der Regel so oft zu mir bestellen zu können, wie ich wollte, und ihre Aufnahme in die Klinik veranlassen können, wo es nötig erschien; es standen mir ferner stets die gesamten Akten des Gerichts und dazu die Erhebungen der auch für psychiatrische Fragen recht interessanten Zentrale für Jugendfürsorge zur Verfügung.“48

Den Gewinn der „neuerdings enger gewordenen Beziehungen [der Psychiatrie] zu den modernen Jugend- und Kinderfürsorgebestrebungen“ sah er vor allem in der Möglichkeit, „zusammenhängender und eingehender Material psychiatrisch zu bearbeiten, das bisher nur bruchstückweise bearbeitet werden konnte und das nur wenigen in größerem Umfang zugänglich war“.49 Zur gemeinsamen Forschungsarbeit in der Klinik äußerte sich Schröder später dahingehend, dass Kramer ihm „bei den Kindern der Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge die Binet-Untersuchungen“50 gemacht habe. Aus diesem Blickwinkel erscheint das Verhältnis der beiden fachlich und von ihrem Status her gleichrangigen Kollegen als ein hierarchisches, in dem Schröder den Anspruch auf Vorrang erhob. Hinsichtlich ihres theoretischen Standpunktes zum Problem erziehungsschwieriger und verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher scheinen beide zu diesem Zeitpunkt noch ähnliche Positionen vertreten zu haben. Schröders Ansichten werden dabei in der Überlieferung greifbarer als Kramers, der sich nur punktuell zum Thema Psychopathie äußerte. Schröders primäres klinisches Interesse galt der Frage nach den angeborenen Defektzuständen. Er unterschied in der Gruppe der Minderjährigen, für die das Jugendgericht über die Unterbringung in Fürsorgeerziehung zu entscheiden hatte, zwischen „imbezillen“, also angeboren „einfach intellektuell schwachsinnigen“ Kindern und Jugendlichen, und solchen mit „häufige[r] und besonders schwere[r] Asozialität“.51 Für die erste Teilgruppe, die er auf 50 Prozent bezifferte, hielt er den Grad der Intelligenz allein für unzureichend, um eine Prognose hinsichtlich der Erziehbarkeit und der zu erwartenden sozi47 So referierte Kramer zum Thema „Intelligenzprüfungen nach Binet“, während Schröder über „Das Fortlaufen der Kinder“ sprach. Vgl. Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge 1911, 5. 48 Schröder 1910, 705. 49 Schröder 1910, 705. 50 Kramer/Leyen 1935 [Brief Schröders], 226. 51 Schröder 1910, 706.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

alen Gefährlichkeit zu treffen. Im „Imbezillen“ sah Paul Schröder ein zwar nicht „wertvolles“, aber „brauchbares Element“ der Gesellschaft, das sich gut für mechanische Tätigkeiten eigne und in der Regel nur geringe Erziehungsschwierigkeiten mache. Für die zweite Teilgruppe betonte er in seiner ersten kinderpsychiatrischen Arbeit dagegen die endogene Ätiologie besonders der schweren „Asozialität“.52 Diese „von früh auf bestehende Andersartigkeit“ entstehe über angeborene psychische Qualitäten, die intelligenzunabhängig vorkämen, und daher gesondert untersucht werden müssten. Unter den psychischen Mängeln im frühen Kindesalter, die weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen entstünden, unterschied er folgende Phänomene: den Mangel an Gefühl für alle Vorstellungen von sozialer Regelung, die Diagnose „moral insanity“ (Verständnislosigkeit gegenüber altruistischen Regungen), den Mangel an Anhänglichkeit, Zugehörigkeitsgefühl sowie Zärtlichkeit und der daraus folgenden Neigung zum Fortlaufen und zur Herumtreiberei, Unstetigkeit, Unzuverlässigkeit und Lüge (im Gegensatz zur Pseudologia phantastica), besitzergreifendes Verhalten und Stehlen, frühe „rücksichtslose sexuelle Betätigung“ sowie Scham- und Reuelosigkeit. Erzieherische Maßnahmen hielt Schröder für diese als „asozial“ geltenden Kinder und Jugendlichen für wirkungslos.53 Der erste nachweisbare Bezug Kramers auf das Psychopathiekonzept findet sich in einem 1910 gehaltenen Vortrag im Rahmen der 96. Sitzung des Vereins Ostdeutscher Irrenärzte in Breslau. Primär ging es darin um den Nutzen, die Anwendungsmöglichkeiten und -grenzen des Binet-Tests, insbesondere in Bezug auf die Zuordnung von Kindern zur Hilfsschule. Unter den für die Hilfsschule „geeigneten“ Kindern bildeten nach Kramer solche mit „psychopathischen Zügen“ eine „Sondergruppe“, da diese nur eine „geringe intellektuelle Schädigung“ hätten. Trotzdem sei das Fortkommen dieser Kinder in der „Normalschule“ durch ihre Psychopathie behindert.54 In den folgenden Jahren galt Kramers Interesse weiterhin dem Thema „Intelligenzprüfungen an abnormen Kindern“. Dabei konstatierte er auch psychopathische Reaktionen, etwa die „Abstumpfung des moralischen Empfindens“ oder das „Fehlen altruistischer Neigungen“55 Kramer vertrat hier – ähnlich wie Schröder – die Auffassung vom Primat der Anlage als Ursache einer psychopathischen Konstitution.56 Neben seiner Betätigung im Bereich der Jugendgerichtshilfe hatte Kramer sich seit seiner Promotion und Habilitation an der Universitätsklinik Breslau fachlich weiterqualifiziert und war mit Vorträgen und Publikationen hervorgetreten, in denen er sich neben neurologischen Fragen auch psychiatrisch-psychologischen Aspekten zuwandte.57 In der klinischen Praxis 52 53 54 55 56 57

Schröder 1910, 706. Schröder 1910, 706. Kramer 1911, 273. Kramer 1913a, 512. Kramer 1913b. Kramer 1906, 1908, 1909, 1911, 1912a.

3.1 Der Neurologe und Psychiater Franz Kramer

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hatte er Routine im Umgang mit „schwierigen“ Kindern und Jugendlichen entwickelt und mit Kollegen wie William Stern kooperiert und gemeinsam publiziert.58 Zu Beginn seiner Berliner Zeit war er also 1912 mit den sozialpolitischen Aktivitäten der privaten Jugendfürsorge und der jugendgerichtlichen Gutachtertätigkeit bereits bestens vertraut. Es gibt allerdings keine Hinweise darauf, dass er zu diesem Zeitpunkt auch schon mit der DZJ in Berlin und deren Geschäftsführerin, Frieda Duensing, in Verbindung gestanden hätte.

Von Breslau nach Berlin (1912) Als Karl Bonhoeffer zum 1. April 1912 sein Amt als Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité antrat, nahm er seine beiden bewährten Mitarbeiter Kramer und Schröder mit nach Berlin.59 Dort übernahm Schröder die Leitung der „ruhigen Frauenabteilung“ der Psychiatrischen Klinik und des anatomischen Laboratoriums. Er blieb aber nur wenige Monate und wechselte bereits Ende 1912 an die Universität Greifswald, wo er den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie erhielt.60 Kramer wurde Leiter der Nervenpoliklinik und des psychologischen Laboratoriums der Psychiatrischen und Nervenklinik. Er wohnte in der Victoriastraße 28 in Berlin-Charlottenburg.61 Nachdem er sich bereits 1907 unter Bonhoeffer habilitiert hatte, erwarb er nach nur drei Monaten an der Charité am 2. Juli 1912 mit einem Vortrag über „Psychologische Untersuchungs-Methoden bei kindlichen Defektzuständen“ die Lehrbefugnis für die Berliner Universität.62 Neben seiner umfangreichen fachärztlichen Tätigkeit übernahm Franz Kramer auch psychiatrische Untersuchungen jugendlicher Delinquent_innen in verantwortlicher Funktion. Die forensische Begutachtung verzeichnete mit der Gründung von Jugendgerichten in Deutschland eine deutliche Zunahme. In Berlin existierte seit 1909 eine Vereinigung freiwilliger Jugendgerichtsärzte, die für das größte Jugendgericht am Amtsgericht Berlin-Mitte tätig wurde. Das Kollegium bestand anfänglich aus zehn Ärzten, die auf Vorschlag des damaligen Direktors der Psychiatrischen und Nervenklinik, Theodor Ziehen, um ihre Mitarbeit gebeten worden waren. Im Wechsel erstellten sie die notwendigen Fachgutachten im Rahmen der 58 59 60 61

Kramer/Stern 1908. Bonhoeffer, zit. n. Zutt/Straus/Scheller 1969, 81. Castell et al. 2003, 437. Neumärker 2005, 85. Es handelt sich vermutlich um die Victoriastrasse des Stadtteils Wilmersdorf der damals eigenständigen Stadt Charlottenburg im Landkreis Teltow. Die Straße existiert heute nicht mehr, sie lag im Bereich des heutigen Kulturforums an der Potsdamer Straße. Vgl. http://www.landkreistag-bw.de/fileadmin/user_upload/PDFs/Landkreistag/Geschichte/Geschichte_Erster_Weltkrieg. pdf [eingesehen am 15.05.2015]. 62 UAHUB, Med. Fak. Nr. 1353, Bl. 1, Urkunde Franz Kramer v. 02.07.1912.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

gegen Jugendliche eingeleiteten Strafverfahren, im Einzelfall gaben sie ihre Expertise auch in der Hauptverhandlung ab.63 Damit nahm die Bedeutung des Psychiaters in den Verfahren zu. Dies galt nicht nur für die Beurteilung der strafrechtlichen Einsichtsfähigkeit der angeklagten Jugendlichen, sondern vor allem auch hinsichtlich der durchzuführenden Erziehungsmaßnahmen, denn die Zahl „geistig nicht ganz normaler Kinder“ lag nach zeitgenössischer Wahrnehmung unter den minderjährigen Delinquent_innen mit etwa fünfzig Prozent sehr hoch.64 Eine ärztliche Untersuchung wurde bei Verdacht auf Vorliegen einer psychischen „Anomalie“, bei einer „schweren Straftat“ und bei „ausgesprochen asozialem Verhalten oder ausgesprochener Verwahrlosung“ vorgenommen.65 Sie diente der Klärung der Zurechnungsfähigkeit des jugendlichen Beschuldigten, der Gewinnung eines umfassenden Bildes seiner Persönlichkeit einschließlich der „Erblichkeits- und Familienverhältnisse“ sowie einer Prognose hinsichtlich der zukünftigen psychischen Entwicklung des Angeklagten und der daraus abzuleitenden erzieherischen Maßnahmen.66 Im Zuge seiner gutachterlichen Tätigkeit für das Jugendgericht kam Franz Kramer auch in Kontakt mit der Wohlfahrtspflegerin Ruth von der Leyen, die im April 1913 die Leitung der Abteilung Jugendgerichtshilfe der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge in Berlin übernommen hatte. Die Institutionalisierung und Etablierung der jugendstrafrechtlichen Reformbewegung, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte,67 bildete den gemeinsamen Ausgangspunkt ihrer langjährigen Arbeitsbeziehung im Bereich der wissenschaftlichen Erforschung der jugendlichen psychopathischen Konstitution, der Begründung und des Ausbaus der Psychopathenfürsorge in Deutschland.

3.2 Die Sozialpädagogin Ruth von der Leyen Herkunft, pädagogische, philosophische und politische Einflüsse (1888–1900) Ruth Ida von der Leyen wurde am 4. Januar 1888 als viertes Kind des Wirklichen Geheimen Oberregierungsrats Dr. jur. Dr. phil. Alfred von der Leyen (1844–1934) und seiner Frau Luise

63 Vgl. Fürstenheim 1910, 142 f. Das Jugendgericht Berlin-Mitte verhandelte zu diesem Zeitpunkt jährlich bis zu 1.500 Verfahren. Die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité gehörte der jugendgerichtsärztlichen Vereinigung an. Vgl. Leyen 1931, 635. 64 Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge 1911, 33; Müller-Heß 1930, 348. 65 Müller-Heß 1930, 348, 366. 66 Müller-Heß 1930, 348. 67 Fritsch 1999, 24 ff.

3.2 Die Sozialpädagogin Ruth von der Leyen

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Isabella, geb. Kapp (gest. 1903), in Charlottenburg geboren.68 Der Vater war Honorarprofessor für Eisenbahnrecht an der Berliner Universität und entstammte „einer rheinischen, von Friedrich dem Großen in ihrem Adel bestätigten Kaufmannsfamilie, die in Krefeld die Seidenindustrie begründete“.69 Alfred von der Leyen hatte sich vor allem durch seine Veröffentlichungen „über die volkswirtschaftliche Bedeutung und das Tarifwesen der Eisenbahnen“ einen Namen gemacht.70 Auch in mütterlicher Linie gab es „eine Reihe hervorragender Persönlichkeiten“. 71 Luise Isabella von der Leyen entstammte einer Familie mit starkem pädagogischem und philosophischem Einschlag, deren männliche Mitglieder sich im Umfeld der Revolution von 1848 durch Reformbestrebungen und demokratisches Engagement Verdienste erworben hatten. Ruth von der Leyens Urgroßvater war der westfälische Pädagoge und Schulreformer Friedrich Christian Georg Kapp (1792–1866). Als Mitglied der Preußischen Nationalversammlung hatte er sich erfolgreich für den regulären kostenlosen Schulbesuch und den Gemeinschaftsunterricht eingesetzt.72 Auch seine drei Brüder, der Philosoph und demokratische Politiker Johann Georg Christian (1798–1874),73 der Gymnasiallehrer Alexander (Lebensdaten unbekannt) und der Pädagoge, Geograph und Philosoph Ernst Christian Kapp (1808–1896)74 engagierten sich im Kontext der Revolution von 1848. Als bekennender Liberaler emigrierte letzterer 1849 mit seiner Frau und den fünf Kindern nach Amerika, wohin ihm sein Bruder Alexander folgte. Dort trafen sie auf ihren Neffen Friedrich Kapp (1824–1884), der aufgrund seiner Beteiligung an der sogenannten Septemberrevolution in Frankfurt am Main Deutschland 1848 hatte verlassen müssen.75 In New York heiratete er Louise Engels, die Tochter des Stadtkommandanten von Köln, die ihm ins Exil gefolgt war.76 Der deutschamerikanische 68 69 70 71 72 73

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Berger 1998, 360; Berger 1999, 11. Ruth von der Leyen zit. n. Berger 1999, 11. Zu Alfred von der Leyen vgl. auch Degener 1928, 943. Ruth von der Leyen zit. n. Berger 1999, 11. Kramer 1935, 307. Darüber hinaus propagierte Friedrich Chr. G. Kapp die Trennung von Staat und Kirche. Mit dem Allgemeinen Lehrerverein für Westfalen regte er die Gründung einer Selbstvertretung der Lehrerschaft im Sinne eines demokratischen Berufsverbandes an. Zur Person vgl. www.deutsche-biographie.de/sfz41933.html [eingesehen am 22.07.2015]; aufgrund seines Einsatzes für die Schaffung eines deutschen Nationalstaats und die Gewährung von Bürgerrechten wurde gegen Johann Georg Christian Kapp wegen Hochverrats ermittelt. Er beteiligte sich als Mitglied des Vorparlaments an der Vorbereitung der Frankfurter Nationalversammlung und war 1848/49 Abgeordneter des ersten frei gewählten Parlaments für ganz Deutschland. Ernst Christian Kapp war fachdidaktisch interessiert und forderte die Verschränkung von Geographie und Geschichte. Er machte sich zunächst mit Publikationen zur vergleichenden Erdkunde, in späteren Jahren zur Philosophie der Technik einen Namen. Vgl. Kapp 1845; Kapp 1877. Zur Person vgl. Wehler 1969. Louise Engels war die Tochter des Generalmajors Friedrich Ludwig C. Engels (1790–1855), der von

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

Rechtsanwalt, Schriftsteller und nationalliberale Politiker Friedrich Kapp war jener Großvater Ruth von der Leyens, „der 1848 nach Amerika floh, 1870 nach Deutschland zurückehrte, dort als sehr angesehener liberaler Politiker und Schriftsteller bis 1884 lebte“.77 Tatsächlich kehrte Friedrich Kapp im April 1870, nach der generellen Amnestie, nach Deutschland zurück und wurde 1871/72 Stadtverordneter von Berlin. Von 1872 bis 1877 und von 1881 bis zu seinem Tod vertrat der die Nationalliberale Partei im Deutschen Reichstag, ab 1874 war er außerdem Abgeordneter des preußischen Landtags. Friedrich und Louise Kapp hatten zwei Kinder, Luise Isabella, Ruth von der Leyens Mutter, und Wolfgang (1858–1922). Der noch in New York geborene Wolfgang, Verwaltungsbeamter, Publizist und Politiker, war später einer der Anführer des gescheiterten Staatsstreiches gegen die Weimarer Republik vom 13. März 1920, der als Kapp-Putsch in die Geschichte eingegangen ist.78 Er war mit seiner Familie 1890, zwei Jahre nach Ruth von der Leyens Geburt, nach Pilzen bei Preußisch Eylau im damaligen Ostpreußen übergesiedelt.79 Über familiäre Kontakte und eine Verbindung Ruth von der Leyens zu ihrem rechtskonservativen Onkel ist nichts bekannt. Als Landrat des Landkreises Guben und Oberministerialrat im Landwirtschaftsministerium war Wolfgang Kapp ab 1891 zumindest topographisch wieder näher gerückt. In welcher Weise Ruth von der Leyen durch die mütterliche Linie der Familie geprägt wurde und inwieweit dieser Einfluss ihren späteren Berufsweg mit bestimmte, ist nicht sicher zu beantworten. Allerdings lassen sich mit den starken pädagogischen Ambitionen, einer Affinität zu Amerika und einer weitgehend liberalen politischen Tradition – mit Ausnahme der Aktivitäten des Onkels Wolfgang und, wie noch zu zeigen sein wird, des Bruders Friedrich – biographische Übereinstimmungen finden, die auf den mütterlichen Familienzweig zurückgeführt werden können. Nach dem Tod der Mutter verblieb Ruth von der Leyen im väterlichen Haushalt; Alfred von der Leyen heiratete nicht wieder. Bis zu seinem Tod 1934 lebte die alleinstehende und berufstätige Ruth mit dem Vater in der elterlichen Wohnung, zuletzt in der Bayrischen Straße in Wilmersdorf.80

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1847 bis 1855 als Stadtkommandant fungierte. Über sie ist biographisch nichts weiter bekannt. Vgl. Gaertringen 1977a, 134. Ruth von der Leyen zit. n. Berger 1999, 11. Zum Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch sowie zur Person Wolfgang Kapp vgl. Cavallie 1995; Erger 1967; Gaertringen 1977b; Haffner 1993; Reichardt 1990. Wolfgang Kapp besaß dort ein Rittergut. Die Familie wechselte häufiger die Adresse und verlegte ihren Wohnsitz von Charlottenburg nach Wilmersdorf. Dort lebten die von der Leyens ab 1911 in der Bayrischen Str. 11. Vgl. http://adressbuch. zlb.de/viewAdressbuch.php?CatalogName=adre2007&ImgId=143991&intImgCount=-3&CatalogCa tegory=adress&Counter=&CatalogLayer=5 [eingesehen am 15.05.2015].

3.2 Die Sozialpädagogin Ruth von der Leyen

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Nur zwei der drei Geschwister Ruth von der Leyens konnten identifiziert werden, zunächst der in Bremen geborene Bruder Friedrich Gustav (1873–1966).81 Der namhafte Germanist, Philologe und Volkskundler heiratete 1901 die Kunst- und Portraitmalerin Helene Asher (1874–1950).82 Von 1899 bis 1910 lehrte von der Leyen an der Münchener Universität, seit 1906 als a. o. Professor. Von 1920 bis zu seiner vorzeitigen Emeritierung 1937 hatte er den Lehrstuhl für ältere deutsche Philologie an der Kölner Universität inne, wo er „insbesondere die ältere Germanistik, Altnordisch und deutsche Volkskunde“ vertrat.83 Im März 1937 erfolgte seine Ernennung zum Senator der Deutschen Akademie der Dichtung, einer Sektion der gleichgeschalteten Preußischen Akademie der Künste.84 Mehrfach hielt von der Leyen sich zu Gastprofessuren in den USA auf.85 Der vierzehn Jahre ältere Bruder Ruth von der Leyens zeigte sich früh als Vertreter einer völkisch-nationalen Germanistik.86 Schon in den zwanziger Jahren trat der Hochschullehrer, der auch pädagogische Ambitionen verfolgte, 87 wiederholt mit völkisch-nationalen und antisemitischen Äußerungen hervor. Wie sein Onkel Wolfgang Kapp war Friedrich von der Leyen ein dezidierter Gegner der Weimarer Republik und wendete sich vehement gegen die Vertreter der modernen Kunst und Literatur.88 Er machte insbesondere Juden als „zersetzende“ geistige Urheber für den Zusammenbruch 1918 mitverantwortlich und leistete der „Dolchstoßlegende“ Vorschub. Diese Ansichten vertrat er unverändert noch 1960, in seinen Erinnerungen bedauerte er das Scheitern des Kapp-Putsches und beklagte, dass dieses „häßliche Wort“ in die Geschichte eingegangen sei.89 81 Zur Person vgl. Conrady 1990, 56–76. 82 Über Helene Asher ist wenig bekannt. Vgl. die Stammtafel Asher, http://upload.wikimedia.org/wikipedia/de/f/f2/Stammtafel_asher.pdf [eingesehen am 15.05.2015]. 83 Vgl. Heimbüchel/Pabst 1988, 491, zit. n. Conrady 1990, 56. Trotz seiner Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Ideologie und seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der konservativen, nationalbewussten Germanistik geriet er 1936 in Konflikt mit dem NS-Regime, da seine Ehefrau weit zurückreichende jüdische Wurzeln hatte. Dies und eine studentische Denunziation, er habe in einer Vorlesung die neue Zeit herabgewürdigt, veranlassten von der Leyen, im Juli 1936 die vorzeitige Versetzung in den Ruhestand zu beantragen. Vgl. dazu im einzelnen Conrady 1990, 56–59. 84 Vgl. Klee 2007, 364 f. 85 Vgl. Rupp/Lang 1984, 547. 86 Conrady 1990, 10. 87 Friedrich von der Leyen 1916. 88 Sternheim bezeichnete er als „rassefremden“ Künstler, Wedekind, Schnitzler, Thomas und Heinrich Mann, Döblin, Remarque, Hauptmann und andere verdammte er als „Zivilisationsliteraten“ und warf ihnen Deserteurgesinnung vor. Vgl. Friedrich von der Leyen 1927, 29; ders. 1931, 11, zit. n. Conrady 1990, 70. Manchen Autoren unterstellte von der Leyen einen Mangel an „Deutschheit“ bzw. eine „jüdische Gesinnung“. Vgl. ders. 1927, 89. 89 Friedrich von der Leyen 1960 (unveröff.), 157, zit. n. Conrady 1990, 63. Noch in den 1980er Jahren galt Friedrich von der Leyen, der bis 1953 als Senior seines Faches in Köln und München tätig war, als

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

Bei der 1874 ebenfalls in Bremen geborenen Else von der Leyen, verheiratete Rosenthal, handelt es sich um die Schwester Ruth von der Leyens.90 Sie war eine der ersten Abiturientinnen, Studentinnen und Ärztinnen in Berlin. Nach Abschluss einer höheren Mädchenschule in Charlottenburg hatte Else die Gymnasialkurse der Frauenrechtlerin Helene Lange (1848–1930) in Berlin besucht.91 Als eines der ersten Mädchen legte sie 1896 ihr Abitur am Königlichen Luisengymnasium ab. Danach studierte sie Medizin in Berlin, Heidelberg und Halle und zählte zu den „ersten Studentinnen, die ihre gesamte Ausbildung in Deutschland absolvieren konnten“.92 1901 folgten Promotion und Approbation in Halle. Im Oktober desselben Jahres ließ Else von der Leyen sich in Berlin nieder und war als Kassenärztin bei der Betriebskrankenkasse der Großen Berliner Straßenbahn, beim kaufmännischen und gewerblichen Hilfsverein für weibliche Angestellte sowie in der Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen tätig. 1902 wurde sie eines der ersten weiblichen Mitglieder im Berliner Verein der freigewählten Kassenärzte. Am 26. September 1908 starb die verheiratete Else Rosenthal von der Leyen bei einem Hochbahnunglück in Berlin.93

Jugend und höhere Töchterbildung am Ende des 19. Jahrhunderts Ruth von der Leyen wuchs in einer aristokratischen und großbürgerlichen Familie in Charlottenburg auf. Die eigenständige Stadt nahe Berlin hatte sich im letzten Drittel des 19. Jahr-

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„der ehrwürdige Meister der deutschen Literaturwissenschaft“ und „Reckengestalt seines Faches“. Vgl. Conrady 1990, 69, 62 sowie Rupp/Lang 1984, 612; Hölderlin-Jahrbuch 11 (1958–1960) 288; Wapnewski 1980, I und Glier 1985, 434. Nach Kölch ist das Verwandtschaftsverhältnis ungeklärt. Vgl. Kölch 2006, 213, Fußnote 184. Ein Abgleich von Geburtsdatum und -ort Elses mit den biographischen Daten Alfred von der Leyens und dessen Sohn Friedrich sprechen jedoch dafür. Alfred von der Leyen und Luise Isabella Kapp heirateten 1872. Bis 1876 war der Jurist als Syndikus der Bremer Handelskammer tätig. Ein Jahr nach der Eheschließung, am 19. August 1873, wurde der Sohn Friedrich geboren. Das Geburtsdatum Elses fällt auf den 13. Oktober 1874. Zwei Jahre später verlegte die Familie ihren Wohnsitz nach Berlin, wo der Vater beim Reichseisenbahnamt tätig wurde. Vgl. Bleker/Schleiermacher 2000, 117, 121, 184 f., 196; Brinkschulte 1995, 183; Ziegeler 1993, 83–84. Auch die Tatsache, dass Alfred und Else von der Leyen von 1902 bis 1907 mit der gleichen Adresse verzeichnet sind – die Tochter mit dem Zusatz „Dr. med. appr. Ärztin“ – ist Beleg für das Verwandtschaftsverhältnis. Vgl. http://adressbuch.zlb.de/viewAdressbuch. php?CatalogName=adre2007&ImgId=143991&intImgCount=-3&CatalogCategory=adress&Counte r=&CatalogLayer=5 [eingesehen am 15.05.2015]. Zu Person und Werk vgl. Frandsen 1999; Schaser 2000; Klaßen 2003; Jacobi 2003, 199–215; Kuhne 2007. Zu diesen biographischen Angaben vgl. Brinkschulte 1995, 183. Auch diese Daten decken sich mit der Familienbiographie der von der Leyens und belegen das Verwandtschaftsverhältnis. Die Verheiratung muss 1908 erfolgt sein, im Berliner Adressbuch ist die Ärztin 1907 noch unter ihrem Mädchennamen verzeichnet, 1908 ist ihr Nachname mit Rosenthal von der Leyen angegeben.

3.2 Die Sozialpädagogin Ruth von der Leyen

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hunderts zu einem bedeutenden Industriestandort entwickelt und in rasantem Tempo den Status einer Großstadt erreicht.94 Obwohl Charlottenburg seit der Jahrhundertwende zu den vermögendsten europäischen Gemeinden zählte,95 bestimmten enorme soziale Gegensätze den Alltag der Stadt. Die rasch wachsende Industriearbeiterschaft, die zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachte, lebte unter elenden Bedingungen in dicht bebauten Arealen. Hier beherrschten fünfstöckige Wohnbauten mit Vorder- und Hinterhaus, engem Hof und wenig Tageslicht das Bild. Für das gehobene Bürgertum dagegen entstanden großzügig gebaute moderne Mietshäuser, die über Dienstboteneingang, Vorgärten und begrünte Innenhöfe verfügten.96 Die vornehmen Quartiere wie jene im Ortsteil Westend zogen mit ihren Villenkolonien, noblen Domizilen und schmucken Gärten wohlhabende Bankiers, Unternehmer und Kaufleute aus Berlin an. Ruth von der Leyens Familie, die in der Uhlandstraße wohnte, gehörte zu dem Drittel der gut situierten Bewohner Charlottenburgs. Das von der Leyen’sche Familienleben war geprägt von bildungsbürgerlichen Idealen, in dem Musikpflege, Theaterbesuche und Reisen breiten Raum einnahmen. Die vier Kinder erhielten privaten Schulunterricht. Mit dem Besuch der Höheren Mädchenschule kam die zehnjährige Ruth in den Genuss der zeitgenössisch üblichen allgemeineren „geistigen Bildung“, wie sie für Mädchen ihres Standes vorgesehen war.97 Das Lyzeum endete mit dem Realschulabschluss und schloss die für ein Studium qualifizierende Oberstufe, wie sie das Gymnasium für Knaben vorsah, von vornherein aus. Dem Besuch der Höheren Mädchenschule folgte ein zweijähriger Aufenthalt in einem ausgesuchten Mädchenpensionat.98

Sozialisation und berufliche Qualifikation in der bürgerlichen Frauenbewegung (1901–1912) Trotz ihrer sozialen Herkunft nahm die jugendliche Ruth von der Leyen die sozialen Notlagen Gleichaltriger und ihrer Familien in der Metropole Berlin intensiv wahr. Die Vermittlung dieser Erfahrungen erfolgte offenbar über ihr Engagement in den ehrenamtlich tätigen Mädchenund Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit, die 1893 auf Anregung Minna Cauers (1841–1922) und in Zusammenarbeit mit Jeannette Schwerin (1852–1899) ins Leben gerufen worden wa-

94 1893 hatte Charlottenburg 100.000 Einwohner, 1910 waren es bereits mehr als 300.000. Vgl. Kimmel/ Oesterreich 2005, 61. 95 Klimmel/Oesterreich 2005, 72. 96 Klimmel/Oesterreich 2005, 62 f. 97 Berger 1999, 11. 98 Berger 1999, 11.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

ren.99 Die Initiatorinnen dieses modernen Vereinstypus der Sozialfürsorge wendeten sich vor allem an Mädchen und junge Frauen des gehobenen Bürgertums, um diese zur freiwilligen Betätigung im Bereich der Armen- und Wohlfahrtsfürsorge aufzurufen. Auf der Basis einer ethisch begründeten Verpflichtung gegenüber den ärmeren Bevölkerungsschichten vermittelten sie ehrenamtliche Helferinnen an die verschiedenen Wohlfahrtsorganisationen.100 Die Aktivitäten der Mädchen- und Frauengruppen beinhalteten auch Angebote zur theoretischen und praktischen Qualifizierung für ihre Betätigung. Mit der Eröffnung des ersten Jahreskurses im Jahr 1899 markierte die Sozialreformerin und Feministin Alice Salomon (1872–1948) den Beginn der systematischen Ausbildung für die Soziale Arbeit in Deutschland.101 Aus den Jahreskursen entwickelte sie einen zweijährigen Ausbildungsgang, der mit der Gründung der ersten sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg 1908 institutionalisiert wurde.102 Es ist anzunehmen, dass Ruth von der Leyen zwischen 1901 und 1904 zunächst in den Mädchen- und Frauengruppen aktiv war. Mit ihrem frühen Engagement für sozial Schwache knüpfte sie schon zu diesem Zeitpunkt Kontakte zu Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung.103 Nach dem Tod der Mutter 1903 unternahm die 16-jährige Ruth im darauf folgenden Jahr, zwischen Oktober 1904 und August 1905, eine Studienreise in die USA.104 Mit dem Ziel, Konzert- und Opernsängerin zu werden, nahm sie im Anschluss an den Auslandsaufenthalt ein mehrjähriges privates Musikstudium auf, das sie in New York und Berlin absolvierte.105 Mit diesem Schritt unterschied sie sich von anderen jungen Frauen aus be99 Greven-Aschoff 1981, 78. Jeanette Schwerin und Minna Cauer gehörten zu den führenden Personen der bürgerlichen Frauenbewegung. Cauer war Vertreterin des radikalen Flügels, Mitgründerin mehrerer Frauenvereine und Herausgeberin der Zeitschrift „Die Frauenbewegung“ 1895–1918. Vgl. Wagner/ Wenzel 2009, 37. Jeannette Schwerin war schon 1882 maßgeblich an der Gründung der „Gesellschaft für ethische Kultur“ beteiligt, die ein Jahr später eine Auskunftsstelle über die in Berlin bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen einrichtete. Vgl. Meyer-Renschhausen 1989, 171; Wagner/Wenzel 2009, 47. 100 Sie wurden in Krippen, Horten, Waisenhäusern, Blindenheimen, Volksküchen, in Abendheimen oder Freizeitclubs für Arbeiterinnen sowie in der Krankenhausfürsorge tätig, vermittelten Stellen für ehrenamtliche Kräfte, betrieben Kleiderkammern, erteilten unentgeltlichen Klavierunterricht oder führten Spaziergänge mit Kleinrentnern durch. Vgl. Greven-Aschoff 1981, 78. 101 Feustel 2011, 43. 102 Die Einrichtung wurde von den Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit und vom Berliner Verein für Volkserziehung getragen. Das ehemalige Schulhaus in Berlin-Schöneberg ist heute Sitz des Alice-Salomon-Archivs. Vgl. Sachße 2002, 103 ff. 103 Vgl. dazu grundlegend Brinkschulte 1995; auf Berlin bezogen: Sachße 1986, 116–125; Kölch 2006, 212; Grossmann 1989, insbesondere 110 f. 104 Luise Isabella von der Leyen starb am 21. Oktober 1903. Vgl. Berger 1999, 11. 105 Berger 2000a, 366. In einem anderen Beitrag nennt der Autor Berlin als Ort, an dem von der Leyen Musik studiert hatte. Vgl. Berger 1998, 360. An anderer Stelle heißt es, sie habe ihre Studien „fern von daheim“ betrieben. Vgl. Nachruf Ruth von Leyen (anonym). In: Die Frau 1935/36, 113.

3.2 Die Sozialpädagogin Ruth von der Leyen

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güterten Familien, denen es in der Regel nicht erlaubt war, eine Ausbildung aufzunehmen. Den Kontakt zu den Mädchen- und Frauengruppen erhielt sie anscheinend aufrecht und lernte insbesondere deren Berliner Protagonistinnen kennen, darunter die in der Öffentlichkeit stehenden prominenten Frauenrechtlerinnen Alice Salomon, Helene Lange und Gertrud Bäumer (1873–1945) sowie auch Elsa von Liszt (1878–1946),106 die Tochter des Berliner Strafrechtlers und Rechtswissenschaftlers Franz von Liszt (1851–1919).107 Elsa von Liszt war zeitgleich mit der zehn Jahre jüngeren Ruth von der Leyen von 1903 bis 1904 ehrenamtlich im Bereich Armen- und Wohlfahrtspflege der Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit in Berlin tätig, von 1911 bis 1918 gehörte sie zu deren Vorstandsmitgliedern. Darüber hinaus zählte sie seit 1908 zu den fest angestellten Mitarbeiterinnen der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge unter Leitung Frieda Duensings. Im Jahr darauf übernahm sie die Leitung der Jugendgerichtshilfe der DZJ und gilt heute als Pionierin auf diesem Gebiet. Dem Einfluss Elsa von Liszts und Alice Salomons ist es offenbar zu verdanken, dass sich Ruth von der Leyen nach sieben Jahren Musik- und Gesangsstudium gegen eine Existenz als Künstlerin entschied. Stattdessen begann sie 1912 eine Ausbildung zur staatlich anerkannten Wohlfahrtspflegerin an der sozialen Frauenschule in Berlin, an der die Juristin Duensing das Fach Rechtskunde zu unterrichtete.108 Der persönliche Kontakt zur Geschäftsführerin der DZJ und zu deren Mitarbeiterin Elsa von Liszt, aber auch die Tatsache, dass ihr Vater Mitglied der Zentrale war, gaben möglicherweise den Ausschlag, dass Ruth von der Leyen das im Rahmen ihrer zweijährigen Ausbildung vorgesehene Praktikum in der Wohlfahrtsstelle für Jugendliche (Jugendhilfsstelle) beim Polizeipräsidium in Berlin-Mitte absolvierte.109 Diese Institution der polizeilichen Jugendfürsorge war 1909 auf Anregung des Deutschen evangelischen Frauenbundes und der DZJ eingerichtet worden.110 Sie diente als Anlaufstelle für gefährdete, verwahrloste und misshandelte Kinder und Jugendliche, insbesondere für „sittlich gefährdete und verwahrloste Mädchen und Frauen“, die von der Polizei wegen des

106 Zur Person vgl. Reinicke 1998b. 107 Zu Person und Werk vgl. Frommel 1985; Herrmann 2001. 108 Berger 2000a, 365; Kölch 2006, 213. Mit der Wohlfahrtspflegerin etablierte sich ein neues Berufsfeld für Frauen, das die dauerhafte Unterstützung und die Befähigung zur Selbsthilfe „der gesundheitlich, moralisch oder wirtschaftlich Schwachen“ zum Ziel hatte. Der Begriff Wohlfahrtspflegerin, Sozialbeamtin oder Fürsorgerin bezeichnete „jede weibliche Persönlichkeit, die ein soziales Amt gegen Gehalt ausübt und für die Ausübung dieser Tätigkeit entsprechend vorgebildet ist“. Vgl. Bernays 1930, 867. 109 Zur Struktur, zu den Inhalten und den Dozentinnen des Ausbildungsgangs vgl. Alice Salomon Archiv/ASH Berlin, Soziale Frauenschule: Unterrichtsplan für das Schuljahr Oktober 1912/13, 3–7. 110 Trägerin war bis 1918 die DZJ, danach der Polizeipräsident Berlin. Mit der Gründung Groß-Berlins 1920 ging die Wohlfahrtsstelle im Polizeipräsidium an das Landeswohlfahrts- und Jugendamt über und fiel in die Zuständigkeit des Magistrats der Stadt. Vgl. Erkens 1930, 551–554.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

Verdachts der gewerbsmäßigen Prostitution aufgegriffen wurden.111 Der Tätigkeitsbereich umfasste die Mobilisierung von Hilfen „besonders für psychopathisch Veranlagte“ zur Vermeidung von Schutzhaft in Gefängnissen,112 die Berufsberatung der aufgegriffenen Jugendlichen und die Errichtung von Beobachtungs- und Jugendarbeitsheimen mit Familiencharakter auf dem Lande.113 Die Aufgabe der leitenden Polizeifürsorgerin bestand jedoch nicht nur in der Veranlassung der notwendigen Fürsorgemaßnahmen,114 sondern auch in der pädagogischen Einwirkung auf die gefährdeten Mädchen und Jungen. In der polizeilichen Jugendhilfsstelle traf Ruth von der Leyen auf die verantwortliche Fürsorgedame, die erste Polizeiassistentin in Berlin, Margarete Dittmer (1872–1943), mit der sie auch im Rahmen ihrer weiteren Berufstätigkeit eng zusammenarbeiten sollte.115

Leiterin der Jugendgerichtshilfe (1913–1921) Im Anschluss an das Praktikum, und offenbar noch vor dem regulären Abschluss ihrer Ausbildung, wurde Ruth von der Leyen im April 1913 in der Abteilung Jugendgerichtshilfe der DZJ tätig.116 Diese Institution war auf Initiative der Zentrale und des Berliner Amtsgerichtsrats und Vormundschaftsrichters Paul Köhne (1856–1917) eingerichtet worden und entstand 1908, zeitgleich mit dem ersten Berliner Jugendgericht am Amtsgericht Berlin-Mitte. Gemeinsam mit Elsa von Liszt und Maria Hašak, über die weiter nichts bekannt ist, bildete Ruth von der Leyen das Leitungsgremium dieses Referats.117 Von der Leyen selbst benannte ein Schlüsselerlebnis, das für ihren weiteren beruflichen Werdegang und ihr Interesse an den Problemen jugendlicher Kriminalität entscheidend wurde: „Von einer Sitzung, in der Fri[e]da Duensing der mit gleichgültigem Ton über das Mordverbrechen eines Jugendlichen berichtenden Beamtin die Akten entriß, um mit allem Schauder 111 Die Fürsorgestelle beim Berliner Polizeipräsidium wurde auf Betreiben Duensings im Mai 1918 zur Wohlfahrtsstelle erweitert. Dieses besondere Dezernat zeichnete sich dadurch aus, dass es „(im Gegensatz zu den anderen Dezernaten) weiblicher Leitung untersteht.“ Vgl. Änderungen in der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge 1919, 120. 112 „Schutzhaft“ (heute: Schutzgewahrsam) meint die vorübergehende Inhaftierung einer Person ohne Haftbefehl zum Selbstschutz der betreffenden Person vor einer drohenden Gefahr für Leib und Leben oder um die unmittelbar bevorstehende Begehung einer Straftat zu verhindern. 113 Das Konzept diente als Vorbild der 1927 gegründeten Weiblichen Kriminalpolizei. 114 Synonyme Berufsbezeichnungen waren Polizeipflegerin, Fürsorgedame, Fürsorgeschwester oder Polizeiassistentin. 115 Zur Person vgl. Erkens 1930, 551–554 und, unter Auslassung der geschlechtsspezifischen Aspekte ihrer Tätigkeit, Reinicke 1998a. 116 Berger 1998, 360. 117 Kramer 1935, 307.

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und aller Ergriffenheit den Werdegang und die Tat des jungen Menschen zu schildern, schrieb sie [Ruth von der Leyen] später: ‚Da habe ich gewusst, was Jugendgerichtsbarkeit will und tun muß: mit Leidenschaftlichkeit das einzelne Kind, den einzelnen Jugendlichen erfassen und nacherleben.‘“118

Die Sozialpädagogin beschäftigte sich insbesondere mit der Frage, inwieweit eine „abnorme Anlage“ als Ursache von jugendlicher Kriminalität, Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten anzusehen und in welchem Umfang pädagogische Maßnahmen zu deren Vorbeugung oder Beseitigung geeignet seien. Mit der Tätigkeit in der Jugendgerichtshilfe setzte auch Ruth von der Leyens umfangreiche Publikationstätigkeit ein.119 Die Arbeit mit delinquenten Jugendlichen bildete den Ausgangspunkt ihres Wirkens für die Organisation und Konzeptionalisierung der Psychopathenfürsorge in Deutschland. In Franz Kramer fand Ruth von der Leyen den kongenialen ärztlichen „Mitarbeiter und Freund“,120 der seine Offenheit gegenüber anderen Fachdisziplinen, methodischen Vorgehensweisen und Denkstilen bereits unter Beweis gestellt hatte. Gemeinsam mit ihm entwickelte sie in den folgenden Jahren einen eigenständigen theoretischen Ansatz für die wissenschaftliche Erforschung der jugendlichen „psychopathischen Konstitution“ und die Fürsorge für „jugendliche Psychopathen“. Der Psychiater und die Sozialpädagogin trafen vermutlich im Verlauf des Jahres 1913 erstmals zusammen. Franz Kramer war bereits ein Jahr lang an der Charité und als Gutachter für die Berliner Jugendgerichtshilfe tätig, als Ruth von der Leyen in die Leitung des Referates eintrat.

3.3 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in den Jahren des Ersten Weltkriegs Jugendgericht, Jugendgerichtshilfe und Jugendfürsorge: Entwicklung eines eigenständigen theoretischen Ansatzes Im Schnittfeld der gemeinsamen Tätigkeit standen zunächst jene Mädchen und Jungen, die strafrechtlich verfolgt und vor dem Jugendgericht angeklagt wurden. Zum breiten Spektrum der jugendlichen Delikte zählten Diebstähle, Unterschlagungen und Hehlerei, Landstreicherei, Betteln und Obdachlosigkeit, Körperverletzung, Fälle von Misshandlung anderer Kin118 Nachruf Ruth von Leyen (anonym). In: Die Frau 1935/36, 114. 119 Die erste Veröffentlichung verfasste sie gemeinsam mit Elsa von Liszt. Vgl. dies./Leyen 1913. 120 Nachruf Ruth von Leyen (anonym), in: Die Frau 1935/36, 113

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

der, Brandstiftung, Tierquälerei und sogenannte Sittlichkeitsverbrechen wie gewerbsmäßige Prostitution und Zuhälterei, sexuelle Übergriffe und homosexuelle Kontakte.121 Im Einzelfall waren Jugendliche auch des versuchten bzw. des Mordes angeklagt.122 Die Jugendgerichtshilfe verfolgte den rechtsreformerischen Grundsatz „Erziehung vor Strafe“ und begleitete angeklagte Minderjährige im Rahmen ihres Strafverfahrens. Zu ihren Aufgaben gehörte die Erkundung der häuslichen Erziehungsverhältnisse und die Feststellung von Erziehungsmängeln, die Vertretung des Erziehungsanspruches durch gutachterliche Vorschläge für den Jugendrichter und die Bereitstellung erzieherischer Hilfen, insbesondere die Übernahme sogenannter Schutzaufsichten.123 Diese gerichtlich angeordnete Maßnahme beinhaltete die vorübergehende erzieherische Aufsicht und Kontrolle, aber auch die unterstützende Begleitung straffällig gewordener Minderjähriger und erfolgte nach Möglichkeit in enger Abstimmung mit den Eltern oder den gesetzlichen Erziehungsberechtigten.124 Auf Initiative Ruth von der Leyens wurde die Schutzaufsicht später auch auf den Zeitraum einer Bewährungsstrafe ausgedehnt.125 Aus Sicht der zeitgenössischen bürgerlichen Akteur_innen, die sich in einem multiprofessionellen Netzwerk der Fürsorge für das „abnorme“ Kind zusammenfanden, existierte eine eindeutige Verbindung zwischen (sittlicher) Verwahrlosung, Erziehungsschwierigkeiten und jugendlicher Kriminalität. So äußerte sich etwa der Psychiater Adalbert Gregor (1877–1971): „Das markanteste Symptom beginnender V.[erwahrlosung] bildet hier das Schulschwänzen, welches meist rasch weitere Entgleisungen nach sich zieht. Das die Schule versäumende Kind muß sich in irgendeiner Weise herauslügen, seine Zeit auf der Straße verbringen, es läuft dabei Gefahr, in Läden oder auf dem Markte Diebstähle zu begehen oder zu diesen und ähnlichen Verfehlungen verleitet zu werden.“126 121 122 123 124 125 126

Breslauer Zentrale für Jugendfürsorge 1911, 11. Leyen 1917e. Vgl. Liszt 1930, 351; Fritsch 1999, 65 f. Noppel 1930, 701. Liszt 1927, 30. Gregor 1930, 829. Der Psychiater Adalbert Gregor war ab 1914 an der Heilanstalt Leipzig-Dösen sowie am Aufnahme- und Beobachtungsheim Kleinmeusdorf für Fürsorgezöglinge des Kreises Leipzig tätig (Gregor 1917, 1). Anfang 1918 richtete er die psychiatrische Beratungsstelle beim Leipziger Jugendamt ein (Thumm 1924, 100). Im selben Jahr erschien die viel beachtete, gemeinsam mit der Psychologin Else Voigtländer verfasste, medizinisch-psychologische Studie über die Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen. Vgl. Gregor/Voigtländer 1918. Wenig später wechselte er als Direktor des Fürsorgeerziehungsheims nach Flehingen und wurde mit der psychiatrischen Leitung bzw. Aufsicht aller badischen Fürsorgeerziehungsanstalten betraut. Vgl. Leyen/Marcuse 1928, 475. Wie Voigtländer befürwortete auch Gregor schon Anfang der 1920er Jahre rassenhygienische Maßnahmen als Mittel zur Bekämpfung von Verwahrlosung. Beide gingen z. B. von der Vererblichkeit „krimineller Anla-

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In Bezug auf die Ursachen jugendlicher Kriminalität setzte sich unter den in der Jugendgerichtshilfe tätigen Expert_innen in zunehmendem Maße die Auffassung durch, nach der eine „soziale Entgleisung“ nicht nur Milieueinflüssen geschuldet war, sondern „wohl ebenso häufig die […] fast unvermeidliche Folge darstellt von Mängeln der psychischen Gesamtkonstitution des einzelnen Kindes, die wir kurz als fehlerhafte Anlage zu bezeichnen pflegen“.127 Die Auffassung, dass sich unter den straffälligen Kindern und Jugendlichen „ein großer Prozentsatz psychopathischer Individuen“ befände, teilten auch Ruth von der Leyen und Franz Kramer.128 Letzterer bezifferte deren Anteil auf etwa fünfzig Prozent. Doch in der gemeinsamen Beschäftigung mit delinquenten Mädchen und Jungen entwickelten von der Leyen und Kramer in den Jahren 1913 bis 1918 eine differenzierte Sichtweise auf die jugendliche „psychopathische Konstitution“. Insbesondere Kramer revidierte dabei seine frühere, stärker anlagetheoretisch geprägte Position. Von der Leyen dürfte erst über die Zusammenarbeit mit dem Psychiater das Psychopathie-Konzept näher kennengelernt haben. Im Ergebnis der neuen Überlegungen relativierte Kramer die Aussagekraft der statistischen Angaben zu den Ursachen jugendlicher Kriminalität und betonte wiederholt, dass sich die „psychopathischen Konstitutionen“ vielfach „auf der Grenze zwischen dem Normalen und Krankhaften bewegen, und die Grenzfestsetzung zwischen dem, was wir als normal und krankhaft anzusehen haben, […] daher immer einer gewissen Willkür unterworfen [ist]“.129 Zwar vertrat er weiterhin die Auffassung, dass „die psychopathische Anlage für das unsoziale Verhalten, für die Kriminalität“ eine „große Bedeutung“ hätte, doch seien es primär „ungünstige Milieuverhältnisse“, die auf der Basis einer solchen Disposition Verhaltensauffälligkeiten hervorbrächten. „Wir dürfen […] den Einfluß der Anlage nicht überschätzen“, gab er zu bedenken. Das gängige und „vielfach missbrauchte Schlagwort vom geborenen Verbrecher“ führe zu dem falschen Schluss, straffällig gewordene Jugendliche als hoffnungslose „Fälle“ anzusehen, Versuche der „Besserung“ für aussichtslos zu halten „und nur auf Sicherungsmaßnahmen bedacht zu sein.“130 Von der Leyens und Kramers Ansatz zur Deutung „psychopathischer Konstitution“ ging von der Wechselwirkung zwischen einem Anlagemoment und ungünstigen äußeren Bedin-

127 128 129 130

gen“ aus und hielten es für geboten, „die Produktion einer minderwertigen Nachkommenschaft zu verhindern.“ Als Gegenmaßnahme empfahlen sie die systematische Asylierung „erbminderwertiger“ Personen und Eheverbote. Die Sterilisation lehnten Gregor und Voigtländer zwar grundsätzlich nicht ab, hielten diese Maßnahme aber aufgrund ihrer Radikalität für nicht realisierbar. Vgl. Gregor/Voigtländer 1924, 74. Stier 1920a, 11. Kramer 1920, 39. Kramer 1920, 40. Kramer 1920, 45.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

gungen aus, die für die Mehrzahl straffällig gewordener Jugendlicher zu einer größeren Gefährdung führe. „Untersuchungen, die wir kürzlich gemeinsam mit Frl. von der Leyen begonnen haben, über den weiteren Lebensgang der jugendlichen Angeklagten, scheinen mir, soweit die Resultate bis jetzt vorliegen, zu zeigen, daß das weitere Schicksal in erster Linie durch die Gestaltung der Milieuverhältnisse bedingt wird“,131

erläuterte Kramer. Nur für eine geringe Zahl jugendlicher „Psychopathen“ hielt er „ärztliche Maßnahmen im eigentlichen Sinne“ für angezeigt. „Es handelt sich ganz überwiegend um erzieherische Maßnahmen, aber um solche, deren Auswahl und Durchführung unter ärztlicher Beratung steht.“132 Für die Fernhaltung jugendlicher Krimineller und Gefährdeter von schädigenden Milieueinflüssen reiche es in der Regel bereits aus, sie „unter den Einfluß von Erziehern zu bringen, welche besondere Begabung und besondere Erfahrung auf diesem Gebiete dazu befähigt.“133 Im Rückblick auf die ersten Jahre seiner Zusammenarbeit mit von der Leyen für die Jugendgerichtshilfe stellte Kramer fest, in dieser Zeit sei in ihnen die Überzeugung gereift, „dass […] durch frühzeitige Feststellung und heilpädagogische Einwirkung eine Vorbeugung in der asozialen Entwicklung der Kinder ermöglicht wird“.134 Mit Blick auf die Entwicklungspotentiale und die Erziehbarkeit psychopathischer Kinder und Jugendlicher verschob sich auch die Wahrnehmung jugendlicher Kriminalität. Sie galt Kramer und von der Leyen nicht länger als ein besonderer, in sich geschlossener Problembereich, sondern als ein Teilproblem kindlicher Erziehungsschwierigkeiten überhaupt.135 Nach dreijähriger Zusammenarbeit in der Jugendgerichtshilfe erhielt Ruth von der Leyen 1916 den Auftrag, die von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge an die Charité weitergeleiteten Fälle psychopathischer Jugendlicher – Jugendgerichtsfälle und Fälle allgemeiner Gefährdung – einmal wöchentlich gemeinsam mit einem Psychiater mündlich zu beraten.136 Mit der Organisation und Durchführung dieser Einzelfallbesprechungen gelang es ihr noch unter den Bedingungen des Krieges, eine interdisziplinäre Praxis zu etablieren, die die fachliche Kooperation von Jugendfürsorge und Psychiatrie zugunsten des einzelnen Kindes beförderte und in den 1920er Jahren zum festen Bestandteil jugendgerichtlicher Arbeit wurde.137 Von der 131 132 133 134 135 136 137

Kramer 1920, 46. Kramer 1920, 47 f. Kramer 1920, 48. Kramer 1935, 308. Kramer 1920, 38. Kramer 1935, 308. Wer sie beauftragte, wird nicht benannt. Die Einzelfallberatungen wurden bis in die 1930er Jahre mit einer Vertreterin der Jugendgerichtshilfe

3.3 in den Jahren des Ersten Weltkriegs

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Leyen knüpfte damit an die Vorarbeiten ihrer Mentorin Frieda Duensing an, die ihrerseits schon 1907 psychiatrische Untersuchungen der in der DZJ „als abnorm auffallenden Kinder“ in der Charité veranlasst hatte.138 Mit den Einzelfallbesprechungen etablierte sie jedoch eine neue und weitergehende sozialpädagogische Praxis, die zum integralen Bestandteil der späteren, institutionalisierten Psychopathenfürsorge wurde. Franz Kramer beschrieb rückblickend von der Leyens professionelle Haltung zu dieser interdisziplinären Vorgehensweise als ein „enges Zusammenarbeiten mit dem Psychiater bei der Verfolgung der erzieherischen Ziele, unter sorgfältiger Wahrung der gegenseitigen Kompetenzen“.139 Aus der gemeinsamen Tätigkeit von Medizin und Jugendfürsorge, von Psychiatrie und Sozialpädagogik im Kontext jugendlicher Delinquenz entwickelte sich die Notwendigkeit einer Zentralisierung der Arbeit mit psychopathischen Kindern und einer Einrichtung, in der die Erfahrungen im Umgang mit dieser Gruppe zusammengeführt und systematisch weiter verfolgt werden konnten. Auf Initiative von der Leyens konstituierte sich daher im Anschluss an die in Charlottenburg stattfindende „Kriegstagung“ der Deutschen Jugendgerichtshilfen im April 1917 die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ) unter dem Vorsitz Franz von Liszts.140 Die Geschäftsführung teilten sich erneut Elsa von Liszt und Ruth von der Leyen.141 Primäre Aufgabe der DVJJ war die Einflussnahme auf die Gesetzgebung und die Praxis der Jugendgerichtsbarkeit. Darüber hinaus erstellte sie Gutachten und veröffentlichte einschlägige Schriften, erteilte Auskünfte und gab die jährliche Statistik zur Jugendkriminalität heraus.

„Versuchsanstalt“ der Psychopathenfürsorge – das Heilerziehungsheim Templin Eine der zentralen Einrichtungen der frühen Psychopathenfürsorge war das unweit von Berlin gelegene Heilerziehungsheim für unbemittelte psychopathische Knaben in der uckermär-

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eines Berliner Bezirksjugendamtes und einem Psychiater der Charité durchgeführt. Vgl. Leyen 1931, 635; Kramer 1935, 307 f.; Kölch 2006, 219. Vgl. in diesem Band, S. 47 f. Kramer 1935, 307. Es handelte sich um den 4. Deutschen Jugendgerichtstag, der ursprünglich bereits für 1914 geplant gewesen und wegen des beginnenden Krieges ausgefallen war. Vgl. Pieplow 1992, 9. Die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen war zunächst ein Ausschuss der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, der mit deren Auflösung im Jahr 1920 selbständig wurde. Vgl. Liszt 1927, 7. Elsa von Liszt leitete, neben ihrem Amt als Geschäftsführerin der DVJJ, zwischen 1924 und 1933 auch die Abteilung für Jugendgerichtshilfe im Berliner Jugendamt. Vgl. Pieplow 1992; Reinicke 1998b, 366. Franz Kramer übernahm den Vorsitz der 1919 gegründeten Unterkommission Jugendgericht und Arzt der DVJJ. Vgl. Leyen 1931, 636.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

kischen Kleinstadt Templin.142 Hier löste Franz Kramer mit Kriegsbeginn den Privatdozenten für Psychiatrie und Neuropathologie und Militärarzt Ewald Stier in der nervenärztlichen Aufsicht über diese Modelleinrichtung für deviante Jungen im schulpflichtigen Alter ab. Kramer führte in Abstimmung mit dem Verwaltungsrat die unentgeltliche Untersuchung aller für die Unterbringung in Templin infrage kommenden Jungen durch.143 Über diese Tätigkeit erwarb er sich Routine in der Beobachtung und Klassifizierung auffälligen kindlichen Verhaltens, wobei die Zuordnung zur Psychopathie der Abgrenzung von Formen des „Schwachsinns“ auf der einen, und von kindlichen „Unarten“ auf der anderen Seite diente.144 Diese Einteilung entsprach dem Profil des Heilerziehungsheims, das Psychopathie als einziges Aufnahmekriterium vorsah und sich explizit gegenüber „schwachsinnigen“, verwaisten, verwahrlosten und Knaben in Fürsorgeerziehung abgrenzte.145 Gleichzeitig machte Franz Kramer sich mit dem Fürsorgekonzept der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge vertraut, das die unterschiedlichen Kompetenzen von Arzt und „besonders ausgebildeten Erziehungskräften“ zusammenführte, wobei die Heilerziehung nach Möglichkeit unter ärztlicher Leitung, zumindest aber unter maßgeblicher Beratung des Arztes erfolgen sollte.146 Zwar fiel das Heilerziehungsheim nicht in das Ressort der Jugendgerichtshilfe, doch waren die Übergänge zwischen beiden Arbeitsgebieten fließend, und über die vielfältigen personellen Verbindungen, die sich in der DZJ bündelten, bestanden auch zahlreiche inhaltliche Überschneidungen. Einer dieser Berührungspunkte betraf das Vorhaben, Horte oder Tagesheime für psychopathische Kinder, darunter auch für straffällig gewordene Mädchen und Jungen, einzurichten.147 Im Hinblick auf jene Ursachen, die nach Beendigung des Krieges „für eine weitere Steigerung der Kriminalität in die Erscheinung treten werden“, hatten Ruth von der Leyen und Elsa von Liszt schon 1915 dazu aufgerufen, „die Erfahrungen der Kriegszeit auch für den Frieden nutzbar [zu] machen“.148 Die Einrichtung und der Ausbau von Horten für die Gruppe der älteren Jungen, Beschäftigungs- und Bildungsangebote in Schülerwerkstätten, Lesehallen und Klubs, die Fortsetzung der Schutzaufsicht für „die große Zahl der während des Krieges straffällig gewordenen Jugendlichen“ und die „eingehende pflegerische 142 Vgl. in diesem Band, S. 47 f. 143 BLHA, Rep. 2 A II Templin, Nr. 1491, hier: Druckschrift: Das Heilerziehungsheim für psychopathische Knaben in Templin i. M., 3. Seite. 144 Vgl. Fürstenheim 1930, 4. 145 BLHA, Rep. 2 A II Templin, Nr. 1491, hier: DZJ ([Hermann] von Soden) an Landratsamt Templin, 27.09.1913 und Druckschrift: Das Heilerziehungsheim für psychopathische Knaben in Templin i. M., 2. Seite. 146 Ebenda. 147 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Sitzungsbericht vom 29.10.1917, o. Bl. 148 Leyen/Liszt 1915, 6.

3.3 in den Jahren des Ersten Weltkriegs

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Behandlung ihrer ganzen Familie“ gehörten zu den geplanten Maßnahmen eines Kooperationsverbundes von Jugendpflege, Jugendfürsorge und Jugendgerichtshilfe.149

Erster Weltkrieg als Katalysator der Psychopathenfürsorge Das erste Jahr der Zusammenarbeit Franz Kramers und Ruth von der Leyens war noch in die Zeit des Friedens gefallen. Unmittelbar mit Kriegsbeginn sollte Kramer einberufen werden, Karl Bonhoeffer setzte sich jedoch erfolgreich dafür ein, dass sein Oberarzt für den Dienst in der Klinik freigestellt wurde.150 Zwischen 1914 und 1918 leitete Kramer die Männerstation der Nervenklinik und die Nervenpoliklinik für Männer, wo er neurologisch erkrankte Patienten und vor allem hirnverletzte Soldaten begutachtete. Daneben war er als fachärztlicher Beirat des III. Heeres-Korps tätig und unterstützte Bonhoeffer in der klinischen Praxis und in der Lehre. Fachlich befasste Kramer sich in dieser Zeit mit den unterschiedlichen neurologischen Auswirkungen von Schussverletzungen und galt als geschätzter Gutachter – u. a. für das Militärversorgungsgericht in Berlin.151 Seine Tätigkeit für das Berliner Jugendgericht und sein Engagement in der Jugendfürsorge setzte er ebenfalls fort. Die Praxis des Jugendgerichtes veranschaulicht die negativen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen. Die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge registrierte einen stetigen Anstieg jugendlicher Kriminalität und eine deutliche Zunahme der Verwahrlosung unter den Minderjährigen. Nach einem bemerkenswerten Rückgang der Delinquenz während des ersten Vierteljahres nach Kriegsbeginn verzeichnete Ruth von der Leyen bereits für die letzten Monate des Jahres 1914 einen ebenso raschen Neuanstieg der Anzahl Jugendlicher, die dem Berliner Jugendgericht zugewiesen wurden.152 Beunruhigend war der hohe Anteil straffällig gewordener Minderjähriger in den Altersgruppen der 12- bis 14-Jährigen und der 14- bis 16-Jährigen. Vor dem Hintergrund, dass die 16- bis 18-Jährigen, „die sich freiwillig zur Fahne gemeldet haben und die sonst den wesentlichen Bestandteil der jugendlichen Delinquenten bildeten“,153 statistisch entfielen, führte die Kriminalität der schulpflichtigen und schulentlassenen Jugendlichen zu einer deutlichen Erhöhung der Gesamtkriminalitätsrate. 149 Leyen/Liszt 1915, 6. 150 Neumärker 2005, 85. 151 Kramer 1915a; 1915b; 1916a; 1916b; 1917b; Kramer/Axhausen 1917; Kramer 1919b; 1919c; 1921d; 1922d; 1922e, 1922f. Kramer erstellte darüber hinaus Gutachten für das Landgericht und das Versorgungsamt in Berlin, das Bezirksamt Charlottenburg und die Eisenbahndirektion Osten. Vgl. UAHUB, Nervenklinik, Nr. 38. 152 Vgl. Leyen 1915, 4. 153 Leyen 1915, 5.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

Nach einer 1915 durchgeführten Umfrage unter den deutschen Jugendfürsorgevereinen lagen die Ursachen für den bedenklichen Anstieg jugendlicher Delinquenz und Verwahrlosung „in der Abwesenheit des Vaters, der Erwerbstätigkeit der Mütter, bei einem veränderten, oft unregelmäßigen Schulunterricht“ und, bezogen auf die Jungen, „vor allem in dem Abenteuerdrang und der Tatenlust der Jugend, der sich jetzt in erhöhtem Maße auszuleben sucht“.154 Generell galten die statistischen Aussagen vor allem für die männliche Jugend, über das Ausmaß und die Qualität weiblicher Kriminalität konnte die Abteilung Jugendgerichtshilfe der DZJ keine zuverlässigen Aussagen treffen. Die Mädchen wurden vorwiegend wegen gewerbsmäßiger Prostitution aufgegriffen und aufgrund der häufig vorkommenden Infektionen mit einer Geschlechtskrankheit in der Regel nicht an die Jugendgerichtshilfe überwiesen, sondern vorläufig in Fürsorgeerziehung untergebracht. Während die sozialen Missstände zunahmen, standen gleichzeitig immer weniger Ressourcen zur Unterstützung verwahrloster Mädchen und Jungen zur Verfügung. Symptomatisch für diese Situation war die wirtschaftliche Lage des Heilerziehungsheims Templin, die freilich schon seit dessen Gründung immer wieder zu Klagen Anlass gegeben hatte. Im Verlauf des Ersten Weltkrieges verschärfte sich das Problem, da die Gelder für die Pflege der Kinder weder von den Behörden, noch von den Eltern oder durch Spenden aufgebracht werden konnten. Die Stiftung des renommierten Leipziger Bankhauses C. H. Plaut, die eine Zuwendung für die Unterbringung besonders bedürftiger psychopathischer Jungen aus den unteren sozialen Schichten noch Ende 1913 in Aussicht gestellt hatte, zog diese Zusage unmittelbar mit Kriegsbeginn wieder zurück.155 Die Ernährungssituation im Heim sei, so Ewald Stier lapidar, „eine zeitlang ungünstig“ gewesen. Für notwendige Instandsetzungsarbeiten im und am Haus und für Anschaffungen waren keine Mittel vorhanden, und auch ein geplanter Neubau zur Erweiterung der Einrichtung scheiterte an den Verhältnissen.156 Trotz der prekären materiellen Lage forderte die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge im dritten Kriegsjahr ein verstärktes Engagement der Stadt Berlin zum institutionellen Ausbau der Psychopathenfürsorge. Notwendig seien die Schaffung einer Fürsorgestelle zur Nachbetreuung der aus Templin entlassenen Pfleglinge, eine „Sichtungsstelle“ für Jungen, die zur Unterbringung im Heilerziehungsheim gemeldet wurden, und die Einrichtung eines Heims für psychopathische Mädchen. Der Magistrat von Berlin sah jedoch keinen Handlungsbedarf, vor allem die niedrige 154 Leyen/Liszt 1915, 4; vgl. auch Voigtländer 1918, 24 sowie rückblickend, Leyen 1931, 638. 155 BLHA, Rep. 2 A II Templin, Nr. 1491, Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge e. V. 1913 und 1914, Das Heilerziehungsheim für psychopathische Knaben in Templin, S. 75. Es handelt sich um die Stiftung des 1852 in Leipzig gegründeten Bankhauses Plaut & Comp. 156 BLHA, Rep. 2 A II Templin, Nr. 1491, Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge e. V. 1913 und 1914, Das Heilerziehungsheim für psychopathische Knaben in Templin, S. 75; ebenda, DZJ (Friedrich Siegmund-Schultze) an den Regierungspräsidenten Potsdam, 8.10.1917, o. Bl.

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Zahl verhaltensauffälliger Mädchen lasse die Einrichtung eines Heimes nicht gerechtfertigt erscheinen.157 Trotz der personellen Engpässe und des materiellen Mangels waren die Jahre des Ersten Weltkrieges durch eine beachtliche Ausdehnung der privaten Fürsorgearbeit im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge gekennzeichnet. Die DZJ gehörte zu den 56 Berliner Wohlfahrtsvereinen, die ihre Arbeitsbereiche in diesem Zeitraum erweiterten. 158 Dies belegt auch die Tatsache der Umstrukturierung des Dachverbandes der Jugendfürsorge, mit der bereits im Mai 1913 begonnen worden war, und die u. a. die Einrichtung der neuen Abteilungen „Deutsches Reich“ und „Groß-Berlin“ sowie zweier Arbeitsausschüsse beinhaltete. Die Arbeitsgebiete der Abteilung „Deutsches Reich“ umfassten 1. den Bereich Adoption (Feststellung grundsätzlicher Missstände, Zentralisierung aller Bestrebungen im Adoptions- und Pflegestellenwesen), 2. die Auskunftsstelle (für alle Berliner Vereine und Organisationen sowie für Anfragen von auswärtigen Behörden, Organisationen und Einzelpersonen) und 3. den Bereich der Vorbereitung von Konferenzen (durch die Geschäftsführung). Die Abteilung „Groß-Berlin“ war zuständig 1. für die Beratungsstelle (ehemals: Abteilung für praktische Einzelfälle), 2. die Berliner Jugendgerichtshilfe, 3. die Fürsorgestelle beim Polizei-Präsidium Berlin-Mitte und 4. für die Vorbereitung von Konferenzen (durch die Geschäftsführung). Anfang September 1914 wechselte die Geschäftsstelle der DZJ von der Wallstraße an den Monbijouplatz in Berlin-Mitte. Der Tätigkeitsbericht von 1915 verweist auf „eine sprunghafte Steigerung der Aufgaben, die die Deutsche Zentrale in ihren Abteilungen Deutsches Reich und Groß-Berlin zu bewältigen hatte“.159 Die zu diesem Zeitpunkt bereits etablierten Bereiche der Abteilung Groß-Berlin – die Jugendgerichtshilfe und die dortige Beratungsstelle – verzeichneten Neuzugänge von 40 und 60 Prozent. Der Arbeitsschwerpunkt Adoptions- und Pflegestellenwesen der Abteilung Deutsches Reich konstatierte ebenfalls einen erheblichen Anstieg der Inanspruchnahme, sodass 1916 ein eigenes Dezernat zur Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in Anstalts- und Familienpflege eingerichtet wurde. Auch die Zahl der Aufnahmen im Heilerziehungsheim Templin stieg „trotz sehr starker Erschwerungen durch den Krieg“. Zu diesen quantitativ angewachsenen Aufgaben innerhalb der bestehenden Ressorts traten neue 157 Leyen 1931, 635. 158 Nach einer im Oktober 1914 von der Zentrale für private Fürsorge durchgeführten Umfrage setzten weitere 73 von insgesamt 147 bestehenden privaten Wohlfahrtsorganisationen ihre Arbeit im Krieg in gleicher Weise fort wie zuvor. Nur neun Vereine stellten die Arbeit ganz ein, weitere neun schränkten ihre Aktivitäten ein. Darüber hinaus gab es bis Mitte 1916 allein in Berlin 113 Neugründungen privater Wohlfahrtseinrichtungen, wobei sich allerdings eine ganze Reihe dieser Unternehmen nicht halten konnte und/oder unseriös arbeitete. Vgl. Sachße/Tennstedt 1980, 56. 159 Vgl. Mitteilungen der DZJ 9 (1914), Nr. 1, 4; ebenda, Nr. 3, Einlegeblatt sowie der Tätigkeitsbericht der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge für das Jahr 1915. Die Jugendfürsorge 11 (1916), 10.

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Schwerpunkte, die „durch den Krieg erst in Fluß gekommen“ waren.160 Dazu gehörten die seit Sommer 1915 betriebene Kriegswitwen- und Waisenfürsorge (Waisenhäuser, Adoption, Kriegspatenschaft),161 die planmäßige Bekämpfung der Kriegsverwahrlosung, insbesondere durch die Kleinkinder- und die Wandererfürsorge für Jugendliche,162 sowie die Unterbringung von Großstadtkindern zu Erholungsaufenthalten auf dem Lande, die vor dem Hintergrund der sich zunehmend verschlechternden Ernährungslage erfolgte.163 Jugendliche Verwahrlosung und Kriminalität entwickelten sich im Verlauf des Krieges zu einem Massenproblem, das eine ernstzunehmende soziale Herausforderung darstellte. Quantität und Qualität der Phänomene sowie die wachsende Überzeugung, nach der der Krieg als Ursache für den Anstieg jugendlicher Psychopathie angesehen wurde,164 ließen einen Ausbau der Psychopathenfürsorge als dringend notwendig erscheinen.165 In diesem Sinne beteiligten sich Franz Kramer und Ruth von der Leyen maßgeblich an den organisatorischen Vorbereitungen zur „Gründung eines selbständigen Vereins“, der sich, losgelöst von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, allein dem Bereich der Psychopathenfürsorge widmen sollte. Einen entsprechenden Vorschlag hatte der Vorsitzende der DZJ-Abteilung Groß-Berlin, Friedrich Siegmund-Schultze, unterbreitet.166

Die Vorarbeiten zur Gründung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen Nachweislich seit 1917 gehörten Kramer und von der Leyen auch dem erweiterten Verwaltungsrat des Heilerziehungsheims Templin an.167 Hier trafen sie auf jene bürgerlichen Akteur_innen, die sich bereits seit 1907 in der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge engagiert hatten und die mehrheitlich auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu den treibenden Kräften einer staatlichen Jugendfürsorge gehören sollten. Dazu zählten als Vorsitzender des Verwaltungsrates der bereits erwähnte Friedrich Siegmund-Schultze, der DZJ-Geschäfts-

160 Koepp 1916, 8. 161 Die Kriegspatenschaft stellte die Finanzierung von Ausbildungsmöglichkeiten für Kriegswaisen sicher. Vgl. Friedeberg 1916, 3. 162 Vgl. dazu etwa Dittmer 1916; Guradze 1916. 163 Vgl. z. B. Geß 1916; Winkelmann 1916. 164 Leyen 1931, 638. 165 Vgl. Mende 1916, 1–4; Siegmund-Schultze 1916, 9; Voigtländer 1918, 24. 166 Zur Person vgl. Greßel, eingesehen am 15.05.2015; Tenorth et al. 2007 und Wietschorke 2013. Vgl. auch Barch R 86/5676 sowie EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Sitzungsbericht v. 29.10.1917, o. Bl. 167 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Sitzungsbericht v. 29.10.1917, o. Bl.

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führer Pastor Siegfried Abramczyk168 und die Mitbegründerin und Schatzmeisterin der DZJ Lina Koepp (geb. 1861).169 Hinzu kam der aus Berlin stammende Lehrer Ernst Schlegel (gest. 1917),170 pädagogischer Leiter der Templiner Einrichtung, der jedoch im August des dritten Kriegsjahres fiel. Karl Bonhoeffer, Ewald Stier und die Psychiaterin und ehemalige Schülerin Theodor Ziehens, Helenefriederike Stelzner,171 vertraten neben Kramer die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité, und aus der Berliner Verwaltung kamen der Hilfsschulpädagoge und Magistratsschulrat Dr. Arno Fuchs (1869–1945),172 der Direktor der Städtischen Waisendeputation und spätere Direktor des Landesjugendamtes, Obermagistratsrat Hermann Knaut,173 sowie der Deputierte der städtischen Armendirektion und Vorsitzende der Frankfurter Zentrale für private Fürsorge, Dr. Albert Levy (1862–1922).174 Mit dem Ziel der Etablierung einer Fürsorge für psychisch auffällige Kinder und Jugendliche hatte Friedrich Siegmund-Schultze sie alle als Sachverständige für den beabsichtigten Ausbau dieses Teilbereiches der Jugendfürsorge hinzugezogen.175 Ein neu zu gründender Verein sollte nach seinen Vorstellungen die Leitung des Templiner Heilerziehungsheims ebenso übernehmen, wie eine Reihe vorgesehener Horte und Tagesheime für schulentlassene psychopathische Mädchen und Jungen. Vor allem aber hatte der neue Verein „die Frage der psychopathischen Konstitution überhaupt theoretisch“ zu behandeln.176 Bis dahin hatte die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge den „in früheren Zeiten bereits wiederholt“ vorgetragenen Plan zur Spezialisierung stets abgelehnt. Angesichts des enormen Zuwachses an Aufgaben und des eklatanten Mangels an materiellen und personellen Ressourcen gab sie nunmehr jedoch ihr Einverständnis zur Herauslösung der Psychopathenfürsorge aus ihrem breit gefächerten und vielfältigen Aufgabenspektrum. Die Arbeit des zukünftigen, unter dem vorläufigen Namen „Erziehungsfürsorgeverein für psychopathische Kinder“ gedachten Zusammenschlusses sollte zunächst auf Berlin, 168 Lebensdaten unbekannt. Er leitete hauptamtlich den seit 1906 bestehenden Kinder-Rettungs-Verein, dessen Büro sich auf dem Gelände der Charité befand. Mitte der 1920er Jahre war Abramczyk in der sächsischen Fürsorgeerziehung tätig. Vgl. LAB, A Rep. 003–02, Nr. 19, Bl. 1 sowie Nitsch 1999, 50 f. 169 Später war Lina Koepp zusätzlich im Ausschuss der Abteilung Groß-Berlin der DZJ aktiv. Zur Person vgl. Huch 1926, 339. 170 Ernst Schlegel starb während der Kriegshandlungen im August 1917. Biographisch vgl. Koepp 1917. 171 Vgl. in diesem Band, S. 44. 172 Zur Person vgl. Berger 2008b; Hänsel/Schwager 2003, 74–98; Neumüller 1969; Synwoldt 1991. 173 Lebensdaten unbekannt. Berliner Adressbuch für das Jahr 1914, unter Benutzung amtlicher Quellen. http://digital.zlb.de/viewer/toc10089470/0/ [eingesehen am 15.05.2015]. Zu den Publikationen Knauts zählen eine 1899 veröffentlichte Biographie sowie ein 1930 erschienener Beitrag zur vorbeugenden und heilenden Fürsorge. 174 Zur Person vgl. Hering/Reinicke 2007. 175 Vgl. EZA, Bestand 626, Nr. 51 W IVa und b. 176 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Sitzungsbericht v. 29.10.1917, o. Bl.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

später auf ganz Deutschland ausgerichtet sein und drei übergreifende Ziele verfolgen: 1. die Einsicht in die Notwendigkeit der besonderen Behandlung psychopathischer Konstitutionen zu fördern; 2. die Einrichtung von Unterbringungsstätten für psychopathische Kinder, und zwar a) von Horten und Tagesheimen in der Stadt und b) von Heilerziehungsheimen auf dem Lande, anzuregen und zu steuern; und 3. „für die Erziehung und das Fortkommen psychopathischer Kinder und Jugendlicher auch sonst nach Möglichkeit zu sorgen“.177 Auf Anregung Albert Levys etablierte sich Mitte Februar 1918 eine Kommission, die die Gründung des Vereins vorbereiten sollte. Neben ihm selbst gehörten diesem Gremium Lina Koepp, Ruth von der Leyen, Ewald Stier, Siegfried Abramczyk und der Amtsgerichtsrat Dr. Friedeberg, Jugendrichter und Vorstandsmitglied der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte, an.178 Die Kommission bereitete für den 3. April 1918 eine „Besprechung in engerem Kreise“ vor, die im Herrenhaus des Preußischen Parlaments stattfinden und in deren Rahmen die Grundlagen für die angestrebte „erweiterte Fürsorge für die psychopathische Jugend, über die Schulentlassung hinaus“ präsentiert werden sollten.179 In enger Verbindung mit der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge sollte der neue Verein praktische Arbeit für Psychopathen betreiben und für diese werben. Zu einem späteren Zeitpunkt sollte er in einen beratenden Ausschuss der Zentrale umgewandelt werden.180 Daneben beabsichtigte die Kommission, einen Entwurf für die von der DZJ in Aussicht genommene „Herbstversammlung über die Psychopathenfürsorge“ vorzulegen, weshalb „Geldgeber und Fachleute aus dem Reiche“ eingeladen und geworben werden sollten. Als Teilnehmer_innen für die interne Besprechung waren neben den Mitgliedern des Templiner Verwaltungsrats der psychiatrische Sachverständige und Referent im Ministerium des Innern, Carl Moeli (1849–1919), 181 der Leipziger Oberregierungsrat Dietrich182 und Theodor Ziehen vorgesehen, der zu diesem 177 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Sitzungsbericht v. 29.10.1917, o. Bl. 178 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IV b, Sitzungsbericht v. 18.02.1918, o. Bl. 179 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IV b, Protokoll der Sitzung über erweiterte Fürsorge für Psychopathen, 03.04.1918, o. Bl. 180 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IV b, Sitzungsbericht v. 20.03.1918, o. Bl. 181 Seit 1914 war Moeli als Referent für das Irrenwesen in der Medizinalabteilung des Preußischen Kultusministeriums (später: Ministerium des Innern) tätig und zählte zu den wichtigsten Beratern der Regierung in psychiatrischen Fragen. 1883 hatte er sich im Fach Psychiatrie an der Charité habilitiert und leitete in der Folge die erste Berliner Städtische Irrenanstalt Dalldorf und die Heil- und Pflegeanstalt Herzberge. Moeli war reformpsychiatrisch orientiert. In forensischer Hinsicht sah er eine Verbindung von „psychischer Minderwertigkeit“ und Kriminalität. Moeli setzte sich auch mit der Fürsorge für „psychopathische“ Jugendliche auseinander. Vgl. dazu ders. 1920. 182 Dietrich steht im Zusammenhang mit dem 100 Plätze umfassenden „Beobachtungshaus und Psychopathenheim“, das der Einrichtung in Kleinmeusdorf bei Leipzig-Dösen/Sachsen angeschlossen war. Neben dem Beobachtungshaus gab es dort das 1913 gegründete „Heilerziehungsheim des Fürsorge-

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Zeitpunkt gerade den Ruf an die Philosophische Fakultät in Halle/Saale angenommen hatte.183 An der „Sitzung über erweiterte Fürsorge für Psychopathen“ vom 3. April 1918 nahmen schließlich 38 Personen teil.184 Die Mitglieder der Vorbereitungskommission hatten die Veranstaltung strategisch klug vorbereitet. Friedrich Siegmund-Schultze führte zunächst in das Thema ein: Das Heilerziehungsheim Templin zeige, dass für eine Weiterbetreuung psychopathischer Jugendlicher über deren Schulentlassung hinaus gesorgt werden müsse. In Berlin und andernorts habe man festgestellt, dass die „psychopathische Konstitution“ sich vermehrt habe, „oder besser, man achtet jetzt mehr auf sie“.185 Viele Kinder seien unbeaufsichtigt und liefen „frei herum“, wobei fraglich sei, ob diese Phänomene „nur Kriegsübel“ darstellten. Auch „die psychopathischen Mädchen“ bedürften der Hilfe, und es sei eine Schutzaufsicht für psychisch auffällige Kinder in den Familien nötig. Diese weitergehenden Aufgaben könne ein Verein oder Ausschuss übernehmen, der dem Verwaltungsrat Templin angegliedert würde und eine Reihe von Unterausschüssen bilden könnte. Darüber hinaus planten die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge und der Verwaltungsrat für den Herbst 1918 eine Fachtagung zum Thema der Psychopathie. Ewald Stier informierte die Zuhörer_innen über die Einrichtung in Templin. Er skizzierte einige Leitgedanken für eine besondere Psychopathenfürsorge in Deutschland. Dazu gehörte die Definition von Psychopathie als einer anlagebedingten Konstitution, auf die primär mittels einer Änderung des Milieus eingewirkt werden könne. Als hervorstechende Symptome „der Psychopathen“ im Kindes- und Jugendalter nannte Stier Anomalien im Willens- und Gefühlsleben, Triebhaftigkeit, schwankende Stimmungen, Einseitigkeit und ausgeprägte Formen des Egoismus. Er platzierte „die Psychopathen“ zwischen den Polen außerordentlicher Leistungsfähigkeit und sozialem Scheitern. Nietzsche, Schopenhauer und „gewisse Künstler“ zeigten „zweifellos psychopathische Züge“, sie demonstrierten beispielhaft, dass es einigen gelänge, „später im Leben ihr Plätzchen“ zu finden, während andere „scheitern, weil ihr Chazweckverbandes Leipzig“, auch als Heilerziehungsheim Kleinmeusdorf bezeichnet, das unter psychiatrischer Aufsicht der Heilanstalt Leipzig-Dösen stand und auf Fürsorgeerziehungszöglinge ausgerichtet war. Vgl. Gregor 1917, 1; Leyen 1927a, 323–324. Dietrich kam wohl über Abramczyk in Kontakt mit dem Verwaltungsrat Templin, erfuhr von der geplanten Vereinsgründung und wollte auf die Leipziger Einrichtung aufmerksam machen. Vgl. EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Dietrich an Abramczyk, 01.06.1918, o. Bl. 183 Ziehen lehrte dort Psychologie, Geschichte der Philosophie und andere philosophische Disziplinen. 184 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Protokoll der Sitzung über erweiterte Fürsorge für Psychopathen, 03.04.1918, o. Bl. Die Anwesenheitsliste ist nicht überliefert, Karl Bonhoeffer, Franz Kramer und Lina Koepp werden im Protokoll genannt, weil sie an der Teilnahme verhindert waren. 185 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Protokoll der Sitzung über erweiterte Fürsorge für Psychopathen, 03.04.1918, o. Bl.

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rakter nicht genügend entwickelt worden ist. Es sind dies die Haltlosen, Prostituierten, Landstreicher, Verbrecher, Hochstabler [sic!]“.186 Auch dem Topos der schädigenden Einflüsse durch die Großstadt und der „heilenden“ Wirkungen des Landaufenthaltes gab Stier im Rahmen seiner Ausführungen breiten Raum. „Das Kind will im allgemeinen tollen und schaffen. Auf dem Lande kann dies das Kind eher, in der Stadt weniger oder gar nicht. Darum tritt Psychopathie viel stärker in der Grossstadt auf, weil das Abschleifen an anderen, besonders an den Geschwistern und Freunden dort fehlt, wofür auf dem Lande eine gewisse Gleichmässigkeit auch trotz der schlechten Anlagen erzielt wird.“187

Auch bei Mädchen finde sich eine Disposition zur „psychopathischen Konstitution“. Im Unterschied zu Ruth von der Leyen und anderen Akteurinnen aus dem Umfeld der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge und der bürgerlichen Frauenbewegung wie die Nationalökonomin Dr. Käthe Mende (1878–1963)188 und Margarete Dittmer sah Stier jedoch einen geschlechtsspezifischen Unterschied im quantitativen Auftreten von Devianz und Delinquenz: Beide Phänomene seien bei den Mädchen weitaus weniger zu beobachten. Die Disposition zur Psychopathie fasste er als eine Konstante auf, weshalb die medizinische wie heilpädagogische Beeinflussung über das schulpflichtige Alter hinaus fortgesetzt werden müssten. Ruth von der Leyen betonte die Notwendigkeit einer Schutzaufsicht für psychopathische Kinder, die in der Familie verblieben, und einer Beratungsstelle für Mütter. Daneben sei ein Beobachtungsheim nötig, um festzustellen, ob die Schwererziehbarkeit nur eine „Frucht des Milieus“ sei oder schon Psychopathie.189 Ein Hort biete die Möglichkeit der Beaufsichtigung von Kindern nach der Schule, während das Heilerziehungsheim geeignet sei für die längerfristige Beeinflussung verhaltensauffälliger Schulkinder in einer der individuellen Entwicklung förderlichen Umgebung. In der anschließenden Diskussion problematisierten die Teilnehmer_innen vor allem die breite Definition des Begriffes Psychopathie, die nach den Ausführungen Stiers „die meisten Menschen“ betreffe. „Wie früher mit dem Worte Histerie [sic!] wird jetzt mit dem Wor186 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IV b, Protokoll der Sitzung über erweiterte Fürsorge für Psychopathen, 03.04.1918, o. Bl. 187 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IV b, Protokoll der Sitzung über erweiterte Fürsorge für Psychopathen, 03.04.1918, o. Bl. 188 Mende zählt zu den Pionierinnen der Sozialen Arbeit jüdischer Herkunft. Seit 1909 war sie in der Jugendgerichtshilfe tätig, ab 1913 betätigte sie sich als Jugendfürsorgerin in der DZJ. Zu Person und Werk vgl. Bussiek 1998. 189 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Protokoll der Sitzung über erweiterte Fürsorge für Psychopathen, 03.04.1918, o. Bl.

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te Psychopathie Missbrauch getrieben“, gab der Nervenarzt Prof. Dr. Louis Jacobsohn zu bedenken.190 Einigkeit bestand unter den Expert_innen indes darüber, dass die Mehrzahl psychopathischer Kinder in der Großstadt anzutreffen und nur über frühzeitige Erfassung, Untersuchung und Beobachtung zu identifizieren sei. Hinsichtlich geeigneter Formen institutioneller Unterbringung und Beratung – in Heimen oder in Familienpflege, in Horten und Tagesheimen sowie in Mütterberatungsstellen – gingen die Meinungen auseinander. Margarete Dittmer regte die Einbeziehung der Wandererfürsorge für Jugendliche an, während Käthe Mende erneut die Notwendigkeit von Unterbringungsmöglichkeiten für Mädchen hervorhob. Eine österreichische Teilnehmerin setzte die Anwesenden über die Heilpädagogische Station zur Erforschung und Behandlung von neurologischen, nervösen und seelischen Störungen des Kindesalters an der neuen Wiener Kinderklinik unter Leitung des Pädiaters Erwin Lazar (1877–1932) in Kenntnis.191 Bis zur Gründung des eigenständigen „Fürsorgevereins für psychopathische Kinder“ vergingen dann weitere vier Monate, in denen Ruth von der Leyen in Abstimmung mit Friedrich Siegmund-Schultze ein Konzept zur Organisation der Geschäftsstelle und zu den Tätigkeitsbereichen des reichsweiten Zusammenschlusses entwickelte.192 Die bereits seit 1906/07 praktizierte Zusammenarbeit von Jugendfürsorge und Psychiatrie umfasste zum Zeitpunkt der Begründung der Psychopathenfürsorge als spezieller und eigenständiger Arbeitsbereich in Berlin drei grundlegende Praktiken: 1. die poliklinische Untersuchung von Kindern und Jugendlichen an der Charité, die durch Erziehungsschwierigkeiten oder „dissoziales Verhalten“ (Lügen, Stehlen, Fortlaufen, sexuelle Schwierigkeiten) auffällig geworden waren und nach Meinung der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge einer fachmedizinischen Betreuung sowie heilpädagogischer Beobachtung und Beratung bedurften, 2. die psychiatrische Untersuchung und Begutachtung von Jungen, die in Templin untergebracht werden sollten und 3. die psychiatrische Begutachtung von straffällig gewordenen Mädchen und Jungen für die Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen.

190 Lebensdaten unbekannt. Es handelt sich um Prof. Dr. med. Louis Jacobsohn, Nervenarzt, Lichterfelde. Vgl. Berliner Adressbücher 1917, 1205. EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Protokoll der Sitzung über erweiterte Fürsorge für Psychopathen, 03.04.1918, o. Bl. 191 Als Leiter der weltweit ersten Heilpädagogischen Station im Rahmen einer Kinderklinik verschaffte Erwin Lazar dieser Einrichtung über Österreich hinaus Ansehen. Seit 1906 war Lazar als ehrenamtlicher psychiatrisch-pädagogischer Sachverständiger im Wiener Pestalozziverein tätig gewesen. 1911 schuf er das Komitee für Jugendgerichtshilfe und nahm nach eingehender Beschäftigung mit jugendlicher Delinquenz entscheidenden Einfluss auf das österreichische Jugendstrafrecht. Er gilt als Psychopathologe des Kindes und Pionier der modernen Heilpädagogik. Zur Person vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon (ÖBL), Bd. 5 (Lfg. 21, 1970), 56. 192 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, von der Leyen an Siegmund-Schultze, 10.10.1918, o. Bl.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

3.4 Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen Erste Tagung über Psychopathenfürsorge 1918 Am 19. Oktober 1918, wenige Wochen vor Kriegsende, fand mit der ersten öffentlichen Tagung über Psychopathenfürsorge die geplante „Herbstversammlung“ im Preußischen Abgeordnetenhaus statt. An der gut besuchten Veranstaltung nahmen neben den Protagonist_innen der privaten Jugendfürsorge und namhaften Experten aus Psychiatrie, Theologie und Sozialpädagogik auch Vertreter der „Reichs-, Staats- und Gemeindebehörden“193 teil. Die Tagungsinitiative adressierte ihr Anliegen, sich mehr „mit den Problemen der psychopathischen Persönlichkeiten zu befassen“,194 insbesondere an die Vertreter_innen der Politik. Das Programm, zu dem, wie es hieß, „Psychiater und Männer der Praxis“ beigetragen hatten, behandelte Fragen der Erkennung und Behandlung psychopathischer Kinder und Jugendlicher.195 Die Expertise brachten Carl Moeli, Ewald Stier und Franz Kramer ein, während Friedrich Siegmund-Schultze, die Oberregierungsräte Dietrich (Leipzig) und Böttcher (Bräunsdorf/Sachsen) sowie Ruth von der Leyen, als einzige weibliche Sachverständige, aus der praktischen Arbeit mit psychopathischen Kindern und Jugendlichen referierten.196 Übereinstimmend betonten die Akteur_innen der privaten Fürsorge für auffällige Kinder und Jugendliche eine erhebliche Zunahme von Verwahrlosungserscheinungen, homo- und heterosexueller Prostitution sowie Kriminalität in Folge des Krieges.197 Ruth von der Leyen problematisierte die Deutung der Phänomene mit der Frage: „Wächst die Zahl der psychopathischen Kinder oder mehren sich nur die psychopathischen Reaktionen durch die erhöhten Anforderungen, die die abnormen Zeitläufte an die Jugend stellen?“198 Für den Abend des 19. Oktober 1918 war die Gründung des Vereins für Psychopathenfürsorge vorgesehen. Ruth von der Leyen und Friedrich Siegmund-Schultze referierten vor einem Kreis Interessierter das gemeinsame Konzept,199 das eine zentrale Anlauf- und Bera-

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Vgl. Dietrich 1920, 1 und 116. Leyen 1931, 638. Jugendfürsorge (N. N.) 1918, 246. Vgl. Gesundheitsausschuss der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge 1920, 2; Jugendfürsorge (N. N.) 1918, 246. 197 Vgl. Jugendfürsorge (N. N.) 1918, 245; Leyen 1931, 638. 198 Leyen 1931, 629. 199 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Protokoll der Tagung über Psychopathenfürsorge, 19.10.1918, o. Bl.; Dietrich 1920, 116. Das Gründungsdatum des DVFjP wird in der zeitgenössischen Literatur übereinstimmend mit dem 18. Oktober 1918 angegeben, obwohl die Tagung über Psychopathenfürsorge am 19.10.1918 stattfand. Vgl. Kramer 1935, 308; Leyen 1931, 625.

