Deutschland und Oesterreich: Erweiterter Vortrag gehalten in öffentlicher Versammlung in Berlin [Reprint 2022 ed.] 9783112684122

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Deutschland und Oesterreich: Erweiterter Vortrag gehalten in öffentlicher Versammlung in Berlin [Reprint 2022 ed.]
 9783112684122

Table of contents :
1. Einleitung
2. Steht der Zerfall Oesterreichs bevor?
3. Verbindungsmöglichkeiten
4. Die Staatserhaltung in Oesterreich
5. Das internationale Problem
6. Deutsch-nationale Bewegung
7. Los von Rom
8. Schluß

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Deutschland und Oesterreich

Deutschland - * * und

«Oesterreich Erweiterter Vortrag von

Friedrich Naumann * flehalten in öffentlicher Verrammlung in Berlin Verlag der „Bilse“ SchönevergBerlin 1900

G

Preis so Pfennig

Berlin, Ende Dezember 1899.

1. Einleitung. Stärker als je zuvor regt sick> in Deutschland ein Interesse für Oesterreich. Keine nationale Partei kann sich der Teilnahme für den Kampf des Deutschtums an der Moldau und Donau entziehen, aber auch die internationale Sozialdemokratie hat allen Anlaß, der Ge­ staltung österreichischer Jnternationalität ihr volles Augenmerk zuzuwenden. Denn dort ist ja für sie ein Probefeld dafür, wieweit der Sozialismus die Gegensätze der Nationen und Sprachen überwinden kann. Protestantische Kreise wie der Evangelische Bund und der Gustav-Adolf-Verein sind durch die Los-von-Rom-Bewegnng in neue Thätigkeitsgebicte gerufen, katholische Stimmen in Deutschland warnen, Nationalfrage und Konfcssionsfrage zu vermischen. Der Zustand der Gleichgültigkeit, der von 1866 an im neuen Reich gegenüber dem älteren Donaustaate herrschte, ist vorbei. Wir fühlen die Pflicht, über Oesterreich etwas zu wissen. Bis jetzt war es so, daß die Deutschen in Oesterreich viel mehr von uns wußten, als wir Reichsdeutsche von ihnen. Ich habe mich mit Freuden vor kurzem in zwei großen Wiener Versammlungen und in vielen Privatbesprechungen überzeugen können, daß auch die Wiener Deutschen unserem Stammesleben nicht so entfremdet sind wie — wir es wohl durch unsere Lässigkeit verdient hätten. Wien aber ist, wie Jedermann weiß, nicht der Ort des aus­ geprägtesten deutschen Nationalismus. Wenn ich auf den folgenden Blättern Studien- und Reiscergebnisse über Oesterreich auszusprcchen suche, so geschieht das mit dem Bewußtsein der Unzulänglichkeit und Lückenhaftigkeit, zugleich aber in dem Pflichtgefühl, daß wir Reichs­ deutsche uns nicht fernerhin den österreichischen Brüdern fernhalten dürfen. Es ist auch unser Leben, um das dort mit gestritten wird, das Leben des Deutschtums, der mitteleuropäischen Staatengemeinschaft und der beiden Hanptkonfessionen unseres Sprach- und Denkgebretes. Veranlassung zu erneuter eingehenderer Beschäftigung mit Oester­ reich war für mich ein freundlicher Ruf der sozialwissenschaftlichen Vereinigung in Wien, Anfang Dezember 1899 dort zu sprechen Ich that dies nicht, um nationalsozialc Parteipropaganda dort zu treiben oder gar, wie der „Vorwärts" schreibt, um mich im Ausland für fehlende nationalsozialc Erfolge im Inland zn entschädigen. Der

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„Vorwärts" weiß selber am besten, daß die nationalsoziale Denkweise in Deutschland im Aufsteigen begriffen ist, und ich wußte zu allen Zeiten, daß in jenem Staate ein nationaler Sozialismus nur sehr geringe Aussichten haben kann. Der nationalsoziale Gedanke setzt zwei Sachen voraus, die in Oesterreich nicht oder noch nicht vor­ handen sind: Nationalstaat und gesteigerten Industrialismus. Ich bitte also das Folgende nicht wesentlich von dem Gesichtspunkt aus zu lesen, was man etwa Nationalsoziales aus Oesterreich berichten könne. Zwei andere Gesichtspunkte stehen im Vordergrund: Das internationale Problem in Oesterreich und das jetzige und zukünftige politische Verhältnis der zwei Groß­ staaten unter einander. Natürlich hängen beide Angelegenheiten in sich zusammen. Sowohl vom Standpunkt' des reichsdeutschen Be­ obachters ans wie von dem des deutsch-östeireichischen Staatsbürgers ist die Grundfrage: ob man an de» längeren Fortdeftaao der

österreichisch-ungarischen (Kesamtmonarchie glaubt oder nicht. Von dieser historischen Glaubensfrage aus bestimmt sich für unsere Stammesbrüder in Oesterreich und für uns im neuen Reich die zu wählende politische Haltung. Es ist in der That nötig, über diese schwere Zukunftsfrage sich selbst ein Ja oder Nein zu sagen. Wer Oesterreich für zerfallend hält, muß bereits für den Zustand arbeiten, der hinter dem Zerfall liegt. Das thut drüben deutscher und slavischer, wohl auch ungarischer nationaler Radikalismus. Das thun von unserer Seite der reich-deutsche Antisemitismus und der alldeutsche Verband. Diesen letzteren Gruppen würden wir uns in Bezug auf die österreichische Frage sofort anschließeu, wenn wir die Spekulation auf baldigen Konkurs des Habsburgerstaates für richtig halten könnten.

2. Steht der Zerfall Oesterreichs bevor? Der Zerfall Oesterreichs wird vielfach als eine Sache nächster Zukunft behandelt. Unter dem Titel „OesterreichsZusammenbruch und Wiederaufbau" finden sich deutsche Zukunftsspeku­ lationen in knapper Sprache mit Sachkenntnis vorgetragen (München, Lehmanns Verlag 1899, 40 Pfg.). Der Grundgedanke ist: Die 2 Millionen Deutschen in Ungarn können wir nicht zu Reichsbürgern machen. Galizien, Bukowina und Dalmatien können nicht deutsch werden, liefern aber Bestandteile für Rußland. Fiume, Kroatien, Slavonien müssen außer dem Reich bleiben, aber wegen der Häfen in gewisser Abhängigkeit. Deutsch soll werden der aus Böhmen, Mähren, Schlesien, Ober-, Niederösterreich und den Alpenländern bestehende Teil. Dieses Gebiet soll teils an Preußen, Sachsen, Baiern ange­ gliedert werden, teils als Bundesstaat Oesterreich mit Wien in das Reichsverhältnis eintreten. Von stärkeren fremden Völkern würden dabei nur die 5’/2 Million Czechen und Mähren in Betracht kommen.

5 Diese müßten im Reich vorläufig unter Fremdenrecht stehen u. s. w. Das Schlußwort des Verfassers lautet: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser, aber unsere Gegenwart zwischen der Adria und der Ostsee, zwischen der Memel und dem Aermelkaual."

Niemand kann in Abrede stellen, daß derartige Gedanken sich im deutschen Reiche wachsender Beliebtheit erfreuen, allerdings zunächst wohl am meisten dort, wo eine bestimmte politische Verantwortlichkeit nicht vorliegt. Viele von denen, die derartiges wünschen, machen sich auch nicht klar, was diese Vorschläge, ganz abgesehen von der Mög­ lichkeit ihres Erfolges, für die deutsche innere Politik bedeuten. Schon der Satz vom Fremdenrecht hat weitgehende Konsequenzen auf Polen, Dänen und, wenn antisemitische Strömungen aufkommen sollten, auch für deutsche Israeliten. Wichtiger aber ist, daß mit dem österreichischen Zuwachs Deutschland in katholisch-klerikale Hände zu geraten droht, wenigstens eine Zentrumsverstärkung für ganze Menschenalter eintritt. Das sind keine Schwierigkeiten, über die man sich leichten Sprunges hinwegsetzen darf. Trotz alledem bleibt beim wirklichen Zerfälle Oesterreichs kaum etwas anderes übrig, als derartige Angliederungs­ pläne zu erwägen. Die Vorfrage also bleibt, ob die österreichisch­ ungarische Monarchie wirklich in absehbarer Zeit unhaltbar wird. Schon das ist natürlich ein sehr schlechtes Gesundheitszeugnis für einen Staat, wenn seine Aussichten auf Fortbestand überhaupt erörtert werden. Die auf einheitlicher Nationalität beruhenden Groß­ staaten sind von der Sorge um ihr Bestehen an sich völlig frei. Sie können Niederlagen erleiden und Dynastieen verlieren wie Frankreich 1870, aber sie bleiben Staat. So sehr ist der Nationalitätsgedanke zum eigentlichen Inhalt des Staatsgedankens geworden, daß sich Mitglieder eines Staates wie Oesterreich gegenseitig verwundert be­ trachten als wollten sie sprechen: warum in aller Welt sind wir gerade nur eigentlich auf einander angewiesen? Ein nicht nationaler Staat hat keine innere Motivierung mehr. Die mit glücklichen Heiraten gezierte habsburgische Familiengeschichte reicht als Staatsgrundgedanke wahrhaftig nicht aus, die alte Idee vom römischen Kaiser deutscher Nation ist erloschen, der Christenkampf gegen die Türken wirkt nicht mehr als Einheitsaufgabe, ein seiner Geographie nach absolut zu­ sammengehöriges untrennbares Ländergebiet liegt nicht vor. Weshalb besteht Oesterreich? Weil es da ist! Dieser Grund ist wenig begeisternd aber dennoch sehr durchschlagend. Er ist da und kann nicht beseitigt werden, ohne daß ein Dröhnen und Stürzen durch das ganze europäische Staatengebäude geht. Was von der Schweiz lächelnd gesagt wird: Helvetia conservatur Dei providentia et hominum confusione (sie wird erhalten dnrch Gottes Vorsehung und durch der Menschen Uneinigkeit), das gilt in einem fast tragischen Sinne von dem alten letzten großen Rest des weströmischen Zäsarentums. Ein Weltreich will sich schlafen legen. Seid still und schaut zu! Etwas

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derartiges geht langsam. Langsam zieht sich der Türke nach Asien zurück, und langsam rostet das Schwert von Prinz Eugen. Rückwärts geht es schon lange. Die Verwirrung Oesterreichs im Jahre 1848 mar bereits lehrreich genug. Anfangs der fünfziger Jahre sagte Kaiser Nikolaus von Rußland über Oesterreich: Wir haben einen Kranken in der Familie! Im Jahre 1866 zeigten sich tiefe Mängel in Leitung des Heeres und Staates, und als 1866 vorüberging, da spülte es einen politischen Künstler an Oesterreichs Rand, der dekorieren aber nicht konstruieren konnte, das schattenhafte Gegenstück zu Bismarck, den früheren sächsischen Staatsminister von Beust. Dieser talentvolle Virtuos der Kleinstaaterei trug den ihm so vertrauten Kleinstaaten-Gedanken aus dem neuen Deutschland ins alte Reich. Während Neudeutschland sich zentralisierte, fing Oesterreich an, sich zu dezentralisieren: Es kam jetzt erst eigentlich zum Partikularismus im politischen Leben des Donaureiches. Dualismus, Förderalismus, Pluralismus sind nur gesteigerte Aus­ drücke für den fortschreitenden Prozeß der Kleinstaaterei. Wenn Oesterreich-Ungarn allein auf der Welt lebte, würde es kein Staat mehr sein. Der Halt liegt im Druck von außen. Ein altes Gebäude steht 100 Jahre länger zwischen zwei neueren Bauten, als wenn es allein sich selber stützen müßte. Niemals fast aber war die außerpolitische Lage Oesterreichs so sicher wie jetzt. Deutschland und Rußland wollen sich ihre traditionelle „Freundschaft" erhalten, da sie beide Auf­ gaben haben, bei denen sie gern freien Rücken besitzen. Das Deutsch­ land Kaiser Wilhelm II. sucht seine Zukunft über den Wassern und das Rußland Nikolaus II. sucht es über Sibirien. Beide Teile wissen, daß in der Weltgeschichte noch ein todesblutiger Streit zwischen Germanentum und Slaventum ausgefochten werden wird, und nur deshalb halten sie beide ihre schweren Landheere, aber für jetzt kann wirklich gesungen werden: Europa hat Ruhe! Das aber heißt: Oesterreich hat Ruhe! Sollen wir es anders wünschen? Kann uns daran liegen, die Auseinandersetzung zwischen Deutschtum und Slaventum zu be­ schleunigen? Ein Königgrätz für Rußland würde uns zu Herren des österreichischen Ländergebiets machen. Ganz abgesehen davon, wie verlockend diese Gesamterbschaft sei, so ist es eine verteufelt unsichere Sache, wer Sieger sein würde. Erst möchten wir Arm in Arm mit den Franzosen irgend etwas Geschichtliches erlebt haben, ehe wir nach Moskau zu gehen versuchen. Der Löwe Napoleon war auch dort, wie aber kam er zurück! Es wäre vom reichsdeutschen Stand­ punkt aus unverantwortlich, um des österreichischen Erbanfalles willen den mörderischsten Massen krieg zu riskieren, den die Geschichte kennen wird. So aber liegt die Sache, daß ohne den deutsch-slavischen Weltkrieg Oesterreich da sein wird. Ohne Waffengang läßt sich ein Großstaat nicht aus

7 der Liste der Geschichte streichen. Und wer hat Lust, ein neues, schwereres Polen zu schaffen? Die Deutsch-Nationalen in Oesterreich fangen begreiflicherweise nicht in der europäischen Gesamtpolitik an, wenn sie vom Anschluß an Deutschland reden. Sie sehen ihre Sprachennot, Volksnot, das Elend ihres jetzigen Staates, man hört von ihnen das sich immer wiederholende Wort: „so kann es nicht fortgehen". Wer von uns sollte nicht mit Herz und Blut bei diesen Stammesbrüdern sein -wollen? Aber das,was in diesemKampfe auf demSpiel steht, ist größer als die österreichische Not an sich. Es ist die auch für unsere österreichischen Brüder unent­ behrliche Machtstellung des Deutschtums überhaupt. Viel Material zur Beurteilung der deutschen Not in Oesterreich bringen die Schriften des Alldeutschen Verbandes. Wenn dieser Ver­ band als solcher eine unzweifelhaft freiheitlich gesinnte Erklärung zum jetzt geltenden allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechte (Herr Professor paffe, es kommt auf jedes dieser vier Eigenschafts­ worte an!) abgeben wollte, so würde er es frei und deutsch gesinnten Männern leichter machen, seine sonstigen Verdienste anzuerkennen. So wie die Tinge liegen, vergißt man nicht leicht, daß auf der Rück­ seite bester nationaler Schriften ein so bedauerliches Schreibwerk wie „Ein neuer Reichstag, Deutschlands Rettung von I. Unold" noch immer verzeichnet steht. Nationalsinn treiben wollen und auf nationalen Grundrechten nicht feststehen, ist ein Unsinn! Solche Flecken im volks­ tümlich deutschen Charakter färben leicht auch auf Leistungen ab, die sonst nur gut sind. Als solche bezeichnen wir die verschiedenen Hefte mit der Gesamtüberschrift „Der Kampf um das Deutschtum", die sich auf Oesterreich-Ungarn beziehen. Wer eine ergreifende, zahlenmäßige Darstellung des Umschwungs zu Ungunsten der Deutschen lesen will, nehme beispielsweise das Heft über Steiermark, Kärnten, Krain und Küstenland von Dr. Hoffmann von Wellenh o f. (München bei Lehmann 1.40 Mk.) Hier wird er ohne Agitations­ reden die Stimmung ahnen, die im treuen, langsam sich aufraffenden Deutschtum um sich greift. Aus solcher Stimmung singt Karl Pröll seine Lieder: Wir «'tchen auf dem Posten, Wir stehe» Tag und Nacht. Die Flinte darf nicht rosten. Hab' Acht Du deutsche Wacht! Der Slave schleicht im Dunkeln Und liegt im Hinterhalt. Den Lauf wir sehen funkeln. Vorwärts mit Sturmgewalt!

Es ist unsere Pflicht, diese Stimmung zu kennen und zu verstehen. Aber ob wir deshalb unsererseits vom Reich aus die europäische Gesamtkatastrophe suchen dürfen, ist eine andere Frage. Wir haben sie verneint. Um des Gesamtdeutschlands willen, das wir alle von

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der fernen Zukunft hoffen, muß jetzt das deutsche Reich, soweit es in seiner Macht steht, Friede halten. Kommt der Krieg ohne unseren Willen, nun dann muß gefochten werden auf Tod und Leben, — auf Tod und Leben der Gesamtnation. Es kann ja Lagen geben, in denen die Ruhe Europas ohne Deutschlands Willen gebrochen wird. Selbst durch den österreichischen Zersetzungsprozeß kann der Zwang zum Krieg eintreten. Wenn etwa Ungarn den Draht nach Wien zerschneiden und neue Drähte anlegen würde, so könnten leicht Fälle eintreten,'die an die hohenzollern'sche Kandidatur für Spanien im Jahre 1870 erinnern. Wir werden aber voraussichtlich damit rechnen dürfen, daß unsere Diplomatie jedes ihr erlaubte Mittel anwenden wird, um die Nächstbeteiligten vor weittragenden Unvorsichtig­ keiten zu bewahren. Man studiert in der Deutschen Botschaft in Wien nicht vergeblich die Vorgänge des Donaureiches. Unsere Stellung zu Oesterreich muß dieselbe sein wie zur Türkei: Staats­ erhaltung! Indem wir Oesterreich erhalten, verteidigen wir uns.

3, Verbiudungsmöglichkeiten. Läßt man also jeden Anektierungsgedanken irgend welcher Art aus dem Spiel, so entsteht die Frage, was Deutschland und Oester­ reich an gemeinschaftlichen politischen und wirt chaftlichen Interessen haben. Auch hier beginnen wir die Untersuchung vom Standpunkt des deutschen Reiches. Es ist eine Thatsache, daß Deutschland ohne Oesterreich sich großen politischen Gefahren gegenüber sieht. Da wir an die selbstlose Liebe keines Nachbarvolkes glauben, so müssen wir die Wiederholung der Geschichtslage, in der Friedrich II. von Preußen war, als er mit Oesterreich, Rußland und Frankreich zugleich zu thun hatte, für möglich halten, zugleich aber durch unsere Politik unmöglich machen. Das hat der Dreibund bisher geleistet. Seine Exinenz ist eine wirkliche Friedens- und Lebensgarantie für das neue deutsche Reich gewesen. Im Dreibund, solange er ehrlich gehalten wird, ist die Zeit gewonnen, die wir brauchen, uns mit Frankreich auszusöhnen. Keine Englandsfreundschaft kann uns davon entbinden, auf dem Kon­ tinent wenigstens einen Großstaat auf unserer Seite haben zu müssen. Soviel sagt die einfache Logik der Landkarte und der Militärziffern Jedem, auch dem, der den Diplomaten sernsteht. Bismarcks „Gedanken und Erinnerungen" sind voll von Belegen für diese Auffassung. Ein Nationalismus, der diese eherne Notwendigkeit des Anschlusses nach Ost, Süd oder West leugnen würde, müßte als nationalgefährlich angesehen werden. Nun ist aber der Dreibund jetzt keineswegs sehr warm. Er wird nur „bei feierlichen Gelegenheiten aus dem Glasschrank gezogen". Von einer Stimmung, wie sie zwischen Frankreich und Rußland zeitweise

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laut wurde, war hier nie die Rede. Es sind eben Sieger und Besiegter, die im Dreibund Zusammengehen. Es sind nicht zwei National­ empfindungen, die sich grüßen. Es fehlt selbst bei den Monarchen, so viel man sehen kann, eine über das notwendige Maß hinausgehende Intimität. Eine der vorhin genannten Schriften sagt kurz, aber viel­ leicht nicht falsch: Die Habsburger können den Hohenzollern ihr „Her­ aufkommen^ niemals verzeihen! Der Dreibund ist da, weil er sein muß. Das ist alles, aber das ist zu wenig. Auf diese Weise dient der Dreibund beiden Teilen nur unvollkommen, ein Kompagniegeschäft, bei dem jeder Chef seine private Nebenkorrespondenz hat. Auch Oesterreich braucht den Dreibund, denn sollte jemals das neue deutsche Reich ein chan erleben, so würde damit Oesterreich feinen geschichtlichen Halt mehr haben. Die Russen haben schon vor Jahrzehnten gesagt, daß der Weg nach Konstantinopel über Wien geht. Es zeigt sich, daß auch nach 1866 der Gedanke des alten deutschen Bundes nicht ganz aus der Welt vertrieben ist. Die Führung ist von Wien nach Berlin gewandert, der Dualismus ist geblieben. , Es fehlt aber die zureichende moderne Form für die zeitgemäne uud haltbare Erneuerung des alten Verhältnisses. Bor kurzem hat ein hessischer Rechtsparteiler, Kabinettsrat Schimmelpfennig, unter dem Titel „Friede und Recht" einen Vortrag brntfen lassen, der den Gedanken der neuen Union der alten Gegner weiter ausspinnt, und in handelspolitischer Beziehung sprach Professor v. Philippowich in meiner ersten Vortragsversammlung in Wien sehr bedeutsam über den wirtschaftlichen Zusammenschluß. Auch sonst ist ja in der Litteratur des alldeutschen Verbanbes und anderswo der Gedanke des mitteleuropäischen Zollvereins anfgestiegen. Bon dieser Seite her scheint das Problem angegriffen werden zu sollen. Ob der an Lagarde erinnernde Vorschlag Schimmelpfennigs, Prag zum Sitz bes Zollbundes zu wählen, besonders sympathisch ans deutsche Teilnehmer wirken würde, saun dahingestellt bleiben. Platz zur Tagung hat das Schloß auf dem Hradschin. Aus Professor v. Philippowichs wichtiger Ansprache seien auf Grund der Berichterstattung der „Neuen Freien Presse" vom 5 Dezbr. 1899 einige Sätze hier herausgehoben. Er sagte mit Wendung zu den zahlreich anwesenden Sozialdemokraten: Weun^ ich die handelspolitische Situation im Augenblicke richtig erfasse, so enthält sie eine Gefahr die man sich noch nicht recht deutlich gemacht hat, die Gefahr nämlich, dasi sowohl unsere Industriellen wie nufere Landwirte, die letzteren gedrängt durch Ungarn, dauach strebeu, eine autonome Zollpolitik Oesterreichs 311 inaugurieren, Oesterreich abzuschliesten vou dem Auslande; das ist meiner festen Ueberzeugung nach etwas, was wir einfach nicht aus halten sönnen Denken Sie sich höhere Get eidezölle, Viehsperre gegen die Balkanländer, höhere iiidustrielle Zölle, damit Vertheuerung des Lebens­ unterhaltes hi Oesterreich — das soll diese arme Bevölkerung »n diesem Lande, das au Steuern mchrzu tragen hat als irgend ein anderer Staat, noch tragen! Wenn Sie nicht imstande sind, auf unsere Industriellen und

10 Landwirte einen Truck auszuüben, daß sie sich speziell an Deutschland anschließen und mit Deutschland ein enaeres Handels- und Zollbündnis eintreten, wird eine günstige industrielle Entwicklung schwer möglich sein. Deutschland ist der M arkt, der für unsere Produkte gegeben ist, und unsere Industrie bat vielfach die Konkurrenz Deutsch­ lands ausznhalten. Wenn unsere Industrie ein so großes Absatzgebiet hat, wie das des deutschen Reiches ist, dann können hier spezielle Jndustrieen sich entwickeln, die nicht existieren können, wenn sie allein auf österreichischen Markt angewiesen sind. Glauben Sie nicht, daß es von großer Bedeutung für Oesterreich wäre, wenn es uns gelingen könnte, mit Deutschland in eine Zoll-Union einzutreten? Wie viel Ge­ schäftsverbindungen, wie viel persönlicher Austausch von Meinungen über Wirtschafts- und Handelspolitik müßten dcuul eintreten? Diese Ent­ wickelung würde einfach das fortsetzen, was im ^ahre 1866 durch den Gewaltstrcich von Seite Preußens unterbunden worden ist. Diese Be­ ziehungen haben bestanden, sie bestehen auch heute noch. Wir sehen, wie fortwährend Kräfte im Spiele sind, welche sich bemühen, diese Be­ ziehungen zu unterbinden. Damit werden die deutschen Interessen ge­ schädigt und die Grundlagen des Staatswesens. Oft kommt es mir vor, als ob wir uns in der Lage jenes Gefangenen befänden, der da­ mals zur Raubrilterzeit gemacht und in ein Gefängnis gesperrt wurde, das sieben Fenster hatte. Rach der ersten Nacht bemerkte er, daß ein Fenster weniger sei, so nach jeder Nacht. So sah dieser Eingesperrte mit kluger Berechnnug voraus, wann der Tag gekommen jein würde, wo ihm Luft und Licht benommen sein würde. Die Deutschen in Oesterreich und diejenigen, welche an der kulturellen Entwicklung in Oesterreich ein Interesse haben, sollen sich das wohl überlegen, ob es nicht ein großes Interesse ist, nicht im Siege des nationalen Chauvinismus, sondern im Interesse unserer gesamten Kulturcntwicklung, daß unsere Fenster nach Deutschland geöffnet bleiben, daß uns nicht eins nach dem andern geschlossen werde. Die Fenster, dte nach Polen und Ungarn hinansgehen, sind Fenster, die nach dem Hofe führen. Ins Licht aber führt das Fenster nach Deutschland.