3.4 Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen

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tungsstelle für jede große Stadt vorsah. Deren Angebot sollte – analog zum Erziehungs- und Fürsorgeverein für geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder – Horte und Heime, Arbeits- und Lehrstellennachweise sowie Möglichkeiten der Familienpflege umfassen.200 Prinzipiell seien lokale und nationale Aufgaben der Psychopathenfürsorge zu unterscheiden. Die Fürsorge in den einzelnen Städten beinhalte: 1. Die zentrale Erfassung und Meldung psychopathischer Kinder unter Beteiligung der Schulen, der Armen- und Waisenpflege sowie der öffentlichen Jugendfürsorge. Dabei sollten Schulärzte und -schwestern die Registrierung ebenso unterstützen, wie ein spezieller Personalbogen, den die Berliner Schulverwaltung bereits entwickelt habe. Die Beobachtung solle nicht nur Merkmale psychopathischer Konstitution berücksichtigen, sondern „auch starke sensitive Vorzeichen“ mit einbeziehen. 2. Die Einrichtung einer Zentralberatungsstelle in Verbindung mit Horten und Tagesheimen. Im Rahmen einer regelmäßigen, von Psychiatern und Ärzten sowie von Pädagog_innen durchzuführenden Sprechstunde sollten hier Berufsberatungen erfolgen und Pflegschaften (nicht im juristischen Sinn) bzw. Schutzaufsichten übernommen werden. 3. Die Einrichtung von Heilerziehungsheimen für schulpflichtige und schulentlassene Mädchen und Jungen auf dem Lande. 4. Die Einrichtung von Beobachtungs- und Aufsichtsheimen in der Stadt (darunter Horte in verschiedenen Stadtbezirken, ein Beobachtungsheim für das ländliche Heilerziehungsheim und ein städtisches Tages- und Nachtheim). 5. Die Aufklärung der Eltern und Erzieher über „die richtig erkannte Methode der psychopathischen Behandlung“ im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen und Mütterabende sowie in der pädagogischen Ausbildung.201 Auf nationaler Ebene ginge es vor allem darum, die Psychopathenfürsorge „in unserem Vaterlande“ zu stärken. Zentrale Aufgabe des neuen Vereins sei die Erarbeitung allgemeingültiger Prinzipien, so „dass man endlich in Deutschland auch eine Stelle weiß, bei der man sich über diese Frage Rat holen kann“.202 Allgemein ziele die Umwandlung des Templiner Verwaltungsrats in einen selbständigen Verein auf „die bessere Behandlung dieser Frage auch in der breiten Oeffentlichkeit“ ab. Große Städtevereine könnten von diesen universellen Grundsätzen ebenso profitieren wie die Lehrerschaft, die speziell für die Arbeit mit psychopathischen Kindern qualifiziert werden sollte. 200 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Aktennotiz von der Leyen, 13.05.1918, o. Bl. Zum 1903 gegründeten Erziehungs- und Fürsorgeverein vgl. Nitsch 1999, 83–85. 201 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Protokoll der Tagung über Psychopathenfürsorge, 19.10.1918, o. Bl. sowie Siegmund-Schultze 1920, 70 f.; vgl. auch in diesem Band, S. 232–252. 202 Hier und nachfolgend: EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Protokoll der Tagung über Psychopathenfürsorge 19.10.1918, o. Bl.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

Mit der Gründung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e. V. (DVFjP) nur wenige Wochen vor dem Beginn der Novemberrevolution verbanden die Initiator_innen weitergehende sozialpolitische Hoffnungen: „Wir haben in Deutschland in dieser Zeit eine politische Entwicklung, neben der eine andere Entwicklung herläuft, nämlich die Entwicklung zum sozialen Staat. Viel stärker als je bisher sind im Kreise der Stadt Aufgaben entstanden, die ihr bis dahin fern lagen.“ Zu begrüßen sei eine Verbesserung der „Behandlung aller derer, die Not leiden und die Fürsorge für dieselben durch den Staat und durch alle Glieder der Gesellschaft“, einschließlich „der Psychopathen“, „um die man sich bisher viel zu wenig gekümmert hat“.

Spezialisierung, Professionalisierung und Vernetzung der Psychopathenfürsorge in der Weimarer Republik Ziel der Arbeit des DVFjP war es, „die psychopathische Konstitution Jugendlicher zu erforschen und die Fürsorgearbeit für jugendliche Psychopathen in Deutschland anzuregen, auszubauen und zusammenzufassen“.203 Unter dem dominierenden Einfluss Ruth von der Leyens stieg der Verein in der Weimarer Republik rasch zu einer der wichtigsten und einflussreichsten Größen in der sozialreformerischen und pädagogischen Bewegung dieser Zeit auf und nahm entscheidenden Einfluss auf das sich etablierende staatliche Jugendwohlfahrtsund Gesundheitswesen. Als nationale und internationale „Anregerin im großen Stil“204 trug die Sozialpädagogin dabei wesentlich zur Spezialisierung, Professionalisierung und Vernetzung dieses Teilbereiches der Jugendfürsorge bei. Der DVFjP war dem Anspruch nach die zentrale Organisation, bei der alle Aktivitäten im Kontext der Psychopathenfürsorge in Deutschland zusammengeführt und koordiniert werden sollten.205 Auf von der Leyens Vorschlag hin wurde Friedrich Siegmund-Schultze zum ersten Vorsitzenden gewählt, während sie selbst die Geschäftsführung übernahm.206 Franz Kramer und Ewald Stier, ebenfalls Vorstandsmitglieder, waren zugleich im Beirat vertreten, Margarete Dittmer, Käthe Mende, Maria Siegmund-Schultze (1889–1970),207 Karl Bonhoeffer

203 Vgl. Beddies/Fuchs 2006, 90. 204 Siegel 1981, 37. 205 Zum Anspruch des DVFjP und zu seiner realen Entwicklung vgl. in diesem Band, S. 195–266. 206 Berger 2000a, 366. Den Stamm des DVFjP bildete der Verwaltungsrat des Heilerziehungsheims Templin. 207 Maria Amalie Johanna Karoline Hedwig Martha, geb. von Maltzahn, war die Ehefrau Friedrich Siegmund-Schultzes. Das Ehepaar hatte sechs Kinder. Vgl. http://www.heeren-stammbaum.de/family. php?famid=F82 [eingesehen am 15.05.2015]; zur Ehefrau Siegmund-Schultze vgl. Hesse 1994.

3.4 Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen

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und der spätere Kinder- und Jugendpsychiater Werner Villinger208 zählten zu den Mitgliedern des Arbeitsausschusses.209 Die Tätigkeit des DVFjP, der seinen Sitz unter wechselnden Adressen in Berlin hatte, 210 wurde nach der Etablierung der Weimarer Republik durch das Reichsministerium des Innern (Medizinalabteilung) und das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt finanziert. 211 Der kleinere Teil der materiellen Absicherung erfolgte durch Mitgliederbeiträge und private Spenden.212 Eine mittelbare Form der Finanzierung bestand in der unentgeltlich geleisteten Tätigkeit der Vereinsmitarbeiterinnen, die sich aus den heilpädagogischen Einzelfallakten, teilweise auch aus den psychiatrischen Krankenakten der Kinderbeobachtungsstation ableiten lässt. So nutzte zum Beispiel die Jugendleiterin und Hortnerin Charlotte Nohl (geb. 1893)213 ihren Urlaub, um ein verhaltensauffälliges Kind heilpädagogisch zu beobachten.214 Neben Groß-Berlin bestanden weitere Ortsgruppen des DVFjP in Breslau, Hanau und Königsberg.215 Der Verein gehörte dem 5. Wohlfahrtsverband, dem späteren Paritätischen Wohlfahrtsverband, einer Spitzenorganisation der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland

208 Zu Person und Werk, insbesondere zu seinen Aktivitäten im Kontext von NS-Zwangssterilisation, „Euthanasie“ und medizinischen Menschenversuchen vgl. Castell et al. 2003, 463–480; Harms 2010, 418–419; Holtkamp 2002; Klee 2013, 641; Schmuhl 2002. 209 Dem Arbeitsausschuss gehörten weiter Dr. Johannes Enge, ärztlicher Leiter der Heilanstalt StrecknitzLübeck, der Landgerichtsdirektor und Jugendrichter Herbert Francke, die Regierungsrätin Dr. Bertha Paulssen, die erste weibliche Ministerialrätin und Mitbegründerin des Vereins katholischer deutscher Sozialbeamtinnen, Helene Weber (1881–1962), Prof. Dr. Wetzel sowie der Oberregierungsrat Dr. Wiedel an. Vgl. Leyen 1931, 635. 210 Anfangs befand sich seine Geschäftsstelle in Berlin-Mitte unter der Adresse der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, am Monbijouplatz 3, von 1925 bis 1928 in der Linkstraße 22 desselben Bezirks. Danach setzte der Verein seine Tätigkeit in „ein paar beengten Büroräumen“ in der Potsdamer Str. 118c im Bezirk Mitte-Tiergarten fort. Vgl. Siegel 1981, 35. Ab 1932 hatte der Verein seinen Sitz in der Kreuzberger Großbeerenstraße 58–59. Vgl. UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 236 und 279 sowie Char. Dir., Nr. 913, Bl. 10; Nr. G 1087 sowie Kölch 2006, 199. 211 Vgl. Freudenberg 1928, 29 und Leyen 1931, 640. 212 Kramer 1928, 349. 213 Nohl zählte zu den heilpädagogischen Kräften, die unentgeltlich auf der Kinderbeobachtungsstation tätig waren. Vgl. dazu in diesem Band, S. 124. Einige wenige Informationen zur Person vgl. Berger, http://www.kindergartenpaedagogik.de/416.html [eingesehen am 15.05.2015]. Nohls berufliche Aktivitäten in der Zeit des Nationalsozialismus sind dokumentiert in LAB, A Rep. 030–04, Nr. 540, Bl. 8. 214 HPAC, KBS 5 (Ps. V. 337), Brief Lotte Nohl an die Mutter des Kindes, 28.05.1921; Bericht über den Besuch der Mutter in der Beratungsstelle für Heilpädagogik am 06.06.1921; Schreiben von der Leyens v. 04.06.1921, alles o. Bl. Zu den zeitgenössischen Urlaubsregelungen vgl. die Erhebung zur Berufslage der Fürsorgerinnen, Heynacher 1925, 50–55 und Zeller 1994, 115. 215 N. N. 1922 (Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen), 287.

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an und war Mitglied in einer Reihe von Fachorganisationen.216 Mit der Erforschung der Ursachen psychopathischer Konstitution und der Entwicklungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten verhaltensauffälliger Kinder sowie der praktischen heilpädagogischen Arbeit verfolgte der DVFjP zwei eng miteinander verknüpfte Aufgaben. Beiden Arbeitsfeldern widmeten sich die regelmäßig stattfindenden nationalen und internationalen Fach- bzw. Sachverständigenkonferenzen, die sich an den Problemlagen von Psychiatrie und Jugendwohlfahrt orientierten. Die Veranstaltungen dienten dem multiprofessionellen Austausch und der Vernetzung im Bereich der Psychopathenfürsorge mit dem In- und Ausland.217 Publikationsorgan des DVFjP und der Gesellschaft für Heilpädagogik wurde die Zeitschrift für Kinderforschung, deren Herausgabe Ruth von der Leyen und Franz Kramer ab 1923 übernahmen. Zum Redaktionsstab gehörten darüber hinaus der in der Berlin tätige Robert Hirschfeld,218 der Münchener Psychiater und Psychotherapeut Max Isserlin (1879– 1941)219 und dessen langjährige Mitarbeiterin am dortigen Versorgungskrankenhaus für Hirnverletzte, die Psychologin, Kinder- und Jugendtherapeutin und Heilpraktikerin Marcellina Gräfin von Kuenburg (1895–1976)220 sowie der Heilpädagoge, Mitbegründer und erste Vorsit216 Der 5. Wohlfahrtsverband war die Organisation der nichtkonfessionellen und nicht aus der Arbeiterbewegung hervorgegangenen Wohlfahrtsverbände. Zur Gesamtheit der Verbände vgl. Sachße/ Tennstedt 1988, 167. Zu den Fachorganisationen, denen der DVFjP angehörte, zählten die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, die Gesellschaft für Heilpädagogik, die Arbeitsgruppe für heilpädagogische Aus- und Fortbildung, der Deutsche Verein für öffentliche und freie Jugendwohlfahrt und der Allgemeine Fürsorgeerziehungstag (AFET). 217 Vgl. Kramer 1935, 308. Zu den einzelnen Tagungen und Konferenzen vgl. in diesem Band, S. 243–247. 218 Es bleibt offen, ob es sich bei Robert Hirschfeld um den Berliner Nervenarzt oder den Vorsitzenden der Wissenschaftlichen Vereinigung jüdischer Lehrer und Lehrerinnen zu Berlin und zugleich Schulreferent der dortigen jüdischen Gemeinde handelt. Dass Robert Hirschfeld 1933 aus dem Redaktionsstab der Zeitschrift für Kinderforschung ausschied, deckt sich wiederum mit den biographischen Daten beider Personen: Der Pädagoge ging 1933 in den Ruhestand, der Mediziner, Charlottenburger Hilfsschuldirektor und Schularzt musste Deutschland nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten verlassen. Vgl. Berliner Adressbuch 1932 und 1933, Jüdisches Adressbuch für GrossBerlin 1931, Castell et al. 2003, 259 und Schwoch 2009, 366–367. 219 Der Psychiater und Psychotherapeut, ein Schüler Emil Kraepelins (1856–1926), interessierte sich auch für psychisch auffällige Jugendliche und die pädagogischen Aspekte seines Faches. Auf dem Ersten Kongress für Heilpädagogik 1922 wurde Isserlin zweiter Vorsitzender der Fachgesellschaft, von 1923 bis 1934 war er Mitherausgeber der Zeitschrift für Kinderforschung. 1929 gründete er die erste kinderpsychiatrische Klinik in München (Heckscher Klinik), die er bis 1933 leitete. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft wurde Isserlin 1934 aus dem bayrischen Staatsdienst entlassen und emigrierte über die Schweiz nach England. Er starb am 4. Februar 1941 in Sheffield. Zu Person und Werk vgl. Kreuter 1996, 631–632. 220 Von Kuenburg schloss ihr Studium der Psychologie und Philosophie in Wien und München 1920 mit einer Promotion ab. In München führte sie eine Privatpraxis. Ab 1924 arbeitete sie als Kinder- und

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zende der Gesellschaft für Heilpädagogik Rupert Egenberger (1877–1959).221 Als Schriftleiterin nahm Ruth von der Leyen besonderen Einfluss auf die weitere Entwicklung des anerkannten Fachorgans, das eine Verwissenschaftlichung der Psychopathenfürsorge anstrebte. Auf Anregung des Reichsministeriums des Innern beteiligte sich der Verein 1926 mit der Gestaltung eines separaten Bereiches an der Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GeSoLei) in Düsseldorf.222 Im Kontext der Darstellung der „modernen Therapie der Geisteskranken“ plädierte Ruth von der Leyen dafür, „sich der fließenden Übergänge von der Psychopathenerziehung zur normalen Erziehung, zur Verwahrlostenerziehung und zur Geisteskrankenpflege bewußt zu bleiben“.223 Aus der Beteiligung an der GeSoLei ging das erste Verzeichnis der bestehenden Einrichtungen zur Beratung, Beobachtung und Unterbringung psychopathischer Kinder und Jugendlicher in Deutschland hervor, das Ruth von der Leyen in zwei Auflagen publizierte.224 Eine Fortsetzung dieser Form der Öffentlichkeitsarbeit erfolgte 1930 im Rahmen der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden.225

Einrichtungen des Vereins Der DVFjP baute rasch eine Reihe von Institutionen auf, zu denen Heilerziehungsheime und heilpädagogische Erholungsheime in den preußischen Provinzen Brandenburg, Sachsen und Pommern zählten. Daneben etablierten sich ab 1919 die Spielnachmittage als eine Maßnahme der halboffenen Fürsorge, die die Beratungsstelle für Heilerziehung mit Sitz in der Geschäftsstelle des DVFjP am Monbijouplatz in Berlin-Mitte durchführte. Unter den vereinseigenen

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Jugendpsychologin sowie Sprachtherapeutin an der Heckscher Klinik. 1933 schied von Kuenburg aus der Redaktion der Zeitschrift für Kinderforschung aus, zählte aber bis 1944 zum engeren Stab der Mitwirkenden. Der NSDAP trat sie nicht bei, vielmehr pflegte sie Kontakte zu Verfolgten des NSRegimes. Von Kuenburg betonte die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Medizin, Psychologie und Pädagogik im Bereich der Fürsorge für auffällige Kinder. Zu Person und Werk vgl. Berger 2000b. Der Sonder-/Heilpädagoge hatte in Lauingen/Donau und an den Universitäten in München und Leipzig studiert. 1902 eröffnete Egenberger die erste Münchener Hilfsschulklasse. 1911 wurde er erster Vorsitzender der Sektion Hilfsschulwesen des dortigen Lehrervereins, 1918 stand er dem Hauptverband der Hilfsschulen Deutschlands vor. Er gehörte 1922 zu den Mitbegründern der Gesellschaft für Heilpädagogik und wurde auch deren erster Vorsitzender. Von 1923 bis 1935 war Egenberger Mitherausgeber der Zeitschrift für Kinderforschung. Zu Person und Werk vgl. Atzesberger 1971; Berger 2008, 27–30. Leyen 1926e. Leyen 1931, 641. Leyen 1927a; dies./Marcuse1928. Leyen 1931, 641.

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Einrichtungen kam dieser Stelle eine ebenso große Bedeutung zu wie der Kinderbeobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité. Heilerziehungsheime und heilpädagogische Erholungsheime Bis in die Anfangsjahre der Weimarer Republik hinein war das brandenburgische Heilerziehungsheim Templin die einzige Spezialeinrichtung für schulpflichtige Jungen aus sozial schwachen Bevölkerungsschichten in Deutschland. Für schulentlassene psychopathische Jugendliche beiderlei Geschlechts bestand bis dahin kaum eine Möglichkeit der Unterbringung. Die bestehenden Fürsorgeerziehungseinrichtungen waren nach Ruth von der Leyen zur Aufnahme „von schwierigen psychopathischen Jugendlichen selten geeignet“.226 Auch kleine „Normalheime“ im Umland Berlins, in denen der DVFjP Kinder unterbrachte und in ihrer weiteren Entwicklung begleitete, erwiesen sich als ungeeignet, da das Personal nicht angemessen auf die verhaltensauffälligen und erziehungsschwierigen Mädchen und Jungen eingehen konnte. Dem Mangel an heilpädagogisch qualifizierten Fachkräften versuchte der DVFjP durch Schaffung von Ausbildungsmöglichkeiten und eigenen Einrichtungen entgegenzuwirken. Insgesamt sechs Heime übernahm, gründete oder führte der DVFjP bis 1933, zwei heilpädagogische Erholungsheime und vier Heilerziehungsheime. Zur letzten Kategorie zählte: 1. das brandenburgische Heilerziehungsheim für unbemittelte psychopathische Knaben in Templin in der Trägerschaft des DVFjP von 1918 bis 1922, 2. die Einrichtung Wilhelmshagen bei Erkner (Mai 1924 bis September 1929), 3. Schloss Ketschendorf bei Fürstenwalde/Spree; ein Heilerziehungs- und heilpädagogisches Erholungsheim vorwiegend für Mädchen (Oktober 1924 bis März 1931), 4. das halboffene Lehrlingsheim für psychopathische schulentlassene Mädchen in der Potsdamer Str. 118c in Berlin-Tiergarten, mit angeschlossener Kinderstation (seit Oktober 1927). Heilpädagogische Erholungsheime waren 5. Gernrode im Ostharz, Aufnahme vor allem psychopathischer Mädchen227 (Februar bis August 1923) und 6. das Haus Kinderkaten in Niehagen, einem Ortsteil von Ahrenshoop auf dem Darß/Ostsee (Mai 1925 bis 1935). Die zu unterschiedlichen Zeiten gegründeten und für variierende Dauer dem Verein gehörenden Heilerziehungsheime in Brandenburg und Berlin unterstanden der psychiatrischen Aufsicht der Charité: Templin wurde von Ewald Stier (1918 bis 1921), und Franz Kramer 226 Leyen 1931, 657. 227 Leyen 1926f, 452.

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(1914–1918 und erneut ab 1922) betreut. Schloss Ketschendorf und das Lehrlingsheim in der Potsdamer Straße unterstanden Rudolf Thiele (1888–1960), der seit 1920 als Assistenzarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité tätig war.228 Die Brandenburger Einrichtungen dienten vorrangig der Unterbringung von Kindern aus Berlin. Die Heime finanzierten sich über Pflegegelder, die von den Fürsorgeerziehungsbehörden, den Jugendämtern und Krankenkassen gezahlt wurden. Der DVFjP hielt jedoch auch die Eltern regelmäßig zur Übernahme eines Teils oder sogar der gesamten Kosten an. Die Pflegesätze der vereinseigenen Einrichtungen in Höhe von 4,50 bis 5,00 M entsprachen dem allgemein üblichen Satz für Heilerziehungsheime, sie lagen allerdings erheblich unter den Beträgen, die für die städtischen Einrichtungen festgelegt waren.229 Das im Februar 1923 gegründete heilpädagogische Erholungs- und Dauerheim in Gernrode/Ostharz unter Leitung der Hamburger Ärztin Dr. med. Erna Lyon (geb. 1885) bestand wegen finanzieller Schwierigkeiten nur wenige Monate.230 Ab dem 15. Januar 1924 ging Gernrode in der Einrichtung des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Hunderteichen in Osterode bei Ilfeld/Südharz auf.231 Die heilpädagogische Leitung übernahm eine Jugendleiterin mit fachlicher Qualifikation für die Psychopathenfürsorge. Die ärztliche Leitung teilten sich Erna Lyon und der Psychiater Kurt Isemann (1886–1964).232 Der Mediziner führte das 1919 von ihm gegründete Jugendsanatorium in Nordhausen/Harz, ein „Heilerziehungsheim für seelisch abnorme Kinder und Jugendliche“, in das auch der DVFjP Mädchen und Jungen überwies.233 Das Heim Gernrode war durchschnittlich mit zehn Kindern im Alter von sechs bis 15 Jahren belegt. Das anfänglich zwölf Plätze bietende Heilerziehungsheim in Wilhelmshagen bei Erkner war im Mai 1924 von Friedrich Siegmund-Schultze gegründet worden, wurde jedoch vom 228 Rudolf Thiele wurde mit seiner Approbation 1920 als außerplanmäßiger Assistenzarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité eingestellt und arbeitete 1921/22 als Stationsarzt der Kinderbeobachtungsstation. Auf Anregung Bonhoeffers habilitierte er sich mit einer Arbeit zur Encephalitis epidemica, in die seine dort gemachten Erfahrungen und Untersuchungen einflossen (Thiele 1926). 1924 übernahm er die „ständige psychiatrische Beratung und Aufsicht“ über das Heilerziehungs- und heilpädagogische Erholungsheim des DVFjP Schloss Ketschendorf bei Fürstenwalde/Spree (Leyen 1927a, 323), 1927 dehnte sich seine Tätigkeit auf das Lehrlingsheim für schwer erziehbare schulentlassene Mädchen des DVFjP aus (Leyen/Marcuse 1928, 476). Im Februar 1933 wechselte Thiele als Oberarzt in die Wittenauer Heilstätten der Stadt Berlin, 1935 übernahm er die ärztliche Leitung der Berliner Städtischen Heilanstalt Herzberge. In den Jahren 1949 bis 1957 war er Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité (vgl. UAHUB, UK-Personalia-T-32). 229 Leyen 1931, 658. 230 Lyon 1924; Leyen 1925d, 52. 231 Vgl. Leyen 1925d, 52. 232 Zu Person und Werk vgl. Liehr-Langenbeck 1970. Zum Jugendsanatorium Nordhausen vgl. Blechle 2002, 243–262 sowie Blechle 2005. 233 Vgl. Leyen 1925d, 52; Leyen/Marcuse 1928, 488.

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DVFjP geleitet und belegt. Die ärztliche Leitung übernahm zunächst Erna Lyon.234 1929 ging die Einrichtung an die Soziale Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost über,235 ein Nachbarschaftshilfe- und Siedlungsprojekt Siegmund-Schultzes in einem der ärmsten Viertel Berlins am Schlesischen Bahnhof, das neben zahlreichen anderen Aktivitäten auch Straßensozialarbeit mit proletarischen Jugendlichen, Frauenbildungsarbeit und Gefängnisfürsorge betrieb.236 Das Heilerziehungs- und heilpädagogische Erholungsheim Schloss Ketschendorf war mit Unterstützung des Reichsministeriums des Innern und des preußischen Ministeriums für Volkswohlfahrt entstanden.237 Die im Oktober 1924 eröffnete Einrichtung verfügte über 30 Plätze, von denen zwei Drittel für schulpflichtige Knaben und Mädchen reserviert waren. Zehn Plätze verteilten sich auf schulentlassene Mädchen und vorschulpflichtige Kinder.238 Die pädagogische Leitung dieser Einrichtung, die im März 1931 aufgrund finanzieller Schwierigkeiten im Kontext der Weltwirtschaftskrise geschlossen werden musste, oblag einer heilpädagogisch qualifizierten Mitarbeiterin des DVFjP. Daneben waren dort bis zu acht weitere Fachkräfte tätig. Die Belegung des Heimes erfolgte ausschließlich über die Beratungsstelle für Heilpädagogik des DVFjP.239 Am 1. Mai 1925 wurde das Erholungsheim Kinderkaten in Ahrenshoop, Ortsteil Niehagen bei Wustrow/Ostsee in Betrieb genommen, dessen Eigentümer das Haus dem Verein 1928 schenkten.240 Die Einrichtung wurde zunächst als Sommer-Erholungsheim und ab Oktober 1932 ganzjährig betrieben.241

234 Vgl. HPAC, Ps. V. 800, Bd. 1, Bericht von Dr. Erna Lyon, o. D. (September 1924), o. Bl. 235 Vgl. Leyen 1931, 650. 236 Die SAG Berlin-Ost war bereits 1911 von Friedrich Siegmund-Schultze, seiner Frau Maria und seiner Schwester Maria gegründet worden. In Anlehnung an die englische Settlement-Bewegung verstand sich die SAG als eine „Niederlassung Gebildeter in einer armen Nachbarschaft“ mit dem Ziel, Klassengegensätze zu überwinden. Als Teil einer sozialpolitischen Strömung strebte die SAG „die zivilisierende ‚Hebung‘ der lokalen Bevölkerung“ an, weshalb sich die Niederlassungen von Angehörigen der „besseren Klassen“ in den Vierteln der Armen und Arbeiter als „Zentren der Zivilisation“ definierten. Vgl. Picht 1913,1, zit. n. Wietschorke 2013, 12; außerdem Lindner 2004, 77; ders. 2007, 7 f. 237 Leyen 1925d, 52. 238 Leyen 1931, 659. 239 Vgl. Leyen/Marcuse 1928, 485. 240 Das Haus in Ahrenshoop, Ortsteil Niehagen auf dem Darß, ist erhalten und befindet sich heute in privatem Besitz. 241 Vgl. Leyen 1931, 658. Die Pädagogin war hier selbst tätig. In der Sekundärliteratur heißt es, sie wurde 1935 „in der Nähe des Heims“ bestattet. Vgl. Nachruf Ruth von Leyen (anonym), in: Die Frau 1935/36, 115. Dies ist jedoch nicht zutreffend. Laut Kirchenbuch Wustrow (1910–1947) wurde Ruth von der Leyen in Berlin-Wilmersdorf beigesetzt. Schriftliche Auskunft des Pfarramtes Wustrow vom 30.09.2013.

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Eine Reihe der in der Weimarer Republik gegründeten Einrichtungen wendete sich explizit der Fürsorge für Mädchen zu, darunter das im Oktober 1927 gegründete Lehrlingsheim des DVFjP in Berlin. Die Übergangseinrichtung bot schulentlassenen „schwierigen“ Mädchen und jungen Frauen eine Wohnmöglichkeit, während sie eine Lehre absolvierten oder einer beruflichen Tätigkeit nachgingen.242 Ruth von der Leyen führte die wachsende Zahl eingewiesener psychopathischer Mädchen auf das Vorhandensein entsprechender Unterbringungsmöglichkeiten zurück. Die quantitative Zunahme bei den schulentlassenen Jungen brachte sie dagegen vor allem mit der Anstellung eines hauptamtlichen männlichen Mitarbeiters in der offenen Fürsorge des DVFjP, Martin Winter, in Zusammenhang.243 Ein für 1931 geplantes Lehrlingsheim für Jungen konnte aufgrund der immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Situation und drastischer Mittelkürzungen in der Wohlfahrtspflege nicht mehr realisiert werden.244 Beratungsstelle für Heilerziehung Die Einrichtung einer „Beratungsstelle für geistig abnorme Kinder“ hatten die Protagonist_ innen der Psychopathenfürsorge bereits während des Krieges in Aussicht genommen. Noch im Juni 1918, nur wenige Monate vor der Gründung des DVFjP, hatte die Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge als möglichen Standort zunächst die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité vorgeschlagen.245 Am 1. Mai 1919 nahm die Beratungsstelle für Heilerziehung schließlich am Monbijouplatz 3 in Berlin-Mitte ihre Tätigkeit auf.246 Sie war die zentrale Institution des DVFjP und

242 Die dieser Einrichtung angegliederte Kinderabteilung diente der Unterbringung von maximal acht „besonders schwierige[n]“ Klein- und Schulkindern. Vgl. Leyen 1931, 658. 243 Leyen 1931, 646. Martin Winter war ab Mitte der zwanziger Jahre dauerhaft im Verein tätig und schied zum 30.09.1933 aus. Vgl. HPAC, KBS 23 (Ps. V. 532), Winter an Henry B., 23.09.1933, o. Bl. Weitere biographische Hinweise zu seiner Person liegen nicht vor. Allerdings gab es bereits vorher einen als „Berufshelfer“ bezeichneten männlichen Mitarbeiter, namens Otto Schubert, der sich 1924/1925 um die Betreuung von Jungen kümmerte (Hilfe bei Lehrstellenwahl, Hausbesuche). Vgl. HPAC, Ps. V. 470. In einer KBS-Akte wird ein weiterer männlicher Mitarbeiter erwähnt, [R.] Meili, der 1925, möglicherweise nur vorübergehend, im DVFjP tätig war. Vgl. HPAC, KBS 56 (Ps. V. 651), Schreiben v. 31.12.1925, o. Bl. 244 Leyen 1931, 658. 245 EZA, Bestand 626, Nr. 51W IVb, Tagesordnung des Gesundheitsausschusses der DZJ v. 22.07.1918, o. Bl. 246 Die zeitgenössischen Angaben zur Gründung der Beratungsstelle für Heilerziehung divergieren, es wird sowohl vom 1. Mai als auch vom 1. Juli 1919 als Eröffnungstermin gesprochen. Vgl. Leyen 1926f, 450 und dies. 1927a, 318.

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verstand sich als „Fürsorge-Zentrum für das psychopathische Kind“,247 das weit mehr als „Beratung“ zu seinem Angebot zählte. Gemäß den Vereinszielen verbanden die Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle die praktische Einzelfallarbeit mit systematischer Forschung.248 Im Unterschied zur Vielzahl anderer heilpädagogischer Beratungsstellen und lokaler Einrichtungen, die an den Berliner Bezirksjugendämtern bestanden, sah die Beratungsstelle des DVFjP ihre Aufgabe nicht nur in der Erst- und Nachuntersuchung, sondern vor allem in der Durchführung und Begleitung der fürsorgerischen Maßnahmen sowie in der konkreten heilpädagogischen Beeinflussung auffälliger Mädchen und Jungen. Niedergelassene Ärzt_innen, Schulärzt_innen und Pädagog_innen, Jugendämter und Jugendgerichtshilfe, Erziehungs- und Psychopathenfürsorge, Kinderheime, Waisenhäuser und Pflegeämter, Krankenkassen und Landesversicherungen, private Stellen und Privatpersonen überwiesen Kinder „in Begleitung der Eltern oder anderer Angehöriger und Erziehungsberechtigter“ in die heilpädagogische Sprechstunde.249 Neben Ruth von der Leyen arbeiteten in der Beratungsstelle sechs pädagogische Kräfte und vier Büroangestellte. Lisbeth Hurwitz war seit Juni 1919 als pädagogische Referentin des DVFjP tätig, die Leitung der Heilerziehungsheime hatte Charlotte Nohl inne. Weitere pädagogische Mitarbeiter_innen waren Hildegard Fries, geb. Classe, und Anni von Cramon sowie Martin Winter.250 Die Leitung der Spielnachmittage übernahm zunächst Lotte Nohl, später Irmgard Boës. Im Rahmen der Beratungsgespräche, die jeweils eine psychiatrische Untersuchung an der Charité zur Voraussetzung hatten,251 stimmten die Sozialpädagog_ innen die infrage kommenden Fördermaßnahmen mit den Angehörigen oder Erziehungsberechtigten und dem jeweiligen Kind ab.252 Im Laufe eines auf Jahre angelegten Prozesses, den die Trias aus Heilerzieher_in, Eltern/Erziehungsberechtigte und Kind gemeinsam gestaltete, sollten Mädchen und Jungen zur „selbständigen Erkennung der Ursachen“ ihrer Schwierigkeiten gelangen und zu deren „Verarbeitung und Beseitigung unter Mithilfe der Eltern oder des Heilerziehers“ befähigt werden.253 Innerhalb des multiprofessionellen Netzwerkes der Fürsorge für das „abnorme“ Kind stellte dieses Konzept, das die aktive Einbeziehung der psychisch auffälligen Jugendlichen in den nicht selten langjährigen therapeutischen Prozess beinhaltete, eine grundlegende Neuerung dar. Die subjektorientierte Sozialarbeit, die das „schwierige“ Kind und dessen Eltern als eigen247 Leyen 1929d, 159. 248 Vgl. Kramer 1928, 349. 249 Vgl. Freudenberg 1928, 30; Leyen 1931, 651. 250 Vgl. Leyen 1931, 637. Hinweise zu weiteren Jugendfürsorgerinnen des DVFjP finden sich in diesem Band, S. 126 f. 251 Vgl. Kramer 1928, 351 und Leyen 1926f, 450. 252 Vgl. Leyen 1931, 651. 253 Leyen 1931, 651; dies. 1926f, 450.

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ständige, denkende und handelnde Menschen ernst nahm und auf Dialog und Kooperation setzte, lehnte sich an das anglo-amerikanische Vorbild des Social Case Work/Soziale Einzelfallhilfe nach Mary Ellen Richmond (1861–1928) an.254 Mit ihrer 1917 veröffentlichten Schrift „Social Diagnosis“ hatte Richmond nicht nur ein Standardwerk der Sozialen Arbeit veröffentlicht, sondern zugleich einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Armut und Hilfsbedürftigkeit eingeläutet, der einen anderen Umgang mit den Subjekten, die der sozialen Unterstützung bedurften, forderte. Nicht Charakterschwäche und individuelles Versagen, sondern die sozialen Umstände seien mitverantwortlich für das Entstehen von Not. Alice Salomon hatte Richmonds Methode 1923 und 1924 in den USA kennengelernt und für die theoretische Ausbildung von Fürsorger_innen in Deutschland produktiv gemacht.255 Die Erhebung einer „Sozialen Diagnose“ spielte in der dialogischen, häufig tiefenpsychologisch orientierten Schule des Social Case Work eine entscheidende Rolle. Sie war das Ergebnis einer gemeinsamen Leistung von Klient_in und Sozialpädagog_in und beruhte auf einem letztlich unabschließbaren Prozess gleichberechtigter Zusammenarbeit. Die Sozialpädagogin nahm dabei die Rolle einer Mentorin ein, die den Ratsuchenden darin unterstützte, die eigene soziale Welt, die individuellen Schwierigkeiten zu verstehen und bei der Suche nach Lösungsmöglichkeiten „die Kräfte zu nutzen, die ihm gegeben sind“.256 So gesehen hatte die „Diagnose“ keinen statischen Charakter, vielmehr war sie immer wieder infrage zu stellen, zu überprüfen und zu modifizieren. In Anlehnung an diesen theoretischen Rahmen formulierte Ruth von der Leyen, „daß es sich bei der Erziehung jugendlicher Psychopathen stets darum handelt, möglichst viele vorhandene – wenn auch schlummernde oder verschüttete – Anlagen und Fähigkeiten des Charakters oder der psychischen und körperlichen Leistungsfähigkeit zur nutzbaren Auswirkung zu bringen; […] das Resultat, bei rechtzeitig eingeleiteter, einheitlich und persönlich durchgeführter Fürsorge […] besteht alsdann nicht nur in einem ‚durch das Leben bringen‘, sondern vielmehr häufig darin, daß besondere produktive Kräfte für das Leben freigemacht werden.“257

Für kurze Zeit, vom 1. Januar bis zum 11. November 1922, wurde die Beratungsstelle für Heilerziehung des DVFjP in Personal- und Raumunion mit einer Beratungsstelle für geistig 254 Richmond engagierte sich in der Armenpflege in Baltimore/USA. Sie war Leiterin der dortigen Charity Organization Society (COS), einer halboffiziellen Stelle der Armenfürsorge, die sowohl in England als auch in den USA Verbreitung fand. Zu Person und Werk vgl. Agnew 2003. 255 Salomon 1925, 1926 und 1930. Zum zeitgenössischen Transfer der Methode nach Deutschland vgl. Feustel 2006; zur Bedeutung im Kontext der historischen Entwicklung der Sozialen Arbeit vgl. Schilling/Zeller 2010, 209 und Zeller 1994, 79–85. 256 Salomon 1926, 56. 257 Leyen 1921, 94.

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abnorme Kinder des Jugendamtes der Stadt Berlin geführt. Dieses Vorgehen stand in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der freien und staatlichen Jugendfürsorge in den Jahren 1919 bis 1922. In dieser Zeit erlebten die freien Organisationen eine Schwächung, während die behördliche Jugendwohlfahrtsarbeit stärker wurde und die Fürsorge für psychopathische Kinder lediglich als einen ihrer Zweige und nicht als eigenständigen Bereich ansah. Trotz des Bemühens des DVFjP um eine gesonderte Aktenführung für beide Beratungsstellen, ließ sich eine vollkommene Trennung auf Dauer nicht aufrechterhalten, zumal die vom Verein betriebenen Heime auch von den entstehenden Bezirksjugendämtern belegt wurden.258 Erst 1924, nachdem auch die inflationsbedingten Einschränkungen – limitierte Zahl an Hausbesuchen und Spielnachmittagen (halboffene Fürsorge) – überwunden waren, kam es zu einer Stabilisierung der Arbeit in der Beratungsstelle für Heilerziehung. Die Zahl der neu überwiesenen und in Heilerziehung gebrachten Kinder aus Berlin und der Provinz Brandenburg, belief sich in den ersten fünf Jahren auf 1.245.259 Der relativ hohe Anteil von 9,4 Prozent auffälliger Mädchen und Jungen aus dem mittleren und gehobenen Mittelstand stellte dabei ein Charakteristikum dar, mit dem sich die Beratungsstelle des DVFjP von anderen Einrichtungen dieser Art unterschied.260 Angehörige des „gebildeten Mittelstandes“ machten in der Regel nicht oder nur sehr zögerlich Gebrauch von den Beratungsangeboten.261 Die Gründe für diese Zurückhaltung waren komplex, wie der Heidelberger Psychiater August Homburger (1873–1930) im Rahmen der vierten Tagung über Psychopathenfürsorge in Düsseldorf analysierte.262 Ein entscheidender Faktor bestand jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung von Verwahrlosung als sozialer Massenerscheinung und der Zuordnung der vielfältigen Phänomene jugendlicher Devianz und Delinquenz zu den Unterschichten. Die Akteur_innen des DVFjP stimmten mit der Auffassung Homburgers überein, „dass neben den sozialen auch psychologische Momente“ die Verwahrlosung bedin-

258 Vgl. Leyen 1926f, 449. 259 Erfasst wurde der Zeitraum vom 1. Mai 1919 bis zum 31. Dezember 1924. Vgl. Leyen 1926f, 451; Kramer 1928, 350. 260 Vgl. Leyen 1926f, 455 ff.; Freudenberg 1928, 30; Kramer 1928, 350. 261 Vgl. Leyen 1931, 646; Werner Villinger bestätigte diese Problematik für Hamburg. Vgl. ders. im Rahmen der Aussprache zu Homburger 1927, 26. 262 Homburger war der Verfasser einer weit über ihre Zeit hinaus wirkenden „Psychopathologie des Kindesalters“ (1926) und gilt damit als einer der Pioniere der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach dem Medizinstudium in Heidelberg und Straßburg promovierte der aus einer jüdischen Familie stammende Homburger 1899 und arbeitete anschließend mehrere Jahre als Neurologe in Frankfurt am Main. 1907 übernahm er die Leitung der Poliklinik an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Heidelberg, wo er sich 1911 auch habilitierte. Schriftleitung der ZfK 1930; Froboese 1930; Stutte 1974; Nissen 2005, 392–395.

3.4 Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen

117

gen konnten.263 Das Zusammenwirken von Anlage- und Umwelteinflüssen sei als ursächlich für die Entstehung psychischer Auffälligkeiten anzusehen, weshalb sich Psychopathie in allen sozialen Schichten finde.264 Zusätzlich zu den zur Erstberatung überwiesenen Mädchen und Jungen betreute die Beratungsstelle für Heilerziehung in den ersten fünf Jahren ihres Bestehens 1.508 Kinder und Jugendliche weiter, die bereits in Heilerziehung standen, etwa weil sie sich in Fürsorgeerziehung befanden, von der Jugendgerichtshilfe begleitet wurden oder unter Schutzaufsicht standen. Die Gesamtzahl der vom DVFjP „beobachteten“ Minderjährigen lag demnach bis Ende 1924 bei 2.753.265 Zwischen 1925 und 1930 nahmen jährlich etwa 1.000 Ratsuchende die zweimal wöchentlich stattfindende heilpädagogische Beratungssprechstunde in Anspruch, das entsprach einer Frequenz von durchschnittlich neun bis zehn Beratungen an jedem der zweistündigen Termine.266 In vielen Fällen sahen die Mitarbeiterinnen kurzfristige Erholungsaufenthalte oder eine auf längere Dauer angelegte Überweisung in ein Heilerziehungsheim auf dem Lande als geeignete heilpädagogische Maßnahme vor. Der erst ab März 1921 mögliche stationäre Aufenthalt diente schließlich „der Beobachtung, den erforderlichen diagnostischen Feststellungen und der Erprobung des zweckmäßigen therapeutischen und heilpädagogischen Weges. Die Durchführung dieses Planes [lag] dann im Wesentlichen der Beratungsstelle für Heilerziehung, unter ständiger Mitwirkung des Psychiaters ob“.267 Spielnachmittage Eine der zentralen Praxismodelle, die von den Sozialpädagog_innen der Beratungsstelle für Heilerziehung angewendet wurden, waren die sogenannten Spielnachmittage, die von Lotte Nohl initiiert worden waren. In den beengten Räumen der Beratungsstelle und in ihrer privaten Wohnung betreute Nohl mehrere Gruppen von bis zu sechs Kindern, die einmal wöchentlich zu Spiel und Beschäftigung zusammenkamen. Die zwanglose Atmosphäre „ohne jeden Anstrich einer fürsorgerischen Maßnahme“ diente zunächst dem gegenseitigen Kennenlernen, der Vertrauensbildung und der „Zustimmung zur Miterziehung“ seitens des Kindes und der Eltern.268 Darüber hinaus sollte „das Kind in der eigenen Häuslichkeit“ beob263 Homburger 1927, 7. 264 Vgl. Homburger 1927, passim. 265 Vgl. Leyen 1926f, 451 und Kramer 1928, 350. 266 Hinzu kam eine große Zahl „interessierter Persönlichkeiten“ aus dem In- und Ausland. Leyen 1931, 644 f. 267 Kramer 1928, 352. 268 Hier und nachfolgend Leyen 1931, 654.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

achtet und Kontakt zu den Eltern, aber auch zum kindlichen Freundeskreis hergestellt und gepflegt werden. Der Anspruch von der Leyens, Nohls und der anderen Mitarbeiterinnen des DVFjP bestand darin, „die Sorgen der Eltern um das Kind, aber auch deren allgemeine Sorgen des Lebens kennenzulernen, zu teilen“. Dieses qualitative Niveau wurde dadurch erreicht, dass Lotte Nohl die Kinder zum Spielen abholte und auch wieder nach Hause brachte. Auf diesem Wege lernte sie die häuslichen Verhältnisse kennen, erlangte das Vertrauen der Erziehungsberechtigten und wurde – im Idealfall – „ganz eng zu der Familie hinzugerechnet“ und damit zur Miterziehung berechtigt. Die Beobachtungen Nohls im familiären Umfeld und während der Spielnachmittage halfen, mögliche Ursachen von Erziehungsschwierigkeiten zu erkennen und geeignete heilpädagogische Maßnahmen über die Beratungsstelle für Heilerziehung einzuleiten. In den ersten Jahren ihres Bestehens dienten die Spielnachmittage als bewusster Ersatz für das noch nicht vorhandene vereinseigene „Beobachtungsheim“. In ihrer ursprünglichen Intensität und Intimität konnten sie von der Beratungsstelle für Heilerziehung jedoch nicht fortgesetzt werden; vielmehr entwickelten sie sich von einem Instrument der „individuellsten Miterziehung“ zu einer „fürsorgerisch heilpädagogischen Maßnahme“. Um 1930 fanden die Spielnachmittage zwar weiterhin bis zu fünfmal wöchentlich in der Beratungsstelle statt, die Gruppen der Kinder waren jetzt jedoch homogen nach Kriterien wie Alter oder „Schwierigkeit“ organisiert. Der Schwerpunkt der Arbeit verlagerte sich von der individuellen pädagogischen Förderung des einzelnen Kindes hin zur intensiven Kontaktanbahnung und -pflege mit den Jugendlichen und ihren Eltern. Mehrere großstädtische Jugendämter übernahmen die Spielnachmittage als Einrichtung der Psychopathenfürsorge, während der DVFjP diese Maßnahme der halboffenen Fürsorge zu geschlechtsspezifischen Angeboten in Form von Klubs für schulentlassene Mädchen und Jungen weiter entwickelte.269 Von Bedeutung waren die Spielnachmittage aber auch, weil sie als heilpädagogische Methode die Beobachtungen der Erzieherinnen auf der Kinderbeobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité strukturierten. Seit März 1921 stand mit der Einrichtung des vereinseigenen „Beobachtungsheims“ an der Charité den Sozialpädagog_innen der Beratungsstelle für Heilerziehung diese weitere Möglichkeit der Intervention zur Verfügung. Psychopathische Mädchen und Jungen konnten stationär aufgenommen werden, wenn sich die poliklinische Untersuchung als nicht hinreichend für eine Diagnosestellung erwies,270 aber auch, solange noch keine geeignete heilpädagogische Unterbringungsmöglichkeit gefunden war.

269 Leyen 1931, 652, 655. 270 Kramer 1928, 351.

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

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„Da es uns aber interessiert zu sehen, inwieweit ein solcher Junge in günstigerer Umgebung die Schwierigkeiten weiter macht, über die bisher geklagt worden sind [sic!], haben wir den Jungen in unserem Beobachtungsheim in der Charité aufgenommen“,

gab Ruth von der Leyen in einem Fall als Motiv für die klinische Beobachtung an. Auf der Station habe sich das betreffende Kind ganz anders gezeigt.271 In seiner Funktion als Klinikdirektor unterstützte Karl Bonhoeffer die Initiative zur Institutionalisierung der stationären Betreuung psychopathischer Kinder. Schon 1913 hatte er den Nutzen des frühen pädagogischen Einflusses als Instrument der Prävention von Kriminalität und „Asozialität“ hervorgehoben.272 Wie von der Leyen hielt auch er „die Versetzung in geeignete, der psychopathischen Eigenart angepasste Verhältnisse“ für therapeutisch angezeigt.273 Mit der Gründung der Kinderbeobachtungsstation erreichte die Fürsorge für psychopathische Kinder eine neue Entwicklungsstufe, die in den folgenden Kapiteln beschrieben wird. Auch die Arbeitsgemeinschaft von Franz Kramer und Ruth von der Leyen trat in eine neue, produktive Phase ein, in der die KBS das Kernprojekt bildete.

3.5 „Beobachtungsstation für psychopathische Kinder bei der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité“ Gründung der Station Die letzten Endes schnelle und reibungslose Umsetzung des bereits während des Krieges angestrebten Zieles, „ein Beobachtungsheim für unsere Psychopathenkinder zur Verfügung zu erhalten“,274 verdankte sich wesentlich der eingespielten informellen Zusammenarbeit von Friedrich Siegmund-Schultze, Karl Bonhoeffer, Franz Kramer und Ruth von der Leyen. Nachdem Bonhoeffer die Möglichkeit zur Nutzung von Klinikräumen in Aussicht gestellt hatte, wandte sich von der Leyen mit der Bitte um finanzielle Unterstützung des Vorhabens an den Amtsgerichtsrat Edmund Friedeberg (gest. 1923)275 im Ministerium für Volkswohl271 HPAC, KBS 20 (Ps. V. 498), Bericht des DVFjP (von der Leyen) an das Landesarbeitsamt Berlin, 19.08.1921, o. Bl. 272 Bonhoeffer 1913, 107. 273 Bonhoeffer 1913, 108. 274 EZA, Bestand 51, Psychopathen I XX – 626 (1918–1922), Siegmund-Schultze an von der Leyen, 11.01.1921. 275 Dr. Friedeberg aus Berlin-Weißensee gehörte zum Vorstand des ersten deutschen Jugendgerichtstages 1909 in Charlottenburg und war Vorstandsmitglied der DVJJ. Vgl. Pieplow 2000, ohne Seitenangabe. Gemeinsam mit Wilhelm Polligkeit (1876–1960), dem Vorsitzenden des Deutschen Vereins für öffent-

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

fahrt, den sie schon aus der Zusammenarbeit in der Jugendgerichtshilfe kannte. Noch am letzten Tag des Jahres 1920 teilte sie Friedrich Siegmund-Schultze mit, „dass uns endlich die Charité unser Beobachtungsheim zur Verfügung stellt. Wir bekommen […] zwei Räume, einen Schlaf- und einen Tagesraum mit 12 Betten. Hier dürfen wir die Kinder unterbringen, für die wir eine Beobachtung für erforderlich halten, ausserdem will die Charité die in der Psychiatrischen Klinik liegenden Kinder dorthin legen, damit sie eine bessere (andere, sachgemässere) Behandlung und erziehliche Beeinflussung geniessen können, damit auch die Zwecke der Beobachtung besser gesichert werden, namentlich kein so völlig verändertes und dem Wesen des Kindes fremdes Milieu (auf sie einwirkt), sondern eine Umgebung, in der die Kinder sich immer zu Hause fühlen können. Die Erzieherin für die Beobachtungsstation sollen wir stellen und ich habe, da die Sache unendlich übereilt vor sich gehen muss[te], weil die Station schon spätestens zum 1. Februar belegt werden soll, bereits einen Antrag an das Wohlfahrtsministerium (s. Dr. Friedeberg) gestellt, damit wir aus dem ihm zur Verfügung stehenden Fonds einen Betrag von 5.000 Mk. für 1921 bekommen. Er steht uns, so gut wie sicher, zu. Das ist doch eine schöne Neujahrsnachricht?“276

Der von Bonhoeffer ursprünglich vorgesehene Eröffnungstermin mit Beginn der Vorlesungen nach Neujahr verschob sich allerdings auf den 15. März 1921.277 Einen Tag später wurden die ersten fünf Kinder, vier Jungen und ein Mädchen, aufgenommen.278

Medizinisches Personal Formal unterstand die Station Karl Bonhoeffer, der sich die Entscheidung zur Aufnahme „geeigneter Kinder“ vorbehielt.279 In der Praxis erfolgten die Überweisungen sowohl durch die Nervenpoliklinik der Charité und den DVFjP als auch durch die verschiedensten Stellen der öffentlichen und freien Jugendhilfe. Eine direkte Einflussnahme Bonhoeffers geht weder aus den poliklinischen Krankenblättern noch aus den Krankenakten der KBS oder anderen Archivalien zur Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité hervor.

liche und private Fürsorge und Nestor der deutschen Fürsorge und Wohlfahrtspflege, kommentierte Friedeberg 1923 das Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt. Vgl. dies. 1923. 276 EZA, Bestand 51, Psychopathen I XX – 626 (1918–1922), Schreiben von der Leyen an SiegmundSchultze vom 31.12.1920, Durchstreichungen und Einfügungen in Klammern i. Orig. 277 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 188. 278 Vgl. HPAC, Diagnosebuch der Kinderstation 1921–1945; HPAC, KBS 1, 2, 3, 4, 5. Der achtjährige Hans wurde nur wenige Tage nach seiner Entlassung im April 1921 auf eigene Initiative hin erneut aufgenommen. Vgl. HPAC, KBS 3. 279 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 264; Kölch 2006, 221.

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

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Die fachärztliche Oberleitung der „kleine[n] provisorische[n] Kinderabteilung“280 lag bei Franz Kramer, der zeitgleich mit der Eröffnung der Station zum außerordentlichen Professor der Medizinischen Fakultät der Berliner Universität ernannt worden war.281 Die Funktion des leitenden Stationsarztes übten Assistenzärzt_innen der Klinik aus. Die ärztliche Tätigkeit auf der KBS war eingebunden in den allgemeinen klinischen Betrieb und erfüllte eine wichtige Funktion für die psychiatrische Ausbildung junger Mediziner_innen. Ihr Einsatz gewährleistete zugleich die medizinische Betreuung der Station. Insgesamt lassen sich 19 Personen nachweisen, die Kinder und Jugendliche auf die KBS aufnahmen und Krankenakten der Station führten.282 Vier von ihnen waren nachweislich mindestens ein Jahr lang hier tätig: Rudolf Thiele, Edith Vowinckel, Hans Pollnow und – den Untersuchungszeitraum überschreitend – Ilse Kucher. Dr. med. et phil. Rudolf Thiele war 1921 der erste leitende Arzt der KBS. Im darauffolgenden Jahr war er zwar weniger präsent auf der Station, dennoch nahm er regelmäßig Kinder und Jugendliche auf. Thiele habilitierte sich auf Anregung Bonhoeffers wenige Jahre nach seiner Tätigkeit als Stationsarzt mit einer Arbeit zur Encephalitis epidemica.283 Zwei der 18 „charakteristischen Krankheitsgeschichten“ kindlicher und adoleszenter Patient_innen, die Thiele schilderte, betrafen Mädchen, die auf der Kinderstation gelegen hatten.284 Er verfasste außerdem 1929 einen Beitrag für ein renommiertes pädagogisches Handbuch, in dem er den Wissenstand über kindliche und jugendliche Psychopathien darlegte.285 Von 1928 bis 1930 war die Neurologin, Psychiaterin und Psychoanalytikerin Dr. Edith Vowinckel (1894–1982) verantwortliche Stationsärztin der Kinderstation.286 Sie war nicht die 280 Schwarz 1977, 124. 281 Als Sachverständiger beriet er zugleich die „Strafrechts-Kommission des Deutschen Reichstages“ und wurde als Spezialist zu Konsultationen ins Ausland gerufen. 282 Drei weitere Ärzt_innen, die auf der Station tätig gewesen sein sollen, lassen sich in den überlieferten Krankenakten nicht identifizieren. Vgl. Herrn 2013, 96; HPAC, Ärzte-Liste der Nervenpoliklinik, Nr. 37. 283 Thiele 1926. 284 Thiele 1926, 20, 28; HPAC, KBS 9 (Krankenakte nicht überliefert); KBS 59. 285 Thiele 1929. 286 Über den Zeitraum, während dessen Edith Vowinckel (Schreibweise auch Vowinkel, später: verheiratete Weigert) die KBS leitete, gibt es unterschiedliche Angaben. Assistenzärztin an der Charité war sie vom 1. Juli 1928 bis zum 30. Juni 1929. Vgl. Kölch 2006, 221; Ärztinnen im Kaiserreich, http://web. fu-berlin.de/aeik/HTML/rec01014c1.html [eingesehen am 15.05.2015]; UAHUB, Med. Fak., Nr. 915, Bl. 18, Lebenslauf Vowinckel, 20.02.1928, Bl. 19, Bl. 21 sowie Laehr 1928, 8. In anderen Archivalien wird sie noch im April 1930 als Leiterin der Station angegeben. Vgl. Barch, R 4901/1355, Bl. 1. WeigertVowinckel selbst gibt 1930 als das Jahr ihres Ausscheidens aus der KBS an. Vgl. dazu Holmes 2006, 33. Diese Angabe stimmt mit den Daten in den überlieferten Krankenakten der Station überein. Vgl. HPAC, KBS 530, der letzte Eintrag in der Krankengeschichte ist datiert vom 04.04.1930. Zum wei-

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

einzige psychoanalytisch ausgebildete Ärztin, die an der KBS tätig war.287 Da die Psychoanalyse jedoch zu den nicht akzeptierten psychologischen Therapien an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité gehörte, sind Spuren entsprechender Therapieversuche in den Krankenakten nicht überliefert. Vowinckel selbst wendete die Methode nach eigener Angabe heimlich an, denn weder Bonhoeffer noch die Kolleg_innen sollten davon Kenntnis bekommen.288 Bei zwei Mädchen, die zu den Patientinnen der KBS gehörten, war sie, ihrer eigenen Einschätzung nach, damit unterschiedlich erfolgreich.289 Nach Edith Vowinckel oblag die Betreuung der Station 1930/1931 dem Psychiater und Neurologen Dr. med. et phil. Hans Pollnow (1902–1943).290 Sein besonderes Interesse galt der kindlichen Psychopathologie.291 Wie Kramer arbeitete auch Pollnow eng mit den Berliner Jugendämtern zusammen und wirkte über mehrere Jahre als Sachverständiger für das Jugendgericht, wo er sich praktisch und theoretisch mit jugendlicher Delinquenz und der Fürsorge für psychopathische Kinder auseinandersetzte. Für den Abschluss seiner Fachausbildung durchlief er verschiedene Abteilungen der Klinik, darunter die Nervenpoliklinik.292 Spätestens über seine poliklinische Tätigkeit im Jahr 1929 wurde Pollnow in die interdisziplinäre Praxis der Psychopathenfürsorge eingebunden. Hier untersuchte er einerseits Kinder, die der DVFjP zur medizinischen Begutachtung weitergeleitet hatte, andererseits überwies er Mädchen und Jungen an die Beratungsstelle für Heilerziehung oder andere Einrichtungen des Vereins sowie zur Aufnahme auf die KBS.293 In seine Zeit als leitender Arzt der Kinderstation fällt der Beginn der Forschungsarbeit über ein hyperkinetisches Krankheitsbild, die er gemeinsam mit Franz Kramer realisierte.294 Bonhoeffer, der den vielversprechenden jungen Arzt an seiner Klinik halten wollte, beantragte eine „freie außerplanmäßige Assistentenstelle“ für ihn. Diese

teren Lebensweg vgl. http://www.psychoanalytikerinnen.de/deutschland_biografien.html#Weigert [eingesehen am 15.05.2015]; Holmes 2006; dies. 2007; Herrn 2013, 90 f. 287 Vgl. Herrn 2013 passim. 288 Diesen Zusammenhang rekonstruiert Rainer Herrn im Detail. Vgl. ders. 2013, 91. 289 Es handelte sich um die sechsjährige Ingeborg und die vier Jahre alte Hella. Vgl. HPAC, KBS 422 und KBS 507. 290 Die erste überlieferte, von Pollnow geführte Krankenakte der KBS ist datiert vom 30.04.1930. Vgl. HPAC, KBS 535. Mit seiner Approbation am 10. Dezember 1927 war Pollnow als Volontärassistent an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité tätig geworden. In diesem Status war Pollnow vom 1.12.1927 bis zum 1.11.1932 an der Klinik tätig. Vgl. UAHUB, Nervenklinik, Nr. 12, Vorgang „Pollnow“; Neumärker 2005, 103 und Rose 2014, 167. 291 UAHUB, Nervenklinik, Nr. 12, Empfehlungsschreiben Karl Bonhoeffers für Hans Pollnow, 28.03.1938, o. Bl. 292 Rose 2014, 167. 293 Rose 2014, 168. 294 Kramer/Pollnow 1932b. Vgl. in diesem Band, S. 256 f.

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

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wurde für ein halbes Jahr, beginnend ab dem 1. November 1932, gewährt.295 Pollnow versah seinen Dienst auf einer der Männerstationen. Im Herbst 1932 versorgte die Psychiaterin Dr. Ilse Kucher (geb. 1903) die Kinderstation.296 Kucher arbeitete seit dem 21. Oktober 1931 als Volontärassistentin in der Nervenklinik der Charité, Spuren ihrer Tätigkeit auf der KBS finden sich in den Krankenakten von Oktober 1932 bis Juni 1934.297 Abb. 1: Personal der Kinder­ beobachtungsstation um 1929, vorne li. Franz Kramer, daneben Ruth von der Leyen

Pädagogisches Personal Konzeptionell teilten sich die Assistenzärzt_innen die Leitung der KBS mit der heilpädagogisch qualifizierten Jugendleiterin des DVFjP.298 Bonhoeffer hatte jedoch von Anfang an Wert darauf gelegt, dass die Kinderbeobachtungsstation „Abteilung der Charité sei und die Erzieherin sich bei allen Maßnahmen und Anordnungen dem Willen des Arztes zu fügen

295 Vgl. Neumärker 2005, 102; Rose 2014, 170. 296 Kucher hatte ein Studium der Medizin in Heidelberg, Freiburg, München, Wien und Marburg abgeschlossen und war im Anschluss daran zunächst in der Dresdner Heil- und Pflegeanstalt sowie am Krankenhaus Berlin-Friedrichstadt tätig gewesen. Im Oktober 1931 wechselte sie an die Charité, wo sie bis zum 31. Januar 1933 als Volontärärztin beschäftigt war. Vgl. UAHUB, Char. Dir., Nr. 238, Bl. 297; RAR (KVD) und Barch R 4901/1355, Bl. 311. Von Februar 1931 bis zum 28.02.1933 setzte sie ihre Tätigkeit an der Charité als a.p. Assistentin fort. Drei Monate lang, von März bis Mai 1933, war sie erneut als Volontärassistentin tätig. Ab Juli 1933 übernahm sie die a.p. Assistentenstelle des ausgeschiedenen Kollegen Hans Knospe. Vgl. Barch R 4901/1355, Bl. 167, RAR (KVD) und Laehr 1937, 8. 297 Kucher erscheint zuerst in HPAC, KBS 787 als Stationsärztin und zuletzt in KBS 801. 298 Leyen 1927a, 318; Leyen/Marcuse 1928, 477 und Leyen 1931, 653.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

habe“299 und damit den medizinischen Charakter der Station betont. Zu den heilpädagogisch geschulten Kräften des DVFjP, die die Leitung der Kinderbeobachtungsstation innehatten, gehörte Hilde[gard] Classe, die mit der Eröffnung der Einrichtung tätig wurde und zunächst eng mit Thiele zusammenarbeitete.300 Die Jugendleiterinnen waren jedoch nicht, wie bisher angenommen, jeweils nur ein Jahr im Einsatz,301 sondern über weitaus längere Zeit dort tätig. Hilde Classe war bis 1927 auf der KBS beschäftigt.302 Von Februar 1929 bis November 1930 betreute die Jugendleiterin Elfriede Manns die eingewiesenen Kinder und Jugendlichen,303 gefolgt von Boletta Pederzani, die die KBS von Dezember 1930 zunächst bis Ende März 1935 leitete.304 Neben diesen drei namentlich genannten und hauptamtlich beschäftigten Jugendleiterinnen waren weitere Mitarbeiterinnen des Vereins unentgeltlich auf der Station im Einsatz.305 Ruth von der Leyen selbst kam, teilweise gemeinsam mit Charlotte Nohl, häufig zu Besuch. Sie führte zwar keine Beobachtungen durch, war aber in den Alltag der Station eingebunden.306 Nohl, die mit den Spielnachmittagen die Methode der heilpädagogischen Beobachtung eingeführt und erprobt hatte, fungierte als permanente ehrenamtliche Kraft der KBS.307 Sie unterstützte Hilde Classe in deren Arbeit und vertrat sie und ihre Kolleginnen im Krankheitsfall oder während ihrer Abwesenheit von der Station. Diese Situation ergab sich häufiger, 299 Leyen 1931, 653. 300 Später: Fries-Classe. Personalakten der Jugendleiterinnen sind nicht überliefert. 301 Vgl. Kölch 2006, 223. 302 Dies belegen die überlieferten Krankenakten der KBS, in denen zahlreiche „Berichte der Jugendleiterin“ erhalten sind. Der letzte Eintrag Classes erfolgte am 5. August 1927. Vgl. HPAC, KBS 319 und KBS 320 sowie UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 244 und Bl. 251. 303 Elfriede Manns war ab dem 01.02.1929 angestellt. Vgl. UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 80. 304 Pederzani war seit dem 01.12.1930 auf der KBS tätig. Vgl. Barch, R 4901, Nr. 1355, Bl. 387. Die staatlich geprüfte Kindergärtnerin und Jugendleiterin und unverheiratete Mutter zweier Kinder hatte zuvor bereits drei Jahre lang in verschiedenen Heilerziehungsheimen des DVFjP gearbeitet und war „mit der Beobachtung und Beeinflussung psychopathischer Kinder in besonderem Masse vertraut“. Vgl. Barch 4901, Nr. 1355, Bl. 39, 388–390. Pederzani kannte die KBS schon, bevor sie die dortige Leitung übernahm. Anfang August 1929 begleitete sie einen Jungen, der im Heilerziehungsheim Ketschendorf untergebracht war, zur Beobachtung auf die Station. Vgl. HPAC, KBS 462. 305 Classe, Manns und Pederzani werden genannt in UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 244, Bl. 251; UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Bl. 80, Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 1, 39 und 387. 306 Vgl. HPAC, KBS 653 (1931) und KBS 753 (1932). 307 Darauf verweisen nicht nur zahlreiche Dokumente und Eintragungen in den Krankenakten, Nohl wird auch häufig als Besucherin oder Begleitperson von Kindern genannt, die von der KBS aus in Heilerziehungsheimen oder anderen Einrichtungen untergebracht wurden. Vgl. HPAC, KBS 5, KBS 23, KBS 28, KBS 49, KBS 52 (1921), KBS 83 (1922) und KBS 653 (1931). Darüber hinaus verfasste sie eine Reihe von Erziehungsberichten bzw. sie teilte Einzelbeobachtungen mit. Vgl. z. B. KBS 20, Einträge vom August 1921, o. Bl.

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

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da Classe Kinder, die in Heilerziehungsheime überwiesen oder bei Pflegeeltern untergebracht wurden, begleitete, sie dort besuchte und häufiger auch für kürzere Zeiträume mit ihnen vor Ort verblieb.308 Die pflegerische und pädagogische Betreuung von zeitweise mehr als zwölf schwierigen, zum Teil motorisch sehr unruhigen und lärmenden Kindern und Jugendlichen war von einer einzigen Fachkraft allein nicht zu bewältigen. Der DVFjP realisierte schnell, dass die „Jugendfürsorgerin trotz unermüdlicher Arbeit auf die Dauer nicht imstande ist, allein mit den schwierigen Kindern fertig zu werden“.309 Schon im ersten Jahr behalf sich der Verein damit, dass er weitere Pädagoginnen auf die Station abordnete. In den Krankenakten der KBS finden sich bereits ab Juli 1921 Hinweise auf die „Pflegerinnen“ Frau Kohlhase, „Tanta Martha“, „Tante Mia“ und „Tante Ising“.310 Mit Verweis auf den „neuerdings festgesetzten, sehr eingeschränkten Personalbestand“ beantragte Bonhoeffer Ende Oktober 1921 beim Wissenschaftsministerium die Einstellung zweier Kinderpflegerinnen über den planmäßigen Personalbestand der Charité hinaus. Es habe sich herausgestellt, dass die übliche Krankenpflegerinnenausbildung als Qualifikation für die Kinderbeobachtungsstation nicht ausreiche und eine „besondere Eignung und Schulung“ notwendig sei. „Deshalb halte ich es im klinischen und pädagogischen Interesse für notwendig, daß für den Kindersaal zwei in der Kinderwartung und Erziehung vorgebildete Personen angenommen werden.“311 Die Anfrage wurde jedoch offenbar negativ beschieden. Mit der Begründung, die ärztlichen Anordnungen sowie Unterricht und Beschäftigung der Kinder erfolgreich durchführen zu können, wendete sich Bonhoeffer daher Anfang April 1922 mit der Bitte um Beigabe einer Krankenpflegerin auf die KBS an die Charité-Direktion.312 Diese genehmigte daraufhin zunächst die Anstellung einer außerplanmäßigen Pflegekraft. Da damit die Aufrechterhaltung eines geordneten Betriebes jedoch weiterhin nicht gewährleistet 308 Vgl. HPAC, KBS 35: Im Januar 1922 begleitete Classe den zwölfjährigen, als imbezill diagnostizierten Karl in die Wittenauer Heilstätten, wenig später besuchte sie ihn dort. KBS 67: Am 15.04.1922 suchte Classe die Landesheilanstalt Altscherbitz bei Leipzig auf, offenbar um sich einen Eindruck von der Einrichtung zu verschaffen, in der die auf der KBS beobachtete Ida in Abwesenheit der Pädagogin untergebracht worden war. HPAC, KBS 124, Erziehungsbericht, Eintrag v. 05.01.1923, o. Bl.: „… wird in meiner Abwesenheit aufgenommen.“ Urlaubsbedingte Abwesenheit der Jugendleiterinnen ist in den Krankenakten kaum vermerkt, ein Hinweis darauf findet sich erst 1926, vgl. HPAC, KBS 280. Zur den Arbeitsbedingungen von Fürsorgerinnen in der Weimarer Republik vgl. Heynacher 1925 und Stieve 1925 [1983] sowie Zeller 1994, 114–117. 309 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bonhoeffer an die Charité-Direktion, 05.04.1922, Bl. 214. 310 HPAC, KBS 20, KBS 23, KBS 28, KBS 49, KBS 52 (1921), KBS 56, KBS 58, KBS 62, KBS 72, KBS 113 (1922), KBS 124 (1923). 311 UAHUB, Char. Dir., Nr. 918, Bl. 247. 312 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 214.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

war, stellte die Verwaltung eine zusätzliche Krankenwärterin aus dem Personal der „ruhigen“ Frauenabteilung ab.313 Die Herausnahme der beiden Pflegekräfte aus dem Stationsbetrieb der erwachsenen Patient_innen führte angesichts der ohnehin reduzierten Zahl an Pflegenden einerseits zu Einschränkungen in der Betreuung der psychisch erkrankten Frauen und Männer.314 Andererseits erwiesen sich beide Krankenwärterinnen, deren Tätigkeit auf der KBS die allgemeine Krankenpflege und den Reinigungsdienst umfasste, als ungeeignet für den Umgang mit den auffälligen Mädchen und Jungen.315 Aus diesem Grund ersetzte Bonhoeffer „später“ – faktisch ab 1926 – die Krankenpflegerinnen der Klinik durch staatlich geprüfte Hortnerinnen des DVFjP, die, als Kinderpflegerinnen tituliert, mit der Jugendleiterin zusammenarbeiteten.316 Neben dem Pflege- und Stationsdienst waren die Hortnerinnen zuständig für die „Anleitung der Kinder zum Spielen, Schulunterricht, Unterweisung in Handfertigkeit […], in der Hauptsache aber sollen sie die psychologische und psychopathologische Beobachtung der Aerzte unterstützen, was ein außerordentliches Verständnis voraussetzt, da es sich nicht um normale, sondern um psychopathische Kinder handelt, deren Beschäftigung außerdem mit Schwierigkeiten verbunden ist.“317

Ab 1926 wächst daher auch die Zahl der Autorinnen der pädagogischen Beobachtungsberichte, die bis dahin fast ausschließlich von Hilde Classe und im Vertretungsfall von Lotte Nohl geschrieben worden waren. Als „Kinderpflegerinnen“ waren zunächst die Hortnerinnen Liselotte Kalischer und Gertrud Koch tätig.318 Kalischer war nachweislich seit August 1926 vom DVFjP auf die KBS abge-

313 UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Bl. 48. 314 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 215, Nr. 918, Bl. 247, Nr. 919, Bl. 45, Bl. 48. Hintergrund für die allgemeine Reduzierung des Pflegepersonals an der Charité war der „Abbauerlass“ von 1921 bei gleichzeitiger Beibehaltung des Achtstundentages. Vgl. dazu Beddies/Hulverscheidt/Baader 2010, 149. 1928 beklagte Bonhoeffer gegenüber der Charité-Direktion das Fehlen einer Pflegerin auf der „psychiatrischen oberen Frauenabteilung […] da die Kinderabteilung eine Pflegeperson für sich in Anspruch nimmt.“ Vgl. UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Bl. 43. 315 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 215. Hier wird nur eine der beiden Krankenpflegerinnen als ungeeignet für den Dienst auf der KBS bezeichnet. An anderer Stelle heißt es, beide Kräfte hätten sich als unqualifiziert erwiesen. Vgl. UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Bl. 84. 316 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 215 und Nr. 919, Bonhoeffer am 23.03.1929, Bl. 84. 317 UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Bl. 84. 318 Ob Liselotte Kalischer mit dem Berliner Reformpädagogen Erwin Kalischer verwandt war, konnte nicht geklärt werden. Vgl. Nydahl 1928. Gleiches gilt für mögliche verwandtschaftliche Beziehungen mit dem Berliner Neurologen und Anatom Otto Kalischer (1869–1942).

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

127

ordnet, etwa ein Jahr lang arbeitete sie mit Hilde Classe zusammen.319 Einträge in den Krankenakten nahm Kalischer noch bis Mitte April 1929 vor, nachdem Elfriede Manns bereits die pädagogische Leitung der Station übernommen hatte.320 Die Tätigkeit Gertrud Kochs geht aus den Krankenakten ab Februar 1928 hervor. Ihre Handschrift findet sich noch über den Untersuchungszeitraum der vorliegenden Studie hinaus, bis Dezember 1933. Vermutlich war sie auch danach noch auf der Station beschäftigt. Als dritte Kinderpflegerin lässt sich ab Januar 1929 Ilse Heintze identifizieren, die offenbar Liselotte Kalischer ablöste. Wie Gertrud Koch war Heintze bis 1934, wahrscheinlich über diesen Zeitraum hinaus, auf der Station eingesetzt.321 Zeitweise wurden die Jugendleiterin und die beiden Kinderpflegerinnen durch weiteres Personal unterstützt, so 1929 durch Frau St. Bornstein. Sie war eigentlich im LehrlingsHeim des DVFjP in der Potsdamer Straße tätig und wurde als „heilpädagogisch besonders erfahrene“ Erzieherin bezeichnet.322 Ein von ihr verfasster Beobachtungsbericht deutet auf psychoanalytische Kenntnisse hin.323 Etwa ein halbes Jahr lang verstärkte ab Januar 1930 die Kollegin Zimmermann das pädagogische Team. 324 Im Juli kam Eva Kutzinski hinzu, sie blieb bis Dezember 1930. 325 Im November desselben Jahres unterschrieb V. von Ǻkerhielm einen Erziehungsbericht, wahrscheinlich war sie nur wenige Tage auf der KBS eingesetzt.326 Der DVFjP nutzte darüber hinaus die Möglichkeit, Praktikantinnen in die heilpädagogische Arbeit des „Beobachtungsheims“ einzubeziehen und trug so zur zeitweiligen Erhöhung des Personalstandes bei. Von „Helferinnen“ und von Praktikantinnen des DVFjP ist 1925 und 1926 die Rede.327 Aus dem Jahr 1930 sind Beobachtungsberichte überliefert, in denen Einträge enthalten sind, die nicht von einer der identifizierten Heilpädagoginnen stammen, insofern könnte es sich hier um eine Praktikantin oder um eine kurzfristig auf der Station eingesetzte Fürsorgerin handeln.328 319 Vgl. HPAC, KBS 266. 320 UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Bl. 80, HPAC, KBS 425, letzter Eintrag v. 17.04.1929, o. Bl. 321 Vgl. HPAC, KBS 392, Bericht der Erzieherin, Eintrag v. 19.01.1929, o. Bl. Letzter überprüfter Eintrag in HPAC, KBS 877 v. 30.01.1934, o. Bl. 322 HPAC, KBS 451, KBS an Wohlfahrtsamt der Jüdischen Gemeinde Berlin, 16.07.1929; KBS 392, KBS an Dr. Steinert, 09.03.1929, alles o. Bl. 323 HPAC, KBS 462, Bericht der Erzieherin, Fräulein Bornstein, o. Bl. 324 HPAC, KBS 462 und KBS 617, Eintrag v. 26.01.1930 und v. 06.08.1930, o. Bl. 325 Ob Eva Kutzinski verwandt war mit dem Charité-Psychiater Arnold Kutzinski (1879–1956), ließ sich nicht klären. Er gehört zu den Psychiatern, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft ab 1933 emigrieren mussten. 326 HPAC, KBS 625, Bericht der Erzieherin, Einträge v. 26. und 29.11.1930, o. Bl. 327 HPAC, KBS 202, Beobachtungsbericht, Eintrag v. 10.02.1925 und KBS 280, Beobachtungsbericht, Eintrag v. 28.09.1926, alles o. Bl. 328 Vgl. HPAC, KBS 564, KBS 578, KBS 696, KBS 470, KBS 561, KBS 562, KBS 604, KBS 741. Bei allen Einträgen handelt es sich um heilpädagogische Beobachtungen.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

Trotz des verbesserten Personalschlüssels scheint die Ausstattung der Station in pflegerisch-pädagogischer Hinsicht dauerhaft problematisch gewesen zu sein, denn 1928 beantragte der zu diesem Zeitpunkt als ärztlicher Leiter der KBS fungierende Dr. Erich Kraft, „das bisher auf der Kinderbeobachtungsstation vierstündig arbeitende Hausmädchen voll auf der Station zu beschäftigen“. Das „besonders schwierige Kindermaterial“ mache es unmöglich, „die Kinder regelmäßig zu wirtschaftlichen Arbeiten anzuhalten“ und erfordere die ständige Beschäftigung der Erzieherinnen mit den Mädchen und Jungen. Letzteres sei unumgänglich, um „die für die Klinik erforderliche Ruhe bei den Kindern“ zu erzielen, die sich den Gang mit den „ruhigen“ psychisch kranken Frauen teilten. Für „die Hausarbeiten, Essen vorbereiten, Geschirr abwaschen, Betten beziehen, Staub wischen u.s.w.“ hielt Kraft eine Hilfe für dringend erforderlich.329 Die Lösung des Problems bestand seitens der Klinik darin, ein auf der Röntgenabteilung beschäftigtes Hausmädchen halbtags auf der Kinderstation einzusetzen.

Finanzierung: Öffentlich geförderte private Wohltätigkeit Nicht nur die personelle Ausstattung der KBS erwies sich als unzureichend. Auch die Finanzierung der Station hatte bis 1935 einen dauerhaft „vorläufigen“ Charakter. Die Einrichtung, die personelle Besetzung der Station und die Bezahlung der Unterbringungskosten erfolgten auf dem Weg einer Mischfinanzierung, an der die verschiedenen Akteur_innen auf je unterschiedliche Weise beteiligt waren. Zu einem Teil verdankte die KBS ihr Bestehen staatlicher Förderung durch zwei Ministerien, die ab 1923 eine Beihilfe leisteten, ohne dass daraus jedoch ein Anspruch auf öffentliche Gelder erwuchs. Die materielle und personelle Situation der kleinen experimentellen Forschungsabteilung blieb damit letztlich über einen Zeitraum von insgesamt vierzehn Jahren ungesichert und prekär; eine nachhaltige reguläre Finanzierung existierte nicht. Auch die Unterbringung der verhaltensauffälligen Mädchen und Jungen erfolgte nur in eingeschränktem Umfang auf öffentliche Kosten, denn die zuständigen Wohlfahrts- bzw. Jugendämter kamen selten für den stationären Aufenthalt auf. Das belegt die Tatsache, dass der DVFjP die Eltern der überwiesenen Kinder grundsätzlich zur Bezahlung des Beobachtungsaufenthaltes heranzog, wobei er sich bemühte, die jeweilige soziale Situation der betroffenen Familien zu berücksichtigen. „Die Eltern zahlen, soviel in ihrer Kraft steht“, fasste der DVFjP das Ergebnis seiner Beratung mit der Charité im Mai 1921 zusammen. Waren sie dazu jedoch nicht in der Lage oder bereit, stellte der Verein eine „Verpflichtungskarte“ aus, mit der er sich zur Übernahme der Kosten für die Zeit des Aufenthaltes auf der KBS bereit erklärte.330 329 UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Antrag v. 25.09.1928, Bl. 71. 330 UAHUB, Char. Dir., Nr. 89, Bl. 322, VS und RS.

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

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Andernfalls erfolgte die Aufnahme Jugendlicher aus Groß-Berlin erst, wenn die Eltern einen Vorschuss für mindestens eine Woche geleistet hatten.331 Abb. 2: Visitenkarte des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen.

Der Tagessatz lag 1928 bei 4,00 RM.332 Offenbar wurde bisweilen jedoch auch der für erwachsene Patient_innen der Klinik angesetzte Betrag erhoben.333 Die Übernahme der Aufenthaltskosten durch die Eltern führte im Einzelfall auch zum Abbruch der Beobachtung auf der KBS, weil die Angehörigen nicht weiter zahlen konnten oder weil sie „keine Unterstützung annehmen, nichts mit Fürsorge zu tun haben“ wollten.334 Neben den öffentlichen Geldern und der Heranziehung der Angehörigen zur Übernahme der Unterbringungskosten verdankte die KBS ihre Existenz zu einem nicht unwesentlichen Teil der unentgeltlichen bzw. unterbezahlten Arbeitsleistung der fachlich hochqualifizierten weiblichen Mitglieder des DVFjP. Die genaue finanzielle Höhe dieses Beitrags ist schwer zu 331 Die der Krankenakte des neunjährigen Otto beigegebene heilpädagogische Einzelfallakte des DVFjP enthält u. a. einen Durchschlag der von den Eltern geleisteten Zahlungen für den Aufenthalt ihres Sohnes im „Beobachtungsheim“ sowie die Einverständniserklärung der Mutter zur Anzahlung von 30 Mk vom 05.06.1921. Hier verweist Lotte Nohl auf die „gelbe“ Verpflichtungskarte, die dem Kind für seine Aufnahme auf die KBS mitgegeben werden soll. Vgl. HPAC, KBS 20 (Ps. V. 498), o. Bl. Insbesondere zu den Problemen der Eltern mit den aufzubringenden Kosten vgl. Fuchs/Rose/Beddies 2012, 122. 332 Leyen/Marcuse 1928, 477. 333 HPAC, KBS 194, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin, Eintrag v. 1.12.1924, o. Bl. Der 14-jährige Bruno beschwerte sich bei Hilde Classe, er müsse es, „da er doch mehr bezahle (Erwachsenentaxe)“, besser haben als die anderen Kinder, „die Mutter hatte ihm Vorwürfe gemacht, daß er [die Eltern] so viel Geld koste.“ 334 HPAC, KBS 117 (Ps. V. 823), Abschrift Krankengeschichte.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

bemessen. Er stellt aber eine bisher unberücksichtigte Größe dar, ohne die das Ziel der Station, die empirische Erforschung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten und die Entwicklung eines milieu-orientierten Ansatzes zum Umgang mit Phänomenen jugendlicher Psychopathie, nicht hätte erreicht werden können.335 Die Einrichtung der Kinderbeobachtungsstation an der Berliner Charité zeigt exemplarisch, welche Bedeutung dem Zusammenspiel von privater und öffentlicher Fürsorge zukam. Aufgrund der lückenhaften Quellenlage und widersprüchlicher Angaben in den zeitgenössischen Publikationen ebenso wie in der Forschung zur KBS ist nicht mehr eindeutig zu klären, ob es das Ministerium für Volkswohlfahrt oder die offensichtlich ebenfalls eingeschaltete Unterrichtsverwaltung des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung war, die bereits Mitte Januar 1921 einen einmaligen Zuschuss zur Anstellung einer pädagogischen Leiterin auf der Kinderbeobachtungsstation zur Verfügung stellte. Die restlichen Gehaltskosten trug der DVFjP; ohne die Übernahme des Gehalts seitens des Vereins hätte die klinische Einrichtung nicht in Betrieb genommen werden können. 336 Die Charité stellte lediglich „Kost und Dienstzimmer“ zur Verfügung und fungierte als auszahlende Stelle.337 Um seinen vielfältigen Verpflichtungen nachkommen zu können, nahm der DVFjP seinerseits verschiedene Darlehen auf. So lieh Ruth von der Leyen Anfang der 1930er Jahre von ihrem eigenen Vater eine Summe von insgesamt 10.800 Reichsmark, vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband hatte sie 4.500 Reichsmark erbeten.338 Die Arbeit des DVFjP und seiner Kinderbeobachtungsstation wurde finanziell also in nicht unerheblichem Maße auch privat und von anderen Institutionen gefördert. Indirekt beteiligte sich darüber hinaus die Kommune Berlin an den Kosten der stationären Forschungseinrichtung. Im Januar 1922 wurde, nach einer Vereinbarung der Charité mit dem Berliner Jugendamt, dem Etat der Nervenpoliklinik ein Betrag in Höhe von 5.000 Mark zugerechnet.339 Der Vertrag sah die Überweisung von „psychisch kranken Jugendlichen“ aus den Alt-Berliner und anderen Bezirken an die Nervenpoliklinik vor, die in der neu 335 Insofern ist die Aussage Kölchs, bei der KBS handele es sich um „öffentlich gefördertes privates Engagement“ zwar zutreffend, sie lässt jedoch das Ausmaß und die spezielle Qualität der privaten Wohltätigkeit außer Acht. Vgl. ders. 2006, 225. 336 Kölch 2006, 219. 337 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 387; Kölch 2006, 227. 338 Vgl. Max-Planck-Institut für Psychiatrie – Historisches Archiv (MPIP – HA), GDA, Nr. 43, Rüdin an Medizinalrat Dr. Gütt (RMdI), 18.07.1933. Wann genau Ruth von der Leyen das Geld ihres Vaters in Anspruch genommen hat, ist nicht eindeutig zu klären, offen bleibt auch, ob dies nicht häufiger geschah. 339 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bonhoeffer an die Charité Verwaltung, 9. und 19.01.1922, Bl. 210, 211.

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

131

eingerichteten Sprechstunde des städtischen Jugendamtes als „geistig oder körperlich abnorm“ aufgefallen waren.340 Erwies sich die poliklinische Untersuchung als nicht ausreichend für eine Diagnosestellung, erfolgte die klinische Beobachtung psychopathischer Kinder auf der KBS.341 Wohl als Reaktion auf den augenfälligen Bedarf nach weiteren pädagogisch geschulten Kräften bewilligte das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung dem DVFjP im September 1922 eine einmalige Beihilfe in Höhe von 9.000 Mark zur Anstellung einer zweiten Jugendleiterin, betonte bei dieser Gelegenheit, mit der Einrichtung einer „besondere[n] Kinder-Kranken- und Beobachtungsstation in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité“ die Bestrebungen des Vereins bereits ausreichend gefördert zu haben.342 Von der Schaffung einer Planstelle für die Jugendleiterin wurde abgesehen.343 Aus Sicht der staatlichen und kommunalen Behörden war also eine dauerhafte, aus öffentlichen Mitteln finanzierte Stelle nicht vorgesehen. Dies belegt auch die Tatsache, dass anfänglich weder die Station an sich, noch die dort beschäftigten Pflegekräfte im Haushalt des Berliner Magistrats genehmigt waren.344 Aus diesem Grund sah sich die Charité veranlasst, wie oben beschrieben, Pflegekräfte aus den Abteilungen der erwachsenen Patient_innen für den Dienst auf der KBS abzuziehen, deren Finanzierung bereits gesichert war. Erst mit der allmählichen Konsolidierung des Weimarer Staates und der Stabilisierung seiner Finanzlage übernahm die öffentliche Hand einen Teil der finanziellen Belastung, indem sie ab 1923 die „Gestellung einer Erzieherin“ für die Kinderbeobachtungsstation durch eine jährliche „einmalige Beihilfe“ des Wissenschafts- und des Volkswohlfahrtsministeriums in Höhe von je 780 Reichsmark unterstützte. Beide Ministerien kürzten 1932 aufgrund der wachsenden finanziellen Schwierigkeiten ihre Zuschüsse auf je 700 RM.345 Gegen Vorlage eines ausführlichen Rechenschaftsberichtes warb Ruth von der Leyen die staatliche Unterstützung für jedes Haushaltsjahr neu ein. Über diese Praxis nahm die Bezuschussung schließlich die Form einer fortgesetzten Unterstützung an. Diese belief sich auf eine Gesamtsumme

340 Barch, R 86, Nr. 5677, Bl. 14. Zur Entwicklung der Jugendämter im Kontext der Bildung GroßBerlins 1920 und zur Entstehung des Landesjugendamtes 1925 vgl. auch in diesem Band, S. 203 ff. 341 Kramer 1928, 351. 342 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 233, 236. Inwiefern die beginnende Inflation die Höhe dieses Betrages bestimmte, bleibt ungeklärt. 343 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 236. 344 Kölch 2006, 227. Die Aussage Bonhoeffers bezieht sich auf die allgemeine Krankenversorgung, die die Charité jenseits ihrer universitären Aufgaben zu leisten hatte. Als eine städtische Einrichtung in Verbindung mit einem universitären Krankenhaus hatte die Charité neben ihrem wissenschaftlichen einen Versorgungsauftrag zu erfüllen. 345 Vgl. Barch, R 4901, Nr. 1355, Bl. 82.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

von rund 32.000 RM für die Jahre 1921 bis 1934.346 Da der DVFjP jedoch nicht sicher mit der Verlängerung der Teilfinanzierung rechnen konnte, haftete der Konstruktion durchaus der Charakter der Vorläufigkeit an. Abgesehen davon lag der von der öffentlichen Hand gezahlte jährliche Zuschuss, wie aus einem späteren Schreiben von der Leyens hervorgeht, generell um sechs Prozent niedriger als das reguläre Gehalt einer staatlich geprüften Jugendleiterin.347 Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Berufsverhältnisse der Fürsorgerinnen in den 1920er Jahren allgemein ungeregelt waren und eine hohe existentielle Unsicherheit zur Folge hatten. Der Arbeitsalltag war geprägt von außerordentlicher Überlastung bei gleichzeitiger Unterbezahlung.348 Die Hälfte der fürsorgerisch Tätigen verdiente weniger als 200 Mark netto im Monat, 38 Prozent stand ein monatlicher Betrag von 150 bis 200 Mark im Monat zur Verfügung.349 Im Kontext der Schaffung einer Planstelle im Herbst 1935 sollte die Charité-Direktion einen Jahresvergütungsbedarf für die Jugendleiterin von 2.950 RM zugrunde legen.350 Die öffentliche Beihilfe von monatlich 130 Mark, mit der die Jugendleiterin der KBS ihren Lebensunterhalt zu bestreiten hatte, lag also nicht nur weit unterhalb des Einkommens anderer Professionen, sondern auch innerhalb der eigenen Berufsgruppe unterhalb einer ohnehin bereits als kritisch angesehenen Grenze.351 Laut einer 1933 von Ruth von der Leyen erstellten „Gehaltsliste der Beratungsstelle für Heilerziehung“ erhielt sie selbst zu diesem Zeitpunkt ein monatliches Einkommen von 156 Reichsmark. Als Geschäftsführerin des DVFjP mit einer extrem hohen Arbeitsbelastung lagen ihre Einnahmen also an der untersten Grenze. Charlotte Nohl wurde mit insgesamt 214 Reichsmark entlohnt, wobei nur die eine Hälfte des Gehalts vom DVFjP, die andere vom Lehrlingsheim in der Potsdamer Straße getragen wurde. Die Einkünfte der weiteren Mitarbeiterinnen bewegten sich zwischen 150 und 200 Reichsmark. Nur Martin Winter verdiente mehr als 300 Reichsmark im Monat, möglicherweise kam er in den Genuss einer geschlechtsspezifischen Entlohnung.352 Die Dienstverhältnisse des DVFjP beruh346 Für das Jahr 1921 wird der Betrag von 5.000 M zugrunde gelegt, für 1922 zahlte das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung 9.000 M. Von 1923 bis 1932 bezuschussten das Wissenschaftsund das Wohlfahrtsministerium das Gehalt der Jugendleiterin jährlich mit je 780 RM, von 1932 bis 1934 mit 700 RM, das ergibt die Gesamtsumme von 32.240 RM. 1935 wurden die Zahlungen eingestellt. 347 Vgl. Barch, R 4901, Nr. 1355, von der Leyen an das Wissenschaftsministerium, 06.03.1931, Bl. 39. 348 Vgl. Zeller 1994, 114 f. sowie Heynacher 1925 und illustrierend Stieve 1925 [1983]. 349 Vgl. Heynacher 1925, 46. 350 Barch 4901, Nr. 1355, Bl. 388, 389. Dieser Zusammenhang wird an anderer Stelle noch näher ausgeführt. 351 Das Monatsgehalt von 130 M entspräche dem Betrag von rd. 445 Euro und läge 63 Euro über dem heutigen Regelsatz für Hartz IV. 352 Vgl. MPIP – HA, GDA, Nr. 43, Gehaltsliste der Beratungsstelle für Heilerziehung (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge), S. 6.

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

133

ten vermutlich, wie in der freien Wohlfahrtspflege üblich, eher auf privaten Absprachen als auf tariflichen Vereinbarungen.353 Wahrscheinlich stellte die staatliche Beihilfe die gesamte Summe dar, die die Jugendleiterin verdiente. Für diese Annahme spricht, dass Hilde Classe Anfang 1923 einen Antrag auf Ausbezahlung der Verpflegungskosten für den Verzicht auf die Teilnahme am Schwesternessen stellte. Die Charité leitete das Gesuch an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung weiter, das es jedoch ablehnend beschied.354 Daraufhin wendete sich die Sozialpädagogin mit der Bitte an Bonhoeffer, er möge eine angemessene Besoldung befürworten, da ihr Jahresgehalt von 1.200 RM nicht ausreiche – wobei diese Summe darauf hindeutet, dass der monatliche Verdienst tatsächlich bei nur 100 RM gelegen haben muss. Bonhoeffer, der durch eine solche Geste nichts zu befürchten hatte, da die Charité nicht die direkte Arbeitgeberin der pädagogischen Kraft war, befürwortete das Gesuch handschriftlich.355 Mit Blick auf die eingetretene Geldentwertung erklärte sich das Wissenschaftsministerium bereit, seinen Anteil an der Bezuschussung entsprechend zu erhöhen, wenn das Ministerium für Volkswohlfahrt ebenso verführe.356 Aufgrund der hyperinflationären Entwicklung des Jahres 1923 erhielt der DVFjP im Juli 500.000 RM für die Jugendleiterin und im August 400.000 RM für eine zweite Kraft.357 Vor dem Hintergrund der prekären materiellen Verhältnisse, mit denen die auf der KBS tätigen Sozialpädagoginnen konfrontiert waren, stellten die von der Charité gewährte „freie Wohnung“ und die Teilnahme am Schwesternessen einen Vorteil dar, denn in der Regel entfielen zwischen 40 und 50 Prozent des monatlichen Gehaltes von Fürsorgerinnen auf Ausgaben für ein möbliertes Zimmer mit Frühstück.358 Andererseits gab es für die auf der KBS tätigen Jugendleiterinnen keine Trennung zwischen Berufs- und Privatleben, denn zum einen dehnte sich die heilpädagogische Beobachtung durch die Erzieherin auch auf die Nacht aus, zum anderen musste sie auch in dieser Zeit in problematischen Situationen eingreifen und nahm im Einzelfall auch Kinder zu sich ins Zimmer.359 Gleichzeitig nutzte die Jugendleiterin die Abend- und Nachtstunden für die schriftliche Fixierung der Beobachtungen und die Erledigung anderer Aufgaben. Generell reihten sich die Mitarbeiterinnen des DVFjP ebenso wie dessen Geschäftsführerin in die Masse der sozialpädagogisch hochqualifizierten Frauen ein, die eine 60- bis 353 In diesem Bereich hatten nur knapp 20 Prozent der Fürsorgerinnen überhaupt einen verbindlichen Arbeitsvertrag. Vgl. Zeller 1994, 114. 354 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Ablehnung v. 15.03.1923, Bl. 244; vgl. auch Kölch 2006, 227. 355 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 251; Kölch 2006, 227 sowie FN 260. 356 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Wissenschaftsministerium an den DVFjP, 24.01.1923, Bl. 236. 357 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Bl. 260, 262 und 264. 358 Zeller 1994, 115. 359 Vgl. HPAC, KBS 52, Eintrag v. 28.12.1921, o. Bl.