Es ist nun freilich nicht so einfach, sich dell Zollverein auch nur in seinen alleräußerlichsten Grundgedanken auszudenken. Sehen wir uns das Zahlenmaterial in seinem "gröbsten Bestände an! OesterreichUngarn ist ganz auf Deutschland angewiesen, so weit es Außenhandel treibt. Es führte im Jahre 1898 im ganzen einen Wert von 808 Millionen Gulden aus, davon über die Hälfte, llämlich 420,4 Millionen Gulden, nach Deutschland! Es führte dagegen ein für 820 Millionen Gulden, davon mehr als ein Dritteil, nämlich 282,4 Millionen Gulden, aus Deutschland. Dieser Verkehr mit Oesterreich - Ungarn bedeutet nun aber für den Außenhandel Deutschlands relativ weniger, nämlich etwa 12,5% des deutschen Gesamt-Außenhandels, genug, uns stark zu interessieren, aber nicht Lebensfrage von demselben Gewicht wie für Oesterreich-Ungarn. Daraus folgt, daß Deutschland, wenn es anti-österreichische Zollpolitik machen will, die Geschäftslage seines Nachbarstaates überaus erschweren kann. Es thut dies auch ohne Zollpolitik so wie so, indem es den Transitverkehr durch Oesterreich oder, den Wasserweg benutzend, eine reichsdeutsche Ausfuhr nach Rumänien, Türkei, Bulgarien oder Serbien fördert. Wohin soll Oesterreich liefern, wenn ihm die Balkanländer noch mehr entzogen

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werden? Seine Beziehungen zu Großbritannien, Italien und Rußland sind nicht stark genug, die im Südosten Europas möglichen Ausfälle zu decken. Man hat die Orientreise Kaiser Wilhelms II. nicht besonders gern gesehen. Man nennt sie dort eine Geschäftsreise. Es ist nicht zu leugnen, daß in der reichsdeutschen Expansions­ politik neben dem vorherrschenden Zug übers Meer ein wachsender Zug nach dem Hinterlaude im östlichen Europa ist. Die von dem weitblickenden Volkswirtschaftler List in vergangener Zeit schon gepredigte Richtung nach der Türkei und Kleinasien stellt sich ein. Wird Oesterreich an diesem Zuge teilnehmcn oder von ihm wirtschaftlich erdrückt werden? Vor längeren Jahren konnte eine Verbindung leichter erscheinen als heute, da man Oesterreich-Ungarn als Getreideland für Deutsch­ land empfehlen konnte. Abgesehen von Gerste kann das nicht mehr gelten. Das Donaureich versandte im Jahre 1898 bei allerdings mangelhafter Ernte nur für 65 Millionen Gulden Getreide, von denen 49 Millionen nach Deutschland gingen. Ein Zusammenschluß der beiden Zollgebiete würde also gerade auf deni umstrittensten Gebiet der Handelspolitik für Deutschland keine Lösung der Schwierigkeiten bringen. Im Gegenteil! Ein Zollverein, der Oesterreich-Ungarn an Deutschland angliedern würde, müßte eine längere Hochschutzzollpolitik in Getreide hervorrufen, als sie Deutschland für sich allein haben wird, da die Zahl der an Getreidezöllen interessierten Elemente sich im Augenblick der Vereinigung durch Zutritt österreichischer Agrarier sehr vermehrt. Von diesem Gesichtspunkt aus werden Sozialismus unv Liberalismus in Deutschland dem Gedanken mit recht geteilten Em­ pfindungen entgegenkommen. Was sie aber trotz verschlechterter Aus­ sichten auf billiges Getreide mir dem Plan der Zollverbrüderung ver­ traut machen könnte, gerade das macht die österreichische Industrie und Arbeiterschaft scheu, nämlich die Gefahr, daß bei aufgehobener Zoll­ grenze die ältere, kapitalkräftigere deutsche Industrie die österreichische Industrie überwältigen würde. Jedenfalls würde eine sofortige, bedingungslose Aufhebung des Zollschutzes in Deutschland viel weniger Betriebe gefährden, als in Oesterreich. Uebergangsformen, Zwischen­ zölle müßten sehr sorgfältig ansgearbeitet werden. Im Grunde aber hat trotz aller Schwierigkeiten der von Professor V. Philippowich von neuem vertretene Zoll Verbandsgedanke für Oester­ reich etwas Notwendiges und für uns etwas politisch Richtiges. W i r müßten in Zollangelcgenheiten dem Nachbarreiche weit­ gehend entgegenkommen, müßten geradezu mitBewußtfc in sein wirtschaftliches Wohlergehen pflegen, damit wir die Staatserhaltung Oesterreichs und die Erhal­ tung des Deutschtums in Oesterreich anders unterstützen können als nur mit Vereinsreden und Weltkriegspro­ grammen. Ein Zollverband mit Oesterreich-Ungarn müßte von uns mit derjenigen Selbstlosigkeit proponiert werden, die im Stande ist, wirkliches Vertrauen zu wecken. Wenn Oesterreich-Ungarn im Zoll-

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verbände den Umschwung und Aufschwung erleben könnte, den wir im Reich durchgemacht haben, so würde das Zusammengehen mit Deutsch­ land nicht nur als ein Politisches notwendiges Uebel angesehen werden. Es würde außer dem militärischen Verteidigungs-Interesse ein zweites populäres, gemeinsames Interesse gefunden sein. Wenn Bismarck einmal gesagt hat, daß Staatspolitik und Handelspolitik zwei ganz getrennte Gebiete seien, so wußte er damals, als er dies sagte, warum er die Sache so formulierte. Unter anderen Verhältnissen würde auch er sagen können: Unsere Handelspolitik muß im Dienste nationaler Gesamtpolitik stehen! Wie ein Zollverband, der im Getreidebcdarf nicht selbstgenügend ist, der in Industrie-Export weiter arbeiten muß, im einzelnen aus­ sehen würde, müßten uns die Fachleute dieses Gebietes sagen. Viel­ leicht ist es keine vergebliche Bitte an Herrn Professor v. Philippvwich, er möge noch rechtzeitig vor dem Ablauf der jetzigen Handelsverträge beiden Zollgebieten den Dienst thun, ihre anzustrebeude Harmonie ihnen litterarisch darzustellen. Man ist jetzt in Deutschland geneigt, ans österreichische Stimmen zu hören, und es handelt sich um etwas, das für beide Staaten von geschichtlicher Bedeutung werden kann.

4. Die Staatserhaltung in Oesterreich. Ueber „Staatserhaltnng" in Oesterreich müßte entweder ein politischer Humorist großen Stiles schreiben, oder ein österreichischer Sittenprophet, wie es Carlyle für England war. In mittlerer, nüchterner Tonart zu berichten, was eigentlich dort Staytserhaltung ist, ist sehr schwer an sich, kaum aber möglich für den Nichtöstcrrcicher, der nicht jede Windung und Wandlung von Feudalismus, Klerikalismns, Slavismus und von ganz gewöhnlichen taktischen Kniffen, Pftffen, und Unfähigkeiten mit durchlebt hat. Ich versuche es nicht, den Herren Badeni, Thun und Claiy mit und ohne § 14 in ihrem Thun und Lassen nachzugehen. Das hätte für den rcichsdeutschcn Leser wenig Zweck und der Oesterreicher kennt cs von selber. Was hier versucht werden soll, ist eine kurze Darstellung des österreichischen Staatserhaltungspriuzips im ganzen. Was ist es für ein Staat, mit dem wir uns verbinden müssen? Die Not der Gesamtmonarchie Ocsierreich-Ungarns ist eine doppelte, erstens das Verhältnis von Ungarn zu „den im Reichsrat vertretenen Königreichen nud Ländern" und zweitens das Verhältnis dieser letzteren untereinander. Die nngarischen Angelegenheiten sind aber nach unserem Dafürhalten mir solange wirklich staatsgesährdend, als in Wien kein fester Staat besteht. Dort liegt der Kernpunkt. Außerdem sind wir Reichsdeutsche weniger veranlaßt, ungarische Politik zu studieren als österreichische, weil bis jetzt keine Notschreie der Deutschen in Ungarn an uns kommen, die so grell und dringlich wären, wie die aus den österreichischen Ländern. Was unser Kaiser vor einigen Jahren in

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Budapest geredet hat, ist dort nicht vergessen. Dort giebt es einen Nationalstaat und einen einheitlichen politischen Instinkt, zwei starke Faktoren für klare politische Verhältnisse. Der Reichsdeutsche denkt nicht daran, Ungarn deutsch machen zu wollen, er rechnet aber für etwaige kommende Verhältnisse auf frühere Beziehungen, die Preußen und Ungarn in schweren Zeitläuften hatten. Gefährlich für die Gefamtlage ist nur, wie wir schon sagten, ein Bruch der zwei Donau­ staaten unter sich, ein Bruch, der nur dann kommt, wenn Schwäche und Ratlosigkeit in Wien bergehoch steigen. Es ist in der That ein Schachspiel wunderbarster Art, das jetzt in Wien gespielt wird. Für den historisch-politisch interessierten Be­ obachter giebt es kaum etwas Spannenderes, als diese verwickelten Ver­ hältnisse.' Ganz einfach ist die Sache nicht, und vieles entgeht dem Auge und Ohr des Frenidlings. Mehr noch als bei uns ist hier Politik ein Schieben und Geschobenwerden von Persönlichkeiten. Schon wir haben Ueberfluß an Parteien. Was aber findet sich dort? Eine Fruchtbarkeit parlamentarischer Gruppierung, die jeden Wechsel zu­ fälliger Majoritäten von Tag zu Tag ermöglicht, die aber auch das schlimmste parlamentarische Vorkommnis zur häufigen Erscheinung macht: die absolute Mehrheitslosigkeit! Der Parteikatalog ist folgender : Klub der czechischen Abgeordneten ... 60 Polenklnb.........................................................57

Deutsche Volkspartei............................... 42 Slavisch christlich-nationaler Verband

.

. 35

Deutsche Fortschrittspartei.......................... 34 Katholische Volkspartei................................... 31 Vereinigung der Großgrundbesitzer ... 30 Christlich-soziale Vereinigung........................ 27 Böhmisch-konservative Großgrundbesitzer . 19 Italienischer Klub.............................................. 19

Socialdemokratie..................................... 15 Freie deutsche Vereinigung...................... 12 Schönerergrnppe............................................ 7 Polnisch-christliche Volkspartei..... 7 Zentrum................................................................. 6 Rumänenklub...................................................... 5 Polnische Volkspartei..................................... 5 Parteilos......................................................... 15

425 Das ist der Krieg aller gegen alle! Hierbei kann ein par­ lamentarisches Verantwortlichkeitsgefühl nicht auf­ kommen. Das, was der Mangel jedes jüngeren Parlamentarismus ist, das, woran auch unsere Linke krankt, ist hier zum unerträglichen, spotterregenden Mißstand geworden. Es konnte nichts anderes ent­ stehen, wenn man zu der Vielartigkeit der Nationen die Schönheiten

14 eines Wahlsystems fügte, dem gegenüber das preußische Dreiklassen­ wahlrecht zwar nicht an sich besser, aber wenigstens klar und durch­ sichtig ist. Es ist eine Mischung von altem Ständehans mit bürger­ licher Repräsentanz und mit demokratischem Zusatz. Das Abgeordneten­ haus besteht nämlich aus: 85 Vertretern des Großgrundbesitzes, 118 Vertretern der Städte, Märkte und Jndustrieorte, 21 Vertretern der Handels- und Gewerbekammern, 129 Vertretern der Landgemeinden, 72 Vertretern des allgemeinen Wahlrechts. 425. Wenn also keine Nationalfragen vorhanden wären, würde man ein reines Standes- und Jnteressenparlamcnt vor sich sehen, in dem die Landwirtschaft von vorn herein 214 Plätze haben und ohne allen Ertrag vom allgemeinen Wahlrecht an sich majoritätsbildend sein würde. Für industrielle, oder gar für sozialistische Entwickelung würde dieses Abgeordnetenhaus vou vornherein äußerst ungünstig sein, denn ohne Großgrundbesitzer oder Landgemeinden läßt sich kein einziger Schritt thun. Man denke sich unsere Gewerbe-Ordnung in den Händen des Preußischen Landtags oder dieser Versammlung! Es ist alles möglich, daß Oesterreich mit diesem Hause so viel wirt­ schaftliche und soziale Politik gemacht hat, als bis heute vorliegt. Sobald die Agrarier auch dort „notleidend" werden, das heißt, sobald Getreide importiert wird, muß sich erst der ganze Klassencharakter ent­ hüllen, den die Vertretung an sich hat, ein antiindustrielles, anti­ soziales Agrariertnm. Zu dieser Entwicklung ist es nun aber bis jetzt nur in begrenzter Weise gekommen, weil die wirtschaftspolitischen Fragen für die Gruppierung nicht ausschlaggebend sind. Das Aus­ schlaggebende sind die Nationalrrätsstreite. Auch sie sind selbstverständlich von wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht frei. Jeder Staunn will materielle Vorteile für sich und seinen Landesteil. Aber daß sie vorhanden sind, ist doch nicht rein wirtschaftlich zu er­ klären. Es kämpft die Rasse, das Blut, die Sprache — ganz wie im Orient.