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3. Franz Kramer, Ruth von der Leyen

80-Stunden-Woche absolvierten, als „höhere Töchter“ jedoch kaum eine Besoldung erhielten. Angesichts dieser Praxis erstaunt es nicht, dass Ruth von der Leyen ihre berufliche Tätigkeit sogar während längerer Phasen einer Tuberkuloseerkrankung vom Krankenbett aus fortsetzte.360 Nachdem sie Ende 1923 an Knochentuberkulose erkrankt war und sich Anfang 1924 einer Operation unterzogen hatte, steckte sie sich zusätzlich mit einer Grippe an.361 „Sie ist aber grossartig, wie sie es nimmt“, äußerte sich Nohl am im April 1924 gegenüber SiegmundSchultze. Bis Mitte Mai erholte sich von der Leyen in einem Sanatorium, bis Ende Oktober 1924 musste sie die Genesung zu Hause fortsetzen. Während dieser Zeit widmete sie sich der Vereinsarbeit, noch im Sanatorium diktierte sie Briefe, überarbeitete ein Manuskript und schrieb eine knapp 30-seitige Fallstudie zum Thema Verwahrlosung, die Ende des Jahres erschien.362 Mit Blick auf die geplante dritte Tagung über Psychopathenfürsorge im September 1924 bereitete sie außerdem eine gemeinsame Vorstandssitzung des DVFjP und des Ausschusses für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfe vor, die sie kurz nach ihrer Rückkehr aus dem Sanatorium in ihrer Wohnung abhielt. „Die Vorbereitung des Kongresses wollte ich, wenn es Ihnen recht ist, selbst übernehmen. Es sind dies Arbeiten, die ich gut [Hervorhebung i. Orig.] vom Bett aus tun kann, und der Arzt war auch mit dieser Beschäftigungstherapie durchaus einverstanden. Es kommt dazu, daß ich auch die engste Verbindung zum J.[ugend]G.[erichts]Tag habe“,

schrieb sie an Siegmund-Schultze. Die von Ruth von der Leyen geleistete Arbeit im Kontext der Erforschung der kindlichen Psychopathie sowie die dauerhafte Tätigkeit Charlotte Nohls auf der KBS wurden unentgeltlich erbracht. „Nun wissen Sie ja, daß Frl. v. d. Leyen seit mehreren Jahren kein Gehalt von seiten des Vereins bezogen hat“, schrieb Friedrich Siegmund-Schultze im März 1924.363 Die von der Leyen zur Verfügung stehenden Privatmittel waren allerdings so bescheiden, dass es ihr nicht einmal möglich war, den Erholungsaufenthalt zu finanzieren, der aufgrund ihrer Erkrankung notwendig geworden war. Siegmund-Schultze sorgte für eine Spende in Höhe von 500 Mark aus den Mitteln des Vereins, mit der sie die Kur schließlich antreten konnte.364 360 Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Ruth von der Leyen, Lotte Nohl, Friedrich Siegmund-Schultze und dem Schatzmeister des DVFjP, Richard Schlanzke, zwischen Januar und November 1924. EZA, Psychopathen II-XX-626-1,2-1923–1926, o. Bl. 361 Über die genaueren Umstände der Erkrankung ist nichts bekannt, möglicherweise hatte sie sich, wie viele ihrer Kolleginnen, bei einem jener Hausbesuche infiziert, der zu ihrem Arbeitsalltag gehörte. 362 Vgl. Leyen 1924c. 363 EZA, Psychopathen II-XX-626-1,2-1923–1926, Siegmund-Schultze an Schlanzke, 24.03.1924, o. Bl. 364 EZA, Psychopathen II-XX-626-1,2-1923–1926, Briefwechsel Friedrich Siegmund-Schultze mit Richard Schlanzke und Lotte Nohl im April 1924, alles o. Bl.

3.5 „Beobachtungsstation bei der Charité“

135

Auch die anderen Mitarbeiterinnen des DVFjP waren nicht über die eigene Familie abgesichert und lebten in prekären Verhältnissen, wie das Beispiel Hilde Classes zeigt. Wie diese, so wendeten sich auch Gertrud Koch und Liselotte Kalischer 1929 mit der Bitte an Bonhoeffer, ihre Bemühungen um eine angemessene Entlohnung zu unterstützen. Die als „Kinderpflegerinnen“ auf der Station beschäftigten staatlich geprüften Hortnerinnen wurden als ungeprüfte Pflegekräfte bezahlt und strebten die Zuordnung zu einer höheren Gehaltsstufe an.365 Der Betriebsrat unterstützte die Anträge Kalischers und Kochs und empfahl der Charité-Direktion die Weiterleitung der Gesuche zur Entscheidung an das Ministerium, da die „Tätigkeitsmerkmale in keiner Gruppe der Lohnordnung zum Tarifvertrag für die preußischen Verwaltungsarbeiter benannt sind“.366 In einer nachträglich geforderten Begründung für seinen Antrag auf Bezahlung der Hortnerinnen als geprüfte Pflegekräfte argumentierte Bonhoeffer gegenüber der Charité-Direktion wie folgt: „Die bei der Einrichtung der Kinderstation vorhandenen planmäßigen Krankenpflegerinnen waren für den Dienst auf der Kinderstation nicht geeignet. Es wurden deshalb nach einiger Zeit anstelle der Krankenpflegerinnen geprüfte Hortnerinnen eingestellt, die unter der Bezeichnung Kinderpflegerinnen den sehr schwierigen Dienst zur Zufriedenheit versehen haben. […] Da seit einiger Zeit sämtliche geprüfte Krankenpflegerinnen in einer höheren Lohngruppe bezahlt werden als die ungeprüften, so beantrage ich, daß für die Kinderstation statt der zwei Krankenpflegerinnen zwei Kinderpflegerinnen geführt werden können, die eine Prüfung als Hortnerinnen abgelegt haben und in Lohngruppe 6 ihre Bezahlung erhalten.“367

Bonhoeffers Antrag wurde am 1. Juni 1929 genehmigt. Kalischer war zu diesem Zeitpunkt bereits aus der KBS ausgeschieden und kam nicht mehr in den Genuss einer höheren Entlohnung, sie hatte drei Jahre lang das Gehalt einer ungeprüften Pflegekraft erhalten. Für Gertrud Koch und Ilse Heintze brachte Bonhoeffers Antrag immerhin eine Verbesserung.

365 UAHUB, Char. Dir., Nr. 912, Vermerk vom 30.01.1929, Bl. 79. 366 UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Betriebsrat an die Charité-Direktion, 13.02.1929, Bl. 82. 367 UAHUB, Char. Dir., Nr. 919, Antrag Bonhoeffers an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 23.03.1929, Bl. 84.

4. Kinderbeobachtungsstation

Als der siebenjährige Erich Köbler die Aufnahmeprozedur für die Kinder-Kranken- und Beobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité hinter sich gebracht hatte, wusste er „in der ersten halben Stunde nicht recht wo er hingeraten“ war, notierte Hilde Classe, und weiter: „Scheu, mit niedergeschlagener Stimme gibt er im Flüsterton Antwort. Nach dem Grund seines Hierseins befragt, schlägt er die Augen noch mehr nieder u. sagt: ‚weil ich unartig war!‘“1 Ähnlich reagierte die achtjährige Käte, die erzählte, sie sei in der KBS, „‚weil sie so ungezogen sei in der Schule, immer damang rede‘.“2 In der Wahrnehmung anderer Kinder war das Versetzt-Sein an das Ende der „ruhigen“ psychiatrischen Frauenstation weniger eine Erziehungsmaßnahme als vielmehr ein Krankenhausaufenthalt. So kam der zwölfjährige Walter mit der „Einstellung her, (die ihm die Mutter beigebracht hat,) er der ‚nervenkranke‘ Junge soll im ‚Krankenhaus‘ beobachtet werden“.3 In den Deutungen der aufgenommenen Kinder scheint die doppelte Funktion der KBS als Ort der Forschung und Erziehung auf, die Ruth von der Leyen folgendermaßen beschrieb: „Die Station dient nicht nur der Beobachtung und der Diagnosenstellung, sondern auch der Einleitung des Erziehungsweges.“4 Allerdings war diese Formulierung bereits die Wendung eines Dilemmas ins Positive, denn der eigentliche Zweck „der psychiatrisch-wissenschaftlichen Erforschung von geistigen Anomalien des Kindes- und Jugendalters“, für den die Station eingerichtet worden war, ließ sich nicht ohne weiteres realisieren. Da „es pädagogisch unmöglich ist, ein Kind nur zu beobachten, ohne es zu erziehen“, die Beschränkung auf eine rein pflegerische Behandlung aber bei den schwierigen Kindern sofort zu weiteren Erziehungsschädigungen führen würde, musste „neben der Beobachtung stets ein gewisses Maß von erzieherischer Förderung einhergehen“.5 Pädagogisches Eingreifen jedoch, so die psychiatrischen Bedenken, verändere die Beobachtungsergebnisse. Der Kompromiss zwischen den unterschiedlichen disziplinären Anforderungen bestand darin, das pädagogische 1 2

3 4 5

HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), o. D. (07.06.–20.06.1926), o. Bl. HPAC, KBS 124, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 05.01.1923, o. Bl. Die Frage nach einer eigenen Erklärung der Betroffenen für ihre Anwesenheit in der Charité findet sich nicht durchgängig, aber häufig in den überlieferten Akten. Sie bezweckte unter anderem offenbar, herauszufinden, inwieweit die Kinder selbst reflektierten, dass ihr abweichendes Verhalten zur Einweisung geführt hatte, um damit einen ersten Ansatzpunkt für pädagogisches Handeln zu haben. HPAC, KBS 110, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (03.10.–09.12.1922), o. Bl. Leyen 1931, 653. Leyen 1929e, 166.

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Handeln nicht nur als Erziehung zu begreifen, sondern ebenso als Forschung, als „Erprobung des zweckmäßigen therapeutischen und heilpädagogischen Weges“.6 Es sollten nunmehr also Erkenntnisse einerseits über die Ursachen abweichenden Verhaltens und andererseits über Beeinflussungsmöglichkeiten gewonnen werden. Die Zusammenarbeit medizinischer und pädagogischer Fachkräfte, mittels derer diese doppelte Aufgabenstellung realisiert wurde, basierte erkenntnistheoretisch auf dem Psychopathiekonzept.7 Der Übergangsbereich zwischen geistiger Krankheit und geistiger Gesundheit, zwischen Abweichung und „Normalität“, der durch dieses Paradigma eröffnet wurde, materialisierte sich in der Kinderbeobachtungsstation. In ihren Strukturen, in der Form ihrer Organisation nahm der Diskurs über kindliche und jugendliche Psychopathie eine konkrete Gestalt an, manifestierte sich das Wissen der Beteiligten darüber. Der Wissensraum „Kinderbeobachtungsstation“ beeinflusste die Alltagspraxis der Menschen, die sich in ihm aufhielten, und entstand zugleich erst durch ihr Handeln, durch die Art, wie sie ihn sich aneigneten und gestalteten.8 Das verweist darauf, dass sich dieser Raum nicht auf den realen Ort der KBS innerhalb des Gebäudekomplexes der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité beschränken lässt, denn die ihn konstituierenden Praktiken überschritten diese topographischen Koordinaten zum Teil deutlich. Eine wesentliche Ursache dafür war seine konzeptionell angelegte Durchlässigkeit: Zwar lassen sich deutlich heilpädagogische und medikale (psychiatrische) Raumpraktiken voneinander unterscheiden, doch beide überlappten und beeinflussten sich wechselseitig. Gemeinsam war ihnen auch, dass sie als urbane Praktiken begriffen wurden und damit die Tendenz zur Öffnung und Erweiterung des heilpädagogisch-psychiatrischen Binnenraums verknüpft war. Anhand des Verhältnisses von Raumaneignung, wie sie in den Krankenakten überliefert ist, und intendierter Raumwirkung, die sich vor allem aus den Publikationen Ruth von der Leyens rekonstruieren lässt, kann letztendlich aufgezeigt werden, ob die mit der Gründung der KBS verbundenen Zielvorstellungen realisiert werden konnten.

6 7 8

Kramer 1928, 352. Die 19-jährige Herta reflektierte das auf der KBS geltende Forschungsparadigma bereits mit der Feststellung, dass der aufnehmende Arzt sie „für psychopathisch“ hielt. HPAC, F 337/1925, Anamnese vom 29.06.1925. Vgl. auch Fuchs 2014. Ankele 2009, 64.

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4.1 Der Raum: Konzept und Praxis Heilpädagogischer Raum: Beobachten und Erziehen Materielle und epistemologische Ausgangsbedingungen Die im Kopfbau des Frauenflügels der psychiatrischen Klinik untergebrachte Kinderbeobachtungsstation verfügte über eine Fläche von etwas mehr als 160 Quadratmetern, wobei in dieser Zahl außer den drei vorhandenen Zimmern auch der dazwischen liegende Flur enthalten ist. Das Bad lag einige Meter von diesen Räumen entfernt, bereits im Bereich der Frauenstation, deren Küche die KBS mitnutzte.9 Um 1930/31 erhielt die Station ein eigenes Untersuchungszimmer, wobei es keine näheren Hinweise darauf gibt, wo genau sich dieses Zimmer befand.10 Vorgesehen waren diese Räumlichkeiten ursprünglich für eine Belegung mit 13 erwachsenen Patientinnen, ein weiteres Bett stand für eine Pflegerin während der Nachtwache zur Verfügung. Mit der Umwidmung zur Psychopathie-Forschungsstation änderte sich die maximale Belegungsdichte nur unwesentlich. Nunmehr sollten sich bis zu zwölf Kinder und die pädagogische Leiterin den vorhandenen Platz teilen, hinzu kamen tagsüber bis zu zwei Pflegekräfte.11 Der neue Zweck erforderte jedoch Änderungen im Raumkonzept der Station, die jetzt unter funktionalen Gesichtspunkten mindestens drei verschiedene Räume in sich vereinigen musste, in denen die Kinder mit jeweils unterschiedlicher Schwerpunktsetzung sowohl beobachtet als auch erzogen werden sollten. „Die Räume sind so wohnlich wie möglich gestaltet, um hierdurch ein familienhaftes Milieu (im Gegensatz zum Klinikmilieu) zu schaffen“, betonte Ruth von der Leyen in einer Beschreibung der KBS.12 Die Innenraum-Gestaltung der Station zielte also darauf ab, eine als ideal gedachte familiäre Situation in einem medikalen Umfeld nachzubilden und darüber eine für die Kinder vertraute Atmosphäre zu schaffen. Ein solches Raumkonzept wurde auch als günstig für die Forschungsaufgaben angesehen. So kamen auf der zweiten Tagung über Psychopathenfürsorge im Mai 1921 – nur wenige Wochen nach Gründung der Berliner KBS – „Pädagogen, Psychiater und Psychologen“ in der Diskussion über die Einrichtung und institutionelle Verortung von Beobachtungsstationen für psychopathische Kinder und Jugend9 10 11 12

Zur Küche vgl. HPAC, KBS 697, Pädagogische Beobachtungen, Eintrag v. 30.07.1931, o. Bl. Leyen 1931, 652. Vgl. in diesem Band, S. 126 ff. Leyen 1931, 653.

4.1 Der Raum: Konzept und Praxis

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Abb. 3: Grundriss 1. OG Psychiatrische und Nervenklinik der Charité, 1908, Kreis: Lage der späteren Kinderbeobachtungsstation

liche zu der Auffassung, für die Zeit der Beobachtung sei es notwendig, „daß der Jugendliche in eine Umgebung kommt, die nicht zu fremdartig ist, und die dadurch sein Verhalten nicht zu stark beeinflusst […]“.13 Die Beobachtung der Jungen und Mädchen in einer Krankenhausatmosphäre erschien nicht als sinnvoll, da sich der um das Krankenbett herum organisierte klinische Betrieb zu sehr von ihrem Leben außerhalb der Krankenhausmauern unterschied. Deshalb mussten die äußere Gestaltung und die innere Organisation des Raumes so erfolgen, dass in ihm ein nachempfundener Alltag schulpflichtiger Kinder stattfinden konnte. Als wichtigste Räume dieses 13 Leyen 1921, 95.

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Alltags identifizierten die bildungsbürgerlichen Akteur_innen des DVFjP die Wohnung und die Schule. In Bezug auf die erzieherische Aufgabe der Station orientierte sich der Anspruch, durch die räumliche Gestaltung familiäre Muster aufzurufen und kindliche Bedürfnisse zu beachten, an reformpädagogischen Vorstellungen, die auf Pestalozzi zurückgingen.14 Die daraus resultierende Funktion des Stationsraumes lässt sich mit dem Begriff des „Heilerziehungsheims“ umschreiben. Die erste praktische Konsequenz für die Raumgestaltung, die sich aus den Überlegungen ergab, wie die KBS ihre Forschungs- und Erziehungsaufgabe am besten erfüllen konnte, war die Konzentration aller Betten im größten Zimmer der Station. Dadurch entstand hier zwar ein sehr gedrängter Eindruck, der möglicherweise das Krankenhausambiente noch unterstrich, zugleich wurde aber ein Zimmer frei, das nunmehr als multifunktioneller Tagesraum genutzt wurde und quasi den „Gegenentwurf“ eines klinischen Raums darstellte. Die äußere Gestaltung der KBS-Räume ist lediglich in zwei Kinderzeichnungen dokumentiert, die in den Krankenakten erhalten sind, Fotografien der Station existieren nicht. Eine dieser Zeichnungen bildet offenbar den Wohn- und Schlafraum der Jugendleiterin ab, der einen sehr behaglichen Eindruck macht; die Wand ist mit einem umlaufenden schmalen Fries versehen, mit gerahmten Bildern und einem Spiegel geschmückt. Das Zimmer enthält einen schmalen Kleiderschrank mit geschwungenem Aufsatz, ein Bett, auf dem ein fülliges gemustertes Kissen und eine Decke zu erkennen sind, sowie einen kleinen runden Tisch mit zwei Stühlen in der Mitte des Raums, darauf eine Vase mit frischen Blumen.15 Der Schreibtisch der Jugendleiterin ist nicht abgebildet, er wird jedoch in einem ihrer Berichte erwähnt, ebenso eine Nähmaschine.16 Die zweite Zeichnung zeigt den vergleichsweise nüchtern wirkenden Schlafraum der Mädchen und Jungen – hier gibt es keine Geschlechtertrennung. Vor jedem der abgebildeten Betten steht ein Stuhl, dessen Sitzfläche in den Raum weist, unter den Schlafstellen ist je ein Nachttopf zu erkennen, im Vordergrund des Bildes befindet sich ein kleineres Gitterbett für jüngere Kinder.17 Die Wände des Schlafraums tragen keinen Schmuck und keine Bilder, aber es gibt mit einem größeren Tisch und mehreren Stühlen Elemente der Wohnlichkeit, die durch ein Arrangement mit frischen Blumen ergänzt werden. Drei Hängelampen erhellen das Zimmer, das durch die Darstellung mehrerer Kinder und Erzie-

14 Vgl. Reutlinger 2009, 99 f. 15 HPAC, KBS 329, Zeichnung von 1927, ohne Titel, o. Bl. 16 HPAC, KBS 20, II. Bericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 07.09.1921; KBS 687, Pädagogische Beobachtungen (Pederzani), Eintrag v. 29.07.1931, alles o. Bl. 17 HPAC, KBS 334, „Kinderstatsion“ (1927).

4.1 Der Raum: Konzept und Praxis

Abb. 4a und 4b: „Kinderstatsion“ und Zimmer der Erzieherin

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herinnen, die in lebhaftem Kontakt zueinander stehen, einen sehr lebendigen Eindruck hinterlässt.18 Vom Tagesraum der KBS existiert keine Abbildung, aber aus den Krankenakten lässt sich schließen, dass er mit mindestens zwei Tischen ausgestattet war, an denen die Kinder ihre Mahlzeiten einnahmen.19 Hier gab es auch eine Auswahl an Spielzeug wie Bausteine, Puppen, Puppenbetten, Eisenbahn, Tierpuppen, Knete, Material zum Malen und Zeichnen, Brummkreisel sowie Bücher.20 Ein Teil davon wurde vermutlich in einem Schrank aufbewahrt, der sich ebenfalls im Zimmer befand.21 Verschiedentlich wird der Tagesraum in den Akten als Wohn-, Ess- oder Spielzimmer bezeichnet.22 An seiner Ausstattung und Nutzung wird deutlich, dass er im Zentrum der Konzeption eines „familienhaften Milieus“ stand. Raumpraxis Wohnung Im Unterschied zu einer klinisch-sterilen Wirkung war das Raumkonzept der KBS in der Wohnungsfunktion auf Wohlfühlen, Vertrautheit und Gemeinschaft ausgelegt und zielte darauf ab, die zeitweise aus der Familie heraus gelösten Kinder und Jugendlichen durch den Wechsel in eine fremde Umgebung nicht zu sehr aus dem Gleichgewicht zu bringen. Durch die „familienartige“ Atmosphäre sollten die Mädchen und Jungen sich wie zu Hause fühlen und sich entsprechend ungehemmt, ungestört verhalten. Aus demselben Grund sollte die Gruppengröße auf jenen Beobachtungsstationen, die psychiatrischen Kliniken angegliedert waren und der Erforschung der kindlichen und jugendlichen Psychopathie dienten, nicht mehr als durchschnittlich zehn bis maximal 25 Kinder umfassen.23 Die KBS befand sich mit offiziell zwölf Plätzen am unteren Rand dieser Vorgabe, die tatsächliche Belegung unterlag jedoch großen Schwankungen. Es kam vor, dass nur ein einziges Kind betreut wurde, zeitweise mussten aber auch 13 oder 14 Kinder untergebracht werden. Zudem waren die Altersgrenzen für die Aufnahme an der KBS flexibel. Abweichend von der Maßgabe, eine Einrichtung für Mädchen und Jungen im schulpflichtigen Alter zu 18 HPAC, KBS 334, „Kinderstatsion“ (1927). 19 Vgl. etwa HPAC, KBS 202, Egodokument „Walter J.“, o. D. (März 1925), o. Bl. 20 HPAC, KBS 671, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 17.04.1931; KBS 653, Notizen Kinderstation 30a (Pederzani), Eintrag v. 03.02.1931, alles o. Bl. 21 HPAC, KBS 825, Beobachtungsbericht (Pederzani), Eintrag v. 02.06.1933, o. Bl. 22 HPAC, KBS 651, Erzieherinnenbericht (Pederzani), o. D. (29.01.–07.02.1931); KBS 697, Pädagogische Beobachtungen (Pederzani), Eintrag v. 12.07.1931; KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 31.08.1926, KBS 653, Notizen Kinderstation 30a (Pederzani), Eintrag v. 04.01. [02.]1931, alles o. Bl. 23 Leyen 1929e, 166.

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sein, wurden sowohl Kleinkinder als auch heranwachsende junge Frauen und Männer zwischen 15 und 21 Jahren aufgenommen. Insbesondere die Älteren konnten die Betreuungszahl für die KBS erhöhen, denn sie schliefen auf den Erwachsenenstationen, waren aber der Kinderstation zugeordnet und tagsüber in deren Alltag eingebunden.24 Bei der ersten Aufnahme Erich Köblers waren bereits drei Mädchen und vier Jungen auf der Station.25 Das dürfte der durchschnittlichen Belegungszahl entsprochen haben. Ein kleiner „Heimbetrieb“, so von der Leyen, ermögliche die individuelle Förderung des einzelnen Kindes und ließe sich zugleich „mehr der Familie angleichen“.26 Die Familienkonstellation, die der „Wohnraum“ KBS etablierte, lässt zunächst deutlich das traditionelle Rollenverständnis einer bürgerlichen Familie erkennen. Als „Mutter“ fungierte die Jugendleiterin.27 Sie war ganztägig mit den Kindern zusammen, organisierte den Tagesablauf und die gemeinsamen Aktivitäten der „Familie“, verteilte und beaufsichtigte die im „Haushalt“ zu erledigenden Aufgaben, war die unmittelbare Ansprechpartnerin der Kinder bei emotionalen Problemen und trug die Hauptlast der Beziehungsarbeit mit ihnen.28 Die Rolle des Vaters fiel dem Arzt zu. Er war die Autoritätsperson, die nicht immer anwesend war, aber bei besonderen Problemen gerufen wurde und eine Lösung herbeiführte. So entschied er darüber, wann somatisch erkrankte Kinder das Bett wieder verlassen durften, wie im Fall der 13-jährigen Lotte, die aufzustehen wünschte: „Herr Dr. P[ollnow]. sieht sie noch einmal an und erfüllt ihren Wunsch.“29 Während diese Entscheidung noch im Rahmen der professionellen Aufgabe eines Arztes lag, gab es auch Konfliktsituationen, in denen die Mediziner erzieherisch Einfluss nahmen.30 Eine solche Situation ergab sich beispielsweise bei Erich Köblers zweitem KBS-Aufenthalt. Der inzwischen 14-jährige Junge wollte abends nicht mit den anderen Kindern schlafen gehen, legte sich auf den Fußboden statt ins Bett, machte störende Geräusche und zog sich betont langsam aus. Boletta Pederzani, die an diesem Abend allein auf der Station war, holte sich den diensthabenden Arzt zu Hilfe. Daraufhin kroch Erich unter die Decke und schlief ein.31 24 Das jüngste aufgenommene Kind war die zweijährige Barbara (HPAC, KBS 673). Zu den Jugendlichen und jungen Heranwachsenden zählte z. B. die 19 Jahre alte Herta B. (HPAC, F 337/1925). 25 HPAC, Diagnosebuch KBS, Jahrgang 1926. 26 Leyen 1929e, 169. 27 Zum Konzept „geistiger Mütterlichkeit“ im Kontext von Sozialpädagogik und bürgerlicher Frauenbewegung vgl. Allen 2000; Sachße 2003. 28 Sie fühle sich „ganz als ‚Stütze der Hausfrau‘“, also der Jugendleiterin, heißt es über ein Mädchen, das hilft, die anderen Kinder zu besorgen. HPAC, KBS 76, Bericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 21.03.1922, o. Bl. 29 HPAC, KBS 656, Beobachtungen auf der Kinderstation 30a (Pederzani), Eintrag v. 20.02.1931, o. Bl. 30 Vgl. etwa HPAC, KBS 678, Pädagogische Beobachtungen (Pederzani), Eintrag v. 06.05.1931, o. Bl. 31 HPAC, KBS 825, Beobachtungsbericht (Pederzani), Eintrag v. 28.05.1933, o. Bl.

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Die „väterliche“ Autorität war anscheinend nicht an das biologische Geschlecht, sondern an den ärztlichen Status gebunden. Daher wurde sie auch von Medizinerinnen wie Edith Vowinckel ausgeübt, die als Stationsärztin unter anderem in einen Konflikt mit gewaltsamen Zügen eingreifen musste: „Als die Tür geöffnet wurde, stand er da mit gezücktem Messer, als er nun von Ref. heftig ausgescholten wurde, wurde er ganz blass, weinte sehr verzweifelt, legte sich ins Bett, war später ziemlich still.“32 Die Vaterrolle des Arztes konnte auch in einer negativen Variante zum Tragen kommen, indem das problematische Verhältnis gegenüber dem leiblichen auf den „institutionellen“ Vater übertragen wurde. Der 14-jährige Horst stellte „den Arzt mit dem Vater auf eine Linie“ und seine anfängliche „Opposition gegen Erwachsene“ richtete sich nach mehrwöchigem Aufenthalt auf der KBS „nur noch gegen fernere Autoritätspersonen (z. B. den Arzt)“.33 Aber nicht nur in problematischen Situationen war der Psychiater am „Familienleben“ der Kinderstation beteiligt. Der zuständige Stationsarzt suchte regelmäßig das „Wohnzimmer“ auf und agierte aktiv im pädagogischen Umfeld. So gab sich Rudolf Thiele als Gast einer Kindergeburtstagsfeier durchaus privat, indem er rauchte und sich mit einem Aschenbecher versorgen ließ.34 Selbst der Klinikchef wurde in die Wohnungsfunktion eingebunden, als er die Station besuchte, während die Kinder den „Familienalltag“ lebten: „Als wir beim II. Frühstück sitzen, kommt Herr Geheimrat B[onhoeffer], Agy begrüßt ihn, und erzählt ohne Scheu, daß sie hier sei, weil sie Dummheiten gemacht habe und ungehorsam gewesen sei.“35 Neben dem herkömmlichen Verständnis von Familie produzierte die Praxis auf der Kinderbeobachtungsstation aber auch alternative Möglichkeiten, die sich beispielsweise in der häufigen Anwesenheit Ruth von der Leyens ausdrückten. Die Sozialpädagogin nahm an zahlreichen Aktivitäten auf und außerhalb der Station teil und hatte – als Teil der „Familie“, aber jenseits traditioneller Rollenzuschreibungen – eine Vorbildfunktion, insbesondere für die Mädchen, die angeregt wurden, ihr in beruflicher Hinsicht nachzueifern. Die Zukunftsplanung der 14-jährigen Elfriede sah entsprechend vor, „‚Sekretärin bei Tante Ruth zu werden‘, oder Tante Ruth soll ein Kinderheim machen, wohin sie dann als ‚Kindermädchen‘ gehen kann.“36 Die bei ihrem ersten KBS-Aufenthalt 17-jährige Elisabeth versuchte mit Unterstützung von der Leyens und ihrer Kolleginnen tatsächlich eine Ausbildung in einem Erziehungs-

32 HPAC, KBS 462, 493, 515, Krankengeschichte (Vowinckel), Eintrag v. 18.02.1930, o. Bl. 33 HPAC, KBS 202, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), o. D. (10.02.–12.05.1925), S. 3, 7 f., o. Bl. 34 HPAC, KBS 76, Bericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 21.03.1922, o. Bl. 35 HPAC, KBS 653, Notizen Kinderstation 30a (Pederzani), Eintrag v. 03.02.1931, o. Bl. 36 HPAC, KBS 76, Bericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 27.03.1922, o. Bl.

4.1 Der Raum: Konzept und Praxis

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beruf zu absolvieren.37 Aber auch auf die Jungen verfehlte dieses Element einer moderneren Auffassung von Familie seine Wirkung nicht: „Ehrlich erstaunt war Werner, daß Tante Ruth ‚nur‘ einen Vater u. keinen Mann habe. ‚Dann ist sie man bloß ein Fräulein da hat sie’s aber weit gebracht!‘ Ehrliche Bewunderung!“38

Die Kinder nahmen das Wohnungskonzept in der Regel an und nutzten die Möglichkeiten, die ihnen vor allem die Ausstattung des Tagesraums und die Anwesenheit anderer Kinder bot: „Hier kann man so schön spielen mit Puppen und mit Bauklötzen u. mit Schäfchen, und hier ist ein kleines Hildchen“, diktierte Gisela der Erzieherin für einen Brief an ihre Mutter.39 Die Beteiligung der Kinder an der Raumgestaltung war nicht ausdrücklich vorgesehen, wurde aber, zumindest in einem gewissen Rahmen, toleriert: Hilde hängte beispielsweise „heute die Bilder an der einen Wand u. morgen an der andern Wand.“40 Das bewegliche Mobiliar des „Wohnzimmers“ gestattete es den Kindern auch, temporäre eigene Räume zu erschaffen. Horst baute 1925 das gesamte Zimmer um, weil er „König“ spielte. Er errichtete einen „Thron, den ‚Empfangsraum‘, die ‚Privatgemächer‘“, bediente sich dabei der ihm zu Gebote stehenden Einrichtungsgegenstände, die er umstellte und mit Blumen bedeckte; mit verhängten Lampen schuf er eine eigene Raumstimmung.41 Über Erich Köbler heißt es im darauffolgenden Jahr: „… bastelt u. baut selbst aus Stühlen Eisenbahn oder Auto, spielt Umzug u. dergl.“42 Die „heimelige“ Gestimmtheit des Tagesraums der KBS erleichterte die heilpädagogische Beobachtung, indem sie irreführende Eindrücke zum Verhalten des jeweiligen Kindes oder Jugendlichen minimierte. Infolgedessen beziehen sich zahlreiche Einträge in den Berichten der Jugendleiterin auf das Spielverhalten der Kinder. Darin wurde unter anderem festgehalten, ob sie in der Lage waren, allein, ausdauernd, phantasievoll oder abwechslungsreich zu spielen, und wie sie im Zusammenspiel mit anderen Kindern agierten.43 Diese Informationen 37 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 1. Elisabeths Aufnahme ist im Diagnosebuch der KBS unter der Nummer 57 vermerkt, die Krankenakte wurde jedoch nicht gefunden. Zur Fallgeschichte vgl. auch Kramer 1927b, 50–64, der sowohl aus der heilpädagogischen Akte des DVFjP als auch aus der Krankenakte zitiert. 38 HPAC, KBS 52, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 07.01.1922, o. Bl. 39 HPAC, KBS 671, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 20.04.1931, o. Bl. 40 HPAC, KBS 96, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 15.08.1922, o. Bl. 41 HPAC, KBS 202, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), o. D. (10.02.–12.05.1925), S. 5, o. Bl. 42 HPAC, KBS 263 , Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 31.08.1926, o. Bl. 43 HPAC, KBS 524, Erzieherinnenbericht, Eintrag v. 30.03.1930, o. Bl.: „Hans neckt gern die anderen Kinder, ist aber sofort beleidigt, wenn die anderen ihn verkohlen, sondert sich dann sofort von den anderen ab.“, Eintrag v. 19.04.1930, o. Bl.: „Er beschäftigt sich sehr gut allein. Er baut auf der Erde

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4. Kinderbeobachtungsstation

waren bedeutsam für die Einschätzung der Art der psychopathischen Konstitution ebenso wie für das Finden des geeigneten pädagogischen Ansatzes bei ihrer weiteren erzieherischen Beeinflussung. Auch im Konzept eigentlich nicht intendierte Raumnutzungen durch die Kinder wurden in den Forschungsauftrag der Station integriert, indem das entsprechende abweichende Verhalten protokolliert wurde: Während einer Auseinandersetzung mit Boletta Pederzani kletterte Erich Köbler im Wohnzimmer auf den Schrank, sang und trommelte laut, drohte die darauf befindlichen Gegenstände herunterzuwerfen.44 Der familienartige Charakter des Zusammenlebens in der „KBS-Wohnung“ hatte seine theoretische Grundlage nicht nur in methodischen Überlegungen bezüglich einer optimalen Beobachtungssituation. Zugleich rekurrierte diese Vorgabe auf die Grundannahmen von der Leyens, deren Konzept zur „Psychopathenerziehung“ den Eltern und der Familie als „natürlichen“ Erziehern des Kindes einen hohen Stellenwert beimaß. Das pädagogische wie soziale Ethos ihrer Konzeption richtete sich darauf, „die Beziehungen zwischen Eltern und Kind nicht zu zerreißen oder zu lockern, nicht Trennendes dazwischen zu schieben, sondern den Versuch zu machen, im Laufe der erzieherischen Beeinflussung diese Beziehung wieder zu befestigen. Kein fremder Erzieher – noch so großes Verständnis vorausgesetzt – kann dem Kind die Beziehungen zu den natürlichen Erziehern ersetzen. Fehlen diese, so wird im Leben und der Entwicklung des Kindes immer eine Lücke, immer ein schwer empfundener Mangel bleiben, den kein Fremder ganz auszufüllen vermag. Die Ausschaltung der elterlichen Beziehungen – sie mögen etwa für den Heimerzieher noch so belastend, noch so unbequem sein –, ist in allen Fällen eine Verantwortung gerade dem psychopathischen Kind gegenüber, deren Bedeutsamkeit der Erzieher nicht schwer genug nehmen kann.“45

Bahnhöfe, Eisenbahnbrücken u.s.w. Entwickelt dabei gute Phantasie. Er ist manuell gut, hat einen Dampfer geknetet mit allen Kleinigkeiten u. ist sehr stolz darauf.“ HPAC, KBS 137, Erziehungsund Beobachtungsbericht (Classe), Eintrag v. 01.06.1923, o. Bl.: „Was bei Lotte im Verkehr mit den Kindern, mit Erwachsenen, bei Spiel u. Arbeit auffällt, ist ihre Lebhaftigkeit u. Empfindsamkeit.“, Eintrag v. 20.06.1923, o. Bl.: „Im Verkehr mit den Kindern ist sie sehr übelnehmerisch, spielt schnell nicht mit, wenn ihr einer zunahegekommen [sic] ist. Sie petzt dann auch leicht.“ HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 21.06.1926, o. Bl.: „Im Verkehr mit den anderen Kindern laut u. unverträglich, so bald seine Wünsche nicht berücksichtigt werden. Er will Führer, er will Mittelpunkt sein!“ 44 HPAC, KBS 825, Beobachtungsbericht (Pederzani), Eintrag v. 02.06.1933, o. Bl. 45 Leyen 1929d, 157.

4.1 Der Raum: Konzept und Praxis

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Nur Fälle, in denen die Familienverhältnisse völlig zerrüttet waren, bildeten hier eine Ausnahme. Grundsätzlich sollten die Eltern erziehungsschwieriger und verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher weder der „erzieherischen Unfähigkeit“ beschuldigt werden, noch sollten diese die pädagogische Verantwortung „leichtfertig auf die Schultern der öffentlichen Wohlfahrt“ abwälzen dürfen.46 Insofern war Besuch von Angehörigen auf der KBS nicht nur möglich, sondern ausdrücklich gewünscht, eine Option, die von den Eltern und anderen erziehungsberechtigten Personen in der Regel auch wahrgenommen wurde.47 Dass die raumkonzeptionelle Absicht durchaus aufging und die KBS von den Kindern tatsächlich als Wohnung wahrgenommen wurde, in der sie ihre Eltern als Gäste empfingen, zeigt das Beispiel der sechsjährigen Edith. Sie war beim Besuch der Eltern „freudig erregt spricht quantitativ mehr als sonst, ist überhaupt aktiver und entwickelt Initiative, beginnt den Tisch zu decken für die Eltern, will aus der Küche Kaffee holen, nimmt das Tablett unter dem Arm, will die Erzieherin veranlassen, mit ihr in die Küche zu gehen“.48 Raumpraxis Schule Die KBS war jedoch nicht nur „Wohnung“, sondern auch „Schule“. Um die Kinder unter Bedingungen beobachten zu können, die ihrem Alltag außerhalb der Station möglichst nahe kamen, wurden sie an den beiden Tischen im Tagesraum nach Geschlechtern getrennt unterrichtet und beschäftigt.49 Durch die räumliche Nähe der beiden Tische wurde zwar faktisch das zeitgenössisch vorherrschende Konzept der Koedukation angewendet, zugleich aber mit der geschlechtergetrennten Beschäftigung von Mädchen und Jungen, deren psychopathische Konstitution und die daraus abgeleiteten unterschiedlichen Erziehungsziele berücksichtigt. „Der Junge kann leichter zur ‚Sachliebe‘ geführt werden, während dieser Weg bei dem Mädchen länger und heftiger über die ‚Personenliebe‘ geht; aber es ist bei beiden Geschlechtern nur ein Größenunterschied“, konstatierte von der Leyen. Vor allem für die schulentlassenen Jungen

46 Leyen 1929d, 157, 161. 47 Die psychiatrische Klinik hatte wahrscheinlich feste Besuchstage, allerdings konnte den Akten nicht entnommen werden, um welche Tage und Zeiten es sich dabei handelte. Vgl. etwa HPAC, KBS 202, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin, 11. Seite. Anscheinend gab es neben den festen Besuchszeiten auch Ausnahmen. Vgl. HPAC, KBS 192: Besuch des Vaters am 10.02.1925, einem Dienstag; HPAC, KBS 23: Am Donnerstag, den 14. Juli 1921, besuchen die Eltern ihren Sohn auf der Station. Einen Monat später, an einem Sonntag, sucht ihn die betreuende Fürsorgerin der Bezirksfürsorgestelle Friedrichshain auf. Zum Alltag in den Kliniken der Charité gibt es bisher keine Veröffentlichungen, welche Tage und welche Zeiten für Besuch der Angehörigen vorgesehen waren, ist nicht bekannt. 48 HPAC, KBS 697, Pädagogische Beobachtungen (Pederzani), Eintrag v. 30.07.1931, o. Bl. 49 HPAC, KBS 647, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 27.01.1931, o. Bl.

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und Mädchen hielt sie eine nach Geschlechtern getrennte Erziehung aufgrund unterschiedlicher berufsbezogener Ansprüche für notwendig, „denn beim Mädchen steht – eingestanden oder nicht – das Berufsinteresse immer hinter dem Interesse am Leben, am Ich zurück. Der Beruf wird das Mädchen seltener als den Jungen zu einer sachlichen Bindung über die eigene Person hinausführen“.50 Bei Klein- und Schulkindern plädierte sie dagegen für geschlechterund altersgemischte „Gemeinschaften“, diese seien weniger „künstlich“ zusammengesetzt als altersgleiche Gruppen und ermöglichten daher eine lebensnähere Erziehung. Ob die Aufnahme von Mädchen und Jungen analog dieser Kriterien durch den DVFjP und die Nervenpoliklinik gesteuert wurde, bleibt offen, faktisch aber waren die Gruppen in der Regel heterogen besetzt. Der tägliche Schulunterricht zeugt von der untrennbaren Verbindung zwischen heilpädagogischer Beobachtung und Erziehung, die Ruth von der Leyen immer wieder hervorhob.51 Seine zentrale Bedeutung für das pädagogische Konzept zeigt bereits ein Schreiben Bonhoeffers an die Charité-Direktion vom April 1922, in dem er die Einstellung mindestens einer zusätzlichen Pflegerin auf der Station beantragte, um den Unterricht erfolgreich durchführen zu können. Die Jugendleiterin allein sah sich nicht imstande, mit den schwierigen Kindern und Jugendlichen fertig zu werden und diese gleichzeitig zu beschulen.52 Hilde Classe vermerkte im Juli 1921: „Ich arbeite jetzt mit den Schulkindern.“53 Eingangs ermittelte sie das Schulwissen der Kinder und Jugendlichen, um an den bestehenden Kenntnissen, den Fähigkeiten und Fertigkeiten anzusetzen und die Mädchen und Jungen individuell und – wie es heute heißt – ressourcenorientiert zu fordern und zu fördern. Im Rahmen des Unterrichtes auf der Station schrieben die Kinder Diktate, Aufsätze und kleine Texte wie Lebensläufe, Geschichten, Theaterstücke und Bildbeschreibungen.54 Ebenso lösten sie Mathematikaufgaben, übten sich im Kopfrechnen, addierten kleinere Geldsummen, rechneten Pfennige in Mark um und erarbeiteten sich das große Einmaleins. Darüber hinaus hatten sie regelmäßig Schularbeiten zu erledigen.55 In dem Bericht über Erich Köbler erscheint das breite Themenspektrum des Unterrichts, gleichzeitig werden die damit zusammenhängenden Beobachtungen seines Verhaltens zusammengefasst: Er 50 51 52 53 54

Leyen 1929e, 169. Leyen 1929e, 167. UAHUB, Char. Dir. 912, Bl. 214. HPAC, KBS 20, II. Bericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 14.07.1921, o. Bl. Vgl. etwa HPAC, KBS 20, II. Bericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 14.07.1921, o. Bl.: „Bei dem 1. Diktat war beinahe jedes Wort falsch. Bei 38 Worten 27 falsch.“; KBS 405. Der 16-jährige Bruno verfasste „Ein Kasperlestück“, das in der Akte überliefert ist. 55 HPAC, KBS 124, Erziehungs- und Beobachtungsbericht (Classe), Eintrag v. 10.02.1923, o. Bl.: „Bei den Schularbeiten ist sie freudig, interessiert, gibt sich Mühe.“; KBS 192, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), o. Bl.: „[…] bei Schularbeiten ist er sehr eifrig.“

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„ist am aufmerksamsten wenn in der Schulstunde etwas Besonderes besprochen wird z. B. über Gewitter, Sternenhimmel, fremde Länder u. Völker dann ist er lebhaft u. ausdauernd dabei, beteiligt sich mit viel Fragen u. dem was er weiß. Das alltägliche Schreiben u. schriftliche Rechnen ist ihm eine Qual. Seine Hefte sind verklext [sic] die Wörter flüchtig verschrieben.“56

Die zahlreichen Beschreibungen von Unterrichtssituationen in den Krankenakten belegen, dass es sich dabei keineswegs lediglich um „lebenspraktische Unterweisung und Beschäftigung“ bzw. die „Hinführung zu nützlicher Tätigkeit handelte, die die Fürsorgerinnen zu organisieren hatten“.57 Vielmehr war die Beschulung psychopathischer Mädchen und Jungen Teil des Konzeptes der „Psychopathenerziehung“, die von der Leyen als „Normalerziehung bei Berücksichtigung der psychopathischen Konstitution“ definierte.58 Besondere Schulen für psychopathische Kinder und Jugendliche analog der Hilfsschulen für „Schwachsinnige“ existierten in Deutschland nicht, auch wurde ihre Einrichtung nicht erwogen.59 Im Gegenteil, von der Leyen und ihre Mitstreiter_innen strebten nach Möglichkeit den Besuch öffentlicher Schulen für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche an. „Im Dasein des Schulkindes sollen Schule und Schularbeiten eine große Rolle spielen, denn sie bereiten auf die spätere Berufs- und Lebensarbeit vor. Die Heimschule wird die öffentliche Schule nie ganz ersetzen können; denn unwillkürlich wird der Betrieb der Heimschule der Abnormität des Kindes angepaßt, während die öffentliche Schule die Anpassung des Kindes an den Schulbetrieb fordert. Es besteht also die Gefahr, daß der Übergang ins Leben dadurch erschwert wird, wenn das Kind lediglich Heimschule oder Sonderunterricht genossen hat.“60

Die Integration des Unterrichts der beobachteten Kinder in den Stationsalltag war daher ein Kompromiss zwischen dem Forschungsauftrag der KBS und dem Erziehungsanspruch der Psychopathenfürsorge. Eine Beobachtung unter realen Schulbedingungen ließ sich organisatorisch kaum bewerkstelligen. Deshalb war der Unterricht auf der Station die einzige Möglichkeit, zumindest schulähnliche Bedingungen herzustellen. Tatsächlich trat hierbei auffälliges Verhalten in zahlreichen Varianten auf. Das Spektrum reichte von Schwierigkeiten aufgrund der motorischen Unruhe eines Kindes61 bis zu bewussten Unterrichtsverweigerun-

56 57 58 59 60 61

HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 03.10.1926, o. Bl. Kölch 2002, 224. Leyen 1931, 661. Leyen 1927f, 3. Leyen 1929e, 170. „Unterrichtsversuche sind sehr schwer, da Karl nicht zu fixieren ist.“ HPAC, KBS 174, Krankengeschichte, Eintrag v. 13.07.1924, o. Bl.

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gen, die wiederum mit alternativen Raumnutzungen verbunden waren.62 Bemerkenswert ist, dass die Konzentration erziehungsschwieriger Kinder offenbar nicht zu einem gehäuften Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten führte; jedenfalls wird das weder in den Akten noch in den wissenschaftlichen Publikationen aus der KBS explizit thematisiert. Raumpraxis Heilerziehungsheim Das institutionelle „Zuhause“ ersetze zwar niemals die Familie, konstatierte Ruth von der Leyen, es diene aber dem Zweck, „die pädagogische Sachaufgabe zu lösen, die die Familie nicht leisten kann“.63 Mit dieser Aufgabenbeschreibung eines Heilerziehungsheims ist die dritte Funktion des heilpädagogischen Raums der Kinderbeobachtungsstation benannt. Auch wenn die durchschnittliche Verweildauer hier deutlich kürzer war als in einem Heim, ging das Bestreben dahin, in diesem Zeitraum die günstigsten Erziehungsmethoden für das jeweilige Kind zu erkennen und ein entsprechendes Programm zumindest zu beginnen.64 Unabhängig von den individuell zu findenden pädagogischen Mitteln bestimmten einige allgemeine Prinzipien die erzieherische Aufgabe der KBS. Dabei spielte Disziplinierung, die Entwicklung von Pflichtgefühl und die Übernahme von Verantwortung eine entscheidende Rolle. Das Erreichen einer „Heimdisziplin“ war sowohl Ziel als auch Mittel zum Zweck. So lautete eine Bemerkung über die neunjährige Käte: „Die Mutter schildert sie überlebhaft, schwer zu disziplinieren. Wir merken hier von Disziplinlosigkeit nichts, die Heimdisziplin diszipliniert sie.“65 Bei Erich Köbler beobachtete Hilde Classe, dass er bei einer „allgemeinen besseren Disziplin selbst disziplinierter ist, in allgemeinerer Unruhe selbst zügellos“.66 Das Leben als Gemeinschaft, in der die Mädchen und Jungen unterschiedlichen Alters ihren Platz finden, sich einfügen und disziplinieren mussten, gestaltete sich über einen strukturierten Alltag mit festen Regeln und einer Reihe von verlässlichen, sich täglich wiederholenden Ritualen sowie dem Begehen von Festen wie Geburtstagen, Weihnachten etc. So existierten Tischregeln, die bei den Mahlzeiten einzuhalten waren,67 und auch die tägliche Körperpflege, Waschen und Baden sowie das Sauberhalten von Wäsche und Kleidung stellten einen wichtigen 62 „Pat. mit einem Kameraden sehr aufsässig, machen Schulstreik, […] setzen sich auf den Schrank, verbarrikadieren sich.“ HPAC, KBS 462, 493, 515, Krankengeschichte (Vowinckel), Eintrag v. 28.03.1930, o. Bl. 63 Leyen 1929e, 169. 64 Die durchschnittliche Verweildauer auf der KBS lag im Zeitraum von 1921 bis 1930 bei 50 Tagen. Vgl. HPAC, KBS Diagnosebuch. 65 HPAC, KBS 124, Erziehungs- und Beobachtungsbericht (Classe), Eintrag v. 05.01.1923, o. Bl. 66 HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 03.10.1926, o. Bl. 67 HPAC, KBS 202, Egodokument „Walter J.“, o. D. (März 1925), o. Bl.

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Teil der Heimdisziplin dar. Der Tag begann mit einem gemeinschaftlichen Morgengruß,68 am Vormittag erfolgte der Unterricht, nach dem Mittagessen mussten die Kinder eine Ruhephase einhalten,69 und das Zubettgehen wurde vom Singen der Jugendleiterin am Bett, vom Vorlesen und individuellen Gutenachtsagen begleitet.70 Auch dieses ritualisierte Vorgehen war Teil der inneren Ordnung des pädagogisch gestalteten Raumkonzeptes und schuf eine Atmosphäre von Gemütlichkeit, Vertrautheit und Verlässlichkeit. Formen der gegenseitigen Unterstützung und eine Reihe zu erfüllender Pflichten, sogenannte „Helferdienste“, wie „Tisch decken, Abräumen, Abwaschen“,71 Blumen gießen, Zimmer ausfegen72, das Badezimmer säubern,73 Stiefelputzen,74 kleine Besorgungen erledigen und beim An- und Auskleiden jüngerer Kinder helfen75 gehörten ebenso zur Alltagsgestaltung wie Zeiten für frei gewählte Beschäftigungen und freies, ungelenktes Spielen. Pädagogische Aufgabe der Jugendleiterin war es zunächst, mit Unterstützung der Pflegerinnen, durch Motivation und Anleitung der Mädchen und Jungen diesen konzeptionellen Rahmen jeden Tag aufs Neue zu reproduzieren und damit die als notwendig erachteten Bedingungen für Beobachtung und Erziehung zu schaffen. Der Raumpraxis „Beobachten“ diente die Tagesstruktur, indem sie ständig experimentelle Situationen erzeugte, die von der Jugendleiterin teils rein deskriptiv wiedergegeben wurden, wie etwa: „Beim Kaffeetrinken kaspert sie“,76 oder: „Als wir abends gemeinsam singen, nimmt sie keine Notiz davon, läßt sich in ihrem Spiel nicht stören, kramt im Nachtschrank rum.“77 In anderen Fällen war das festgehaltene Beobachtungsergebnis eine zusammenfassende Verhaltensbeschreibung in Bezug auf wiederkehrende Situationen oder auf die sozialen Beziehungen des jeweiligen Kindes: Irmgard verrichtete häusliche Arbeiten „zuerst mit großem Eifer, nach einigen Tagen erlahmte dieser, und sie tat es weniger gern.“ 78 Bei Lieselotte entstanden „des öfteren Reibereien mit den anderen. Ihr Unbehagen, ihre Unruhe, ihr Geltungsbedürfnis erhöhen die Konfliktmöglichkeiten in der Gemeinschaft“.79 Anhand der kindlichen Reaktionen auf konkrete Anforderungen des Heimalltags konnten Rückschlüsse 68 HPAC, KBS 23, Bericht der Jugendleiterin (Classe), o. D. (07.–09.07.1921), o. Bl. 69 Der Mittagsschlaf ist in einer Vielzahl der Krankenakten erwähnt. Vgl. etwa HPAC, KBS 124; KBS 280. 70 Vgl. HPAC, KBS 23; KBS 564; KBS 2. 71 HPAC, KBS 659, Erzieherinnenbericht (Pederzani), o. D. (vor d. 18.02.1931), o. Bl. 72 HPAC, KBS 110, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (03.10.–09.12.1922), o. Bl. 73 HPAC, KBS 652, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 12.02.1931, o. Bl. 74 HPAC, KBS 20, Bericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 17.06.1921, o. Bl. 75 HPAC, KBS 642, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Vermerk v. 17.01.1931, o. Bl. 76 HPAC, KBS 671, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 17.04.1931, o. Bl. 77 HPAC, KBS 671, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 14.04.1931, o. Bl. 78 HPAC, KBS 667, Erzieherinnenbericht (Pederzani), o. D. (24.03.–01.04.1931), o. Bl. 79 HPAC, KBS 659, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 18.02.1931, o. Bl.

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auf Persönlichkeitseigenschaften wie Selbstständigkeit, Verlässlichkeit, Konzentrations- oder Konfliktfähigkeit und emotionale Stabilität gezogen werden. Dies war die praktikabelste Form einer empirischen Herangehensweise, weil spezifische Einzelexperimente wegen der gleichzeitigen Anwesenheit mehrerer Kinder, die besonderer Aufmerksamkeit bedurften, schwer zu realisieren waren. Während es im Beobachtungsmodus vor allem darum ging, den Grad der Einfügung in den gegebenen Rahmen bei einzelnen Kindern zu registrieren, bedingte die Raumpraxis „Erziehen“ ein höheres Maß an Interaktion mit den Kindern. Die Jugendleiterin nahm Einfluss auf abweichendes Verhalten, indem sie es an die innere Ordnung der KBS anzupassen versuchte, oder auch – situationsbedingt und abhängig von den individuellen Voraussetzungen –, indem sie die Rahmenbedingungen modifizierte. Insbesondere die Situation im Schlafraum war oft nicht so ruhig, wie es das Konzept eigentlich vorsah; die daraus entstehenden Probleme mussten durch individuell angepasste Herangehensweise entschärft werden. Einzelne Kinder schliefen beispielsweise zeitweilig im Stationsflur oder im Zimmer der Jugendleiterin,80 die Mittagsruhe konnte „ausnahmsweise erlassen“ werden.81 Wichtiger als die Tagesstruktur war für die heilerzieherische Aufgabe der KBS jedoch die pädagogische Grundhaltung der Erzieherinnen, in deren Zentrum der Begriff „Liebe“ stand: „Gestörte Liebesbeziehungen“ waren für Ruth von der Leyen eine der Hauptursachen für die Devianz psychopathischer Kinder.82 Damit war das Fehlen persönlicher Bindungen eines Kindes innerhalb seines Lebensumfeldes, insbesondere seiner Familie, gemeint. Wollte man Erziehungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten erfolgreich beeinflussen, musste dieser Mangel ausgeglichen werden. Eines der vorrangigsten Ziele in der Heilerziehung bestand also in der „Herstellung einer Bindung“ zwischen der Pädagogin und dem „psychopathischen“ Kind.83 Das Kind sollte erleben, „wie sich ein Mensch mit ihm identifiziert, wie es einmal Mittelpunkt eines anderen Lebens ist“.84 Dies war zunächst durchaus Selbstzweck im Sinne einer Verbesserung der emotionalen Situation des Kindes. Darüber hinaus hatte diese Bindung, deren angestrebte Intensität „ein außergewöhnliches Maß von gegenseitiger Hingabe“ erforderte,85 jedoch eine klar definierte Funktion im heilpädagogischen Konzept von der Leyens. Auf ihrer Basis sollte die Erzieherin „alle Schwierigkeiten und Konflikte des

80 HPAC, KBS 5, Bericht der Erzieherin (Classe), Eintrag v. 13.07.1921; KBS 653, Notizen Kinderstation 30a (Pederzani), Eintrag v. 03.02.1931, alles o. Bl. 81 HPAC, KBS 678, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 22.05.1931, o. Bl. 82 Leyen 1931, 662. 83 Leyen 1929d, 155. 84 Leyen 1931, 662. 85 Leyen 1929d, 156.

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Kindes, seine Schwächen und Stärken restlos“ kennenlernen.86 Zugleich sollte sie die konstitutionellen Ursachen der Schwierigkeiten kennen, also über ein spezielles psychiatrisches Wissen verfügen, das es ihr erlaubte, „die Angst im dunklen Wald, die motorische Unruhe der Kinder, ihre Ablenkbarkeit [zu] verstehen.“87 Das wiederum war eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiches heilpädagogisches Handeln, bei dem es darauf ankam, „den Bogen beim Kind nicht zu überspannen, um es nicht zu überanstrengen; denn durch eine Überanstrengung nimmt man dem Kinde Kraft und Zuversicht zum eigenen Können“.88 Die persönliche Bindung zwischen der Erzieherin und dem psychopathischen Kind war letztendlich ein notwendiger Schritt auf dem Weg zu der angestrebten „Sachbindung“ des Kindes. Darunter verstand von der Leyen die Fähigkeit, „sein Leben mit außer ihm liegenden Werten zu füllen“,89 ein Gegengewicht zu den in der psychopathischen Konstitution wurzelnden inneren Schwierigkeiten zu schaffen und damit die Möglichkeit abweichenden Verhaltens und daraus entstehender Konflikte mit der Umwelt einzuschränken. Diese umfassende Zielstellung beinhaltete eine weite zeitliche Perspektive der „Psychopathenerziehung“ mit jahrelangen pädagogischen Bemühungen und äußerst problematischen Konstellationen, sowohl in Bezug auf das Knüpfen als auch auf das später notwendige Lösen der Bindung zwischen Heilpädagogin und Kind.90 Das ließ sich in der relativ kurzen Zeit, die die überwiesenen Kinder auf der Beobachtungsstation verbrachten, nicht realisieren. Trotzdem ist davon auszugehen, dass die genannten Prinzipien die Praxis der Erzieherinnen auf der KBS, insbesondere der Jugendleiterin, bestimmten:91 Die während ihres dreimonatigen Aufenthaltes entstandene Bindung von Elisabeth zu Hilde Classe war in den folgenden 13 Jahren der „Angelpunkt“ der heilpädagogischen Einflussnahme auf die junge Frau,92 ebenso wie die Beziehung zwischen Erika und Lotte Nohl. Ihr Kontakt kam schon vor der Eröffnung der KBS zustande, als das vierjährige Mädchen 1918 an die Kinderklinik der Charité überwiesen wurde und auf die DVFjP-Mitarbeiterin traf, die dort als Lehrschwester tätig war.93 Erika veranschaulichte die Intensität ihrer Beziehung zu Nohl selbst, indem sie sich in einem Brief an die Sozialpädagogin als deren „Tochter“ bezeichnete.94 Im Laufe ihrer mindes86 87 88 89 90 91 92 93

Leyen 1929d, 156. Leyen 1927d, 105. Leyen 1927d, 105. Leyen 1931, 662. Vgl. Leyen 1929d, 156, 158. Vgl. etwa die Erzieherinnenberichte in HPAC, KBS 2; KBS 7. Vgl. HPAC, Ps. V. 800. Vgl. auch Fuchs/Rose/Beddies 2012, 126–139. Kramer/Leyen 1934, 328. Vgl. auch HPAC, Ps. V. 6, Bd. 4, L. Nohl an Pfarrer Hoffmann (Christuskirche Berlin), 11.05.1934, o. Bl. 94 HPAC, Ps. V. 6, Bd. 4, Erika H. an L. Nohl., 09.02.1932, o. Bl.

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tens bis 1938 andauernden Betreuungsgeschichte verbrachte Erika im Jahr 1923 auch mehrere Wochen auf der Kinderbeobachtungsstation.95 Beide Fälle verweisen auf die Einbettung des „Heilerziehungsraums“ KBS in ein Netzwerk von Einrichtungen der Psychopathenfürsorge.96 Innerhalb dieser übergreifenden Raumstruktur spielte die Station eine wichtige Rolle für den Beginn, teilweise auch für die Fortsetzung des Erziehungsweges. Zugleich wird an den genannten Beispielen erneut die enge Verflechtung der heilpädagogischen Erziehungs- und Beobachtungspraxis deutlich: Sowohl Elisabeths als auch Erikas Fallgeschichte fanden Eingang in wissenschaftliche Publikationen über Formen jugendlicher Psychopathie.97 Nicht selten führte der Aufenthalt auf der KBS zu einem veränderten Verhalten der Kinder bzw. die Verhaltensmuster, die außerhalb der Station beobachtet worden waren, traten hier nicht in Erscheinung.98 Damit festigte sich die These Kramers und von der Leyens, dass das Auftreten von Erziehungsschwierigkeiten bei Vorliegen einer psychopathischen Konstitution abhängig von den jeweiligen Umweltbedingungen war. Bei Versetzung psychopathischer Kinder in ein geeignetes Milieu konnten die anlagebedingten Probleme kompensiert werden. Auf dieser empirischen Grundlage entwickelten sich sowohl ihre theoretischen Vorstellungen über das Verhältnis von Anlage und Milieu, als auch über die Gestaltung der günstigsten psychopädagogischen Bedingungen für den heilerzieherischen Erfolg weiter.99 In Bezug auf die Einschätzung der Forschungs- und Erziehungspraxis der Kinderbeobachtungsstation kommt damit den hier tätigen Pädagoginnen eine Schlüsselrolle zu. Es war ihre Aufgabe, trotz der Vielzahl der Konflikte und Spannungen, die die Kinder ihnen aufbürdeten, eine „Atmosphäre der Normalerziehung“ zu wahren.100 In diesem Sinn gestalteten sie den pädagogischen Alltag und die heilpädagogische Beobachtung ebenso eigenständig wie professionell.

95 HPAC, Diagnosebuch der KBS, Jahrgang 1923. Die Krankenakte von Erika (KBS 127) ist nicht überliefert, jedoch sind der vierte und fünfte Band ihrer heilpädagogischen Einzelfallakte beim DVFjP­ erhalten geblieben. 96 Vgl. in diesem Band, S. 195–225. 97 Elisabeth in Kramer 1927 (Fallgeschichte Erna A.) und Erika in Kramer/Leyen 1934 (Fallgeschichte Helga E.). 98 Vgl. etwa die Erzieherinnenberichte in HPAC, KBS 6, (Classe): „Jähzornig und roh ist er noch nie gewesen.“ KBS 20, Eintrag v. 13.08.1921 (L. Nohl): „Er ist noch immer sehr zappelig, aber viel leichter zu erziehen. Selbst Aussenstehenden fällt die Veränderung auf …“; KBS 27, 252, Eintrag v. 10.04.1926 (Classe): „Das hemmungslose sich Hineinsteigern in Erregung wie er das früher tat zeigte sich fernerhin nicht.“; KBS 67, Eintrag v. 05.03.1922 (Classe), „Ida ist viel verträglicher, es wird ihr leichter ihren Bock zu überwinden.“; KBS 329, Eintrag v. 27.12.1927 (Kalischer): „Sie hat hier gar keine Erziehungsschwierigkeiten gemacht.“; KBS 671, Eintrag v. 17.05.1931 (Pederzani), „Im Gegensatz zu den Angaben der Eltern zeigt sie hier Zärtlichkeiten und ist zu manchen Zeiten sehr anschmiegsam.“ 99 Vgl. in diesem Band, S. 252–266. 100 Leyen 1931, 660.

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Medikaler Raum: Beobachten und Diagnostizieren Aufgrund der Unterschiede in der räumlichen Gestaltung und inneren Organisation war die Kinderbeobachtungsstation ein in sich geschlossener Mikrokosmos gegenüber dem klinischen Umfeld. Dieser Eindruck wurde sicherlich dadurch verstärkt, dass ihre Eingangstür 1930 eine eigene Rufklingel erhielt,101 und dass die Fenster im „Spielraum“ 1932 mit Eisenstäben versehen wurden, um der Gefahr zu begegnen, dass besonders unruhige Kinder oder Jugendliche aus dem Fenster stürzten.102 Trotzdem war die Lokalisierung der KBS als Teil eines unter klinischen Gesichtspunkten gestalteten Raums, in dem sich das Handeln und der Status aller Anwesenden nach den Erfordernissen der medizinischen Behandlung richtete, für alle Beteiligten unstrittig. Man war „hier in der Charité“,103 und die physische Anwesenheit im ältesten und größten Berliner Krankenhaus rief eine verallgemeinernde, über das Individuum hinausgreifende und dennoch individuell internalisierte Raumordnung auf. In der „Selbstverortung“ der Patient_innen der Kinderstation drückt sich also das Wissen über eine durch spezifische Interaktion abgegrenzte medikale „Region“ aus, die besondere Verhaltensmuster erforderte und bestimmte „Konstellationen von Raum, Körper und Handeln“ produzierte.104 Raumübergänge Ihre Bestätigung erfuhren diese Prägungen zunächst in unmittelbarer Nachbarschaft der KBS, auf der angrenzenden Frauenstation. Diese wurde – teils der beengten Raumsituation geschuldet, teils durch das Verhalten der Kinder und Jugendlichen bedingt oder provoziert, die sich in ihrer Neugier und Unruhe nicht immer auf das eingegrenzte Platzangebot beschränken ließen – in den Alltag der Kinderstation einbezogen. Ingeborg, die unter den unruhigen Kindern durch ihren extremen Bewegungsdrang und ausgeprägte Aggressivität auffiel, rannte häufiger zu den „ruhigen“ Frauen und unterhielt sich „gern mit den psychotischen

101 UAHUB, Char. Dir. 913, unpaginiert: Psychiatrische und Nervenklinik am 02.12.1930. 102 UAHUB, Char. Dir. 913, unpaginiert: Psychiatrische Klinik, Station 30a am 16.12.1932. Vgl. HPAC, KBS 422: Die sechsjährige, extrem hyperkinetische Ingeborg galt als „fenstersüchtig“, sie „rannte zu allen Fenstern hin“ und „wollte fliegen wie ein Spatz“. Während ihres Aufenthaltes im DVFjP-eigenen Heilerziehungsheim Schloss Ketschendorf verunglückte sie 1930 infolge eines Sturzes aus dem vierten Stockwerk tödlich. Vgl. auch Kramer/Pollnow 1932, 37. 103 HPAC, KBS 202, Egodokument „Krankengeschichten aus der Zeit des Klinikspiels von Horst A. über Kinder geführt, Max K. 9 Jahre“, 26.02.1925, o. Bl. 104 Geisthövel et al. 2005, 356, mit Bezug auf Anthony Giddens.

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4. Kinderbeobachtungsstation

Abb. 5: Spaziergang auf dem Gelände der Charité, 1929

Patientinnen“, sie kannte „alle Patientinnen der Frauenstation mit Namen“.105 Umgekehrt wurden heranwachsende Mädchen, die auf das mögliche Vorliegen einer psychopathischen Konstitution hin beobachtet werden sollten, aufgrund ihres Alters auf die Frauenstation aufgenommen. Hier führte auch die Nutzung des Bades und der Küche im Bereich der Frauenstation zu einer permanenten Überschneidung des heilpädagogischen und des medikalen Raums. So schlief Elisabeth, die wegen wiederholter Diebstähle, Unterschlagungen, nach einem mehrmonatigen Gefängnisaufenthalt und einem Selbstmordversuch unter persönlicher Betreuung Ruth von der Leyens stand und 1922 vom DVFjP zur stationären Aufnahme in die KBS überwiesen wurde, „nachts nebenan in der psychiatrischen Klinik“. Tagsüber war sie auf der Kinderstation bei Hilde Classe, wo sich die Jugendleiterin und der Stationsarzt Rudolf Thiele eingehend mit ihr beschäftigten.106 Des Weiteren führte von der Frauenstation aus ein separates Treppenhaus in den Gartenbereich, der den ruhigen Patientinnen vorbehalten war, und den die Mädchen und Jungen der KBS mitnutzten. Dort gab es einen Sandkasten zum Buddeln und Matschen für die Kleinen und ein größeres, mit Bäumen und Büschen bewachsenes Areal, in dem sie sich frei be105 HPAC, KBS 422, Krankengeschichte, Einträge v. 19.07. und 24.07.1929, o. Bl. 106 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 1.

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wegen, spielen und Sport treiben konnten. Zu den sportlichen Aktivitäten zählten Völkerball, Fußball und Wettläufe.107 Kreisspiele, Tanzen und Turnen rundeten das Bewegungsangebot ab.108 Auch hier kam es zu Begegnungen und Kontakten mit den psychisch kranken Frauen; die als „hypermotorisch“ geltende Ingeborg konnte „mit einer manischen Pat.[ientin] lange im Garten auf u. ab gehen, ist dabei ganz friedlich“, lautete ein Eintrag in ihrer Akte.109 Doch auch zur zeitweiligen Isolierung einzelner Kinder und zur Bestrafung wurde die Frauenstation genutzt. Die elf Jahre alte Lucie, die eine ausgeprägte motorische Unruhe zeigte, wiederholt Bücher zerriss, Geschirr und Möbel demolierte, Gegenstände aus dem Fenster warf und sich immer wieder aggressiv gegen den Arzt, die Erzieherinnen und die anderen Kinder wendete, wurde auf Anordnung des Arztes wiederholt auf die Frauenstation verlegt, mehrfach auch in die „Villa“, die Station für die unruhigen Frauen im hinteren Gebäudekomplex der Psychiatrischen Klinik.110 Neben dieser eher den Sachzwängen geschuldeten Durchlässigkeit der KBS innerhalb des medikalen Binnenraums gab es jedoch auch intendierte Formen medizinischer Raumpraktiken, die den heilpädagogischen Raum im Sinne der psychiatrisch-wissenschaftlichen Forschungsaufgaben der Station beeinflussten. Raumpraxis ärztliche Untersuchung Dazu gehörte, als wichtigstes Element, die ärztliche Untersuchung. Sie wurde von dem jeweiligen Stationsarzt vorgenommen, fand in einem besonderen Zimmer statt und umfasste als Hauptbestandteile die Erhebung der Anamnese, eine körperliche Untersuchung und eine Intelligenzprüfung nach Binet-Simon. Die Anamnese wurde zunächst von den Begleitpersonen der eingewiesenen Kinder – Elternteile oder andere Verwandte, Pflegeeltern, Fürsorgerinnen oder Heimerzieherinnen – erhoben. Dabei ging es nicht nur um die bisherige Entwicklung des Kindes und aufgetretene Verhaltensauffälligkeiten; abgefragt wurde vielmehr auch das Auftreten von psychischen Krankheiten und geistigen Behinderungen, von Alkoholismus, Prostitution oder nicht „normgerechtem“ Verhalten in der Verwandtschaft. Entsprechende Informationen waren von Bedeutung, weil das Konzept der psychopathischen Konstitution auf der Annahme von an107 HPAC, KBS 2; KBS 564; KBS 607; KBS 124. 108 HPAC, KBS 479. Die vierjährige Stella, die wegen eines Hydrocephalus neun Tage lang auf der Station beobachtet wurde, turnte mit großem Vergnügen nach der Methode Neumann-Neurode, die der Muskelstärkung und Kräftigung der Wirbelsäule von Säuglingen, Kleinkindern und Kindern diente (vgl. Neumann-Neurode, 1926). 109 HPAC, KBS 422, Eintrag v. 19.07.1929, o. Bl. 110 HPAC, KBS 334.

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lagebedingten, und damit vererbbaren, psychischen Anomalien basierte. Je nach Alter und sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten wurden auch die Kinder und Jugendlichen selbst zur Vorgeschichte ihres Aufenthaltes auf der KBS befragt. Die körperliche Untersuchung war einerseits üblicher Bestandteil eines Krankenhausaufenthaltes, um die notwendige medizinische Betreuung bei etwaigen somatischen Erkrankungen einleiten zu können. Zum anderen diente sie auch dazu, Hinweise auf die Lebensumstände des Kindes zu gewinnen, etwa, wenn der Ernährungszustand eingeschätzt oder Spuren von Misshandlungen registriert wurden.111 Auch konnten körperliche Besonderheiten – besondere Schmächtigkeit oder schlechtes Sehvermögen – Auswirkungen auf die Art der Verhaltensauffälligkeiten haben. Hinweise darauf, dass die Ärzt_innen an der KBS eine direkte Verbindung zwischen körperlichen Merkmalen und psychischen Erscheinungen zogen, finden sich in den Aufzeichnungen jedoch nicht. Diese, vor allem in der (pädiatrischen) Konstitutionsforschung vertretene Auffassung war offenbar an der Bonhoeffer’schen Klinik nicht verbreitet. Allerdings fanden vereinzelt kapillarmikroskopische Untersuchungen an Patient_innen der Kinderbeobachtungsstation durch das von dem Konstitutionsforscher Walther Jaensch (1889–1950) geleitete psychophysiologische Laboratorium an der II. Medizinischen Klinik der Charité statt.112 Mit ihrer Hilfe versuchte man Entwicklungsstörungen an den Hautgefäßen (Kapillarstörungen) nachzuweisen, die wiederum Hinweise auf psychische Störungen geben und zugleich therapeutische Möglichkeiten für deren Behandlung eröffnen sollten.113 Der Intelligenztest war vor allem für die Abgrenzung der psychopathischen Konstitution von geistigen Behinderungen wichtig. Psychopathie wurde seit Theodor Ziehen von den meisten Psychiatern als Störung ohne Intelligenzdefekte angesehen; es konnten jedoch gleichzeitig eine psychopatische Konstitution und verschiedene Grade geistiger Behinderung vorliegen, oder die Symptome einer psychopathischen Störung, motorische Unruhe oder Unkonzentriertheit, konnten die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Die Ergebnisse des Tests wurden in einem speziellen Vordruck eingetragen, in dem für die Altersstufen von 111 Vgl. HPAC, KBS 23, Krankengeschichte, Eintrag v. 07.07.1921, o. Bl.: „Bei der Aufnahme zeigen sich an Rücken und Gesäß des Kindes deutliche Spuren von Mißhandlung, Striemen und ausgedehnte blaue und bräunliche Flecke.“; KBS 502, Krankengeschichte, Körperlicher Befund (Vowinckel), o. D. (28.01.1930), o. Bl.: „Starke Haematome am Rücken, am Gesäss an den Armen infolge von Züchtigung mit Riemen nach Aussage des Kindes.“ 112 HPAC, KBS 338, Untersuchungsschein v. 09.12.1927; KBS 409, Untersuchungsschein v. 15.02.1929; KBS 455, Untersuchungsschein v. 18.07.1929, alles o. Bl. Aus dem Laboratorium ging 1932 „auf Grund privater Stiftungen und mit Hilfe von Beiträgen der Rockefeller-Foundation“ das Ambulatorium für Konstitutionsmedizin und ab 1935 das Institut für Konstitutionsforschung an der Charité hervor. Jaensch 1939, 4, 9. Zur Person des Konstitutionsforschers, Rassenhygienikers und Nationalsozialisten Walther Jaensch vgl. u. a. Grüttner 2004, 83; Klee 2005, Kölch 2006, 242–245. 113 Jaensch 1926. Vgl. auch Kölch 2006, 102, 245 f.

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drei bis zwölf Jahren zu lösende Aufgaben aufgeführt waren. Dazu gehörten Situationsbeschreibungen anhand von Bildern, kleine Diktate und Rechenaufgaben oder das Abzeichnen vorgegebener geometrischer Figuren. Besonderheiten vermerkte der Stationsarzt separat, wie etwa die Reaktion auf Abbildungen, die Teil des Binet-Simon-Tests waren. Die altersspezifisch differenzierte Aufgabe bestand darin, die dargestellten Situationen zu beschreiben und zu interpretieren. Erich Köbler „löste“ diese Aufgabe, der Mitschrift des Stationsarztes Heinrich Schulte zufolge,114 auf seine eigene Art und Weise: „Binetbilder I ‚Ein Mann, 1 Junge & ein Lehrjunge. da ist ne Scheibe eingeschlagen. Da steht noch ne Frau. Weiter nichts. Hast du noch mehr solche Bilder?‘ Nimmt sich spontan eins: II. ‚1 Frau, 1 Mann, 1 Junge … 1 Kaffeekanne, 1 Tasse, noch eine Tasse …‘ nimmt sich in immer schnellerer Folge ein weiteres Bild, zählt schnell die einzelnen Merkmale auf. […] Zeichnet einen ‚Drachen‘ auf spontanen Wunsch. Pat. ist b. d. Prüfung außerordentlich unruhig, ablenkbar durch in sein Wahrnehmungsfeld hineinkommende Reize. Daher immer nur flüchtig für die einzelnen Gegenstände interessiert. Es fällt daher die Prüfung der inhaltlichen Leistung noch schlechter aus als es im Vermögen des Pat. steht.“115

In den Akten bildet die Dokumentation der drei Hauptbestandteile der ärztlichen Untersuchung, neben den pädagogischen Beobachtungsberichten, den größten Textkorpus. 116 Sie wurde ergänzt durch ärztliche Aufzeichnungen über den Verlauf des Klinikaufenthalts in Form einer Krankengeschichte. Der Umfang dieser Aufzeichnungen variiert stark, des Öfteren finden sich in ihnen Verweise auf den Bericht der Jugendleiterin.117

114 Die Tätigkeit des psychotherapeutisch orientierten Psychiaters Dr. Heinrich Schulte (1898–1983) als aufnehmender Arzt der Station lässt sich für August 1923 sowie Januar und Februar 1926 nachweisen. Vgl. HPAC, KBS 148, KBS 149, KBS 150, KBS 153, KBS 234, KBS 239, KBS 241 sowie Kästl/Stemberger 2005, 337, 339, 342 f. Zu Person und Werk vgl. Engelbracht 2002, 159–166; zu Schultes Tätigkeit als ärztlicher Beisitzer im Berliner Erbgesundheitsgericht einerseits, zu dessen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus anderseits vgl. Doetz 2011, 132 mit Bezug auf Neumärker 1990, 170 sowie Engelbracht 2002, 160–163 mit Verweisen auf Archivalien sowie auf Bräutigam 1992, 175 f. und Pross 1984, 243. 115 HPAC, KBS 263, „Intellig. Prüfung“ (H. Schulte), o. D., o. Bl. 116 Verschiedentlich enthalten die Akten in größerem Umfang Auszüge aus den Akten anderer Institutionen, wie Jugendämtern, Schulen oder Heilerziehungsheimen bzw. Schriftwechsel zwischen der KBS und diesen. Ein vierter Korpus, der in sehr unterschiedlichem Umfang überliefert ist, sind EgoDokumente der Kinder – teils in Form von Texten, teils als Bilder –, die entweder auf Anregung der Pädagoginnen entstanden sind oder als bedeutsam für den Erkenntnisgewinn über das betreffende Kind angesehen und in die Akte aufgenommen wurden. 117 Vgl. HPAC, KBS 292, Krankengeschichte (Albrecht), Eintrag v. 26.02.1927; KBS 365, Krankengeschichte, Eintrag v. 20.07.1928; KBS 409, Krankengeschichte, Eintrag v. 10.02.1929, alles o. Bl.

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Die ärztliche Untersuchung fand nicht durchgängig oder vollständig am Aufnahmetag statt, einzelne Teiluntersuchungen konnten im Verlauf des Stationsaufenthalts durchgeführt werden: „Agy war heut Nachmittag zu einer Intelligenzprüfung bei Herr Dr. P[ollnow]. Als sie zurückkommt, Frl. v. d. L[eyen]. ist im Spielzimmer, redet sie sehr viel, von dem, was sie gefragt worden ist, von der Potsdamerstr. Frl. Boës Spielnachmittag, von dem Aufenthalt auf der Station. Es geht alles durcheinander, daß man es nicht wiedergeben kann“,

notierte Boletta Pederzani zwei Tage nach der Aufnahme von Agnes in ihrem Bericht.118 Auch die Anamnese wurde teilweise erst später erstellt, wenn Betreuungspersonen oder Familienmitglieder am Aufnahmetag nicht anwesend sein konnten. Erich Köblers Mutter äußerte sich beispielsweise mehr als einen Monat nach der Aufnahme ihres Sohnes gegenüber Heinrich Schulte.119 Soweit es sich um die Befragung der Kinder selbst handelte, konnte diese erst nach einer gewissen Zeit der Eingewöhnung oder in Abwesenheit der Betreuungspersonen stattfinden, wie bei der siebenjährigen Hilde. Sie war von ihrer Mutter auf die KBS gebracht worden, weil sie „zwanghaft […] Flüssigkeiten, die sie irgendwo stehen sieht, – mögen es auch die unappetitlichsten Dinge sein – zu sich nehmen“ würde.120 Erst in der zweiten Woche ihres Aufenthaltes erklärte das Mädchen bei der Untersuchung durch den Stationsarzt Kurt Albrecht121 ihre Sicht auf die Vorkommnisse, deren Ursache letztlich eine gestörte MutterKind-Beziehung gewesen sein dürfte.122 Für die Praxis auf der KBS war die ärztliche Untersuchung einerseits Teil des Stationsalltags. Sie gehörte zu den Maßnahmen, die allen Beteiligten verdeutlichten, dass sie sich in einem Krankenhaus befanden und in klinische Abläufe eingebunden waren. Andererseits war 118 119 120 121

HPAC, KBS 653, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 04.01.[02.]1931, o. Bl. HPAC, KBS 263, „Angaben der Mutter“ (H. Schulte), 10.07.1926, o. Bl. HPAC, KBS 272, „Angaben der Mutter“, o. D., 26.06.1926, o. Bl. Der Neurologe und Röntgenologe Dr. Kurt Albrecht (1894–1945) war 1923 und 1928 auf der Kinderbeobachtungsstation tätig. Vgl. HPAC, KBS 140, KBS 346 und KBS 347. Zu Leben und Werk vgl. Kreuter 1996, 19; Míšková 2003, 192. Zu Albrechts Tod im Kontext des Prager Aufstands im Mai 1945 vgl. Klimpel 2005, 77 f. und Koerting 1968, 190–191. Albrecht erwies sich für Bonhoeffer in kinderpsychiatrischer Hinsicht als ausgesprochen ungeeignet: Einem ständig sprechenden Jungen hatte er den Mund mit Heftpflaster verklebt und diese Maßnahme als therapeutische indiziert. Schwarz 1977, 124. Der versierte Neurologe war darüber hinaus ein entschiedener Gegner der Psychoanalyse. Von schädlicher Wirkung für Jugendliche sei insbesondere das „vielfach gebräuchliche Hervorziehen sexueller Gedankenkreise“ bei der Anwendung dieses therapeutischen Verfahrens. Albrecht 1927, 215. Vgl. dazu Herrn 2013, 93 f. 122 HPAC, KBS 272, Krankengeschichte (K. Albrecht), Eintrag v. 04.07.[08.]1926, o. Bl. Vgl. dazu auch ebenda, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe).

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sie eine besondere Situation. Das betreffende Kind wurde für eine gewisse Zeit aus der Geborgenheit des heilpädagogischen Raums herausgelöst, begab sich an einen anderen Ort (das Untersuchungszimmer) und wurde dort von der „väterlichen“ Autoritätsperson des Arztes einerseits Tests unterzogen, deren Sinn es sicher in vielen Fällen nicht verstand. Andererseits wurde es zu den Verhaltensabweichungen befragt, die der Grund für seine Anwesenheit in der Charité waren. In der Erfahrung der meisten Kinder waren solche Befragungen mit moralisch abwertenden Konnotationen und möglicherweise sogar Sanktionen verbunden. Demzufolge ist es nicht verwunderlich, wenn die Erzieherin bei manchen Kindern „Angst vor der ärztlichen Untersuchung“ beobachtete.123 Die knapp neunjährige Erika, die zu Hause wegen ihres Verhaltens auch geschlagen worden war, war vor der ärztlichen Untersuchung „scheu, möchte nicht ins Untersuchungszimmer kommen, hat offenbar ein schlechtes Gewissen, hat Angst, dass von ihren Diebstählen geredet werden soll“.124 Dieses Gefühl konnte jedoch sehr schnell verschwinden, wenn die befürchteten Begleiterscheinungen nicht eintraten. Über ein anderes Mädchen notierte die Stationsärztin Edith Vowinckel, dass sie „widerstrebend, dann schüchtern lachend ins U.Z. [kam]. Hier schaut sie sich alles an, droht etwas weg zu nehmen vom Schreibtisch, sie versucht die Ref. auf alle Weise zu stören, rückt an ihrer Schreibunterlage, droht in ihre Krankengeschichte zu schreiben ‚Du bist doof‘, macht eine Fratze auf das Blatt der Krankengeschichte. ‚Das bist Du‘. Ihr Mund steht keinen Augenblick still, sie korrigiert die Ref. dauernd, reisst alle Schubladen auf, nimmt ein Bild nach dem andern in die Hand, wirft sie ebenso rasch wieder fort, es kann nicht rasch genug gehen. Sie versucht fortwährend die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken durch Drohungen, Beschimpfungen, neugierige Fragen, deren Antwort sie garnicht abwartet.“125

Die ärztliche Untersuchung wurde von Fall zu Fall durch spezielle Tests ergänzt, die einen Bezug zur angenommenen psychopathischen Konstitution hatten: Der Wassermann-Test zur Feststellung sexuell übertragbarer Infektionen wurde häufig bei Kindern durchgeführt, die längere Zeit oder mehrmals von zu Hause weggelaufen waren. Das Zusammenspiel von unkontrollierter Zeit, verführerischem Großstadtraum und konstitutionell bedingter, psychischer Störung erhöhte in der Wahrnehmung der Psychopathenfürsorge die Gefahr sexueller Verwahrlosung.126 Bei Mädchen fand vereinzelt zusätzlich auch eine gynäkologische Untersuchung statt. Beide Verfahren kamen ebenfalls zum Einsatz, wenn der Verdacht auf sexuellen Missbrauch

123 124 125 126

HPAC, KBS 112, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (16.10.–02.12.1922), o. Bl. HPAC, KBS 502, Krankengeschichte, Ärztliche Untersuchung (Vowinckel), o. D. (28.01.1930), o. Bl. HPAC, KBS 357, Krankengeschichte zur 3. Aufnahme (Vowinckel), Eintrag v. 06.11.1929, o. Bl. Zum Umgang mit sexueller Devianz im Konzept der KBS vgl. Fuchs 2014.

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eines Kindes bestand.127 Sowohl der Wassermann-Test als auch die Lumbalpunktion, die bei manchen Kindern zur Klärung der Frage vorgenommen wurde, ob entzündliche Prozesse im Zentralnervensystem vorlagen,128 wurde im Labor der Psychiatrischen und Nervenklinik vorgenommen, das sich auf der Frauenseite der neurologischen Klinik im Sockelgeschoss befand. Einen anderen Charakter als die ärztliche Untersuchung, bei der Kind und Arzt/Ärztin allein miteinander agierten, hatten medizinische Raumpraktiken, die in Anwesenheit von Publikum stattfanden, insbesondere ärztliche Visiten und klinische Demonstrationen. Raumpraxis Visiten Visiten gehörten – wie auf den anderen Abteilungen der Psychiatrischen und Nervenklinik – zum Alltag der Kinderbeobachtungsstation. Sie waren vor allem wichtig für die Organisation des Stationsbetriebes und der Therapie, indem der Arzt/die Ärztin hier die aus klinischer Sicht notwendigen Anordnungen zur weiteren Behandlung der Patient_innen traf. Darüber hinaus dienten Visiten auch der weiteren Festigung der Diagnose. Über die Frequenz, Dauer und Zahl der Teilnehmenden können keine gesicherten Angaben gemacht werden. Es ist anzunehmen, dass der zuständige Stationsarzt der KBS täglich eine Visite durchführte. In größeren Abständen – möglicherweise wöchentlich einmal – gab es die sogenannten „großen Visiten“, die von Franz Kramer oder Karl Bonhoeffer geleitet wurden. Daran nahmen vermutlich die Ober- und Assistenzärzte der Klinik, eventuell Studierende sowie die Pflegekräfte der jeweiligen Station, d. h. hier die Jugendleiterin und ihre Mitarbeiterinnen, teil. Insbesondere die „großen Visiten“ konnten geradezu als Einbruch des Klinischen in den „familienhaften“ heilpädagogischen Raum wahrgenommen werden: „Als die große Visite kam, legte er sich mit wehleidigem Gesicht hin, so daß man glauben konnte er spiele Theater. Er sagte nachher, daß ihm das Begucktwerden durch die vielen Ärzte unangenehm sei.“129

Unangenehm war die Visiten-Situation offenbar in mehrfacher Hinsicht. Zunächst verstärkte sie das ohnehin vorhandene Autoritätsgefälle zwischen Arzt und Kind. Vor sich oder um sich herum – wie eine weiße Wand – eine größere Zahl Mediziner_innen gruppiert zu sehen und 127 Vgl. HPAC, KBS 400, Einverständniserklärung der Mutter v. 30.11.1928 und Laborzettel zum Wassermanntest v. 10.12.1928; KBS 357, Krankengeschichte zur 3. Aufnahme (Wolter), Eintrag „Körperlicher Befund“ v. 01.10.1929, alles o. Bl. 128 HPAC, KBS 5, Bericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 18.07.1921; KBS 687, Pädagogische Beobachtungen (Pederzani), Eintrag v. 08.06.1931, alles o. Bl. 129 HPAC KBS 110, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (03.10.–09.12.1922), o. Bl.

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im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu stehen, wirkte an sich schon einschüchternd. Problematisch war außerdem, wenn das Kind zu einem begutachteten Objekt wurde, was sich vor allem darin äußerte, dass bei diesen Gelegenheiten oft über die Kinder statt mit ihnen gesprochen wurde.130 „Nach einer Visite von Prof. Kramer sitzt A. sehr verstimmt vor seinen Schulbüchern, ohne zu arbeiten. Auf die Frage nach der Ursache seines Unmutes schluchzt er auf, wischt ärgerlich die Tränen fort und sagt stockend: ‚Die, die brauchen nicht über mich zu reden. Ich hab’ doch gar keine Krankheit.‘“ Auf die Frage der Erzieherin Zimmermann, was über ihn gesprochen worden sei, erwiderte der elfjährige Junge: „Das[s] ich empfindlich bin; das braucht niemand zu sagen, wenn ich dabei bin.“131 Hier kommt ein weiterer „unangenehmer“ Aspekt zum Ausdruck. So sehr sich Franz Kramer und seine psychiatrischen Mitarbeiter_innen um eine wertungsfreie „naturwissenschaftliche“ Betrachtung der psychopathischen Konstitution mühten, war Normativität in der sprachlichen Darstellung unvermeidbar, weil es sich bei den mit Psychopathie assoziierten Symptomen zumeist um Normverstöße handelte. Die Kinder nahmen die in der Alltagssprache überwiegend mit negativen moralischen Wertungen verwendeten Begriffe durchaus wahr, die die Mediziner_innen für sie verwendeten. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn sie die in ihrer Gegenwart stattfindende psychiatrische Kommunikation als persönlichen Angriff werteten. Sicher waren nur wenige in der Lage, ihrer Verletzung sprachlichen Ausdruck zu geben, wie im vorliegenden Fall Al­ fred, der während einer Visite als „überempfindlicher Psychopath“ klassifiziert worden war.132 Die empfundene Kränkung wog umso schwerer, weil sie quasi stationsöffentlich erfolgte. Unabhängig davon, wie viel die Mitpatient_innen tatsächlich davon erfassten, was über ein einzelnes Kind geäußert wurde, die Möglichkeit dazu war vorhanden und konnte das Unangenehme der Situation noch verstärken. Für die ärztliche Seite waren die Bedingungen während der Visite in Hinsicht auf Lehre und Forschung ebenfalls nicht optimal. Der durch den Ablauf und die räumlichen Verhältnisse bedingte Zeit- und Platzmangel und die Anwesenheit anderer Patient_innen erlaubten es nicht, sich eingehend mit der psychopathischen Konstitution einzelner Kinder zu beschäftigen. 130 Zur Problematik der Kommunikationsmängel und -defizite in der Visiten-Situation aus heutiger Sicht vgl. Linus S. Geisler: Kommunikation bei der Patientenvisite – Ausdruck unserer ethischen Werthaltung. Referat beim Ethik-Symposium „Wirtschaftlichkeit oder Menschlichkeit – Ethik im Klinikalltag zwischen den Stühlen“ am 14.03.2003. Ethikforum der Berufsgenossenschaftlichen Kliniken Bergmannsheil, Bochum. http://www.linus-geisler.de/vortraege/0314patientenvisite.html [eingesehen am 15.05.2015]. 131 HPAC, KBS 462, 493, 515, Bericht der Erzieherin (Zimmermann), Eintrag v. 28.01.1930, o. Bl. 132 HPAC, KBS 462, 493, 515, Krankengeschichte (Vowinckel), Eintrag v. 31.01.1930, o. Bl.: „Pat. hört, wie die Ärzte in seiner Gegenwart über seine Überempfindlichkeit sprechen u. ist darüber sehr gekränkt. (Vgl. Erzieherinnen-Bericht)“.

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Raumpraxis klinische Demonstration Deshalb wurde auch bei den psychopathischen Kindern der KBS auf eine Lehr- und Erkenntnismethode zurückgegriffen, die sich spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der Psychiatrie etabliert hatte: die klinische Demonstration.133 Sie galt in der medizinischen Ausbildung als unverzichtbarer Bestandteil der Wissensvermittlung und diente der Schulung diagnostischer Fähigkeiten. Nach dem Amtsantritt Karl Bonhoeffers an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité nahm die Zahl der klinischen Demonstrationen deutlich zu. Sie dienten jedoch nicht nur der studentischen Ausbildung, sondern fanden häufig auch vor Klinikern und Praktikern statt. „Klinische Demonstrationen waren Gelegenheiten, um seltene oder neue Krankheitsbilder, differentialdiagnostische Abgrenzungen oder diagnostische und therapeutische Verfahren vorzustellen und zu diskutieren, und insofern fester Bestandteil der fachwissenschaftlichen Kommunikation. […] In klinischen Demonstrationen wurden keineswegs nur bekanntes Wissen oder anerkannte Techniken verhandelt, vielmehr bildeten sie ein wichtiges Instrument der diskursiven Auseinandersetzung. So boten die klinischen Demonstrationen eine Bühne für wissenschaftliche Streitfragen, nicht selten wurden sie zum Schauplatz heftiger Dispute. Sie stellen somit ein wesentliches Element der Verbreitung und Stabilisierung neuer Wissensbestände dar.“134

Insofern waren sie ein geeignetes Format, um das weitgehend noch ungesicherte Wissen über psychopathische Konstitutionen zu diskutieren und zu festigen. Dieser Umstand schlägt sich in der Überlieferung der Kinderbeobachtungsstation nieder. Klinische Demonstrationen werden hier als „Vorlesung“ oder „Kolleg“ („Colleg“) bezeichnet, manchmal wird nur auf ihren Ort – den Hörsaal – verwiesen.135 In welchem Umfang psychopathische Kinder und Jugendliche vorgestellt wurden, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, da die Stationsärzt_innen nur selten entsprechende Vermerke in der Krankengeschichte vornahmen und Protokolle der klinischen Demonstrationen selbst nicht vorliegen. In den Berichten der Erzieherinnen fanden sie vor allem dann Erwähnung, wenn im Zusammenhang damit besondere Reaktionen der Kinder beobachtet worden waren. Auffällig ist hier die Dominanz der Beschreibung negativer Emotionen bei den vorgestellten Kindern:

133 Hier und nachfolgend Friedland/Herrn 2012, 219–222. 134 Friedland/Herrn 2012, 221 f. 135 HPAC, KBS 49, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (25.11.1921–11.02.1922); o. Bl. Zum Kolleg als regelmäßige „von Bonhoeffer geleitete Zusammenkunft der Klinikärzte“ vgl. Friedland/Herrn 2012, 221 f., Fn. 67.

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„Fritz ist sehr empfindsam. Die Vorlesung beleidigt ihn tief.“136 „Hilde wird am gleichen Tage im Kolleg vorgestellt. Sie geht froh gespannt hin, ist etwas bedrückt, als ich sie allein dort lasse.“137 „Die Zumutung, daß er im Colleg vorgestellt werden sollte, stimmte ihn aufsässig.“138 „Große Angst hatte sie vor dem Hörsaal, wo sie in den ersten Tagen war.“139 „Ruth wird von Herrn Prof. Kramer vorgestellt u. nimmt dies sehr übel; setzt sich dann aber schnell darüber hinweg.“140

Stärker noch als bei den ärztlichen Untersuchungen und Visiten mussten sich die Kinder und Jugendlichen bei klinischen Demonstrationen als Objekte des ihnen weitgehend undurchschaubaren ärztlichen Handelns fühlen. Dieser Eindruck wurde durch die damit verbundene Raumpraxis verstärkt. Klinische Demonstrationen fanden im Hörsaal über dem Haupteingang zum Gebäudekomplex der Psychiatrischen und Nervenklinik statt, also in einem Raum, der schon durch seine bauliche Gestaltung Nicht-Alltäglichkeit, möglicherweise Bedrohung signalisierte. Das vorgestellte Kind saß oder stand, wie in einer Bühnensituation im Zentrum des Auditoriums, hörte, wie der vorstellende Arzt seine Fallgeschichte referierte, die in großen Teilen aufgetretene Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten beinhaltete, musste Fragen zu seinem Verhalten beantworten und verfolgte, wie die in aufsteigenden Reihen vor ihm sitzenden Mediziner_innen darüber diskutierten. Die Zumutungen der klinischen Demonstration bewirkten Abwehrreaktionen bei den Kindern. So kam der achtjährige Gerhard „aufgeregt aus dem Kolleg. Stottert auffallend u. berichtet, daß der Dozent erzählt habe, daß er früher seiner Mutter die Röcke hochgehoben habe ‚und das ist garnicht wahr‘.“141 Andere Kinder nutzten diese medizinische Raumpraxis im Sinne eines Theaterauftritts. Bei Erich Köbler beobachtete Hilde Classe: „Hat er Publikum[,] läßt er sich von nichts imponieren. Im Kolleg erklärt er dreist, daß er Reichspräsident werden wolle.“142 Solche selbstbewussten Situations- und Raumaneignungen scheinen jedoch selten gewesen zu sein. Eher dürfte eine Mischung aus Angst und Neugier das Verhalten der Kinder bestimmt haben, wie aus einer Beschreibung Boletta Pederzanis hervorgeht. Die ausführliche Wiedergabe des Verhaltens, der Wahrnehmungen und Empfindungen eines zwölfjährigen Mädchens in dieser besonderen Situation ist eine Ausnahme in der vorhandenen Überlieferung: 136 137 138 139 140 141 142

HPAC, KBS 49, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (25.11.1921–11.02.1922), o. Bl. HPAC, KBS 103, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 26.07.1922, o. Bl. HPAC, KBS 110, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (03.10.–09.12.1922), o. Bl. HPAC, KBS 117, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 25.11.1922, o. Bl. HPAC, KBS 140, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 10.06.1923, o. Bl. HPAC, KBS 409, Erzieherinnenbericht, Eintrag v. 12.02.1929 (Manns), o. Bl. HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 21.06.1926, o. Bl.

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„Agy antwortet in der Vorlesung ziemlich leise. Aus ihren Äußerungen hinterher, merke ich, daß sie erfaßt, daß sie im Hörsaal war. […] Außerdem fragt Agy, ob sie oft in den Hörsaal gehe, und ob Hilde auch hinkomme. ‚Ich kann ja sehr gut antworten, nur wenn soviele im Hörsaal sind, will ich nicht.‘ Agy meint Herr Prof. [Bonhoeffer – d. Vf.] mache so komische Gesichter, ziehe die Augen hoch und lache dann wieder ‚aber streng kann er auch sein.‘“143

Vor einer zweiten klinischen Demonstration war Agnes, die aus einer jüdischen Familie kam, „auffallend unruhig. Sie redete viel von ihr unangenehmen Situationen, äußerte mehrere Male ‚wenn Herr Dr. P. [Pollnow – d. Vf.] mich nur nicht nach dem Hebräischen fragt, dann muß ich so scharf nachdenken, und es fällt mir nichts ein. Sage es bitte Herrn Dr. gleich, daß er das nicht fragen möchte.‘ […] Nach der Vorstellung berichtete A. folgendes: Herr Dr. habe gesagt: ‚Ich will Ihnen ein Kind vorstellen, daß 14 Tage hier auf der Station war. Es hat gelogen, aber die Eltern und der Lehrer sagen aus, daß es sich jetzt gebessert habe.‘ A. redete sehr viel auf dem Rückweg zur Station und erzählte unter anderem: ‚ich stand in einem hellen Lichtkegel, als ich im Hörsaal war, ich habe es gleich gemerkt, ich war nicht verlegen, sondern habe ein ganz witziges Gesicht gemacht, das kannst du ruhig Herrn Dr. Pollnow sagen.‘“144

Die Kinder verarbeiteten ihre klinischen Raumerfahrungen teilweise spielerisch, indem sie die ärztlichen Handlungen nachahmten. Über Werner berichtete Hilde Classe 1922: „Jetzt schreibt er Akten, er ist Prof. Kramer. Die Anregung zum Spiel kam von Fritz, Werner spielt aber seine Rolle mit viel Ausdauer u. Liebe aber mit wenig Phantasie. Er lebt ganz in der Wirklichkeit. Er verschafft sich Kenntnis über die Technik des Aktenschreibens, in dem er eben in meine Akten hineinguckt. Getreu unterstreicht er nach berühmtem Muster das Wesentliche. Wie er bei der Arbeit nicht weiterkommt, trödelt so kommt er über das Aktenschreiben nicht hinaus. Die andern handeln, machen Sprechstunde, halten Vorlesungen, er schreibt immerzu Akten.“145

Drei Jahre später wiederholte sich das „Klinikspiel“ bei anderen Kindern. Die dabei entstandenen „Krankengeschichten“ eines 14-jährigen Jungen über seine Mitpatienten nehmen in verblüffender Weise den sprachlichen Ausdruck der „echten“ psychiatrisch-heilpädagogischen Beobachtungen auf.146 143 HPAC, KBS 653, Notizen, Kinderstation 30a (Pederzani), Eintrag v. 04.01.[02.]1931, o. Bl. 144 HPAC, KBS 653, Notizen, Kinderstation 30a (Pederzani), Eintrag v. 09.03.1931, o. Bl. Vgl. auch Pollnow 1931. 145 HPAC, KBS 52, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 07.01.1922, o. Bl. 146 HPAC, KBS 202, Egodokument „Krankengeschichten aus der Zeit des Klinikspiels von Horst A. über Kinder geführt“, o. D. (1925), o. Bl.

4.2 Öffnung und Erweiterung

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4.2 Öffnung und Erweiterung: Die Kinderbeobachtungsstation im Stadtraum Sowohl der heilpädagogische als auch der medikale Raum der KBS können nicht nur topographisch inmitten der Großstadt verortet werden.147 Vielmehr wird anhand verschiedener, zum Teil institutionalisierter Praktiken deutlich, dass beide auf eine enge Verknüpfung mit den sozialen Strukturen ihrer urbanen Umgebung angewiesen waren. Die Öffnung des medikalen und die Erweiterung des heilpädagogischen Raums hatten dabei jeweils deutlich unterscheidbare Funktionen.

Öffnung des medikalen Raums Als Schaltstelle des medikalen Raums zwischen dem Innen der Psychiatrie und dem Außen der Großstadt fungierte eine bereits seit mehreren Jahrzehnten erprobte Institution: die Nervenpoliklinik. Der Poliklinik floss unter den jährlich 6.000 Neuzugängen auch „ein großes Material an Kindern zu, das von den städt. Organen und von der Psychopathenfürsorge“ überwiesen wurde.148 In den ersten Jahren der Zusammenarbeit zwischen Jugendfürsorge und Psychiatrie in Berlin war die Poliklinik der Ort innerhalb der Psychiatrischen und Nervenklinik gewesen, an dem die „psychopathische Konstitution“ von Kindern und Jugendlichen erforscht wurde.149 Damit wurde die institutionalisierte psychiatrische Behandlung dieser Klientel „in die ambulante Versorgungsstruktur der Stadt eingebunden und vernetzt“.150 Zugleich erwies sich die Nervenpoliklinik einmal mehr als „epistemischer Schwellenraum“, in dem „bislang nicht bekannte oder aber mangels klinischer Relevanz nicht beachtete Krankheitsbilder in den Blick der institutionalisierten Psychiatrie“ gerieten.151 Die Forschungsfunktion verlor sie nach 1921 zwar weitgehend an die neu gegründete Kinderbeobachtungsstation, zwei wichtige Aufgaben verblieben der Poliklinik jedoch: Sie war 1. weiterhin eine wichtige Schnittstelle im System der Psychopathenfürsorge. Überweisungen von Klienten der Beratungsstelle für Heilerziehung des DVFjP zur psychiatrischen Untersuchung erfolgten in der Regel hierher. Auch andere Stellen wie Jugendämter, Schulund niedergelassene Ärzt_innen, Jugendgerichte und Versicherungsträger sowie betroffene Fa147 Zur Genese der Charité vom randständigen Pestlazarett zum topographischen Schwellenraum im Schnittpunkt mehrerer Stadtlandschaften der Metropole Berlin vgl. Hess/Ledebur 2012, 20–23. 148 UAHUB, Char. Dir. 913, unpag. 149 Vgl. in diesem Band, S. 44. 150 Hess/Ledebur 2012, 33. 151 Hess/Ledebur 2012, 41.

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4. Kinderbeobachtungsstation

milien nahmen die Kompetenz, die der universitären Nervenpoliklinik zugeschrieben wurde, und ihre Infrastruktur in Anspruch, um klären zu lassen, welche therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen beim Auftreten kindlicher und jugendlicher Verhaltensauffälligkeiten zu treffen waren und um prognostische Einschätzungen zu erhalten. Die in der Poliklinik tätigen Assistenzärzt_innen, aber auch Franz Kramer selbst, erstellten – nach Erhebung der Anamnese, Befragung des Kindes, körperlicher Untersuchung und Durchführung des Intelligenztests – eine vorläufige Diagnose zum Vorliegen einer psychopathischen Konstitution. Sie berieten die Familien bereits in der Sprechstunde oder verwiesen sie an heilpädagogische Beratungsstellen, verordneten gegebenenfalls Medikamente, fertigten Gutachten an, schrieben Atteste oder empfahlen die Unterbringung in Fürsorgeeinrichtungen.152 Mittels dieser sich wiederholenden Praktiken transportierte die Poliklinik „klinische Erklärungsmodelle“ in die Öffentlichkeit und festigte „die psychiatrische Deutungsmacht“ in Bezug auf Erziehungsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen.153 Die häufige Vergabe der Diagnose Psychopathie in der Poliklinik trug wesentlich zur „Popularisierung“ des Konzeptes bei und stabilisierte zugleich das wissenschaftsintern wirkende Paradigma. Die Poliklinik diente 2. der Zugangsregulierung zur Kinderbeobachtungsstation, an die einzelne Patient_innen überwiesen wurden. Sie erfüllte damit ihren ursprünglich vorgesehenen Zweck der Nutzbarmachung des reichen „Patientenmaterials“ für die klinische Forschung und Lehre.154 Zugleich beschränkte ihre Vorschaltung den Zugang zu der kleinen „Psychopathie-Station“ weitgehend auf schwierige oder wissenschaftlich interessante Fälle, die relevant für deren Forschungsprofil waren. Auch Erich Köbler passierte deshalb zunächst die „epistemische Schleuse“ Nervenpoliklinik, bevor er die KBS betrat.155

Erweiterung des heilpädagogischen Raums Gänzlich andere Zielstellungen als die institutionalisierte Öffnung des medikalen, hatte die Erweiterung des heilpädagogischen Raums der Kinderbeobachtungsstation in die großstädtische Umgebung. Sie war Teil der Experimentalanordnung, mit dem vor allem Erkenntnisse über Art und Grad der Psychopathie des einzelnen Kindes sowie Einflussmöglichkeiten auf sein Verhalten gewonnen werden sollten. 152 HPAC, Pol.-Krbl. Kn. 189/1926: „… halten wir vom ärztl. Standpunkt die Unterbringung des Jugendl. in das Jugendsanatorium von Dr. Isemann in Nordhausen dringend geboten.“; vgl. auch HPAC, Pol.-Krbl. Kn. 30/1926, mit Gutachten von Kramer für das Jugendgericht Berlin-Mitte. 153 Dieser Effekt der Poliklinik lässt sich auch für andere Phänomene psychischer Devianz verfolgen. Hess/Ledebur 2012, 36, 41. 154 Vgl. Hess/Ledebur 2012, 32 f. 155 HPAC, Pol.-Krbl. Kn. 322/1926.

4.2 Öffnung und Erweiterung

169

Die Großstadt als Faktor, der die Gefahren für die körperliche, geistige und sittliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen „verdoppele“ und ihre Verwahrlosung begünstige, war ein feststehender Topos des Jugendwohlfahrtsdiskurses seit seiner Entstehung am Ende des 19. Jahrhunderts.156 Als schädigende Einflüsse wurden insbesondere „die durch die materielle Not bedingten Verhältnisse: Wohnungselend, Mangel an Nahrung und Kleidung, Schmutz in der weitesten Bedeutung, uneheliche Geburt“ ausgemacht.157 Verwahrlosung ließ sich in erster Linie an abweichenden Verhaltensweisen erkennen, wie etwa wiederholter Unehrlichkeit, unsozialem Verhalten, Gewalttätigkeit, Schulschwänzen, Fortlaufen, Arbeitsscheu, sexueller Devianz, Prostitution und Kriminalität. Die Etablierung des Psychopathie­ paradigmas als Erklärungsansatz für das Verhalten „schwieriger“ Kinder und Jugendlicher führte zu der Annahme, Verwahrlosung sei zu einem großen Teil letztendlich biologisch, in der Anlage begründet.158 Damit wurden aus Erscheinungen sozialen Fehlverhaltens Symptome, wenn auch nicht einer psychischen Krankheit, so doch einer fehlerhaften Konstitution, die ihre konkrete Ausprägung durch die besonderen „Gefahren“ der Großstadt erhielten. Diese Auffassung teilten auch Ruth von der Leyen und Franz Kramer grundsätzlich.159 Kenntnis über die negativen Einflüsse des sozialen Umfeldes der aufgenommenen Mädchen und Jungen gewannen die Protagonist_innen der Kinderbeobachtungsstation in vielen Fällen aus der Praxis der Beratungsstelle für Heilerziehung des DVFjP, indem sie die in Sprechstunden und bei Hausbesuchen gesammelten Informationen nutzten. Wurden die Kinder von anderen Institutionen der Psychopathenfürsorge überwiesen, standen dafür Berichte aus den Schulen, Horten oder Jugendämtern zur Verfügung. In beiden Fällen wurde das Wissen über ihr Leben in den verschiedenen städtischen Sozialstrukturen durch die bei der Aufnahme erhobene Anamnese ergänzt. Relativ wenig war aus diesen Quellen jedoch über die Einflüsse zu erfahren, denen sie „auf der Straße“ ausgesetzt waren, also jenem urbanen Raum, der als Metapher für einen Zustand fehlender Kontrolle bei gleichzeitigem Einwirken „wilder Eindrucksvermittler“ stand.160 Da für viele psychopathische Konstitutionen ein hoher Grad an Beeinflussbarkeit durch von außen kommende Reize angenommen wurde,161 war es unerlässlich, das Verhalten der Kinder und Jugendlichen auch während ihres 156 Barch, R 3001 Reichsjustizministerium Nr. 6082 (Bd. 3), Bl. 81 f.: Druckschrift: Leitsätze für die Konferenz der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge am 16.02.1910 zum Thema: Wie sorgen wir für die aufsichtslose Schuljugend in der schulfreien Zeit? Vgl. auch Lemke 1928, 371. 157 Lemke 1928, 370 f. 158 Vgl. etwa Gregor/Voigtländer 1924, 21; Gregor 1924, 406; Lemke 1928, 371; zusammenfassend Gräser 1995, 95 ff. 159 Vgl. dazu Fuchs/Rose/Beddies 2012, 121 f., 129 f. mit den entsprechenden Belegen. 160 Häfker 1915, S. 35. 161 Kramer 1923a, 28.

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4. Kinderbeobachtungsstation

Aufenthaltes im Stadtraum beobachten zu können. Das Verlassen des Charité-Geländes zu gemeinsamen Spaziergängen oder Einkäufen der Erzieherinnen mit einzelnen oder mehreren Kindern war daher Teil des Forschungsprogramms der Kinderbeobachtungsstation. Zahlreiche Passagen in den pädagogischen Berichten beinhalten Beschreibungen von Reaktionen auf Menschenmengen, Verkehrsmittel, Werbung sowie der Wirksamkeit erzieherischer Einflussnahme in solchen Situationen. Oft werden sie mit der geradezu formelhaften Sequenz „Auf der Straße“ eingeleitet, unabhängig davon, welche Pädagogin sie verfasst hat: „Auf der Straße ist er dreist u. laut, horcht auf Anruf sofort.“162 „Auf der Straße ist sie besonders unruhig. Benimmt sich im Omnibus laut und ungeniert. Ist völlig unbeeindruckt, als der Schaffner androht, daß sie raus muß, wenn sie nicht leiser sei.“163 „Auf der Straße liest sie sehr zwangsmäßig jedes Schild, bleibt überall stehen, wo es etwas zu lesen gibt.“

Erich Köbler war, Hilde Classe zufolge, „im Gedränge der Straße ängstlich u. unsicher.“ Die Anwesenheit der Erzieherin bei diesen Aktivitäten beeinflusste ohne Zweifel das Verhalten der Kinder, vermutlich nur wenige von ihnen erkannten, wie Horst, den dahinter stehenden Zweck. Der 14-Jährige versuchte bewusst, die Forschungsabsicht zu unterlaufen: „Er wird gleich am ersten Tage zu Besorgungen u. einem Spaziergang mitgenommen u. spricht kein Wort, sagt später: ‚Ihr habt mich bloß beobachten wollen, wie ich auf Spaziergängen bin, ich lasse mich aber nicht beobachten‘.“164

Neben den begleiteten Ausflügen waren jedoch auch selbständige Unternehmungen der Kinder im Stadtraum möglich, entweder, um konkrete Besorgungen zu erledigen oder um an vorhandene Interessen anzuknüpfen. Alfons etwa wurde „mehrmals allein fortgeschickt, [war] sehr gern unterwegs, möchte gern Alt-Berlin kennenlernen.“165 Konkretisiert wurde diese Feststellung der Stationsärztin Edith Vowinckel durch eine Schilderung im Bericht der Jugendleiterin Elfriede Manns über Alfred: „Geht mit einem kleineren (9) Jungen in die nächstliegenden Straßen um eine Lotterie ausfindig zu machen, findet keine. Kommt aber doch beglückt zurück, da er mit dem Jungen zusammen für 35 [Pf ] Taxe gefahren sei von Luisenplatz – Karlplatz.“166 162 163 164 165 166

HPAC, KBS 20, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 16.06.1921, o. Bl. HPAC, KBS 677, Erzieherinnenbericht, o. D. (30.04.–13.05.1931), o. Bl. HPAC, KBS 202, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (10.02–12.05.1925), o. Bl. HPAC, KBS 462, 493, 515, Krankengeschichte (Vowinckel), Eintrag v. 11.02.1930, o. Bl. HPAC, KBS 462, 493, 515, Bericht der Erzieherin (Manns), Eintrag v. 03.02.1930, o. Bl.

4.2 Öffnung und Erweiterung

171

Das unbeaufsichtigte Herauslassen aus der KBS war mit dem Risiko nicht intendierter Handlungen der Kinder und Jugendlichen verbunden. So wurde die 14-jährige Erna „geschickt, eine Besorgung zu machen, kommt erst nach 2 Stunden zurück, gibt zu, sich mit einem Bekannten an der Hautklinik unterhalten zu haben.“167 Zu Alfred vermerkte Edith Vowinckel drei Tage nach ihrer ersten Notiz: „In dieser Woche ist Pat. mit einem Kameraden gelegentlich einer Besorgung ausgerückt, die Anregung ging zuerst von dem anderen aus, u. dann habe ihn der ‚Wandertrieb‘ gefasst, er hatte dabei das Gefühl, die Tanten könnten hinter ihnen kommen, fühlte sich um so sicherer, je grösser die Entfernung wurde. Aus Müdigkeit sind sie umgekehrt. Alfred geht schneller als der andere, zankt sich mit ihm, u. kommt früher nach Hause.“168

Der sachliche, nicht moralisierende Ton, in dem über die hier auftretenden Abweichungen berichtet wird, deutet auf die Motivation solcher gestatteten Alleingänge hin. Es ging darum, aus dem zutage getretenen Grad an Zuverlässigkeit der Kinder Rückschlüsse auf die Art ihrer „psychopathischen Konstitution“ zu ziehen. Zugleich verbargen sich hinter den – begleiteten, wie unbegleiteten – Exkursionen in das urbane Terrain erzieherische Absichten. Einerseits sollten die Kinder daran gewöhnt werden, Aufgaben trotz der Flut auf sie einstürmender Reize „auf der Straße“ zu erfüllen, um sie damit auf die Anforderungen des Lebens außerhalb des heilpädagogischen Schutzraums vorzubereiten. Andererseits fügten sich solche Ausflüge offenbar in das Konzept eines „normalen“ Familienlebens ein und sollten bei den Kindern Freude an der Erkundung ihrer urbanen Umwelt hervorrufen. Schon bei der ersten Tagung über Psychopathenfürsorge hatte Ruth von der Leyen in Bezug auf Kinder, die die Schule schwänzten, dafür plädiert, nicht mit Verboten und Einschränkungen auf Neugier und Entdeckungsdrang zu reagieren: „Mit den kleinen Abenteurern sind die Vergnügungen zu unternehmen, die sie sich während ihres Schuleschwänzens verbotenerweise verschafft haben. In Berlin geht die Sehnsucht jedes Schulkindes nach den Linden, dem Zeughaus, dem Schloß. Der Helfer soll mit dem Kind zusammen dahin gehen und somit diesen Herrlichkeiten den Reiz des Verbotenen nehmen.“169

Diese Auffassung lag auch der Ausflugspraxis an der KBS zugrunde. Zwar lassen sich die erwähnten Orte in den Akten nicht explizit finden, aber ihre räumliche Nähe zum Charité-Gelände lässt vermuten, dass sie regelmäßig Ziel der Stationsspaziergänge waren. Andere „Herrlichkeiten“ fanden dagegen Berücksichtigung in den Beobachtungsberichten, insbeson167 HPAC, KBS 696, Pädagogischer Bericht (Heintze), o. D. (01.08.–19.09.1931), o. Bl. 168 HPAC, KBS 462, 493, 515, Krankengeschichte (Vowinckel), Eintrag v. 14.02.1930, o. Bl. 169 Leyen 1920c, 89.

172

4. Kinderbeobachtungsstation

dere die mit der Warenwelt der Geschäfte und Kaufhäuser im Berliner Stadtzentrum verbundenen.170 Ursula „erzählte der Mutter als Besonderheit, daß wir zusammen Besorgungen gemacht hatten und bei Wertheim waren“.171 Als Wirkung eines Stadtspaziergangs auf den 14-jährigen Bruno beobachtete Hilde Classe: „Auf einem Spaziergang durch die Stadt, bei Besorgungen in den großen Geschäften lebhaft, vergnügt, sprach forscher, freute sich sehr beobachtete alles gut u. urteilte treffend. Zeigt in Farben einen guten Geschmack. Er war sehr glücklich über diese Besonderheit, bedankte sich immer wieder. Er trank die Abwechslung förmlich in sich hinein.“172

Für den gleichaltrigen Kurt war „Berlin, […] seine Sehnsucht, einer Dampferfahrt zieht er einen Spaziergang durch die Straßen vor. Alles im großstädtischen Verkehrsleben interessiert ihn als Sensation, beglückt ist er über eine Fahrt oben auf dem Autobus bei Abendbeleuchtung, die Lichtreklamen u. alles Neue nimmt er begierig in sich auf.“173

Neben Streifzügen durch die Konsumwelt der Großstadt gehörten auch Spaziergänge oder Fahrten „ins Grüne“ zu den üblichen Aktivitäten der Kinderbeobachtungsstation. Anknüpfend an eine verbreitete Freizeitkultur in der Metropole Berlin waren die Ziele der relativ nahe gelegene Tiergarten,174 aber auch weiter entfernte Erholungsgebiete am Müggelsee, Wannsee oder Tegeler See.175 Die Verhaltensbeobachtungen, die von den Erzieherinnen auch bei diesen Gelegenheiten durchgeführt wurden, dehnten den heilpädagogischen Raum der KBS bis an die Peripherie der Stadt aus.

170 Zur zeitgenössischen Wirkung der „Größe und Pracht“ der Warenhäuser und ihrer Bedeutung als „Orte der Moderne“ vgl. Spiekermann 2005. 171 HPAC, KBS 642, Erzieherinnenbericht (Pederzani), Eintrag v. 23.01.1931, o. Bl. Ob es sich um das Haupthaus der Firma Wertheim in der Leipziger Straße oder die Dependance in der Rosenthaler Straße handelte, ist nicht überliefert. Zu Wertheim-Besuchen vgl. auch KBS 5, II. Bericht der Erzieherin (Classe), Eintrag v. 10.07.1921, o. Bl. 172 HPAC, KBS 194, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (vor d. 12.12.1924), o. Bl. 173 HPAC, KBS 27, 252, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 20.03.1926, o. Bl. 174 HPAC, KBS 5, Bericht der Erzieherin (Classe), Eintrag v. 21.05.1921, o. Bl.: „Bei unsern Morgenspaziergängen in den Tiergarten füttert sie mit Begeisterung und Freude die Vögel.“ 175 HPAC, KBS 20, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 04.07.1921; KBS 35, Erzieherinnenbericht (Classe), o. D. (zwischen 29.08. und 19.10.1921): „Auf dem Spaziergang am Wannsee bleibt er trotz Verbotes zurück, ‚weil ich noch mehr Fische fangen wollte‘.“; HPAC KBS 83, Erzieherinnenbericht (Classe), Eintrag v. 25.05.1922: „Hanna ist bei einem Ausflug mit meinen Eltern ganz das wohlerzogene bescheidene, zuvorkommende Mädchen. Sie freut sich über das Draußensein, hat Freude an den Blumen, sie badet mit Begeisterung im Teglersee.“; alles o. Bl.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

173

Die Protagonist_innen des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen machten die Großstadt wesentlich dafür verantwortlich, dass sich Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten als Symptome einer psychopathischen Konstitution entwickeln konnten. Umso bemerkenswerter ist die Rückkopplung an die urbane Umwelt, die sich in der Praxis der Kinderbeobachtungsstation ausmachen lässt. Hier zeigt sich, dass sie als Lebenswelt psychopathischer Kinder und Jugendlicher akzeptiert wurde.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen: Interdisziplinäre Praxis und epistemologische Effekte Nach sechswöchigem Aufenthalt Erich Köblers auf der Kinderbeobachtungsstation heißt es über den Jungen in einem ärztlichen Zeugnis von Heinrich Schulte: „Als auffallendsten Zug zeigt er in seinem Verhalten eine sehr starke motorische Unruhe, die auf eine – auch durch elterliche Belastung von beiden Elternseiten her nachweisbare – psychopath. Anlage zurückzuführen ist. Durch unzweckmäßige Erziehungs- und Milieueinflüsse haben sich sodann aus dieser Anlage gewisse Reaktionen gebildet (Trotzeinstellung geg. Erwachsene, Lügen, Phantastereien mit dem Ziel, sich in den Mittelpunkt zu stellen, etc.), die in zunehmendem Grade eine asoziale Entwicklung bei ihm hervorriefen. Die Schwierigkeiten seiner erziehlichen Beeinflussung bestehen m. E. in seiner leichten Ablenkbarkeit, seinem zwar leicht erregbaren aber nicht anhaltenden Interesse am Schulunterricht etc., der erschwerten Einfügung ins Gemeinschaftsleben seiner, ebenfalls durch die körperl. Unruhe z. T. bedingten Neigung zur Masturbation.“176

Mit dieser Einschätzung fasst Schulte kompakt zusammen, welche Prämissen die Forschungsarbeit auf der KBS strukturierten: Zugrunde lag ihr das Psychopathiekonzept, das von einer konstitutionellen psychischen Störung als Ursache für kindliche Verhaltensauffälligkeiten ausging. Wirksam wurde diese Disposition jedoch erst, so die weitergehende Annahme, durch Nichtbeachtung der anlagebedingten Problematik und/oder einer Reihe von Einflüssen aus dem konkreten kindlichen Lebensumfeld. Am Beispiel Erichs zählt Schulte einige typische Verhaltensweisen auf, die als Symptome einer psychopathischen Konstitution gewertet wurden, deren Negierung zu Formen schwerer und in der Konsequenz nicht mehr beeinflussbarer sozialer Devianz führen konnten. Die Aufzählung der erzieherischen Schwierigkeiten, die Erichs Verhalten auslöste, verweist auf die Annahme, dass die „Behandlung“ kindlicher Psychopathie letztlich nur in Form einer Abschwächung oder Überwindung der Symptome erfolgen konnte, und eine Beeinflussung des Verhaltens, wenngleich unter ständiger Mitwirkung 176 HPAC, KBS 263, Ärztliches Zeugnis (Schulte), 20.08.1926, o. Bl.

174

4. Kinderbeobachtungsstation

des Psychiaters, allein auf pädagogischem Wege möglich war.177 Gleichzeitig bringt das kurze ärztliche Zitat die Überzeugung von der Notwendigkeit psychiatrisch-pädagogischer Zusammenarbeit zum Ausdruck, die der Praxis auf der Kinderbeobachtungsstation zugrunde lag.

Disziplinäre Kompetenzen und interdisziplinäre Kooperation Nur wenige Monate nach Errichtung der KBS hob Franz Kramer in einem programmatischen Beitrag die Notwendigkeit der Kooperation von „Psychiater, sozialer Fürsorge und Pädagogik“ hervor. Diese drei Arbeitsbereiche sollten zusammenwirken „in der Ergründung der Ursache des abnormen Verhaltens des Jugendlichen und […] daraus die praktischen Konsequenzen ziehen, ohne daß der Frage, ob es sich um etwas Krankhaftes handelt oder nicht, eine irgendwie entscheidende Bedeutung beizumessen ist“.178 Aus der Sicht Kramers hatte die gemeinsame Arbeit sozialpolitischen Charakter. „Wenn es uns gelingt, die Schäden der psychopathischen Jugend zu heilen und hier vorbeugend zu wirken, so werden wir damit auch einen nicht unerheblichen Teil der sozialen Schäden in vorbeugender Weise beseitigen, die aus dem Verhalten der erwachsenen Psychopathen sich ergeben.“179

Über ein Netzwerk von interdisziplinären Einrichtungen, für das die Berliner Institutionen des DVFjP ohne Zweifel ein Modell darstellen sollten, schien „das Soziale oder das Pädagogische steuerbar zu sein“.180 Auch andere Akteur_innen der Psychopathenfürsorge betonten den hohen Stellenwert der interdisziplinären Zusammenarbeit für die wissenschaftliche Erforschung jugendlicher Psychopathie, darunter der Dresdner Psychiater Eduard Reiß (1878–1957):181 „Genaueste Analyse“ jedes Einzelfalles unter Berücksichtigung aller ätiologischen Faktoren sei in zweierlei Hinsicht unabdingbar: Erstens führe die empirische Forschung zu einem Erkenntniszuwachs über Ursachen und Entstehung jugendlicher Verhaltensauffälligkeiten, zweitens garantiere 177 178 179 180 181

Kramer 1928, 352. Kramer 1921a, 5; die gesamte Passage wurde i. Orig. hervorgehoben. Kramer 1921a, 12. Reutlinger 2009, 98, Hervorheb. i. Orig. Reiß 1926, [Über psychopathische Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen], 492–505. Der in Frankfurt am Main geborene Eduard Reiß studierte ab 1896 Medizin an der Universität Göttingen. Danach war er als Assistenzarzt an der Marburger Universität und der psychiatrischen Universitätsklinik Tübingen tätig, wo er sich bei Robert Gaupp habilitierte. 1917 erhielt er eine a.o. Professur und übernahm 1924 die Leitung der Psychiatrischen Abteilungen des Stadtkrankenhauses DresdenJohannstadt. Reiß, der sich insbesondere mit affektiven Psychosen beschäftigte, setzte sich auch mit der Frage äußerer Einflussfaktoren auf das Entstehen psychischer Erkrankungen auseinander. Vgl. ders. 1921.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

175

sie die „nutzbringende Verwertung psychopathologischer Einsicht im einzelnen Fall“.182 Eine erfolgreiche Fortsetzung der bis dahin bereits geleisteten wissenschaftlichen Arbeit hielt Reiß nur auf dem empirischen Wege für möglich. „Psychiater“ und „Pädagoge“ profitierten demnach gleichermaßen von dieser Betrachtungsweise, indem sie dem einen überhaupt erst den Zugang zur unendlichen Vielfalt psychopathischer Reaktionsweisen ermögliche und damit der wissenschaftlichen Erkenntnis zuführe, dem anderen wiederum psychiatrisches Wissen über seelische Zusammenhänge und deren „innere Gesetzlichkeit“ zur Verfügung stelle.183 Die Orientierung der Sozialpädagogik an den als objektiv geltenden naturwissenschaftlichen Verfahren wurde als grundlegende Voraussetzung für die Zusammenarbeit von Medizin und Jugendfürsorge angesehen, denn der Psychiater trete „mit einer kausalen Betrachtungsweise an den Jugendlichen“ heran. Er stelle „alle wertenden und moralisierenden Gesichtspunkte zurück“ und gehe nur den Ursachen nach, „auf welche das abnorme Verhalten des Kindes zurückzuführen ist“, charakterisierte Franz Kramer den Kompetenzbereich des Mediziners. „Der Psychiater ist nach seiner ganzen Einstellung in der Lage, die psychischen Tatbestände unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen und analysierend zu beurteilen.“184 Die Mitwirkung des Arztes in der Eingangsphase der interdisziplinären kooperierenden Praxis sei vor allem für die Beurteilung des Anteils von Anlage und Milieu als den verursachenden Momenten für die Entstehung psychischer Verhaltensauffälligkeiten ausschlaggebend.185 Mit der Erstuntersuchung des Kindes gebe der Psychiater der Pädagogin wertvolle, charakterologische Hinweise zur Beurteilung jener Kinder, „die man nicht ohne weiteres in den Bereich des Krankhaften hineinrechnen kann“.186 Die Deutung der Fehlentwicklung eines Jugendlichen als Symptom einer überlasteten psychischen Konstitution oder eines pädagogischen Fehlverhaltens hielt Ruth von der Leyen für das ureigene Verdienst der Psychiatrie. Die Frage nach „Entstehung und Ursachen eines asozialen Verhaltens“ habe die ursprünglich eher wertend und damit subjektiv agierende Sozialpädagogik der medizinischen Spezialdisziplin ebenso zu verdanken wie die objektive Analyse der „Zusammenhänge zwischen der Persönlichkeit und ihrer Auswirkung […]“.187 Es sei die pädagogische Aufgabe, konkretisierte sie, „aus dem Vorleben und der genauen täglichen Beobachtung des Kindes dessen Reaktionen auf das alltägliche Leben festzustellen und die einzelnen Zusammenhänge herauszuholen. Es sei die Aufgabe des Psychiaters, nun das Besondere, Abnorme dieser Reaktionen im Verhältnis

182 183 184 185 186 187

Reiß 1926, 504. Reiß, 1926, 504, 505. Kramer 1921a, 5. Kramer 1921a, 4. Kramer 1921a, 7. Leyen 1929d, 151.

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4. Kinderbeobachtungsstation

zu der Gesamtpersönlichkeit und zu dem Gesamtverhalten des Kindes festzustellen. Daraus ergebe sich dann wieder die Möglichkeit für den Pädagogen, unter Berücksichtigung des besonderen oder abnormen Verhaltens die für das einzelne Kind notwendigen heilerzieherischen Maßnahmen anzuwenden.“188

Die Phase der stationären heilpädagogischen Beobachtung und Beeinflussung war als fortlaufender Erfahrungsaustausch zwischen den Expert_innen beider Disziplinen angelegt, der zu einer Revision des Erstbefundes führen konnte und der „Materialsammlung über die Entwicklungsmöglichkeiten psychopathischer Kinder unter heilpädagogischem Einfluß“ diente.189 Obwohl Kramer die konkrete Arbeit „an dem jugendlichen Psychopathen“ primär als pädagogische Aufgabe definierte, hielt er die Mitwirkung und den maßgeblichen Einfluss des Arztes in allen Stadien der Behandlung für unverzichtbar. Insbesondere mit Blick auf die langfristigen gesellschaftlichen Wirkungen sollte auch die Durchführung der ambulanten sozialen und pädagogischen Maßnahmen nach dem Klinikaufenthalt unter dauerhafter ärztlicher Begleitung stattfinden.190 Die Kooperation der beteiligten Disziplinen realisierte sich demnach als ein kausal-bedingtes und voneinander abhängiges stetes Mit- und Ineinanderwirken, das den Charakter eines potentiell unendlichen Vorhabens mit sozialpolitischer Zielrichtung hatte. Die eingangs zitierte Äußerung Heinrich Schultes ist dabei selbst schon Resultat dieses synergetischen Zusammenwirkens auf der Berliner Kinderbeobachtungsstation, denn bestimmte Aussagen über das Kind Erich konnte der Psychiater nur durch den Rückgriff auf Informationen treffen, die ihm vorab von den Pädagoginnen bereit gestellt worden waren.

Praktiken der Zusammenarbeit In enger Zusammenarbeit bemühten sich die auf der KBS tätigen Expert_innen darum, die Ursachen der Schwierigkeiten zu ergründen und herauszufinden, „inwieweit eine psychopathische Anlage eine Rolle spielt, und welche praktischen Maßnahmen man ergreifen muß“.191 Idealtypisch stellte der Psychiater mit seiner Anamnese – „Erkennung und erste Untersuchung des Jugendlichen“192 – zunächst die psychischen oder physischen Ursachen fest, „die zu dem ‚Zustand mangelnder Harmonie der Persönlichkeit in sich oder ihrer Beziehungen zur

188 Leyen 1926d, 395, Hervorheb. i. Orig. Sie gibt den Vortrag von Reiß in einem kurzen Autoreferat wieder. 189 Leyen 1929d, 153. 190 Kramer 1921a, 8, 12. 191 Kramer 1921a, 6; ders. 1930b, 578. 192 Kramer 1921a, 7.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

177

Sozietät geführt […]‘“193 hatten. Die ärztliche Expertise gab der Erzieherin Hinweise auf die konstitutionellen Voraussetzungen, die sie im Rahmen ihrer weiteren Tätigkeit zu berücksichtigen hatte. Diese Gegebenheiten limitierten einerseits die Möglichkeiten heilpädagogischer Beeinflussung, andererseits verdeutlichten sie die individuellen Ressourcen des Kindes, denen die Jugendleiterin auf der KBS mit dem Ziel zur Entfaltung verhelfen sollte, „ein Zuviel, ein Zuwenig zum Ausgleich zu bringen“.194 Solcherart differenziertes Wissen über den einzelnen Jugendlichen, das erst im Rahmen länger andauernder heilpädagogischer Beobachtung erworben wurde, konnte der Psychiater bei einer in der Regel einmaligen Untersuchung nicht erlangen; „es werden vielmehr die Kenntnisse, die sich der Erzieher von der sozialen und pädagogischen Umwelt des Jugendlichen erwirbt, seine Beobachtungen in den verschiedensten pädagogischen Situationen mit den Ergebnissen der psychiatrischen Untersuchung zu einem Gesamtbild vereinigt werden.“195

Der abschließenden medizinischen Diagnosestellung ging also die intensive Beobachtungstätigkeit der Heilpädagogin voraus. In welcher Weise sich der Arzt auf die Beobachtungen der Heilpädagogin bezog bzw. wie ausgeprägt die gegenseitige disziplinäre Beeinflussung im Einzelfall sein konnte, dokumentieren die beiden nachfolgenden Beispiele. In der Krankenakte Erich Köblers, der nicht ganz vier Monate auf der KBS untergebracht war, sind der umfangreiche Erziehungsbericht von Hilde Classe und das ärztliche Zeugnis von Heinrich Schulte erhalten. Ein Abgleich ergibt, dass der Psychiater sich auf die Ausführungen der Heilpädagogin zum Verhalten des Kindes stützt und sie in verkürzter Form in seinen Text aufnimmt. Lautet die ausführliche Erläuterung der Jugendleiterin: „Es fällt ihm schwer, sich in den geordneten Betrieb einzufügen, er scheint nicht gewöhnt zu sein, daß die Erwachsenen das, was sie von ihm verlangen auch durchsetzen. Er sieht sie treuherzig an, ohne sich um die Vorschriften zu kümmern. Bei Strafen versucht er durch ohrenbetäubendes Brüllen den Bestrafer [mürbe zu machen u.]196 zu schrecken oder zu rühren“197,

so heißt es bei Schulte knapp: „Trotzeinstellung gegen Erwachsene.“198 Aus dem Eintrag der Pädagogin 193 194 195 196

Leyen 1929d, 152. Leyen 1929d, 152. Leyen 1929d, 152. HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 07.06.1926, Einfügung i. Orig., o. Bl. 197 HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), Eintrag v. 07.06.1926, o. Bl. 198 HPAC, KBS 263, Ärztliches Zeugnis (Schulte) v. 20.08.1926, o. Bl.

178

4. Kinderbeobachtungsstation

„Wenn die Kinder sich unterhalten, will er all das was sie erzählt haben auch erlebt haben. Wenn man dem nachgeht zieht er kleinlaut zurück mit – ‚das weiß ich doch nicht mehr!‘ – Sein Onkel ist bald Schiffer und sein Kahn liegt am Alexanderufer bald Eisenbahner u. bald ‚Autoschofför‘. Auf der Straße oder am Ufer will er ihn gerade gesehen haben“,

wird die psychiatrische Diagnose „Lügen Phantastereien mit dem Ziel: sich in den Mittelpunkt zu stellen“. Der Arzt bezieht sich also ganz deutlich auf die eingehenden pädagogischen Beobachtungen und formuliert auf dieser Basis seine Expertise. Der Hinweis „s. Bericht der Erzieherin“ findet sich regelmäßig in den Krankenakten der KBS. Durch die – auch räumlich – enge Zusammenarbeit ergaben sich jedoch auch Situationen, in denen die Grenzen zwischen den disziplinären Kompetenzen offensichtlich verschwammen und nicht mehr eindeutig auszumachen war, wer auf wen Einfluss nahm. So übernahm Hilde Classe mehrfach eine Formulierung Schultes in ihren Beobachtungsbericht über Erich Köbler. Die Ausführungen der Pädagogin zum familiären Umfeld des Jungen erfolgten zeitlich nach der Erstellung des ärztlichen Attests, „durch unzweckmäßige Erziehungs- und Milieueinflüsse“ hätten sich aus einer psychopathischen Anlage „gewisse Reaktionen gebildet“. Gleiches gilt für die Aussage des Psychiaters über die Schwierigkeiten bei der pädagogischen Beeinflussung des Jungen, die Schulte in Erichs „leicht erregbaren, aber nicht anhaltendem Interesse am Schulunterricht etc.“ begründet sah. Nicht zuletzt wiederholt sich diese Variante der zeitlich versetzten Dokumentation auch bei der abschließenden Empfehlung für die weitere heilpädagogische Beeinflussung. Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit der direkte mündliche Austausch zwischen Psychiater und Pädagogin in die schriftliche Dokumentation der Jugendleiterin eingeflossen ist. Ein anderes Beispiel verdeutlicht, wie die pädagogische Beobachtung durch die medizinische Diagnose strukturiert wurde. Den siebenjährigen Fritz diagnostizierte der aufnehmende Arzt Kurt Albrecht als „Psychopath. Kind Pseudologie“.199 In der Anamnese notierte der Psychiater die Angaben der Mutter: „Schwindelt überhaupt viel: geht auf d. Polizei, gibt e. falschen Namen [an] u. erzählt, er fände 199 HPAC, KBS 292. Der Begriff der Pseudologia phantastica geht zurück auf den Psychiater Anton Delbrück (1862–1944). Vgl. ders. 1891. Delbrück fasste darunter den Drang zum krankhaften Lügen und Übertreiben, auch zur Hochstapelei. Als Motiv für „phantastisches Lügen“ (Peters 2007) wurde und wird ein Bedürfnis nach Geltung und Anerkennung gesehen, wobei die Grenze zwischen Lügen als Krankheitszeichen oder als Ausdruck einer „normalen“ Entwicklung insbesondere bei Kindern und Jugendlichen fließend ist. Die Neigung zu lügen, die Wahrheit zu verfälschen oder erfundene Geschichten zu erzählen wurde zeitgenössisch ebenso als Symptom kindlicher psychopathischer Konstitution gedeutet wie als eigentümliches Kennzeichen kindlicher Entwicklung. Vgl. Kraepelin 1915, 2043–2076.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

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nicht nach Hause. […] war m[it]. e[inem]. sozialistischen Demonstrationszug mitgelaufen. Auf d. Polizei, sein Vater sei auch Rotfront, sei auch im Demonstrationszug mitgegangen. – Als d. Vater ihn abholte, gab er alles richtig an, schämt sich aber garnicht wegen seiner Schwindeleien. – Ein anderes Mal, als er wieder nicht nach Hause gekommen war, lief er zu Hausbewohnern im Hause seiner Eltern, erzählte dort, seine Eltern seien nicht zu Hause, er sei so müde u. könne nicht oben rein. Schlief dann die Nacht durch bei d. fremden Leuten (während d. Mutter bis nachts um 12 Uhr bei d. Polizei auf ihn wartete). Als d. Mutter das am Morgen erfuhr u. ihn abholte, erzählte er, die Leute hätten ihm Schnaps zu trinken gegeben, ihn besoffen gemacht, wollten ihn nur aushorchen. – Solche Phantasien erzählte er öfter, kleine fast jeden Tag, braucht nur ein bisschen angeregt zu werden, z. B. durch e. Gespräch, das er gerade hat, sofort knüpft er daran e. Schwindelei an.“200

Der Bericht von Hilde Classe, der einen Zeitraum von eineinhalb Monaten umfasst, bezieht sich auf zwei von knapp sechs Seiten ausschließlich auf das Thema Pseudologie. So notiert sie u. a.: „Er fängt spontan an Träume zu erzählen: ‚Da war ich mit einem Saal ganz hell war’s da, in einem Schloß. Hilde war meine Braut (10jähr. Kameradin). Plötzlich war da Wasser. Alle fielen rein, ich hab sie alle rausgeholt, nur die Tante hab ich ‚nie‘ rausbekommen. Die war schon tot. Dann kamen viele Leute, die wollten die Wäsche wegnehmen, da wurde ich wütend. (Ref. war gerade beim Wäschezählen) da nahm ich die Wäsche u. warf sie gegen die Uhr, gegen die Wand.‘ ein andermal: ‚träumt er von Ratten u. Mäusen!‘ Durch Fragen läßt er sich in seinem Erzählungseifer steigern. Er ist sehr suggestibel. ‚Er fährt im Auto.‘ (nicht im Luftschiff?) Ja im Luftschiff, kommt dann im Verlauf der Erzählung auf die Eisenbahn. Wenn man ihm sagt, daß er sich das ausgedacht habe, gibt er es auch zu. Er kommt auch auf frühere ‚Träume‘ zurück, die er vervollkommnet. Heute hat er z. B. die Tante im Traum gerettet, die er vor Tagen untergehen ließ.“201

Hier zeigt sich, dass die Beobachtung nicht voraussetzungslos war, sondern sich gezielt auf aufgetretene oder angenommene – insbesondere bei sexuell konnotierten Handlungen – Verhaltensauffälligkeiten richtete. Sie konnte auch zu negativen Resultaten führen, etwa im Sinne der Feststellung, „die angegebenen Störungen wurden hier nicht beobachtet“.

Heilpädagogische Forschungsmethodik Stationäre heilpädagogische Beobachtung Die Beobachtung durch die Erzieherin war ein systematisches und standardisiertes Verfahren, das vermutlich seit Beginn der Zusammenarbeit von freier Jugendfürsorge und universitärer Psy200 HPAC, KBS 292, Anamnese vom 10.01.1927, Hervorhebg. i. Orig., o. Bl. 201 HPAC, KBS 292, Bericht der Erzieherin, Eintrag v. 20.01.1927, o. Bl.

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chiatrie 1906/07 sukzessive entwickelt wurde. Im Zentrum der früh geübten interdisziplinären Kooperation von Arzt und Pädagogin standen einerseits das Heilerziehungsheim für unbemittelte psychopathische Knaben im brandenburgischen Templin,202 andererseits die langjährigen Erfahrungen in der Zusammenarbeit von Psychiatrie, Jugendgericht und Jugendgerichtshilfe. Insofern war die Praxis der gegenseitigen Bezugnahme bereits vor Eröffnung der KBS eingeübt. Im Falle der achtjährigen Schülerin Käthe, die 1919 poliklinisch untersucht und als psychopathisch diagnostiziert worden war, erbat Ruth von der Leyen im Januar 1920 telefonisch ein „Attest über die damalige Untersuchung und dass damals Unterbringung im Kinderheim geraten war“.203 Die Poliklinik wiederum vermerkte auf ihren Krankenblättern mit dem handschriftlichen Kürzel „Ps.V“ für „Psychopathenverein“, wenn das betreffende Kind vom DVFjP kam oder an die dortige Beratungsstelle überwiesen werden sollte. Auch in der poliklinischen Rubrik „Ordination“ oder „Verordnung“ wurde der „Ps.V.“ als Instanz angegeben, häufig mit zusätzlichen Angaben, etwa „Beratung der Mutter“ oder Ähnliches.204 In den Krankenakten der KBS finden sich ebenfalls Hinweise auf die gemeinsame Beratung von Pädagoginnen und Psychiatern, wie das Beispiel des achtjährigen Otto zeigt. In seiner Akte notiert Ruth von der Leyen nach „telephonische[r] Rücksprache mit Herrn Professor Kramer“ dessen Erstdiagnose. Nach der vorausgegangenen poliklinischen Untersuchung halte er Otto „für einen ausgesprochen brutal-egoistischen Jungen“205 und unterstütze dessen Überweisung in die Charité. Aus pädagogischer Sicht diente der Aufenthalt auf der KBS der Überprüfung, „inwieweit ein solcher Junge in günstigerer Umgebung die Schwierigkeiten weiter macht, über die bisher geklagt worden sind (sic!) […]“.206 Gut vierzehn Tage nach dem ersten fachlichen Austausch hielten von der Leyen und Lotte Nohl eine erneute Besprechung über den Jungen mit Rudolf Thiele fest.207 Ähnlich verfuhren Nohl, Classe und Thiele mit dem neunjährigen Eberhard, der 1922 gut zwei Monate auf der KBS verbrachte. Gemeinsam berieten sich die Sozialpädagoginnen und der Mediziner über die Form der geplanten Landunterbringung des sehr schüchternen, wohlerzogenen Jungen. Wegen seiner körperlichen Empfindsamkeit sollte er nicht beim Bauern untergebracht werden. Thiele hielt die Elisabethstiftung in Kieckow/Pommern für „be202 Vgl. Fuchs 2012. Aus Templin sind jedoch keine personenbezogenen Akten überliefert. 203 HPAC, Krkbl. Zugang unter Nr. 220 am 17.06.1919. 204 HPAC, Krkbl. Zugang unter Nr. 578 am 04.12.1927. 205 HPAC, KBS 20, Ps. V. 498, Bericht Ruth von der Leyen nach telefonischer Rücksprache mit Franz Kramer am 3. Juni 1921, o. Bl. 206 HPAC, KBS 20, Bericht des DVFjP (Leyen) vom 19.08.1921 an das Landesarbeitsamt Berlin, o. Bl. Zur ausführlichen Fallgeschichte vgl. Fuchs/Rose/Beddies 2012. 207 HPAC, KBS 20, Ps. V. 498, Notiz [betr. Thiele] vom 13. Juli 1921, notiert von Lotte Nohl, abgezeichnet von Ruth von der Leyen, o. Bl.

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sonders geeignet“, „falls Herr Schulz [Leiter] sich darauf einlässt, sich des Jungen besonders anzunehmen“.208 Im Falle der siebenjährigen, sehr undisziplinierten, sich „ordinär“ und „erotisch“ gebenden Erna vermerkte Lotte Nohl: „Wir brachten sie deshalb nach einem nochmaligen Aufenthalt in der Charité, in der meine Beobachtungen noch einmal von Herrn Dr. Thiele geprüft und bestätigt wurden, in das Heilerziehungsheim von Frau Dr. Geissler.“209

Dieser Maßnahme, die dem stationären Aufenthalt Ernas auf der Kinderbeobachtungsstation folgte, ging eine mehrmonatige heilpädagogische Beobachtung voraus, die primär Hilde Classe und ergänzend Lotte Nohl vornahmen. Beeinflusst war das historische Verfahren der heilpädagogischen Beobachtung von der Ethik und dem Konzept der Sozialen Diagnose Alice Salomons, der Begründerin des Berufsfeldes der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik in Deutschland.210 In enger Anlehnung an das aus Amerika stammende Konzept, das sich an der Schule des Social Case Work orientierte, erarbeitete Salomon Grundlinien für eine eigene „Theorie des Helfens“, die über die Deutung der sozialen Diagnose ihrer Kollegin Mary Ellen Richmond hinausgingen.211 Im Zentrum des Social Case Work stand der/die Klient_in als eigenständiges Subjekt und damit die Kooperation von Klient_in und Expert_in zur Lösung der jeweiligen sozialen Problemlage. Die Soziale Diagnose fungierte als Instrument, mit dem der Mensch in seiner Ganzheitlichkeit erfasst werden sollte. „Aus der Ermittlung von Tatbeständen wirtschaftlicher oder anderer Art ist eine soziale Diagnose geworden, die alle Seiten des menschlichen Lebens, die Anlage und Entwicklung, Milieu und Schicksal in das rechte Licht setzen und zu einem Gesamtbild vereinigen soll, das für die Hilfeleistung den Ausgangspunkt abgibt und das Ziel bestimmt.“212

208 HPAC, KBS 56, Ps. V. 651, Eintrag v. 17.04.1922, o. Bl. 209 HPAC, KBS 5, 191, Ps. V. 337, DVFjP (Lotte Nohl) an das Bezirksamt Berlin 11, Jugendamt, 21.11.1921 [Typoskript S. 4], o. Bl. 210 Salomon 1927; Titel und Inhalte der deutschen Publikation basieren im Wesentlichen auf der gleichnamigen Schrift von Mary Ellen Richmond 1917. Salomon bezog sich nach eigenen Angaben jedoch auch auf die Arbeit des Professors für öffentliche Wohlfahrtspflege, Karl D. Schweinitz 1924 sowie auf einen nicht publizierten Aufsatz von Porter Lee, dem damaligen Direktor der New Yorker Schule für Soziale Arbeit. 211 Vgl. Neuffer 1990, 32. 212 Salomon 1927, 6.

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Die Erhebung dieser Art von Diagnose galt als gemeinsame Leistung beider Akteur_innen und war immer wieder infrage zu stellen, zu überprüfen und zu modifizieren. In einem prinzipiell unabschließbaren Prozess lernte der/die Hilfesuchende so mit Unterstützung des/der Sozialarbeiter_in, das individuelle Verhältnis zur sozialen Umwelt zu verstehen und möglicherweise zu verändern. Salomon, die ihre Methodik auch an der Settlement-Bewegung in England und den USA orientierte, formulierte über die interpersonelle Arbeit hinaus einen politischen Handlungsauftrag an die in der Sozialen Arbeit Tätigen. „Der Fürsorger soll die soziale Reform anregen. Er soll soziale Politik fördern, aber auch von ihr wieder für die eigene Arbeit gefördert werden.“213 Das reformpolitische und anwendungsbezogene Salomon’sche Wissenschaftsverständnis hielt zwar die Erarbeitung eigener Methoden der Sozialen Arbeit für unverzichtbar, plädierte jedoch für die Orientierung an der Methodik anderer Wissenschaften wie der Jurisdiktion, der Geschichte und der Medizin. Am meisten habe die Sozialarbeiterin „vom Mediziner und Psychologen“ zu lernen, in vielen Fällen bedürfe sie der Mitwirkung des Arztes und der Untersuchungsmethoden des Psychologen.214 Dieses Selbstverständnis der Sozialen Arbeit transferierten Ruth von der Leyen und ihre Mitarbeiterinnen, die ihre Ausbildung an der Sozialen Frauenschule Salomons absolviert hatten, auf die Beobachtungspraxis an der Charité. Das Kennenlernen eines Kindes könne nur erfolgen, so Hilde Classe, „durch gute Beobachtung […] im täglichen Leben: in Spiel und Arbeit, im Verhalten zu Erziehern und Kameraden, zu Pflichten, Forderungen und Freiheit. Gerade die Kinder, deren ursprüngliche Wesensart durch äußere Einwirkungen stark verändert ist, werden uns am eindringlichsten lehren, wie notwendig eine vorurteilslose, nicht wertende und immer zur Beobachtung bereite Erziehung ist, um das psychische Grundbild des Kindes klären zu helfen.“215

Eine differenzierte und vielfältige Alltags- und Freizeitgestaltung, Unterricht, Spiel und Beschäftigung dienten der Jugendleiterin auf der KBS daher gleichermaßen als Rahmen und als Medium für die standardisierte heilpädagogische Beobachtung, deren Ergebnisse schriftlich dokumentiert und den Krankenakten beigefügt wurden. Dieses Vorgehen wurde von den Sozialpädagoginnen eigenständig, ohne methodische Anleitungen oder formale Vorgaben seitens der Ärzte, entwickelt und praktiziert. Ihre sachbezogene Kompetenz basierte auf den von Alice Salomon entwickelten „Methoden der Fürsorge“, die die auf der KBS tätigen Jugendleiterinnen für den Bereich der Psychopathenforschung und -fürsorge adaptierten und den speziellen Erfordernissen dieses Spezialgebietes anpassten.

213 Salomon 1927, 47; vgl. auch Neuffer 1990, 33. 214 Vgl. Salomon 1927, 8. 215 Hilde Classe, zit. n. Ruth von der Leyen 1923d, 123.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

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Dokumentation Die Verfahrensweise der Sozialpädagoginnen spiegelt sich in den „Bericht[en] der Erzieherin“ wider, die den psychiatrischen Krankenakten der Kinderbeobachtungsstation beigelegt sind und einen eigenen Textkorpus bilden. Die überwiegend handschriftlich verfassten Darlegungen wurden auf den klinikinternen Formularen zur „Krankengeschichte“ vorgenommen, die vorgegebene Überschrift ist manchmal durchgestrichen und mit dem handschriftlichen Vermerk „Beobachtungsbericht“ oder synonymen Formulierungen überschrieben. Die Berichte der Erzieherin sind gesondert in die Akte eingelegt und weisen zu einem Teil fortlaufende Datierungen auf, teils sind sie nur mit dem Datum der Aufnahme des Kindes versehen. Sie sind unterschiedlich lang, im Einzelfall umfassen sie bis zu 15 Seiten.216 Der Umfang der Dokumentation ist jedoch nicht an die Dauer des Aufenthaltes auf der KBS gebunden, bei Fritz, der drei Wochen auf der Station verbrachte, umfasst der Erziehungsbericht neun Seiten, ähnlich verhält es sich bei Elfriede mit neun Tagen Anwesenheit und einem zehnseitigen Beobachtungsbericht.217 Bisweilen sind die Berichte von der Verfasserin unterschrieben, manchmal wird ein stark formaler Modus eingehalten und die persönlichen Daten des Kindes werden eigens auf einem Deckblatt festgehalten, während der Bericht nachfolgend einsetzt. Zeitweise sind die Berichte fortlaufend und im Wechsel von verschiedenen Jugendleiterinnen verfasst. Die Sozialpädagogin schrieb ihren Report teilweise tagsüber, in Anwesenheit der Mädchen und Jungen, etwa während diese mit schulischen Aufgaben oder anderen Dingen beschäftigt waren. Diese Konstellation – die Pädagogin beobachtet, während sie eigenen Tätigkeiten nachgeht – deckte sich mit der Praxis Nohls im Rahmen der Spielnachmittage. Sie entspricht der heute als nicht-teilnehmende Beobachtung bezeichneten Form,218 die die Jugendleiterinnen der KBS auch anwendeten, wenn die Interaktion zwischen Eltern und Kind Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit war. Etwas ungestörter konnte die Dokumentation am Abend bzw. in den Nachstunden erfolgen, wobei sich die systematische Beobachtung eines jeden Kindes auch auf die Nacht ausdehnte und zusätzlich zur schriftlichen Dokumentation durchgeführt wurde. Es kam vor, dass Kinder das Zimmer der Jugendleiterin aufsuchten und sie bei ihren Schreibarbeiten unterbrachen. So notierte Hilde Classe zu Otto: „… doch in der letzten Nacht kam er wieder in mein Zimmer gerannt, er ging aber ohne Anruf als er mich am Schreibtisch entdeckte zurück […].“219 216 217 218 219

Vgl. HPAC, KBS 263. Vgl. HPAC, KBS 76; KBS 119. Vgl. Kleber 1992, 210. HPAC, KBS 20, Erzieherinnenbericht, Eintrag v. 07.09.1921, o. Bl.

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4. Kinderbeobachtungsstation

Grundsätzlich fällt auf, dass das Kind in den Berichten der Erzieherin namentlich benannt wird, Individualisierung und Personalisierung finden also auch in der schriftlichen Form ihren Niederschlag. Die Krankengeschichten haben dagegen einen objektivierenden Charakter, das Kind wird hier in der Regel als „Pat.“ bezeichnet, manchmal auch als „der Junge“ oder „das Mädchen“. Sammeln und Notieren verhaltensorientierter Daten Die Verhaltensbeobachtung erfolgte symptomorientiert und bezogen auf die von Kramer entwickelte Typologie jugendlicher Psychopathie, die fünf große Gruppen voneinander abgrenzte: 1. die empfindsamen (überempfindlichen, sensitiven) 2. die überlebhaften 3. die gemütsarmen 4. die epileptoiden 5. die haltlosen Psychopathen.220 Im Vergleich zu anderen Typologien fällt die geringere Differenzierung der Gruppen auf. So unterschied etwa Kraepelin dreizehn verschiedene Formen der Psychopathie,221 während Kurt Schneiders Typologie, die „häufig übernommen“ wurde, zehn Kategorien umfasste.222 Kramer begründete seine Zurückhaltung bei der Klassifikation der kindlichen und jugendlichen Psychopathie mit der außerordentlichen Varianz der Symptome und ihren vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten, die „der Übersicht und Einordnung erhebliche Schwierigkeiten“ bereiteten.223 Wichtiger als verallgemeinernde Gruppeneinteilungen psychischer Störungen war in der Praxis der KBS offenbar das Sammeln von konkreten individuellen Informationen über auffälliges kindliches Verhalten. Es liegt nahe, als Grund dafür den starken pädagogischen Anteil des Forschungsprogramms zu sehen. Die Berichte der Erzieherin belegen die systematische Vorgehensweise bei der Beobachtung. Aus den in den KBS-Akten überlieferten Texten der Pädagoginnen ließ sich ein Kriterienkatalog mit zwölf übergreifenden Kategorien erschließen, nach denen die Beobachtung erfolgte. Die einzelnen Merkmale dienten jedoch nur als Orientierung und wurden flexibel – in Anpassung an das Kind und die jeweilige Beobachtungssituation – abgefragt und schriftlich festgehalten. Die Kategorien umfassten:

220 Vgl. Kramer 1930b, 579 f. 221 Vgl. Remschmidt 1978, 286. 222 Braig 1978, 2 f. 223 Kramer 1930b, 579.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

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1. Sozialverhalten 2. Emotionales Verhalten (Reaktion auf Lob und Tadel, Umgang mit Ermahnungen und Strafen/Bestrafung, Umgang mit Tieren/Pflanzen) 3. Essverhalten 4. (Körper-)Hygiene, Körperwahrnehmung 5. Umgang mit Eigentum 6. Spielverhalten, Umgang mit dem Beschäftigungs-Material 7. Kognitive Fähigkeiten 8. Lebenspraktische Tätigkeiten 9. Vorlieben und Interessen 10. Besondere Symptome: Vasomotorische und psychosomatische Reaktionen 11. Nächtliche Beobachtung (Schlafqualität, Bettnässen, Onanie) 12. Beurteilung, heilpädagogische Empfehlung. Einleitend vermerkt die Jugendleiterin in der Regel die Herkunft des Kindes, wer es auf die Station gebracht hat, manchmal auch, von welchem Arzt es aufgenommen wurde. In Erich Köblers Beispiel notiert Hilde Classe, wie er auf die neue Situation reagiert, in der er sich befindet, und hält fest, was der Junge selbst als Grund für seine Aufnahme auf die KBS ansieht. Im Verlauf der Dokumentation, die in diesem Fall nicht täglich, sondern in größeren zeitlichen Abständen vorgenommen wurde, geht die Pädagogin auf sieben heilpädagogische Kategorien ein: soziales und emotionales Verhalten Erichs, Ess- und Spielverhalten, körperliche Hygiene, kognitive Fähigkeiten und die Vorlieben des Jungen. Das vom aufnehmenden Arzt Heinrich Schulte im Rahmen der Anamnese angegebene Hauptsymptom einer „große[n] motor. Unruhe“, das sich im „Ärztlichen Zeugnis“ ebenso wiederfindet wie auf dem Deckel der Krankenakte – dort als Ergänzung zur Diagnose „psychop. Kind“ – erschließt sich aus dem Bericht der Erzieherin nur indirekt. Entsprechende Formulierungen lauten etwa: „Am meisten liebt er wilde Spiele“, „Ist alles um ihn ruhig u. reibungslos, geht es, sobald unruhige u. erregte Elemente dabei sind wird er auch wieder schwieriger“ oder „Es ist deutlich sichtbar wie Erich bei einer allgemein besseren Disziplin selbst disziplinierter ist, in allgemeiner Unruhe selbst zügellos.“224 Nur selten enthalten die Berichte der Jugendleiterinnen eine direkte Zuordnung zu einem der von Kramer vorgeschlagenen Typen jugendlicher Psychopathie. Dies entsprach zum einen im Grundsatz der Offenheit seiner Konzeption, die die Typologisierung eher als heuristisches Instrumentarium und weniger als ein in sich geschlossenes, statisches System verstand. Kramer betonte stets die Unmöglichkeit einer scharfen Abgrenzung und die vielfältigen „Übergänge und Kombinationen“, die bei allen aufge-

224 HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), o. Bl.

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4. Kinderbeobachtungsstation

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

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Abb. 6a und 6b: „Bericht der Erzieherin“, Hilde Classe, 1921 und Auszug Erzieherinnenbericht, drei Verfasserinnen, 1930

stellten Typen möglich waren.225 Zum anderen fiel die Vergabe einer medizinischen Diagnose eindeutig in den Kompetenzbereich des Psychiaters. Die Berichte der Erzieherin sind nicht (von vornherein) Teil des psychiatrischen Aufschreibesystems, prinzipiell können sie auch für andere als für die psychiatrischen Zwecke benutzt werden und zeugen somit von einer gewissen disziplinären Autonomie. Teil der psychiatrischen Notation werden sie erst, indem der Arzt sich auf sie bezieht, in Attesten, Gutachten etc. und rein physisch, indem die Beobachtungsberichte der Krankenakte beigelegt werden. Darüber hinaus hatte die heilpädagogische Beobachtung aber nicht nur für die diagnostisch-therapeutische Praxis Bedeutung, sondern stellte auch die Basis der wissenschaftlichen Publikationstätigkeit dar.

225 Kramer 1930b, 579.

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4. Kinderbeobachtungsstation

Wissenstransfer Mit Blick auf die Veröffentlichungen, die im Umfeld der Kinderbeobachtungsstation entstanden, fällt die starke Betonung empirischer Forschung ins Auge. Ein Selbstverständnis von der eigenen psychiatrisch-pädagogischen Tätigkeit als Sammeln und Auswerten von Erfahrungen, um zu einem komplexen Gesamtbild zu gelangen, lässt sich über den gesamten Untersuchungszeitraum feststellen. So bemerkte Franz Kramer 1918 bei der Gründungstagung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen über straffällig gewordene psychopathische Kinder und Jugendliche: „wir verfügen […] noch nicht über ausreichend praktische Erfahrungen“.226 Siebzehn Jahre später führten er und Ruth von der Leyen im Zusammenhang mit einer großen katamnestischen Untersuchung aus: „Beweisend sind unseres Erachtens eben nur Fälle, die jahrelang unter ständiger psychiatrischer Kontrolle und unter stetiger, zweckmäßiger erzieherischer Beeinflussung stehen.“227 Kramer begründete die Bedeutung der Empirie für den Forschungsgegenstand einerseits mit der unscharfen Abgrenzung des Psychopathiebegriffs: Dadurch, dass der Untersuchungsgegenstand ein Gebiet darstelle, „wo das Normale und das Pathologische allmählich ineinander übergehen“ und die Grenze zwischen beiden „eine absolut fließende“ sei, unterläge jede Definition „in weitem Maße der Willkür des einzelnen [sic]“. Auf eine derart unsichere theoretische Ausgangsposition ließ sich ein Forschungsprojekt (zumal ein interdisziplinär angelegtes) nicht sinnvoll gründen. Andererseits, so Kramer weiter, bestünde ein Ziel der gemeinsamen Tätigkeit in der Psychopathenfürsorge‚ ja gerade darin, „das Gebiet zu umgrenzen, in welchem die ärztliche Einwirkung erforderlich ist“. Definitionen des Psychopathiebegriffs seien jedoch „erst das Ergebnis der ärztlichen Untersuchung“ und stünden mithin am Ende des Forschungsprozesses. In das Zentrum der Beschreibung des Arbeitsgebietes rückte damit die Erfahrung, „daß es Kinder gibt, die nicht schwachsinnig sind, die Erziehungsschwierigkeiten bereiten, die sich asozial verhalten, und bei denen sich ergibt, daß sie den normalen Erziehungseinflüssen gegenüber sich unzugänglich verhalten.“228

Auf diese Gruppe habe sich die gemeinsame Arbeit von Psychiatrie, sozialer Fürsorge und Pädagogik zu richten, um die Ursachen „abnormen“ Verhaltens von Kindern und Jugendlichen zu ergründen und praktische Konsequenzen daraus zu ziehen.229

226 227 228 229

Kramer 1920, 48. Kramer/Leyen 1934, 228. Dieses und alle vorhergehenden Zitate: Kramer 1921a, 3 f. Kramer 1921a, 5.

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Ruth von der Leyen formulierte das gemeinsame, auf Empirie gründende Forschungsverständnis wie folgt: „Wege und Ziele der Psychopathenfürsorge können nie theoretisch erforscht werden. Die Kinder selbst – durch ihre in immer neuer Mischung sich zeigenden psychopathischen Züge, (trotz einzelner vorhandener Grundtypen) durch ihre immer verschiedene Reaktionsart auf das vorhandene oder das neugegebene Milieu zeigen uns die Unzulänglichkeit unserer vorhandenen Maßnahmen, quantitativ wie qualitativ.“230

Bei einer empirischen Herangehensweise ist die Beobachtung die Erkenntnismethode der Wahl. Tatsächlich gilt diese bis heute als die wichtigste diagnostische Methode der Heilpädagogik. Eine ihrer Formen ist die systematische oder standardisierte Beobachtung im Sinne einer „geplanten, gezielten und kontrollierten Wahrnehmung eines konkret festgelegten Teilbereiches der Wirklichkeit mit dem Ziel, diesen möglichst genau zu erfassen und festzuhalten. Festgelegt ist insbesondere was, wie und womit beobachtet wird“.231 Diese, einem aktuellen Lehrbuch entnommene Definition lässt sich auf die Beobachtungspraxis der KBS übertragen.232 Ihre epistemologische Absicht zielte in zwei Richtungen: Erstens sollte sie Erkenntnisse auf diagnostischem Gebiet liefern: „Die Beobachtung“, so Ruth von der Leyen, „erfolgt gemeinsam durch Arzt und Erzieher. Die Reaktion des Kindes auf die tägliche Umgebung sowie auf die neuen Erziehungseinflüsse wird der Erzieher beobachten und damit dem Arzt die Unterlagen für seine [Beobachtungen] während des Zusammenseins mit dem Kind geben.“233

Die Zuständigkeit für diese Praxis lag eindeutig auf pädagogischer Seite. Während die Erzieherinnen Tag und Nacht mit den Kindern zusammen waren und Daten über deren Verhalten in gezielt herbeigeführten oder zufällig sich ergebenden Situationen erhoben und notierten, beobachtete der Arzt ein bestimmtes Kind in wesentlich kürzeren Zeitabschnitten, stützte sich dabei auf das von den Pädagoginnen gesammelte, ausführliche Material und zog auf dieser Grundlage Schlussfolgerungen bezüglich des möglichen Vorhandenseins und des Typus psychopathischer Konstitution. Zweitens zielte die pädagogische Beobachtung auf der KBS auf therapeutische, und das heißt im Kontext des Psychopathiekonzeptes in der Regel auf pädagogische Möglichkeiten. Die Station war also auch in erzieherischer Hinsicht von größter Bedeutung, indem sie die

230 Leyen 1923b, 38. 231 Hobmair et al. 1997, 57. 232 Hier offenbart sich zugleich ein historisches Defizit der heutigen Heilpädagogik für erziehungsschwierige Kinder, die die Wurzeln der eigenen Theorie und Praxis nicht rezipiert. 233 Leyen 1923b, 44.

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Möglichkeiten und Variationen erzieherischer Beeinflussbarkeit der Kinder während der Beobachtungszeit feststellen und außerdem die künftige Erziehung des Kindes einleiten und vorbereiten sollte. Ganz deutlich wird das therapeutisch-pädagogische Erkenntnisziel in den abschließenden Bemerkungen des Beobachtungsberichtes über Erich: „Bei seiner weiteren Erziehung kommt es darauf an, […]“.234 Der Abschluss des stationären Aufenthaltes bedeutete im Idealfall jedoch nicht das Ende der heilpädagogischen Beeinflussung. Angestrebt war auch hier ein längerer Prozess des Erfahrungsaustausches zwischen Arzt und Pädagogin. Die Langzeitbeobachtung verhaltensauffälliger Mädchen und Jungen, die nach Möglichkeit „von frühester Kindheit an bis zur Reifung unter stetiger Anwendung der jeweils erforderlichen heilpädagogischen Maßnahmen“ erfolgen sollte, garantierte die Gewinnung weiterer Daten für die wissenschaftliche Forschung.235 Neben diesen unmittelbaren empirischen Effekten, die sich quasi auf einer lokalen Ebene – in der direkten Zusammenarbeit der Akteur_innen auf der KBS – finden, lässt sich die grundlegende Bedeutung der pädagogischen Beobachtungsberichte für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess auch auf einer institutionellen Ebene im Rahmen der beteiligten Wissensordnungen Psychiatrie und Heilpädagogik anhand der publizierten Texte aus der Kinderbeobachtungsstation zeigen. Die Publikationspraxis der Forscher_innen deutet auf ein dahinter stehendes Programm: Ging es zunächst darum, die Bedeutung des Psychopathiekonzeptes für die Erklärung von Verhaltensauffälligkeiten zu betonen,236 so beschäftigen sich die nachfolgenden größeren Arbeiten mit den verschiedenen Variationen psychopathischer Konstitution, entsprechend dem heuristischen Typenmodell Kramers. So wurden in Einzelstudien „überempfindliche“, „haltlose“, „überlebhafte“ (hyperkinetische) und schließlich „anethische“, „gemütlose“ Kinder und Jugendliche thematisiert.237 Grundsätzlich greifen die überwiegend männlichen Autoren auf zwei Gruppen von Datenquellen zurück. Erstere beinhaltet schriftliche oder verschriftlichte Informationen externer Herkunft, also in der ärztlichen Anamnese erhobene Daten, die vorrangig das familiäre Umfeld eines Kindes betreffen, Berichte von Jugendfürsorger_innen, Erzieher_innen und Lehrer_innen, Gutachten aufgrund früherer ärztlicher Untersuchungen und dergleichen. Die zweite Gruppe enthält alle auf der KBS – also unter Laborbedingungen – gesammelten Informationen, d. h. sowohl die in der Krankengeschichte notierten, ärztlichen Beobachtungen (einschließlich körperlicher Untersuchung und Intelligenztest) als auch die pädago234 235 236 237

HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin (Classe), o. Bl. Vgl. Kramer 1928, 351. Vgl. Leyen 1924c. Vgl. Leyen 1926a; Kramer 1927b; Kramer/Pollnow 1932b; Kramer/Leyen 1934.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

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gischen Berichte. Darüber hinaus umfasst dieser Korpus Selbstzeugnisse der Patient_innen (Bilder, Texte), die zum Teil auf Anregung der Pädagoginnen entstanden, zum Teil aus eigener Initiative von den Mädchen und Jungen angefertigt und den Krankenakten beigelegt wurden. Es lässt sich feststellen, dass die besondere Informationsquelle „Beobachtungsbericht“ in allen wissenschaftlichen Publikationen, die aus der Forschungspraxis der Berliner Kinderbeobachtungsstation hervorgingen, eine zentrale Rolle spielt. Die im Wesentlichen kasuistisch angelegten Arbeiten zeigen verschiedene Verwendungsmöglichkeiten des pädagogischen Beobachtungsmaterials: Es wird 1. auf dieses Material verwiesen, um insbesondere ärztliche Aussagen zu bekräftigen;238 2. nahezu vollständig wiedergegeben, um ein komplexes Bild der beschriebenen Verhaltensstörung zu zeichnen,239 oder es werden 3. wesentliche Aussagen auf der Basis dieses Materials zusammengefasst, um sie der wissenschaftlichen Argumentation einzufügen.240 Diese Publikationspraxis folgte der empirisch orientierten Forschungsarbeit der KBS. Nur eine umfassende, über lange Zeiträume sich erstreckende Beobachtung konkreten individuellen Verhaltens bot die Möglichkeit, Erkenntnisse über die Ursachen auftretender Störungen zu gewinnen. Sie war Voraussetzung für die Auswahl pädagogisch-therapeutischer Maßnahmen, die – wiederum nur in individualisierter Form – in Bezug auf das jeweilige Kind zu ergreifen waren. In diesem Sinne vertraten Psychiater und Pädagoginnen der Station das Konzept einer „individualisierten Wissenschaft“, die grundsätzlich davon ausging, dass der Gegenstand der Forschungsarbeit (und nicht nur der Diagnose und Therapie) in der Psychopathenfürsorge nicht die Kategorie Psychopathie an sich, sondern stets ein konkretes Kind mit jeweils einmaligen Persönlichkeitseigenschaften war. Oder, wie Ruth von der Leyen es formulierte: „Die Psychopathenfürsorge soll zeigen, daß es keine allgemein gültigen Maßnahmen für die Erziehung der Jugend gibt, sondern daß jede einzelne Maßnahme der sorgfältig zu erforschenden Persönlichkeit des Kindes, seinen Anlagen, seinen Kräften, seinen Befähigungen entsprechen muß“.241

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Psychiatrie und Heilpädagogik auf der Berliner Kinderbeobachtungsstation erfolgte auf der Basis weitgehender Gleichberechtigung, sowohl geschlechterbezogen als auch die Disziplinen betreffend. Der methodischen Praxis der „wech238 Vgl. Leyen 1924c. 239 Vgl. Kramer 1927b; Leyen 1928e; Kramer/Leyen 1934. 240 Vgl. Kramer/Pollnow 1932b. 241 Leyen 1923b, 38.

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4. Kinderbeobachtungsstation

selseitigen Zusammenarbeit“242 lag die gegenseitige Anerkennung der jeweiligen fachlichen Kompetenzen zugrunde, tatsächlich ergänzte sich, wie von der Leyen 1934 resümierend feststellte, das kooperierende interdisziplinäre Vorgehen der Sachverständigen von Psychiatrie und Sozialpädagogik.243 Diese Prämissen bestimmten das Verhältnis der beiden Disziplinen im klinischen Alltag ebenso wie das ihrer jeweiligen Protagonist_innen. Der Erfolg des arbeitsteiligen Vorgehens bestand in der allmählichen Entwicklung einer differenzierten Sichtweise auf Ursachen auffälligen kindlichen Verhaltens und in der Generierung variierender Möglichkeiten zu seiner Beeinflussung. Vor diesem Hintergrund modifizierte Kramer sein ursprüngliches Psychopathiekonzept, das in Übereinstimmung mit der psychiatrischen Grundauffassung Devianz zunächst eher als anlagebedingt definierte. Im Ergebnis des gemeinsamen, letztlich als unabschließbar gedachten Forschungsprozesses entwickelten er und Ruth von der Leyen ein Psychopathiemodell, das von der unauflösbaren Wechselbeziehung zwischen Anlage und Umwelt ausging und eine Vielzahl therapeutischer Möglichkeiten eröffnete. Die Einrichtung der Berliner Kinderbeobachtungsstation markierte eine neue Entwicklungsstufe im Kontext der Erforschung jugendlicher psychopathischer Konstitution, ihrer Ursachen und Möglichkeiten der Beeinflussung. Die Verortung der heilpädagogischen Beobachtung in „bestehende psychiatrische Kliniken oder Irrenanstalten“ ermöglichte dabei zunächst die Separation verhaltensauffälliger Kinder von der Gruppe der Geisteskranken. Zugleich erleichterte die räumliche Zusammenführung der professionellen Akteur_innen die als notwendig erachtete Kooperation der Pädagogik mit der als Leitdisziplin angesehenen Psychiatrie.244 Die teilweise Verlagerung der heilpädagogischen Beobachtung aus dem offenen, vielgestaltigen urbanen Raum der Metropole Berlin in den geschlossenen medikalen Raum war gleichbedeutend mit dem Wechsel von der Feldbeobachtung hin zur Beobachtung im Labor. Für die der KBS zugeführten Kinder, den weitaus kleineren Teil seiner Klientel, entfiel die bis dahin übliche Praxis des DVFjP, die Kinder zum Spielnachmittag – also zur Beobachtung – von der Wohnung abzuholen, zum Teil auch das um Vertrauen bemühte Gespräch mit den Eltern und Jugendlichen im eigenen Zuhause.245 Die Wahrnehmung der Lebenssituation, der elterlichen Sorgen um das Kind und der familiären Beziehungen in der häuslichen Atmosphäre verlagerte sich im Falle eines Aufenthaltes in der KBS stärker in die Institution. Offenbar stellte die Institutionalisierung jedoch keine wirkliche Hemmschwelle dar, im Ein242 Kramer 1921a, 1. 243 Leyen 1934, 2004. 244 Leyen 1921, 95. 245 Hausbesuche und die Befragung von Dritten wie Schulleitern und Lehrerschaft, Arbeitgebern, Fürsorgerinnen etc. wurden auch bei einer Unterbringung auf der KBS durchgeführt. Für die überwiegende Mehrzahl der Betreuungsfälle erfolgte die heilpädagogische Beobachtung weiterhin im Rahmen der Spielnachmittage des DVFjP.

4.3 Mediziner und Pädagoginnen

193

zelfall suchten Eltern die KBS ebenso auf wie die Beratungsstelle für Heilerziehung, um den Erziehungsprozess im Austausch und in enger Abstimmung mit den Pädagoginnen und dem Psychiater zu gestalten. In der kleinen kinderpsychiatrischen Abteilung der Charité wurde das alltägliche Umfeld des Kindes zum Zwecke der Beobachtung in einer eigens geschaffenen, familienähnlichen Situation nach bürgerlichem Muster nachgebildet und in den medikalen Raum überführt. So gesehen bildete die Alltags-, Situations- und Spielgestaltung auf der KBS die Basis einer Versuchsanordnung, wobei die heilpädagogische Beobachtung im Sinne der geplanten, gezielten und kontrollierten Wahrnehmung der kindlichen Individuen und ihres Verhaltens nach festgelegten Kriterien und in unterschiedlichen Formen stattfand. Die Informationen, die die Sozialpädagoginnen über die langfristige Beobachtung des einzelnen Kindes erarbeiteten, hatten über ihren unmittelbaren diagnostisch-therapeutischen Zweck hinaus wesentlichen Anteil an der Gewinnung umfassender und sich immer weiter ausdifferenzierender Erkenntnisse über Wesen und Entstehung kindlicher psychopathischer Konstitutionen. Ihr Anteil an einem individualisierenden und milieuorientierten Ansatz des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen im Schwellenraum zwischen „gesund“ und „geisteskrank“ war maßgeblich, allerdings fand er in den zeitgenössischen Fachpublikationen keinen Niederschlag oder wurde – im Falle Ruth von der Leyens – nach ihrem Tod nicht mehr rezipiert. Zwar bezogen sich die mehrheitlich männlichen Autoren der psychiatrischen Arbeiten auf die Daten, die die Jugendleiterinnen der KBS zum individuellen Verhalten von Mädchen und Jungen systematisch gewonnenen hatten, allerdings ohne den Verweis auf deren Urheberinnen und den disziplinären Ursprung der Beobachtungspraxis. Mit Ausnahme von der Leyens, die in der Erforschung jugendlicher psychopathischer Konstitution ohnehin eine exponierte Stellung innehatte, publizierten die auf der KBS tätigen Jugendleiterinnen nicht selbst. Im Kontext der Repräsentation von Wissen blieben die sozialpädagogischen Akteur_innen der Kinderbeobachtungsstation daher ebenso unsichtbar wie die von ihnen angewandte Methodik. Aus kultursoziologischer Sicht verstärken sich in dieser Konstellation gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse und die Genese zweier wissenschaftlicher Disziplinen/Professionen: Die zeitgenössisch männlich dominierte Medizin vermochte sich gegenüber der noch jungen und weiblich konnotierten Sozialarbeit und Sozialpädagogik scheinbar selbstverständlich durchzusetzen. So sehr die stationäre Praxis auf der Berliner Kinderbeobachtungsstation von einem weitgehend gleichberechtigten Verhältnis der Akteur_innen wie der Disziplinen geprägt war, so wenig galt dies für die wissenschaftliche Praxis. Der Anspruch auf fachlichen Vorrang zeigt sich nicht zuletzt an der Reaktion Paul Schröders, der sich in seiner Antwort auf die gemeinsame Studie Kramers und von der Leyens zu den Entwicklungsverläufen „anethischer, gemütloser“ psychopathischer Kinder explizit nur auf seinen männlichen Kollegen

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4. Kinderbeobachtungsstation

bezieht und Ruth von der Leyen lediglich den untergeordneten Status als Mitarbeiterin Kramers zuspricht.246

246 Vgl. Kramer/Leyen 1935, [Brief Schröders] passim.

5. Praxis im Netzwerk

Eine Übersicht über die Organisation der Psychopathenfürsorge durch „Verzeichnis und bildliche Darstellung“ zu geben, sei allein schon deshalb nicht möglich, konstatierte Ruth von der Leyen 1927, weil sich dadurch die „Fäden eines solchen Zusammenwirkens“ zwischen den Institutionen nicht deutlich machen ließen.1 Die gewählte Metapher verweist darauf, dass die Struktur des Wissens- und Tätigkeitsraums, in dem der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen und seine Kinderbeobachtungsstation an der Charité zu lokalisieren sind, von den Akteur_innen selbst als eine Netz-Geographie verstanden wurde.2 Wenn im Folgenden davon ausgegangen wird, dass die psychiatrisch-heilpädagogische Forschungs- und Beobachtungspraxis auf der KBS Teil eines institutionellen Netzwerkes der Psychopathenfürsorge war, dann handelt es sich dabei also nicht nur um „ein retrospektives Konstrukt“; vielmehr repräsentiert diese Auffassung auch „einen Teil der zeitgenössischen, intersubjektiven Wahrnehmung“.3 Im Folgenden wird zwischen dem regionalen Berliner und dem gesamtdeutschen Netzwerk der Psychopathenfürsorge unterschieden. Für den Berliner Raum wird dabei der Schwerpunkt der Darstellung auf die Fürsorge im engeren Sinne gelegt, die Versorgungsleistungen für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche erbrachte. Die Beschreibung der nationalen Ebene wird dagegen vor allem diejenige Wissensordnung thematisieren, die aus der Ursachenforschung und Fragen adäquater Umgangsweisen mit Devianz sowie dem Diskurs darüber erwuchsen. Diese Trennung ist allerdings eine analytische; in der Realität überlagerten sich praktische Anwendung und Forschung in der Psychopathenfürsorge im Sinne einer angewandten Wissenschaft.4

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge Bei der Psychopathenfürsorge handele „es sich eben nicht um eine organisatorische Frage, sondern um eine Frage der Erziehung im Einzelfall“, führte Ruth von der Leyen in dem bereits zitierten Artikel von 1927 weiter aus. Es gab also keinen idealtypischen Weg der Erziehung verhaltensauffälliger Kinder; vielmehr sei jedes, „psychopathische Kind […] so lange 1 2 3 4

Leyen 1927a, 312. Vgl. Fangerau/Halling 2009, 8. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung vgl. auch Moses 1926b, 319. Fangerau/Halling 2009, 8. Fangerau 2009, 221.

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5. Praxis im Netzwerk

heilpädagogisch zu fördern und seine Entwicklung zu überwachen, bis es sich den eigenen Schwierigkeiten gegenüber sicher genug weiß, um den Lebensanforderungen standhalten zu können“.5 Für die Darstellung der Rolle des DVFjP im Beziehungsgeflecht der Psychopathenfürsorge ist demzufolge in besonderem Maße der Rückgriff auf die überlieferten Einzelfälle seiner Forschungsstation an der Charité wichtig.6 Als Vorteil erweist sich dabei, dass es für die dort tätigen Mediziner und Pädagoginnen unerlässlich war, Informationen über die Vorgeschichte, die „bisher auf das Kind wirksam gewordenen Einflüsse“, zu erhalten; nur so konnten eine psychopathische Konstitution und – für das weitere therapeutisch-erzieherische Vorgehen noch wichtiger – der konkrete „Reaktionstypus“ des jeweiligen Kindes festgestellt werden.7 Die Kinderbeobachtungsstation wird hier vorrangig unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktion als Netzknoten betrachtet,8 also unter der Fragestellung, welchen Einfluss der jeweilige Aufenthalt der Kinder auf ihre weitere Entwicklung hatte. Dabei sollen insbesondere Möglichkeiten und Begrenzungsfaktoren für die Durchsetzung des Konzeptes einer individualisierenden Betreuung aufgezeigt werden. Die beiden im Folgenden vorgestellten Einzelfälle sind repräsentativ für die individualisierende Praxis der KBS. Zusammen decken sie den gesamten Untersuchungszeitraum ab. Dies ermöglicht es, eine zeitliche Perspektive auf die Entwicklung der Psychopathenfürsorge im Berlin der Weimarer Republik zu eröffnen. Außerdem spiegelt sich in den Darstellungen das breite Spektrum beteiligter Institutionen und Personen.9 Dadurch können vor allem qualitative Aspekte hinsichtlich des Charakters der Beziehungen zur KBS und zum DVFjP sowie in Bezug auf die jeweilige Fürsorgepraxis aufgezeigt werden.