Von den Alpen bis zu den kurdischen Bergen, in denen jetzt noch immer Armenier sterben, erstreckt sich ein Gebiet von Nationalitäten­ hader, das einer einheitlichen Volksgestaltung von vorn herein sich entzieht. Wie dieses Gebiet aus dem Zerfall des Nvmerreiches sich erklärt, habe ich an anderer Stelle (in der „Asia") dargestellt. Auf diesem Gesammtgebiet giebt es nur zwei wirkliche Möglichkeiten: Staats­ gründungen durch Herrcnvölkcr, oder Kleinstaaterei mit Abhängigkeit von außen. Die zwei Herrenvölker, die nach dem Bruch von Ostrom sich um dieses Gelnet stritten, waren die Osmancn und die Deutschen. Das alte Oesterreich war geradesogut ein Eroberungsstaat, wie die Türkei. Nur trug cs seinen Erobecungscharaktcr nicht deutsch und

15 deutlich genug an der Stirn. Wenn es wie die Türkei gewesen wäre, so würde es für die Germanisierung noch mehr haben thun können, als es siegte. Es begnügte sich mit Katholisierung und mit Kronen­ vereinigung auf den Köpfen der Habsburger. Damit verlor es bereits seit Jahrhunderten den germanischen Vormachts­ beruf. Wer hätte auch früher denken sollen, daß später einmal auf Nationalisierung soviel ankommen würde? Es genügte damals: ge­ horchen, zahlen, sterben für den Kaiser! Mit einem Wort: ein deutsches Herrenvolk, das von Prag bis Belgrad herrschen könnte, gibt es im heutigen Donaureiche nicht. Die Deutschen in Oesterreich sind auch ein Teilvolk geworden wie die anderen. Sie haben in gewissem Sinn mehr verloren, als die Osmanen in der Türkei, da diese wenigstens im Restbestande ihres alten Reiches Herren sind, freilich Herren auf gebrechlichen Stühlen. Nie­ mand kann heute die österreichisch-ungarische Monarchie oder auch nur die im Reichsrat vertretenen Länder zum deutschen Besitzstand im Sinne deutscher Herrschaftsrechte rechnen. Die Zeit, wo das leicht hätte geschehen können,: ist vorbei. Die Möglichkeit hat das Deutsch­ tum gehabt, als die Teilvölker noch unentwickelt waren, wie etwa die Wenden und Slaven Ostdeutschlands vor 900 Jahren. Jetzt muß man das Nichtgewonnene traurig aber ruhig in das Verlustkonto ein­ tragen. Es hat nicht sein sollen! Die Deutschen im Donaugebiet sind ein Teilvolk, weil die Deutschen als Gesamtheit so wenig na­ tionale Kraft hatten, als ihnen die Neligionsprobleme brennend wurden. Im schmalkaldischen Krieg und im dreißigjährigen Krieg verloren wir die Kraft für den Südosten. Die katholische Gegenreformation war das Grab des deutschen Geistes an der Donau. Es ist dahin, was hätte sein können und sein sollen! Damit bleibt im Grunde nur die zweite Lösung: Klein­ staaterei der Teilvölker mit politischer Anlehnung an Großstaaten. Diesen Zustand sehen wir in Rumänien, Bulgarien, Serbien. In ihn würde voraussichtlich Oesterreich übergehen, wenn es nicht zwei gemeinsame Dinge hätte, zwei Staatsgrnndlagen, die vorläufig noch dem Nationalitätenstreit entnommen sind: Dynastie und Heer. Um diese Zentralpunkte bewegt sich die Staatserhaltnng. Der Gesamteiudruck aber ist: eine politische Lebensversiche­ rungsanstalt zankender Teilvölker. Der Staatsgedanke tritt hier um alle dieser Dinge willen in seiner reinsten Dürre auf. Hier ist der Staat nichts als nur die Ausübung von Verteidigung, Justiz und Verwaltung. Das wirkliche Leben, Lieben, Hoffen, Opfern pulsiert deutsch oder slavisch oder Polnisch oder magyarisch, aber höchstens bei alten Beamtenfamilicn österreichisch. Was ist der Staat? Eine Verstandesnotwcndigkeit und weiter nichts, wenn er kein Nationalstaat ist oder werden kann. Früher war ein solcher Staat eine Art Privatbesitz der Dynastie. Diese Denkweise ist vorbei. Man will den Monarchen behalten, aber

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als Ungarnkönig, Böhmenkönig, Erzherzog von Oesterreich, Markgraf von Mähren. Ein Kaisergedanke, wie ihn das neue Deutschland hat, scheint in der alten Kaiserstadt an der Donau nicht möglich. Es liegt dort im Imperialismus keine Zukunft, denn Imperialismus fordert hinter der Zentralperson vorwärtsdrängende Masse. Masse hinter sich zu haben, ist aber den Habsburgern noch weniger gewohnt, als anderen Fürstengeschlechtern. Beichtväter, ja! Aber Plebejer? Nein! Imperialismus! Ich bin in Oesterreich im politischen Gespräch den Gedanken nicht losgeworden: hierher gehört einNapoleon! Es braucht kein Napoleon I. zu fei», ein Napoleon III. genügt. Ein solcher österreichischer Napoleon müßte zuerst das jetzige Abgeordneten­ haus nach Hause gehen lassen, dann dem Volke mitteilen, er habe dem Unfug eines falsch zusammengesetzten Parlamentes ein wohlver­ dientes Ende bereitet, wolle sich durch Plebiszit für diesen segensreichen Schritt die Zustimmung der Bevölkerung anssprechen lassen, und wolle dann mit einer nicht ständisch zusammengesetzten, sondern aus gleichem Wahlrecht hervorgegangenen Volksvertretung regieren; da er die Armee für sich habe, so bitte er von unnötigen Weiterungen abzusehen! Das wäre Revolution zu Gunsten des Staates. Sie würde auf diesem Boden heilsam sein, aber sie kommt nicht, denn — die Habsburger sind nicht revolutionär! Es hat vor etwa 6 Jahren eine Lage gegeben, die sich zum Staatsstreich hätte auswachscn können. Als Graf Taaffe, der lang­ jährige unter den Staatsleitern Oesterreichs, verstimmt über die Arro­ ganz des Polenklubs und aus sonstiger Desperation, den Vorschlag machte, die Vertreter der Städte und die Veri> eter der Landgemeinden durch allgemeines, direktes Wahlrecht wählen zu lassen, da wäre es nach Ansicht ruhiger, sachkundiger Beurteiler nur nötig gewesen, den Grafen durch sozialdeniokratische Demonstrationen in Wien zu unter­ stützen, um eine Umgestaltung der Regierungsgrundlagen zu erreichen. Die Sozialdemokratie hat wahrscheiniich damals eine Unterlassungs­ sünde begangen. Sie traute dem Urheber des Vorschlages nicht und wollte auch keine Teilzahlungen. Diese Prinzipienreiterei aber hat zur Folge, daß inzwischen zwar dem allgemeinen Wahlrecht eine Thür in der fünften Kurie geöffnet, aber das Parlament für vielleicht lange Zeit schlechter geworden ist, als es nach dem Willen des Grafen Taaffe möglich war. Jetzt schwankt das Staatsschiff ohne allen festen Kurs. Professor v. Philippowich sagt in tiefer Ironie: „Eine Subkommission berät, ob wir noch ein Staat sind." Die Nationalitätsvertretungen pfeifen auf den Staatsgedanken, so lange sie nicht gerade an der Staatskrippe sitzen. Es wird fortgewurstelt; endlos, müde, nervenzerreibend wird debattiert, konferiert'— wo ist ein Staatsideal für Oester­ reich? Wo ist wirklicher Staatsgedanke? Merk­ würdiger Weise dort, wo in Nationalstaaten die

17 Staatsgefahr liegt: beim sozialdemokratischen Inter­ nationalismus!

5. Das internationale Problem. In allen Kulturländern hat die sozialistische Bewegung ihre un­ bestreitbar gewaltige politische Bedeutung darin, daß sie den Lohnarbeiterstand organisiert, zum politischen und volkswirtschaftlichen Denken aufruft, die Freiheitsrechte des Volkes unerschrocken vertritt und den Ausgangspunkt demokratischer Neugestaltungen des Parteilebcns bildet. Wenn sie dieses in Deutschland thut, so kommt sie an einen Punkt, wo sie sich klar darüber entscheiden muß, ob sie den vorhandenen Nationalstaat stärken oder ruinieren will. Wir Nationalsoziale ver­ treten vom sozialistischen Standpunkt aus die Anerkennung des Nationalstaates zum Zweck seiner Beeinflussung. Wir wollen Deutsch­ tum, Reichsverfassnng, Freiheitsrechte, soziale Gesetzgebung! In letzterer Hinsicht machen wir alles mit, was überhaupt erreicht werden kann. Die Sozialdemokratie in Oesterreich ist in einer etwas anderen Lage. Sie muß sich entscheiden, ob sie mehr für den Staat im allgemeinen oder mehr für die Nationalitäten sein will. Natür­ lich entscheidet sie sich ihrer internationalen Tradition gemäß mehr für den Staat, kann aber von diesem Standpunkt aus das Nationalitäten­ prinzip nicht als nichtvorhanden bei Seite schieben. Sie ist hier in Oester­ reich zum ersten Mal genötigt, auf größerem Boden, unter weit schwierigeren Verhältnissen, wie sie etwa die Schweiz bietet, den inter­ nationalen Gedanken mit praktischer Nationalitätszersplitterung in Vereinbarung zu bringen, geradezu eine Künstleraufgabe für sozialistische Theorie und Taktik. In der österreichischen Sozialdemokratie sind ausgeprägte Natiynaltypcn vorhanden, wie etwa der Deutsche Pernerstorfer und der Pole Daszynsky. Sie gehen bis jetzt brüderlich zusammen und haben das Bewußtsein, daß ihr Zusammenbleiben eine über Oesterreich hin­ auswirkende vorbildliche That sein kann. Bei ihnen ist Internationalis­ mus nicht wie bei uns ein bloßer Protest gegen den Staat, sondern im Gegenteil eine Art Staatserneuerungsprogramm. Das Problem des Staats hat in der That in Oesterreich große Aehnlichkeit mit dem der So­ zialdemokratie. Der Staat wird zwar zusammengehalten durch Mo­ narchie und Heer, die Sozialdemokratie durch das Klassenbewußtsein der Proletarier, aber darin sind Staat und Sozialdemokratie einig, daß sie nicht den Gegensatz, sondern die Einheit im Nationalgewirr suchen, sie beide allein, denn der Klerikalismus sucht Kirchentum und nicht Staatseinheit, er läßt allem nationalen Partikularismus freien Lauf, wenn nur Rom der Mittel­ punkt bleibt. Wie also stellt sich die dortige Sozialdemokratie zur

18 Nationalitätenfrage? der Praxis?

Wie gestaltet sich der internationale Gedanke in

Bor uns liegt das Protokoll des sozialdemokratischen Gesamt­ parteitages in Brünn vom 24. bis 29. September 1899 (Wien bei Ignaz Brand, 25 Kreuzer). Die nachfolgenden Angaben sind diesem interessanten Schriftchen entnommen. Im allgemeinen Programm der Sozialdemokratie wird gesagt: Die sozialdemokratische Arbeiterpartei in Oesterreich ist eine inter­ nationale Partei, sic verurteilt die Vorrechte der Nationen ebenso wie die der Geburt und des Geschlechtes, des Besitzes und der Ab­ stammung.