Fallgeschichte Erna Ebel Unter den fünf Kindern, die am 16. März 1921 auf die gerade eröffnete Kinderbeobachtungsstation der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité aufgenommen wurden, war auch die siebeneinhalbjährige Erna Ebel.10 Das Forschungsinteresse des DVFjP an ihr ist inso5 6 7 8

Leyen 1927a, 312. Zur Quellensituation vgl. in diesem Band, S. 22f. Leyen 1930c, 573. Angelehnt an die Soziale Netzwerkanalyse, die die Beziehungen zwischen bestimmten Handlungsträgern untersucht, bezeichnet „Knoten“ hier Akteure in einem Netzwerk, die über „Kanten“ miteinander verbunden sind. Halling/Fangerau 2009, 269 f. 9 Institutionen, die zum ersten Mal im Kontext auftauchen, werden kurz in ihrer historischen Entwicklung und Bedeutung dargestellt. 10 Von Erna Ebel sind im HPAC sowohl die Krankenakte (KBS 5, 191) als auch die dieser beigelegte

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

197

fern evident, als sie zu einer Gruppe gehörte, die offenbar bereits im Vorfeld der Gründung der KBS zusammengestellt und Anfang Dezember 1920 in einem Kinderheim untergebracht worden war,11 „bis das Beobacht.-Heim der Charité eröffnet wird“; Erna kam mit zwei Jungen aus derselben Einrichtung auf die KBS.12 Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen wurde auf Erna durch das bereits bestehende Fürsorgenetzwerk aufmerksam, das die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen verbessern, aber auch Abweichungen jeglicher Art frühzeitig registrieren und spezialisierten Institutionen zuweisen sollte. Der DVFjP verstand sich als Kern des weiter zu entwickelnden Fürsorgebereichs für verhaltensauffällige und erziehungsschwierige Kinder.13 Dass er so auch wahrgenommen wurde, verdeutlicht das Beispiel von Erna Ebel und unterstreicht zugleich, dass die Akteurinnen des Vereins bereits in vorhandene Netzwerke eingebunden waren: Als „Kind der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, begütert mit den vielfältigen Beziehungen zur Jugendfürsorgearbeit“,14 waren die Startbedingungen des Vereins in kommunikativer Hinsicht günstig. Schularzt Erna war wegen „geistiger Unreife“ zunächst versuchsweise vom Schularzt an die „Vorklasse für schulaltrige, aber geistig oder körperlich schulunreife Kinder“ überwiesen worden.15 Das Amt des Schularztes als bestallter Experte für alle Fragen der Gesundheitspflege an Schulen und die regelmäßige Kontrolle des Gesundheitszustandes von Schulkindern hatte sich in Deutschland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor allem aufgrund der Initiative kommunaler Verwaltungen entwickelt.16 Um 1920 hatte sich die Anstellung von Schulärzten durch die Kommunen zumindest in den Großstädten flächendeckend durchgesetzt, ohne dass es dafür eine einheitliche Regelung auf Reichsebene gab. In Berlin waren im Jahr 1900 die ersten Schulärzte berufen worden; ihre Zahl stieg bis 1912 auf 50.17 Zu ihren Aufgaben

11 12

13 14 15 16 17

Fürsorgeakte des DVFjP (Ps. V. 337) überliefert. Für Belege aus der Krankenakte wird nur diese zitiert, Angaben aus der Fürsorgeakte werden mit dem Zusatz „(Ps. V. 337)“ versehen. Zur Gründung der KBS vgl. in diesem Band, S. 119. HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Handschriftl. Vermerk Lotte Nohls, o. D. [Dez. 1920] sowie handschriftl. Vermerk Lotte Nohls, o. D. [1921], alles o. Bl. Vgl. auch HPAC, KBS 2, Bericht der Erzieherin (Hilde Classe), o. Bl.: „Wolfgang kam mit noch 2 anderen Kindern aus der Arche zu uns.“ Ebenso HPAC, KBS 4. Vgl. Siegmund-Schultze 1920, 70 f. Leyen 1931, 637. HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Bericht von Hilde Nohl, o. D. [1920], o. Bl. Vgl. Wiest 1976, 40–48. Vgl. auch Stroß 2008, 96 f. Hier und nachfolgend Meyer 1912 passim.

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5. Praxis im Netzwerk

gehörten die Untersuchung der Schulanfänger, die Auswahl der Kinder für die Hilfsschulen und Vorklassen sowie für den Stotterer-Unterricht, die Untersuchung und Begutachtung der Schüler_innen der Nebenklassen für Schwerhörige, der regelmäßige Besuch der von ihnen betreuten Schulen, die Durchführung von Sprechstunden, die Einleitung von Maßnahmen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten und schließlich die Erstellung von Gutachten und Jahresberichten. Damit war der Schularzt die zentrale öffentliche Instanz zur Kontrolle und Beurteilung des Gesundheitszustandes von Kindern im Alter zwischen sechs und vierzehn Jahren und übte zugleich eine Auswahl- und Zuordnungsfunktion aus, die ihren Lebensweg wesentlich bestimmte. Wie am Beispiel Erna Ebels deutlich wird, umfasste das Tätigkeitsprofil des Schularztes auch psychiatrische Aspekte. Dazu gehörte sowohl die Feststellung des Vorliegens sogenannter Intelligenzdefekte als auch die Bewertung andauernder oder besonders gravierender Erziehungsschwierigkeiten im Sinne des Psychopathiekonzeptes. Schulärzte waren oft die ersten, die bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten eine psychopathische Konstitution diagnostizierten und weitere Schritte veranlassten. In Fällen, die zunächst als nicht besonders problematisch angesehen wurden, konnte auf die sogenannten Vorklassen zurückgegriffen werden, die im Berliner Bildungssystem seit 1907 zum Teil unter der Bezeichnung „Schulkindergarten“ existierten.18 Hierhin wurden „schwachbegabte nicht schwachsinnige Kinder, die nach einem Jahr das Pensum der Aufnahmeklasse nicht erreicht haben“ überwiesen.19 Pestalozzi-Fröbel-Haus Träger der Vorklassen war nicht in jedem Fall die kommunale Schulbehörde, vielfach wurden sie auch von Vereinen und Einrichtungen der freien Sozialarbeit wie dem Pestalozzi-FröbelHaus unterhalten.20 Gegründet am 16. Mai 1874 als „Berliner Verein für Volkserziehung“, hatte es sich unter der Leitung von Henriette Schrader-Breymann (1827–1899) zu einer der wichtigsten sozialpädagogischen Institutionen Berlins an der Schnittstelle zwischen bürgerlicher Frauenbewegung und privater Wohlfahrtspflege entwickelt. Das Ziel des Vereins bestand in der „Erweiterung und Verbesserung der Kleinkinderfürsorge und der Jugenderziehung so-

18 Hilde Nohl 1928, 137. 19 Meyer 1912, 21. 20 Die Vorklasse des Pestalozzi-Fröbel-Hauses wurde 1910 gegründet. Vgl. Hilde Nohl 1928, 137. Im Jahr 1923 gab es in Berlin 15 Vorklassen bzw. Schulkindergärten, von denen elf in freier Trägerschaft waren. Vorreiter war der Stadtbezirk Charlottenburg, wo allein zehn Vorklassen/Schulkindergärten in freier Trägerschaft existierten, die zumeist schon vor der Bildung Groß-Berlins im Jahr 1920 entstanden waren. Vgl. Leyen 1923c, 120.

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

199

wie [der] Ausbildung der Frauen für die Berufe der Hauswirtschaft und der Erziehung“.21 Zwischen 1896 und 1898 konnten aufgrund einer großzügigen privaten Spende zwei neue Häuser auf einem eigenen Grundstück in der Barbarossastraße errichtet werden.22 Der Komplex erhielt den Namen Pestalozzi-Fröbel-Haus, der bald synonym für den gesamten Verein gebraucht wurde. Zahlreiche Einrichtungen waren unter seinem Dach zusammengefasst, so Kindergärten und -krippen, ein Kindergärtnerinnen-Seminar, Handfertigkeitskurse für Schulkinder (Arbeitsschule), ein Mädchenheim, eine Koch- und Haushaltungsschule. Im Jahr 1908 eröffnete Alice Salomon im Haus III auf dem Gelände des Pestalozzi-Fröbel-Hauses die „Soziale Frauenschule“. Ruth von der Leyen war hier ausgebildet worden und verfügte über zahlreiche Kontakte zu den im Pestalozzi-Fröbel-Haus tätigen Pädagoginnen und Fürsorgerinnen, so beispielsweise auch zu Lucy Corvinus, der Leiterin des Schulkindergartens. Die Vorklasse, in die Erna Ebel am 10. Mai 1920 aufgenommen wurde, leitete Hildegard Marie Nohl (1895–1992), die jüngere Schwester Lotte Nohls.23 Das Pestalozzi-Fröbel-Haus vermittelte den Kontakt zwischen dem DVFjP und Ernas Mutter, Wilhelmine Ebel.24 Zunächst machten sich die Sozialfürsorgerinnen des DVFjP ein Bild von dem Kind und seinen Lebensumständen. In einem ersten Gespräch in der Beratungsstelle für Heilerziehung am Monbijouplatz lernte Lotte Nohl Erna und ihre Mutter kennen. Es folgte ein Hausbesuch in der Schöneberger Hochkirchstraße, wo Erna mit ihrer Mutter, die als Lumpenhändlerin arbeitete, ihrer Großmutter und dem jüngeren Bruder Kurt wohnte. Der Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer tuberkulosekrank und verstarb bald darauf in einer Lungenheilstätte. Lotte Nohl zog außerdem Erkundigungen über Erna bei dem untersuchenden Arzt Dr. Groß ein, und in einem ausführlichen Bericht für den DVFjP beschrieb Hilde Nohl die in der Vorklasse beobachteten Verhaltensprobleme des Mädchens, aber auch die Potentiale, die eine pädagogische Einflussnahme ermöglichten.25 Auf der Grundlage dieser Informationen beschloss man, Erna im Kinderheim Arche unterzubringen, bis die geplante Kinderbeobachtungsstation eröffnet würde.

21 Feustel 2003, 4. Vgl. auch Sommer 1999 passim. 22 Voß 1937, 148. 23 Hilde Nohl gilt heute als Begründerin des Schulkindergartens. Berger, http://www.kindergartenpaedagogik.de/416.html [eingesehen am 15.05.2015]. 24 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Handschriftliche Notiz „Liebe Frau Ebel,“, o. D. (November 1920), o. Bl. 25 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Vermerk „Rücksprache mit Herrn Dr. Gross am 25.11.1920“ von Lotte Nohl, 02.12.1920 sowie Bericht von Hilde Nohl, o. D. (1920) [Typoskript, 2 S.], alles o. Bl.

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5. Praxis im Netzwerk

Kinderheim Arche Das Kinderheim Arche wurde vom evangelischen Kapellenverein unter Leitung Bertha von Kröchers (1857–1922) betrieben.26 Der 1885 gegründete Verein hatte ursprünglich das Ziel, Geld für den Bau von Kirchen und Kapellen in Berlin zu sammeln, um die Seelsorge zu verbessern und auf diese Weise mehr Menschen – insbesondere Arbeiterfrauen – an die evangelische Kirche zu binden. Später erweiterte sich das Aufgabengebiet des Vereins und umfasste auch Frauenausbildung und Jugendhilfe. Nach 1923 verlagerte sich der Schwerpunkt der Vereinsarbeit unter der neuen Vorsitzenden Rita von Gaudecker (1879–1968) nach Hinterpommern, die Berliner Einrichtungen wurden in der Inflationszeit aufgegeben. Das Kinderheim Arche befand sich im „Auferstehungshaus“ des Vereins in der Nähe des Schlesischen Bahnhofs (heute Ostbahnhof ) und nahm „gefährdete Kinder […], auch Psychopathen“ auf. Dafür standen 32 Betten zur Verfügung. Das Heim wurde von einer Diakonisse geleitet.27 Der Kontakt des DVFjP zum Kinderheim Arche war vermutlich über Friedrich Siegmund-Schultze zustande gekommen, der 1911 zeitweise im „Auferstehungshaus“ logiert und von hier aus sein Settlement-Projekt in dem umliegenden Arbeiterwohnviertel begonnen hatte.28 Nach Ernas Aufnahme in die Arche hielt der DVFjP regelmäßig Verbindung zu dem Heim, um über den Zustand des Kindes informiert zu sein. So besuchte Lotte Nohl Anfang Dezember 1920 das Kinderheim, überzeugte sich von Ernas Unterbringung und erkundigte sich nach ihrem Verhalten.29 Am 24. Dezember ging die Mitarbeiterin des DVFjP, Gertrud Engel, mit dem Mädchen zu einer privaten Weihnachtsbescherung bei einer dem Verein verbundenen Familie. Auch dieses Ereignis wurde zu einer genauen Verhaltensbeobachtung, z. B. in der Straßen- und U-Bahn sowie in der Wohnung der Gastfamilie, genutzt.30 Knotenpunkt Kinderbeobachtungsstation Vom 16. März bis 8. Juni 1921 war Erna Ebel dann Patientin der Kinderbeobachtungsstation. Von dort nahm Lotte Nohl sie mit in ihren Urlaub an der Ostsee, um durch weitere individuelle Beobachtung das passende Erziehungskonzept für das Mädchen zu finden. In den folgenden drei Wochen notierte sie tagebuchartig ihre Beobachtungen zu Ernas Verhalten, schrieb einen Zwischenbericht und einen ausführlichen Brief an Franz Kramer. In den drei 26 Vgl. Streubel 2006, 86. 27 Zentrale für private Fürsorge 1921/22, 70. 28 Lindner 2004, 100 ff.; Wietschorke 2013, 71. Zum Netzwerk Siegmund-Schultzes vgl. Wietschorke 2013, 88–95. Dort werden seine Verbindungen zur Psychopathenfürsorge nicht thematisiert. 29 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), DVFjP (L. Nohl) an Wilhelmine Ebel, 11.12.1920, o. Bl. 30 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Bericht Gertrud Engel, 31.12.1920, o. Bl.

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

201

Texten teilte sie ihre Beobachtungsergebnisse und Überlegungen mit und beschrieb ihr pädagogisches Vorgehen. In dem Schreiben an Kramer drängte sie zudem auf die Auskunft seitens des Mediziners, ob bei dem Kind eine geistige Behinderung vorliege oder nicht, weil davon der weitere Behandlungsweg für Erna abhinge.31 Nach der Rückkehr von der Ostsee kam Erna wieder zu ihrer Mutter und wurde erneut in die Vorklasse des Pestalozzi-Fröbel-Hauses aufgenommen. Hier ließ sich der notwendige Umfang an Einzelerziehung für sie jedoch nicht realisieren. Da die Mutter jetzt ganztags arbeitete, konnte auch sie sich nicht ausreichend um ihr Kind kümmern. Erna sollte deshalb in ein Heilerziehungsheim überwiesen werden. Bis zur entsprechenden Zusage wurde sie erneut auf der KBS aufgenommen, wo sie vom 4. bis 29. Juli 1921 blieb.32 Heilerziehungsheim Dr. Wilhelmine Geissler in Eisenach Am 30. Juli 1921 brachte Wilhelmine Ebel ihre Tochter und einen Jungen, der ebenfalls Patient der KBS gewesen war, nach Eisenach in das dortige Heilerziehungsheim von Dr. med. Wilhelmine Geissler [Geißler]. Das Heilpädagogium in Eisenach war 1906 gegründet worden und zählte damit zu den sieben Einrichtungen in Deutschland, deren Betreuungsprofil bereits vor 1910 auch die Behandlung bzw. Erziehung psychopathischer Kinder und Jugendlicher vorsah.33 Zu dem hier geschilderten frühen Zeitpunkt in der Geschichte der KBS hatte sich deren Zahl noch nicht wesentlich erhöht. Seit 1919 war Wilhelmine Geissler (geb. 1872) ärztliche Leiterin und Inhaberin des am Stadtrand von Eisenach gelegenen Heilerziehungsheims.34 Geisslers Berichte über den Zustand Ernas an den DVFjP sind in der Regel kurz gehalten, ausführlicher werden hingegen die organisatorischen Fragen ihres Heimaufenthaltes behandelt, wie die Versorgung mit Kleidung, die Überweisung der Pflegegelder, die ange31 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), „Erna Ebel“ (Bericht von Lotte Nohl), 08.07.1921 [Typoskript, 4 S.]; Bericht über Erna Ebel (Lotte Nohl), 14.06.1921 [Typoskript, 2 S.]; L. Nohl an F. Kramer, o. D. (Juni 1921) [Typoskript, 3 S.], alles o. Bl. 32 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), „Erna Ebel“ (Bericht von Lotte Nohl), 08.07.1921 [Typoskript, 4 S.], Eintrag 01.07.1921, o. Bl. 33 Leyen 1927a, 320, 316. 34 Wilhelmine Geißler (geb. Palacios) wurde als Tochter eines ehemaligen Diplomaten in (Berlin-) Steglitz geboren. Nach einer Ausbildung und Tätigkeit als Lehrerin für Pestalozzi- und Fröbelschulen sowie an Höheren Mädchenschulen in Deutschland und England studierte sie Medizin, Philosophie und Pädagogik in Deutschland und der Schweiz. 1904 approbiert, gründete sie ein Erziehungsinstitut in der Schweiz. Zwischen 1919 und 1929 war sie als niedergelassene Ärztin in Eisenach Inhaberin des „ärztlich-erziehlichen Kinderheims, Mariental 24“. Vermutlich ab 1931 lebte sie wieder in der Schweiz. Ihr Todesdatum ist nicht bekannt. Adressbuch Eisenach 1920, eingesehen am 15.05.2015; Buchin, eingesehen am 15.05.2015.

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5. Praxis im Netzwerk

strebte Beteiligung der kommunalen Behörden an den Unterbringungskosten oder – nach einem Heimaturlaub des Mädchens – die Beibringung eines ärztlichen Attests über die Freiheit von Infektionskrankheiten.35 Für den ausschließlich auf die Informationen der überlieferten Quellen angewiesenen Betrachter entsteht der Eindruck, dass in Eisenach keine so intensive Beschäftigung mit Erna erfolgte (wohl auch nicht möglich war), wie während ihrer beiden KBS-Aufenthalte und des Urlaubs mit Lotte Nohl. Symptomatisch dafür ist die Aussage Geisslers in einem Schreiben an den DVFjP über die Siebenjährige: „Erna Ebel ist nach meiner Ansicht nicht das interessante Kind, für das Sie sie hielten. Sie ist schrecklich verwöhnt, stets bestrebt die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, dabei äusserst unbegabt. Ihre anfänglichen Albernheiten […] hat sie bald gelassen, als sie merkte, dass sich niemand dafür interessierte.“36

Außer durch den brieflichen Kontakt zu Wilhelmine Geissler informierten sich die Akteur_ innen der KBS auch persönlich über den Zustand des Mädchens. Neben Lotte Nohl, Hilde Classe und Ruth von der Leyen besuchte auch Rudolf Thiele – zu dieser Zeit leitender Stationsarzt – das Heim.37 Das Engagement des Arztes überschritt also seine eigentliche medizinische Sphäre und zeugt von der gleichberechtigten interprofessionellen Zusammenarbeit an der KBS. Die Betreuung Ernas in Eisenach erfolgte – mit zwei mehrwöchigen Unterbrechungen – bis Ende Dezember 1922. Rückkehr zur Mutter Ihre Rückkehr nach Berlin erfolgte zum einen, weil der Aufenthalt in dem Heilerziehungsheim von finanziellen Problemen überschattet war, da die zuständigen Berliner Behörden eine Beteiligung an den Kosten verweigerten.38 Zum anderen war der Betreuungsaufwand für Erna anscheinend so groß, dass er die Möglichkeiten der Eisenacher Einrichtung überstieg. Der Aufenthalt des Mädchens in Eisenach sei „unmöglich geworden […] durch häufigen Sachschaden, den es anrichtete“.39 Wilhelmine Geissler unterstellte ihr am Ende „Bosheit“ als Handlungsmo35 Vgl. HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Geissler an DVFjP, 04.08.1921, 15.08.1921, 10.10.1921, 12.12.1921, alles o. Bl. 36 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Geissler an DVFjP (Abschrift), 10.10.1921, o. Bl. 37 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), L. Nohl an Jugendamt Berlin-Schöneberg, 21.11.1921 [Typoskript, 5 S.], S. 4 f.; handschr. Vermerk von L. Nohl, 15.09.1922; Bericht Leyen, 10.11.1922 [Typoskript, 2 S.], alles o. Bl. 38 Vgl. HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), DVFjP (Leyen) an Jugendamt Berlin-Schöneberg, 15.04.1922, o. Bl. 39 Vgl. HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Vermerk Leyen, 30.12.1922; KBS 5, 191, III. Aufnahme (Anamnese), 11.11.1924 (Zitat), alles o. Bl.

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

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tiv und war nicht mehr bereit, ihre „Kraft etc. für dieses Kind zu verschwenden“.40 Ein Verbleib bei der überforderten Mutter war aus Sicht des DVFjP jedoch nicht zu befürworten. Der Verein hatte große Hoffnungen in den Aufenthalt in Eisenach gesetzt, insbesondere aufgrund der Einschätzungen Lotte Nohls, die bei Erna ein erhebliches Potential für eine erfolgreiche pädagogische Einflussnahme sah. Insofern bedeutete die Resignation Geisslers einen herben Rückschlag, zumal weitere geeignete Unterbringungsstätten kaum zur Verfügung standen. Vielleicht auch, um die Richtigkeit des eigenen Urteils zu bestätigen, fasste man daher kurzzeitig die Aufnahme Ernas in das erste Heilerziehungsheim des DVFjP in Gernrode ins Auge, dessen Eröffnung gerade vorbereitet wurde.41 Dieser Versuch – wie mehrere weitere auch – scheiterte vermutlich wiederum an finanziellen Schwierigkeiten.42 Da weder Ernas Mutter noch der DVFjP in der Lage waren, einen längeren Heimaufenthalt des Mädchens allein zu finanzieren, war eine entsprechende Unterstützung durch das zuständige Jugendamt des Berliner Stadtbezirks Schöneberg unabdingbar. Jugendamt Die Institution des Jugendamtes geht auf Ideen aus der Jugendfürsorgebewegung der Kaiserzeit und die entsprechende Praxis in einzelnen Großstädten, Provinzen und Ländern seit der Jahrhundertwende zurück.43 Mit dem 1922 verabschiedeten Reichsjugendwohlfahrtgesetz (RJWG), das am 1. April 1924 in Kraft trat, wurden die Jugendämter zur zentralen Verwaltungsinstanz für Jugendfürsorge auf kommunaler und Landes- bzw. Provinz-Ebene.44 In ihnen wurden nahezu alle Teilbereiche dieses Fürsorgegebietes – insbesondere seine institutionellen Vorläufer (Berufs-)Vormundschaft und Jugendgerichtshilfe – konzentriert, während die Fürsorgeerziehungsbehörde in Preußen Teil der allgemeinen Provinzialverwaltung blieb.45 Die Berliner Situation stellt sich in der Rückschau aufgrund der spezifischen historischen Entwicklung des urbanen Ballungsraumes um die Reichshauptstadt noch komplexer dar als

40 HPAC, KBS 28 (Ps. V. 165), Geissler an von der Leyen, 04.12.1922, o. Bl. 41 Zu Gernrode vgl. Leyen 1931, 657 sowie in diesem Band, S. 110 f. [3.4] 42 Vgl. HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Vermerk Leyen, 30.12.1922; handschriftlicher Vermerk L. Nohl, 16.01.1923 [auf der Rückseite]; DVFjP (L. Nohl) an Jugendamt Berlin-Schöneberg, 03.04.1923, alles o. Bl. 43 C.W. Müller 1994, 19. 44 Zum Kompromisscharakter des RJWG, der auf dem Interessenausgleich der Akteur_innen aus unterschiedlichsten Bereichen (Reich und Ländern, staatlicher und kommunaler Verwaltung, öffentlicher, konfessioneller und privater Jugendfürsorge) beruhte und den Auswirkungen auf die Ausgestaltung seiner „Kerninstitution“ Jugendamt vgl. Peukert 1986, 134–139 und Sachße/Tennstedt 1988, 101–104. 45 Die im RJWG § 70 empfohlene Vereinigung der Fürsorgeerziehungsbehörde mit dem Landesjugendamt wurde von der preußischen Staatsregierung abgelehnt. Vgl. Knaut 1930, 28.

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5. Praxis im Netzwerk

die ohnehin schwer zu überschauende Vielfalt unterschiedlicher Fürsorgestrukturen und Trägermodelle, die sich bereits im Kaiserreich entwickelt hatte. In Berlin war 1917, noch während des Krieges, ein städtisches Jugendamt gegründet worden. Erster Direktor war Friedrich Siegmund-Schultze, der als Leiter der Abteilung Groß-Berlin der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge über umfangreiche Verwaltungserfahrung auf diesem Gebiet verfügte.46 Drei Jahre später, mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin, veränderten sich die administrativen Grundlagen der kommunalen Jugendfürsorge.47 Die neu entstandene Metropole wurde verwaltungsmäßig in 20 Stadtbezirke gegliedert, für die – noch vor der Verabschiedung des RJWG – jeweils eigene Jugendämter entstanden. Diese konnten sich unter anderem auf „gut ausgebaute“ städtische Jugendämter in Charlottenburg, Spandau, Schöneberg, Neukölln, Lichtenberg und Pankow stützen.48 Auch das bereits bestehende städtische Jugendamt Berlins wurde – nach einer Übergangszeit, in der es als Jugendamt der Stadtgemeinde Berlin firmierte49 – von den entsprechenden Einrichtungen der sechs Stadtbezirke abgelöst, die aus dem Alt-Berliner Gebiet hervorgingen. Erst nach Inkrafttreten des RJWG wurde mit der Verabschiedung der Satzung für die Wohlfahrtspflege der Stadt Berlin vom 26. Juli 1925 ein Landesjugendamt geschaffen.50 Entsprechend der preußischen Ausführungsbestimmungen zum RJWG war dieses, ebenso wie die Bezirksjugendämter, Bestandteil einer „einheitlichen, alle Zweige der Wohlfahrtspflege umfassenden“ Institution mit der Bezeichnung „Wohlfahrts- und Jugendamt“.51 Obwohl Jugendämter also noch relativ junge Einrichtungen waren, die in Berlin zudem den administrativen Veränderungen im Zuge der Metropolenbildung unterlagen, waren sie von Beginn an wichtige Ansprechpartner für die Akteur_innen der KBS, wenn es um die Belange der betreuten Kinder und Jugendlichen ging, zugleich aber auch Konkurrenz im Zugriff auf diese Klientel. Die Unterbringung Erna Ebels in einem spezialisierten Heilerziehungsheim war dem Schöneberger Jugendamt offenbar zu kostspielig. Hier dürfte vor allem die Preisexplosion infolge der galoppierenden Inflation, die in der zweiten Jahreshälfte 1923 zur Hyperinflation

46 Vgl. etwa Barch R 86, Nr. 5676 (Jugendfürsorgeämter). 47 Preußische Gesetzsammlung 1920, S. 123 ff. 48 Kobrak 1930, 5. Die Geschichte der Berliner Bezirksjugendämter und ihrer Vorgängereinrichtungen in den zuvor selbständigen Berliner Umlandgemeinden ist – nicht zuletzt wegen der ungünstigen Quellenlage – ein Forschungsdesiderat. 49 Vgl. HPAC, KBS 56 (Ps. V. 651), Berufsvormund Preuß an DVFjP, 09.11.1921, o. Bl.: Die Bezeichnung „Jugendamt der Stadtgemeinde Berlin, Vormundschaft“ ist hier ein Stempelaufdruck neben dem durchgestrichenen Briefkopf „Städtisches Jugendamt, Abteilung: Vormundschaftsamt“. 50 Satzung für die Wohlfahrtspflege der Stadt Berlin. 51 Kobrak 1930, 6.

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

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wurde, eine Rolle gespielt haben.52 Der DVFjP erklärte sich die Ignoranz der Behörde jedoch auch mit der generellen Unwissenheit über die Besonderheiten der Behandlung psychopathischer Kinder: Die Jugendämter, hatte Lotte Nohl bereits ein Jahr zuvor an Wilhelmine Geissler geschrieben, hätten „absolut kein Verständnis dafür, dass man solche Kinder wie Erna Ebel […] eben unmöglich in irgendein Heim für M 150,- oder M 200,- geben kann. Es kann sich doch jeder Mensch vorstellen, dass die Kinder in solchen Heimen (und es gibt leider Gottes immer noch welche, die die Kinder zu so billigen Pflegesätzen aufnehmen) weder körperlich noch seelisch richtig gepflegt werden.“53

Heiliggeiststift in Neustadt/Dosse Ende Mai 1923 wurde Erna in das Heiliggeiststift in Neustadt an der Dosse, einer erst im selben Jahr gegründeten Einrichtung des katholischen Ursulinen-Ordens, überwiesen.54 Bei der Kontaktaufnahme bekundete Lotte Nohl das Interesse des Vereins an Ernas weiterer Entwicklung sowie den Wunsch nach einem persönlichen Besuch. Briefe aus Neustadt über das Verhalten und die Lebensumstände Ernas zeugen davon, dass sowohl der DVFjP als auch die Ordensschwestern an einem Austausch über das Mädchen interessiert waren. Schwester Marie Tabitha Hartleib berichtete einerseits, dass sich das Mädchen gut eingelebt habe und Einzelunterricht bekomme, andererseits sei sie, „wenn sie gereizt wird, […] zu allem fähig“, würde selbst von den stärksten Kindern sehr gefürchtet und sähe dann aus „wie ein wildes Tier“.55 Der angestrebte Besuch Lotte Nohls in dem Heim kam offenbar nicht zustande.56 Das nächste überlieferte Ereignis in der heilpädagogischen Akte ist Ernas Entlassung aus dem Heiliggeiststift im November 1924, kurz nach ihrem elften Geburtstag. Wie schon in Eisenach überstiegen die pädagogischen Herausforderungen die Möglichkeiten in dem Heim, zumal nun anscheinend auch epileptische Anfälle bei dem Kind auftraten.57

52 Zur finanziellen Notlage von Erziehungs- und Kinderheilanstalten in der Nachkriegszeit vgl. Mende 1921. 53 HPAC, KBS 28, DVFjP (L. Nohl) an Geissler, 09.04.1922, o. Bl. Die in diesem Brief genannten Unterbringungspreise spiegeln bereits die beginnende Inflation wider und können demzufolge nur bedingt zum Vergleich mit früheren oder späteren Kostenangaben herangezogen werden. 54 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Heiliggeiststift Neustadt/Dosse an DVFjP, o. D.; DVFjP an Heiliggeiststift Neustadt/Dosse, 12.07.1923, alles o. Bl. Zur Geschichte des Heiliggeistklosters der Ursulinen in Neustadt Dosse, http://www.dekanat-wittenberge.de/heilig-geist-kyritz/neustadt-dosse [eingesehen am 15.05.2015]. 55 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Heiliggeiststift Neustadt/Dosse an DVFjP, 23.08.1923, o. Bl. 56 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), DVFjP (L. Nohl) an Heiliggeiststift Neustadt/Dosse, 14.02.1924, o. Bl. 57 HPAC, KBS 5, 191, III. Aufnahme (Anamnese), 11.11.1924, o. Bl.

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5. Praxis im Netzwerk

Knotenpunkt Kinderbeobachtungsstation Da offenbar keine andere Möglichkeit bestand, wurde das Mädchen vorübergehend erneut auf der Kinderbeobachtungsstation untergebracht. Wieder äußerte Lotte Nohl den Wunsch, sie im eigenen Heilerziehungsheim des Vereins, Schloss Ketschendorf bei Fürstenwalde/ Spree, aufzunehmen. Der Verein entschied jedoch, das seit Mai 1924 unter seiner Leitung stehende Heim in Wilhelmshagen zu nutzen.58 Ein entsprechender Antrag Ruth von der Leyens an das Jugendamt Berlin-Schöneberg wurde mit einem ärztlichen Attest Rudolf Thieles gestützt.59 Die Behörde lehnte das Ersuchen um finanzielle Beihilfe jedoch ab und wollte das Mädchen in einer Fürsorgeerziehungsanstalt unterbringen. Die Kosten könnten nicht mehr durch das Jugendamt aufgebracht werden und „müssten auf den grösseren Kostenträger abgeschoben werden“.60 Heil- und Pflegeanstalten Inzwischen gingen die psychiatrische und die heilpädagogische Einschätzung des Mädchens unter den Kooperationspartner_innen deutlich auseinander. Während Ruth von der Leyen in einem Schreiben gegen die Absicht des Jugendamtes protestierte, erklärte Rudolf Thiele intern, dass er wegen der doch erheblichen geistigen Beeinträchtigung Ernas (die bisher nicht im Vordergrund der Behandlung gestanden hatte), „einer Unterbringung des Kindes in einer Anstalt für Schwachsinnige nicht unbedingt widerraten könne“.61 Mit diesem Wechsel der Perspektive fiel Erna aus dem entstehenden Netzwerk der Psychopathenfürsorge heraus und unter die Kompetenz der psychiatrisch dominierten Schwachsinnigenfürsorge. Sie wurde zunächst in die Kückenmühler Anstalten in Stettin, eine Einrichtung der Inneren Mission, überführt, wo sie bis 1929 blieb, danach kam sie in die Heil- und Pflegeanstalt Wuhlgarten der Stadt Berlin. Der DVFjP ersuchte die Anstaltsleitungen zunächst jährlich, zuletzt im Jahr 1933, um Auskunft über den Zustand der inzwischen 19-jährigen jungen Frau. Die Antworten fielen stets pessimistisch aus: Bei Erna liege „hochgradiger Schwachsinn“ vor, sie sei „moralisch defekt“, betrage sich ungebührlich, lehne sich dauernd gegen die Anstaltsordnung auf. Später lautete die Auskunft lakonisch, ihr Zustand sei unverändert, eine Entlassung käme nicht in58 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Vermerk Leyen, 14.11.1924, o. Bl. Zur Verlegung des vereinseigenen Heilerziehungsheimes nach Schloss Ketschendorf und zur Übernahme der Heimleitung in Wilhelmshagen vgl. Leyen 1925a, 122 sowie in diesem Band, S. 111 f. 59 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), DVFjP (Leyen) an Jugendamt Berlin-Schöneberg, 17.11.1924 sowie KBS (Thiele) an Jugendamt Berlin-Schöneberg, 18.11.1924, alles o. Bl. 60 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Vermerk Leyen, Dezember 1924, o. Bl. 61 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Vermerk Leyen, Dezember 1924, o. Bl.

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

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frage.62 Damit endet die heilpädagogische Akte des DVFjP über Erna Ebel, die insgesamt über einen Zeitraum von 13 Jahren geführt wurde. Spuren ihres weiteren Schicksals – etwa, ob sie Opfer der NS-Krankenmordaktion wurde – konnten bisher nicht gefunden werden.

Fallgeschichte Erich Köbler Ähnlich wie Erna Ebel war auch Erich Köbler zunächst ein „Fall“ für die allgemeine Jugendfürsorge. Ausgangspunkt für die institutionelle Beobachtung war hier die soziale Herkunft des Jungen: Als unehelich geborenes Kind einer minderjährigen Mutter aus einer ursprünglich wohl kleinbürgerlichen, sozial abgestiegenen Familie überschnitten sich in seiner Person mehrere „Risikofaktoren“, die in der Wahrnehmung des zeitgenössischen Fürsorgediskurses eine negative Entwicklung begünstigten.63 Unehelichkeit und Vormundschaft Das Problem der Unehelichkeit und die damit verbundene Frage der Organisation effizienter Vormundschaftsinstanzen steht – neben der staatlichen Zwangserziehung und dem Bestreben zur Einführung einer eigenen Jugendgerichtsbarkeit – am Anfang der Entfaltung eines speziellen Fürsorgebereichs für Kinder und Jugendliche.64 Die prekäre soziale Lage unehelicher Kinder – ihre Mütter gehörten in der Regel „den am meisten benachteiligten Gruppen der Industriegesellschaft an“, die Väter entzogen sich oft der Unterhaltsverpflichtung – führte zu einer überproportional hohen Sterblichkeit in dieser Gruppe.65 Außerdem ließ sich ein statistischer Zusammenhang zwischen dem Aufwachsen außerhalb „geordneter“ bürgerlicher Familienverhältnisse und der Wahrscheinlichkeit, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten, herstellen. Die Kriminalitäts- und Verwahrlosungsrate unter Unehelichen war überdurchschnittlich hoch. Um die Lebenssituation unehelicher Kinder zu verbessern und das dieser Gruppe innewohnende Konfliktpotential zu begrenzen, sahen – zunächst wenige – Fürsorgepraktiker in der Professionalisierung der Vormundschaft den zentralen Ansatz für gesellschaftliches Handeln.66 Damit, so die Überlegung, seien bessere Bedingungen zur Kontrolle und Qua62 HPAC, KBS 5, 191 (Ps. V. 337), Kückenmühler Anstalten an DVFjP, 05.12.1925 sowie weitere Schreiben aus den Folgejahren, alles o. Bl. 63 Zur sozialen Dimension von Unehelichkeit und zu den entsprechenden politischen Debatten bis zum Ende der Weimarer Republik vgl. Buske 2004, 31–145. 64 Peukert 1986, 97–107; Sachße/Tennstedt 1988, 32 f.; Gräser 1995, 27 ff. 65 Peukert 1986, 105 f. (Zitat: 105). Vgl. auch Petersen 1907, 47–57. 66 Zur Frage des „inneren Imperialismus“ als weitere Motivation jugendfürsorgerischer Bemühungen vgl. Gräser 1995, 33 ff.

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5. Praxis im Netzwerk

lifizierung der Pflegepersonen, aber auch zur Heranziehung der Väter zu Unterhaltszahlungen gegeben.67 Auf der Grundlage dieser Ideen entwickelte sich bis zum Ersten Weltkrieg die Institution der Berufsvormundschaft, die 1911 bereits an 260 Orten von verschiedenen öffentlichen und privaten Trägern für mehr als 90.000 Mündel in unterschiedlichen rechtlichen Konstruktionen (Generalvormundschaften, Armenamtsvormundschaften, Anstaltsvormundschaften, behördlichen und privaten Sammelvormundschaften) wahrgenommen wurde.68 An diese Entwicklung und an die langjährige Forderung von Fürsorgepraktikern nach einer einheitlichen Gesetzesregelung wurde in der Weimarer Republik mit der Verabschiedung des RJWG angeknüpft. Die Berufsvormundschaft wurde zur Amtsvormundschaft erweitert: Vormund „kraft Gesetzes für alle Unehelichen seines Bezirks von Geburt an“ wurde das jeweilige kommunale Jugendamt.69 Das Beispiel Erich Köblers zeigt, dass die neue gesetzliche Regelung teilweise einer bereits gängigen Praxis folgte. Der Junge stand als uneheliches Kind schon vor dem Erlass des RJWG unter der Amtsvormundschaft des Jugendamtes Schöneberg.70 In den ersten Jahren seines Lebens interessierte die Jugendbehörde vor allem sein familiäres Umfeld, das Ziel der Fürsorge bestand vorrangig darin, ihm einen materiellen Mindeststandard zu gewährleisten, der sein (Über-)Leben und Heranwachsen ermöglichte. Als seine Mutter nicht mehr in der Lage war, für den Lebensunterhalt des Kindes zu sorgen, kam Erich demzufolge in eine Pflegefamilie, die für seine Betreuung vom Jugendamt finanzielle Zuschüsse erhielt.71 Wichtigstes Kriterium für die Einschätzung des fürsorgerischen Erfolges war der Gesundheits- und Ernährungszustand des Jungen. Sein Verhalten war zwar ebenfalls bereits Gegenstand der Berichte, stand aber nicht im Mittelpunkt des Interesses der Jugendamts-Mitarbeiter_innen. Die Beobachtung, dass Erich schon beim ersten Kontakt mit dem Jugendamt „einen sehr nervösen Eindruck“ gemacht habe, wurde erst 1926 im Zusammenhang mit seiner angestrebten Aufnahme in die KBS aktenkundig.72 67 Peukert 1986, 101. Vgl. Klumker 1931, 12–13. 68 Peukert 1986, 104. 69 Klumker 1930, 22. Vgl. auch RJWG §§ 32–48, insbesondere § 35 in: RGBl. 1922, T. 1, 638–640. Zu Organisation, Umfang und Praxis des Berliner Vormundschaftswesens vgl. LAB A Rep. 003–02 Landeswohlfahrts- und Jugendamt Vormundschaft, Nr. 5/1, 6, 10, 11, 16. 70 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, aus den Akten der Amtsvormundschaft, Berlin-Schöneberg K 809 (Abschrift), o. Bl. 71 Der Mindestunterhaltssatz für uneheliche Kinder betrug in Berlin zunächst 33 Reichsmark monatlich, wurde ab dem 01.04.1927 auf 40 Mark erhöht und 1931 im Zuge der Sparmaßnahmen aufgrund der Weltwirtschaftskrise auf 35 Reichsmark gesenkt. Vgl. LAB A Rep. 003–02 Landeswohlfahrts- und Jugendamt Vormundschaft, Nr. 18, Bl. 158. 72 Vgl. HPAC, KBS 263, Bericht des Bezirksjugendamtes Schöneberg (Hampel), 04.06.1926, o. Bl. Drei Jahre zuvor wurde aus vorliegenden Arztberichten lediglich wiedergegeben, „dass E. ein munteres Kind ist“. Vgl. HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Aus

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

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Schularzt Als sich nach der Einschulung Erichs Disziplinschwierigkeiten häuften und seine Pflegemutter sich „seiner Erziehung nicht gewachsen“ zeigte,73 griffen die Mechanismen der wesentlich stärker ausdifferenzierten Psychopathenfürsorge. Das Störpotential des Jungen, insbesondere die vermutete Gefährdung anderer Kinder durch sexuelle Handlungen, wurde als so schwerwiegend eingeschätzt, dass die Diagnose des Schularztes, Rudolf Reinhardt, er sei ein „schwerer Psychopath“ und bedürfe der Unterbringung in einem Heilerziehungsheim, entsprechendes Verwaltungshandeln in Gang setzte.74 Zu diesem Zeitpunkt verfügte die Stadt Berlin nur über ein eigenes Heilerziehungsheim für psychopathische Knaben in Templin, das 1921 von der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge übernommen worden war.75 Eine entsprechende Einrichtung für schulentlassene Mädchen, das „Haus Wiesenblick“, wurde 1927 in Wuhlgarten eröffnet und war der dortigen städtischen Anstalt für Epileptische angeschlossen.76 Der größte Teil der „psychopathische(n) Kinder schwersten Grades“ wurde jedoch in privaten Heilerziehungsheimen untergebracht, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs eine regelrechte Gründungswelle erlebt hatten.77 In eines dieser Heime sollte zunächst auch Erich Köbler überwiesen werden, was sich wegen Überfüllung jedoch als nicht durchführbar erwies.78

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den Akten der Amtsvormundschaft, Berlin-Schöneberg K 809 (Abschrift), Vermerk v. 26.02.1923, o. Bl HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Aus den Akten der Amtsvormundschaft, Berlin-Schöneberg K 809 (Abschrift), Bericht der Lehrerin Gertrud Wienrich, o. D. (Juni 1926). sowie HPAC, Pol.-Krbl. Kn. 322/1926 v. 07.06.1926, Anamnese, alles o. Bl. Vgl. HPAC, KBS 263, Bericht des Bezirksjugendamtes Schöneberg (Hampel), 04.06.1926; HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg Gutachtliche Äußerung (Dr. Reichardt) v. 14.05.1926 sowie aus den Akten der Amtsvormundschaft, Berlin-Schöneberg K 809 (Abschrift), Bericht der Lehrerin Gertrud Wienrich, o. D. (Juni 1926), alles o. Bl. Vgl. in diesem Band, S. 110. Leyen 1927a, 328. Knaut 1930, 21 (Zitat), 22: Bis 1930 war die Zahl der privaten Heilerziehungsheime, mit denen die Berliner Jugendfürsorgebehörden kooperierten, auf „ungefähr 25“ gestiegen, „in denen etwa 700 Kinder und Jugendliche untergebracht“ waren. Vgl. auch Leyen 1927a, 316. HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk v. 28.05.1926, o. Bl.

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5. Praxis im Netzwerk

Knotenpunkt Kinderbeobachtungsstation Die psychiatrische Kinderbeobachtungsstation der Charité als Unterbringungsmöglichkeit war insofern zunächst ein Notbehelf.79 Die Station erklärte sich vermutlich auf Anfrage des Jugendamtes Schöneberg bereit, den Jungen aufzunehmen. Das in der poliklinischen Untersuchung konstatierte Symptombild einer starken motorischen Unruhe sowie als „sexuell“ interpretierte Handlungen entsprachen offenbar dem Forschungsinteresse auf der KBS. Tatsächlich blieb das Kind fast ein halbes Jahr dort, wobei die Initiative zur Verlängerung des Aufenthaltes von der Station ausging.80 Im Anschluss war beabsichtigt, Erich in das Heilerziehungsheim Wilhelmshagen zu überführen, um eine weitere erzieherische Beeinflussung im Sinne der pädagogischen und psychiatrischen Schlussfolgerungen aus der klinischen Beobachtung umzusetzen. Der ­DVFjP wandte sich daher „auf Veranlassung der Beobachtungsstation für psychopathische Kinder“ an das Jugendamt Schöneberg, um eine entsprechende Überweisung des Jungen zu erwirken.81 Ein Attest des Stationsarztes Heinrich Schulte sollte die Notwendigkeit der Maßnahme untermauern.82 Das Jugendamt schien nicht abgeneigt, dieser Empfehlung zu folgen, dem stand jedoch die neue familiäre Situation entgegen: Erichs Mutter hatte geheiratet, wollte deshalb ihre Berufstätigkeit aufgeben und ihren Sohn zu sich nehmen. Damit entfielen zunächst wesentliche Voraussetzungen eines gesetzlichen Zugriffs seitens der Jugendfürsorgebehörden. Fürsorgeerziehung und Schutzaufsicht Das Fürsorgeerziehungsverfahren war im Wesentlichen durch das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz geregelt. Zur „Verhütung“ oder „Beseitigung von Verwahrlosung wegen Unzulänglichkeit der Erziehung“ durften Kinder und Jugendliche auf Beschluss des Vormundschaftsgerichtes aus ihrer „bisherigen Umgebung“ entfernt und der Fürsorgeerziehung in einer „geeigneten Familie oder einer Erziehungsanstalt unter öffentlicher Aufsicht“ überwiesen werden.83 Mit dem Eintritt in „geordnete“ bürgerliche Familienverhältnisse galt die Gefahr 79 HPAC, Pol.-Krbl. Kn. 322/1926, Anamnese. Die Überweisung Erich Köblers auf die KBS soll auf Vorschlag des Leiters des Landesjugendamtes erfolgt sein. Diese Aussage der begleitenden Praktikantin des Bezirksjugendamtes Schöneberg wird durch die weiteren überlieferten Quellen nicht bestätigt, in denen das Landesjugendamt als beteiligte Institution nicht auftaucht. 80 HPAC, KBS 263, KBS an JA Schöneberg, Az. IX b K 837 (Abschrift), 05.07.1926, o. Bl. 81 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, DVFjP (Leyen) an Bezirksjugendamt Schöneberg (Abschrift), 11.08.1926, o. Bl. 82 HPAC, KBS 263, Ärztliches Zeugnis von Dr. Schulte (Abschrift), 20.08.1926, o. Bl. 83 Zur gesetzlichen Regelung der Fürsorgeerziehung vgl. RJWG §§ 62–72, in: RGBl. 1922, T. 1, 644– 647, hier insbesondere §§ 62 und 63 (Zitate), 644.

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

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einer unzulänglichen Erziehung offenbar für gebannt und das Jugendamt hatte „nun keine Handhabe mehr, die Unterbringung des Kindes in einer Anstalt durchzusetzen“.84 Damit entfiel auch die Möglichkeit, Erich in ein Heilerziehungsheim des DVFjP aufzunehmen, da die Mutter dies strikt verweigerte. Das schwebende Fürsorgeerziehungsverfahren wurde zunächst für sechs Monate ausgesetzt und Erich – trotz starker Bedenken der KBS – „versuchsweise“ in die Familie zurückgegeben.85 Als weniger einschneidende staatliche Zugriffsmaßnahme wurde eine Schutzaufsicht verfügt, die regelmäßige Kontrollen des familiären Umfeldes sowie des kindlichen Verhaltens zu Hause und in der Schule vorsah. 86 Mit der Durchführung der Schutzaufsicht wurde das Jugendamt des Stadtbezirkes Kreuzberg – wohin Erichs Eltern gezogen waren – beauftragt. Nach Gesetzeslage hätte auch der DVFjP die Schutzaufsicht übernehmen können,87 ob es entsprechende Bemühungen gab, ist nicht überliefert. Da seine Mutter anscheinend auch nicht an einer freiwilligen Verbindung mit der Psychopathenfürsorge, etwa über die Beratungsstelle für Heilerziehung des Vereins, interessiert war, endete der Kontakt zu Erich Köbler vorerst, eine gezielte Beobachtung und Einflussnahme auf die „psychopädagogischen Lebensbedingungen“ des Kindes war nicht mehr möglich.88 Ein weiterer Aufenthalt Erichs auf der Kinderbeobachtungsstation, der sich sechseinhalb Jahre später eher zufällig ergab, erlaubt es jedoch, den Lebensweg des Jungen nach seiner Entlassung aus der KBS am 1. Dezember 1926 zu verfolgen. Damit ergeben sich auch Einblicke in die Berliner Psychopathenfürsorge in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik, denn in der neu angelegten Krankenakte findet sich umfangreiches Material der Institutionen, mit denen Erich in den Jahren 1927 bis 1932 in Berührung kam.89 Während das erste Jahr nach der Rückkehr zu seiner Mutter und Aufnahme in ihre neue Familie offenbar weitgehend problemlos verlief, trat mit dem plötzlichen Tod des Stiefvaters Ende 1927 eine neue Situation ein.90 Abgesehen von der damit ohne Zweifel verbundenen emotionalen Belastung bedeutete dies, dass Marie Rothe wieder arbeiten musste. Sie hatte 84 HPAC, KBS 263, Bezirksjugendamt Schöneberg an KBS, 30.11.1926, o. Bl. 85 HPAC, KBS 263, KBS an Bezirksjugendamt Schöneberg, 11.11.1926; Bezirksjugendamt Schöneberg an KBS, 30.11.1926, alles o. Bl. 86 HPAC, KBS 263, Beobachtungsbericht der Jugendleiterin, o. D., o. Bl. Hilde Classe beendet ihren Beobachtungsbericht über den KBS-Aufenthalt Erichs mit der Bemerkung: „Seine Unterbringung im Elternhaus ist ein Versuch! (Schutzaufsicht führt das Jugendamt.)“. Zur gesetzlichen Regelung der Schutzaufsicht vgl. RJWG §§ 56–61, in: RGBl. 1922, T. 1, 643 f. 87 RJWG § 60, in: RGBl. 1922, T. 1, 643 f. 88 Kramer/Leyen 1934, 419. 89 Vgl. HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg. 90 Hier und nachfolgend HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerke vom 19.09., 21.09., 17.12. und 29.12.1927 sowie vom 03.01.1928, alles o. Bl.

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5. Praxis im Netzwerk

inzwischen nicht nur Erich zu versorgen, sondern zahlte auch einen Zuschuss für den Aufenthalt ihrer im März 1927 geborenen Tochter in der Krankenanstalt Buch. Die Betreuung des Sohnes vor und nach der Schule durch die Eltern ihres verstorbenen Ehemannes bzw. eine Nachbarin erwies sich als unzureichend. Damit geriet Erich erneut ins Blickfeld des Jugendamtes, das die ihm übertragene Schutzaufsicht über den Jungen bis dahin mit gelegentlichen Nachfragen bei der Mutter und in seiner Schule wahrgenommen hatte. Er wurde jetzt zu einem typischen Fall der „Fürsorge für aufsichtslose Kinder, die infolge Erwerbstätigkeit der Mutter zu verwahrlosen drohen“.91 Als geeignete Maßnahme dieses der vorbeugenden Fürsorge zugerechneten Bereichs galt die Unterbringung in einer Tageseinrichtung, für Kinder im schulpflichtigen Alter in einem Hort. Hort In Berlin existierten um 1930 etwa 450 Krippen, Kindergärten und Horte, von denen 120 städtische und 330 Einrichtungen der freien Wohlfahrt waren. Diese deckten angesichts der stetig steigenden Zahl erwerbstätiger Mütter den Bedarf jedoch bei Weitem nicht: So konnten nur 1,25 Prozent aller Schulkinder einen Hort besuchen und zahlreiche Anträge auf einen entsprechenden Betreuungsplatz mussten abgewiesen werden.92 Erich Köbler bekam vermutlich deshalb einen Hortplatz, weil bei ihm die Verwahrlosungsgefahr aufgrund seiner Vorgeschichte als schwer erziehbares psychopathisches Kind als besonders hoch eingeschätzt wurde. Die „Fürsorge für geistig abnorme Kinder und Jugendliche“ – ebenfalls Teil der vorbeugenden Fürsorge – sah „in schwieriger gelagerten Fällen“ die Überweisung in einen Hort vor, „wenn die Leiterinnen die Eigenarten dieser Kinder kennen und zu behandeln wissen“.93 Die Einstufung in gleich zwei Gefährdungsgruppen – aufsichtslos und psychopathisch – führte offenbar zur Erhöhung der Aufmerksamkeit des Jugendamtes. Bis August 1928 zeugen zahlreiche Eintragungen in Erichs Akte von Besuchen der Mutter in der Sprechstunde, von Nachfragen zu seinem Verhalten in der Schule und im Hort sowie ärztlichen Untersuchungen in der Fürsorgestelle für geistig abnorme Kinder und Jugendliche des Stadtbezirks.

91 Knaut 1930, 16. 92 Knaut 1930, 16. 93 Knaut 1930, 21.

5.1 Das Berliner System der Psychopathenfürsorge

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Fürsorgestellen für abnorme Kinder und Jugendliche Seit 1923 existierten in den Berliner Bezirksjugendämtern auch Fürsorge- bzw. Beratungsstellen „für geistig abnorme Kinder und Jugendliche“, betreut von dem jeweiligen Stadtarzt und einer „fürsorgerisch besonders geschulten Kraft“, die in schwierigen Fällen einen Facharzt für Psychiatrie hinzuziehen konnten.94 Entsprechend dem Grad der Verhaltensauffälligkeit eines Kindes konnten abgestufte Maßnahmen veranlasst werden: von einer fachärztlichen Beratung der Familie in leichteren Fällen über die Unterbringung in einer Pflegefamilie „möglichst auf dem Lande oder in der Kleinstadt“, die Überweisung in einen Kindergarten oder Hort, bis hin zur Aufnahme in „besonderen Heilerziehungsheimen“, wenn eine schwere psychopathische Störung festgestellt wurde.95 Die Kreuzberger Beratungsstelle befand sich im Gesundheitshaus „Am Urban“.96 Die Einrichtung gilt als Prototyp für eine neue institutionelle Form kommunaler Sozial-Hygiene, präventiver Medizin und Gesundheitsaufklärung. Sie wurde 1925 von dem Kreuzberger Stadtarzt Curt Bejach (1890–1944) gegründet. Der im Gesundheitshaus tätige Psychiater und Psychologe Fritz Fränkel (1892–1944) bescheinigte dem Jungen zunächst „sicherlich keine Intelligenzdefekte“, dafür aber eine „ausgesprochene Phantasie“ zu haben. „Der zutrauliche offene Junge, der allerdings sicher eine erhöhte Suggestibilität hat, erscheint mir lenkbar, Psychopathenheim ist nicht erforderlich, Erholungsverschickung wird empfohlen“, urteilte Fränkel.97 Insgesamt belegen jedoch die Aufzeichnungen des Kreuzberger Jugendamtes einen zunehmenden Grad an Erziehungsschwierigkeiten bei Erich, erwähnt werden Ungehorsam,

94 Leyen/Marcuse 1928, 477; Knaut 1930, 21 (Zitat). Stadtärzte (auch Kommunalärzte genannt) waren seit 1921 in den Berliner Stadtbezirken hauptamtlich angestellte, leitende Medizinalbeamte, denen sämtliche Gesundheitseinrichtungen des jeweiligen Bezirks unterstanden. Peters 2010, 23 f. 95 Knaut 1930, 21. 96 Peters 2010, 30–39. 97 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, ärztliche Äußerung, 18.05.1928, o. Bl. Der jüdische Arzt Fritz Fränkel, Mitbegründer der KPD, promovierte 1919 bei Karl Bonhoeffer über „Die psychopathische Konstitution bei Kriegsneurosen“, engagierte sich in den 1920er Jahren im Verein sozialistischer Ärzte und im Proletarischen Gesundheitsdienst. Gemeinsam mit Ernst Joël verfasste er das Standardwerk „Der Cocainismus“ (1924). Nach seiner Verhaftung und Folterung durch die SA emigrierte er 1933 über Frankreich nach Mexiko. Er überwarf sich im Zusammenhang mit dem spanischen Bürgerkrieg mit der Führung der KPD und schloss sich kurz vor seinem Tod im Exil einer antistalinistischen, linkssozialistischen Gruppe an. Vgl. Täubert 2005 passim. Fränkels Name erscheint des Öfteren in den Krankenakten im Zusammenhang mit der Untersuchung von Kindern aus Berlin-Kreuzberg, die auf der KBS aufgenommen wurden. Vgl. etwa HPAC, KBS 422, Auszug aus den Akten der Säuglings- u. Kleinkinderfürsorgestelle A Bezirksamt Kreuzberg, Eintrag v. 06.07.1927, o. Bl.

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5. Praxis im Netzwerk

Schwänzen und wiederum vermutete sexuelle Aktivitäten.98 Unklar ist, ob diese Tendenz mit einer erneuten Veränderung der familiären Situation zusammenhing: Erichs Mutter heiratete im ersten Halbjahr 1929 wieder, die Beziehung zu ihrem zweiten Ehemann begann wahrscheinlich schon im Jahr zuvor und könnte das Verhalten des Jungen, der als „völlig verändert […] scheu und verstockt“ beschrieben wird, beeinflusst haben. Auffällig ist zumindest, dass Marie Rothe, die bisher immer gegen eine Heimunterbringung ihres Sohnes gewesen war, diese Haltung nicht nur aufgab, sondern selbst „um sofortige anderweitige Unterbringung“ bat.99 Fritz Fränkel sah daher bei einer weiteren Vorstellung Erichs „nach dem vorliegenden Bericht“ (nicht aufgrund eigener Untersuchungsergebnisse!) die Notwendigkeit einer zeitweiligen Heimunterbringung. Als geeignete Einrichtung schlug er das vom Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen geleitete Heilerziehungsheim in Wilhelmshagen vor.100 Diese Option, die Erich wieder in das Blickfeld des DVFjP gestellt hätte, ließ sich wegen Überfüllung jedoch nicht realisieren.101 Rettungshaus Bethanien in Neubrandenburg Stattdessen kam Erich Ende August 1928, kurz nach seinem neunten Geburtstag, in das Rettungshaus Bethanien bei Neubrandenburg, einer 1851 gegründeten Einrichtung der Inneren Mission. Als Kinderheim und Erziehungsanstalt nahm sie „gefährdete Knaben und Mädchen aus Mecklenburg-Strelitz auf […], um sie im Geiste der Johann Hinrich Wichern’schen Erziehungsgrundsätze durch ein christlich geordnetes Familienleben und zweckdienliche Unterweisung zu brauchbaren Gliedern der Evangelisch-lutherischen Kirche und der bürgerlichen Gesellschaft heranzubilden. Soweit Platz ist, werden auch auswärtige Kinder aufgenommen.“102

98 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk v. 02.07.1928, o. Bl. 99 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk v. 05.07.1928, o. Bl. 100 Den direkten Kontakt Fränkels mit dem DVFjP belegt ein Schreiben des Arztes an Lotte Nohl, das Ratschläge für den Umgang mit den Eltern eines Mädchens enthält, das sich in der Betreuung des Vereins befand. HPAC, Ps. V. 6, Bd. 5, Fränkel an L. Nohl (Abschrift), 18.08.1930, o. Bl. 101 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk v. 13.07.1928, o. Bl. 102 http://www.bethanienstiftung.de/uploads/media/Satzung_v.7.7.2007_u._Anderung_20.3.2012.pdf [eingesehen am 15.05.2015]. Zur Geschichte des Heimes vgl. auch http://www.bethanienstiftung.de/ Geschichte.256.0.html [eingesehen am 15.05.2015].

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Bethanien gehörte zu den Privatheimen, die von den Berliner Behörden für städtische Pflegekinder und hilfsbedürftige Minderjährige auch im Rahmen der Fürsorgeerziehung in Anspruch genommen wurden, allerdings war es ausdrücklich kein „Psychopathenheim“, also nicht auf Kinder spezialisiert, für deren Verhaltensstörungen eine konstitutionelle Ursache angenommen wurde.103 Offenbar wurde Erich in Neubrandenburg bei Disziplinverstößen auch körperlich gezüchtigt und im Zuge der „Welle von Heimrevolten und Heimskandalen“, die 1929/30 das System der Fürsorgeerziehung erschütterte,104 auch Zeuge gewalttätiger Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Heimbewohnern und Erziehern. Eine Überprüfung durch das Jugendamt bestätigte anscheinend die Aussagen des Jungen, der daraufhin Anfang November 1929 aus dem Heim genommen wurde und nach Hause zurückkehrte.105 Rückkehr ins Elternhaus Auf Fritz Fränkel machte er nach seiner Rückkehr „einen scheuen Eindruck“; der Psychiater hielt den „Einfluss der Anstaltserziehung und die Eindrücke, die er gesammelt hat“ für „unerfreulich“ und führte darauf das gehemmte Wesen Erichs zurück.106 Für die folgenden Monate sind durchgehend negative Bewertungen Erichs aus dem Elternhaus und der Schule überliefert: Er sei „verlogen und verstockt“, komme im Unterricht nicht mit, fange „in hinterlistiger und roher Weise Streit, oft Schlägereien, mit seinen Mitschülern an“. 107 Das von Fränkel angemahnte verständnisvolle Eingehen auf Erich durch die Eltern blieb weitgehend aus. Sie standen seinem herausfordernden Verhalten hilflos gegenüber. Einerseits lag „der Rohrstock […] für den Jungen bereit“, andererseits wurde er „zu Weihnachten reichlich beschenkt“.108 Den Berichten aus der Schule, dem Hort und von Mitarbeiter_innen des Jugendamtes zufolge nahmen die Verhaltensauffälligkeiten Erichs ein immer größeres Ausmaß an. Um zum Kern der „Abweichung“ vorzudringen, und dadurch Einflussmöglichkeiten zu erkennen, wurden nicht nur die herkömmlichen psychiatrischen und pädagogischen 103 LAB, A Rep. 003–02, Nr. 26 Verzeichnis der mit städtischen Pflegekindern und sonstigen hilfsbedürftigen Minderjährigen zu belegenden Privatheime (ohne Psychopathenheime). Stand vom Mai 1930, o. Bl. 104 Peukert 1986, 243. 105 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk v. 05.09.1929, o. Bl. 106 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk v. 13.12.1929, o. Bl. 107 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerke v. 13.01. und 24.02.1930, alles o. Bl. 108 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk v. 13.01.1930, o. Bl.

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5. Praxis im Netzwerk

Beobachtungen zu Rate gezogen, sondern auch auf andere Methoden zurückgegriffen. So beschäftigte sich die im Gesundheitshaus „Am Urban“ tätige Graphologin Maria Hepner (1896–1989) mit Erich und bescheinigte ihm aufgrund einer Schriftprobe eine „eigenartige Intelligenz“. Als Ursache für die Erziehungsschwierigkeiten des Jungen sah sie fehlendes logisches Denkvermögen an.109 Da sowohl von pädagogischer als auch von psychiatrischer Seite den Eltern nur eine geringe Erziehungskompetenz bescheinigt wurde und der Streit um die richtige Behandlung Erichs zwischen seiner Mutter und seinem Stiefvater zudem den Bestand ihrer Ehe bedrohte, wurde schon ab Mitte 1930 überlegt, das Kind erneut in einem Heim unterzubringen. Fränkel drang jedoch angesichts der schlechten Erfahrungen in Neubrandenburg darauf, dass „die Auswahl der Anstalt möglichst vorsichtig erfolgen“ sollte. Er empfahl das Heil- und Erziehungsinstitut für seelenpflege-bedürftige Kinder Gerswalde (Uckermark), das sich „in analogen Fällen gut bewährt“ habe.110 Anthroposophisches Heilerziehungsheim in Gerswalde Das Heilerziehungsheim in Gerswalde war eine junge Einrichtung, die anthroposophischen Ideen verpflichtet war, zugleich aber durch personelle Verbindungslinien auch in der „traditionellen“ Heilpädagogik wurzelte.111 Gegründet hatte es Franz Löffler (1895–1956), der während seines Studiums der Philosophie, Pädagogik und Psychologie in Jena zu Beginn der 1920er Jahre Johannes Trüper kennengelernt hatte. Nach dem Tod Trüpers hatte er eine Zeit lang in dessen bekanntem Kinderheim Sophienhöhe als Werklehrer und Erzieher gearbeitet. Dazu eingeladen hatte ihn Trüpers Tochter Änne, die später seine Ehefrau wurde und die an 109 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Eindruck nach Schriftprobe. Maria Hepner, o. D., o. Bl. Während der Graphologie heute der wissenschaftliche Charakter wegen der mangelnden Evidenz für die behaupteten Zusammenhänge zwischen Handschrift und Persönlichkeitsmerkmalen abgesprochen wird, gehörte sie in der 1920er Jahren durchaus zum Repertoire gängiger wissenschaftlicher Methoden und wurde u. a. in der Strafverfolgung und Justiz eingesetzt. Vgl. Treitel 2004, 139. Auch in Beiträgen der Zeitschrift für Kinderforschung wurden graphologische Gutachten für die Argumentation herangezogen. Vgl. etwa Rothert 1926, 449; Mayer-Benz 1929. Maria Hepner, eine Nichte Alice Salomons, war Schülerin des Pioniers der Graphologie, Ludwig Klages (1872–1956). Als Jüdin musste sie 1933 emigrieren. Sie entwickelte den Hepner-Schreibtest für Kinder und Jugendliche, der noch heute in der Graphologie angewendet wird. http://www.grafologie.ch/ galerie.html#hepner [eingesehen am 15.05.2015]; vgl. auch Feustel 2008 [eingesehen am: 29.11.2013]. 110 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk Fränkel, o. D., o. Bl. 111 Hier und nachfolgend http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=393 [eingesehen am 15.05.2015]. Vgl. auch Möckel 2007, 183 f.

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den anthroposophischen Methoden Löfflers interessiert war. Allerdings fanden diese in der Leitung der Trüper’schen Anstalten offenbar keine ungeteilte Zustimmung, sodass es bereits nach etwa einem halben Jahr zur Trennung kam und im Juni 1924 das erste anthroposophisch ausgerichtete heilpädagogische Kinderheim im Haus Lauenstein in Jena eröffnet wurde. In der Folgezeit breitete sich die Idee einer anthroposophischen Heilpädagogik aus und fand ihren Niederschlag in der Entstehung mehrerer Institute für seelenpflege-bedürftige Kinder an verschiedenen Orten Deutschlands.112 Von Jena aus wurde im November 1929 das Heim in Gerswalde gegründet, das sich bereits kurze Zeit später einen guten Ruf bei Praktikern der Psychopathenfürsorge erworben hatte, obwohl es bis Juli 1932 ohne offizielle Zulassung des zuständigen Regierungsbezirks Potsdam arbeitete.113 Der Satzung des Trägervereins zufolge diente das Heim der „Pflege, Heilung und Erziehung geistig oder moralisch zurückgebliebener Kinder und Jugendlicher, die als krank angesehen werden, die nicht in der öffentlichen Schule unterrichtet werden können, oder für die eine besondere Betreuung aus sonstigen Gründen notwendig erscheint.“

Aufgenommen wurden Kinder und Jugendliche unabhängig von „ihrer Abstammung oder der Zugehörigkeit ihrer Eltern zu einer politischen Partei, einer konfessionellen oder Weltanschauungsgemeinschaft“.114 In mehreren Berichten an das Jugendamt Kreuzberg beschrieben Adolf Ammerschläger (1902–1944), Erichs Lehrer in Gerswalde, und der Heim-Arzt Edmund Drebber (Lebensdaten unbekannt) die Entwicklung des Jungen während seines Aufenthaltes in ihrer Einrichtung.115 Auffallend ist der optimistische Grundton, insbesondere von Ammerschlägers Texten, in denen nicht nur die problematischen Seiten von Erichs Verhalten, sondern auch seine Stärken beschrieben werden. Während der Pädagoge bestimmte Verhaltensweisen, wie das häufige Lügen und gelegentliche Diebstähle als Ergebnis von Milieueinflüssen ansah, führte er die mangelnde Konzentrationsfähigkeit auf konstitutionelle Schädigungen zurück. Er hob die 112 Im Bestand der KBS-Akten finden sich außer zum Heim in Gerswalde auch Verbindungen zu den anthroposophischen Einrichtungen Haus Lauenstein in Jena sowie zum Heil- und Erziehungsinstitut für seelenpflegebedürftige Kinder in Tannenberg. Vgl. HPAC, KBS 304; 425. 113 Vgl. auch BLHA, Rep. 31 A, Nr. 1118 Heil- und Erziehungsheim für Kinder in Gerswalde, Bl. 1 (Anzeige der Gründung des Heims); Schreiben des Landes-Wohlfahrts- und Jugendamtes Berlin, 11.02.1931 (Abschrift), o. Bl. (positive Stellungnahme zur Erziehungsarbeit in Gerswalde). 114 BLHA, Rep. 31 A, Nr. 1118, Bl. 4 115 Hier und nachfolgend HPAC, KBS 825, Heil- und Erziehungsinstitut Gerswalde an Bezirksjugendamt Berlin-Kreuzberg (Abschriften), 29.10.1930, 11.03., 20.08., 25.09 (alle von Ammerschläger) und 29.10.1931 (von Drebber), alles o. Bl. Biographische Angaben zu Drebber vgl. BLHA Rep. 31 A, Nr. 1118, Drebber an den Bezirksausschuss Potsdam, 22.04.1932, o. Bl.; zu Ammerschläger vgl. http:// biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=1489 [eingesehen am 15.05.2015].

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5. Praxis im Netzwerk

leichte Ablenkbarkeit und Beeinflussbarkeit des Jungen hervor und prognostizierte, dass „seine weitere Entwicklung sehr stark von seiner Umgebung abhängen“ würde. Ammerschläger konstatierte eine Verbesserung in Erichs Verhalten während seines etwas mehr als einjährigen Aufenthaltes in Gerswalde, der „Eindruck des Jugendamtes nach der Rückkehr des Knaben [war] ein sehr günstiger“.116 Und tatsächlich scheint das anthroposophische Heilerziehungsheim auch für Erich Köbler selbst zu den besseren Erfahrungen seines Lebens gezählt zu haben. Darauf deuten ein von ihm während seines zweiten Aufenthaltes auf der KBS verfasster Text sowie entsprechende Passagen im Bericht der Erzieherin hin.117 Rückkehr ins Elternhaus In den folgenden anderthalb Jahren schwanken die Beschreibungen über Erichs Verhalten zwischen den Polen „Devianz“ und „Normalität“, die Erziehungsprobleme waren anscheinend jedoch nicht so groß, dass eine erneute Heimunterbringung in Erwägung gezogen wurde.118 Möglicherweise hängt dies aber auch mit der veränderten ökonomischen und gesellschaftlichen Situation im Gefolge der Weltwirtschaftskrise zusammen. Zur Bekämpfung der Krisenfolgen verfolgte das seit 1930 amtierende Präsidialkabinett Heinrich Brünings einen drastischen Sparkurs, der zu einer deutlichen Reduzierung der Sozialausgaben führte und der Diskussion um die angeblich zu hohen Kosten für die Betreuung schwer erziehbarer Kinder und Jugendlicher neue Nahrung gab.119 Vielleicht war schon Erichs Entlassung aus Gerswalde dieser Tatsache geschuldet. Adolf Ammerschläger hatte noch im August 1931 Erich als „stark gefährdet“ bezeichnet, trotzdem musste er das Heim im darauffolgenden Monat verlassen. Ein Angebot zur Wiederaufnahme des Jungen in Gerswalde beim erneuten Auftreten von Schwierigkeiten wurde nicht in Anspruch genommen.120 Zwischen Ende 1931 und Anfang 1933 scheint nur eine Schutzaufsicht durch das Jugendamt Kreuzberg als Fürsorgemaßnahme stattgefunden zu haben. Für den Winter 1932/33 wurde eine Hortunterbringung vorgeschlagen. 116 HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerk von Oktober 1931, o. Bl. 117 Vgl. HPAC, KBS 825, Egodokument: „Wie es in Gerswalde war!“, o. Bl. ebenso Pädagogische Beobachtungen (B. Pederzani), Vermerk v. 06.06.1933, o. Bl.: „Von Gerswalde erzählt er gern, man hat den Eindruck, als habe er sich dort wohl gefühlt, er strahlt meistens, wenn er von dort berichtet. Von dummen Streichen, Spiel und Beschäftigung, wilden Spielen u. Erlebnissen erzählt er.“ 118 Vgl. HPAC, KBS 825, Aktenauszug aus den Akten des Jugendamtes Kreuzberg, Vermerke vom 29.10. und 01.11.1931 sowie vom 11.03. und 16.03.1932, alles o. Bl. 119 Vgl. Peukert 1986, 253 ff. 120 HPAC, KBS 825, Berichte aus Gerswalde vom 20.08. und 25.09.1931, alles o. Bl.

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Erst ein Vorkommnis am 1. Mai 1933, bei dem Erich durch anfallartiges Verhalten auffiel, führte ihn im Zuge einer Notaufnahme schließlich im Alter von 13 Jahren wieder auf die Kinderbeobachtungsstation. Erich Köbler war am Rande einer Flugschau aus Anlass des von den Nationalsozialisten verkündeten „Feiertages der nationalen Arbeit“ in Tempelhof aufgegriffen, in die Notaufnahmestelle des Krankenhauses „Am Urban“ eingeliefert und von dort an die Heil- und Pflegeanstalt Herzberge überwiesen worden. Da in Herzberge kein Platz frei war, wurde er zur Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité transportiert, zunächst auf einer Männerstation untergebracht und kam von dort auf die KBS, wo er bis zum 2. August 1933 blieb.121 Über seinen weiteren Lebensweg ist nichts bekannt.

Wachstum, Differenzierung und Grenzen der Berliner Psychopathenfürsorge Was in der Gesamtschau der beiden hier vorgestellten Fallgeschichten ins Auge fällt, ist der Vorgang einer erheblichen Ausdehnung und Differenzierung des institutionellen Netzwerkes, in dem erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche erfasst, beobachtet und betreut wurden, in den 1920er Jahren. Grundlage dafür war der flächendeckende Ausbau der Jugendwohlfahrtspflege im Weimarer Sozialstaat.122 Erst ihre Anerkennung als Aufgabe der öffentlichen Hand führte zur Bereitstellung von Ressourcen, die auch eine Expansion der Psychopathenfürsorge ermöglichten. Dualismus von öffentlichen und freien Trägern Kennzeichnend für dieses Spezialgebiet, wie für die Jugendfürsorge allgemein, war der Dualismus zwischen öffentlichem Sektor, der vor allem in den kommunalen Jugendämtern angesiedelt war, und freien (privaten und konfessionellen) Trägern. Eine wesentliche Rolle im Prozess der Herausbildung kommunaler Institutionen der Psychopathenfürsorge in Berlin spielte der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen. So fungierte als Vorläufer der Fürsorgestellen für geistig abnorme Kinder und Jugendliche bei den Bezirksjugendämtern eine entsprechende Institution des Jugendamts der Stadt Berlin, die fast das gesamte Jahr 1922 über in „Personal- und Raumunion“, d. h. unter Leitung Ruth von der Leyens, mit der Beratungsstelle für Heilerziehung des DVFjP geführt wurde.123 Das im darauffolgenden Jahr etablierte kommunale Beratungssystem entsprach der programmatischen Forderung des Vereins, für „jede große Stadt“ (hier: für jeden Berliner Stadtbezirk) eine „Zentralberatungs121 Vgl. HPAC, KBS 825, Anamnese, o. Bl. 122 Sachße/Tennstedt 1988, 99. 123 Leyen 1926 f., 449.

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stelle“ einzuführen.124 Die Funktion als Impulsgeber einer kommunalen Fürsorgestruktur entsprach dem Selbstverständnis des DVFjP, dessen Gründungskonsens wesentlich auf der Überzeugung von der Notwendigkeit eines Ausbaus der Psychopathenfürsorge unter stärkerer Beteiligung der öffentlichen Hand basierte.125 Trotzdem war das Entstehen der dualen Struktur für die Akteur_innen des Vereins ambivalent; sie interpretierten insbesondere die Entwicklung zu Beginn der 1920er Jahre als ein „scheinbares, langsames Dahinsterben der freien [und] ein Erstarken der behördlichen Jugendwohlfahrtsarbeit“.126 Vor allem die Auseinandersetzungen über finanzielle Aspekte der Fürsorge, die der Verein immer wieder mit den Jugendämtern führen musste, dürften diesen Eindruck begünstigt haben. Die kommunale Seite war Hauptgeldgeber aller Betreuungsbzw. Unterbringungsmaßnahmen, als Behörde jedoch an die öffentliche Haushaltsdisziplin gebunden. Insbesondere in Krisenzeiten, wie während der Inflation zu Beginn und der Weltwirtschaftskrise am Ende des Untersuchungszeitraums, waren die Mittel knapp und reichten bei Weitem nicht für die vom DVFjP angestrebte, individualisierte Betreuung aus, wie an den beiden Fallbeispielen deutlich wird. Ungeachtet der Reibungen, die die Doppelstruktur öffentlicher und freier Träger mit sich brachte, kam es in der praktischen Durchführung der Psychopathenfürsorge in Berlin schließlich jedoch – so zeigt es auch die Überlieferung zu Erich Köbler – zu einem Modus Vivendi, der offenbar wesentlich auf einer Aufgabenteilung beruhte: Während die kommunalen Stellen vorrangig für die Erfassung verhaltensauffälliger Kinder und die Beratung ihrer Familien zuständig waren, stellten die Freien und Privaten den überwiegenden Anteil der Betreuungskapazitäten in Horten und Heimen zur Verfügung. Zumindest in der kurzen Phase relativer wirtschaftlicher Stabilität ab 1924 wurde so der Handlungsspielraum in Bezug auf Art und Umfang der Betreuung breiter. Die Jugendämter finanzierten in größerem Umfang als zuvor die Unterbringung in spezialisierten heilpädagogischen Einrichtungen, die es in wachsender Zahl gab. Dennoch konnten nicht alle Kinder in Heime überwiesen werden, die hinsichtlich der pädagogischen Atmosphäre, der Zusammensetzung der Bewohner_innen und der Persönlichkeit der Erzieher_innen den jeweiligen Bedürfnissen und Anforderungen entsprochen hätten.127

124 Siegmund-Schultze 1920, 70. 125 EZA, Bestand 626, Nr. 51 W IVb; Protokoll der Tagung über Psychopathenfürsorge 19. Oktober 1918, o. Bl. Vgl. in diesem Band, S. 105. 126 Leyen 1926 f, 449. 127 Vgl. Leyen 1927a, 313–314.

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7 a, 7 b und 7 c: handschriftlicher Text von Erich Köbler „Wie es in Gerswalde war“, Transkription dieses Texes.

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Bedeutungsverlust des DVFjP innerhalb der Versorgungsstruktur In den ersten Jahren nach dem Krieg hatte der Verein noch eine Position als treibende Kraft des entstehenden Fürsorgebereichs für jugendliche „Psychopathen“ inne, die auf einer engen Verflechtung mit der allgemeinen Jugendfürsorge beruhte.128 Die Betreuungsgeschichte Erna Ebels aus der Frühphase der KBS illustriert in diesem Zusammenhang beispielhaft den Zustand, den es aus Sicht des DVFjP zu überwinden galt: Der Wissensstand über Ursachen und Behandlungsformen von psychopathischen Konstitutionen war unbefriedigend, und die Zahl spezialisierter Betreuungseinrichtungen gering.129 Mit dem Wachstum des Sektors und der zunehmenden Trägervielfalt ging dann die relative Bedeutung des Vereins innerhalb der Versorgungsstruktur zurück. So befand sich Erich Köbler nach seinem ersten Aufenthalt auf der Kinderbeobachtungsstation über einen Zeitraum von sechs Jahren zwar ständig in der einen oder anderen Form unter Beobachtung und Beeinflussung von Institutionen der Psychopathenfürsorge, ohne jedoch noch einmal mit dem DVFjP und seinen Einrichtungen in Kontakt zu kommen. Der Verein seinerseits hatte den Jungen aus dem Blick verloren, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass bei seiner zweiten Aufnahme eine neue Krankenakte angelegt wurde. Üblicherweise wurde bei mehrmaligen KBS-Aufenthalten von Kindern, auch wenn längere Zeiträume dazwischen lagen, nur eine Akte geführt.130 Die auf der ersten Tagung über Psychopathenfürsorge formulierten Zielstellungen für den Ausbau der Psychopathenfürsorge waren von einer relativ zentralistischen Organisation unter Führung des DVFjP ausgegangen.131 Die tatsächliche Entwicklung ging jedoch weitaus anarchischer vonstatten, sodass Informationsverluste wie bei Erich Köbler auftraten und auch die Einflussnahme des Vereins auf die von den unterschiedlichen Trägern vertretenen pädagogischen und medizinischen Inhalte geringer blieb als vielleicht erhofft. Das eingangs zitierte Bild Ruth von der Leyens von den „Fäden des Zusammenwirkens“ zeugt aber von einem realistischen Blick auf die entstandenen Verhältnisse, indem die netzwerkartige Struktur der Psychopathenfürsorge akzeptiert und die Zusammenarbeit mit allen beteiligten Institutionen gesucht wurde. Dabei behielt der DVFjP eine Sonderstellung innerhalb des Systems der Psychopathenfürsorge in Berlin. Er war neben den Bezirksjugendämtern und zwei entsprechenden Stellen am Ambulatorium des Verbandes Berliner Krankenkassen und am Kaiserin-Augusta-Viktoria-Haus der einzige freie Träger, der eine umfangreiche Beratungstätigkeit für die Familien 128 129 130 131

Vgl. Leyen 1931, 637. Stier 1920a, 36; Leyen 1931, 637. Ein Beispiel dafür ist die Krankenakte von Erna Ebel. Vgl. Siegmund-Schultze 1920 passim sowie in diesem Band, S. 105.

5.2 Aus- und Fortbildung

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erziehungsschwieriger Kinder und Jugendlicher betrieb.132 Die Beratungsstelle für Heilerziehung und die vereinseigenen heilpädagogischen Heime standen in enger Verbindung zur Kinderbeobachtungsstation an der Charité. Diese Einrichtungen bildeten gemeinsam einen einzigartigen Forschungskomplex zum Thema „psychopathisches Kind“, dem zeitgenössisch bescheinigt wurde, dass in ihm „weniger Wert auf Quantitäts- wie auf Qualitätsarbeit gelegt wird“.133 Die hier gewonnenen Erkenntnisse waren die Voraussetzung dafür, dass der Verein auf einem anderen Gebiet wesentlichen Einfluss nehmen konnte.

5.2 Aus- und Fortbildung Trotz ihrer quantitativen Erweiterung hatte die Fürsorge für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ein gravierendes Kapazitätsproblem. Dies zeigt sich am Beispiel Erich Köblers, der mehrmals wegen Überfüllung der eigentlich für ihn vorgeschlagenen Heime in andere Einrichtungen kam, darunter auch in die Anstalt Bethanien, die sich für ihn als pädagogisches Desaster erwies. Seine traumatisierenden Erlebnisse dort offenbaren, dass auch die qualitative Ausgestaltung der Psychopathenfürsorge nicht Schritt mit ihrer Expansion hielt. Dies galt nicht nur für die sogenannte geschlossene Fürsorge in den Erziehungsheimen, sondern auch für Pflegefamilien und ländliche Pflegestellen in bäuerlichen Haushalten.134 Die Bereitstellung größerer Ressourcen durch den Wohlfahrtsstaat führte auch dazu, dass eine Reihe von Institutionen und Personen daran partizipierte, die für den Umgang mit „besonders erziehungsbedürftigen Kindern“135 nicht qualifiziert waren. Aus- und Fortbildungsmaßnahmen für pädagogisches Personal, von jeher einer der Schwerpunkte der Tätigkeit des DVFjP, rückten daher zunehmend in den Fokus seiner Tätigkeit und wurden zu einem der wichtigsten Kompetenzmerkmale bei der Wahrnehmung des Vereins innerhalb des Netzwerks der Psychopathenfürsorge.136

Professionalisierung der Psychopathenfürsorge In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg wurde zunächst auf ein bewährtes Repertoire von Veranstaltungen zurückgegriffen, dass die Aktivist_innen des Vereins aus der Praxis der Ab132 Die Beratungsstelle für Heilerziehung scheint auch ein Alleinstellungsmerkmal des Vereins über Berlin hinaus gewesen zu sein. Vgl. Thumm 1924, 112. Zu ihren inhaltlichen Besonderheiten vgl. in diesem Band, S. 113–117. Zu den beiden erwähnten ärztlichen Beratungsstellen vgl. Leyen/Marcuse 1928, 478. 133 Freudenberg 1928, 20. 134 Vgl. Fuchs/Rose/Beddies 2012, 121 f. 135 Leyen 1923b, 37. 136 Vgl. u. a. Müller 1922, 216; Leyen 1920d; 1921, 96; 1923d und 1927b.

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5. Praxis im Netzwerk

teilung Jugendgerichtshilfe der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge bereits kannten: „Helferversammlungen“ und „Arbeitsbesprechungen“. Helferversammlungen fanden vor allem im Zeitraum unmittelbar nach der Gründung des DVFjP (1919–1922) statt. Sie wandten sich – außer an die Namen gebenden ehrenamtlichen Helfer_innen des Vereins – an „einen weiteren Kreis von interessierten Persönlichkeiten“, um sie in die Probleme der Psychopathenfürsorge einzuführen, und standen jeweils unter einem bestimmten Thema. Teilnehmende kamen aus allen Bereichen, die mit verhaltensauffälligen und erziehungsschwierigen Kindern zu tun hatten – Ministerien, Schulen, Jugend- und Gesundheitsämter, der Jugendgerichtshilfe, Gerichte, kirchliche Institutionen und Medizin.137 Die sogenannten Arbeitsbesprechungen dienten, insbesondere in der Phase des Aufbaus der Beratungsstellen für „geistig abnorme Kinder und Jugendliche“ in den Bezirksjugendämtern zwischen November 1922 und April 1924, der Schulung der in den kommunalen Fürsorgestrukturen tätigen Mitarbeiter_innen. Später wandelte sich ihr Charakter zu internen Weiterbildungsmaßnahmen des DVFjP anhand konkreter Fälle aus der Beratungs- und Betreuungspraxis.138 Eine wichtige Ausbildungsform mit großer Ausstrahlungskraft war die Beschäftigung von Praktikantinnen (zumeist Schülerinnen von Wohlfahrtsschulen) im DVFjP. Ihnen wurden in sechswöchigen bis einjährigen Praktika die für den sozialpädagogischen Alltag in der Psychopathenfürsorge nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt, wie das Protokollführen in den Sprechstunden der Beratungsstelle für Heilerziehung, die Begleitung von Klient_innen zu wichtigen Terminen, Schriftverkehr mit Arbeitgebern, Ämtern und Heimen, zum Teil auch die selbständige Führung von Schutzaufsichten, und schließlich die Tätigkeit in den verschiedenen Heimen des Vereins. Zwischen 1920 und 1931 durchliefen 125 Personen diese praktische Ausbildung.139 Der Umgang mit erziehungsschwierigen Kindern wurde auch im Rahmen des Unterrichts über Jugendfürsorge thematisiert, den Ruth von der Leyen seit 1917 zunächst an einer, später an mehreren Wohlfahrtsschulen in Berlin erteilte. Zur Behandlung der medizinischen Aspekte des Problems erhielt sie Unterstützung durch Franz Kramer. Später wurde das Thema in Sonderkursen von zehn bis zwölf Doppelstunden vermittelt, die auf den Erfahrungen der praktischen Fürsorgearbeit des Vereins beruhten. Aus den Teilnehmerinnen dieser Kurse re­ krutierte sich ein großer Teil der im Verein tätigen Praktikantinnen.140 Daneben ging das Bestreben jedoch stets auch dahin, eigene Formate für eine Spezialausbildung in der Psychopathenfürsorge zu entwickeln. So hatte der Verein im Januar 1920 einen 137 138 139 140

Leyen 1931, 665. Leyen 1931, 664 f. Leyen 1931, 663 f. Leyen 1931, 665 f.

5.2 Aus- und Fortbildung

227

einwöchigen Lehrgang zur „Einführung in die praktische Arbeit an jugendlichen Psychopathen“ am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin durchgeführt. Die 1915 erfolgte Gründung des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht in Berlin ging auf die preußische „Jubiläumsstiftung für Erziehung und Unterricht“ zurück, die nach dem Ersten Weltkrieg von den deutschen Ländern (ohne Bayern) weitergeführt wurde. Institutsleiter war von der Gründung bis 1933 der Pädagoge und Archäologe Ludwig Pallat (1867–1946).141 Das Institut übte eine pädagogisch-didaktische Beratungsfunktion aus und entwickelte sich in der Weimarer Republik zu einer der wichtigsten pädagogischen Fortbildungseinrichtungen im Deutschen Reich, die mit der Zeitschrift das „Pädagogische Zentralblatt“ auch über eine eigene Publikationsplattform verfügte. Seinen Sitz hatte das Zentralinstitut in der Potsdamer Straße 120; seit 1927 befand sich in unmittelbarer Nachbarschaft auch die Geschäftsstelle des DVFjP (Potsdamer Str. 118 c).142 Mitveranstalter des ersten speziellen Lehrganges für Psychopathenfürsorge waren die Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit und das Pestalozzi-Fröbel-Haus, also Institutionen der allgemeinen Jugendwohlfahrt, aus denen die sozialpädagogischen Aktivistinnen des Vereins hervorgegangen waren.143 Die Teilnahme von mehr als 200 Personen „aus Jugendämtern, Sozialpädagogischen Seminaren und dem engeren Helferkreis“ des DVFjP an diesem Kurs zeugt davon, dass verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche in der Nachkriegs- und Nachrevolutionsgesellschaft als weit verbreitetes Phänomen wahrgenommen wurden.144 In einem zweiten Schritt organisierte der Verein, ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, die zwischen Januar und März 1923 stattfindenden „Seminaristischen Übungen zur Einführung in die Psychopathenfürsorge“. Ziel dieser Veranstaltung war nicht, wie im ersten Seminar, die Gewinnung von Interessent_innen, sondern die Schulung von Personen, die bereits in der Praxis mit erziehungsschwierigen Kindern zu tun hatten. Etwa die Hälfte der dort gehaltenen Vorträge wurden von den Mitgliedern des DVFjP, Kramer, von der Leyen, Lotte Nohl und Erna Lyon gehalten, für die übrigen verpflichtete man Expert_innen aus dem Jugendamt, dem klinischen Bereich und dem Jugendgericht Berlin-Mitte.145 141 Zu Pallat vgl. Böhme 1971, 95–133; Amlung 2006. In dem von Pallat gemeinsam mit Herman Nohl herausgegebenen Handbuch der Pädagogik verfasste Ruth von der Leyen die Beiträge „Heilpädagogische Anstalten“ und „Psychopathenerziehung“. 142 Bobertag 1916; Böhme 1971; Tenorth 1996. 143 EZA, Bestand 626, Nr. 51 W IV a, Werbeblatt des DVFjP [1919], o. Bl. Zu den Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit und zum Pestalozzi-Fröbelhaus vgl. in diesem Band, S. 85 f. 144 Leyen 1931, 666. Eine Mitschrift des Vortrages von L. Nohl und Leyen über die „Organisation der Fürsorgearbeit an psychopath. Kinder in Groß-Berlin und ihre Durchführung“ findet sich in EZA, Bestand 626, Nr. 51 W IV b, o. Bl. 145 Leyen 1923d, 124.

228

5. Praxis im Netzwerk

Aus den Erfahrungen der beiden Veranstaltungen zog man im DVFjP die Lehre, dass kurze Einführungskurse nicht ausreichten, um „einen Einblick in die schwierigen Probleme der Psychopathenerziehung zu gewähren“.146 Außerdem wurde nunmehr von der Notwendigkeit ausgegangen, zwischen Fortbildung und Ausbildung zu differenzieren. Erstere war für Personen in den Bereichen Jugendfürsorge, Bildungswesen und Jugendstrafrecht gedacht, die in ihrer Tätigkeit auch mit auffälligem Verhalten und Erziehungsschwierigkeiten konfrontiert wurden. Eine Ausbildung sollten dagegen all diejenigen erhalten, die sich beruflich und hauptamtlich mit der Fürsorge und Erziehung psychopathischer Kinder und Jugendlicher befassen wollten. Während Fortbildungsmaßnahmen bereits an verschiedenen Einrichtungen, wie Wohlfahrtsschulen, einzelnen Universitäten, Fürsorgeerziehungsanstalten und Erzieherschulen, angeboten wurden, sah der Verein seine Aufgabe in der Etablierung eines wissenschaftlich fundierten, über einen längeren Zeitraum stattfindenden, theoretischen und praktischen Ausbildungsganges. Die Durchführung eines solchen Kurses war offenbar nicht ohne weiteres zu bewerkstelligen. Neben den begrenzten individuellen Arbeitskapazitäten der Protagonist_innen dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass die Nachkriegskrise mit dem Ende der Hyperinflation gerade erst ausgeklungen war und die recht erheblichen Mittel für eine längerfristige Ausbildung nicht ohne weiteres aufgebracht werden konnten. In den folgenden Jahren verlagerte sich die Aktivität des Vereins deshalb zunächst in den Bereich der Fortbildung, wobei vorrangig Vorträge und Vorlesungen im Rahmen von Veranstaltungen anderer Institutionen gehalten wurden, die zum Teil auch außerhalb Berlins stattfanden. Bei Lehrgängen in der Reichshauptstadt wurden auch Besichtigungen von Einrichtungen des Vereins angeboten. Den Hauptanteil an der Vortragstätigkeit trugen Franz Kramer und Ruth von der Leyen, daneben traten aber auch Hilde Classe, Erna Lyon und Friedrich Siegmund-Schultze auf. Adressiert wurden die Veranstaltungen an verschiedene Berufsgruppen: Fürsorgerinnen (Thale 1923), Stadtärzte der Bezirksämter (Berlin 1924), Sozialbeamtinnen (Hagen i. W. 1925), Jugend- und Vormundschaftsrichter sowie Jugendstaatsanwälte und Amtsanwälte (Berlin 1925), Hilfsschullehrer (Berlin 1926), Volksschullehrerinnen (Berlin 1927) oder allgemein „pädagogisch vorgebildete Kräfte“ (Berlin 1927/28). Partnereinrichtungen waren dabei die Wohlfahrtsschule in Thale, das Hauptgesundheitsamt Berlin, der Sozialbeamtinnenbund, die Kreisverwaltung Hagen und die Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen.147

146 Hier und nachfolgend Leyen 1927b, 463–464. 147 Friedländer 1923; [Leyen] 1924; ZfK 30.3 (1925), 201–202, hier 201 (Rubrik: Ausbildung); ZfK 31.2 (1926), 192 (Rubrik: Ausbildung); ZfK 32.6: 605; ZfK 33.3 : 289–290 (Ankündigung); 33.4: 365–366 (zweite Ankündigung mit Programm), hier: 366.

5.2 Aus- und Fortbildung

229

Außer an solchen einmalig stattfindenden Kursen beteiligte sich der DVFjP mit seiner Expertise auch an längerfristigen Fortbildungen im Berliner Raum. So lehrte Franz Kramer am heilpädagogischen Seminar Berlin-Brandenburg „Psychopathologie des Kindesalters“. Das 1926 ins Leben gerufene Seminar war ein vom preußischen Unterrichtsministerium und dem Berliner Magistrat getragenes Fortbildungsinstitut (ab 1932 unter der Bezeichnung „Heilpädagogisches Institut Berlin“), dessen Klientel vorrangig Lehrer_innen an Hilfs-, Schwerhörigen-, Sehschwachen- und Sprachheilschulen sowie Fürsorgeerziehungsanstalten waren.148 Noch enger gestalteten sich die Verbindungen zu einem gemeinsamen Heilpädagogischen Lehrgang des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht und des Pestalozzi-FröbelHauses, der sich vor allem an Kindergärtnerinnen, Hortleiterinnen und Jugendleiterinnen richtete und erstmals zwischen Oktober 1927 und März 1928 stattfand.149 Für einen zweiten halbjährigen Lehrgang 1929/30 erweiterte sich der Kreis der Veranstalter um die Deputation für das Schulwesen und das Landesjugendamt Berlin. Als Lehrkräfte traten u. a. Ruth von der Leyen, Franz Kramer, Friedrich Siegmund-Schultze und dessen Frau Maria sowie weitere Personen aus dem Berliner Kreis des DVFjP auf.150 Ab Ostern 1931 wurde dieser Lehrgang von der Arbeitsgemeinschaft für heilpädagogische Aus- und Fortbildung getragen, einem Zusammenschluss des Deutschen Fröbelverbandes, des DVFjP, des Deutschen Archivs für Jugendwohlfahrt, der Gesellschaft für Heilpädagogik, der Heilpädagogischen Fachgruppe der Berufsorganisation der Kindergärtnerinnen, Hortnerinnen und Jugendleiterinnen, der Konferenz sozialer Frauenschulen und Wohlfahrtsschulen Deutschlands und des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht.151 Möglicherweise war manch einer der Verbände eher formal Mitglied der Arbeitsgemeinschaft, etwa über Doppelmitgliedschaften beteiligter Personen oder – im Fall der Gesellschaft für Heilpädagogik denkbar – wegen der ohnehin engen Verbindung zum DVFjP. In Zeiten rigoroser Sparpolitik im sozialen Bereich während der Weltwirtschaftskrise war es sicher nützlich, der öffentlichen Hand die hohe Dringlichkeit des Fortbildungsprojektes durch die Beteiligung der einschlägigen Fachorganisationen nachzuweisen, um die nötigen finanziellen Zuschüsse zu erhalten. In der neuen organisatorischen Form kommt aber auch der Wunsch nach einer stärkeren Vernetzung der relevanten Verbände bei der Gestaltung von Fortbildungsformen und -inhalten in der Psychopathenfürsorge zum Ausdruck. Für den gewachsenen inhaltlichen Anspruch spricht die Verlängerung der Lehrgangsdauer auf ein Jahr. Ruth von der Leyen übernahm gemeinsam mit dem stellvertre148 149 150 151

H. Koch, 1926, 298. Weitere Lehrgangsankündigungen vgl. ZfK 35.4: 655–656, 37.4: 668, 40.3: 364. ZfK 33.3: 289–290 (Ankündigung); 33.4: 365–366 (zweite Ankündigung mit Programm), hier: 366. ZfK 35.3: 559–560 (Ankündigung mit Programm). N. N. 1931; ZfK. 39.3: 306 (Ankündigung des 4. Lehrgangs, Ostern 1932 bis Ostern 1933).

230

5. Praxis im Netzwerk

tenden Leiter des Zentralinstituts für Erziehung und Unterricht, Franz Hilker (1881–1969), die Kursleitung.152

Seminar für Psychopathenfürsorge Neben der Einbindung seiner Akteur_innen in verschiedene Fortbildungsstrukturen verfolgte der DVFjP weiterhin sein zentrales Anliegen, einen speziellen Ausbildungskurs für die Psychopathenfürsorge einzurichten.153 Für den Fürsorgebereich war dieser Ausbildungsgang aus der Sicht des Vereins unbedingt notwendig, um fachlich qualifizierte Personen als „Leiter und Mitarbeiter an Beratungsstellen für Heilerziehung, von Beobachtungsstationen, von Heilerziehungsheimen und heilpädagogischen Erholungsheimen, von Fürsorgeerziehungsanstalten für psychopathische Kinder und Jugendliche, sowie von Abteilungen für Psychopathen [in] Fürsorgeerziehungsanstalten“

gewinnen zu können. In der uneinheitlichen, und oftmals eben nicht fachspezifischen Vorbildung der Beschäftigten in der Psychopathenfürsorge, einschließlich des Leitungspersonals, sah der DVFjP eine Ursache für die großen qualitativen Unterschiede zwischen den einzelnen Einrichtungen.154 Im Jahr 1927 waren die inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitungen so weit gediehen, dass das Projekt realisiert werden konnte. Da noch Eigenmittel zur Finanzierung fehlten, wandte sich Ruth von der Leyen an die Mitglieder des DVFjP mit der Bitte um eine zusätzliche Spende in Höhe von 40 Reichsmark für das geplante „Seminar für Psychopathenfürsorge“. Psychopathenerziehung, so die Geschäftsführerin, dürfe nicht mehr, wie in früheren Jahren, dem zufälligen Engagement einzelner hervorragender Persönlichkeiten überlassen bleiben, da das Arbeitsgebiet und die entsprechenden Institutionen sich in den vergangenen Jahren beträchtlich erweitert und vermehrt hätten. Deshalb solle die Ausbildung von Fachkräften künftig planmäßig erfolgen. Das Seminar solle auf den Erfahrungen „der Mitarbeiter aus Wissenschaft und Praxis“ des DVFjP aufbauen, es würde von der Geschäftsführung in Verbindung mit dem psychiatrischen Berater des Vereins (Kramer) geleitet.155 Ein Ergebnis des Spendenaufrufs ist nicht überliefert, von der Leyen erläuterte aber noch im selben Jahr in der Zeitschrift für Kinderforschung (ZfK) die Zielstellung des Seminars

152 153 154 155

Hilker/Leyen 1932. Zu Hilker vgl. Böhme 1971, 133–154. Hier und nachfolgend Leyen 1927b. Vgl. auch Leyen 1927a, 315–317. EZA, Bestand 626, Nr. I 1,3 Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen 1927–1932, Leyen an die Mitglieder des DVFjP, o. D. (1927), o. Bl.

5.2 Aus- und Fortbildung

231

und kündigte seinen Beginn für Januar 1928 an.156 Nach einer Verschiebung des Termins wegen Problemen bei der Beurlaubung der Teilnehmer_innen und bei der Mittelbeschaffung auf den 1. Oktober 1928, begann der Kurs schließlich weitere zwei Wochen später.157 Die dreimalige Erwähnung in der ZfK zeugt von der Bedeutung, die dem Seminar als Modell für die Fachausbildung vereinsintern beigemessen wurde. Den theoretischen Unterricht des einjährigen Kurses für „höchstens 12 Teilnehmer“ erteilten, wie von der Leyen bereits den Vereinsmitgliedern mitgeteilt hatte, die „langjährigen psychiatrischen Mitarbeiter des Vereins von der Universitäts-Nervenklinik sowie andere Persönlichkeiten, mit denen der Verein in seiner praktischen Arbeit in ständiger Verbindung steht“.158 Den ersten Ausbildungskomplex zu speziellen kinderpsychiatrischen und heilpädagogischen Problemen bestritten Rudolf Thiele, Lotte Nohl und von der Leyen selbst mit den Themen „Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters“, „Anleitung zur Beobachtung psychopathischer Kinder und zur Berichterstattung“ sowie „Heilpädagogik und Psychopathenerziehung“. Der zweite Komplex „Psychologie, Pädagogik und rechtliche Probleme der Jugendverwahrlosung“ wurde, ebenso wie der dritte, „Gesundheitslehre“, ebenfalls von anerkannten Fachleuten unterrichtet, so dem Psychologen Otto Bobertag (1879–1934), der schon beim ersten Lehrgang des Vereins von 1920 mitgewirkt hatte,159 oder dem Jugendrichter am Amtsgericht Berlin-Mitte, Herbert Francke (1885–1947), einem führenden Mitglied der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen.160 Gymnastik- und Werkunterricht schließlich, die den vierten inhaltlichen Komplex des Seminars bildeten, wurden von „Lehrkräften des Heilerziehungsheims Schloß Ketschendorf“ des DVFjP erteilt. Des Weiteren wurden die Teilnehmer_innen in den verschiedenen Einrichtungen des Ver156 Leyen 1927b. 157 Leyen 1928a; ZfK. 34.4: 526. 158 EZA, Bestand 626, Nr. I 1,3 Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen 1927–1932, Leyen an die Mitglieder des DVFjP, o. D. (1927), o. Bl. 159 Bobertag gehörte zur Richtung der experimentellen Psychologie, die sich zu Beginn des Jahrhunderts von der Kinderforschung der „Jenaer Richtung“ Trüpers abgesetzt hatte (Vgl. in diesem Band, S. 39 f. Er war Mitarbeiter ihrer führenden Vertreter Otto Lipmann und William Stern in Berlin. Vor dem Ersten Weltkrieg adaptierte Bobertag die Intelligenzprüfung nach Binet-Simon für Deutschland (Bobertag 1911, 1912) und entwickelte in den 1920er Jahren gemeinsam mit Erich Hylla weitere pädagogisch-diagnostische Tests. Der am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht tätige Psychologe verwahrte sich 1934 in einem Artikel in der Zeitschrift für Kinderforschung gegen die Anbiederung seiner Wissenschaft an politische Ideologien (Bobertag 1934). Bobertag, der damit zu den wenigen deutschen Psychologen zählt, die sich öffentlich gegen den Nationalsozialismus stellten, starb am 25.04.1934 „unerwartet schnell“. Bobertag 1916, 175; Böhme 1971, 39, 279; Baumgarten 1949, 15 f. (Zitat, 16), Geuter 1988, 274 ff. 160 Kölch 2006, 262. Detaillierte biographische Angaben zu Francke konnten bisher nicht gefunden werden.

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5. Praxis im Netzwerk

eins eingesetzt, um sich einen Eindruck von der heilpädagogischen Praxis „als Illustration zum theoretischen Unterricht“ machen zu können. Die eigentliche praktische Ausbildung nahm mit sechs Monaten Dauer die Hälfte der gesamten Kurszeit in Anspruch. Sie wurde „in den verschiedensten Einrichtungen und Anstalten der Normalerziehung, Verwahrlostenerziehung, Heilerziehung, Irrenpflege“ absolviert, wobei die Auszubildenden „alle Arten dieser Praxis“ kennenlernen sollten.161 Die Ausdehnung und qualitative Intensivierung der Aus- und Fortbildungspraxis des Vereins war ein weiteres Resultat der Expansion der Fürsorge für erziehungsschwierige und verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche in der Weimarer Republik. Aufgrund der in seinen eigenen Fürsorge- und Forschungseinrichtungen gesammelten Erfahrungen und unter Nutzung der Kompetenz assoziierter Institutionen wurde der DVFjP mit dem „Seminar für Psychopathenfürsorge und -erziehung“ (so die spätere Bezeichnung)162 zum wichtigsten Anlaufpunkt in Fragen der Ausbildung von Fachpersonal für dieses Spezialgebiet in Berlin. Zugleich strahlte die Ausbildungsexpertise des Vereins in ein zweites, den Berliner Raum überschreitendes Netzwerk aus, in dem sich im Untersuchungszeitraum die neue Wissensordnung „Psychopathenfürsorge“ etablierte.

5.3 Das wissenschaftliche Netzwerk im Deutschen Reich Die Entstehung der Psychopathenfürsorge hatte soziale, epistemologische und institutionelle Voraussetzungen: Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten bei Kindern und Jugendlichen waren bereits vor 1914 als gesellschaftlich relevantes Problem erkannt worden, das sich während und im Gefolge des Ersten Weltkrieges dramatisch verschärfte.163 Das Psychopathiekonzept stellte, im Sinne eines wissenschaftlichen Paradigmas, einen Erklärungsansatz für dieses Problem dar.164 Erst auf dieser Grundlage konnten sich spezialisierte Institutionen in größerer Zahl etablieren, die an konkreten Problemlösungen arbeiteten.165 Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen war Teil eines deutschlandweiten Forschungsnetzwerkes der Psychopathenfürsorge, das in den letzten beiden Kriegsjahren seinen Anfang nahm und in der Weimarer Republik expandierte.

161 162 163 164 165

Leyen 1927b, 466. Leyen 1929a. Vgl. Kapitel 3.3 in diesem Band. Vgl. Kapitel 2.3 und 2.4 in diesem Band. Dörner 1984, 18 f.

5.3 Das wissenschaftliche Netzwerk im Deutschen Reich

233

Forschungsinstitutionen der Psychopathenfürsorge Beratungsstellen Während des Krieges und in der sich anschließenden Krisenzeit stieg die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die wegen auffälligen Verhaltens einer psychiatrischen Untersuchung zugeführt wurden, rapide an. Der Andrang führte in zahlreichen Städten zur Entstehung spezialisierter Beratungsstellen, wobei die Initiative zu ihrer Gründung sowohl vom medizinischen Bereich ausgehen konnte als auch von der privaten Jugendfürsorge oder von den – insbesondere in Großstädten bereits bestehenden – Jugendwohlfahrtsbehörden.166 Die Mehrzahl dieser Beratungsstellen stand unter psychiatrischer Leitung oder zumindest Beratung. So nahm am 15. April 1917 die von August Homburger gegründete heilpädagogische Beratungsstelle Heidelberg ihre Arbeit auf.167 Der Leiter der psychiatrischen Poliklinik an der Heidelberger Universität verlegte die Untersuchung von Kindern und Jugendlichen in besondere Räume der dortigen Universitätskinderklinik unter Ernst Moro (1874–1951). Zugleich beschränkten er und seine Mitarbeiter_innen sich nicht allein auf die medizinisch-diagnostischen Aspekte, sondern versuchten, die zur Beratung erscheinenden Kinder und ihre Eltern auch erzieherisch zu beeinflussen. Sie arbeiteten eng mit den städtischen Jugendfürsorgestellen, Schulen und dem Jugendgericht zusammen. Die Beratungsstelle war zentraler Anlaufpunkt psychiatrischer Begutachtung „schwieriger“ Kinder und Jugendlicher in Heidelberg.168 Während die Heidelberger Beratungsstelle als private Einrichtung aus dem akademischmedizinischen Milieu hervorging,169 lässt sich die ebenfalls im Kriegsjahr 1917 erfolgte Gründung einer sogenannten Jugendsichtungsstelle in Frankfurt am Main auf das Drängen des städtischen Jugendamtes zurückführen.170 Die Leitung übernahm der Ziehen-Schüler Walter Fürstenheim (1879–1967).171 Die Aufgabenstellung der dem Gesundheitsamt zugeordneten 166 167 168 169 170 171

Vgl. Freudenberg 1928, 18–21. Homburger 1924, 264. Homburger 1924 passim. Freudenberg 1928, 22, 27 f. Matron 2012, 71. Fürstenheim hatte nach einer Tätigkeit als Volontärarzt an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité unter Theodor Ziehen schon 1906 in Berlin eine private „medicopädagogische Poliklinik“ gegründet. UAHUB, Charité 246, Bl. 75; Freudenberg, 1928, 18; Fürstenheim 1930, 9. Nachdem er während des Ersten Weltkrieges in verschiedenen Lazaretten tätig war, ließ er sich in Frankfurt am Main nieder, wurde 1917 als zweiter Stadtarzt angestellt und war ab 1922 Stadtmedizinalrat. Im März 1933 wegen seiner „nicht-arischen“ Herkunft beurlaubt und im Oktober desselben Jahres aufgrund des NS-Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums in den Ruhestand versetzt, emigrierte Fürstenheim 1938 nach Großbritannien. 1959 kehrte er nach Frankfurt zurück und erhielt 1966 die

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5. Praxis im Netzwerk

Jugendsichtungsstelle ging über den heilpädagogischen Rahmen hinaus, indem sie auch die „fördernde Beratung des körperlich und geistig gut entwickelten Kindes“ zum Ziel hatte – wahrscheinlich eine Nachwirkung des Kinderforschungsparadigmas aus dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts.172 Dennoch waren auch hier etwa 60 Prozent „der zur Untersuchung kommenden Kinder körperlich oder intellektuell geschädigt, die übrigen fast alle nervös, schwer erziehbar, verwahrlost, kriminell, also irgendwie auffällig“.173 In den folgenden Jahren entstanden ähnliche Einrichtungen in öffentlicher, privater oder gemischter Trägerschaft überall in Deutschland, vorrangig im urbanen Kontext.174 Das durch Krieg und Nachkrieg hervorgerufene Problem der Zunahme von Erziehungsschwierigkeiten und auffälligem Verhalten veranlasste Akteur_innen aus Medizin, Jugendfürsorge und Pä­ dagogik zunächst auf lokaler Ebene zum Handeln. Die heilpädagogischen Beratungsstellen in den Städten bildeten dabei den Mittelpunkt lokaler Netzwerke der Psychopathenfürsorge mit offenen, halboffenen und geschlossenen Betreuungsformen.175 Die Gründung der Beratungsstelle für Heilerziehung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen in Berlin, die am 1. Mai 1919 ihre Tätigkeit aufnahm, ordnet sich in diese Entwicklung ebenso ein wie die vier Jahre später vollzogene Etablierung entsprechender Stellen bei den Bezirksjugendämtern der Reichshauptstadt.176 Während in Berlin der maßgebliche Anteil des Vereins an diesem Prozess erkennbar ist,177 lässt sich für die Neugründungen im Reich im Einzelnen kaum rekonstruieren, ob und in welchem Maß sie unter dem Einfluss des DVFjP standen. In den verschiedenen Gründungsgeschichten wird nicht explizit darauf eingegangen, ihre Veröffentlichung in der Zeitschrift für Kinderforschung zeigt jedoch, dass in der Regel schnell der Kontakt zum Fachverband für Psychopathenfürsorge gesucht wurde.178

Ehrenplakette der Stadt. Matron 2012, 127–129. 172 Freudenberg 1928, 26. Vgl. die Ausführungen in diesem Band, S. 38 f. Fürstenheim war offenbar Anhänger der Idee einer Wissenschaft vom Kind (Pädologie). Vgl. Fürstenheim 1910, 141, 147. 173 Freudenberg 1928, 26. Zur Praxis der Jugendsichtungsstelle vgl. Fürstenheim 1926, passim sowie Matron 2012, 199–305. 174 So in Leipzig (1918), Breslau, Dortmund, Frankfurt am Main (an der Universitätsnervenklinik), Lübeck, Mannheim, Wiesbaden (1921), Karlsruhe, Kiel, Köln, Krefeld (1922), Bonn, Chemnitz, Nürnberg (1923), Bielefeld, Freiburg i.Br., Hamburg, Stuttgart (1925), Dresden, München (1926), Hannover, Mainz (1927) und Halle/Saale (spätestens 1926). Vgl. Mainzer 1923; Thumm 1924; Leyen 1926c; Gemeinschaft für heilpädagogische Arbeit in München. (1926); Freudenberg 1928, 24–29; Marcuse 1928, Leyen 1927a, 319, 322, 323; Leyen/Marcuse 1928, 475, 478, 480, 482, 483, 485, 486, 490, 491. 175 Marcuse 1928, 522. 176 Leyen 1927a, 318. 177 Zur Entwicklung der Beratungsstellen in den Berliner Bezirksjugendämtern vgl. in diesem Band, S. 213. 178 Vgl. etwa Mainzer 1923; Thumm 1924.

5.3 Das wissenschaftliche Netzwerk im Deutschen Reich

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Zusätzlich zu ihrem praktisch-fürsorgerischen Zweck hatten die heilpädagogischen Beratungsstellen den Charakter von „Forschungsinstituten“.179 Da das Psychopathieparadigma mit der grundsätzlichen Annahme verbunden war, auffälliges Verhalten sei anlagebedingt, war die Ursachenforschung weitgehend zur Aufgabe der Medizin geworden.180 Das erklärt den pädiatrischen wie auch vor allem den starken psychiatrischen Einfluss auf diese Institutionen der Jugendfürsorge.181 Hier wurde, durch die ärztliche Bewertung und Sortierung der verschiedenen Störungssymptome bei den vorgestellten Kindern, der größte Teil des „Untersuchungsmaterials“ gewonnen. Es war weitgehend unstrittig, dass die genauere Erforschung psychopathischer Konstitutionen einen längeren Aufenthalt der ausgewählten Kinder auf einer psychiatrischen Beobachtungsstation zur Voraussetzung hatte.182 Psychiatrische Beobachtungsstationen Beobachtungsstationen hatten in der Psychopathenfürsorge verschiedene Funktionen, die sich in der Regel überlagerten. Zunächst gab es die mit der Fürsorgeerziehung verbundenen Einrichtungen, deren vorrangige Aufgabe meist schon in ihrem Namen zum Ausdruck kam: „Beobachtungs- und Verteilungsheim“, „Landesaufnahme- und Verteilungsheim“ oder „Aufnahme- und Beobachtungsheim“.183 Sie dienten dazu, anhand des festgestellten Störungsbildes die „richtige“ Art der Unterbringung verhaltensauffälliger Fürsorgeerziehungszöglinge auszuwählen. Dabei stand eher das institutionelle Interesse im Vordergrund, also die Frage, in welchem Fürsorgeerziehungsheim sich das jeweilige Kind bzw. der/die Jugendliche am besten in die Anstaltsdisziplin einfügen würde; ein reibungsloses Sich-Einfügen interpretierte man als erzieherischen Erfolg. Beobachtungsheime dieser Art hatten zwar vorrangig eine organisatorische Funktion, daneben spielten Forschungsaspekte aber durchaus auch eine Rolle.184 Umgekehrt war das Verhältnis zwischen Forschungs- und Verteilfunktion in den psychiatrischen Beobachtungsstationen, die nach dem Ersten Weltkrieg an verschiedenen Universitätsnervenkliniken gegründet wurden.185 Hier stand die Suche nach den Ursachen psychischer 179 Freudenberg 1928, 14. 180 Vgl. Kölch 2006, 33 ff. 181 Nicht betrachtet werden hier Beratungsstellen, die einen psychoanalytischen oder individualpsychologischen Hintergrund hatten. Anders als etwa in Österreich gewannen diese Konzepte keinen wesentlichen Einfluss auf die staatliche bzw. kommunale Jugendfürsorge. Vgl. Freudenberg 1928, 33–41. 182 Leyen 1921, 95. 183 Leyen/Marcuse 1928, 473. 184 Vgl. etwa die Artikel von Gregor in der ZfK über Beobachtungen an Zöglingen der badischen Fürsorgeerziehungsanstalten. Gregor 1925; 1926; 1928. 185 Ruth von der Leyen differenzierte Beobachtungsstationen danach, ob „mehr der klinisch-wissen-

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5. Praxis im Netzwerk

Störungen von Kindern und Jugendlichen im Mittelpunkt der Beobachtung, die Zuweisung an geeignete Betreuungseinrichtungen basierte auf den gewonnenen Erkenntnissen, war aber nicht Hauptzweck. Die erste, ausdrücklich für die Forschung gegründete Station im universitären Bereich war die Kinderabteilung der Universitätsklinik für Gemüts- und Nervenkrankheiten in Tübingen. Initiiert wurde sie von Robert Gaupp (1870–1953), seit 1906 Direktor der Klinik. Er hatte schon frühzeitig ein besonderes Interesse an der Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters gezeigt und 1908 als erster deutscher Hochschulpsychiater eine „Psychologie des Kindes“ veröffentlicht.186 Ab 1913 wurde in Tübingen eine Vorlesungsreihe über die Psychopathologie des Kindesalters durch seinen Mitarbeiter Alfred Werner Busch gehalten. Spätestens seit 1912 wollte Gaupp eine Beobachtungsstation für Fürsorgezöglinge an seiner Klinik einrichten. Nachdem seine Bestrebungen zunächst keinen Erfolg hatten, modifizierte er 1917 die Idee dahingehend, nun auch eine Behandlungsabteilung unter der Bezeichnung „Heim für nervöse und seelisch gefährdete Kinder“ zu eröffnen. In dieser Form wurde die Kinderabteilung ab 1919 zunächst als Provisorium in Klinikräumen und ab dem 1. Juli 1920 dauerhaft in einer früheren Privatvilla in Kliniknähe realisiert. Die 30 Betten der Abteilung waren auf zehn Krankenzimmer verteilt, die Kinder wurden von fünf an der Universitätsnervenklinik ausgebildeten Diakonissen betreut.187 Die Leitung der Station lag in den Händen Werner Villingers.188 Nachdem 1921 die Kinder-Kranken- und Beobachtungsstation an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité gegründet worden war, folgte vier Jahre später eine Beobachtungsabteilung für jugendliche Psychopathen bei der Leipziger Universitätsnervenklinik unter Paul Schröder, die von Hans Heinze (1895–1983) geleitet wurde.189 Die Abteilung umfasste zunächst 20 Plätze nur für Jungen, 1928 oder 1929 wurde eine gleichgroße Abteilung für Mädchen eingerichtet. Die Beobachtungsabteilungen waren in zwei Steinbaracken abseits der übrigen Klinikgebäude untergebracht.190 Zum Personal gehörte auf jeder Abteilung eine Jugendleiterin, die für die pädagogische Seite der Betreuung verantwortlich war, bei den Jungen außerdem zwei Hortnerinnen, ein Wohlfahrts- und ein Krankenpfleger sowie ein Praktikant, bei den Mädchen vier Hortnerinnen und eine Kran-

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schaftliche oder der praktische Gesichtspunkt der zweckmäßigen Unterbringung im Vordergrund stehen.“ Leyen 1930c, 574. Castell et. al. 2003a, 23–25 Villinger 1923, 130; Castell et. al. 2003a, 28; Leyen/Marcuse 1928, 490. Vgl. Holtkamp 2002; Schmuhl 2002; Castell et. al. 2003d. Leyen 1927a, 324. Schröder war, von Greifswald kommend, zum 1.04.1925 auf den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie der Universität Leipzig berufen worden. Thüsing 1999, 13. Schröder/Heinze 1928, 192; Schweitzer 1933, 107; Thüsing 1999, 21.

5.3 Das wissenschaftliche Netzwerk im Deutschen Reich

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kenschwester. Der Tagesablauf auf den Abteilungen war an den eines Heilerziehungsheims angelehnt, tagsüber wurden Beschäftigungen wie in einem Kindergarten oder Hort angeboten oder Zeit zum „Freispiel“ gegeben. Beschäftigungen und Spiele boten zusätzliche Gelegenheiten für Verhaltensbeobachtungen durch die Betreuer_innen. Um zu möglichst unverfälschten Ergebnissen zu gelangen, sollte eine ungezwungene, „familiennahe“ Atmosphäre den Kindern „das Gefühl des Beobachtetseins“ nehmen. Das pädagogische Personal verfasste Tagesberichte über einzelne Patient_innen, die bei „gemeinsamen Besprechungen mit dem Arzt als Unterlagen“ dienten.191 Mit ihrer Interdisziplinarität und dem angestrebten Heimcharakter ähnelten die Leipziger Beobachtungsabteilungen der Kinderbeobachtungsstation an der Charité. Es gab jedoch signifikante Unterschiede zwischen beiden Forschungsinstitutionen, so ihre Größe und die in Leipzig praktizierte Geschlechtertrennung. Nicht auf den ersten Blick sichtbar war die unterschiedliche Organisationsform und die daraus resultierende Stellung des pädagogischen Personals: Während die Berliner KBS eine Einrichtung des DVFjP mit eigenem Personal in den Räumen der Psychiatrischen Universitätsklinik war, waren die Leipziger Abteilungen vom Leiter der Universitätspsychiatrie gegründet worden, die pädagogischen Fachkräfte also Angestellte der Klinik. Zwar unterstand auch in Berlin das pädagogische Personal den Entscheidungen des Stationsarztes, aber die besondere Trägerkonstruktion implizierte von vornherein eine selbständigere Position der Erzieherin und die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit dem Psychiater.192 Der größte Unterschied betraf die wissenschaftliche Ausrichtung der Stationen: Die Leipziger Einrichtungen waren ihrem Selbstverständnis nach „charakterologische Forschungsabteilungen der Klinik“.193 Hier wird der maßgebliche Einfluss Schröders deutlich, der sich unter einem eigenen theoretischen Blickwinkel mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen beschäftigte. Er und sein Schüler Heinze gingen von der Annahme aus, es gäbe elementare und einheitliche Seiten und Richtungen des Seelischen, wie Intellekt, Gemüt oder Halt, in jeweils gegebenen – also angeborenen und nicht veränderbaren – Quantitäten und Verhältnissen zueinander.194 Ziel der Forschungsarbeit war es demzufolge, den Anteil dieser kleinsten, nicht mehr teilbaren seelischen „Radikale“ an der Formung eines konkreten Charakters zu ergründen und daraus die notwendige erzieherische Behandlung abzuleiten. „Wir halten unsere Art, Charakterologie der Jugendlichen mit Methoden zu treiben, die der Klinik entlehnt sind, für ein grundlegendes Forschungsgebiet aller Pädagogik und für eine 191 192 193 194

Schweitzer 1933, 108–112. Vgl. Leyen 1931, 653. Vgl. in diesem Band, S. 119–128. Schweitzer 1933, 107. Schröder 1931, 7.

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ihrer Voraussetzungen“, postulierten Schröder und Heinze.195 Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten bei Kindern und Jugendlichen seien zwar nur ausnahmsweise auf psychische Krankheiten zurückzuführen, aber zu einem „gewiß großen Prozentsatz Folge andersartiger, abartiger charakterologischer Veranlagung“, ihre Erforschung mithin Aufgabe des „psychiatrisch geschulte[n] Arzt[es]“.196 Die deduktive, von einer wissenschaftlichen Theorie ausgehende Herangehensweise wirkte sich auch auf die Beobachtung in den Leipziger Kinderabteilungen aus. In einem beschreibenden Text einer der beiden Jugendleiterinnen wird an mehreren Stellen auf die theoretische Grundlage der Einrichtung verwiesen, die dort beschäftigten Erzieher_innen fokussierten ihre Beobachtung und Beurteilung der Kinder auf den Charakter, „die seelischen Seiten im Sinne Schroeders“.197 Aus dem ermittelten – stärkeren oder schwächeren – Vorhandensein einzelner Seiten des Seelischen wurde dann auf die Art der Abwegigkeit geschlossen, die ausschlaggebend für die Prognose der Möglichkeiten erzieherischer Einwirkung war. Diese konnte sich in einem Spektrum der Beeinflussbarkeit bewegen, das von „gut“ über „gering“ bis zu „unbeeinflussbar“ reichte. Für die so bewerteten Kinder und Jugendlichen sollten dann spezielle Maßnahmen, bis hin zur Unterbringung der „Unbeeinflussbaren“ in Verwahranstalten, greifen.198 Neben den kinderpsychiatrischen Stationen in Tübingen, Berlin und Leipzig existierten noch weitere universitäre Einrichtungen dieser Art: Die bereits 1906 unter Emil Sioli erfolgte Eröffnung einer psychiatrischen Kinderabteilung in Frankfurt am Main stand zunächst noch im Kontext der städtischen Heil- und Pflegeanstalt und hatte vorrangig eine Versorgungsund Verteilfunktion.199 Erst durch die Universitätsgründung im Jahr 1914 wurde sie in eine akademische Einrichtung umgewandelt und Forschungsaspekte rückten stärker in den Vordergrund.200 Auch die vor 1922 von Wilhelm Weygandt in der Hamburger Staatskrankenanstalt Friedrichsberg gegründeten Einrichtungen für Kinder und Jugendliche erhielten mit der Universitätsgründung von 1919 einen akademischen Status. Weygandts Forschungsinteresse galt jedoch vorrangig dem „jugendlichen Schwachsinn“; sein Kontakt zur Psychopathenfürsorge war offenbar wenig ausgeprägt.201 195 Schröder/Heinze 1928, 192. 196 Schröder/Heinze 1928, 189 f. 197 Schweitzer 1933, 110. 198 Schröder/Heinze 1928, 191. 199 Vgl. Scholz 1912, 403; Keim 1999, 19. 200 Vgl. etwa Hahn 1926. 201 Vgl. Rautenberg/Gerhardt 1922; Weygandt 1922; Weber-Jasper 1996, 159. Die – u. a. von Nissen 2005, 503 erwähnte – Gründung einer psychiatrischen Kinderstation an der Universität Heidelberg durch

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In die Reihe der zeitgenössischen psychiatrischen Forschungsstationen zum Komplex psychopathisches Kind gehört auch die Provinzial-Kinderanstalt für seelisch Abnorme in Bonn. Ihr Gründer, Otto Löwenstein (1889–1965), konzipierte sie als (kinder-)psychiatrische Klinik, in der „mit den Mitteln klinischer und psychopathologischer Diagnostik […] die Natur einer vorliegenden Krankheit klargestellt und […] die Mittel zu ihrer Behandlung angegeben werden“ sollten.202 Diese Sichtweise teilte auch der DVFjP, der die Aufgabe der Einrichtung trotz der Bezeichnung „Anstalt“ mit der einer klinischen Beobachtungsstation gleichsetzte. 203 Obwohl Psychopathie unter den in Bonn erstellten Diagnosen nur einen relativ kleinen Anteil von weniger als 25 Prozent ausmachte,204 dürfte – aufgrund von zunächst 60, später 80 Betten – die Zahl der entsprechend diagnostizierten Kinder und Jugendlichen nicht geringer gewesen sein als in der Berliner KBS. Löwenstein verwendete in der Provinzial-Kinderanstalt getätigte Beobachtungen 1932 für sein Referat bei einer heilpädagogischen Konferenz des DVFjP zum Thema Schule und Psychopathie.205

Instrument der Netzwerkarbeit: Die Zeitschrift für Kinderforschung Um ein stabiles wissenschaftliches Netzwerk der im Deutschen Reich entstandenen Forschungsinstitutionen der Psychopathenfürsorge zu schaffen, bedurfte es eines „formellen Kommunikationssystems“, d. h. vor allem einer wissenschaftlichen Zeitschrift, „die bestimmte, der […] disziplinären Tradition folgende wissenschaftliche Normen“ einhielt.206 Der noch nicht abgeschlossene Prozess der Konstituierung als eigenständige Wissenschaftsdisziplin zeigt sich auch darin, dass es die Zeitschrift für Kinderforschung war, die zum einschlägigen Publikationsorgan der Psychopathenfürsorge wurde: Unter Beibehaltung des Namens dieses früheren „Science Building“-Projektes, und unter Anknüpfung an dessen wesentliche Tradition der Interdisziplinarität,207 bot das Blatt die Möglichkeit, aus den BeiträAugust Homburger konnte durch die Quellen nicht belegt werden. Wir danken Stefan Wulf und Maike Rotzoll für die entsprechenden Hinweise zu Hamburg und Heidelberg. 202 Löwenstein 1931 zit. n. Waibel 2000, 129. Zur Biographie Löwensteins, der Entstehung und dem Selbstverständnis der Provinzial-Kinderanstalt vgl. Waibel 2000 passim. 203 Heilpädagogische Bestrebungen (1927). ZfK 33.1: 113. Als ein Unterscheidungsmerkmal zu „Anstalten“ im herkömmlichen Sinne wurde auch die angestrebte Aufenthaltsdauer von höchstens drei Monaten angesehen. Vgl. auch Leyen 1927a, 319 und Leyen/Marcuse 1928, 479. 204 Waibel 2000, 137. Der Mehrheit der aufgenommenen Kinder und Jugendlichen wurden geistige Beeinträchtigungen attestiert. Die bei Waibel angegebenen Zahlen beziehen sich allerdings nur auf die Jahrgänge 1926/27 (August bis März) und 1928/29 (April bis März). 205 Löwenstein 1933. 206 Fangerau 2009, 220. 207 Vgl. die Ausführungen zur Kinderforschung in diesem Band, S. 40.

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gen unterschiedlicher fachlicher Herkunft einen spezifischen wissenschaftlichen Diskurs über verhaltensauffällige und erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche zu formieren. In engem Zusammenhang damit stand die Durchführung von Fachtagungen und Konferenzen. Sie boten als „temporäre Netzknoten“ Möglichkeiten des Wissenstransfers und Gedankenaustauschs der daran teilnehmenden Mitglieder der Wissensordnung. Durch die Publikation von Vorträgen und Tagungsberichten in der Zeitschrift für Kinderforschung nahmen sie Einfluss auf die fachspezifische Diskussion über den Kreis der Teilnehmenden hinaus.208 Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen und seine Akteur_innen erwiesen sich als wichtigste Organisatoren des formellen Kommunikationssystems. Die Netzwerkarbeit war insbesondere für Franz Kramer und Ruth von der Leyen jedoch kein Selbstzweck. Vielmehr waren sie bestrebt, ihre Auffassungen zum Psychopathiekonzept und zur Gestaltung der Fürsorge in die Wissensordnung einzuspeisen. Neuorganisation der Zeitschrift für Kinderforschung Die Zeitschrift für Kinderforschung war bereits vor dem Ersten Weltkrieg wichtiges Organ für die sich etablierende Wissensordnung über psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Aufgrund des Scheiterns der „Jenaer Richtung“ der Kinderforschung, verschärft durch die Auswirkungen des Krieges und den Tod Johannes Trüpers, befand sich das Blatt jedoch zu Beginn der 1920er Jahre in einer inhaltlichen und organisatorischen Krise.209 Wenn sich auch aufgrund der Quellenlage die Vorgänge um den Wechsel der Herausgeberschaft der Zeitschrift ab dem Jahrgang 1923 nicht mehr bis ins Detail rekonstruieren lassen, so ist doch erkennbar, dass die Initiative dazu vom Berliner Kreis des DVFjP ausging. Friedrich Siegmund-Schultze hatte schon im Zusammenhang mit der Gründung des Vereins im Jahr 1918 Kontakt zu Trüper aufgenommen. Dieser konnte für den Vereinsbeirat gewonnen werden und überließ der Geschäftsführung Mitgliederlisten des früheren Vereins für Kinderforschung, auf deren Grundlage gezielte Werbung für den DVFjP betrieben wurde.210 Schließlich stellte Trüper das erste Heft des Jahrgangs 1920 der ZfK für die Publikation der Vorträge und Diskussionen bei der Tagung über Psychopathenfürsorge vom Oktober 1918 zur Verfügung.211 Auf der Grundlage dieser Beziehungen fand dann offenbar auch die Übergabe der Zeitschrift an die neuen Herausgeber_innen und den neuen Verlag statt.212 Der Verein 208 Vgl. Fangerau 2009, 216 f. 209 Vgl. die Ausführungen in diesem Band, S. 42. 210 EZA, Bestand 626, Nr. 51 W IV b, Trüper an Siegmund-Schultze, 09.11. und 11.11.1918; DVFjP an Trüper, 21.12.1918; Leyen: Entwurf zur Mitgliederwerbung für den DVFjP, [1919], alles o. Bl. 211 EZA, Bestand 626, Nr. 51 W IV a, Trüper an Leyen, 30.12.1918, o. Bl. 212 Vgl. dazu auch Schotte 2010, 317.

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verfügte damit ab dem fünften Jahr seines Bestehens über ein renommiertes Fachblatt, über das er die Inhalte seines Wirkens verbreiten konnte. Jedoch dürfte von vornherein klar gewesen sein, dass die Beschränkung auf den Themenkreis Psychopathenfürsorge den recht großen Leserkreis bald reduzieren würde. Es war daher eine strategisch weitsichtige Entscheidung, das Blatt nicht nur als Organ des DVFjP herauszugeben, sondern sich einen inhaltlich breiter aufgestellten Partner mit „ins Boot zu holen“. Dieser bot sich in Gestalt der Gesellschaft für Heilpädagogik geradezu an. Die Gesellschaft war im Zusammenhang mit dem Ersten Kongress für Heilpädagogik, der vom 2. bis 5. August 1922 in München stattgefunden hatte, gegründet worden.213 Sie verstand sich als „außerhalb jeder Standesvereinigung“ stehend und wollte, vor allem über die regelmäßig alle zwei Jahre durchzuführenden Kongresse, „die Interessenten aus den verschiedenen Berufen zusammenführen und […] jeweils über den neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung und der allgemeinen Fortschritte auf dem Gesamtgebiet der Heilpädagogik orientieren“.214 Adressat_innen waren außer Heilpädagogen im engeren Sinne, wie Hilfsschul-, Taubstummen- und Blindenlehrer sowie Erzieher_innen in Heilerziehungsheimen, auch Ärzte, Psychologen, Lehrer, Geistliche und Jugendrichter, also das breite Berufsspektrum, an das sich die Zeitschrift für Kinderforschung schon immer gewendet hatte. Ein Zugeständnis an die größere und ein breiteres Themenfeld abdeckende heilpädagogische Gesellschaft war sicher, dass Max Isserlin das programmatische Vorwort und den ersten inhaltlichen Beitrag des ersten Heftes lieferte.215 Entscheidender für die weitere Geschichte der erneuerten Zeitschrift war aber, dass Ruth von der Leyen als Schriftleiterin das Gros der redaktionellen Arbeit übernahm.216 Das äußere Erscheinungsbild der ZfK war gegenüber den älteren Ausgaben noch weiter versachlicht worden, inhaltlich wurde sie jetzt in zwei Abteilungen gegliedert. Die „Originalien“ und die „Referate“ besaßen jeweils ein eigenes Titelblatt, eine eigene Seitenzählung pro Jahrgang und ein eigenes Register.217 Als Geschäftsführerin des DVFjP legte Ruth von der Leyen – die Funktion der Zeitschrift als Vereinsorgan nutzend – mehrmals in längeren Texten 213 Goepfert 1923. 214 Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin Bd. 78, Nr. 3/4, S. 285 (Kleinere Mitteilungen: I. Kongreß für Heilpädagogik.). 215 Isserlin 1923a, 1923b. Zur Zusammensetzung des Herausgeber_innen-Kollegiums vgl. in diesem Band S. 108 f. 216 Andreas Möckels Aussage, Isserlin hätte die Redaktion der Zeitschrift für Kinderforschung übernommen und „sie zu einer Zeitschrift der Kinderpsychiatrie“ gemacht, gibt weder die redaktionelle Aufgabenverteilung noch – wie sich im Weiteren zeigen wird – die inhaltliche Ausrichtung der ZfK zutreffend wieder. Möckel 2007, 182. 217 Zum strukturellen Aufbau der neu organisierten ZfK vgl. Hagelskamp 1988, 12A–13A.

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Rechenschaft über die Tätigkeit des Vereins ab und verknüpfte diese Berichte mit Überlegungen zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Arbeit.218 Knotenpunkt Zeitschrift für Kinderforschung Für die Netzwerkfunktion im engeren Sinne waren die Informationsrubriken der Zeitschrift für Kinderforschung, die sich im Originalienteil an die inhaltlichen Beiträge anschlossen, von besonderer Bedeutung. Hier spiegelte sich die Organisationsstruktur der Psychopathenfürsorge in Deutschland und ihre Entwicklung unmittelbar wider. Die hierfür notwendige Arbeit des Sammelns von relevanten Informationen und ihrer publizistischen Aufbereitung leistete wiederum hauptsächlich Ruth von der Leyen.219 Ankündigungen und Programme von sowie Berichte über Veranstaltungen, Gesetzestexte und Verordnungen, Rechenschaftsberichte und Meldungen über neueste Entwicklungen zeugen von dem breiten institutionellen Spektrum dieses Fürsorgebereichs von städtischen Beratungsstellen über Beobachtungsstationen und Heilerziehungsheime bis hin zu nationalen Fachorganisationen, deren Arbeitsgebiete Berührungspunkte zum Thema „verhaltensauffälliges Kind“ boten. Im Zuge der Arbeit an dem Ausstellungsmodul „Fürsorge für psychopathische Kinder und Jugendliche“ bei der GeSoLei wandte sich Ruth von der Leyen ab 1925 an verschiedene private, konfessionelle und öffentliche Fürsorgeträger auf Reichs-, Länder- und kommunaler Ebene, um Informationen für eine Zusammenstellung der in Deutschland existierenden „Unterbringungsstätten“ der Psychopathenfürsorge zu erhalten.220 Das gesammelte Material wurde im darauffolgenden Jahr in Düsseldorf in Form einer Übersichtskarte präsentiert.221 Ziel der Darstellung, so von der Leyen in ihrem entsprechenden Bericht in der ZfK, sei weniger gewesen, den bereits erreichten Versorgungsgrad an Unterbringungsmöglichkeiten zu zeigen, als vielmehr „darauf hinzuweisen, wie viel Stätten geschaffen werden müßten, um den Anforderungen zu genügen“.222 Zugleich bat sie um Zusendung weiterer bzw. aktuellerer Informationen, um einen vollständigen Überblick gewinnen zu können. Im Ergebnis veröffentlichte sie 1927 und 1928 (in diesem Jahr gemeinsam mit Dora Marcuse) jeweils ein Verzeichnis 218 Leyen 1923b, 1926f, 1927c., 1931. 219 Vgl. die einschlägigen Jahrgänge der ZfK. In den vier Rubriken „Tagungen“, „Gesetzgebung“, „Ausbildung“ und „Heilpädagogische Bestrebungen“ finden sich zahlreiche kürzere und längere Texte, die mit von der Leyens Namen gekennzeichnet sind, daneben unbezeichnete Meldungen, die vermutlich ebenfalls zum großen Teil von ihr stammen. 220 Zur GeSoLei vgl. in diesem Band, S. 109. 221 Leyen 1926e, 81 f. 222 Leyen 1926e, 82.

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der „Stätten für Beratung, Beobachtung und Unterbringung psychopathischer Kinder und Jugendlicher“ in der ZfK.223 Diese umfassende Bestandsaufnahme der „praktischen Psychopathenfürsorge“ sollte als Übersicht über deren historische Entwicklung, über die darin „tätigen Persönlichkeiten“ und über die „vorhandenen Möglichkeiten der Beratung, Beobachtung und Unterbringung psychopathischer Kinder und Jugendlicher“ dienen.224 In der Erstauflage wurden 80, in der überarbeiteten Fassung von 1928 dann 113 Institutionen aufgeführt, wobei manche noch weiter untergliedert waren. Dem Verzeichnis konnten die Art und der Träger der jeweiligen Einrichtung, die Ausbildung der Leiter_innen und Erzieher_innen sowie die Zahl der vorhandenen Betreuungsplätze entnommen werden. Ruth von der Leyen warnte jedoch davor, das Verzeichnis quasi als „Adressbuch“ für die Suche nach geeigneten Unterbringungsmöglichkeiten für verhaltensauffällige Kinder zu benutzen und allein auf dieser Grundlage Entscheidungen zu treffen. „Vom Standpunkt des unterzubringenden Kindes aus gesehen“ dürfe die Auswahl eines Heims nur erfolgen, wenn es, „möglichst auf Grund persönlicher Kenntnis [der/des Überweisenden] […] für dieses besondere Kind geeignet“ erscheine. Im Übrigen bestünde nur unter Berücksichtigung der Eigenart des Kindes, seiner bisherigen Erziehungseinflüsse und seiner konkreten Erziehungsschwierigkeiten überhaupt Aussicht auf eine erfolgreiche Einflussnahme in der Heim-Heilerziehung.225 Neben den institutionellen Überblicksdarstellungen wurden in der ZfK auch Verzeichnisse der in Deutschland stattfindenden universitären Lehrveranstaltungen über Jugendwohlfahrt, Fürsorgewesen, Heilpädagogik und Psychiatrie, die sich direkt oder mittelbar mit verhaltens­ auffälligen Kindern und Jugendlichen befassten, veröffentlicht.226 Damit wurde das Netzwerk der „praktischen Psychopathenfürsorge“ gewissermaßen mit einem wissenschaftlichen Netzwerk verknüpft. Dieses konstituierte sich des Weiteren über eine Reihe von Fachtagungen und Konferenzen. Knotenpunkte Tagungen und Konferenzen Die Fäden für die Organisation wissenschaftlicher Konferenzen zur Psychopathenfürsorge liefen bei der Geschäftsführung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, d. h. ebenfalls Ruth von der Leyen, zusammen. Das Bestreben nach Vernetzung kommt auch darin zum Ausdruck, dass mehrere dieser Treffen gemeinsam mit anderen 223 224 225 226

Leyen 1927a; Leyen/Marcuse 1928. Leyen/Marcuse 1928, 468. Leyen 1927a, 313 f. Leyen 1926e, 83–88; Paquin 1928.

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Fürsorgeverbänden durchgeführt wurden. So war auch die erste Konferenz, die der Verein etwa zweieinhalb Jahre nach seiner Gründung veranstaltete, ein Gemeinschaftsprojekt: Mitveranstalter der „Zweiten Tagung über Psychopathenfürsorge“ am 17. und 18. Mai 1921 in Köln war der Allgemeine Fürsorgeerziehungstag (AFET).227 Die 1906 gegründete Dachorganisation vertrat die „verbandlichen Träger und professionellen Mitarbeiter der offenen und anstaltlichen Fürsorge“.228 Bereits im September 1920 war Ruth von der Leyen in den Gesamtausschuss des AFET gewählt worden und hatte dort offenbar auch die Vorbereitung der gemeinsamen Tagung unter dem Thema „Heilbehandlung und Erziehung psychopathischer Kinder und Jugendlicher mit besonderer Berücksichtigung der Fürsorgeerziehung“ vorangetrieben.229 Die Veranstaltung reflektierte die gewachsene Bedeutung der Medizin innerhalb des Wissensgebietes, indem „der Arzt“ und sein Verhältnis zur offenen Fürsorge am ersten und zur Fürsorgeerziehung am zweiten Konferenztag im Mittelpunkt der Beratungen standen. Franz Kramer hielt zum ersten Schwerpunkt das Grundsatzreferat über „Die wechselseitige Zusammenarbeit zwischen Psychiater und Jugendwohlfahrtspflege in Ermittlung und Heilerziehung“ – ein Schlüsseltext zum Verständnis der interdisziplinären Kooperation in dem Berliner Forschungskomplex des DVFjP.230 Lotte Nohl und Margarete Dittmer berichteten aus der Fürsorgepraxis für psychopathische Kinder in Berlin.231 Da die Zeitschrift für Kinderforschung zu diesem Zeitpunkt noch nicht Vereinsorgan des DVFjP war, findet sich dort nur die Tagungsankündigung.232 Eine zwei Jahre später stattfindende Veranstaltung des Vereins in Thale am Harz wurde bereits ausführlich in der ZfK referiert.233 Diese sogenannte I. Konferenz – später wurde das Format als „Sachverständigenkonferenz“ bezeichnet – hatte zwei thematische Schwerpunkte: „Zeitgemäße Ausgestaltung der Heim- und Anstaltserziehung mit besonderer Berücksichtigung der jugendlichen Psychopathen“ sowie „Ausbildungsfragen für Mitarbeiter in der Erziehungsfürsorge“. Adalbert Gregor, Direktor der Badischen Fürsorgeerziehungsanstalt

227 Mitveranstalter der Tagung waren ebenfalls die Ausschüsse für Gesundheit sowie für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge (DZJ). Die Erwähnung der DZJ war jedoch vermutlich nicht mehr als eine Reminiszenz an die ‚Mutterorganisation“ des DVFjP, die schon wenig später (1923) ihre Tätigkeit einstellte. Vgl. Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen 1921. 228 Peukert 1986, 135. 229 Leyen 1931, 640, Fußnote 1; LAB, B Rep. 042, Nr. 26272, Bl. 43 a. 230 Kramer 1921a. Vgl. hierzu in diesem Band, S. 173–194. 231 Stier 1922. 232 N. N. 1922a. 233 Hier und nachfolgend Leyen 1923e.

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Flehingen, sprach zum ersten, und der Psychiater Rudolf Redepennig (geb. 1883), Direktor der Provinzialerziehungsanstalt in Göttingen, zum zweiten Thema. Adressat_innen der beiden Referate waren in erster Linie Vertreter_innen von „Reichs-, Staats-, Landes- und Provinzialbehörden“, die die Veranstaltung besuchten.234 Zum zweiten Themenkomplex regte Friedrich Siegmund-Schultze, der die Konferenz leitete, die Einberufung einer „Kommission zur Durchberatung von Ausbildungsfragen“ an.235 Am Rand der Tagung fand auch die Mitgliederversammlung des DVFjP statt, bei der Gregor an Stelle des bereits 1921 verstorbenen Albert Levy zum 2. Vorsitzenden des Vereins gewählt wurde.236 Ganz im Sinne der Netzwerkstrategie des Vereins wurden Maria Keller (Lebensdaten unbekannt), Leiterin der gastgebenden Wohlfahrtsschule in Thale, und Wilhelm Polligkeit (1876–1960) aus Frankfurt am Main, einflussreicher Geschäftsführer und Vorsitzender des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, in den Beirat des DVFjP gewählt.237 Die von Siegmund-Schultze vorgeschlagene Kommission tagte als „Konferenz zur Vorbereitung von Ausbildungsfragen“ am 19. Oktober 1923 in Berlin. Vertreten waren auf ihr, neben der Leitung des DVFjP, das Reichsministerium des Inneren, das Reichsgesundheitsamt und das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt. In sechs Vorträgen, gehalten von Gregor, Kramer, von der Leyen, Francke, dem führenden Universitätspädagogen Herman Nohl (1879–1960) aus Göttingen238 und dem Kriminologen Walter Herrmann (1896–1972) aus Hamburg,239 wurden den Ministerialbeamten Notwendigkeit und Anforderungen einer 234 235 236 237 238

Leyen 1923e, 206. Leyen 1923e, 211. Vgl. in diesem Band, S. 100. Leyen 1923 f. Zu Polligkeit vgl. Rudloff 2001. Nohl, ein Stiefbruder Lotte Nohls, studierte 1898–1904 in Berlin Philosophie, Geschichte und deutsche Literatur. 1907 zog er nach Jena, wo er sich habilitierte und als Privatdozent an der Universität tätig war. Dort kam er in Kontakt mit der Jugendbewegung und Reformpädagogik. Anfang 1920 erhielt Nohl in Göttingen eine Professur und 1922 den neu geschaffenen Lehrstuhl für Pädagogik. Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes und des Jugendgerichtsgesetzes vertrat er „eine auf Zuwendung, Unterstützung und Resozialisierung gerichtete sozialpädagogische Position“. Zusammen mit Ludwig Pallat gab Nohl das fünfbändige Handbuch der Pädagogik heraus, in dem Ruth von der Leyen und Rudolf Thiele die Beiträge zum Psychopathiekomplex übernahmen. Nohls Verhältnis zum NS-Regime nach 1933 war ambivalent: Er begrüßte die ‚Machtergreifung‘ als Chance zur Verwirklichung seiner völkisch grundierten, pädagogischen Ideen, trotzdem wurde er 1937 zwangsemeritiert. Nach 1945 übernahm er für vier Jahre erneut seinen Lehrstuhl in Göttingen. Matthes 1998. 239 Schon während seines Studiums der Volkswirtschaft, Kriminologie, Pädagogik und Psychologie hatte Herrmann in der SAG Ost von Friedrich Siegmund-Schultze mitgearbeitet. 1920/21 unternahm er im Jugendgefängnis in Hamburg-Hahnöfersand zusammen mit Curt Bondy (1894–1972) den Versuch, das Erziehungsprinzip im Jugendstrafvollzug systematisch anzuwenden. Über die Erfahrungen die-

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fachspezifischen Ausbildung zu Problemen der Psychopathenfürsorge für verschiedene Berufsgruppen erläutert.240 Die Vorträge der Konferenz wurden im ersten Heft des 29. Jahrgangs (1924) der Zeitschrift für Kinderforschung veröffentlicht. An den beiden zuletzt genannten Veranstaltungen wird ein weiterer Zweck der Netzwerkarbeit des DVFjP neben der Organisation des wissenschaftlichen Diskurses deutlich: Gemeinsam mit anderen Interessenverbänden und unter Einbeziehung möglichst großer fachlicher Expertise sollten Forderungen hinsichtlich der rechtlichen und materiellen Ausgestaltung der Psychopathenfürsorge an politische Entscheidungsträger und staatliche Verwaltungsbürokratien herangetragen werden. Im Ergebnis wurde der Verein von staatlicher Seite als zentraler Ansprechpartner für dieses Gebiet der Sozial- und Gesundheitspolitik wahrgenommen, wie u. a. die Organisation der entsprechenden Abteilung bei der GeSoLei 1926 in Düsseldorf zeigt.241 Eine besondere Rolle als „befreundeter Verband“ spielte die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DVJJ). Die Beziehungen zur DVJJ beruhten zum einen sicher auf der langen Mitarbeit von der Leyens und Kramers in dieser Organisation und der persönlichen Verbundenheit mit maßgebenden Mitgliedern wie Elsa von Liszt oder Herbert Francke.242 Andererseits hatte sich das Engagement der beiden für erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche nicht zufällig aus ihrer Tätigkeit für die Jugendgerichtshilfe ergeben, denn zahlreiche Fälle devianten Verhaltens führten zu juristischen Konsequenzen. Der entsprechende Fachverband war daher ein „natürlicher“ Partner des DVFjP. Seinen Niederschlag fand dies in der regelmäßigen Veröffentlichung von Informationen über die DVJJ in der Zeitschrift für Kinderforschung und in der mehrfachen Kooperation beider Vereine bei der Organisation von Tagungen. Als erste einer Reihe von gemeinsamen Veranstaltungen fand im September 1924 die 3. Tagung über Psychopathenfürsorge in Heidelberg zum Schwerpunktthema „Verwahrlosung“ als Teil des 6. Deutschen Jugendgerichtstages statt.243 Die im März 1928 von der Kommission ses Experimentes, das heute zu den „geradezu kanonisierten Einrichtungen“ der Reformpädagogik gezählt wird, promovierte er 1923. Nach weiteren Studien bei Herman Nohl baute er ab 1926 das Fürsorgeerziehungsheim Egendorf in Thüringen auf, das bald zu einem Zentrum der reformorientierten sozialpädagogischen Bewegung in Deutschland wurde. Nach 1933 wurde er wegen der jüdischen Herkunft seiner Ehefrau aus dem Staatsdienst entlassen und geriet immer wieder in Konflikt mit NS-Stellen. Nach 1945 übernahm er erneut Verantwortung im Jugendstrafvollzug, lehrte Sozialpädagogik in Göttingen und war als Sachverständiger in rechtspolitischen Fragen tätig. W. Herrmann 1923; Scheibe 1994, 343–347; Schwarte 1998, 333 (Zitat). 240 Leyen 1923g. 241 Leyen 1926e. Vgl. in diesem Band, S. 109. 242 Vgl. in diesem Band, S. 89–93. 243 Hertz/Siegmund-Schultze (1924): Tagungsankündigung: ZfK. 29.3, 251; Tagungsprogramm in ZfK. 29.4, 339–340; Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen 1925.

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„Jugendgericht und Arzt“ der DVJJ durchgeführte Sachverständigenkonferenz über die Bedeutung des Anlagefaktors beim Verbrechen war faktisch auch eine Veranstaltung des DVFjP, weil Franz Kramer Vorsitzender dieser Kommission war.244 Die ausführliche Würdigung der Konferenz in der ZfK durch Ruth von der Leyen dürfte jedoch vor allem den verhandelten Inhalten geschuldet sein, spitzte sich doch zu diesem Zeitpunkt die Auseinandersetzung über die Anlage-Umwelt-Problematik bei abweichendem Verhalten – ein zentrales Thema für Kramer und von der Leyen – zu. Zwei aufeinander bezogene Sachverständigen-Konferenzen des DVFjP und der DVJJ am 6. und 7. Juni 1930 in Dresden sollten zur weiteren Klärung der damit verbundenen Fragen beitragen. Die dort gehaltenen Vorträge und schon im Vorfeld der Veranstaltung an die Teilnehmer_innen versandte Fallbeispiele bildeten die Grundlage für ein Themenheft der Zeitschrift für Kinderforschung.245 Internationale Kontakte In ihrer Funktion als Kommunikationszentrum überschritt die Zeitschrift den nationalen Rahmen und publizierte sowohl allgemeine Darstellungen über die Fürsorge für auffällige Kinder in anderen Ländern als auch Ergebnisse von Einzelstudien außerdeutscher Einrichtungen. Das erste Heft des Jahrgangs 1926 gab beispielsweise eine „Übersicht über die Fürsorge für geistig und körperlich abnorme Kinder und Jugendliche in verschiedenen Ländern“. Nach einer Einführung durch Franz Kramer in das Themenheft berichteten Autoren aus England, Frankreich, Italien, Norwegen, Österreich, Polen, Russland, Schweden, Schweiz, Spanien und den USA über die Entwicklung bzw. aktuelle Probleme dieses Fürsorgegebietes.246 Berichte über weitere Länder fanden immer wieder Eingang in den Originalienteil; darüber hinaus veröffentlichten ausländische Autoren spezifische Forschungsergebnisse in der ZfK. Informationen über internationale bzw. in anderen Ländern stattfindende Tagungen und Kongresse zu den Themen der ZfK, Meldungen über institutionelle Entwicklungen oder die Wiedergabe wichtiger Texte ausländischer Gesetzgebung waren selbstverständliche Bestandteile der entsprechenden Rubriken.247 Ebenso beschäftigten sich verschiedene Tagungen des DVFjP 244 Leyen 1928b. 245 ZfK 37.2 (1930). Zu den Inhalten der Diskussion vgl. in diesem Band, S. 262–266. 246 ZfK 31.1 (1926). 247 Vgl. etwa: Erster Niederländischer Pädagogen-Kongreß in Amsterdam sowie Woudenberg, M. v. (1926): Information über das holländische Psychopathengesetz. ZfK. 31.5, 516–520; Leyen, Ruth von der (1926): Bericht über den kantonal-bernischen Informationskurs für Jugendfürsorge, 21.–23.09.1925. ZfK. 31.4 429; Leyen, Ruth von der (1926): Meldung über die Eröffnung einer Heimschule in dem niederösterreichischen Psychopathenheim Purkersdorf. ZfK. 31.4, 429; Leyen, Ruth von der (1926): Meldung über die Eröffnung von Schulen für Schwachsinnige in Piltdown (England). ZfK. 32.1, 109.

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5. Praxis im Netzwerk

mit internationalen Entwicklungen. Auf der 3. Sachverständigenkonferenz sowie Mitgliederversammlung des Vereins am 26. und 27. September 1927 in Berlin referierte Friedrich Siegmund-Schultze, der eine Studienreise in die Vereinigten Staaten unternommen hatte, über die „Arbeit an jugendlichen Psychopathen in den USA“.248 In der Mitgliederversammlung sollte die Vorbereitung der 5. Tagung über Psychopathenfürsorge im Jahr 1928 – geplant als internationale Konferenz – besprochen werden.249 Offenbar anstelle der 5. Tagung veranstaltete der Verein im September 1928 seine 4. Sachverständigenkonferenz in Hamburg.250 Möglicherweise waren Finanzierungsprobleme aufgetreten, denn in der Programmankündigung wurde ausdrücklich auf die begrenzte Teilnehmer_innenzahl verwiesen. Auf der Konferenz sprachen Referenten aus den USA, der Schweiz und Österreich.251 Außerdem nahmen – wie schon an der Sachverständigenkonferenz im Jahr zuvor – weitere ausländische Gäste teil.252 Themenpluralismus Der große Anteil Ruth von der Leyens an der Redaktionsarbeit wird im Informationsteil der Zeitschrift für Kinderforschung sehr deutlich. Auch ihre und Franz Kramers wichtige Rolle für die Netzwerkpraxis des DVFjP erschließt sich aus den veröffentlichten Tagungsmaterialien. Ihren Einfluss auf die inhaltliche Debatte über verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche in der ZfK zu rekonstruieren, ist dagegen schwieriger.253 Es lassen sich keine sicheren Aussagen darüber treffen, welches Verfahren dem Abdruck von Originalarbeiten in der Zeitschrift zugrunde lag. Gewisse Prinzipien, die für Beiträge zum Psychopathiediskurs galten, können lediglich aus den behandelten Themen und der Person der jeweiligen Autor_innen abgeleitet werden. Naheliegend scheint es zu sein, dass Artikel der Herausgeber_innen vorrangig veröffentlicht wurden. Gleiches galt wohl für die auf dem Titelblatt der Zeitschrift als Mitwirkende genannten Persönlichkeiten.254 Danach folgten wahrscheinlich Beiträge von 248 Siegmund-Schultze 1927. Vgl. auch Leyen 1929b, III. 249 Ankündigung in ZfK 33.4: 362. (Tagungen) 250 Ankündigung in ZfK. 34.3: 361; Programm in ZfK. 34.4: 528–529 251 Williams 1929; Moos 1929; Heller 1929. 252 Leyen 1929b, III. 253 Zunächst einmal machte die Psychopathiedebatte nur einen Teil des Gesamtinhalts der ZfK aus. Zahlreiche Beiträge beschäftigten sich als Teil eines umfassenderen heilpädagogischen Diskurses mit Kindern und Jugendlichen, die geistige oder körperliche Behinderungen hatten, darüber hinaus wurden aber auch Untersuchungen zu „normalen“ Kindern veröffentlicht. 254 Von den Herausgeber_innen waren von der Leyen, Kramer und Isserlin häufig mit Artikeln vertreten; unter den Mitwirkenden traten insbesondere Adalbert Gregor und Theodor Heller mit regelmäßigen Veröffentlichungen hervor. Vgl. Autorenverzeichnisse der entsprechenden Jahrgänge der ZfK; zusammenfassendes Autorenverzeichnis bei Hagelskamp 1988, 235B–247B.

5.3 Das wissenschaftliche Netzwerk im Deutschen Reich

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Vereinsmitgliedern des DVFjP und der Gesellschaft für Heilpädagogik bzw. Vortragstexte von Tagungen der beiden Organisationen. Weiterhin ist noch von Beiträgen auszugehen, die vonseiten der Zeitschrift zu bestimmten interessierenden Fragestellungen bei Expert_innen bestellt wurden, und schließlich dürften auch einige unverlangt eingesandte Texte den Weg auf die Seiten der ZfK gefunden haben. Ob es aber insbesondere für die letzten beiden Fälle eines Beschlusses des Herausgeber_innen-Kollegiums bedurfte oder ob Ruth von der Leyen als Schriftleiterin weitgehend selbstständig darüber entschied, lässt sich nur punktuell sagen.255 Im Ergebnis der Redaktionstätigkeit wurde jedenfalls der Themenkomplex „Psychopathisches Kind – Psychopathenfürsorge“, der sich teilweise mit den Diskussionen zur Fürsorgeerziehung, zur Kriminologie und zum Hilfsschulwesen überschnitt, aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven behandelt. Vertreten waren Autor_innen aus Psychiatrie, Pädagogik, Psychologie, Jugendfürsorge, Jurisprudenz und Pädiatrie, wobei infolge der Neuausrichtung von 1923 gegenüber der alten Trüper’schen ZfK der Anteil psychiatrischer Arbeiten etwas zugenommen hatte.256 Der nach wie vor hohe Grad an Interdisziplinarität verdeutlicht, dass es sich bei der psychopathischen Konstitution immer noch um ein relativ offenes Konzept handelte. Um die Psychopathenfürsorge im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin zu stabilisieren, mussten „Theorien, Methoden, Aspekte und Gesetze“, deren Gültigkeit innerhalb der Wissensordnung unumstritten war, „erst abgeleitet werden“.257 Wer sich in einem solchen Zustand epistemologischer Unsicherheit wissenschaftlich mit Verhaltensauffälligkeiten beschäftigte, die auf psychischen Störungen („Abnormitäten“) beruhen sollten, konnte die beiden zeitgenössischen Großtheorien über die menschliche Psyche nicht ignorieren. Infolgedessen waren auch die Psychoanalyse Sigmund Freuds (1856–1939) und die Individualpsychologie Alfred Adlers (1870–1937) Gegenstände der Auseinandersetzung in der Zeitschrift für Kinderforschung. Beide Lehren wurden 1925 in einem Schwerpunktheft vorgestellt,258 im Originalienteil finden sich immer wieder entsprechende Arbeiten. 255 Ein Hinweis darauf, dass – zumindest in manchen Fällen – von der Leyen selbstständig über zu veröffentlichende Originalien entschied, findet sich bei Bobertag 1927, 458. Der Psychologe folgte seinen Angaben zufolge „[e]iner freundlichen Aufforderung der Schriftleitung dieser Zeitschrift“ und entlarvte in seinem ironisch gehaltenen Beitrag die sogenannte Bissky’sche Diagnoskopie, die als „Methode zur medizinischen, psychologischen und forensischen Diagnostik“ von „ungeheure(r) Bedeutung“ angepriesen worden war, als Scharlatanerie. Die Tatsache, dass der beschriebene Test dieser Methode schon im Frühjahr 1926 stattfand, der entsprechende Text aber erst im vorletzten Heft des Jahrgangs 1927 der ZfK erschien, deutet allerdings darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um einen Lückenfüller handelte, den Bobertag möglicherweise aus Gefälligkeit für Ruth von der Leyen schrieb. 256 Vgl. in diesem Band, S. 40. 257 Dörner 1984, 18 f. 258 ZfK 30.4 (1925).

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5. Praxis im Netzwerk

So publizierte der sozialistische Reformpädagoge und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892–1953) in der ZfK über „Formen der Disziplin in Erziehungsanstalten“ sowie einen historischen Artikel über ein freiheitliches pädagogisches Konzept für Erziehungsanstalten im revolutionären Frankreich.259 Ebenso veröffentlichte der psychoanalytisch orientierte Wiener Pädiater Josef Karl Friedjung (1871–1946) hier eine Abhandlung über den Kinderselbstmord und führte Kontroversen mit Werner Villinger über Onanie im Kindesalter und mit seinem Landsmann Theodor Heller über sexuelle Konstitutionen.260 Freilich behielten das DVFjPMitglied Villinger und der Ehrenvorsitzende der Gesellschaft für Heilpädagogik, Heller, in der ZfK jeweils das letzte Wort in diesen Auseinandersetzungen. Die vorherrschende Meinung im Umfeld der Zeitschrift für Kinderforschung dürfte der Position Villingers geähnelt haben, die zum Streit mit Friedjung führte. Einerseits erkannte er die Verdienste Freuds – wie dessen Kampf für die Beachtung der kindlichen Sexualität – an. Andererseits lehnte er aber die weitgehenden theoretischen Schlussfolgerungen der Psychoanalyse – beispielsweise die Freud’sche Erweiterung des Libido-Begriffs – „in ihrer monumentalen Einseitigkeit“ ab.261 Beiträge, die explizit auf der Lehre Alfred Adlers basierten, sind in den Originalien der ZfK nicht vertreten, abgesehen von dem entsprechenden Artikel in dem erwähnten Schwerpunktheft. Dies hing offenbar damit zusammen, dass die Individualpsychologie der Anlage eine wesentliche Bedeutung für die Psyche absprach und damit in „starke(r) Differenz zur zeitgenössischen Psychiatrie“ stand.262 Auffallend ist, dass Franz Kramer und Ruth von der Leyen sich inhaltlich nicht zur Psychoanalyse und Individualpsychologie äußerten, Informationen über Institutionen und Veranstaltungen beider Richtungen – die in der redaktionellen Zuständigkeit von der Leyens lagen – wurden jedoch recht häufig abgedruckt.263 259 Bernfeld 1927, 1930. Bernfeld, der von 1925 bis 1932 in Berlin tätig war, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits seine Aufsehen erregende und bis heute rezipierte antikapitalistische Kritik der Reformpädagogik „Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung“ (Bernfeld 1925) veröffentlicht. Zur Biographie Bernfelds vgl. u. a. Dudek 2012. 260 Friedjung 1930. Zur Auseinandersetzung mit Villinger: vgl. Villinger 1926a, Friedjung 1926, Villinger 1926b; mit Heller: vgl. Heller 1932a, Friedjung 1932, Heller 1932b. Friedjung wandte, nachdem er Sigmund Freud begegnet war, als erster die Erkenntnisse der Psychoanalyse in der Kinderheilkunde an. Zur Biographie Friedjungs vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. 1, 1957, 363. Vgl. auch Niemeyer 2008, 62. 261 Villinger 1926a, 112, 113. 262 Homburger 1929, 13. Kölch 2006, 55–66, hier 58 (Zitat). 263 Auf der Ebene der praktischen Psychopathenfürsorge gab es seitens des DVFjP ohnehin keine Berührungsängste. Die KBS überwies beispielsweise Patient_innen in das individualpsychologische Heilerziehungsheim von Annemarie Wolff-Richter (vgl. in diesem Band, S. 21; der zum Berliner Kreis des DVFjP gehörende Landgerichtsdirektor Herbert Francke „war mit der Individualpsychologie assoziiert“ (Kölch 2006, 262). In der Literaturliste für die Beiträge von der Leyens und Kramers über Psychopathenfürsorge und psychopathische Konstitutionen in dem Standardwerk ‚Enzyklopädisches

5.3 Das wissenschaftliche Netzwerk im Deutschen Reich

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Belege für eine bewusste konzeptionelle Offenheit der Zeitschrift für Kinderforschung bieten Untersuchungen aus eher randständigen Forschungsgebieten, die sich auf Initiativen Ruth von der Leyens zurückführen lassen. So experimentierte Kurt Lewin (1890–1947), ein Hauptvertreter der „Berliner Schule“ der Gestaltpsychologie, „auf Anregung von Fräulein v. der Leyen“ mit Filmaufnahmen von „Trieb- und Affekthandlungen psychopathischer Kinder“.264 Die Aufnahmen fanden in Zusammenarbeit mit Lotte Nohl in einem Heilerziehungsheim des DVFjP statt; der Verein hatte dafür finanzielle Mittel des Reichsministeriums des Innern erhalten. Die Filme fügten sich offenbar gut in Lewins Experimentalprogramm zur Handlungs- und Affektpsychologie, das er 1926 – während seiner Tätigkeit an der Berliner Universität – begann und bis weit in die 1930er Jahre hinein durchführte.265 Der Psychologe stellte die Ergebnisse seiner Experimente im September 1926 bei der 4. Tagung über Psychopathenfürsorge in Düsseldorf vor und veröffentlichte seinen Vortrag in der ZfK. Eine weitere Methode, die nicht im Mittelpunkt der Psychopathieforschung stand, war die Graphologie.266 Die Beratungsstelle für Heilerziehung des DVFjP stellte der Graphologin Lena Mayer-Benz aus Esslingen in Württemberg Schriftproben jugendlicher Psychopathen zur Verfügung, um sie von ihr untersuchen zu lassen. Ursprünglich war geplant, die Ergebnisse in einer Artikelreihe in der ZfK zu veröffentlichen und ihnen jeweils „Lebens- und Entwicklungsabriß sowie psychiatrische Beurteilung der Schreiber“ aus den Akten des Vereins gegenüberzustellen.267 Offenbar wurde damit der Zweck verfolgt, die Tauglichkeit graphologischer Methoden für die Erforschung psychopathischer Konstitutionen zu überprüfen. Es kam jedoch nur zu einem derartigen Beitrag in der ZfK, danach wurde die Zusammenarbeit aus unbekannten Gründen eingestellt. Möglicherweise war der Erkenntniswert der Schlussfolgerungen von Mayer-Benz zu gering. Die Vielfalt der Schulen und die Pluralität der Anschauungen, die sich in den Originalien der Zeitschrift für Kinderforschung spiegeln, sind jedoch nicht als Ausdruck inhaltlicher Beliebigkeit zu deuten. Vielmehr weist die dahinter stehende redaktionelle Praxis auf die grundsätzliche epistemologische Position hin, dass gesichertes Wissen über die Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen noch nicht in ausreichendem Maße Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge“ wird auch die psychoanalytische Monografie August Aichhorns ‚Verwahrloste Jugend“ aufgeführt. Zur Anwendung psychoanalytischer Methoden auf der KBS vgl. in diesem Band, S. 121 f. 264 Lewin 1926, 414. Vgl. Kramer/Leyen 1934, 335. 265 Vgl. Brauns 2007. Zu Lewins filmischen Arbeiten vgl. Lück 1985. Lewin wurde 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft von der Berliner Universität vertrieben und emigrierte in die USA. Zu Leben und Werk vgl. Schönpflug 2007. 266 Vgl. in diesem Band, S. 216. 267 Mayer-Benz 1929, 637, Anmerkung der Schriftleitung.

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5. Praxis im Netzwerk

vorlag und dass Ergebnisse nur auf einer breiten empirischen und methodischen Forschungsbasis zu erwarten waren. Ein Hinweis auf diese erkenntnistheoretische Grundhaltung findet sich in dem Nachruf, den Franz Kramer für Hugo Liepmann (1863–1925) verfasste. Über den Neurologen und Erstbeschreiber des Krankheitsbildes der Apraxie äußerte er:268 „Liepmann hat niemals starr an seinen Meinungen festgehalten, er pflegte an sich selbst schärfste Kritik zu üben und die Richtigkeit seiner Ansicht immer von neuem zu prüfen. Einwände, die ihm entgegentraten, andersartige Anschauungen, die geäußert wurden, gaben […] Veranlassung, aufs neue die Grundlagen seiner Anschauung zu revidieren.“269

Gemeint war damit freilich nicht, den eigenen Standpunkt kampflos zu verlassen, sondern – wie das von Kramer berichtete Beispiel aus Liepmanns Forscherleben deutlich macht – durch die sorgfältige Überprüfung der Forschungsergebnisse die eigene Argumentation zu stärken. Diese Haltung inhaltlicher Offenheit als wissenschaftstheoretisches Konzept zeigt sich auch in der zentralen Frage, über die in den 1920er Jahren innerhalb der Wissensordnung „Psychopathenfürsorge“ gestritten wurde: die Anlage-Umwelt-Problematik.

5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der AnlageUmwelt-Debatte Wenn Ruth von der Leyen in ihrem großen rückschauenden Beitrag auf mehr als ein Jahrzehnt Psychopathenfürsorge feststellte, dass sich die Forschungsarbeit innerhalb dieser Wissensordnung „im Laufe der Jahre“ auf das Problem Anlage – Umwelt fokussiert habe,270 so spiegelt sich darin die aktuelle Situation des Krisenjahres 1931. Ähnlich wie im Gesundheitswesen führte in der Jugendfürsorge die Finanzkrise des Staates dazu, dass erbbiologische Konzepte, die eine Senkung der Kosten für die Betreuung „Minderwertiger“ versprachen, zunehmend an Bedeutung gewannen.271 In Bezug auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche drückte sich diese Tendenz in der Debatte darüber aus, ob „Schwersterziehbare“ bzw. „Unerziehbare“ noch einen Platz in der Fürsorgeerziehung hätten.272 Die Annahme, dass als Ursa268 Kramer kannte Liepmann noch aus dessen Breslauer Zeit und hatte später in Berlin mit ihm zusammengearbeitet. Vgl. Liepmann/Kramer 1925; Kramer 1925c, 228 f. Zu Liepmann vgl. Kreuter 1996, 866–868. 269 Kramer 1925c, 231. 270 Leyen 1931, 627. Den Beitrag publizierte sie im offiziellen Auftrag des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen. 271 Weingart/Kroll/Bayertz 1988, 254. 272 Vgl. Peukert 1986, 248–252.

5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Anlage-Umwelt-Debatte 253

che für deviantes Verhalten vorrangig Defekte zu gelten hätten, die im Wege der Vererbung in die Persönlichkeitsstruktur „eingeschrieben“ würden, reduzierte die Lösungsmöglichkeiten für solche Fälle radikal. Statt aufwendiger Erziehungs- und Resozialisierungsprogramme blieb als einzige „vernünftige“ Option ihre Verwahrung in geschlossenen (Arbeits-)Anstalten zum „Schutz der Gesellschaft“, da Eingriffe in die genetische Anlage unmöglich waren. Damit spitzte sich auch innerhalb der Psychopathenfürsorge eine Auseinandersetzung zu, deren Grundfrage Franz Kramer schon 1923 in einem programmatischen Aufsatz für die Zeitschrift für Kinderforschung formuliert hatte: „[I]st die Bedeutung der Anlage so stark, daß sie den Menschen in eindeutiger Weise zu einem asozialen Verhalten prädestiniert oder können hier die Milieuverhältnisse in praktisch bedeutsamer Weise in günstigem oder ungünstigem Sinne einwirken?“273

Kramer verdeutlichte bereits hier die Position, die von ihm und dem Berliner Kreis des DVFjP eingenommen wurde. Die Präferenz der Anlage als Hauptverursacherin andauernden abweichenden Verhaltens würde zu einem „pessimistischen Fatalismus“ führen, der auf Anstaltsverwahrung der Devianten und rassenhygienische Mittel zur Verhinderung des Ausbreitens ihrer defekten Erbanlagen hinausliefe. Die praktische Bedeutung der Rassenhygiene sei jedoch „noch als sehr fragwürdig“ anzusehen.274 Fast wortgleich äußerte sich im selben Jahr Kramers Tübinger Kollege Werner Villinger, der vor dem „Fehler des Fatalismus gegenüber der Allmacht der Erbfaktoren“ warnte, da dieser „außer eugenischen Maßnahmen und Krankenpflege für das ärztliche Handeln nicht viel Spielraum“ ließe.275

Pluralismus der Anschauungen Trotz dieser Stellungnahme gegen eine Überbetonung des Einflusses der Anlage kamen in der Zeitschrift für Kinderforschung Vertreter_innen der gegensätzlichen Auffassung ausführlich zu Wort, denn das „Erblichkeitsdogma“ war in der Psychiatrie weitgehend etabliert und bestimmte die Ansichten über das Phänomen Psychopathie.276 Entsprechende Meinungsäußerungen konnten schlechterdings nicht ignoriert werden, hatten doch die Herausgeber_innen der ZfK die Psychiatrie zur Grundlagenwissenschaft der Heilpädagogik im Allgemeinen und 273 Kramer 1923a, 26. 274 Kramer 1923a, 26 f. Rassenhygiene (bzw. Eugenik) war in ihrem Selbstverständnis aber auch in der zeitgenössischen Wahrnehmung kein un- oder pseudowissenschaftliches Metier, obgleich ihre Annahmen und Schlussfolgerungen in den Humanwissenschaften keineswegs unumstritten waren oder gar mehrheitlich vertreten wurden. Vgl. Weingart/Kroll/Bayertz 1988. 275 Villinger 1923, 128. 276 Vgl. Schmuhl 1988, 82–86.

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5. Praxis im Netzwerk

der „Psychopathenfürsorge“ im Besonderen erklärt. In der Debatte zeigte sich jedoch, dass die Berufung auf das Psychopathiekonzept zu völlig unterschiedlichen Folgerungen führen konnte und auch im Deutschen Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen dazu keine einheitliche Haltung herrschte. Für Adalbert Gregor etwa, den 2. Vorsitzenden des Vereins, waren im Fall von Psychopathie der „Erziehung überhaupt enge Grenzen gesetzt“.277 Gregor hatte als einflussreicher medizinischer Funktionär in der Fürsorgeerziehung vor allem den Zusammenhang von Verwahrlosung und Psychopathie im Blick. Das Psychopathieparadigma bot ihm die Möglichkeit, „für das Zustandekommen der Verwahrlosung […] die überwiegende Bedeutung der Anlage“ festzustellen und die „Mehrzahl der Verwahrlosten [als] pathologische Individuen“ zu charakterisieren.278 Gregors Forderung nach Individualisierung der Erziehung von psychopathischen Fürsorgezöglingen war utilitaristisch motiviert: Das Ziel bestand darin, „einen Zögling brauchbar zu machen für die Gesellschaft“.279 Dabei war ihm – entsprechend seinem anlagezentrierten Blick – bei der Strukturanalyse des Individuums und der Bewertung der Aussichten auf Erziehungserfolg die „Berücksichtigung hereditärer Momente“ von großer Bedeutung. Ausdrücklich verwies er auf die psychiatrische Erblichkeitsforschung in München (Kraepelin) und Tübingen (Gaupp).280 Aus dem Primat der Anlage schloss Gregor auf die Existenz einer Gruppe unerziehbarer Jugendlicher und damit auf die Notwendigkeit ihrer Unterbringung in speziellen Verwahranstalten.281 Hier zeigt sich, dass genetisch dominierte Vorstellungen über die menschliche Persönlichkeitsstruktur ein Einfallstor für das rassenhygienische Paradigma waren,282 denn, so Gregor, die „Forderung nach Verwahrungsanstalten muß darum mit besonderem Nachdruck vertreten werden, um den Volkskörper vor Schädigungen zu bewahren, die ihm durch körperlich, psychisch oder moralisch defekte Individuen drohen“.283 Obgleich auch Ruth von der Leyen vom Psychopathiekonzept als Erklärungsmuster abweichenden Verhaltens ausging, kam sie im gleichen Heft der ZfK zu diametral entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Für sie war der Psychopathiebegriff vor allem eine Möglichkeit, um von den „alten Begriffen der Verwahrlosung und Rettung – der Gefährdung und Besserung loszukommen“.284 Diese moralisch aufgeladenen Konzepte hielt sie für ungeeignet, ein 277 Gregor 1924, 405. 278 Gregor/Voigtländer 1924, 21; Gregor 1924, 406. 279 Gregor 1924, 408. 280 Gregor 1924, 408 f. 281 Gregor 1924, 410. 282 Schmuhl 1988, 80. 283 Gregor 1924, 411. 284 Leyen 1924c, 403.

5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Anlage-Umwelt-Debatte 255

„Bild von dem eigentlichen Wesen des Kindes wiederzugeben“,285 weil ihre Verwendung dazu verleite, „in dem Verhalten der Gefährdeten und Verwahrlosten ein schuldhaftes Verhalten zu erkennen“.286 Auch Gregor wollte Kategorien wie Schuld und Sühne aus der Betrachtung psychopathischer Abweichungen heraushalten, sein Ansatz ging dennoch davon aus, dass es die „Mängel“ wären, die bestimmend für die Art der pädagogischen Intervention seien.287 Von der Leyen dagegen trat für einen nicht-defizitären Blick ein. Für sie stand außer Frage, dass die Entwicklung eines Menschen nicht dadurch gefördert werden konnte, „daß seine Förderer vorübergehende Regelwidrigkeiten einer Entwicklung zur Grundlage für alle weiteren Maßnahmen machen“.288 An fünf Fallbeispielen aus der Praxis der Berliner Beratungsstelle für Heilerziehung des DVFjP und der Kinderbeobachtungsstation demonstrierte sie, wie durch Milieuveränderungen und Eingehen auf die Persönlichkeit der beschriebenen Kinder und Jugendlichen deviante Verhaltensmuster, die sie als Symptome einer „abnormen Anlage“ deutete, verschwanden bzw. eingedämmt wurden. Die „,Wesensart eines Menschen‘“ ließe sich zwar nicht ändern, sie könne aber „auf vielerlei Bahnen gelenkt werden und braucht nicht zwangsläufig in der einmal eingeschlagenen Bahn der ,Verwahrlosung‘ fortzulaufen.“289

Dafür stünde „eine unendlich reiche Skala von Möglichkeiten der Erziehung und Beeinflussung zur Verfügung“.290 Die Platzierung des Artikels unmittelbar vor dem Beitrag Adalbert Gregors kann als Hinweis auf seine argumentative Funktion gedeutet werden. Immerhin verwarf von der Leyen mit der Verwahrlosung eine zentrale Kategorie ihres Vereinskollegen als moralisierend und damit wissenschaftlich nicht brauchbar, und sie kam in Hinblick auf die Erfolgsaussichten erzieherischer Behandlung kindlicher und jugendlicher „Psychopathen“ zu gänzlich anderen Schlüssen. Der pädagogische Optimismus von der Leyens gründete sich auf die konkreten Erfahrungen der geschilderten Betreuungsgeschichten und spiegelt damit die empirische Herangehensweise wider, die das wissenschaftliche Programm des Berliner PsychopathieForschungskomplexes kennzeichnete. Von umso größerer Bedeutung für die Debatte zur Anlage-Umwelt-Problematik dürfte für von der Leyen und Kramer deshalb die Veröffentlichung kasuistisch orientierter Beiträge in der Zeitschrift für Kinderforschung gewesen sein, in denen 285 Leyen 1924c, 402 f. 286 Leyen 1924c, 377. 287 Gregor 1924, 405, 408. 288 Leyen 1924c, 376. 289 Leyen 1924c, 377. 290 Leyen 1924c, 403.

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5. Praxis im Netzwerk

Untersuchungsergebnisse aus der psychiatrisch-heilpädagogischen Praxis der Psychopathenfürsorge ausgewertet wurden. Arbeiten aus Forschungseinrichtungen außerhalb Berlins, die auf Anamnesen, klinischen Beobachtungen sowie der Auswertung von Fürsorge- bzw. Gerichtsakten beruhten, kamen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Sie reichten von der Annahme eines relativen Gleichgewichts zwischen Anlage und Milieu291 über die Präferenz der endogenen Faktoren292 bis hin zu der Feststellung, die Milieueinflüsse hätten bei zwei untersuchten Jungen so stark überwogen, dass eine abschließende Bewertung „über die Struktur der angeborenen Charakteranlage“ nicht möglich sei.293 Aus der Berliner Forschungspraxis heraus wurden insgesamt vier Studien in die Debatte eingebracht, die sich alle auf die ausführliche Darstellung von Einzelfällen aus der Praxis der Beratungsstelle für Heilerziehung, der Kinderbeobachtungsstation und der Heilerziehungsheime des DVFjP stützten.294 Eine wichtige Rolle spielte in diesen Arbeiten stets die Auswertung der pädagogischen Beobachtungsberichte der KBS. Als Arbeitsgrundlage wurde die von Kramer entwickelte Typologie mit fünf Gruppen jugendlicher Psychopathie genutzt, die er in Grundzügen bereits auf der ersten Tagung über Psychopathenfürsorge im Oktober 1918 entwickelt hatte.295

Ausnahme: Kindliche Hyperkinese als Krankheitsbild Nach und nach wurde dieses heuristische Typenmodell in den publizierten Forschungsarbeiten mit dem empirischen Wissen über die verschiedenen Variationen psychopathischer Konstitution abgeglichen und unter dem Aspekt der Anlage-Umwelt-Problematik befragt. Nur in einer Studie kamen die Berliner Forscher_innen zu dem Schluss, dass sich ein Symptomenkomplex, in dessen Zentrum Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulskontrollstörung standen,296 vorrangig auf biologische Ursachen zurückführen ließe. Der Aufsatz von Kramer und Hans Pollnow, der 1930/31 als Stationsarzt auf der KBS tätig gewesen war, „Über eine hyperkinetische Erkrankung im Kindesalter“ und seine Vorarbeiten wurden folgerichtig nicht in einer Publikation der Psychopathenfürsorge, sondern in psychiatrischen Fachblättern veröffentlicht.297 Aufgrund der Abgrenzung als eigenes Krankheitsbild gliederte Franz Kramer diese Störung aus der Gruppe

291 Hahn 1926. 292 Lange 1928. 293 Perl 1927, 413. 294 Leyen 1926a; Kramer 1927b; Kramer/Pollnow 1932b; Kramer/Leyen 1934. 295 Kramer 1920, 41–45. Vgl. Kapitel 4.3 in diesem Band. 296 Rothenberger 2005, 71. 297 Kramer/Pollnow 1930; Kramer/Pollnow 1932a; Kramer/Pollnow 1932b.

5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Anlage-Umwelt-Debatte 257

der psychopathischen Konstitutionen aus.298 Für die Studie bezogen sich Kramer und Pollnow auf motorisch unruhige Kinder und Jugendliche, die zwischen 1921 und 1931 poliklinisch oder stationär auf der KBS beobachtet worden waren.299 Von den 45 untersuchten Fällen waren 15 Langzeitbeobachtungen, die sich über mehrere Jahre erstreckten bzw. Katamnesen berücksichtigten. Sie waren damit geeignet, die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Stellenwert von Anlage und Umwelt, den Einfluss kindlicher Reifungsprozesse auf Diagnose und Prognose und die Wirkung von Erziehung auf kindliches Verhalten zu erweitern. Die Hyperkinese-Studie gilt heute als früher „Bezugspunkt für das wissenschaftliche Konzept der […] als Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bezeichneten Verhaltensauffälligkeit im Kindesalter“.300 Gerade an diesem Beispiel zeigt sich, dass es der Gruppe um Kramer und von der Leyen ernst war mit dem Anspruch auf ergebnisoffene „empirische Tatsachenforschung“.301 Die sorgfältige Überprüfung des Forschungsmaterials, also der in den Krankenakten der KBS festgehaltenen medizinischen und pädagogischen Beobachtungen einer bestimmten Gruppe von Kindern und Jugendlichen, die kritische Zusammenfassung und vergleichende Analyse der darüber vorhandenen Wissensbestände sowie die Herausarbeitung ihrer gemeinsamen Aspekte führte zu der Annahme, dass für ein genau umrissenes Störungsbild organische Hirnprozesse verantwortlich zu machen waren.302

Anpassung der Umwelt an die Bedürfnisse des Kindes Damit war jedoch eine Grundannahme, die sich aus früheren Forschungsergebnissen herausgeschält hatte, nicht widerlegt, lediglich das Gebiet ihrer Geltung war um den genau definierten Bereich der Hyperkinese verkleinert worden. Diese Grundannahme erkannte die Anlage zwar als letzte Ursache für Verhaltensstörungen an, negierte aber eine daraus resultierende Zwangsläufigkeit von Devianz. Ruth von der Leyen und Franz Kramer waren 1926 und 1927 in zwei Studien über kindliche und jugendliche Psychopathie des „überempfindlichen“ und „haltlosen“ Typs zu entsprechenden Schlussfolgerungen gelangt.303 Bestimmend dafür, ob 298 Kramer 1938, 294. 299 Kramer/Pollnow 1932b, 31. 300 Neumärker/Rothenberger 2005, 172. Zur Biographie Pollnows vgl. Neumärker 2005, 102–106 und Rose 2014. Aufgrund von Neumärkers und Rothenbergers Engagement trägt ein seit 2003 alle zwei Jahre vergebener Forschungspreis zum Thema ADHS die Namen Kramers und Pollnows. 301 Kramer 1925c, 225. 302 Kramer/Pollnow 1932b, 40. 303 Leyen 1926a; Kramer 1927b. Von den Akten, auf die sich die beiden Arbeiten stützen, sind überliefert: HPAC, Ps. V. 470 (Leyen 1926, Fall 3), Ps. V. 800, Bd. 1 und Frauen 337/1925 (Kramer 1927b, Fallgeschichten Erna A. und Käte L.).