Von diesem Grundgedanken aus bildet die Partei einen Gesamt­ parteitag Und einen Parteiausschüß, die in ihrer Art nationalitäts­ los sind. Anfangs nun hat man versucht, die ganze Parteiorganisation ebenso nationalitätslos zu gestalten, mußte aber dem Zwange der Um­ stände weichen und 1897 beschließen, daß die sozialdemokratische Partei sich nach nationalen Gruppen gliedere. Es tritt also auch hier wie im Staat das Doppclverhältnis ein: unten Na­ tionalismus, oben Zentralisation! Damit aber verschiebt sich schon innerhalb der Sozialdemokratie das internationale Problem. Ans dem alten kosmopolitischen Gedanken der Völkerverschmelznng wird ein neuer Gedanke: die gemeinsame obere Organisierung getrennt bleibender Nationalitäten! Es ist hoher Beachtung wert, was in wenigen Jahren die Sozial­ demokratie auf Grund dieses dem österreichischen Staat angepaßten Prinzipes hat leisten können. Neben den Deutschen sind die Czechen die Hauptträgcr der Bewegung. Es giebt czechisch-sozialdemokratische Blätter 19, Fachblätter 14, andere Blätter 5; deutsch-sozialdemokratische politische Blätter 33, Fachblätter 23; italienisch-sozialdemokratische Blätter 2: polnisch-sozialdemokratische Blätter 5; slovenisch 1. Diese Zahlen sind durch Polizeiverbote und aus anderen Gründen beständig im Schwanken, geben aber doch ein lehrreiches Gesamtbild. Jedes dieser meist kleinen Blätter bildet einen Agitationsmittelpunkt in be­ stimmter Natioualsprache. Die Summe solcher Mittelpunkte litterarischer Art ist gegenwärtig 102. Das sind die Blätter der Einheitsbewegung in Oesterreich! In seiner Hauptansprache in Brünn sagte der sozial­ demokratische Führer Dr. Adler folgende Worte: Es giebt kein Heim für die Zukunft Oesterreichs als dieses „Arbeiterheim", wo alle arbeitenden Völker dieses Landes zu friedlicher ersprießlicher Arbeit versamniclt sind. Die Sozialdemokratie hat naturgemäß neben ihrem politisch-revolutionären Interesse noch ein anderes Interesse, das einzige wirklich konservative K ulturintercssc, daß die Völker, die in diesem Lande und belastet mit der Geschichte dieses Landes zr leben verdammt sind, nicht mit zu Grunde gehen. — Wir haben keine anderen Inter­ essen als die Interessen der Arbeiterklasse. Diese wirtschaftlichen und kulturellen Interessen der Arbeiter sind für alle Nationen dieselben, und

19 weil wir dasselbe Interesse haben, darum können wir in diesem durch nationale Zwistigkeiten zerrissenen Lande einheitliche sozialdemokratische Politik machen.

Man begreife, wie sehr ein deutscher Nationalsozialer auf die Weiterentwicklung dieses Dramas spannen muß, wenn er es einmal erfaßt hat: Die Sozialdemokratie als Trägerin der K. K. Staats­ einheit! Als solche muß sie mit bestimmten Vorschlägen für die Bei­ legung des Nationalitätenhaders heranstreten, und sie hat den Versuch gemacht. Das Gesamtexekutivkomite legte dem Parteitag Grundsätze zur Regelung der Nationalitätenfrage vor, , die folgenden Haupt­ gedanken haben: Oesterreich ist Nationalitätenbnndeöstaat (also Anerkennung der Kleinstaaterei auf der Unterstufe). Tie autonomen nationalen Selbstverwaltungsgebiete sind möglichst den Sprachgrenzen anzupasscu (also nicht unbedingte Erhaltung der geschichtlichen Länderteilungen). Die Selbstverwaltungsgebiete jeder Nation bilden nationale Einheiten, die ihre nationalen, d. h. sprachlichen und kulturellen, Angelegenheiten selbst regeln (also neue Kompetenzverteilung zwischen Zentralismus und Klein­ staaterei). Schutz nationaler Minderheiten. Keine Staatssprache, aber thatsächliche Anerkennung der deutschen Verkehrssprache (feiner Unterschied!),

Das ist ein Programm, wie es unter weniger schwierigen Ver­ hältnissen früher der deutsche partikularistische Demokratismus hatte, mir daß in Oesterreich an Stelle von Partikularstaaten gleicher Sprache solche mit ungleicher treten. Daß dieses Programm das bestmögliche österreichische Staatsprogramm ist, kann wahr sein. Es enthält dennoch in sich last unüberwindbare Schwierigkeiten, Schwierigkeiten, die nicht durch Geschick oder Para­ graphen zu heben sind. Erkennt der Internationalismus nämlich die nationale Gruppierung auf der Unterstufe an, so weist er damit wesentliche Ziele des Sozialismus (Schule, Litteratur, Eherecht, Stellung zu den Religions­ gemeinschaften) dem Entscheidungsgebiet des Nationalismus zu. Damit erhält er notgedrungener Weise die Charakterverschiedenheiten der Nationen. Diese Verschiedenheiten werden auch auf den Thätigkeits­ bereich des Gesamtstaates übergreifen. Man kann nicht deutsche und czechische Gewerkvereiue nebeneinander in denselben Orten haben, ohne zukünftige Reibungen befürchten zu müssen. Wer das bezweifelt, be­ trachte nur die Gewerkschaftsstreite in sprachlich nicht gemischten Ländern! Der beiden Teilen gemeinsame Klassenkampfgeist garantiert an sich noch nicht eine gemeinsame Taktik. Er garantiert sie um so weniger , wenn rings umher der Streit der Völkerschaften brennt. Schon jetzt geben es die czechischen und polnischen Führer zu, daß sie nicht vorwärts arbeiten können, ohne nationales Programm. Daszynsky, der Führer der galizischen Sozialdemokratie, sagt: Ich verweise darauf, daß es ganze Völker giebt, wie z. B. die Rutheneu in Galizien oder die Polen m Schlesien, bei denen das Miß­ trauen gegen die Sozialdemokratie nur dadurch geweckt wurde, daß mandieLügever breitete, die Sozialdemokratie sei tiational indifferent, sie kenne sich in nationalen Fragen nicht aus.

20 Sind die Führer, die jetzt den Nationalismus in sein Gebiet ein­ dämmen wollen, einigermaßen sicher, ihn halten zu können? Man teile und regle heute die österreichischen Lauder, es gelinge das fast übermenschliche Werk, Böhmen in zwei befriedigte Teile zu schneiden, es sei, wie das Programm es will! Damit ruht die nationale Frage nicht. Die Minoritäten werden zu Majoritäten, die Völkerwanderungen des modernen Lebens machen immer neue Länder gemischt. Kurz, der Nationalitätenkampf ist und bleibt eine Macht­ frage, wie der Klassenkampf auch. Er wird zu keiner Lösung kommen, so lange es Menschengeschickte gibt. Leichter als jetzt versanken in der litteraturlosen alten Zeit Rassen und Stämme und Sprachen, h>'ute aber ist jeder sprachentragende Stamm ein kämpfendes Tier geworden. Er trägt seine Muttersprache über Ber^e und Meere. Chikago mit seinen, wie man sagt, 300000 Czechen, ist ein grelles Beispiel. Weniger als jemals früher wird heute ein altes Sprachentum lautlos zerdrückt. Die Sprachen sind demo­ kratisch geworden und wollen leben. Es ist nur konsequent gedacht, wenn Demokraten die Rechte der Minoritätssprachen vertreten. Eins nur fliegt dabei in die Luft: der alte Begriff „international", und eins wird' sich nicht finden lassen, ein neuer politischer anwend­ barer Begriff für dieses Wort. Oesterreich ist der Boden, wo sich zuerst die neue Begriffsbildung einstellen müßte, wenn sie möglich wäre, ein über allem Nationalitätskampf schwebender Orgauisationsgedanke, der nicht militaristisch sein soll, nicht dynastisch — wie er sein soll, weiß man nicht. Der vorhandene österreichische Staat ist militärisch-dynastisch. Wenn die Sozialdemokratie dem Nationalitätenkampf entgegenstreben will, wird sie wohl oder übel diese Grundlage anerkennen müssen. Thut sie es ilicht, so verliert sie selbst die Grundlage ihrer öster­ reichischen Jnternationalität. Eigen, sehr eigen klingt an der Donau das Wort „revolutionäre internationale Sozialdemokratie", denn wenn cs dort Revolutionen geben sollte, so würden sie national sein. Die Jnternationalität ist ja staatserhaltend! Auch anderswo wird durch die Logik der Dinge der Sozialismus staatserhaltend werden, nur liegt es bei uns insofern anders, als bei uns das Nationale staats­ erhaltend ist und bleiben wird. Wir glauben also, daß das heutige sozialdemo­ kratische österreichische international-nationale Pro­ gramm nur eine auf gegenwärtigem österreichischen Boden mögliche Form ist, solange möglich, als Habsburgertum und Heer bestehen. Da wir, wie gesagt, diesen Bestand für längere Zeit annehmen, so glauben wir auch unter dieser Voraussetzung an weitere günstige Entwicklung der Sozialdemokratie. Sobald die Voraussetzung hinfällt, fällt das Programm, denn der Sozialismus als solcher ist in gegenwärtiger Weltperiode nicht staats­ bildend. Er muß sich den Staatsbildungen unterordnen, die ohne ihn

21 vorhanden sind. Für einen Znknnftsinternationalismns beweist die glücklich arbeitende „K. K. Sozialdemokratie" nur äußerst wenig. Da sie über anerkanntermaßen in diesem Staat eines der wenigen Lebenselemente ist, so wäre es von uns aus falsch, ihr nicht bestes Gedeihen zu wünschen. Sie ist eine natürliche Gegnerin der Kräfte, die dem Deutschtum am gefährlichsten sind: österreichischer Klerikalismus und Feudalismus! 2ie ist im hohem Grade Bildungsfaktor für die Masse ! Ihre Gedanken sind deutsch gedachte. Im Grunde wirkt sie für bcii S'aat, mit dem die Deutschen am leichtesten ihr Bündnis schließen können, für den vorwürtsschreitenden Kulturstaat. Zwei Parteien in Oesterreich sind es, beiten vom reichsdeutschen Standpunkt aus Spmpathieen gebühren: Dentschuationale und Sozialdemokraten! Mögen sie sich drüben streiten — sie wirken doch im Grunde zusam'men!

6. Deutsch-nationale Bewegung. Es ist leichter zu sagen, was die Grundlage des Sozialismus ist, als worin die Wurzel der Nationalität besteht. Der Sozial'smus beruht auf wirtschaftlicher Jnteresseugemeiuschast einet Klasse uiib ihrer Umgebung. Das ist etwas Greifbares, zu einem guten Teil mit' Ziffern Nachweisbares. Die Nationalität kann als Klasse auftreteu, es iit aber keineswegs ihr Charakter, Wirtschnstsklasse zu sein. Die Deutschen in Oesterreich sind teils Bauern-, teils Unternehmerklasse, die Czechen sind vielfach Lohnarbeiter, die Rutheuen sind meist sehr arm, aber dies alles macht sie nicht dit Deutschen, Czechen oder Ruthenen. Es kann Vorkommen, daß der Einzelne um seiner Klasse willen seine Nation wechselt, aber im Grunde hat jede Nation alle Klassen, wem: auch in sehr verschiedener Verteilung. Vor etwa 6 Jahren veröffentlichte der Wiener Sozialpolitiker Otto Wittelshöfer in den „Preußischen Jahrbüchern" eine Studie über „Politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte in der österreichischen Nationalitätenfrage", deren statistisches Material schon deshalb nicht veraltet ist, weil es seither keine neue Zählung der Nationalitäts­ zugehörigkeit giebt. Die nächste Zählung ist erst 1900 zu erwartet!. Aus dieser Arbeit sei folgendes herausgehobeu: „Daß Abstammung und nationale Zugehörigkeit sich nicht decken, dafür in erster Linie die Namen, die mit der nationalen Zugehörigkeit iu grellern Widerspruche stehen. Unter den Führern der Teutschen in Böhmen (damals) ragen echt czechische Namen wie Schmepkal, Chlumeckv, Kozepek hervor, unter den czechischeu Politikern wiederum findet mau echt deutsche Namen wie Nieger, Zeithammer, Krumbholz, Purchhart. Der heftigste, Parlamentär,sche Gegner der Italiener ist ein Kroate mit den: sonoren italienischen Namen Bianchi .... es sitzen gegenwärtig im österreichischen Parlamente zwei Brüder, von denen einer deutscher, der andere polnischer Vertreter ist (!).