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5. Praxis im Netzwerk

eine psychopathische Konstitution zu abweichendem Verhalten führt, seien vielmehr exogene Faktoren, beispielsweise eine ungünstige soziale Lage, die in der Psyche der „überempfindlichen“ und „haltlosen“ Psychopathen weit stärkere Wirkungen hinterlassen würden als bei „normalen“ Kindern und Jugendlichen. Positiv gewendet lag demnach in der anlagemäßig gegebenen, starken Beeinflussbarkeit „eine erhebliche Erziehungsbereitschaft“ und demzufolge eine besondere Chance für die pädagogische Intervention. 304 Es sei also „nicht die Anlage[, die] den Jugendlichen auf die Bahn der Verwahrlosung und der Kriminalität“ treibe, vielmehr könne die Anlage „durch Umwelt und Erziehung in 2 diametral entgegengesetzte Bahnen“ führen.305 Die Annahme von der prägenden Rolle der Umwelt bei Fortbestehen der „abnormen“ Anlage hatte weitgehende Konsequenzen für den Umgang mit devianten Kindern und Ju­ VFjP gendlichen. Kramer hatte schon 1925 anlässlich einer Sachverständigenkonferenz des D ausgeführt: „Der Gesamthabitus eines Kindes ist nicht nur Ausdruck seiner angeborenen Persönlichkeit, sondern häufig Reaktion einer psychopathischen Persönlichkeit auf ihre Umgebung.“306 Wenn Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten also „reaktiver Natur“ sein konnten, Ausdruck eines „fast immer“ bestehenden Konfliktes zwischen Persönlichkeit und Umwelt, dann war „das Finden einer geeigneten Umwelt vielleicht der einzig mögliche Weg, das Schaffen einer Behandlung, die der Persönlichkeit des Kindes gerecht wird und es so führt, daß es den abnormen Reaktionen nicht verfällt, sozial möglich wird und sich halten kann.“307

Erziehung als einen Vorgang anzusehen, der die Anpassung der Umwelt an das Kind einschloss, und nicht umgekehrt, eröffnete die Möglichkeit einer radikal anderen, von den Bedürfnissen des Kindes ausgehenden Pädagogik. Sie war zugleich Kritik am vorherrschenden Erziehungsmodus und darüber hinaus Gesellschaftskritik, indem sie als wirksamstes Mittel zur Vermeidung psychopathischer Reaktionen die Verbesserung der Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen implizierte. Obwohl die empirischen Forschungsergebnisse also keineswegs den Schluss zuließen, dass die Anlage bestimmend für das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten war, fanden biologistische Deutungen sozialer Devianz in der gesundheits- und wohlfahrtspolitischen Diskussion spätestens in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zunehmend Akzeptanz.308 Charakteristisch

304 Leyen 1926a, 182; Kramer 1927b, 48. 305 Leyen 1926a, 182. 306 Leyen 1926d, 399. 307 Leyen 1926d, 399. 308 Zu den Ursachen dafür vgl. u. a. Weingart/Kroll/Bayertz 1988.

5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Anlage-Umwelt-Debatte 259

dafür ist der Einstellungswandel, der sich bei Werner Villinger beobachten lässt. Hatte er in seiner Zeit in der Tübinger Universitätspsychiatrie noch vor der Überbetonung endogener Faktoren gewarnt, so lässt sich wenige Jahre später, nach seinem Wechsel in das Hamburger Jugendamt, eine Veränderung dieser Ansicht erkennen. Nunmehr spielten „ererbte Ursachen“ psychischer Störungen eine wesentlich größere Rolle in seinen Überlegungen, und er plädierte ausdrücklich für eugenische Maßnahmen wie Eheverbot oder „künstliche Unfruchtbarmachung […], ein harmloser, in seinen Folgen subjektiv ganz unbedenklicher Eingriff“, zur radikalen „Bekämpfung der psychischen Degeneration“.309 Auch in Bezug auf jene sozialen Abweichungen, für die er „erworbene Ursachen“ verantwortlich machte und bei denen er Beeinflussungsmöglichkeiten durch Erziehung sah, argumentierte Villinger biologistisch: Ziel einer „guten Erziehung“ müsse die „Einfügung der Teile in ein Ganzes aus Gründen einer artund damit auch selbstdienlichen Zweckmäßigkeit“ sein.310

Konvergenztheorie William Sterns Eine andere Entwicklung als bei Villinger nahmen von der Leyens und Kramers Vorstellungen über die Wechselwirkung zwischen Anlage und Umwelt bei psychopathischen Konstitutionen. Ihr Bild dieses gegenseitigen Bezugs wurde zunehmend komplexer und führte schließlich zu der Frage, ob eine scharfe Trennung zwischen den beiden Faktoren überhaupt möglich sei, wie sich anlässlich einer Sachverständigenkonferenz der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen über die Bedeutung des Anlagefaktors beim Verbrechen im März 1928 zeigte. Die Konferenz bezog sich auf das von Cesare Lombroso (1836– 1909) entwickelte Konzept des „geborenen Verbrechers“, der eine genetische Veranlagung für kriminelles Handeln für möglich hielt.311 Nach einem einleitenden Übersichtsreferat eröffnete Kramer als Vorsitzender der veranstaltenden Kommission Jugendgericht und Arzt der DVJJ die Aussprache. Er bezweifelte, dass eine bei erwachsenen Rechtsbrechern in Erscheinung getretene „gemütliche Fühllosigkeit“ als angeborener Charakterzug angesehen werden könne, der „unverändert von Kindheit an bestehe“. Seine Beobachtungen an „jugendlichen Asozialen“ hätten vielmehr erhebliche Zweifel darüber geweckt: „Bei einzelnen jugendlichen Kriminellen wurde vielfach vorausgesetzt, daß es sich bei ihnen um typische Beispiele des ‚geborenen Verbrechers‘ handle. Bei genauerer Durchforschung ihrer Vorgeschichte und längerer Beobachtung konnten wir uns davon überzeugen, daß eine verbrecherische Anlage zum mindesten außerordentlich zweifelhaft erschien. Die Frage: Milieu und 309 Villinger 1926c, 113, 116 f. 310 Villinger 1926c, 113, 122. 311 Lombroso 1887.

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5. Praxis im Netzwerk

Anlage, eine Teilfrage des heute zur Debatte stehenden Problems, – das haben wir in den letzten Jahren immer erneut erfahren – erscheint immer verwickelter: beide Faktoren sind kaum mehr trennbar, und bei Erscheinungen, die früher eindeutig der Anlage zugerechnet wurden, fragt man sich heute, ob es sich nicht doch um Milieugestaltungen handelt.“312

In der Diskussion schälten sich zwei gegensätzliche Positionen heraus: eine biologisch-psychiatrische Sichtweise, die – in unterschiedlicher Akzentuierung – u. a. von Karl Birnbaum (1878–1950),313 Hans Walter Gruhle (1880–1958)314 und Johannes Lange (1891–1938)315 vertreten wurde, die der Anlage eine entscheidende Bedeutung zumaßen, und diejenige Kramers und von der Leyens, die auf der nicht zu trennenden Verflechtung von Milieu und Anlage beharrten und im Übrigen belastbare katamnestische Untersuchungen in größerer Zahl forderten, ehe überhaupt bestimmte Aussagen gemacht werden könnten. Diese Position wurde von ihrem Berliner Mitstreiter Herbert Francke offensiv unterstützt, der aufgrund seiner Erfahrungen in der Jugendgerichtspraxis davor warnte, einen bestimmten psychischen Anlagetyp mit einer entsprechenden Kriminalitätsform in Zusammenhang zu bringen, und die Frage

312 Leyen 1928b, 635. 313 Der Psychiater und Neurologe Birnbaum war zu diesem Zeitpunkt an der Berliner städtischen Heilund Pflegeanstalt Herzberge tätig und hatte eine Reihe von Arbeiten zu den Themenbereichen „Psychopathie“ und „Kriminalpsychopathologie“ veröffentlicht. Ab 1930 Ärztlicher Direktor der städtischen Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch, wurde er als Jude nach 1933 entlassen und emigrierte 1939 in die USA. Vgl. Wetzell 2000, 149–153. 314 Gruhle hatte sich unter psychiatrischen Gesichtspunkten schon früh mit der jugendlichen Verwahrlosung und Kriminalität auseinandergesetzt und war zu dem Schluss gekommen, dass mehr als 90 Prozent aller von ihm untersuchten Verwahrlosungsfälle zumindest teilweise auf genetische Faktoren zurückzuführen waren und dass in jedem fünften Fall allein die Anlage als Ursache für Verwahrlosung infrage kam (Gruhle 1912). Seit 1905 war er an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Heidelberg tätig, zuletzt als Oberarzt. Nach 1933 wechselte Gruhle, der von den Nationalsozialisten als politisch nicht zuverlässig eingeschätzt wurde, in die Anstaltspsychiatrie, versuchte aber, sich der Mitwirkung am „Euthanasie“-Programm zu entziehen. Von 1946 bis 1952 und nochmals 1955 war Gruhle Ordinarius für Psychiatrie an der Universität Bonn. Vgl. Schipperges 1966. 315 Lange war ein Schüler und enger Vertrauter Emil Kraepelins. Er war u. a. Mitherausgeber der 9. Auflage von Kraepelins Lehrbuch der Psychiatrie, das er nach dessen Tod allein bearbeitete. Seit 1927 Leiter der klinischen Abteilung der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München, übernahm er 1931 den Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Breslau. Lange baute seine in der ZfK mitgeteilten „zwillingsbiologischen Betrachtungen“ (Lange 1928) in der Monografie „Verbrechen als Schicksal. Studien an kriminellen Zwillingen“ (Lange 1929) aus. In der NS-Zeit publizierte er rassenhygienische Arbeiten und war Richter an einem Erbgesundheitsgericht. Seine jüdische Ehefrau, die Ärztin Katharina Lange, geb. Silbersohn (1891–1937), ließ sich 1934 von ihm scheiden und beging drei Jahre später Suizid. Vgl. Klee 2005, 356.

5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Anlage-Umwelt-Debatte 261

der auslösenden Faktoren für kriminelles Handeln als offen bezeichnete.316 Der überlieferte Bericht deutet darauf hin, dass trotzdem eine Mehrheit der Teilnehmenden eher zu anlagetheoretischen Auffassungen neigte. Wie zu erwarten, wurde der Konflikt auf dieser Konferenz nicht gelöst. Man einigte sich auf die weitere Sammlung von Material und folgte damit der Forderung der Berliner Vertreter_innen. Das von ihnen vertretene Anlage-Umwelt-Modell war zwar innerhalb des wissenschaftlichen Netzwerkes der Psychopathenfürsorge offenbar nicht dominierend, jedoch keinesfalls die Idee wissenschaftlicher Außenseiter. William Stern, zu diesem Zeitpunkt als Leiter des Psychologischen Instituts der Hamburger Universität einer der führenden deutschen Fachvertreter, war zu ganz ähnlichen Auffassungen gekommen. Die von ihm entwickelte Konvergenztheorie besagte, dass Anlage und Umwelt nicht im Widerspruch zueinander stünden, sondern sich ergänzten, „in einem qualitativen Zweckzusammenhang zueinander stehen“. Beide seien „an jedem wirklichen Sein und Tun der Person […] zugleich beteiligt, ihr Verhältnis ist ein Sich-Bedingen und -Fördern derart, daß das Eine ohne das andere nicht denkbar wäre“. Die Isolierung innerer und äußerer Faktoren bestimmter Persönlichkeitsmerkmale könne demzufolge nur gedanklich erfolgen, „real [Hervorhebung i. Orig.] gibt es am Menschen keine Eigenschaft, keine Tat, kein Phänomen, kurz kein Merkmal psychischer, physischer oder neutraler Art, von dem man sagen könne, es sei angeboren oder es sei erworben.“

Aufgrund ihres Sich-Bedingens sei es „nicht mehr möglich, das Verhältnis der beiden Faktoren in die Rangordnung des Mehr- oder Weniger-Wichtig zu bringen“. Wenn also die „Quantitätsfrage […] unbeantwortbar“ ist, müsse stattdessen gefragt werden: „Wie stehen Außen- und Innenfaktor qualitativ zueinander?“ Die Konvergenz äußere sich akut in den Akten (Handlungen) der Person und chronisch in ihrer Disposition. Da an allen Konvergenzvorgängen „die Person als ganze [Hervorhebung i. Orig.] beteiligt“ sei, sei es „nicht mehr möglich, irgend einen [sic] Vorgang der Außenwelt direkt einem Einzelgeschehen oder Einzelelement in der Person zuzuordnen (z. B. einen Reiz einer Empfindung oder einen Handlungserfolg einem Willensakt)“; vielmehr sei die „persönliche Totalität das Bindeglied und Erklärungsmittel für die Beziehungen zwischen jenen beiden Faktoren“. Aufgrund dieser von ihm angenommenen „Dreigliedrigkeit jedes Konvergenzvorganges“ verwarf Stern alle Auffassungen, die das „Person-Weltverhältnis“ allein anhand eines (zweigliedrigen) UrsacheWirkungs-Schemas erklären wollten.317 316 Leyen 1928b, 640 f. 317 Alle Zitate aus Stern 1918, 99–102. Zur Konvergenztheorie vgl. Bittner/Deutsch 1990, 60 f.; W. Schmidt, 1994, 18 f.

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5. Praxis im Netzwerk

Die Berliner Forscher_innen nahmen in ihren Arbeiten nicht explizit Bezug auf die Konvergenztheorie, die Ähnlichkeit der Auffassungen in der Anlage-Umwelt-Problematik deutet aber darauf hin, dass sie das Konzept kannten. Kramer hatte vermutlich auch persönlichen Kontakt zu Stern, mit dem er in der gemeinsamen Breslauer Zeit kooperiert hatte.318 Während der 4. Sachverständigen-Konferenz des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen im September 1928 in Hamburg argumentierten beide in der Diskussion zu einem Vortrag August Homburgers „Über Typenbildung in der Psychopathie“ konvergenztheoretisch. Sie betonten „die Schwierigkeit, die Anlageform aus der Persönlichkeit des Kindes sauber herauszuschälen“, und Kramer wies „gerade in diesem Zusammenhang erneut darauf hin, daß die Milieueinflüsse angesichts der Plastizität des psychopathischen Kindes so stark umgestaltend wirken können, daß es außergewöhnlich schwer sei, den ursprünglichen Typus überhaupt zu erkennen. Lange Forschungen seien nötig, um dahin zu gelangen, daß der Grundtypus, der konstitutionelle Typus, durch den Mantel, der durch die Milieueinflüsse geschaffen wird, erkannt werde.“319 Vor allem der Dispositionsbegriff der Konvergenztheorie dürfte für Kramer und von der Leyen interessant gewesen sein: Psychopathische Konstitutionen waren unter dem Aspekt der Konvergenz Eigenschaften der Persönlichkeit im Sinne von Dispositionen, also noch nicht eindeutig determinierte Strebe-Richtungen, deren Spielraumbreite durch äußere Faktoren zunehmend eingeschränkt würde.320 Konkret hieß das, dass auch psychopathische Persönlichkeiten „Bildsamkeit“ besaßen.321 Demzufolge konnten in der Anlage begründete Tendenzen zu abweichendem Verhalten durch rechtzeitige und geeignete äußere Einwirkungen verhindert bzw. minimiert werden. Es kam also darauf an, für jede Persönlichkeit individuelle pädagogische Maßnahmen zu finden, die diesem Ziel dienten. Darin bestand für sie der Sinn der Forschungsarbeit an den Berliner Einrichtungen des DVFjP, und daran hielten sie weiterhin fest. Es lassen sich jedoch Änderungen in der argumentativen Strategie feststellen.

„Grenzen der Erziehbarkeit“ versus Verantwortung der Erziehenden Im Juni 1930 fanden in Dresden zwei zusammenhängende Tagungen des DVFjP und der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen zur Anlage-UmweltProblematik statt. Während am ersten Konferenztag über die Ursachen der Schwersterzieh-

318 Vgl. in diesem Band, S. 74 f. 319 Homburger 1929, hier insbesondere der – vermutlich von Ruth von der Leyen stammende – Bericht über die Aussprache zum Referat, der auf den eigentlichen Vortragstext folgt: 24. 320 Bittner/Deutsch 1990, 61. 321 Stern 1918, 101 f.

5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Anlage-Umwelt-Debatte 263

barkeit debattiert wurde, stand am zweiten Tag die Bedeutung des Anlagefaktors und des Milieus beim Verbrechen im Mittelpunkt. Da Franz Kramer anstelle des verhinderten Werner Villinger kurzfristig eines der beiden einleitenden Referate übernehmen musste,322 lässt sich die Berliner Argumentationslinie aus erster Hand analysieren und kann zudem mit Ruth von der Leyens Diskussionsbericht abgeglichen werden, der notwendigerweise eine stärker objektivierende Diktion hatte, obgleich die Sozialpädagogin an den entscheidenden Stellen durchaus ihre Zugehörigkeit zu einem der beiden theoretischen „Lager“ deutlich machte. Die neue Strategie bestand darin, die eigene Position stärker als ambivalent darzustellen, dabei anlage-theoretischen Auffassungen durchaus näher zu kommen, sie aber zugleich ständig zu relativieren. So formulierte Kramer in Bezug auf die viel diskutierten „Grenzen der Erziehbarkeit“: „Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß unserer erzieherischen Einwirkung bestimmte, und wenn man will, sogar relativ enge Grenzen gesetzt sind, Grenzen, die vor allem bedingt sind durch die konstitutionell bedingte Persönlichkeit des Kindes.“323

In den folgenden Sätzen wird dieser Aussage eine neue Richtung gegeben, indem nämlich nicht die Konsequenzen, etwa für die Behandlung von Kindern oder Jugendlichen, bei denen „Grenzen der Erziehbarkeit“ festgestellt wurden, thematisiert werden, sondern vielmehr die Verantwortung der Erziehenden, diese Grenzen zu erkennen, um die Erziehungsziele nicht falsch zu setzen, also „die Möglichkeiten der Einwirkung weder zu überschätzen, aber auch nicht zu unterschätzen“.324 Unerziehbarkeit war damit nicht mehr ein Konflikt zwischen Kind und Gesellschaft, sondern ein wissenschaftliches Definitionsproblem. Unter der Hand lautete die Botschaft: Die „Grenzen der Erziehbarkeit“ liegen nicht in den zu Erziehenden, sondern in der Art der Erziehung. An anderer Stelle verpackte Kramer seine Distanzierung von erbbiologischen Auffassungen, wie sie auch der ursprünglich vorgesehene Referent vertrat, in eine Zustimmung, indem er „Herrn Villinger durchaus beistimmen [mochte], daß es ganz oder vorwiegend exogen bedingt Unerziehbare wohl nicht gibt, daß eine endogene Komponente immer vorhanden sein muß, doch dürfen wir die Bedeutung exogener Momente nicht unterschätzen“.325

Dem Nachweis des relativierenden Halbsatzes widmete sich der größte Teil von Kramers Referat. Er konstatierte, dass die Unerziehbarkeit oft ein „Kunstprodukt“ sei, hervorgerufen 322 323 324 325

Kramer 1930a, 131. Die Gründe für Villingers Absage sind nicht überliefert. Kramer 1930a, 132. Kramer 1930a, 132 f. Kramer 1930a, 133.

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5. Praxis im Netzwerk

„[d]urch andauernde Erziehungsmaßnahmen, die der Eigenart des Jugendlichen nicht angepasst sind, [d]urch frühzeitige Milieuschädigung, durch andauerndes Hin- und Hergeworfensein des Kindes, durch häufigen Wechsel in der Erziehung, wo an jeder Stelle an einem verschiedenen Strang gezogen wird, wo übertriebene Strenge mit allzu großer Nachsicht wechselt“.326

Neu war auch, nicht die Chancen für die erzieherische Beeinflussung besonders zu betonen, die die Milieuempfindlichkeit psychopathischer Konstitutionen mit sich brachte, sondern im Gegenteil auf die Gefahren hinzuweisen, die daraus für die weitere Entwicklung der Jugendlichen erwuchsen, selbst wenn es bereits Erziehungserfolge gegeben hatte.327 Die Stoßrichtung dieses Arguments war klar: Wenn „gerade die Zugänglichkeit exogenen Einflüssen gegenüber […] ein Anzeichen übler Vorbedeutung“ sein konnte, dann bestand in der Verhinderung negativer äußerer Faktoren die eigentliche Herausforderung der Psychopathenfürsorge, nicht aber in der Suche nach den inneren Bedingungen auffälligen Verhaltens. Letzteres wurde von Kramer zwar als Ziel der Forschungstätigkeit postuliert, aber ebenfalls umgehend wieder zurückgenommen. Die Anlagemomente psychopathischer Störungen hätten weitgehend hypothetischen Charakter. So beschrieben die psychiatrischen Typenbildungen von Psychopathie, die eigentlich zum endogenen Kern einer bestimmten Störung hinführen sollten, letztlich „nur Verhaltungsweisen“, also eine äußere Schicht der Persönlichkeit. „In das eigentliche Wesen eines Psychopathen“ könne man „erst dann Einblick gewinnen, wenn es […] gelingt, durch die zutage tretende Schicht des äußeren Verhaltens zu dem vorzudringen, was, in der Anlage begründet, das Wesen des Jugendlichen ausmacht“.328 Schon an der Tautologie wird deutlich, dass Kramer entweder ratlos war, wie das Vordringen zur Anlage zu bewerkstelligen sei, da bisher noch kein materielles Substrat derselben lokalisiert worden war, oder dass er dem Vorgang skeptisch gegenüberstand, weil sich auf diese Weise das Problem von Verhaltensstörungen nicht lösen ließ. Im Übrigen könne ein Blick auf die inneren Grundlagen psychopathischer Konstitutionen – wie auch immer er zustande kommen mochte – zu Überraschungen führen, denn die „Schwierigkeiten und die Gefährdungen“, die sich dann offenbarten, wären oft „von ganz anderer Art, als man es nach dem ursprünglichen Verhalten angenommen hätte“.329 Auch das war eine Relativierung der Bedeutung des Anlagefaktors. Wenn dieser nicht für das Verhalten verantwortlich zu machen war, aufgrund dessen der Jugendliche als unerziehbar galt, dann war der Sinn der Suche danach nicht recht einzusehen. 326 327 328 329

Kramer 1930a, 136. Kramer 1930a, 136 f. Kramer 1930a, 135. Kramer 1930a, 137.

5.4 Franz Kramer und Ruth von der Leyen in der Anlage-Umwelt-Debatte 265

Psychopathenfürsorge als individualisierende Wissenschaft Kramer selbst thematisierte die ambivalente Haltung, die in seinem Vortrag zum Ausdruck kam. Man könne gegen seine Überlegungen, „auch wenn sie vielleicht manches richtige enthalten“, einwenden, dass sie „praktisch doch ziemlich belanglos sind“, denn „die hier gestellten Forderungen [ließen sich] ja gar nicht durchführen“. Indem er sie aber noch einmal aufführt, gibt er einerseits Einblick in seine Vorstellungen von Psychopathenfürsorge als individualisierender Wissenschaft und leitet andererseits pragmatisch Mindestansprüche an die von ihm als empirischen Vorgang begriffene Forschung ab: „… man müsste dann jedem Jugendlichen einen besonders verständnisvollen Mentor zur Seite stellen, der sich dauernd seiner annimmt, ihn studiert und die richtigen Maßnahmen für ihn ausdenkt und auch damit wäre vielleicht manchem noch gar nicht geholfen, da auch dieser dauernd daneben stehende Mentor für ihn eine Schädlichkeit bedeuten kann. Daß diese Forderung nicht gestellt und nicht erfüllt werden kann, ist selbstverständlich; wir können aber so vorgehen, daß wir durch eingehende Beobachtung und Sammlung von Einzelfällen allmählich die theoretischen und praktischen Grundlagen schaffen, um darauf allgemeine Regeln aufzubauen und damit zu Grundsätzen zu gelangen, die auch für eine nicht restlos individuell eingestellte Erziehung maßgebend sein können.“330

Die Strategie, das eigene Diskursverhalten an die tatsächlich vorliegende Ambivalenz des Psychopathieparadigmas anzupassen, zeigte offenbar Wirkung. Die Mehrzahl der von Ruth von der Leyen zum Teil ausführlich wiedergegebenen Diskussionsbeiträge betonte die Notwendigkeit, das eng mit dem Psychopathiekonzept zusammenhängende Phänomen der Unerziehbarkeit sowohl unter dem Aspekt des Milieus als auch der Anlage zu erforschen und dass es keinen zwingenden Zusammenhang zwischen einem bestimmten psychiatrischen Psychopathietypus – als einzig vorhandenem Hinweis auf eine bestimmte Anlage – und Unerziehbarkeit gab.331 Hier wird wieder die neue Diskurs-Strategie des Berliner DVFjP-Kreises greifbar, denn es war ausgerechnet Kramer, den von der Leyen dahingehend zitierte, dass man bei „sorgfältiger Beschäftigung mit Psychopathen, die man kennt“, den Eindruck habe, „daß man doch einmal an eine Grenze kommt, wo das Verständnis aufhört, eine Grenze, die in der abnormen Konstitution liegt“.332 Zugleich nahm aber Kramer den Fehdehandschuh auf, den ihm Hans Heinze aus Leipzig hinwarf, der sich als einziger Diskussionsteilnehmer deutlich als Anlage-Theoretiker positionierte, indem er behauptete, „daß sich auch im frühen 330 Kramer 1930a, 138. 331 Leyen 1930a, 116–119. 332 Leyen 1930a, 118.

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5. Praxis im Netzwerk

Kindesalter eine Gruppe absetzen läßt, die von vornherein prognostisch ungünstig erscheint: es sind unsere ,Monstra‘, die durch ihre außerordentliche Gemütsarmut auffallen“. Dies war eine Replik auf eine Aussage in Kramers Referat über das „Kunstprodukt“ Unerziehbarkeit, insbesondere bei „den sensitiven Psychopathen, die auf Grund seelischer Misshandlung in eine Abwehrstellung geraten, die sie als roh und gefühlsarm erscheinen lassen. Gerade bei der Gefühlskälte ist die konstitutionell bedingte von der künstlich erzeugten außerordentlich schwer zu trennen.“333

In seiner Gegenrede zu Heinzes Wortmeldung wurde Kramer deutlich und bemerkte, „daß er sich in langen Jahren vergeblich bemüht habe, derartige ‚Monstra‘ zu finden“.334 Weiter führte er aus: „Immer waren anamnestisch bestimmte Milieuschädigungen wahrscheinlich zu machen, und die Weiterentwicklung zeigte, daß es sich nicht um konstitutionelle Gemütsarmut handelte, sondern um ein exogenes Verhalten, daß später einem anderen Platz machte.“335

Hier manifestierte sich erstmals die „Monstra-Kontroverse“, die zu einem epistemologischen Scheideweg für die Psychopathenfürsorge wurde.

333 Kramer 1930a, 136. 334 Leyen 1930a, 118. 335 Leyen 1930a, 118.

6. Das Ende

In ihrer Rückschau auf die Entwicklung der Wissensordnung Psychopathenfürsorge von 1931 konnte Ruth von der Leyen mit Bezug auf die Anlage-Umwelt-Problematik noch die Offenheit des Forschungsfeldes konstatieren: Die organische Bedingtheit von Erziehungsschwierigkeiten, die spezifische Reaktionsweise eines bestimmten Anlagetypus, die Veränderbarkeit einer Persönlichkeit bis zur Abwandlung in ihr Gegenteil – all diese Probleme sah sie als Resultat des Zusammentreffens „bestimmter noch keineswegs erforschter Anlage-, Umwelt-, Erlebnis- und Erziehungsfaktoren“.1 Diese Einschätzung wurde schon zwei Jahre später radikal infrage gestellt.

6.1 Die „Monstra“-Kontroverse „Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeiten“ Ebenfalls 1931 hatte Paul Schröder seine Monographie „Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeiten“ veröffentlicht. Hier fasste er die theoretischen Voraussetzungen der Arbeit auf den Leipziger psychiatrischen Beobachtungsabteilungen für Kinder und Jugendliche zusammen. Die entsprechenden Fallbeispiele aus der Stationspraxis steuerte Schröders Oberarzt Hans Heinze bei, der ihre Darstellung zugleich mit weiteren theoretischen Erörterungen versah.2 Schröders Konzept lehnte sich an die Charakterologie des Psychologen und Philosophen Ludwig Klages (1872–1956) an,3 es unterschied sich damit deutlich von den vorherrschenden, psychiatrisch geprägten Erklärungsansätzen für auffälliges Verhalten.4 So kritisierte er die allgemein übliche Verwendung des Psychopathiebegriffs. Seiner Auffassung nach war Psychopathie, wie auch die eigentlichen Psychosen, als Krankheit anzusehen und traf daher nur auf eine kleine Gruppe sozial devianter Kinder und Jugendlicher zu.5 Die Ursache der meisten Ver1 2 3 4 5

Leyen 1931, 627. Heinzes „Erläuternde Beobachtungen“ entsprechen ihrem Umfang nach etwa dem Text Schröders, in dem mit Hilfe von Marginalien auf die den Ausführungen jeweils entsprechenden Fälle verwiesen wird. Man kann also durchaus von einem Gemeinschaftswerk der beiden Leipziger Forscher sprechen. Zu Klages Biographie und Werk vgl. Holz, Friedbert, „Klages, Ludwig“, in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), S. 700–702. Online: http://www.deutsche-biographie.de/pnd11856269X.html [eingesehen am 15.05.2015]. Donalies 1932; Feuchtwanger 1932, 280; Lazar 1932; Liebold 1933, 4; Hahn 1934, 199. Schröder 1931, 18, 82.

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6. Das Ende

haltensabweichungen und Erziehungsschwierigkeiten sei jedoch nicht pathologisch, sondern liege in der Charakterstruktur der Betroffenen begründet, die sich aus verschiedenen elementaren „Seiten des Seelischen“ zusammensetze. Im Einzelnen unterschied Schröder folgende Grundelemente des Charakters: Verstand, Gemüt, Halt, Phantasie, Geltungsstreben, Antrieb, Gefühle und Stimmungen, Motorisches Verhalten, Wollen (Wille) sowie Triebe.6 Diese seien jedem Menschen anlagemäßig gegeben; die Abweichung von der „Spielbreite des Durchschnittes“ hinge von der jeweiligen Menge der seelischen Anteile und ihrer Wechselwirkung ab. Ein Zuviel oder Zuwenig an einzelnen oder mehreren dieser „Charakterradikale“ sei „abartig“, aber nicht krank, extrem große Abweichungen bezeichnete Schröder als „monströs“.7 Die Ablehnung des Psychopathiekonzepts brachte es mit sich, dass Schröder und Heinze auch die damit verbundenen Typologisierungsversuche verwarfen.8 Sie sahen in der Abgrenzung von Psychopathievarianten einen untauglichen Versuch, „ein letztes Anlagemäßiges, nicht weiter Rückfahrbares“ zu markieren. Dies gelinge erst durch ihre „mehrdimensionale, strukturanalytische und individuell-charakterologische Betrachtungsweise“, mit der sie zu den eigentlichen Ursachen sozialer Devianz vordringen würden. Sie begnügten sich nämlich nicht mit der „Schilderung der Verhaltenseigenschaften“, sondern seien bemüht „die Unterschiede der seelischen Qualitäten allseitig quantitativ zu bestimmen“.9 Zusammen mit der Erkenntnis der „mannigfaltigen Kombinationen der einzelnen Anlagen, [und ihrer] Wechselwirkung aufeinander“ sollten diese Bemühungen dann in der jeweils individuellen statischen und dynamischen Erfassung des Gesamtcharakters münden.10 In dieser Form der Individualisierung sahen Schröder und Heinze den Hauptnutzen ihrer Methode „für das praktische Leben“, weil auf ihrer Grundlage eine „ernste charakterliche Prognose“ möglich sei, nach der „unbekümmert“ gehandelt werden könne.11 Gemeint war pädagogisches Handeln, wobei es den beiden Ärzten vor allem darauf ankam, diesem Handeln seine – in der Charakteranlage gegebenen – Grenzen aufzuzeigen, um nicht „dem einzelnen Kind gegenüber falsche Bahnen einzuschlagen und der Allgemeinheit gegenüber nutzlosen Aufwand an Mühe und Mitteln zu verschleudern“.12 Zwar wären die beschriebenen sozialen Abweichungen nicht genuin psy6 7 8 9 10 11 12

Schröder 1931, 24–82. Schröder 1931, 15, 20 f.; Heinze 1932, 377. Schröder 1931, 7. Heinze 1933, 332, 363. Liebold 1933, 5. Vgl. Schröder 1931, 126. Heinze 1933, 365; Schröder 1931, 126. Schröder 1931, 22. Schon drei Jahre zuvor hatten Schröder und Heinze ausgeführt: „Der schöne Optimismus, mit welchem heute mehr als je die Pädagogik im weitesten Sinne sich derjenige[n] Elemente annimmt, die sich und anderen Schwierigkeiten machen, muß wissen, wo seine Grenzen sind, muß darüber unterrichtet werden, welche charakterlichen Eigenschaften, schicksalsmäßig bedingt, nicht

6.1 Die „Monstra“-Kontroverse

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chiatrisches Gebiet, da es sich in der Mehrzahl eben nicht um krankhafte Erscheinungen handele, gleichwohl sei der Psychiater berufen, dem Pädagogen die entscheidenden Hinweise über die Aussichten einer erzieherischen Einflussnahme zu geben, denn: „Was der psychiatrisch geschulte Arzt vor dem Pädagogen stets mitbringt, ist sein Geübtsein in der Beachtung seelischer Zustände und seelischer Einzelerscheinungen von der Beurteilung und Behandlung Geisteskranker her, ist ferner sein durchschnittlich stärkeres Gewohntsein an leidenschaftslose Betrachtung von abartigem Verhalten, wenig gestört durch ethische Werturteile …“.13

In auffallendem Gegensatz zu diesem professionellen Selbstbild stand eine Grundidee des Schröder’schen Systems, die er selbst als wesentlichen Unterschied zu anderen Modellen kennzeichnete, „die Heraushebung des ‚Gemüt‘ Genannten als einer besonderen, anlagemäßig weitgehend festgelegten Seite des Seelischen“.14 Den Begriff „Gemüt“ verwendete er mangels eines Äquivalents im Deutschen zu Agape (griech.) oder Caritas (lat.) im Sinne von „Nächstenliebe“. Diese von anderen Seiten des Seelischen unabhängige Eigenschaft jedes Menschen bestimmte für ihn das Verhältnis zu den Mitmenschen; „alle Ethik und Moralistik handelt von ihr“.15 Insbesondere betonte er die Unabhängigkeit des Gemüts vom Verstand und kritisierte zugleich die „intellektualistische Psychologie und Philosophie“, die kein Gemüt kenne, sondern ethisches Handeln nur als „Resultante aus verstandesmäßigen Überlegungen und Erfahrungen“ ansehe.16 Die Bedeutung, die die Leipziger Forscher diesem Punkt beimaßen, wurde dadurch unterstrichen, dass Hans Heinze ein Jahr nach Erscheinen der charakterologischen Monographie mit seiner Habilitationsschrift eine weitere Arbeit vorlegte, die sich ausschließlich mit der Kategorie „Gemüt“ beschäftigte und die in der Zeitschrift für Kinderforschung veröffentlicht wurde.17 Darin versuchte er – untermauert mit weiteren Fallbeispielen aus der klinischen Beobachtung – nachzuweisen, was er am Ende in dem Satz zusammenfasste: „Ich habe, an Schröders Forschungsrichtung orientiert, das Gemüt herausgestellt als eine besondere seelische Seite, zur Materie des Charakters gehörig, jedem Einzelnen an Menge unterschiedlich anlagemäßig mitgegeben, nicht durch Lehren übertragbar oder durch Lernen erwerbbar.“18

13 14 15 16 17 18

oder kaum beeinflußbar und höchstens bis zu einem gewissen Grade kompensierbar sind.“ Schröder/ Heinze 1928, 192. Schröder 1931, 18. Schröder 1931, 7. Ebenso Heinze 1932, 371. Schröder 1931, 28 f. Schröder 1931. 31, 7. Heinze 1932. Heinze 1932, 410.

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6. Das Ende

Rezeption der Leipziger Monographie und Beginn der NS-Herrschaft Ungeachtet der eigenen Überzeugung von dem innovativen Gehalt und der grundlegenden Bedeutung ihres Konzeptes, das besonders von Heinze offensiv vertreten wurde, fand das Modell „charakterologischer Plus- oder Minusvarianten“19 keine ungeteilte Zustimmung. Die meisten Rezensenten besprachen Schröders Monographie wohlwollend,20 es wird jedoch deutlich, dass die charakterologische Betrachtungsweise allgemein zwar als eine wichtige Forschungsmethode angesehen wurde, ohne ihr jedoch die von Schröder und Heinze postulierte Zentralität zuzubilligen. Im Besonderen wurde die Charakterologie von Klages in psychiatrischen Kreisen eher skeptisch gesehen.21 Auch die fehlende Plausibilität der Abgrenzung gegenüber dem Psychopathiebegriff wurde bemängelt.22 Weiterhin wurde ausgerechnet der Nutzen derjenigen Kategorie bezweifelt, deren Heraushebung Schröder und Heinze besonders wichtig war. Gemüt sei ein reichlich unklarer psychologischer Begriff, monierte ein Kritiker, und die beiden Autoren machten es dem Leser nicht leicht einzusehen, dass seine Verwendung „wissenschaftlich und praktisch“ weiterhelfe.23 Ebenso blieb die Überzeugung, Gemüt sei ein elementares Strukturelement des Charakters, nicht unwidersprochen. Die Schaffung dieser seelischen Einheit sei eine „Verdinglichung von komplexen Gefühlen“, die eine Analyse erschwere und dazu führe, „Teilkomponenten und Ansätze“, aus denen sich Gemüt zusammensetze, zu übersehen.24 Der stärkste Widerspruch gegen Schröders und Heinzes Konzept kam jedoch am Ende des Jahres 1934 in Form einer wissenschaftlichen Studie aus Berlin. Es war die erste gemeinsame Arbeit, die Ruth von der Leyen und Franz Kramer in ihrer langjährigen Zusammenarbeit verfassten und in der von ihnen herausgegebenen Zeitschrift veröffentlichten. Der Artikel „Entwicklungsverläufe ‚anethischer, gemütloser‘ psychopathischer Kinder“ verdeutlicht in besonderer Weise die Differenz in der epistemologischen Herangehensweise zwischen den Forschungszentren in Leipzig und Berlin. Es ging von der Leyen und Kramer darin nicht um eine Kritik der charakterologischen Methode an sich. Auch die Frage, ob die von ihren Leipziger Kollegen definierten elementaren seelischen Seiten für die wissenschaftliche Analyse brauchbar waren und ob sie ausreichten, um ein umfassendes Bild einer Persönlichkeit zu gewinnen, diskutiert der Beitrag nicht.25 Für sie stand ein anderer Aspekt im Vordergrund: 19 20 21 22 23 24 25

Göppel 1989, 172. Bostroem 1932; Donalies 1932; Feuchtwanger 1932, 280; Krauss 1931; Lazar 1932; Werner 1932. Werner 1932, 216; Hahn 1934, 199 Lazar 1932. Hahn 1934, 197 f. Hahn 1934, 198. Zu dieser Seite der Kritik am Schröder’schen Modell vgl. Asperger 1944, 79: „Obwohl diese Betrach-

6.1 Die „Monstra“-Kontroverse

271

die von Schröder und Heinze behauptete, anlagemäßig bedingte Unveränderbarkeit dieser Charakterradikale. Die Anlage-Umwelt-Problematik hatte zu diesem Zeitpunkt für die Praxis der Psychopathenfürsorge einen neuen Stellenwert und für viele Betroffene auch eine persönlich bedrohliche Dimension bekommen. Seit dem Frühjahr 1933 hatten sich die politischen Rahmenbedingungen in Deutschland grundlegend geändert. Das rassenhygienische Paradigma als Kernbestandteil der nationalsozialistischen Weltanschauung durchdrang, parallel zum forcierten Ausbau der politischen Macht der NSDAP, zunehmend den gesundheits- und fürsorgepolitischen Diskurs und verdrängte die Pluralität der Anschauungen aus der Weimarer Zeit. Seinen deutlichsten Ausdruck fand dieser Paradigmenwechsel in dem bereits am 14. Juli 1933 erlassenen und seit dem 1. Januar 1934 geltenden Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN). Psychopathie war zwar nicht in die Liste der Erbkrankheiten aufgenommen worden, bei denen die zwangsweise Unfruchtbarmachung drohte, trotzdem geriet die Fürsorge für verhaltensauffällige und erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche in den Generalverdacht einer sinnlosen Verschwendung von Ressourcen, die den „gesunden Gliedern des Volkskörpers“ entzogen würden. Welcher Ton inzwischen vorherrschte, wird an einem Beitrag deutlich, der in einer medizinischen Fachzeitschrift unter dem Titel „Zahlen sprechen“ gegen eine „übertriebene Minderwertigenfürsorge“ polemisierte.26 Dort hieß es, „gesunde“ Arbeiter und Angestellte müssten mit weniger Geld pro Tag auskommen als „FZ [Fürsorgeerziehungszöglinge – d. Vf.], Verbrecher, Geisteskranke und Krüppel“. Um dieser Behauptung wissenschaftliche Autorität zu verleihen, wurde Professor [August] Bier zitiert: „Unter diesen Umständen muß man entweder verrückt, tuberkulös, vorbestraft oder FZ sein, damit sich die Fürsorge überhaupt um einen kümmert.“ Apologetisch endet die Notiz: „Erst der neue Staat wird diesem Unwesen ein Ende machen.“ Wiedergegeben wird die Passage im Tätigkeitsbericht des Allgemeinen tungsweise – mit Recht – für sich in Anspruch nimmt, […] mehrdimensional zu sein, so hat man doch […] oft das Gefühl, daß die Schröder’schen ‚Dimensionen‘ oder Seiten nicht ausreichen, daß es noch andere gibt, die in diesem System nicht vorgesehen sind. Das ist ja ein Einwand der überhaupt jede systematische Charakterologie trifft. Hält man sich an ein von vornherein festgelegtes Schema, so wird man verlernen, auch solche Züge zu sehen und richtig zu beurteilen, die vielleicht wesentlich sind, dem Bilde seine eigentümlichen individuellen Züge geben, aber eben in dem festen System nicht vorkommen. Und ein zweiter, noch wesentlicherer Einwand: allzu leicht kann, wer dieses System der Persönlichkeitsbetrachtung anwendet, der Meinung verfallen, die menschliche Persönlichkeit lasse sich als Summe von Teilen erklären, als Summe von in sich selbst konstanten Gegebenheiten, die, in den verschiedenen Fällen nur quantitativ verschieden, durch einfache Addition ein Ganzes ergeben. Nun ist aber […] der Mensch […] eben nicht als eine Summe von Teilen zu verstehen, wenn man überhaupt seinem Wesen gerecht werden will.“ 26 Hier und nachfolgend Wolff 1934, 423.

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6. Das Ende

Fürsorgeerziehungstages e. V., den die Zeitschrift für Kinderforschung in ihrer letzten Ausgabe des Jahrgangs 1934 abdruckte. In dem Bericht wird, bei grundsätzlicher Zustimmung zur nationalsozialistischen Fürsorgepolitik, vorsichtige Kritik an solchen „irreführenden Presseveröffentlichungen“ geübt. Abgesehen von der Frage, ob es den Funktionären der Fürsorgeerziehung um das Wohl der ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen ging oder ob sie nur den Verlust von Einfluss befürchteten, gibt der AFET-Bericht eine Vorstellung von der Atmosphäre aggressiver Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen, die eine wirkliche Debatte über konträre gesellschaftspolitische Fragen nicht mehr zuließ. In dieser Situation erschien der Artikel Ruth von der Leyens und Franz Kramers. Es spricht einiges dafür, dass seine Veröffentlichung den Zeitumständen geschuldet war: Die Sozialpädagogin und der Psychiater versuchten hier mit der ganzen Autorität ihrer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Beschäftigung und praktischen Erfahrungen mit erziehungsschwierigen Kindern und Jugendlichen öffentlich eine Gegenposition zu den grassierenden deterministischen Erklärungsmodellen abweichenden Verhaltens zu formulieren. Sie nutzten dafür ihre Funktion als Herausgeber des wichtigsten fachwissenschaftlichen Organs auf diesem Gebiet; zugleich dürfte ihnen aber klar gewesen sein, dass die Möglichkeit hierzu nicht mehr lange gegeben war. Zu bitter waren ihre Erfahrungen in den vorangegangenen anderthalb Jahren, als dass sie noch Illusionen über ihre zukünftige Stellung im „neuen Staat“ gehegt haben dürften. Franz Kramer hatte die ersten beruflichen Diskriminierungen aufgrund seiner jüdischen Herkunft erfahren. Zwar konnte er vorerst – nicht zuletzt, weil sich Karl Bonhoeffer für ihn einsetzte – an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité weiterarbeiten, aber am 23. November 1933 wurde ihm unter Berufung auf das NS-Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums die Lehrerlaubnis entzogen.27 Rassistisch motivierte Ausgrenzung war Ruth von der Leyen als „Arierin“ erspart geblieben, sie musste allerdings im Umgang mit den Behörden, die bisher die Arbeit des DVFjP unterstützt hatten, erfahren, dass eine solche Förderung nunmehr „aus grundsätzlichen Erwägungen“ nicht mehr gewährt werden sollte.28 Erst nach längerem Kampf erklärte sich das Reichsministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung im Juni 1934 schließlich doch bereit, 700 Reichsmark als Zuschuss für die Vergütung von Boletta Pederzani zu zahlen, die zu diesem Zeitpunkt als pädagogische Leiterin auf der Kinderbeobachtungsstation tätig war. Die Geschäftsführerin des DVFjP muss es als besondere Demütigung empfunden haben, sich für diese Beihilfe beim Wissenschaftsministerium zu bedanken. Der Artikel über die ‚anethischen‘ Kinder ist daher nicht nur als Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte zu lesen, sondern auch als Versuch der Stellungnahme gegen den Zeitgeist. 27 UAHUB, Nervenklinik Nr. 3, Bl. 88–90 sowie UK-Personalia-K-294/2. 28 Hier und nachfolgend Barch R 4901/1355, Bl. 231, 256, 257, 261.

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Er erschien zu diesem – wahrscheinlich letztmöglichen – Zeitpunkt, obwohl Kramer und von der Leyen davon ausgingen, dass für eine abschließende Bewertung ihrer Ergebnisse „die Beobachtungszeit vielleicht noch zu kurz“ war.29

„Entwicklungsverläufe ‚anethischer, gemütloser‘ psychopathischer Kinder“ Der über einhundert Seiten starke Beitrag war die vierte Untersuchung aus den Berliner Forschungseinrichtungen, die sich mit einem bestimmten Psychopathietypus beschäftigte. 30 Im Fokus standen jetzt die sogenannten „gemütsarmen Psychopathen“, also ein „abgegrenztes Symptomenbild, bei dem aus dem Verhalten der Kinder der Mangel an ethischen Gefühlsund Gemütserregungen klar hervorzugehen scheint“.31 Den größten Teil der Studie nehmen die Lebensgeschichten von elf Kindern in Anspruch, die jeweils mehr als zehn Jahre lang, in zwei Fällen sogar mehr als 15 Jahre, von den Pädagog_innen und Ärzt_innen der Beratungsstelle für Heilerziehung des DVFjP und der KBS betreut und beobachtet worden waren. Kramer und von der Leyen wiesen auf diesen Umstand besonders hin, weil solche Langzeitstudien bis dahin nicht vorlagen bzw. die in der vorhandenen Literatur mitgeteilten Fallgeschichten zum großen Teil auf Informationen aus zweiter oder dritter Hand beruhten.32 Ziel der Arbeit war es, die vielfach geäußerte These zu überprüfen, nach der der „brutalegoistische“ Verhaltenskomplex auf konstitutionell bedingten Defekten beruhte. Als Vertreter dieser Anschauung wurden beispielhaft Emil Kraepelin und Paul Schröder zitiert, letzterer mit der Aussage: „Der Anethische ist und bleibt gemütsarm, erzieherischer Erfolg ist nicht zu erwarten, Mühe und Kosten sind vergeblich. Ist das Minus geringer, so sind Resultate in sehr weitem Umfange möglich, erreichbar ist dann wenigstens ‚moralisches Verhalten‘, schwerlich ‚Besserung der moralischen Gesinnung‘.“33

Kramer und von der Leyen machten schon zu Beginn des Artikels deutlich, dass ihnen bei näherer Beschäftigung mit der Gruppe „gemütsarmer psychopathischer“ Kinder Zweifel an dieser Auffassung, die sie früher geteilt hätten, gekommen seien. Regelmäßig hätten sie gefunden, „daß neben der fast immer vorhandenen erblichen Belastung schwere Schäden in Erziehung und Pflege der Kinder vorlagen“, insbesondere schon in der frühen Kindheit. 29 30 31 32 33

Kramer/Leyen 1934, 309. Zur heuristischen Typologie Kramers vgl. in diesem Band, S. 184. Kramer/Leyen 1934, 305. Kramer/Leyen 1934, 307. Paul Schröder zit. nach Kramer/Leyen 1934, 308. Auch Heinze unterschied, in Auseinandersetzung mit Kramer, zwischen Verhalten und Gesinnung. Heinze 1932, 392.

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Andererseits hätte die Versetzung in „günstige erzieherische Bedingungen“ zu einem auffallend schnellen „Wechsel des Verhaltens“ und einem raschen Rückgang der anethischen, gefühllosen und stumpfen Verhaltensmuster geführt.34 Ihre Vermutung sei nunmehr gewesen, dass der Symptomkomplex „Gemütsarmut“ als Reaktion einer psychopathischen Anlage auf ungünstige Umweltbedingungen entsteht.35 Um sie zu beweisen, sei jedoch eine mehrjährige Beobachtung der Kinder erforderlich, insbesondere, um ihre „Bewährung in der Selbständigkeit und im Beruf abzuwarten“.36 Kramer und von der Leyen verwendeten bei der Abwägung des Einflusses endogener und exogener Faktoren, die für sie zur entscheidenden Forschungsfrage geworden war, einen komplexen Milieubegriff. Umweltbedingungen wie die soziale und wirtschaftliche Lage hätten zwar nachweisbare Auswirkungen auf die psychische Situation eines Kindes. Entscheidend sei aber „die psychopädagogische Umwelt“, in der es aufwüchse. „Die psychopädagogischen Lebensbedingungen können ungünstig sein, auch wenn die äußeren Verhältnisse gut und geordnet erscheinen.“37 Die Umwelt müsse stets „in ihrer Beziehung zum Kind“ betrachtet werden, was genaue Kenntnisse nicht nur des Elternhauses, sondern „aller Eindrücke und Erlebnisse, die auf das Kind wirksam geworden sind“, erfordere.38 Die nachfolgenden Fallgeschichten zeigen den Werdegang von Kindern, die bei der Kontaktaufnahme mit der Psychopathenfürsorge in ihren Beziehungen zu anderen Menschen vordergründig als gemütlos, gefühllos, stumpf und passiv erschienen. Sie verhielten sich – so Kramer und von der Leyen zusammenfassend – „als ob sie allein für sich da wären und berücksichtigen die Personen ihrer Umgebung nur insoweit diese ihren egoistischen Interessen nützlich sind oder sie stören“; erzieherischer Beeinflussung setzten sie starken Widerstand entgegen.39 Ausführlich wird auf die ursprünglich beobachteten Symptome des „brutal-egoistischen“ Verhaltensbildes eingegangen: gieriges und keinen Ekel kennendes Essverhalten, Lügen, Stehlen, Herumtreiben, Gleichgültigkeit gegenüber Schmerzen, Lob und Tadel, „schmutzige“ Sprache und sexuelle Überaktivität. Durch die gezielte psychopädagogische Einflussnahme der Betreuerinnen des DVFjP, die auf einer genauen Beobachtung der Kinder basierte, seien 34 Kramer/Leyen 1934, 309. 35 Der Auffassungswandel bezüglich der Ursachen von Psychopathie wurde auch von Heinze belegt, der ihn anhand früherer und späterer Arbeiten Kramers aufzeigte. Heinze 1932, 391. 36 Kramer/Leyen 1934, 309. 37 Kramer/Leyen 1934, 309 f. 38 Kramer/Leyen 1934, 310. Vgl. auch Herman Nohl 1925, 24: „Sein [Kramers – d. Vf.] Begriff des Milieu bedeutet nicht mehr das soziale Milieu, sondern den persönlich-pädagogisch-moralischen Bezug, in dem das Kind steht.“ 39 Kramer/Leyen 1934, 393.

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diese Symptome zum Teil recht schnell abgeklungen und hätten damit die eingangs geäußerte Vermutung über die milieubedingten Ursachen von „Gemütsarmut“ bestätigt. In einem Zwischenfazit konstatierten Kramer und von der Leyen: „Die Schwierigkeiten, mit denen die Erzieher zu kämpfen hatten, lagen nicht darin, daß den Kindern die altruistischen Empfindungen mangeln, daß ‚Liebe und Ehrgeiz keinen Anknüpfungspunkt finden‘ (Kräpelin), man gewinnt im Gegenteil den Eindruck, daß es sich um das Hervortreten einer wirklichen ‚moralischen Gesinnung‘ handelt – keineswegs nur um ein durch Zwang, Gewöhnung oder intellektuelle Einsicht erworbenes ‚moralisches Verhalten‘ (Schröder).“40

Die geschilderte Entwicklung zu einem sozialeren Verhalten verlief dabei niemals geradlinig und war von Rückschlägen gekennzeichnet, aber die ursprünglich das Erscheinungsbild bestimmenden, „brutal-egoistischen“ Züge verschwanden in zehn von elf Fällen. Wenn dennoch für mehrere Jugendliche eine unsichere Prognose abgegeben wurde, so lag das an anderen, vermutlich anlagebedingten psychischen Problemen, die erst im Verlauf der langjährigen Beobachtung erkannt wurden. Zusammenfassend kamen Kramer und von der Leyen zu dem Ergebnis, dass die „Bedeutung der Anlage […] keineswegs zu vernachlässigen [ist], aber das Entscheidende scheint uns, daß zwar eine abnorme Anlage vorliegt, daß sie aber nicht eindeutig das asoziale Verhalten bestimmt. Nicht Gemütlosigkeit, Fehlen altruistischer Empfindungen usw. sind gegeben, sondern die Anlage bedingt nur die Möglichkeit, unter bestimmten äußeren Bedingungen [Hervorhebung d. Verf.] in ein brutal-egoistisches Verhalten zu verfallen.“41

Die Kontroverse in der Zeitschrift für Kinderforschung Paul Schröder war in Kramers und von der Leyens Arbeit mehrmals als Vertreter einer anlagetheoretischen Position zitiert worden, dessen Auffassung im Widerspruch zu den von ihnen präsentierten Forschungsergebnissen stand. Es war daher nicht verwunderlich, dass er bestrebt war, seine Argumentation zu verteidigen. Er schrieb einen Brief, um dessen ungekürzte Wiedergabe in der Zeitschrift für Kinderforschung er bat, „zur Klärung in weiteren Kreisen und zur Aufhellung von mancherlei Mißverständnissen“.42 Die Veröffentlichung des Briefes, der sich ausschließlich an Kramer richtete, während Ruth von der Leyen lediglich als dessen 40 Kramer/Leyen 1934, 399. 41 Kramer/Leyen 1934, 422. 42 Kramer/Leyen 1935 (Brief Schröders), 227.

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Mitarbeiterin Erwähnung findet, erfolgte im Frühjahr 1935, zusammen mit einer gemeinsamen Erwiderung der beiden. Schröders Hauptkritik war die aus seiner Sicht unzulässige Vermengung zweier verschiedener Kategorien – des Verhaltens und der „seelischen Gegebenheiten“.43 Gemütlosigkeit falle in der Regel nicht mit brutal-egoistischem Verhalten zusammen. Viel öfter würden gemütsarme Kinder „äußerlich und besonders auf Fernerstehende einen netten, liebenswürdigen, gut erzogenen, meist dazu frühreifen Eindruck“ machen.44 Die in Kramers und von der Leyens Beitrag beschriebenen Kinder und Jugendlichen gehörten gar nicht in die Kategorie einer „primären anlagebedingten Gemütsarmut“, wie sie Hans Heinze in seiner Habilitationsschrift von den „anethischen Verhaltensweisen bei milieubedingter, nur sekundärer und vorübergehender Abgestumpftheit und Verkümmerung“ abgegrenzt hätte.45 Die Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte der Berliner Fallgeschichten bezeichnete Schröder als „eine mehr äußerliche, bewußt unpsychologische Aufzählung“.46 Letztendlich warf er Kramer und von der Leyen vor, nicht auf die elementare seelische Kategorie „Gemüt“ in seinem Sinne eingegangen zu sein. Die Kritisierten erwiderten, sie hätten „von einer gründlichen Behandlung der Frage des Gemüts abgesehen, weil wir dieses schwierige Problem in dem Rahmen, der durch die in unserer Arbeit mitgeteilten Fälle gegeben war, nicht hätten erschöpfend behandeln können“.47

Das wirft einerseits ein Schlaglicht auf die völlig andersgearteten epistemologischen Überzeugungen der Kontrahenten. Für Schröder und Heinze standen das Erkennen elementarer Seiten des Seelischen und die Bestimmung der einem einzelnen Menschen davon gegebenen Menge im Mittelpunkt des Interesses. Der Hauptweg der Erkenntnis war die gedankliche Zuordnung empirischer Phänomene zu theoretischen Prämissen; Probleme traten vor allem dann auf „wenn man die Begriffe ungenügend scharf umschreibt“.48 Im Ergebnis ihrer Forschungstätigkeit sollte als Grundlage für den weiteren Umgang mit der jeweils untersuchten Person eine stabile individuelle Prognose möglich werden. Das Erkenntnisinteresse Kramers und von der Leyens war dagegen auf den prinzipiell unabschließbaren pädagogisch-therapeutischen Prozess gerichtet, in dessen Mittelpunkt stets ein konkretes Kind mit jeweils einmaligen Persönlichkeitseigenschaften stand. Schlussfolgerungen waren dabei auf einem breiten 43 44 45 46 47 48

Kramer/Leyen 1935 (Brief Schröders), 225. Kramer/Leyen 1935 (Brief Schröders), 224. Kramer/Leyen 1935 (Brief Schröders), 226. Kramer/Leyen 1935 (Brief Schröders), 225. Kramer/Leyen 1935, 227. Heinze in: Schröder 1931, 146.

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Fundament praktischer Erfahrungen zu ziehen, immer wieder zu überprüfen und gegebenenfalls zu revidieren.49 Als beweiskräftig galten nur Fälle, „die jahrelang unter psychiatrischer Kontrolle und unter stetiger, zweckmäßiger erzieherischer Beeinflussung“ gestanden hatten.50 Hauptziel der Forschungstätigkeit war die Anpassung der Beeinflussungsmaßnahmen an die besonderen Erfordernisse des jeweiligen Kindes. Andererseits ist die Erklärung Kramers und von der Leyens, dass selbst ihre langjährigen Beobachtungsergebnisse noch nicht für eine „erschöpfende Behandlung“ des Gemütsproblems ausreichten, ein Seitenhieb auf die vergleichsweise geringe Datenbasis, auf die sich Schröder und Heinze für ihre weitreichenden Schlussfolgerungen stützten. Heinze hatte postuliert: „Erschütternd sind die Misserfolge [der Erziehung – d. Verf.] bei monströs Gemütsarmen […] Trotz ihrer Entfernung aus den ungünstigen Umweltverhältnissen änderte sich weder während der klinischen Beobachtung noch während jahrelanger weiterer intensiver pädagogischer Betreuung ihr Verhalten […]“51

Diese Bemerkung wurde von ihm mit drei Beispielen von Kindern belegt, die zwischen zwei und vier Monaten in den Leipziger Forschungsabteilungen beobachtet worden waren. Anders als in den von Kramer und von der Leyen dargestellten Fällen waren diese Kinder jedoch nicht vor und nach dem stationären Aufenthalt in regelmäßigem Kontakt mit der Forschungsinstitution oder gar in ihrer Betreuung gewesen. Die Zeitspanne zwischen der Beobachtung in der Universitätspsychiatrie und der letzten Nachricht über die Entwicklung der Kinder betrug bei Heinze zudem zwischen weniger als einem und viereinhalb Jahren, 52 während in der Berliner Studie das Minimum bei sieben Jahren lag.53 Trotzdem hatte Schröder recht mit der Feststellung, Kramer und von der Leyen hätten in ihrer Studie nicht über Kinder berichtet, die er als „gemütsarm“ bezeichnete. Aus ihrer Antwort auf diesen Vorwurf geht ohnehin deutlich hervor, dass sie die von ihm gebrauchte Kategorie anlagebedingter Gemütsarmut für wenig brauchbar hielten. Sie hätten vielmehr einen Fall von Gemütsarmut im Schröder’schen Sinne bei dem gesamten, ihnen zur Verfügung stehenden Material „niemals in überzeugender Weise gesehen“. Der reaktive Charakter des brutal-egoistischen Symptombildes sei eben, anders als u. a. von Kraepelin dargestellt, die Regel und nicht die Ausnahme.54 Eine implizite epistemologische Schlussfolgerung, die allerdings 49 50 51 52 53 54

Leyen 1923b, 38. Kramer/Leyen 1935, 228. Heinze 1932, 399 f. Heinze 1932, 414–420, 426–428. Kramer/Leyen 1934, 392. Kramer/Leyen 1935, 228.

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nicht im Text erscheint, liegt auf der Hand: Die Konstruktion einer Anlage zur Gemütsarmut – sei sie charakterologisch oder psychopathologisch begründet – war für Kramer und von der Leyen fruchtlos. Aufgrund der von ihnen angenommenen unauflösbaren Verschränkung von Anlage und Milieu würde sie ohnehin niemals in reiner Form auftreten und wäre daher eine wissenschaftliche Abstraktion mit wenig Gebrauchswert für die pädagogisch-therapeutische Praxis. Im Gegenteil, bedenklich war die Setzung einer solchen wissenschaftlichen Norm in Bezug auf die Folgen, die in der Lebensrealität daraus erwachsen konnten. Kramer und von der Leyen beschrieben sie in einem Circulus vitiosus: In der Regel führe das Feststellen von „brutal-egoistischen“ Verhaltensweisen zu der falschen Diagnose einer angeborenen Gemütsarmut. Dies habe gewöhnlich eine schlechte soziale Prognose für das betroffene Kind zur Folge. Eine schlechte Prognose wiederum hätte ungünstige Auswirkungen auf die pädagogische Haltung, insbesondere im Sinne einer vorzeitigen Resignation. „Die resignierende pädagogische Haltung begünstigt aber die Fehlentwicklung und führt so scheinbar zu einer Bestätigung der gestellten üblen Prognose.“55

Angesichts der politischen Zeitumstände lag der bedrohliche Charakter solcher selbsterfüllender Prophezeiungen für betroffene Kinder und Jugendliche auf der Hand und erklärt, warum Kramer und von der Leyen sich so intensiv mit Schröders und Heinzes Ideen auseinandersetzten. Bemerkungen, dass „der Grad des Gemütsreichtums eine der wichtigsten Feststellungen für die praktische Brauchbarkeit und die soziale Wertigkeit eines Menschen“ sei,56 oder dass große Gemütsarmut unbeeinflussbar sei und „eines der schwersten Hindernisse für die Erziehung zu einer sozialen Lebensführung“ bilde,57 ließen sich direkt im Sinne der Ausgrenzung und Ausmerzung von sogenannten Minderwertigen interpretieren, die von den Nationalsozialisten praktiziert wurde. Das Versprechen der Leipziger Psychiater, eine stabile charakterologische Prognose abgeben zu können, kam dem rassenhygienischen Effizienzdenken entgegen, indem es einen wissenschaftlichen Selektionsmechanismus für die Entscheidung offerierte, ob sich Fürsorge und Erziehung bei einer konkreten Person „lohnten“ oder nicht. Nur wenige Jahre später war Hans Heinze als Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg-Görden an der praktischen Umsetzung dieses Mechanismus beteiligt, indem er von ihm als unerziehbar bzw. schwersterziehbar eingeschätzte Jugendliche u. a. in Jugend-Konzentrationslager überwies.58 Bedrohlich war auch die Anschlussfähigkeit des charakterologischen Modells an rassenhygienisch-erbbiologische Konzepte. Schröder und Heinze hatten sich mit der Vererbung 55 56 57 58

Kramer/Leyen 1935, 227. Schröder 1931, 33 Schröder 1931, 124. Beddies 2002, 148–152.

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charakterologischer Defizite bzw. Überschüsse nicht dezidiert auseinandergesetzt und dazu weitere Forschungen gefordert,59 aber Heinzes Nachfolger als Leiter der Leipziger Beobachtungsabteilungen, Liebold, hatte 1933 entsprechende Überlegungen publiziert und konnte sich dabei auf bereits existierende Versuche einer Zusammenführung charakterologischer und erbbiologischer Ideen stützen.60 Auch hier ging Heinze den Weg von der wissenschaftlichen Theorie zur gesundheitspolitischen Praxis. Nach seinem 1934 erfolgten Wechsel von Leipzig an die Landesanstalt Potsdam, deren Leiter er wurde, fungierte er gleichzeitig als Abteilungsleiter für Erb- und Rassenpflege des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP im Gau Kurmark und als Landesobmann für die Überwachung und die Vorbereitung der erbbiologischen Erhebungen aller Anstalten der Provinzen Brandenburg und Grenzmark Posen-Westpreußen.61

„Monstra“-Kontroverse und weitere Fachentwicklung Die „Monstra“-Kontroverse markiert den Scheideweg, an dem die Psychopathenfürsorge um 1933 stand. Das Besondere der Situation lag darin, dass sowohl Kramer und von der Leyen als auch Schröder und Heinze jeweils epistemologische Ränder des Wissensgebietes besetzten – die einen wegen ihres konvergenztheoretischen Ansatzes, die anderen wegen ihrer charakterologischen Herangehensweise. Zugleich waren Berlin und Leipzig zu diesem Zeitpunkt die beiden wichtigsten Forschungs- und Theoriebildungszentren zu psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter. Noch lebende Akteure, die bedeutende theoretische und praktische Beiträge im Sinne der Etablierung einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin geleistet hatten, wie Theodor Ziehen, Robert Gaupp oder Wilhelm Strohmayer, waren an den fachspezifischen Debatten nicht mehr beteiligt. August Homburger, der Verfasser des aktuellsten umfassenden Werkes über die Psychopathologie des Kindesalters, war bereits verstorben. Dennoch war – unter einem wissenschaftssoziologischen Blickwinkel – die Ausgangsposition Kramers und von der Leyens in dem Konflikt günstig: Sie standen durch ihre Funktionen im DVFjP und bei der ZfK im organisatorischen Zentrum des Wissensgebietes. Zudem war ihr Konzept, trotz der Divergenzen über die Gewichtung von Anlage und Milieu, anschlussfähig an die psychopathologische „Hauptströmung“. So vertraten auch sie die Auffassung vom epistemologischen Primat der Psychiatrie bei der Erkennung der Ursachen von Psychopathie62 und teilten etwa Homburgers Auffassung, dass „die Charakterzüge des psy59 60 61 62

Heinze 1932, 377. Vgl. Herrmann 1926; Liebold 1933, 7. Vgl. Beddies/Hübener 2003, 143–158. Vgl. u. a. Leyen 1930c, 572 f.

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chopathischen Kindes […] nicht als etwas Gegebenes, sondern […] als etwas Gewordenes“ anzusehen seien, ebenso wie dessen Bestreben, seine theoretischen Überlegungen bewusst offen zu halten, um dem Forschungsgebiet nicht „den Anschein einer Abgeschlossenheit zu geben, die es zurzeit noch nicht besitzt“.63 Anders dagegen Schröder und Heinze: Nicht nur der Rückgriff auf die Charakterologie von Klages, die „dem ärztlichen Denken […] etwas fern“ lag,64 sondern auch der hermetische Charakter ihres Systems machten sie hinsichtlich ihres theoretischen Ansatzes zu Außenseitern. Lediglich die Betonung des Anlagefaktors brachte sie in die Nähe der vorherrschenden psychopathologischen Auffassungen, allerdings war ihr Anlagebegriff nicht identisch mit dem biologisch-psychiatrischen. Der Ausgang der Kontroverse zwischen den beiden Forschungszentren wurde jedoch nicht von dem epistemologischen Gehalt der sich gegenüberstehenden Theorien und der wissenschafts-organisatorischen Stellung ihrer Protagonist_innen bestimmt, sondern von den politischen Rahmenbedingungen im nationalsozialistischen Deutschland. Hier erwies sich die Anschlussfähigkeit von Schröders und Heinzes Modell an die rassistischen sozial- und gesundheitspolitischen Zielsetzungen des Regimes als vorteilhafter. Nur so ist es zu verstehen, dass Paul Schröder trotz seines nicht-psychopathologischen Standpunktes in Bezug auf die meisten Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsschwierigkeiten von Kindern und Jugend­ lichen zum führenden Repräsentanten der deutschen Kinder- und Jugendpsychiatrie aufstieg, als sie sich ab Ende der 1930er Jahre in einem eigenen Fachverband zu organisieren begann.65

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ Auswirkungen der NS-Herrschaft Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung und Verteidigung des gemeinsamen Beitrags über „anethische“ Kinder waren Franz Kramer und Ruth von der Leyen bereits seit mehr als einem Jahr unmittelbar persönlich mit den Maßnahmen und Exzessen des NS-Regimes gegen Juden und weltanschauliche Gegner_innen konfrontiert. Die Ereignisse folgten zeitlich dicht aufeinander und waren eng miteinander verbunden. Binnen kürzester Zeit verloren Kramer und von der Leyen Kolleg_innen und langjährige Mitstreiter_innen aus dem Bereich der Sozialreform und der Frauenbewegung sowie der Kinder- und Jugendforschung. So wurde etwa Alice 63 Kramer 1927a, 24. 64 Hahn 1934, 199. 65 Vgl. Castell et al 2003, 34–76.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“

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Salomon, an deren Sozialer Frauenschule Ruth von der Leyen ihre Ausbildung abgeschlossen hatte und als Dozentin tätig gewesen war, aus allen öffentlichen Ämtern gedrängt und durfte ab März 1933 die nach ihr benannte Schule nicht mehr betreten.66 William Stern, mit dem Kramer in Breslau zusammengearbeitet und publiziert hatte und der seit 1919 als Leiter des Philosophischen und Psychologischen Instituts der Universität Hamburg wirkte, emigrierte im Januar 1934 aus Deutschland.67 Seine engste Mitarbeiterin, die international bekannte Pädagogin und Psychologin Martha Muchow (1872–1933), hatte sich am 29. September 1933, kurz nach ihrem 41. Geburtstag, das Leben genommen.68 Ähnlich erging es Kolleg_innen aus dem engeren Umfeld der Psychopathenfürsorge. Als Vorsitzender des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen betrafen die neuen politischen Verhältnisse in Deutschland auch Friedrich Sigmund-Schultze, dessen Arbeit im Rahmen der Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost im Frühjahr 1933 abrupt beendet wurde. Die Büros der SAG-Ost wurden durchsucht, alle Einrichtungen geschlossen, darunter auch das mit dem DVFjP gemeinsam geführte Heilerziehungsheim Wilhelmshagen.69 Aufgrund von Siegmund-Schultzes Engagement für das „Internationale Hilfskomitee für deutsche (evangelische, katholische, mosaische) Auswanderer jüdischer Abstammung“ und weil er rassisch Verfolgte unterstützt hatte, wurde er im Juni 1933 von der Gestapo verhaftet und unter geheimpolizeilicher Begleitung in die Schweiz ausgewiesen.70 In diesem Zusammenhang stellte das Berliner Landeswohlfahrts- und Jugendamt die Belegung aller weiteren Heime des DVFjP mit sofortiger Wirkung ein. Neben „finanziellen Erwägungen“ hieß es zur weiteren Begründung in einem Schreiben vom 21. August 1933: „Nach meiner Kenntnis der Arbeit des Vereins für jugendliche Psychopathen und ihrer Gestaltung in den Heimen bietet sie für die ganz besonders in der Erziehung Jugendlicher notwendige rückhaltlose und begeisterte nationaldeutsche und christliche Haltung nicht die erforderliche Gewähr.“71

66 Vgl. Feustel 2011, 161. 67 Bühring 1996, 199. 68 Die Todesumstände sind nicht eindeutig geklärt. Vgl. dazu Bühring 1996, 191 ff. Als einzige Nichtjüdin am Psychologischen Institut in Hamburg wurde Martha Muchow als „Judengenossin“ und aufgrund ihres Engagements in der Jugendbewegung und im „Weltbund für Erneuerung der Erziehung“ als Marxistin diffamiert. Zu Person und Werk vgl. Berger, http://www.kindergartenpaedagogik. de/349.html [eingesehen am 15.05.2015]; Duda, http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/martha-muchow [eingesehen am 15.05.2015]; Mey 2001, 107–122. 69 Vgl. LAB A Rep. 057, Nr. 848. 70 Vgl. Voigt http://www.bbkl.de/lexikon/bbkl-artikel.php?art=./S/Si/siegmmund_schultze_f.art [eingesehen am 15.05.2015]. 71 Vgl. LAB A Rep. 057, Nr. 848.

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6. Das Ende

Hinzu kam die Mitgliedschaft des DVFjP im konfessionell und parteipolitisch neutralen 5. Wohlfahrtsverband (später: Paritätischer Wohlfahrtsverband), dessen Einrichtungen als marxistisch und jüdisch beeinflusst galten.72 Die Beschwerde des Vereins gegen die Ausschlusspolitik der Berliner Behörden blieb erfolglos, seine verbliebenen Einrichtungen waren damit akut bedroht. Es gelang den Sozialpädagoginnen um Ruth von der Leyen, die Beratungsstelle für Heilerziehung „wenn auch im kleinsten Umfang aufrecht [zu] erhalten“.73 Sie versuchten, „bei Aufgabe des Lehrlingsheims und Beibehaltung von Niehagen weiter da zu sein, um auf diese Weise nicht den Anknüpfungspunkt zu verlieren“.74 Auch andere Einrichtungen, die der Erforschung der jugendlichen Psychopathie und der Fürsorge für auffällige Mädchen und Jungen dienten, waren durch die gesundheits- und fürsorgepolitischen Zielsetzungen des NS-Regimes in ihrer Existenz gefährdet. In dem Briefwechsel mit dem Jugendsanatorium von Kurt und Hedwig Isemann über eine junge Frau, die im Auftrag des DVFjP in Nordhausen betreut wurde, finden sich regelmäßig Bemerkungen zur düsteren Situation der Psychopathenfürsorge. „Man wagt im Augenblick immer kaum, nach dem Ergehen des Anderen zu fragen, weil man ja weiss, dass die Sorgen überall gleich drückend sind“, schrieb Ruth von der Leyen an Hedwig Isemann.75 Das Jugendsanatorium, das dem Berliner Kreis des DVFjP durch eine langjährige und enge Zusammenarbeit verbunden war, kämpfte ums Überleben. „Wir haben jetzt ungefähr noch ein Drittel der Einkünfte, die wir früher hatten, und immer noch etwa halb soviel Menschen wie früher“, schrieb Kurt Isemann im Oktober 1933 an von der Leyen.76 „Ja, dies ist eine furchtbar schwere Zeit, und wir sehen auch noch gar keine endgültige Lösung. […] Immerhin ist es ja schon ein Geschenk, dass man nicht gleich zumachen musste“, antwortete die Sozialpädagogin und ergänzte: „Bei uns müssen jetzt fast alle so gut wie freiwillig arbeiten. Es geht nicht anders.“77

72 Vgl. LAB A Rep. 057, Nr. 848. 73 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, von der Leyen an K. Isemann (Nordhausen), 01.11.1933, o. Bl. 74 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, von der Leyen an H. Isemann (Nordhausen), 25.09.1933, o. Bl. Das Heilerziehungsheim Schloss Ketschendorf war schon 1931 aus finanziellen Gründen aufgegeben worden. Vgl. in diesem Band, S. 112. 75 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, von der Leyen an H. Isemann (Nordhausen), 10.04.1933, o. Bl. 76 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, K. Isemann (Nordhausen) an von der Leyen, 27.10.1933, o. Bl. Blechle 2002, 246, bemerkt, Isemanns Heim sei 1933 „in einer Blitzaktion von den Nationalsozialisten ‚geräumt‘“ worden, ohne jedoch einen Beleg dafür anzuführen. 77 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, von der Leyen an K. Isemann (Nordhausen), 01.11.1933, o. Bl.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 283

Entlassungen an der Charité Auch an der Charité gingen die politischen Ereignisse nicht vorbei. Die Kinderbeobachtungsstation war dabei in zweierlei Hinsicht von Maßnahmen des NS-Regimes betroffen: Zum einen stellte die veränderte Haltung zur Gesundheits- und Fürsorgepolitik unter dem Primat des rassenhygienischen und erbtheoretischen Paradigmas die Existenz der Station infrage, zum anderen wurden jüdische und politisch missliebige Ärzt_innen aus dem Klinikdienst entlassen. Die Charité-Leitung erhob keinerlei Protest gegen die Anordnung des preußischen Kultusministeriums und ergab sich ohne jede Gegenwehr dem Druck nationalsozialistischer Organisationen an der Berliner Medizinischen Fakultät. In vorauseilendem Gehorsam entließ sie zum 31. März 1933, noch vor Inkrafttreten des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, ihre jüdischen Angestellten, darunter auch Hans Pollnow.78 Angesichts der beruflichen Perspektivlosigkeit und vor dem Hintergrund der antisemitischen Kampagnen und Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Ärzteschaft mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten emigrierte er schon Anfang Mai 1933 nach Frankreich.79 Franz Kramer war ebenfalls von der antisemitischen Exklusionspolitik an der Charité betroffen, das Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kultur und Volksbildung entzog ihm mit Schreiben vom 23. November 1933 die Lehrbefugnis an der Universität Berlin.80 Da seine Ehefrau evangelischer Konfession war, wurde er – im Gegensatz zu Hans Pollnow – jedoch erst 1935 aus dem Klinikdienst entlassen. Bis dahin führte Kramer auch die Privatpraxis in seiner Wohnung in der Budapester Str. 13 fort, die er neben seiner Tätigkeit an der Charité betrieb.

78 In einer Archivalie ist das Datum des „Austritts“ Pollnows mit dem „31.3.33“ angegeben. Vgl. HPAC, Psychiatrische und Nervenklinik, Verzeichnis der Volontär-Assistenten, begonnen am 01.04.1924, Eintrag Nr. 9, Dr. phil. et med. Hans Pollnow. Nach Neumärker ist Pollnow „nach dem Erlass des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zum 31.3.1933“ ausgeschieden. Vgl. ders. 2005, 103. Dies kann nicht zutreffen, da das Gesetz erst am 7.04.1933 erlassen wurde. Der Autor bezieht sich offensichtlich auf eine spätere Äußerung Bonhoeffers zugunsten Pollnows im französischen Exil. Vgl. UAHUB, Nervenklinik, Nr. 12, Empfehlungsschreiben vom 28.03.1938, o. Bl. In einer KBS-Akte findet sich der vom 6. Oktober 1933 datierte Eintrag „Unterschrift von Dr. Pollnow, geflüchtet nach Paris, abzugeben.“ Vgl. HPAC, KBS 797, o. Bl. 79 Vgl. Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 34. Biographisch vgl. Rose 2014, 171. Zur Vertreibung jüdischer und linkspolitischer Ärzt_innen aus medizinischen Einrichtungen in Berlin vgl. Pross 1984; zu den Maßnahmen der Charité vgl. Schagen 2008, 51–66, insbesondere 51 ff. 80 Vgl. UAHUB, UK-Personalia-K-29/2; Kölch 2006, 216; Neumärker 2005, 94.

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6. Das Ende

Mittelstreichung für die Kinderbeobachtungsstation Währenddessen sah sich Ruth von der Leyen Anfang 1934 mit der Ablehnung ihres jährlichen Antrags auf Bezuschussung des Gehaltes der Jugendleiterin an der Charité konfrontiert. Die „Beihilfe aus Staatsfonds zur Besoldung einer Erzieherin“ sei nicht mehr möglich, hieß es ohne weitere Begründung seitens des Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung unter Leitung des neu eingesetzten Reichsministers Bernhard Rust (1883–1945).81 Allerdings hatte das Ministerium des Innern mit Verfügung vom 24. Mai 1934 dem Verein „ebenso wie in früheren Jahren […] eine Beihilfe von [nur noch] 500 RM bewilligt […]“.82 Die Begründung war angesichts der veränderten politischen Situation auffallend positiv und mit der Bitte um erneute Prüfung des Antrags verbunden: „Zu der Weitergewährung der Beihilfe hat mich abgesehen von der anerkennungswerten Arbeit des Vereins die Erwägung veranlasst, dass die für die erzieherische und ärztliche Beeinflussung der jugendlichen Psychopathen verwandten Gelder nicht nutzlos ausgegeben werden. Können doch Psychopathen nicht mit Schwachsinnigen und Geisteskranken auf eine Stufe gestellt werden. Wie bekannt, sind viele Psychopathen befähigt, unter ihrer persönlichen Eigenart günstigen Verhältnissen Gutes, mitunter sogar Hervorragendes für die Volksgemeinschaft zu leisten.“83

Der Zuschuss für das Jahr 1934 wurde daraufhin auch vom Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung bewilligt.84 Dennoch machte es sich bemerkbar, dass der DVFjP zunehmend an Einfluss verlor und seine Existenz durch die neuen Machthaber ebenso bedroht war wie die der Kinderbeobachtungsstation als universitäre Forschungseinrichtung.

81 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 230, 231: Schreiben des Ministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 19.03.1934 und vom 04.04.1934. Im Februar 1933 war Bernhard Rust kommissarischer preußischer Kultusminister geworden. Als einer der Hauptvertreter nationalsozialistischer Erziehung leitete er das 1934 gebildete Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Auf der Basis des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7.Apil 1934 verloren etwa eintausend Hochschullehrer, vor allem Juden, Sozialdemokraten und Liberale unter Rusts Leitung Stellung und Beruf. 82 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl.255: Schreiben des Preußischen Ministeriums des Innern an das Reichsministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung v. 24.05.1934. Das preußische Innenministerium hatte bereits 1932 die Aufgaben des aufgelösten Ministeriums für Volkswohlfahrt übernommen. 83 Barch R 4091, Nr. 1355, Bl. 255. 84 Barch R 4091, Nr. 1355, Bl. 256; Bl. 257: Bewilligung einer Beihilfe von 700 RM für das Rechnungsjahr 1934 durch das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung mit Schreiben v. 16.06.1934.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 285

Im Frühjahr 1934 waren Franz Kramer und Ruth von der Leyen neben den Entwicklungen, die sie unmittelbar selbst betrafen, mit dem Tod eines engen Kollegen und Mitarbeiters der Zeitschrift für Kinderforschung konfrontiert. Am 21. April starb „unerwartet schnell“85 Otto Bobertag. Der am Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht tätige Psychologe hatte einen Artikel in der ZfK veröffentlicht, in dem er sich kritisch-ironisch gegen seinen Fachkollegen Adolf Busemann wendete.86 Busemann, der bis 1933 eher zu den Vertretern der Milieutheorie gehört hatte, war bestrebt, seine Disziplin „inmitten der neuen Bewegung“ zu verorten und hatte auch seine fachliche Haltung der neuen erbtheoretischen Ideologie angepasst.87 Kurz nach der Veröffentlichung seiner Kritik an Busemanns Kapitulation vor den politischen Zeitumständen nahm sich Bobertag das Leben.88

Abwicklung des DVFjP; Privatisierung der Psychopathenfürsorge Bereits im Juni 1933 erfuhr Ruth von der Leyen anlässlich einer Unterredung mit Arthur Gütt (1891–1949) vom Reichsinnenministerium und dem Direktor des Reichsgesundheitsamtes, „dass das Material des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen bei der Vorbereitung des Sterilisierungsgesetzes sowie auch ganz allgemein bei der Bearbeitung eugenischer und rassenhygienischer Fragen verwertet“ werden sollte.89

Wenig später teilte der Mitautor des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und Kommentator der Rassegesetze der Geschäftsführerin des DVFjP mit, „dass es dem Reichsministerium des Innern leider nicht möglich sein wird, den Verein in Zukunft zu unterstützen“.90 Das Personal und sonstige Verträge seien „gefälligst sofort“ zu kündigen, die 85 Baumgarten 1949, 15 f. 86 Bobertag 1934. 87 Busemann 1933; zur Kontroverse zwischen Busemann und Bobertag vgl. Métraux 1985, 254 und Geuter 1988, 274–276. 88 Franziska Baumgarten, ehemals Autorin der Zeitschrift für Kinderforschung und Akteurin im Bereich der Psychopathenfürsorge, hatte im Rahmen einer Würdigung Bobertags in der unmittelbaren Nachkriegszeit die näheren Umstände seines Todes offen gelassen. Vgl. dies. 1949, 15 f.; Ulfried Geuter dagegen spricht knapp vierzig Jahre später von Selbstmord. Vgl. ders. 1988, 276, mit Verweis auf entsprechende Literatur. 89 MPIP-HA, GDA 83, von der Leyen an Rüdin am 14.06.1933, o. Bl. Auf diesen Aspekt verweist auch Anneliese Buß. Vgl. dies. 1967, 2062. Die Autorin, wie von der Leyen an der Sozialen Frauenschule in Berlin ausgebildet und mit ihr persönlich bekannt, schreibt, aus bevölkerungspolitischen Gründen sei der DVFjP mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 1934 zur Herausgabe seiner heilpädagogischen Einzelfallakten aufgefordert worden. 90 MPIP-HA, GDA 83, Gütt (RMdI) an den DVFjP (von der Leyen), 01.07.1933, o. Bl.

286

6. Das Ende

anfallenden Abwicklungskosten mitzuteilen.91 Die ministerielle Unterstützung, die bis dato der individualisierenden Arbeit des DVFjP und seiner Beratungsstelle für Heilerziehung zugekommen war, sollte zukünftig für erbbiologische und rassenhygienische Zwecke verwendet werden.92 Gütt, zu diesem Zeitpunkt Ministerialrat in der Abteilung für Volksgesundheit, beauftragte den Direktor der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie (Kaiser-WilhelmInstitut) in München, Ernst Rüdin (1874–1952), mit der Auflösung des DVFjP zum 1. Oktober 1933.93 „Das vorhandene wissenschaftliche Material und die Unterlagen sollen Ihnen zur Weiterbearbeitung und weiteren Verfügung übergeben werden“, stellte der Medizinalbeamte in Aussicht.94 Anders als Gütt hielt Rüdin die Unterlagen des DVFjP in eugenischer Hinsicht jedoch für wenig ergiebig, ihr Wert liege „vielmehr auf diagnostischem, individual-prognostischem, individual-therapeutischem, individual-prophylaktischem und pädagogischem Gebiete“.95 Noch bevor er das Material selbst in Augenschein genommen hatte, bezifferte Rüdin die Kosten für eine Aufarbeitung als sehr gering, vor allem sollten die Mittel „ohne besondere finanzielle Unterstützung des Reichsinnenministeriums“ aufgebracht werden. Tatsächlich besaß er kaum Kenntnisse über Personen und Konzepte in der Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik,96 als Bewertungskriterium genügte ihm seine rassenhygienische Einstellung. Deshalb sah Rüdin ein mögliches Interesse an den Unterlagen des DVFjP allenfalls auf „klinischer und erbbiologischer Seite“, er selbst gab sich weitgehend desinteressiert.97 Auch für die Tätigkeit von der Leyens, „die im wesentlichen nur der Individual-Diagnostik-Prognose-Therapie und -Prophylaxe, nicht aber der Prophylaxe der kommenden Generation zugewendet ist“,98 empfahl der führende Rassenhygieniker die Einstellung der finanziellen Unterstützung seitens des Reichsinnenministeriums. Stattdessen sah er eine Beschäftigung von der Leyens an „irgend einem staatlichen oder privaten Krankenhausbetrieb“ vor, „der diese an und für sich wertvolle Tätigkeit auch in angemessener Weise zu finanzieren hätte“. Mit diesem Vorschlag, die Vertreterin einer milieu-orientierten und individualisierenden Psychopathenfürsorge in „einem Krankenhausbetrieb oder einem Poliklinischen Betrieb“ der Charité unterzubringen, war Rüdin auch an Karl Bonhoeffer herangetreten, „der Frl. von der Leyen sehr wohl kennt

91 MPIP-HA, GDA 83, Reichsminister des Innern [Gütt] an den DVFjP, 07.07.1933, o. Bl. 92 MPIP-HA, GDA 83, Rüdin an Medizinalrat Dr. Gütt (RMdI), 18.07.1933 (Abschrift), S. 1, o. Bl. 93 Die Leitung der Abteilung für Volksgesundheit übernahm der Arzt und Eugeniker Arthur Gütt Mitte Februar 1934. Zu den Biographien Gütts und Rüdins: Labisch/Tennstedt 1985. 94 MPIP-HA, GDA 83, Ministerialrat Dr. Gütt (RMdI) an Rüdin, 08.08.1933, o. Bl. 95 MPIP-HA, GDA 83, Rüdin an Medizinalrat Dr. Gütt (RMdI), 18.07.1933 (Abschrift), S. 3, o. Bl. 96 Vgl. MPIP-HA, GDA 43. 97 MPIP-HA, GDA 83, Rüdin an Medizinalrat Dr. Gütt (RMdI), 18.07.1933 (Abschrift), S. 3, o. Bl. 98 MPIP-HA, GDA 83, Rüdin an Medizinalrat Dr. Gütt (RMdI), 18.07.1933 (Abschrift), S. 2, o. Bl.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 287

und sie sehr schätzt“.99 Ruth von der Leyen trafen diese Entwicklungen insofern besonders hart, als sie in der inhaltlichen Auseinandersetzung ganz auf sich allein gestellt war. Friedrich Siegmund-Schultze war bereits außer Landes und Franz Kramer wurde als Jude von den Verhandlungen ausgeschlossen. Hinzu kam, dass sie aufgrund der gesundheitlichen Folgen ihrer einstigen Tbc-Erkrankung Ende Juni 1933 eine mehrmonatige Kur antreten musste und bis Mitte September ausfiel. Dennoch gab sie ihr Lebenswerk nicht kampflos auf. Im Kontakt mit Rüdin verfolgte sie eine Doppelstrategie: Einerseits versuchte sie, den Nutzen ihrer Arbeit für „sozial-prophylaktische“ Fragestellungen herauszustellen,100 andererseits wehrte sie sich gegen die sofortige Auflösung des Vereins ohne Sicherung der Forschungsergebnisse und ohne Absicherung ihrer Mitarbeiter_innen und der betreuten Kinder. Zu ihrer Vertreterin für alle Angelegenheiten des Vereins bestellte sie mit notarieller Beglaubigung Lotte Nohl, wobei von der Leyen die Geschäfte auch aus der Ferne von ihrem Behandlungs- und Kurort aus weiterverfolgen wollte.101 Für die wirtschaftlichen und finanziellen Angelegenheiten des Vereins sollte weiterhin der Schatzmeister Richard Schlanzke zuständig sein. Für Nohl und fünf weitere Mitarbeiter_innen – Irmgard Boës, Anni von Cramon, Frau Dreyer und Frau Liebke sowie Martin Winter – setzte sie deren Weiterbeschäftigung bis Ende September 1933 durch, „um die nötige aktenmäßige Abwicklungsarbeit bis zu dem notwendig werdenden Umzug am 1.10.33 leisten zu können.“ Für alle Angestellten machte sie zusätzlich einen Urlaubsanspruch geltend, der zwischen dem 1. August und dem 30. September eingelöst werden sollte und die gegenseitige Vertretung während der jeweiligen urlaubsbedingten Abwesenheit erforderte. „Diese Kräfte sind also alle für die Abwicklung der Beratungsstelle und die generellen Arbeiten des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen, deren laufende Unkosten bis zum 31. Juli 1933 vom Reich getragen wurden, erforderlich“,

argumentierte sie wenige Tage vor Beginn ihres Behandlungs- und Erholungsaufenthaltes gegenüber Ernst Rüdin. Nur für zwei ihrer Angestellten konnte Ruth von der Leyen nichts mehr erreichen, sie fielen unter das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums: Lisbeth Hurwitz, seit 1931 auf der Kinderbeobachtungsstation als Jugendfürsorgerin tätig, und ihre Kollegin, Frau Lazarowicz, wurden zum 1. August 1933 aus ihren Ämtern gezwungen.102 99 100 101 102

MPIP-HA, GDA 83, Rüdin an Medizinalrat Dr. Gütt (RMdI), 18.07.1933 (Abschrift), S. 3, o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, von der Leyen an Rüdin, 23.07.1933 (Abschrift), o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, von der Leyen an Rüdin, 23.07.1933 (Abschrift), o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, von der Leyen an Rüdin, 24.07.1933 (Abschrift), S. 1, o. Bl. Zu Hurwitz vgl. Barch 4901/1355, Bl. 44. Zu den weiteren Lebenswegen von Lisbeth Hurwitz und Frau Lazarowicz ist nichts bekannt.

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6. Das Ende

Neben den personalbezogenen Maßnahmen, mit denen von der Leyen auf eine einigermaßen „geordnete“ Abwicklung des DVFjP bestand, versuchte sie, die Zahlung der Gehälter und die Übernahme der Mietkosten seitens des Reichsministeriums für die Monate August und September zu sichern. Vorausschauend erbat sie gegenüber dem Abwicklungsbeauftragten Rüdin die Beantragung einer entsprechenden Überweisung „für die Anfang August fälligen Zahlungen in Höhe von 2.200 Mk“ noch aus dem Juli-Etat.103 Gütt bewilligte diese Abschlagszahlung Anfang August 1933.104 Insgesamt veranschlagte Ruth von der Leyen Kosten in Höhe von rund 26.000 Mark für die Abwicklung des DVFjP.105 Neben den Geldern für Gehälter, Miete, Fahrtkosten zur Durchführung der „notwendigsten letzten Hausbesuche“ und allgemeine Büroführung beinhaltete die veranschlagte Summe auch Aufwendungen für zwei von August 1933 bis März 1934 in Betreuung des Vereins stehende Jugendliche.106 Mit dem strategischen Verweis auf die jüngsten Forschungsergebnisse von Hans Heinze und ihre eigene Studie zu den „anethischen“ Kindern argumentierte von der Leyen, das 17-jährige Mädchen gehöre „einer Gruppe von konstitutionell besonders milieureagiblen Kindern an. Klinischerseits besteht noch keine Einigung darüber, ob diese Kinder der Gruppe der ,Gemütsarmen und gemütlich abgestumpften‘ (vgl. Heinze: Zur Phänomenologie des Gemüts, Zeitschrift für Kinderforschung, 40. Band, Heft 4) zuzurechnen sind, oder ob es sich hier nicht eben um ein besonderes Phänomen constitutionell bedingter charakterlicher Umwandlungsfähigkeit durch unzweckmäßige Umwelt und Erziehung handelt (,Charakterwandlung durch Umwelteinflüsse‘).“

Aus diesem Grunde sei es „von besonderer Bedeutung, nun noch die Ausbildungszeit dieses Mädchen abzuschließen und ihre Bewährung im Beruf zu erleben“.107 Ernst Rüdin stimmte mit Gütt überein, „daß in kritischer Weise an die Bewilligung dieser Forderungen von Fräulein von der Leyen herangetreten werden soll“. 108 Den überlieferten Quellen zufolge konnte die Geschäftsführerin des DVFjP ihre Ansprüche bei Weitem nicht 103 104 105 106

MPIP-HA, GDA 83, von der Leyen an Rüdin, 23.07.1933 (Abschrift), o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, Reichsministerium des Innern an DVFjP, 01.08.1933 (Abschrift), o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, Rüdin an Medizinalrat Dr. Gütt (RMdI), 18.07.1933 (Abschrift), S. 2, o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, von der Leyen an Rüdin, 23.07.1933 (Abschrift), o. Bl. Von der Leyen stellte für diesen Zweck insgesamt 480 Mark in Rechnung. Das Mädchen wurde seit seinem fünften Lebensjahr vom DVFjP begleitet. Einen Teil der Kosten für ihre Ausbildung und Unterbringung brachte Lotte Nohl persönlich auf. Bei dem Jungen handelte es sich um einen Waisen, Sohn einer psychopathischen Mutter, die im Januar 1933 verstorben war. Der Verein unterstützte ihn mit einer geringen monatlichen Summe bis zum Abschluss seines Abiturs Ostern 1934. 107 MPIP-HA, GDA 83, von der Leyen an Rüdin, 23.07.1933 (Abschrift), o. Bl. 108 MPIP-HA, GDA 83, Rüdin an Oberregierungsrat Frank (Reichsministerium des Innern), 04.08.1933, o. Bl.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 289

in vollem Umfang durchsetzen, aber anders als von Gütt ursprünglich vorgesehen, blieb es auch nicht bei einer einmaligen „Unterstützungsrate“, mit der Ruth von der Leyen ihren „Betrieb in Ruhe abwickeln“ sollte.109 Neben der Abschlagszahlung bewilligte das Reichsministerium des Innern Anfang September 1933 „eine letzte Beihilfe in Höhe von 3.300 […] RM“ und 1.000 Reichsmark zur Deckung der Instandsetzungskosten für die vom DVFjP genutzte Wohnung in der Großbeerenstraße.110 Zu einer Auflösung des Vereins kam es auf Anraten Rüdins nicht, da das Reichsinnenministerium in diesem Fall auch dessen Schulden hätte übernehmen müssen. Dabei handelte es sich um das von der Leyen’sche Darlehen in Höhe von 10.800 Mark und die Verbindlichkeiten gegenüber dem Paritätischen Wohlfahrtsverband in Höhe von 4.500 Mark. Für ein weiteres Darlehen der Hilfskasse gemeinnütziger Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands beim Reichsarbeitsministerium hatte Ruth von der Leyen die Löschung beantragt, da sie sich außerstande sah, die Restschuld „angesichts der offiziellen Schließung der Beratungsstelle des Vereins“ zurückzuzahlen.111 Mit seiner Vermutung, dass die Akteur_innen des DVFjP ein begründetes Interesse daran hatten, den Verein „fortbestehen zu lassen, wenn die Beratung der Psychopathen mit privaten Mitteln weitergeführt wird und wenn die Heime auch weiterhin von Organen des Vereins betreut werden sollen“,112 hatte Ernst Rüdin ganz richtig gelegen. Als Reaktion auf die Abwicklung des DVFjP gründete Ruth von der Leyen am 1. August 1934 den privaten „Verein für Heilerziehung“, dessen Tätigkeit „im wesentlichen auf Kinder mit normaler Intelligenz“ ausgerichtet war.113 Dieser Schritt beinhaltete die institutionelle Aufspaltung der Arbeit: Die Hauptaufgabe der „Erforschung der psychopathischen Konstitution Jugendlicher“ verblieb weiterhin beim DVFjP, während die praktische Arbeit – Erziehungsberatung und Miterziehung schwieriger Kinder, heilpädagogische Erholungsverschickung und nachgehende Gesundheitserziehung – an den neu gegründeten Zusammenschluss überging. Bis 1938 war der DVFjP noch im Vereinsregister eingetragen, seine ursprüngliche Bedeutung hatte er jedoch verloren. Er betreibe „nur noch wissenschaftliche Forschungsarbeit und ist seit dem Jahre 1935 keiner Spitzenorganisation mehr zugehörig“, teilte die Schriftführerin und zweite Vorsitzende, Charlotte Nohl, dem Berliner Polizeipräsidium 1938 mit.114 De facto war auch die wissenschaftliche Erforschung jugendlicher Psychopathie zum Erliegen gekommen und der DVFjP bestand lediglich formal weiter. Der Vereins-Sitz deckte sich mit Nohls privater Ad109 110 111 112 113

MPIP-HA, GDA 83, Gütt (RMdI) an DVFjP (von der Leyen), 01.07.1933 (Abschrift), o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, Reichsministerium des Innern an DVFjP, 09.09.1933 (Abschrift), o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, von der Leyen an Rüdin, 24.07.1933 (Abschrift), o. Bl. MPIP-HA, GDA 83, Rüdin an Medizinalrat Dr. Gütt (RMdI), 18.07.1933 (Abschrift), o. Bl. Leyen 1935, 134. Vgl. auch Berger 2000a, 367. Sitz des am 30. Januar 1935 eingetragenen Vereins war die Wagemannstr. 36a in Marienfelde. 114 LAB, A Rep. 030–04 Polizeipräsidium Berlin-Vereine Nr. 540, Bl. 2, Rückseite.

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6. Das Ende

resse in der Friedrichrodaer Str. 73 in Berlin-Marienfelde.115 Als erster Vorsitzender fungierte Werner Villinger, inzwischen leitender Arzt der von Bodelschwingh’schen Anstalten in Bethel bei Bielefeld.116 Der von der Leyen’sche Verein für Heilerziehung ersetzte die ehemalige Beratungsstelle des DVFjP und führte deren „Arbeiten im gleichen Sinne fort wie früher“, allerdings in sehr eingeschränktem Rahmen.117 Die Überweisungspraxis blieb bestehen, weiterhin wurden Kinder und Jugendliche durch die Poliklinik für Nervenkranke und die Kinderbeobachtungsstation der Charité sowie durch Krankenkassen, Privatärzte, Bezirksämter und Vereine der freien Jugendhilfe zur Beratung an den Verein für Heilerziehung vermittelt. Unter dem Druck der Verhältnisse und angesichts der Aussichtslosigkeit ihrer Situation gab von der Leyen die Forschungsarbeit als zentrale Aufgabe der Psychopathenfürsorge auf und reduzierte ihren ehemals großen professionellen Radius erheblich. Ziel des Vereins für Heilerziehung war es, die Verbindung zu den Kindern und Jugendlichen aufrecht zu erhalten, die bereits seit Jahren von der ehemaligen Beratungsstelle des DVFjP betreut worden waren, und die Spielnachmittage zur Vertiefung der „pädagogische[n] Wirkung des Erholungsaufenthaltes“ fortzusetzen. Die Geschäftsstelle der Neugründung war darüber hinaus zuständig für Überweisungen in das heilpädagogische Erholungsheim „Kinderkaten“ im Ortsteil Niehagen von Ahrenshoop auf dem Darß, in das Ruth von der Leyen sich ebenfalls zeitweise zurückzog. Im Vorfeld der Gründung des Vereins für Heilerziehung hatte Lotte Nohl bereits ein kleines Heilerziehungsheim ins Leben gerufen, für das sie ebenfalls ihre private Wohnung in Marienfelde nutzte. Hier konnten maximal fünf erziehungsschwierige Kleinkinder untergebracht werden.118

Ruth von der Leyen: Aufgabe der Publikationstätigkeit und private Rückschläge Mit ihrem Rückzug aus der wissenschaftlichen Forschung hatte auch die Publikationstätigkeit von der Leyens in der Zeitschrift für Kinderforschung abgenommen, obwohl sie deren Mitherausgeberin blieb. Zwei Einzelbeiträge hatte sie noch in den beiden ersten Heften des Jahrgangs 1933 veröffentlicht.119 Ihre letzte Publikation, die dem gemeinsam mit Kramer ver115 LAB, A Rep. 030–04 Polizeipräsidium Berlin -Vereine Nr. 540, Bl. 7. 116 Schatzmeister blieb der Kaufmann Richard Schlanzke (geb. 1879). Zu den Beisitzer_innen des Vereins gehörten Lina Koepp, der Landgerichtsdirektor Herbert Francke, der Geheime Regierungsrat, Präsident des Reichsgesundheitsamtes a. D. Dr. med. Dr. med. vet. h.c. Carl Hamel sowie Ewald Stier. 117 Leyen 1935, 134. 118 Leyen 1935, 134–135. Vgl. auch HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, Hilde Fries-Classe an Elisabeth S., 12.04.1934, o. Bl.: „Seit dem 1. Oktober wohne ich mit Tante Lotte zusammen. Sie hat nur ganz wenig Mädchen noch bei sich.“ 119 Leyen 1933a, 1933b.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 291

fassten Beitrag über „anethische“ Kinder folgte, war die kurze Erwiderung auf Paul Schröders Kritik an der empirischen Langzeitstudie. „Widrige äußere Umstände“ gaben Kramer und von der Leyen als Grund für die verzögerte Antwort auf Schröders Stellungnahme an, die er am 12. Dezember 1934 namentlich an Kramer adressiert und mit der ausdrücklichen Bitte um Veröffentlichung in der Zeitschrift für Kinderforschung verbunden hatte.120 Angesichts der Bedrängnis, in der sich Kramer und von der Leyen befanden, sahen sie sich erst Mitte April 1935 in der Lage, auf Schröders Kritik zu reagieren. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich nicht nur die Themenschwerpunkte in der Zeitschrift in Richtung biologisch und rassentheoretisch orientierter Beiträge verschoben, auch innerhalb des Herausgeber_innengremiums hatten sich grundlegende Veränderungen vollzogen.121 Schon 1933 waren zwei Kinderärzte als Herausgeber hinzugekommen.122 Diese Veränderung ist im Kontext der beabsichtigten engeren Zusammenarbeit zwischen Psychopathenfürsorge, Psychiatrie und Pädiatrie zu sehen, die noch von Franz Kramer und Ruth von der Leyen mit initiiert worden war.123 Mit Jussuf Murad Bey Ibrahim (1877–1953) aus Jena und Georg Bessau (1884–1944) aus Berlin nahmen allerdings zwei Mediziner auf die Inhalte des Fachorgans Einfluss, die sich nur wenige Jahre später aktiv an den wissenschaftlich motivierten Tötungen von Kindern und Jugendlichen mit geistigen Behinderungen im Kontext der NS-„Euthanasie“ beteiligen sollten.124 Max Isserlin, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft bereits 1934 aus dem bayrischen Staatsdienst entlassen worden war, wurde ein Jahr später auch als Mitherausgeber der Zeitschrift für Kinderforschung getilgt. Er emigrierte 1938 über die Schweiz nach England.125 Während des gesamten Jahres 1933 war Ruth von der Leyen „mit immer neuen Sachen krank gewesen“.126 Sie litt vermutlich unter den Spätfolgen ihrer Tbc-Erkrankung.127 Mitte 120 Kramer/Leyen 1935, 224. 121 Vgl. Kölch 2006, 215. 122 Robert Hirschfeld schied in diesem Jahr aus, Gräfin Kuenburg wechselte aus dem Herausgeber_innen-Kollegium in den Kreis der auf dem Titelblatt der Zeitschrift genannten Mitwirkenden. 123 Die letzte vom DVFjP mitorganisierte Sachverständigenkonferenz vom 19. März 1933 zu dem Thema „Die Erziehungsschwierigkeiten des Kleinkindes“ stand im Zeichen dieser Annäherung. Franz Kramer hielt dabei ein Referat, Ruth von der Leyen verfasste den Bericht über die Aussprache. ZfK 41 (1933), H. 3, 287–327. 124 Zu Bessau vgl. Beddies und Schmiedebach 2004, 165–196 und Beddies 2008, 121–132; zu Ibrahim vgl. Castell et al. 2003, 519 f.; Klee 2010, 277; Liebe 2006; Seidler 1974, 111. Online: http://www.deutsche biographie.de/pnd118555278.html [eingesehen am 15.05.2015]. 125 Vgl. in diesem Band, S. 108; Kreuter 1996, 631–632; Nissen 2005, 36. 126 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, von der Leyen an K. Isemann (Nordhausen), 30.05.1934, o. Bl. 127 In der zeitgenössischen ebenso wie in der Sekundärliteratur wird dieser Aspekt ihres Lebens tabuisiert. Es gibt nur vereinzelte Hinweise auf physische Einschränkungen, mit denen von der Leyen lebte. Von einer schweren lang andauernden Erkrankung ist ebenso die Rede wie von einer kurzen Krankheit. Vgl. dazu Berger 2000, 11; Die Frau (1935/36) und von Liszt 1936, 154.

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6. Das Ende

1934 war sie zumindest soweit genesen, dass sie an Kurt Isemann schrieb: „Und wie dankbar bin ich, dass ich nun wieder richtig kann. Da sieht sich alles weniger unüberwindlich an.“ 128 Seinen Ausdruck fand dieser bescheidene Optimismus wohl unter anderem in der Gründung des Vereins für Heilerziehung im selben Jahr, die zwar mit dem Rückzug aus dem DVFjP verbunden war, aber mit der wenigstens Teile ihres Lebenswerkes gerettet werden sollten. Schon wenig später verlor Ruth von der Leyen einen weiteren Menschen aus ihrem nächsten Umfeld. Am 25. September 1934 verstarb ihr Vater, Arthur Friedrich von der Leyen, im Alter von 90 Jahren.129 Wie bereits im Umgang mit ihrer akuten Tbc-Erkrankung, reagierte Ruth von der Leyen auch auf diese Zäsur in ihrem Leben mit verstärkter beruflicher Aktivität. Für den Zeitraum von Januar bis März 1935 organisierte sie einen „Einführungskurs in die Aufgaben der Heilerziehung“, an dem Praktikantinnen der Kinderbeobachtungsstation, des Vereins für Heilerziehung und des Niehagener Erholungsheims teilnahmen.130

Entlassung Franz Kramers: Kampf um den Erhalt der Kinderbeobachtungsstation Mitte März 1935 richtete Ruth von der Leyen routinemäßig den Antrag auf Bezuschussung der auf der Kinderbeobachtungsstation tätigen Jugendleiterin an die beiden zuständigen Ministerien. Um die Bedeutung und Unentbehrlichkeit der Abteilung hervorzuheben, verwies sie auf den Anstieg der Zahl aufgenommener Kinder und betonte, „dass die Station vorwiegend der ärztlich-wissenschaftlichen Forschung dient“.131 Ergänzend verwies sie auf die Praxis der klinischen Demonstration der „auf der Station anwesenden Kinder bei den Kollegs über Geistes- und Nervenkrankheiten im Kindes- und Jugendalter“.132 Zudem, so argumentierte sie in gefährlicher Annäherung an die nationalsozialistische Ideologie, hätten die Ämter für Rassenpflege und erbbiologische Forschungsstellen in „einer grossen Anzahl von Fällen“ Anfragen zu ehemaligen jugendlichen Patienten an die Kinderbeobachtungsstation gerichtet.133 128 HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, von der Leyen an K. Isemann (Nordhausen), 30.05.1934, o. Bl. 129 Vgl. Biographie, Alfred F. von der Leyen, http://www.sammlungen.hu-berlin.de/dokumente/18695 [eingesehen am 15.05.2015]. Vgl. auch HPAC, Ps. V. 800, Bd. 2, von der Leyen an H. Isemann (Nordhausen), 10.04.1933, o. Bl.: „Es ging mir in den letzten 8 Wochen gesundheitlich nicht gut, außerdem bin ich auch in Sorge um meinen Vater.“ 130 Leyen 1935, 134. 131 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 356, 357: Antrag des DVFjP an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 14.03.1935. 132 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 356, 357. 133 Die Textstelle ist nur unvollständig überliefert und an einer Stelle schwer lesbar, dort heißt es: „[In] einer grossen Anzahl von Fällen wurden im Berichtsjahr die [abgerissenes Blatt] Kinder von den ­Aemtern für Rassenpflege und von erbbiologischen Forschungsstellen einge [unleserlich]dert. Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 357.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 293

Den Begriff Psychopathie verwendete von der Leyen allerdings nicht mehr,134 auch in der beigelegten Statistik zur Kinderbeobachtungsstation für das Jahr 1934 brachte sie die Diagnose „Psychopathische Kinder und Jugendliche“ zum „Verschwinden“, indem sie ihren Ausführungen den neu eingeführten Würzburger Schlüssel „psychiatrisches Diagnosenschema, endgültig festgesetzt vom Verein für Psychiatrie im April 1933 in Würzburg“ zugrunde legte.135 So argumentierte sie nicht nur mit der Autorität eines psychiatrisch-wissenschaftlichen Instrumentes, sondern nutzte den Umstand, dass kindliche Psychopathie im Klassifizierungssystem erst an 18. Stelle genannt wurde und rein optisch als eine von vielen psychiatrischen Erkrankungen erschien. Die Strategie, den Begriff Psychopathie zu vermeiden und stattdessen die hirnorganischen Erkrankungen zu betonen, hatte Ruth von der Leyen bereits im Rahmen der Beantragung für das Jahr 1934 verfolgt. Dort hatte sie als Aufgabe der Station die „Aufnahme von Kindern [genannt], die Anzeichen einer organischen Hirnerkrankung haben oder die psychische Auffälligkeiten zeigen, deren Ursache nur durch längere oder kürzere stationäre Beobachtung geklärt werden kann“.136 Die ebenfalls anvisierte nachgehende Erforschung der Entwicklung aller seit 1921 aufgenommenen Kinder auf der Station der Charité sollte zudem das mit Kramer entwickelte Psychopathiekonzept und die langfristige Wirksamkeit heilpädagogischer Maßnahmen auf Kinder mit auffälligem Verhalten belegen.137 Trotz der bereits erfahrenen massiven Kritik an der gemeinsamen Forschungsarbeit und der ihr zugrunde liegenden Milieutheorie durch Paul Schröder und Hans Heinze legte von der Leyen ihrem Antrag von 1935 einen Sonderabdruck des Beitrags zu den Entwicklungsverläufen „anethischer, gemütloser“ psychopathischer Kinder bei, der „sich im wesentlichen auf das Material der Kinderbeobachtungsstation aus früheren Jahren stützt“. Erneut betonte sie den Stellenwert der Heilpädagogin für die Diagnosestellung des Arztes: „Die Arbeit der verflossenen Jahre hat bewiesen, dass die Mitarbeit einer vorgebildeten Jugendleiterin in einer Kinderbeobachtungsstation unbedingt notwendig ist. […] Sie liefert dem Arzt das für eine Diagnose unerlässliche Beobachtungsmaterial über das Verhalten der Kinder. Sie schafft die pädagogische Atmosphäre, innerhalb der sich insbesondere die psychopathischen Kinder freier als in der Krankenhausatmosphäre entwickeln, und dadurch sicherer beurteilt werden können.“138

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Dies betont auch Kölch 2006, 230. Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 360. Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 225. Vgl. Kölch 2006, 231, der jedoch auf den Aspekt abhebt, dass die Nachbeobachtung „die Integrationsfähigkeit der Patienten, ihren ‚Wert‘ für die Gesellschaft beweisen [sollte], welcher von den Nationalsozialisten vehement bestritten wurde.“ 138 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 357.

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6. Das Ende

Nur wenig später, zum 31. März 1935, musste Franz Kramer aus dem Beschäftigungsverhältnis bei der Psychiatrischen und Nervenklinik ausscheiden. Mit Schreiben vom 2. April 1935 veranlasste die Charité-Direktion die sofortige Einstellung der Gehaltszahlung.139 Kramer war unvermittelt gezwungen, sich persönlich und existenziell neu zu orientieren. Seine Ehefrau litt erheblich unter den Ereignissen, sie sei „ganz herunter“, äußerte Kramer in einem Brief gegenüber Karl Bonhoeffer.140 Seine Hoffnung, mit Unterstützung des an der Charité tätigen Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (1875–1951) einen Lehrstuhl für Neurologie in Istanbul zu erhalten, zerschlug sich rasch. Am 12. August 1935 teilte Kramer Bonhoeffer mit, „daß in Istanbul kein Lehrstuhl für Neurologie eingerichtet wird. Ich war sehr enttäuscht da­ rüber und bin recht unglücklich, da ich nun gar keinen Weg sehe. Jetzt ist Adolf Meyer meine letzte Hoffnung. Nach allem, was man auch aus Guten [sic] Informationen hört, sind die Aussichten für erträgliche Verhältnisse beim Hierbleiben recht gering. […]“141

In seinem Bemühen, zu emigrieren und sich eine Existenz im Ausland aufzubauen, setzte Kramer seine letzten Hoffnungen nun auf die Unterstützung des an der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore tätigen Psychiaters Adolf Meyer (1886–1950), der dafür bekannt war, dass er jüdischen Emigrant_innen half.142 Kramer war gezwungen, den Lebensunterhalt der Familie allein mit seiner Privatpraxis zu sichern. Zwar hatte sich Bonhoeffer für deren Erhalt eingesetzt, 143 aber unter den Restriktionen des NS-Regimes stellte dies keinen gangbaren Ausweg dar. Für die Kinderbeobachtungsstation bedeutete das Ausscheiden Kramers aus der Charité den Verlust ihres Mitbegründers und langjährigen medizinischen Leiters. Anfang Juni 1935 lehnte das Reichsministerium des Innern den von Bonhoeffer befürworteten Antrag von der Leyens auf Beihilfe für die Jugendleiterin auf der KBS endgültig ab. Mit Verweis auf die bereits erfolgte Bewilligung durch das Wissenschaftsministerium, und nicht ohne ironischen Seitenhieb, protestierte Ruth von der Leyen: „Da wir annehmen, daß die Minister beider Ministerien nach den gleichen wissenschaftlichen Gesichtspunkten arbeiten, bitten wir, der Herr Reichs- und Preußische Minister des Innern möge die Entschließung vom 26.3.35 überprüfen und uns einen Bescheid zukommen lassen, ob unser Antrag vom 14.3.35 mit Rücksicht auf die Entschließung des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung bewilligt werden kann.“144 139 UAHUB, Nervenklinik, Nr. 3, Bl. 93: Schreiben der Charité-Direktion v. 02.04.1935. Neumärker 2005, 94. 140 UAHUB, UK-Personalia-B-378, Bl. 4 ff.: Kramer an Bonhoeffer, 01.08.1933, zit. n. Neumärker 2005, 96. 141 UAHUB, UK-Personalia-B-378, Bl. 4 ff., zit. n. Neumärker 2005, 96. 142 Neumärker 2005, 94. 143 Kölch 2006, 216; Neumärker 2005, 90, 94. 144 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 372: Schreiben v. 02.05.1935; Bl. 374: Schreiben v. 26.06.1935, Dank an das

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 295

Mit der Strategie, die Ministerien weiterhin auf die Praxis der wechselseitigen und voneinander abhängigen Unterstützungsleistung zu verpflichten, hatte von der Leyen aufgrund mangelnder Abstimmung der beiden Instanzen noch 1934 Erfolg gehabt.145 Doch blieb Arthur Gütt nun bei seiner ablehnenden Entscheidung und führte dazu aus: „Ich halte eine so weitgehende Fürsorge für jugendliche Psychopathen nicht mit dem Grundgedanken der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik vereinbar. Insbesondere scheint mir der Gedanke, durch eine intensive Heilpädagogik eine Besserung des anlagemäßig bedingten Zustandes herbeizuführen, abwegig. Eine Beibehaltung der Jugendleiterin aus Gründen der Gesundheitsführung halte ich daher nicht für erforderlich.“146

Mit der Einstellung der Zahlung seitens des Ministeriums des Innern sollte zugleich die Frage „der Beibehaltung bezw. Umgestaltung der Beobachtungsstation für psychopathische Kinder“ geprüft werden.147 Die Einstellung der staatlichen Förderung und der Verlust des letzten Bündnispartners markierte das Ende des empirischen und individualisierenden Forschungs- und Praxisprojektes auf der Kinderbeobachtungsstation der Charité zugunsten auffälliger Jugendlicher. Die Rekonstruktion der Ereignisse, mit denen Franz Kramer und Ruth von der Leyen seit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten konfrontiert waren, lassen den Schluss zu, dass die Sozialpädagogin dem Druck der Verhältnisse und den persönlich erlittenen Verlusten nicht mehr Stand zu halten vermochte. Gut einen Monat nach dem Ablehnungsbescheid des Reichsinnenministeriums am 10. Juli 1935 nahm sie sich das Leben.148

Die Kinderbeobachtungsstation bis 1945 Anders als die rigorose Haltung Gütts nahelegt, wurde die Berliner Kinderbeobachtungsstation nicht geschlossen. Bonhoeffer hielt sie für unentbehrlich, war sich jedoch bewusst, dass sie nur durch die Beibehaltung der Stelle einer Jugendleiterin betrieben werden konnte. Mit Schreiben vom 18. Juli 1935 beantragte er daher bei der Charité-Direktion die Übernahme der Jugendleiterin als Kinderschwester.149 Bonhoeffer empfahl Boletta Pederzani für diese Planstelle, die die Station bereits seit Dezember 1930 heilpädagogisch betreute.

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Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung für die Bewilligung der Beihilfe von 700 RM für das Rechnungsjahr 1935; Bl. 376: Gehaltsquittung für den DVFjP von Boletta Pederzani über den Empfang des monatlichen Betrages von 786,96 RM für die Zeit vom 01.04.1934–31.03.1935. Kölch 2006, 230. Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 371. Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 373. Vgl. dazu Berger 2000, 11; Gartz 2008, 198; Kölch 2006, 215. Barch R 4901, Nr. 1335, Bl. 387: Bonhoeffer an die Charité-Direktion, 18.07.1935.

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6. Das Ende

„Sie zeichnet sich durch ihre Umsichtigkeit, ihr Verantwortungsbewusstsein, ihre Geschicklichkeit im Umgang mit psychopathischen Kindern, ihre Geduld und ihr liebevolles Verhalten selbst den Schwerst-Erziehbaren gegenüber aus. Sie der Klinik zu erhalten, liegt im dringenden Interesse der Kinderabteilung.“150

Der Verwaltungsdirektor befürwortete den Antrag gegenüber dem Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wärmstens und empfahl die Einstellung der Jugendleiterin ab dem 1. Oktober 1936.151 Am 19. September 1935 meldete die Charité den Gesamtbetrag von 2.913 Reichsmark als Mittelforderung für den Staatshaushalt 1936 beim Preußischen Finanzministerium an.152 Mit der Übernahme der Jugendleiterin in den Klinikdienst war eine deutliche Steigerung der Ausgaben für diese Stelle verbunden, sie lagen gut doppelt so hoch wie der zuvor bewilligte Zuschuss an den DVFjP, nach Kölch ein Zugeständnis, das die direkte staatliche Kontrolle in der Jugendfürsorge ermöglichte.153 Die Kinderbeobachtungsstation existierte bis 1945 weiter, dies zeigen nicht zuletzt das überlieferte Diagnosebuch und die Krankenakten.154 Im Laehr’schen Anstaltsverzeichnis von 1937 ist die KBS verzeichnet,155 und auch der Nachfolger Bonhoeffers, der in hohen Parteifunktionen tätige Max de Crinis (1889–1945),156 führte sie nach 1938 weiter. Insbesondere unter den Bedingungen des Zweiten Weltkrieges nahm die Zahl psychisch auffälliger Kinder und Jugendlicher erneut zu, und sie betraf – anders als rassenhygienisch prognostiziert – auch die Söhne und Töchter „gesunder“ NSVolks­genoss_innen. Der an der NS-„Euthanasie-Aktion T4“ beteiligte de Crinis begründete die 1942 eingerichtete Poliklinik speziell für Kinder und Jugendliche an der Psychiatrischen und Nervenklinik mit der unbedingten „Notwendigkeit einer intensiven Kinder- und Ju150 Barch R 4901, Nr. 1335, Bl. 387. 151 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 386: Antrag des Charité-Verwaltungsdirektors an den Minister für Wissen­ schaft, Erziehung und Volksbildung v. 02.09.1935 zur Anstellung einer Jugendleiterin für die Psychiatrische und Nervenklinik der Charité und Bereitstellung der Mittel durch den Staatshaushalt für 1936 ff. 152 Barch R 4901, Nr. 1355, Bl. 390: Charité an den Preußischen Finanzminister, 19.09.1935. 153 Kölch 2006, 233. 154 HPAC, Diagnosebuch der Kinderbeobachtungsstation 1921–1945 und Aktenbestand KBS. Die inhaltliche Ausrichtung der KBS in dieser Zeit ist noch ein Forschungsdesiderat. Die von Michael Kölch mitgeteilten Einzelheiten zur personellen Besetzung der Klinik sowie zur konzeptionellen Entwicklung und den Diagnosen der aufgenommenen Kinder zwischen 1933 bis 1945 beruhen auf der Auswertung des überlieferten Verwaltungsschriftguts im Archiv der Humboldt-Universität zu Berlin. Vgl. Kölch 2006, 233 ff. 155 Laehr 1937, 8. 156 Zu Max de Crinis vgl. Beddies 2005.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 297

gendlichen-Arbeit“. Er beklagte, dass die KBS unter den Bedingungen des Kriegs nicht ausbaufähig, und daher „für eine tiefergreifende psychische Behandlung und heilpädagogische Betreuung“ kaum geeignet sei.157

Franz Kramer: Marginalisierung, Exil und Überleben Erst nach dem Tod Ruth von der Leyens erschien ihre und Kramers Entgegnung auf Schröders Kritik am Beitrag „Entwicklungsverläufe ‚anethischer, gemütloser‘ psychopathischer Kinder“. Mit dem Nachruf auf seine Kollegin und langjährige Weggefährtin beendete Franz Kramer seine Publikationstätigkeit im Fachorgan der Gesellschaft für Heilpädagogik und des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen.158 Zwar gehörte er bis 1938 weiterhin zum Mitarbeiterstab der Zeitschrift, als Mitherausgeber fungierte er jedoch nur noch bis Ende 1935.159 Noch bis 1937 ist Franz Kramer im Reichsmedizinalkalender als „Professor der Nervenheilkunde“ verzeichnet.160 Im Sinne der ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 galt er als Jude.161 Kramer zählte damit zu den etwa 1.500 bis 1.800 Ärzt_innen jüdischer Herkunft, die bis Oktober 1938 noch in Berlin tätig waren. Seinen Antrag auf Teilnahme am „Ersten Internationalen Kongress für Kinderpsychiatrie“, der vom 24. Juli bis 1. August 1937 in Paris stattfand, lehnte das zuständige Ministerium mit der Begründung ab, Kramer bedürfe der Genehmigung nicht, da er der Hochschulverwaltung nicht mehr unterstehe.162 Diese Formulierung bezieht sich indirekt auf seine Entfernung als Jude aus dem Lehrkörper der Universität auf der Basis des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. In einem vergleichbaren Fall lautete die offen antisemitische Antwort: „Nichtariern wird die Teilnahme an internationalen Kongressen nicht gestattet.“163 Unter den zwölf Delegierten aus Deutschland, die am Pariser Kongress teilnahmen, befand sich Paul Schröder. Er nutzte die Chance und referierte über die „charakterlich 157 UAHUB, Char. Dir., Nr. 2543, Bl. 182; vgl. auch Kölch 2006, 233. 158 Kramer 1935. Die Antwort Kramers und von der Leyens auf Paul Schröders Kritik erschien in der Juliausgabe des Jahrgangs 1935 der Zeitschrift für Kinderforschung. Auf dem Titelblatt ist der Name Ruth von der Leyens bereits mit einem Kreuz als Signet für ihren Tod gekennzeichnet. 159 Vgl. Hagelskamp 1988, 40 A sowie Titelblätter der ZfK 1935, 1936, 1937, 1939. Kramer emigrierte am 3. August 1938 nach Utrecht. Vgl. Neumärker 2005, 96. 160 Verzeichnis der deutschen Ärzte und Heilanstalten, Reichs-Medizinal-Kalender für Deutschland, Teil II, 1, Leipzig 1937, § 294, 201. 161 Erste Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935, vgl. RGBl. I, 1935. 162 Zit. n. Neumärker 2005, S. 89. 163 Vgl. Neumärker 2005, 89. Neumärker rekonstruiert diesen Vorgang für Gustav Aschaffenburg (1866– 1944), Ordinarius für Psychiatrie an der Kölner Universität.

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6. Das Ende

Abartigen“, die quantitative Klassifizierung von Intelligenzstörungen und die qualitative Unterscheidung von Charakterstörungen.164 Zwar gehörte Kramer dem Ehrenkomitee (Comité d’honneur) des Internationalen Kongresses für Kinderpsychiatrie an, da er der Veranstaltung fernbleiben musste, hatte er jedoch keine Gelegenheit, sich als Fachvertreter zu präsentieren.165 Im Entzug der Approbation zum 30. September 1938 fanden die systematischen Ausgrenzungsmaßnahmen gegen nicht „arische“ Ärzt_innen im nationalsozialistischen Deutschland ihren Höhepunkt.166 Der endgültige Verlust der Lebensgrundlage zwang auch Franz Kramer, seine Bemühungen um eine Emigration zu intensivieren. Sauerbruch und Bonhoeffer unterstützten ihn mit EmpfehAbb. 8: Franz Kramer im niederländischen lungsschreiben an den Sozial-, Kultur- und UnExil, um 1941 terrichtsminister in den Niederlanden.167 Am 3. August 1938 konnte Franz Kramer Deutschland verlassen, seine „arische“ Ehefrau Luise und die 13 und zehn Jahre alten Kinder folgten ihm kurz nach der Reichspogromnacht im November 1938 nach Utrecht. Nach der Okkupation der Niederlande durch Deutschland Anfang Mai 1940 musste Kramer als Jude in „Mischehe“ den „Judenstern“ tragen und unterstand der „Deutschen Sicherheitspolizei“ und dem „Sicherheitsdienst für die besetzten niederländischen Gebiete“.168 Er erhielt eine Anstellung bei dem bedeutenden niederländischen Psychiater Henricus Cornelius Rümke (1893–1967). Nachdem er am 1. März 1940 sein Arztexamen für die Niederlande abgelegt hatte, erlaubte man ihm jedoch die Ausübung seines Berufes nur in Niederländisch Ostindien (heute: Indonesien). Die Kinderärztin Cornelia de Lange (1871–1950) attestierte Kramer die Dienstuntauglichkeit für die Tropen, woraufhin er sich in Amsterdam niederließ. Aufgrund der vorherrschenden ausgeprägten anti-deutschen Stimmung war es ihm dort je-

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Castell et al. 2003, 36; Neumärker 2005, 89. Castell et al. 2003, 35. Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.07.1938. Vgl. RGBl. I, 1938, 969. Neumärker 2005, 96 ff. Neumärker 2005, 96, 99 und 100.

6.2 Franz Kramer und Ruth von der Leyen nach der „Machtergreifung“ 299

doch nicht möglich, eine eigene neurologische Praxis zu eröffnen. Kramer konnte die Besatzungszeit nur mit Unterstützung von Freunden überstehen, zeitweise lebte die Familie sogar im Untergrund.169 Nach Kriegsende blieb Kramer in den Niederlanden, einen Ruf nach Jena lehnte er 1947 ab.170 Er erhielt eine Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter am „Rijksasyl voor Psychopathen (Avereest)“ und war bis 1958 in der psychiatrischen „Willem Arntsz Stichting“ in Den Dolder tätig.171 In dieser Zeit setzte er auch seine Publikationstätigkeit fort. Als anerkanntes Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung erhielt er Zuwendungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Franz Kramer starb am 26. Juni 1967 in Bilthoven.

169 Neumärker 2005, 101. Der Autor zitiert aus der noch immer unveröffentlichten Publikation von Voswinckel [2002]. 170 Neumärker 2005, 97. 171 Neumärker 2005, 101. Der Autor zitiert aus der noch immer unveröffentlichten Publikation von Voswinckel [2002].

Epilog: Dimensionen eines vergessenen Raumes der urbanen Moderne

Die eingangs geschilderte Fallgeschichte Erich Köblers kann beispielhaft für das Phänomen des schwierigen Kindes in der urbanen Moderne genommen werden, dem Fachleute aus der Sozialpädagogik und Psychologie, Psychiatrie und Pädiatrie, Fürsorge und Jurisdiktion im Berlin der 1920er Jahre hohe Aufmerksamkeit widmeten. Der 1919 in Neukölln geborene Junge, dessen Eltern in den Wochen der Revolution ein kurzes Verhältnis miteinander eingegangen waren, repräsentiert in mehrfacher Hinsicht den klassischen Fall jugendlicher psychopathischer Konstitution: Von den als gefährdet, verwahrlost, erziehungsschwierig oder „kriminell“ geltenden Jugendlichen waren etwa zwei Drittel Jungen, hervorgegangen aus der großstädtischen Lebenswelt mit ihren spezifischen Gefährdungen und Verlockungen. Bereits die uneheliche Geburt Erichs, die instabilen familiären und sozialen Verhältnisse, in denen der Junge heranwuchs, beförderten aus zeitgenössischer Sicht auffälliges Verhalten gegenüber Gleichaltrigen und Erwachsenen. Den Bereich der „Normalität“ verließ der Siebenjährige endgültig mit dem als abnorm angesehenen Onanieren und sexuellen Handlungen mit anderen Kindern. Dieses Verhalten überschritt die gesellschaftlichen Akzeptabilitätsgrenzen und mündete in die Inanspruchnahme einer, wie die vorliegende Untersuchung zeigt, hoch spezialisierten und weitgehend individualisierenden Praxis professioneller Hilfe, die sich unter den Bedingungen des modernen Wohlfahrtsstaates in der Metropole Berlin in den 1920er Jahren entfaltete. Als kennzeichnend für den Umgang mit dem schwierigen Kind Erich Köbler kann in diesem Zusammenhang die Vielzahl von Personen und Instanzen angesehen werden, die an seiner Aufnahme in die Charité beteiligt war. War die dortige, 1921 eröffnete Kinderbeobachtungsstation zunächst nur als Ausgangspunkt der vorliegenden Studie gedacht, so erwies sich diese Einrichtung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen im Laufe der Forschungsarbeit als bedeutsames institutionelles Zentrum, aus dem während der Weimarer Republik eine richtungweisende Praxis medizinisch-pädagogischen Umgangs mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen hervorging. Die kleine innovative Forschungseinrichtung an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité repräsentierte den lokalen Knotenpunkt eines multidisziplinären Netzwerkes, das sich die wissenschaftliche Erforschung und therapeutische Beeinflussung der psychopathischen Konstitution des Kindes- und Jugendalters zum Ziel gesetzt hatte. In raumtheoretischer Perspektive lässt sich die Kinderbeobachtungsstation vielschichtig beschreiben und interpretieren. Mit Blick auf die Genese der Kinder- und Jugendpsychiatrie erscheint sie als ein Phänomen des Übergangs: Die Forschungsinstitution existierte zu einer

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Zeit, in der die Wissensordnung über verhaltensauffällige und erziehungsschwierige Kinder und Jugendliche noch nicht den Zustand einer „Normalwissenschaft“ (Thomas S. Kuhn) erreicht hatte. Aus der Perspektive der Akteur_innen der Psychopathenfürsorge erscheint sie als ein Möglichkeitsraum, in dem die Zusammenarbeit zweier Disziplinen, der Pädagogik und der Psychiatrie, mit dem Ziel der Erforschung psychopathischer Konstitution und der Entwicklung einer therapeutischen Praxis im Umgang mit dem schwierigen Kind erprobt und über die Jahre perfektioniert wurde. Der aus dieser Kooperation hervorgegangene theoretisch und methodisch fundierte Ansatz stellt nicht zuletzt auch eine topographische Schwelle dar, die den Übergang von der Außenwelt in eine psychiatrische Einrichtung und zurück in die „normale Umwelt“ kennzeichnet. Als Instrument der Analyse interdisziplinärer Praxis im Umgang mit dem schwierigen Kind erwies sich der Turner’sche Schwellenbegriff als besonders geeignet. Mit ihm konnte die Eigenständigkeit und die Dynamik der Prozesse sichtbar gemacht werden, die sich in diesem metaphorischen Raum des „Dazwischen“ ereigneten. Mit dem ethnologischen Konzept des Liminalen ließen sich „Ansätze zu Alternativen oder wenigstens Widerständen gegenüber dem erfolgreichen Hauptstrom der gesellschaftlichen Entwicklung“ – hier der Disziplinengenese der Kinder- und Jugendpsychiatrie – aufspüren (Detlev Peukert). Konkret handelte es sich dabei um das Wirken einer interdisziplinären Gemeinschaft von Theoretiker_innen und Praktiker_innen, die aus einer empirischen Herangehensweise heraus ein dynamisches Anlage-Umwelt-Modell abweichenden Verhaltens des Kindes- und Jugendalters entwickelten. Daraus leiteten die Akteur_innen der Kinderbeobachtungsstation eine psychiatrisch-heilpädagogische Praxis ab, die in einem für die Zeit außergewöhnlichen Maße kindeswohl- und milieuorientiert gewesen ist. Der methodische Rückgriff auf das Turner’sche Konzept beförderte nicht zuletzt die Erkenntnis, dass die Akteur_innen der Psychopathenfürsorge – anders als die heutige Wahr­ nehmung aus der Sicht des vermeintlich „erfolgreichen Hauptstroms“ suggeriert – keine marginale Gruppe darstellten. Vielmehr standen die Protagonist_innen, allen voran Ruth von der Leyen und Franz Kramer, im Zentrum von Auseinandersetzungen um die Entwicklung des im Entstehen begriffenen Fachgebietes der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Zeitgenössisch bot sich das Psychopathiekonzept als theoretische Grundlage für die neue Spezialdisziplin an. Dabei stellte dieses Paradigma, das den Prozess der Disziplinengenese antrieb, wiederum selbst ein Schwellenphänomen dar: Zum einen, weil es einen Übergangsraum (zwischen normal und anormal, psychisch krank und geistig gesund) als Gegenstand der neuen Wissensordnung markierte, zum anderen, und vor allem aber, weil auch die Verwendung des Begriffs Psychopathie oszillierte, indem er die Differenz zu moralisierenden Konzepten abweichenden Verhaltens aufzeigen (von der Leyen), aber auch eugenische Ideen transportieren konnte (Gregor). Über diese variable Anwendung hinaus war eine Überlap-

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pung der Bedeutungsinhalte möglich (Villinger). Die vielfältigen Deutungs- und Verwendungsmöglichkeiten des Psychopathiebegriffs verweisen darauf, dass der Prozess der Disziplinengenese als Schwellenzustand Entwicklungspotenziale in verschiedene Richtungen bereithielt. Insbesondere in der Frage der Ursachen abweichenden kindlichen Verhaltens existierten bis 1933 divergente Konzepte weitgehend gleichrangig nebeneinander. Die spätere Dominanz anlage-theoretischer Auffassungen war für die Akteur_innen der Psychopathenfürsorge in den 1920er Jahren nicht absehbar. Es ist bezeichnend für die Unbestimmtheit der epistemologischen Situation, dass die Organisation der entstehenden Wissenschaftsdisziplin maßgeblich in den Händen von der Leyens lag. Gemeinsam mit Kramer vertrat die Sozialpädagogin einen integrativen Ansatz, der von der unauflöslichen Verbindung und Dynamik der Anlage- und Milieu-Einflüsse ausging. Spätestens mit der Errichtung des NS-Regimes schwand die Akzeptanz für diesen Ansatz jedoch rapide, weil sich die politischen Prioritäten zu Gunsten der Erb- und Rasselehre verschoben hatten. Diesen Umstand nutzte Paul Schröder als Vertreter einer anlage-theoretischen Auffassung, um die wissenschaftliche Konkurrenz zu desavouieren. Die Frage, ob von der Leyens und Kramers Konzept für die weitere Entwicklung des Fachgebietes in Deutschland eine wesentliche Rolle gespielt hätte, lässt sich retrospektiv nicht beantworten. Gerade deshalb aber erweist sich die historisierende Beschreibung und Deutung des Untersuchungsgegenstandes als produktiv, denn erst durch die zeitgebundene Betrachtung des interdisziplinären Umgangs mit dem schwierigen Kind lässt sich dessen eigene Entwicklungslogik herausarbeiten und sein zeitgenössischer Stellenwert erkennen. Der räumliche Aspekt, der mit dem Begriff Schwelle verbunden ist, hat in diesem Zusammenhang nicht allein metaphorische Funktion, denn die Praxis der Erforschung kindlicher und jugendlicher Verhaltensauffälligkeiten – sowohl ihrer Ursachen als auch ihrer Beeinflussungsmöglichkeiten – war in verschiedener Hinsicht an bestimmte räumliche Voraussetzungen gebunden: So war die Entstehung und Verbreitung des Psychopathiekonzepts unmittelbare Folge der Urbanisierungsprozesse am Ende des 19. Jahrhunderts. Die großstädtischen, vor allem proletarischen Massenquartiere und die urbane Lebensweise galten als Hauptgründe gehäuften Auftretens abweichenden Verhaltens bei Kindern und Jugendlichen, als Resonanzboden für eine Vielzahl angenommener psychischer Auffälligkeiten unterhalb der Krankheitsschwelle. Gleichzeitig bot die Großstadt aber auch die Voraussetzungen, um sich dem Phänomen wissenschaftlich zu nähern und es auf therapeutischem Wege zu beeinflussen. Hier koexistierten nicht nur verschiedene Wissensbestände und daraus resultierende Praktiken in räumlicher Nähe, vielmehr konnte – gestützt auf die gemeinsame bildungsbürgerliche Herkunft der meisten Akteur_innen – sich auch eine interdisziplinäre Kooperation etablieren, die Ressourcen im notwendigen Umfang für die Forschungsarbeit zur Verfügung stellte. Mit der Gründung des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen

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entstand schließlich eine zentrale institutionelle Form, in der sich die Kooperationsbeziehungen bündelten. Eine wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche wissenschaftliche Forschung sahen die Berliner Protagonist_innen des DVFjP im Vorhandensein eines physischen Raumes, in dem abweichende kindliche Verhaltensweisen unmittelbar – also nicht fremdanamnestisch – über einen längeren Zeitraum von erfahrenen Medizinern und Sozialpädagoginnen studiert werden konnten. Auf der Basis der mit dem Psychopathiekonzept verbundenen Annahmen und des Anspruchs auf Verwissenschaftlichung der Psychopathenfürsorge schien die Schaffung eines solchen Labors nur in einer medizinischen Institution Erfolg zu versprechen und wurde schließlich als Kinderbeobachtungsstation an die psychiatrische und Nervenklinik der Charité angegliedert. Die Einrichtung dieser Forschungseinrichtung erfolgte allerdings weniger geradlinig und folgerichtig als im historischen Rückblick gemeinhin angenommen wird. Sie war vielmehr auch an den Umstand geknüpft, dass die psychiatrische Klinik Ende 1920 mit den beiden leer stehenden Ecksälen auf der ruhigen Frauenstation über eine Unterbringungsmöglichkeit und die notwendige Grundausstattung verfügte. So lässt es sich erklären, dass das lange geplante Vorhaben der Errichtung eines Beobachtungsheimes letztlich übereilt vor sich gehen musste. Trotz ihrer Einbindung in den medikalen Raum wurde der interdisziplinäre und damit auch sozialpädagogische Charakter der KBS in den zeitgenössisch publizierten Beiträgen jedoch stets hervorgehoben. Die Kinderbeobachtungsstation war keine klassisch psychiatrische Einrichtung, obwohl dort Kinder und Jugendliche mit auffälligem Verhalten erstmals als in sich geschlossene Patientengruppe stationär aufgenommen wurden. Im Unterschied zum medikalen Raum wurde hier ausdrücklich angestrebt, eine familienähnliche Atmosphäre zu schaffen. Diese war unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Jugendlichen sich – nach einer gewissen Zeit der Eingewöhnung – möglichst ungezwungen und authentisch verhielten, und damit die „objektive“ heilpädagogische Beobachtung als methodische Praxis erst möglich machten. Aus sozialpädagogischer Sicht wirkte sich die begrenzte Anzahl der zur Verfügung stehenden Plätze positiv auf das Vorhaben der Beobachtung aus, denn nur mit einer kleineren Gruppe von Mädchen und Jungen ließ sich die Prämisse der familienähnlichen Alltagsgestaltung erfüllen. Ein weiterer Unterschied zur psychiatrischen Sphäre bestand darin, dass die Jugendleiterinnen als externe Fachkräfte ihren Dienst „in der Familie“ über längere Zeiträume hinweg bei Tag und Nacht versahen und insofern nicht dem an der Klinik üblichen Arbeitsrhythmus unterlagen. Von den Kindern als „Tanten“ angesprochen, waren sie so ebenso verlässliche Ansprechpartnerinnen für die Mädchen und Jungen wie kompetente Mitarbeiterinnen des ambitionierten empirischen Forschungsprojekts „psychopathische Konstitutionen des Jugendalters“. Orientiert am bildungsbürgerlichen Ideal von Familie, nutzten die Jugendleiterinnen den unter Laborbedingungen nachgebildeten Alltag als dauerhafte Beobachtungssituation.

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In der pädagogischen Gestaltung des Raumes schlugen sich diese Prinzipien als Spiel- und Lernangebote, Freizeitbeschäftigungen, aber auch in sozialen Verpflichtungen nieder, die den Mädchen und Jungen auferlegt wurden. Ausgebildet an der Berliner Sozialen Frauenschule und im engen räumlichen wie personellen Kontakt mit dem dortigen Pestalozzi-Fröbel-Haus, orientierte sich der von den Jugendleiterinnen an der Charité geschaffene Raum an den pädagogischen Klassikern: Rousseau, Pestalozzi und Fröbel definierten Erziehung als Einwirkung auf die kindlichen Individuen durch die Gestaltung der Umwelt. Dieses Milieu war dabei als ein Schutz- und Schonraum anzusehen, um das Kind „so lange vor inneren und äußeren Gefahren zu behüten, bis [es] reif genug ist und gelernt hat, aus Einsicht zu handeln, bis Außengewalt und Fremdzwang durch Selbstzwang und Herrschaft über sich selbst ersetzt werden.“ (Böhnisch und Münchemeier)

Im Unterschied zu dieser Auffassung erfolgte die Reifung der Mädchen und Jungen auf der Kinderbeobachtungsstation jedoch nicht nur in der behütenden abgeschlossenen stationären Sphäre; für das „Empowerment“ psychisch auffälliger Jugendlicher spielte vielmehr auch die Öffnung der Einrichtung in den großstädtischen Raum durch zahlreiche und regelmäßige Außenaktivitäten – Exkursionen, Spaziergänge, eigenständige Besorgungen, Museums- und Kaufhausbesuche, Bus- und U-Bahnfahrten – eine entscheidende Rolle. Mit ihrer Aufnahme auf die KBS traten die Kinder und Jugendlichen in ein als ideal gedachtes Milieu, eine „psycho-pädagogische Umwelt“ ein (Kramer und von der Leyen), von der eine gewünschte erzieherische Wirkung ausging. Die in den Krankenakten überlieferten Beobachtungs- oder Erziehungsberichte lassen erkennen, dass nach einer gewissen Zeit des Aufenthaltes auf der KBS tatsächlich Änderungen im Verhalten von Kindern und Jugendlichen eintreten konnten. Zwar lässt sich die Wirkung des psycho-pädagogischen Milieus der Kinderbeobachtungsstation nicht verallgemeinern oder quantitativ verifizieren, doch betonten auch Kramer und von der Leyen in ihren Publikationen entsprechende Erfolge ihres Konzeptes. Auch unter einem weiteren Aspekt stellte das begrenzte Raumangebot der Kinderbeobachtungsstation ein strukturierendes Element dar. So fungierte einer der beiden großen Säle als Schlafraum, während der zweite multifunktional zum Essen, Spielen und Lernen genutzt wurde. Das kleinste Zimmer blieb der stets anwesenden Jugendleiterin als kombinierter Wohn- und Arbeitsraum vorbehalten. Das begrenzte Raumangebot führte zwangsläufig zu einer Öffnung der KBS in den weiteren Binnenraum der Psychiatrie, indem die Kinder und Jugendlichen die direkt angrenzende Frauenstation ebenso mitnutzten wie den diesen Patientinnen vorbehaltenen Gartenbereich, der teilweise, etwa mit einem Sandhaufen, kindgerecht ausgestattet wurde. Die weitergehende Öffnung der Station bis weit in das urbane Umfeld

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hinein leitete sich aus dem psychiatrisch-pädagogisch begründeten Anspruch ab, auffällig gewordene Mädchen und Jungen zum Umgang mit ihren Schwierigkeiten in ihrem jeweiligen Lebensumfeld zu befähigen. Mediziner und Pädagoginnen nahmen dafür auch nicht intendierte Effekte in Kauf. Auch die Fluktuation unter den Kindern und Jugendlichen auf der KBS hatte strukturierende Effekte. Der stetige Belegungswechsel stellte nicht nur eine grundsätzliche pädagogische Herausforderung dar, mit Blick auf das Ideal der bürgerlichen Familie beinhaltete er darüber hinaus eine dauernde Verschiebung in der Zusammensetzung der Kindergruppe. Typische gruppendynamische Strukturen und die Zuweisung sozialer Rollen, wie sie in einem festen familiären Gefüge üblicherweise auftreten, ergaben sich auf diese Weise eher nicht. Der vorgefundene Raum in der Psychiatrischen und Universitätsklinik gab nicht nur Strukturen vor, vielmehr gestalteten ihn seine Akteur_innen, insbesondere auch die dort beobachteten Mädchen und Jungen, je nach ihren spontanen Einfällen und Bedürfnissen auch selbst. Insofern stellte der Raum KBS kein statisches Gehäuse dar, er war vielmehr variabel und konnte auch abweichend von medizinischen und pädagogischen Erfordernissen genutzt werden. Die räumliche Aneignung erfolgte ebenso über die Ärzte, die die Forschungsstation nicht allein im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeit aufsuchten. Häufig von den jugendlichen Patient_innen als „Onkel“ tituliert, kamen Franz Kramer und andere Mediziner zu Besuch und gaben sich auf dieser Station durchaus privat, familiär – zum Beispiel Zigarette rauchend – und ungezwungen. Selbst „der Geheimrat Bonhoeffer“ beehrte die KBS abseits des üblichen medizinischen Betriebes. Ganz im Sinne von Ecarius und Löw (1997) handelte es sich bei der Kinderbeobachtungsstation um einen Raum als sozialen Prozess, „in dem gleichermaßen die Wirkmacht räumlicher Strukturen, kollektive Vorstellungen über Räume, aber eben auch die schöpferische Kraft der Individuen berücksichtigt werden müssen“. Unter Rückgriff auf die überlieferten Archivalien, das Diagnosebuch der KBS, die psychiatrischen Krankenakten und die darin dokumentierten heilpädagogischen Einzelfallakten des DVFjP, ließ sich die theoretische Vorgabe der Interdisziplinarität auf ihre Umsetzung in die Praxis überprüfen, konkretisieren und verifizieren. Der Raumbegriff als Analysekategorie stützte dabei die Interpretation des Handelns der Beteiligten, indem sowohl die Unterschiede zwischen medizinischen und pädagogischen Raumpraktiken als auch ihre aufeinander bezogenen, ergänzenden Funktionen im Forschungs- und Praxiskonzept der Station aufgezeigt werden konnten. Die psychiatrischen Krankenakten, in denen ein Teil der Einzelfallakten der Beratungsstelle für Heilerziehung ebenso erhalten war wie die zahlreichen Erzieherinnenberichte der auf der Station tätigen Jugendleiterinnen des Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen boten einen herausragenden Quellenzugang. Auf dieser Basis ließ sich der maßgebliche Anteil herausarbeiten, den die Mitarbeiterinnen des DVFjP sowohl an der materiellen Existenz der KBS wie an der Generierung von Wissen über Ursachen

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und Entstehung psychopathischer Konstitutionen des Kindesalters sowie über Möglichkeiten ihrer Beeinflussung hatten. Trotzdem scheint in den zeitgenössischen Fachpublikationen der Beitrag der sozialpädagogischen Fachkräfte zur Genese der späteren Kinder- und Jugendpsychiatrie kaum auf. Die Jugendleiterinnen waren – bis auf Ruth von der Leyen und in Ansätzen Lotte Nohl – ausschließlich praktisch tätig und publizierten weder in den einschlägigen Fachzeitschriften der Sozialen Arbeit noch in den medizinisch-psychiatrischen Fachorganen. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass in der spärlichen Sekundärliteratur zum DVFjP und zur KBS der aktive Beitrag der Jugendleiterinnen zur Entwicklung einer individualisierenden und milieuorientierten Praxis im Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern nicht thematisiert wird. Mit Blick auf das interdisziplinäre Zusammenwirken von Psychiatrie und Sozialpädagogik rückt daher die als randständig und vergleichsweise unbedeutend wahrgenommene pädagogische Spezialdisziplin ins Zentrum und erfährt eine Neubewertung ihrer Rolle bei der Genese der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass die Zusammenarbeit zwischen Jugendfürsorge und psychiatrischer Klinik, zwischen Sozialpädagoginnen und Psychiatern, die sich im urbanen Raum der Metropole Berlin in den 1920er Jahren in einer bemerkenswerten Weise institutionalisierte und bis in die Anfangsjahre der nationalsozialistischen Diktatur existierte, ein historisch singuläres Phänomen darstellt. Die Berliner Kinderbeobachtungsstation repräsentiert ein für diese Zeit wohl einzigartiges Beispiel für eine im psychiatrischen Raum verortete Einrichtung, bei der die Zuständigkeit für die Erforschung der jugendlichen psychopathischen Konstitution nicht ausschließlich medizinisch definiert, die anschließende Heilerziehung verhaltensauffälliger Jungen und Mädchen nicht allein pädagogisch bestimmt war. Als räumliche Struktur ist schließlich auch das Netzwerk der sich konstituierenden Wissensordnung Psychopathenfürsorge in Berlin und im Deutschen Reich aufzufassen. Die Untersuchung der Praxis auf der Kinderbeobachtungsstation mag im Rahmen der Psychopathenfürsorge zunächst als Ausloten eines marginalen Raums erscheinen (Doris BachmannMedick). Hinsichtlich der Entstehung der Kinder- und Jugendpsychiatrie erweist sich dieser Raum jedoch als ein zentraler Knotenpunkt, denn die Autorität Kramers und von der Leyens im Netzwerk des Wissensgebietes lässt sich nicht allein durch ihre organisatorischen Aktivitäten erklären. Tatsächlich hatten beide schon durch die Gründung eines wissenschaftlichen Vereins, der sich klar auf das Psychopathieparadigma bezog, und durch die Übernahme der renommierten Zeitschrift für Kinderforschung und deren inhaltliche Neuausrichtung wesentliche Impulse zur Weiterentwicklung, Verstetigung und reichsweiten Vernetzung gegeben. Die anhaltende Wertschätzung der Fachkolleg_innen, die Kramer und von der Leyen in der sich formierenden Disziplin genossen, beruhte wesentlich auf den Ergebnissen ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit in dem Berliner Psychopathie-Forschungskomplex, zu dem neben der Kinderbeobachtungsstation die Beratungsstelle für Heilerziehung sowie die

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Heilerziehungs- und Erholungsheime des DVFjP gehörten. Die konkreten Praktiken in den beschriebenen Räumen bildeten die materielle Basis, um Erfahrungen bezüglich der unterschiedlichen Formen abweichenden Verhaltens, seiner möglichen Ursachen und denkbaren erzieherischen Einwirkungspotentiale zu sammeln. Kramer und von der Leyen nutzten die Möglichkeiten, die ihnen ihre Stellung bot, um ihre Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen wie auch einer breiteren interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren. Zugleich bewirkte die zutiefst empirische Auffassung von Wissenschaft, die der Arzt und die Sozialpädagogin teilten, dass sie ihre eigenen Erkenntnisse nicht als endgültig ansahen. Vielmehr mussten diese in einem fortdauernden Prozess eigener Forschungsarbeit immer wieder überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden. Der gleichen Einstellung entsprang ihre grundsätzliche Offenheit für verschiedene Denkrichtungen innerhalb der entstehenden Wissensordnung, denn solange keine definitiven Aussagen über psychopathische Konstitutionen des Kindes- und Jugendalters gefunden waren, versprachen nur ein breites Methodenspektrum und die Pluralität der Erkenntnis leitenden Annahmen einige Aussicht auf Erfolg bei der Suche. Insbesondere Ruth von der Leyen als Schriftleiterin des Fachorgans ermöglichte daher konsequent die Publikation von wissenschaftlichen Beiträgen unterschiedlicher methodischer und epistemologischer Ausrichtung, unabhängig von ihren eigenen Ansichten. Das pluralistische Wissenschaftsverständnis Kramers und von der Leyens bedeutete jedoch nicht die Beliebigkeit der eigenen Position, eher war das Gegenteil der Fall. Nicht zuletzt der Informationsaustausch und der Meinungsstreit innerhalb der Scientific Community schärfte, neben ihren zunehmenden praktischen Erfahrungen im Umgang mit verhaltensauffälligen Mädchen und Jungen, schrittweise das Profil ihres Psychopathiekonzepts. Ihre letzte wissenschaftliche Kontroverse über die Anlage-Umwelt-Problematik führten Kramer und von der Leyen energisch und auf solider empirischer Grundlage gegen Paul Schröders charakterologische Deduktionen. Es lag nicht an der mangelnden Validität ihrer Argumente, dass ihre Position in der Folgezeit aus der deutschen wissenschaftlichen Debatte verschwand. Das von Kramer und von der Leyen vertretene Konzept psychopathischer Konstitutionen stellte kein einfaches Ursache-Wirkungs-Modell dar. Ihrer Auffassung nach führten weder anlagebedingte psychische Defekte zwangsläufig zu sozialer Devianz, noch ließen sich entsprechende Ursachen in einzelnen Umweltbedingungen finden. Vielmehr war der Grund für abweichendes Verhalten in der individuell höchst variablen und dynamischen Wechselwirkung von Anlage- und Umweltfaktoren zu suchen, die allenfalls gedanklich, unter größtem analytischem Aufwand und fast ohne praktischen Nutzen voneinander zu trennen waren. Die psychische Anlage war nicht zu beeinflussen. Führte diese jedoch allein im Zusammenspiel mit bestimmten Milieukonstellationen zu Verhaltensauffälligkeiten, dann waren folgerichtig auch Kombinationen von Umwelteinflüssen denkbar, bei denen solche Auffälligkeiten nicht

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auftraten. Da das Milieu in diesem dynamischen Geschehen die veränderliche Größe darstellte, konnten Beeinflussungsstrategien hier ansetzen. Die Suche nach einer optimalen psychopädagogischen Umwelt für jedes einzelne Kind war daher die logische Konsequenz für die praktische fürsorgerisch-pädagogische Arbeit der Gruppe um Kramer und von der Leyen. Für deviante und delinquente Mädchen und Jungen eröffnete das Zusammentreffen mit den Protagonist_innen der Berliner DVFjP-Gruppe einen Möglichkeitsraum, in dem ihnen über lange Zeiträume hinweg verlässliche Ansprechpartner_innen zur Verfügung standen, von denen sie Unterstützung bei der Mobilisierung eigener Entwicklungspotentiale erwarten durften. Auf psychiatrisch-heilpädagogischer Seite führte diese kindzentrierte Herangehensweise zuweilen zu einem Unterlaufen des eigentlichen Zwecks der Kinderbeobachtungsstation, indem der Aufenthalt dort nicht allein der Forschung diente, sondern im Einzelfall auch eine Transferfunktion zwischen verschiedenen Lebensstationen von Mädchen und Jungen bekam. Mit dem „Verschwinden“ Franz Kramers und Ruth von der Leyens und der von ihnen gegründeten Institutionen, mit der gewaltsamen Zerstörung des multiprofessionellen Netzwerkes der Psychopathenfürsorge durch die Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung seiner jüdischen und politisch anders denkenden Akteur_innen wurden auch der empirische Forschungsansatz und das milieu-orientierte Konzept der Beeinflussung jugendlicher Psychopathie ausgelöscht. Der Bruch, den die nationalsozialistische Diktatur für die gesellschaftliche Vielfalt, die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Auffassungen, Denk- und Lebensweisen in der Weimarer Republik bedeutete, war radikal und nachhaltig und wirkt bis in die heutige Zeit fort. An das von Kramer und von der Leyen entwickelte Konzept des Umgangs mit auffälligen Kindern und Jugendlichen knüpfte die deutsche Nachkriegsgesellschaft nicht wieder an. In der aktuellen Fachliteratur zum konstant bestehenden Phänomen des schwierigen Kindes werden Theorie und Praxis dieser beiden außergewöhnlichen Protagonist_innen eines frühen Erklärungs- und Therapieansatzes nicht rezipiert.

Danksagung

Den Mitarbeiter_innen der besuchten Archive und Bibliotheken danken wir für ihre umfangreiche Unterstützung. Für lebhafte Diskussionen und konstruktive Kritik gilt unser Dank den Kolleg_innen der DFG Forschergruppe 1120 „Kulturen des Wahnsinns (1870-1930)“. Im Rahmen der Forschergruppe haben Lourdes Izagirre Ondarra und Hannes Riemann engagiert an dem Teilprojekt „Die Breite des Normalen“, dessen Ergebnisse der vorliegenden Publikation zugrunde liegen, mitgearbeitet; auch dafür bedanken wir uns sehr. Ariane Israel hat sich um die Einrichtung des Manuskripts überaus verdient gemacht; ihr sei an dieser Stelle besonders herzlich gedankt. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danken wir sehr für eine Sachbeihilfe in erheblicher Höhe; der Prof. Dr. Walter Artelt und Prof. Dr. Edith Heischkel-Artelt-Stiftung für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses für das vorliegende Werk. Berlin im November 2015 Wolfgang Rose, Petra Fuchs, Thomas Beddies

Abbildungsverzeichnis

Umschlagabbildung: Drei Erzieherinnen der Kinderbeobachtungsstation, gezeichnet von einer siebenjährigen Patientin, 1926. HPAC, KBS 272 Abbildung 1: Personal der Kinderbeobachtungsstation um 1929, vorne li. Franz Kramer, daneben Ruth von der Leyen. In: Rothenberger/Neumärker (2005), 87. Abbildung 2: Visitenkarte des Deutschen Vereins zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen. UAHUB, Char. Dir. 89, Bl. 240. Abbildung 3: Grundriss 1. OG Psychiatrische und Nervenklinik der Charité, 1908, roter Kreis: Lage der späteren Kinderbeobachtungsstation. In: Seebacher (1990), 15. Abbildung 4a: „Kinderstatsion“, 1927. HPAC, KBS 334. Abbildung 4b: Kinderstation, Zimmer der Erzieherin, 1927. HPAC, KBS 329. Abbildung 5: Spaziergang auf dem Gelände der Charité, 1929. HPAC, KBS 392, KBS 371. Abbildung 6a, 6b und 6c: „Wie es in Gerswalde war“, Erich Köbler. HPAC, KBS 825 sowie Transkription. Abbildung 7: Franz Kramer im niederländischen Exil, um 1941. In: Rothenberger/Neumärker (2005), 99. Abbildung 8a: „Bericht der Erzieherin“, Hilde Classe, 1921. HPAC, KBS 1. Abbildung 8b: Auszug Erzieherinnenbericht, drei Verfasserinnen, 1930. HPAC, KBS 604.

Quellenverzeichnis

Bundesarchiv Berlin (Barch): R 86, R 3001 und R 4901 Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA): Rep. 55 Provinzialverband, Rep. 2 A II Templin, Rep. 31 A Bezirksausschuss/Bezirksverwaltungsgericht Potsdam Landesarchiv Berlin (LAB): A Rep. 003-04-01, A Rep. 003–02, A Rep. 030–04, B Rep. 042, A Rep. Pr. Br. 057 Historisches Psychiatriearchiv der Charité Berlin (HPAC): Diagnosebuch der Kinderbeobachtungsstation 1921–1945 KBS, Pol.-Krbl., Frauenabteilung Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin (UAHUB): Char. Dir., Nervenklinik, UK-Personalia, Med.-Fak. Evangelisches Zentralarchiv Berlin (EZA): Bestand 626, Nachlass Siegmund-Schultze Max-Planck-Institut für Psychiatrie – Historisches Archiv München (MPIP – HA): Genealogisch-Demographische Abteilung (GDA)

Personenregister

In dieses Register wurden die im Buchtext einschließlich Fußnoten erwähnten historischen Personen aufgenommen, ausgenommen sind die in der Einleitung und den Literaturverweisen genannten Autor_innen. Manche Personen sind nur mit Nachnamen oder Initialen bekannt. Der einfacheren Identifikation halber wurden bei einigen Personen Klammerbemerkungen mit Stichworten beigefügt. A Abramczyk, Siegfried 99, 100 101 Adler, Alfred 62, 63, 64, 249, 250 Ǻkerhielm, V. von 127 Ammerschläger, Adolf 220, 221 Asher, Helene siehe: Leyen, Helene von der B Bäumer, Gertrud 87 Bejach, Curt 213 Benjamin, Erich 67 Bernfeld, Siegfried 263 Bessau, Georg 291 Bier, August 271 Binét, Alfred 73, 77, 78, 157, 159, 231 Binswanger, Otto 34, 40 Birnbaum, Karl 260 Bobertag, Otto 231, 249, 285 Boenheim, Curt 68 Boës, Irmgard 114, 160, 287 Bondy, Curt 245 Bonhoeffer, Karl 21, 49, 70, 72, 76, 79, 95, 99, 101, 106, 111, 119, 120, 121, 122, 123, 125, 126, 130, 131, 133, 135, 148, 158, 160, 162, 164, 166, 213, 272, 283, 286, 294, 295, 296, 298, 305 Bornstein, St. 127 Busemann, Adolf 285

C Cauer, Minna 85, 86 Classe, Hildegard später verheiratete Fries 114, 124, 125, 126, 127, 129, 133, 135, 136, 140, 142, 143, 144, 145, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 156, 160, 161, 162, 164, 165, 166, 170, 172, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 185, 187, 190, 197, 202, 211, 228, 290 Coerper, Karl 64 Cohn-Hülse, Wilfried 68 Corvinus, Lucy 199 Cramon, Anni von 114, 287 Creutzfeldt, Hans-Gerhard 72 Crinis, Max de 296 Czerny, Adelbert 51, 52, 55, 58, 60, 62 D Darwin, Charles 27 Doxiades, Leonid 59 Dittmer, Margarete 88, 102, 103, 106, 244 Döblin, Alfred 83 Drebber, Edmund 220 Dreyer 287 Duensing, Frieda 45, 46, 47, 48, 49, 79, 87, 88, 93

Personenregister E Ebbinghaus, Hermann 73, 74, 75 Egenberger, Rupert 102, 109 Emminghaus, Hermann 27, 28, 30, 40 Enge, Johannes 107 Engel, Stefan 68 Engels, Friedrich Ludwig C. 81 Engels, Louise siehe: Kapp, Louise 81, 82 Escherich, Theodor 53 F Fischer-Defoy, Werner 54 Flechsig, Paul 7 Foerster, Otfrid 72 Francke, Herbert 107, 231, 245, 246, 250, 260, 290 Fränkel, Fritz 213, 214, 215, 216 Freud, Sigmund 58, 62, 63, 249, 250 Friedeberg, Edmund 100, 119, 120 Friedjung, Josef Karl 250 Fries, Hildegard (geb. Classe) siehe: Classe, Hildegard Fuchs, Arno 99 Fürstenheim, Walter 233, 234 G Gaudecker, Rita von 200 Gaupp, Robert 58, 174, 236, 254, 279 Geissler, Wilhelmine (auch: Geißler, geb. Palacios) 181, 201, 202, 203, 205 Gött, Theodor 62 Gregor, Adalbert 90, 91, 244, 245, 248, 254, 255, 301 Griesinger, Wilhelm 32 Gruhle, Hans Walter 260 Grützner, Paul 72 Gütt, Arthur 130, 285, 286, 288, 289, 295

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H Hamburger, Franz 68, 111 Hartleib, Tabitha 205 Hašak, Maria 88 Hauptmann, Gerhart 83 Heintze, Ilse 127, 135, 171 Heinze, Hans 236, 237, 238, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 273, 274, 276, 277, 278, 279, 280, 288, 293 Heller, Theodor 248, 249 Hepner, Maria 216 Herbart, Johann Friedrich 28, 29, 30 Herrmann, Walter 245 Heyman, Paula 60, 68 Hirschfeld, Robert 108, 291 Homburger, August 42, 66, 116, 233, 239, 262, 279 Hurwitz, Lisbeth 114, 287 I Ibrahim, Jussuf Murad Bey 68, 291 Isemann, Hedwig 282 Isemann, Kurt 111, 168, 282, 291, 292 Isserlin, Max 108, 241, 248, 291 J Jacobsohn, Louis 103 Jaensch, Walther 58, 59, 158 K Kalischer, Liselotte 126, 127, 135, 154 Kalischer, Erwin 126 Kalischer, Otto 126 Kalischer, Siegfried 56 Kapp, Ernst Christian 81 Kapp, Friedrich 81, 82 Kapp, Friedrich Christian Georg 81

314

Personenregister

Kapp, Louise (geb. Engels) 82 Kapp, Luise Isabella siehe Leyen, Luise Isabella von der Kapp, Wolfgang 82, 83 Keller, Arthur 52, 53, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 68 Keller, Maria 245 Klages, Ludwig 216, 267, 270, 280 Koch, Gertrud 126, 127, 135 Koch, Julius Ludwig August 31, 32, 33, 34, 36, 41, 42 Koepp, Lina 99, 100, 101, 290 Köhne, Paul 88 Kraepelin, Emil 108, 184, 254, 260, 273, 277 Kraft, Erich 128 Kramer, Franz 20, 21, 49, 68-136, 154, 162, 163, 165, 166, 168, 169, 174, 175, 176, 180, 184, 185, 188, 190, 192, 193, 194, 200, 201, 226, 227, 228, 229, 230, 240, 244, 245, 246, 247, 248, 250, 252–308 Kramer, Julius 70 Kröcher, Bertha von 200 Kucher, Ilse 121, 123 Kuenburg, Marcellina Gräfin von 108, 109, 291 Kutzinski, Eva 127 L Lange, Cornelia de 298 Lange, Helene 84, 87 Lange, Johannes 260 Lazar, Erwin 103 Lazarowicz 287 Levy, Albert 99, 100, 245 Lewin, Kurt 251 Leyen, Alfred von der 80, 81, 82, 84 Leyen, Else von der siehe: Rosenthal, Else 84 Leyen, Friedrich Gustav von der 83

Leyen, Helene von der (geb. Asher) 83 Leyen, Luise Isabella von der (geb. Kapp) 81, 82, 84 Leyen, Ruth Ida von der 20–25, 49, 69, 70, 80–156, 169, 171, 175, 176, 180, 182, 188, 189, 190–195, 199, 202–206, 222, 224, 226–232, 240–255, 257, 259, 260, 262, 263, 265, 267, 270, 272, 273–309 Liebke 287 Liepmann, Hugo 252 Liszt, Elsa von 87, 93, 94, 246 Liszt, Franz von 87 Löffler, Franz 216, 220 Lombroso, Cesare 259 Löwenstein, Otto 239 Lyon, Erna 111, 112, 227, 228 M Maltzahn, Maria siehe: Siegmund-Schultze, Maria Mann, Heinrich 83 Mann, Thomas 83 Manns, Elfriede 124, 127, 165, 170 Mende, Käthe 102, 103, 106 Meumann, Ernst 40 Meyer, Adolf 294 Meyer, Ernst 55 Moeli, Carl 100, 104 Moll, Albert 68 Moro, Ernst 66, 233 Muchow, Martha 281 N Neuer, Alexander 62, 63 Nietzsche, Friedrich 101 Nohl, Charlotte (Lotte) 107, 114, 117, 118, 124, 126, 129, 132, 134, 153, 154, 180, 181, 183, 197,

Personenregister 198, 199, 200, 201, 202, 203, 205, 206, 214, 227, 231, 244, 246, 251, 287, 288, 289, 290, 306 Nohl, Herman 245, 246, 274 Nohl, Hildegard Marie 199 P Palacios, Wilhelmine siehe: Geissler, Wilhelmine Pallat, Ludwig 227, 245 Paulssen, Bertha 107 Pederzani, Boletta 124, 140–147, 151–154, 160, 162, 165, 166, 172, 221, 272, 295 Pfaundler, Meinhard von 62, 66 Polligkeit, Wilhelm 120, 245 Pollnow, Hans 20, 21, 121, 122, 123, 166, 256, 257, 283 Pototzky, Carl 55–59, 67 R Redepennig, Rudolf 245 Rein, Wilhelm 34, 46 Reinhardt, Rudolf 7, 9, 209 Reiß, Eduard 174, 175, 176 Remarque, Erich Maria 83 Richmond, Mary Ellen 115, 181 Rosenthal, Else (geb. von der Leyen) 84 Rubner, Max 55 Rüdin, Ernst 130, 285, 286, 287, 288, 289 Rümke, Henricus Cornelius 298 Rust, Bernhard 284 S Salomon, Alice 86, 87, 115, 181, 182, 199, 216, 281 Sauerbruch, Ferdinand 294, 298 Scheffels, Gabriele 70 Scheffels, Karl 70 Scheffels, Luise 69

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Schlanzke, Richard 134, 287, 290 Schlegel, Ernst 99 Schneider, Kurt 184 Schnitzler, Arthur 83 Scholz, Friedrich 42 Schopenhauer, Arthur 101 Schrader-Breymann, Henriette 198 Schröder, Paul 63, 64, 68, 72, 75–79, 193, 236, 237, 238, 267–280, 291, 293, 297, 302, 307 Schubert, Otto 113 Schulte, Heinrich 159, 160, 173, 176, 177, 178, 185, 210 Schulze, Heinz A. F. 20 Schwerin, Jeanette 85, 86 Siegmund-Schultze, Friedrich 25, 40, 55, 96, 98, 99, 101, 103, 104, 105, 106, 111, 117, 119, 120, 134, 197, 200, 204, 228, 229, 240, 245, 248, 281, 287 Siegmund-Schultze, Maria (geb. von Maltzahn) 106 Simon, Théodore 73, 157, 159, 231 Sioli, Emil 238 Stelzner, Helenefriederike 44, 99 Stern, Clara 74 Stern, William 40, 65, 66, 74, 75, 76, 79, 231, 259, 261, 262, 281 Sternheim, Carl 83 Stier, Ewald 44, 94, 96, 99, 100, 101, 102, 104, 106, 110, 290 Stoller, Anna 70 Strohmayer, Wilhelm 40, 41, 279 Strümpell, Ludwig 30–34, 36, 41 T Thiele, Rudolf 111, 121, 124, 144, 156, 180, 181, 202, 206, 231, 245

316 Trüper, Johannes 34–43, 49, 73, 216, 220, 231, 240, 249 Tugendreich, Gustav 55, 67 Turner, Victor 13, 301 U Ufer, Christian

37

V Verschuer, Otmar von 64 Villinger, Werner 58, 59, 64, 65, 67, 107, 116, 236, 250, 253, 259, 263, 290, 302 Vowinckel, Edith (auch: Vowinkel, später verheiratete Weigert) 121, 122, 144, 150, 158, 161, 163, 170, 171

W Waetzold, Gustav Adolf 68 Weber, Helene 107 Wedekind, Frank 83 Weigert, Edith siehe: Vowinckel, Edith Welde, Erich 61 Wernicke, Carl 71, 72 Weygandt, Wilhelm 38, 238 Wichern, Johann Hinrich 214 Winter, Martin 113, 114, 132, 287 Wolff-Richter, Annemarie 21, 22 Z Zanker, Arthur 65 Ziehen, Theodor 35, 36, 40, 41, 43, 44–48, 79, 99, 100, 101, 158, 233, 279 Zimmer, Friedrich 37 Zimmermann 127, 163

Kramer, Franz – Personalbibliographie

(1902a): Muskeldystrophie und Trauma. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 14: 199–209. (1902b): Rückenmarksveränderungen bei Polyneuritis. Diss. med., Universität Breslau. (1906): Die kortikale Tastlähmung. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 18: 129–159. (1907): Elektrische Sensibilitätsuntersuchungen mittels Kondensatorenentladungen. Habil. med., Universität Breslau. (1908): Elektrische Sensibilitätsuntersuchungen mittels Kondensatorenentladungen. Zeitschrift für medizinische Elektrologie und Röntgenkunde. 10: (= Zwanglose Abhandlungen aus dem Gebiete der medizinischen Elektrologie und Röntgenkunde, 8). (1909): Die spinale Kinderlähmung, Fortbildungsvortrag. Medizinische Klinik. 52: 1–10. (1911): Intelligenzprüfungen an minderwertigen Kindern. Vortrag und Diskussion im Rahmen der 96. Sitzung des Vereins Ostdeutscher Irrenärzte in der Kgl. Psychiatrischen Klinik zu Breslau am 10. Dez. 1910. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin. 68.2: 271–274. (1912a): Wirbelsäulenverletzung und hysterische Lähmungen. Vortrag Medizinische Sektion der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur zu Breslau, 1.12.1911. Berliner Klinische Wochenschrift. 49: 138. (1912b): Psychologische Untersuchungs-Methoden bei kindlichen Defektzuständen. HabilitationsVortrag, Universität Berlin. (1913a): Intelligenzprüfungen an abnormen Kindern. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 33: 500–519. (1913b): Demonstration von zwei Knaben mit moralischen Defektzuständen. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch-gerichtliche Medizin. 70.4: 640–641. (1913c): Die funktionellen Neurosen in der Poliklinik. Charité-Annalen. 37: 116–133. (1915a): Lähmungen der Sohlenmuskulatur bei Schussverletzungen des Nervus tibialis. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 37: 11–17. (1915b): Schussverletzung des Stirnhirns, Berliner Gesellschaft für Psychiatrie, Dezember 1914. Zeitschrift für die gesamte Psychiatrie und Neurologie. 11: 286. (1916a): Schussverletzungen peripherer Nerven, (1. Mitteilung.) Nervus Musculotaneus. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 39: 1–19. (1916b): Schussverletzungen peripherer Nerven, (2. Mitteilung.) Nervus Musculotaneus. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 39: 193–198. (1916c): Segmentale Sensibilitätsstörungen bei corticalen Läsionen (Demonstration zweier Fälle), Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, Sitzung vom 8. Mai 1916. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 12: 547–549.

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Kramer, Franz – Personalbibliographie

(1917a): Sensibilitätsstörung im Gesicht bei corticaler Läsion. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Sitzung v. 13.XI.1916. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 13.5: 400. (1917b): Paradoxe Hitzeempfindung bei Verletzung des Großhirns durch Kopfschuss. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Sitzung vom 12.III.1917. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 14: 158–160. (1917c): Weiterer Verlauf der früher vorgestellten Fälle von verlangsamter Muskelkontraktion (Myxödem). (Vgl. Sitzung d. Gesellschaft vom 9.VII.17 u. 10.XII.17). Neurologisches Centralblatt. 36.18: 763–764. (1918a): Jugendgericht und Arzt. Deutsche Jugendgerichtsarbeit. 2: 117–120. (1918b): Über eine eigenartige Muskelerkrankung. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (Offizielles Protokoll). Sitzung von 10. Dezember 1917. Vorsitzender: Herr Bonhoeffer. Schriftführer: Herr Henneberg. Berliner Klinische Wochenschrift. 55.15: 360–361. (1918c): Myasthenische Reaktion bei postdiphtherischer Lähmung. Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (Offizielles Protokoll). Sitzung von 10. Dezember 1917. Vorsitzender: Herr Bonhoeffer. Schriftführer: Herr Henneberg. Berliner Klinische Wochenschrift. 55:15: 361. (1918d): Torsionsspasmusähnliches Bild beim Erwachsenen (Demonstration). Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (Offizielles Protokoll). Sitzung von 11. Februar 1918. Vorsitzender: Herr Moeli. Schriftführer: Herr Henneberg. Berliner Klinische Wochenschrift. 55.32: 772–773. (1918e): Weiterer Verlauf der früher vorgestellten Fälle von verlangsamter Muskelkontraktion (Demonstration). Verhandlungen ärztlicher Gesellschaften. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie u. Nervenkrankheiten (Offizielles Protokoll). Sitzung von 10. Juni 1918. Vorsitzender: Herr Moeli. Schriftführer: Herr Henneberg. Berliner Klinische Wochenschrift. 55.41: 989. (1919a): Psychiatrie im Jugendgerichtsverfahren. Deutsche Jugendgerichtsarbeit. 3.3: 64–71. (1919b): Schußverletzungen der peripheren Nerven. IV. Mitteilung. Nervus Medianus. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 46: 241–266. (1919c): Lähmungen der peripheren Nerven. In: Borchardt, Moritz (Hg.): Ersatzglieder und Arbeitshilfen für Kriegsbeschädigte und Unfallverletzte. Berlin, 845–855. (1920): Psychopathische Veranlagung und Straffälligkeit im Jugendalter. Vortrag, gehalten auf der Tagung über Psychopathenfürsorge am 19. Oktober 1918. ZfK. 25.1: 38–48. (1921a): Die wechselseitige Zusammenarbeit zwischen Psychiater und Jugendwohlfahrtspflege in Ermittlung und Heilerziehung. In: Deutscher Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e. V. (Hg.): Bericht über die zweite Tagung über Psychopathenfürsorge Köln a. Rh. 17. und 18. Mai 1921. Berlin, 1–12.

Kramer, Franz – Personalbibliographie

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(1921b): Die Behandlung der Trigenimusneuralgie mit Chlorylen (Trichloräthylen). Berliner Klinische Wochenschrift. 58.7: 149–150. (1921c): Demonstration aus dem Gebiete der Heredodegeneration. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten (Offizielles Protokoll). Sitzung von 14. März 1921. Vorsitzender: Herr Bonhoeffer. Schriftführer: Herr Henneberg. Berliner Klinische Wochenschrift 58.33: 976. (1921d): Schußverletzungen peripherer Nerven. 5. Mitteilung. Plexus brachialis. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 50.5: 279–301. (1922a): Periphere und zentrale Neurofibromatose. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Sitzung v. 12.12.1921. Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 28.4/5: 239. (1922b): Peripherische und zentrale Neurofibromatose. Demonstration. Berlin, Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 12.XII.1921. Deutsche Medizinische Wochenschrift. 48.9: 308. (1922c): Demonstration eines Falles von peripherer und zentraler Neurofibromatose. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Sitzung v. 12. Dezember 1921. Klinische Wochenschrift. 1.7: 343. (1922d): Schußverletzungen der peripheren Nerven. 6. Mitteilung. Nerven des Beines. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 51.3: 129–160. (1922e): Schußverletzungen der peripheren Nerven. 7. Mitteilung. Hirnnerven, Nerven des Kopfes und Rumpfes. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 51.6: 344–363. (1922f ): Symptomatologie peripherer Lähmungen auf Grund der Beobachtungen bei Kriegsverletzungen. Berlin. (1922g): Abduktionsreaktion der Pupille. (Vereins- und Kongressberichte) Berlin, Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten, 12.VI.1922. Deutsche Medizinische Wochenschrift. 48.39: 1327. (1922h): Kramer stellt einen 15 jähr. Knaben mit Abduktionsreaktion der Pupillen vor. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Sitzung v. 12. Juni 1922. Klinische Wochenschrift. 1.35: 1762–1763. (1922i): Ermüdungserscheinungen bei Entartungsreaktion. Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten. Sitzung v. 10. Juli 1922. Klinische Wochenschrift. 1.40: 2017. (1923a): Die Bedeutung von Milieu und Anlage beim schwererziehbaren Kind. ZfK. 28.1: 25–36. (1923b): Die Umkehr der Zukunftsformel bei der Entartungsreaktion. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 54: 291–304 (1923c): Zum § 3 des Jugendgerichtsgesetzes. ZfK. 28.2: 212–213. (1924): Eingliederung des Unterrichts über die Psychopathologie des Kindes- und Jugendalters in das akademische Studium. ZfK. 29.1: 12–13. (1925a): Allgemeine Diagnostik der Nervenkrankheiten. In: Curschmann, Hans/Kramer, Franz (Hg.): Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 2. Aufl., Berlin, 1–59.

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Kramer, Franz – Personalbibliographie

(1925b): Die Erkrankungen der peripheren Nerven. In: Curschmann, Hans/Kramer, Franz (Hg.): Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 2. Aufl., Berlin, 60–174. (1925c): Nachruf Hugo Liepmann. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie. 59: 225–232. (1926a): Übersicht über die Fürsorge für geistig und körperlich abnorme Kinder und Jugendliche in verschiedenen Ländern. ZfK. 31.1: 1–2. (1926b): Beziehungen der Geschlechtskrankheiten im Kindesalter zu psychischen Anomalien. In: Buschke, Abraham (Hg.): Geschlechtskrankheiten bei Kindern. Ein ärztlicher und sozialer Leitfaden für alle Zweige der Jugendpflege, unter Mitarbeit von Werner Fischer-Defoy, Franz Kramer und Erich Langer. Berlin, 46–52. (1927a): Buchbesprechung: Homburger, August: Vorlesungen über Psychopathologie des Kindesalters. Berlin Julius Springer 1926. ZfK. 33.1 (Referate): 23–24. (1927b): Haltlose Psychopathen. Bericht über die vierte Tagung über Psychopathenfürsorge, Düsseldorf, 24.–25. September 1926. Berlin: 35–93. (1928): Der Deutsche Verein zur Fürsorge für jugendliche Psychopathen e. V. In: Reichsausschuß für das ärztliche Fortbildungswesen (Hg.): Gesundheitswesen und soziale Fürsorge im Deutschen Reich. Eine Sammlung von Ausarbeitungen und Leitsätzen für die von der Hygiene-Organisation des Völkerbundes veranstaltete Internationale Studienreise für ausländische Medizinalbeamte in Deutschland 1927. Berlin, 349–355. (1930a): Die Ursachen der Schwersterziehbarkeit, beurteilt vom psychopathologischen und charakterologischen Standpunkt. ZfK. 37.2: 131–138. (1930b): Psychopathische Konstitutionen. In: Clostermann, Ludwig/Heller, Theodor/Stephani, Paul (Hg.): Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge. Leipzig, 557–587 (1931): Die Mitwirkung des Psychiaters im Vormundschafts- und Jugendgerichtsverfahren (=Schriftenreihe der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, 13). Berlin. (1932a): Psychiatrische Gutachten über kriminelle Jugendliche (Minderjährige) und jugendliche Zeugen III. Gutachten im F.-Prozess. Gutachten Prof. Dr. F. Kramer. ZfK 39.4: 331–346. (1932b): Beitrag zur Aussprache. Monatsschrift für Kinderheilkunde 53, 120. (1933): Psychopathische Konstitutionen und organische Hirnerkrankungen als Ursache von Erziehungsschwierigkeiten. ZfK. 41.3: 306–322. (1935): Nachruf: Ruth von der Leyen. ZfK. 44.5: 307–310. (1938): Über ein motorisches Krankheitsbild im Kindesalter. Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 99: 294–300.

Kramer, Franz/Axhausen, Georg (1917): Die Kriegsschussverletzungen des Hirnschädels. In: Borchard, August (Hg.): Lehrbuch der Kriegschirurgie. Leipzig, 359–452. Kramer, Franz/Henneberg, N. N. (1917): Über disseminierte Encephalitis. Berliner Gesellschaft für

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VOLKER HESS, HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH (HG.)

Am RAnde des WAhnsinns SCHWELLENRÄUME EINER URBANEN MODERNE (KULTUREN DES WAHNSINNS [1870–1930], BAND 1)

Was hat die sexuelle Libertinage der Berliner Bohèmienne mit dem Tropen­ koller der Kolonialbeamten zu tun? Was verbindet das Experimentieren mit dem Okkulten in den Berliner Salons des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit der Sorge um auffällige Jugendliche oder der Suche nach den ersten Symp­ tomen einer Seelenstörung? Solchen Fragen geht die neue Reihe „Am Rande des Wahnsinns“ nach. Sie betrachtet die „Kulturen des Wahnsinns“ als Schwellenphänomene einer urbanen Moderne und lotet radikale Anders­ artigkeit in ihren medialen Vernetzungen, institutionellen Verschränkun­ gen, Wissensräumen und performativen Darstellungsformen in der moder­ nen Großstadt aus. Die Fallbeispiele des ersten Bandes widmen sich den Institutionen der Psychiatrie, der sexuellen Topographie Berlins, neuen Theorien von Kreativität und weiblicher Bohème, aber auch Haarfetischis­ mus und „anspruchsvollen Wirrköpfen und halbtollen Frauenzimmern“ am Rande des Wahnsinns. 2012. 392 S. 38 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78794-5

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

GABRIELE DIETZE, DOROTHEA DORNHOF (HG.)

METROPOLENZAUBER SEXUELLE MODERNE UND URBANER WAHN (KULTUREN DES WAHNSINNS (1870–1930), BAND 2)

Was hat die sexuelle Libertinage der Berliner Bohèmienne mit dem Tropenkoller der Kolonialbeamten zu tun? Wie verhalten sich die diffi zilen Bemühungen vor Gericht, den irren Verbrecher vom verbrecherischen Irren zu unterscheiden, mit den experimentellen Erzählformen von Gottfried Benn, Alfred Döblin oder Ernst Weiss? Was verbindet das Experimentieren mit dem Okkulten in den Berliner Salons des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit der Sorge um auffällige Jugendliche oder der Suche nach den ersten Symptomen einer Seelenstörung? Was haben der Regelverstoß, die Anomalie und der Flirt mit dem Paranormalen, der expressionistische Aufschrei oder die neue sexuelle Ethik miteinander zu tun? Diesen Fragen geht die neue Reihe nach. Sie betrachtet die „Kulturen des Wahnsinns“ als Schwellenphänomene einer urbanen Moderne und sucht die Vieldeutigkeiten einer radikalen Alterität in ihren medialen Vernetzungen, institutionellen Verschränkungen, Wissensräumen und performativen Darstellungsformen der modernen Großstadt auszuloten. 2014. 390 S. 52 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78934-5

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