Selbst wenn es heute diese zwei feindlichen Brüder nicht mehr geben sollte, was ich nicht weiß, so ist die hier beschriebene That-

22 fache unzweifelhaft richtig. Alte deutschen Adelsgeschlechter spielen sich jetzt als czechische Fanatiker auf u. s. w. Es ist nicht nur der Jude, der die Zugehörigkeit wechselt. Er thut es am leichtesten, weil er am allerwenigsten seßhaft und staatsbildend ist, die anderen aber haben alle auch Teil an dem beständigen Kommen und Gehen von einer Nationalität zur andern. Viele Menschen wechseln von einer Volkszählung zur andern ihre Nationalitätszugehvrigkeit, gerade so, wie man politische Parteien wechselt, viel leichter, als man Konfessionen zu wechseln im Stande ist. Die Konfessionen liegen hinter gesetzlichen Gittern, der Wechsel ist nicht verboten, aber er­ schwert. Die Nationalitäten in Oesterreich (nicht im Orient) liegen offen, ein Zustand, über den derjenige selten nachzudenken pflegt, der in der Mitte einer großen, einheitlichen Nation lebt.

Jede Nation hat einen weiteren Umkreis halbsiiberer Elemente nm sich. Trotzdem wird nicht zu leugnen sein, daß das Wesen der Nationalitätsbildung an sich nicht in diesen Elementen, sondern in der Fortpflanzung gewisser geschichtlich entstandener Rassen liegt. Auch das Deutschtum im ganzen ist keine reine Rasse, aber es baut sich auf Rassenbestandteilen auf, die ihren Charakter ver­ erben. Wenn man nur reine Nasse suchen wollte, was sollten wir Deutschen thun, deren Westhälfte romanisch, deren Osthälfte slavisch gemischt ist, und bei denen nur das alte Sachsengebiet in Nordwestdeutsch­ land und der Bauernstamm in der Ostmark einigermaßen „echt" ist? Aber in der Abstammung liegt doch der Kern der Nationalitäts­ bildung. Um überhaupt den Gedanken „Volkstum" auf­ kommen zu lassen, muß es gewisseTeile geben, die sich für reines Blut halten und die auf Weitergabe dieses reinen Blutes Wert legen. Deutschland wurde deshalb so lang­ sam „national", weil es so viele Mischungsgebiete hatte. Erst als im Lauf der Zeit die Mischung voll verarbeitet war, als Römisches, Romanisches, Slavisches, Schwedisches, Polnisches, Jüdisches unter­ getaucht war in dem einen siegenden Hauptcharakter „Deutsch", erst da trat aus der Zerbrochenheit die Einheit heraus, aus der Sprache der Geist, ans dem Geiste die Nationalkultur, aus dieser die nationale Macht. Aus der Vielheit wurde ein großes weltgeschichtliches Ich. Das Deutschtum als Ganzes trat in die Welt und sagte: Ich bin, ich will, ich setze mich durch! Aehnlich ging es mit dem Franzosentum, Slaventunr, Jtalienertum. „Oesterrcicher sein" kann niemals die Kraft eines Nationalitäts­ gedankens bekommen, da hier der Ausgangspunkt fehlt, die alles andere tn sich hineinsaugende Abstammungsgruppc. Ohne den Blutgedanken, er sei falsch oder richtig, entstehen keine Nationalitäten. Herr von Jaworsky, damals Obmann des Polenklubs, sagte 1893 das wahre Wort: „Oesterreich ist nicht von Oesterreichern bewohnt", denn Staats­ zugehörigkeit ist noch lange nicht Nationalität.

23 Ist aber Abstammung der Kern der Nationalitätsbildung, so ergiebt sich schon aus der eben besprochenen Thatsache weitgehendster Mischung aller großer Nationen, daßNationalitätskraft sich als erwerbend, ausnehmend, assimilierend zeigen muß. Wo eine Nation ängstlich jeden Fremden ansieht, der zu ihr kommt, hat sie ihre nationale Sicherheit entweder noch nicht gewonnen oder schon wieder verloren. Große, sichere Nationen können unv müssen großherzig gegen Fremde sein. Sie nehmen tausende auf, weil sie sich zutrauen, tausende verarbeiten zu können. Sie kennen ihre ge­ schichtliche Leistung im Verzehren von Fremdkörpern und glauben, der Kraft ihrer Väter nicht unähnlich geworden zu sein. Will ihnen der Fremde ihre Nationalität zerstören, dann wird es noch immer Zeit fein, ihn zwischen zwei starke Finger zu nehmen und zu probieren, ob er in dieser Lage nicht deutsch oder englisch oder russisch reden lernt. Solche Sicherheit großer Nationen fehlt natürlich den abgerissenen, isolierten Teilvölkern Oesterreichs. Auch die Deutschen und Slaven in Oesterreich sind ja Teilvölker. Es sind lauter verwundete und em­ pfindliche Körper, die dort bei einander liegen: etwas losgerissenes Polentum, etwas losgetrenntes Ruthenentum, eine Hälfte des Serben­ stammes, eine Hand voll Italiener, zwei slavische Volksinseln im Norden und Süden, ein weithin zergossenes, zerflossenes Deutschtum — ein Schlachtfeld der Völkergeschichte voll Seufzen, Schreien, Beten und Fluchen. Diese Volkstcile müssen empfindlich sein. Gerade, weil sie unfähig sind, große Nationen zu werden, hat bei ihnen das Nationale etwas Krampfhaftes. Auch wenn nicht Eigennutz, Klasseninteresse, Jesuitenpolitik die Nationalitätskämpfe verbitterten, hier müssen sie sein, bis zur Ermattung — wie im Orient. Erst von hier aus, scheint mir, kann man die neueren deutsch­ nationalen Bewegungen in Oesterreich richtig verstehen. Der Reichs­ deutsche wundert sich in vielen Fällen über die für unser Empfinden übertriebene Art des völkischen Auftretens. Ja, wir sind eben beati possidentes, Leute, die nur dann vom Schutzmann an­ gefahren werden, wenn sie nicht für national gelten. Dort ist es gerade umgekehrt. Der im Wesen des Nationalen steckende Trieb zur Macht kann sich nicht ausleben. Jst's wunderbar, wenn er in Worten vulkanisch wird? Oft wird er klingen wie die Stimme eines Jünglings, der wie ein Alter rufen will, ost aber wird er auch Töne finden, die eben nur der Kampf und das Leid aus dem Menschen herauspressen. Es ist den national gesättigten Reichsdeutschen sehr heilsam, etwas „Ostdeutsche Rundschau" zu lesen, damit sie sehen, wie hungernder Nationalismus aussieht. Er ist oft verzweifelt wahr, gerade wie hungernder Sozialismus auf seinem Gebiete auch. Menschen, die das Anschlußbedürfnis an eine ihrem Wesen verwandte Macht haben, sind unglücklich, wenn sie diese Macht nicht finden. Indem sie starke Nationalität finden, werden sie selbst gehoben, sie leisten mehr, denken im größeren Rahmen, haben Volksinteressen in

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aller Welt. Nichts ist thörichter, als dieses Machtintercsse in der Menschennatur leugnen zu wollen! Es kann zeitweise durch Religions­ oder Klasseninteressen verdunkelt werden, gehört aber an sich zum ewigen Bestände der menschlichen Triebe. Die einzigen Glücklichen am Donaulauf sind die Magyaren: sie haben Macht! Die Sprache ist nur das Kleid der Macht. Wo Deutsche siegen, spricht man deutsch, und wo sie unterliegen, nennt man alte deutsche Straßen czcchisch. Man hat Oesterreich ein „Land voll deutscher Leichenfieine" ge­ nannt. Ein Gang durch Prag erklärt dies Wort. Der Reichsdeutsche fragt sich: wie kommt cs, daß sie zurückweichen müssen? Sind die Deutschen noch immer ein starker großer Bestand? Sie sind es, aber sie sind nicht einig. Im Anfang des Jahr­ hunderts waren die Deutschen in Oesterreich 39%, jetzt sind sie noch immer 36,2 %. Das ist eine Zahl, die nicht ohne weiteres herrschen kann, die aber, da sie zugleich viel Kultur enthält, sehr wesentliche Erfolge erringen kann, um so mehr als ihr nur Zersplitterung gegen­ übersteht.

Fast ganz deutsch sind: Salzburg, Oberösterreich, Niederösterreich.

Ueber die Hälfte deutsch sind: Kärnten, Tirol und Vorarlberg. Unter der Hälfte deutsch sind: Böhmen, Mähren, Schlesien.

Nur geringes Deutschtum haben: Triest, Görz und Gradiska, Istrien, Krain, Dalmatien, Bukowina, Galizien.

Der empfindlichste Punkt ist Böhmen, dieses geographisch materiell und geschichtlich ’ so wichtige Land. Hier sitzt der leistungsfähigste Gegner, hier hat der Czeche 62,9%! Es ist keine glänzende Lage, in der sich das Deutschtum in Oesterreich befindet, aber es würde vieles zu machen sein, wenn dieses Deutschtum eine geschloffene Einheit

25 wäre! Daß sie dieses nicht sind, daran trägt die Schuld der Klerus und die Juden. Da wir vom Klerus im nächsten Abschnitt reden wollen, sagen wir hier nur ein Wort über die Juden. Nach unserer Ansicht ist die Judensrage im deutschen Reich und in Oesterreich nicht ein und dasselbe. Im deutschen Reich besteht für den Juden nur die Möglichkeit deutsch oder nationaljüdisch zu sein. Das letztere kommt politisch nicht in Be­ tracht. — Das Judentum kann Politisch nicht selbständig auftreten, will es auch in seiner überwiegenden Mehrheit nicht. Politischer Anti­ semitismus ist bei dieser Lage ein Unding und stirbt an seiner eigenen Zwecklosigkeit, denn politische Parteien kann man nur gegen politische Körper formieren. Dazu kommt, daß bei Gründung des deutschen Reiches die Mitarbeit der Juden (Simson, Bleichrödcr, Lasker) selbst von Bismarck als notwendige Stärkung seiner Aktion angenommen wurde. Bei der Stärke unseres Nationalismus ist es eine Kleinmütigkeit, ein Geschrei zu erheben, als ob wir ein „verjuöetes" Volk seien. Jeder nationale Großstaat muß, wie wir sagten, Fremdkörper tragen können, die zum wirtschaft­ lichen Gesamtleben gehören. In Oesterreich kann nun dieselbe Sicher­ heit des Nationalgefühles von de» dortigen Deutschen nicht erwartet werden. Sie mißtrauen jedem Bestandteil, den sie nicht ohne weiteres in sich verarbeiten können, und sehen täglich, daß der Jude auch czechisch, magyarisch, serbisch sein kann, wenn er will. In Prag sieht man deutsche Judennamen wie Rosenstock czechisch geschrieben! Man vergißt, daß es auch Nassendeutsche giebt, die sich solcher Verleugnung schuldig gemacht haben. Es entsteht die Sorge: der Jude hindert uns, uns deutsch zu entwickeln. Besonders verschärft wird diese Sorge durch zwei speziell öster­ reichische Erscheinungen, durch das Vorherrschen des israelitischen Ele­ mentes in der Presse und durch den Einfluß des Finanzhauses Rothschild auf die Staatsleitung. Auch im deutschen Reiche sprechen die Antisemiten voll „Judenpresse", als ob die deutsche Litteratur wesentlich in nichtdeutschen Händen wäre, aber hier genügt ein Blick aus die führenden Parteiblätter fast aller Parteien, um zu zeigen, eine wie große Uebertreibung vorliegt. Es scheint in Oesterreich that­ sächlich anders zu liegen. Bei uns ist es undenkbar, daß der aller­ dings prozentual überstarke israelitische Bestandteil unserer Litteratur das nationale Gesamtempfinden schädigen könne, ganz abgesehen davon, daß Lassalle nicht der einzige Jude war und ist, der starken deutschen Nationalsinn im Geiste Fichtes besaß und vertrat. In Oesterreich sucht das Deutschtum nach kräftigen „völkischen" Tönen und findet sie in seiner Presse nicht. Daß ferner die Presse in Sachen der Nord­ bahn und bei anderen Angelegenheiten sich nicht von Korruption frei­ gehalten hat, ist dem Abgeordneten Schönerer nicht ernstlich bestritte» worden. Bei ihm fließt Kampf gegen Preßsünden und Judentum in eins zusammen. Hinter beiden aber sieht er Rothschild. Der Aus-

26 länder ist nicht in der Lage, die Einzelheiten der Anklagen gegen das Wiener Geldhaus zn kontrollieren. Daß aber in einen: Staate von schwachem Kredit, von schwankender Zukunft der Hauptgläubiger eine Art geheime Oberregierung führt, liegt in der Natur der Sache. Nur sehr finanzkräftige Staaten können sich dem Dienste des Leih­ kapitals entziehen und auch diese thun es nicht immer. Je gebrech­ licher die Gesamtmonarchie wird, desto mehr zahlt sie dem Weltwuchertum. Ob freilich in dieser Sache Petitionen und Deklamationen irgend etwas helfen können, ist sehr zweifelhaft. Die einzige Los­ lösung von Rothschild besteht in guter Wirtschaftspolitik. Eiue solche aber muß auch in Oesterreich, wie die Dinge infolge der Bevölkerungs­ vermehrung liegen, eine bewußte Pflege des Industrialismus eintreten lassen. Hier ist der Punkt, wo die Deutschnationalen die Er­ fahrungen des deutschen Reiches noch mehr sich zu Nutze inachen sollten.

In einer 1892 gehaltenen Rede sagt Schönerer einige Sätze, die wir nur deshalb herausgreifen, weil sie in wenig Worten einen oft wiederholten Gedankengang zusammenfassen; einen Gedankengang, in dem wahres und falsches nahe bei einander liegt: Die nationale Frage und die soziale Frage gehen heutzutage engverbnnden mit einander her, und für jedes Volk ist die soziale Frage ein Hauptteil der nationalen Frage. Die soziale Frage kann denn auch nur auf dem sicheren Boden der nationalen Frage lebensfähig und nutz­ bringend gemacht werden. In der sozialen Frage aber spiel: die Inden frage die Hauptrolle. Wer national sein will, ohne die Judenfrage entschieden anzupacken, der geht wie die Katze nm den Brei und wird niemals eine entsprechende Lösung finden! Den unauf­ hörlich nervös aufgeregten Semiten und ihrem Anhänge bat es bekanntlich gefallen, die Grundlage der alten Ge­ sellschaft zu zerstören, und so wurde die soziale Frage in ihrer jetzigen erschreckenden Gestalt geschaffen. Wir Deutsch­ nationale nun verlangen, daß jeder Deutsche bei der Lösung der sozialen Frage, die zumeist auch Jndenfrage ist, auf Seite seines eigenen, des deutschen Volkes stehe! Unter sozialer Reform verstehen wir Deutsch­ nationale eine auf volklicher Grundlage fußende teilweise Neu- und Um­ gestaltung unseres gesellschaftlichen Gemeinlebens. Wir wollen also R e f o r m g e s e tz e, die den berechtigten Bedürfnissen und Verhältnissen der einheimischen, also der deutschen Bevölkerung auf den Leib geschnitten sein müssen. Der Staat hat in erster Linie durch seine Gesetze die ehrliche Arbeit zu vertreten und nicht das Kapital zu bevorzugen.

Daß wir darin mit Schönerer einverstanden sind, daß ein mäch­ tiger Nationalstaat die beste Grundlage für soziale Reformbewegung ist, braucht nicht breit ausgeführt zu werden. Falsch aber ist die ganze Erklärung des akuten Charakters der sozialen Frage aus der Nervosität oder aus sonstigen Eigen­ schaften der Semiten. Was die soziale Frage brennend macht, sind lauter Dinge, die mit dem größeren oder kleineren Prozentsatz geschäftlich thätiger Juden nichts Wesentliches zn thun haben. Sind nicht auch in Böhmen soziale Mißstände, die nicht jüdischen Ursprungs

27 sind? Die soziale Frage kommt mit der Notwendigkeit, größere Volks­ teile mit etwas anderem als mit Landwirtschaft zu versorgen. Diese Notwendigkeit aber ist nicht israelitischen Ursprungs. Auch darf das berechtigte Bestreben, der ehrlichen Arbeit zu helfen, nicht zu einseitigem Antikapitalismus verführen. Das ist das wirklich Bedeut­ same an Marx's „Kapital", daß er das ausbeutende Kapital trotzdem als notwendigen Kulturfaktor begreift. Der Genuß des Kapitals muß demokratisiert, die Leitung des Kapitalismus muß konstitutionell beein­ flußt werden, aber mit altagrarischem Antikapitalismus und mit Mittelstandspolitik allein kann kein sozialer Fortschritt gewonnen werden. Es würde uns sehr bedauerlich erscheinen, wenn die Deutsch­ nationalen Oesterreichs sich tu dieser Hinsicht nicht die wenig erfreu­ lichen Erfahrungen des reichsdeutschen Antisemitismus zu Nutze machen wollten. Man muß es den Antisemiten in Deutschland, besonders in Sachsen, zur Ehre anrcchnen, daß sie zeitiger als andere Volksteile des deutschen Reiches für die nationale Bewegung in Oesterreich Sinn gehabt haben, aber freilich, kann, gerade diese Anknüpfung für die Deutschen Oesterreichs Gefahren in sich schließen. Die eine Gefahr besprachen wir eben, die antisemitische Verkennung der sozialen Probleme, und die andere liegt darin, daß es keineswegs sicher ist, ob nicht in späteren Zeiten, wenn das deutsche Rassenbewußtsein hin­ reichend gekräftigt ist, um Kompromisse zu schließen, ihm nicht aus ganz einfachen taktischen und praktischen Rücksichten die Mitwirkung des deutsch sprechenden Judentums in den österreichischen Kronläitdern erwünscht sein wird. Wir wiesen schon oben in anderem Zusammen­ hang darauf hin, daß Bismarck, den die Nationaldeutschen Oesterreichs in wahrhaft wohlthuender Weise verehren, sich nicht gescheut hat, weittragende und wichtige Handlungen seiner Politik mit Juden auszuführeu. Er konnte es, ohne dadurch „verjudet" zu sein. Diese freie Haltung muß als Ziel angenommen werden. Das Judentum in Oesterreich hilft zweifellos mit , den antideutschen Klerikalismus zit bekämpfen und ist ein natürlicher Gegner des Feudalismus. Es haben mir einsichtige Juden in Wien gesagt, daß sie die Schwierigkeiten, die das Deutschtum aus ihrer Mitwirkung im gegenwärtigen Moment hat, begreifen. Man wird nicht zusammen marschieren können, aber man wird sich auch nicht ganz aus dem Auge verlieren dürfen. Vor­ läufig ist Germania in Oesterreich eine Mutter, die über Feld geht, ihre verlorene» Kinder zu suchen. Wenn sie dabei nichts hören und sehen will, als ihre Kinder, so soll ihr das niemand verübeln. Sie ist mißtrauisch geworden gegen jeden, der sich ihr anbietet, ihr helfen zu wollen, denn ihre Muttersorge ist schon oft enttäuscht worden. Eine Mutter in solcher Lage hat das Recht, alle Weitherzigkeit von sich abzulchnen, denn bei ihr ist Selbsterhaltnng, was in anderer Situation falsche Enge sein würde.

28

7. Los von Rom. Religiöse Dinge und politische Sachen soll man der Theorie nach trennen, und es ist für beide Teile gut, wenn diese Trennung auch in der Praxis möglichst verwirklicht wird; aber freilich ist bis jetzt noch kein europäischer Staat zu einer Politik gekommen, in der nicht konfessionelle und kirchenpolitische Einflüsse park mitspielen. Wohin wir sehen, ragen die alten Religionskriege bis in unsere Zeiten hinein: England und Irland, Italien und Vatikan, Rußland und Polen, Preußen und Posen, überall zeigt sich der Kampf der religiösen Prinzipien. Unsere reichsdeutsche Politik geht offenbar einer Periode entgegen, in der Zentrum Trumpf ist, und in der die Konfessionsfragen wieder brennender werden. Bei uns aber ist der Ultramontanismus durch eine harte, lauge Schule des Kulturkampfes gegangen und hat darin freiheitliche und soziale Elemente gewonnen, die von Haus aus dem Klerikalismus, wo er herrscht, fremd sind. Es würde falsch sein, unser Zentrum als genaues Abbild des österreichischen Klerikalismus zu betrachten. In Oesterreich ist der Katholizismus die offizielle Religion; die zweitgrößte religiöse Gruppe sind die in Galizien sitzenden Mitglieder der griechisch-katholischen Kirche, die dritte Stelle haben die Israeliten, die vierte haben orientalisch-griechische Christen und erst an fünfter Stelle stehen die Protestanten. In Ungarn ist der protestantische Be­ standteil größer. Die Verhältniszahlen sind folgende: Oesterreich: Ungarn:

Römisch-katholisch Griechisch-katholisch . Israelitisch . . . Griechisch-orientalisch Protestantisch . .

. . .

.

. .

79% 11,8% 5% 2,3%

51,2% 9,6% 4,6% 14,7%

1,8%

19,8%

In diesen Zahlen, besonders in denen Oesterreichs, liegt eine blutige Geschichte. Erst wurde der Hussitenglaube mit Gewalt erstickt und dann der Protestantismus. Oesterreich soll zwischen 1530 und 1540 zu 29/30 protestantisch gewesen sein. Der Bauernstand der Alpenländer und Wien gehörten fast ganz der neuen Lehre. Bis 1578 dauerte in Jnnerösterreich der rechtlich gesicherte Bestand des Protestantismus. Von da an begann das grauenhafte Werk der Gegenreformation. Man sagt oft, Gewalt könne den Geist nicht töten. Das ist unter gewissen Verhältnissen bei moderner Schule und Parlamentarismus richtig, aber allgemein gültig ist der Satz nicht. In Oesterreich hat Gewalt den eigentlichen Votksgeist getötet. Kaiser Ferdinand II. gelobte in Loretto, die Ketzerei mit Stumpf und Stiel auszurotten und keine protestantische Mücke in seinen Landen zu dulden. Er wollte lieber über eine Wüste herrschen als über ein protestantisches Land. Bis zu Joseph II. herrschten die blutigen Priester, und als dieser Fürst zu zeitig die Augen schloß, fing die alte

29 Herrschaft wieder an. Erst seit 1861 haben die Protestanten moderne Rechtsgleichheit soweit man unter mißgünstiger Verwaltungspraxis von solcher reden kann. Was übrig geblieben ist von ihrer einstigen Zahl ist ein kleines hin und her verstreutes Häuflein, 234 Pfarreien im ganzen weiten Oesterreich, oft kleine, dürftige auf den GustavAdolfVerein angewiesene Gemeinden. In der Weltstadt Wien sind nur 3% Protestanten, in Prag nur 2% Es wird gut sein, diese geringen Ziffern im Auge zu behalten, wenn man ein Urteil über die Aussichten der „Los-von-Rom"-Bewegung gewinnen will. Die Grundlage an vorhandener Organisation ist äußerst gering. Dazu konimt, daß die evangelische Kirche Oesterreichs kaum im Stande sem wird, sich überhaupt als Grundlage einer deutschnational-protcstantischen Uebertrittsbewegung anzusehen., Die oberste Kirchenbchörde, der Oberkirchenrat in Wien ist eine kaiserlich­ königliche Staatseinrichtung, abhängig vom Ministerium für Kultus und Unterricht. So wunderlich eS klingt, so ist es doch wahr, daß die evangelische Kirche in Oesterreich eine Landeskirche ist, als deren Bischof der Kaiser zu gelten hat. Wir kennen ja ähnliche sinnlose Verhältnisse in Sachsen und Baiern, dort aber schaden sie weniger, da Zahl und Rechtsverhältnisse der Protestanten andere sind Als Staatskirche kann die evangelische Kirche Oesterreichs keine Propaganda treiben, die aus Staatsrücksich'en nicht erwünscht ist. Sie kann nicht in den Geruch prinzipieller Opposition kommen wollen, solange sie das bleiben will, was sie ist. Dazu kommt, daß diese evangelische Kirche nicht eine deutsche, sondern eine vielsprachige Kirche, allerdings mit überwiegend deutscher Führung ist. Die Verbindung von Sprachenkampf und Konfessionsstreit paßt also nicht in ihren Charakter. Sie ist zu österreichisch um „Los-von-Rom"-Kirche sein zu können. Was sie kann, hat sie gethan und wird sie vielleicht in Zukunft noch lebhafter thun als bisher. Schon immer, auch vor der neuen Parole hat sie Uebertretenden die Arme geöffnet. In den letzten zwei Jahren sind 11000 bis 12000 Uebertrilte bekannt geworden. Rechnet man einen Jahresdurchschnitt von 6000, so ist das für eine Organisation von 234 Pfarreien außerordentlich viel, aber für ein Land mit einem Ueberschuß der Gebuiten über die Sterbefälle von jährlich etwa 325000 nicht ins Gewicht fallend. Oesterreich hat 450000 evangelische Christen. Selbst ein Zuwachs von jährlich etwa 20000 macht diese Zahl nicht ausschlaggebend für den Geist des Volkes. Ob es aber möglich ist, die Zahl der Uebertritte so zu steigern, daß sic eine geistige Wendung Oester­ reichs bedeuten, ist sehr die Frage. Dazu würde es nötig sein, die evangelische Mission frei, kühn in großem Maßstabe zu treiben. Am guten Willen dazu fehlt es nicht. Um nur Einen zu nennen, so hat Pfarrer Ine. tbeol. B r ä u n l i ch unter weitem geschicht­ lichen Ausblick gesprochen, bis — er über die Grenze gethan wurde.

30 Einen guten Eindruck vom Geist der Bräunlich'schen Propaganda giebt sein bei Lehniann in München erschienenes Heft: „Die öster­ reichische Los-von-Rom-Bewegung" (60 Pfg.). Andere Reichsdeutsche wie der Barmer Kaufmann Schlechtendahl, Dr. jur. Pezoldt in Plauen und Professor Witte in Schulpforta haben nach Kräften gearbeitet. Es würde ein Leichtes sein, aus dem evangelischen Deutsch­ land tüchtige geschichtlich und religiös geschulte Werbeprediger nach Oesterreich zu senden, und für diese Sendung würde Geld nicht mangeln, wenn man sehen würde, daß alte verschüttete und in Blut ertränkte Traditionen aufleben. Es wäre vom rein freiheitlichen Standpunkt aus etwas Großes, den Beichtvätern der Habsburger handgreiflich vor Augen zu führen, daß ihre Todesarbeit noch Lebens­ keime übrig lassen mußte. Es wäre geschichtlich höchst bedeutsam, wenn die Religionseiuheit des Deutschtums von den Ostalpen aus neu gesucht und gefunden würde. Es würde eine neue Jugend der österreichischen Deutschen bedeuten, wenn sie papstfrei würden und damit frei vom Druck einer Erziehungsmethode, die ihre Proben in ganz Südeuropa abgelegt hat. Im Wort „Los von Rom!" liegt ungeheuer viel vergangene und zukünftige Weltgeschichte. Aber freilich, jetzt schützt das Staatsgesetz die herrschende Konfession in fast unüber­ windlicher Weise. Die Beschränkungen des Uevertrittes von schul­ pflichtigen Kindern und das Verbot äußerkirchlicher religiöser Massenpropagauda genügen, um den neuen Geist nur langsam zu Thaten reifen zu lassen. Wenn heute in Oesterreich Liberalismus herrschte, würde der Uebertritt leichter sein, dann aber würde freilich auch ein Hauptgrund für das Uebertreten fehlen. Bon guten Christen wird öfter gefragt, ob die llebertritte aus Politik oder aus religiöser Ueberzeugung geschehen. So­ viel ich erfahren habe, kommt beides vor, ganz abgesehen von familiären und sonstigen Gründen, die zu allen Zeiten mitspielen. Man soll aber in diesem Punkte nicht kleinlich urteilen. Was waren es denn für Gründe, die im Reformationszeitalter die Zugehörigkeit zu der einen oder der anbei en Konfession bestimmten? Wenn der Landcsfürst morgens protestantisch oder katholisch aufwachtc, war abends sein Land lutherisch oder päpstlich. Und wie ist in Oesterreich Gegenreformation gemacht worden? Etwa durch lauter Einzel­ bekehrungen? Es würde unrecht sein, dem neu eintretenden Prote­ stanten Lasten anfzulegen, btt Tausende von geborenen Protestanten nicht tragen wollen. Genug, wenn er den Protestantismus für die moralische Macht hält, der er seine Kinder und Kindcskinder anvertrauen will! Auch die erste Reformationsbewegung war voll von politischen Gesichtspunkten, und Luthers Person war in so hohem Grade ein nationaler Protest gegen das römisch - tnternationale Finanz- und Bildungssystem, daß man Luther nicht als Zeugen gegen freie und weite Uebertrittspraxis anfrufen kann.

31 Es ist sehx interessant, in der bereits genannten Schrift von Bräunlich briefliche Aeußerungen von Oesterreichern zu finden, die ge­ rade das politische Moment hervorheben. Einige Worte zur Kenn­ zeichnung der Stimmung: „Der Katholizismus entfremdet mit Vorbedacht nichtromanische Völker ihrer angestammten Art. Der Herrschaft einer volksfremdc» Priesterkastc, die in der Hauptstadt einer änderen Rasse ihren Sitz hat, muß ein Ende gemacht werden. — Der Katholizismus hat dem deutschen Volke seit Anbeginn den Lebensnerv durchschnitten, hat die herrlichste deutsche Kaiserdynastie verniäuct, die deutsche Einheit, wo er kann, gestört, das Reich dem Verderben znactrieben und ihm Feinde erweckt, wo immer er nur konnte. Der Kampf Roms gegen die Dculschcn ist so alt, wie das Papsttum. — Entweder müssen die Deutsch-Oestcrreicher evangelisch werden oder im katholischen Slavismus nntergehen."

Uns Reichsdeutschen sind solche Töne seit 20 Jahren nicht mehr geläufig, wir erleben ja auch eben, wie unser Zentrnm deutsche Welt­ machtspolitik unterstützt, aber die nationale Anwärmung des reichs­ deutschen Katholizismus darf nicht darüber hinwegtänschen, daß der römische Katholizismus als politisches Prinzip nicht national ist. Er ist die Fortsetzung drs mittelalterlichen Internationalismus für unsere Tage. Darum paßt er für die Staats­ erhaltung in Oesterreich, so lange dieser Staat klerikal sein will. Wo­ hin aber klerikale Staaten kommen, man gehe nach Spanien, Portugal, Belgien und sehe die Früchte! Es ist von katholischer Seite bestritten worden, beispielsweise auch vom Abgeordneten Dasbach in einer Berliner Versammlung, daß der Katholizismus in Oesterreich antideutsch wirke. Dem gegenüber wirkt sehr eindringlich die vom Pfarrer Nittel in Warnsdorf in Böhmen festgestellte Ziffer der czechischen Priester in deutschen Gemeinden Böhmens. In 719 rein . bentfdjen Gemeinden Böhmens giebt es 618 deutsche und 562 czcchische, in 114 gemischtsprachlichen Gemeinden 23 deutsche und 272 czechische Priester. In Prag, das über 30,000 Deutsche zählt, giebt es nicht einen einzigen deutschen Seelsorgepriester! Wenn der Katholizismus deutsche Priester haben wollte, brauchte er nur hinreichend deutsche Schulen zu öffnen. Er will mit Slaven arbeiten, er will Polen und Slaven gegen das Deutschtum schulen und dann marschieren lassen. Eine nationaldeutsche Bewegung kann dieser Slavenkirche nicht neutral gegenüberstchen, um so weniger als zahlreiche beste deutsche Elemente noch int Bann des Klerikalismus liegen. Hierauf bezugnehmend sagt Schönerer: Die Deutsch klerikalen machen der Regierungsmehrheit, den Slaven, die Unterdrückung der Deutschen und die Einengung des deutschen Sprachbodens überhaupt erst inöglich. Die Tcutschklerikalen tragen als deutsche Gruppe die Hauptschuld an dem Fortbestand der jetzigen, sozu­ sagen anarchistischen Zustände in Oesterreich.

tum

Es ist ein schwerer Konflikt, in dem das österreichische Deutsch­ steht. Es muß aus Selbsterhaltung gegen den katholischen

32 Priester kämpfen. Indem es das thut, verliert es gute fromme Deutsche, deueu ihr Glaube höher steht, als alle Nationalpolitik. Diese fromme» Deutschen zu anderen Glaubensformen überzuführen, ist ein schweres und langsames Werk. Ohne sie reicht die Zahl der Kämpfer nicht aus. Wir im deutschen Reiche sind sehr direkt daran interessiert, wie dieser Konflikt sich löst. Wenn cs trotz aller Schwierigkeiten, trotz fast unübersteiglicher Hemmnisse gelingt, den Gedanken „Los von Rom!" zum deutschen Volksgedanken in Oesterreich zu machen, dann ist etwas so Gewaltiges gewonnen für die deutsche Gesamtzukunft, wie es kaum etwas Wichtigeres im nationalen Geistesleben unseres Volkes giebt, denn eine derartige sieghafte, unwiderstehliche Volkswendung in Oesterreich müßte auch auf die Katholiken im deutschen Reich eine tiefe, segensreiche Wirkung haben. Ein romfreier Katholizismus würde unser Volk von seinem schwersten geistigen Zwiespalt befreien. Aber freilich, die Geschichte des Altkatholizismus bei uns, und die unendlich feste und weitverzweigte Organisation des Romanismus in Oesterreich und anderswo lassen uns gewisse Zweifel übrig, ob das Große über­ haupt gelingen kaun. Jedenfalls wollen wir im Reich thun, was wir können, um denen, die südlich vom Kamm des Erzgebirges ihren religiös-politischen Kampf kämpfen, zur Seite zu stehen. Sie kämpfen mit für uns. Gott stärke sie!

8. Schluß. Es ist nur noch nötig, kurz die Hauptgedanken der bisherigen Abschnitte zusammenzustellen und etliche praktische Folgerungen aus ihnen zu ziehen. Wir gehen davon aus, daß im nächsten Menschen­ alter ein Zerfall Oesterreichs nicht wahrscheinlich ist. Sollte er dennoch kommen, so kommt eben der europäische Weltkrieg mit allen seinen Unberechenbarkeiten. Wenn Oesterreich aber bleibt, so ist der politische Bund mit ihm nötig und muß durch spezielle Zollvereinigung wert­ voller gemacht werden. Das deutsche Reich muß und wird seine Stellung im Bund benutzen, um Vergewaltigungen des Deutschtums in Oesterreich zu hindern; es muß für das Deutschtum offene Jnterventionspolitik treiben, wie sie seit etwa 1 Vs Jahren bereits begonnen zu haben scheint. Die Deutschen in Oesterreich müssen wissen, daß sie einen Rückhalt an der nationalen Hauptmacht haben. Sie sollen in Oesterreich als Oesterreicher für dieses wirtschaftlich-politische An­ schlußverhältnis wirken. Ihre spezielle Aufgabe ist, den deutschen Volksgeist zu wecken und vor den Nord- und Südslaven zu bewahren. Im Zusammenhang mit dieser Aufgabe steht der Kampf gegen den Klerikalismus. Sobald die nationale Bewegung in Oesterreich sich auf den Boden stellt, daß sie nicht auf den Zusammenbruch ihres Staates, sondern auf dessen Anlehnung an das deutsche Reich rechnet, kann sie den österreichischen Wirtschaftsproblemen ein erhöhtes Interesse entgegenbringen. Sie wird die Trägerin der Zollvereinspolitik, deren innere Ergänzung in der Arbeit der Sozialisten liegt. Letztere treiben

33 international-österreichische Politik, Politik der arbeitenden Masse, zu der Millionen von Deutschen gehören. Diese Deutschen zu gutem Lebensbestande zu bringen, ist ihre besondere politische Leistung für unser Volkstum. Wenn sie dabei zugleich den Lohnarbeitern anderer Volksgruppen dient, so kann uns das nur recht sein, denn der „inter­ nationale" Sozialismus wurzelt nicht in Rom, er wird je länger desto mehr merken, daß er im Grunde deutsch ist. Alles das sind nur allgemeinste Gesichtspunkte, die nur den Zweck haben können, uns im Reich, speziell uns Nationalsoziale, zu orientieren, wo und wie wir unseren Anteil an der vorliegenden Auf­ gabe zu suchen haben. Wir müssen 1. mehr als bisher die Gelegenheiten zur persönlichen Kenntnis des Deutschtums in Oesterreich wahrnehmen, da nur aus vielfachen persönlichen Berührungen diejenige Summe von politischen Beziehungen erwächst, die ein Zusammenarbeiten ermöglicht, 2. in Wort und Schrift den Gedanken, daß die Deutschen in Oesterreich unsere Volksgenossen sind, verbreiten, bis im Deutschen Reiche die schwerfällige Gleichgültigkeit überwunden wird, mit der man bis vor kurzem fast überall und heute noch vielfach österreichische Angelegenheiten behandelte, . 3. von unserer Reichsregierung fordern, daß sie bei jeder Bedrückung des Deutschtums in Oesterreich durch ihre dortige Vertretung vorstellig wird, •. .. • 4. bereit sein, für eine Zollvereinigung mit Oesterreich das Opfer einer verlängerten Schutzzollperiode des erweiterten Zollgebietes zu bringen, 5. von unseren evangelischen Kirchenregierungen fordern, daß sie den zeitweiligen Eintritt geeigneter reichsdeutscher Geistlicher in öster­ reichischen Pfarrdienst nach Kräften erleichtern, 6. den deutschen Schulverein und ähnliche Veranstaltungen finanziell unterstützen, 7. den Sozialismus in Oesterreich als verwandte Kulturbewegung ansehen und studieren.

Verantwortlich für Redaktion u. Verlag:Fr. Weinhausen in Steglitz b. Berlin. Druck von Louis Hofer, Göttingen.

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